Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit: Ein kooperativer Kommentar 3515109161, 9783515109161

Was bedeutet soziale und politische Gerechtigkeit? Wie können der Sozialstaat und die dazu nötigen Umverteilungen von Ei

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German Pages 271 [274] Year 2014

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINFÜHRUNG IN WALZERS GERECHTIGKEITSTHEORIE
KOMPLEXE GLEICHHEIT – WIE EGALITÄR IST WALZERS GERECHTIGKEITSTHEORIE?
DAS VERHÄLTNIS VON FREIHEIT, GLEICHHEIT UND HERRSCHAFT IN MICHAEL WALZERS THEORIE DER VERTEILUNGSGERECHTIGKEIT
MITGLIEDSCHAFT ALS SOZIALES GUT UND RAHMENBEDINGUNG FÜR GERECHTE VERTEILUNGEN
JEDEM NACH SEINEN BEDÜRFNISSEN?
GELD: OFFENE AMBIVALENZEN ZWISCHEN PREIS UND WERT
QUALIFIKATION, VERDIENST UND KORRUPTION
DIE ARBEITSWELT IM LICHTE SOZIALER GERECHTIGKEIT
FREIZEIT
ERZIEHUNG UND BILDUNG BEI MICHAEL WALZER: SCHULE DER GERECHTIGKEIT?
FAMILIE UND LIEBE: SPIELT GERECHTIGKEIT EINE ROLLE?
GÖTTLICHE GNADE
ANERKENNUNG
MACHT UND POLITIK
TYRANNEIEN UND GERECHTE GESELLSCHAFTEN
NATUR
AUTORENVERZEICHNIS
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Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit: Ein kooperativer Kommentar
 3515109161, 9783515109161

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Manuel Knoll / Michael Spieker (Hg.)

Michael Walzer Sphären der Gerechtigkeit Ein kooperativer Kommentar

29 Staatsdiskurse Franz Steiner Verlag

Manuel Knoll / Michael Spieker (Hg.) Michael Walzer Sphären der Gerechtigkeit

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 29

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Norbert Campagna, Luxemburg Paula Diehl, Berlin Manuel Knoll, Istanbul Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London

Manuel Knoll / Michael Spieker (Hg.)

Michael Walzer Sphären der Gerechtigkeit Ein kooperativer Kommentar

Franz Steiner Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10916-1 (Print) ISBN 978-3-515-10920-8 (E-Book) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Bosch Druck, Ergolding Printed in Germany

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

INHALTSVERZEICHNIS

Michael Walzer Vorwort ..............................................................................................................

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Manuel Knoll / Michael Spieker Einführung in Walzers Gerechtigkeitstheorie .................................................... 15 Michael Haus Komplexe Gleichheit – Wie egalitär ist Walzers Gerechtigkeitstheorie? ......... 27 Manuel Knoll Das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Herrschaft in Michael Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit. Eine republikanische Interpretation von „komplexer Gleichheit“ .............................................................................. 51 Stephen Snyder Mitgliedschaft als soziales Gut und Rahmenbedingung für gerechte Verteilungen ....................................................................................................... 73 Thomas Schramme Jedem nach seinen Bedürfnissen? Sozial(staatlich)e Institutionen als Sphären der Inklusion ........................................................................................ 93 Antje Kapust Geld: Offene Ambivalenzen zwischen Preis und Wert ..................................... 111 Skadi Krause / Karsten Malowitz Qualifikation, Verdienst und Korruption. Die Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen als Gegenstand der Verteilungsgerechtigkeit ............... 129 Peter Koller Die Arbeitswelt im Lichte sozialer Gerechtigkeit. Ein kritischer Kommentar zu Michael Walzers Überlegungen über Arbeitsmarkt und harte Arbeit .......... 149 Ulrich Steinvorth Freizeit ............................................................................................................... 163

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Inhaltsverzeichnis

Christian Schwaabe Erziehung und Bildung bei Michael Walzer: Schule der Gerechtigkeit? .......... 177 Thomas Morawetz Familie und Liebe: Spielt Gerechtigkeit eine Rolle? ......................................... 191 Michael Spieker Göttliche Gnade ................................................................................................. 199 Markus Schütz Anerkennung ...................................................................................................... 209 Alexander Thumfart Macht und Politik ............................................................................................... 225 John-Stewart Gordon Tyranneien und gerechte Gesellschaften ........................................................... 243 Angelika Krebs Natur. Eine neue Sphäre der Gerechtigkeit ....................................................... 255 Autorenverzeichnis ............................................................................................ 267

VORWORT Michael Walzer

Im Vorwort zur jüngsten deutschen Ausgabe von Sphären der Gerechtigkeit (und ebenso zur jüngsten französischen Ausgabe) konzentrierte ich mich fast vollständig auf die Debatten über Relativismus (oder Partikularismus) und Universalismus, die das Buch hervorgerufen hat. Diese metaethischen Debatten sind, wie ich dort geäußert habe, nicht diejenigen, für die ich mich am meisten interessiere oder für die ich mich am kompetentesten fühle. Aber sie waren die lautesten und heftigsten Debatten, in die ich mich nach Erscheinen des Buches verwickelt sah. Ich hielt es für besonders wichtig, auf die Kritik meiner feministischen Freunde zu antworten, die argumentierten, sie bräuchten zur Unterstützung ihres Kampfes universelle Prinzipien. Ich sah es zudem als notwendig an, auf die Argumente zu antworten, denen zufolge globale Ungleichheiten eine universalistische Kritik erfordern. Ich werde hier diese Antworten nicht wiederholen und mich auch nicht erneut mit metaethischen oder globalen Debatten beschäftigen. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Manuel Knoll und die hier versammelten Autoren ihre Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit konzentriert haben, und dass dies in enger Verbindung mit meinem Buch geschah, wobei sie jedes der sozialen Güter thematisieren, das ich behandelt habe. Ich nehme weiterhin an, dass die Debatten, die wir über Verteilungsgerechtigkeit führen müssen, objektbezogen sind; sie müssen plausible Interpretationen der Dinge – der sozialen Güter und Übel – liefern, die wir unter uns verteilen. In meinem eigenen Land leben wir zunehmend unter der Tyrannei des Geldes und der Herrschaft der Vermögenden. Der Kampf gegen diese Tyrannei ist ein politischer Kampf, der stark von Auseinandersetzungen darüber abhängt, was man für Geld kaufen kann (was ist eine Ware?) und was die Bedeutung von politischer Macht ist. Amerikanische Liberale und Linke engagieren sich im Augenblick für eine Verteidigung der Demokratie gegen den invasiven Einfluss des Reichtums. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Kampf auch in Deutschland notwendig ist. Vielleicht ist er jedoch nicht so unmittelbar und dringend erforderlich wie in den Vereinigten Staaten. Auf jeden Fall hoffe ich, dass die hier versammelten Aufsätze das Anliegen einer „komplexen Gleichheit“ fördern werden. Aber was ist „komplexe Gleichheit“? Und wie egalitaristisch ist diese Idee in Anbetracht der Komplexität? Was bewirkt das Adjektiv beim Substantiv? Das sind die Fragen, die ich in diesem Vorwort behandeln möchte. Ich beanspruche jedoch keine besondere Autorität für meine Antworten. Ich hoffe, „komplexe Gleichheit“ ist als Idee reichhaltig genug um verschiedene Interpretationen her-

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Michael Walzer

vorzubringen, und zwar nicht bloß verschiedene Deutungen von besonderen sozialen Gütern, sondern auch verschiedene Verständnisse des gesamten Entwurfs. Bevor ich mein eigenes Verständnis beschreibe, und damit das Projekt, so wie ich es konzipiert hatte, als ich das Buch schrieb, muss ich etwas über meine politischen Ansichten sagen. Denn ich halte die politische Theorie für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Als politischer Aktivist und als langjähriger Herausgeber einer linken Zeitschrift (Dissent) habe ich mich immer als jemand verstanden, der sich für einen Kampf gegen Ungleichheit engagiert. Das war nicht mein einziges Engagement: Ich war ein radikaler Kritiker von einigen der Kriege, die mein Land geführt hat (und ein Verteidiger von anderen). Was jedoch die Innenpolitik anbetrifft, war mein zentrales Anliegen von Anfang an die Ungleichheit, und das ist noch heute so. Die negative Form ist bedeutend: An den meisten Orten hat die Ungleichheit meistens die Oberhand und linke Politik ist ein kontinuierlicher Kampf gegen etablierte Hierarchien von Vermögen, Macht und Status; diese Hierarchien haben derartige externe Effekte, dass Güter wie diese drei überall in einer Gesellschaft dominant werden und dass die Männer und Frauen (geschichtlich sind es meistens Männer), die sie besitzen, zu unseren Tyrannen werden. Dies ist die Politik, die in der Sprache meines Buches zum Ausdruck kommt, aber es war bereits meine Politik, bevor ich eine Sprache fand, in der ich sie ausdrücken konnte. Sphären der Gerechtigkeit ist also ein Bestreben, eine bestimmte Version linker Politik zu erklären und zu verteidigen; eine bestimmte Version, allerdings nicht diejenige, die ich für die Standardversion halte. Die Standardversion linker Politik konzentriert sich hauptsächlich auf die Wirtschaft und zielt auf einen Zustand ab, den ich „einfache Gleichheit“ nenne. Der Maoismus, zumindest so wie er von der amerikanischen Neuen Linken in den 1960er Jahren verstanden wurde, ist ein Beispiel dieser Politik. Es gibt jedoch viele herkömmliche linke Positionen, deren Protagonisten annehmen, dass so etwas wie Gleichheit im wörtlichen Sinne das einzige Verteilungsprinzip sein sollte. Daraus folgt dann, dass alle Arbeiten in ungefähr gleicher Weise belohnt werden sollten, jeder die ungefähr gleiche Menge materieller Besitztümer haben sollte, und die Erbschaft von Vermögen verboten werden sollte. Ich nehme an, dass das Wort „ungefähr“ hier von Bedeutung ist; es gibt Spielraum für individuelle Besitztümer. Dennoch handelt es sich hier noch immer um einen „einfachen“ Egalitarismus und den Anspruch, dass eine „Einfachheit“ von dieser Art das leitende Prinzip von jeder linken Politik sein sollte. Dies war nie meine Sichtweise (Marxisten würden vielleicht sagen, der Grund dafür ist, dass ich vom Kleinbürgertum erzogen wurde). In einer kapitalistischen Gesellschaft lebend, in der es viele verschiedene Ungleichheiten gibt, gelangte ich zu der Auffassung, man müsse eher die Verwendungsweisen des Geldes als dessen Besitz kontrollieren, und dass dies auch für politische Macht zutreffe. Wahlen und die Wahlkämpfe, die ihnen vorangehen, sind unsere Weise legitime Ungleichheiten der Macht zu erzeugen; dasselbe trifft für den Markt hinsichtlich des Geldes zu. Jedoch müssen diese beiden Verteilungsprozesse in einer bestimmten Weise gestaltet werden: Sie sollten allen Teilnehmern offen stehen, Regeln von Fair Play unterworfen sein, und geschützt sein vor distributiven Verzerrungen wie

Vorwort

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der Verwendung von Macht im Streben nach Geld und Waren oder des Gebrauchs von Reichtum im Streben nach politischen Ämtern und der Bestimmung der Regierungspolitik. Dasselbe Argument, dachte ich, funktioniert für viele andere soziale Güter. Jeweils gab es legitime Verteilungsprozesse, die legitime Ungleichheiten erzeugten. Nun behauptet John Rawls, unsere angeborene Intelligenz und die Unterstützung, die wir als ganz junge Menschen von unseren Eltern erhalten, seien moralisch irrelevant und sollten in diesen Prozessen keine Rolle spielen. Sie sollten außer Acht gelassen werden, und die durch sie hervorgebrachten Leistungen sollte man nicht belohnen (außer die Belohnungen wirken als notwendige Anreize, aber ich werde dieses Argument hier nicht weiter verfolgen). Im Gegensatz dazu war es für mich evident, dass Rawls für seine Theorie der Gerechtigkeit mehr Wertschätzung erfahren sollte als andere politische Philosophen, auch wenn die Größe des Buches viel seiner angeborenen Intelligenz und seiner familiären Erziehung verdankt. Wertschätzung sollte von einer strikt meritokratischen Grundlage aus verteilt werden; so lange Reichtum, Macht, und Status nicht zählen, und es alleine auf die Leistung ankommt, ist die Verteilung gerecht. Das Argument ist hier dasselbe wie es im Falle von Menschen mit angeborenen unternehmerischen Talenten oder angeborenen politischen Talenten wäre. Bei der Verteilung sozialer Güter müssen wir die Menschen so nehmen wie sie sind und ihre Handlungen als ihre Handlungen. Eine unterschiedliche Behandlung dieser Menschen braucht uns keine Sorgen zu machen, genau dann wenn sie aus den richtigen Gründen erfolgt. Der politische Kampf, für den ich mich engagiere, ist kein Kampf gegen jede Form von Ungleichheit, sondern nur gegen diejenigen Ungleichheiten, die eine ungerechte Gesellschaft erzeugen. Wie sollten wir über Ungerechtigkeit als allgemeines Phänomen nachdenken? Es kommt mir so vor, als sei eine Gesellschaft dann ungerecht, wenn in ihr alle oder viele Verteilungen verzerrt sind, sodass die meisten ihrer Mitglieder unter der Herrschaft von anderen leben. Denn die Gesundheitsvorsorge, auf die sie angewiesen sind, wird zu allererst den Reichen bewilligt, oder die Erziehung, die sie für ihre Kinder anstreben, wird als Erstes an die Kinder der politischen Elite vergeben, oder der Respekt, dessen sie bedürfen, wird in erster Linie den Wohlgeborenen gewährt. Vielleicht ist das eindeutigste Zeichen von Herrschaft schlicht, dass der Staat oder die Regierung vor allem denjenigen Menschen gehört, die nicht durch Prozesse an die Macht gekommen sind, die für den Rest von uns erkennbar und annehmbar sind. Sie nehmen ihre Stellung nicht aus den richtigen Gründen ein. So haben sie ihr Amt nicht wegen ihrer Überzeugungskraft inne, sondern etwa wegen ihres Reichtums. Lokale Ungleichheiten, die keine derartigen Wirkungen über das gesamte Verteilungsspektrum hinweg erzeugen, spielen schlicht keine Rolle. Sie konstituieren keine Ungerechtigkeit und sie erfordern oder lösen keinen politischen Kampf aus. Ich sollte die vorangehenden Sätze ergänzen: Lokale Ungleichheiten, die durch autonome (unverzerrte) Verteilungsprozesse zustande gekommen sind, spielen keine Rolle. Wir können in einer Gesellschaft leben, in der John Rawls mehr Wertschätzung als andere Philosophen erfährt, in der dieser Unternehmer reich wird und jener nicht, in der dieser Student seinen Universitätsabschluss als

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Michael Walzer

einziger in seiner Klasse mit summa cum laude macht, in der dieser Arzt eine Zulassung für Hirnoperationen hat und jener nicht, in der Obama eine Wahl gewinnt und Romney verliert, in der dieser eloquente und überzeugende Aktivist der Bewegung eine Reformkampagne leitet und alle anderen Aktivisten tun, was er sagt. All dies ist gerecht oder zumindest nicht ungerecht, solange diese „Siege“ nicht die Auswirkungen von Tyrannei und Herrschaft sind oder eine solche hervorrufen. Ich glaube, dass eine Gesellschaft, in der es nur Siege dieser und keiner anderen Art gibt, deutlich weniger ungleich sein wird als die Gesellschaften in denen wir leben, und dass sie sich wie eine Gesellschaft gleicher Männer und Frauen anfühlen wird (ich komme auf diese Wendung zurück). Diese Sichtweise könnte nutzbringend mit Harry Frankfurts bekanntem (und schön gestaltetem) Argument gegen das Ideal der „ökonomischen Gleichheit“ und zugunsten von „Suffizienz“ verglichen werden. Ich bin sicherlich einverstanden, dass Gleichheit kein Ideal in dem Sinne ist, dass jeder denselben Geldbetrag besitzt oder erhält oder dieselbe Menge von all den anderen sozialen Gütern. So lange Verteilungsprozesse autonom und frei sind, ist dies schlicht nicht möglich. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob „Suffizienz“ das leisten kann, wessen wir bedürfen. Sollte dies der Fall sein, wird es vermutlich sehr ähnlich wie die ganzen anderen egalitaristischen Argumente aussehen. Wenn wir alle ausreichend Vermögen haben, aber manche Menschen reich genug sind, um politische Macht kaufen zu können, werden wir dann alle ausreichend politische Macht haben? Wenn einige Menschen genug Vermögen haben um für sich die beste Gesundheitsfürsorge zu kaufen, wird dann der Rest von uns eine ausreichende Fürsorge haben? Ich vermute, dass ein Gesundheitswesen, das uns allen die Fürsorge liefert, deren wir bedürfen, also das was „Suffizienz“ erfordern sollte, radikal verschieden wäre von dem System, das wir derzeit haben (ich meine in den USA), und auch radikal egalitärer. Was ist eine ausreichende Erziehung? Was ist eine ausreichende Menge an Freizeit? Ich glaube, dass eine speziellere Aufmerksamkeit auf Güter wie Erziehung und Freizeit und auf die Verteilungsprozesse, die ihnen angemessen sind, eine bessere Art ist, über eine gerechte Gesellschaft nachzudenken. Wenn aber eine gerechte Verteilung von sozialen Gütern Ungleichheiten an Vermögen, Macht, Wertschätzung, Erziehung, und so weiter erzeugt, wie kann das dann Egalitarismus genannt werden? In welchem Sinne ist Sphären der Gerechtigkeit „eine Verteidigung von Pluralismus und Gleichheit“? Dies ist mein grundlegendes Argument: In der alltäglichen politischen Praxis ist Egalitarismus eine Kritik der verderblichen Auswirkungen der Ungleichheit auf die Verteilung von sozialen Gütern (und Übeln) und auf die menschlichen Beziehungen, die durch diese Verteilungen erzeugt werden. Wenn es uns gelänge, diese verderblichen Auswirkungen zu beseitigen, dann würde Ungleichheit unschädlich gemacht werden, und dies wäre ein großer Sieg für den Egalitarismus. Die Herstellung einer genuin pluralistischen Gesellschaft wäre ein wichtiger Teil dieser Errungenschaft, und ausschlaggebend für ihre „Komplexität“. Denn wenn es viele lokale Ungleichheiten gäbe, die aber nicht dazu dienten, die Ungleichheit anderswo zu vergrößern, dann würden sie eine wesentlich geringe Rolle in unserem Leben spielen. Ungleichheiten würden nebeneinander bestehen, jedoch würde nicht eine

Vorwort

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einzige Ungleichheit wieder und wieder in allen Verteilungssphären reproduziert werden. Die Ungleichheit würde nicht vervielfacht, und das würde eine Gesellschaft erzeugen, die sich (wiederum) wie eine Gesellschaft Gleicher anfühlen würde. Was bedeutet das? Menschen, die in einer Sphäre und hinsichtlich eines sozialen Gutes gut abschneiden, würden sich nicht Menschen untertan oder untergeordnet fühlen, die in anderen Sphären und hinsichtlich anderer sozialer Güter gut abschneiden. Dies würde zu einem Zustand führen, der als objektives Korrelat von sich gleich „fühlen“ bezeichnet werden könnte. Ich habe diesen Zustand im Vorwort von Sphären der Gerechtigkeit beschrieben: „keine Verbeugungen und Kratzfüße mehr, kein angstvolles Zittern, kein Ihre Hoheit oder Euer Hochwohlgeboren mehr […]“. Männer und Frauen würden in Kameradschaft zusammenleben. Wenn aber mache Menschen in allen Sphären und allen Verteilungsprozessen siegreich wären? Diese Frage wurde mir schon frühzeitig gestellt, und ich habe im Buch darauf geantwortet. Ich kann diese Antwort hier nur wiederholen, vielleicht jedoch nachdrücklicher. Ich glaube nicht an Supermänner und Superfrauen. Selbstverständlich wird es Menschen geben, die in mehr als einer Verteilungssphäre gut abschneiden, aber nicht in allen Sphären, nie in allen. Meine wichtigere Antwort besteht jedoch schlicht darin, eine Überzeugung zu beschreiben, die ich für jede linke Politik als fundamental ansehe: Wenn Verteilungsprozesse nicht verzerrt sind, wenn wir den Tyranneien von Reichtum und Macht entkommen, und auch jeder anderen Tyrannei, dann wird sich herausstellen, dass gewöhnliche Männer und Frauen alle Arten von unvermuteten Talenten haben, und die Verteilung von sozialen Gütern wird radikal anders sein als sie jetzt ist. Ich meine damit, dass Güter an deutlich weitere Kreise verteilt werden als das heute der Fall ist, und auch dies wird zu einer Gesellschaft beitragen, die sich als Gesellschaft von Gleichen anfühlen wird. Ich verfüge über einen kleinen empirischen Nachweis für diesen grundsätzlichen Glauben an das menschliche Potenzial. Ich bin in einer Stahlhütten-Stadt im westlichen Pennsylvania aufgewachsen. 1937 (lange bevor ich ein politisches Bewusstsein entwickelt hatte, ich habe jedoch viele Geschichten über dieses Jahr gelesen) versuchten die Stahlarbeiter eine Gewerkschaft zu organisieren. Es gab einen bedeutenden Streik, der jedoch mit Hilfe des Bürgermeisters und mehrerer Stadträte niedergeschlagen wurde, die beim Stahlunternehmen in Lohn standen. Nach vielen Jahren des fortdauernden Aufruhrs gewann die Gewerkschaft eine Wahl (mit vier zu eins Stimmen!), die von der Bundesregierung angeordnet wurde. Wenn man diese Jahre untersucht, wird man einer großen Zahl von Männern und Frauen begegnen, die davor passiv und unartikuliert waren, und zumeist als ignorant und unterwürfig angesehen wurden, die plötzlich aktiv, engagiert und klug wurden. Sie organisierten Treffen, hielten Reden, verfassten Flugblätter, hielten die Disziplin der Streikposten aufrecht, verhandelten mit der Polizei, argumentierten mit widerspenstigen Freunden, und schlossen sich zu einer Gewerkschaft zusammen (und einige von ihnen wurden ihre Handlungsbevollmächtigten). Obwohl die Geschichte eine Erzählung mit mehr Niederlagen als Siegen ist, passieren derartige Dinge immer wieder. Sie sind der reale Inhalt linker Politik.

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Michael Walzer

Sie sind auch der Ursprung meiner Überzeugung, dass komplexe Gleichheit funktionieren wird, wenn sie jemals eine Chance bekommt. Aus dem Amerikanischen von Manuel Knoll Michael Walzer, im Januar 2014

EINFÜHRUNG IN WALZERS GERECHTIGKEITSTHEORIE Manuel Knoll / Michael Spieker Sechs Jahre nach seinem umfangreichen Werk über Just and Unjust Wars1 legte Michael Walzer 1983 mit Spheres of Justice eine der bedeutendsten zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien vor. Mit seiner Theorie knüpft der US-Amerikaner an die Gerechtigkeitsauffassungen von Nicholas Rescher und William Galston2 an (SG 24, SJ XVIII).3 Zugleich grenzt Walzer seine Gerechtigkeitstheorie kritisch von John Rawls’ 1971 erschienenen Theory of Justice und von Robert Nozicks entitlement theory der Gerechtigkeit ab, die dieser 1974 in Anarchie, Staat und Utopie präsentierte.4 Mit Rawls verbindet Walzer nicht bloß eine Argumentation für den Wohlfahrtsstaat, sondern auch, dass er die „Idee der distributiven Gerechtigkeit“ ins Zentrum seiner Sphärentheorie der Gerechtigkeit stellt (SG 26, SJ 3). In Entsprechung dazu begreift Walzer die menschliche Gesellschaft im Wesentlichen als eine „Verteilungsgemeinschaft (distributive community)“, in der verschiedene „soziale Güter“ in unterschiedlichen Sphären nach je eigentümlichen Kriterien verteilt werden oder verteilt werden sollten (SG 26, SJ 3). Im ersten Kapitel seines Werks entfaltet Walzer seine Theorie der Güter, die deren gesellschaftlichen Charakter hervorhebt, in sechs Thesen (propositions). Wichtige soziale Güter sind etwa die Mitgliedschaft in einem bestimmten Staat, Sicherheit, Wohlfahrt, Geld, Waren, Ämter, Erziehung, Bildung, Anerkennung oder politische Macht. Eine gerechte Verteilung erfordert, dass die verschiedenen Verteilungssphären so klar wie möglich gegeneinander abgegrenzt werden und alle sozialen Güter gemäß ihren gesellschaftlichen Bedeutungen sowie den spezifischen Kriterien und Maßstäben ihrer je eigenen Sphäre zugeteilt werden. So sind etwa Sozialleistungen gemäß der Bedürftigkeit zu vergeben, Ämter an Kandidaten nach der Qualifikation, öffentliche Wertschätzung entsprechend dem individuellen Verdienst, und politische Macht an diejenigen Bürger, die die überzeugendsten Argumente vorbringen. Dieser kurze Abriss von Walzers Gerechtigkeitstheorie macht bereits deutlich, wo er den Hauptunterschied zwischen seiner Theorie und derjenigen von Rawls sieht. Während sich Walzer mit einer Vielzahl verschiedener sozialer Güter und Verteilungen beschäftigt, dreht sich Rawls’ Gerechtigkeitstheorie um die gesell1 2 3

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Walzer 1982, Walzer 2006a. Galston 1980; Rescher 1966. Zum Verhältnis von Galstons und Walzers Gerechtigkeitstheorie siehe Haus 2003, S. 158–196. Die Seitenangaben im Text oder in den Fußnoten mit der Sigle SG beziehen sich auf die Übersetzung Walzer 2006b, die Seitenangaben mit der Sigle SJ auf die Originalausgabe Walzer 1983. Die deutsche Übersetzung des Buches weist etliche Mängel auf. Rawls 1971; dt. Rawls 1979; Nozick 1974; dt. Nozick o. J.

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schaftliche Verteilung von „einem kurzen Katalog von Grundgütern“ wie Individualrechte, Grundfreiheiten, Einkommen und Vermögen (SG 28, SJ 4). Walzer kritisiert, dass Rawls – in Entsprechung zu seinem kurzen Grundgüterkatalog – nur zwei Gerechtigkeitsprinzipien aufstellt, die „in der Lage sein sollen zu bestimmen, wie alle wichtigen Güter verteilt werden sollen“ (SG 12). Gegen die traditionelle Suche nach Einheitlichkeit vertritt Walzer einen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz, der deutlich pluralistischer ist. In Sphären der Gerechtigkeit argumentiert er dafür, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit in ihrer Form selbst pluralistisch sind; dass verschiedene soziale Güter aus unterschiedlichen Gründen von verschiedenen Instanzen und gemäß unterschiedlicher Verfahren verteilt werden sollten; und dass sich alle diese Unterschiede aus den verschiedenen Verständnissen (understandings) der sozialen Güter selbst herleiten – dem unvermeidlichen Produkt eines geschichtlichen und kulturellen Partikularismus (SJ 6, Übers. von M. K., SG 30).

Walzers pluralistischer Ansatz wirft die Frage auf, welche Verfahren und Maßstäbe jeweils für die Verteilung der verschiedenen sozialen Güter angemessen sind. Die Methode, mit der er die adäquaten Verteilungskriterien und Maßstäbe zu gewinnen sucht, ist eine hermeneutische. Walzer bemüht sich um Interpretationen der Bedeutung, die die verschiedenen sozialen Güter jeweils in einer bestimmten Gesellschaft haben (SG 20, 48; SJ XIV, 19). Seiner Grundannahme zufolge wissen wir, wie Güter verteilt werden sollen, wenn wir ihre jeweiligen gesellschaftlichen Bedeutungen (social meanings)5 erkennen. Wenn wir beispielsweise verstehen, was öffentliche Wertschätzung bedeutet, dann sehen wir ein, dass nur diejenigen sie erhalten sollen, die sie aufgrund ihrer Leistungen verdienen.6 In seinem 1984 gehaltenen Vortrag Three Paths in Moral Philosophy grenzt Walzer den Pfad der Interpretation explizit von zwei alternativen methodischen Pfaden der moralischen Argumentation und der Gesellschaftskritik ab. Nach dem traditionellen Pfad der Entdeckung gibt es göttlich oder natürlich vorgegebene objektive moralische Wahrheiten und Gerechtigkeitsgrundsätze, die der Philosoph zu entdecken sucht. Nach dem modernen Pfad der Erfindung werden moralische Grundsätze nicht aufgefunden, sondern mit Hilfe der menschlichen Vernunft neu erfunden. Durch ein geeignetes Konstruktionsverfahren, wie es etwa Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie vorschlägt, könne die Vernunft Grundsätze der Moral oder der Gerechtigkeit begründen, die für jeden nachvollziehbar und zustimmungsfähig sind. Nach dem von Walzer gewählten Pfad der Interpretation dagegen ist es nicht nötig, moralische Grundsätze oder Gerechtigkeitsprinzipien zu entdecken oder zu erfinden. Denn der Mensch lebt bereits stets in einer besonderen moralischen Welt bzw. mit einer vorhandenen Moral, die ihn „kraft der Autorität ihres Vorhandenseins“ verpflichtet.7 Genau diese Moral bzw. die Bedeutung 5 6 7

Walzer weist darauf hin, dass er den Begriff der „social meanings“ der Anthropologie entliehen hat (Walzer 2007, S. 39). Zur herausgehobenen Bedeutung, die den verschiedenen Formen von Anerkennung in Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit zukommt, vgl. Knoll 2013. Walzer 1990, S. 31.

Einführung

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der geschichtlich entstandenen gemeinsamen moralischen Welt gilt es zu interpretieren. Dieses hermeneutische Verfahren erlaubt nach Walzer durchaus eine Kritik der bestehenden Gesellschaft: „Die Kritik des Bestehenden beginnt – oder kann doch beginnen – mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen“.8 Walzer ist sich bewusst, dass ein hermeneutisches Verfahren keineswegs unproblematisch ist: „Keine Interpretation der Bedeutung eines sozialen Guts oder der Grenzen des Bereichs, in dem es rechtmäßig seine Wirkung entfaltet (sphere within which it legitimately operates), wird unstrittig sein. Auch ist kein ordentliches Verfahren zur Hand, mit dem die unterschiedlichen Interpretationen entwickelt oder überprüft werden könnten“ (SG 51, SJ 21; SG 20, SJ XIV).9 Trotz dieser Schwierigkeiten geht Walzers Ansatz von den Bedeutungen der sozialen Güter aus, die ihnen beziehungsweise „unserem gemeinsamen Verständnis (shared understandings)“ von ihnen innewohnen (SG 19 f., 22, 50, SJ XIV f., 20). Ob es in zeitgenössischen pluralistischen Gesellschaften tatsächlich gemeinsame Verständnisse von sozialen Gütern gibt oder ob diese nicht vielmehr wie Gerechtigkeitsverständnisse umstritten sind, wurde jedoch grundsätzlich infrage gestellt.10 Dennoch lautet eine zentrale Forderung von Walzers Gerechtigkeitstheorie, dass soziale Güter gemäß ihrer sozialen Bedeutung und daher nach „ ,internen‘ Kriterien (internal reasons)“11 zu verteilen sind: Wenn wir wissen, was dieses soziale Gut ist, was es für jene bedeutet, die ein Gut in ihm sehen, dann wissen wir auch, von wem es aus welchen Gründen wie verteilt werden sollte. Alle Verteilungen sind gerecht oder ungerecht immer in Relation zur gesellschaftlichen Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Güter (SG 34, SJ 9).

In der Regel ist die Bedeutung eines bestimmten sozialen Gutes nicht universell, sondern sie differiert in verschiedenen Kulturen, Gesellschaften und geschichtlichen Epochen (SG 11, 20, 29 f., 440– 445, SJ XIV, 5 f., 312–316). Da Walzer die Maßstäbe von gerechten Verteilungen aus den jeweils besonderen Bedeutungen von sozialen Gütern ableitet, geht mit seinem geschichtlichen und kulturellen Partikularismus ein ethischer Relativismus einher.12 Gerechtigkeit begreift er nicht 8 9

Walzer 1990, S. 31. Vgl. zu einer problemorientierten Betrachtung von Walzers hermeneutischer Methode Miller 1995a, S. 5–10. 10 Vgl. die Kritik Ronald Dworkins (1983, wieder: 1985). Walzer ist sich jedoch bewusst, dass die Bedeutungen von sozialen Gütern unter den Mitgliedern einer Gesellschaft umstritten sein können (SG 441 f., SJ 313 f.). In seinem 1993 veröffentlichten Aufsatz Objectivity and Social Meaning entwickelt Walzer seine Konzeption der sozialen Bedeutungen und gemeinsamen Verständnisse (shared understandings) von Gütern weiter. Am Ende dieses Aufsatzes erklärt Walzer: „I have tried to sketch an account of ,social meaning‘ that might underpin and uphold the theory of distributive justice presented a few years ago in my book Spheres of Justice“ (Walzer 2007, S. 51). Vgl. hierzu die Kritik von Putnam 1993. 11 Walzer erklärt bündig: „Justice is relative to social meanings“ (SJ 312, SG 440). 12 Vgl. zu Walzers Deutung als Relativisten Dworkin 1983, wieder: 1985. Im Vorwort von Sphären der Gerechtigkeit erklärt Walzer: „My argument is radically particularist“ (SJ XIV, vgl. die verfehlte Übers. SG 20). Im Vorwort zur deutschen Ausgabe führt er aus: „Aber gewiß enthält das Buch auch eine relativistische Behauptung. Sie besagt, daß wir die Verteilung sozialer Güter weder verstehen noch beurteilen und kritisieren können, bevor wir deren Be-

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als universelles und objektives Prinzip, sondern als ein „menschliches Konstrukt (human construction)“, das in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich hergestellt wird (SG 20, 30, 442, SJ XIV, 5, 314). Mit seinem Relativismus grenzt sich Walzer insbesondere von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ab, die er als eine universalistische versteht (SG 29 f., SJ 5). Gegen Walzers relativistisches Selbstverständnis wurden zu Recht die universalistischen Aspekte seiner Gerechtigkeitstheorie betont.13 Insbesondere lässt sich infrage stellen, ob die Verteilungskriterien, die Walzer für konkrete Güter präsentiert, tatsächlich nur für die Gesellschaft der USA der 1980er Jahre Geltung haben. Sind nicht vielmehr medizinische Leistungen an Kranke immer gemäß der Behandlungsbedürftigkeit zu vergeben, Ämter an Kandidaten grundsätzlich nach der Qualifikation, und Strafe als negatives Gut universell an diejenigen, die sie verdienen? Tatsächlich räumt Walzer ein, dass es Schlüsselgüter wie Ämter und Strafen gibt, für deren Vergabe transkulturell und transhistorisch die gleichen Maßstäbe gelten (SG 35, SJ 9). Das Grundprinzip, dass alle sozialen Güter gemäß ihrer gesellschaftlichen Bedeutung verteilt werden sollen, beinhaltet eine gesellschaftskritische Dimension: „Wir mögen zum Beispiel alle davon überzeugt sein, daß medizinische Leistungen an Kranke nach dem Maßstab ihrer Behandlungsbedürftigkeit verteilt werden sollen. Aber in einer kapitalistischen Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten ist es wahrscheinlicher, daß medizinische Leistungen nach dem Maßstab der Zahlungsfähigkeit von Patienten zugeteilt werden“ (SG 13 f.; vgl. SG 36, 137– 145, SJ 10, 86–91). Die Anspruchsgründe, die bei der Verteilung eines Gutes angemessen sind, können als positive Bezugspunkte der Kritik von gesellschaftlichen Verteilungen dienen, die nach unangemessenen und daher ungerechten Kriterien ablaufen. Ein Grundgedanke von Walzers Gerechtigkeitstheorie ist, dass es verschiedene Sphären der Gerechtigkeit gibt. Dieser Gedanke ist bereits für die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles zentral, der verschiedene Arten der Gerechtigkeit nach abgrenzbaren Anwendungsgebieten unterscheidet. Betrifft die allgemeine Gerechtigkeit die Befolgung oder Übertretung der Vorschriften der Gesetze, bezieht sich die partikulare auf die Verteilung von öffentlichen Gütern, auf den Ausgleich von Unrecht oder auf freiwillige Transaktionen wie Verträge oder Tauschgeschäfte.14 Walzer führt den Ausdruck „Sphäre“ im Zusammenhang mit seiner Theorie der Güter ein. Jedes einzelne soziale Gut oder Set von Gütern konstituiert gewissermaßen eine „eigene Distributionssphäre, innerhalb deren sich nur ganz bestimmte Kriterien und Modalitäten als angemessen erweisen“ (SJ 10, Übers. von M. K., SG deutung für das Leben jener Männer und Frauen begriffen haben, unter denen diese Güter verteilt werden sollen“ (SG 11). Zu Beginn des Vorworts zu vorliegendem Band setzt Walzer Relativismus und Partikularismus gleich. Vgl. zum Relativismus der Verteilungsgerechtigkeit (SG 440– 445, SJ 312–316). 13 Krebs 2007. 14 Aristoteles 1998, Buch V; vgl. hierzu Aristoteles 1986, Buch III, Kap. 9–13, und Knoll 2009, insbes. die Kap. I–V. Dazu auch Krebs 2002, S. 181 f., und zu anderen Überlegungen über das Verhältnis von Walzer zu Aristoteles und zum Aristotelismus Haus 2000, S. 230, 263 f., und Haus 2003, S. 190–193.

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36).15 Walzer versteht den Ausdruck „Sphäre“ als Metapher und lässt die Frage offen, wie viele Güter bzw. Sphären es gibt.16 Wird ein soziales Gut gemäß den Kriterien verteilt, die seiner Bedeutung entsprechen, dann spricht Walzer von einer autonomen Verteilung. Damit stellt sich die philosophische Aufgabe, die Sphären und Bedeutungen der verschiedenen Güter gegeneinander abzugrenzen. In diesem Zusammenhang spricht Walzer von der „Kunst der Grenzziehung“ (SG 12).17 Seiner Auffassung nach sind die verschiedenen sozialen Bedeutungen jedoch nicht völlig eigenständig, weil die Geschehnisse in einer Distributionssphäre Einfluss auf diejenigen in einer anderen haben: „wonach wir deshalb allenfalls Ausschau halten können, ist eine relative Eigenständigkeit“ (SG 36, SJ 10). Walzer erkennt das „Kernproblem der distributiven Gerechtigkeit“ in einem sozialen Phänomen, das er die Dominanz (dominance) von Gütern nennt. Seine Gerechtigkeitstheorie zielt auf die Reduzierung von Dominanz (SG 45 f., SJ 16 f.). Walzers Terminologie zufolge ist ein Gut dominant, „wenn die Individuen, die über es verfügen, deshalb, weil sie darüber verfügen, zugleich auch über eine Vielzahl weiterer Güter gebieten können“ (SG 37, SJ 10). In einer kapitalistischen Gesellschaft ist insbesondere das Geld ein dominantes Gut. Diejenigen, die ein bestimmtes soziales Gut besitzen und ihren Besitz erfolgreich gegen alle Rivalen bewahren können, haben dieses Gut – in Walzers Terminologie – „monopolisiert“18 (SG 37, SJ 10). Handelt es sich um ein dominantes Gut, dann können sie dessen Dominanz für ihre Zwecke ausbeuten. So werden etwa diejenigen, die über „eine besondere Begabung fürs Geschäftemachen und Handeln verfügen“, in der bürgerlichen Gesellschaft bald sehr viel mehr Geld haben als die anderen (SG 52, SJ 22). Dieses Monopol beziehungsweise diese Ungleichheit in der Sphäre des Geldes sieht Walzer jedoch nicht als problematisch oder ungerecht an. Ungerecht ist es allerdings, wenn die Reichen ihr Geld auf Grund seiner Dominanz dazu benützen können, politische Ämter und politische Macht zu kaufen, eine bessere medizinische Versorgung zu erlangen oder Gerichte zu bestechen. Dominante Güter lassen sich in eine Vielzahl anderer Güter verwandeln. Dabei werden die 15 Vgl. hierzu Haus 2000, S. 233 f. Angelika Krebs bemerkt treffend: „Walzer schaltet seinen diversen güterspezifischen Verteilungsstandards ein Metaprinzip der ,Sphärenautonomie‘ vor“ (Krebs 2002, S. 187). 16 Über zehn Jahre nach dem Erscheinen seines Hauptwerks führt Walzer aus: „ ,Spheres‘ is a metaphor; I can’t provide a diagram nor decide upon a definitive number (my own list was never meant to be exhaustive). There isn’t one social good to each sphere, or one sphere for each good“ (Walzer 1995, S. 282). Zudem erklärt er: „As in any plausible moral argument, the claim that distributions follow meanings is not absolute; it allows for reasonable exceptions“ (S. 283). 17 Vgl. hierzu Walzer 1984; dt. Walzer 1992. Vgl. hierzu Morawetz 1985. 18 Walzers Terminus des Monopols ist nicht sehr glücklich gewählt, weil sich in der Regel selten eine Person allein ein begehrtes Gut aneignen kann. Vielmehr sind es zumeist Gruppen von Menschen, die bestimmte Anteile von einem bestimmten sozialen Gut besitzen und ihren Besitz erfolgreich gegen alle Rivalen bewahren können. Michael Haus bemerkt dazu: „Das Monopol steht für die Konzentration des Besitzes eines Gutes auf wenige Personen, die Dominanz für die beherrschende Stellung eines Gutes im Gesamtzusammenhang von Güterverteilungen“ (Haus 2000, S. 234).

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dominanten Güter in einer Weise verwendet, „die über die Grenzen von deren intrinsischen Bedeutungen hinausgeht oder die diese Bedeutungen ihren Interessen und Vorstellungen gemäß selbst erzeugt“ (SG 37, SJ 10 f.). Welche Güter dominant sind, wechselt im Verlauf der Geschichte und von Gesellschaftssystem zu Gesellschaftssystem. Vor der Französischen Revolution war das Geburtsrecht ein dominantes Gut. Danach traten vor allem Reichtum, Macht und Bildung als dominante Güter in den Vordergrund (SG 45, SJ 16). Des Weiteren hebt Walzer das Amt als ein dominantes Gut hervor, das viele andere Güter nach sich zieht. So geht mit der Verteilung von einer Reihe von Ämtern auch eine Vergabe von sozialen Gütern wie Ehre und Status, Macht und Vorrechten sowie von Reichtum und Bequemlichkeiten einher (SG 230, SJ 155). Die Forderung nach einer Reduzierung von Dominanz zielt daher auch auf die Eindämmung der Ämter und der Anmaßungen, die ihre Ausübung mit sich bringt. Von herausragender Bedeutung ist für Walzer der Kampf zur Verminderung der Dominanz des Geldes: „Die in den Vereinigten Staaten von heute allgemeinste Form von Machtlosigkeit gründet in der Vorherrschaft (dominance) des Geldes in der Sphäre der Politik“ (SG 438, SJ 310). Mit seiner Gerechtigkeitstheorie, die auf die Reduzierung von Dominanz zielt, grenzt sich Walzer explizit von einer Form von Egalitarismus ab, der die Monopolisierung von dominanten Gütern als ungerecht ansieht. Walzer macht nicht deutlich, an welche Theoretiker er genau denkt.19 Er charakterisiert sie durch ihre Forderung, das dominante Gut so umzuverteilen, dass „alle Mitglieder der Gemeinschaft oder zumindest eine breite Allgemeinheit in seinen Besitz gelangen“ (SG 40, SJ 13). Eine derart egalitaristische Position wird nicht bloß immer wieder von verschiedenen linken politischen Bewegungen vertreten, sondern herrscht auch heute in der politischen Philosophie vor.20 Zeitgenössische egalitaristische Theoretiker streben danach, dass jeder bei der Güterverteilung möglichst das Gleiche im arithmetischen bzw. numerischen Sinne21 bekommt. In Walzers Terminologie streben sie einfache Gleichheit an: „Einfache Gleichheit impliziert einfache Distributionsverhältnisse, soll heißen, wenn ich meinerseits 14 Hüte besitze und Sie Ihrerseits ebenfalls 14 Hüte besitzen, dann sind wir beide, Sie und ich, gleich“ (SG 47, SJ 18). Umstritten ist unter zeitgenössischen egalitaristischen Theoretikern jedoch die Frage: In welcher Hinsicht soll Gleichheit hergestellt

19 In dem Kapitel über einfache Gleichheit erwähnt Walzer explizit Rawls, der durchaus als Egalitarist verstanden werden kann (Knoll 2012). Vor allem hat er jedoch bestimmte Rawlsianer vor Augen, mit denen er damals Meinungsverschiedenheiten hatte. Vielleicht bezieht sich Walzer auch auf die ersten beiden Artikel über Gleichheit von Ronald Dworkin (Dworkin 1981a; Dworkin 1981b). 20 Den Hinweis, dass er bei der Forderung nach einfacher Gleichheit auch an verschiedene linke politische Bewegungen denkt, gibt Walzer im Vorwort zum vorliegenden Band. 21 Nach Aristoteles besteht Gleichheit im arithmetischen bzw. numerischen Sinne etwa dann, wenn zwei Personen die gleiche Menge desselben Gutes haben oder zwei Gegenstände das gleiche Gewicht haben (Aristoteles 1973, S. 167, 1301 b 29–34; vgl. Platon 1988, S. 182 f., 757 b).

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werden? Was ist als das entscheidende Gut anzusehen, das gleich- bzw. umverteilt werden soll: Ressourcen, Wohlfahrt, bestimmte Grundgüter etc.?22 Im Gegensatz zum vorherrschenden Egalitarismus wendet sich Walzer nicht gegen das Monopol, sondern gegen die Dominanz von Gütern. Diese Dominanz sieht er als ungerecht an und fordert: „Es muß dafür gesorgt werden, daß alle Sozialgüter eine autonome Verteilung erfahren“ (SG 40, SJ 13). Das heißt, dass alle Güter gemäß ihren sozialen Bedeutungen und gemäß den spezifischen Kriterien und Maßstäben ihrer Sphäre verteilt werden müssen. Sein zentraler Kritikpunkt an Dominanz ist, dass die Dominanz von Gütern die Herrschaft über Menschen fördert, die immer „durch ein bestimmtes Set von sozialen Gütern“ vermittelt ist (SG 19, 49; SJ XIII, 19). Die „Mittel der Herrschaft sind in unterschiedlichen Gesellschaften verschieden geartet. Herkunft und Geblüt, Grundbesitz, Kapital, Bildung und Erziehung, Gottgefälligkeit und göttliche Gnade sowie staatliche Macht, sie alle haben sich irgendwann als Mittel erwiesen, die es bestimmten Menschen ermöglichten, über andere Menschen zu herrschen“ (SG 19, SJ XIII). Dagegen ist das Ziel von Walzers eigener Form von politischem Egalitarismus eine Gesellschaft, „die frei ist von Herrschaft“ (SG 18, SJ XIII). Nach seinem Verständnis von Gleichheit sind Männer und Frauen „in allen wichtigen moralischen und politischen Belangen“ einander dann gleich, „wenn es niemanden gibt, der Mittel in seinem Besitz hält oder kontrolliert, die es ihm erlauben, über andere zu herrschen“ (SG 19, SJ XIII; vgl. hierzu SG 17 und 22; SJ XII und XV). Walzer hat nichts dagegen einzuwenden, wenn wenige Personen in einer Sphäre deutlich mehr Güter erlangen können als die anderen. Seine Kritik richtet sich vielmehr dagegen, dass diese Monopolbildung häufig dazu führt, dass die monopolisierten Güter zur Herrschaft über andere Menschen benutzt werden. Mit seiner Gerechtigkeitstheorie zielt er nicht auf einfache Gleichheit, sondern auf etwas, das er „komplexe Gleichheit“ nennt. Die Argumentation zugunsten einer derartigen Form von Gleichheit erkennt Walzer bereits in Pascals Pensées und in Marx’ Frühschriften (SG 47 f., SJ 18). Der Terminus „komplexe Gleichheit“ bezieht sich nicht bloß auf eine oder zwei Güterverteilungen, sondern auf den gesellschaftlichen Gesamtzustand, genauer auf die Gesamtheit der komplexen sozialen Relationen zwischen Personen, Gütern und Verteilungen.23 Das System komplexer Gleichheit etabliert ein Netz von Beziehungen, das die Herrschaft von Menschen

22 Amartya Sen erklärt: „While the question ,why equality?‘ is by no means dismissible, it is not the central issue that differentiates the standard theories, since they are all egalitarian in terms of some focal variable. The engaging question turns out to be ,equality of what?‘ “ (Sen 1992, S. 4). Einen Überblick über die „Equality of what?“-Debatte geben Krebs 2000, S. 7 f., Cohen 1989, Roemer 1996, und Knoll 2009, Kap. XV. 23 Treffend bemerkt Michael Haus, dass aus der Perspektive einer komplexen Gleichheit die „Gleichheit nicht als ein Zustand der Gleichverteilung bestimmter Güter, sondern als eine übergreifende Eigenschaft des gesellschaftlichen Zusammenlebens begriffen wird“ (Haus 2003, S. 177). Im Einklang damit erklärt David Miller über komplexe Gleichheit: „So here equality does not refer to the way some identifiable good is distributed, but describes the overall character of a set of social relationships“ (Miller 1995b, S. 198 f.).

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über Menschen unmöglich macht und damit eine gleiche Freiheit von Herrschaft und Unterwerfung bewirkt: Formal gesprochen bedeutet komplexe Gleichheit, dass die Position keines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Guts untergraben werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts. Demnach kann Bürger X Bürger Y bei der Besetzung eines politischen Amts vorgezogen werden, wodurch die beiden in der Sphäre der Politik ungleich sein werden. Doch werden sie solange nicht generell ungleich sein, wie das Amt von X diesem keinen Vorteil über Y in allen anderen Sphären verschafft, keine bessere medizinische Versorgung, keinen Zugang zu besseren Schulen für seine Kinder, keine größeren unternehmerischen Gelegenheiten, und so weiter. Solange das Amt kein dominantes Gut ist, nicht allgemein konvertierbar ist, werden die Amtsinhaber zumindest potentiell in einem Verhältnis der Gleichheit zu den von ihnen regierten Männern und Frauen stehen (SJ 19 f., Übers. von M. K., SG 49).

Eine Politik der Reduzierung von Dominanz muss sich daher vor allem darauf konzentrieren, die Grenzen zwischen den Verteilungssphären zu verteidigen und illegitime Umwandlungen von Gütern in andere zu verhindern. Sie muss danach streben zu unterbinden, dass „mächtige Männer und Frauen willkürlich Güter für sich usurpieren und in Sphären eindringen, in denen sie nichts zu suchen haben“ (SG 36, 60, SJ 10, 28). Komplexe Gleichheit funktioniert dadurch, dass zwischen Gütern so differenziert wird, „wie man in hierarchischen Systemen zwischen Menschen unterscheidet. Von einer Ordnung (regime) der komplexen Gleichheit kann allerdings erst dann die Rede sein, wenn es viele solcher Grenzen zu verteidigen gibt; wieviele genau es sein müssen, läßt sich indes nicht sagen“ (SG 60, SJ 28, Hervorhebungen von Walzer). Eine Politik der Reduzierung von Dominanz, die die Grenzen zwischen den Sphären sichert und die geteilten Verständnisse der sozialen Güter und ihrer Bedeutungen durchsetzt, kann Walzers Argumentation zufolge letztlich nur von der staatlichen Macht bzw. Souveränität effizient exekutiert werden (vgl. dagegen SG 46, SJ 17). Eine derartige Politik kann weder auf der regionalen noch auf der supranationalen Ebene geleistet werden. Das erklärt zum einen, dass der Staat den Bezugsrahmen von Walzers gesamter Argumentation für eine egalitäre Gesellschaft bildet, die der Norm komplexer Gleichheit entspricht. Zum anderen verdeutlicht es, warum dem sozialen Gut der politischen Macht bzw. der Staatsmacht in seiner Theorie eine Sonderstellung zukommt (SG 43, 61–64, 399, 438; SJ 15, 28–30, 281, 310; vgl. hierzu SG 399– 439, SJ 281–311).24 Walzer zufolge weist die Kritik an Dominanz (dominance) und Herrschaft (domination) den Weg zu einem „ergebnisoffenen (open-ended)“25 Verteilungsprinzip: „Kein soziales Gut x sollte an Männer und Frauen verteilt werden, die ein anderes Gut y besitzen, lediglich auf Grund dieses Besitzes und ohne Berücksich24 Vgl. zu Walzers bias für den Nationalstaat Haus 2000, S. 240–243. 25 SJ 20, SG 50. Walzer macht nicht sehr deutlich, warum er sein Verteilungsprinzip als „openended“ charakterisiert. Seinen Ausführungen zufolge dürfte die angemessenste Übersetzung „ergebnisoffen“ sein. So erklärt er: „Der freie Austausch ist offensichtlich ergebnisoffen (open-ended); er garantiert kein besonderes Verteilungsergebnis“ (SJ 21, Übers. von M. K., SG 51).

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tigung der Bedeutung von x“ (SJ 20, Übers. von M. K., SG 50). Walzer zeichnet drei Verteilungskriterien aus, die die Forderungen dieses Prinzips erfüllen: den freien Austausch, das Verdienst und das Bedürfnis (SG 51–58, SJ 21–26). Auf den ersten Blick stellt sich der freie Austausch als das angemessene Kriterium für die Verteilung von Waren dar, das Verdienst für die Vergabe von öffentlicher Wertschätzung und von Strafen, und das Bedürfnis für die Verteilung von Sozialleistungen. Bei näherem Hinsehen ergeben sich jedoch die schwierigen Fragen, in welchem Verhältnis diese drei Verteilungskriterien genau zu den einzelnen Sphären stehen und ob Walzer in Sphären der Gerechtigkeit nicht tatsächlich zwei radikal verschiedene Konzeptionen von „Sphäre“ verwendet.26 Walzer ist der Auffassung, dass „unterschiedliche Resultate für verschiedene Menschen in unterschiedlichen Sphären dennoch eine gerechte Gesellschaft ergeben“ (SJ 320, Übers. von M. K., SG 450). Komplexe Gleichheit ist das Ergebnis der Durchsetzung autonomer Verteilungen von sozialen Gütern. Über die komplex-egalitäre Gesellschaft erklärt er: „Wiewohl es zahllose kleine Ungleichheiten in ihr gibt, vervielfacht sich die Ungleichheit in toto im Umwandlungsprozeß jedoch nicht. Auch addiert sie sich quer über die verschiedenen Güter hinweg nicht zu einer Gesamtsumme auf, denn die Autonomie der Distributionsvorgänge führt dazu, daß eine Vielzahl von Lokalmonopolen entsteht, die sich im Besitz differenter Personengruppen befinden“ (SG 46, SJ 17). Das bedeutet, dass es zwischen den Gewinnen und Verlusten, die die Menschen in den verschiedenen Sphären erfahren, zu einer gewissen Kompensation oder einem gewissen Ausgleich kommen kann.27 Nach Walzer ist komplexe Gleichheit nicht bloß keine relativistische Idee, sondern „ein gültiger Standard“ in allen modernen Gesellschaften (SG 11). Allen Beiträgern dieses Bandes danken die Herausgeber herzlich für ihre freundliche Mitwirkung an diesem kooperativen Kommentar. Die Akademie für Politische Bildung in Tutzing unterstützte seine Entstehung durch eine Tagung, auf der im Dezember 2013 ein großer Teil der Beiträge eingehend diskutiert werden konnte. Für Hilfen bei der Fertigstellung danken wir zudem Herrn Thomas Schölderle. Die Seitenangaben in den Beiträgen mit der Sigle SG beziehen sich auf die Übersetzung Walzer 2006b, die Seitenangaben mit der Sigle SJ auf die amerikanische Originalausgabe Walzer 1983.

26 Walzer vertritt die Auffassung, dass jedes der drei Kriterien das ergebnisoffene Verteilungsprinzip nur innerhalb seiner eigenen Sphäre erfüllt (SG 57, SJ 26). Diese Auffassung ist jedoch, wie Michael Haus darlegt, höchst fragwürdig: „Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich nicht nur, dass die von Walzer dargestellten Sphären keineswegs je einem Prinzip entsprechen, sondern auch, dass jedes der drei Prinzipien in unterschiedlichen Sphären zur Anwendung kommt“ (Haus 2000, S. 252 f.). Nach Govert Den Hartogh verwendet Walzer zwei radikal verschiedene Konzeptionen von Sphäre. Während nach einem Verständnis eine Sphäre durch die Güter definiert ist, die in ihr verteilt werden, bestimmt das andere Verständnis eine Sphäre als den Bereich der angemessen Anwendung eines besonderen Verteilungsprinzips wie freier Austausch, Verdienst und Bedürfnis (Den Hartogh 1999, S. 495–503). 27 Dies ist die Position von Haus 2000, S. 258, und Swift 1995, S. 258–261, 277 f. Vgl. dagegen Miller, der eine radikale Inkommensurabilität sozialer Güter behauptet (Miller 1995b, S. 205– 207).

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KOMPLEXE GLEICHHEIT – WIE EGALITÄR IST WALZERS GERECHTIGKEITSTHEORIE? Michael Haus

1. EINLEITUNG Michael Walzer hat Sphären der Gerechtigkeit als ein „Plädoyer für Pluralismus und Gleichheit“ (so der Untertitel) bezeichnet. Die Gerechtigkeitstheorien von John Rawls und weiterer liberaler Theoretiker schienen ihm weder hinreichend pluralistisch zu sein noch eine attraktive Perspektive sozialer Gleichheit zu liefern. Im Mittelpunkt von Walzers Eintreten für Pluralismus und Gleichheit steht die Idee der „komplexen Gleichheit“, die er im Einleitungskapitel des Buches darlegt. In diesem Beitrag sollen zwei Fragen behandelt werden: Was genau meint Walzer mit der Idee einer „komplexen Gleichheit“ und inwiefern verbinden sich darin pluralistische mit egalitären Anliegen? Und: Wie steht diese Idee und damit Walzers Gerechtigkeitsperspektive zum Diskurs über den Egalitarismus in der zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorie1? Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst eine werkimmanente Rekonstruktion der Idee der komplexen Gleichheit vorgenommen werden. Im zweiten Teil werde ich diese Rekonstruktion in eine Verbindung mit der Debatte zum Egalitarismus setzen.2 Meine These lautet, dass die Einordnung von Walzers Theorie auf der Seite der „Nonegalitaristen“ oder der „Egalitarismuskritik“ problematisch ist, und zwar einerseits deshalb, weil seine Gerechtigkeitstheorie stark egalitäre Züge aufweist, und andererseits, weil die Unterscheidung zwischen Gleichheit als Wert an sich und Gleichheit als Nebenprodukt anderer Forderungen für Walzer nicht trägt. Gleichheit ist für Walzer Weg und Ziel, wenn auch in differenzierter und jeweils anders gelagerter Bedeutung. Der entscheidende Unterschied von Walzers Theorie zu den dominierenden Ansätzen (sogenannten „egalitarischen“ wie „nonegalitaristischen“) Theorien liegt meines Erachtens im Grundverständnis der Rolle der Politischen Theorie. Er geht einerseits auf den Gegensatz zwischen prozeduralen und interpretativen Gerechtigkeitstheorien zurück, andererseits auf die inhaltliche Bestimmung des letzten Ziels im Streben nach Gerechtigkeit. Betrachtet man die gerechtigkeitstheoretische Szene von dieser anders gelagerten Unterscheidung aus, so wird deutlich, dass egalitäre Gerechtigkeitstheorien entweder prozeduralistisch (ausgehend von abstrakten Ansprüchen und Prinzipien) oder kontextualistisch (ausgehend von sozialen Lebenspraktiken) auftreten 1 2

Vgl. etwa Krebs 2000. In diesen Teilen stütze ich mich auf meine Darstellungen in Haus 2003, S. 172–196, Haus 2000, Kap. 3 und Haus 2012.

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können und das Gleiche für anti-egalitäre Theorien gilt. Walzers Theorie ist dann als egalitär-kontextualistische Theorie zu verstehen. Komplexe Gleichheit fungiert nicht als ein a priori festgelegtes Gerechtigkeitsprinzip, das andere Erwägungen ausstechen würde, sondern ist als emergente Eigenschaft des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu betrachten. Sie stellt also eine neue Qualität der Gesellschaft dar, die aus der Vielzahl von Verteilungsvorgängen und damit verbundener sozialer Praktiken resultiert. Der Weg dorthin wird dadurch bereitet, dass jedes Gut nach seiner sozialen Bedeutung verteilt, das gemeinsame Band der demokratischen Bürgerschaft respektiert und gepflegt und die Dominanz einzelner Güter so weit wie möglich zurückgedrängt wird. Insofern ist komplexe Gleichheit tatsächlich ein „Nebenprodukt“ anderer Verteilungsprozesse. Freilich sind bereits in diesen güterspezifischen Verteilungspraktiken eine Reihe von Gleichheitsdimensionen am Werke. Vor allem aber ist komplexe Gleichheit, gerade in dieser Weise als emergente Qualität sozialer Praktiken verstanden, für Walzer zugleich das Ziel im Sinne des telos einer gerechten Gesellschaft, denn nur in einer solchen Gesellschaft können sich die Menschen tatsächlich in einem politischen Sinn als Gleiche erfahren. Ich würde vor diesem Hintergrund von einem politischen Egalitarismus sprechen und Walzer als wichtigsten Gerechtigkeitstheoretiker eines solchen politischen Egalitarismus verstehen.3 Diese Kennzeichnung ist im Übrigen durch Walzers Selbstbeschreibung gedeckt (vgl. SG 18). Eine sich daran anschließende Frage lautet, wie Walzers Gerechtigkeitsverständnis vor dem Hintergrund des Diskurses über globale Gerechtigkeit einzuschätzen ist. Meine These dazu wird lauten, dass Walzers kontextualistische Argumentationsweise zwar skeptisch gegenüber einer abstrakten theoretischen Begründung von globaler Verteilungsgerechtigkeit ist. Zum einen ist jedoch das Konzept der komplexen Gleichheit global anschlussfähig an politische Diskurse, zum anderen können sich kritische politische Diskurse im Sinne Walzers auch ohne eine globalistische Theorie geltend machen.

2. KONZEPTIONELLE GRUNDLAGEN DER BESTIMMUNG VON VERTEILUNGSKRITERIEN Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Walzer in Sphären der Gerechtigkeit zwei Anläufe zur Darstellung des seiner Argumentation zugrundeliegenden, als pluralistisch und egalitaristisch ausgegebenen Konzepts unternimmt: Zum einen präsentiert er eine pluralistisch-partikularistische Theorie der Güter und, daran anschließend, eine Reformulierung des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Gleichheit (SG 30–50). Diese Theorie soll seine Auffassung stützen, dass es die geeignetere Herangehensweise sei, die soziale Bedeutung der jeweils zu verteilenden Güter als Ausgangspunkt für die Bestimmung gerechter Verteilungsprinzipien zu nehmen, statt auf Kriterien zurückzugreifen, die übergreifende Geltung beanspruchen. Sie soll deutlich machen, dass Gleichheit dann 3

Siehe auch Haus 2012.

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eine überzeugende Vision darstellt, wenn sie nicht auf Gleichmacherei, sondern einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Gerechtigkeitssphären mit je spezifischen Ungleichverteilungen beruht. Zum anderen thematisiert Walzer drei grundlegende Verteilungskriterien (SG 51–58), die alle versprechen, auf eine bestimmte Weise die soziale Bedeutung von Gütern in Rücksicht zu stellen. Eine wichtige Inspirationsquelle als Gegenmodell zu Rawls war für Walzer William Galston (SG 24). Aus dessen Gerechtigkeitskonzeption4 übernimmt Walzer die beiden Verteilungskriterien Bedürfnis (need) und Verdienst (desert) und ergänzt Tausch (free exchange).5 In dem Beharren auf der eigenständigen normativen Gültigkeit jedes dieser Prinzipien liegt das zweite pluralistische Moment in Walzers Konzept. Das Prinzip der Gleichheit (equality) wird dann im Zusammenhang mit der Diskussion von gleicher Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft (citizenship) an anderer Stelle zusätzlich eingeführt und entfaltet weitreichende Konsequenzen, die auf den ersten Blick leicht zu übersehen sind. Systematisch steht es für die grundlegend gleich verteilte Chance, sich an der Interpretation sozialer Güter und der autoritativen Festschreibung von Verteilungskriterien zu beteiligen. Insofern handelt es sich um eine Art MetaPrinzip demokratischer Gerechtigkeit als Sphärenpluralismus. Das Problem dieses doppelten konzeptionellen Anlaufs liegt nun darin, dass der Zusammenhang zwischen den beiden Formen von Pluralismus systematisch nicht geklärt wird. Korrespondiert den drei abstrakten Verteilungsprinzipien sowie der staatsbürgerlichen Gleichheit jeweils eine eigene Gerechtigkeitssphäre? Wodurch bestimmen sich dann die anderen sieben Sphären, welche Walzer in seinem Buch präsentiert? Diese Fragen werden von Walzer nicht zufriedenstellend beantwortet. Ich werde im Folgenden den Zusammenhang zu plausibilisieren versuchen, indem ich zunächst den Sinn der pluralistischen Gütertheorie erläutere (1), um anschließend die pluralistische Prinzipientheorie damit in einen Zusammenhang zu stellen (2).

2.1 Die Theorie der Güter Walzers Theorie der Güter kommt konzeptionell die Funktion zu, einen möglichst weiten Rahmen der Gerechtigkeitstheorie abzustecken und zugleich den „Pfad der Interpretation“6 als angemessene Vorgehensweise zu etablieren. Mit der Erweiterung des gerechtigkeitstheoretischen Fokus will sich Walzer von Rawls’ Vorschlag abgrenzen, einen Set von „Grundgütern“ zu etablieren. Rawls’ Vorgehen bleibt nach Walzers Auffassung einem Streben nach Vereinheitlichung verhaftet und wird damit der Unterschiedlichkeit der zu verteilenden Güter und ihrer Einbettung in soziale Handlungszusammenhänge nicht gerecht (SG 41). Auch Gals4 5 6

Galston 1980. Letzteres entspricht Galstons (1991, S. 183 ff.) nachträglicher Erweiterung der Kriterienliste um choice. Walzer 1990a, siehe auch Haus 2003, I.4.2.

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tons aristotelische Konzeption löst sich nach Walzer nicht ganz vom Einheitsdenken, insofern sie bei der Betrachtung der unterschiedlichen Güterbereiche noch immer auf einen einheitlichen Subtext (die Theorie des individuell Guten) rekurriert. Walzer verweist stattdessen auf eine gemeinsame Praxis der Bürger und nicht auf eine unabhängige, essenzialistische Vorstellung des Guten, oder zumindest nicht auf eine, deren Nachvollziehbarkeit grundsätzlich fragwürdig erscheinen muss. Walzer leitet seine Gütertheorie mit einer scheinbar gänzlich unspektakulären Gegenüberstellung zweier Annahmen ein. Die erste lautet: „Menschen verteilen Güter an (andere) Menschen“ (SG 30). Darauf beschränkte sich die übliche Sicht der sozialen Prozesse, um der es einer Theorie der Gerechtigkeit gehe. Was dabei völlig ausgeblendet werde, seien die Praktiken, durch welche Güter erst hervorgebracht werden, wie auch die Tatsache, dass diese Praktiken wiederum durch Verteilungsvorgänge ermöglicht werden. Die Einsicht in die soziale Konstitution von Gütern bringt die zweite Annahme zum Ausdruck, welche Walzer seiner Gütertheorie zugrunde legt: „Menschen ersinnen und erzeugen Güter, die sie alsdann unter sich verteilen“ (SG 31). Die Bemerkung, dass Güter „nicht einfach in den Händen von Verteilungsagenten erscheinen, die mit ihnen machen, was sie wollen, oder die sie im Einklang mit einem allgemeinen Prinzip ausgeben“ (SG 31, SJ 6 f.)7, greift die von Nozick an Rawls gerichtete Kritik auf, wonach dieser vernachlässige, wie es überhaupt zur Produktion der zu verteilenden Güter kommt.8 Walzer zieht freilich nicht Nozicks individualistisch-prozedurale Schlussfolgerungen, dass Gerechtigkeit nur ganz grundlegende Rahmenbedingungen des Tausches von irgendwie produzierten Gütern erfordere. Denn auf diese Weise würde gerade verkannt, dass Güter in der Regel eine soziale Entstehungsgeschichte aufweisen (SG 453, Anm. 2). Dass bestimmte uns vertraute und wichtige Güter sowie damit zusammenhängende Praktiken in einem Minimalstaat à la Nozick überhaupt möglich wären, erscheint höchst fraglich (man denke etwa an eine demokratische politische Praxis oder ein öffentlich verantwortetes Bildungswesen). Es gibt nach Walzer keinen „Anfang“ der Güterproduktion, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen stehen wir immer schon in einem Kontext von Produktion und Verteilung und können weder unsere eigene Identität noch unsere Vorstellung einer guten Gesellschaft davon entkoppeln; zum anderen beruhen auch Möglichkeiten der Güterproduktion auf Verteilungsentscheidungen über Produktionsmittel und Produktionsweisen. Die soziale Konstitution der Güter darf also nicht derart auf eine zeitliche Dimension verkürzt werden, dass Güter erst produziert und dann verteilt werden. Es geht vor allem um den Hinweis, dass die Hervorbringung von Gütern von komplexen sozialen Aktivitäten abhängt, die nur durch die Bezugnahme auf deren

7 8

In Fällen, wo ich von der deutschen Übersetzung der Campus-Ausgabe abweiche, habe ich dies durch die Angabe der Belegstelle im englischen Original deutlich gemacht. Vgl. Nozick 1974, S. 149 f.

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Bedeutung möglich werden.9 An diese beigelegte Bedeutung knüpft dann die von Walzer zur Aufgabe erklärte Auslegung der „geteilten Verständnisse“ bzw. der „sozialen Bedeutung“ von Gütern an. Institutionen weisen immer eine normative Logik auf, die interpretativ freigelegt werden und als kritische Folie im Hinblick auf die tatsächliche Funktionsweise dienen kann. Besteht die normative Logik demokratischer Institutionen in der Generierung von Zustimmung zu Entscheidungen, die die Bürgerschaft als Ganze betreffen (ihr Lasten auflegen oder ihre Entwicklungsperspektiven strukturieren), so können kritisch jene Bereiche beleuchtet werden, in denen gar nicht nach dem Konsens der von schicksalsträchtigen Entscheidungen Betroffenen gefragt wird; verweist die Logik einer Marktwirtschaft auf den freien Tausch von Waren, so lässt sich in kritischer Absicht auf die faktische Herrschaftsnatur organisationsinterner Hierarchien in Wirtschaftsbetrieben und den faktischen Zwang zum Eingehen von Arbeitsverträgen aufgrund existenzieller Notlagen verweisen. Der zentrale Begriff der „Sphäre“ bezieht sich auf diese sozialen Bedeutungen der zu verteilenden Güter: „Das je einzelne Gut oder Set von Gütern konstituiert gewissermaßen seine eigene Distributionssphäre, innerhalb deren sich nur ganz bestimmte Kriterien und Arrangements als angemessen und dienlich erweisen“ (SG 36). Der Begriff der Sphäre ist bewusst metaphorisch und unscharf gehalten. Er erfüllt jedoch seine Funktion, deutlich zu machen, dass verschiedene Güter im Hinblick auf ihre sozialen Bedeutungen soweit zusammengefasst werden können, dass sich abgrenzbare Verteilungskriterien für sie postulieren lassen und Machtkonstellationen kritisiert werden können, die diese intrinsischen Kriterien verletzen. Eine Gesellschaft, in der die Güter gemäß den Kriterien ihrer je eigenen Sphäre verteilt werden, praktiziert nach Walzer die ‚autonome Distribution‘ von Gütern und damit Verteilungsgerechtigkeit. ‚Autonome Distribution‘ wird folgendermaßen definiert: „Kein soziales Gut X sollte an Männer und Frauen verteilt werden, die irgendein anderes Gut Y besitzen, bloß aufgrund der Tatsache, daß sie Y besitzen und ohne Rücksicht auf die Bedeutung von X“ (SG 50, SJ 20). Anstelle eines einheitlichen Standards zur Beurteilung aller Verteilungen weise das Prinzip der autonomen Distribution den Weg zu einer Vielzahl von Standards „für das je einzelne soziale Gut und die je einzelne Distributionssphäre in der je einzelnen Gesellschaft“ (SG 36). Dem Konzept der Gerechtigkeitssphären schreibt Walzer im Sinne seiner Vorstellung einer „internen Gesellschaftskritik“10 eine große kritische Kraft zu. Es bietet zum einen mit dem Prinzip der relativen Autonomie der Sphären ein „radi9

So erklärt Walzer zum Beispiel mit Blick auf die Verteilung politischer Macht, dass die entscheidende Frage sei, „was wir mit der Schaffung der politischen Gemeinschaft gewollt und intendiert haben“ (SG 53), wobei das englische Original den wichtigen Zusatz anhängt: „and […] what we still think about what we did.“ Ohne die öffentliche Auseinandersetzung über Sinn und Zweck der politischen Gemeinschaft und ihrer Institutionen, ohne die sich im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung bildenden Aktivitäten, gäbe es sie gar nicht und folglich auch keine zu verteilenden politischen Güter (politische Ämter, Beteiligungsmöglichkeiten, Ehrungen). 10 Siehe Haus 2003, I.4.1, Haus 2000, Kap. 1.1.

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kales Prinzip“ (SG 36) und schließt zum anderen an die handlungsmotivierende interpretative Form des moralischen Argumentierens an. Es liefert vor allem auch eine konzeptionelle Grundlage für das Verständnis zweier unterschiedlicher Strukturmerkmale von Gesellschaften, die für egalitäre Positionen jeweils eine spezifische Anknüpfungsmöglichkeit bieten, nämlich des Gütermonopols zum einen und der Güterdominanz zum andern (SG 36– 41). Das Monopol steht für die Konzentration des Besitzes eines Gutes auf wenige Personen, die Dominanz für die beherrschende Stellung eines Gutes im Gesamtzusammenhang von Güterverteilungen. Der gesamte Argumentationszusammenhang von Sphären der Gerechtigkeit lebt wesentlich von dieser gütertheoretisch begründeten Unterscheidung. Nach Walzers Auffassung konzentrieren sich egalitaristische Gerechtigkeitstheorien traditionell zu stark auf die Bekämpfung von Monopolen. Darin liegt die Tendenz zur Forderung einer „einfachen Gleichheit“ (simple equality) – was dann bekanntlich gern als „Gleichmacherei“ kritisiert wird, weil es unvermeidlich in staatliche Überregulierung zu münden droht (SG 41– 45). Walzers Alternativvorschlag lautet, bei Dominanzstrukturen anzusetzen. Monopole verlören dann viel von ihrer tyrannischen Wirkung – denn sie seien nur dann gefährlich, wenn ein dominantes Gut monopolisiert wird, mit dem sich die Besitzer überall Vorteile verschaffen könnten. Diese Vorgehensweise eröffne die Perspektive der „komplexen Gleichheit“, bei der Gleichheit nicht als ein Zustand der Gleichverteilung bestimmter Güter, sondern als eine übergreifende Eigenschaft des gesellschaftlichen Zusammenlebens begriffen wird (SG 46–50). Den Fokus auf die Dominanz von Gütern zu richten, bedeutet jedoch eine nicht zu unterschätzende konzeptionelle Herausforderung. Denn dies erfordert die Analyse erstens von institutionell vermittelten Güterlogiken und zweitens von sozialen Tauschbeziehungen. Eine solche Analyse ist mit einer Rawlsschen Methodologie nicht durchführbar, weil sie gerade von sozialen Praktiken zu abstrahieren trachtet. Was Walzer durch den Verzicht auf abstrakt-systematische Überlegungen an begrifflichem Begründungsaufwand spart, handelt er sich also als Beschreibungsaufwand wieder ein: Er steht vor nichts geringerem als der Aufgabe, „die gesamte soziale Welt gleichsam kartographisch aufzunehmen und abzubilden“ (SG 58). Diese Verschiebung des Arbeitsaufwandes folgt aus der Anwendung der interpretativen Methode. Ich werde unten auf die Frage zurückkommen, wie eine solche Bürde zu schultern ist. Walzer identifiziert in Sphären der Gerechtigkeit jedenfalls eine ganze Reihe von Dominanzstrukturen. Um diese Dominanzanalysen besser zu verstehen, ist eine weitere Unterscheidung von systematischer Bedeutung, nämlich die zwischen positiver (ein Gut führt zum Besitz weiterer Güter) und negativer (ein Gut verhindert den Besitz weiterer Güter) Dominanz: Tyrannische Übergriffe können in der Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung, der Politik und vieler anderer Bereiche, der Verbindung von attraktiven beruflichen Positionen mit hohem finanziellem Einkommen wie auch sozialem Status und der formalen Bildung als Zugangsvoraussetzung zu sozialem Erfolg insgesamt gesehen werden. Dominante Ausschlusswirkung entfalten häufig der Status als Ausländer, die Stigmatisierung

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durch harte und schmutzige Arbeit, die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht und Erwerbslosigkeit.

2.2 Die Verteilungsprinzipien Verdienst, Bedürftigkeit und Tausch Während sich der Neoaristoteliker Galston auf die Frage der Rangordnung zwischen und Gewichtung von Güterarten konzentriert, macht Walzer illegitime Konversionsprozesse zwischen ihnen zum zentralen Gegenstand. Walzers Standpunkt läuft auf die Behauptung hinaus, dass die wichtigste Gerechtigkeitsfrage nicht die nach den für die Aufrechterhaltung einer Handlungssphäre notwendigen Tugenden sei, sondern die nach dem Einfluss von externen Gütern. Oder anders formuliert: Gerechtigkeit als Tugend besteht vor allem darin, der Dominanz externer Güter zu widerstehen und sich an der internen Wertstruktur der Gütersphäre zu orientieren. Gerade mit dieser Grundorientierung eröffnet sich jedoch eine Neubestimmung der traditionellen aristotelischen Gerechtigkeitsvorstellung, dass Gerechtigkeit das Verdienst von Personen im Sinne ihrer Tugendhaftigkeit zu würdigen habe. So stützt sich auch bei Walzer die gerechte Verteilung sozialer Güter auf ein Verhältnis der Angemessenheit zwischen Gütern und persönlichen Qualitäten. Wenn der Einfluss dominanter Güter minimiert wird, so die Annahme Walzers, dann können sich in den jeweiligen Handlungssphären die jeweils konstitutiven Tugenden wie von selbst Bahn brechen. Wir kommen dann zu einer Gesellschaft, in der „we pay equal attention to the ‚different qualities‘, and to the ‚individuality‘ of every man and woman, that we find ways of sharing our resources that match the variety of their needs, interests, and capacities“11 – so Walzer in einer ursprünglich bereits 1973 veröffentlichten Erläuterung seines Gleichheitsverständnisses. Bei Walzer wird also die aristotelische Vorstellung von distributiver Gerechtigkeit, verstanden als „proportionale Gleichheit“ im Verhältnis von sozialen Gütern und den Qualitäten von Personen, reaktualisiert.12 Allerdings be-

11 Walzer 1980, S. 245. 12 Vgl. Günther 1994, S. 135–159, S. 173 f. Ein Zitat aus Aristoteles’ Politik (1282 b; 1989, S. 35 ff.) vermag zu verdeutlichen, dass dieser sich der Ungerechtigkeit dominanter Güter und der sie stützenden Ideologien in erstaunlicher Weise bewusst war: „Falls […] jemand in der Flötenkunst hervorragen sollte, doch bei weitem an edler Geburt und Schönheit nachsteht, so müsste man doch […] diesem die ausgezeichnetsten Flöten übergeben. Es müsste nämlich das Übermaß an Reichtum und edler Geburt zum Werk beitragen, doch das tut es nicht“ (zitiert nach der Übersetzung von Franz F. Schwarz [Reclam]). Zwar dient Aristoteles an dieser Stelle die Analogie zwischen Flötenkunst und Staatskunst als Argument dafür, dass politische Autorität nicht nach äußerlichen Kriterien, sondern gemäß der politischen Tüchtigkeit verteilt werden sollte. Es ist auch zutreffend, dass Aristoteles insgesamt die politische Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt (vgl. Keyt 1991). Dennoch kann festgehalten werden, dass die Plausibilität der Flötenkunstanalogie einen geteilten Sinn für die Verfehltheit von Verteilungspraktiken voraussetzt, bei denen ein allgemein dominantes Gut (Abstammung, Reichtum etc.) als Schlüsselgut für alle weiteren eingesetzt wird. Des Weiteren spricht Aristoteles offensichtlich das geteilte Hintergrundverständnis eines Eigensinns der künstlerischen Praxis an.

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zieht Walzer an dieser Stelle auch die Anerkennung von Bedürfnissen (needs) mit ein, worauf noch näher eingegangen werden wird. Das Prinzip der autonomen Distribution schärft nun den Blick für den Unterschied zwischen zwei Weisen, auf die Verdienstlichkeit belohnt werden kann, nämlich durch interne oder durch externe Güter.13 Interne Güter sind solche, die aus der Praxis selbst (und nur aus ihr) hervorgehen und als in sich wertvoll geschätzt werden. Klassischerweise gehören dazu der Ruhm und die hervorragende Stellung, die ich mir durch großartige Taten in einem Bereich verdiene. Das Prinzip der autonomen Distribution verlangt, dass Verdienstlichkeit gemäß internen Erwägungen belohnt werden soll. Am Beispiel von Walzers Diskussion wirtschaftlicher Führungspositionen wird deutlich, dass er hingegen für eine weitestgehende Ausblendung externer Belohnungen plädiert. Das Innehaben einer verantwortlichen Führungsposition selbst, verbunden mit dem Reiz, gestalten zu können und einem hohen Maß an sozialer Anerkennung, sei Belohnung genug. Es sei deshalb nicht nötig, Managern auch noch Spitzengehälter zu zahlen. Im Gegenteil: Der unangemessene Anreiz durch ein externes Gut (hier: Geld) bringt tendenziell die falschen Personen in die jeweilige Position (vgl. SG 178–182).14 Der Vorschlag, die Verteilung sozialer Güter mit dem Vorhandensein persönlicher Einstellungen und Qualitäten zu korrelieren, darf nicht mit einem Plädoyer für die Einführung einer Meritokratie (Herrschaft der Verdienstvollen) verwechselt werden. Bei dieser wäre die Gesellschaft insgesamt so organisiert, dass die gemäß objektiv nachprüfbaren Kriterien Qualifiziertesten gesellschaftlich wichtige Positionen erlangen und in den bevorzugten Genuss begehrter Güter kommen. Verdienst durch die politische Gemeinschaft direkt belohnen zu lassen und dabei an den Nachweis überprüfbarer Leistungen zu koppeln, würde in eine Tyrannei derjenigen münden, die über Verdienstlichkeit entscheiden und stände in krassem Gegensatz zu einer Gesellschaft mit einer Vielzahl von Gütersphären. Im Übrigen wird hier die schlechte Zirkularität monistischer Verteilungskonzeptionen deutlich: Denn wer hätte es verdient, über Kriterien der Verdienstlichkeit zu entscheiden, wenn doch dieser Verdienst bereits auf der Grundlage festgelegter Kriterien zu beurteilen wäre etc.? Verdienst wird in Walzers Modell dadurch belohnt, dass die politische Gemeinschaft die Autonomie der Verteilungssphären vor dem Einfluss externer Güter schützt.15 Damit komme ich zu der Frage, wie die drei Vertei13 Vgl. MacIntyre 1987. 14 Siehe auch Walzer 1980, S. 353. 15 Nach Walzers Auffassung weisen die liberalen Vorstellungen zu beruflicher Chancengleichheit mit ihrem Insistieren auf strikter individueller Gleichbehandlung hingegen einen meritokratischen Zug auf (SG 199). Sie vernachlässigten dabei die Tatsache, dass in unterschiedlichen Bereichen der Arbeitswelt unterschiedliche praktische Logiken zum Tragen kommen. Nicht immer liegt es in dieser Logik, auf vorzeigbare Qualifikationen zu setzen; mitunter spielen kulturelle Identitäten eine wichtige Rolle für die Ausübung von Solidarität (so bei Einwanderern und Genossenschaften); mitunter kommt es auf ideologische Loyalität an, so bei Tendenzbetrieben (SG 240 f.). Und genauso wichtig wie die Betonung der individuellen Nichtdiskriminierung in jenen Bereichen der Arbeitswelt, die nicht von diesen partikularistischen Logiken bestimmt werden, ist für Walzer die Auseinandersetzung mit der übermäßigen

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lungsprinzipien – Verdienst, Bedürfnis, freier Tausch – in ein sinnvolles konzeptionelles Verhältnis zum Kriterium der autonomen Distribution gesetzt werden können. Was für das Verdienstkriterium gezeigt wurde, gilt auch für die anderen beiden offenen Verteilungsprinzipien. Auch sie können nicht die Gesamtheit der Güterverteilungen bestimmen, wenn zugleich das Kriterium der autonomen Distribution Geltung haben soll, Güter also nur gemäß ihrer sozialen Bedeutung verteilt werden sollen. Walzer schreibt dazu, dass jedes der drei Prinzipien diese Funktion der Ermöglichung autonomer Distribution „innerhalb seiner eigenen Sphäre und nirgendwo sonst erfüllt“ (SG 57). Damit wendet er sich gegen ideologische Verabsolutierungen von Bedürftigkeit (Kommunismus), Tausch (Wirtschaftsliberalismus) und Verdienst (Meritokratie). Walzers Formulierung ist indes insofern missverständlich, als sie suggeriert, die Gültigkeit von Verdienst, Bedürfnis und freier Tausch beschränke sich auf genau eine Sphäre und innerhalb dieser Sphären kämen keine anderen Gesichtspunkte zum Tragen. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine Gesellschaft, die darauf achtet, dass Güter keine Dominanz entfalten, in verschiedenen Sphären die Berücksichtigung einer je spezifisch konturierten Form von Verdienst den Weg bahnt. Tatsächlich verhält es sich so, dass Walzer meist eine Verknüpfung der Prinzipien als angemessen ausweist. Das wird etwa in der Bildungssphäre deutlich, für die Walzer ein Mindestmaß an schulischer Bildung als ein allgemeines Grundbedürfnis ausweist (SG 295 ff.), die Verteilung weiterführender Bildung jedoch an Interesse und Fähigkeit der zu Bildenden knüpft (also an eine Form von Verdienstlichkeit). Es ist folglich nicht die Bedeutung des Gutes der Bildung an sich, welche Bedürftigkeit oder Interesse / Fähigkeit als Verteilungskriterium begründet. Das hängt damit zusammen, dass Güter durchaus in Beziehung zu verschiedenen Sphären stehen können (vgl. SG 36).16 Als Mitglieder der politischen Gemeinschaft bedürfen wir einer grundlegenden Schulbildung, um unsere Rolle als Bürger ausüben zu können. Für das Erreichen bestimmter beruflicher Positionen ist hingegen weiterführende Bildung essenziell, für die man sich erst qualifizieren muss. Alle drei offenen Verteilungskriterien liegen also offensichtlich quer zu den unterschiedlichen Gütersphären, wenn Walzer auch jeweils eine Sphäre ausweist, für die sie eine konstitutive Bedeutung haben. So ist Bedürftigkeit das konstitutive Kriterium für die Sphäre von Sicherheit und Wohlfahrt, aber auch relevant bei der Verteilung von bestimmten Formen von Bildung und von freier Zeit. Verdienst gilt Walzer als konstitutives Kriterium für Praktiken der Vergabe sozialer Anerkennung (etwa öffentliche Ehrungen, Preise), aber auch freie Zeit „verdient“ man sich in gewisser Weise durch Arbeit, und im Sinne von Chancengleichheit steuert

Bedeutung, die beruflichen Positionen überhaupt in der Gegenwartsgesellschaft zukommt. Die Verknüpfung von (formaler) Bildung, beruflichem Erfolg, Einkommen und sozialem Prestige stellt für ihn eine Kopplung sozialer Güter dar, die in sich bereits gegen das Prinzip der autonomen Distribution verstößt und noch dazu dominante Wirkung gegenüber anderen sozialen Gütern entfaltet (SG 203). 16 Vgl. Walzer 1995, S. 285.

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Verdienst auch Verteilungen in den Sphären von beruflichen Positionen und von Ausbildung. Freier Tausch schließlich wird nicht nur als konstitutives Kriterium bei „Geld und Waren“, sondern auch in den Sphären „freie Zeit“ und „harte Arbeit“ berücksichtigt. Auch in der Sphäre von Sicherheit und Wohlfahrt kann es insofern ein „Re-entry“ des Tauschprinzips geben, als es sinnvoll sein kann, die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse durch die Ermöglichung des Kaufs entsprechender Güter zu verwirklichen. So kann es zum Beispiel sinnvoller sein, mittellosen Haushalten einen pauschalen Geldbetrag zu transferieren, statt ihnen Lebensmittel oder Lebensmittelgutscheine zur Verfügung zu stellen, weil Bedürftigkeit sonst zum sozialen Stigma zu werden droht. Worin lässt sich der systematische Zusammenhang dieser jeweils unterschiedlichen Gewichtung von Bedürfnissen, Verdienst und freiem Tausch erblicken? Ich möchte folgende Lesart vorschlagen: Bedürfnisse sind immer dann im Spiel, wenn es um Fragen der Befähigung zur Teilnahme an bedeutsamen sozialen Praktiken geht. Walzer integriert hier den Fähigkeiten-Ansatz, wie er etwa von Martha Nussbaum oder Amartya Sen entwickelt worden ist.17 Verdienst bezieht sich auf den mehr oder weniger gelingenden Nachweis persönlicher Qualitäten (Leistungsbereitschaft, Kreativität, Teamfähigkeit etc.) im Kontext der sozialen Praktiken und der mit ihnen verbundenen Vorstellungen vom Guten. Auf diese Weise wird das aristotelische Verständnis von Gerechtigkeit integriert, wie man es etwa bei Alasdair MacIntyre findet. Freier Tausch schließlich kennzeichnet ein Moment der Vereinzelung, bei dem allein die subjektive Sicht des Wertes einer Sache den Ausschlag gibt. Hier sollen libertäre Intuitionen zu ihrem Recht kommen, ohne wie bei Nozick zum Ganzen der Gerechtigkeit überhöht zu werden. Es handelt sich bei den drei Prinzipien letztlich um übergreifende Verteilungskriterien, die jeweils in spezifischer Weise an die innere Verteilungslogik der jeweiligen Distributionssphäre zurückgebunden sind. Sie werden, um einen der Lieblingsausdrücke Walzers zu gebrauchen, durch alle Sphären hindurch „reiteriert“, das heißt immer wieder unter jeweils anderen Bedingungen und Sinnzusammenhängen zur Geltung gebracht. Doch wie bereits angedeutet, tritt ein viertes übergreifendes Kriterium hinzu, nämlich das der Gleichheit der Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft. Auch der gleiche Status von Mitgliedschaft dient einer Sphäre als Hauptkriterium (jener der „Mitgliedschaft“ in Verbindung mit jener der „politischen Macht“) und spielt in allen anderen Sphären eine Rolle. Auf den genauen Sinn dieser Rolle des Gleichheitsprinzips als Ausdruck gemeinsamer Bürgerschaft werde ich im nächsten Abschnitt eingehen. Die Gesamtarchitektonik von Walzers Argumentation kann folgendermaßen dargestellt werden:

17 Demnach sind Fähigkeiten die Voraussetzung für die Verwirklichung spezifischer Funktionen, die wiederum als die Voraussetzung für ein zumindest im minimalen Sinn gutes menschliches Leben gelten. Während Nussbaum explizite Listen solcher Fähigkeiten und Funktionen verfasst hat, übt sich Sen in Abstinenz und verweist auf demokratische Prozesse, in denen sie festzulegen seien.

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Komplexe Gleichheit Tabelle 1: Architektonik der Gerechtigkeitssphären bei Walzer Bedürfnis

Verdienst

Tausch

Mangel

Tugenden, Fähigkeiten

Eigentumstitel

Inklusion durch Befähigung

Integrität und Entfaltung von Praxis

Entscheidungsfreiheit

individuelle Lage

individuelle Fähigkeiten und Interessen

individuelle Präferenzen

„Reiteration“ (kontextualisierte Berücksichtigung)

sphärenspezifische Bedeutung der Güter

„Reiteration“ (kontextualisierte Berücksichtigung) Gleichheit Rechte und Pflichten demokratischer Staatsbürgerschaft, effektive Ausübung der Bürgerrolle als Teilhabe an der Interpretation sozialer Güter Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Haus 2003, S. 182.

3. WALZER UND DER EGALITARISMUS IN DER ZEITGENÖSSISCHEN GERECHTIGKEITSTHEORIE: WIE EGALITÄR IST WALZER GERECHTIGKEITSTHEORIE?

3.1 Der Begriff des Egalitarismus und die Egalitarismuskritik in der zeitgenössischen Politischen Theorie Kann Walzer seinen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz nun berechtigterweise „egalitär“ nennen? Um diese Frage sinnvoll beantworten zu können, bedarf es zunächst einer Klärung der Frage, wann einer Theorie dieses Prädikat zugesprochen werden sollte. Von Angelika Krebs wurde Walzer zu den zeitgenössischen Egalitarismuskritikern bzw. „Nonegalitaristen“ gezählt.18 Der Egalitarismus wird demnach von Theoretikern wie Rawls, Dworkin oder Sen verkörpert, für die Gleichheit erstens einen Wert an sich darstellt und zweitens als relationale Gleichheit (das heißt Gleichheit im Verhältnis zu dem, was andere haben) zu verstehen ist. Allenfalls als individuell durch persönliche Anstrengung und Leistung verdiente und als allgemein wohlfahrtsförderliche werde auch Ungleichheit von diesen egalitaristischen Theoretikern akzeptiert, freilich in unterschiedlichen Varianten. Von einer Reihe „hoffnungslos konservativ[er]“ Egalitarismuskritikern grenzt Krebs die 18 Vgl. Krebs 2000.

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„neue“ Egalitarismuskritik ab. Zu den Ersteren gehören etwa „Rechtslibertäre“ Theoretiker wie Robert Nozick, die den Schutz der negativen Freiheit für das einzige Gebot der Gerechtigkeit halten.19 Letztere werden von ihr auch als „humanistische“ Theoretiker geführt, die eine ausreichende Menge von Gütern für alle Gesellschaftsmitglieder (sowie in globaler Hinsicht für alle Menschen) verlangen, über dieses hinlängliche Minimum hinaus aber Verteilungen gemäß anderen Gesichtspunkten zulassen. Neben Nussbaum, Margalit, sich selbst, und anderen, zählt Krebs auch Walzer zu dieser Gruppe des humanistischen Nonegalitarismus. Walzer versteht Gleichheit demnach zum einen nicht als Ziel oder Wert an sich, zum anderen nicht relational. Wohlgemerkt unterscheidet Krebs zwischen „egalitaristischen“ und „egalitären“ Theorien. Die erste Kategorie bezeichnet eine Art der Begründung (Ungleichheiten sind zu rechtfertigen!), die zweite eine normativpolitische Haltung (die wie auch immer begründete Forderung nach stärkerer Angleichung in der Güterausstattung). Dieser Darstellung lässt sich zunächst jene von Will Kymlicka gegenüberstellen, der einen bestimmten egalitären Grundkonsens als Kennzeichnen aller modernen Gerechtigkeitstheorien ausmacht. „Eine Theorie ist in diesem Sinne egalitär“, so Kymlicka, „wenn für sie die Interessen jedes Mitgliedes der Gemeinschaft in gleichem Maße zählen. […] Eine [egalitäre] Theorie verlangt, daß für den Staat seine Bürger gleich viel gelten, daß jeder Anspruch auf gleiche Beachtung und Respektierung hat“.20 Haben alle modernen Theorien diesen „abstrakte[n] Gleichheitsgedanke[n]“ gemeinsam, so werde damit keinerlei „Gleichheit auf irgendeinem bestimmten Gebiet wie Einkommen, Vermögen, Chancen oder Freiheiten“ notwendig impliziert.21 Die verschiedenen Theorien unterscheiden sich dann gerade in der Übersetzung der allgemeinen Vorstellung der moralischen Gleichheit in ganz unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien, was in der Folge wiederum zur ganz unterschiedlichen Bewertung von Gleich- / Ungleichverteilung von Gütern führt. Beide Egalitarismusverständnisse erscheinen mir indessen problematisch. Gemeinsam ist ihnen eine abstrakt-philosophische Fassung der Kategorie des Egalitarismus, die das tatsächliche politische Eintreten für Gleichheit als sekundäres Merkmal von Gerechtigkeitstheorien betrachtet. Kymlicka macht sicher zu Recht darauf aufmerksam, dass zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien keinen Platz lassen für eine vorab festgelegte Höher- oder Minderrangigkeit bestimmter Gruppen. Was als Prinzipien festgelegt wird, muss allgemein begründet werden und schließt alle gleichermaßen ein. Sklaven „von Natur“ wie bei Aristoteles kann es demnach nicht geben. Allerdings weist Kymlickas Darstellung darüber hinaus keine Kriterien für die Einschätzung des einer Theorie eigenen Gleichheitsstrebens auf. Bei Krebs fällt hingegen auf, dass die Unterscheidung auf der ersten Ebene (zwischen „Egalitaristen“ und „Nonegalitaristen“) hinsichtlich einer Forderung der Angleichung tatsächlicher Güterausstattungen im Gegensatz zur Unter19 Krebs 2002, S. 118. 20 Kymlicka 1996, S. 10. 21 Kymlicka 1996, S. 11.

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scheidung innerhalb der Kategorie des „Nonegalitarismus“ (negative Freiheit / Humanismus) keine sonderliche Aussagekraft hat. Dies hat erstens zur Folge, dass Positionen, die hinsichtlich der Legitimation von Umverteilung stark kontrastieren, unter dem Label der Egalitarismuskritik zusammengebracht werden (etwa Walzer und Nozick), während Positionen, die sich politisch recht nahe stehen, aufgrund ihres abweichenden konzeptionellen Zugriffs getrennt werden (Walzer und Rawls). Krebs gesteht dies mit dieser Unterscheidung von „egalitaristischen“ und „egalitären“ Perspektiven auch zu und fügt ausdrücklich hinzu: „Nonegalitaristische Theorien können durchaus egalitärer sein als egalitaristische Theorien“.22 Krebs hält dafür, dass mithilfe der Kategorie des Egalitarismus gleichwohl „Klarheit in die Begründung von Gerechtigkeitsforderungen“ gebracht werde.23 Auch dies erscheint mir jedoch fraglich. Zum einen ist das Kriterium der „relationalen Gleichheit“ selbst nicht hinlänglich trennscharf. So hält auch der nonegalitaristische Nozick als Libertärer die relationale Gleichheit in einer bestimmten Weise unseren Gerechtigkeitsintuitionen entsprechend, indem er – wie sein Vorbild Locke – von absolut gleichen Freiheitsrechten und einem ursprünglich gleichen Anspruch auf alle Dinge in der Welt ausgeht, die sich jeder (durch Arbeit – also eine Art von Verdienst) persönlich aneignen kann, solange dies zum Vorteil aller gereicht (der für Nozick durch die Allgemeinheit von Tauschrechten gewährleistet ist – ein unterschwellig utilitarisches Argument, das sich übrigens ebenfalls bereits bei Locke findet). Zum anderen gibt es Theoretiker wie Amartya Sen, die neben der Gleichheit durchaus andere Gesichtspunkte für relevant halten. Meines Erachtens spricht deshalb zum einen einiges dafür, ein stärker politisches Verständnis von Egalitarismus zugrunde zu legen, zum anderen würde ich auf der Begründungsebene den zentralen Unterschied zwischen prozeduralen und interpretativen Politischen Theorien sehen. Im Sinne eines politischen Verständnisses von Egalitarismus hat etwa David Miller betont, dass das Eintreten für Gleichheit historischen Wandlungen unterliegt: Zu bestimmten Zeiten war das Eintreten für die Gleichheit vor dem Gesetz ein Kennzeichen egalitärer Forderungen, später (als die Rechtsgleichheit allgemein akzeptiert war) die Forderung nach politischer Gleichheit, und in unserer Zeit (wo kaum jemand gleiche politische Freiheiten infrage stellt) ist die Gleichheit der Lebensbedingungen (Miller nennt Einkommensgleichheit und Gleichheit der Güter- und Dienstleistungsversorgung durch den Staat) die entscheidende Frage.24 Miller schlägt infolgedessen vor, eine Doktrin bzw. Theorie dann egalitär zu nennen, wenn sie für eine größere Gleichheit der Lebensbedingungen eintritt. Indes ist auch diese Gleichsetzung von „Gleichheit der Lebensbedingungen“ mit Einkommens- und Versorgungsgleichheit problematisch. Sie spiegelt das Gleichheitsverständnis des „sozialdemokratischen“ Wohlfahrtsstaats wieder, wonach Gleichheit in erster Linie eine Frage der Verfügung über finanzielle Mittel und der Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen ist. Lebensbedin22 Krebs 2000, S. 15. 23 Krebs 2000, S. 17. 24 Miller 1990, S. 82.

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gungen werden hier gewissermaßen als die vom Wohlfahrtsstaat geplanten und regulierten Parameter der individuellen Lebensführung verstanden. Wie Habermas ist Walzer schon seit längerem der Auffassung, dass dieser Gleichheitsvorstellung die utopische Energie ausgegangen ist. Demnach wird das Leben der Klienten des Wohlfahrtsstaates verwaltet und reguliert, nicht aber zu einem selbständigen Handeln ermächtigt, welches den Wert der gleichen Achtung erst in der sozialen Praxis erfahrbar machen würde. Walzer betont, dass hinter dem historisch unterschiedliche Forderungen implizierenden Ruf nach Gleichheit ein gemeinsames Ideal und eine vergleichbare Erfahrung stehen, die der Gleichheit erst ihre Wertschätzung bei den Akteuren einbringt. Diese Grundbedeutung ist für Walzer zum einen eine negative, die Erfahrung eine Unrechtserfahrung und das Programm des Egalitarismus eine auf die Abschaffung des erfahrenen Unrechts abzielende Reformbestrebung. Walzer nennt diesen negativen Grundgehalt des Eintretens für Gleichheit in Anlehnung an die „Abolitionists“ (also die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei) auch „abolitionistisch“: Die historische Erfahrung persönlicher Unterordnung bilde den Nährboden für die Abschaffung nicht aller, sondern je spezifischer herrschaftsrelevanter Ungleichheiten. Zum anderen kommt darin auch eine positive Hoffnung zum Ausdruck, nämlich die einer von illegitimer Herrschaft (domination) generell befreiten Gesellschaft (SG 17 f.). Darin liegt nach Walzer die Hoffnung eines „politischen Egalitarismus“ (SG 18). Im Folgenden sollen zunächst verschiedene egalitäre Implikationen der Walzer’schen Argumentation herausgearbeitet werden, um im Anschluss auf Walzers Verständnis von politisch verstandener Gleichheit als Ziel der Gerechtigkeit einzugehen.

3.2 Egalitäre Implikationen der Sphärenkonzeption Das Konzept der komplexen Gleichheit, so wie es Walzer zunächst dargelegt hat, leidet unter begrifflichen Unklarheiten, die ihn zu Klarstellungen an anderen Stellen veranlassten.25 Wie ist es gemeint, wenn Walzer schreibt, dass eine pluralistische Theorie sozialer Güter eine überzeugendere Grundlage für eine Politik der Gleichheit darstelle als eine Theorie individueller Rechte (vgl. SG 21). Das grundlegende Problem ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen autonomer Distribution einerseits und komplexer Gleichheit andererseits. In Sphären der Gerechtigkeit musste mitunter der Eindruck entstehen, dass autonome Distribution und komplexe Gleichheit miteinander identisch sind. Tatsächlich müssen sie jedoch zumindest analytisch voneinander getrennt werden: Erstere kennzeichnet ein formales Verteilungsprinzip, Letztere ein materiales Verteilungsergebnis. Das Prinzip der autonomen Distribution selbst legt zudem noch keine konkreten Verteilungen fest, sondern dient lediglich dazu, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung sozialer Güter zu lenken (SG 50). „Autonome Distribution“ impliziert zudem noch keine Aussage darüber, wie viele verschiedene Güter mit distinkten sozialen 25 Vgl. Walzer 1995, S. 283 f.

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Bedeutungen bzw. Verteilungssphären es gibt, während „komplexe Gleichheit“ eine so hohe Zahl von Sphären voraussetzt, dass sinnvollerweise von „Komplexität“ gesprochen werden kann, wo auch immer genau die Grenze zu ziehen sein mag. Kann Walzer seinen gerechtigkeitstheoretischen Ansatz nun berechtigterweise „egalitär“ nennen? Wie es ihm um „komplexe“ Gleichheit geht, so kann auch die Antwort auf diese Frage nicht „einfach“ ausfallen. In gewisser Hinsicht scheint das Sphärenkonzept eher Ungleichheit zu legitimieren. Komplexe Gleichheit wendet sich ja nicht gegen jede Monopolisierung von Gütern innerhalb einer Sphäre, sondern nur gegen die Dominanz eines bestimmten Gutes und dessen Monopolisierung. Das scheint zum Beispiel zuzulassen, dass Einkommensunterschiede beliebig variieren können, je nachdem, wie es der Logik der Marktsphäre gerade entspricht. Wie kann angesichts dieser Legitimation von intrasphärischen Ungleichheiten noch von einem „Plädoyer für Gleichheit“ gesprochen werden26? Im Folgenden sollen vier egalitäre Aspekte ins Blickfeld gerückt werden, die erst in der Zusammenschau die hinter dem Ideal der komplexen Gleichheit stehende Intuition erhellen. Dabei kann zwischen unmittelbaren und mittelbaren Gleichheitsimplikationen des Prinzips autonomer Distribution unterschieden werden.27 (1) Eine Form von Chancengleichheit ist in der autonomen Distribution sozialer Güter begrifflich enthalten. Denn bei der Verteilung eines bestimmten sozialen Gutes sind alle Akteure in Bezug auf andere soziale Güter bzw. Distributionssphären dahingehend gleich zu behandeln, dass der Besitz oder Nichtbesitz der Güter anderer Sphären irrelevant für das Erlangen dieses Gutes ist. Die in den Debatten um Gerechtigkeit seit jeher wichtige Kategorie der Gleichbehandlung kann also innerhalb des Konzeptes der autonomen Distribution so verstanden werden, dass innerhalb einer Distributionssphäre für alle gleichermaßen die soziale Bedeutung dieses Gutes bzw. die in der jeweiligen Distributionssphäre gültigen Verteilungskriterien maßgebend sind. Jeder muss die Chance haben, seine für den Erwerb des jeweiligen Gutes qualifizierenden Eigenschaften zur Geltung zu bringen – womit auch der Zusammenhang zwischen Chancengleichheit und Verdienstkriterium herausgestellt wäre. Die zweite und die dritte egalitäre Implikation von Walzers Ansatz entspringen empirisch prognostizierbaren Folgen des Prinzips autonomer Distribution. (2) Zum Ersten ist hier eine Form des Ausgleichs zu nennen: Bei einer entsprechend hohen Zahl autonomer Distributionssphären steigt die Wahrscheinlichkeit, dass unterschiedliche Personen aufgrund ihrer spezifischen Neigungen und Fähigkeiten in unterschiedlichen Sphären ihr Glück und ihren Erfolg suchen und finden werden, sodass Gewinne und Verluste in einem gewissen Maße sphärenübergreifend kompensiert werden. (3) Die zweite wahrscheinliche empirische Folge mit egalitärer Wirkung kann man als personale Gleichwertigkeit bezeichnen: Wenn kein Gut die Verteilung der anderen Güter dominiert, dann kann auch der gesellschaftliche Erfolg eines Ak26 Vgl. entsprechend kritisch Brumlik 1992. 27 Vgl. Haus 2000, S. 257–263.

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teurs nicht an der erfolgreichen Akkumulation dieses einen dominanten Gutes gemessen werden. In einer Gemeinschaft mit autonomer Distribution einer Vielzahl von Gütern wird kein umfassendes Ranking der Mitglieder mehr möglich sein. Ausgleich und Gleichwertigkeit sind freilich nur dann empirisch erwartbare Folgen autonomer Distribution, wenn weitere Annahmen plausibel erscheinen: Zum einen muss es hinreichend viele Güter mit distinkter sozialer Bedeutung geben, sodass Komplexität zu Kompensationsmechanismen führt und eine Klasse der Erfolgreichen invisibilisiert. Zum anderen müssen die Mitglieder einer derart organisierten Gesellschaft tatsächlich über unterschiedliche Begabungen und Qualitäten verfügen, sodass nicht dieselben Personen durch alle Sphären hindurch erfolgreich sind, in welchem Falle wohl eher von „komplexer Ungleichheit“ gesprochen werden müsste.28 Nur wenn die Verteilung verschiedener Güter gemäß unterschiedlicher Gründe auch eine Verteilung an verschiedene Menschen ist, kann von komplexer Gleichheit gesprochen werden, wie Walzer später zugestanden hat.29 Komplexe Ungleichheit als Resultat hält Walzer freilich für eine nicht wahrscheinliche Folge autonomer Distribution. Wenn sie aber doch einträte, wäre sie eben moralisch nicht bedenklich (SG 49 f.).30 Denn es wurden ja alle Güter im Einklang mit „guten Gründen“ verteilt. Dabei gilt es freilich zu berücksichtigen, dass auch die negative Dominanz von Gütern gegen das Prinzip autonomer Distribution verstößt: Der Ausschluss eines „unteren Drittels“ der Gesellschaft, wie er für die westlichen Länder immer wieder festgestellt wird, ist in diesem Sinne ein schwerwiegender Verstoß gegen die Gerechtigkeit, weil hier aufgrund kollektiver Identitäten (Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht) und über die stigmatisierende Wirkung negativer Güter (Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlte Arbeit) bestimmte Bevölkerungsgruppen einen „radikalen Ausschluß von allen produktiven und distributiven Sphären“ erfahren.31 Das leitet über zum vierten egalitären Gehalt von Walzers Gerechtigkeitstheorie. (4) Der vierte egalitäre Aspekt leitet sich aus dem Status der Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft her und ist folglich demokratietheoretischer Natur. Zwei Punkte müssen in diesem Zusammenhang genannt werden: Zum ersten bezieht sich der Status gleicher Staatsbürgerschaft in der Sicht Walzers auf die Voraussetzungen zur Teilnahme an den Aktivitäten, welche in den verschiedenen Sphären ausschlaggebend für die Verteilung der Güter sind. Zum zweiten ist mit dem Status als Bürger das Prinzip verbunden, dass es die Bürger sind, denen die Autorität der Interpretation sozialer Bedeutungen von Gütern zukommt. Politik ist eine Sphäre besonderer Art: Ihr ureigener Sinn liegt darin, alle anderen Sphären zu ordnen und die subversive Wirkung dominanter Güter zu bändigen (vgl. SG 43, Fn.). Mit dieser Bestimmung der normativen Logik der politischen Sphäre verbindet sich die Forderung, dass die Auswirkungen von Verteilungsarrange28 29 30 31

Vgl. Rustin 1995, S. 28, Arneson 1995, S. 233. Walzer 1995, S. 283. Walzer 1995, S. 290. Walzer 1998, S. 49.

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ments keine systematische Beeinträchtigung der Bürgerrolle zur Folge haben dürfen. Mit anderen Worten: Wo immer eine „Klasse von ausgeschlossenen Männern und Frauen“ produziert wird, widerfährt dem Anspruch demokratischer Inklusion keine Gerechtigkeit.32 Diese Perspektive auf das Problem der Gleichheit als Bürger ist in Sphären der Gerechtigkeit bereits implizit von hoher Bedeutsamkeit, vor allem in der Behandlung der Bedürfnisse. Denn Bedürfnisse stehen letztlich für nichts anderes als den Anspruch, dass es allen Mitgliedern ermöglicht wird, weitestgehend zu voll kooperationsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft zu werden – die dann freilich mehr oder weniger Erfolg haben können. Radikale egalitäre Implikationen entfaltet der Grundsatz gleicher Bürgerschaft jedoch in Walzers Behandlung der Frage legitimer Einkommens- und Vermögensunterschiede. Interessant ist hier die Begründung seines Eintretens für weitgehende Gleichheit der Einkommen: Nicht aus Gründen sozioökonomischer Fairness (Rawls’ Ansatz) plädiert er dafür (er schließt eine solche Perspektive sogar explizit aus), sondern aufgrund der Einsicht, dass Einkommensunterschiede zu einer fundamentalen Ungleichverteilung von politischen Einflussmöglichkeiten führten (vgl. SG 171–173). Hier ist Walzers Argumentation im Hinblick auf sozioökonomische Ungleichheit sehr viel egalitärer als Rawls’ Differenzprinzip, das nur fordert, dass Unterschied den am wenigsten Begünstigten die besten Aussichten bieten sollten.33 Zugleich muss betont werden, dass Walzers Standpunkt auf einem empirischen Urteil über die Auswirkungen von Einkommensungleichheiten beruht, das man selbstverständlich in seiner Stichhaltigkeit auch bezweifeln kann.34 In der Zusammenschau von Chancengleichheit, Ausgleich, Gleichwertigkeit des Status und Gleichheit der Staatsbürgerschaft sollten die egalitären Momente von Walzers Gerechtigkeitstheorie, insbesondere der Zusammenhang von auto-

32 Vgl. Walzer 1993, S. 63 f. 33 Vgl. Haus 2000, S. 326–328. Freilich ist hier hinzuzufügen, dass Rawls den „gleichen Wert“ politischer Freiheiten gesichert wissen will, was für ihn bedeutet, dass politische Beteiligungsrechte von ökonomischer Ungleichheit nicht beeinträchtigt werden dürfen. Dies kann jedoch beispielsweise durch staatliche Parteien- und Wahlkampffinanzierung erfolgen (vgl. Rawls 1975, S. 256, siehe auch 1992, S. 232 ff.). 34 Auch wenn Walzer in einem späteren Aufsatz den besonderen begründungslogischen Status der Staatsbürgerschaft hervorgehoben hat (Walzer 1993, S. 64), erscheint es freilich zu weitgehend, mit Rainer Forst (1994, S. 236) von einem „formalen und materialen ‚Meisterprinzip‘ der Sphären sozialer Gerechtigkeit“ zu sprechen. Denn die Verteilungskriterien in den einzelnen Sphären werden keineswegs von einem Prinzip gleicher Mitgliedschaft abgeleitet. Es geht vielmehr darum, Inklusion in allen Sphären durch Teilnahmebefähigung zu sichern und politische Exklusion zu unterbinden. Indes kann man fragen, wie weitgehend die Implikationen des Erfordernisses gleichwertiger Staatsbürgerschaft sein sollten. Beschränken sie sich darauf, Gewinn- und Verlustmöglichkeiten in einzelnen Sphären auf ein verträgliches Maß zu beschränken oder erfordern sie vielleicht eine weitgehendere Berücksichtigung des Bürgerstatus in allen Handlungsfeldern? Die weitestgehende Aussage Walzers hierzu ist, dass staatsbürgerliche Inklusion als ein durch demokratische politische Aktivität in allen Sphären „reiterierter“ Wert verstanden werden könne (vgl. Walzer 1993, S. 64). Immer also treten wir auch als Bürger, das heißt als grundlegend Freie und Gleiche, in Erscheinung.

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nomer Distribution und komplexer Gleichheit deutlich geworden sein. Ein Regime komplexer Gleichheit kennzeichnet eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Menschen verschiedene persönliche Qualitäten zur Geltung bringen können und sich keine „herrschende Klasse“ und keine Klasse der „Ausgeschlossenen“ herausbilden kann, weil Ungleichheiten zum einen eine zu pluralistische Gestalt aufweisen und die Bürger zum anderen auf die Gleichwertigkeit ihres Mitgliedschaftsstatus achten. Diese Beschreibung macht bereits deutlich, dass komplexe Gleichheit das Ideal einer demokratischen Gemeinschaft ist. Egalitäre Politik ist selbst Sache der Bürger und sollte deshalb möglichst nicht auf dem Wege der juridischen Durchsetzung individueller Rechte realisiert werden.35 Das gilt wohlgemerkt auch für jene Gleichheitsforderungen, die nach Walzer gerade um der Gleichwertigkeit politischer Aktivitäten wegen Eingang in seine Darstellung der Gerechtigkeit finden. Die Begründung dafür verweist auf den nach Walzer tiefsten Sinn des Kampfes um Verteilungsgerechtigkeit. So schreibt Walzer, der politische Kampf gegen die Dominanz des Geldes selbst sei gegenwärtig vielleicht der „schönste Ausdruck von Selbstrespekt“ (SG 439, SJ 311). In diesem reflexiven „Anerkennungsgut“ der Selbstachtung kommt die Idee der Verteilungsgerechtigkeit gleichsam zu sich selbst. Subjektive und soziale Gerechtigkeit finden zueinander.

3.3 Gleichheit und Herrschaft – politische Gleichheit als Telos der Gerechtigkeit Fraglos kann komplexe Gleichheit in gewisser Hinsicht als „Nebenprodukt“ verstanden werden: sie diktiert direkt keine Güterverteilungen, sondern entfaltet sich durch die verschiedenen Sphären hindurch erst als Ergebnis von Verteilungspraktiken. Komplexe Gleichheit im Sinne Walzers ist aber durchaus kein Zufallsprodukt oder eine verzichtbare Beigabe zur autonomen Distribution der Güter, sondern bewusstes Ziel seiner Gerechtigkeitstheorie als ganzer. Dies wird etwa in folgender Formulierung deutlich: „[Die Komplexität] gibt uns folgende Frage auf: Wie viele Güter müssen autonom konzipiert sein, ehe die Beziehungen, die sie herstellen und deren Mittler sie sind, zu Beziehungen zwischen Gleichen werden können?“ (SG 60). Wenn Walzer hier von „Beziehungen zwischen Gleichen“ spricht, so meint dies eine Beziehungsqualität, die eben gerade nicht in der einfachen Gleichverteilung bestimmter Güter bestehen kann, sondern in der Art, wie sich die Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen begegnen und wechselseitig anerkennen. Aus diesem Grund halte ich zur Charakterisierung von Walzers Gerechtigkeitskonzeption den Ausdruck „politischer Egalitarismus“ für durchaus sinnvoll. Walzer liefert eine Gerechtigkeitstheorie, die den Begriff der Gleichheit auf ein konstitutives Gut hin interpretiert und auf die Ermöglichung der Chance des Gelingens von Anerkennungsverhältnissen abstellt. So bestimmt er die durch „komplexe Gleichheit“ strukturell eröffnete Möglichkeit der Selbstachtung („self 35 Walzer 1981.

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respect“) von Personen als „höchsten Zweck“ („deepest purpose“) der Gerechtigkeit (SG 395, SJ 278). Die politische Gemeinschaft als eine Gemeinschaft „um des guten Lebens willen“ (Aristoteles) heißt in Walzer’scher Übersetzung, dass dieses höchste Ziel nur in der politischen Gemeinschaft realisiert werden kann und dass es zugleich die ratio essendi der politischen Gemeinschaft darstellt. Es kann von daher nicht verwundern, dass Walzer dieses Regime komplexer Gleichheit, welches latent in den Praktiken einer demokratischen Gesellschaft vorhanden und doch nicht konsequent verwirklicht sei, in ausdrückliche Analogie zu Aristoteles’ Bürgerideal stellt (SG 451). Ein entscheidender Unterschied kann jedoch darin gesehen werden, dass die aristotelische Bestimmung des Bürgers als jemand, der „abwechselnd herrscht und beherrscht wird“36, die abwechselnde und dadurch gleichermaßen gegebene Möglichkeit an ein und derselben Praxis bezeichnet. Demgegenüber hat Walzer ein inhaltlich ausgeweitetes, pluralistisches, dadurch aber auch inklusiveres Verständnis des Bürgerideals im Sinne: Alle sozialen Handlungssphären gelten als Bereiche, in denen die Bürger „herrschen“ können, das heißt, Erfolg haben und den Ton angeben können. Selbstachtung steht für eine Qualität gesellschaftlichen Zusammenlebens, welche die Grenzen einzelner Praktiken („Sphären“) transzendiert und doch zugleich mit einer Vielzahl von Praktiken auf komplexe Weise verbunden ist. Walzer spricht in diesem Zusammenhang von einem „Regime komplexer Gleichheit“ (SG 60, SJ 28), also einer gesamtgesellschaftlichen Verfasstheit und Regulierungsweise. Nur wenn auch diese Seite des Konzepts der komplexen Gleichheit berücksichtigt wird, kann Walzers Neuinterpretation des Gleichheitsideals angemessen gewürdigt werden.

3.4 Gleichheit als universales Ziel und globale Gerechtigkeit Fragen der sozialen Gerechtigkeit werden heute zunehmend im globalen Kontext behandelt.37 Wie ist Walzers Argumentation vor diesem Hintergrund einzuordnen? Diese Frage kann in zwei Teilfragen unterschieden werden: Die erste Teilfrage lautet: Inwiefern ist Walzers Argumentation offen für universalistische Prinzipien der Gerechtigkeit? Die Frage nach dem universalistischen Gehalt von Gerechtigkeitsprinzipien betrifft zum einen die Möglichkeit, sich von den in einer Gemeinschaft herrschenden Überzeugungen zu distanzieren (einen davon losgelösten „moral point of view“ einzunehmen), zum anderen die Möglichkeit, über kulturelle Grenzen hinweg normative Standards argumentativ zu vertreten. Die zweite Teilfrage lautet: Welche normativen Forderungen hält Walzer zwischen politischen Gemeinschaften (also Staaten und ihnen zugehörige Kollektive) für einschlägig? Diese Frage betrifft die konkreten Forderungen, welche in der gegenwärtigen Situation plausibel begründet werden können. Ich werde den beiden Teilfragen nacheinander nachgehen, obgleich sie offenkundig eine starke Verbindung aufweisen. 36 Siehe etwa Aristoteles, Politik, 1287 a (1989, S. 16 ff.). 37 Vgl. Broszies / Hahn 2010.

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Walzer hat ausdrücklich festgehalten, dass er Sphären der Gerechtigkeit als Gerechtigkeitsentwurf für die Gesellschaft, in welcher er lebt, also die USamerikanische, versteht. Allgemein gilt ihm die „politische Gemeinschaft“ als sozialer Kontext einer Vorstellung sozialer Gerechtigkeit (SG 61–64). Eine von ihm durchgängig vertretene Überzeugung lautet, dass die Reflexion über distributive Gerechtigkeit eine intime Kenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse und politischer Diskurse der jeweiligen Gesellschaft erfordert. Immer wieder hat er auch deutlich gemacht, dass kritische Distanz gegenüber bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen nach seiner Auffassung nicht die Orientierung an einem objektiven moralischen Standpunkt erfordere, sondern als Interpretation bereits bestehender Überzeugungen einer Gemeinschaft verfahren könne.38 Dem stellte er Fragen internationaler Gerechtigkeit gegenüber, die vor allem mit der Integrität staatlicher Grenzen, also mit Fragen von Krieg und Frieden sowie anderen Formen der Interaktion zwischen Staaten zu tun haben.39 Als gemeinsame Überzeugung der Menschheit könne hierbei auf die Idee der Menschenrechte zurückgegriffen werden. Auch wenn Walzer in späteren Publikationen stärker die Möglichkeit der kulturübergreifenden Solidarität gegen Repression und des Einsatzes für die Einhaltung minimaler humanitärer Standards hervorgehoben hat, blieb er doch bei der Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit durch lokale Formen der Begründung und der Gesellschaftskritik zu befördern sei.40 Gleichwohl macht bereits die intensive weltweite Rezeption von Sphären der Gerechtigkeit deutlich, dass es nicht nur den Nordamerikanern etwas zu sagen hat. Dies legt zumindest die Vermutung nahe, dass sowohl hinsichtlich des Argumentationsansatzes als auch hinsichtlich der Bezugnahme auf gesellschaftliche Problemstellungen Fragen erörtert werden, die über nationale Grenzen hinweg geteilte Aufmerksamkeit finden. Außerdem lässt sich unter Verweis auf verschiedene Stellen konstatieren, dass Walzer seiner Perspektive durchaus eine weiterreichende normative Geltungskraft zuschreibt. Im Folgenden seien stichpunktartig einige universalistische Gehalte seiner Argumentation festgehalten: – Wenn Walzer fordert, dass Güter gemäß ihrer sozialen Bedeutung verteilt werden sollten, so ist diese Forderung selbst keine kulturrelative. Sie ist auch insofern nicht rein formal, als sie impliziert, dass eine solche Verteilung typischen Gefährdungen ausgesetzt ist, die über kulturelle Grenzen hinweg erkennbar sind, so die Durchsetzung partikularer Interesse durch den Rückgriff auf Gewalt (das vermeintliche „Recht des Stärkeren“) oder die korrumpierende Macht materieller Reichtümer (Korruption). – Im Sinne des von Walzer an anderer Stelle ausgeführten Gedanken eines „reiterativen Universalismus“41 lassen sich darüber hinaus ähnliche Erfahrungen in der Auseinandersetzung über Verteilungsgerechtigkeit und die Herausbildung ähnlicher Überzeugungen sichtbar machen. Einschlägige Beispiele wä38 39 40 41

Walzer 1990a. Walzer 1982. Walzer 1996. Walzer 1990b.

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ren hier etwa die Kritik an Simonismus (Ämterkauf) und Nepotismus (Begünstigung von Verwandten). – Walzer spricht davon, dass es der Sinn des „Gesellschaftsvertrags“ selbst sei, dass grundlegende Bedürfnisse befriedigt werden und eine Sphäre der Sicherheit und des Wohlergehens geschaffen werde, an der alle gemäß ihrer Bedürftigkeit und unter Achtung ihrer vollwertigen Mitgliedschaft partizipieren (SG 128). Welche Bedürfnisse genau von dieser Sphäre abgedeckt werden, unterliege jedoch der Selbstverständigung der Gesellschaftsmitglieder. Manche Forderungen, wie das Recht auf Leben und die Mittel zum Überleben, seien unabweisbar, anderen müssten von den zentralen Teilhabevoraussetzungen der jeweiligen Gesellschaft her begründet werden. – Bevor Walzer die „political community“ als Argumentationskontext ausweist, bringt er einen Hinweis auf hierarchische bzw. Kastengesellschaften als mögliche Ausprägungen kultureller bzw. politischer Gemeinschaften, in denen Güter durchgängig hierarchisch konzipiert würden und ihre autonome Distribution eine ins Leere gehende Forderung sei. Im Umkehrschluss macht er damit klar, dass Gesellschaften, die nicht von Grund auf durch eine hierarchische Sozialontologie geprägt werden, als prinzipiell empfänglich für Argumente gelten können, die auf die Verteilung der Güter gemäß ihrer jeweiligen sozialen Bedeutung beharren. Entsprechend heißt es im Vorwort zur deutschen Ausgabe, die Forderung nach „komplexer Gleichheit“ sei „sicher keine relativistische Idee […] In allen modernen Gesellschaften […] ist komplexe Gleichheit ein gültiger Standard“ (SG 11). – Als Letztes sei auf transkulturelle Verweise zu realen Erfahrungen der Verteidigung von Sphären hingewiesen. So bringt Walzer das Beispiel der japanischen Lehrergewerkschaft, die sich der Ökonomisierung der Schule immer wieder neu widersetzt habe (SG 297–300). Der politische Kampf um komplexe Gleichheit findet sich nicht nur in Amerika und nicht nur in westlichen Gesellschaften, sondern zumindest auch in nichtwestlichen Demokratien; sodass auch eine darauf gerichtete gemeinsame politische Praxis denkbar ist, möglicherweise bis hin zum telos des politischen Egalitarismus. Systematisch kann festgehalten werden: Weder bedeutet eine Anerkennung universal gültiger Standards, dass eine detaillierte Darstellung von Gerechtigkeitsforderungen einfach von einer Gesellschaft auf eine andere übertragen werden kann (denn die Anwendung der Standards hängt von den konkreten Bedingungen ab); noch bedeutet ein zunächst partikularistischer Standpunkt, dass transkulturelle Anschlussmöglichkeiten der Gerechtigkeitskommunikation ausgeschlossen werden. Von Bedeutung ist einerseits die Art der Gerechtigkeitsprinzipien, deren Universalität beansprucht wird, andererseits die Form der Argumentation insgesamt. Mit Blick auf Walzer bedeutet dies: zum einen verweisen die in seiner Argumentation zum Tragen kommenden universalistischen Standards selbst in starker Weise auf eine partikulare Verwirklichung; zum anderen erhebt seine interpretative Argumentationsweise allgemein nicht den Anspruch zwingender objektiver Wahrheit.

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Sphären der Gerechtigkeit und das Konzept der komplexen Gleichheit lassen sich so einerseits als eindrückliche Artikulation einer mehr oder weniger globalen politischen Tradition verstehen: der Tradition der demokratischen Linken. Inwiefern diese Tradition kulturelle Hegemonie gewinnen kann, ist aber eine Frage, die im Kontext konkreter politischer Gemeinschaften zu entscheiden ist. Dass „die Politik ihre höchsteigenen Gemeinschaftsbande produziert“ (SG 62), kann in diesem Zusammenhang so verstanden werden, dass sie ein Zusammengehörigkeitsgefühl stiftet, welches diesen Kampf verschiedener politischer Traditionen um kulturelle Vorherrschaft und (vorläufige) politische Machteroberung aushält – was für den globalen Kontext gerade nicht vorausgesetzt werden kann. Schließt man sich dieser Lesart an, kann die Anschlussfrage gestellt werden, durch welche globalen Praktiken die transkulturell verbindenden Überzeugungen so mit den lokalen Kämpfen und reichhaltigen Diskursen verbunden werden können, dass eine gemeinsame Strategie möglich wird. Diese müsste einerseits auf die Entwicklung von Gegenmacht gegen die global hegemonialen Diskursformationen des unumschränkten Kapitalismus zielen, andererseits die lokalen Kämpfe und ihre kontingenten Ergebnisse respektieren. Zwei Ausgangspunkte für eine solche Strategie hat Walzer in einem jüngst veröffentlichten Aufsatz immerhin benannt42: Zum einen das Insistieren auf die natürlichen Pflichten (natural duties) der Unterstützung von Menschen in ernsten Notlagen; zum anderen die Thematisierung von politischen Verpflichtungen (political obligations) als Ergebnis der Verursachung von gravierenden Folgeproblemen für andere politische Gemeinschaften. Globale Gerechtigkeit erfordert aus dieser Sicht keine besonderen Theorieanstrengungen im Sinne der Entwicklung neuartiger normativer Standards, sondern vor allem des wachen Blicks für menschliche Not und der beharrlichen Reflexion auf Ursache-Wirkungszusammenhänge. Angesichts von Phänomenen wie Umweltschäden, Armut, Hunger, Krankheit, Massenmord und ethnischen Säuberungen gibt es sowohl mit Blick auf das Gebot der Hilfeleistungen als auch der Einsicht in die Verantwortung der Ursachen keinen Mangel an Themen für einen kapitalismuskritischen globalen Diskurs. Dies gilt insbesondere, wenn man mit Walzer davon ausgeht, dass sie allesamt auch zurückzuführen sind auf „eine internationale Ökonomie, die durch Geld-, Arbeitskräfte- und Güterströme über politische und kulturelle Grenzen hinweg geprägt ist, und eine internationale Politik, die immer stärker durch die Anwendung von Gewalt und den Austausch militärischer Ressourcen über dieselben Grenzen hinweg geprägt ist“.43 Die Tyrannei von Geld und Zwangsgewalt macht an nationalen Grenzen nicht halt. So sind auch dem Kampf für Gerechtigkeit keine Grenzen gesetzt.

42 Walzer 2011. 43 Walzer 2011, S. 42 f., Übers. von M. H.

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DAS VERHÄLTNIS VON FREIHEIT, GLEICHHEIT UND HERRSCHAFT IN MICHAEL WALZERS THEORIE DER VERTEILUNGSGERECHTIGKEIT Eine republikanische Interpretation von „komplexer Gleichheit“* Manuel Knoll

1. MICHAEL WALZER – KOMMUNITARIST, LIBERALER ODER REPUBLIKANER? In seinen beiden Vorworten zu den deutschen Ausgaben von Spheres of Justice beklagt Walzer, dass sich die bisherigen Debatten um sein Buch vor allem um die meta-ethischen Fragen des Relativismus und Universalismus gedreht haben und „weniger um Probleme der Verteilungsgerechtigkeit“ oder seine „Forderung nach ,komplexer Gleichheit‘ “ (SG I, SG 11). Diese Entwicklung ist erstaunlich, weil Walzer sicherlich Recht hat mit seiner Auffassung, dass die Idee der komplexen Gleichheit die „interessantere Idee des Buches“ ist (SG 11). Denn diese Idee ermöglicht es, die gängige egalitaristische Forderung nach sozialer Gleichheit mit der Anerkennung einer Vielzahl von gesellschaftlichen Ungleichheiten zu vereinbaren. Nach Walzer ist komplexe Gleichheit nicht bloß keine relativistische Idee, sondern „ein gültiger Standard“ in allen modernen Gesellschaften (SG 11). In seinem Vorwort zum vorliegenden Band erklärt Walzer, er hoffe, dass die Idee der komplexen Gleichheit „reichhaltig genug (sufficiently rich)“ ist, „um verschiedene Interpretationen hervorzubringen, und zwar nicht bloß verschiedene Deutungen von besonderen sozialen Gütern, sondern auch verschiedene Verständnisse des gesamten Entwurfs“. Tatsächlich wurden in der bisherigen Forschung bereits einige mehr oder weniger ausgearbeitete Deutungen seines gesamten Entwurfs vorgelegt.1 Auch die vorliegende Untersuchung gibt eine Interpretation von Walzers Idee der komplexen Gleichheit beziehungsweise seines Entwurfs einer „komplex egalitären Gesellschaft“ (SJ 17, SG 46). Diese Interpretation lässt sich als eine republikanische charakterisieren. Diese Charakterisierung mag verwundern. Wird doch Walzer von seinen Rezipienten zumeist als „Kommunitarist“ verstanden.2 In ihrer Einlei* 1 2

Für scharfsinnige Kommentare und wertvolle Hinweise danke ich Michael Haus, Phillip Roth, Stefano Saracino und Michael Spieker. Arneson 1995, Haus 2000, Haus 2003, Haus 2012, Krebs 2002, S. 189, Krebs 2007, Krebs 2012, Miller 1995b, Swift 1995. Avineri / de-Shalit 1992, S. 7, 10; Haus 2003, S. 80–92, 132–141, 172–196; Honneth 1995, S. 17; Kersting 2004, S. 9; Kymlicka 2002, S. 209; Ottmann 2012, S. 348–368; Reese-Schäfer

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tung zu dem 2014 erschienenen Band Reading Walzer kennzeichnet Naomi Sussmann seine Gerechtigkeitstheorie als eine „distinctly statist version of communitarianism“; sein Kommunitarismus komme jedoch „suggestively close to liberalism“.3 Zweifellos lässt sich Walzer schwer in die gängige Abgrenzung von Liberalismus und Kommunitarismus einordnen. Das zeigt sich alleine schon daran, dass ihn manche Interpreten wie David Miller nicht als Kommunitaristen, sondern als Liberalen verstehen.4 Nach Otto Kallscheuer ist es „die liberale Tradition, für die Walzer einsteht“; Walzers Liberalismus sei jedoch ein „kommunitärer Liberalismus“.5 Obwohl Walzer letztlich einen „demokratischen Sozialismus“ anstrebt, steht er dem Liberalismus und seinen Grundwerten nahe (SG 448, SJ 318). So argumentierte er in seinem 1977 erschienenen Werk über Just and Unjust Wars vor allem auf der Grundlage der universalen Rechte des Individuums auf Leben und Freiheit, die der liberalen Tradition der Neuzeit entstammen.6 Auch wenn er den Wert dieser Rechte für seine gerechtigkeitstheoretischen Reflexionen in Sphären der Gerechtigkeit als begrenzt ansieht, bezieht er sich in den Kapiteln über Mitgliedschaft und Wohlfahrt auf sie (SG 21, SJ XV). Im Gegensatz zur universalistischen Tendenz des politischen Liberalismus bezieht sich Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit nicht auf die Menschheit, sondern auf partikulare politische Gemeinschaften (SG 61–64, SJ 28–30). Die Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft sieht er als das wichtigste soziale Gut an (SG 62, SJ 29). Menschen haben ein Bedürfnis (need) nach Gemeinschaft (SG 109, SJ 65). In Sphären der Gerechtigkeit grenzt sich Walzer explizit von dem Universalismus ab, den er bei Rawls erkennt, und betont dagegen seinen geschichtlichen und kulturellen Partikularismus, mit dem ein ethischer Relativismus einhergeht.7 Der erklärte Ausgangspunkt von Walzers gerechtigkeitstheoretischen Reflexionen sind die Moralvorstellungen und Bedeutungen der sozialen Güter von partikularen Gemeinschaften (SG 20, SJ XIV).8 Gegen Walzers Selbstverständnis, das ihn als Kommunitaristen ausweist, wurde von Angelika Krebs zu Recht eingewandt, dass seine Gerechtigkeitstheorie auch universalistische Aspekte enthält. So listet sie eine

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5 6 7 8

1995, S. 12. Michael Haus bemerkt allerdings, dass Walzer für einen „pluralistischen Republikanismus“ plädiert (Haus 2000, S. 167). Benbaji / Sussmann 2014, S. 2 (Hervorhebungen von Sussmann). In der Einleitung zu einem von ihm herausgegebenen Band mit Essays von Walzer erklärt Miller: „Politically, Michael Walzer is a liberal“. Zudem spricht Miller wiederholt von „Walzer’s liberalism“ (Walzer 2007, S. XI f.). Kallscheuer 1990, S. 131. Vgl. zu Walzers Nähe zum Liberalismus Ottmann 2012, S. 349, und Gebhardt 2012, S. 34, 38, 40, 47. Walzer 1982; Walzer 2006a. Vgl. hierzu die Einleitung zu vorliegendem Band, insbesondere Fn. 12. Vgl. dazu Alasdair MacIntyres Auffassung, es existierten „zwei widerstreitende und unvereinbare Auffassungen von Moral“ (MacIntyre 1995, S. 93). Die moderne liberale Moral, die der Neutralität und Unparteilichkeit verpflichtet ist, versteht moralische Regeln als universal und allgemein. Diese konfrontiert MacIntyre mit der „partikularistischen Moral des Patrioten“, die an die Existenz und Loyalität zu einer bestimmten politischen Gemeinschaft gebunden ist (MacIntyre 1995, S. 97 f., 93, 91).

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Reihe von „Garantien für alle Menschen qua Menschsein“ auf, die sich bei ihm am Ende ergeben würden. Zudem stellt sie zu Recht den von Walzer behaupteten partikularistischen bzw. kulturrelativistischen Charakter von Verteilungskriterien infrage und verweist dagegen auf die von Walzer selbst eingeräumte universale Anwendbarkeit mancher Kriterien (SG 35 f., SJ 9).9 Walzer selbst wählt für sein 2004 erschienenes Buch Politics and Passion den Untertitel Toward a More Egalitarian Liberalism. Darin hält er an der Auffassung fest, die er bereits 1990 in dem Aufsatz The Communitarian Critique of Liberalism vertreten hat. Ihr zufolge lässt sich Kommunitarismus weniger als eigenständige Lehre oder substanzielles politisches Programm verstehen, sondern als Korrektiv der liberalen Theorie und Praxis.10 In seinem Aufsatz erklärt Walzer über den Liberalismus: „Der Sprache der Individualrechte – zu denken ist an die freie Vereinigung, an Pluralismus, Toleranz, Trennung, Privatheit, an die freie Rede oder an das Leistungsprinzip (careers open to talents) – kann sich heute niemand entziehen“.11 Zwar gibt es nach Walzer keine Alternative zum liberalen Staat, der sich aus verschiedenen sozialen Gruppen und Gemeinschaften zusammensetzt.12 Er plädiert jedoch dafür, diesen einer kommunitaristischen Korrektur zu unterziehen. Der liberale Staat ist nicht bloß gegenüber den verschiedenen Konzeptionen des guten Lebens der Individuen neutral, sondern auch gegenüber den Gruppen und Gemeinschaften, die er enthält. Dagegen argumentiert Walzer für einen parteiischen bzw. nichtneutralen liberalen Staat, der einige soziale Gruppen und Gemeinschaften, „vor allem diejenigen, die in Gestalt und Zielen den gemeinsamen Werten einer liberalen Gesellschaft am meisten zu entsprechen scheinen, stützen und fördern“ muss.13 Dabei denkt er vor allem an die Förderung von zivilgesellschaftlichen Netzwerken wie Gewerkschaften, Religionsgemeinschaften und Nachbarschaften (neighborhoods). Walzer setzt sich mit der zu seiner Zeit gängigen Auffassung auseinander, dass der nichtneutrale liberale Staat, dessen Aktivitäten er rechtfertigt, am besten in einer republikanischen Begrifflichkeit verstanden werden kann. Dieser Auffassung zufolge ist „es die Wiedergeburt des neoklassischen Republikanismus, der das derzeitige kommunitaristische Politikkonzept wesentliche Teil seines Inhalts verdanke“.14 Auch wenn Walzer die Nähe von Republikanismus und Kommunitarismus nicht in Abrede stellt, kritisiert er, dass es sich um eine „weitgehend aka9 10 11 12

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Krebs 2007, S. 701–703, Krebs 2012, S. 93–95 (Hervorhebungen von Krebs). Vgl. dazu die Einleitung zu vorliegendem Band. Walzer 2004, S. X. Vgl. Walzer 1990 und Walzer 1995a. Walzer 1995a, S. 169 (Einfügungen aus dem Originaltext von M. K.). In einer liberalen Gesellschaft werden die Menschen in unterschiedliche Gruppen hineingeboren bzw. mit verschiedenen Identitäten geboren: „Was den Liberalismus kennzeichnet, ist weniger die den Individuen eingeräumte Freiheit, sich auf der Basis dieser Identitäten zu Gruppen zusammenschließen, als vielmehr die Freiheit, diese Gruppen und bisweilen sogar diese Identitäten hinter sich zu lassen bzw. sie abzustreifen“ (Walzer 1995a, S. 171). Walzer 1995a, S. 172 f. Walzer 1995a, S. 176. Der häufig als Kommunitarist klassifizierte Charles Taylor beruft sich wiederholt auf den klassischen Republikanismus (Taylor 1995).

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demische Wiedergeburt“ ohne „Realitätsbezug“ handelt, weil es in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten keine republikanischen Vereinigungen und keine Bewegungen und Parteien gebe, die solche Vereinigungen förderten.15 Unter „Republikanismus“ versteht Walzer eine integrierte und in sich einheitliche Doktrin, der zufolge Energie und Engagement in erster Linie auf den politischen Bereich konzentriert sind. Er ist eine (in seinen klassischen wie in seinen neoklassischen Ausprägungen) auf die Bedürfnisse von kleinen homogenen Gemeinschaften zugeschnittene Lehre, von Gemeinschaften, deren bürgerliche Struktur radikal gleichförmig ist. Vielleicht kann sie, diese Lehre, dahingehend ausgeweitet werden, daß sie auch eine „Republik der Republiken“, eine dezentralisierte und partizipatorische Neuauflage (revision) der liberalen Demokratie zu begründen vermag. Erforderlich wäre hierzu eine erhebliche Stärkung der Lokalregierungen, mit dem Ziel, die Entwicklung und Entfaltung von Bürgertugenden in einer pluralistischen Vielfalt von Sozialsystemen in Gang zu setzen. Dies bedeutete in der Tat ein Streben nach Einlösung der im Liberalismus steckenden Gemeinschaftspostulate […]. Den nichtneutralen Staat haben wir uns in diesem Fall als einen Staat vorzustellen, der Großstädte, Kleinstädte und Dörfer zu seinen Bevollmächtigten macht, der Nachbarschaftskomitees und Aufsichtsgremien seine Unterstützung zuteil werden lässt und der beständig nach Bürgergruppen Ausschau hält, die bereit sind, in Lokalangelegenheiten Verantwortung zu übernehmen.16

Auch wenn der Republikanismus nach Walzers Verständnis vor allem für kleine, einheitliche politische Gemeinschaften angemessen ist, hält er dessen Übertragung auf den Nationalstaat für möglich. Dabei müsste die republikanische Lehre, die er der politischen Linken zuordnet, jedoch pluralisiert bzw. an den zivilgesellschaftlichen Pluralismus angepasst werden. Denn in ihrer gängigen Form übersehe sie, dass „der Pluralismus für alle zivilen Gesellschaften notwendig ist“.17 Im Zentrum von Walzers Republikanismusverständnis steht die partizipatorische und dezentrale Selbstregierung von tugendhaften Bürgern auf städtischer und kommunaler Ebene. In seinem 1991 veröffentlichten Vortrag The Civil Society Argument erklärt er, dass er den aktiven und engagierten Bürger durchaus als eine interessante Figur ansieht. Dennoch kritisiert Walzer etwa am Republikanismus Hannah Arendts, dass ein moderner Bürger sich nicht ausschließlich der Politik widmen könne, sondern sich auch um andere Dinge kümmern müsse, insbesondere um seine Arbeit und Karriere. Zudem wendet er ein, dass die einzelnen Bürger auf die großen zeitgenössischen Demokratien nur einen begrenzten Einfluss hätten und am politischen Leben primär durch ihre Repräsentanten partizipierten.18 Die oben angeführte Passage verdeutlicht, dass Walzer eine republikanische Reform der liberalen Demokratie für möglich hält. Dieses Projekt steht im Einklang mit der gängigen Ansicht, nach der der Republikanismus nicht bloß dem Kommunitarismus, sondern auch dem Liberalismus nahesteht, sich jedoch von beiden Strömungen kritisch und korrektiv abgrenzt.19 Walzers Ausführungen ver15 16 17 18 19

Walzer 1995a, S. 176 f. Walzer 1995a, S. 177 (Einfügung aus dem Originaltext von M. K.; Hervorhebung von M. W.). Walzer 1996, S. 66 (Hervorhebungen von M. W.). Walzer 1996, S. 68 f. Skinner 1990. Vgl. hierzu Saracino 2010. Philip Pettit zufolge gibt es deutlich erkennbare Kontinuitäten zwischen Liberalismus und Republikanismus. Daher erwägt er den Wert von

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deutlichen zudem, dass er eine republikanische politische Ordnung wertschätzt. Auch in dem Kapitel über „Politische Macht“ in Sphären der Gerechtigkeit spricht er sich für die demokratische Selbstregierung einer aktiv debattierenden und deliberierenden Bürgerschaft aus: „Das Argument für stärkere Formen von Partizipation ist zugleich ein Argument für komplexe Gleichheit“ (SJ 308, Übers. von M. K., SG 436). Walzer bringt seine Wertschätzung des Republikanismus überdies in der Fußnote am Ende der oben angeführten Passage zum Ausdruck, in der er im Hinblick auf Sphären der Gerechtigkeit erklärt: „Ein solcher pluralistischer Republikanismus dürfte auch die Aussichten jenes Phänomens verbessern, das ich ,komplexe Gleichheit‘ genannt habe“.20 In seinen knappen Ausführungen über den Republikanismus in The Communitarian Critique of Liberalism und The Civil Society Argument kommt Walzer nicht auf den Begriff zu sprechen, der sowohl für den Liberalismus als auch für den Republikanismus zentral ist: Freiheit. Gleichwohl spielt dieser in der WalzerRezeption vernachlässigte Begriff in Sphären der Gerechtigkeit eine bedeutende Rolle. Die vorliegende Untersuchung analysiert die Bedeutung des Begriffs der Freiheit und das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Herrschaft in Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit. Die erste These der Untersuchung ist, dass Walzers Werk nicht bloß eine Verteidigung von Pluralismus und Gleichheit darstellt, wie es der Untertitel ankündigt, sondern auch von Freiheit. Das vorrangige Ziel einer gerechten Gesellschaft, die der Norm der komplexen Gleichheit entspricht, so die zweite These, ist die Verwirklichung einer gleichen Freiheit für alle Bürger. In Sphären der Gerechtigkeit versteht Walzer den Begriff der Freiheit nicht im Sinne des politischen Liberalismus als die Rechte und Freiheiten, die in den verschiedenen Katalogen der Grund- und Menschenrechte aufgelistet werden. Nach Rawls ist das Recht auf diese Freiheiten, die eine gleiche Autonomie der Bürger sicherstellen sollen, ein Gebot der Gerechtigkeit. So fordert sein erster Gerechtigkeitsgrundsatz: „Jede Person muss ein gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten haben, das mit einem ebensolchen System der Freiheiten für alle vereinbar ist.“21 Im Gegensatz dazu begreift Walzer Freiheit in Sphären der Gerechtigkeit vor allem im Sinne des zeitgenössischen Republikanismus als einen Zustand, der alle Bürger verlässlich vor Herrschaft und Beherrschung (domination) schützt. Dieses Verständnis, das Freiheit als „non-domination“ bestimmt, wurde in der zeitgenössischen politischen Theorie und Philosophie am weitreichendsten von Philip Pettit in seinen 1997 und 2012 veröffentlichten Werken Republicanism. A Theory of Freedom and Government und On The People’s Terms. A Republican Theory and Model of Democracy

Richard Daggers Charakterisierung seines republikanischen Ansatzes als „republican liberalism“ oder „liberal republicanism“, obwohl er im Republikanismus ein radikaleres Freiheitsideal als im Liberalismus erkennt (Pettit 2012, S. 11). 20 Walzer 1995a, S. 177 (Hervorhebungen von M. K.). 21 Rawls 1971, S. 302 (Übersetzung von M. K.). Vgl. zur dt. Übers. Rawls 1979, S. 336.

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ausgearbeitet.22 Eine Betrachtung von Walzers Idee der komplexen Gleichheit aus der Perspektive von Pettits Republikanismus, so die methodische Grundannahme der vorliegenden Untersuchung, verhilft zu einem besseren Verständnis dieser Idee. Komplexe Gleichheit, so die zentrale dritte These, lässt sich am angemessensten als gleiche Freiheit von Herrschaft und Beherrschung verstehen. Der nachfolgende Abschnitt skizziert, wie Pettit das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit begreift. Im Anschluss daran erfolgt eine detaillierte Interpretation von Walzers Idee der komplexen Gleichheit und der mit ihr verknüpften zentralen Begriffe wie Dominanz, Tyrannei, Herrschaft, Autonomie, Gleichheit und Freiheit.

2. DIE REPUBLIKANISCHE AUFFASSUNG DES VERHÄLTNISSES VON FREIHEIT, GLEICHHEIT UND SOZIALER GERECHTIGKEIT Philip Pettit versteht seine Arbeiten als Teil einer wachsenden Anzahl von neueren Beiträgen zur Politischen Theorie, die sich an einem republikanischen Ideal orientieren oder von der republikanischen Denktradition angeleitet werden. Als Ausgangspunkt dieser Bewegung benennt er Quentin Skinners historische Forschungen zu den mittelalterlichen Grundlagen des neuzeitlichen politischen Denkens und dessen Artikel zu Machiavelli und anderen Denkern, die innerhalb einer republikanischen Tradition schreiben, die als solche von John Pocock identifiziert wurde.23 Diese Tradition, die Pettit die „italienisch-atlantische“ nennt, beginnt mit Polybios, Cicero und Titus Livius in Rom. Auf diese Denker stützten sich führende italienische Denker des Mittelalters und der Renaissance, insbesondere Machiavelli, den Pettit als den „göttlichen Machiavelli“ bezeichnet, in seinen Discorsi.24 Fortgeführt wurde die republikanische Tradition im angelsächsischen Raum von James Harrington, John Milton und Algernon Sidney, in Frankreich von Montesquieu. Dagegen beginnt nach Pettit mit Rousseau die kommunitaristische Tradition, die er als eine im weitesten Sinne kontinentale Form von Republikanismus ansieht und von der italienisch-atlantischen abgrenzt. Kritiker des Liberalismus wie Hannah Arendt und Michael Sandel beriefen sich anscheinend auf die kontinentale Form.25 Rousseau halte zwar an dem spezifischen Charakteristikum der italienischatlantischen Tradition fest, nämlich dem Verständnis von Freiheit als „nondomination“. Er breche aber dramatisch mit dieser Tradition, indem er gegen ihre anderen beiden Merkmale argumentiere: die Mischverfassung und die streitbare 22 Pettit 1997, Pettit 2012. 23 Pocock 1975; Skinner 1978; Skinner 1990; Skinner 1998. Vgl. hierzu Pettits Auflistung einer Vielzahl von neueren Arbeiten in der Tradition des Republikanismus (Pettit 2012, S. 3, Fn. 1). 24 Pettit 1997, S. 5; Pettit 2012, S. 6. 25 Pettit 2012, S. 11 f. Im Gegensatz zu Pettits Auffassung identifiziert Walzer den Neorepublikanismus vor allem mit Rousseau. Walzer erkennt jedoch auch beim Liberalen John Stuart Mill den Einfluss republikanischen Denkens (Walzer 1996, S. 67 f.; vgl. hierzu die Erwähnung von Rousseau und Mill in Walzer 1995a, S. 177).

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Bürgerschaft (contestatory citizenry). Die Mischverfassung zeichnet sich nach Pettit durch die Beteiligung der Bürger an der Herrschaft und durch die Beschränkung der Macht aus, die durch eine Scheidung der Gewalten bewirkt wird.26 Dadurch sichert die Mischverfassung in der Republik die Herrschaft der Gesetze und die Gleichheit der Bürger, und damit letztlich ihre gleiche Freiheit. Die streitbare Bürgerschaft ist die bürgerliche Ergänzung dieses Verfassungsideals. Um ihre Freiheit sichern zu können, müssen die Bürger durch ihre Wachsamkeit dafür sorgen, dass sich die Republik auf die ihr angemessenen Aufgaben beschränkt. Um die öffentliche Politik verfolgen und anfechten zu können, müssen die Bürger über individuelle und kollektive Tüchtigkeiten verfügen.27 Die neue Perspektive, die die republikanische Tradition auf die zeitgenössische Politik eröffnet, verdankt sich nach Pettit vor allem dem innovativen Verständnis von Freiheit als „non-domination“, das auf das römische Denken zurückgeht. Dieses Verständnis wurde jedoch seit den Debatten um die Amerikanische Revolution verdunkelt und von dem liberalen Verständnis von Freiheit als „noninterference“ (Nicht-Einmischung) abgelöst. Im Einklang damit wurde der Republikanismus vom Liberalismus als vorherrschende politische Philosophie ersetzt.28 Freiheit als „non-interference“ ist identisch mit dem Verständnis, das Isaiah Berlin in Two Concepts of Liberty als „negative Freiheit“ bezeichnet und von einer „positiven Freiheit“ abgrenzt.29 Gegenüber dieser Unterscheidung begreift Pettit im Anschluss an Skinners Arbeiten Freiheit als „non-domination“ als eine dritte Möglichkeit. Nach Berlin bedeutet „negative Freiheit“ die Abwesenheit von „interference“ (Einmischung). Ich bin in negativer Weise in dem Grade frei, in dem kein Mensch sich in meine Aktivitäten einmischt und ich eine ungehinderte oder ungezwungene Wahl treffen kann.30 Im Gegensatz dazu erfordert „positive Freiheit“ mehr als nur von anderen Menschen in Ruhe gelassen zu werden. „Positive Freiheit“ bedeutet Selbstbeherrschung („self-mastery“). Dieses Ideal impliziert, dass ein Mensch in sich widerstreitende Kräfte oder Teile hat. Ich bin in positiver Weise in dem Grade frei, in dem ich Selbstbeherrschung erlange, das heißt die Herrschaft über meine schlechteren Bestandteile.31 Nach Pettit hat die Vorherrschaft von Berlins Unterscheidung den Blick für die philosophische Gültigkeit und historische Realität eines dritten und republikanischen Verständnisses von Freiheit verstellt: Freiheit als „non-domination“. Dieses bestimmt Freiheit auch als Abwesenheit, aber als die Abwesenheit von Herrschaft und Beherrschung („mastery“, „domination“). Damit liegt dieses Verständ26 Pettit unterschlägt, dass die Mischverfassung die Beschränkung der Macht traditionell auch durch eine Machtteilung zwischen den Ständen bewirkt. Der Grund dafür dürfte sein, dass sich eine derartige Machtteilung nicht mit seinem „demokratischen Republikanismus“ und seinem Ideal der Gleichheit der Bürger verträgt. 27 Pettit 2012, S. 5. 28 Pettit 1997, S. 12. 29 Berlin 1958. 30 Berlin 1958, S. 7; Pettit 1997, S. 17. 31 Berlin 1958, S. 19; Pettit 1997, S. 17.

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nis gewissermaßen zwischen Berlins Alternative, da es die Konzentration auf „Abwesenheit“ mit derjenigen auf „Herrschaft“ verbindet.32 Pettit veranschaulicht sein Verständnis von Herrschaft und Freiheit mit dem Verhältnis von Herr und Sklave. Die ideengeschichtlichen Wurzeln dieses Verständnisses reichen bis in das römische Denken zurück.33 Dieses begreift das Gut der Freiheit (libertas) als den Gegensatz zum Zustand der Unfreiheit des Sklaven (dominatio, servitus), der seinem Herrn (dominus) unterworfen ist. Im Extremfall bedeutet das Verhältnis von Herr und Sklave, dass der Herrschende sich willkürlich in die Wahl des Beherrschten einmischen kann. Freiheit als „non-domination“ kommt dagegen einem Zustand gleich, in dem eine Person mehr oder weniger immun ist gegen die willkürliche Einmischung von anderen Personen. Auf der Ebene der Politik erfordert dies eine Ordnung der politischen Gemeinschaft, die alle Bürger gegen eine willkürliche Einmischung der Mächtigen und damit gegen ihre Beherrschung absichert. Dies ist das republikanische Ideal von sozialer und politischer Freiheit.34 Die beiden republikanischen Ideen einer Mischverfassung und einer streitbaren Bürgerschaft dienen vor allem der Verwirklichung und Sicherung dieses Freiheitsideals für alle Bürger. In seinem 2012 veröffentlichten Werk On The People’s Terms präsentiert Pettit eine republikanische Theorie der sozialen Gerechtigkeit. Eine solche Theorie hat wie ein republikanischer Staat, wie er mehrfach betont, „explizit“ und „substantiell“ egalitaristisch zu sein und alle Bürger als Gleiche zu behandeln.35 Pettit bezieht sich ausdrücklich auf die seit Jahrzehnten andauernde egalitaristische Debatte über die Frage, in welcher Hinsicht Gleichheit hergestellt werden soll bzw. welches Ziel der Staat in egalitärer Weise verfolgen soll: Ressourcen, Nutzen, Fähigkeiten etc. oder eine Mischung dieser Güter.36 Wie andere Teilnehmer dieser Debatte hebt Pettit eine bestimmt Form von Gleichheit hervor, die er als die entscheidende ansieht. Seine republikanische Auffassung sozialer Gerechtigkeit zielt darauf ab, dass alle Bürger gleichermaßen den Status als freie Bürger genießen können. Der Freiheitsbegriff, der dieser Form von „Statusgleichheit (status equality)“ und dem republikanischen Ideal von einem „gleichen Freiheitszustand (equal status freedom)“ zugrundliegt, bestimmt Freiheit als den Zustand einer stabilen Abwesenheit von Herrschaft und Beherrschung (domination): „Eine republikanische Theorie der Gerechtigkeit würde die ausdrückliche Egalisierung der Freiheit als non-domination anstreben: die Förderung von Freiheit als nondomination auf der Grundlage einer gleichen Sorge (concern) um jeden Bürger“.37 Die Verwirklichung der republikanischen Auffassung von sozialer Gerechtigkeit erfordert gesellschaftliche Institutionen, die die gleiche Freiheit der Bürger sichern. Dazu zählen etwa die Bereitstellung von öffentlichen Mitteln für die Bür32 33 34 35 36

Pettit 1997, S. 18 f., 22 f., 51. Wirszubski 1967. Pettit 2012, S. 2. Pettit 1997, S. VII f., 22, 24, 27. Pettit 2012, S. 81, 88, 297. Pettit 2012, S. 77–81, 297. Vgl. zur „Equality of what?“-Debatte die Einleitung des vorliegenden Bandes. 37 Pettit 2012, S. 297 (Übers. von M. K.), 123, 298.

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ger, eine Sozialversicherung auf hohem Niveau, oder Gesetze und Normen. Pettit vergleicht freiheitssichernde Institutionen mit den Antikörpern in unserem Blutkreislauf. Wie Antikörper eine Immunität gegen bestimmte Krankheiten erzeugen, schützen Institutionen die Bürger vor Herrschaft und Beherrschung.38 Um zu bestimmen, welchen Grad an Absicherung die Bürger erhalten müssen, um effektiv gegen Herrschaft und Beherrschung immunisiert zu sein, führt Pettit den sogenannten Augapfel-Test (eyeball test) ein: „Sie können sich gegenseitig in die Augen blicken ohne einen Grund zur Furcht oder Ehrerbietung zu haben, die eine Macht zur Einmischung erwecken könnte; sie können aufrecht mit erhobenem Kopf gehen und sowohl subjektiv als auch objektiv den öffentlichen Status als gegeben voraussetzen, in dieser Beziehung mit den Besten gleich zu sein“.39 Die Bürger genießen genügend Ressourcen und Absicherungen, wenn ihr Umfang ausreicht, um den Augapfel-Test zu bestehen. Nach Pettit muss eine gerechte und legitime politische Ordnung, die dem republikanischen Ideal genügt, vor allem auf einen Zustand abzielen, der alle Bürger in gleicher Weise vor Herrschaft und Beherrschung schützt und damit ihre gleiche Freiheit verwirklicht.40

3. DAS REGIME KOMPLEXER GLEICHHEIT ALS GEGENSATZ ZUR TYRANNIS In Sphären der Gerechtigkeit kritisiert Walzer die Verfechter einer einfachen Gleichheit, die ein gesellschaftlich dominantes Gut wie Geld in einer Weise umverteilen wollen, dass jeder die gleiche Menge dieses Gutes hat. Diese simple und reduktionistische Variante des Egalitarismus weist er aus drei Gründen zurück. Erstens wird sie der Pluralität und Komplexität gesellschaftlicher Verteilungsprobleme nicht gerecht. Zweitens lässt sich der Zustand einer einfachen Gleichverteilung – etwa von Geld – nicht lange aufrechterhalten. Drittens wäre dazu ein mächtiger und ständig intervenierender Staat erforderlich, der leicht in eine Tyrannei umschlagen könnte (SG 40– 45; vgl. 15 f., SJ 13–16; vgl. XI f.).41 Als Alternative zu dem unrealisierbaren Ideal einer einfachen Gleichheit entwirft Walzer die Idee einer komplexen Gleichheit. Verknüpft ist diese Idee mit dem Ideal einer autonomen Verteilung aller sozialen Güter und mit dem Ziel der Reduzierung von Dominanz (dominance), die Walzer als ungerecht ansieht (SG 46, SJ 13). Ein dominantes Gut erlaubt es seinem Besitzer, dieses Gut in eine Vielzahl anderer Güter umzuwandeln. Ist etwa Geld wie in den Vereinigten Staaten ein dominantes Gut, dann können sich die reichen Bürger damit eine bessere 38 Pettit 2012, S. 123 f., 128, 287 f. 39 Pettit 2012, S. 84 (Übers. von M. K.); vgl. hierzu S. 85–87, 98, 297 f., und Pettit 1997, S. VIII. 40 Im Gegensatz zu Walzer unterscheidet Pettit zwischen den Begriffen „social justice“ and „political legitimacy“. Während sich soziale Gerechtigkeit auf das Verhältnis zwischen den Bürgern innerhalb eines Staates bezieht, betriff die politische Legitimität das Verhältnis der Bürgerschaft als Ganzer zum Staat (Pettit 2012, S. 75, 130). 41 Vgl. zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Walzers Kritik an „einfacher Gleichheit“ Arneson 1995, S. 227–232.

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Gesundheitsfürsorge erwerben und ihre Kinder auf bessere Universitäten schicken als die armen Bürger. Gegen die ungerechte Dominanz von Gütern wie Geld oder politische Macht setzt sich Walzer für die autonome Verteilung aller sozialen Güter wie Gesundheitsfürsorge und höhere Bildung ein. Eine autonome Verteilung dieser Güter kommt einer Vergabe gemäß ihren sozialen Bedeutungen bzw. gemäß den ihnen angemessenen Kriterien gleich. Für Gesundheitsfürsorge ist dies die Behandlungsbedürftigkeit, für höhere Bildung sind es Interesse und Fähigkeit. Jedes soziale Gut erzeugt eine besondere Verteilungssphäre, innerhalb derer nur bestimmte Kriterien und Regelungen angemessen sind. Die philosophische Aufgabe besteht darin, diese Sphären gegeneinander abzugrenzen und die jeweils angemessenen Verteilungskriterien der verschiedenen Güter wie Anerkennung, Ämter oder Freizeit zu bestimmen. Dies ist die Grundlage für eine Politik der Reduzierung von Dominanz, die die Grenzen zwischen den Verteilungssphären verteidigt, indem sie illegitime Umwandlungen von Gütern in andere verhindert. Die Autonomie der Sphären wird gesichert, wenn alle Güter gemäß den ihnen angemessenen Kriterien verteilt werden und verhindert wird, dass die Mächtigen mittels dominanter Güter wie Geld, technischem Wissen oder bestimmter Ämter in andere Sphären eindringen und die angestrebten autonomen Verteilungen verzerren (SG 12, 36– 40, 46 f., SJ 10–13, 17 f.). Walzer bezeichnet eine Gesellschaft, in der alle sozialen Güter gemäß den ihnen angemessenen Kriterien verteilt und in der illegitime Umwandlungen von dominanten Gütern weitgehend verhindert werden, als eine „komplex egalitäre Gesellschaft (complex egalitarian society)“ (SJ 17, SG 46). In einer solchen Gesellschaft entstehen durch gerechte Güterverteilungen in den verschiedenen Sphären eine Vielzahl von legitimen Ungleichheiten. In der Sphäre von Waren und Geld werden einige begabte Geschäftemacher und Händler reich werden. Während diese an den Staat hohe Steuern zahlen, erhalten bedürftige Individuen und Familien proportional zu ihrer Bedürftigkeit unterschiedlich hohe Sozialleistungen. Öffentliche Ehrungen und Preise werden wie Strafen an die wenigen Bürger vergeben, die sie tatsächlich verdienen. Ämter werden lediglich an qualifizierte Anwärter verteilt. In den Genuss höherer Bildung gelangen nur diejenigen, die ein Interesse an ihr demonstrieren und die entsprechenden Fähigkeiten besitzen. Politiker, die sich durch Ideenreichtum und argumentative Überzeugungskraft auszeichnen, werden mehr politische Macht haben als gewöhnliche Bürger. Walzer vertritt die Auffassung, dass „unterschiedliche Resultate aufseiten unterschiedlicher Menschen in unterschiedlichen Sphären dennoch eine gerechte Gesellschaft ergeben“ (SG 450, SJ 320). Die Tatsache, dass in einer „komplex egalitären Gesellschaft“ eine Vielzahl an legitimen Ungleichheiten existieren, wirft jedoch die Frage auf, warum Walzer eine solche als Verwirklichung seines Ideals einer komplexen Gleichheit begreift. Walzers Idee einer komplexen Gleichheit bezieht sich nicht bloß auf eine oder zwei Güterverteilungen, sondern auf den gesellschaftlichen Gesamtzustand, genauer auf die Gesamtheit der komplexen sozialen Relationen zwischen Personen,

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Gütern und Verteilungen.42 Walzer macht den sphärenübergreifenden und gesamtgesellschaftlichen Charakter dieser Idee auch mit seinen Terminus eines „Regimes (regime) komplexer Gleichheit“ deutlich. Um sinnvollerweise von einer solchen Ordnung und von Komplexität sprechen zu können, bedarf es der Existenz einer Vielzahl an Sphären und autonomen Verteilungen, die gegen Dominanz verteidigt werden. Wie viele es genau sind, lässt sich jedoch nach Walzer nicht angeben (SG 60, SJ 28, Hervorhebungen von Walzer). Im Rückblick auf Sphären der Gerechtigkeit erklärt er, dass seine Liste der Sphären nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und dass es auch nicht für jede Sphäre ein soziales Gut gibt oder für jedes Gut eine Sphäre.43 Bereits die Definition, die er in Sphären der Gerechtigkeit von komplexer Gleichheit gibt, verdeutlicht den sphärenübergreifenden und gesamtgesellschaftlichen Charakter dieser Idee: Das Regime (regime) komplexer Gleichheit ist das Gegenteil einer Tyrannis. Es etabliert eine Reihe (set) von Beziehungen, die Dominanz unmöglich machen. Formal gesprochen bedeutet komplexe Gleichheit, dass die Position keines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Guts untergraben werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts. Demnach kann Bürger X Bürger Y bei der Besetzung eines politischen Amts vorgezogen werden, wodurch die beiden in der Sphäre der Politik ungleich sein werden. Doch werden sie solange nicht generell ungleich sein, wie das Amt von X diesem keinen Vorteil über Y in allen anderen Sphären verschafft, keine bessere medizinische Versorgung, keinen Zugang zu besseren Schulen für seine Kinder, keine größeren unternehmerischen Gelegenheiten, und so weiter. Solange das Amt kein dominantes Gut ist, nicht allgemein konvertierbar ist, werden die Amtsinhaber zumindest potentiell in einem Verhältnis der Gleichheit zu den von ihnen regierten Männern und Frauen stehen (SJ 19 f., Übers. von M. K., SG 49 f.).

Walzers Definition macht nicht sehr deutlich, wie er das Verhältnis von Sphärenautonomie und komplexer Gleichheit genau denkt. Im Rückblick auf Sphären der Gerechtigkeit bestimmt er „komplexe Gleichheit“ als das „Produkt von autonomen Verteilungen“.44 Werden die Grenzen von allen gesellschaftlichen Sphären verteidigt und alle Güter gemäß den ihnen angemessenen Kriterien verteilt, dann ist das Resultat ein Regime komplexer Gleichheit. Die Frage, wer in einer solchen Ordnung die Grenzen zwischen den Sphären sichern soll und wer für die angestrebte Politik der Reduzierung von Dominanz verantwortlich ist, wird von Walzer widersprüchlich beantwortet. Einerseits versteht er dies als spezifische Aufgabe der Inhaber der politischen Macht bzw. der Staatsmacht (SG 43, SJ 15). Andererseits behauptet er, dass der Widerstand gegen Dominanz in einer komplex egalitären Gesellschaft „weitgehend von Normalbürgern geübt werden dürfte, und zwar innerhalb ihrer je eigenen Kompetenz- und Kontrollsphären und ohne ausgreifende staatliche Interventionen“ (SG 46, SJ 17). Walzer begreift das Regime komplexer Gleichheit, das die Verteilung von Gütern regelt und ihre Verwendung einschränkt, als eine Verwirklichung oder Form der sozialen Gerechtigkeit und als Gegensatz zur Tyrannis (SG 444 f., SJ 42 Vgl. hierzu Haus 2003, S. 177, und Miller 1995b, S. 198 f. 43 Walzer 1995b, S. 282. 44 Walzer 1995b, S. 283 (Übers. von M. K.).

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315 f.). Sein Verständnis einer gerechten Gesellschaft als Gegenteil von Tyrannei ist für eine angemessene Interpretation von Walzers Idee der komplexen Gleichheit entscheidend. Die große Relevanz dieses Gegensatzes für seine Gerechtigkeitstheorie wird bereits daran deutlich, dass er das Schlusskapitel von Sphären der Gerechtigkeit mit Tyrannies and Just Societies überschreibt. Auch wenn Walzer den für seine Gerechtigkeitstheorie zentralen Begriff der „Tyrannei“ in einem weiten Sinne verwendet, ist er sich bewusst, dass „die unmittelbaren Konnotationen des Worts Tyrann“ politische sind: „dessen pejorative Bedeutung leitet sich ab von Jahrhunderten der Unterdrückung durch Oberhäupter und Könige – und in jüngerer Zeit von derjenigen durch Generäle und Diktatoren“ (SJ 282, Übers. von M. K., SG 400). Im Verlauf der Geschichte überwiegen die absolutistischen Alleinherrscher, die die politische Macht monopolisieren und ihre Energien darauf verwenden, sie innerhalb aller Verteilungssphären zum dominanten Gut zu machen: „Nach den mittelalterlichen Schriftstellern werden Fürsten zu Tyrannen, wenn sie sich des Besitzes ihrer Untertanen bemächtigen und in ihre Familien eindringen“ (SJ 19, Übers. von M. K., SG 49; vgl. SG 329, 397, 400 f., SJ 228, 279, 282). Walzer verallgemeinert diese im Mittelalter vorherrschende Definition von Tyrannei: Jeder Gebrauch von politischer Macht, der darauf abzielt, durch sie Zugang zu Gütern aus anderen Sphären zu erlangen, ist tyrannisch. Noch allgemeiner definiert er „Tyrannei“ im Anschluss an Pascal und Marx wie „Dominanz“ als die Missachtung der internen Prinzipien der jeweiligen Verteilungssphären (SG 49, SJ 19; vgl. SG 37, 103, SJ 10 f., 59). Werden diese Prinzipien durch die Mächtigen missachtet, die mittels dominanter Güter in andere Sphären eindringen und sich dort unrechtmäßig Güter aneignen, spricht Walzer von einer „Usurpation“ von Gütern (SJ 10, SG 36). Seine allgemeinste Definition von Tyrannei lautet: „Das entscheidende Kennzeichen von Tyrannei ist ein beständiges An-sichReißen von Dingen, die einem nicht natürlich zufallen, ein unablässiger Kampf um die Herrschaft außerhalb der eigenen Lebenssphäre (company)“ (SJ 315, Übers. von M. K., SG 444).45 Auch wenn Walzer den Begriff „Tyrannis“ auf das Verhältnis von Gütern und deren Umwandlung in andere Güter anwendet, ist für seine Gerechtigkeitstheorie auch dessen ursprüngliche Bedeutung einer illegitimen und willkürlichen Herrschaft über Menschen zentral. Das verbindet ihn mit dem Republikanismus, für den die Tyrannis eine Analogie zur Herrschaft des Herrn über den Sklaven darstellt.46 Eine von Walzers wichtigsten Einsichten ist, dass die illegitime Verwendung von Gütern und die unterdrückende Herrschaft über Menschen zusammenhängen und auseinander ableitbar sind: „Im politischen Leben wie auch allgemein führt die Dominanz (dominance) von Gütern zu einer Herrschaft (domination)

45 Als höchste Form der Tyrannei versteht Walzer den modernen Totalitarismus. Totalitarismus definiert er mit dem deutschen Terminus als „Gleichschaltung“ von sozialen Gütern und Lebenssphären, die voreinander getrennt sein sollten (SG 445, SJ 316). Vgl. zu dem Terminus „company“ das Pascal-Zitat SJ 18, SG 47. 46 Vgl. hierzu Haehling 1999; Mandt 1990, S. 258 ff.; Saracino 2012, S. 227–242.

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über Menschen“ (SJ, 19, Übers. von M. K, SG 49).47 Welche Güter dominant sind, wechselt im Verlauf der Geschichte. Vor der Französischen Revolution war das Geburtsrecht ein dominantes Gut. Danach traten vor allem Reichtum, Macht und Bildung als dominante Güter in den Vordergrund (SG 45, SJ 16). Am zeitgenössischen Kapitalismus kritisiert Walzer insbesondere „die Tyrannei des Geldes“ (SG 445, SJ 316). In jedem der angeführten Gesellschaftssysteme wird die unterdrückende Herrschaft über Menschen und deren Unterordnung mittels dominanter Güter und deren unrechtmäßiger Verwendung bewirkt: „Herrschaft (domination) ist immer vermittelt durch ein bestimmtes Set von sozialen Gütern“ (SG 19, SJ XIII). Die Dominanz von Gütern ist für Walzer vor allem deshalb ungerecht, weil sie eine illegitime und willkürliche Herrschaft über Menschen zur Folge hat: „Es kommt mir so vor, als sei eine Gesellschaft dann ungerecht, wenn in ihr alle oder viele Verteilungen verzerrt sind, sodass die meisten ihrer Mitglieder unter der Herrschaft von anderen leben“.48 Im Vorwort zu Sphären der Gerechtigkeit erklärt Walzer, die Absicht und Aufgabe seines Buches bestehe darin, „eine Gesellschaft zu beschreiben, in der kein soziales Gut als Mittel zur Herrschaft (domination) dient oder dienen kann“ (SJ, Übers. von M. K., SG 19). Auch deshalb ist es angemessen, in der Kritik an Herrschaft in einem weiten Sinne die „Stoßrichtung“ von Walzers Gerechtigkeitstheorie zu erkennen.49 Durch die Reduktion der Dominanz von Gütern verhindert eine gerechte Gesellschaft auch die illegitime Herrschaft der Besitzer dieser Güter über andere Menschen: „Herrschaft (domination) ist nur dann ausgeschlossen, wenn soziale Güter nach je spezifischen und internen Gründen verteilt werden“ (SJ XV, Übers. von M. K., SG 22). Die zentrale Zielsetzung, illegitime und willkürliche Herrschaft und Beherrschung von Menschen in der Gesellschaft zu verhindern, verbindet Walzers Gerechtigkeitstheorie mit der republikanischen Tradition politischen Denkens. Eine gerechte Gesellschaft, die Walzer als Gegenteil einer Tyrannei begreift, ist „frei von Herrschaft und Beherrschung (free from domination)“ (SJ XIII, SG 18; vgl. SJ XV f., SG 22 f.).

47 Bereits Mitte der 1940er Jahre erklärt Max Horkheimer: „Gesellschaftliche Macht ist heute mehr denn je durch Macht über Dinge vermittelt“ (Horkheimer 1985, S. 125). 48 Walzers Vorwort zu vorliegendem Band. 49 Haus 2012, S. 61 f. Haus zufolge reinterpretiert Walzer nicht nur den Gleichheits-, sondern auch den Herrschaftsbegriff, „indem er von einem engen Verständnis der auf das politische System begrenzten Herrschaftsausübung und Befehlsgewalt abgelöst und auf die Gesamtheit gesellschaftlicher Praxis bezogen wird“ (Haus 2012, S. 62). Haus weist darauf hin, dass der Begriff der „Stoßrichtung“ der Cambridge School entstammt und insbesondere von Quentin Skinner verwendet wird (Haus 2012, S. 62). Bereits Govert Den Hartogh bemerkt, dass für Walzer der Respekt für die Grenzen zwischen den Sphären zu einem erstrebenswerten Zustand führt: „the absence of ,tyranny‘. Indeed, opposing oppression in any form seems to be his basic moral commitment and also the core of his ,minimalist morality‘ “ (Den Hartogh 1999, S. 514).

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4. KOMPLEXE GLEICHHEIT ALS GLEICHE FREIHEIT VON HERRSCHAFT UND BEHERRSCHUNG Auch wenn Walzer den Begriff „Freiheit (freedom, liberty)“ in Sphären der Gerechtigkeit selten verwendet, verdeutlicht sein Ideal einer Gesellschaft, die frei von Herrschaft und Beherrschung ist, den republikanischen Charakter seines Freiheitsverständnisses. Eine „komplex egalitäre Gesellschaft“ ist nicht bloß eine gerechte, sondern auch eine freie Gesellschaft in dem Sinne, dass ihre Bürger einen Zustand der stabilen Abwesenheit von Herrschaft und Beherrschung (domination) genießen können. Nach Pettits Variante des Republikanismus gewährleisten vor allem die demokratische Mischverfassung und die streitbare Bürgerschaft die Absicherung der Mitglieder der Gesellschaft gegen eine willkürliche Einmischung der Mächtigen und damit gegen ihre Beherrschung. Dieses republikanische Ideal von sozialer und politischer Freiheit wird nach Walzer vor allem durch eine gesellschaftliche und politische Ordnung garantiert, die die Grenzen zwischen den Verteilungssphären verteidigt und autonome Verteilungen aller sozialen Güter durchsetzt. Im zeitgenössischen Kapitalismus muss die Sphärenautonomie vor allem gegen die Dominanz bzw. „Tyrannei des Geldes“ verteidigt werden (SG 52, 445, SJ 22, 316).50 Zu diesem Zweck präsentiert Walzer eine Liste blockierter Tauschgeschäfte, mit der er der Verwendung des Geldes Grenzen setzen will. Zu den Dingen, die für Geld nicht zu haben sind, zählen Menschen, Liebe, politische Macht, Ämter, Grundrechte, Ehrungen, Preise etc. (SG 156–161, SJ 100–103). Walzers Überzeugung nach verteidigt er mit der Blockierung der meisten Tauschgeschäfte „nicht bloß die Gleichheit, sondern auch die Freiheit (freedom)“ (SJ 317, Übers. von M. K., SG 446). In einer freien und gerechten Gesellschaft, in der die Dominanz des Geldes stark reduziert ist, können die reichen Bürger die armen nicht mehr mittels ihres Geldes beherrschen. Im Zentrum von Pettits republikanischer und egalitaristischer Auffassung von sozialer Gerechtigkeit steht die Forderung, dass alle Bürger den gleichen Status als freie Bürger genießen sollen. Insbesondere Walzers programmatische Aussagen aus dem Vorwort zu Sphären der Gerechtigkeit belegen, dass er das republikanische Ideal von einem „gleichen Freiheitszustand (equal status freedom)“ teilt, das Freiheit als den Zustand einer stabilen Abwesenheit von Herrschaft und Beherrschung versteht. So erklärt Walzer: Das Ziel des politischen Egalitarismus ist eine Gesellschaft, die frei ist von Herrschaft und Beherrschung (free from domination). Dies ist die aufregende Hoffnung, die das Wort Gleichheit benennt: keine Verbeugungen und Kratzfüße mehr, kein Kriechen und Speichellecken, kein angstvolles Zittern, kein Ihre Hoheit oder Euer Hochwohlgeboren mehr, keine 50 Vgl. hierzu Walzers Vorwort zu vorliegendem Band. Michael Sandel erklärt im Hinblick auf die Gegenwart: „The idea of policing the boundaries between spheres matters most as a way to limit the reach of markets, money and wealth“ (Sandel 2014, S. 177). Anders als bei Erscheinen von Sphären der Gerechtigkeit sei heute keine Sphäre mehr gegen die Praktiken des Marktes und dessen Logik immun. Sandel veranschaulicht dies mit einer Reihe von eingängigen Beispielen (Sandel 2014, S. 177 f.). In seiner Replik stimmt Walzer Sandel zu (Walzer 2014, S. 222).

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Herren und keine Sklaven mehr (SJ XIII, Übers. von M. K., SG 18; Hervorhebung von Gleichheit von Walzer).

In einer Gesellschaft, die alle ihre Mitglieder wirksam gegen Herrschaft und Unterwerfung immunisiert, sind alle Bürger frei von Herrschaft und Beherrschung. Die Tatsache, dass Walzer eine „herrschaftsfreie“ Gesellschaft zum Ziel des politischen Egalitarismus erklärt, legt die Interpretation nahe, dass in einer solchen Gesellschaft alle Bürger gleichermaßen frei von Herrschaft und Beherrschung sind bzw. einen „gleichen Freiheitszustand (equal status freedom)“ genießen. Ein starkes Argument für diese Interpretation folgt auch aus Walzers Definition von Gleichheit: So sei die „Gleichheit, die ich beschrieben habe, eine Gleichheit frei von jeder Art von Herrschaft (free from every sort of domination)“ (SG 22, SJ XV; vgl. SG 22, SJ XVI).51 Walzers Vision einer freien Gesellschaft, auf die sein politischer Egalitarismus abzielt, würde zweifellos Pettits Augapfel-Test bestehen. Denn alle ihre Mitglieder könnten gleichermaßen aufrecht mit erhobenem Kopf gehen und „sich gegenseitig in die Augen blicken ohne einen Grund zur Furcht oder Ehrerbietung zu haben, die eine Macht zur Einmischung erwecken könnte“. Nach Walzers Selbstverständnis ist sein zentrales innenpolitisches Anliegen die Abschaffung von Ungleichheit. Er habe sich kontinuierlich „für einen Kampf gegen Ungleichheit engagiert“.52 Wie er im Vorwort zu Sphären der Gerechtigkeit ausführt, sei die Ursprungsbedeutung des Gleichheitsbegriffs eine negative. In seinen Ursprüngen sei der Egalitarismus eine abolitionistische Politik, die allerdings nicht jegliche, sondern nur bestimmte Unterschiede und Ungleichheiten abschaffen wolle. Der Egalitarismus nehme immer spezifische Privilegien und Ungleichheiten ins Visier, die zur Herrschaft einer Gruppe von Menschen und zur persönlichen Unterordnung und Abhängigkeit einer anderen führen. Derartige Erfahrungen bildeten den Hintergrund der Vision der Gleichheit (SG 17 f., SJ XII f.). Walzers Selbstverständnis legt es nahe, seine Variante von Egalitarismus als negativen Egalitarismus zu charakterisieren. Dieser zielt keineswegs auf Gleichmacherei, Abschaffung aller Ungleichheiten oder Herstellung von weitgehender Gleichheit unter den Menschen ab, sondern vor allem auf die Abschaffung von denjenigen Ungleichheiten, die zu Herrschaft, Beherrschung und Unterordnung führen. Walzer selbst spricht von einem „Egalitarismus ohne Prokrustesbett“ oder einem „Egalitarismus, der mit Freiheit (liberty) gleichzusetzen ist“ (SG 19, SJ XIV): „Männer und Frauen sind einander (in allen wichtigen moralischen und politischen Belangen) dann gleich, wenn niemand die Mittel zur Herrschaft und Beherrschung besitzt oder kontrolliert“ (SJ XIII, Übers. von M. K., SG 19). Allerdings geht Walzers negativer Egalitarismus auch mit positiven Forderungen nach einfacher Gleichheit einher, vor allem nach einem gleichen politischen Status aller Bürger und nach deren gleicher Freiheit von Herrschaft und Beherrschung. 51 Vgl. hierzu Michael Haus, der die „enge Verknüpfung von Gleichheitsideal und Herrschaftskritik“ betont (Haus 2012, S. 62; Hervorhebungen von Haus). 52 Walzers Vorwort zu vorliegendem Band. In Sphären der Gerechtigkeit spricht Walzer von einem „Kampf um Gleichheit“, der jedoch bei der „Errichtung einer egalitären Gesellschaft“ nicht beendet sein wird (SG 450, SJ 320).

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Ob Walzer als politischer Egalitarist verstanden werden muss, der den Gleichheitsbegriff durch dessen Reinterpretation rettet, oder als Gleichheitskritiker und Non-Egalitarist, ist in der Literatur umstritten.53 An der Entstehung dieses Streits ist Walzer nicht ganz unbeteiligt. So kündigt er im Untertitel von Sphären der Gerechtigkeit eine Verteidigung von Pluralismus und Gleichheit an und identifiziert sich im Vorwort mit dem Egalitarismus, kritisiert dann allerdings die Forderung nach der Herstellung von einfacher Gleichheit. Als Alternative zum Ideal einfacher Gleichheit präsentiert er seine Idee einer komplexen Gleichheit und hofft darauf, dass in einer hinreichend differenzierten Gesellschaft dies „die Form sein wird, die die Gerechtigkeit“ annimmt (SJ 315, Übers. von M. K., SG 444). Dennoch hält er es für unproblematisch, wenn in einer „komplex egalitären Gesellschaft“ die Güterverteilungen zu extrem ungleichen Ergebnissen oder gar zu Gütermonopolen in einigen Sphären führen. Wie lässt sich Walzers Idee einer komplexen Gleichheit damit vereinbaren, dass in einer gerechten Gesellschaft eine Vielzahl an legitimen Ungleichheiten existieren? Was genau bedeutet „Gleichheit“ in Walzers Terminus „komplexe Gleichheit“? In einer Replik auf die Kritik des Egalitaristen Richard J. Arneson räumt Walzer ein, dass sich komplexe Gleichheit auch auf einfache Gleichheit oder Gleichheit im wörtlichen Sinne beruft: „Komplexe Gleichheit ist eine Version von Gleichheit; das Adjektiv gibt eine genauere Bestimmung des Substantivs, es ersetzt es nicht.“54 In einer komplex egalitären Gesellschaft werden die Menschen „tatsächlich nach einem bestimmten Maßstab gleicher (more equal) sein als sie dies jetzt sind“.55 Kurz darauf erklärt Walzer, dass sich der Egalitarismus von komplexer Gleichheit „in einer radikalen Verminderung der Herrschaft von manchen Menschen über andere“ manifestiert.56 Offenbar begreift Walzer Freiheit als Abwesenheit von Herrschaft und Beherrschung als den entscheidenden Maßstab, mit dem die Zunahme an Gleichheit bzw. die Abnahme an Ungleichheit in einer Gesellschaft gemessen werden kann. Auf eine Formel gebracht: Je weniger Dominanz, desto weniger Herrschaft und Beherrschung, und desto mehr Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Eine komplex egalitäre Gesellschaft wäre eine gerechte und freie Gesellschaft, in der alle Mitglieder insofern gleich und frei sind, als sie gleichermaßen eine stabile Abwesenheit von Herrschaft und Beherrschung genießen können. Werden alle sozialen Güter gemäß den ihnen angemessenen Kriterien verteilt, ist das Resultat eine komplexe Form der Gleichheit, die am angemessensten als gleiche Freiheit von Herrschaft und Beherrschung bzw. als „equal status freedom“ zu verstehen ist.57 53 Den Hartogh 1999, S. 511–514, Haus 2012, Haus in vorliegendem Band, Krebs 2000, Krebs 2002, S. 95–143, 181–191, Krebs 2007, S. 707–710, Krebs 2012, S. 99–103. 54 Walzer 1995b, Übers. von M. K., S. 283. Vgl. hierzu Walzers Vorwort zu vorliegendem Band und Arneson 1995, S. 249 f. 55 Walzer 1995b, Übers. von M. K., S. 283. 56 Walzer 1995b, Übers. von M. K., S. 283. 57 Vgl. hierzu Walzers Aussage, „komplexe Gleichheit“ sei das „Produkt von autonomen Verteilungen“ (Walzer 1995b, S. 283. An anderer Stelle erklärt Walzer „Gleichheit“ als „Ergebnis (outcome)“ der „Kunst der Differenzierung“, womit die Unterscheidung und Abgrenzung

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Nach Angelika Krebs vertritt Walzer einen „im Großen und Ganzen nichtegalitaristischen Ansatz“, für den Gleichheit „nur die Rolle einer erwarteten Folge von Gerechtigkeit“ spielt bzw. „ein bloßes Nebenprodukt von nicht-komparativer Gerechtigkeit“ ist.58 Der nächstliegende Einwand gegen diese Interpretation ist natürlich, dass Walzer sich selbst als Egalitarist versteht, der Gleichheit verteidigt und gegen Ungleichheit kämpft. Diesen Einwand versucht Krebs mit einem Verweis auf die „historischen Umstände“ zur Zeit der Entstehung von Sphären der Gerechtigkeit zu entkräften. Einerseits sei es noch nicht nötig gewesen, sich scharf vom „Egalitarismus à la Rawls und Dworkin“ abzugrenzen, weil dieser noch nicht zum „Mainstream der politischen Philosophie avanciert“ war. Anderseits sei Walzer in Anbetracht der extremen Ungleichheit in den Vereinigten Staaten die „politische Botschaft, dass Gerechtigkeit eine solche Ungleichheit verurteilen muss“, wohl wichtiger gewesen „als philosophische Klarheit“.59 Es ist schwer zu überprüfen, ob diese plausiblen Argumente zutreffen oder nicht. Die vorliegende Untersuchung kann auch keine umfassende Auseinandersetzung mit der Interpretation von Walzer als Non-Egalitaristen leisten. Wie sich Walzer weder eindeutig dem Liberalismus oder dem Kommunitarismus zuordnen lässt, so verbindet er in seiner Gerechtigkeitstheorie nicht-egalitaristische, egalitarismuskritische und egalitaristische Ansätze und Positionen. Die vorangehenden Ausführungen haben gezeigt, dass komplexe Gleichheit, das Resultat von vielen Ungleichverteilungen, als gleiche Freiheit von Herrschaft und Beherrschung bzw. als „equal status freedom“ verstanden werden muss. Selbst Krebs räumt im Hinblick auf Walzers Ziel der Abschaffung bestimmter Formen der Ungleichheit, den demokratischen Status der Bürger, und den gleichen Respekt, den die politische Gemeinschaft ihnen erweisen muss, einen „Rest-Egalitarismus“ in seinem Denken ein.60 Dieser Rest-Egalitarismus ist zwar vor allem ein negativer Egalitarismus. Dennoch geht er auch mit positiven Forderungen nach einfacher Gleichheit einher. Unter Walzers Interpreten ist es unumstritten, dass seine Theorie eine gleiche Staatsbürgerschaft aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft fordert.61 Walzer selbst betont die „Gleichheit der Mitgliedschaft“ und fordert für die politische Gemeinschaft, dass alle „Männer und Frauen einen einzigen und damit den gleichen politischen Status haben“ (SG 107, 134, SJ 62 84; vgl. SG 295, SJ 202). Um die Exklusion von Bürgern zu verhindern bzw. die Gleichheit der Mitgliedschaft zu sichern, erhebt Walzer weitere egalitäre Forderungen wie diejenige nach einer gleichen Elementarerziehung für alle Bürger, nach einem gleichen Wahlrecht und allgemein nach gleichen Rechten in einer Demokratie. Die Forderung, dass diese Güter und Rechte nach dem Prinzip der einfachen Gleichheit zu verteilen sind,

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von sozialen Gütern, ihren Bedeutungen sowie von Instanzen, Prinzipien und Verfahren der Verteilung gemeint ist (SG 12, 22, 30, 444, SJ XV, 6, 313). Krebs 2007, S. 708 f., Krebs 2012, S. 101 f. (Hervorhebungen von Krebs). Krebs 20007, S. 709; Krebs 2012, S. 101. Krebs 2007, S. 710; Krebs 2012, S. 102. Vgl. hierzu Haus 2000, S. 261 f., Krebs 2007, S. 709 f., Krebs 2012, S. 102, Miller 1995a, S. 12 f., Miller 1995b, S. 198 (Fn. 3), 207 (Fn. 16).

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leitet sich aus der Zielsetzung ab, die einfache Gleichheit der Mitgliedschaft für alle Bürger in einer Demokratie zu verwirklichen. Gleiche Bürger bedürfen einer gleichen elementaren Erziehung und Bildung (SG 295 f., 300, SJ 202 f., 206). Das Stimmrecht symbolisiert die Mitgliedschaft und gibt ihr eine konkrete Bedeutung. Demokratie setzt zudem gleiche Rechte der Bürger voraus (SG 432, 436 f., SJ 305 f., 309). Indem die Gemeinschaft ihren Mitgliedern die gleichen gesetzlichen und politischen Rechte einräumt, erweist sie ihnen gleiche öffentliche Anerkennung als Bürger und gleichen Respekt. Als Folge des gleichen Respekts zwischen Mitgliedern können die Menschen ihre Würde als Staatsbürger angemessen achten. Walzer versteht jede genuine Form von Selbstachtung als eine komplexe Funktion von Mitgliedschaft (SG 394 f., SJ 277 f.).62 Für die Sphäre des Amtes leitet Walzer aus der gleichen Mitgliedschaft das Recht aller Bürger auf eine „gleiche Berücksichtigung“ und damit auf gleiche Chancen bei der Vergabe von Ämtern bzw. beruflichen Positionen ab (SG 215, SJ 144). Analog dazu leitet er für die Sphäre „Sicherheit und Wohlfahrt“ ab, dass die Gemeinschaft ihren Mitgliedern dasjenige, was „gebraucht“ wird, „gleichermaßen (equally)“ in einer Weise bereitstellt, die ihre Mitgliedschaft respektiert und Exklusion und Entwürdigung verhindert (SG 141, SJ 88, 305 f.; vgl. SG 215, SJ 144). Wenn die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft wie in Konsumgesellschaften über Waren vermittelt ist, dann bejaht Walzer die Einführung einer negativen Einkommensteuer bzw. eines allgemeinen Grundeinkommens. Auch wenn es sich dabei um eine „modifizierte Version der einfachen Gleichheit“ handelt, können die armen Mitglieder der politischen Gemeinschaft dadurch vor einem Verlust des Bürgerstatus und damit vor Exklusion bewahrt werden (SG 144, 165 f., SJ 91, 106 f.).63 Nach David Millers Interpretation lässt sich komplexe Gleichheit am besten als Statusgleichheit (equality of status) verstehen.64 Statusgleichheit ist dann erreicht, „wenn sich jedes Mitglied der Gesellschaft gegenüber allen anderen als fundamental gleich betrachtet, und von diesen als fundamental gleich angesehen wird“.65 Als das entscheidende Element von Statusgleichheit sieht Miller die gleiche Staatsbürgerschaft an. Seinem Argument zufolge ergibt sich Statusgleichheit aus der Kombination von einem distributiven Pluralismus und einer gleichen Staatsbürgerschaft.66 Der Terminus „Status“ in „Statusgleichheit“ bezieht sich „auf die grundlegende Stellung einer Person in der Gesellschaft, die sich darin manifestiert, wie sie von den öffentlichen Institutionen und von anderen Individuen angesehen wird“.67 In einer komplex egalitären Gesellschaft erfahren einzelne 62 Vgl. zur Bedeutung von Respekt, Selbstachtung und der angemessenen Achtung der menschlichen Würde in Walzers Gerechtigkeitstheorie Knoll 2013. 63 Vgl. zu einer detaillierten Analyse von Walzers Haltung zu einem allgemeinen Grundeinkommen Knoll o. J. 64 Miller 1995b; vgl. zu einer ähnlichen Deutung Swift 1995 und zu einer Kritik an Millers Interpretation Arneson 1995, S. 241–250, und Swift 1995, S. 277 f. 65 Miller 1995b, Übers. von M. K., S. 199. 66 Miller 1995b, S. 208 f. Vgl. zu Millers Auffassung von Staatsbürgerschaft Miller 1995a, S. 12 f. 67 Miller 1995b, S. 206.

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Bürger in verschiedenen Sphären Erfolge und Misserfolge, die sich Adam Swift und Michael Haus zufolge gegenseitig mehr oder weniger ausgleichen und dadurch zu mehr sozialer Gleichheit führen.68 Im Gegensatz dazu behauptet Miller die radikale Inkommensurabilität sozialer Güter und dieser Erfolge und Misserfolge, wodurch eine gesellschaftsübergreifende Rangordnung der Personen unmöglich wird: „Wo ein Gesamtranking unmöglich ist, hängt der Status von Individuen lediglich von ihrer gemeinsamen Position als Mitglieder von einer besonderen Gesellschaft ab. Vorausgesetzt, dass sie von den öffentlichen Institutionen ihrer Gesellschaft als Gleiche definiert werden, muss ihr Status ein gleicher sein“.69 Millers Auffassung, dass eine komplex egalitäre Gesellschaft frei wäre von Statushierarchien, ist höchst zweifelhaft.70 Der erfolgreiche Erwerb bestimmter Güter wie Geld, prestigeträchtige Berufe, Bildung, öffentliche Wertschätzung oder politische Macht, die als essenziell dominante Güter verstanden werden können, bringt zwangsläufig einen höheren gesellschaftlichen Status mit sich. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es einer Person gelingt, mehrere dieser Güter zu erlangen.71 Dennoch bestehen in einer komplex egalitären Gesellschaft zwei bedeutende Formen von Statusgleichheit. Die eine basiert, wie Miller erkennt, auf der gleichen Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft. Wie die vorangehenden Ausführungen verdeutlichen, ist Mitgliedschaft und die damit verbundene gleiche Staatsbürgerschaft auch ein essenziell dominantes Gut, da dessen Besitz viele andere Güter wie eine elementare Erziehung, Sozialleistungen, Chancen oder das Recht auf politische Partizipation nach sich zieht.72 Die andere bedeutende Form von Statusgleichheit basiert auf der gleichen Freiheit aller Bürger von Herrschaft und Beherrschung. Wenn die Mitglieder der politischen Gemeinschaft einen gleichen Status als freie Bürger genießen, dann spricht Pettit von „Statusgleichheit (status equality)“ und präziser von einem „gleichen Freiheitszustand (equal status freedom)“. Walzers Idee der komplexen Gleichheit zielt vor allem 68 Nach Swift führen die verschiedenen voneinander unabhängigen Erfolge und Misserfolge dazu, dass die einzelnen Bürger unterschiedliche Güterbündel erwerben können, die mehr oder weniger gleich gut sind. Dieser Gleichheitszustand macht nach seiner Interpretation die Gleichheit von komplexer Gleichheit aus (Swift 1995, S. 258–261, 277 f.). Walzer räumt für eine Ordnung der komplexen Gleichheit zwar Kompensationseffekte ein, weist jedoch Swifts Interpretation von komplexer Gleichheit zurück (Walzer 1995b, S. 284). Im Gegensatz zu Swift sieht Haus im Moment des Ausgleichs lediglich einen von vier egalitären Aspekten in Walzers Gerechtigkeitstheorie. Die anderen drei Aspekte sind eine Form von Chancengleichheit, die Gleichwertigkeit der Mitglieder der Gemeinschaft, und eine gleiche Mitgliedschaft bzw. Staatsbürgerschaft (Haus 2000, S. 257–262; vgl. hierzu Haus in vorliegendem Band). 69 Miller 1995b, S. 207, vgl. zur Inkommensurabilität sozialer Güter Miller 1995b, S. 205 f. Nach Walzer, der sich Millers Auffassung einer radikalen Inkommensurabilität nicht anschließt, existieren in einer komplex egalitären Gesellschaft kompensatorische Effekte zwischen Erfolgen und Misserfolgen (Walzer 1995b, S. 284). 70 Vgl. zu einer Kritik an Millers Auffassung Swift 1995, S. 277 f., und Walzer 1995b, S. 285. 71 Walzer hält es für unwahrscheinlich, dass manche Menschen in allen Sphären erfolgreich sind (SG 49 f., SJ 20). Vgl. zum Amt als essenziell dominanten Gut (SG 230 f., SJ 155 f.). 72 Vgl. hierzu Den Hartogh 1999, S. 494 f., 510.

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auf eine Gesellschaft ab, deren gerechte Ordnung dieses republikanische Freiheitsideal verwirklichen kann. In seinem Kommentar zu Millers Terminus „Statusgleichheit“ macht Walzer deutlich, dass die radikale Abnahme von Herrschaft und Beherrschung in einer komplex egalitären Gesellschaft bewirkt, das sich die Menschen als „gleich“ erfahren und fühlen können.73

LITERATUR Arneson, Richard J., 1995: Against ‚Complex‘ Equality. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 226–252. Avineri, Shlomo / de-Shalit, Avner (Hrsg.), 1992: Communitarianism and Individualism (Oxford Readings in Politics and Government). Oxford / New York. Benbaji, Yitzhak / Sussmann, Naomi (Hrsg.), 2014: Reading Walzer. New York. Berlin, Isaiah, 1958: Two Concepts of Liberty. Oxford. Den Hartogh, Govert, 1999: The Architectonic of Michael Walzer’s Theory of Justice. In: Political Theory 27, S. 491–522. Gebhardt, Jürgen, 2012: Michael Walzer: Radikaler Dissenter und demokratischer Sozialist. In: Karl-Heinz Nusser (Hrsg.): Freiheit, soziale Güter und Gerechtigkeit. Michael Walzers Staats- und Gesellschaftsverständnis. Baden Baden, S. 31–56. Haehling, Raban von, 1999: Rex und Tyrannus. Begriffe und Herrscherbilder der römischen Antike. In: Uwe Baumann (Hrsg.): Basileus und Tyrann: Herrscherbilder und Bilder von Herrschaft in der Englischen Renaissance. Frankfurt am Main, S. 13–33. Haus, Michael, 2000: Die politische Philosophie Michael Walzers. Kritik, Gemeinsinn, Gerechtigkeit. Wiesbaden. Haus, Michael, 2003: Kommunitarismus. Wiesbaden. Haus, Michael, 2012: Blockierter Tausch – befreite Gerechtigkeit? Walzer und die Tyrannei des Geldes. In: Karl-Heinz Nusser (Hrsg.): Freiheit, soziale Güter und Gerechtigkeit. Michael Walzers Staats- und Gesellschaftsverständnis. Baden Baden, S. 59–88. Honneth, Axel, 1995: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. 3. Aufl., Frankfurt am Main, Horkheimer, Max, 1985: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main. Kallscheuer, Otto, 1990: Michael Walzers kommunitärer Liberalismus oder Die Kraft der inneren Opposition. Nachwort zu: Michael Walzer: Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik. Berlin, S. 126–143. Kersting, Wolfgang, 2004: John Rawls zur Einführung. 2., korr. Aufl., Hamburg Knoll, Manuel, 2013: Zivilgesellschaftstheorie: Michael Walzer. In: Rolf Gröschner / Antje Kapust / Oliver W. Lembcke (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. München / Paderborn, S. 119–121. Knoll, Manuel, o. J.: Das bedingungslose Grundeinkommen im Lichte von Michael Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit. In: Rigmar Osterkamp / Ruppert Stettner (Hrsg.): „Sonderband der Zeitschrift für Politik zum bedingungslosen Grundeinkommen“. Baden Baden [erscheint voraussichtlich 2015]. Krebs, Angelika (Hrsg.), 2000: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main. Krebs, Angelika, 2002: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt am Main.

73 Walzer 1995b, S. 283 f. Vgl. zu Walzers Überlegungen zu einer Gesellschaft, die sich „als Gesellschaft gleicher Männer und Frauen anfühlen wird“, das Vorwort im vorliegenden Band.

Das Verhältnis von Freiheit, Gleichheit und Herrschaft

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MITGLIEDSCHAFT ALS SOZIALES GUT UND RAHMENBEDINGUNG FÜR GERECHTE VERTEILUNGEN Stephen Snyder

1. EINLEITUNG In dem Beatles Hit „Can’t Buy Me Love“ beschwert sich Paul McCartney, dass man mit Geld keine Liebe kaufen kann. Walzer würde uns sagen, dass die Einsicht des einsamen Beatle die interne Bedeutung eines Gutes beschreibt, dass Liebe nicht für Geld erhältlich ist. Dinge, die im freien Austausch erworben werden können, gehören in die Sphäre des Marktes, der jedem offen steht. Im Gegensatz dazu dürfen Güter wie Liebe und Ehre nicht gehandelt werden und sind nicht frei zugänglich, da der Handel mit ihnen die Bedeutung der erworbenen Dinge unterminiert. Falls die Verteilungsweise eines Gutes dessen interne Bedeutung unterminiert, handelt es sich für Walzer um eine Art von Ungerechtigkeit. Im allgemeinen könnte man sagen, dass Walzers Gerechtigkeitstheorie eine negative Theorie ist, weil ihr Ziel darin besteht, ungerechte Formen der Verteilung aufzuweisen. Wenn ein Gut gemäß einer Bedeutung verteilt wird, die aus einer anderen Sphäre stammt und ihm aufgezwungen wird, dann führt das nach Walzers Terminologie zu „Dominanz“. Wenn Dominanz aus den gesellschaftlichen Verteilungssphären entfernt wird, dann ist das Resultat nach Walzer „komplexe Gleichheit“. Walzer zufolge entwickelt sich „komplexe Gleichheit“ in einer Gesellschaft, wenn es in ihr nicht möglich ist, dass diejenigen, die in einer Sphäre erfolgreich sind, wie zum Beispiel im Markt, durch ihren Erfolg in einer anderen Sphäre reüssieren können. Das Geld, das den Austausch im Markt bestimmt, soll nicht dazu genutzt werden können, um in der Sphäre der Liebe Einfluss zu erlangen, denn dort sollen die Güter nach emotionaler Wertschätzung, die von Herzen kommt, vergeben werden. Alle haben die Chance, sich in der einen oder anderen Sphäre hervorzutun, je nach dem, was sie persönlich für bedeutsam halten und je nach Fähigkeiten. Der einsame Beatle kann sein Geld nicht nutzen. Es kann ihm keine Liebe kaufen. Aber kein Gut, sei es Geld oder politische Macht, soll zu Dominanz führen. Was für eine Liebe würde es auch letztlich sein, wenn McCartney sie kaufen könnte?

2. KOMPLEXE GLEICHHEIT UND MITGLIEDSCHAFT Komplexe Gleichheit ist ein stabiler Zustand, der erreicht wird, wenn eine Verteilung der sozialen Güter in der Gesellschaft etabliert ist, die zu ihrer inneren Bedeutung passt. Walzer setzt das Erreichen dieses Zustands mit sozialer Gerechtig-

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keit gleich. Dennoch präsentiert Walzer in Sphären der Gerechtigkeit kein universelles Prinzip der Gerechtigkeit. Sein Versuch ist extrem relativistisch und stellt, wie bereits erwähnt, eher ein negatives Konzept der Gerechtigkeit dar. Was Walzer eigentlich beschreibt, ist die Formel für komplexe Gleichheit. Deren Verwirklichung ist mit den sozialen Bedeutungen verknüpft, die der Konzeption von Mitgliedschaft einer bestimmten Gesellschaft innewohnen. Folglich ist Walzers Begriff von Mitgliedschaft, der das zentrale Thema dieses Aufsatzes ist, der Drehund Angelpunkt, der seine Vorstellung von komplexer Gleichheit im Gleichgewicht hält. Mitgliedschaft dürfte für viele Gerechtigkeitskonzeptionen von Bedeutung sein. In Walzers Skizze der komplexen Gleichheit spielt sie jedoch eine zentrale Rolle. Denn Mitgliedschaft ist erforderlich, um Konflikte hinsichtlich der Interpretationen von internen Verteilungsprinzipien und ihrer Anwendung in den ihnen jeweils entsprechenden Sphären zu lösen. Die relativistische Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit, die Walzer in Sphären präsentiert, ist eine fruchtbare Darstellung davon, wie Gerechtigkeit entsteht, wenn die inneren Prinzipien jedes sozialen Gutes dessen Verteilung leiten. Nichts desto trotz beklagen viele Kritiker von Walzer, dass er in Sphären keine klare Auffassung von Gerechtigkeit entwickelt, weder eine konkrete noch eine abstrakte.1 Manchen Kritikern zufolge teilt sie dem Leser auch zu wenig darüber mit, wie eine allgemeinere Gerechtigkeitstheorie aussehen müsste.2 Zwar ist diese Kritik nicht vollkommen unangebracht. Auf der anderen Seite aber übersieht sie die Tatsache, dass Walzer den Anspruch einer übergreifenden Theorie explizit vermeiden will. Das Ziel dieses Aufsatzes besteht darin, Walzers Begriff der Mitgliedschaft zu untersuchen. Gleichzeitig werde ich zeigen, wie er seine quasi normative Beschreibung der Mitgliedschaft in seiner Theorie der komplexen Gleichheit verankert um eine Gerechtigkeitsformel zu erzeugen, die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheidet, je nachdem wie diese Mitgliedschaft definiert.

2.1 Walzers Ansatz In seinem Relativismus liegt sowohl die Stärke wie auch die Schwäche von Walzers Ansatz. Um seinen Ansatz zu erläutern, benutzt er Platons Höhlengleichnis, modifiziert es aber dahingehend, dass wir die Höhle nicht verlassen müssen. Walzer will in der Höhle bleiben, um seine Analyse aus der Gesellschaft heraus zu entwickeln, in der wir leben (SG 20, SJ XIV). Seine historische und anthropologische Kontextualisierung der Gerechtigkeit führt zu einer praktikablen und gut anwendbaren Theorie komplexer Gleichheit. Um die Stärken von Walzers Ansatz 1

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Ronald Dworkin behauptet dies explizit. Universalistische Denker, deren Ansätze denen von John Rawls, Bruce Ackerman und Robert Nozick nahe kommen, könnten sich dieser Kritik an Walzer anschließen. So schreibt etwa Michael Rustin: „But whilst it may be reasonable to understand anthropology in terms which give priority to cultural interpretation, the adoption by Walzer of a historical method based largely on this same perspective creates some difficulties for his argument, as well as bringing some strengths to it.“ Rustin 1995, S. 20.

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aufzeigen zu können, muss man die Logik des Prozesses, den er in Sphären beschreibt, näher betrachten. Seine relativistische Theorie ist auch eine pragmatische Theorie. Walzers Programm als pragmatisch zu bewerten setzt seine Theorie jedoch derselben Art von Kritik aus, mit der alle Pragmatisten konfrontiert werden, weil sie universale Perspektiven und große Erzählungen (overarching narratives) ablehnen.3 Im Einvernehmen mit dem Pragmatismus, und gegen die Behauptung der vom Marxismus beeinflussten Kritischen Theorie, dass sich eine politische Theorie auf einen welt-historischen Begriff stützen muss, schreibt Walzer: „Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es hilfreich ist, über einzelne Elemente einer Theorie zu verfügen, dass allerdings große Metatheorien in einer Bewegung oder in einem Staat häufig zu Arroganz und Autoritarismus führen. Die moralischen Überzeugungen des jeweiligen Kritikers sind für die Ausformung und Wirksamkeit der Kritik weit wichtiger als große Theorie.“4 Der zeitgenössische Rechtstheoretiker und -philosoph Ronald Dworkin kritisiert Walzers Gerechtigkeitskonzeption, die auf einem Gleichgewicht zwischen den Verteilungsprinzipien in den jeweiligen Sphären beruht: „Walzers Relativismus glaubt nicht an die einzige wirklich wichtige soziale Praxis, die wir haben: die Praxis, sich darum zu sorgen, was Gerechtigkeit wirklich wäre“.5 Dworkin vermutet, dass Walzers Auffassung von Gerechtigkeit auf versteckten normativen Voraussetzungen basiert und „völlig zirkulär“ ist. 6

2.2 Die Zirkularität von Walzers Ansatz David Miller bemerkt zu Sphären, dass Walzers radikal-pluralistische Gerechtigkeitsvorstellung alle Auffassungen ablehnt, die Gerechtigkeit auf fundamentale Prinzipen oder Axiome gründen wollen. Ohne einen expliziten und universalistischen Begriff von Gerechtigkeit werde Walzers komplexe Gleichheit allerdings zum bloßen Indikator einer Gerechtigkeit, die sich als Nebenprodukt („by product“) aus der autonomen Verteilung von Gütern innerhalb der einzelnen Sphären ergebe. Komplexe Gleichheit fungiere dann nur noch auf eine regulative Weise, weil die für die Verteilungsprinzipien relevanten Bedeutungen von Gütern sich jeweils aus einer spezifischen Kultur ergeben.7 Diese Lesart von Sphären unterstützt die Kritik von Dworkin zu einem gewissen Grad. Insofern Walzers Kritik an Dominanz ein ergebnisoffenes8 Verteilungsprinzip aufzeigt, scheint er eine 3 4 5 6

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Williams 2012. Williams 2012. Dworkin 1983. Nachdruck: Dworkin 1985, S. 214 –220. Dworkin argumentiert so: „Denn wenn er weiterhin behauptet, dass Gerechtigkeit nur eine Frage dessen sei, was diese Konventionen, wenn wir sie richtig verstehen, ermöglichen, dann wäre sein Argument, dass eine Interpretation der abstrakten Deutung von Gerechtigkeit näher kommt, vollkommen zirkulär und sinnlos“ (Dworkin / Walzer 1983). Siehe Van der Veen 1999, S. 240. Miller 1995a, S. 2 f. Zu Knolls Übersetzung von open-ended als „ergebnisoffen“ siehe Knoll 2011, S. 51 (Fn. 37).

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„angewandte Ethik ohne theoretischen Unterbau“ („applied ethics without theory“)9 zu präsentieren. Walzers Verteilungsprinzip lautet: „Kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer und Frauen, die im Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und allein deshalb verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen“ (SG 50, SJ 20). Walzers Gerechtigkeitsmodell geht weder von einem ersten Prinzip aus noch beruht es auf einem solchen. Wenn jedoch sein offenes Verteilungsprinzip angewendet wird, dann präsentiert sich Gerechtigkeit als komplexe Gleichheit und führt zu Statusgleichheit.10 Die Anwendung des offenen Verteilungsprinzips ist ein Prozess, der in einen historischen Kontext stattfindet. Ein Verhältnis der Dominanz tritt auf, wenn die Verteilung von Gütern in einer Sphäre der Gesellschaft die Verteilung in einer anderen Sphäre verzerrt. Wenn Verteilungsprinzipien in einer Weise so korrigiert werden, dass sie mit dem Verständnis von Mitgliedschaft in einer bestimmten Kultur übereinstimmen, führt dies dagegen zu einer Form komplexer Gleichheit. Neben dem Fehlen einer wirklichen Gerechtigkeitsdefinition in den Sphären, kritisiert Dworkin, dass Walzers Theorie auf unausgewiesenen Annahmen beruht und zirkulär ist. Im Mittelpunkt dieser Kritik steht Walzers implizite Annahme, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft stets über eine gemeinsame Definition von Mitgliedschaft verfügen. Diese Zirkularität stelle eine generelle Schwäche von Walzers Theorie dar. Dworkin schreibt: „Wenn [Walzer] seine eigene Position dadurch zu unterstützen sucht, dass er zeigt, wie sie sich aus dem generellen Entwurf einer komplexen Gleichheit ableitet, gesteht er damit indirekt ein, dass er sich tatsächlich auf eine versteckte mystische Annahme verlässt, die in seinen expliziten Äußerungen zu diesem Thema ansonsten keine Rolle spielt. Dies kann zumindest teilweise erklären, warum er glaubt, sein Entwurf könne Menschen in den für unsere heutige Zeit typischen Lebenssituationen praktische Orientierung geben“.11 Ich will Dworkins Argumente hier nicht im Detail widerlegen. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass gerade die beiden von ihm kritisierten Aspekte von Walzers Theorie der komplexen Gleichheit, die unausgewiesenen, aber allgemein geteilten normativen Hintergrundannahmen und die Tatsache, dass kein universales Gerechtigkeitsprinzip definiert wird, seinen Ansatz erst einzigartig und wertvoll machen. Die wichtigste Voraussetzung für ein tieferes Verständnis von Sphären ist eine genauere Analyse von Walzers Idee der „Mitgliedschaft“. Wenn wir die zentrale Rolle dieses Begriffes nicht anerkennen, würden wir, wie Dworkin, zu dem Schluss kommen, dass Walzers Gerechtigkeitsgebäude das Fundament oder Grundprinzip fehlt (petitio principii). Nach Walzer hat jede Gesellschaft ihre eigene Vorstellung davon, wie eine gerechte Verteilung innerhalb ihrer einzelnen Sphären aussieht. Das Verständnis von Mitgliedschaft beeinflusst wie die Bedeutungen, die den einzelnen sozialen Güter inhärieren, ausgelegt werden und wie 9 Den Hartogh 1999, S. 33. 10 Zu Millers Diskussion von Statusgleichheit und Statuskongruenz siehe Miller 1995b, S. 206– 209, 217–221. 11 Dworkin 1983, Hervorhebungen von S. S.

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diese Güter verteilt werden. In Bezug auf seinen anthropologischen und relativistischen Ansatz führt Walzer aus: „Gesellschaftskritiker erfinden gewöhnlich nicht die Prinzipien, die sie anwenden, und sollten dies auch nicht tun; sie müssen die Welt, in der sie gewöhnlich leben, nicht verlassen. Sie berufen sich auf interne, wohlbekannte Prinzipien, die für die Menschen, die sie überzeugen wollen, nachvollziehbar sind und gut erinnert werden können“.12 Walzers Ansatz erkennt also soziale Prinzipien an, die begrenzen und bestimmen, was für eine spezifische Sphäre oder Kultur angemessen ist. Wenn er auf den jeweiligen historischen Stand der Verteilungsprinzipien in einer Gesellschaft angewendet wird, kann Walzers Ansatz durchaus eine Kritik dieser Gesellschaft ermöglichen.

2.3 Zirkularität und Mitgliedschaft Um Walzers Ansatz gegen den Vorwurf der Zirkularität zu verteidigen, möchte ich die Rolle der Mitgliedschaft innerhalb seiner Verteilungstheorie näher untersuchen. Ich will zeigen, dass die Zirkularität an sich seinen Ansatz nicht schwächt, sondern ihm sein besonderes Profil und seine Stärke verleiht. Hierzu ein Beispiel: Dworkin und andere Autoren heben hervor, dass Walzer der Kultur und dem Status quo ein zu großes Gewicht einräumt, um der Kritik an der Zirkularität etwas entgegen halten zu können. Bei näherer Betrachtung seiner negativen Gerechtigkeitsformel, die danach strebt, Formen der Dominanz zu beseitigen, erkennt man Rahmenbedingungen, die ausreichen, um engstirnige Traditionen in ihre Schranken zu weisen. „Das System der komplexen Gleichheit ist das Gegenteil von Tyrannei. Es erzeugt ein Netz von Beziehungen, das Dominanz und Vorherrschaft verhindert“ (SG 49, SJ 19). Diese negative Auffassung von Gerechtigkeit kann in der folgenden Formel zusammengefasst werden: Komplexe Gleichheit bedeutet, „dass die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich eines bestimmten sozialen Guts nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts“ (SG 49, SJ 19). Wenn man knapp bei Kasse ist, kann man trotzdem geliebt werden. Diese Formel macht deutlich, wie die Verteilung sozialer Güter von der politischen Gemeinschaft geregelt wird (SG 62, SJ 29). Die politische Gesellschaft reguliert vor allem die zukünftige Verteilung sozialer Güter. Gleichzeitig ist sie „die Frucht der Politik der Vergangenheit“ (SG 62, SJ 29). Sie nutzt vorangegangene Verständnisse von Mitgliedschaft, um einen Zusammenhang zwischen aktuellen und zukünftigen Interpretationen von Verteilungsprinzipien zu schaffen. Insofern ist Zirkularität in diesem Ansatz notwendig. In jeder Gesellschaft wird die Art, wie über Mitgliedschaft entschieden wird, für eine kritische Selbstbewertung (critical assessment of itself) jeder einzelnen Sphäre verwendet: Die kollektive Aufmerksamkeit darauf, wie Entscheidungen in Bezug auf die Verteilung der Güter innerhalb der einzelnen Sphären die Zuteilung von Mitgliedschaft beeinflussen, wirkt als kritische Beschränkung. Walzer schreibt seiner Formel insofern 12 Dworkin / Walzer 1983.

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einen gewissen Relativismus ein, als die Definition von Mitgliedschaft für jede politische Gesellschaft einzigartig ist. Obwohl diese Sichtweise Philosophen, die ein universales Prinzip verlangen, unbefriedigt lassen mag, beschreibt Walzer doch einen Prozess, der Verwirklichungen von Gerechtigkeit (instances of justice) erzeugt. Wenngleich aus diesem Prozess kein universales Gerechtigkeitsprinzip hervorgeht, können wir die resultierende Statusgleichheit als eine Form von Universalismus werten. Wie gesagt: Versteht man die Kritik an Verhältnissen der Dominanz als ein Projekt, das sich an vorangegangen Auffassungen von Mitgliedschaft orientiert, dann ist ein gewisses Moment von Zirkularität unvermeidlich. In diesem Sinne wäre Dworkins Charakterisierung, dass sich Walzers Theorie auf „eine versteckte mystische Annahme verlässt, die in seinen expliziten Äußerungen zu diesem Thema ansonsten keine Rolle spielt“, zuzustimmen.13 Wir sollten Walzer zugestehen, dass er hier im Sinne eines hermeneutischen Zirkels argumentiert. Der Philosoph Giovanni Battista Vico, der im 18. Jahrhundert lebte, unterscheidet in seinem Werk De antiquissima Italorum sapientia: liber primus, zwischen verum und factum – zwischen dem, was wahr ist und dem, was gemacht ist. In diesem Zusammenhang bemerkt Vico, dass soziales Wissen grundsätzlich flexibel ist.14 Mit einem Hinweis auf die Zirkularität der Hermeneutik des Wissens folgert Vico, dass wir Menschen die Kultur deshalb in besonders guter Weise verstehen können, weil wir sie gemacht haben. Unser Wissen um das Göttliche oder Universale mag problematisch sein, in Bezug auf einen menschlichen Begriff wie Gerechtigkeit können wir aber sehr wohl Wissen erlangen. In diesem Sinn, könnten wir sagen, dass die Gerechtigkeitsauffassung einer Gemeinschaft implizit in ihren kulturellen Verständnissen (cultural understandings) angelegt sein kann. Weil eine Kultur explizit und implizit ihre Vorstellungen von Zugehörigkeit definiert, können wir die Wichtigkeit dieser Vorstellungen bei der Lösung von Konflikten zwischen unterschiedlichen Interpretationen der Verteilungsregeln innerhalb der Sphären verstehen. Umgekehrt beinhaltet der Gedanke Vicos, dass Wahrheit und Gemachtheit konvergieren (verum et factum convertuntur), dass eine Gesellschaft, die keine spezifische kulturelle Form geschaffen hat, ihre kulturelle Form auch nicht verstehen kann. Walzer stellt klar, dass ein implizites Verständnis von Gerechtigkeit oder Gleichheit vorhanden sein muss, um es explizit realisieren zu können. In seinen Ausführungen über die Möglichkeit, eine egalitäre Gesellschaft realiter und nicht nur theoretisch zu entwickeln, behauptet Walzer: „Wenn eine solche Gesellschaft—wenn auch verborgen und versteckt in unseren Konzepten und Kategorien—nicht bereits existierte, dann könnten wir sie auch in Zukunft niemals konkret ausformen und verwirklichen“ (SG 20, SJ XIV). Daher ist es alles andere als inkonsistent, wenn Walzer die Vorstellungen von Mitgliedschaft, die in einer Gesellschaft eingebettet sind, dazu verwendet, um später die Verteilung von Gütern neu auszurichten. Mitgliedschaft stellt einer Gesellschaft die an13 Dworkin 1983. 14 Vico 2010, S. XIX, „Introduction“. Zum wissenschaftlichen Wissen schreibt Vico: „the one who proves from causes is the one who makes what he proves“.

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fänglichen Parameter für eine Formel von Gerechtigkeit zur Verfügung, die nur diese Gesellschaft verwenden kann. Obwohl die Kritik, dass dieser Ansatz immer nur den Status quo reproduziert, noch nicht entkräftet ist, erreicht Walzer mit seiner Vorgehensweise das Ziel, die universalen Perspektiven und großen Erzählungen derjenigen Theoretiker zu vermeiden, die glauben, Gerechtigkeit von einem Außerhalb der Höhle aus definieren zu können.

3. MITGLIEDSCHAFT ALS SOZIALES GUT Die Theorie der distributiven Gerechtigkeit beginnt nach Walzer „mit einer Darlegung der Rechte der Mitglieder“ (SJ 63, Übers. von S. S., SG 107). Die Auffassung, die eine Gesellschaft von Mitgliedschaft hat, muss einerseits ihre Zugangsregeln festlegen, wozu jede Gesellschaft ein Recht hat, und andererseits die Vorteile der politischen Inklusion allen Mitgliedern zugänglich machen. In Walzers Sicht ist Gemeinschaft an sich ein Gut. Es wird verteilt wie andere Güter, kann jedoch nur an diejenigen verteilt werden, die es nicht besitzen. Im Gegensatz zu anderen Gütern erzeugt Gemeinschaft den Rahmen dafür, wie die Bedeutungen der anderen Güter verstanden werden. In jeder Vorstellung, die eine Gesellschaft davon hat, wie in ihr das Gut Mitgliedschaft verteilt werden soll, gibt es „interne Prinzipien“. Es ist wesentlich, diese „internen Prinzipien“ zu erkennen, um die Bedeutungen, die festlegen, wie Güter in den anderen Sphären verteilt werden, zu verstehen. Das Verständnis der Mitgliedschaft bestimmt die Form, die eine Gemeinschaft annehmen wird, sowie ihren Regel der Verteilung von Mitgliedschaft. Mitgliedschaft stellt gegenüber anderen sozialen Gütern einen Sonderfall dar. Gemeinschaft ist ein Bedürfnis, da durch sie „Kultur, Religion und Politik“ artikuliert werden. „Erst und allein unter der Ägide dieser drei Sozialphänomene werden all die anderen Dinge, deren wir bedürfen, zu sozial anerkannten Bedürfnissen, nehmen sie eine historische, fest umrissene Form an“ (SG 109, SJ 65). Die Gemeinschaft etabliert ein anfängliches kollektives Verständnis, das auch in den anderen Sphären gilt und das den anderen Sphären ihre fundamentale normative Struktur verleiht. Für Govert Den Hartogh ist Mitgliedschaft selbst eine dominantes Gut, das ohne Schaden in die anderen Sphären exportiert werden kann; denn aus der Dominanz von Gleichheit ergeben sich keine Nachteile.15 Wenn ein soziales Gut als Bedürfnis angesehen wird, dann soll sein Verteilungsprinzip ausgehend vom Gut der Mitgliedschaft konzipiert werden.16 In diesem Fall würde das Verteilungsprinzip innerhalb dieser einzelnen Sphäre der einfachen Gleichheit ähneln.17 Walzer präsentiert uns keine Liste, die zeigen würde, welche Sphären explizit mit Mitgliedschaft verknüpft sind. Obwohl es keine klare Übereinstimmung in der 15 Den Hartogh 1999, S. 495. 16 Siehe SJ 203 zu Bildung, SJ 305 f. zu Bildung und Wahlrecht als einfache Gleichheit und zum Bedürfnis nach Mitgliedschaft. 17 Den Hartogh 1999, S. 495.

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Literatur gibt, wird allgemein anerkannt, dass einige Sphären mit sozialen Bedürfnissen verbunden sind, andere dagegen nicht.18 Allgemein gesagt sind die direkt von Mitgliedschaft betroffenen Sphären Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Ware, das Amt, harte Arbeit, nicht-spezialisierte Erziehung, private Anerkennung und eine grundsätzliche Form von Selbstachtung (self-respect).19 Wenn ein Verteilungsprinzip in Betracht gezogen wird, das die allgemeine Wohlfahrt der Mitglieder negativ affizieren könnte, dann soll ein normatives Verständnis von der wechselseitigen Verpflichtung der Mitglieder zueinander in den Entscheidungsprozess eingreifen. In diesem Sinne können die Bedeutung von Gütern und ihre Verteilungsprinzipien für Sphären, die von anerkannten Bedürfnissen der Bürger beeinflusst sind, nicht klar erkannt werden, wenn die internen Prinzipien von Mitgliedschaft nicht berücksichtigt werden.20 Hier wird deutlich, wie zentral Mitgliedschaft in Walzers Modell ist. Nachdem er die Rolle von Mitgliedschaft in den Verteilungssphären der Güter etabliert hat, entwickelt er ihre allgemeinere Bedeutung im Rahmen einer historischen Analyse. Mitgliedschaft kann viele Formen annehmen, die oft von der Natur der jeweiligen Institution abhängen. Natürlich konzentriert sich Walzer auf einen Begriff der politischen Mitgliedschaft. Wie gesagt, die ursprüngliche Definition von Mitgliedschaft in einer politischen Gemeinschaft kann als Bezugspunkt für eine kritische Reflexion genutzt werden. So bemerkt Walzer zum Beispiel, dass die Neigung der amerikanischen Gesellschaft, Einwanderungsbeschränkungen auf Hautfarbe und Religion zu gründen (weiße Protestanten werden bevorzugt), darüber hinweg täuscht, dass frühere Generationen Amerika als eine pluralistische, auf ökonomisches Wachstum hin orientierte Gesellschaft gegründet hatten. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hätten die Puritaner diesen Widerspruch erkennen müssen, als sie sich für eine restriktive Einwanderungspolitik entschieden haben (SG 76 f., SJ 40).

18 Miller 1995b, S. 222–225. Van der Veen 1999, S. 242–245. Hartogh unterscheidet zwischen Sphären, in denen das interne Verständnis von Mitgliedschaft und das Bedürfnisprinzip den Bürgern nur eine Möglichkeit der Verteilung lässt (P-Sphären) und Sphären, die offen sind, in denen sich die Verteilung nach den sozialen Bedeutungen der Güter richtet (D-Sphären). Für D-Sphären sind mehrere Verteilungsprinzipien verfügbar. Den Hartogh 1999, S. 495–503. 19 Hartogh bietet diese Liste (Den Hartogh 1999, S. 494). Siehe auch Den Hartogh 1999, S. 498. Van der Veen schlägt eine ähnliche Liste vor, die aber etwas anders gelagert ist. Sehe Van der Veen 1999, S. 244. Van der Veen versteht die Beziehung von harter Arbeit und Mitgliedschaft (Van Der Veen 1999, S. 251), in einem stärkeren Sinne als Hartogh. Den Hartogh 1999, S. 499. 20 „Die Politik der Gegenwart ist die Frucht der Politik der Vergangenheit. Sie, die Vergangenheit, gibt den Rahmen vor, in dem über distributive Gerechtigkeit nachgedacht wird […]. Die Gemeinschaft ist ihrerseits selbst ein Gut – vermutlich das wichtigste –, das es zu verteilen gibt“ (SG 62, SJ 29).

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3.1 Nachbarschaften, Vereine und Familien Wie wird nun über die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft entschieden? Walzer untersucht zuerst Nachbarschaften, Vereine und Familien. Jede dieser Einheiten definiert Kriterien der Zugehörigkeit. Aber kann Mitgliedschaft, wie sie in diesen kleineren Gemeinschaften beobachtbar ist, auch auf die politische Gemeinschaft angewendet werden? In der Theorie gibt es keine Zulassungsregeln für eine Nachbarschaft (neighborhood). Trotzdem konstituieren Nachbarschaften Gemeinschaften, die einen spezifischen Charakter haben und deren Mitglieder Zugehörigkeitsgefühle entwickeln, vermittelt etwa durch einen gemeinsamen Standort. Diese Gemeinschaft ist zwar territorial definiert, teilt aber auch mehrere Attribute mit der politischen Gemeinschaft. Weil es keine Zulassungsregeln für eine Nachbarschaft gibt, ist sie jedem, der es sich leisten kann und dort wohnen will, zugänglich. Der Markt bestimmt letztendlich über die Mitgliedschaft. Sozialer Druck, oder ob Nachbarn Neuankömmlingen gegenüber aufgeschlossen sind oder nicht, spielt eine untergeordnete Rolle, da keine Zulassungsregeln bestehen. Um auf die Probleme eines Staates ohne Grenzen hinzuweisen, führt Walzer die globale wirtschaftliche Gemeinschaft als Beispiel an. Weil unter Bedingungen der Globalisierung jeder dieser Einheit angehören würde, wären alle Mitglied. In solch einem Fall wären keine Mitgliedschaften mehr zu vergeben (SG 68 f., SJ 34). Im Sinne der „klassischen politischen Ökonomie“ würde sich ein globaler, grenzenloser Staat über unbeschränkte Mobilität und ungeregelte Migration definieren (SG 73, SJ 37). Die Bürger könnten frei umherreisen und Mitglied in Nachbarschaften werden, wie es ihnen beliebt. Sidgwick hat jedoch angemerkt, dass diese Nachbarschaften nicht sonderlich stabil sein könnten. Sie werden je nach wirtschaftlichen Vorteilen entstehen und verschwinden. Es wäre eine Welt von einander fremden Nomaden. In einer solchen Welt können keine Gemeinschaftsgefühle entstehen, und diese geben sowohl einer politischen Einheit ihren spezifischen Charakter als auch ihren Mitgliedern die moralische Kraft zur Verbesserung der Gemeinschaft. Nur wenn das patriotische Gefühl eine moralische Basis hat, der kommunale Zusammenhalt Pflichten und geteilte Bedeutungen21 produziert und es beides gibt, Mitglieder und Fremde, nur und erst dann haben Staatsbeamte Grund, sich Sorgen um die Wohlfahrt ihres eigenen Volkes (in seiner Gesamtheit) und um den Erfolg ihrer eigenen Kultur und Politik zu machen (SG 74, SJ 37 f.).

Gemeinschaften benötigen Grenzen, folgert Walzer. Die Grenzzäune eines Staates niederzureißen, führt zu Engstirnigkeit und gerade nicht zu allgemeinem Wohlstand. Insofern muss es Zulassungsregeln geben, die den Grenzen Bedeutung verleihen. Durch Zulassungsregeln wird die Gemeinschaft ein wenig wie ein Club. Bis zu einem gewissen Grad kann ein Club willkürlich die Regeln bestimmen, die darüber entscheiden, wer aufgenommen wird und wer nicht. Auch in einem Staat 21 In SG wird ‚shared meanings‘ als ‚gemeinsame Bedeutungen‘ übersetzt. Hier wird ‚geteilte Bedeutungen‘ verwendet.

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wird die Mitgliedschaft reguliert. In diesem Sinn steht die Mitgliedschaft im Staat derjenigen im Club nahe. Insofern als Regierungen eine Aufnahmepolitik für neue Mitglieder umsetzen, gestalten sie eine politische Gemeinschaft. Aber welche Bedeutung haben die Kriterien für Mitgliedschaft? Immigration und Emigration sind asymmetrisch (SG 76, SJ 40). Es macht nicht wirklich Sinn, Mitglieder zur Mitgliedschaft zu zwingen. Wenn Mitgliedschaft nicht freiwillig ist, lohnt es sich nicht für sie zu kämpfen und es gibt keine tiefere Bedeutung, der die Mitglieder verpflichtet sind. Die Gestalt einer Gemeinschaft hängt gleichwohl von den Regeln ab, die festlegen, wer aus welchen Gründen hereingelassen wird. Nach Walzer ist die politische Gemeinschaft – außer in den Symbolen des Staates – zwar unsichtbar, aber dennoch existent durch die moralisch und politisch geteilten Verständnisse des Staates. Mitglieder können sich in dem Prozess ihrer Diskussionen auf diese geteilten Verständnisse beziehen. Dadurch werden die Zulassungsregeln abgeleitet, interpretiert und vielleicht sogar verfeinert: „Welche Art von Gemeinschaft wollen die Bürger schaffen? Mit welchen anderen Männern und Frauen wollen sie ihre sozialen Güter teilen und austauschen?“ (SG 78, SJ 40). Die Zulassungsregeln setzen Parameter ein, die die Gestalt der politischen Gemeinschaft bestimmen. Aber Zulassung hat auch eine moralische Dimension. Um die moralische Bedeutung einer politischen Gemeinschaft zu erforschen, untersucht Walzer, wie Mitgliedschaft in einer Familie funktioniert. Der Eintritt in die Familie wird durch Geburt und Heirat geregelt, doch um im Familienverband bleiben zu können, müssen die Familienmitglieder Pflichten einer breiteren Gruppe übernehmen. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Staatsmitgliedschaft. In einem Club werden alle Mitglieder ausgewählt. Aber im Falle des Staates werden viele aufgenommen, die die Mitgliedschaftskriterien nicht erfüllen. In einem Staat werden Bewerber eher zugelassen, wenn sie eine ethnische, kulturelle oder ideologische Ähnlichkeit mit dem Gastgeberland haben. Es werden standardmäßig manche Kandidaten für Mitgliedschaft gegenüber anderen vorgezogen, wenn Entscheidungen zu Immigration und Aufnahme von Flüchtlingen getroffen werden müssen (SG 78 f., SJ 41). Darüber hinaus führt Walzer aus, dass bestimmte Ethnien Bindungen zu bestimmten Staaten oder Territorien haben, unabhängig davon, wo die entsprechenden Personen geboren wurden. Als es zu unfreiwilligen Auswanderungen zwischen der Türkei und Griechenland kam, sind die türkischstämmigen Bewohner aus Griechenland in die Türkei gezogen, und die griechischstämmigen Bewohner aus der Türkei nach Griechenland. Die Menschen sind in die Territorien gezogen, die die Namen ihrer ethnischen Gruppe hatten. Walzer beobachtet, dass die meisten Länder es als ihre Pflicht ansehen, Menschen mit der gleichen ethnischen Identität, so, als ob es eine ‚Blutsverwandtschaft‘ gäbe, Mitgliedschaft zu gewähren (SG 79 f., SJ 42). Walzer folgert daraus, dass die grundsätzliche Struktur von politischen Gemeinschaften derjenigen von Clubs und Familien ähnlich sei. Politische Zugehörigkeit ähnele derjenigen in Clubs, gleichzeitig entspricht der moralische Aspekt von Mitgliedschaft mehr einer Verwandtschaftsstruktur.

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3.2 Territorien Die Frage des Territoriums ist ein weiteres zentrales Thema in Walzers Auffassung von Mitgliedschaft. Jeder Mensch muss irgendwo seinen Ort haben. Wie schon Hobbes klargestellt hatte, haben wir ein Recht auf einen Platz zum Leben (SG 81, SJ 43). Es ist gefährlich ohne Mitgliedschaft außerhalb des geschützten Raumes des angestammten Territoriums oder der eigenen Bürgerschaft zu leben (SG 66, SJ 32). In der Geschichte ist es wiederholt vorgekommen, dass neue Regierungen die alten, imperialen Herrscher verdrängt und alle „Fremden“ vertrieben haben. In solchen Fällen wurden die Interessen einer neuen politischen Gemeinschaft artikuliert, die Werte der Mitglieder des Vorgängerstaates wurden dagegen verworfen. Mitgliedschaft wurde neu definiert um die neue Vorstellung des Staates besser implementieren zu können. Diejenigen, die das Privileg der Mitgliedschaft dann nicht erhalten, befinden sich in der Regel in sehr großer Gefahr. Ohne einen territorialen Anspruch anzuerkennen, so folgert Walzer, bleibt eine Theorie der Gerechtigkeit unmöglich: „Die Theorie der Gerechtigkeit muss deshalb den Territorialstaat in Anschlag bringen, indem sie die Rechte seiner Einwohner spezifiziert und das kollektive Recht auf Aufnahme und Zurückweisung anerkennt“ (SG 83, SJ 44). Innerhalb der Grenzen des Nationalstaates werden zwei Güter verteilt, Lebensraum und Zufluchtsstätte. Die moralische, aber politisch zu entscheidende Frage, die sich hier anschließt, lautet, ob wir jemanden von seiner Zufluchtsstätte ausschließen können, ohne ihn zugleich aus dem Territorium zu verbannen. Walzer spielt mit den Begriffen von Zugang und Moralität, wobei er als Beispiele die „weißen Australier“ und die Asylanten verwendet. In beiden Fällen ist die Frage wichtig: Wie trifft eine politische Gemeinschaft Entscheidungen, die sich auf ein anderes Territorium oder eine neue Gruppe von Mitgliedern beziehen. Im Fall der „weißen Australier“ entwickelt er folgendes Szenario: Es spricht vieles dafür, dass die weißen Einwohner Australiens einen Überschuss an Land haben. Darüber hinaus scheinen sie ihren Überschuss an Land als einen sehr wichtigen Bestandteil ihrer politischen Gemeinschaft zu betrachten. In Hinsicht auf das Bevölkerungswachstum ihrer südostasiatischen Nachbarländer kann dies zu einem Dilemma werden. Aus Hobbes’ Sicht ist ein Überschuss von Land, den die Australier für ein bedeutendes Merkmal ihrer Gemeinschaft halten, im Grunde „überflüssig“ (SG 86, SJ 47). Daraus folgt, dass der Anspruch der weißen australischen Bevölkerung auf territoriale Hoheit aufgrund der Bedürfnisse der Bewohner der Nachbarländer, die keine australische Staatsbürgerschaft haben, moralisch nicht aufrechtzuerhalten ist. Diejenigen, die nicht genug Land haben, fühlen sich möglicherweise berechtigt einzuwandern um Unterstützung von diesem Land zu fordern. Angesichts eines andauernden Einwanderungsdrucks von landsuchenden Fremden, so Walzer, muss das weiße Australien entscheiden, wie seine Identität aussehen soll. Entweder muss es kleiner werden, oder es kann zwar seine territorialen Grenzen aufrechterhalten, aber dafür nicht länger am Ideal der Homogenität festhalten. Werden die Australier Land abtreten um ihre Homogenität zu erhalten, oder Homogenität abtreten um die Fläche zu erhalten? Zugangsberechtigungen müssen schließlich irgendeine Bedeu-

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tung haben. Wenn einfache Gleichheit in Bezug auf Mitgliedschaft und Reichtum in der Welt verwirklicht wäre, würden die Differenzierungen, die lokale Bedeutungen schaffen, verschwinden. Wenn ein Land, das erhebliche Ressourcen besitzt, die es für Einwanderer attraktiv macht, seine Grenzen vollkommen öffnet, besteht die Möglichkeit, dass durch eine Flut von Einwanderern der Vorteil der erheblichen Ressourcen zunichte gemacht wird. Die Bedeutung der erheblichen Ressourcen wäre annihiliert (SG 87, SJ 47 f.). Gemäß einer anderen Strategie können die Güter, die ein Land attraktiv machen, exportiert werden, zum Beispiel als Auslandshilfe. Aber auch dieser Ansatz hat eine Beschränkung. Wenn zu viele von den Ressourcen eines Landes exportiert werden, kann ein gewisses Wohlstandsniveau nicht mehr aufrechterhalten werden. In De Officiis gibt Cicero den Rat, dass wohltätige Spenden nicht die zukünftige Fähigkeit zu Wohltätigkeit behindern sollten.22 Zu viel zu verschenken, würde auf die interne Bedeutung der Wohltätigkeit unterminieren.

3.3 Die normativen Anforderungen der Mitgliedschaft Die Aufnahme von Flüchtlingen ist, wie oben erwähnt, eine moralische Geste, die gegenüber einem Individuum gemacht wird. Trotzdem gelten die Zulassungsregeln immer auch als Ergebnisse politischer Entscheidungen. Walzer erläutert dieses Dilemma mit dem Bild eines Menschen, der sagt: „Falls ich nicht aufgenommen werde, werde ich umgebracht“ (SG 88 f., SJ 49). Dieses menschliche Grundbedürfnis ist unleugbar. Trotzdem beobachten wir, dass politische Gemeinschaften über Zulassungsregeln für Asylanten entscheiden, die solchen Bedrohungen ins Auge blicken müssen. Obwohl diese Forderungen universal sein mögen, bevorzugt Walzer immer wieder partikulare Entscheidungen.23 Zwar ist nach Walzer „Selbstbestimmung in der Sphäre der Mitgliedschaft keine uneingeschränkte“ (SG 106, SJ 62). Das externe Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung spielt zwar eine Rolle, aber diese sogenannte universale Pflicht ist letztendlich doch den Kriterien der internen Entscheidungen nach lokalen Regeln unterworfen. Interne Entscheidungen, die auf kultureller Nähe oder ethnischen Beziehungen beruhen, führen dazu, dass wir eher Menschen, die uns nahe stehen, Asyl gewähren. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist Verantwortung; jedes politische Kollektiv muss sich fragen, in wie weit es Flüchtlingskrisen mitverantwortet hat. In der Geschichte finden sich viele Beispiele, zum Beispiel die Verantwortung der Vereinigten Staaten für die südvietnamesischen Flüchtlinge am Ende des Krieges, oder die Verpflichtung der französischen Regierung gegenüber den Algeriern, die Frankreich

22 Cicero, De Officiis, Buch 1, § 42. 23 „Meine Argumentation ist eine radikal partikularistische“ (SJ XIV, Übers. von S. S., SG 20). Siehe auch die Abschnitte, in denen er einen universalen normativen Anspruch erkennt, aber trotzdem darauf besteht, dass in jedem einzelnen Fall für diese Probleme eine partikulare Lösung gefunden werden muss (SG 27–30, 62 f., 88–91, 103 f., 144, 392 f., 406 f., 442 f.; SJ 4 f., 29 f., 33 f., 49 f., 60, 91, 276, 286, 314).

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unterstützt haben. Ideologische Nähe ist hier ebenfalls relevant. Während des kalten Krieges haben die westlichen Staaten Flüchtlingen aus den Ostblockstaaten regelmäßig Asyl gewährt, wie zum Beispiel nach dem Aufstand in Ungarn 1956. Aber wie weit reicht das externe Prinzip der wechselseitigen Hilfeleistung? In diesem Zusammenhang fragt Walzer, ob die westlichen Länder sich auch für stalinistische Asylsuchende verantwortlich gefühlt hätten, wenn der Aufstand anders ausgegangen wäre. Der wesentliche Punkt ist der folgende: Die Entscheidungen, die sich auf „Zulassungsregeln“ beziehen, werden von einer spezifischen Gruppe innerhalb eines begrenzten Territoriums selbstbestimmt getroffen und mit den Anforderungen des Guts Mitgliedschaft gerechtfertigt. Diese Entscheidungen definieren, wer sie sind, unter Berücksichtigung dessen, wer sie waren und wer sie sein wollen. Walzer macht diesen normativen Aspekt seines Ansatzes deutlich, wenn er die Behandlung der Arbeiter diskutiert. Die Metöken des antiken Athen waren ein Beispiel dauerhafter Gastarbeiter. Sie waren keine Sklaven und sie hielten sich selbst nicht für eine unterdrückte Gruppe. Gleichzeitig wurde von ihnen erwartet, dass sie sich an der Verteidigung der Stadt beteiligen. Dennoch konnten weder sie noch ihre Nachfahren politische Rechte in Anspruch nehmen noch von Wohlfahrtsprogrammen profitieren (SG 95, SJ 53).24 Aristoteles, selbst ein Metöke, war der Auffassung, dass Staatsbürgerschaft von Vortrefflichkeit (aretê) abhängen sollte. Die Leben der Bürger, die die Fähigkeit zur Wahl besitzen, wurden durch die politische Sphäre bestimmt (SG 96, SJ 54). Die Leben der Sklaven und Fremden wurden durch die Notwendigkeiten der Marktbedingungen bestimmt. Mit diesem Beispiel liefert Walzer einen wichtigen Baustein für sein Argument, wie eine normative Auffassung von Mitgliedschaft die gerechte Verteilung bestimmen soll. Walzer zufolge macht Aristoteles einen Fehler, wenn er zwischen der politischen Sphäre und der wirtschaftlichen Sphäre unterscheidet. Die eine bedingt die andere. Wie dargelegt, nennt Walzer diesen Zustand Dominanz, weil die Metöken in Wirklichkeit einer politischen Autorität unterworfen werden, die außerhalb der ökonomischen Sphäre liegt, durch die sie ihre alltägliche Existenz bestimmen. Da sie keine politischen Rechte haben, sind sie einer Form von Tyrannei unterworfen. Die Fremdarbeiter werden eingeladen um im Gastland notwendige Arbeiten zu verrichten, die von den lokalen Arbeitern nicht geleistet werden können. Typischerweise werden solche Aufgaben als schwierig oder erniedrigend erachtet. Dies war zum Beispiel der Fall im Deutschland der 1960er Jahre. Der lokale Arbeitsmarkt konnte zu dem angebotenen Lohn nicht mit lokalen Kräften versorgt werden. Die aus dem Ausland eingeladenen Arbeiter, normalerweise aus ärmeren Ländern, leisteten die Arbeit gerne zu niedrigem Lohn, da dieser wesentlich höher war als in ihrem Heimatland. Aber solche Gruppen zahlen einen hohen Preis, denn der Schutz der Mitgliedschaft steht ihnen nicht zu. Die Erteilung eines Arbeitsvisums ist üblicherweise mit einer spezifischen Anstellung verbunden, die auf einen spezifischen Zeitraum begrenzt ist. Die zeitliche Begrenzung unter24 „Fremde blieben von der Zuteilung von Korn ausgeschlossen“. Ehrenberg 1962, S. 153, Übers. von S. S.

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streicht nach Walzer die untergeordnete Position solcher Arbeiter. Weil sie wissen, dass sie ihre Arbeit verlieren können, und dann deportiert werden, beanspruchen sie nicht die gleichen Rechte wie die vollen Mitglieder der Gesellschaft. Im Gegenzug für die Zulassung als Arbeiter verlangten die Metöken lediglich faire Behandlung. Für die antiken Athener, so Walzer, wäre es wohl unmöglich gewesen, jemandem nur ein eingeschränktes Bürgerrecht zuzugestehen. Der Begriff ‚Athener‘ ist ambivalent: ‚Wenn Du kein Athener bist, wie kannst Du dann zu einem gemacht werden?‘ (SG 96 f., SJ 55). Walzer führt weiter aus, dass den zeitgenössischen Gastarbeitern ihre befristete Vertragslaufzeit wie „selbstverordneter Gefängnisaufenthalt“ erscheint (SG 100, SJ 57). Das Leben im Gastland sieht auf den ersten Blick aus wie ein verlockendes Angebot. Der Gastarbeiter bekommt einen Lohn, der im Heimatland nicht erreichbar ist; dem Gastgeberland werden schwierige Aufgaben erledigt. Nach Ablauf der verabredeten Zeit geht der Gastarbeiter in sein Heimatland zurück. Wo liegt denn hier das Problem? So beschrieben, gibt es vielleicht kein Problem. Aber in Wirklichkeit wollen die Fremdarbeiter oft nicht nur Gastarbeiter sein und nicht nach einiger Zeit in ihr Heimatland zurückkehren. Oft gründen sie Familien und werden Teil der territorialen und ökonomischen Gemeinschaft, auch wenn ihnen die Teilnahme an der politischen Gemeinschaft verwehrt bleibt. Diese Art von Exklusion widerspricht der Möglichkeit einer gerechten Demokratie. Mitgliedschaft auf der wirtschaftlichen Ebene entspricht den Regeln der Nachbarschaft, jeder kann kommen und gehen. Aber auf politischer Ebene ist diese Mitgliedschaft eher wie ein Club oder eine Familie (SG 100, SJ 58). Wie die antiken Metöken finden sich die Fremdarbeiter in einer Sphäre, in der ihnen keine Rolle zugedacht ist. Die ökonomische Sphäre wird durch ein politisches System kontrolliert. Diejenigen, deren Schicksal vom Markt determiniert ist, bleiben von der politischen Sphäre ausgeschlossen. Walzer erhebt eine normative Forderung: Teilnehmern am Marktsystem sollte auch die Teilnahme am politischen System offenstehen (SG 103, SJ 60). Zwar kann die politische Mitgliedschaft nicht für alle erreichbar sein, und für manche ist eine Mitgliedschaft in der ökonomischen Sphäre ausreichend. Aber für diejenigen, die ihren Lebensmittelpunkt im Gastland gefunden haben, sollte es zumindest einen Weg zur Mitgliedschaft geben. Falls dies nicht möglich ist, werden diese „Hausdiener“ niemals einen gleichberechtigten Status erreichen. Walzer nennt dies die Ungerechtigkeit der Dominanz: der direkte Einfluss des politischen Kapitals auf die ökonomische Sphäre. Unter dieser Bedingung kann keine gerechte Gemeinschaft entstehen (SG 106 f., SJ 62). In solch einer Gesellschaft wird sich weder eine Gemeinschaft mit Charakter25 noch die spezifische Sorge und Verpflichtung entwickeln, die Mitglieder füreinander haben. Allen Bürgern einen gemeinsamen Status zu verwehren, würde von Anfang an eine Statusgleichheit als Folge von komplexer Gleichheit unmöglich machen 25 Walzer spricht von „spezifischen Gemeinschaften (communities of character)“ als „historisch stabilen Vereinigungen von Menschen, die einander in einer speziellen Weise verbunden und verpflichtet sind und die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben“ (SG 106, SJ 62).

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(SG 107, SJ 62).26 Eine politische Gemeinschaft kann selbst über die Form bestimmen, die Mitgliedschaft in ihren Grenzen annehmen kann. Diese Entscheidung muss aus einem internen diskursiven Prozess resultieren, an dem alle Bürger teilnehmen. Wenn in diesem Prozess nur ein Teil der Bevölkerung stimmberechtigt ist, spaltet sich die Bürgerschaft. In diesen Fall kann es sinnvoll sein, das Territorium ebenfalls zu spalten. Nur durch den Prozess der kollektiven Selbstbestimmung, die das interne Leben des demokratischen Staates unter Beteiligung der ganzen Bevölkerung artikuliert, kann politische Gerechtigkeit entstehen (SG 104 f., SJ 60). „Was immer wir in diesem Punkt beschließen, es strukturiert alle anderen von uns zu treffenden Distributionsentscheidungen vor, denn es legt fest, mit wem wir diese Entscheidungen treffen, von wem wir Gehorsam erwarten und Steuern einfordern und wem wir Güter und Dienstleistungen zuteil werden lassen“ (SG 65, SJ 31). Nur wenn diese Auffassungen von Mitgliedschaft implizit oder explizit den Kern einer gerechten Gesellschaft bildet, „versteckt in unseren Konzepten und Kategorien“, kann eine solche Gemeinschaft konkret realisiert werden (SG 20, SJ XIV).27

4. SCHLUSS Eine derartige Auffassung macht verständlich, wie der Bezug auf ein Zugehörigkeitsmodell, dass in einer selbst bestimmten politischen Gemeinschaft verankert ist, eine Kritik von Verteilungsverfahren orientieren oder als hermeneutischer Ausgangspunkt für identitätspolitische Entscheidungen dienen kann.28 In ihrer Unabhängigkeitserklärung hatten die zukünftigen Amerikaner 1776 explizit erklärt, dass alle Menschen gleich sind. Diese Erklärung spaltete das Land in zwei Teile. Die Gleichheit aller war wohl der ideologische, nicht aber der politische oder ökonomische Grund, aus dem heraus Lincoln erklärte, dass die politischen Rechte in seinem Land nicht gerecht verteilt seien. Dieser Aspekt der amerikanischen Auffassung von Zugehörigkeit spielte in der Selbstbestimmung eine Rolle, die entscheidende Veränderungen nötig machte. In diesen Fall blieb ein gemein-

26 Siehe Miller 1995a, S. 208 f. 27 „Mitgliedschaft als soziales Gut wird begründet durch unser Verständnis von Zugehörigkeit, ihr Wert bemißt sich an unserer Arbeit und unserer Kommunikation; und so sind wir es, denen die Verantwortung für ihre Vergabe und Verteilung zufällt“ (SG 66, SJ 32). 28 „In diesem Falle sollten wir vielleicht nach einer Möglichkeit suchen, die Distributionsentscheidungen den Erfordernissen dieser kleineren Einheiten anzupassen. Doch muss diese Anpassung selbst wiederum auf politischem Wege erfolgen, was bedeutet, dass ihr Charakter davon abhängt, welches Verständnis die Bürger vom Wert kultureller Diversität, lokaler Autonomie usw. haben. Es ist dieses Verständnis, an das wir appellieren, auf das wir uns beziehen müssen mit unseren Argumenten, und zwar gilt dies für jeden von uns, nicht nur für die Philosophen; denn in Fragen der Moral ist jede Argumentation nichts anderes als ein Appell an allgemeingültige Bedeutungen, an ein gemeinschaftliches Verständnis von den Dingen“. In der Politik gestalten „Lokalmonopol […] ihr eigenes Schicksal selbst“ (SG 61 f., SJ 29).

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sames Territorium bestehen und es wurde zumindest der Weg zur politischen Gleichheit für alle eröffnet. Trotzdem können Kritiker wie Dworkin zu Recht anführen, dass Bezugnahmen auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten – der schriftliche Ausdruck geteilter (normativer) Bedeutungen (shared meanings) – einen universalen Anspruch auf Gleichheit für alle manifestieren. Wenn wir gezwungen sind, uns von den starken kontextuellen Einflüssen der Politik, der Tradition und der Ökonomie zu befreien, bildet die universale Perspektive einen Standpunkt, von dem aus man zeigen kann, wie weit der Status quo vom Weg der Gerechtigkeit abgeirrt ist. Gerechtigkeit darf nach Dworkin nicht einfach die Tradition wiederspiegeln. Sie muss eine Instanz der Kritik sein können. Walzers Idee komplexer Gleichheit […] ignoriert die ‚soziale Bedeutung‘ einer Tradition, die weit wichtiger ist als die beschränkte Tradition, die sie uns zu respektieren empfiehlt. Denn zu unserem gewöhnlichen politischen Leben gehört es, […] dass Gerechtigkeit uns kritisiert und nicht einfach wiederspiegelt.29

Diesem von Dworkin erhobenen Anspruch müssen wir Zugeständnisse machen. Die Prinzipien, die bei der Ermittlung der angemessenen Verteilungskriterien für Güter Orientierung geben, sieht Walzer offensichtlich in einer Art von „kollektivem Bewusstsein“ verankert (SG 61, SJ 28). Ein Bezug auf eine solche kollektive Autorität, die die Rolle individueller Kritik außer Kraft setzt, konnte begreiflicherweise zu einer negativen Interpretation einer vom Status quo bestimmten Gesellschaft führen, wie Dworkin sie abfällig schildert. Distributive Gerechtigkeit in diesem Sinn würde eher der Moira oder dem Schicksal der griechischen Antike ähneln.30 Falls die Bedeutung von Tradition für Walzers Ansatz darin bestünde, alle Güter nach der blinden Macht der Tradition oder der willkürlichen Hand des Schicksals zu verteilen, hätte Dworkin vielleicht den coup de gras zu Walzers komplexer Gleichheit geliefert. Aber das hat Walzer nicht vor Augen, wenn er von Tradition oder von den geteilten Bedeutungen spricht, die in unseren sozialen Vorverständnissen verkörpert sind. Zu behaupten, dass diese Bedeutungen, die im „kollektiven Bewusstsein“ manifestiert sind, nicht der Kritik zugänglich sind, bedeutet, sie unserem Eingriff zu entziehen, wie das von Moira gewobene Schicksal. Dworkin fragt: „Was kann es bedeuten, überhaupt nur zu sagen, dass Menschen nicht über soziale Bedeutungen übereinstimmen? Die Tatsache des Dissenses zeigt, dass es keine geteilte soziale Bedeutung gibt, über die gestritten werden könnte“.31 Es lässt sich jedoch argumentieren, dass geteilte Bedeutungen (shared meanings) existieren und für uns zugänglich sind. Durch Praktiken diskursiver Verständigung können wir die Bedeutungen, die ein Volk in sein Selbstverständnis integriert hat, explizit ma29 Dworkin 1983, Hervorhebungen von Dworkin. 30 Moira, die im Gefolge der Dike oder Gerechtigkeit auftritt, wird nachgesagt, dass sie den Schicksalsfaden der Sterblichen weben würde. Platon bezieht sich auf die Weberinnen, die drei Moiren, auf den letzten Seiten der Politeia (620 e). Seiner Vorstellung nach drehen sie das Rad des Schicksals nach dem unwiderstehlichen Lied der Sirenen (617 b–c). 31 Dworkin 1983.

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chen, etwa, was es bedeutet, ein Bürger in diesem oder jenem Land zu sein. Das führt uns wieder zu Vicos Axiom zurück, dass wir um unseren Begriff von Gerechtigkeit sehr wohl wissen können, weil wir ihn selbst gemacht haben. „Wir sind (und zwar samt und sonders) kulturproduzierende Geschöpfe; wir schaffen und bewohnen bedeutungsvolle Welten. Da es keine Möglichkeit gibt, diese Welten hinsichtlich ihres Verständnisses von Sozialgütern in eine Rangfolge zu bringen, erweisen wir ihren je konkreten Bewohnern am ehesten dann Gerechtigkeit, wenn wir deren spezielle Hervorbringungen respektieren“ (SG 442 f., SJ 314). Diese selbst-erzeugte Bedeutungsschicht ermöglicht für Walzer ein tieferes Verständnis der Bedeutung der zu verteilenden Güter. Die Diskussion, die sich auf diese geteilte Bedeutungen bezieht, unterscheidet zwischen oberflächlichen und tiefergehenden Interpretationen der Bedeutungen dieser Güter. Die oberflächlichen Interpretationen, die manchmal unreflektiert unsere soziale Praxis bestimmen, unterstützen den Status quo.32 Die tiefergehenden Auslegungen sind dagegen selbstkritisch und erzwingen eine Interpretation, die den Einfluss der Verteilungspraxis des jeweiligen Gutes auf Mitgliedschaft berücksichtigt: Würde diese Praxis die Bevölkerung entzweien? Würden einige Menschen durch sie unterdrückt werden? Die geteilten Verständnisse in einer Weise zu entwickeln, dass sie Kritik erlauben, erfordert für Walzer, nicht zu versuchen, die Höhle zu verlassen. Nun besteht ein Weg – möglicherweise ist es der originäre Weg –, den ein Philosoph im Bestreben, sein Geschäft zu betreiben, beschreiten kann, ganz sicher darin, dass er aus den eigenen vier Wänden heraustritt, die Niederungen des Ortes, an dem er lebt, hinter sich lässt und eine Berghöhe erklimmt, die es ihm ermöglicht, das zu tun, was der Normalmensch nicht tun kann, nämlich einen objektiven und universellen Standpunkt einnehmen. Wer sich auf einer solchen Bergeshöhe befindet, der beschreibt das unter ihm liegende Tal des Alltagslebens aus der Ferne und damit aus einem Abstand, der seine spezifischen Konturen verschwimmen und es eine allgemeine Form annehmen lässt. Was indes mich selbst angeht, so werde ich diesen Weg nicht einschlagen, sondern mit beiden Beinen fest auf dem Boden der unmittelbaren Tatsachen verharren (SG 20, SJ XIV).

Walzer versteht, dass Dworkins Kritik nur dann funktioniert, wenn sie sich auf universelle Prinzipien verlassen kann. Genau das möchte Walzer aber vermeiden. Er möchte nicht von der Idee eines universellen Menschen mit universellen Rechten ausgehen. Er geht von einer kontextuellen Perspektive aus. In Sphären zitiert Walzer mehrfach die französische Philosophin Simone Weil. Ohne explizit Gedanken aus ihrem Werk zu übernehmen, hat er eindeutig eine Affinität zu ihr. Als eine „‚Gemeinschaftsindividualistin‘ (‚corporate individualist‘)“ räumt Weil individuellen Rechten einen Vorrang ein, aber nur, nachdem die Verpflichtungen für das Kollektiv anerkannt worden sind. Verpflichtungen kommen vor Rechten.33 Wie Walzer erkennt sie an, dass das Individuum immer schon in eine partikulare Gemeinschaft eingebettet ist. Wenn wir in der Höhle bleiben, geht uns der Sinn dafür, wie Rechte oder Güter zu verteilen sind, nicht verloren.

32 Miller 1995a, S. 7 f. 33 Weil 1952.

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In seiner Auseinandersetzung mit dem, was er unter der universalistischen Position von Rawls versteht, der die Mitglieder sozialer Gemeinschaften aus der ‚Höhle‘ führen muss um sie zu einem kontraktualistischen Gedankenexperiment zu zwingen, in dem Güter und Bedürfnisse klar definiert sind, erkennt Walzer die Möglichkeit an, dass ein „singuläres Ergebnis“ erreichbar ist (SG 29 f., SJ 5). Aber nimmt man den Schleier weg und stellt die Menschen wieder in ihre alltäglichen Lebensumstände, dann werden sie dieses Ergebnis nicht einmal mehr als ihre eigene Entscheidung erkennen können. Das Problem des universalistischen Philosophen besteht darin, dass er die Fragen der Menschen nicht richtig versteht. Nachdenkliche Menschen, die zur Unparteilichkeit neigen, aber sich gleichwohl als Teil einer besonderen Gemeinschaft verstehen, fragen nicht: „Wofür werden vernunftbegabte Individuen unter abstrakten allgemeingültigen Bedingungen dieser oder jener Art votieren?“ Vielmehr würden sie fragen: „Was würden Individuen wie wir wollen, Individuen, die in etwa der gleichen Situation sind wie wir, die einer gemeinsamen Kultur angehören und gewillt sind, dieser Kultur auch weiterhin gemeinsam anzugehören?“ (SG 29 f., SJ 5). Die Frage, auf die sich Walzer bezieht, wenn die Legitimität der Gemeinschaft, in der man lebt, zur Debatte steht, lautet folgendermaßen: Sehen sich die Mitglieder in den sozialen Strukturen, die ihre Existenz bestimmen, repräsentiert? (SG 60 f., 448; SJ 28, 318). Falls die Antwort ‚ja‘ lautet, dann können sie die Auffassung von Mitgliedschaft akzeptieren, die die Verteilung der für sie bedeutsamen Güter bestimmt. Wenn die Antwort ‚nein‘ lautet, dann wird komplexe Gleichheit nicht erreicht, und die Menschen werden sich, wie zuletzt die Revolutionen im Nahen Osten gezeigt haben, mit den notwendigen Mitteln eine neuen kollektive Verfassung geben. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bank, Andreas Hetzel und Manuel Knoll.

LITERATUR Den Hartogh, Govert, 1999: The architectonic of Michael Walzer’s theory of justice. In: Political Theory 27, S. 491–522. Dworkin, Ronald, 1983: To Each His Own. Review of Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality by Michael Walzer. In: New York Times Review of Books 30. Dworkin, Ronald, 1985: What Justice Isn’t. In: A Matter of Principle, Cambridge, S. 214 –220. Dworkin, Ronald / Michael Walzer, 1983: ‚Spheres of Justice‘: An Exchange. In: New York Times Review of Books 30. Ehrenberg, Victor, 1962: The People of Aristophanes: A Sociology of Old Attic Comedy. New York. Knoll, Manuel, 2011: Das Verhältnis von Elite und Gleichheit in Michael Walzers Gerechtigkeitstheorie. In: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie 53, S. 35–54. Miller, David / Walzer, Michael (Hrsg.), 1995: Pluralism, Justice and Equality. Oxford. Miller, David, 1995a: Introduction. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 1–16. Miller, David, 1995b: Complex Equality. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 197–225.

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Rustin, Michael, 1995: Equality in Post-Modern Times. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 17– 44. Van der Veen, Robert J., 1999: The Adjudicating Citizen: On Equal Membership in Walzer’s Theory of Justice. In: British Journal of Political Science 29, S. 225–258. Vico, Giambattista, 2010: On the Most Ancient Wisdom of the Italians. New Haven. Walzer, Michael, 1983: Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality. New York. Weil, Simone, 1952: The Need for Roots. London. Williams, Jeffrey J., 2012: Michael Walzer’s Politics, in Theory and Practice. In: The Chronicle Review, June 3.

JEDEM NACH SEINEN BEDÜRFNISSEN? Sozial(staatlich)e Institutionen als Sphären der Inklusion Thomas Schramme

1. EINLEITUNG Im dritten Kapitel „Sicherheit und Wohlfahrt“ befasst sich Michael Walzer mit der Frage der gerechten Gestaltung eines Wohlfahrtsstaats. Innerhalb einer politischen Gemeinschaft, so Walzer, schulden sich die Mitglieder gegenseitig etwas, letztlich Dinge, die notwendig sind, um in die Gemeinschaft integriert zu werden. Es geht also um Bedürfnisse von Bürgern, die innerhalb eines spezifischen Staates leben. Es mag sein, dass wir bestimmte Dinge auch Mitgliedern anderer Staaten schulden – das ist eine Frage der globalen Gerechtigkeit –, doch soziale Gerechtigkeit innerhalb eines Staates ist immer kontextgebunden, insofern Bedürfnisse in einer bestimmten Gemeinschaft gedeutet und anerkannt werden. Innerhalb einer politischen Gemeinschaft schulden Menschen „einander die wechselseitige Versorgung mit all jenen Dingen, derentwegen sie sich als ein Ganzes von der Menschheit separiert und zu einer speziellen Gemeinschaft zusammenschlossen haben“ (SJ 65, SG 109; Übersetzung geändert). Die Anerkennung als Mitglied der politischen Gemeinschaft und die damit verbundene Ausrichtung des Wohlfahrtsstaats auf mitbürgerliche Bedürfnisse sieht Walzer wiederum fundiert in einem grundlegenden Bedürfnis des Menschen nach Sozialität, nach Gemeinschaftszugehörigkeit. Die Idee des Wohlfahrtsstaats beruht auf dem gemeinschaftlichen Leben und wird gleichzeitig durch Sozialität erst möglich. Walzer wendet sich damit gegen solche vertragstheoretischen Konzeptionen in der Tradition der politischen Philosophie, die ausschließlich auf egoistische Interessen der Bürger setzen. Hier ist die Vergemeinschaftung initiiert und aufrechterhalten nur aufgrund der Einsicht, dass man sich als einzelnes Individuum nicht selbst erhalten kann, sondern auf andere angewiesen ist. In diesem Bild findet gleichwohl die Kooperation ihre Grenze in dieser Angewiesenheit auf andere – wo sie nicht vorliegt, da endet die gemeinschaftliche Motivation. Anders ausgedrückt, bleibt dieser Deutung von Sozialität zufolge die Reziprozität entscheidend; man hilft anderen und versorgt sie, wo man selbst auf deren Hilfe und Versorgung angewiesen sein könnte. In einem starken Sinne betrachtet man sich gar nicht als Teil einer politischen Gemeinschaft, sondern eher einer Interessengemeinschaft. Gemäß Walzer ist dies ein eingeschränktes Bild von Sozialität, da es unser menschliches Bedürfnis nach Gemeinschaft unterschlägt. Richtig verstanden existiert die „[p]olitische Gemeinschaft um der Versorgung willen“, aber auch „Versorgung um der Gemeinschaft willen“ (SJ 64, SG 108). Das Bild des Gesell-

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schaftsvertrags, dem sich Walzer nicht grundsätzlich abwendet, wandelt sich demnach: Es handelt sich um eine „Übereinkunft, die Ressourcen der Mitglieder umzuverteilen gemäß eines geteilten Verständnisses von deren Bedürfnissen, das wiederum im Einzelnen ständiger politischer Bestimmung unterworfen ist. Der Vertrag stellt eine moralische Bindung dar“ (SJ 82, SG 133; Übersetzung geändert). Aufgrund seiner kontextsensitiven Grundausrichtung kann Walzer wenig Inhaltliches über die gerechte Ausgestaltung von Wohlfahrtsstaaten sagen. Letztlich ist es eine Frage der politischen Aushandlung innerhalb einer spezifischen Gemeinschaft, was sich die Mitglieder jeweils zugestehen. Was sie sich gegenseitig schulden – wie es häufig in der theoretischen Debatte ausgedrückt wird –, wird nicht durch philosophische Analyse, sondern reale Prozesse determiniert. Bedürfnisse selbst, die grundlegende Kategorie von Wohlfahrtsstaaten, sind laut Walzer veränderlich und historisch gewachsen. „Die Kategorie des gesellschaftlich anerkannten Bedürfnisses ist ergebnisoffen“ (SJ 83, SG 134; Übersetzung geändert).1 Ihre Befriedigung zielt ab auf die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Indem dieses abstrakte Ziel der Integration der Mitglieder einer Gemeinschaft der Bedürfniserfüllung zugrunde liegt, ist Walzers Theorie in einem bestimmten Verständnis eine Theorie der Gleichheit. Materielle Ungleichheiten mögen sich aufgrund historischer Kontexte ergeben, Statusgleichheit bleibt gleichwohl das übergeordnete Ziel. Die inhaltlich schmalen Ergebnisse seiner Theorie wohlfahrtsstaatlicher Gerechtigkeit fasst Walzer selbst in drei Prinzipien zusammen: Jede politische Gemeinschaft muss den Bedürfnissen ihrer Mitglieder gemäß dem kollektiven Verständnis dieser Bedürfnisse nachkommen. Die zur Verteilung gelangenden Güter müssen proportional zu den Bedürfnissen verteilt werden. Die Verteilung muss die zugrundliegende Gleichheit der Mitgliedschaft anerkennen und bewahren (SJ 84, SG 134; Übersetzung geändert).

Trotz der Ferne von allgemeinen inhaltlichen Bestimmungen wohlfahrtsstaatlicher Institutionen widmet sich Walzer in längeren Teilen des Kapitels sowohl historisch überkommenen Ausdeutungen als auch der zur Zeit der Buchveröffentlichung gegenwärtigen Versorgung in den Vereinigten Staaten, speziell am Beispiel des Gesundheitssystems. Dabei zeigt sich, dass er an dieser Stelle recht genau auf konkrete Ausgestaltungen des Wohlfahrtsstaats blickt. Gemäß seiner Methodologie äußert er sich dabei auch als interner Kritiker. Nach dieser kurzen Übersicht werde ich in diesem Kapitel zunächst einige Aspekte von Wohlfahrtsstaaten und der damit zusammenhängenden Debatte in der Philosophie und den Sozialwissenschaften beleuchten. Dabei zeigt sich, dass 1

In der deutschen Übersetzung ist diesem Satz der vermeintlich klärende Zusatz beigefügt: „eine Kategorie ohne Grenzen“. Doch dies suggeriert eine „nach oben hin“ offene Kategorie, die möglicherweise jeden starken Wunsch in die Dringlichkeit suggerierende Sprache des Bedürfnisses übersetzen lässt. Walzer meint jedoch, dass die sich aus Bedürfnissen generierenden Ansprüche in der Gemeinschaft bestimmt werden und diese Kategorie offen – nicht aber unbegrenzt – ist.

Jedem nach seinen Bedürfnissen?

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Walzers Zurückhaltung bei inhaltlichen Aussagen zur vermeintlich richtigen Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen, sowie seine Ausrichtung auf den übergeordneten Wert der Zugehörigkeit bzw. Integration in eine politische Gemeinschaft, durchaus angemessen erscheint. Im Anschluss soll der für Walzers Theorie des Wohlfahrtsstaats zentrale Begriff des Bedürfnisses näher untersucht werden. In der philosophischen Literatur finden sich wichtige Hinweise auf eine adäquate Analyse dieser wesentlichen Kategorie, die man gewinnbringend in eine Walzer’sche Perspektive einpassen könnte. Das Kapitel schließt mit einigen Überlegungen zur Methodologie Walzers, die vordergründig konventionalistisch wirkt und damit vermeintlich kritische Auseinandersetzungen mit den gegebenen Verhältnissen unterbindet, wie sie gerade in der politischen Philosophie angestrebt werden. Auch in diesem Aspekt wird Walzers Sichtweise verteidigt.2

2. DER WOHLFAHRTSSTAAT Für Walzer ist der Wohlfahrtsstaat eine wesentliche Sphäre der Gerechtigkeit. Verteilungen von Gütern orientieren sich hier an Bedürfnissen, die wiederum in politischen Gemeinschaften generiert und interpretiert werden. Dadurch werden Gemeinschaftsmitglieder integriert und als Gleiche anerkannt. Diese Grundidee wird von der empirischen Forschung durchaus unterstützt. Zwar zeichnet der einschlägige Klassiker der soziologischen Literatur, die Studie Bürgerrechte und soziale Klassen von Thomas Marshall (1950), die Erfolgsgeschichte der Erweiterung von Rechten am Beispiel Großbritanniens nach, doch scheint er bereits von der Idee beseelt, dass sich dort ein historisches Muster abzeichnete. Marshall unterscheidet die folgenden (Staats-)Bürgerrechte in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens: Zuerst bürgerliche, dann politische und dann soziale Rechte. Sie werden in der juridischen Diktion üblicherweise als negative Freiheitsrechte oder liberale Abwehrrechte, positive Teilnahmerechte und soziale Teilhaberechte bezeichnet. Marshall sieht in der Ausweitung der Rechte eine immer weiter voranschreitende Inklusion von Bürgern unter dem Dach des Staatsbürgerstatus.3 Nach und nach werden Bürger zu vollen Mitgliedern der Gesellschaft.4 Wohlfahrtsstaatlichen Institutionen kommt bei dieser Aufgabe, Bürger vor dem Ausschluss aus der Gesellschaft zu schützen, eine entscheidende Rolle zu. Dabei sind Auseinandersetzungen über die Organisation von Leistungen im Wohlfahrtsstaat immer auch gleichbedeutend mit Konfrontationen verschiedener Auffassungen der Gerechtigkeit.5 Mit formalen Überlegungen wird man diese Auseinandersetzungen nicht entscheiden können. Auch eine positivistische Herangehensweise, die sich auf bereits gesatztes Recht stützt, um somit zu einer sub2 3 4 5

Die folgenden Überlegungen beruhen auf früheren Versuchen, mich von Walzers Überlegungen leiten zu lassen, insbesondere in meiner Habilitationsschrift (Schramme 2006). Waldron 1993; White 2003, S. 6. Marshall 1950, S. 6; dt. S. 38. Titmuss 1965: S. 124; Merkel 2001; Leisering 2004.

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stanziellen Bestimmung des Sozialstaates zu gelangen, muss scheitern. In Deutschland wurde beispielsweise versucht, aus dem Grundgesetz konkrete sozialstaatliche Ansprüche der Bürger zu generieren. Alle diese Versuche wurden jedoch durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts infrage gestellt, denn dort wurde klar festgehalten, dass die inhaltliche Ausdeutung des formal bestimmten Staatsziels Aufgabe des politischen Geschäfts ist (vgl. auch Art. 20 GG). Lediglich der Auftrag an den Staat, die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger“ zu schaffen, ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zwingend.6 Überträgt man diese Einstellung über Deutschland hinaus auf die Welt der Wohlfahrtsstaaten insgesamt, so wird man feststellen, dass Gemeinwesen für sich selbst festlegen, welche sozialstaatlichen Institutionen vorhanden sein sollen. Es gibt nicht den richtigen Wohlfahrtsstaat, sondern Varianten des Wohlfahrtsstaats.7 Aus dieser Diagnose ergibt sich die bereits deutlich gewordene Zurückhaltung bei philosophischen Versuchen, sozialstaatliche Arrangements zu begründen – eine Einstellung, die auch Walzers Werk zugrunde liegt. Denn was jeweils in verschiedenen Gemeinwesen als begründet gelten kann, hat offenbar in erster Linie mit historisch geprägten gesellschaftlichen Überzeugungen zu tun. Pointiert ausgedrückt: Ob das schwedische Modell des Wohlfahrtsstaats eher philosophischen Gerechtigkeitstheorien entspricht als das schweizerische, ist für die Frage, ob sie jeweils als begründet gelten können, ziemlich unerheblich. Ein Sozialstaatsmodell gilt dann als gerechtfertigt, wenn es den gesellschaftlich anerkannten Auffassungen entspricht, und diese sind kontextgebunden. Rechtfertigungen sind somit als Rekonstruktionen tatsächlicher Gerechtigkeitsauffassungen zu interpretieren. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass damit kein gesellschaftlicher Konsens entsprechender Auffassungen unterstellt werden muss. Innerhalb einer Gesellschaft konkurrieren verschiedene Sozialstaatsmodelle um die Vorherrschaft im politischen Raum. Ein alternatives Begründungsmodell, das etwa eine Unterscheidung zwischen Richtigkeit und Legitimität einzieht, würde es zulassen, dass partikularistische und kontextgebundene wohlfahrtsstaatliche Arrangements durchaus philosophisch ausgezeichnet und gegebenenfalls zurückgewiesen werden können.8 Erneut pointiert ausgedrückt: Die schwedische Variante des Wohlfahrtsstaats könnte durchaus das gerechteste System sein. Möglicherweise könnte dieser Sachverhalt sogar in einer philosophischen Gerechtigkeitstheorie aufgezeigt werden. Doch wie auch immer die Auseinandersetzung über diese Frage und die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung zwischen Richtigkeit und Legitimität entschieden wird, es scheint deutlich, dass Walzer das zweite Begründungsmodell ablehnt. Wir kehren in einem späteren Abschnitt zu methodologischen Fragen im Werk Walzers zurück und werden auch den Vorwurf des Konventionalismus diskutieren, welcher sich hier bereits andeutet. 6 7 8

Nullmeier 2000, S. 362. Esping-Andersen 1990; Kaufmann 2003. Swift 2003, S. 25; Hinsch 2008.

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Selbst wenn man allerdings inhaltliche Divergenzen in den institutionellen Arrangements der real existierenden Wohlfahrtsstaaten identifizieren kann, so lassen sich dennoch gewisse Überschneidungen feststellen. Es scheint sogar möglich, ein sozialstaatliches Minimum zu bestimmen – ebenfalls ein Gedanke, den Walzer zu unterstützen scheint, speziell wenn man sich seine Idee des reiterativen Universalismus vor Augen führt, der in einem späteren Abschnitt noch einmal erwähnt werden soll.9 Dabei handelt es sich um die Idee, dass universelle normative Auffassungen durch immer wiederkehrende und akkumulierte menschliche Erfahrungen sowie Ergebnisse von Diskussionen entstehen. Wir benötigen beispielsweise für die weit verbreitete Meinung, Schmerzen sollten vermieden werden, keine metaphysische Theorie, sondern nur uns alle ereilende Schmerzerlebnisse. In diesem Zusammenhang kann darauf verwiesen werden, dass weltweit alle Wohlfahrtsstaaten zumindest für die grundlegendsten Bedürfnisse ihrer Bürger sorgen, also deren personale Subsistenz. Ein Gemeinwesen, in dem kein Anspruch auf die Bereitstellung der minimalen Voraussetzungen des Lebenserhalts besteht, wird wohl kaum als Wohlfahrtsstaat gelten können. Insoweit gelten diese basalen sozialstaatlichen Normen universell. Doch darüber hinaus ergeben sich vielfältige Differenzen. Vergegenwärtigt man sich die Geschichte und die gegenwärtige Organisation der Wohlfahrtsstaaten, so kann man tatsächlich festhalten, dass die Inklusion der Bürger in ein Gemeinwesen ihr primäres und übergreifendes Ziel darstellt.10 Soziale Teilhaberechte machte aus Empfängern fürsorglicher Barmherzigkeit Adressaten geschuldeter Hilfeleistungen. Nur so konnten sich Menschen, die in Not gerieten, tatsächlich als Bürger eines Staates verstehen. Wozu sollte es einen Staat geben, wenn er nicht einmal für die elementaren Bedürfnisse seiner Mitglieder sorgen kann? Der Staatsbürgerstatus führt so zum Anspruch an sozialstaatliche Institutionen, dafür zu sorgen, dass man nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird.11 Dieses Inklusionsmodell lässt weitgehend offen, in welcher Hinsicht und in welchem Umfang wohlfahrtsstaatliche Leistungen gerechtfertigt sind. Der Schutz vor Exklusion manifestiert sich in historischer und kontextueller Relativität – hier gibt die Realität Walzers Analyse Recht. In modernen Gesellschaften ist die Gefahr von Ausschluss beispielsweise nicht auf den Arbeitsbereich und die Konsumsphäre begrenzt. Materielle Not, also absolute Armut, ist keineswegs das einzige drängende Problem, das sich Gesellschaften heutzutage präsentiert. Mangelnde Sprachfähigkeiten, schlechte Bildung und Ausbildung, hohe Krankheitsanfälligkeit, Vereinsamung oder fehlende Kompetenz im Umgang mit Medien sind nur einige Beispiele für Exklusionsgefahren, die sozialstaatliche Maßnahmen erfordern können. Das Inklusionsmodell ist somit zugleich anspruchslos und anspruchsvoll. Anspruchslos, weil es keine Vorgaben über die konkreten Hinsichten der wohlfahrts9 Walzer 1989, 1992, 1993b; siehe auch SJ 65 f. und 83, SG 110 und 133. 10 Nassehi 2003. 11 Vgl. Titmuss 1972, S. 263 f.

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staatlichen Institutionen macht, sondern die Ausgestaltung als historisch und gesellschaftlich relatives Problem ansieht. Es gibt dem wohlfahrtsstaatlichen Handeln nur ein abstraktes Ziel vor: die Vermeidung von Exklusion. Anspruchsvoll ist das Modell, weil es viele Bereiche und Aufgaben in die Hände des Wohlfahrtsstaats delegiert. Es kann daher zeigen, dass wohlfahrtsstaatliche Institutionen nicht einfach neben anderen staatlichen Einrichtungen bestehen, sondern dass sie notwendigerweise mit diesen zusammen gehen. Sollen die modernen Probleme gesellschaftlicher Inklusion gelöst werden, so muss ein sensibles Zusammenspiel von rechtsstaatlichen, demokratischen und sozialen Elementen erreicht werden.

3. BEDÜRFNISSE Für Walzer ist die Bedürfniserfüllung ein entscheidendes Gerechtigkeitsprinzip. Doch über die Beschreibung von Bedürfnissen als kulturell und historisch wandelbare sowie auf soziale Anerkennung zielende Aspekte des menschlichen Lebens hinaus, bietet sein Text keine besonders weitgehende Analyse dieses zentralen Begriffs. Ja, er scheint der Meinung anzuhängen, dass sich der Bedürfnisbegriff einer genaueren Untersuchung sperrt (SJ 66, SG 111). Doch gerade wenn man wie Walzer von Bedürfnissen als sozialer Kategorie – nicht etwa im biologischen oder anthropologischen Sinne – spricht und gleichzeitig ihre Erfüllung mit dem Ziel der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft verbindet, sollte man diesem Begriff durchaus mehr Substanz verleihen. Bedürfnisse sollten nicht einfach mit starken Wünschen in eins gesetzt werden. Sonst könnte die Bedürfnisbefriedigung wohl auch keine sinnvolle Forderung der Gerechtigkeit darstellen. Grundlegende Bedürfnisse sind – der hier vertretenen Sichtweise zufolge – von Wünschen weitgehend unabhängige, personale Eigenschaften, deren Nichterfüllung mit Leid einhergeht und denen daher eine gewisse Dringlichkeit zukommt. David Wiggins und andere Theoretiker haben in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen instrumentellen und absoluten Bedürfnissen herausgearbeitet.12 Angenommen, jemand formuliert ein Bedürfnis, etwa nach einem bestimmten Geldbetrag. Wird dieses Bedürfnis als Aufforderung an andere verstanden, für die Bereitstellung zu sorgen, liegt es nahe, nachzufragen, wozu die Person die Mittel zur Bedürfnisbefriedigung benötigt. Beispielsweise könnte Geld notwendig sein, um sich einen Mantel zu kaufen, worauf erneut gefragt werden könnte, warum die Person einen Mantel benötigt. Darauf könnte sie erneut ein weiteres Ziel nennen, etwa den Schutz gegen Kälte, dem der Mantel dient. Das Bedürfnis nach Geld ist also abhängig vom Bedürfnis nach einem Mantel und dieses von einem Bedürfnis nach Kälteschutz. Daher nennt Wiggins die erstgenannten Bedürfnisse instrumentell. Es zeigt sich, dass deren gerechtigkeitstheoretische Aufwertung meist in elliptischer Form vorliegt, denn ihre Grundlage, die hier in den Nachfragen gesucht wurde, bleibt mitunter unausgesprochen.

12 Wiggins 1985; Thomson 1987; Braybrooke 1987.

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Die Grundlage instrumenteller Bedürfnisse besteht in absoluten Bedürfnissen. Wo diese Basis fehlt, kann man wohl nicht von einem Bedürfnis im eigentlichen Sinn sprechen. Absolute Bedürfnisse liegen dort vor, wo man an einen Punkt gelangt, an dem nicht mehr sinnvoll nach weitergehenden Zielen gefragt werden kann. Einen Verdurstenden in der Wüste beispielsweise wird man kaum fragen, worum er Wasser braucht. Die absoluten Bedürfnisse sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf einen möglichen schwerwiegenden Schaden oder ein Leid verweisen, das eintritt, falls das Bedürfnis nicht erfüllt wird. Gleichwohl kann die Ernsthaftigkeit des angeblich zu vermeidenden Leids hinterfragt werden. Ist es tatsächlich ein schwerwiegender Schaden, beispielsweise auf einen Fernseher verzichten zu müssen? Diese Möglichkeiten der Bedürfniskritik können reflektiert werden, indem die Relativität sogar einiger absoluter Bedürfnisse konstatiert wird.13 Worin ein Schaden besteht, ist in vielen Fällen durch gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen bedingt, wie ja auch Walzer betont. In Deutschland würde man sinnvoll behaupten können, dass jemand ohne Zugang zu Medien einen schwerwiegenden Schaden erleidet, doch muss das nicht in jeder Gesellschaft gelten. Manche absolute Bedürfnisse beruhen demnach auf gesellschaftlichen Urteilen darüber, was ein Mensch in dieser Gemeinschaft bedarf, um kein Leid zu erfahren.14 Bedürfnisansprüche kommen nicht nur bei der Inklusion von Menschen in die Menschengemeinschaft zum Tragen, wobei es hauptsächlich um die Elemente der naturbedingten Bedürftigkeit geht. Auch die Inklusion von Bürgern in konkrete Gesellschaften kann im Sinne des Bedürfnisansatzes gefasst werden. In diesem Bereich sind Bedürfnisansprüche Walzer zufolge gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über ihre angemessene Reichweite unterworfen.15 Wir betreten dann ein Gebiet, in dem soziale Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit geführt werden. In westlichen Nationen finden diese Auseinandersetzungen meist in Bezug auf Leistungen sozialstaatlicher Institutionen statt. Allerdings gilt die kulturelle Relativität nicht für jedes absolute Bedürfnis. Es existieren grundlegende Bedürfnisse, deren fehlende Erfüllungsmöglichkeit in jeder möglichen Gesellschaft zu Leid führen würde. Sie betreffen die Subsistenz einer Person.16 Diese Kategorie erscheint aufgrund ihrer intersubjektiven und interkulturellen Gültigkeit besonders geeignet, zur Grundlage von basalen und auch globalen Gerechtigkeitsforderungen gemacht zu werden. Um den Weg in dieser Richtung weiter zu beschreiten, benötigt man substanzielle Aussagen zum menschlichen Leid beziehungsweise zum elementaren Wohlergehen, die sich anthropologische und historische Erkenntnisse zunutze machen. Philosophische Theorien scheinen zur Entscheidung der gerechtigkeitstheoretischen Probleme in diesem Zusammenhang allerdings nicht sonderlich viel beitragen zu können. Es wurde in der entsprechenden Diskussion schon häufig darauf 13 14 15 16

Goodin 1990. Vgl. Miller 1999, S. 210; Hinsch 2002, S. 190 f. Siehe auch Fraser 1989. Reader / Brock 2004, S. 255.

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verwiesen, dass substanzielle Theorien zu Fragen des menschlichen Wohls oder Leids entweder trivial oder umstritten sind. Doch ist weder der eine noch der andere Vorwurf sonderlich einschüchternd. Wenn sich alle darüber einig sind, dass das Stillen von Hunger und Durst, das Bekämpfen schwerwiegender Krankheiten und Schmerz sowie die Möglichkeit von Bildung, Privatheit, Bewegung und eigenen Entscheidungen trivialerweise grundlegende menschliche Bedürfnisse darstellen, dann zeigt das eher die Stärke dieses Ansatzes. Er erscheint trivial, weil er überzeugt.17 Schließlich geht es hierbei um das unabweisbare moralische Minimum, das jedem als Mensch geschuldet sein soll. Eine darüber hinausgehende philosophische Theorie zum menschlichen Wohl mag umstritten sein. Allerdings kann das wiederum nur als Manko gelten, wenn man den Fehler begeht, zu glauben, sie müsse für jeden akzeptabel sein. Eine Theorie der Gerechtigkeit, die auf einem bestimmten Ideal des guten Lebens beruht, erscheint vielmehr als ein Vorschlag in einer Debatte, in der letztlich jede nicht-triviale Theorie umstritten bleibt. Der Bedürfnisansatz ist als Ausgangspunkt zumindest einer Theorie des gerechtigkeitstheoretischen Minimums durchaus brauchbar. Er verdeutlicht außerdem, dass grundlegende Ansprüche der Gerechtigkeit keineswegs komparativer Natur sind. Was uns aufgrund unserer basalen Bedürfnisse zukommt, steht uns aufgrund intrinsischer personaler Eigenschaften zu, nicht in Abhängigkeit von den Eigenschaften oder der Ausstattung anderer. Auch wenn einige absolute Bedürfnisse von der allgemeinen Meinung und damit von dem Entwicklungsstand in einer konkreten Gesellschaft abhängen: Die Frage, ob jemand ein solches Bedürfnis hat, wird nicht auf der Grundlage beantwortet, was anderen zukommt oder was sie besitzen, sondern was einem Bürger dieser Gemeinschaft zugestanden werden muss, um ihm ein nicht misslingendes Leben zu ermöglichen bzw. sich als Mitglied einer politischen Gemeinschaft fühlen zu können. Bedürfnisse bilden demnach auch keine Kategorie besonderer oder außergewöhnlicher Ansprüche, sie sind vielmehr schlicht die grundlegendste Einheit aller wohlfahrtsstaatlichen Gerechtigkeitsansprüche. Somit scheint Walzers Theorie überzeugend. Bedürfniserfüllung ist entgegen verbreiteter Vorurteile ein wesentlicher Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit. Das hat Walzer erkannt. Seiner Theorie der Bedürfnisse fehlt zumindest in seiner Schrift Sphären der Gerechtigkeit allerdings die analytische Schärfe, die man in anderen philosophischen Untersuchungen vorfinden kann. Ergänzt man die Perspektive Walzers durch diese Erkenntnisse, gewinnt sie an Stärke und wirkt umso plausibler. Doch scheint seine Auffassung, wonach Gerechtigkeit partikularistisch und kontextuell durch politische Gemeinschaften bestimmt wird, weitere Probleme aufzuwerfen. Speziell der Vorwurf des Konventionalismus ist hier ernst zu nehmen. Um diesem zu begegnen, muss die Methodologie Walzers näher untersucht werden.

17 Braybrooke 1987, S. 26. In Bezug auf zumindest einige Elemente der Theorie basaler Bedürfnisse gibt es hier Überschneidungen mit dem sogenannten capabilities approach, wie er von Amartya Sen und Martha Nussbaum entwickelt worden ist.

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4. ZUR METHODOLOGIE WALZERS Walzer vermeidet weitgehend Abstraktionen und Idealisierungen. Nach seinem Ansatz ist gerecht, was konkrete Gemeinschaften darunter verstehen. In seinem hier diskutierten Buch bezieht er sich konsequenterweise immer auf reale historische oder gegenwärtige Gerechtigkeitsauffassungen, insbesondere die in den USA vorherrschenden. Walzers Gerechtigkeitstheorie ist also partikularistisch, auch wenn er kulturübergreifende Übereinstimmungen nicht ausschließt. Faktizität und Geltung von Gerechtigkeitsnormen sind bei Walzer direkt miteinander verwoben. Für ihn sind gemeinschaftlich generierte Gerechtigkeitsauffassungen gegenüber den Mitgliedern im Normalfall auch gerechtfertigt. Schließlich haben sie diese selbst hervorgebracht. Eine davon unabhängige Frage der Rechtfertigung, ob die gemeinschaftlichen Deutungen von Gerechtigkeit wirklich richtig sind, muss ihm als widersinnig erschienen, denn er sieht keine Handhabe für eine externe Rechtfertigung von Gerechtigkeitsprinzipien (SJ XV, SG 22). Seine Theorie verbleibt innerhalb einer gemeinschaftlichen Perspektive. Der einzige Anlass, die Frage nach der „eigentlichen“ Gerechtigkeitsauffassung zu stellen, besteht bei konfligierenden und uneindeutigen gemeinschaftlichen Interpretationen. Aber auch dann wird der interne Standpunkt nicht verlassen. Walzer wendet eine hermeneutische Methode an18: Es gilt zu rekonstruieren, was in einer bestimmten Gemeinschaft als gerecht gilt. In dieser Formulierung deutet sich bereits der Vorwurf des Konventionalismus an, der Walzer offensichtlich droht. Doch, wie noch zu sehen sein wird, kann Walzer diesem Einwand ausweichen, und zwar insbesondere indem er den Anwendungsbereich der politischen Philosophie gegenüber anderen verbreiteten Ansätzen erweitert. Bei Walzer darf sich der politische Philosoph zum beteiligten Gesellschaftskritiker aufschwingen und muss sich nicht auf die Rolle des Schiedsrichters beschränken. Wie wir gesehen haben, ist Walzers Gerechtigkeitstheorie partikularistisch, da sie sich immer auf bestimmte Gemeinschaften bezieht, und kontextualistisch – in seinen eigenen Worten: pluralistisch (SJ 6, SG 30) –, da in ihr verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien in verschiedenen Sphären zur Geltung kommen. Menschen legen selbst fest, welche Güter gesellschaftlich verteilt werden sollen; keine abstrakte Überlegung zu angeblich zielneutralen und daher allgemein gewünschten Mitteln ist dafür notwendig. Auch wie sie verteilt werden sollen, kann nur durch die gesellschaftliche Deutung der Güter ermittelt werden; keine theoretischen Überlegungen, welche Gerechtigkeitsprinzipien wir unter kontrafaktischen Bedingungen wählen würden, hilft hier weiter. Die Verteilungsgerechtigkeit markiert einen Teil der „dichten“ oder „maximalistischen Moral“19, wie sie in partikularen Gemeinschaften gelebt wird. Allerdings sind sowohl die Grenzen der einzelnen Sphären als auch die inhärenten Verteilungskriterien nach Meinung Walzers nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern stets dem Streit und historischen Veränderungen zugänglich (SJ 7, 18 Warnke 1993, S. 4 ff. 19 Walzer 1994, S. 19; dt. S. 37.

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SG 31).20 Somit ergibt sich die Möglichkeit der Kritik an den herrschenden Verhältnissen und dadurch die Gelegenheit zum (moralischen) Wandel. Walzer ist kein einfacher Konventionalist, wie man auf den ersten Blick glauben könnte,21 denn er sieht durchaus die Relevanz von Minderheitenmeinungen und generell der Infragestellung der herrschenden Meinung. Doch daraus folgt für Walzer noch keine Präferenz für einen externen Standpunkt. Vielmehr müsse die Gesellschaftskritik selbst von einem internen Standpunkt hervorgebracht werden, um wirklich überzeugen zu können. Die moralische Gesellschaftskritik sollte daher den Pfad der Interpretation beschreiten – in Abgrenzung zum Pfad der Entdeckung und der Erfindung.22 Der Streit über die richtige Grenzziehung der einzelnen Sphären und deren Verteilungskriterien ist kein Streit um die Wahrheit, sondern um die angemessene Deutung der gemeinschaftlichen Gerechtigkeitsauffassung. Der Zugang zu Gütern wird also in Walzers Ansatz zwar auf der einen Seite geschützt, indem die Sphäre vor Dominanz bewahrt wird. Gesundheitsversorgung beispielsweise – so seine Deutung der amerikanischen Sichtweise – soll nach Bedürfnis, nicht nach Zahlungsfähigkeit zur Verfügung gestellt werden. Die Sphäre der Gesundheit muss demnach vor monetären Übergriffen, vor der Ökonomisierung, geschützt werden. Doch auf der anderen Seite sind die Sphären in ihren Grenzen gleichzeitig umstritten, insofern die inhärenten Verteilungskriterien gesellschaftlichen Umdeutungen zugänglich sind. Das Wahlrecht etwa bezog sich einst nur auf Besitzende, dann nur auf Männer, schließlich auf alle Staatsbürger – ein Kriterium, dass heute als gerecht gilt, aber ebenfalls der Re-Interpretation zugänglich ist. Wer zu welchem Gut aufgrund von welchem Kriterium Zugang bekommt, ist nach Walzer eben nicht in abstrakten Überlegungen festzustellen, sondern wird in gemeinschaftlichen Deutungsprozessen – die durchaus die Form handfester Konflikte annehmen können23 – bestimmt. Dass Frauen bis vor nicht allzu langer Zeit nicht über das Wahlrecht verfügten, macht die damalige Gesellschaft nicht retrospektiv ungerecht, sondern zeigt nur, dass sich die gesellschaftliche Deutung des Gutes geändert hat. Gleichwohl ist der philosophische Status von Walzers Theorie der Gerechtigkeit an manchen Stellen nicht ganz eindeutig. Bisweilen beschreibt er die seiner Meinung nach herrschende Gerechtigkeitsauffassung in den USA der beginnenden 1980er Jahre oder auch historischer Gemeinschaften. Er leistet dann gewissermaßen eine Interpretation der gemeinschaftlichen Deutung von Gütern. Vergegenwärtigt man sich noch einmal beispielhaft Walzers Behauptungen zur Sphäre der Gesundheitsfürsorge, entstehen allerdings Zweifel an der Angemessenheit seiner Interpretation. Schließlich wurde und wird gerade in den USA die medizi-

20 Vgl. auch Walzer 1993a, S. 63. 21 Vgl. Dworkin 1983, S. 214, der die Grundlage der Theorie Walzers, nämlich die gesellschaftlichen Deutungen, ausdrücklich als Konventionen deutet und Barry 1995, S. 76, der sie als „hyper-conventionalist position“ bezeichnet. 22 Walzer 1987; dt. S. 11, S. 52. 23 Walzer 1993a, S. 62 f.

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nische Versorgung wenigstens nicht nur durch das Bedürfniskriterium geregelt, sondern vermehrt durch die Zahlungsfähigkeit. Das scheint dort auch weitgehend gesellschaftlich akzeptiert zu sein.24 Sind Walzers Beschreibungen der Sphärengerechtigkeit also überhaupt zutreffend? Betreibt er nicht bloß eine „Hermeneutik des wishful thinking“?25 Walzer versteht sich selbst als Sozialdemokrat (SJ 318, SG 448).26 Er ist in seinem Buch entsprechend mehr als nur Interpret, nämlich Gesellschaftskritiker, der die offensichtlich nicht sozialdemokratische amerikanische Gesellschaft von diesem Standpunkt aus zu einem anderen Verständnis ihrer selbst verhelfen will. Immerhin lautet der Untertitel seines Buches „Ein Plädoyer für (bzw. besser: eine Verteidigung von) Pluralität und Gleichheit“. Man muss ihn demnach so verstehen, dass er an einigen Stellen die Perspektive des beteiligten amerikanischen Bürgers einnimmt, der sich in eine Diskussion um die richtige – bzw. passendere – Deutung der gemeinschaftlichen Güter einmischt (z. B. SJ 90, SG 143).27 Allerdings darf er sich dabei nicht auf eine externe Perspektive verlassen, sondern muss sich auf die These versteifen, in seiner Gesellschaftskritik immer an latent vorhandene Deutungen anzudocken.28 Indem Walzer als Theoretiker selber an gesellschaftlichen Konflikten teilnimmt, nämlich der Auseinandersetzung über die angemessene Deutung der gemeinschaftsinternen Gerechtigkeitskonzeption, erweitert er die Aufgaben der politischen Philosophie gegenüber alternativen Ansätzen, die deren Aufgabe auf die Benennung der gesellschaftlichen Gemeinsamkeiten beschränkt und sie damit nicht als Partei begreift, sondern zum vermittelnden Richter ernennt. „The political philosopher throws his or her hat into the ring, readers assess the account that is given, and are persuaded or not, as the case may be, that it makes the best sense of their beliefs and attitudes. Walzer’s view of interpretation is of a piece with his view of the role of a political philosopher in a democracy.“29 Aber, so könnte man einwenden, woher soll Walzer die Maßstäbe für seine eigene Kritik erlangen, wenn nicht von einem gemeinschaftsexternen Standpunkt30? Man kann diesen Einwand insofern verallgemeinern, als Walzer vorgehalten werden kann, dass er nicht hinreichend klärt, wie im Falle tiefgreifender gesellschaftlicher Konflikte über die Bedeutung von Gütern eine Verteilung aussehen soll. In modernen pluralistischen Gesellschaften ist nahezu in allen Sphären mit solchen Differenzen zu rechnen. Auch sind offenbar Spannungen zwischen den Sphären der Verteilung denkbar; so könnte es beispielsweise für die Ermöglichung von Selbstachtung und gesellschaftlicher Anerkennung notwendig sein, die Leistungen des Gesundheitssystems nicht ausschließlich aufgrund von medizinischer Bedürftigkeit zu garantieren, etwa bei Geschlechtsumwandlungen. Braucht 24 25 26 27 28 29 30

Elster 1992, S. 13. Doppelt 2003, S. 452. Vgl. auch Walzer 2000, S. 263. Vgl. Cohen 1986, S. 464 f.; dt. S. 1015 f.; Schmidt 2000, S. 69. Cohen 1986, S. 458; dt. S. 1010. Miller 1995a, S. 10. Rössler 1993, S. 1039.

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man nicht spätestens dann einen externen oder einen übergeordneten Standpunkt, von dem aus die konfligierenden gemeinschaftlichen Sichtweisen vermittelt werden können? Braucht Walzer nicht einen sphärenübergreifenden Gerechtigkeitsmaßstab31? Walzers Theorie kann so gedeutet werden, dass für ihn in der Tat ein architektonisch elementares Gut beziehungsweise eine primäre Sphäre der Gerechtigkeit existiert, nämlich die Gruppenzugehörigkeit beziehungsweise der Staatsbürgerstatus (SJ 62, SG 107).32 Dieses Gut liegt nicht nur normativen Forderungen nach gerechtigkeitstheoretischer Selbstbestimmung zugrunde, sondern fungiert auch als Bezugspunkt im Falle von gesellschaftlichen Konflikten über die angemessene Deutung von anderen Sphären der Gerechtigkeit. Offenbar sind die von Walzer angesprochenen Bereiche, etwa Wohlfahrt, Ämter, Erziehung etc., allesamt bezogen auf das regulative Ziel, alle Staatsbürger nicht nur formal, sondern substanziell in die Gesellschaft zu integrieren. Ungerechtigkeiten zeigen sich seiner Auffassung nach in Exklusionsverhältnissen.33 Die gemeinschaftliche Selbstbestimmung bildet die Grundlage der Theorie Walzers und Dominanz stellt für ihn eine fundamentale Ungerechtigkeit dar. Um überhaupt gemeinsam über die Verteilung von Gütern bestimmen zu können, müssen sich die Gemeinschaftsmitglieder autonom an deren Deutung beteiligen können. Dazu müssen sie sich dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen können. Sie dürfen nicht exkludiert oder unterdrückt sein. Kurz, seine Sichtweise scheint auf einem Gesellschaftsmodell zu beruhen, das die fundamentale Inklusion jedes Einzelnen als Mitglied einer Interpretationsgemeinschaft garantiert.34 Walzer hat also mit dem Gut der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beziehungsweise der Bürgerschaft eine mögliche Metasphäre benannt.35 Demnach wären die strittigen Deutungen innerhalb der einzelnen Distributionssphären zu verstehen als Auseinandersetzungen darüber, was es jeweils heißt, einer Gemeinschaft zugehörig zu sein. Schulden wir uns gegenseitig die Erfüllung aller medizinischen Bedürfnisse? Was muss bereitgestellt werden, um jedem Gesellschaftsmitglied angemessene Bildung zukommen zu lassen? Dies sind Fragen, die gesellschaftlich umstritten, aber laut Walzer auch keiner gemeinschaftsexternen Lösung zugänglich sind. Insofern scheint es im Falle von Konflikten darüber bei ihm nur die Lösung zu geben, auf eine gemeinschaftsinterne Übereinkunft zu warten.36 Eine mögliche Alternative sähe vor, aus der formalen Bedingung der Mit-

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Gutmann 1995, S. 111. Vgl. auch Walzer 1995, S. 286 ff. Walzer 1993a. Wie Walzer betont, folgt daraus allerdings nicht, dass er ausschließlich demokratische Gesellschaften als gerecht anerkennen dürfe (Walzer 1995, S. 289). 35 Miller 1995b, S. 199; Hartogh 1999, S. 494 f.; Van der Veen 1999; Trappenburg 2000. 36 Walzer erwähnt, wenn auch vage und in Parenthese, wie eine gerechte Gesellschaft mit interpretativen Konflikten umgehen würde: „Wenn Menschen über die Bedeutung von sozialen Gütern uneins sind, wenn ihre Vorstellungen kontrovers sind, dann fordert die Gerechtigkeit, dass die Gesellschaft diesen Differenzen Rechnung trägt, indem sie institutionelle Kanäle für

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gliedschaft in einer Gemeinschaft normative Ableitungen vorzunehmen. Können aus dem formalen Inklusionsprinzip, das dieser Sicht zugrunde zu liegen scheint, substanzielle Gerechtigkeitsprinzipien abgeleitet werden? Walzer jedenfalls lehnt eine solche abstrakte Herangehensweise ab.37 Walzer muss sich einem weiteren Vorwurf stellen: Falls in einer Gemeinschaft eine Deutung und damit ein Verteilungskriterium vorherrscht, dann könnte es dennoch einzelne Individuen geben, die vom Zugang zu dem Gut ungerechterweise ausgeschlossen sind. Was nutzt die Möglichkeit zur Kritik an der herrschenden Meinung, wenn man keine Chance auf Änderung der Situation hat? Werden Minderheitenmeinungen von Walzers Ansatz überhaupt erfasst? Ja, selbst bei vorliegender allgemeiner Zustimmung scheint es Ordnungen zu geben, die inhärent ungerecht sind.38 Übereinstimmung alleine garantiert noch keine Gerechtigkeit. Insbesondere Walzers eigenes Beispiel des Kastensystems, das er bei Zustimmung als (intern) gerecht ansieht (SJ 314, SG 443), scheint seinen konsequenten Gemeinschaftsinternalismus ad absurdum zu führen.39 Walzer könnte diesem Einwand begegnen, indem er eine gewissermaßen vorgängige, minimale Moraltheorie unterschreiben würde, die den gemeinschaftlichen Deutungen einen Rahmen setzt. So könnte er wohl auch dem nach wie vor drohenden Konventionalismusvorwurf endgültig entgehen.40 Doch würde er sich damit scheinbar ein eigentlich theoriefremdes, universalistisches Element einhandeln, das seine konsequente interne Deutung sprengte. Walzer anerkennt dieses Element – insbesondere in späteren Schriften – durchaus, betont allerdings, dass hiermit kein abstrakter Universalismus impliziert ist, sondern ein historisch gewachsener oder „reiterativer Universalismus“.41 Die Respektierung moralischer Mindeststandards sei keine vernunftrechtliche Forderung oder eine anderswie philosophisch begründete Idee. Vielmehr treffen sich seiner Meinung nach in diesem Punkt einfach die historischen Erfahrungen von Menschen und die Ergebnisse ihrer Diskussionen.42 Da die menschlichen Erfahrungen im Gegensatz zu positiven Bestimmungen tatsächlich in der Ablehnung von Übel übereinstimmen, ist das moralische Minimum bei Walzer negativ bestimmt. Die Beseitigung und Vermeidung von absolutem Leid, von Folter, Versklavung, Verfolgung und Unterdrückung: dies sind für ihn Elemente der universellen Minimalmoral, die er ausdrücklich mit dem Terminus Menschenrechte ein-

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ihre Artikulation, adjudikative Einrichtungen (adjudicative mechanisms) und verschiedene Verteilungsformen bereitstellt.“ (SJ 313, SG 441; Übersetzung geändert) Miller 1995a, S. 13. Kelly 2001, S. 89. Barry 1995, S. 75; Elster 1995, S. 82 f.; Shklar 1990, S. 114 f.; dt. S. 185 ff.; 1998, S. 384 f. Eine interessante Möglichkeit bestünde beispielsweise darin, die gemeinschaftlichen Deutungen nur unter der Bedingung als gerecht zu bezeichnen, dass die individuelle Gleichheit des moralischen und möglicherweise staatsbürgerlichen Status anerkannt ist (vgl. Blake 2005, S. 232). Walzer 1989; 1992; 1993b. Walzer 1987, dt. S. 34.

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fasst.43 Sie repräsentieren den gemeinsamen „dünnen“ Bestandteil der partikularen „dichten“ Verständnisweisen von Verteilungsgerechtigkeit. Zudem geht es nach Meinung Walzers nicht an, die grundlegenden Moralnormen zum Anlass zu nehmen, von außen für ihre Einführung und Wahrung in jeder Gemeinschaft zu sorgen. Auch wenn wir nicht jeden gemeinschaftsinternen Missstand akzeptieren müssen – wir können beispielsweise das indische Kastensystem durchaus von außen kritisieren –, folgt daraus nicht, dass wir ihn auch beheben sollten. Eine Befreiung kann nur von innen kommen; damit Gerechtigkeitsstandards dauerhafte Geltung erlangen, müssen die Menschen sich selbst verändern und sie gewissermaßen in ihre Herzen aufnehmen.44 Nur in ganz wenigen Ausnahmenfällen, wenn etwa Gräueltaten begangen werden, „that shock the moral conscience of mankind“45, darf der Minimalmoral gewaltsam zu ihrem Recht verholfen werden.

5. SCHLUSS: PLURALISMUS ERNSTGENOMMEN Walzer zeichnet ein konkreteres und damit auch komplexeres Bild von der sozialen Gerechtigkeit.46 Er verankert die Gerechtigkeitstheorie in der Wirklichkeit und betont, dass Gerechtigkeitskonzeptionen in realen zwischenmenschlichen Beziehungen erst geschaffen werden – und zwar in sehr unterschiedlicher Weise. Es gibt hierbei keinen unabhängigen Maßstab für die richtige Art, Gerechtigkeit zu verstehen. Dennoch ist er kein Konventionalist im einfachen Sinne des Wortes. Alltägliche Überzeugungen haben ihre Funktion in der Konstruktion einer Gerechtigkeitstheorie, aber sie sind nicht allein bestimmend. Fehler und Irrtümer bei der gemeinschaftlichen Bestimmung über Gerechtigkeitsfragen sind durchaus denkbar. Minimale Bedingungen beziehungsweise Regeln der gerechtigkeitspraktischen Selbstbestimmung müssen eingehalten werden, um gerechte Ergebnisse zu sichern. Allerdings geht Walzer über andere Ansätze hinaus, indem er die Gerechtigkeitstheorie nicht auf die von der Gemeinschaft abstrahierenden, „dünnen“ Prinzipien beschränken, sondern in den Bereich ihrer „dichten“ Elemente verlängern will. Ist es gerecht, wenn medizinische Güter über den Bedarf hinaus auf dem freien Markt gehandelt werden? Sollen Quoten für Minderheiten bei der Vergabe von Studienplätzen eingeführt werden? Viele philosophische Gerechtigkeitstheoretiker können sich nur zu den Voraussetzungen äußern, unter denen diese Fragen überhaupt diskutiert werden sollten und bestenfalls darüber spekulieren, welche Ergebnisse sich wohl ergäben. Folgt man hingegen Walzer, ist es sinnvoll sich anzusehen, welche gesellschaftlichen Auffassungen darüber herrschen bzw. wel43 44 45 46

Walzer 1995, S. 293. Walzer 1996, S. 6 f. Walzer 1977, S. 107. Das Gleiche gilt für David Miller, dessen Schriften hier nicht untersucht werden, der aber eine ähnliche Theorie wie Walzer vertritt.

Jedem nach seinen Bedürfnissen?

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che institutionellen Strukturen tatsächlich existieren, denn diese bestimmen die Antworten. Ein grundlegendes Manko der kontextualistischen Gerechtigkeitstheorie liegt aber darin, dass sie, entgegen ihrer eigenen Kritik am Universalismus, den gesellschaftlichen Pluralismus nicht ernst genug zu nehmen scheint. Konkreten Gemeinschaften die Bestimmung über die Gerechtigkeitsprinzipien selbst zuzuschreiben, ist eines. Aber vorauszusetzen, dass es solche gemeinschaftlichen Übereinkünfte auch tatsächlich gibt oder geben kann, ist etwas anderes. Je weiter man sich in die „dichten“ Kontexte der Gerechtigkeit begibt, desto unglaubwürdiger wird die Zuversicht in eine gemeinschaftliche Übereinkunft unter Bedingungen moderner, pluralistischer Gesellschaften. Aber benötigt man in der Gerechtigkeitstheorie überhaupt die Unterstellung einer gemeinschaftlichen Gerechtigkeitsauffassung? Walzer hat, wie ich meine, den Weg aus dieser Schwierigkeit angedeutet: Indem er sich zum Gesellschaftskritiker aufschwingt, unterstellt er implizit, dass der politische Theoretiker Teil eines gesellschaftlichen Meinungsbildes ist, das nicht immer harmonisch aussieht. Der politische Philosoph mag eine bestimmte Gerechtigkeitstheorie propagieren, und sich damit in die Realität der gesellschaftlichen Gerechtigkeitsausdeutung begeben. In dieser Konzeption ist der Gerechtigkeitstheoretiker ein Beteiligter, nicht Schiedsrichter. Seine Konzeption tritt nicht mit dem Anspruch an, für jeden gleichermaßen akzeptabel zu sein – zumindest nicht hier und heute. Aber ein gerechtigkeitstheoretischer Vorschlag muss dennoch in Verbindung stehen zu den aktuell vorzufindenden Gerechtigkeitsauffassungen. Es muss sich um einen Vorschlag handeln, der in dieser Gesellschaft realisierbar ist; er muss eine mögliche Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen. Die Gerechtigkeitstheorie macht sich damit auf der einen Seite unabhängiger von Alltagsmeinungen, auf der anderen Seite muss sie sich ihnen stärker annehmen. Sie wird unabhängiger, insofern eine Gerechtigkeitstheorie bei mangelnder Kongruenz mit der Realität nicht gleich ihren Sinn und Zweck verliert. Sie wird aber auch stärker bezogen auf sie sein, da werbendes Empfehlen einer Theorie nur auf Realisierung vertrauen kann, wenn sie die Menschen erreicht. Philosophische Theorien der Gerechtigkeit können also durchaus Gründe für sich verbuchen, ohne deshalb schon in einer Gesellschaft akzeptiert zu sein. Rechtfertigung gegenüber einem jeden ist nicht möglich. Mehr als zu hoffen, dass sich eine Konzeption durchsetzt – sei es durch Gründe, sei es durch Attraktivität –, ist nicht realistisch.

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GELD: OFFENE AMBIVALENZEN ZWISCHEN PREIS UND WERT Antje Kapust

1. EINLEITUNG Der groß angelegte Entwurf Michael Walzers zur Neujustierung von Gerechtigkeit und Gleichheit muss sich unumstößlich mit einem der wichtigsten gegenwärtigen Objekte auseinandersetzen. Es geht um den Faktor Geld und seine Korrelate. Geld gilt als ubiquitäres, konvertibles und universales Medium. Daher leiten zwei Grundfragen die Überlegungen zum Kapitel „Geld und Waren“: „Frage eins: Was ist für Geld zu haben bzw. was kann man sich dafür kaufen? Frage zwei: Wie wird bzw. wie ist es verteilt?“ (SG 150–194, 150) Beide Fragen gehören nicht nur in den außerordentlich komplexen Zusammenhang von Markt und Moral, sondern auch in das größere kontextuelle Umfeld der amerikanischen Debatten von Kommunitarismus und Liberalismus. Die Thematik „Geld“ wurde an unumgängliche Rückfragen zur Legitimationskrise der Moderne rückgekoppelt, die sich zwei grundlegenden Tendenzen zu stellen haben: Die liberalistisch-kapitalistisch verfassten Gesellschaften führen erstens zu einer Korrosion der Orientierung am Guten. Durch die Überforderung infolge zunehmender Entfremdung und Verdinglichung führen sie zweitens zur Überforderung des modernen Individuums. Geld diffundiert als Tauschmedium über zunehmende Konsummuster in alle Lebensbereiche hinein, die ursprünglich jenseits der ökonomischen Sphäre Bestand hatten. Diese Expansion führt zu Resultaten, die Jürgen Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ und Michael Sandel als Korruption ethischer Gemeinschaften und ihrer öffentlichen Räume betrachten.1 Über kurz oder lang mussten sich die Theoretiker diesem Konflikt stellen. Dabei waren die gegenwärtigen Entwicklungen, die das Spannungsgefüge erheblich modifizieren, bei weitem noch nicht abzusehen oder in dieser Schärfe zu ahnen. Digitalisierung, Mobilisierung und Globalisierung haben Ausmaße erreicht, die nicht ohne Rückwirkungen auf Fragen der Gerechtigkeit bleiben können. Neben dem von Michael Walzer analysierten Marktmodell und der Rolle des Geldes hat sich nicht nur eine dominante Finanzökonomie etabliert, die teilweise mit eigenem Geld operiert (bitcoins). Es haben sich zudem neue Disziplinen wie Neurofinance, Umweltökonomie oder auch Zukunftsökonomie etabliert. Einerseits sind diese Entwicklungen hochgradig problematisch, wie zum Beispiel dann, wenn 1

Habermas 1981. Interessanterweise analysiert Habermas hier eine Transgression von Subsystemen wie Geld und Macht über ihre genuinen Sphären hinaus und zeigt, wie diese Systeme Lebenswelten infiltrieren und zersetzen. Vergleiche auch Sandel 2012.

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Antje Kapust

Gewinne der zumeist von der Realwirtschaft abgekoppelten Finanzökonomie privat erzielt werden, aber Verluste „sozialisiert“ und auf die Öffentlichkeit abgewälzt werden. Andererseits sind die Tendenzen notwendig und sinnvoll, denn wie sollen sonst beispielsweise Fragen geklärt werden, wer für die Restkosten an Atommüll in 10 000 Jahren zuständig wäre, wir aber diesen heutzutage verursacht haben, indem wir diesen Atomstrom mit unserem normalen Geld als frei zu erwerbende Ware auf dem Markt eingekauft haben? Die Überlegungen zum 4. Kapitel „Geld und Waren“ aus seinem umfassend angelegten Entwurf zu Gerechtigkeit und Gleichheit gehen im Kontrast zu bisherigen Erörterungen dieses Kapitels von der These aus, dass sich die Rolle des Geldes und seine markttheoretischen Berechtigungen nur aus der Analyse einer konstitutiven Differenz gewinnen lässt: es handelt sich um die Differenz von Preis und Wert, die in der kontinentaleuropäischen Tradition zur Ausbildung des Gedankens der Menschenwürde geführt hat.2 Michael Walzer muss inhaltlich selbst mit dieser Differenz operieren, obgleich er die Diskussion im Kontrast zum kontinentaleuropäischen Denkhorizont durchführt.3

2. PRÄLIMINARIEN VON GELD UND MARKT Geld gilt als Medium zum Erwerb einer Ware, Leistung, Dienstleistung oder anderen Entität. Welche Rolle spielt es in Fragen der Verteilung? Heuristisch wird Geld als „Verkörperung von Wert“ angesetzt. Diese Definition bezieht sich zunächst zwar auf „Sachen“, doch schon in der Auseinandersetzung mit Phänomenen wie dem Leben stößt man auf Ambivalenzen. Das Leben selbst hat Wert und damit „einen Preis“. Im Durchgang durch die konvertiblen Übersetzungsmöglichkeiten von Geld werden jedoch auch unumstößlich die „Grenzen des Preises“ ersichtlich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Walzers Überlegungen der Thematik „blockierter Tauschgeschäfte“ nachgehen. Da im Hintergrund die Frage der rechtmäßigen Verteilung steht, fordert Walzer, dass zunächst die genuine Bedeutung des jeweiligen sozialen Guts einer Sphäre eruiert werden muss (SG 156). Als ordnungsgemäße Geldsphäre gilt der Raum des Marktes als jenes Forum, auf dem Objekte, Güter, Waren, Produkte und Dienstleistungen getauscht werden (SG 161). Geld fungiert dabei als Äquivalenzmaßstab und Tauschmittel (SG 162). Der Markt erscheint als Ort, an dem das Geld „seine Arbeit verrichtet“ (SG 163). Die Gedanken zu einer Theorie der komplexen Gleichheit werden in den Unterkapiteln a) blockierte Tauschgeschäfte, b) Erlaubnisqualitäten von Geld, c) Markt als Forum für Geld, d) Warenpolitik eines Marktes, e) Lohn, f) Redistributionen und Geschenke untergliedert. Das Ziel besteht darin, dysfunktionale Dynamiken oder Transgressionen des Geldes und ungerechtfertigte Monopolisierungen außer Kraft 2 3

Sehr aufschlussreich ist hier Haus 2012 sowie sein Artikel in diesem Band. Vgl. zu einer Vorstellung Walzers unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde Knoll 2013a. Siehe im selben Band auch Knolls Artikel zu „Gerechtigkeit“ (Knoll 2013b) und „Gleichheit“ (Knoll 2013c).

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zu setzen und (starke) Ungleichheiten durch eine komplexe Gleichheit auszugewichten. Dabei rekurriert Walzer auf vier elementare Prämissen, die in den Thematiken von a) Wert des Geldes, b) Organisation eines freien Marktes, c) Institution und Praktiken eines Tausches und d) Freiheit ökonomischen Handelns jenseits (staatlicher) Regulierung und Intervention elaboriert werden. Da eine wesentliche Aufgabe einer Theorie komplexer Gleichheit in der Verhinderung von Akkumulation und Monopolisierung von Geld bzw. seines Missbrauchs in anderen Sphären besteht (SG 173), zielen die ökonomischen Überlegungen primär auf eine Eruierung und Eingrenzung der negativen Dynamiken von Geld (SG 166). Als Voraussetzung setzt Walzer die These an, dass ein Markt mehr oder weniger intakt funktionieren kann, wenn der zugrundeliegende „Reinwert des Geldes“ erkannt wird und als Parameter angesetzt wird (SG 167). In diesem Rahmen können auftretende Risiken durch eine Solidargemeinschaft abgefedert werden und Ungleichheiten durch komplexe Gleichheit austariert werden. Zwar produziert auch der Markt Ungleichheiten, aber ein intakter Markt würde über eine Zuteilung jeweiliger Verdienste für eine Ausgewogenheit sorgen (SG 167). Starke Ungleichheiten würden vielmehr durch Verwerfungen infolge auftretender Monopolisierungen und Statushierarchien hervorgebracht, finden ihre Genese folglich nicht im Markt an sich (SG 179), denn ein intakter Markt an sich würde („gewiß“) auf die Teilnehmer „eingehen, sie versorgen, wenn sie sich entsprechend verhielten“. Der Glaube an Selbstkorrekturkräfte eines Marktes scheint ungebrochen, sodass die Debatten um die Kontroverse von Regulierung oder Liberalisierung von Märkten eher zugunsten einer Freiheit des Marktes votieren.4 Für einen intakten Markt werden jedoch ausgesprochen starke Prämissen angesetzt, die keineswegs selbstverständlich und auch keineswegs unumstritten sind. Der Markt funktioniert a) als Forum für erlaubte Tauschoperationen, die b) zu einem wechselseitigen Nutzen erfolgen, c) auf der Grundlage mehr oder weniger rationaler Abwägungs- und Entscheidungsprozesse beruhen und die d) auf Grundwerten wie „faire Behandlung“ und Achtung basieren (SG 170).

3. WERT JENSEITS EINES PREISES: BLOCKIERTE TAUSCHGESCHÄFTE Walzer stützt seinen programmatischen Entwurf auf drei Achsen. Im moralphilosophischen Argument wird mit Blick auf die Grenzen von Verteilung und der Zielbestimmung einer gerechten Gleichheit die These aufgestellt, dass ungerechtfertigte Tauschgeschäfte blockiert werden müssen, die zu einer ungleichen Vorteilsposition führen könnten. Ein simples Beispiel veranschaulicht ein solches Tauschgeschäft und sein ungerechtfertigtes Privileg: Eine Freistellung vom Wehrdienst darf nicht käuflich erwerbbar sein. Folglich müssen spezifische Transaktionen und Interaktionen blockiert werden. Ein systemrelevantes Argument im Rahmen des Sphärenmodells geht von der These aus, dass bestimmte Güter oder Vorteile anderer Sphären nicht mithilfe von 4

Habermas 1998.

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Geld aus der ökonomischen Sphäre erkauft werden dürfen. So darf man keinen politischen Einfluss oder keine richterliche Entscheidung usw. kaufen. Das Argument immanentistischer Gerechtigkeit verlangt, dass es unter Umständen selbst innerhalb einer Sphäre Blockaden geben muss, die spezifische Güter, Leistungen oder Sachverhalte einer monetären Verfügbarkeit entziehen. So gehört es zum Gemeingut, dass man keine Menschen (als Menschen) kaufen darf. Walzer markiert folglich das Terrain eines gerechten Marktes durch eine präliminare Liste grundlegender Verbote ökonomischer Aktivitäten, die er als „blockierte Tauschgeschäfte“ darlegt (SG 156 ff.). Er gibt dabei explizit dreierlei Anliegen zu verstehen: die Liste der Blockaden soll a) umfänglich sein, b) normativ skizzierte Blockaden in den USA zur Diskussion stellen und c) einen repräsentativen Querschnitt durch die gegenwärtige Zeit darstellen (SG 156). Seinem Entwurf zufolge umfasst dieser Katalog folgende vierzehn Blockaden: 1. Menschen dürfen nicht ge- und verkauft werden. 2. Politische Macht und politischer Einfluss dürfen nicht gekauft und nicht verkauft werden. 3. Strafjustiz und Rechtsprechung sind unverkäuflich. 4. Rede-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit dürfen nicht durch Geldzahlungen erworben werden. 5. Ehestands- und Zeugungsrechte können nicht käuflich erworben werden. 6. Das Recht, die politische Gemeinschaft zu verlassen, kann nicht zum Verkauf gestellt werden. 7. Freistellungen vom Militärdienst und anderen auferlegten Arbeiten vom Staat dürfen nicht verkauft oder gekauft werden. 8. Politische Ämter dürfen weder ver- noch gekauft werden. 9. Elementare Wohlfahrtsleistungen (polizeilicher Schutz oder Erziehung an Schulen) sind nur an den Rändern käuflich. 10. Verzweifelte Tauschaktionen sind verboten. 11. Preise und Ehrungen sind nicht käuflich. 12. Göttliche Gnade lässt sich nicht erkaufen. 13. Liebe und Freundschaft lassen sich nicht käuflich erwerben. 14. Kriminelle Verkaufsaktivitäten sind nicht käuflich und streng verboten. Auffällig ist, dass diese Blockaden Verbote bzw. Gebote anführen, die nicht auf eine deontologische Quelle als Verpflichtungsgrund zurückgeführt werden. Vielmehr erwähnt Walzer als Referenz das erste Kapitel von Arthur Okuns Equality and Efficiency, in dem Okun eine Trennlinie zwischen der Geldsphäre und der Rechtssphäre zieht und darlegt, dass (bzw. wie) bestimmte Entitäten nicht durch Geld erworben werden dürfen.5 Indem Okun zeigt, dass Rechtsansprüche der Kauf- und Verkaufssphäre entzogen sind, legt er eine Neuinterpretation der „Bill of Rights“ vor. Dieser Hinweis ist nicht unbedeutend, denn wir können vermuten, dass Okun mit dieser Unterscheidung Kants Trennlinie auf eine amerikanische Vision von Recht, Politik, Ökonomie und Gesellschaft umgelegt hat, denn eigentümlicherweise muss ein Europäer bei dieser Differenz sofort an die berühmte Unterscheidung von Kant denken, die diesem letztendlich die Ausformulierung des Menschenwürdegedankens erlaubt hat. Im Hintergrund dieser Blockaden stünde inhaltlich als Blueprint eigentlich Kants fundamentale Unterscheidung zwischen Preis und Würde – nur nennt Walzer sie nicht. Bei Kant erfolgt die Ausformulierung mit folgenden berühmten Worten:

5

Okun 1975, S. 6 ff.; SG 458.

Geld: Offene Ambivalenzen zwischen Preis und Wert

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„Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“6 Kant unterscheidet zwischen dem Äquivalent, für das ein Preis erstattet werden kann, und dem Wert bzw. Zweck an sich. Aus dieser Differenz gewinnt Kant den wesentlichen Gedanken einer Würde bzw. Menschenwürde, die auch im 20. Jahrhundert in zahlreichen Kontexten berücksichtigt wird: Allein der Mensch als Person betrachtet, d. i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.7

Während der Preis in Relation zu einer Tätigkeit steht (Kant erwähnt Geschicklichkeit und Fleiß, wobei er offensichtlich Adam Smith mit seiner These vor Augen hat, dass die Arbeit der wahre Maßstab des vertauschbaren Wertes sei), bezieht sich der Wert auf die Moralfähigkeit der Zwecksetzung. Der Ausdruck „Preis“ ist zunächst einmal ein Begriff der Ökonomie. Geld gilt Kant zufolge als das Medium, das den „Preis aller anderen Dinge bestimmt“, und „nach (Adam Smith) […] ist es derjenige Körper, dessen Veräußerung das Mittel und zugleich der Maßstab des Fleißes ist, mit welchem Menschen und Völker unter einander Verkehr treiben.“8 Der Preis ist hierbei das öffentliche Urteil über den Wert (valor) einer Sache. In dieser ökonomischen Fassung taucht der Preis als Charakteristikum explizit erst in der nach-griechischen Zeit auf. Die Griechen waren zwar mit dem Umstand vertraut, dass für einen Sklaven ein Preis entrichtet werden musste, aber ein Preis als solcher gehörte in das Reich des Oikos. Wertvolle Güter waren Objekte einer Wertschätzung, die nicht „bezahlt“ wurde. Von daher ist auch verständlich, warum Kant den lateinischen Begriff „pretium“ benutzt, den er vermutlich von Seneca aufgegriffen hat, der einen Preis expressis verbis von der Würde absetzt. Hans Georg Gadamer vermutet hingegen, dass diese Thematik den englischen Empiristen entlehnt ist: „Das Reich der Zwecke bezeichnet die Verfassung einer Vernunftwelt, die über alle empirischen Schätzungen und Wertungen hinausliegt. Die sittliche Person, oder, wie Kant es sagt, der gute Wille, ist im Unterschiede zu allem anderen, was gewertet wird, so, dass es einen absoluten Wert hat und keinen Preis. Kant setzte den Begriff eines absoluten oder inneren Wertes, der die Würde des Menschen ausmacht und ihm den Charakter eines Zweckes an sich verleiht, dem Gebrauch des Wertbegriffs entgegen, der aus der englischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts entstammt. Alle Moralphilosophie, die sich auf den Begriff des Nutzens stützt, und auch gerade sofern darin ein Sozialutilitarismus gemeint ist, und sogar nicht die soziale Wirklichkeit 6 7 8

Kant 1968, Bd. IV, 434 (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten). Kant 1968, Bd. VI, § 11 (Metaphysik der Sitten). Kant 1968, Bd. VI, § 31 (Metaphysik der Sitten).

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des ‚moralischen Gefühl‘ (moral sense), soll durch die kantische Begründung des Sittengesetzes auf den Freiheitsbegriff überwunden werden. Der paradoxe Ausdruck dieser Überwindung ist der Begriff des ‚Zweckes an sich‘, der in einer der bekannten Formulierungen des kategorischen Imperativs impliziert ist, wonach man den anderen Menschen niemals nur als Mittel behandeln darf, sondern sie als ‚Zweck an sich‘ zu achten habe.“9 Dieser Hintergrund ist nicht unbedeutend. Das gesamte Kapitel „Geld und Waren“ operiert im Grunde mit dieser grundlegenden Unterscheidung, ohne jedoch auf Kant zu rekurrieren. Es wäre fraglich, ob der fundamental anders ausgerichtete amerikanische Denkhorizont des Liberalismus, der sich aus der abweichenden Traditionslinie des angelsächsischen Gedankengutes entwickelte, hier als Erklärung ausreicht. Auch in den späteren Kapiteln zu Anerkennung, Selbstachtung oder Macht kehrt diese „Volatilität“ wieder, was zu einer gewissen theoretischen Unterbestimmung führt. Allerdings bleibt diese Unterbestimmung nicht ohne Konsequenzen für den Status der Blockaden, ihrer Handlungskoordinaten, ihrer Verpflichtungsformen, ihrer kulturellen Exponierung oder ihrer Abgrenzung gegenüber alternativen oder ähnlichen Formen (zum Beispiel dem Tabu). Die Volatilität hinterlässt ihre Spuren bis in die sprachlichen Absicherungen der Verbote bzw. der monetären Unverfügbarkeiten hinein. So ist von einem expliziten Verbot die Rede, aber auch von den abgeschwächteren Varianten „sollten nicht“ oder „können nicht“.

4. GELD AUF DEM PRÜFSTAND DES UNANTASTBAREN Ist ein Sachverhalt einer monetären Transaktion entzogen oder blockiert, gilt der geschützte Bereich, das Objekt oder die Person als „unantastbar“. Die Aura der „Heiligkeit“ dieses Nicht-Zugriffs ist so hochgradig exponiert, dass ihre Relevanz in der deutschen Verfassung explizit im 1. Artikel formuliert wird: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dabei ist die von Walzer operationalisierte Differenz gerade in Menschenwürde-Begriffen interpretierbar, obgleich er sie kaum in dieser Terminologie fasst und auch den Denkhorizont derselben völlig anders aufzieht. Das kontinentale semantische Feld setzt sich zusammen aus den Formen von Unverfügbarkeit, Unabwägbarkeit, Unveräußerlichkeit, Unverrechenbarkeit, Unrelativierbarkeit, Unverletzbarkeit oder Unversehrtheit und Un-Vernutzbarkeit. Zu diesen Konzepten gehören auch Begriffe wie das Tabu, der Achtungsanspruch oder auch die „Wahrung“ von Ansprüchen.10 Ein Blick auf zugehörige Implikationen macht aber schnell deutlich, an welchen Punkten in Walzers Überlegungen Diskussionsbedarf bestünde. Die vierzehn blockierten Tauschgeschäfte gleichen einem Katalog der Kasuistiken, der Problemzonen indiziert, aber nicht pointiert und abgrenzungsscharf genug die einzelnen Kategorien durchexerziert. Kriterien, 9

So Gadamer in seinem lesenswerten Text „Das ontologische Problem des Wertes“ (1977, S. 205–217, hier S. 207). 10 Kapust 2010, S. 270–273.

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die sowohl die Rechtfertigungsbasis tragen wie auch die Randbereiche des Unbestimmten oder auch die Konflikte absichern müssten, werden nicht vorgetragen. Stattdessen scheint die vorgetragene Liste ihren Quellpunkt und hinreichende Berechtigung in einer Art Intuition auf dem Boden eines gemeinen Menschenverstandes zu haben, der sich auf den gegenwärtigen nordamerikanischen Raum reduziert. Das Spektrum alternativer Begriffe, die ebenfalls im Umfeld oder im Sinne der Menschenwürde Blockaden andeuten, manifestieren die hochgradig komplexe Situation. Die Unverfügbarkeit, die ihren Sinn ursprünglich in der Sphäre des Transzendenten hatte, indiziert die Unmöglichkeit von Macht und Dispositionsgewalt: „Der Mensch als einziger hat keinen Preis, sondern nur Würde. […] Der Mensch wird damit zu einem Absoluten, zu etwas Unverfügbarem. Es ist dieser emphatische Sinn von Menschenwürde, der in Kants Modell zum Grund eines unverfügbaren Menschenrechts wird.“11 Die Unabwägbarkeit entzieht das Unantastbare einer Güterabwägung, die in ökonomischen Kontexten eine Rolle spielt, aber als Erosionsgefahr dort „lauert“, wo potenzialiter ökonomisch verwertbare Begehrlichkeiten auftauchen (zum Beispiel „Vernutzung“ überzähliger Embryonen). Unveräußerlichkeit spielt auf eine irreduzible Grenze an, die nicht überschritten, preisgegeben oder aufgegeben werden darf (Ein Mensch darf nicht gekauft oder verkauft werden). Das Unverrechenbare kann ähnlich wie das Unabwägbare nicht in eine Logik des Vergleichens, des Gegenrechnens, des Hochrechnens oder der Abrechnens gebracht werden (zum Beispiel Kontexte von Lebensschutz und Menschenwürde). Unrelativierbarkeit besagt, dass einem X sein Charakter des Absoluten nicht genommen oder abgesprochen werden kann. Das unantastbare X bleibt separiert und jenseits jeden möglichen Zugriffs (zum Beispiel im Konflikt von Norm- oder Nutzenkultur). Unversehrtheit hat den engeren Sinn von leiblicher Integrität und Unantastbarkeit, entspricht aber auch Vorstellungen einer „intakten“, „heilen“ oder unbeeinträchtigten Gestalt. Analoge Komposita zu „unantastbar“ lassen ersichtlich werden, inwiefern zahlreiche Formen von Negationen wie praktisch, epistemisch, ontologisch, metaphysisch, moralisch, politisch, rechtlich, ökonomisch relevant werden. Auffällig ist, dass der Begriff „unantastbar“ alle diese Varianten als überdeterminiertes Bezugsfeld in sich vereinigt, dass er aber offensichtlich als einziger Begriff aus der Palette der Spielarten eine zusätzliche Option beinhaltet, nämlich die Andeutung eines Verbots mit Tabucharakter. Der Begriff impliziert ursprünglich den Charakter einer unumstößlichen Unbedingtheit. „Unantastbar“ besagt, dass nicht einfach nur eine mögliche Handlung (oder Transaktion) unterlassen werden soll oder nicht ausgeführt werden dürfte, sondern dass in jedem Fall und unter allen Umständen unbedingt ein Verbot besteht. Gerade aus diesem Grunde sprechen einige Autoren davon, dass sich in diesem Ausdruck die „stärkste Form einer Norm“ verdichtet. Diese stärkste Form einer Negation setzt sich ebenfalls von alternativen Varianten der Verneinung ab, und zwar 1. dem „bloßen Verbot“, das den Ausschluss 11 König 1994, S. 267.

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einer Handlung indiziert, dieses aber im Rahmen einer Binnenordnung formuliert (10. Verzweifelte Tauschaktionen sind verboten.), 2. vom Verbot, dass eine Aufforderung formuliert („Dieses Wort sollst Du niemals aussprechen“), 3. von einer Anweisung in Verlaufsform, die zu einer Unterlassung rät (4. Rede-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit dürfen nicht durch Geldzahlungen erworben werden.), 4. von einer Verbalisierung einer Empfehlung, die auf das Vermeiden einer Handlungsoption oder ihrer reduzierten Form abzielt (Elementare Wohlfahrtsleistungen (polizeilicher Schutz oder Erziehung an Schulen) sind nur an den Rändern käuflich), Negationen, die eher einer faktisch-praktischen Grenze des „ich-kann-nicht“ anstelle einer starken normativen Verneinung entsprechen (12. Göttliche Gnade lässt sich nicht erkaufen) oder die auf missverstandenen Kategorienfehlern beruhen (13. Liebe und Freundschaft lassen sich nicht käuflich erwerben). Der von Walzer vorgeschlagene Katalog von Blockaden ließe sich durch ein gesamtes Spektrum sehr heterogener Verneinungen durchkonjugieren. Von diesem Formen grenzt sich eine einzige Formulierung eines Verbots als besondere Form ab. Der Satz „Dieses X ist unberührbar bzw. unantastbar“ artikuliert ein „absolutes Verbot“. Mit dieser Form wird offensichtlich angezeigt, dass das infrage stehende Seiende einer anderen Sphäre angehört, dass es kurzum jenseits jeden Zugriffs oder (ökonomischer) Aneignung usw. liegt und unverfügbar ist. Betrachtet man Walzers Kasuistik unter dieser Perspektive, ergibt sich schnell Klärungsbedarf. „Menschen dürfen nicht ge- und verkauft werden“ (SG 157). Jeder gesunde Menschenverstand würde zustimmen. Doch wo fängt ein Mensch an und wo hört er auf? Gehört sein genetisches Material (zum Beispiel Reste aus Blutentnahmen), um das ein großer ökonomischer Wettbewerb ringt, dazu? Ein „paar Zellen“ könnten als Ware eingestuft werden, aber wenn sich in diesen Zellen der gesamte „Fingerabdruck“ eines Menschen befindet, wäre fraglich, ob dieser Mensch „verrechnet“ oder geschützt wird. Was ist mit Funktionen eines Menschen, zum Beispiel dem Vermögen zur Leihmutterschaft? Wird dies unter „biologischer Dienstleistung“ verrechnet, als kommerzialisierte Instrumentalisierung betrachtet oder unter Unversehrbarkeit und Unantastbarkeit gestellt? Wie werden Spuren des Menschen eingestuft, zum Beispiel um seinen Schutz im digitalen Netz zu sichern? Was passiert mit Bildern des Menschen? Ab wann oder unter welchen Bedingungen und Kriterien wären welche Bilder käuflich oder eben unverkäuflich, weil ein Mensch verletzt wird? Wie sollen kulturelle Praktiken wie beispielsweise das „Zwergenwerfen“ eingestuft werden, die rechtlich und ethisch durchaus unterschiedlich beurteilt werden? Ist es zulässig, zwergwüchsige Menschen wie Objekte durch die Gegend zu werfen und dem Publikum diese „Entwertungen des Menschlichen“ zu gestatten, das für solche Leistungen auf einem Markt der Nachfrage Geld bezahlt? Selbst wenn ein betroffenes Individuum in diese Praktiken (selbstbestimmt) einwilligt, müsste dann nicht die Frage aufgeworfen werden, wo die Grenzen des zugehörigen Menschenbildes verlaufen, wie diese modifiziert werden oder wie durch solche „Käufe“ nichtbeteiligte Exemplare einer Menschengattung beleidigt oder beschämt werden? Reicht es, in umstrittenen und virulenten Themen wie der Prostitution oder auch der Pornografie die Sachverhalte aufzuspalten und zu statuieren, dass „nur ein Köper“ legal und legi-

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tim gekauft wird, aber „Liebe und Freundschaft“ eben käuflich nicht zu erreichen bzw. zu erwerben sind? Was für einen Status hat diese Verneinung, wenn nicht den einer bloßen faktischen Unmöglichkeit, nicht aber den einer Rücksicht auf den gesamten Menschen in seiner Leiblichkeit, Personalität und Subjektivität? Reicht es in der Tat, in diesen Problemfragen zu konstatieren, dass der „direkte Kaufakt“ nicht durch Recht oder Gesetz blockiert sei, sondern durch eine „gemeinsame Moral und unsere Empfindungen“ (SG 160)? Wie weit reichen bloße Empfindungen angesichts von realisierbaren Möglichkeiten, die in kulturelle, politische und moralische Erosionsprozesse geraten und sich extrem verändern, man vergegenwärtige sich nur die zahlreichen bioethischen oder medizinethischen Transformationen. Menschliche „Designerbabies“ sind schon jetzt begehrt, obgleich sie (noch) verboten sind. Müssen nicht zur Vermeidung solcher Ungleichheiten Fragen wie diese geklärt werden und Kriterien zur Ausdifferenzierung angegeben oder entwickelt werden?

5. GELD ALS „LEGITIMER“ PREIS Ist Walzer zufolge der Katalog blockierter Tauschgeschäfte geklärt, fungiert Geld als legitimes Mittel zum legitimen Erwerb sozialer Güter in jenen Transaktionen, die erlaubt sind, seien es Gegenstände, Güter, Waren, Produkte und Dienstleistungen. Es ist aufschlussreich, dass sich Walzer weniger dem Geld an sich widmet, sondern vielmehr die Aktivitäten auf dem Markt analysiert. Zwar muss ihm zufolge die Bedeutung von Geld genau umrissen werden, doch sind analog zum Ansatz einer Theorie komplexer Gleichheit auch hier zwei Aspekte maßgeblich: Dysfunktionalitäten der Macht „Geld“ sollen eingegrenzt werden, und zwar nicht durch direkte Distributionen bzw. Redistributionen und nicht durch „paternalistische Interventionen“, denn der Markt bewältige die Anforderungen selbst, wenn er nicht verzerrt ist (SG 166 f.). Es ist allerdings fraglich, ob Walzer nicht eine ganze Reihe von Vorentscheidungen trifft, die das Feld der Analyse reduzieren. Dies betrifft a) den Status des Geldes selbst, b) die reflexive Verortung des Thema in einem anderen Paradigma (Geld als Habe oder als Schuld), c) die Diskrepanz zu anderen Theorieansätzen im Hintergrund (zum Beispiel Diskursethik, Ethik der Alterität usw.), d) die Frage nach latenten Implikationen von Geld, die möglicherweise ausgeblendet werden, aber die Frage nach Gerechtigkeit mitbetreffen und e) die Klärung jener Akteure, die mit Geld operieren. Bereits die Eingangsüberlegungen zur Bedeutung von Geld als Grundlage aller folgenden Analysen lassen Fragen offen. Nach welcher Bedeutungstheorie wird das Objekt „Geld“ hier veranschlagt? Eine nominalistische oder Namentheorie von Bedeutung scheidet aus. Eher scheint eine an Wittgenstein angelehnte Gebrauchstheorie von Geld angesetzt zu werden, wenn Geld einerseits als Äquivalenz- und Tauschmittel, andererseits zur weiteren Abklärung auch als Identitätsmittel ins Spiel gebracht wird. Während die erstere Variante dem Common Sense entspricht, rekurriert die zweite Variante bei Walzer auf den Soziologen Lee

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Rainwater, der Geld als „soziales Umlaufmittel“ thematisiert hatte, mithilfe dessen die „Zugehörigkeit zur Industriegesellschaft“ erkauft werden könne (SG 163). Doch bereits eine Kontrastierung mit dem phänomenologisch orientierten Theorem einer „Bedeutung durch signifikative Differenz“ würde das Möglichkeitsfeld erheblich erweitern und folglich auch mit Bezug auf die Gerechtigkeitsthematik für Diskussionsbedarf sorgen. Signifikative Differenz besagt dabei, dass eine Gegebenheit (Geld) in strukturierter Differenz (und eben nicht positivistisch oder nominalistisch) thematisiert wird: etwas (x) tritt als etwas (xy) auf. So wird Geld zwar als Tausch- oder Äquivalenzmittel gehandhabt, aber eben auch als Ausdrucksmittel (Identität über Geld erstellen), als Potenzierungsprinzip (höchstmögliche Rendite erzielen), als Grenzprinzip, als Strukturprinzip (Geld ist konstitutiv in allen Sphären, nicht nur in der ökonomischen), als Machtprinzip (Durchsetzung des eigenen Willens), als Ermöglichungsprinzip (Geld regelt den Zugang zu gleich / ungleich), als formales Relationsprinzip (Geld bringt Akteure in eine Relation, stiftet aber nicht unbedingt genuine soziale Beziehungen), als Organisationsprinzip (Geld organisiert Anonymitäten und Arbeitsteilungen), als Fetischprinzip (es bündelt zentrale semantische Akzente einer Gesellschaft zugunsten eines durch Geld konstituierten Fetisch), als agonales Konkurrenzprinzip (welches das ehemalige faire Wettbewerbsprinzip, das auf dem Modell nach Respektierung von Nutzeninteressen beruhen sollte, zugunsten einseitiger Vorteile im Zuge von Akkumulation transformiert), als Exklusionsprinzip (welche Akteure werden depraviert wie zum Beispiel Staatenlose, Asylanten, Obdachlose), als Spielprinzip (hochgradig spekulative Operationen in der Finanzökonomie), als physikotheologisches Prinzip (Affekte wie Habgier usw. werden durch Geld intensiviert), als Dispositiv (welche gesellschaftlichen Organisationsstrukturen oder „Gestelle“ sind mit Geld verbunden?), als „Hyperprinzip“ (Geld als Versprechen auf Zukunft). Inwiefern solche Aspekte gerechtigkeitsrelevant sind, wird weiter unten deutlich werden, da zuvor die weiteren Vorentscheidungen Walzers benannt werden sollen. Geld wird in Walzers Modell relativ traditionell als klassisches Zahlungsmittel angesetzt: Ich besitze (vereinfacht gesagt) Geld und kann mithilfe dieses Mittels ein Auto kaufen. Geld als Zahlungsmittel, das im Komplex von Warenwunsch, Warenherstellung, Warenbesitz und Warentausch den Fragen nachgeht „Was bekommt man für sein Geld bzw. was kann man für Geld kaufen?“ suggeriert eine relative Harmlosigkeit des Zahlungsmittels. Breits der Diamantring im Geschäft lässt vergessen, dass bei dieser Transaktion etwas mitgekauft wird, was aus der Preis-Transaktion selbst ausgeblendet wird: die Ungerechtigkeit sozialer Herkunft und Arbeitsbedingungen. Die bereits erwähnten Probleme der Umweltökonomie (Reduktion von Biodiversität durch meine Warenkäufe), sozialpolitisch und ethisch relevante Probleme wie Generationengerechtigkeit, schwierig auszudifferenzierende Fragen von Medienethik, Thematiken einer Genderökonomie, interkulturelle Ökonomie, Neuroökonomie (die Aspekte ließen sich fortführen) belegen eine zunehmende Komplexität von Geld in hochgradig unbestimmte Kontexte hinein, welche eine Kontrolle und Lokalisierung von Geld in der genuinen Sphäre erschwert, aber auch die inhärenten negativen „Kollateralseiten“ nach einem indirekten Kausalprinzip mit zur Diskussion stellen müsste. Da Walzer we-

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der einen idealtypischen, noch einen genuin normativen Diskurs führt, müssen seine Überlegungen historische Aprioris und reale Faktizitäten mitreflektieren können. Das gesamte Szenario einer „Begrenztheit“ von Geld ändert sich schlagartig, wenn man seinen Status anders bestimmt. Der Wirtschaftswissenschaftler Karl Heinz Brodbeck geht anders als Walzer nicht von einem Sphärenmodell aus, sondern präsentiert eine Problematik des Geldes, die wesentlich radikaler ansetzt. In wechselnden historischen Epochen taucht Geld in seinen verschiedensten Realisierungen auf, zum Beispiel als Tauschmittel, als Funktion, als Zahlungsmittel, als Recheneinheit, als Medium, als Zeichen, als Darstellungsmittel, als Maß von Werten, als Wertaufbewahrungsmittel, als Codesystem oder als Institution.12 Im Kontrast zu anderen Geldtheorien ist es jedoch kein bloßes „epistemisches Objekt“ oder Medium von Interaktionsverhältnissen. Geld hat vielmehr den Stellenwert eines „strukturellen Aprioris“, denn es bildet das „Apriori der Denkformen“. Aristoteles und Marx haben erkannt, dass Geld nicht ein „Ding“ oder „physis“ ist. Es veranschaulicht vielmehr eine „spezifische Form der Vergesellschaftung von Menschen.“13 Diese lässt sich Brodbeck zufolge nur verstehen, wenn der Prozess der Bedeutungsentwicklung, der untrennbar mit der menschlichen Sprache verknüpft ist, in seinen Grundzügen entwickelt wird. Das impliziert, Geld nicht als eine Gegebenheit zu betrachten, die zu Sachverhalten hinzutritt, sondern es als vorausliegende Struktur zu begreifen, es sozusagen quasi-transzendental aufzufassen. Geld ist nicht lediglich das Thema „eines reflektierenden Bewusstseins oder eines berechnenden Denkens.“ Es ist selbst der Modus, in dem sich Sprache und Kalkulation bewegen, denn es ist „nicht außerhalb und nachträglich, sondern als soziales Phänomen das Medium, in dem sich Erkenntnis bewegt“.14 Brodbeck macht diese Tendenz bereits in Ciceros De officiis aus, wo es heißt: „Das Band der Gesellschaft ist die Ratio und die Sprache“.15 Ratio indiziert einerseits die sprachlichen Vermögen des vernunftbegabten animal rationale, andererseits aber auch die Rechnungslegung. Geld spiegelt die Austauschbeziehungen, die durch Berechnung erfolgen. Die Charakterisierung von Vernunft und Sprache als Berechnung zieht sich wie ein Leitfaden bis in die Theorien von Adam Smith und Thomas Hobbes hinein. Parallel zur Subsumtion der menschlichen Vernunft unter den Primat eines rechnenden Denkens wird auch die Vergesellschaftung in den Strukturen ihrer ökonomischen Verfasstheit analysiert, darin aber auch kritisiert. Die Universalisierung von Geldverwendung am Leitfaden des Preises oder auch Praktiken eines investigativen Renditestrebens gelten als historische und empirische Stiftungen. Die Struktur einer berechnenden Vernunft mit der Absorption eines Individuums entspricht hingegen einer quasi-Transzendentalität. Es ergibt sich evidentermaßen, 12 13 14 15

Siehe dazu die großangelegte Studie von Brodbeck 2009. Brodbeck 2009, S. 3 f. Brodbeck 2009, S. 3 ff. Cicero, De Officiis, 1913, 1,50. Siehe zum größeren Kontext auch Brodbecks Artikel „Preis“ (Brodbeck 2013).

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dass von einem solchem Standpunkt aus gesehen Fragen von Gerechtigkeit und Gleichheit eine ganz andere Kontur annehmen. Fraglich wäre zudem, ob dieser konstitutiven Ubiquität des „Geldlichen“ eine tragende Rolle im Expansionsprozess zugeschrieben wird, der einen Markt zunächst in einer Marktwirtschaft, dann aber darüber hinaus in eine Marktgesellschaft transformiert.

6. MARKT UND PREISE Der von Blockaden „geregelte“ Markt fungiert als eine berechtigte Sphäre des Geldes. Haus rekapituliert in seiner Analyse der „Schritte gegen die Tyrannei des Geldes“ Aspekte wie „Institutionalisierte Tauschblockaden“, „Etablierung eines starken Wohlfahrtsstaates“, „Betätigung in Partizipation aller sozialen Schichten“16, „Demokratisierung des Arbeitslebens und Würdigung individueller Verdienste“ und „Umverteilung und Begrenzung von Geld“. Ökonomische Handlungen dürfen lediglich den Tausch von Geld und Waren betreffen.17 Interessant ist, dass auch die Kritiker Walzers noch ein scheinbar relativ harmloses Bild dieses Marktes zeichnen. Geld verschaffe Waldron zufolge eine Wahlfreiheit für die eigenen Präferenzen auf dem Markt und ermögliche die persönliche Verankerung in der Welt.18 Fraglich wäre, ob Ungleichheiten auf dem Markt lediglich durch diese Aspekte austariert werden könnten und ob ein inhärentes Marktvertrauen ausreicht. Die Tatsache, dass in die neu entstandene Disziplin der Genderökonomie auch die „ohne Preis“ verrichtete Arbeit von Frauen, die aber durch ihre Leistungen zur Steigerung eines allgemeinen Wohlstandes beitragen, als Thema eingeht und zu Neukonstellierungen von „ungleichen Positionen“ aufgefordert wird, belegt offensichtlich ein Desiderat.19 Fraglich wäre auch, ob das veranschlagte Ausgewichtungsmodell Ungleichheiten abfedern könnte. Wäre ein Akteur auf dem Markt etwas „weniger erfolgreich“, kann er Walzer zufolge diese Einbußen in anderen Sphären „wettmachen“, zum Beispiel durch eine höhere Anerkennung. Doch funktioniert dieses System von Kompensierungen? Der Privatdozent verrichtet seine Arbeit ohne preisliche Vergütung und gerät in eine extrem ungleiche Situation. Der hohe Stellenwert in einer Anerkennungsgesellschaft kann diese Defizite jedoch nicht in der Weise ausgleichen, dass seine Ermöglichung zum Leben gewährleistet ist.20 Auch kann eine Leistungsperspektive (Theorem der Verdienstlichkeit) nicht mehr für die notwendigen Korrekturen sorgen, wenn der Markt die angesetzten Preise schon 16 17 18 19

Haus 2012, S. 76. Haus 2012, S. 79. Haus 2012, S. 81 f. Die neuseeländische (Wirtschafts-)Politikerin Marilyn Waring hatte 1988 diese Debatte ins Rollen gebracht. Vergleiche zu den unterschiedlichen Dimensionen von „Missachtung“ Bauhardt / Çağlar 2010. 20 Zur Problematik ungerechtfertigter Ungleichheiten und dem Befähigungsansatz vgl. zum Beispiel Sen 1975; zur Differenzierung von zivilisierter und anständiger Gesellschaft vgl. und Margalit 1997.

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komplett verzerrt hat. Hinter diesem Mechanismus stünde der Umstand, dass nicht die von Walzer veranschlagte „Rationalität“ des Marktes die Preise bestimmt, sondern sehr viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Die Diskussion in diesem Punkt wäre sehr aufschlussreich, dazu müssten aber komplette Theorien der Ökonomie aufgerollt werden. Deutlich wird, dass Walzer mit sehr starken Prämissen arbeitet: Der Marktteilnehmer wird erstens als ein mehr oder weniger rationales Wesen konzipiert (homo oeconomicus).21 Der Markt umfasst zweitens einen Marktraum bzw. Marktplatz als Teilbereich des Gesellschaftlichen, nicht aber eine expandierte Marktwirtschaft oder gar eine Marktgesellschaft.22 Geld wird drittens als positivistisch gefasstes Tauschmedium begriffen, nicht aber unter dem Paradigma aufgefasst, dass es dem Kreditwesen entstammt, folglich einem Schulden- oder Schuldnerprinzip gehorcht.23 Aktivitäten auf dem Markt folgen der Logik der Äquivalenzsysteme. Wie sähe eine Gerechtigkeit im Zeichen einer Logik der Gabe aus?24

7. RATIONALITÄT UND SITTLICHKEIT DES GELDES Dass die Beherrschung solcher Äquivalenzen bestimmte moralische Modi erfordert, um präventiv Tyranneien und Monopolisierungen zu unterlaufen, analysiert der Diskursethiker Axel Honneth quasi mit einem Seitenblick auf Michael Walzer. Honneth geht dezidiert von der These aus (die er möglicherweise sogar im Vokabular Walzers gegen dessen Grundprämissen lanciert), dass der Markt keine Sphäre sozialer Gerechtigkeit oder individueller Freiheit ist.25 Honneth formuliert diese These aus dem gegenwärtigen Blickwinkel heraus, einer Zeit hochgradig entfesselter Finanzökonomie, Digitalisierung des Geldes und globaler Finanzströme. Seine Diagnose ist eindeutig: Der Markt ist keine Sphäre wechselseitiger Interessenbefriedigung „mehr“, sondern gleicht eher Prozessen einer „Refeudalisierung“. Ganz anders als Walzer misstraut er der Fähigkeit von Märkten zu einer 21 Priddat skizziert die Ablösung dieser neoklassischen Hypothese durch neuere Konzepte in seinem Artikel „Markt und Moral“ (Priddat 2013, S. 386–387). 22 Sokol 2004, S. 176–185. In einem sehr lesenswerten Aufsatz geht Dieter Thomä der „Entwertung von Menschen“ und einem zunehmenden „Preisverfall“ in der Moderne nach (Thomä 2006, S. 319–323). 23 Sokol skizziert die Auffassung neuerer Ökonomen, dass Geld weniger eine Habe, sondern eine Schuld sei, insofern es einem Kredit entstammt bzw. es das Kreditwesen sein, dass aus „fremden Geld“ neues Geld erzeugen würde (Sokol 2004, S. 183). 24 Zum „Tauschen und Schenken“ sowie dem anökonomischen Motiv der „Gabe“ siehe Bernhard Waldenfels (Waldenfels 2012, S. 217–233). Marcel Hénaff stützt seine umfangreiche Studie auf diese Differenz (Hénaff 2009). Fraglich wäre dann aber, ob auf dieses Paradigma nicht eher eine Theorie der Responsivität mit der Antwort auf fremde Ansprüche angemessener sei und das Konzept eines geschuldeten Geldes nicht einen Begriff des Fremden benötige, der nicht mit dem Begriff des Menschen als Exemplar der Menschengattung identisch ist. Siehe meinen Artikel „Fremder / Fremdheit“ (Kapust 2013). 25 Honneth 2011, S. 78–103, hier S. 79. Siehe auch Haus 2011, S. 185–214.

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Selbstkorrektur, eine Skepsis, die auch der amerikanische Philosoph Michael Sandel vorbringt. Phänomene wie eine steigende Entwertung von Menschen als „Humankapital“ oder als „Ware“ verschärfen diese Tendenzen. Honneth statuiert als Problembefund, dass den gegenwärtigen Wirtschaftssystemen gerade diejenige Dimension fehlt, die sie als Mitglieder zur Anerkennung ihrer wechselseitigen Freiheiten als Bedingung benötigen, nämlich eine vorausliegende Verpflichtung in Form einer Sittlichkeit, die bei anderen Denkern als „Motivationsproblem“ gefasst wird: „Warum sollte ich überhaupt gerecht sein“?26 Walzer scheint diese Notwendigkeit in der Sphäre des Geldes in der genannten „gemeinsamen Moral“ zu verankern, später auf Fragen der Würde umzumünzen, indem er eine Selbstachtung des Akteurs zum Zuge bringt. Dass solche moralrelevanten Qualitäten keineswegs selbstverständlich sind oder als bestehend vorausgesetzt werden können, hatte seinerzeit schon Kant mit dem berühmten Butterbrot-Argument deutlich gemacht. Auf der anderen Seite skizziert Honneth jene Genese des Marktmodells, das Walzer für die „Arbeit des Geldes“ als theoretischen Bezugsrahmens ansetzt, in spezifischen historischen Faktizitäten von Gesellschafts- und Wirtschaftsformationen. Dies dürfte schlussendlich nicht ohne Konsequenzen bleiben und müsste zu Modifikationen von Gerechtigkeit führen. Der von Walzer beschriebene Markt als Ort, in dem die „für die materielle Reproduktion erforderlichen Prozesse der Produktion und Konsumtion mit Hilfe (des generalisierten Austauschmediums) des Geldes […] über den Mechanismus von Angebot und Nachfrage organisiert werden konnten“, ist in einem bestimmten Transformationsprozess entstanden.27 Es handelt sich um den Übergang von subsistenzwirtschaftlich oder feudalstaatlich verfassten Gesellschaften zu Handlungsräumen, in denen private Wirtschaftsakteure mithilfe von Informationen schnell erfassen können, wo es sich „aufgrund wachsenden Bedarfs lohnt, Zeit und Aufwand in die Verfertigung des entsprechenden Produktes zu investieren“, um über dieses neue Relationssystem marktvermittelter Transaktionen neue „Effektivitäten“ erzeugen zu können. Bevor es zu dieser Generalisierung des Marktverkehrs kommen konnte, bedurfte es einer umfassenden Institutionalisierung subjektiver und gleicher Rechte, die auch Walzer veranschlagen muss. Für ein zweckrationales Handeln zugunsten eigener (ökonomischer) Interessen konnte die Sphäre des Marktes scheinbar zunächst frei von Wertorientierungen sein. Geld operiert in „seiner Geldsphäre“. Honneth vertieft das zugrundeliegende Dilemma durch den Hinweis, dass bereits europäische Denker wie Adam Smith oder Emil Durkheim und andere die Schärfe dieses Problems genau artikulierten. Die auch von Walzer zum „reibungslosen“ Marktverkehr veranschlagten Parameter von Fairness und Achtung sind nicht als Additiv zur Logik der Marktwirtschaft zu verstehen. Vielmehr kann ein nicht dysfunktionaler Markt, der starke Ungleichheiten erzeugt, selbst nur ohne Anomien funktionieren, wenn das System umfassender Transaktionen in ein „Solidaritätsbewusstsein eingebettet ist, dass dazu verpflichtet, sich fair und gerecht 26 Zum Beispiel Bayertz 2004. 27 Polanyi 1978.

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zu behandeln“.28 Walzer scheint eine Intuition dieser Solidarität zu haben, scheint sie aber vor dem Verdacht eines „staatlichen Paternalismus“ negativ zu besetzen, wie seine Auseinandersetzung mit dem französischen Theoretiker André Groz nahezulegen scheint, der sehr um die Freisetzung eines „sozialen“ Bandes in einem gemeinschaftlich perspektivierten Markt bemüht ist und weniger an „staatlicher Regulierung“ interessiert ist, wie man ihm unterstellen könnte (SG 89 ff.). Realwirtschaftlich führt das Vergessen oder Ausblenden von Solidarbewusstsein zu eklatanten Resultaten: geteilte Lebenswelten zerfallen oder dissoziieren. Das führt nicht nur zu einem Verlust von realen sozialen Wirklichkeiten, sondern auch zu einem Zerfall tragender Sinnsysteme und zu einer steigenden Abkoppelung von puren ökonomischen Interessen und notwendigen vormarktlichen Nomen und Werten. Für Honneth verfällt mit solchen Prozessen am Ende auch die grundlegende Basis und Bedingung legitimer Märkte. In Begriffen der Anerkennung lautet diese Bedingung, dass die „ökonomischen Akteure sich vorweg als Mitglieder eine kooperativen Gemeinschaft anerkannt haben müssen, bevor sie sich wechselseitig das Recht zur individuellen Nutzenmaximierung auf dem Markt einräumen können.“29 Ohne diese Voraussetzung kann auf die Belange der Marktteilnehmer keine Rücksicht genommen werden. Interessanterweise scheint Walzer an diesem kritischen Punkt Würdekorrelate als „sittliche Substrate“ anzusetzen: „Was wir einander zukommen lassen, untereinander verteilen, ist Wertschätzung, nicht Selbstschätzung. Achtung, nicht Selbstachtung, Ablehnung und Niederlage, nicht aber das Gefühl des Versagens.“ (SG 388) Auch hier gilt: wenn die sozialen Güter „vernünftig und gerecht“ verteilt werden, ist dies „der beste Nährboden für die Entstehung von Selbstachtung“ (SG 395). Dieser sich selbst achtende Bürger verkörpert Walzer zufolge „das ideale Subjekt der Theorie der Gerechtigkeit“. In dieser Gemeinschaft ist er „zuhause“ (SG 397). Am Ende aller Überlegungen scheint diese Argumentationskette, die mit einem Katalog blockierter Tauschgeschäfte anhob und mir der implizierten Differenz von Preis und Wert operierte, auf eine „erfüllte Gerechtigkeit“ hinauszulaufen. So verwundert es nicht, dass Walzers Schlusswort seines Buches zu dem Fazit kommt: „Wechselseitiger Respekt und eine allseitige Selbstachtung sind je einzeln die großen Stärken von komplexer Gleichheit“ (SG 452).

8. WÜRDE UND GELD AUF DEM PRÜFSTAND DES MARKTES Ganz so schnell und zufrieden schließen die Nachfolger nicht das Buch. Reicht der Faktor Selbstachtung, um Anomien auf dem Markt zu verhindern, Ungleichheiten abzufedern und gerechtigkeitstheoretisch aufzufangen? Welche moralische 28 Honneth 2011, S. 86. Honneth betont, dass Durkheim sogar als Voraussetzung für ein „integrationstaugliches“ Modell des Marktes nicht nur diese elementaren Sittlichkeiten und einen Primat von Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit ansetzt, sondern auch die „Versorgung mit sinnvollen Arbeitstätigkeiten“ (2011, S. 86). 29 Honneth 2011, S. 95.

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Kraft eignet dieser Komponente angesichts einer transzendentalen Ubiquität des Preises, einer Erosion sittlicher oder moralbasaler Bestände oder einer Extension von Märkten? Michael Sandel hat als Kollege von Michael Walzer an dieser Diagnose seine Zweifel. Inwiefern Walzers Werk Spuren hinterlassen hat, aber auch produktiv weiter gedacht wird, lässt sich in „Was man mit Geld nicht kaufen kann“ verfolgen. Die Quintessenz der Sandel’schen Diagnose vom „Triumph des Marktes“ (vermutlich gegen oder über Walzer hinaus formuliert) ließe sich auf die Kritik bringen, dass in der ökonomischen Verfasstheit gegenwärtiger Gesellschaften eine unzulässige Expansion der Sphäre des Geldes in alle Lebensbereiche und Wertvorstellungen stattfindet, „in die sie nicht gehören“.30 Monopol und Tyrannei des Geldes übernehmen die Herrschaft über das gemeinschaftliche Leben. Das wäre realiter jene Entwicklung, die Walzer durch seinen Entwurf komplexer Gerechtigkeit zu unterbinden gewollt hätte. Die Organisation einer Gesellschaft am Leitfaden von Tauschgeschäften und unter Ausblendung tragender Wertvorstellungen führt zu einem Phänomen massiver Erosionsprozesse. Doch anders als Walzer differenziert Sandel diese Prozesse nicht nur in zahlreiche weitere Phänomene aus, sondern spitzt sie auch unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen und finanzwirtschaftlichen Bedingungen zu und thematisiert vor allem eine Dimension, die bei Walzer in dieser Form nicht diskutiert wird: den Zerfall des öffentlichen Raumes und seiner enormen Bedeutung. Wenn Blockaden von Tauschaktionen sowie Reflexionen über politischmoralische Identitäten und ihre Frage, wer wir sein wollen, ausbleiben, dann haben wir Sandel zufolge aufgehört, eine politische Gesellschaft zu sein, die eine Marktwirtschaft hat, und haben uns in Marktgesellschaften verwandelt, in der alles marktkonform bewertet wird. Eine marktkonforme Bewertung bedeutet jedoch die Totalisierung des Preises und die Vorherrschaft des Denkens und Handelns in Kategorien des Preises. Hier sind selbst die sozialen Beziehungen marktförmig geworden.31 Diese Diagnose legt virulente Konsequenzen frei: Sandel zufolge bewirkt eine derartige Transformation Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft und führt zur Ausbildung von Parallelgesellschaften, was sich zum Beispiel in der Bildungsthematik dokumentiert. Sie bewirkt außerdem eine Korrumpierung und Erosion des öffentlichen Raumes. Diese Prozesse schwächen ein reflektorisches, subversives, politisch gestaltendes oder widerständiges Potenzial. Nicht nur das soziale Band, das Gesellschaften als vorgelagerte Dimensionen tragen soll, löst sich in den Partikularinteressen der Nutzenmaximierer auf. Gravierender ist, dass unter diesen Vorzeichen keine Agora als Raum des Öffentlichen mehr besteht, in der die Mitglieder einer Gesellschaft über ihre Werte und Zielvorstellungen verhandeln und ihre Identität

30 Sandel 2012, S. 13. Wie man unschwer erkennt, ist diese Diffusion in andere Sphären gerade diejenige Konstellation, die Walzer zufolge gerade nicht statthaben sollte. Walzers Kritik des Geldes als „dominantes Geld“ führt ihn zu der Schlussfolgerung: „Die heutigen Formen von egalitärer Politik haben ihren Ursprung im Kampf gegen den Kapitalismus und gegen die spezielle Tyrannei des Geldes.“ (SG 446, auch 445, 438, 439) 31 Sandel 2012, S. 18.

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klären können. Wo diese Dimension fehlt, füllt nicht nur ein Defizit an Substanz das Vakuum, sondern es fehlt dann auch an geeigneten „Monopolbrechern“, um Märkte in ihre Schranken zu weisen. Sandel geht über Walzers Versuch, mögliche dysfunktionale Entwicklungen eines Marktes mithilfe eines Sphärenmodells und einer Theorie der komplexen Gleichheit zu korrigieren, hinaus und fordert nicht nur eine reflektorische Rückfrage an die Identität von Gemeinschaft. Notwendig ist vielmehr die Verhinderung des Zerfalls des öffentlichen Raumes. Interessanterweise hat ein solches „Gut“ in der Liste der zu blockierenden Tauschoperationen bei Walzer ebenso gefehlt wie das Element Luft. Der öffentliche Raum, in dem verhandelt werden soll, scheint bei Sandel selbst unter einem „Schutz des Unantastbaren“ zu stehen: gegen die Intrusion des Preises und des Ausverkaufs durch Geld. Ein deutliches Zeichen für eine Interpretation der Sachlage jenseits eines kontinentalen Würdedenkens und in Begriffen amerikanischer Kommunitarismus-Debatten dürfte aber folgendes sein: ein möglicher Zerfall des öffentlichen Raumes wird zwar unter „Preiskategorien“ diskutiert, doch wird für diese Einschätzung keine genuine Idee der Würde als „Lösung“ angesetzt, sondern die eher abgeschwächte adjektivische Idee von axia / Würdigkeit formuliert. Insgesamt jedoch bildet Walzers Idee blockierter Tauschgeschäfte aus dem Kapitel „Geld und Waren“ den Leitfaden: „Am Ende läuft die Frage nach den Märkten also auf die Frage hinaus, wie wir zusammen leben wollen. Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist? Oder gibt es gewisse moralische und staatsbürgerliche Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden – und die man für Geld nicht kaufen kann?“32

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32 Sandel 2012, S. 250.

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Antje Kapust

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QUALIFIKATION, VERDIENST UND KORRUPTION Die Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen als Gegenstand der Verteilungsgerechtigkeit Skadi Krause / Karsten Malowitz

1. DER HINTERGRUND: EIN WEITER AMTSBEGRIFF Überblickt man die maßgeblichen politischen Theorien der Gegenwart,1 so fällt auf, dass diese der Bedeutung von Ämtern und beruflichen Positionen nur geringe Aufmerksamkeit schenken. Dies gilt nicht zuletzt für die seit der Veröffentlichung von John Rawls’ bahnbrechender Theorie der Gerechtigkeit im Jahr 1971 stetig wachsende Familie der Gerechtigkeitstheorien,2 in denen die Thematik in der Regel nicht konkret, sondern abstrakt unter dem prinzipiellen Aspekt der Chancengleichheit verhandelt wird.3 Michael Walzers Werk Sphären der Gerechtigkeit bildet in diesem Zusammenhang insofern eine von wenigen Ausnahmen,4 als es dem Problem der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen vergleichsweise große Beachtung schenkt. Der große Stellenwert, den Walzer der Verteilung bzw. der Vergabe von Ämtern mit Blick auf die Verwirklichung distributiver Gerechtigkeit einräumt, resultiert nicht zuletzt aus dem weiten Amtsbegriff, den er seinen Ausführungen zugrunde legt. Demzufolge ist ein Amt „jedweder Posten, an dem die politische Gemeinschaft als Ganze Interesse nimmt, indem sie die Person, die den Posten innehaben soll, entweder direkt auswählt oder die Verfahren festlegt, nach denen sie ausgewählt werden soll.“ (SG 195). Abweichend vom alltäglichen Sprachgebrauch geht es Walzer bei seiner Auseinandersetzung mit der Problematik also nicht nur um öffentliche Ämter innerhalb der staatlichen Verwaltung, sondern um alle Arten von beruflichen Positionen, deren Vergabe durch öffentliche, das heißt gesetzlich normierte Verfahren geregelt ist. Daher gehören für ihn auch alle Berufe, deren Ausübung an schulische Abschlüsse, akademische Zertifikate oder andere offizielle Qualifikationsnachweise gebunden ist, zur Kategorie der Ämter. „Arbeitsplätze“, so Walzer, „haben sich aus Gründen der Redlichkeit und der Leistungsfähigkeit (ein ‚guter Staat‘) wie auch aus Gründen der Gerechtigkeit und der Chancengleichheit zunehmend in Ämter verwandelt.“ (SG 197). Die große Relevanz, die den Regeln und Kriterien der Ämtervergabe für die Verwirklichung einer gerechten Vertei1 2 3 4

Vgl. dazu unter anderem die repräsentative Auswahl in Brodocz / Schaal 2014. Für einen Überblick vgl. Heidenreich 2011. Charakteristisch in dieser Hinsicht etwa Gosepath 2004, S. 288 ff. Vgl. Miller 2008, S. 178 ff.

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lungsordnung zukommt, ergibt sich also aus den weitreichenden Auswirkungen, die diese Regeln und Kriterien auf das politische, soziale und wirtschaftliche Leben der Gesellschaftsmitglieder in Form von Partizipationsmöglichkeiten, Karriereoptionen und Aufstiegschancen haben.

2. DER AUSGANGSPUNKT: „GETEILTE SOZIALE BEDEUTUNGEN“ Walzers Erörterung der Frage, an welchen Kriterien sich eine gerechte Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen in modernen Gesellschaften orientieren sollte, folgt der gleichen kontextualisierenden und historisierenden Logik, die der gesamten Anlage von Sphären der Gerechtigkeit zugrunde liegt. Leitend ist für ihn die Absicht, „mir und meinen Mitbürgern die Welt der von uns geteilten Bedeutungen, d. h. unsere gemeinsame Sinnwelt, zu erklären“ (SG 20). Der Zweck dieser Vorgehensweise, die Walzer in einem späteren Aufsatz einmal treffend als „Bestandsaufnahme der bereits existierenden Moral“ bezeichnet hat,5 ist dabei keineswegs apologetischer, sondern genuin kritischer Natur. So ist es seine erklärte Absicht, die bestehenden Verhältnisse überall dort zu kritisieren, wo die in ihnen wirksamen Kriterien nicht den normativen Maßstäben entsprechen, denen sie aufgrund der mehrheitlich geteilten sozialen Bedeutungen dieser Güter entsprechen sollten.6 Die kritische Intention, die seiner Theorie der Verteilungsgerechtigkeit zugrundeliegt, bringt Walzer wie folgt auf den Punkt: „Die Kritik des Bestehenden beginnt – oder kann doch beginnen – mit Grundsätzen, die dem Bestehenden bereits innewohnen.“7

2.1 Der normative Maßstab: Ein kritisch interpretierter moralischer common sense Was aber sind nun die Grundsätze der Bedeutung bestimmter Ämter und beruflicher Positionen sowie der angemessenen Kriterien ihrer Vergabe, von denen Walzer annimmt, dass sie die meisten seiner amerikanischen Landsleute teilen? Statt philosophische Prinzipien anzuführen, formuliert Walzer zwei pointierte Aussagen, die den moralischen common sense der Amerikaner in Sachen Ämtervergabe zum Ausdruck bringen sollen. Demnach haben heutige Amerikaner „keine Lust, hilflose und bedürftige Menschen Amtsträgern auszusetzen, die ihrer Abkunft wegen oder dank der willkürlichen Protektion durch eine mächtige Einzelperson für ihren Posten ausgewählt wurden“ oder „die in Selbstauswahl auf ihre Posten

5 6

7

Walzer 1990, S. 31. Das Konzept der „geteilten sozialen Bedeutungen“, das in den Sphären der Gerechtigkeit noch nicht voll entfaltet ist, hat Walzer in der Folgezeit systematisch weiterentwickelt. Vgl. dazu SG 32 ff. und Walzer 1993. Zur Kritik an Walzers Konzept siehe u. a. Putnam 1993. Walzer 1990, S. 31. Zu Walzers Vorstellung einer immanent ansetzenden Gesellschaftskritik vgl. auch Walzer 1992a, S. 13 ff.

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gelangt sind, ohne ein mehr oder weniger sorgsames Ausbildungs- und Prüfungsverfahren durchlaufen zu haben.“ (SG 198). Bei den genannten Praktiken der Ämtervergabe, auf welche heutige Amerikaner Walzer zufolge „keine Lust“ mehr haben, handelt es sich nun keineswegs bloß um die Summe individueller Vorlieben oder Meinungen. Vielmehr sind sie das historisch gewachsene Resultat erlebter oder überlieferter Erfahrungen mit den Möglichkeiten und Konsequenzen des Missbrauchs amtlicher oder beruflicher Macht, die das kollektive moralische Bewusstsein der USA im Laufe der Zeit geprägt haben. Zu diesen Erfahrungen zählen die lange währenden Kämpfe der christlichen Kirchen gegen die als sündig erachteten Praktiken des Verkaufs von Ämtern (Simonie) oder ihrer Weitergabe an Freunde oder Verwandte (Nepotismus) ebenso wie die Auseinandersetzungen um die Trennung der Sphären von Kirche, Staat und Markt oder die Errichtung einer professionellen Zivilverwaltung.8 Sie alle haben Walzer zufolge dazu beigetragen, jenen seiner Meinung nach in den USA der Gegenwart mehrheitlich unstrittigen moralischen common sense hervorzubringen, dem zufolge Ämter und Berufe nicht mehr Herrschaftsmittel oder Privilegien zum privaten Vorteil einiger weniger sein dürfen, die willkürlich vererbt, verschenkt oder verkauft werden können, sondern Einrichtungen zum Nutzen aller, die in rechtlich geregelten und transparenten Verfahren an qualifizierte Bewerber vergeben werden sollen.

2.2 Eine notwendige Voraussetzung: Der intervenierende Staat Damit der Wettbewerb um Ämter und berufliche Positionen offen und fair verläuft, bedarf es für Walzer notwendig „der willentlichen Mitwirkung des Staates“ (SG 199). Mochten die frühliberalen Theoretiker des aufstrebenden Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert noch glauben, dass man zu diesem Zweck nur die ständischen Privilegien abschaffen müsse (SG 199), um alles Weitere dem freien Spiel der Kräfte des Marktes zu überlassen, so sieht Walzer seine Landsleute mittlerweile auch in dieser Frage durch die Geschichte eines Besseren belehrt. Demnach zeigen alle bislang gemachten Erfahrungen, dass die immer wieder beschworene Selbstregulierungskraft des Marktes nicht ausreicht, um zu verhindern, dass Ämter und berufliche Positionen zum Spielball privater Interessen werden. Vielmehr bedarf es dazu der beaufsichtigenden und kontrollierenden Macht des Staates, der in Form seiner Behörden für die allgemeinverbindliche Durchsetzung unparteiischer Zugangsregeln und Vergabepraktiken sorgen muss. „Er muss Examina abnehmen, Ausbildungs- und Beurteilungskriterien institutionalisieren und die Bewerbungs- und Auswahlverfahren regeln. Nur der Staat kann den Partikularisierungseffekten der Individualentscheidung, der Macht des Marktes und des Klassenprivilegs entgegenwirken und jedem Bürger die gleiche Chance einräumen, den allgemeinen Anforderungen zu genügen.“ (SG 199). 8

Vgl. SG 196 f. Zur Trennung von Kirche, Staat und Markt als Produkt liberaler Grenzziehungen vgl. Walzer 1992b und den Beitrag von Michael Spieker in diesem Band.

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3. DAS FALSCHE IDEAL: EINFACHE GLEICHHEIT IN DER AMTSSPHÄRE Aus der historisch bestätigten Erfahrung, dass der Staat als Garant unparteiischer Verfahren unentbehrlich ist, folgt für Walzer freilich nicht, dass er auch die einzige Institution sein sollte, die über den Zugang zu Ämtern und beruflichen Positionen und die Kriterien ihrer Vergabe wacht. Die Tätigkeit staatlicher Behörden und Vertreter ist in seinen Augen zwar eine notwendige Bedingung für die Verwirklichung von Gerechtigkeit in der Amtssphäre, aber keinesfalls auch eine hinreichende.

3.1 Ein trügerisches Ideal: Der Staat als Hüter einer perfekten Meritokratie Der Grund für Walzers Skepsis gegenüber einem umfassenden System staatlich kontrollierter Ämtervergabe, das undifferenziert jede Arbeitsstelle einschließt, „deren Besitz, zumindest theoretisch gesehen, einen sozialen oder ökonomischen Vorteil darstellt“ (SG 199), liegt in den ambivalenten, um nicht zu sagen kontraproduktiven Effekten, die ein derart ausgreifendes System bürokratischer Kontrolle seiner Meinung nach zur Folge hätte. Denn was in der Theorie verlockend klingt, nämlich die Verwirklichung einer „Art von einfacher Gleichheit“ (SG 199), die darauf beruht, dass alle Posten „wenn auch nicht nach denselben, so doch nach in der Art gleichen Kriterien vergeben werden“ (SG 199), riefe Walzer zufolge in der Praxis nur neue Ungleichheiten hervor, die nicht weniger ungerecht wären als diejenigen, die mit Hilfe des Systems umfassender staatlicher Kontrolle gerade überwunden werden sollen. Ein solches System „würde die Dominanz privater Macht schließlich nur durch die Dominanz von staatlicher Macht ersetzen“ (SG 202), insofern es die Festsetzung von Zulassungs- und Auswahlkriterien der alleinigen Entscheidungsgewalt von Bürokraten überließe. Am Ende, so Walzer, würde sich auf diese Weise an Stelle der alten bestehenden Hierarchie nur eine neue erheben.

3.2 Ein gefährliches Ideal: Die Abschaffung aller Hierarchien im radikalen Egalitarismus Wie Walzer selbst betont, gibt es allerdings noch ein alternatives Konzept von einfacher Gleichheit, das einen anderen Ansatz verfolgt. Diesem Konzept zufolge, das sich an der Praxis der attischen Demokratie orientiert, „ist es weniger wichtig, die Auswahl zu demokratisieren als die Verteilung (beispielsweise mittels Los oder durch Rotation) zu randomisieren, d. h. zu einer Zufallsverteilung zu machen.“ (SG 200). Was die Anhänger dieser radikal egalitären Konzeption eint, ist die Absicht, auf diese Weise nicht nur die mit der Vergabe von Ämtern verbundene Macht von Kommissionen oder Gremien zu beschneiden, sondern auch die Macht der Amtsträger selbst (vgl. SG 201). Gestützt auf die anonyme, unbestechliche und interessefreie Macht des Zufalls soll so eine hierarchiefreie Gesellschaft

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entstehen, in der alle Ämter tatsächlich allen offen stehen und sich Amtsträger weder als Auserwählte noch als Privilegierte fühlen können. Während Walzer den egalitären Motiven dieser Konzeption, die sich gegen Standesdünkel und Elitenherrschaft richtet, durchaus Sympathien entgegenbringt, ist sie seiner Meinung nach gleichwohl „nur in kleinen, homogenen und ökonomisch einfachen Gesellschaften möglich“ (SG 201). In modernen Gesellschaften mit einer komplexen, auf Arbeitsteilung beruhenden Struktur, führt für Walzer hingegen kein Weg vorbei an der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen mittels leistungsorientierter Auswahlverfahren, die sich an den Kriterien Wissen und Begabung orientieren. Andernfalls, so Walzer, drohte eine Herrschaft der Dilettanten – mit unter Umständen verheerenden ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen. Konsequent zu Ende gedacht eignet der radikale Egalitarismus sich daher ebenso wenig zur Umsetzung in gesellschaftliche Praxis wie die perfekte Meritokratie.

4. DIE BESSERE ALTERNATIVE: KOMPLEXE GLEICHHEIT IN DER AMTSSPHÄRE Ausgehend von dieser Überzeugung plädiert Walzer daher für „ein komplexeres System von sozialen und wirtschaftlichen Arrangements“ (SG 202), das den vordringlichsten praktischen Schwierigkeiten begegnet, die sich der Verwirklichung von Gerechtigkeit in der Amtssphäre entgegenstellen. Seine wichtigste Aufgabe besteht für Walzer darin, dafür zu sorgen, dass bestimmte Fähigkeiten oder Güter keine dominante Position erlangen und „nicht zur Basis tyrannischer Macht- und Vorrechtsansprüche werden.“ (SG 203).

4.1 Eine wichtige Unterscheidung: Warum Verdienst und Qualifikation nicht dasselbe sind Walzer beginnt seine Argumentation für „ein gemischtes Auswahlsystem“ (SG 203) mit einer begrifflichen Unterscheidung von zwei Kriterien, die häufig synonym verwendet werden, nämlich den Kriterien Verdienst und Qualifikation. Als Beispiel für die Notwendigkeit dieser Unterscheidung verweist er auf die ebenso populäre wie seiner Meinung nach verfehlte meritokratische Ansicht, der zufolge Bewerber die Posten, für die sie aufgrund ihrer Fähigkeiten geeignet sind, „zweifelsfrei und uneingeschränkt verdienen“ (SG 204). Nach Walzer ist diese Sichtweise in doppelter Hinsicht realitätsblind. Zum einen, weil sie all diejenigen Fälle außer Acht lässt, in denen zur Ausübung eines Amtes oder eines Berufes nur geringe Qualifikationen erforderlich sind, sodass eine große Anzahl von Bewerbern für die zu leistende Arbeit gleichermaßen hinreichend qualifiziert ist, zum anderen, weil sie „eine wichtige Differenz zwischen Verdienst und Qualifikation“ übersieht (SG 204).

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Während das Kriterium des Verdienstes sich im Idealfall anhand objektiver Faktoren eindeutig bestimmen lässt und „eine sehr klare Form von Anrecht“ (SG 204) begründet, handelt es sich ihm zufolge beim Kriterium der Qualifikation um „ein viel ungenaueres Konzept“ (SG 204), weil es subjektive Wertungen in Auswahlverfahren keineswegs entbehrlich macht. Zur Begründung verweist Walzer auf die einer Auswahlkommission zugedachte besondere Funktion. Diese besteht demnach nicht darin, zu entscheiden, welcher Bewerber eine Stelle aufgrund seiner in der Vergangenheit erbrachten Leistungen objektiv verdient hat, sondern welcher Bewerber den Kommissionsmitgliedern aufgrund seiner Leistungen und seiner Persönlichkeitsstruktur besonders qualifiziert erscheint, die mit der Stelle verbundenen Aufgaben zukünftig zu bewältigen. Walzer zufolge lassen sich die Anwartschaftskriterien, die im Zuge der Vergabe eines Amtes oder einer beruflichen Position zum Tragen kommen, daher weder eindeutig als Verdienst noch als Qualifikation beschreiben. Seiner Meinung nach liegen sie vielmehr „genau dazwischen“ (SG 205), da in Auswahlverfahren sowohl objektive als auch subjektive Faktoren eine Rolle spielen. Der akademische oder berufliche Titel einer Person oder ihre Zeugnisse rechtfertigen dem zufolge nur den allgemeinen Anspruch dieser Person, sich auf geeignete Ämter oder Stellen zu bewerben und zu den entsprechenden Auswahlverfahren zugelassen zu werden, aber sie begründen keinen Anspruch auf ein bestimmtes Amt oder eine konkrete Stelle. Welches Gewicht ihnen im Vergleich zu anderen für relevant erachteten Faktoren beigemessen wird, liegt im subjektiven Ermessen derjenigen, die befugt sind, die Auswahl zu treffen.

4.2 Der Sinn subjektiven Ermessens: Freiheit und Funktionalität Walzers Skepsis gegenüber dem Ideal einer perfekten Meritokratie und sein Eintreten für relativ weite Ermessensspielräume bei der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen haben insbesondere zwei Gründe. Der erste dieser Gründe besteht in der Gefahr des Missbrauchs der mit herausgehobenen Ämtern und beruflichen Positionen verbundenen Macht zum eigenen Vorteil. Demnach stellt das allein an objektiven Vergabekriterien orientierte Ideal der Meritokratie weniger einen gerechten Verteilungsmaßstab dar, als vielmehr ein Verfahren zur Durchsetzung der partikularen Interessen einer gelehrten Elite. Das Resultat wäre keine gerechte Gesellschaftsordnung, in der „komplexe Gleichheit“ herrschte, sondern eine neue Tyrannei, in der Bildung ein dominantes Gut wäre und damit die Grundlage für ungerechtfertigte Privilegien und Herrschaftsansprüche bildete. Darüber hinaus gibt es für Walzer jedoch noch einen zweiten wichtigen Grund, der die Notwendigkeit subjektiver Ermessensspielräume im Zuge von Auswahlprozessen unterstreicht. Er besteht darin, dass Vergabeprozesse, die sich allein an objektiven, das heißt nachprüfbaren oder messbaren Kriterien wie Examensnoten oder Zeugnissen orientierten, in der Praxis kontraproduktive Wirkungen zeitigen können. Berücksichtigte man nämlich bei der Kandidatenauswahl nur objektive Faktoren wie Prüfungsergebnisse oder Abschlüsse, liefe man Gefahr, zu

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viele gut geeignete Bewerber zu übersehen. Zum einen, weil Prüfungen „ihrem Charakter nach konventionell“ sind (SG 211) und deshalb dazu tendieren, unkonventionelle oder kreative Köpfe zu benachteiligen, zum anderen, weil die Eignung eines Bewerbers häufig gerade in objektiv nicht messbaren charakterlichen Dispositionen oder anderen persönlichen Qualitäten liegt. Letztlich belegt eine bestandene Prüfung lediglich die „Fähigkeit, eine Prüfung zu absolvieren.“ (SG 211). Über sonstige Stärken oder Schwächen eines Bewerbers sagt sie nichts aus. Gerade auf solche Stärken oder Schwächen aber kommt es seiner Meinung nach in hohem Maße an, wenn es darum geht, den alles in allem am besten geeigneten Kandidaten für ein Amt oder eine berufliche Position zu finden.

4.3 Die Grenzen subjektiven Ermessens: Gleiche Berücksichtigung und fachliche Eignung Aus der Tatsache, dass subjektive Eindrücke im Zuge von Auswahl- und Vergabeverfahren wichtig sind, folgt für Walzer freilich nicht, dass die Entscheidungen voll und ganz ins Belieben derer gestellt werden sollten, die sie letztendlich treffen. Auch für ihn steht außer Frage, dass der Ermessensspielraum entsprechender Gremien gewissen Beschränkungen unterliegen muss. Seiner Ansicht nach müssen diese Beschränkungen zwei Bedingungen erfüllen: „Zum einen müssen die Entscheidungsbefugten jeden qualifizierten Kandidaten in gleicher Weise berücksichtigen, zum anderen dürfen sie bei der Auswahl nur relevante Kriterien in Betracht ziehen.“ (SG 214). Was das zuerst genannte Gebot der gleichen Berücksichtigung betrifft, so stellt dieses für Walzer eine Forderung dar, die sich ausschließlich auf die Angehörigen einer politischen Gemeinschaft, das heißt auf die Bürger eines Nationalstaats bezieht (vgl. SG 215). In der Praxis bedeutet das für Walzer, dass allen Angehörigen der politischen Gemeinschaft einschließlich ihrer Kinder in jeder Phase ihres Lebensweges eine faire Chance auf gleiche Berücksichtigung eingeräumt werden muss. Die Forderung nach Gerechtigkeit in der Amtssphäre ist für Walzer also eine ausgesprochen weitreichende Forderung. Sie erstreckt sich keineswegs nur auf jene Prozesse, in denen erwachsene Bewerber um konkrete Ämter und Positionen konkurrieren, sondern auf alle Verfahren, in denen es um den Zugang zu Positionen geht, die mit dem Erwerb von Qualifikationen und damit von Lebenschancen verbunden sind. Sie impliziert, dass der vom Prinzip der gleichen Berücksichtigung ausgehende Zwang „nicht nur auf dieser oder jener Auswahlkommission lastet, sondern auf allen Kommissionen und auf all jenen Entscheidungen, die den Pool der qualifizierten Kandidaten allmählich immer mehr einengen“ (SG 215) – angefangen bei der Bewerbung um Kindergarten- und Schulplätze, über die Bewerbung um Ausbildungs- und Studienplätze bis hin zu Bewerbungen um Ämter und berufliche Position. Auch wenn Walzer ausdrücklich darauf hinweist, dass die geforderte Gleichheit der Chancen „immer nur eine annähernde Gleichheit sein kann“ (SG 216), verlangt die Verwirklichung von Gerechtigkeit in der Amtssphäre damit in letzter Konsequenz für ihn nicht weniger

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als einen radikalen Umbau des gesamten Institutionensystems, und zwar insbesondere im Erziehungs- und Bildungsbereich.9 In diesem Zusammenhang kommt die zweite von Walzer genannte Bedingung zum Tragen, der zufolge bei der Auswahl von Bewerbern nur fachlich relevante Kriterien in Betracht gezogen werden dürfen, das heißt Qualitäten, die ihn für die betreffende Tätigkeit in besonderer Weise qualifizieren (vgl. SG 216). Die Frage, wo genau die Grenze zwischen den relevanten und den irrelevanten Qualitäten eines Bewerbers verläuft, lässt sich jedoch Walzer zufolge nicht pauschal, sondern stets nur von Fall zu Fall beantworten. Von entscheidender Bedeutung sind dabei nach seiner Ansicht die Anforderungen, die aus dem konkreten Aufgabenprofil des zu vergebenden Amtes oder der zu besetzenden beruflichen Position erwachsen.

5. BEWÄHRUNGSPROBEN: DAS KONZEPT DER KOMPLEXEN GLEICHHEIT AUF DEM PRÜFSTAND Um herauszufinden, welche Qualitäten im jeweiligen Einzelfall relevant sind, empfiehlt Walzer ein negatives Ausschlussverfahren, das heißt ein Vorgehen, bei dem zunächst alle „Fähigkeiten, die auf dem Posten keine Verwendung finden“ und „persönliche Besonderheiten, die die Arbeitsleistung nicht beeinträchtigen“ (SG 217), ausgeschlossen werden. Bei vielen Eigenschaften, wie zum Beispiel der Haarfarbe oder dem Musikgeschmack eines Bewerbers, lässt sich auf diese Weise sehr schnell feststellen, dass sie für die zu besetzende Position keinerlei Relevanz besitzen. Bei einer Reihe anderer Eigenschaften aber, wie etwa den verwandtschaftlichen Beziehungen oder der Gruppenzugehörigkeit eines Kandidaten, fällt die Entscheidung offensichtlich schwerer.

5.1 Testfall 1: Das Problem des Nepotismus Ein besonderes Problem stellen nach Walzer etwa Ämter und Posten dar, die ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen den zukünftigen Kollegen voraussetzen. Bei der Vergabe solcher Positionen stellt sich nämlich die Frage, ob Amts- oder Stelleninhaber diese mit Freunden oder Verwandten besetzen dürfen oder ob diese Personengruppen aus Gründen der Fairness von vornherein vom Bewerbungsverfahren ausgeschlossen sein sollten. Walzer zufolge sind pauschale Regelungen, wie etwa der Ausschluss von Freunden und Verwandten oder Angehörigen der gleichen ethnischen oder religiösen Gruppierung von bestimmten Bewerbungsverfahren, untaugliche Mittel, um der Gefahr des Nepotismus zu begegnen. Denn auch wenn es im allgemeinen richtig sein mag, von Verwandtschaft, Freundschaft oder gleicher Gruppenzugehörigkeit als Vergabekriterien bei der Besetzung von Ämtern und beruflichen Positionen aus Gründen der Fairness abzusehen, so kann 9

Vgl. dazu SG 288 ff. sowie den Beitrag von Christian Schwaabe in diesem Band.

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dies für Walzer in besonders gelagerten Fällen, in denen die betreffenden Kandidaten durchaus auch die erforderlichen fachlichen Qualifikationen aufweisen, unangebracht sein. Korruption beginnt demnach nicht schon dort, wo bestimmte Eigenschaften wie Verwandtschaft, Freundschaft oder Gruppenzugehörigkeit im Auswahlprozess Berücksichtigung finden, sondern erst dort, wo sie ein ihnen mit Blick auf die Amtspraxis nicht zustehendes überproportionales Gewicht erhalten. Wichtiger als der pauschale Ausschluss von Freunden oder Verwandten ist aus Walzers Sicht deshalb die strikte Orientierung der jeweils entscheidungsbefugten Auswahlkommission an den Prinzipien der gleichen Berücksichtigung und der fachlichen Eignung.

5.2 Testfall 2: Das Problem der Quotierung und der Ämterreservierung Eine ganz anders geartete, aber nicht minder große Schwierigkeit, stellt aus Walzers Sicht die in den USA seit vielen Jahren kontrovers diskutierte politische Forderung der affirmative action, das heißt der bevorzugten Vergabe oder gar Reservierung bestimmter Ämter oder beruflicher Positionen für Angehörige benachteiligter sozialer Gruppen dar.10 Demnach sollen Angehörige bestimmter Gruppierungen – gewissermaßen als Kompensation für das der Gruppe in der Vergangenheit zugefügte kollektive Unrecht – in gegenwärtigen und zukünftigen Auswahl- und Vergabeprozessen mittels gesetzlich garantierter Quoten positiv diskriminiert und somit gefördert werden. Walzer zufolge sind zwei Verfahren denkbar, nach denen eine Umsetzung dieser auf den ersten Blick nachvollziehbaren Forderung in der Praxis möglich wäre, die jedoch seiner Meinung nach beide mit erheblichen Schwierigkeiten belastet sind. Das erste Verfahren bestünde demnach in einer paritätischen Regelung, die darauf abzielte, dass jede einzelne Gruppe auch in der Amtssphäre entsprechend ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung repräsentiert wäre. Dies hätte jedoch zur Konsequenz, „daß mit Ausnahme derjenigen Gruppe, zu deren Gunsten die Reservierungen vorgenommen werden, alle anderen Gruppen und ihre Mitglieder behandelt werden, als wären sie Fremde. Ihre Qualifikationen finden keine Beachtung, sie haben keine anwartschaftlichen Rechte.“ (SG 222). Ein solches Vorgehen stellte für Walzer einen klaren Verstoß gegen das Prinzip der gleichen Berücksichtigung dar und wäre aus diesem Grund inakzeptabel (vgl. SG 223). Alternativ wäre nach Walzer aber auch ein Verfahren denkbar, bei dem „jede Gruppe ihre eigene Amtsträgerschar ins Feld schickt, bestehend aus Personen, die ausschließlich aus den eigenen Reihen kommen.“ (SG 223). Walzer zufolge könnte ein entsprechendes Verfahren zur Gewährleistung der gleichberechtigten Repräsentanz aller gesellschaftlichen Gruppen allerdings nur funktionieren, „wenn jeder amerikanische Bürger eine klar umrissene rassische, ethnische oder religiöse 10 Für einen Überblick zum Verlauf und zum aktuellen Stand der Debatte vgl. Cahn 2002; Cohen / Sterba 2003; Kieli 2012.

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Zugehörigkeit […] hätte“ (SG 224), die zudem gesetzlich festgelegt wäre und staatlich kontrolliert würde. Entgegen der progressiven Absichten seiner Befürworter bedeutete die Umsetzung eines entsprechenden Verfahrens für Walzer jedoch eher einen Rückschritt als einen Fortschritt, wäre es doch mit dem Risiko verbunden, die seiner Meinung nach zumindest teilweise überwundenen rassischen, ethnischen oder religiösen Trennlinien in der Gesellschaft eher zu verstärken als zu verringern. Ungeachtet seiner geläufigen Etikettierung als „Kommunitarist“11 vertritt Walzer in der Frage der Verteilung von Ämtern und beruflichen Positionen damit eine entschieden liberale Auffassung von Chancengleichheit, die auf die Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft und die damit verbundenen individuellen Staatsbürgerrechte abstellt und nicht auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und die kollektive Identität ihrer Angehörigen.12

5.3 Testfall 3: Das Problem struktureller Benachteiligung Dass Walzer den Maßnahmen der Quotierung und der Reservierung von Ämtern skeptisch bis ablehnend gegenübersteht bedeutet jedoch nicht, dass er für die nach wie vor vorhandenen Benachteiligungen, die Angehörige bestimmter sozialer Gruppen in den USA erfahren, blind wäre. Besonders schwer wiegt für ihn, der selbst viele Jahre in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aktiv war,13 gerade die jahrzehntelange strukturelle Benachteiligung, die die Angehörigen der schwarzen Minderheit in den USA erdulden mussten. Seiner Meinung nach ist sie der wesentliche Grund dafür, „daß schwarze Nachbarschaftskulturen und Gemeinschaftseinrichtungen Qualifizierungsbestrebungen von Schwarzen niemals in der Weise fördern konnten, wie sie dies unter Bedingungen von Freiheit und rassischer Gleichheit hätten tun können.“ (SG 225). Zur Bewältigung dieses Problems hält Walzer die Einführung von Quotenregelungen und Ämterreservierungen gleichwohl für ungeeignet. Zum einen, weil sie das für ihn normativ vorrangige Prinzip der Chancengleichheit verletzt (vgl. SG 226), und zum anderen, weil sie die Hauptursache der strukturellen Benachteiligung der Schwarzen in den USA, nämlich die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, außer Acht lässt. In der Tatsache, dass die Praxis der Ämterreservierung „für die etablierten Hierarchien oder für die Klassenstruktur als Ganze keine Bedrohung darstellt“ (SG 228), liegt für Walzer sogar einer der Hauptgründe für die große Aufmerksamkeit, der sich gerade diese Maßnahme in der gesellschaftlichen Diskussion der USA seit Jahren erfreut.

11 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen u. a. die Darstellung in Reese-Schäfer 2001, S. 78 ff. 12 Eine besonders vehemente Kritik der von Walzer vertretenen Position aus strikt kommunitaristischer Sicht liefert Kymlicka 1989, S. 220 ff. Für weitere Stellungnahmen Walzers zu der in den USA und Kanada äußerst kontrovers diskutierten Frage kollektiver kultureller Rechte für soziale Gruppen vgl. auch Walzer 1998 und 2004, S. 44 ff. 13 Vgl. dazu die Hinweise bei Krause / Malowitz 1998, S. 18 ff.

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Damit nicht genug, würden die Verfahren, die auf eine positive Diskriminierung der Schwarzen abzielten, in der Praxis vor allem zu Lasten anderer sozial benachteiligter Gruppen gehen, deren Mitglieder ökonomisch und sozial kaum besser gestellt sind als die Angehörigen der schwarzen Minderheit. „Die Ämterreservierung“, so Walzer, „wird die biblische Prophezeiung, welche die Letzten zu den Ersten werden läßt, ganz sicher nicht erfüllen; was sie allenfalls garantiert, ist die Tatsache, daß die Vorletzten alsbald die Letzten sein werden.“ (SG 229). Um dem Problem der strukturellen Benachteiligung beizukommen, braucht es daher nach Walzer vor allem den Mut zu entschlossenen sozialpolitischen Maßnahmen, welche mittels Umverteilung von Steuergeldern oder Initiativen für Beschäftigung die Gesellschaft als Ganze in die Pflicht nehmen, statt lediglich die Angehörigen strukturell benachteiligter Gruppen gegeneinander auszuspielen.

6. DER „ÜBERMUT DER ÄMTER“: MACHTMISSBRAUCH, PRIVILEGIEN UND KORRUPTION Damit Gerechtigkeit in der Amtssphäre herrscht, braucht es nach Walzer jedoch noch mehr, als die Einrichtung von Verfahren, die eine faire Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen sicherstellen. Gefordert sind zudem Antworten auf die Frage, wie sich der „Übermut der Ämter“, das heißt die Gefahr ihres Missbrauchs zum Vorteil der Amtsinhaber, wirksam eindämmen und dauerhaft kontrollieren lässt.

6.1 Wider die Arroganz der Macht: Das Problem des Professionalismus Walzers Erörterung der Frage nimmt ihren Ausgang zunächst von der allgemeinen Feststellung, dass Ämter stets einen Doppelcharakter aufweisen, also „sowohl eine soziale Funktion als auch ein persönlicher Beruf“ sind (SG 230). Dieser Feststellung kommt insofern besonderes Gewicht zu, als sie das moralische Spannungsfeld umreißt, in dem sich die Probleme der Eindämmung und Kontrolle von Ämtern und Amtsträgern stellen. Im Kern geht es darum, zwei konkurrierenden Arten von Ansprüchen gerecht zu werden, nämlich einerseits den Ansprüchen der Amtsinhaber auf ihren jeweiligen persönlichen Nutzen und andererseits den Ansprüchen der jeweiligen Gemeinschaftsmitglieder auf eine rechtmäßige, angemessene und effektive Form der Ausübung des übertragenen Amtes zum Nutzen aller Betroffenen. Um diesen konkurrierenden Ansprüchen Rechnung zu tragen, empfiehlt Walzer zwei Faustregeln, deren Befolgung dazu beitragen soll, die mit der Übertragung von herausgehobenen Ämtern und beruflichen Positionen verbundenen Risiken des eigennützigen Missbrauchs zu verringern. Das vordringliche Ziel besteht dabei für ihn in der Vermeidung einer übermäßigen Professionalisierung von Ämtern und Berufsgruppen, die darauf abzielt, „einen bestimmten Wissenskodex zum Exklusivbesitz einer Gruppe von Männern (und neuerdings auch von Frauen) zu

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machen“ (SG 231) und diesen auf illegitime Weise in materielle Vorteile, Statusgewinne und Autoritätszuwächse umzumünzen. Um dies zu verhindern, empfiehlt Walzer als erste Faustregel, es mit dem Nachweis von Spezialqualifikationen als Voraussetzung für die Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen nicht zu übertreiben, um „eine Inflation von Spezialwissen und Expertentum“ zu verhindern (SG 232). Die zweite Faustregel, die Walzer anmahnt, besteht darin, „der Dominanz des offiziellen (und professionellen) Status und seiner weitreichenden Konvertierbarkeit Grenzen zu setzen.“ (SG 232).

6.2 Gegengifte: Demokratische Kontrolle, Lohnobergrenzen und eine neue Kultur der Anerkennung Neben diesen beiden Faustregeln schlägt Walzer zudem eine Reihe von Maßnahmen vor, die den Gefahren des Amtsmissbrauchs entgegenwirken sollen. Die erste dieser Maßnahmen besteht in einer weitreichenden demokratischen Kontrolle durch die Betroffenen, und zwar sowohl in privaten Betrieben als auch in öffentlichen Einrichtungen. So plädiert Walzer mit Blick auf die Machtverteilung in Großunternehmen dafür, in privatwirtschaftlichen Betrieben ab einer bestimmten Größenordnung Gremien und Verfahren der Arbeiterkontrolle einzuführen, um die private Entscheidungsgewalt der Kapitalbesitzer oder der von ihnen beauftragten Manager effektiv kontrollieren zu können.14 „Ist ein gewisser Punkt in der Unternehmensentwicklung erreicht“, so Walzer, „muß der Betrieb der unternehmerischen Kontrolle entzogen und im Einklang mit der herrschenden (demokratischen) Vorstellung davon, wie Macht zu verteilen sei, sozusagen politisch organisiert oder reorganisiert werden.“ (SG 428 f.). Mit anderen Worten: Dort, wo berufliche Positionen mit derart großer ökonomischer Macht verbunden sind, dass diese sich in politischen Einfluss oder andere illegitime Privilegien konvertieren lässt, müssen der mit diesen Positionen verbundenen ökonomischen Macht politische Grenzen gezogen werden. Ähnlich verhält es sich nach Walzer mit der Vergabe von öffentlichen Ämtern, die ein hohes Maß an Spezialisierung und Qualifikation erfordern und mit weitreichenden Kompetenzen verbunden sind. Nicht anders als wirtschaftliche Eliten werden Walzer zufolge auch Bürokraten, Experten und Spezialisten „ihre Ämter, wo immer sie können, dazu benutzen, ihre Macht über dasjenige Maß hinaus auszuweiten, das ihre Qualifikationen rechtfertigen oder ihre Funktionen erfordern.“ (SG 236). Aus diesem Grund rät Walzer dazu, die Ausgestaltung des Kompetenzbereichs von Ämtern und beruflichen Positionen in öffentlichen Einrichtungen ebenso wie die Festlegung der Zugangsbedingungen nicht Mitgliedern der staatlichen Verwaltung oder gar den Angehörigen der betreffenden Ämterund Berufsgruppen selbst zu überlassen, sondern unter die Aufsicht und Kontrolle der Bürger oder von ihnen demokratisch legitimierter Gremien zu stellen. „Die 14 Vgl. in diesem Zusammenhang auch SG 183 ff. und 418 ff. sowie die Beiträge von Antje Kapust und Alexander Thumfart in diesem Band.

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Lösung besteht somit darin, daß nicht die ‚Experten‘ den ‚Bürokraten‘, sondern die Amtsträger den Bürgern unterstellt werden. Nur dann ist für jeden klar erkennbar, daß das Amt eine Form von Dienstleistung ist und nicht eine andere Plattform für Despotismus.“ (SG 237). Außerdem regt Walzer an, der finanziellen Gratifikation geleisteter Arbeit Grenzen zu setzen – und zwar sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Dienst. Während Walzer die Festsetzung von Lohnobergrenzen in privatwirtschaftlichen Großbetrieben den Angehörigen der Unternehmen überlassen will (vgl. SG 178 ff.), favorisiert er mit Blick auf Tätigkeiten im öffentlichen Dienst oder in öffentlichen Unternehmen eine Regelung, die per Gesetz für „eine Geringhaltung der Einkommensdifferenzen zwischen Ämtern und anderen Arten der Beschäftigung“ sorgt (SG 235) und gesetzlich kontrollierte Lohnobergrenzen für öffentliche Amts- und Funktionsträger festschreibt. Dass Spitzenbeamte und funktionäre oder die leitenden Manager öffentlicher Unternehmen mit großen Summen für ihre Arbeit entschädigt werden müssten, weil sich andernfalls keine hinreichend qualifizierten Kandidaten um die entsprechenden Posten bewerben würden, hält Walzer für einen Irrglauben, den nicht zuletzt diejenigen predigen, die von den entsprechenden finanziellen Gratifikationen am meisten profitieren. Die notwendige Voraussetzung dafür ist allerdings, wie Walzer unter Verweis auf das Beispiel des Militärs verdeutlicht, dass die betreffenden Ämter und Positionen mit einem hohen sozialen Ansehen verbunden sind (vgl. SG 234 f.). In engem Zusammenhang damit steht schließlich die vierte von Walzer vorgeschlagene Maßnahme, der zufolge der symbolische Lohn der Ehre „nach der Leistung und nicht nach der Position bemessen werden sollte“ (SG 235). Was er damit letztlich einfordert, ist, konsequent zu Ende gedacht, nicht weniger als eine veränderte Kultur der öffentlichen Wertschätzung in der Sphäre von Amt und Beruf, die ein stärker republikanisch oder kommunitaristisch inspiriertes Ethos des Dienstes an die Stelle des (neo-)liberalen Strebens nach materiellem Erfolg und Status setzt und dieses in Form von Anerkennung honoriert.15 Die Möglichkeiten des Staates und der Zivilgesellschaft zur Beförderung einer entsprechenden Kultur sind allerdings – wie Walzer auch selbst einräumt – begrenzt. So können sowohl der Staat als auch private Stiftungen oder Verbände die Leistungen einzelner Individuen oder Gruppen, die sich in besonderer Weise um das Gemeinwohl verdient gemacht haben, durch entsprechende Auszeichnungen und Ehrungen honorieren. Sie können auf diese Weise Anstöße zu einer anderen sozial geteilten Bedeutung von Ämtern und beruflichen Positionen und den mit ihnen verbundenen Gratifikationen leisten – mehr aber auch nicht.

15 Zur Verteilung von öffentlicher Anerkennung vgl. SG 369 ff. sowie den Beitrag von Markus Schütz in diesem Band.

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7. DIE GRENZEN STAATLICHER REGULIERUNG: PRIVATE ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT UND ZIVILGESELLSCHAFTLICHER PLURALISMUS So richtig es Walzer zufolge ist, die Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen und damit auch die Verteilung der mit ihnen verbundenen Gratifikationen aus Gründen der Gerechtigkeit von der Beachtung objektiver Auswahlkriterien abhängig zu machen, so falsch wäre es seiner Meinung nach jedoch, die Einhaltung dieser Kriterien in allen Bereichen der Arbeitswelt durchsetzen zu wollen. Soll das Ideal „komplexer Gleichheit“ gesellschaftliche Wirklichkeit werden, so führt in seinen Augen kein Weg an der Einsicht vorbei, dass der Durchsetzung objektiver Auswahlkriterien Grenzen gesetzt werden müssen – nicht im Namen der Gerechtigkeit, sondern im Namen des Pluralismus. Der erste Bereich beruflicher Tätigkeiten, in dem Walzer ein Eingreifen des Staates nicht für wünschenswert hält, umfasst die von ihm so genannte „Welt des Kleinbürgertums“, welche die Gesamtheit der Arbeitsplätze in kleineren Geschäften, Läden und Dienstleistungsbetrieben umfasst. In dieser Welt, in der „die vorhandenen Arbeitsplätze in ein ganz spezielles Netz eingelassen sind, das aus engen Wohnvierteln, täglicher Routine, sozialen Zusammenhängen, persönlichen Diensten und familialer Kooperation geknüpft ist“ (SG 239), sollte das scharfe Schwert der staatlichen Regulierung Walzer zufolge nicht gebraucht werden. Andernfalls, so seine Befürchtung, würde es dazu führen, eben dieses, für den moralischen Zusammenhalt lokaler und kommunaler Gemeinschaften so ungemein wichtige soziale Netz zu zerschneiden und damit mehr schaden als nutzen. Ähnlich verhält es sich nach Walzer mit dem zweiten Bereich, der die Arbeitsplätze in genossenschaftlich organisierten Betrieben und Werkskommunen umfasst. Schwerer als die unbedingte Beachtung der Chancengleichheit wiegt für ihn in diesem Zusammenhang das Recht der Betriebsangehörigen, die von ihnen verwaltete Firma tatsächlich selbstbestimmt führen und ihre Arbeitsplätze selbst kontrollieren zu können. Damit dies gewährleistet ist, muss ihnen nach Walzers Ansicht auch die Entscheidung darüber zugestanden werden, neben der fachlichen Eignung „weitere Voraussetzungen namhaft zu machen, Voraussetzungen, die ihrerseits davon abhängen werden, welche Vorstellung sie von ihrem gemeinschaftlichen Leben haben, welchen Sinn sie damit verbinden.“ (SG 239 f.). Der dritte Bereich schließlich, in dem Walzer zufolge eine konsequente Durchsetzung von Chancengleichheit verfehlt wäre, umfasst die Gruppe derjenigen politischen Ämter, für die keine oder nur geringe Spezialqualifikationen erforderlich sind. Wo es um die Besetzung dieser Ämter geht, so Walzer, „scheint einem Patronagesystem, bei dem gewählte Amtsträger, die nach ihrer Wahl als siegreiche politische Führer gelten dürfen, Ämter an ihre Gefährten und Gefolgsleute vergeben, nichts Unrechtmäßiges anzuhaften.“ (SG 241). Vielmehr sind es für ihn gerade die im gemeinsamen politischen Kampf gewachsenen und erprobten persönlichen Beziehungen, die in diesem Bereich den Ausschlag geben sollten. Denn da „das Patronagesystem die Funktion hat, Loyalitäten, Verpflichtungen und Partizipation zu erzeugen, kann es sich durchaus als ein notwendiger Bestand-

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teil einer echten lokalen oder dezentralisierten Demokratie erweisen.“ (SG 241). Die Voraussetzungen dafür sind freilich ein funktionierendes föderales politisches System und eine lebendige, von echter Parteienkonkurrenz geprägte politische Kultur – Voraussetzungen also, um die es gegenwärtig nicht nur in der politischen Realität der USA keineswegs zum besten bestellt ist. Walzer zufolge zeigen die genannten Beispiele, „daß Chancengleichheit eine Norm für die Verteilung einiger, nicht aber aller Posten ist“, deren Durchsetzung sich insbesondere dort als sinnvoll erweist, „wo es um zentralistische, professionalisierte, bürokratische Systeme geht“ (SG 242). Damit in der Amtssphäre Gerechtigkeit im Sinne „komplexer Gleichheit“ herrscht, braucht es nach Walzer also kein umfassendes System staatlicher Regulierung, das sämtliche Verfahren der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen überwacht. „Was wirklich erforderlich ist“, so Walzer, „ist die Eliminierung oder Beschneidung von privaten (sei’s von Individuen oder von Gruppen ausgeübten) Entscheidungskompetenzen in bezug auf spezielle Arten von Ämtern und Posten.“ (SG 237). Jenseits dieser Sphäre plädiert Walzer – ganz im Einklang mit den Neo-Tocquevillians16 – jedoch für den weitgehenden Erhalt privater und dezentraler Entscheidungsspielräume innerhalb der Zivilgesellschaft, um die dort vorhandene Vielfalt menschlicher Beziehungsmuster vor dem Zugriff bürokratischer Normierung und Kontrolle zu schützen.

8. SCHLUSS Fragt man nach der Relevanz, die Walzers Überlegungen zur Verwirklichung von Gerechtigkeit in der Amtssphäre heute, also mehr als 30 Jahre nach dem Erscheinen der Sphären der Gerechtigkeit, für sich beanspruchen können, und erweitert man zudem die Perspektive, sodass neben den USA auch die anderen westlichen Staaten in den Blick geraten, ergibt sich ein differenziertes Bild. So lässt sich einerseits feststellen, dass Walzers Ausführungen in vielerlei Hinsicht nichts an Aktualität verloren haben; andererseits ist aber auch zu konstatieren, dass die politischen Entwicklungen – insbesondere im europäischen Raum – in den vergangenen Jahren weiter vorangeschritten sind und neue Fakten geschaffen haben, die von Walzers Theorie nicht oder nur ansatzweise erfasst werden. Von unverminderter Aktualität ist zunächst Walzers Verwendung eines weiten Amtsbegriffs, der neben öffentlichen Ämtern im engeren Sinn auch andere, an besondere Qualifikationen gebundene berufliche Positionen umfasst. Sein konzeptionelle Zugriff auf die Problematik trägt damit sowohl dem Bedeutungswandel als auch dem Bedeutungszuwachs Rechnung, den das Problem des freien und fairen Zugangs zu Ämtern und beruflichen Positionen in den modernen Gesellschaften des Westens im Zuge der fortschreitenden Verrechtlichung des Arbeitsmarktes in der Vergangenheit erfahren hat und nach wie vor erfährt. Maßnahmen zur Vermeidung von Diskriminierung und Benachteiligungen wegen Alters, Ge16 Vgl. Chambers / Kopstein 2006, S. 371 ff.

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schlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung oder Behinderung werden längst nicht mehr nur für den öffentlichen Dienst, sondern für immer mehr Bereiche des Arbeitslebens gefordert und auch umgesetzt. Zugleich lassen die genannten Bereiche, in denen der Kampf gegen Diskriminierung mittlerweile geführt wird, den standortgebundenen und teilweise historischen Charakter von Walzers Ausführungen erkennen. So geht Walzer in seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der schleichenden oder unsichtbaren kollektiven Benachteiligung vor allem auf die für die USA relevante Situation der ethnischen Minderheit der Schwarzen ein, während er sich zur Lage von anderen betroffenen Gruppen, wie etwa der von Frauen oder von Menschen mit Behinderung, nicht näher äußert. Ein ähnlich ambivalentes Bild ergibt sich, wenn man Walzers Bemerkungen zur regulierenden Tätigkeit des Staates auf ihre Bedeutung für die Gegenwart hin befragt. So stellt der Einsatz politischer Macht ohne Frage nach wie vor eine unverzichtbare Bedingung zur Gewährleistung von Gerechtigkeit bei der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen dar, wobei das Aufgabenspektrum in den vergangenen Jahren keineswegs kleiner geworden ist. Mehr denn je braucht es den Staat, um die rechtlichen Voraussetzungen für faire Auswahlverfahren zu schaffen. Ihm obliegt es, das Schul- und Erziehungswesen zu ordnen, Ausbildungsgänge und Abschlüsse zu zertifizieren, Zulassungskriterien festzulegen und für transparente Vergabeverfahren zu sorgen. Dessen ungeachtet haben sich die Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume der Nationalstaaten – zumindest was die EU betrifft – in den zurückliegenden Jahren merklich verschoben, wobei die Bilanz dieser Maßnahmen alles andere als eindeutig ausfällt. So haben auf der einen Seite verschiedene EU-Direktiven und EU-Richtlinien zur Deregulierung von Arbeits- und Produktmärkten seit den 1990er Jahren dazu beigetragen, die Zugangsbedingungen zum Arbeitsmarkt zu vereinheitlichen und transparenter zu machen. Einige dieser Maßnahmen, wie zum Beispiel die von der EU verabschiedete Gleichstellungsrichtlinie, die den Unterzeichnerstaaten rechtsverbindliche Vorschriften macht, haben durchaus dafür gesorgt, die Zugangschancen zu Ämtern und beruflichen Positionen für bislang benachteiligte soziale Gruppen zu verbessern. Andere Maßnahmen hingegen wurden von den Mitgliedsstaaten dazu benutzt, bis dahin gültige Standards von Arbeitnehmerrechten abzusenken.17 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erscheint Walzers einseitiges Plädoyer für das politische Selbstbestimmungsrecht der Nationalstaaten deren Fähigkeiten zur Durchsetzung effektiver demokratischer Kontrollen jedenfalls stark zu überschätzen. Ebenfalls einseitig mutet auch die recht pauschale Zurückweisung radikal egalitärer Modelle der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen an. Walzers Hauptargument, dem zufolge eine konsequente Umsetzung der Vergabe von Ämtern und beruflichen Positionen nach dem Prinzip des Zufalls zu einer Herrschaft der Dilettanten führen und dysfunktionale Folgen zeitigen würde, ist in der vorgetragenen Form zwar stichhaltig. Die Überzeugungskraft dieses Arguments beruht jedoch maßgeblich auf der stillschweigend gemachten Voraussetzung einer 17 Vgl. dazu die Studien von Rubery / Bosch / Lehndorff 2009 und von Höppner u. a. 2011.

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umfassenden Einführung aleatorischer, also zufallsbedingter Vergabeverfahren auf allen Ebenen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Die Möglichkeit einer begrenzten Einführung entsprechender Verfahren, die nicht auf eine Ersetzung, sondern auf eine basisdemokratische Ergänzung der Zusammensetzung von politischen Repräsentativkörperschaften oder Expertengremien abzielt, wird von ihm jedoch gar nicht in Betracht gezogen. Nimmt man die Befunde und Vorschläge neuerer demokratietheoretischer Untersuchungen zu diesem Thema in den Blick,18 in denen nicht zuletzt die Frage nach neuen Chancen verbesserter Bürgerbeteiligung jenseits des nationalstaatlichen Rahmens eine Rolle spielt, entsteht der Eindruck, dass Walzers Ansatz hier durchaus vorhandene Demokratisierungspotenziale übersieht. Zumindest zwiespältig ist schließlich auch der Eindruck, den die Ausführungen zum Problem der Ämterreservierung hinterlassen. Walzer vertritt in diesem Zusammenhang eine entschieden liberale Position, die – abgesehen von einem allgemeinen Diskriminierungsverbot – dem Recht des Einzelnen auf gleiche Berücksichtigung einen großen Stellenwert einräumt. Zwar ist seine Mahnung, der zufolge Maßnahmen der Quotierung eines Kontingents von Ämtern und beruflichen Positionen zugunsten einer bestimmten benachteiligten Gruppe stets zu Lasten anderer, ebenfalls benachteiligter Gruppen gehen, nicht von der Hand zu weisen. Gleichwohl macht es sich Walzer doch etwas zu einfach, wenn er unter Verweis auf dieses Argument pauschal alle Formen von Ämterreservierung und Quotenregelungen ablehnt. Die Realität ist verwickelter. So haben die in den letzten Jahren auch innerhalb Deutschlands und der EU verstärkt geführten Debatten über Diskriminierung und unsichtbare Schranken bei der Arbeitsplatzvergabe gezeigt, dass die Beachtung allgemeiner Diskriminierungsverbote schwerlich ausreicht, um effektive Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu sichern. Vor allem in der Privatwirtschaft gibt es nach wie vor einen deutlich geringeren Anteil von Frauen in leitenden Positionen – und das trotz ihres heute oft höheren Bildungsund Qualifikationsniveaus.19 Dieser Umstand wirft die Frage auf, ob Maßnahmen zur kollektiven Förderung benachteiligter Gruppen nicht doch – zumindest vorübergehend – geeignet sein könnten, die bestehenden Hierarchien in Leitungsgremien und Chefetagen aufzubrechen und auf diese Weise einen gesellschaftlichen Wandel wenigstens anzustoßen. Im Unterschied zu dem auch von Walzer befürworteten Diskriminierungsverbot, das sich allein auf den Zugang der Bewerber zum Auswahlverfahren beschränkt, würden Quotenregelungen, die auf einer materiellen Konzeption von Gleichheit beruhen, verlangen, dass auch das Ergebnis des Verfahrens den vom Nichtdiskriminierungsprinzip aufgestellten Rechtfertigungsanforderungen genügt. Es wäre demnach weniger das Verfahren, als vielmehr das Ergebnis, was darüber Auskunft gibt, ob im Wettbewerb eine gerechte Auswahl stattgefunden hat. Auch andere flankierende Maßnahmen, wie etwa die im anglo-amerikanischen Raum mittlerweile recht häufig gebräuchliche Praxis 18 Vgl. dazu die instruktive, mit zahlreichen Fallbeispielen und konkreten Vorschlägen aufwartende Studie von Buchstein 2009. 19 Für Deutschland vgl. dazu die Ergebnisse in BMFSFJ 2005.

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anonymisierter Bewerbungsverfahren, könnten – zumindest in bestimmten Bereichen – ein Mittel sein, bestehende Formen der unsichtbaren Diskriminierung in Auswahlverfahren zu verringern. Uneingeschränkt aktuell hingegen sind Walzers Ausführungen zur Notwendigkeit einer stärkeren demokratischen Kontrolle politischer und gesellschaftlicher Macht, die aus der privaten Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Produktionsmittel sowie aus dem Besitz großer Finanzvermögen resultiert. Was die Situation in den USA betrifft, haben insbesondere die in den Jahren 2010 und 2014 durch den Obersten Gerichtshof gesprochenen Urteile, in deren Folge die bis dahin gängige Praxis der Begrenzung von Wahlkampfspenden aufgehoben und der Einfluss privater Geldgeber auf den Wahlerfolg der Kandidaten dramatisch gesteigert wurde, die Dringlichkeit entsprechender Forderungen noch verstärkt. Dass das Problem aber keineswegs nur die USA betrifft, hat nicht zuletzt der Erfolg des Medienunternehmers und ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi nachdrücklich vor Augen geführt. Darüber hinaus zeigen die in der jüngsten Vergangenheit auch in Deutschland wiederholt aufgetretenen Fälle des Wechsels ehemaliger Spitzenpolitiker in Wirtschaftsunternehmen – man denke nur an die spektakuläre Berufung des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder in den Aufsichtsrat des deutsch-russischen Gaskonsortiums NEGP im Jahr 2006 –, dass keineswegs nur das von Walzer behandelte Problem der illegitimen Umwandlung von ökonomischer in politische Macht der Bearbeitung bedarf. Vielmehr muss auch die Ausnutzung einmal verliehener Amtsmacht zum privaten finanziellen Vorteil einer effektiveren demokratischen Kontrolle unterworfen werden. Zu denken wäre hier neben der Einführung von Übergangsfristen etwa an Maßnahmen wie die Pflicht zur Offenlegung aller Nebeneinkünfte von Parlamentariern oder die Durchsetzung von Unvereinbarkeitsregeln, welche die gleichzeitige Ausübung politischer Mandate und wirtschaftlicher Führungspositionen untersagen. Von kaum geringerer Relevanz für die Gegenwart moderner westlicher Gesellschaften erweist sich schließlich auch das von Walzer zugrunde gelegte umfassende Verständnis von Chancengleichheit, das sich nicht allein auf die Gewährleistung des fairen Zugang zu Ämtern und beruflichen Positionen beschränkt, sondern die Verwirklichung annähernd gleicher Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für alle Angehörigen der Gesellschaft einfordert. Gemeint ist damit keineswegs die Forderung nach gleichen Bildungsabschlüssen und gleichem beruflichen Erfolg für alle. Anzustreben ist vielmehr, dass jeder Einzelne eine optimale Förderung seiner Fähigkeiten erfährt und eine faire Chance zum Zugang zu Bildung erhält. Der Bildungserfolg soll mithin von den individuellen Talenten und Fähigkeiten des Einzelnen und damit von seinem Engagement abhängen, und nicht von äußeren sozioökonomischen Faktoren. Deutlich wird die Aktualität der Thematik etwa an der gegenwärtig nicht nur in Deutschland geführten Debatte über die ungleiche Verteilung von Bildungschancen, die vor allem Kinder aus sogenannten ‚einkommensschwachen‘ und ‚bildungsfernen‘ Schichten sowie Kinder mit Behinderungen und aus Familien mit Migrationshintergrund benachteiligt. Um die Probleme von unsichtbarer Benachteiligung und Diskriminierung,

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die sich in diesem Zusammenhang stellen, in den Griff zu bekommen, braucht es tiefgreifende Reformen im Erziehungs- und Bildungswesen, die stärker auf Inklusion als auf Segregation abzielen und für eine größere Vielfalt an Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten sorgen. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht wohnt Walzers Überlegungen ein utopisches Potenzial inne, das nach wie vor unabgegolten ist und in die Zukunft weist.

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DIE ARBEITSWELT IM LICHTE SOZIALER GERECHTIGKEIT Ein kritischer Kommentar zu Michael Walzers Überlegungen über Arbeitsmarkt und harte Arbeit Peter Koller

1. EINLEITUNG Michael Walzers bedeutendes Werk Spheres of Justice – in deutscher Übersetzung Sphären der Gerechtigkeit – ist der anspruchsvolle Versuch, eine philosophisch schlüssige und zugleich historisch und soziologisch fundierte Theorie der sozialen Gerechtigkeit auf der Grundlage der in entwickelten demokratischen Gesellschaften weithin geteilten Gerechtigkeitsvorstellungen zu entwickeln. Diese Theorie grenzt sich von anderen neueren Theorien der Gerechtigkeit, wie jenen von Rawls und von Nozick, unter anderem durch ihren methodischen Ansatz ab, den Walzer den „Pfad der Interpretation“ nennt und den Pfaden der „Entdeckung“ und der „Erfindung“ gegenüberstellt.1 Anders als der Pfad der Entdeckung, der die Existenz allezeit gültiger Grundsätze der Gerechtigkeit unterstelle, die wir nur zu entdecken brauchen, und anders als der Pfad der Erfindung, der solche Grundsätze unabhängig von den jeweils weithin geteilten Vorstellungen durch abstrakte philosophische Konstruktionen zu begründen und insofern neu zu erfinden suche, verfolge der Pfad der Interpretation das Ziel, „eine Bestandsaufnahme der bereits existierenden Moral vorzunehmen“, die uns schon „kraft der Autorität ihres Vorhandenseins“ verpflichte, „weil sie uns mit allem versorgt, was wir benötigen, um ein moralisches Leben zu führen – die Fähigkeit zur Reflexion und Kritik eingeschlossen“.2 Auf diesem Weg kommt Walzer zu dem für seine Theorie grundlegenden Befund, unsere Ideen von Gerechtigkeit seien durch einen tiefgreifenden Pluralismus gekennzeichnet, der in zwei Sachverhalten in Erscheinung tritt: einerseits in den Unterschieden, die zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen verschiedener Gesellschaften bestehen, und andererseits in der Vielfalt verschiedener sozialer Güter, die innerhalb einer jeden Gesellschaft einer gerechten Verteilung bedürfen. Den zweiten Aspekt des Pluralismus bringt er durch die allgemeine Regel auf den Punkt: „unterschiedliche Güter für unterschiedliche Personengruppen aus unterschiedlichen Gründen auf der Basis unterschiedlicher Verfahren“ (SG 58, SJ 26). Demgemäß nimmt Walzer an, jedes der verteilungsbedürftigen sozialen Güter – zu denen er Mitgliedschaft, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, Ämter, 1 2

Walzer 1990, S. 9 ff. Walzer 1990, S. 31.

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Freizeit, Bildung, aber auch „negative Güter“ wie Strafen zählt – konstituiere entsprechend seiner jeweiligen sozialen Bedeutung eine autonome Sphäre der Gerechtigkeit, die jeweils eigene Kriterien und Erfordernisse der gerechten Verteilung dieses Guts inkludiere und nicht durch die Verteilung anderer Güter dominiert werden dürfe. Als Verteilungskriterien kommen für ihn allerdings grundsätzlich vor allem drei in Betracht, nämlich freier Austausch, Verdienst und Bedürfnis, die er jedoch weder näher begründet, noch dahingehend präzisiert, welches Gewicht ihnen zukommt und worin der Referenz- oder Ausgangszustand der von ihnen diktierten Güterverteilung bestehen soll. Der vorliegende Beitrag stellt auf Walzers Ausführungen in Sphären der Gerechtigkeit über die Arbeitswelt ab, die nach seiner Auffassung jedoch keine eigenständige Sphäre der Gerechtigkeit darstellt, sondern eher ein komplexes Gemenge wirtschaftlicher Aktivitäten, die sich im Schnittfeld mehrerer Sphären, nämlich jener des Marktes, der Wohlfahrt und der Politik, bewegen. Das dürfte wohl der Grund sein, weshalb Walzer die Arbeitswelt in zwei verschiedenen Kapiteln behandelt: zum einen im 4. Kapitel über „Geld und Waren“, in dem er neben der allgemeinen Frage, ob und inwieweit der Markt eine gerechte Güterverteilung gewährleistet, auch einige spezielle Gerechtigkeitsprobleme des Arbeitsmarktes diskutiert; und zum anderen im 6. Kapitel über „Harte Arbeit“, in dem er sich mit der gerechten Verteilung diverser schwerer, unangenehmer oder entwürdigender Tätigkeiten befasst. Dementsprechend werde ich im Folgenden Walzers Überlegungen über die Arbeitswelt in zwei Schritten besprechen: zuerst seine Konzeption des Arbeitsmarkts im 4. Kapitel, und dann seine Thesen über harte Arbeit im 6. Kapitel. Da ich seine Ausführungen zwar im Ergebnis weitgehend plausibel, in theoretischer Hinsicht aber ziemlich unausgegoren und unergiebig finde, werde ich danach meine eigene Annäherung an die Probleme der Arbeitswelt skizzieren, die vielleicht hilft, Walzers Auffassungen über die gerechte Regelung des Arbeitsmarktes und harter Arbeit theoretisch besser zu fundieren.

2. GERECHTIGKEITSPROBLEME DES ARBEITSMARKTES Das 4. Kapitel, betitelt „Geld und Waren“, bietet eine narrativ lebendige und im Wesentlichen auch theoretisch aufschlussreiche Erörterung der Vorzüge und Grenzen des Marktes als eines Mediums der Verteilung sozialer Güter. Insoweit der Markt als Forum für den freien Austausch privater Besitztümer und Leistungen diene, stelle er, so betont Walzer, in der Regel ein sehr geeignetes Verfahren einer sowohl vorteilhaften wie auch gerechten Verteilung sozialer Güter dar. Das gelte vor allem für jenes „Sortiment von Gütern, die vermutlich zu allen Zeiten marktfähig waren, ganz gleich, was ansonsten als verkäuflich oder unverkäuflich zu gelten hatte“ (SG 161, SJ 103), wozu für ihn insbesondere die vielfältigen Dinge und Leistungen zur Deckung des normalen Lebensbedarfs und in einem gewissen Umfang auch Luxusgüter zur Befriedigung relativ harmloser individueller Wünsche gehören. Denn die Verteilung dieser Güter durch deren freien Austausch im Rahmen eines wohlfunktionierenden Marktes trage am ehesten ihrer sozialen

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Bedeutung Rechnung. Walzer ist jedoch weit davon entfernt, einen radikalen Marktliberalismus zu verfechten. Er übersieht nämlich nicht, dass der Markt auch erhebliche Mängel und Gefahren aufweist, die es erforderlich machen, seine Ergebnisse zu korrigieren oder ihm die Verteilung mancher Güter, die als unverkäuflich gelten, sogar ganz zu entziehen. So berge der Marktprozess stets ein Risiko des Misserfolgs in sich, aus dem sich schlimme Notlagen und krasse Ungleichheiten ergeben können, die jedenfalls dann als ungerecht erscheinen, wenn sie die betroffenen Personen der Mittel zur Befriedigung ihrer dringlichen Lebensbedürfnisse berauben oder ihr Recht auf einen gleichen Bürgerstatus verletzen. Um solchen Ungerechtigkeiten zu begegnen, stünden zwei Gegenmittel zur Verfügung: zum einen die Redistribution finanzieller Mittel zugunsten bedürftiger Personen, etwa mittels einer negativen Einkommenssteuer, deren nachhaltige Wirkung Walzer jedoch bezweifelt (SG 165 f., SJ 106 f.), und zum anderen die Blockierung marktlicher Tauschgeschäfte. Die Blockierung von Tauschgeschäften ziele darauf ab, der Herrschaft des Geldes durch das Verbot des Verkaufs und Kaufs bestimmter Güter Grenzen zu setzen. Zu den unverkäuflichen Dingen, die dem marktlichen Tauschverkehr ganz oder zu einem wesentlichen Teil entzogen sein sollten, zählt Walzer unter anderem die folgenden (SG 156 ff., SJ 100 ff.): Menschen bzw. deren Grundrechte, politische Macht, Strafjustiz und Rechtsprechung, Rede-, Religions- und Versammlungsfreiheit, Ehestands- und Zeugungsrechte, die Freistellung vom Militärdienst, politische Ämter, elementare Wohlfahrtsleistungen und die Unverbindlichkeit „verzweifelter“, unter dem Zwang großer Notlagen geschlossener Tauschgeschäfte. Durch die Blockierung des Verkaufs bzw. Kaufs dieser Güter werde verhindert, dass die in der Marktsphäre entstehenden Verletzungen und Ungleichheiten das Leben und den sozialen Status der Individuen beeinträchtigen. Und daraus zieht Walzer den Schluss, dass, wenn jeder ungerechte Tausch blockiert sei, wir uns über die Ergebnisse des Marktes keine weiteren Sorgen mehr zu machen brauchen. Dann sei nämlich „die Macht, anderen Personen Risiken aufzubürden oder autoritative Entscheidungen in Fabrikbetrieben und Handelsgesellschaften zu treffen, kein marktfähiges Gut“, und dann gebe es auch keine Missverteilung von Konsumgütern (SG 167, SJ 107). Ich halte diese Schlussfolgerung für voreilig, da sie allzu großes Vertrauen in die Fähigkeit des Rechts setzt, unfaire Markttransaktionen zu unterbinden, deren Ergebnisse sich auf andere Verteilungssphären, wie auf die der politischen Macht und der öffentlichen Meinungsbildung, auswirken. Denn erstens setzen faire Verträge, die gerechte Ergebnisse erwarten lassen, nicht nur die Abwesenheit von Irreführung und Zwang voraus, sondern auch noch einige weitere Bedingungen, nämlich die hinreichende Informiertheit und Rationalität der Beteiligten, aber auch ein ausgewogenes Verhältnis ihrer Verhandlungsmacht, die rechtlich nicht leicht in den Griff zu kriegen sind; und zweitens kann das Vertragsrecht die Anforderungen an rechtlich verbindliche Vertragsgeschäfte nicht allzu hoch schrauben, weil sonst zu viele Verträge ungültig wären und der ganze Vertragsverkehr

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kollabieren würde.3 Da deshalb die Blockierung von Tauschgeschäften alleine nicht genügen wird, um möglichen sozialen Missständen, die aus dem Marktprozess entspringen, wirksam begegnen zu können, wird man auf weitergehende Regelungen der öffentlichen Wirtschaftspolitik zur Korrektur der Marktergebnisse kaum verzichten können.4 Dafür kommen zwei Arten von Regelungen in Betracht: zum einen, wie Walzer einräumt, ein System der sozialen Umverteilung durch geeignete Transferleistungen zugunsten der schlechter gestellten Gruppen, sowie zum anderen, was er im vorliegenden Kontext nicht erwähnt, ein hinreichendes Angebot öffentlicher Güter, die den Bürgern unabhängig von ihrer Zahlungsfähigkeit zugute kommen. Der zweite Aspekt macht auf eine Lücke in Walzers Erörterung des Marktes aufmerksam: das ist sein Versäumnis, einem zentralen Versagen des Marktes (selbst eines perfekten) gebührende Beachtung zu schenken, nämlich dessen Unvermögen, öffentliche und meritorische Güter in einem dem Bedarf entsprechenden Umfang hervorzubringen. Das sind Güter, die von privaten Geschäftsleuten nicht profitabel produziert oder vermarktet werden können, weil ihre Nutzung nicht auf diejenigen Personen beschränkt werden kann, die dafür zahlen, oder weil der nach ihnen bestehende Bedarf nicht in einer entsprechend zahlungskräftigen Nachfrage Niederschlag findet.5 Diese Lücke ist keineswegs harmlos, weil sie, wie ich später zeigen werde, ein Grund dafür ist, warum Walzers Analyse der Arbeitswelt, insbesondere der Formen harter Arbeit, unbefriedigend bleibt. Was den Arbeitsmarkt betrifft, so ist sich Walzer seiner Mängel zwar durchaus bewusst, hält ihn aber dennoch für ein unverzichtbares, ja unter günstigen Bedingungen für das beste Verfahren der Verteilung normaler Arbeitstätigkeiten und Einkommen. Sein Argument lautet: „Tatsächlich gilt: je perfekter der Markt, desto geringer die Einkommensunterschiede und desto seltener der Bankrott. Eine ungefähre Gleichheit in puncto Mobilität, Information und Ausbildungschancen vorausgesetzt, müßte es so sein, daß die attraktivsten Arbeitsplätze die meisten Bewerber anlocken, mit dem Resultat, daß die Löhne auf diesen Posten sinken. Weniger attraktive Tätigkeiten werden gemieden, d. h. die für sie gezahlten Löhne steigen.“ (SG 179, SJ 116 f.). Allerdings weiche die Realität von diesem Ideal oft weit ab. Die in der Realität bestehenden großen Ungleichheiten der individuellen Chancen, die sich aus überkommenen Statushierarchien, Organisationsstrukturen und Machtverhältnissen ergeben, würden den Marktprozess verzerren und die Einkommensunterschiede verstärken. Um diese Ungleichheiten zu verringern, seien entsprechende Korrekturen erforderlich, die sich an der hypothetische Überlegung orientieren könnten, welche Einkommensunterschiede in einer Situation bestehen bleiben würden, „in der Hierarchie, Organisation und Macht, wenn auch nicht eliminiert, so doch durch Gleichheit soweit neutralisiert sind, daß die spezifischen Ungleichheiten des Marktes klar hervortreten“ (SG 179, SJ 117). Da Walzer glaubt, dass unter dieser Annahme eines unverzerrten Arbeitsmarktes die ver3 4 5

Koller 2008. Vgl. Barry 1995, S. 70 ff. Stiglitz 1999, S. 172 ff.; Sturn 2013.

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bleibenden Ungleichheiten der Einkommen erheblich geringer wären, hält er eine Korrektur der realen Marktergebnisse für erforderlich. Dafür kommen nach seiner Ansicht drei Varianten der Redistribution der Marktergebnisse in Betracht: (1) eine Neuverteilung der Marktmacht durch die Blockierung ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse und die Förderung von Gewerkschaftsinitiativen; (2) die Neuverteilung von Geld durch das Steuersystem, und (3) eine Neuverteilung von Besitzrechten und der damit verbundenen Befugnisse, zum Beispiel durch Beschwerdeverfahren zur Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten oder durch geeignete Formen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer an unternehmerischen Entscheidungen über den Produktionsprozess. Allen diesen Varianten seien jedoch Grenzen gesetzt, die sich aus der Logik der Marktsphäre ergeben: Alle drei Redistributionsvarianten ziehen die Grenzlinie zwischen Politik und Wirtschaft neu, und sie tun es so, daß die Sphäre der Politik gestärkt wird – und hier wiederum der Einfluß der Bürger und nicht unbedingt die Macht des Staates. […] Aber wie groß der Einfluß der Bürger auch sein mag, sie können nicht einfach die Entscheidungen treffen, nach denen ihnen der Sinn steht. Die Sphäre der Politik hat ihre eigenen Grenzen; sie grenzt an andere Sphären an und findet ihre Grenzen in deren Abgrenzungen. Das bedeutet, daß Redistribution niemals einfache Gleichheit erzeugen kann, nicht, solange Geld und Waren existieren und es einen rechtlich anerkannten sozialen Raum gibt, innerhalb dessen sie getauscht – oder in diesem Falle vergeben – werden können. (SG 187, SJ 122 f.).

So viel zu Walzers Überlegungen zum Arbeitsmarkt, die mir, soweit sie führen, zwar im Großen und Ganzen plausibel erscheinen, aber meines Erachtens nicht weit genug führen, um die Besonderheiten dieses Marktes in den Blick zu bekommen, die ihn von Warenmärkten unterscheiden und seine spezielle Dynamik bedingen. Zu diesen Besonderheiten eines freien Arbeitsmarktes, der ohne eine angemessene Regelung der Arbeitszeiten, der Mindestlöhne und der Arbeitslosenunterstützung operiert, gehören zwei Prozesse, die das Zustandekommen eines zur Vollbeschäftigung tendierenden Marktgleichgewichts behindern: der Inflationsprozess des Angebots von Arbeitskräften und der Deflationsprozess der Nachfrage nach Arbeitskräften.6 Der Inflationsprozess des Arbeitskräfteangebots bewirkt, dass eine verringerte Nachfrage nach Arbeitskräften meist nicht eine Verringerung, sondern eine Vermehrung des Arbeitskräfteangebots zur Folge hat, weil die steigende Arbeitslosigkeit die Arbeitsuchenden dazu nötigt, mehr Arbeitsleistungen zu geringeren Löhnen anzubieten, wodurch die Arbeitslosigkeit weiter wächst. Dieser Prozess wird durch den Deflationsprozess der Nachfrage nach Arbeitskräften verstärkt, weil sinkende Löhne zwar die Arbeitskosten der einzelnen Unternehmen verringern, aber insgesamt eine Reduktion des Konsums der Lohnarbeiter und damit der Umsätze der Unternehmen nach sich ziehen, was wiederum eine weitere Verringerung der Nachfrage nach Arbeitskräften, also steigende Arbeitslosigkeit, bewirkt. Diese Prozesse machen nicht nur Walzers Annahme illusorisch, ein intakter Arbeitsmarkt führe von selber zu einer relativ ausgewogenen Verteilung von Erwerbsmöglichkeiten und Einkommen, sondern 6

Vobruba 2000, S. 33 ff.

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sie machen es auch unwahrscheinlich, dass eine effektive Regulierung der in der Realität stark verzerrten Arbeitsmärkte mit den von ihm in Betracht gezogenen Maßnahmen der Korrektur der Marktergebnisse auskommt. Wenn eine politische Regulierung der Arbeitsmärkte die tatsächlich bestehenden Ungleichheiten der Arbeitswelt verringern soll, dann wird sie viel weiter gehende Eingriffe in diese Märkte vornehmen müssen: einerseits durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die den mit Konjunkturschwankungen und Strukturveränderungen verbundenen krisenhaften Ungleichgewichten des Arbeitsmarktes nach Möglichkeit zu begegnen sucht7; sowie andererseits durch Maßregeln zur Deckung des Bedarfs nach gesellschaftlich notwendigen bzw. nutzbringenden Leistungen, die ein freier Arbeitsmarkt nicht im erforderlichen Umfang bereitzustellen vermag. Einige Aspekte des zweiten Problems werden allerdings von Walzers Überlegungen über „harte Arbeit“ im 6. Kapitel berührt, denen ich mich nun zuwende.

3. ZUR GERECHTEN VERTEILUNG HARTER ARBEIT Walzer versteht unter harter Arbeit grobe, unangenehme, widerwärtige und schwer erträgliche Arbeit, die gesellschaftlich notwendig ist und daher nicht ungetan bleiben kann, weshalb jemand gefunden werden muss, der sie tut (SG 243, SJ 165). Sie ist also eine der Verteilung fähige und bedürftige soziale Bürde oder, wie er sagt, ein „negatives Gut“. Anders als positive Güter, aber ebenso wie andere negative Güter (wie etwa die Pflicht, Steuern zu zahlen), habe harte Arbeit die Eigenschaft, dass ihre Verteilung in verschiedenen Sphären stattfinde, weshalb sie im Unterschied zu den anderen sozialen Gütern auf seiner Liste keine eigenständige Verteilungssphäre konstituiert. Das leuchtet – unabhängig davon, ob man Walzers Sphärentheorie überzeugend findet oder nicht – ohne weiteres ein, wenn man die Möglichkeiten der Verteilung negativer Güter auf die Bürger ins Auge fasst. Grundsätzlich kämen drei mögliche Verteilungsvarianten in Betracht: (a) Verteilung auf alle Mitglieder nach einem geeignetem Kriterium (wie zum Beispiel durch Besteuerung), (b) Verteilung durch den Markt, und (c) Verteilung auf einige geeignete Mitglieder im Wege demokratischer Entscheidungen. Walzers Feststellung, alle diese Varianten hätten gemeinsam, dass es unmöglich sei, die Verteilung der betreffenden Güter, also der in Betracht stehenden harten Arbeit, allein an ihrer sozialen Bedeutung zu orientieren (SG 247 f., SJ 167 f.), trifft sicher zu, weil jede Variante ein Zusammenwirken mehrerer Verteilungssphären, so vor allem des Marktes und der Politik, erfordert. Davon ausgehend unterscheidet er drei Arten harter Arbeit: gefährliche Arbeit, Schwerarbeit und Dreckarbeit. (1) Gefährliche Arbeit seien Tätigkeiten, die unvermeidlich mit erheblichen Risiken für Gesundheit und Leben verbunden sind, aber von Personen mit durchschnittlich entwickelten physischen und psychischen Fähigkeiten verrichtet werden können, wie zum Beispiel soldatischer Dienst. Nach einigen knappen, wohl allzu knappen Bemerkungen über den Unterschied zwischen einer Berufsarmee 7

Stiglitz 1999, S. 738 ff.

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und der allgemeinen Wehrpflicht kommt Walzer zu dem Ergebnis, dass grundsätzlich alle Bürger gleichermaßen verpflichtet sein sollten, diese Art von harter Arbeit auf sich zu nehmen, allerdings mit der Ausnahme gewisser Tätigkeiten, die, wie beim Berg- oder Brückenbau, eine enge Zusammenarbeit solidarischer Arbeitsgemeinschaften erfordern (SG 248 ff., SJ 168 ff.). (2) Als Schwerarbeit bezeichnet Walzer einigermaßen ungefährliche, aber kräftezehrende, schwere und grobe Tätigkeiten, die von Personen mit normalen Fähigkeiten ausgeführt werden können, deren Verrichtung aber als minderwertig gilt und daher in der Regel auf machtlose oder benachteiligte Mitglieder abgeschoben wird, wie zum Beispiel in früheren Zeiten der Straßenbau, der den Untertanen als Frondienst auferlegt wurde, und heute die Haushaltsarbeit, die zum größten Teil von den Frauen verrichtet wird. Hier gibt Walzer seine Sympathie für eine allgemeine Verpflichtung zur Leistung solcher Arbeiten zu erkennen (wie beispielsweise im Fall der Küchenarbeit im klassischen Kibbuz), obwohl er abschwächend einräumt, es handle sich dabei möglicherweise nur um „eine symbolische Verpflichtung“, ohne jedoch diesen Hinweis näher zu erläutern (SG 251 ff., SJ 170 ff.). (3) Dreckarbeit seien Tätigkeiten, „die mit Schmutz, Abfall und Müll zu tun haben, in so ziemlich jeder Gesellschaft das Objekt von Verachtung und Vermeidung waren und sind“ (SG 256, SJ 174), wie Abfallbeseitigung oder Straßenreinigung. Grundsätzlich, so Walzer, sei die Frage, wer in einer Gesellschaft von Gleichen die Dreckarbeit verrichten sollte, dahingehend zu beantworten, „daß sie – zumindest in einem partiellen und symbolischen Sinne – von uns allen getan werden sollte“ (SG 257, SJ 174). Doch meint er, unter bestimmten Bedingungen komme auch eine Verteilung solcher Tätigkeiten durch den Markt in Betracht, nämlich dann, wenn Menschen nicht aufgrund ihrer miserablen sozialen Lage zur Annahme harter, erniedrigender und zugleich schlechtest bezahlter Arbeiten genötigt seien (SG 259, SJ 176), also dann, wenn sichergestellt ist, dass die Menschen, die solche Tätigkeiten verrichten, dafür durch entsprechend gute Löhne und Arbeitsbedingungen entschädigt werden, wie im Fall der Müllmänner von San Francisco dank ihrer starken gewerkschaftlichen Organisation. Als allgemeine Regel solle daher gelten, dass Dreckarbeit „dort, wo sie nicht gewerkschaftlich organisiert oder kooperativ betrieben werden kann, von den Bürgern gemeinsam übernommen werden muß, und zwar nicht nur symbolisch und partiell, sondern generell“ (SG 263, SJ 179). Ich finde diese Erörterung harter Arbeit zwar anregend und interessant, aber nur teilweise plausibel und im Ergebnis ziemlich unergiebig und realitätsfremd. Walzers Differenzierung zwischen den verschiedenen Arten harter Arbeit leistet nicht viel, weil er im Wesentlichen doch in allen Fällen zum Ergebnis kommt, dass diese Arbeiten von allen Bürgern gemeinsam übernommen werden sollen, wenn auch nur in einem „symbolischen Sinne“. Doch was soll das heißen? Überdies bleibt Walzer die Antwort auf die Frage schuldig, wie es in einer Gesellschaft, die eine effektive gewerkschaftliche Organisation der Personen, die Dreckarbeit verrichten, verhindert, überhaupt gelingen soll, die Bürger dazu zu bringen, diese Arbeit gemeinsam zu übernehmen. Diese Schwächen und Ungereimtheiten

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sind meines Erachtens auf die erwähnte Lücke in Walzers Analyse zurückzuführen, die in seiner Nichtbeachtung öffentlicher und meritorischer Güter besteht. Es liegt nämlich nahe, die Erbringung der von Walzer als „harte Arbeit“ bezeichneten Leistungen als öffentliche oder als meritorische Güter zu konzipieren, die der Markt nicht oder zumindest nicht in effizienter und gerechter Weise bereitstellt, weil ihre potenziellen Nutznießer nicht durch bilaterale Verträge zur Zahlung eines entsprechenden Entgelts verpflichtet werden können oder ihren Bedarf nicht durch eine hinreichend zahlungskräftige Nachfrage zur Geltung bringen können. So verstanden, ließe sich die Verrichtung solcher Arbeiten und die Verteilung ihrer Nutzen und Lasten als eine öffentliche Aufgabe verstehen, für deren angemessene Erfüllung alle Bürger gleichermaßen verantwortlich sind und die insofern „in einem symbolischen Sinne“ von allen übernommen werden muss. Das bedeutet aber nicht, dass diese Arbeiten tatsächlich von allen Bürgern verrichtet werden müssen, sondern nur, dass die Gesellschaft für eine effiziente und gerechte Regelung ihrer Verrichtung Sorge tragen muss, sei es durch öffentliche Einrichtungen oder durch private Unternehmen. In jedem Fall sind dazu geeignete Regelungen vonnöten, die sicherstellen, dass die Personen, die mit der Verrichtung solcher Arbeiten – sei es unfreiwillig durch eine allgemeine Leistungspflicht oder freiwillig in Form von Erwerbsarbeit – beauftragt werden, dafür in einer der Härte dieser Arbeiten entsprechenden Weise durch angemessene Löhne, Arbeitsbedingungen oder künftige Vorteile entlohnt bzw. entschädigt werden. Der Vorschlag, harte Arbeit auf diese Weise zu konzipieren, ist übrigens alles andere als originell, weil es ja vielerorts zum Zweck der Rekrutierung qualifizierter Kräfte für schwierige und gefährliche Tätigkeiten üblich ist, die dafür erforderlichen Mittel ganz oder teilweise durch öffentliche Steuern aufzubringen. Dieser kritische Befund bezüglich Walzers Erörterung der Arbeitswelt im Allgemeinen und harter Arbeit im Besonderen bringt mich dazu, meine eigene Annäherung an diese Thematik zu skizzieren, die zwar im Ergebnis weitgehend mit seiner Auffassung vereinbar ist, diese aber in einen anderen theoretischen Kontext einbettet und damit vielleicht etwas tiefer zu fundieren und näher zu präzisieren hilft.

4. GERECHTIGKEIT, WIRTSCHAFTSORDNUNG UND ARBEITSWELT Da hier nicht der Platz ist, die von mir vertretene Konzeption sozialer Gerechtigkeit von Grund auf zu entwickeln, führe ich die nach meiner Ansicht grundlegendsten Erfordernisse der sozialen Gerechtigkeit moderner Gesellschaften ohne nähere Begründung ein.8 Diese Erfordernisse, die sich alle auf die grundlegende institutionelle Ordnung dieser Gesellschaften beziehen und die Verteilung der wichtigsten sozialen Güter und Lasten durch diese Ordnung zum Gegenstand haben, sind die folgenden: (1) rechtliche Gleichheit, der zufolge alle Bürger die gleichen allgemeinen Rechte und Pflichten haben müssen aufgrund allgemeiner 8

Vgl. dazu Koller 2003.

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Gesetze, die rechtliche Unterschiede nur dann vorsehen dürfen, wenn es aus unparteiischer Sicht allgemein akzeptable Gründe dafür gibt; (2) bürgerliche Freiheit, nämlich die gleiche Freiheit aller Bürger im weitestgehenden Umfang, in dem sie im Rahmen eines wohlgeordneten und zweckmäßigen Zusammenlebens für alle möglich ist, was insbesondere die Grundfreiheiten einschließt; (3) demokratische Teilhabe, also das gleiche Recht aller (mündigen) Bürger auf Teilnahme an der politischen Meinungs- und Willensbildung, wozu vor allem auch das allgemeine und gleiche Stimmrecht der Bürger betreffend die Gesetzgebung gehört; sowie (4) soziale Chancengleichheit und (5) wirtschaftliche Ausgewogenheit, die einer näheren Erläuterung bedürfen. Soziale Chancengleichheit verlangt, dass die sozialen Positionen der Gesellschaft allen Bürgern gleichermaßen offen stehen, sodass jedes Mitglied bei gleicher Eignung gleiche Aussichten hat, in begehrte Positionen zu gelangen. Das erfordert dreierlei: 1. formale Offenheit sozialer Positionen in dem Sinne, dass niemand von Rechts wegen vom Zugang zu Positionen ausgeschlossen ist; 2. faire Verfahren der Besetzung begehrter sozialer Positionen gemäß allgemein akzeptablen Eignungskriterien; sowie 3. eine hinreichende Basisausstattung aller Mitglieder mit den humanen Kapazitäten und materiellen Mitteln, die ihnen die gleichberechtigte Teilnahme am sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben ermöglichen. Während die beiden ersten Elemente im Prinzip unbestritten sind, gibt es über das dritte erhebliche Meinungsdifferenzen. Da ich hier nicht darauf eingehen kann, begnüge mich mit einer schwachen Deutung dieses Elements, die allgemein zustimmungsfähig sein müsste, jedenfalls aber mit Walzers Ansichten in Einklang steht. Sie besagt, dass jedes nachkommende Mitglied jedenfalls Anspruch auf eine gediegene Erziehung und Ausbildung, auf eine basale Existenzsicherung und auf Zugang zum gesellschaftlichen Beschäftigungssystem hat. Das Erfordernis der ökonomischen Ausgewogenheit ist noch kontroverser, weshalb ich es hier ebenfalls nur auf einen sehr allgemeinen Nenner bringen möchte. Eine Lesart, die allgemein zustimmungsfähig sein müsste, könnte so lauten: Ökonomische Ungleichheiten sind insoweit zulässig, als sie mit einer für alle Mitglieder vorteilhaften Wirtschaftsordnung verbunden sind, und zwar deswegen, weil sie erforderlich sind, um den ungleichen Beiträgen der Mitglieder zur gesellschaftlichen Wertschöpfung Rechnung zu tragen, sofern daraus alle Nutzen ziehen, weil sie unvermeidlich aus dem freien Handeln der Mitglieder im Rahmen einer sozialen Ordnung resultieren, die allen zum Vorteil gereicht, oder weil sie mit einem System der sozialen Sicherung einhergehen, das im vernünftigen Interesse aller jedem Mitglied eine hinreichende Existenzgrundlage garantiert. Diese Lesart ökonomischer Ausgewogenheit – die im Übrigen eine Begründung der von Walzer in Betracht gezogenen Verteilungskriterien (Verdienst, freier Austausch und Bedürfnis) liefert – lässt zwar viele Fragen offen, impliziert aber immerhin so viel, dass sozio-ökonomische Ungleichheiten rechtfertigungsbedürftig und nur in dem Umfang zulässig sind, in dem sie aus einer sozialen Ordnung resultieren, die

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bei unparteiischer Betrachtung allen Bürgern, einschließlich der schlechter gestellten und ärmsten, zum Vorteil gereicht.9 Die Erfordernisse der sozialen Chancengleichheit und der wirtschaftlichen Ausgewogenheit legen zusammen mit den anderen Erfordernissen einige grundlegende Anforderungen an eine gerechte Wirtschaftsordnung nahe, für deren nähere Ausgestaltung sie jedoch einen breiten Spielraum eröffnen. In jedem Fall wird eine gesellschaftliche Ordnung, die die größtmögliche gleiche Freiheit aller Bürger für eine selbstbestimmte Lebensführung und ein erfolgreiches wirtschaftliches Handeln gewährleisten soll, ein Marktsystem enthalten müssen, das es den Einzelnen soweit wie möglich freistellt, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden, welche Güter sie produzieren, tauschen und konsumieren, insoweit dieses System allen Beteiligten bei unparteiischer Betrachtung hinreichenden Nutzen verspricht. Ein solches System setzt jedoch nicht nur eine vom Staat garantierte rechtliche Rahmenordnung mit Eigentums-, Vertrags- und Haftungsregeln voraus, sondern es braucht angesichts der diversen Grenzen und Defekte des Marktes auch entsprechende Maßregeln und Einrichtungen, welche den Marktprozess in einigermaßen effiziente und gerechte Bahnen lenken und nötigenfalls korrigieren. Da alle Erfahrungen dafür sprechen, dass solche Maßregeln und Einrichtungen nicht allein auf spontane Weise durch das freie Handeln der Bürger zustande kommen, ist es Aufgabe der Staates, auf politischem Wege für ihre Bereitstellung und effektive Umsetzung Sorge zu tragen. Eine mögliche, wenn auch vielleicht nicht die beste Form einer gesellschaftlichen Ordnung, die diese Anforderungen bis zu einem gewissen Grade zu erfüllen scheint, ist die Kombination einer regulierten Marktwirtschaft mit einem Sozialstaat, wie sie gegenwärtig in den entwickelten demokratischen Gesellschaften in verschiedenen, wenn auch mehr oder minder mangelhaften Spielarten existiert. Eine derartige gesellschaftliche Ordnung braucht im Lichte der genannten Erfordernisse der sozialen Gerechtigkeit jedenfalls die folgenden Einrichtungen, die das Marktsystem ergänzen, flankieren und korrigieren: (a) ein öffentliches Bildungssystem, das allen Mitgliedern eine den Erfordernissen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens entsprechende Ausbildung garantiert; (b) eine materielle Grundsicherung, die allen Bürgern ein angemessenes Mindesteinkommen sichert, das sie gegen Ausbeutung und Not schützt; (c) ein soziales Gesundheitssystem, das allen Mitgliedern unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage ein ausreichendes Maß an medizinischer Versorgung und Pflege bietet; und schließlich (d) eine staatliche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die dafür Sorge trägt, dass möglichst alle Bürger eine ihren Fähigkeiten und Ambitionen entsprechende, angemessen entlohnte Erwerbsarbeit bekommen und dass auch der gesellschaftliche Bedarf nach nutzbringenden Leistungen hinreichend befriedigt wird. Im Folgenden soll es nur um das letzte Element (d) gehen. Für eine nähere Bestimmung der Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit an eine staatliche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ist es zuallererst notwendig, verschiedene Arten von Arbeit zu unterscheiden, die, wie Walzer sagt, „ge9

Vgl. Rawls 1971, S. 86 ff.

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sellschaftlich notwendig“ ist oder, präziser formuliert, die „im Rahmen des gesellschaftlichen Leistungsaustausches“ getan wird10, oder noch genauer: nach der im Rahmen einer effizienten und gerechten Kooperation zum Zweck der gesellschaftlichen Wertschöpfung Bedarf besteht. Ich ziehe drei Arten in Betracht: Erwerbs-, Familien- und Bürgerarbeit. Erwerbsarbeit: Das ist jede Tätigkeit, die auf den Erwerb eines zur Befriedigung des Lebensbedarfs erforderlichen Einkommens zielt, wozu sowohl unselbständige Lohnarbeit als auch selbständige (unternehmerische) Tätigkeiten gehören. Entgegen der von manchen Autoren vertretenen Ansicht, diese Arbeit sei zunehmend im Schwinden begriffen, spricht alles dafür, dass sie nach wie vor die zentrale Grundlage der materiellen Existenzsicherung, der sozialen Integration und der persönlichen Selbstbehauptung von Menschen ist und bleiben wird. Wenn das zutrifft, ist Erwerbsarbeit nicht nur eine Bürde oder Last, sondern zugleich ein bedeutendes soziales Gut, das in dem Maße, wie an ihm Knappheit besteht, nach einer Regelung verlangt, die den Erfordernissen der Chancengleichheit und der wirtschaftlichen Ausgewogenheit soweit wie möglich Rechnung trägt. Diesen Erfordernissen zufolge hat jedes Mitglied ein Recht auf Arbeit, das heißt den moralischen Anspruch auf eine Beschäftigung, die ihm eine seinen Fähigkeiten und Leistungen entsprechende, jedenfalls hinreichende materielle Existenzgrundlage verschafft, Teilhabe am sozialen Leben ermöglicht und Gelegenheit zur individuellen Selbstbewährung bietet. Daraus ergeben sich für die staatliche Arbeitsmarktund Beschäftigungspolitik zwei vordringliche Aufgaben. Die erste besteht in der gerechten Verteilung von Erwerbsarbeit, die ihrerseits zwei Maßregeln erfordert: zum einen eine aktive Beschäftigungspolitik, die auf Vollbeschäftigung oder zumindest auf ein möglichst breites Angebot von normalen, arbeits- und sozialrechtlich gesicherten Beschäftigungsmöglichkeiten zielt; und zum anderen ein lückenloses System der sozialen Sicherung arbeitsloser Menschen, da in einer Marktwirtschaft ein gewisses Maß an Arbeitslosigkeit infolge der systemischen Dynamik der Wettbewerbsmärkte unvermeidlich ist. Die zweite Aufgabe ist eine gerechte Gestaltung der Arbeitsbeziehungen, die den Erwerbstätigen, vor allem den Lohnabhängigen, angemessene Arbeitsverhältnisse, nämlich eine ausreichende Entlohnung und akzeptable Arbeitsbedingungen garantiert, wozu wiederum zweierlei nötig ist: zum einen ein System des Arbeitsschutzes, das den Erwerbstätigen anständige Einkommen und Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Urlaub, Krankenstand etc.) garantiert; sowie zum anderen ein kollektives Arbeitsrecht, das der meist erheblichen Machtasymmetrie zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern entgegenwirkt, indem es den Inhalt der individuellen Arbeitsverträge durch allgemeine Rahmenbedingungen begrenzt, die von den organisierten Vertretungen beider Seiten, wie Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, ausgehandelt werden.11

10 Krebs 2002, S. 35 ff. 11 Koller 2009.

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Familienarbeit: Darunter verstehe ich – in Anlehnung an Angelika Krebs12 – alle jene Tätigkeiten, die Menschen mehr oder minder unbezahlt zur Befriedigung dringlicher Bedürfnisse von Personen in ihrem sozialen Nahbereich, so insbesondere in Familien, im Verwandtschaftskreis, aber auch im Rahmen der Nachbarschaftshilfe, regelmäßig verrichten, wie Haushaltsarbeit, Sorge für Kinder und Hilfsbedürftige. Auch wenn diese Arbeit den Menschen, die sie tun, oft eine gewisse Befriedigung bringen mag, ist sie für sie doch überwiegend eine Bürde, mit der sie erheblich zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beitragen. Eine gerechte Regelung der Verrichtung dieser Arbeit scheint mir zweierlei zu erfordern: zum ersten eine gerechte Verteilung von Familienarbeit, die alle Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft verpflichtet, sich daran nach ihrem Leistungsvermögen in einem zumutbaren Umfang zu beteiligen; und zweitens die Bereitstellung öffentlicher Mittel, sei es in Form finanzieller Zuwendungen oder sozialer Dienstleistungen, die erforderlich und geeignet sind, die Verrichtung von gesellschaftlich nutzbringender Familienarbeit, insoweit sie den Beteiligten zumutbar ist, in einem ausreichenden Umfang zu ermöglichen (zum Beispiel durch die öffentliche Subventionierung von Hauskrankenpflege). Bürgerarbeit: Damit gemeint sind unbezahlte oder gering honorierte Tätigkeiten der Bürger zur Erfüllung wichtiger gesellschaftlicher Aufgaben. Hier sind zwei Varianten zu unterscheiden: (a) Freiwillige Bürgerarbeit, wie zum Beispiel die Mitgliedschaft in einer Freiwilligen Feuerwehr oder die nichtberufliche Mitarbeit in gemeinnützigen Vereinen. Auch wenn diese Tätigkeiten keinen materiellen Gewinn bringen, sind viele Menschen bereit, sich an ihnen zu beteiligen, sei es deswegen, weil sie sich für gemeinsame Belange verantwortlich fühlen, oder auch nur deshalb, weil sie die Geselligkeit suchen, die mit diesen Aktivitäten oft verbunden ist. Da die meisten Formen freiwilliger Bürgerarbeit aber eine gewisse, in manchen Fällen recht kostspielige materielle Grundausstattung brauchen, um ihre Leistungen im erwünschten Umfang erbringen zu können, besteht auch hier Bedarf nach einer hinreichenden Unterstützung ihrer Aktivitäten aus öffentlichen Mitteln. (b) Verpflichtende Bürgerarbeit, etwa die Pflicht zur Leistung eines verpflichtenden Wehr- oder Arbeitsdienstes oder die Pflicht zur Mitwirkung an der polizeilichen oder gerichtlichen Wahrheitsfindung. Solche Pflichten werden wohl überwiegend als Bürden betrachtet, die die Bürger aber meist als zumutbar akzeptieren, wenn sie glauben, dass ihre diesbezüglichen Tätigkeiten öffentlichen Nutzen stiften, auch wenn sie ihnen selber keinen Nutzen bringen. Infolgedessen unterliegt die Regelung verpflichtender Bürgerarbeit strengeren Erfordernissen der Gerechtigkeit, nämlich jedenfalls den zwei folgenden: Sie erfordert erstens ein gerechtes System der Rekrutierung der dienstpflichtigen Personen, wie im Fall eines verpflichtenden Wehrdienstes entweder eine mehr oder minder lückenlose allgemeine Wehrpflicht oder eine faire Zufallsauswahl der einberufenen Personen; und sie verlangt zweitens eine angemessene Entschädigung der verpflichteten Personen nach Maßgabe der Schwierigkeit ihrer Aufgaben, ihres Aufwands und in manchen Fällen auch ihres Einkommensverlusts. 12 Krebs 2002, S. 52 ff.

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Zwischen diesen Arten der Arbeit bestehen vielfältige Interdependenzen und Mischformen, von denen ich hier nur eine erwähne. Obwohl der freie Arbeitsmarkt, auf dem Erwerbsarbeit als Ware gehandelt wird, von sich aus nicht oder nur in einem unzureichend Maße imstande ist, den gesellschaftlichen Bedarf nach Tätigkeiten der Familien- und Bürgerarbeit in einem angemessenen Umfang zu befriedigen, können solche Tätigkeiten zumindest partiell in Erwerbsarbeit transformiert werden, indem die öffentlichen Hände entsprechende Mittel für ihre Entlohnung bereitstellt. Das gilt insbesondere auch für jene Tätigkeiten, die Walzer als „harte Arbeit“ qualifiziert. Da solche Tätigkeiten jedoch grundsätzlich in jeder der genannten Arten von Arbeit vorkommen können, sind sie jeweils entsprechend den Gerechtigkeitserfordernissen der Art von Arbeit zu behandeln, zu der sie gehören. Wie ich mir das vorstelle, kann ich abschließend nur mehr in aller Kürze andeuten. Erwerbsarbeit: Der freie Arbeitsmarkt ist, wie Walzer zu Recht betont, nur bedingt geeignet, harte Arbeit auf gerechte Weise zu verteilen, weil er unter fairen Marktbedingungen den Bedarf nach der Verrichtung solcher Arbeit wegen ihres öffentlichen oder meritorischen Charakters nur dann zu befriedigen vermag, wenn die öffentliche Hand die Tätigkeiten in Auftrag gibt und finanziert, oder weil er unter – den gewöhnlich bestehenden – unfairen Bedingungen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zur Folge hat. Daher obliegt es in jedem Fall der Gesellschaft bzw. dem Staat, durch eine geeignete Regulierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsverhältnisse einigermaßen akzeptable Arbeitsbedingungen sicherzustellen und dafür Sorge zu tragen, dass die Arbeitenden entsprechend ihren Mühen und Risiken entlohnt werden. Familienarbeit: Die reale Praxis der Verrichtung unangenehmer oder anstrengender Familienarbeit ist derzeit fast überall in hohem Maße ungerecht, aber auch ineffizient, weil sie nicht nur die faktischen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern reproduziert (wie etwa im Fall der Haushaltsarbeit und der Obsorge für Kinder), sondern auch den realen gesellschaftlichen Bedarf nach solchen Tätigkeiten nicht zureichend befriedigt (so zum Beispiel den Pflegebedarf kranker alter Menschen mit kleinen Renten). Hier muss ebenfalls die staatliche Politik tätig werden, indem sie zum einen geeignete Verhaltensanreize schafft, die eine gerechtere Verteilung von anstrengenden Tätigkeiten der Familienarbeit herbeiführen, und zum anderen hinreichende Mittel zur Unterstützung oder Förderung solcher Tätigkeiten bereitstellt, um den nach ihnen tatsächlich bestehenden Bedarf in hinreichendem Umfang zu decken. Bürgerarbeit: Dass gesellschaftlich nutzbringende Tätigkeiten, die gefährlich, schmutzig oder anstrengend sind, nicht in einem ausreichenden Umfang durch unbezahlte oder gering honorierte Bürgerarbeit auf freiwilliger Basis verrichtet werden können, leuchtet unmittelbar ein. Infolgedessen muss wiederum der Staat für eine gerechte Verteilung der Vorteile und Lasten solcher Tätigkeiten, aber auch für gerechte Bedingungen ihrer Verrichtung Sorge tragen, indem er entweder die Bürger zur Leistung solcher Tätigkeiten verpflichtet, was ein faires Rekrutierungsverfahren und eine angemessene Entschädigung der herangezogenen Personen erfordert, oder aber die betreffenden Tätigkeiten durch berufliche Erwerbsar-

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beit verrichten lässt, wofür er den damit beauftragten Personen sowohl angemessene Arbeitsbedingungen als auch eine den Gefahren und Mühen ihrer Tätigkeit entsprechende Entlohnung bieten muss. Welche dieser Optionen Vorzug verdient, ist meines Erachtens nicht primär eine Frage der Gerechtigkeit, sondern eine der sozialen Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit.

LITERATUR Barry, Brian, 1995: Spherical Justice and Global Injustice. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.), Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 67–80. Koller, Peter, 2003: Soziale Gerechtigkeit – Begriff und Begründung. In: Erwägen Wissen Ethik 14, S. 237–250. Koller, Peter, 2008: Markt, Tauschgerechtigkeit und Macht. In: Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 7: Macht in der Ökonomie. Marburg, S. 215–240. Koller, Peter, 2009: Work and Social Justice. In: Analyse & Kritik 31, H. 1, S. 5–24. Krebs, Angelika, 2002: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Rawls, John, 1975: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. von Hermann Vetter. Frankfurt am Main. Stiglitz, Joseph E., 1999: Volkswirtschaftslehre. München / Wien. Sturn, Richard, 2013: Grenzen der Konsumentensouveränität und die Perspektiven der Meritorik. In: Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Jahrbuch 12: Grenzen der Konsumentensouveränität. Marburg, S. 15–39. Vobruba, Georg, 2000: Alternativen zur Vollbeschäftigung. Die Transformation von Arbeit und Einkommen. Frankfurt am Main. Walzer, Michael, 1990: Drei Wege in der Moralphilosophie. In: Ders.: Kritik und Gemeinsinn. Berlin, S. 9– 42.

FREIZEIT Ulrich Steinvorth

1. FORMEN DER FREIEN ZEIT Das Kapitel Freizeit, obgleich eines der kürzesten, gehört zu den originellsten Kapiteln in Walzers Sphären der Gerechtigkeit. Es ist schon deshalb originell, weil Freizeit nicht als philosophisches Thema gilt. Muße wurde von Humanisten und Aristokraten hoch geschätzt, aber in der Moderne, die Muße als Laster sah, verschmähten auch die Philosophen sie als Thema. Selbst nach Ausdehnung der Freizeit im 20. Jahrhundert nahmen sich nur wenige Philosophen ihrer an; unter ihnen Bertrand Russell, den ich wiederholt zitieren werde,1 und Josef Pieper, der die Muße als bessere Alternative der Arbeit entgegen stellte.2 Walzers Erörterung hat das Verdienst, Freizeit nicht nur als knappes und daher gerecht und ungerecht verteilbares Gut zu untersuchen, sondern auch Formen zu unterscheiden, wie Freizeit konzipiert und institutionalisiert wurde. Trotz dieses Verdienstes scheint mir Walzers Erörterung der Freizeit in einem wichtigen Punkt unzulänglich, in der Frage, wie wir, oder die Gesellschaft oder die für sie Verantwortlichen, die verfügbare Gesamtzeit gerecht in Arbeits- und Freizeit aufteilen. Die Frage gehört offensichtlich zur Gerechtigkeitstheorie; warum also behandelt Walzer sie nicht? Vielleicht weil er die Frage mit einer andern verbindet, die in der Tat ähnlich, aber doch nicht dieselbe ist, mit der Frage, ob wir überhaupt zwischen Freizeit und Arbeit unterscheiden sollten. Diese Frage warf Marx auf mit der These, in der Gesellschaft der Zukunft seien wir zugleich zwangfrei und produktiv tätig. Zu dieser These erklärt Walzer: So glorreich diese Vision ist, sie gehört nicht zur Gerechtigkeitstheorie. Wenn sie je wirklich wird, ist die Gerechtigkeit kein Problem mehr. Uns geht es um die Verteilung der Freizeit vor dem Umbruch, dem Ausbruch, der Transzendenz – hier und jetzt, wenn der Rhythmus von Arbeit und Arbeitsruhe noch fürs menschliche Wohlbefinden entscheidend ist und ohne Unterbrechung ihrer gewöhnlichen Beschäftigung zumindest manche überhaupt kein Gattungsleben haben. (SJ 187, Übers. von U. St.).3

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Mit seinem Aufsatz Russell 1932. Pieper 1948. Ich gehe nicht darauf ein, dass Soziologen eine Soziologie der Freizeit entwickelten. Vgl. Opaschowski 1997. Im Original schreibt Walzer: „this vision, glorious as it is, is not a proper subject for the theory of justice. If it is ever realized, justice will no longer be problematic. Our concern is with the distribution of free time in the age before the transformation, escape, and transcendence have taken place – that is, here and now, when the rhythm of work and rest is still crucial to human well-being, and when some people, at least, will have no species-life at all if they have no break from their usual occupations.“ (SJ 187).

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Gewiss sind Fragen zur Freizeitverteilung überflüssig, wenn es keinen Unterschied zwischen Arbeit und Arbeitsruhe mehr gibt. Aber wenn wir schon heute gesellschaftliche Verhältnisse haben, die unterschiedliche Verteilungen von Arbeits- und Freizeit erlauben, dann gehört zur Gerechtigkeit der Freizeitverteilung auch die Frage, wie wir die gesellschaftliche Gesamtzeit in Muße und Arbeit gerecht aufteilen sollten. Dass wir aber solche gesellschaftliche Verhältnisse schon seit einem Jahrhundert haben, ist nur schwer zu bezweifeln. Bevor ich auf diesen Punkt eingehe, sollten wir fragen, warum Walzer überhaupt Freizeit in seiner Gerechtigkeitstheorie erörtert. Er tut es, weil sie ein soziales Gut ist; alle Güter, von denen die Verteilungsgerechtigkeit handelt, seien sozial (SJ 7). Diese Annahme unterstellt einen sehr weiten Begriff des sozialen Guts. Die Verteilungsgerechtigkeit handelt auch von Gütern und Werten, die ein Individuum allein und nur mit eigenen Ressourcen produziert und daher Gegenstand eines individuellen oder privaten Besitzanspruchs werden können. Auch wenn private Besitzansprüche nicht legitim sein sollten, müssen wir ihrer Möglichkeit Rechnung tragen. Daher sollten wir das Prädikat sozial in einem engen Sinn gebrauchen. Im engen Sinn sind Güter sozial, nur wenn sie in einer Interaktion entstehen, bei der individuelle Leistung keine Rolle spielt und individuelle Besitzansprüche nicht greifen. Wenn wir den Begriff des sozialen Guts im vorgeschlagenen engen Sinn gebrauchen, können wir einerseits Rawls’ These verständlich machen, nach der „social values“ gleich verteilt sein müssen (es sei denn, ihre Ungleichverteilung nütze jedem);4 anderseits auch Nozicks Kritik an dieser Rawlsschen These verstehen. 5 Denn Nozick besteht darauf, nicht alle verteilbaren Güter seien sozial im engen Sinn und daher individuelle Besitzansprüche auf nicht-soziale Güter berechtigt. Trotz seines weiten Begriffs des sozialen Guts unterscheidet Walzer faktisch zwischen sozialen Gütern im engen und sozialen Gütern im weiten Sinn. Zu den Ersteren gehört vor allem „membership“, die Möglichkeit, einer Gesellschaft und bestimmten organisierten Formen der Gesellschaft wie einem Staat anzugehören; zu den Letzteren Waren. Ein soziales Gut im engen Sinn ist aber auch die Freizeit, und das macht Walzers Freizeitkapitel besonders interessant. Ich beginne mit einem Überblick über Walzers Aussagen zur Freizeit. Trotz seines erklärten Ziels, die gegenwärtige Verteilung freier Zeit zu erörtern, liegt sein Augenmerk auf Konzeptionen und Institutionalisierungen freier Zeit. Er unterscheidet zwei Formen von Freizeit: die Ferien, die Ruhe von Arbeit, vacation, (SJ 190), und den Feiertag, den public holiday (SJ 192). Die Ferien sind ein Kind der Moderne und Bourgeoisie, begonnen als Nachahmung des Urlaubs,

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Rawls 1972, S. 62: „a more general conception of justice […] can be expressed as follows: All social values – liberty and opportunity, income and wealth, and the bases of self-respect – are to be distributed equally unless an unequal distribution of any, or all, of these values is to everyone’s advantage. Injustice, then, are simply inequalities that are not to the benefit of all.“ Nozick 1974.

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den der Aristokrat vom fürstlichen Hof nahm und auf seinem Landsitz oder Herrenhof verbrachte, um seine feudalen Einkünfte zu sichern. Anders als der Urlaub des Aristokraten vom Hof sind die Ferien eine Flucht von erholungsbedürftiger Arbeit und teilen mit dem aristokratischen Urlaub nur den Ortswechsel. In dieser Eigenschaft wurde ihre Institutionalisierung und Kommerzialisierung durch das Aufkommen des Automobils begünstigt. Im Übrigen gehören die Ferien zur bürgerlichen, mehr oder weniger marktorientierten Gesellschaft. Sie sind eine Ware, aber auch ein Gut, auf das Bürger in Sozialstaaten einen Rechtsanspruch haben. Sie sind für Geld zu kaufen, den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unterworfen, ein knappes Gut, dessen Länge und Rhythmus von Privilegierten individuell und von Lohnabhängigen kollektiv bestimmt wird, mit gewerkschaftlichem Druck und in staatlichen Regelungen. Worin besteht die Gerechtigkeit der Verteilung der Ferien? Obgleich eine Ware, darf ihre Verteilung nicht durch Reichtum oder Macht „radically dominated“ werden. Man muss auch ein breites Spektrum für die Wahl und die individuelle Planung der Ferien sicherstellen, etwa durch „the preservation of wildlife and wilderness“, ohne die es einige als wertvoll anerkannte Ferienarten nicht gäbe, und durch die Verwendung von Steuergeldern für Parks, Strände, Zeltplätze „and so on“ (SJ 192). Dass solche Eingriffe in eine marktorientierte Gesellschaft möglich und moralisch notwendig sind, gehört natürlich zu den Axiomen von Walzers Ansatz, die ich hier nicht infrage stelle. Die zweite von Walzer behandelte Form der Freizeit, der Feiertag, der holy day im Sinn eines geheiligten Tags, ist historisch die erste Form, die es vor der Moderne allein gab. Der Feiertag verhält sich zu den Ferien wie „public health to individual treatment or mass transit to the private car“ (SJ 192). Am besten erhalten, wenn auch von der heute überwiegenden Form der Freizeit affiziert, ist der Feiertag als jüdischer Sabbat und christlicher Sonntag. Er verlangt Zwang zu seiner Durchsetzung, ist mit liberalen Ideen schwer verträglich, aber aus diesem Grund anders als der Urlaub nicht zu kaufen. Er ist ein gesetzlich geschaffenes egalitäres Gut, „enjoined for everyone, enjoyed by everyone“ („für jeden ein Zwang und doch eine Freude“), dessen Erzwingbarkeit als „communal provision“ („gemeinschaftliche Versorgung“) gerechtfertigt ist (SJ 193). Man kann im Zwang, ohne den es den Egalitarismus des Sabbats nicht gäbe, zwar eine Beschneidung der Freiheit durch die Gleichheit sehen. Tatsächlich aber wird der Sabbat in der jüdischen Literatur, der weltlichen wie der religiösen, als begehrtes Gut beschrieben. Walzer unterstellt in seinen Aussagen zum Feiertag ein allgemein menschliches Verlangen nach einer Betätigung, um mehr als ein Arbeitswesen zu sein. Walzers Voraussetzung wird in seinen Ausführungen zum antiken Rom deutlich (und plausibel), das Tage ohne religiöse Feiern oder öffentliche Spiele dies vacantes, leere Tage, nannte, die Feiertage dagegen für voll ansah, für gefüllt mit zeremoniellen und rituellen Pflichten, die man offenbar nicht als leer empfand (SJ 195). Der Feiertag folgt nicht nur einer andern Logik als die Ferien; jeder Feiertag hat vielmehr seine besondere Sublogik, erkennbar an seiner Geschichte, seinen Ritualen und den verschiedenen Zielen, denen sie dienen. Die Ferien dagegen

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folgen nur einer Logik (SJ 196). Sie folgen, wie wir Walzer wohl ergänzen können, der Logik des Ziels, nach einer und für eine anstrengende, erholungsbedürftige Arbeit unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Erholung zu finden. Die antike positive Wertung des Feiertags kontrastiert mit der modernen, in der Sonntage leer und Wochentage gefüllt sind. Walzer lässt keinen Zweifel, dass er die antike Wertung für die richtige hält. Er verweist darauf, dass wir uns die Ewigkeit als einen endlosen Sabbat, aber nicht als endlose Ferien vorstellen können, denn die setzen zu ihrer Existenz Arbeit voraus, von der man in die Ferien flieht. Diese Wertung impliziert eine Abwertung der positiven Einstellung zur Arbeit, die sich im vorherrschenden Gefühl zeigt, dass Wochentage gefüllt und Sonntage leer sind. Dieser Wertung entspricht Walzers Interesse an der Frage, wie der Feiertag mit neuem Leben erfüllt werden kann. Dagegen ist sein Interesse gering, den angemessenen sozialen Rahmen für die Ferien zu beschreiben. Ein Mix von Feiertagen und Ferien sei möglich, erklärt Walzer, auch wenn er unstabil sein werde. Grundsätzlich könne eine Gerechtigkeitstheorie jedoch keine konkreten Regeln für den Mix und die Freizeitgestaltung vorschreiben. Auch wenn die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 ein „Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmäßigen bezahlten Urlaub“ (Art. 24) behauptet,6 hält Walzer nicht nur eine gerechte oder moralisch notwendige Struktur der freien Zeit für möglich. Moralisch notwendig sei nur, die Struktur nicht durch die Anmaßungen des Kapitals zu verzerren, oder durch ein Versagen der „gemeinschaftlichen Versorgung, oder durch „the exclusion of slaves, aliens, and pariahs“, durch einen Ausschluss, wie wir wohl übersetzen sollten, der Individuen oder Gruppen zu Sklaven, Fremden oder Pariahs macht. (SJ 196) Mit der Mahnung, von einer Gerechtigkeitstheorie nicht zu viele Aussagen zur Freizeit zu erwarten, schließt Walzer sein Kapitel über die Sphäre der Freizeit. Mit diesem Schluss wird Walzer seiner Unterscheidung von Ferien und Feiertag und seiner positiven Bewertung des Feiertags und dessen gesetzlich erzwungenem Egalitarismus nicht gerecht. Seine Unterscheidung legt ihn auf das Recht einer Gesellschaft fest, Feiertage mit Zwang durchzusetzen. Das widerspricht der traditionellen liberalen Rechtsidee, nach der Zwang nur zur Verhinderung von Zwang gebraucht werden darf. Wenn Walzers Gerechtigkeitstheorie eine so wichtige Aussage zur Gerechtigkeit in der Behandlung der Freizeit macht, kann man vielleicht noch mehr wichtige Aussagen zur Freizeit von ihr erwarten.

2. FRAGEN ZUR FREIZEIT AN DIE POLITISCHE PHILOSOPHIE Ich komme zur Kritik. Es ist ein Fehler, sagte ich, nicht zu fragen, wie die gesellschaftlich verfügbare Gesamtzeit gerecht in Arbeit und Freizeit aufzuteilen ist. Diese Frage, sagte ich weiter, ist seit einem Jahrhundert aktuell. Wir müssen nicht 6

Walzer nennt den International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights von 1966 irrtümlich als Quelle.

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mehr so viel arbeiten, wie wir es tun. Diese These legt mich auf empirische ökonomische Annahmen fest, vor denen manche Philosophen zurückschrecken. Aber diese Annahmen sind durch eindeutige Fakten gedeckt. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hat seit der industriellen Revolution durch den Gebrauch von Maschinerie in der Produktion ständig ab- und die potenziell freie Zeit entsprechend zugenommen. Auf diesen Punkt verwiesen Keynes und Russell. Als Ökonom mag Keynes eine größere Autorität sein, auf die ich mich hier berufen könnte7, aber ich zitiere lieber aus Russells In Praise of Idleness von 1932, weil sein Argument besonders eindringlich ist: Die moderne Technik erlaubt die zur Sicherung des für jeden Lebensnotwendigen erforderliche Arbeitszeit enorm zu verkürzen. Der Krieg hat das offensichtlich gemacht. Alle Männer im Militär, alle Männer und Frauen in der Waffenproduktion, alle Männer und Frauen in der Spionage, der Kriegspropaganda, in für den Krieg eingerichteten Behörden, fehlten in den produktiven Berufen, und doch war der Lebensstandard der ungelernten Lohnarbeiter bei den Alliierten höher als vorher und nachher. Nur das Finanzwesen verbarg die Bedeutung diese Tatsache; Kreditaufnahmen ließen die Zukunft als Unterhalter der Gegenwart erscheinen. Doch das ist natürlich unmöglich; man kann kein Brot essen, das es noch nicht gibt. Der Krieg bewies, dass man bei wissenschaftlicher Produktionsorganisation allen mit einem kleinen Teil der heutigen Produktionskapazität einen komfortablen Lebensstandard sichern kann. Hätte man bei Kriegsende die wissenschaftliche Produktionsorganisation beibehalten, die man zur Freisetzung von Menschen für den Krieg und die Waffenproduktion geschaffen hatte, und die Wochenarbeitszeit auf vier Stunden gekürzt, wäre alles gut gelaufen. Stattdessen kehrte man zum alten Chaos zurück; wer zur Produktion gebraucht wurde, musste viele Stunden arbeiten; der Rest wurde arbeitslos und mußte hungern.8

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Keynes 1930, sec.1, S. 3. Obgleich vorsichtig in seinen Voraussagen („the standard of life in progressive countries one hundred years hence will be between four and eight times as high as it is to-day“), ist Keynes eindeutig in der Beschreibung der Gegenwart: „technical improvements in manufacture and transport have been proceeding at a greater rate in the last ten years than ever before in history. In the United States factory output per head was 40 per cent greater in 1925 than in 1919. In Europe we are held back by temporary obstacles, but even so it is safe to say that technical efficiency is increasing by more than 1 per cent per annum compound. There is evidence that the revolutionary technical changes, which have so far chiefly affected industry, may soon be attacking agriculture. We may be on the eve of improvements in the efficiency of food production as great as those which have already taken place in mining, manufacture, and transport. In quite a few years – in our own lifetimes I mean – we may be able to perform all the operations of agriculture, mining, and manufacture with a quarter of the human effort to which we have been accustomed.“ Zusammenfassend: „We are being afflicted with a new disease of which some readers may not yet have heard the name, but of which they will hear a great deal in the years to come--namely, technological unemployment. This means unemployment due to our discovery of means of economising the use of labour outrunning the pace at which we can find new uses for labour.“ Russell 1932, S. 3 f.; Übers. U. St. („Modern technique has made it possible to diminish enormously the amount of labor required to secure the necessaries of life for everyone. This was made obvious during the war. At that time all the men in the armed forces, and all the men and women engaged in the production of munitions, all the men and women engaged in spying, war propaganda, or Government offices connected with the war, were withdrawn from productive occupations. In spite of this, the general level of well-being among unskilled wage-earners on the side of the Allies was higher than before or since. The significance of

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Seit den 1930er Jahren ist der Anteil der Bevölkerung, der von technikbedingter Arbeitslosigkeit bedroht ist, dramatisch gestiegen. Seit Beginn der industriellen Revolution gehört die Drohung, durch Maschinen ersetzt zu werden, zum Leben der meisten Arbeiter. Seit dem Gebrauch von Computern in der Produktion bedroht Arbeitslosigkeit auch Angestellte und Manager. Viele Berechnungen, für die früher Fachleute unentbehrlich schienen, von denen Ingenieure, Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, lebten, erledigen Softwareprogramme. Der Einzelhandel schrumpft zur Bedeutungslosigkeit durch Selbstbedienung in Warenlagern mit Bankkartenbezahlung ohne Kassierer und durch online-Käufe. Der Unterricht durch normale Lehrer und Professoren wird zunehmend durch online-Kurse der Koryphäen eines Fachs ersetzt, durch MOOCs, die massive open online courses. Die Konzentration auf Koryphäen hat in Kunst und Literatur schon längst und wenig bemerkt dazu geführt, dass nur die Werke einiger weniger großer Namen überall auf der Welt gelesen, gehört und gesehen werden.9 Der Rest wird zu Amateuren degradiert. Es ist daher wahrscheinlich, dass in der gesellschaftlichen Reproduktion bald alle mechanisier- und mathematisierbaren Tätigkeiten von Maschinen und Computern übernommen und alle kreativen Tätigkeiten durch einige wenige mehr oder weniger zufällig als Koryphäen anerkannte Individuen ausgeübt werden. Was als Arbeitsmöglichkeit übrig bleibt, sind nicht mechanisierbare Pflegeberufe. Sie sind weit entfernt, überflüssig zu sein. Es besteht ein Mangel an ihnen, weil sie nicht profitabel genug sind. Durch Arbeitsbeschaffungsprogramme lässt sich ihr Mangel ebenso wenig aufheben wie die technikbedingte Arbeitslosigkeit. Nach Meinung heutiger Experten werden in der Wirtschaft in unmittelbarer Zukunft nur noch 20 Prozent der jetzigen Arbeitskräfte gebraucht.10 Das würde eine Schrumpfung der jetzigen Arbeitszeit auf durchschnittlich ein Fünftel oder auf einen Arbeitstag in der Woche bedeuten. Die Freizeit könnte dann nicht mehr die Form der vacations haben, da diese eine Arbeit voraussetzen, von der man in die Ferien flieht. Walzer hat offensichtlich recht anzunehmen, dass die meiste Erwerbsarbeit, die heute getan wird, noch unangenehm genug ist, von ihr fliehen zu wollen. Aber ein Grund dafür ist, dass Erwerbsarbeit zunehmend als sinnlos und als ökonomisch überflüssig empfunden wird und oft genug sinnlos und ökonomisch überflüssig ist. Wenn Zwang ausgeübt wird, überflüssige und sinnlose Ar-

this fact was concealed by finance: borrowing made it appear as if the future was nourishing the present. But that, of course, would have been impossible; a man cannot eat a loaf of bread that does not yet exist. The war showed conclusively that, by the scientific organization of production, it is possible to keep modern populations in fair comfort on a small part of the working capacity of the modern world. If, at the end of the war, the scientific organization, which had been created in order to liberate men for fighting and munition work, had been preserved, and the hours of the week had been cut down to four, all would have been well. Instead of that the old chaos was restored, those whose work was demanded were made to work long hours, and the rest were left to starve as unemployed.“) 9 Darauf hat wiederholt Tim Parks in Beiträgen zur New York Review of Books hingewiesen. 10 Martin / Schumann 1997, S. 1– 4.

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beit zu verrichten, dann ist das ein Unrecht, das eine Gerechtigkeitstheorie erörtern muss. Trotzdem gilt Arbeitslosigkeit noch immer als Problem, das durch Anreize zu Investition in arbeitsplatzschaffende Branchen behoben werden kann. Die ökonomische Orthodoxie zur Arbeitslosigkeit ist, dass neue Produktionstechniken, die Arbeitslosigkeit schaffen, auch neue Arbeitsplätze nach sich ziehen. Die Kutscher und Wäscherinnen, die der Eisenbahn und der Waschmaschine weichen, werden Schaffner und Waschmaschinenverkäuferinnen. Die Computer, die Heerscharen von Angestellten vor allem aus dem Dienstleistungssektor Banken und Versicherungen überflüssig machen, einst der Produktionsbereich, der die Arbeitslosen aus Landwirtschaft und Industrie auffangen sollte, schaffen neue Arbeitsplätze, wenn wir nur kreativ genug sind. Kapital ist genug da, wir müssen es nur richtig investieren. Aber Investitionen sind langfristig nur profitabel, wenn sie Arbeitsplätze durch Maschinen ersetzen. Für den Unternehmer gilt die Devise „automate or die“.11 Nur so kann er hoffen, den Wert seiner Investition zurückzuerhalten. Solange Investitionen unter der Bedingung stehen, dass ihr Wert an den Investor zurückfließt, zudem mit einem Profit, führen Arbeitsbeschaffungsprogramme nur zu weiterer Mechanisierung der Produktion und mit ihr zu weiterer Arbeitslosigkeit. Keynes nannte diese Entwicklung „technological unemployment“.12 In jedem Fall ist die Frage, die keine Erörterung von Freizeit außer Acht lassen sollte, die: warum sollen wir an mehr Arbeit und an Arbeitsbeschaffungsprogrammen interessiert sein? Warum nicht lieber weniger arbeiten und Muße genießen, dabei vielleicht sogar unsere Kreativität entwickeln und denselben zwangfreien produktiven Tätigkeiten frönen, die Marx pries und an die schon Aristoteles dachte? 13 Um nochmals Russell zu zitieren: „Die moderne Technik hat es möglich gemacht, Muße aus einem Vorrecht kleiner privilegierter Klassen in ein gleich verteiltes Recht zu verwandeln. Die Wertschätzung der Arbeit ist eine Sklavenmoral, die die moderne Welt nicht braucht.“14 Wenn wir Freizeit unter dem Aspekt der Gerechtigkeit untersuchen, geht es nicht darum, ob wir Freizeit der Arbeit vorziehen, sondern wie wir gerechterweise über die Zeit verfügen, die eine Gesellschaft zu mehr Arbeit ebenso wie zu mehr Freizeit verwenden könnte. Eine Gesellschaft kann heute mehr oder weniger von der verfügbaren Zeit für Arbeit oder für Muße nutzen. Wie Russell am Beispiel der Sowjetunion klar machte, deren Fixierung auf die westliche Arbeitsmoral er beklagte: „Es wäre vernünftig, sobald allen das Lebensnotwendige und Grundgüter gesichert werden kann, die Arbeitszeit schrittweise zu senken und bei jedem 11 Ramtin 1991, S. 103. 12 Siehe oben die längere Fußnote zu Keynes. 13 Aristoteles, Politik I, 1253 b 34 –1254 a 1 streift die Überlegung, wie eine Gesellschaft mit automatischer Produktion aussieht. 14 Russell 1932, S. 3, Übers. U. St. („Modern technique has made it possible for leisure, within limits, to be not the prerogative of small privileged classes, but a right evenly distributed throughout the community. The morality of work is the morality of slaves, and the modern world has no need of slavery.“)

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Schritt die Bevölkerung entscheiden zu lassen, ob sie mehr Freizeit oder mehr Güter vorzieht.“15 Unterscheiden wir drei Fragen zur Freizeit, die alle zur politischen Philosophie gehören: 1. Wer entscheidet wie über die gesellschaftlich verfügbare Zeit? 2. Sollte eine Gesellschaft ihre Produktion automatisieren, um ihren Mitgliedern so wenig Arbeitszwang aufzuerlegen wie möglich? 3. Kann man heute produktive Arbeit ohne Arbeitszwang und wie eine Freizeittätigkeit ausüben?

3. WIE WALZER DIE FRAGEN BEANTWORTEN KÖNNTE Walzer hat keine dieser Fragen thematisiert, aber genug gesagt, um ihm einige Antworten als unmöglich und andere als möglich oder sogar als wahrscheinlich zuzuschreiben. Er versteht den public holiday als communal provision, als Aufgabe der Gesellschaft, die erzwingbar und unteilbar ist, „enjoined for everyone, enjoyed by everyone.“ Er setzt das Recht der Gesellschaft voraus, über die Art der Aufteilung zwischen Arbeitszeit und Freizeit zu entscheiden und die Aufteilung nicht dem Markt zu überlassen. Solches Recht schließt das Recht ein zu entscheiden, wie weit eine Gesellschaft ihre Produktion automatisiert und den Arbeitszwang aufhebt. Da der public holiday zugleich produktiv und eine Freizeittätigkeit sein kann, sollte Walzer es nicht für unmöglich halten, produktive Arbeit wie eine Freizeittätigkeit auszuüben. Er scheint daher auf alle drei Fragen antworten zu können.

Wer entscheidet wie über die gesellschaftlich verfügbare Zeit? Wäre Russells Vorschlag einer demokratischen Abstimmung der Bürger in Walzers Sinn? Er wäre sicher eher in Walzers Sinn als der Vorschlag der Experten, die einen Rückgang der Arbeitskräfte auf 20% voraussagten. Sie schlugen vor, die Arbeitslosen mit tittytainment zu unterhalten, und setzten kommentarlos voraus, dass der Markt darüber entscheidet, wer arbeitslos wird und wer nicht.16 Walzer würde sicher nicht dem Inhalt dieses Vorschlags folgen wollen, aber wäre er bereit, die Entscheidungen darüber, wer arbeitslos wird, dem Markt zu überlassen? Vermutlich widerspräche das seinem Verständnis von Gleichheit und Freiheit.

15 Russell 1932, S. 6. Übers. U. St. („the rational solution would be, as soon as the necessaries and elementary comforts can be provided for all, to reduce the hours of labor gradually, allowing a popular vote to decide, at each stage, whether more leisure or more goods were to be preferred.“) 16 Zbigniew Brzeziński, früherer US National Security Advisor, initiierte den Vorschlag. Vgl. Martin / Schumann 1997, S. 10, 12 f.

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Gleichheit verlangt, dass jeder mit gleicher Stimme über die sozialen Rahmenbedingungen entscheiden kann, von denen abhängt, ob jemand arbeitslos werden kann, wieviele Menschen arbeitslos werden können, und unter welchen Bedingungen sie arbeitslos sind. Eine Mehrheit könnte es legitimieren, dass der Markt entscheidet, wer unter welchen Bedingungen arbeitslos wird, aber es ist unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit dem Markt so viel Macht ließe. Den Markt auch darüber entscheiden zu lassen, was mit Arbeitslosen geschieht, kann zudem nur heißen, jede Verantwortung der Nicht-Arbeitslosen für die Arbeitslosen zu leugnen. Denn zwischen Markt und Arbeitslosen gibt es keine Wechselwirkung mehr, weil den Arbeitslosen das Geld fehlt, um auf den Markt einzuwirken. Freiheit verlangt, dass die tatsächlich und die potenziell Arbeitslosen – heute nahezu jeder – ein Recht haben, selbst über ihre freie oder potenziell freie Zeit zu verfügen. Wir können nicht ausschließen, dass viele ihre freie Zeit mit tittitainment füllen wollen, aber es ist unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit es nach Abwägung von Alternativen tut. Zu den Alternativen würde eine Beschäftigung mit frei gewählten Tätigkeiten gehören, die den Anlagen und Interessen der Individuen entsprechen. Da die meisten Menschen Aktivität und Kreativität dem passiven Konsumieren vorziehen, wenn sie nur die Gelegenheit dazu finden, ist eine demokratische Legitimierung des tittytainment unwahrscheinlich. Wenn allerdings die Bürger heute demokratisch zu entscheiden hätten, ob sie Freizeit der Arbeit vorziehen oder umgekehrt, würden die meisten die Arbeit vorziehen, weil sie ohne Arbeit auch ohne Geld wären. Russells Vorschlag war nicht zufällig für die Sowjetunion gemeint, da er für sie voraussetzte, dass die Bürger auch beim Vorziehen der Freizeit genug Geld zu einem vielleicht bescheidenen, aber menschenwürdigen Leben hätten. Walzer würde daher Russells Vorschlag sicher nicht auf die heute im Westen gegebenen Verhältnisse übertragen wollen. Können wir erwarten, dass Walzer seiner Vorliebe für den öffentlichen Feiertag folgt und mit dem Argument, der öffentliche Feiertag sei eine communal provision, erzwingbar und unteilbar, fordert, zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit öffentliche Feiertage einzurichten, jedenfalls wenn dafür eine Mehrheit zu gewinnen ist? Auch das ist unwahrscheinlich. Abgesehen davon, dass viele unter den verbleibenden Berufstätigen ihre Arbeit genießen und die große Menge an Feiertagen, die zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit notwendig wären, ablehnen würden, hätte er Schwierigkeiten, den Feiertagen einen Sinn zu geben, dem eine Mehrheit zustimmen könnte. Walzers Beispiele für eine Feiertaggestaltung, der jüdische Sabbat und der christliche Sonntag, können wegen ihrer religiösen Voraussetzungen kein Modell für die Nutzung der angewachsenen Freizeit sein. Auch Roms öffentliche Spiele, auf die Walzer als ein Möglichkeit der öffentlichen Freizeitvorsorge verweist, kommen nicht in Frage, obgleich sie in Fernsehen, Film, Videos und Sportveranstaltungen wirksame Nachfolger gefunden haben. Wenn sie nicht die Idee der Freiheit oder Gleichheit verletzen, so doch die Idee der Autonomie oder Selbstbestimmung, die passives Konsumieren verbietet. Würden sie dagegen von den Konsumenten selbst organisiert, könnten die heutigen Unterhaltungsmedien zu einem wichtigen Faktor in der Gestaltung einer überreich gewordenen freien Zeit werden.

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Wie also sollte nach Walzer über die gesellschaftlich verfügbare Zeit entschieden werden? Vermutlich mit einer Mehrheit, aber unter Bedingungen, die jedem auch bei Arbeitslosigkeit erlauben, zwar kein üppiges, aber doch ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Sollte eine Gesellschaft ihre Produktion automatisieren, um ihren Mitgliedern so wenig Arbeitszwang aufzuerlegen wie möglich? Auch wenn Walzer auf diese Frage nicht eingeht, können wir nicht aus seiner Sympathie für den öffentlichen Feiertag eine positive Antwort ableiten? Ist es nicht auch wahrscheinlich, dass die Befreiung von Arbeitszwang die Zustimmung der Mehrheit findet und demokratisch legitimierbar ist? Würde er nicht auch Russells These zustimmen, „daß viel Unglück in der modernen Welt vom Glauben an die Tugend der Arbeit herrührt und der Weg zu Glück und Wohlstand über eine gut geplante Arbeitszeitverkürzung führt.“17 Oder würde Walzer zu bedenken geben, dass bei Abschaffung des Arbeitszwangs zu viele Menschen nicht mehr wüssten, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollten? Aber dann würde er einer Einstellung folgen, die Russell wie folgt verspottete: „Ich war noch ein Kind, als kurz nachdem die städtischen Arbeiter das Wahlrecht errungen hatten, einige Feiertage gesetzlich eingeführt wurden. Ich erinnere, wie eine alte Herzogin sagte: ‚Was brauchen die Armen Feiertage? Sie haben zu arbeiten.‘ Heute ist man weniger offen, aber die Einstellung lebt fort und ist die Quelle von viel Konfusion in der Ökonomie.“18 Ich schließe daher, dass Walzer tatsächlich eindeutig impliziert, dass eine Gesellschaft ihre Produktion so weit wie möglich automatisieren sollte.

Kann man heute produktive Arbeit ohne Arbeitszwang und wie eine Freizeittätigkeit ausüben? Auf diese Frage scheint Walzers Antwort negativ, weil er Marx’ Idee zwangfreier produktiver Tätigkeit, „glorious as it is“, ausdrücklich aus der Gerechtigkeitstheorie verbannt und von ihr behauptet: „If it is ever realized, justice will no longer be problematic.“ (SJ 87). Aber die Frage, ob die Idee verwirklicht werden sollte, wenn sie verwirklichbar ist, und daher auch die Frage, ob sie verwirklichbar ist, gehören zur Gerech17 Russell 1932, S. 2. Übers. U. St. („that a great deal of harm is being done in the modern world by belief in the virtuousness of work, and that the road to happiness and prosperity lies in an organized diminution of work.“) 18 Russell, 1932, S. 4. Übers. U. St. („When I was a child, shortly after urban working men had acquired the vote, certain public holidays were established by law, to the great indignation of the upper classes. I remember hearing an old Duchess say: ‚What do the poor want with holidays? They ought to work.‘ People nowadays are less frank, but the sentiment persists, and is the source of much of our economic confusion.“)

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tigkeitstheorie. Walzer nahm an, die Idee sei heute nicht verwirklichbar. Wäre sie verwirklichbar, würde wohl auch Walzer annehmen, wir sollten sie verwirklichen. Walzer hat sicher darin Recht, dass die Idee heute nicht unmittelbar verwirklicht werden kann, aber dass sie nicht schrittweise verwirklichbar sein sollte, scheint mir das Ausmaß der schon heute möglichen Automatisierung der Produktion ebenso wie die Dringlichkeit des Problems der Arbeitslosigkeit zu unterschätzen. Außerdem kann, wie erwähnt, der public holiday zugleich produktiv und eine Freizeittätigkeit sein. Also sollte Walzer es nicht für unmöglich halten, produktive Arbeit wie eine Freizeittätigkeit auszuüben. Ich möchte daher zum Abschluss meiner Bemerkungen zu Walzers Freizeitkapitel skizzieren, wie eine schrittweise Annäherung an das Ideal zwangfreier produktiver Tätigkeit aussehen könnte. Der erste Schritt wäre, den Arbeitszwang zu vermindern. Der Arbeitszwang ist umso größer, je weniger frei Berufstätige solche Tätigkeiten wählen können, die ihren Neigungen und Talenten entsprechen. Wenn Arbeitsuchende Angebote nicht mehr bei Strafe ihrer Verelendung annehmen müssen, nimmt ihr Arbeitszwang ab. Dass sie aber in ihrer Wahl von Angeboten frei sein sollten, ist eine Forderung nicht nur der allgemeinen Gerechtigkeit, sondern der Marktgerechtigkeit. Es gehört zur Idee des freien Marktes, dass Verkäufer und Käufer gleich frei in ihren Tauschentscheidungen sind. Tatsächlich besteht heute keine gleiche Freiheit zwischen Arbeitsuchenden und Stellenanbietern, insbesondere in den niederen Lohnrängen. Eine solche gleiche Freiheit lässt sich herstellen. Ein naheliegender Weg dahin ist die Einführung eines bedingungslos ausgezahlten Grundeinkommens oder Bürgergelds.19 Es sichert jedem einen bescheidenen Lebensunterhalt, der Arbeitsuchenden die Möglichkeit offen hält, ein Arbeitsangebot auszuschlagen. Es wurde 1795 von Thomas Paine vorgeschlagen und ist mit etlichen Argumenten verteidigt worden, die ich hier nicht ausbreiten will. In bescheidenen Ansätzen ist es sogar verwirklicht; in Alaska, Namibia, Indien und einigen anderen Orten. Ich führe es als ein Beispiel an, wie ein umstrittenes, aber nicht offensichtlich unrealisierbares Projekt den Arbeitszwang vermindern und die Idee zwangfreier und doch produktiver Tätigkeit in einem ersten Schritt näher bringen könnte. Wie Manuel Knoll in einer Untersuchung über Walzer und das Grundeinkommen ausführt, war Walzer kein Anhänger des Grundeinkommens (das er in der Form der negativen Einkommensteuer erwägt), zog aber in Betracht, dass „in einer Marktwirtschaft ein Bedürfnis nach Geld bestehen dürfte, was dem Kernge-

19 Thomas Paine plädierte für ein Grundeinkommen in seiner Agrarian Justice von 1797. Populär wurde es durch das Programm Share Our Wealth von 1934 des amerikanischen Politikers Huey Long, der 1935 ermordet wurde. Der liberale Ökonom Juliet Rhys-Williams befürwortete es in den 1940ern, später Milton Friedman als negative Einkommensteuer (Friedman 1980; Friedman 2002, S. 192–194); ebenso die meisten Anhänger der commons-Bewegung, wie Hardt / Negri 2004, S. 136 und 2010, S. 309 f. Die Literatur zum Grundeinkommen ist in den letzten Jahren angeschwollen. Vgl. zur Einführung den Film (online unter: https://www. youtube.com/watch?v=gEsKRsjou5k – letzter Zugriff 18.06.2014).

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danken eines allgemeinen Grundeinkommens gleichkommt.“20 In jedem Fall würde das Grundeinkommen die Idee zwangfreier und doch produktiver Tätigkeit realisierbar machen, wenn es als Gelegenheit genutzt wird, den Tätigkeiten nachzugehen, an denen jedem am meisten liegt; Tätigkeiten, die wir um ihrer selbst willen tun und eine Professionalisierung nicht ausschließen. Viele Kritiker fürchten, das Grundeinkommen würde nur zu allgemeiner Faulheit führen. Dagegen will ich nur auf Russells Herzogin verweisen, die schockiert fragte „What do the poor want with holidays? They ought to work.“ Zum Schluss ein letztes Russell-Zitat zur Bekräftigung, dass die Utopie zwangfreier produktiver Tätigkeit nicht allzu utopisch ist: „Die Vergnügungen städtischer Bevölkerungen sind überwiegend passiv geworden. Man geht ins Kino, schaut dem Fußball zu, hört Radio und so weiter. Denn ihre aktive Energie wird ganz von ihrer Arbeit verbraucht. Hätten sie mehr Freizeit, würden sie in ihren Vergnügungen aktiv werden.“21 Glücklicherweise sind wir nicht auf Spekulationen angewiesen, wie Walzer heute die Möglichkeit einschätzt, dem Ideal zwangfreier und doch produktiver Tätigkeit näherzukommen; wir können ihn befragen. Nach meinen kritischen Bemerkungen zu Walzer möchte ich zu allerletzt einen wichtigen Punkt hervorheben. Selbst wenn das Ideal zwangfreier produktiver Tätigkeit verwirklicht wäre, bliebe Walzers Unterscheidung zwischen den zwei Formen von Freizeit, dem Urlaub und dem öffentlichen Feiertag, wichtig. Selbst dann, wenn wir nur das tun, was wir um seiner selbst willen tun, werden wir vermutlich manchmal von unseren meist geliebten Tätigkeiten ausspannen wollen.

LITERATUR Aristotle, 1932: Politics. Translated by Harris Rackham. Cambridge. Friedman, Milton, 2002: Capitalism and Freedom. Chicago. Friedman, Milton / Friedman, Rose, 1980: Free to Choose. San Diego. Hardt, Michael / Negri, Antonio, 2004: Multitude. New York. Hardt, Michael / Negri, Antonio, 2010: Commonwealth. Cambridge. Keynes, John M., 1930: Economic possibilities for our Grandchildren. In: John Maynard Keynes: Essays in Persuasion. New York 1963, S. 358–373 (online unter: http://www.econ.yale.edu/ smith/econ116a/keynes1.pdf – letzter Zugriff 18.06.2014). Knoll, Manuel, o. J.: Das bedingungslose Grundeinkommen im Lichte von Michael Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit. In: Rigmar Osterkamp / Ruppert Stettner (Hrsg.): „Sonderband der Zeitschrift für Politik zum bedingungslosen Grundeinkommen“. Baden Baden [erscheint voraussichtlich 2015]. Martin, Hans-Peter / Schumann, Harald, 1997: The Global Trap. London. Nozick, Robert, 1974: State, Anarchy, and Utopia. New York.

20 Knoll o. J. 21 Russell 1932, S. 7 f. Übers. U. St. („The pleasures of urban populations have become mainly passive: seeing cinemas, watching football matches, listening to the radio, and so on. This results from the fact that their active energies are fully taken up with work; if they had more leisure, they would again enjoy pleasures in which they took an active part.“).

Freizeit

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Opaschowski, Horst W., 1997: Einführung in die Freizeitwissenschaft. 3. Aufl., Opladen. Paine, Thomas, 1797: Agrarian Justice. In: Philip Foner (Hrsg.): Thomas Paine Collected Writings, New York: The Library of America. New York, S. 396– 413. Pieper, Josef, 1948: Muße und Kult. München. Ramtin, Ramin, 1991: Capitalism and Automation. London. Rawls, John, 1972: A Theory of Justice. Cambridge. Russell, Bertrand, 1932: In Praise of Idleness. In: Ders.: In Praise of Idleness and Other Essays. London 1935 (online unter: http://www.zpub.com/notes/idle.html – letzter Zugriff 18.06.2014). Steinvorth, Ulrich, 2012: Philosophie und internationale Konsensfindung. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3/2012, S. 174 –186.

ERZIEHUNG UND BILDUNG BEI MICHAEL WALZER: SCHULE DER GERECHTIGKEIT? Christian Schwaabe

Erziehung und Bildung sind in heutigen Gesellschaften wichtige und besonders umkämpfte Güter. Bildungspolitik ist ein eminent wichtiges Politikfeld, das in öffentlichen Debatten und Wahlkämpfen häufig thematisiert wird. Die Bürger nehmen in besonderer Weise Anteil an diesen Fragen, die sie und ihre Kinder sehr viel unmittelbarer betreffen als Probleme anderer Politikfelder. Walzers Versuch, komplexe Gleichheit mit Blick auf diese Sphäre zu bestimmen, sieht sich mit einigen Herausforderungen konfrontiert, die auf den besonderen Charakter des Gutes Bildung und die besondere Vehemenz der hier erhobenen individuellen Ansprüche zurückzuführen sind. Zum einen ist Bildung in heutigen Wissensgesellschaften ein besonders erstrebenswertes Gut, das im Konkurrenzkampf der Leistungsgesellschaft von zentraler Bedeutung für den Zugang zu Chancen und anderen Gütern ist. Und die Individuen moderner Gesellschaften wissen das sehr gut. Zum anderen – und damit zusammenhängend – haben es Gerechtigkeits- und vor allem Gleichheitspostulate auf diesem Feld besonders schwer, sich gegen partikulare, man darf sagen: egoistische Interessen (vor allem der Eltern) zur Geltung zu bringen. Weil diese Interessen zumindest bis zu einem gewissen Grade durchaus legitim sind, fällt die Abwägung der verschiedenen Ansprüche hier nicht leicht. Zudem sind Bildung und Erziehung keineswegs nur von Individuen erstrebte Güter, die Fragen der Verteilung aufwerfen. Walzer betont zu recht, dass Bildung eine eminent wichtige politische Funktion hat, insbesondere in Demokratien: „Jede menschliche Gesellschaft erzieht und unterrichtet ihre Kinder, die zugleich ihre neuen und zukünftigen Mitglieder sind.“ (SG 288). Schulen sollen, so Walzer, die Grundlagen einer demokratischen Gemeinschaft schaffen. Sie sind aber, ab einem gewissen Punkt, durchaus auch Stätten der „Auslese“, weil unterschiedliche Aufgaben und Positionen in der Gesellschaft unterschiedliche Qualifikationen erforderlich machen. Aber sie sollen nicht sein, was sie heute tatsächlich in starkem Maße sind: Reproduktionsstätten von sozialer Ungleichheit und Segregation, Agenturen eines „Klassensystems“, in dem Chancengleichheit meist nur auf dem Papier steht.

1. BILDUNG: ZUR VIELSCHICHTIGKEIT EINES BESONDERS BEGEHRTEN GUTES Walzer nähert sich dem Thema ausgehend von einer bestimmten Idee von Schule, die er als eine eigenständige Erziehungssphäre zwischen Familie und Gesellschaft

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bzw. Staat konzipiert. Schulen, Lehrer und Erziehungsprogramme bilden und füllen einen intermediären Raum sui generis. Und ebenso füllt die Schule mit Blick auf die individuelle Entwicklung eines Menschen eine „Zwischenzeit zwischen Kindheit und Erwachsenensein“ (SG 290). Schule umspannt zugleich ein Milieu, das insbesondere für die demokratische Erziehung unverzichtbar ist. Im Schulwesen wird eine eigene Kategorie von Sozialgütern begründet, „die, ihrerseits unabhängig von anderen Gütern entstanden, nun im Gegenzug ein unabhängiges Verteilungssystem mit speziellen Verteilungsmechanismen für sich erfordern“ (SG 289). Zu verteilen sind unter anderem „Lehrämter, Studienplätze, schulische Autorität, Grade und Abschlüsse, unterschiedliche Arten und Stufen von Wissen“ (SG 289). Bei Bildung und Erziehung geht es indes nicht einfach nur um die Verteilung irgendwelcher „Güter“. Bildung und Erziehung haben eine besondere existenzielle Bedeutung für Menschen, sie begünstigen „immer eine spezielle und konkrete Form von Erwachsenenleben“ (SG 289). Bildung und Bildungsgerechtigkeit betreffen den Menschen unmittelbar in seiner Persönlichkeit, haben immensen Einfluss nicht nur auf seine Lebenschancen, sondern umfassend auf den „Seins-Zustand des Zöglings“ (SG 290). Das galt immer schon, hat in modernen demokratischen Gesellschaften aber eine besondere Qualität: „Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in gegenwärtigen modernen Dienstleistungsgesellschaften und Demokratien das Gut Bildung einen sehr hohen, für die meisten einen entscheidenden Stellenwert hat. Das liegt daran, dass in modernen Gesellschaften der Wert der individuellen Freiheit zentral und für die demokratische politische Ordnung strukturbildend ist. Unter diesen Voraussetzungen ist Bildung daher ein hohes Gut, weil sie letztlich als Freiheitsgut zu sehen ist, insofern sie die individuelle Freiheit im Sinne der Fähigkeit zum selbstbestimmten und verantwortlichen Handeln sichert und steigert.“1 Bildung ist Teil und Möglichkeit der freien Persönlichkeitsentfaltung und ist als solcher als ein grundlegendes Menschenrecht zu begreifen.2 Das Argument, dass der Arbeitsmarkt eben nur eine begrenzte Anzahl an Akademikern braucht bzw. dass eine kapitalistische Ökonomie sehr gut mit einem relativ hohen Anteil weniger gut Gebildeter leben kann, verfängt also in dieser Hinsicht nicht. Bildung ist mehr als eine Eintrittskarte zum Arbeitsmarkt (wenn auch allein schon in dieser Funktion höchst wichtig). Man könnte hier die Frage aufwerfen, ob Bildung überhaupt sinnvoll als ein „Gut“ zu fassen ist: „Die ‚Verteilung‘ von Bildung kann nicht einfach wie die Verteilung materieller Güter gedacht werden, da Bildung nicht unabhängig von Personen vorhanden ist, sondern immer die Bildung von Personen ist. Verteilt werden also eher Zugänge zur Bildung und Möglichkeiten sich zu bilden, und diese Bildung eröffnet Menschen spezifische Chancen, am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren. Die Konzepte der Chancengerechtigkeit und der Beteiligungsgerechtigkeit führen daher die Fragestellung der Verteilungsgerechtigkeit weiter, denn sie rücken zum einen die ungleichen Startbedingungen 1 2

Mandry 2006, S. 6; Gewirth leitet daraus ein positives Recht auf eine Bildung ab, die eine selbstbestimmte Lebensweise ermöglicht (vgl. Gewirth 1996). Vgl. Heimbach-Steins 2009, S. 20.

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in den Blick, von denen jede ‚Verteilung‘ ausgeht, und sie berücksichtigen eine umfassende, politische Vorstellung davon, worauf eine gerechte Verteilung abzielt.“3 Ein weiteres Spezifikum der Bildung besteht darin, dass sie tief in die Chancen und Partizipationsmöglichkeiten in anderen Sphären eingreift. Insoweit scheint sie die Sphärentrennung immer schon ein Stück weit zu unterlaufen. Bildung ist heute (neben Reichtum und Macht) durchaus zu einem dominanten Gut geworden (SG 45). „Das dominante Gut wird mehr oder weniger planvoll in alle möglichen anderen Dinge verwandelt – nicht zuletzt in Möglichkeiten, Befugnisse und Reputationen.“ (SG 39). Man könnte sagen: Der Übergriff in andere Sphären, die Nutzung von Bildung zur Erreichung anderer Güter ist ja gerade der Sinn von Bildung bzw. Bildungsabschlüssen. Eine Politik der Reduzierung von Dominanz stößt hier prinzipiell an gewisse Grenzen: Es ist ja gerade der Sinn heute existierender Bildungssysteme (und zum Beispiel der Notengebung), eine Differenzierung nach guten und schlechten Leistungen zu ermöglichen, die dann für den Zugang zu weiterführender Bildung und Bildungsdiplomen wie auch zum Arbeitsmarkt Relevanz haben. In dieser Weise verstehen sich westliche Gesellschaften als Leistungsgesellschaften bzw. Meritokratien. Umgekehrt ist nicht erst seit den PISA-Studien bestens bekannt, dass Bildungserfolg stark von der Verfügung über andere Güter (Geld) und von sozialen Rahmenfaktoren (Herkunft) abhängt – womit sich das Problem der Dominanz in entgegen gesetzter Richtung stellt. Und es sind diese letztgenannten Probleme, die für Walzer eine besondere Rolle spielen. Anders als in stratifizierten Gesellschaften, wo mit der Erziehung die soziale Ungleichheitsstruktur gewollt reproduziert wird, kommt es für moderne demokratische Gesellschaften gerade darauf an, dieses Muster zu durchbrechen. Prima facie erscheint gerade in diesem Zusammenhang Walzers Grundidee komplexer Gleichheit und der Vermeidung von Dominanz besonders geeignet, die hier auftretenden Probleme überhaupt angemessen zu adressieren. Jede Art von Gerechtigkeitspostulat auf dem Gebiet der Bildung sieht sich heute indes mit konkurrierenden Prinzipien und Argumenten konfrontiert, die sich insbesondere aus der recht verbreiteten Idee eines normativen Leistungsindividualismus speisen. Gepaart mit dem weithin hegemonialen Wettbewerbsgedanken wird Bildung zunehmend als Sache individueller Optimierung Heranwachsender betrachtet. Gerade in diesem Sinne hat Bildung zumal bei Eltern enorm an Aufmerksamkeit gewonnen. Gerechtigkeit konkurriert hier mit anderen Normen und Präferenzen, insbesondere mit Freiheit, die hier gerne gegen die Ansprüche der Gerechtigkeit ins Feld geführt wird. Auf diesem Wege kommt es, so auch Walzer, zu „despotischen Einflussnahmen auf die erzieherische Gemeinschaft“: Walzer nennt „Erwartungen, Vorurteile, Respekts- und Herrschaftsmuster, die Schüler und Lehrer gleichermaßen ins Schulzimmer hineintragen“, insbesondere und vor allem aber „die Privilegien, die der Nachwuchs der Oberklasse gewohnheitsmäßig genießt“ (SG 291). 3

Mandry 2006, S. 4.

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Im Falle der Privilegien der Oberklasse, an denen sich Walzer merklich stößt, zeigt sich, dass es bei Bildungschancen und -teilhabe nicht oder nur vordergründig um „Individuen“ geht, sondern um Familien und deren Einfluss sowie – vermittelt und verkörpert durch Familien – um Herkunftsmilieus und deren feine und manchmal auch sehr handfeste Unterschiede. Es ist längst völlig unumstritten, „dass formelle Bildung auf die Unterstützung durch informelle Bildung angewiesen ist, bzw. dass Bildungserfolge (vor allem in Schulen) stark von den Bildungseinflüssen im Elternhaus, in der Freizeit und in den peer-groups abhängen.“4 Inwieweit Walzer auf dieses Problem angemessen eingeht, wird zu diskutieren sein. Auf einer grundsätzlichen Ebene jedenfalls sollen Schulen für Walzer nicht exklusiv sein, sie sollen nicht von einer sozialen Elite für sich in Besitz genommen werden, Klassenzugehörigkeit und Einkommenshöhe sollten die Erziehung nicht untergraben (SG 294 f.). Neben diesen Fragen der Bildungsgerechtigkeit steht bei Walzer indes eine andere Ebene letztlich im Zentrum: die politische bzw. gemeinschaftliche Bedeutung von Bildung und Erziehung. Gesellschaften sind historisch verfasste Kulturund Deutungswelten, Interpretationsgemeinschaften mit je spezifischen kulturellen Codes, Sitten und Üblichkeiten. Erziehung ist daher auch niemals nur (und auch nicht vorrangig) individuelle Ausbildung oder Verfeinerung individueller Anlagen, sondern zunächst einmal und vorrangig Einübung in und Vermittlung von Handlungswissen, das Integration und Teilhabe an der Gesellschaft allererst ermöglicht. Die gesellschaftliche Reproduktion ist davon abhängig, dass die Gesellschaftsmitglieder über einen geteilten Vorrat an Interpretationsmustern, Deutungen etc. verfügen. Die politische Gemeinschaft lebt aus einem geteilten „Ethos“. Diese alte Aristotelische Einsicht verweist zugleich darauf, dass es bei Bildung und Erziehung niemals nur um Fragen der Gerechtigkeit geht, sondern um gesamtgesellschaftliche und insbesondere demokratische Funktionalitäten. In Walzers Auseinandersetzung mit „Elementarerziehung“ steht diese Frage konsequenter Weise im Vordergrund.

2. ELEMENTARERZIEHUNG: SCHULE DER DEMOKRATIE Für Walzer spielt die politische Funktion von Erziehung eine zentrale Rolle. Für eine demokratische Gesellschaft ist ein gleiches Fundament in Form einer Grundausstattung mit gewissen Kompetenzen essenziell notwendig, um später das Miteinander gleicher bzw. gleichberechtigter Bürger zu gewährleisten. Kinder sind hier als „zukünftige Mitglieder“ der demokratischen Gemeinschaft zu betrachten – und entsprechend zu sozialisieren. „Ausgangspunkt der demokratischen Erziehung und Wissensvermittlung ist die einfache Gleichheit: gemeinsame Arbeit für ein gemeinsames Ziel. Die Erziehung wird gleichermaßen an jedes Kind verteilt – oder genauer, jedem Kind wird geholfen, den gleichen Wissensstoff zu erlernen.“ (SG 300). 4

Mandry 2006, S. 3; vgl. Böttcher 2005; Rauschenbach 2005; Becker / Lauterbach 2004.

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Auf dieser ganz basalen Ebene der Bildungspartizipation darf es in der Demokratie keine exklusiven Schulen geben. In nicht-demokratischen Gesellschaften war das gang und gäbe. „Indes, es ist einzig und allein der demokratische Staat […], der auf inklusiven Schulen besteht, auf Schulen, die niemanden ausschließen und in denen die zukünftigen Staatsbürger auf ihr gemeinsames politisches […] Leben vorbereitet werden.“ (SG 295). Auf dieser Ebene geht es also um „einfache Gleichheit“: Die einfache Gleichheit von Schülern entspricht der einfachen Gleichheit von Bürgern: eine Person / eine Stimme im Staatsgefüge – ein Kind / ein Platz im Erziehungssystem. D. h., wir dürfen uns erzieherische Gleichheit vorstellen als eine Form von Gemeinschaftsversorgung, von öffentlicher Wohlfahrt, die allen Kindern in ihrer Eigenschaft als zukünftigen Bürgern den gleichen Wissensbedarf unterstellt und das Ideal der Mitgliedschaft dann am besten erfüllt sieht, wenn alle die gleichen Dinge lernen und gelehrt werden. Ihre Erziehung darf nicht vom Sozialstatus oder von der Finanzkraft ihrer Eltern abhängen. (SG 295).

Für Walzer geht es hier um eine bedürfnisorientierte einfache Gleichheit, die den zukünftigen Staatsbürgern gleichermaßen zuteil werden muss, auch wenn die unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten der Schüler durchaus ebenso Beachtung verdienen. Diese Unterschiede werden in der Schule schnell sichtbar – wie man auf sie bildungspolitisch in allen relevanten Dimensionen richtig zu reagieren hätte, kann auch Walzer nicht umfassend beantworten. Mit Blick auf die Elementarerziehung der ersten acht bis zehn Jahre liegt ihm die genannte politische Dimension und Funktion von Schule sehr am Herzen – worin er sich von vielen eher leistungsorientierten Positionen in den bildungspolitischen Debatten unterscheidet. „Ziel ist nicht die Unterdrückung von Unterschieden, sondern deren Zurückdrängung, so daß die Kinder erst einmal lernen, Bürger zu sein – Arbeiter, Manager, Kaufleute und Akademiker können sie später werden.“ (SG 296). Dieses republikanische Pathos setzt Walzer durchaus bewusst der Tatsache entgegen, dass nicht nur viele Politiker mit Blick auf Standortvorteile, sondern vor allem zahlreiche Eltern mit Blick auf die Ausbildung ihrer Zöglinge völlig andere Prioritäten setzen und entsprechende Erwartungen haben: Die Kinder sollen idealiter schon im Kindergarten Kompetenzen erwerben, um später eben dies zu werden: erfolgreiche Manager, wohlhabende Kaufleute oder angesehene Akademiker. Die dazu notwendigen Schlüsselkompetenzen und Kenntnisse gilt es zu erlernen: Mathematik, Naturwissenschaften und Fremdsprachen. Diese Inhalte und Fächer – und nicht Sozialkunde oder Demokratiekompetenz – sind für den späteren Erfolg wichtig. Und eben dieser Erfolg wie auch die den eigenen Kindern oft unterstellten Begabungen sollten aus Sicht vieler Eltern in der Schule so früh wie möglich gefördert werden, und zwar auch auf dem Wege einer frühzeitigen Differenzierung von Schularten. Walzers demokratisches Politisierungspathos und sein Egalitarismus auf Ebene der Elementarerziehung sind sympathisch – und demokratietheoretisch auch schwer von der Hand zu weisen. Eine Mehrheitsposition in den bildungspolitischen Debatten vertritt er damit nicht.

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In diesem Zusammenhang ist für Walzer die „Autonomie der Schule innerhalb der Großgemeinschaft“ von fundamentaler Bedeutung: Der demokratische Anspruch kann nur eingelöst werden, wenn der von außen kommende Druck, „die zwischen den Schülern bestehenden Unterschiede zu vergrößern“ (SG 297), abgewehrt werden kann. Gelingt dies, kann also der Einfluss der Herkunftsmilieus wie auch das bildungspolitische Streben nach Elitenförderung zumindest eingedämmt werden, dann bestünde die Chance, aus der Sphäre der (elementaren) Erziehung einen „höchst egalitären Raum“ (SG 297) zu machen. In diesem Raum könnten sich Schüler als Gleiche begegnen und sich mit ihren individuellen Stärken und Schwächen einbringen. Es entstünde so etwas wie Gemeinschaft, in der sich die Schüler als Kameraden verstehen können. Walzer entwickelt dieses Ideal am Beispiel Japans, möchte mit ihm aber gerne Mut zu mehr Egalitarismus auch in den USA oder anderen Demokratien machen. „Binnendifferenzierung in den Grundstufen ist ein Kennzeichen für eine schwache, sich der Rassen- oder Klassenherrschaft ausliefernde Schule (oder für Lehrer, die sich ihrer Eignung für diesen Beruf nicht sicher sind).“ (SG 298). Walzer wirbt für die Vorteile gemeinsamen Lernens, aber auch für andere Formen gemeinsamen Arbeitens und eines gemeinsamen Engagements in der Schule und für die Schule. Ganz deutlich spricht an diesen Stellen der liberalismus- und kapitalismusskeptische Kommunitarier: „Das gemeinsame Lernen und das gemeinsame Arbeiten zielen gleichermaßen auf eine Bürgerwelt hin und nicht auf eine Arbeitsteilung. Die von der Arbeitsteilung, zumindest in ihren konventionellen Ausprägungen, unablässig und endlos produzierten Vergleiche haben hier keinen Nährboden.“ (SG 299). Wo die Hauptprobleme liegen, erkennt Walzer recht gut: „die Apathie und die Gleichgültigkeit vieler Eltern aus den unteren Schichten sowie die Arroganz ihrer Gegenspieler in den oberen Rängen“ (SG 299). Welches Grundwissen soll auf dieser Elementarebene nun vermittelt werden? Die gleiche Basiserziehung umfasst zunächst Lese-, Schreib- und Rechenkompetenz, generell Fertigkeiten, Kulturtechniken und Schlüsselkompetenzen zur Teilhabe an der Gesellschaft. Daneben sind Walzer aber vor allem die politischen Gehalte wichtig. Jeder Schüler braucht ein Grundwissen über demokratische Politik: „jeder lernt das, was er als Bürger wissen muß.“ (SG 296). Die Schule ist zudem der wichtigste Ort „für die Entstehung von kritischem Bewußtsein und die Produktion und Reproduktion von sozialer Kritik“ (SG 289). Worum es Walzer dabei geht, wird vielleicht am besten mit politischer Urteilskraft umschrieben. Die Schüler sollen sich in moralischem Urteilen und Abwägen angesichts einer Vielzahl zu bedenkender Werte, Normen, Interessen und Ansprüche üben.5 Es geht nicht um die Vermittlung dogmatischer moralischer Wahrheiten, sondern um die Fähigkeit moralischen Abwägens und Argumentierens. Nur eine Schule der Kritik bereitet auf den späteren Umgang mit entsprechenden Problemen und Entscheidungsprozessen vor, wie sie für eine pluralistische Gesellschaft typisch sind. Und es geht nicht um abstraktes Wissen über Politik, sondern um die Vorbereitung auf 5

Vgl. Walzer 2006, S. 221; Walzer 1976 und Walzer 1959.

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eigene politische Aktivität.6 Die Schulen sollen auf die Praxis einer „democratic citizenship“ vorbereiten. Sie sollten begriffen werden „not only as training grounds for talented men and women, but as centers of moral argument and sources of guidance in political decision-making“.7 Der gleiche Wissensbedarf aller Zöglinge ist für Walzer also vor allem mit Blick auf die spätere Rolle des Bürgers wichtig. „Hier wird nicht mehr von Schule generell gesprochen, sondern von der demokratischen Schule, die ihre Bestimmung damit eben aus der Sphäre des demokratischen politischen Systems erhalten hat – und nicht mehr aus der einfachen Gleichheit in der Sphäre der Erziehung allein.“8 Thumfart merkt an, dass sich Walzer mit diesem externen (politischen) Einwirken auf die Sphäre der Erziehung seinem eigenen Ansatz nach in ein „Dilemma“ manövriert habe. Man sollte Walzer aber eher zugute halten, dass die pragmatisch guten Gründe für eine solche Einwirkung gewichtiger sind als die Reinheit eines theoretischen Schematismus. Gravierender dürfte aber sein, dass Walzers demokratischer Egalitarismus ziemlich naiv wirkt: Das von ihm anvisierte „gemeinsame Ziel“ (eine elementare Ansozialisierung eines geteilten bürgerschaftlichen Selbstverständnisses) dürfte einerseits kaum auf einer so frühen Stufe dauerhaft sichergestellt sein – ohne von den dann folgenden Differenzierungen der Bildungs- und Lebenswege unberührt bleiben zu können. Und andererseits ist dieses Ziel durch die Vermittlung eines „Wissensgrundstockes“ allein wohl ohnehin kaum zu erreichen. Die feinen wie auch die sehr handfesten materiellen Unterschiede reproduzieren sich weitaus subtiler und erfolgreicher, sie unterlaufen das schulisch vermittelte Lippenbekenntnis zugunsten demokratischer Gleichheit vom ersten Schultag an. Das soll nicht heißen, dass Walzers Ziele und Ideale schlecht wären. Im Gegenteil. Aber man mag Walzers Optimismus hinsichtlich der egalisierenden Langzeitfolgen frühschulischer Gemeinsamkeit nicht recht teilen. Walzer fasst zusammen: Jedem wird das Grundwissen, das für eine aktive Staatsbürgerschaft erforderlich ist, gelehrt, und die große Mehrheit der Schüler lernt es und nimmt es in sich auf. Die Erfahrung des Lernens ist in sich selbst demokratisch, indem sie die ihr eigenen Gratifikationen von Gegenseitigkeit und Kameradschaft ebenso abwirft wie die der individuellen Leistung. (SG 300).

Gelingt dieses egalitäre Unterfangen nicht, dann droht den Kindern aus sozial schwachen Schichten ein für Walzer zutiefst ungerechtes Los: Die Schulen, die sie besuchen, gleichen bloßen „Aufbewahrungsanstalten, in denen die Kinder verwahrt werden, bis sie alt genug sind, um arbeiten zu gehen“ (SG 300). Dann vollzieht sich „Erziehung“ in womöglich problematischen familiären Kontexten, „auf der Straße“ sowie über die fragwürdigen Angebote der Massenkultur. Kinder aus sozial benachteiligten Schichten werden letztlich ihrem Schicksal überlassen, während Kinder besser gestellter Eltern dann ganz ungestört ihre bessere Erziehung genießen können – „mit dem Resultat, daß der alte Unterschied zwischen

6 7 8

Vgl. Walzer 1980, S. 160 f. Walzer 1980, S. 174. Thumfart 2012, S. 264, Anm. 47.

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direkter und vermittelter Erziehung in einer neuen Form reproduziert und die Grundstruktur der Klassengesellschaft aufrechterhalten wird“ (SG 300).

3. WEITERFÜHRENDE BILDUNG: „PERFEKTE MERITOKRATIE“ VS. „WILLKÜRHERRSCHAFT VON REICHTUM UND KLASSE“ Die einfache Gleichheit verliert jedoch ihren Sinn, sobald der Wissensgrundstock gelegt und das gemeinsame Ziel erreicht ist. Danach muß die Erziehung auf die Interessen und Fähigkeiten der weiterhin Lernenden zugeschnitten sein und müssen die Schulen als solche stärker auf die speziellen Erfordernisse der Alltags- und Arbeitswelt eingehen. (SG 301)

Für den Bereich der weiterführenden Bildung hält Walzer also jene Differenzierungen für notwendig und durchaus gerecht, die für die ersten Jahre der Elementarerziehung noch nicht einsetzen sollen. „Auslese“ ist erforderlich, weil die Gesellschaft für die verschiedensten Positionen und Aufgaben eben auch verschiedene Qualifikationen und Fertigkeiten braucht. Nun also kann es zu legitimer Elitenbildung und zu legitimen Monopolen kommen (SG 306). Das Erziehungssystem soll nicht lauter gleiche Charaktere produzieren, und junge Menschen sollten die Möglichkeit und das Recht haben, „selbst zu bestimmen, wann sie ins Erwachsenenleben einzutreten und ob sie es mit oder ohne amtliches Zertifikat zu tun wünschen“ (SG 301). Eine „uniforme Erziehungskarriere“ ist nicht wünschenswert. Gerecht wird diese Differenzierung laut Walzer zunächst einmal dadurch, dass die verschiedensten Formen von Weiterbildung prinzipiell allen Interessierten offen stehen müssten. Sodann will Walzer das weitere Lernen nicht auf einige wenige konventionelle Formen der Bildung und Bildungsanstalten begrenzt sehen. Das gleichsam lebenslange Lernen sollte viele verschiedene Formen annehmen, auch und vor allem außerhalb der institutionalisierten Ausbildungswege und Curricula. Walzer wünscht sich eine lern- und wissensbegierige Bürgerschaft. Das Ziel: nicht Verbesserung von Karrierechancen, sondern „eine vernünftige und menschliche Lebensführung“ (SG 304). „Die einzige einer Demokratie angemessene Ausweitung der Elementarerziehung besteht in der Gewährung von echten Lernchancen und echter geistiger Freiheit nicht nur für einige wenige, in traditioneller Manier versammelte Studenten, sondern für alle Bürger.“ (SG 303). Diese Formen des Lebens und der Weiterbildung sind freilich ausschließlich Sache privaten Interesses und privater Initiative. Letztlich heißt das: Auch der einfache Arbeiter oder Rentner sollte Volkshochschulkurse besuchen (können). Dem dürfte kaum jemand widersprechen. Wichtiger sind natürlich jene „Spezial- oder Fachausbildungen“, die auch für die Integration in den Arbeitsmarkt (und die Gesellschaft!) von herausragender Bedeutung sind. Walzer begreift diese höheren Qualifizierungsstellen, insbesondere Studienplätze, als „Amtsposten“, die die Gemeinschaft einer bestimmten Zahl an Bewerbern zur Verfügung stellen kann. Die Gemeinschaft hat darüber zu entscheiden, wie viele Ausbildungsplätze es in den unterschiedlichen Spezialschulen geben soll, welchen Bedarf also die Gemeinschaft an bestimmten Qualifikati-

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onen hat. Die Interessenten müssen sich für diese Posten bzw. Stellen, auf die sie keinen Rechtsanspruch haben, qualifizieren. Dabei hat prinzipiell jeder Qualifizierte den gleichen Anspruch auf einen Studienplatz. Der „Wettstreit um die vorderen Plätze im Ausbildungssystem“ ist in modernen Gesellschaften „heftig“ (SG 305). Die Verfahren zur Auswahl haben ganz auf Begabung und Potenzial der Bewerber zu achten. Dann sind die so entstehenden Ungleichheiten für Walzer legitim: „[E]ine Spezialausbildung ist sozusagen zwangsläufig ein Monopol der Begabten oder zumindest derjenigen Studenten, die die Fähigkeit besitzen, ihre Talente zu beliebigen Zeitpunkten und damit auch im richtigen Moment zu entfalten. Auch dies ist ein legitimes Monopol. Die Schulen können gar nicht umhin, zwischen ihren Schülern zu differenzieren, indem sie manche fördern und andere wegschicken; doch sollte der Orientierungspunkt für die Unterschiede, die sie entdecken und denen sie Geltung verschaffen, der später ausgeübte Beruf und nicht sein sozialer Status sein. Die Unterschiede sollen etwas mit der Leistung zu tun haben und nicht mit ihren ökonomischen und politischen Gratifikationen.“ (SG 306). Walzer wünscht sich „Ausbildungsstätten, die gegen den rein materiellen Erfolg etwas besser abgeschottet, etwas resistenter sind, als es derzeit der Fall ist“ (SG 307). In diesem Zusammenhang problematisiert Walzer am Beispiel einer englischen Vorbereitungsschule (preparatory school) elitäre Bildungsstätten, in denen die Herkunft der Schüler und das Geld der Eltern die entscheidenden Kriterien bilden. An solchen Orten werde das Klassensystem reproduziert, hier werden die begehrtesten und höchsten Qualifikationen „vererbt“, hier zeige sich die „Willkürherrschaft von Reichtum und Klasse über Gelehrsamkeit und Bildung“ (SG 308). Walzer erkennt bzw. er deutet zumindest an, dass diese Mechanismen auch (und gerade) dann wirken, wenn man über den schulischen Kontext im engeren Sinne hinausblickt – wie es alle Bildungsstudien der letzten Jahre ja bestätigen: Soziale Herkunft und Familie beeinflussen den Bildungserfolg so stark wie keine andere Variable.9 Die privilegierten Schichten können so „die traditionellen Lebensformen ihrer Klasse an die nächstfolgende Generation weitergeben“ (SG 309). Walzer erkennt also das eigentliche Gerechtigkeitsproblem – und doch kapituliert er ein Stück weit vor dem Dogma einer zuweilen unhinterfragten „Leistungsgerechtigkeit“. Bei der Vergabe von Ämtern (und als ein solches konzeptualisiert Walzer ja spezialisierte Ausbildung) hält er fest: „Das Ziel ist eine perfekte Meritokratie […]: freie Bahn den Fähigen.“ (SG 198). Das Ziel ist gut, aber die Realität sieht oft anders aus: „Viel eher besteht das ethische Problem darin, dass Bildungserfolge zu einem großen Teil die sozialen Voraussetzungen der Personen und ihre jeweiligen Zugangsmöglichkeiten zum Bildungssystem abbilden. Bildungsungleichheiten sind viel eher ein Indiz für soziale Ungerechtigkeiten als der Ausweis dafür, dass Bildungserfolge aus den Begabungen der Personen resultieren. Wie die kritische Bildungssoziologie gezeigt hat, wirkt die Leistungssemantik im Bildungssystem insofern legitimatorisch, als sie Bildungserfolge auf Leistung und / oder Begabung zurückführt, die Frage nach sozial-strukturellen Ursachen 9

Vgl. Berger / Kahlert 2008; Dabrowski / Wolf 2008; Heimbach-Steins u. a. 2009.

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hingegen ausblendet.“10 Walzer blendet diese Frage nicht aus; aber Lösungen diskutiert er nur sehr zurückhaltend. Realistisch, aber auch ein wenig resignativ klingt zunächst sein Fazit: „Will man die Kinder nicht von ihren Eltern trennen, dann lassen sich derlei Dinge nicht verhindern.“ (SG 309). Ganz so sparsam sind Walzers Ausführungen zu diesen erst wirklich wichtigen Fragen in Sachen Bildungschancen indes nicht. Walzer schneidet sie unter der Überschrift „Assoziation und Segregation“ zumindest an.

4. DAS IDEAL DER ASSOZIATION UND DAS PROBLEM DER SEGREGATION Walzer trifft einen sehr wichtigen Punkt: Wo es um Bildungsgerechtigkeit und Fragen der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit geht, da geht es nicht zuletzt um das, was Walzer das „Assoziationsprinzip“ nennt, also um die Antwort auf die Frage „Wer geht mit wem zur Schule?“ (SG 311). Diese Frage ist nicht nur deswegen wichtig, weil auch Lerninhalte auf die Art und die Fähigkeiten der zu unterrichtenden Schüler abgestimmt werden, sondern vor allem deshalb, weil es in Schulen zu sozialen Austausch- und Lernprozessen kommt, deren sozialisatorisches Potenzial teilweise größer ist als das zu vermittelnde Wissen selbst. Walzer wünscht sich in diesem Zusammenhang eine Form der Assoziation, die die Vielfalt der sozialen Herkünfte in der Gesellschaft möglichst ungehindert widerspiegelt und bestehende Formen der Segregation wenigstens teilweise überwinden helfen könnte. Die Kinder privilegierter Schichten sollten nicht vom ersten Schultag an untereinander bleiben – woran deren Eltern freilich zumeist ein sehr starkes Interesse haben. Diese Frage lenkt den Blick auf den bereits erwähnten Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungschancen. In vormodernen bzw. undemokratischen Gesellschaften war dieser Zusammenhang eindeutig, soziale Herkunft wirkte sich unmittelbar auf die Zugangsmöglichkeiten zu bestimmten Bildungseinrichtungen aus. Aber auch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und der formell freie Zugang zu Bildungseinrichtungen haben die Ungleichheit der Chancen nicht grundlegend überwunden – die entsprechenden Mechanismen sind heute eher mittelbarer Art. Was Walzer für die Vergangenheit diagnostiziert, gilt auch heute noch weitestgehend: 10 Mandry 2006, S. 4; Mandry geht hier viel weiter als Walzer: „Insbesondere für bildungsferne Menschen, Arme oder körperlich oder geistig Behinderte bestehen positive Rechte auf Unterstützung bei der Entwicklung ihres Humankapitals, denn sie haben kaum oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen die Möglichkeit, sich Bildung zu verschaffen, da sie entweder nur einen geringen inneren Zugang zum Wert von Bildung haben, Bildungsangebote schwer einschätzen können, nicht über das erforderliche Einkommen für Bildung bzw. Unterhaltsausfall verfügen oder die für sie geeigneten Bildungsangebote mit erhöhten Kosten oder Aufwand […] verbunden sind.“ (Mandry 2006, S. 12). Man sieht deutlich, dass die Diskussion und Würdigung solcher Ansprüche den theoretischen Rahmen komplexer Gleichheit letztlich sprengt.

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Die Erziehung der Kinder hing vom Vermögen, vom Ehrgeiz und vom Bildungsstand ihrer Eltern ab, eine Abhängigkeit, die uns heute aus zwei Gründen als ungerecht und unrechtmäßig erscheint. Grund Nummer eins: die Gemeinschaft hat als Ganzes ein Interesse an der Erziehung der Jugend; Grund Nummer zwei: die Kinder haben ihrerseits ebenfalls ein Interesse an ihr, auch wenn sie möglicherweise noch nichts davon wissen. Beide Interessen weisen in die Zukunft, beider Orientierungspunkt ist das, was die Kinder später einmal sein, was sie arbeiten werden, und nicht – oder nicht nur – das, was ihre Eltern im Augenblick sind, welchen Rang sie in der Gesellschaft einnehmen oder wie reich sie sind. (SG 310)

Die Eltern aus privilegierten Schichten indes sehen hier sehr wohl einen engen Zusammenhang und wollen ihn nach Möglichkeit auch verstärken. Sie legen Wert darauf, dass ihre Kinder schon früh nur Umgang mit „ihresgleichen“ pflegen, dass also die „Vergangenheit“ in Form familiärer Herkunft und Traditionen Einfluss auf die „Zukunft“ des eigenen Sprösslings hat. Ihre Perspektive ist keine gesamtgesellschaftliche bzw. politische (und ganz sicher keine egalitaristische), sondern eine am eigenen Nutzen (dem des Kindes bzw. der Familie) orientierte. Und vorderhand ist dies in einer freiheitlichen Gesellschaft auch eine durchaus legitime Position. Zudem kann dabei – ebenfalls mit guten Gründen – die individuelle Besonderheit von Kindern geltend gemacht werden, die hier hinreichend gewürdigt werden müsse. Walzer verweist zu Recht auf das entscheidende Spannungsverhältnis, nämlich das zwischen Schulen und Eltern: „Diese Besonderheit [der Kinder, C. S.] wird verkörpert durch die Familie und verteidigt durch die Eltern.“ (SG 312). Die zentrale Herausforderung lässt sich also so formulieren: „Das entscheidende Verteilungsproblem in der Sphäre der Erziehung besteht somit darin, die Kinder zu Mitgliedern einer lernenden Allgemeinheit zu machen, ohne das zu zerstören, was an ihnen nicht allgemein ist, nämlich ihre soziale und genetische Besonderheit.“ (SG 313). Und zu Recht fügt Walzer hinzu, dass es für dieses Problem keine allgemein gültige Lösung gibt, die sich unabhängig von jeweiligen Umständen und Kontexten oder jenseits der kompromisshaften Abwägung unterschiedlicher Ansprüche, Prinzipien und Ziele in gleichsam philosophischer Reinheit finden ließe. Walzers skizzenhafte Gedanken zu einer zumindest punktuellen Lösung dieses Problems nehmen starken Bezug auf den Pluralismus heutiger demokratischer Gesellschaften und die politischen Kooperationserfordernisse freier und gleicher Bürger bei hoher soziostruktureller Heterogenität.11 Dieses Erfordernis möchte Walzer vor allem auf der Ebene des Elementarunterrichts berücksichtigt sehen: „Entscheidend ist hier die für jedes Kind gegebene Notwendigkeit, in die bestehende demokratische Gemeinschaft hineinzuwachsen und seinen Platz als fähiger Bürger in ihr einzunehmen. Die Schulen sollten deshalb ein Assoziationsmuster anstreben, das die Assoziationspraktiken von erwachsenen Männern und Frauen in einer Demokratie antizipiert.“ (SG 314)

Kinder sollten zumindest in der frühen Phase elementarer Erziehung „das volle Spektrum ihrer zukünftigen Kontakte, Arbeitsbeziehungen und politischen Bündnisse in einer demokratischen Gesellschaft“ antizipieren können. „Die Elementar-

11 Vgl. dazu insbesondere Walzer 1995.

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schule erweist sich also als das kleine Abbild der komplexen, spannungsreichen Gesellschaft und als der Vorbereitungs- und Lernort für Demokratie.“12 Die kommunitaristische Vision einer Bürgerpolitik, bei der Menschen weithin unabhängig vom sozialen Status politisch aktiv sind und die Gemeinschaft tragen und gestalten, schimmert hier deutlich durch. Dafür sollen erst einmal die wichtigsten Grundlagen geschaffen werden. Die durchaus legitime und wichtige „Talentsuche“, so Walzer, hat demgegenüber erst einmal zurückzutreten. Sie darf und soll nach Abschluss der gemeinschaftlichen Elementarerziehung ihren Raum erhalten. Es besteht aber keine Notwendigkeit die zukünftigen Spezialisten bereits bei Schulantritt herauszupicken […]; und was noch wichtiger ist, auch die demokratische Politik erfordert die Vermischung. Man kann eine demokratische Gesellschaft nicht organisieren, ohne Menschen von unterschiedlichen Intelligenzgraden und Talenten bzw. nicht vorhandenen Talenten zusammenzubringen […]. Gäbe es kein öffentliches Leben, oder büßte die demokratische Politik ihren Wert völlig ein, dann ließen sich Talentsuche und Talentförderung zugunsten einer Individualkarriere sehr viel leichter verteidigen. (SG 319)

In Zeiten starker Ökonomisierungstendenzen ist dieses Szenario einer entpolitisierten Leistungsgesellschaft gar nicht abwegig. Am Thema Privatschulen werden Walzers Vorbehalte gegen elitäre Bildungskonzepte besonders deutlich. Privatschulen lösen die Kinder zu früh aus dem größeren gemeinschaftlichen Rahmen, um den es Walzer in demokratietheoretischer Hinsicht vor allem geht. Nicht Walzers politisch-kommunitäre Perspektive, sondern „elterliches Interesse“ und „elterliche Weltsicht“ prägen in Privatschulen das Assoziationsprinzip – und zu Recht fügt Walzer hinzu, „daß in das elterliche Interesse auch Statusinteressen und in die elterliche Weltsicht auch eine Klassenideologie einfließen“ (SG 314). Die hohen Kosten von Privatschulen sorgen für die gewünschte soziale Selektion. „Diese Ungleichheit erscheint dann als besonders unbillig, wenn die erstrebte Assoziation als vorteilhaft gilt. Warum sollten Kinder solcher Vorteile einzig und allein ihrer zufälligen Abstammung wegen verlustig gehen?“ (SG 315). Oder mit John Rawls: „Niemand hat seine besseren natürlichen Fähigkeiten oder einen besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient.“13 Dass man gegen diese eklatante und vielfältig wirksame Ungleichheit der Startchancen in vielerlei Hinsicht kaum etwas machen kann, weiß auch Walzer. Man denke hier nur an die von Pierre Bourdieu beschriebenen Kapitalformen und ihre Vermittlung insbesondere im familiären Kontext. Diese Dimensionen als „Privatsache“ abzutun und ihre Relevanz zu negieren, wäre entweder naiv oder ideologisch; sie indes wirklich politisch beeinflussen zu wollen, bedeutete einen gravierenden Eingriff ins Private, den wohl nur Platoniker oder andere Kollektivisten gutheißen könnten. Walzer beschränkt sich daher auch auf vergleichsweise kompromissfähige Vorschläge, die allesamt in eine eher „sozialdemokratische“ Richtung weisen. Zunächst möchte er, wie bereits dargelegt, die Zeit der gemeinsamen Elemen12 Thumfart 2012, S. 273. 13 Rawls 1979, S. 122

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tarerziehung möglichst lang ausdehnen; sodann favorisiert er öffentliche Schulen gegenüber privaten; und schließlich verweist er auf das zentrale Problem des Zusammenhangs von Nachbarschaft und Schulbesuch: Wie kann verhindert oder zumindest eingedämmt werden, dass die Schulen in ihrer Zusammensetzung Abbilder jener Segregation sind, die sich in Wohnvierteln ausbildet? Wie kann die von Walzer gewünschte „Vermischung“ gegen die Einkapselung von guten Nachbarschaften oder Elendsvierteln zumindest ansatzweise erreicht werden? Dieses Problem ist in den USA zum Beispiel mit Blick auf die schwarze Bevölkerung sehr groß. In der Bundesrepublik besteht das prinzipiell gleiche Problem, das Walzers egalitaristische Ambitionen zumal in Gestalt der sogenannten Sprengelschulen unterläuft. Trotz dieser Probleme ist die Nachbarschaftsschule für Walzer letztlich die beste Option – ob gerade sie für hinreichenden Pluralismus in der Zusammensetzung sorgt, ist natürlich fraglich. Einer strikten „Proporz-Assoziation“ steht Walzer skeptisch gegenüber. Im Einsatz von Schulbussen sieht er eine Möglichkeit. Das Problem liegt jedoch tiefer – und an einer Stelle werden Walzers Forderungen dann doch ein Stück radikaler, greifen an die Wurzel des Problems: „Zu erhoffen wäre zusätzlich allerdings auch ein direkter Angriff auf die despotischen Verteilungen von Wohnung und Arbeit, denen durch ein schulisches Arrangement mit Sicherheit kein Einhalt zu gebieten sein dürfte.“ (SG 323 f.).

5. AUSBLICK: DOMINANZPROBLEM UND NORMATIVER INDIVIDUALISMUS Beim Thema Erziehung und Bildung zeigt sich besonders gut, wie schwer es Gerechtigkeitsansprüche gegen individuelle Orientierungen an partikularen Interessen und Vorteilen haben. So bestätigt sich hier exemplarisch die Kritik an der Künstlichkeit der Rawls’schen Argumentation mit dem Schleier des Nichtwissens: Reale Menschen wissen eben, wo sie stehen. Und es fehlt, jenseits eines hypothetischen Urzustandes, eben oft tatsächlich die Bereitschaft zu teilen. „Niemand hat sich seinen besseren Startplatz in der Gesellschaft verdient […]“ Aber wenn Menschen ihn haben, dann versuchen sie alles, diese ihre besseren Bedingungen auch für ihre Kinder zu erhalten. Und falls sie sich überhaupt dazu genötigt sehen, dann legen sie sich die einschlägigen Argumente in der bekannten Form zurecht: Talent und Begabung, Freiheit und Individualismus zu fördern, dies wäre durchaus auch gerecht. Diese Hindernisse bei der Verwirklichung von Bildungsgerechtigkeit unterminieren keineswegs nur das Rawls’sche Plädoyer für justice as fairness, sondern ebenso Walzers Werben für eine faire Berücksichtigung der Ansprüche aller. Mehr noch: In diesem Zusammenhang wird die Frage interessant, wie weit Walzer in seinem Werben für mehr Bildungsgerechtigkeit (denn dies ist es) wirklich von Rawls’ Argumentation entfernt ist. Walzers Plädoyer für eine relativ lange gemeinsame Elementarerziehung mit dem sehr politischen Ziel der Ausbildung zum Bürger ist gut kommunitaristisch – man könnte auch sagen: republikanisch. Seine Kritik an den diversen Chancenungleichheiten aufgrund des Einflusses von

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Familie, Milieu, Gender, ethnischer Zugehörigkeit, Geld und sozialem Status rekurriert normativ indes – recht besehen – auf die Rawls’sche Perspektive, die nach den Chancen und Zugangsmöglichkeiten von Individuen fragt. Ohne normativen Individualismus lässt sich schwer gegen das Eigenrecht von Familie oder anderen Partikulargemeinschaften argumentieren. Bei diesen zentralen Fragen der Bildungs(un)gerechtigkeit werden Vorteile wie auch Defizite des Walzer’schen Ansatzes denn auch gut sichtbar: Einerseits gibt der Ansatz komplexer Gleichheit den Blick frei auf die überaus relevante Problematik der Dominanz und die Notwendigkeit ihrer Eindämmung; andererseits aber verweisen die entscheidenden Dominanzprobleme im Bereich von Bildung und Erziehung darauf, dass Walzers Sphärenkonzept hier noch einiger Nachjustierungen bedürfte.

LITERATUR Becker, Rolf / Lauterbach, Wolfgang (Hrsg.), 2004: Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen von Bildungsungleichheit. Wiesbaden. Berger, Peter / Kahlert, Heike (Hrsg.), 2008: Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim. Böttcher, Wolfgang, 2005: Soziale Auslese und Bildungsreform. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12/2005, S. 7–13. Dabrowski, Martin / Wolf, Judith (Hrsg.), 2008: Bildungspolitik und Bildungsgerechtigkeit. Paderborn. Gewirth, Alan, 1996: The Community of Rights. Chicago / London. Heimbach-Steins, Marianne, 2009: Bildungsgerechtigkeit – die soziale Frage der Gegenwart. In: Dies / Gerhard Kruip/Axel Kunze (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit – Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld, S. 13–25. Heimbach-Steins, Marianne / Kruip, Gerhard / Kunze, Axel (Hrsg.), 2009: Bildungsgerechtigkeit – Interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld. Mandry, Christof, 2006: Bildung und Gerechtigkeit. ICEP Arbeitspapier 1/2006. Berlin, S. 1–19. Rauschenbach, Thomas, 2005: Plädoyer für ein neues Bildungsverständnis. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 12/2005, S. 3–6. Rawls, John, 1979: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Thumfart, Alexander, 2012: Die Schule der Gerechtigkeit. In: Karl-Heinz Nusser (Hrsg.): Freiheit, soziale Güter und Gerechtigkeit. Michael Walzers Staats- und Gesellschaftsverständnis. Baden-Baden, S. 249–286. Walzer, Michael, 1959: Education for a Democratic Culture. In: Dissent 1, S. 107–121 Walzer, Michael, 1976: Thoughts on Democratic Schools. In: Dissent 4, S. 57–64. Walzer, Michael, 1980: Political Decision-Making and Political Education. In: Melvin Richter (Hrsg.): Political Theory and Political Education. Princeton, S. 159–176. Walzer, Michael, 1995: Education, Democratic Citizenship, and Multiculturalism. In: Journal of Philosophy of Education 29, S. 181–189. Walzer, Michael, 2006: Moral Education and Democratic Citizenship. In: Robert Calvert (Hrsg.): To Restore American Democracy: Political Education and the Modern University. Oxford, S. 217–230.

FAMILIE UND LIEBE: SPIELT GERECHTIGKEIT EINE ROLLE? Thomas Morawetz

Kein anderer Wertebereich scheint der Anwendung von Konzepten von Gleichheit und Gerechtigkeit von Natur aus unzugänglicher zu sein als der Bereich von Liebe und Familie. Auf der abstraktesten Ebene sind wir geneigt zu sagen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit öffentliche Tugenden sind und Aspekte der öffentlichen Ordnung betreffen, wohingegen Liebe und Familie der Inbegriff von Privatsphäre sind. Gleichfalls sind wir versucht zu sagen, dass Gleichheit und Gerechtigkeit von uns verlangen, über zahlreiche Qualitäten, die Menschen auszeichnen und jeden einzelnen einzigartig machen, hinwegzusehen (oder diese als irrelevant zu betrachten), während die Auswahl, die wir in Bezug auf Liebe und Familie treffen, genau auf diesen persönlichen Qualitäten beruht. Man mag deshalb zu dem Schluss verleitet sein, dass Michael Walzer mit seiner Entscheidung, Verwandtschaft und Liebe als „Sphären der Gerechtigkeit“ einzubeziehen, wahrscheinlich mehr anstrebte, als er begrifflich erfassen konnte.1 Jenseits der evidenten Schwierigkeiten öffentliche Konzepte privaten Belangen anzugleichen und zu bestimmen, welche Bedeutung persönlicher Einzigartigkeit zukommt, ist jegliche Behandlung dieses Themas besonders zeit- und kulturabhängig. Jede Aufarbeitung einer Periode wird in einer späteren Zeit wohl anachronistisch erscheinen.2 In den dreißig Jahren seit dem Erscheinen von Sphären der Gerechtigkeit haben sich unsere Kultur und andere Kulturen in wichtiger und maßgeblicher Hinsicht verändert, und es lässt sich der Standpunkt vertreten, dass sich unser Verständnis von Familie und Liebe weltweit genauso stark verändert hat wie jeder andere Erfahrungsbereich. Das gilt ungeachtet des Umstandes, dass wirtschaftliche Gegebenheiten, technologischer Fortschritt, und Beziehungen zwischen Gesellschaftsschichten ebenfalls soziale, und somit konzeptionelle Revolutionen erlebten. 1

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Alle anderen Kapitel von Sphären der Gerechtigkeit scheinen einen Erfahrungsbereich zu umschreiben, für den Gerechtigkeit intuitiv von Relevanz ist. Dementsprechend erwägen spätere Kapitel des Buches Gerechtigkeit im Hinblick auf Erziehung und die Verteilung von deren Vorteilen, Gerechtigkeit im Kontext der politischen Macht, die Verteilung von Wertschätzung usw. Natürlich ist das in höchstem Maße diskussionswürdig. Man mag zugeben, dass Liebe, so wie sie in antiken Gesellschaften und Familienstrukturen erfahren wurde, seit unvordenklicher Zeit von physiologischen und sozialen Konstanten abhängt. Dann würden kulturelle Einflüsse nur marginale Veränderungen von basalen Verwandtschaftsverhältnissen und Zugehörigkeitsbegehren und -ordnungen darstellen. Ich werde jedoch dafür argumentieren, dass wir, wenn wir von Gerechtigkeit reden, gerade über derartige Veränderungen und kulturabhängige Neuarrangements sprechen.

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Walzer schrieb Sphären der Gerechtigkeit zu einer Zeit, in der unser Verständnis von Liebe und Familie besonders unbeständig war. Der Sozialkonservatismus in den 1950er und frühen 1960er Jahren ist nicht einfach ein intellektuelles Klischee, das spätere Geistesgeschichtler der Periode übergestülpt haben um eine komplexe Zeit vereinfacht darzustellen. Es war eine Zeit, in der hierarchische Muster innerhalb von Familien als selbstverständlich angesehen wurden. Innerhalb der Kultur der 1950er Jahre waren Konformität und die Unzufriedenheit damit beherrschende Gedanken, und die meisten prominenten Soziologen des folgenden Jahrzehnts analysierten und kritisierten den Sozialkonservatismus.3 Die fünfzehn Jahre ab der Mitte der 1960er Jahre bis zum Beginn der Ära Reagan waren bekanntermaßen eine Reaktion auf die 1950er Jahre und eine Zeit der Rebellion und des Experimentierens. Bis dahin akzeptierte Vorstellungen von Liebe, Familie und Gesellschaftsordnung wurden überprüft und oftmals verworfen, genauso wie allumfassende Herrschaftsstrukturen und ökonomische Gepflogenheiten zurückgewiesen wurden. Eine Möglichkeit, Verwandtschaft und Liebe in ein Projekt über distributive Gerechtigkeit einzugliedern, hätte darin bestehen können, auf die Gedankenrevolution und Auflehnung gegen Gewohnheiten zurückzublicken und die Gewinne und Verluste zum Ausdruck zu bringen und zu bilanzieren. Das Problem dabei war, dass in den frühen 1980er Jahren zwar der Impuls zur Neubewertung bestand, die endgültigen Auswirkungen auf die Gesellschaft aber völlig ungewiss waren – und das sind sie nach mehr als dreißig Jahren immer noch. Nichts desto trotz haben die letzten 50 Jahre ein erkennbares Vermächtnis hinterlassen. Zu den Aspekten von Familie und Liebe, die direkte Einwirkungen auf den Diskurs über Verteilungsgerechtigkeit im neuen Jahrtausend haben, zählen die folgenden: (1) Gerechtigkeit zwischen den Generationen: Was sind die Reichweite und die Grenzen der Verantwortung von Eltern gegenüber ihren Kindern? Inwieweit sollte die Ehe eine Rolle für diese Frage spielen, oder ist sie völlig irrelevant? Welche Verantwortung haben Kinder ihren Eltern gegenüber? Welchen Umfang haben Fürsorge- und Betreuungspflicht, wenn Eltern alt werden? Und welche Verpflichtungen betreffen auch zukünftige, nicht unmittelbar folgende Generationen (sowie vergangene Generationen, die weiter zurückliegen)? Bestehen Pflichten gegenüber Vor- und Nachfahren, die zeitlich nur entfernt verwandt sind? (2) Was macht Gerechtigkeit in der Verteilung von Ressourcen und Möglichkeiten unter den Nachkommen aus? Verlangt Gerechtigkeit sie gleich zu behandeln, und was begründet Gleichheit? Und wie verhält es sich mit den so genannten Patchwork-Familien? Wie verhalten sich die Pflichten gegenüber Stiefkindern zu jenen gegenüber den leiblichen Kindern, speziell in einem sozialen Klima, in dem man vielleicht wenig Kontakt zu seinen eigenen Kindern, aber viel zu Kindern hat, die nicht das eigene Fleisch und Blut sind? Und gibt es irgendeine Unter-

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Vgl. etwa die Arbeiten von David Riesman, Paul Goodman, Edgar Z. Freidenberg und Kenneth Keniston.

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scheidung, die zwischen leiblichen und adoptierten Kindern gemacht werden muss? (3) Inwieweit hat unser kollektives soziales Bewusstsein von Liebe das rechtliche und sozial Klima verändert? Gibt uns die Anpassung bzw. die Veränderung des traditionellen Konzeptes von Ehe aufgrund der Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft Anlass dazu, die Aspekte von Gerechtigkeit zu überdenken? Ferner, inwiefern hat ein nuancierteres Verständnis von Liebe das soziale Verständnis und die Praxis von Scheidung beeinflusst? Wird die Vorstellung von Ehe als lebenslange Bindung, sei es zwischen Menschen unterschiedlichen oder des gleichen Geschlechts, als Anachronismus oder einfach als eine von vielen möglichen Lebensformen gesehen? Und welche Arten von Ansprüchen und gerechter Verteilung resultieren daraus? Jeder, der mit dem sozialen Diskurs der letzten zwanzig bis dreißig Jahre vertraut ist, kann sich mit Hilfe seines Sinnes für Kulturentwicklung einen eigenen Fragenkatalog zusammenstellen. Über Kulturentwicklung muss man stets mit besonderer Bedachtsamkeit sprechen. Man sieht Kultureinrichtungen immer durch die Brille der eigenen Zeit. Kurzsichtigerweise ist man stets geneigt, den Erfahrungen und Veränderungen, die man selbst miterlebt hat, übermäßiges Gewicht zu verleihen – und zu glauben, selbst in außergewöhnlichen Zeiten zu leben, in denen Kultur und Geschichte neu bewertet werden. Nur weil man die Tendenz zu diesem Irrtum in anderen erkennt, bedeutet das noch lange nicht, dass man gegen die gleiche Art von Irrtum gefeit wäre.4 Gleichzeitig könnte man verleitet sein, den gegenteiligen Fehler zu begehen. Dieser bestünde in der Annahme, dass sich die Geschichte ständig wiederholt, dass all unsere Praktiken und Institutionen unveränderlich und ewig sind. Ein Beispiel dafür ist die Annahme, dass Platon und Aristoteles die Parameter des politischen Diskurses und die zweckmäßigen Alternativen für politische Organisation definiert haben. Die Erfahrungen seitdem werden dann nur als Variationen ihrer Themen gesehen. Ist es unabhängig davon, wie wir diese Behauptung über Politik betrachten, möglich, eine ähnliche Aussage über Verwandtschaft und Liebe zu treffen? Können wir sagen, dass Gerechtigkeit und Gleichheit zeitlose Standards für Verwandtschaftsbeziehungen und für unsere tiefsten emotionalen Bindungen definieren? Konfrontiert mit der Entscheidung, zeitlos oder zeitgebunden zu sein, scheint Walzer den Mittelweg gewählt zu haben. Im ersten Teil seines relativ knappen und skizzenhaften Kapitels beschreibt er permanente Merkmale der Gesellschaft, soweit sie Verwandtschaft, Familie und Liebe beeinflussen. Unter anderem zeigt er auf, dass Verwandtschaftsgefüge zwangsläufig von außen, von politischer Macht und von politischen Institutionen, gefährdet werden. Der Erhalt von Verwandtschaftsgefügen sowie von den Prioritäten und Beziehungen innerhalb dieser Ordnungen erfordert oftmals Widerstand gegen Forderungen von politischen 4

Stets gibt es reichlich Befunde, um jeden Wandel in den relevanten Institutionen anzugreifen oder zu unterstützen, beispielsweise in den Gender-Rollen, den Praxen der Elternschaft, Partnerschaftsverhalten etc. Sie sind Zündstoff für populäre wie für wissenschaftliche Debatten.

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Kräften und Organen. Ähnlich verhält es sich mit wirtschaftlichen Kräften, die sich ebenfalls negativ auf Verwandtschaft und Familie auswirken und diese Gefüge zu zerstören drohen. Walzer nennt die industrielle Revolution und Engels’ Kritik daran als eine der ambitioniertesten Bestrebungen, Familie und Verwandtschaft zu untergraben. Dieser Prozess besteht im Zuge von Industrialisierung und Verstädterung der Gesellschaften fort (SJ 232–234). Bei der Betrachtung der Sozialstruktur von Platons Wächtern sowie der dystopischen Romane des zwanzigsten Jahrhunderts stellt Walzer fest, dass die Spannung zwischen Politik und Familie nur dann weichen wird, wenn die Familie selbst untergeht, wenn soziale Einrichtungen familiäre Funktionen übernehmen und es eine universelle Verwandtschaft gibt (was gleichbedeutend mit überhaupt keiner Verwandtschaft ist). Diese Veränderungen erscheinen ihm ebenso unwahrscheinlich wie vor knapp drei Jahrtausenden (SJ 229–232). Daher schwenkt Walzer von den Spannungen, die immer schon Verwandtschaft und Familie bedroht haben, um auf die Betrachtung des Wesens von verwandtschaftlichen Gruppen. Er bemerkt die unendliche Vielfalt an verwandtschaftlichen Zwängen quer durch Gesellschaften ebenso wie den Umstand, dass im letzten Jahrhundert Freiheit und Wahlmöglichkeit in Bezug auf den Ehepartner und in Sachen Liebe erneute Aufmerksamkeit auf sich zogen. Dabei untersucht er die Faktoren, die die Partnerwahl weiterhin im Verborgenen gestalten und die sozialen Werte aufrechterhalten. In seinen mehr oder weniger zeitlosen Beobachtungen über Politik, Verwandtschaft und Familie klingt Walzer oftmals wie ein Kulturanthropologe, der besonders werturteilsfrei ist. Seine Beobachtungen sind überzeugend, wenn auch wenig überraschend. Er belebt seine Erörterungen aber dadurch, dass er verschiedenartige Deutungen findet, und zwar an Stellen, an denen man nicht damit rechnet. Zudem ist er ein besonders scharfsinniger Beobachter von unterbewussten oder unterschwelligen Bedeutungen und Vorgängen. So bleibt er nicht bei den offen zutage liegenden Möglichkeiten stehen, mit denen Regierungen Verwandtschaftsordnungen untergraben können. Walzer hat ein Gespür für die Möglichkeiten, mit denen solche Ordnungen staatliches Handeln nicht nur festigen, sondern auch unterlaufen können. Eine weitere subtile Beobachtung ist, dass wir dazu tendieren, die Freiheiten in der Partnerschaftswerbung und der Eheanbahnung überzubewerten, sobald die Sozialstrukturen, die sie gestalten, uns allzu vertraut sind und Teil der natürlichen Lebensordnung zu sein scheinen (SJ 234 –239). Größtenteils wurden diese Beobachtungen nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich angedeutet. Sie verleihen seiner Analyse jedoch Originalität und Struktur. Was sie allerdings nicht bieten, ist eine überzeugende Erörterung, die die vermeintlichen Gesamtthemen des Buches – Gerechtigkeit und Gleichheit – einschließen. Da Sphären der Gerechtigkeit als Ganzes versucht aufzuzeigen, wie „pluralistisch“ und facettenreich unsere Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen sind, wie sie überdacht und gemäß den vielen Erfahrungszusammenhängen neu ausgerichtet werden müssen, besteht stets die Gefahr, dass in der Analyse die gegenläufigen Kräfte nicht in gleichem Maße gewürdigt werden. Anders formuliert muss ein Verständnis für das, was Kontexte im Hinblick auf die Erscheinung

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von Gleichheit und Gerechtigkeit unterscheidet, ausgeglichen werden mit einem Verständnis der Aussage, dass der Schirm von Gleichheit und Gerechtigkeit sie alle umfasst. Aber weder Gleichheit noch Gerechtigkeit scheinen eine bedeutende Rolle in Walzers scharfsinnigen, anthropologischen Beobachtungen über Verwandtschaft und Familie zu spielen. Ein Leser, der auf das abgetrennte Kapitel stößt, dürfte es schwer haben zu erraten, dass es aus einem Buch über Gerechtigkeit und Gleichheit stammt. Gerechtigkeit und Gleichheit sind weitenteils inhärent normative Begriffe. Gerechtigkeit ist von Natur aus etwas Gutes, Ungerechtigkeit etwas Schlechtes. Dasselbe trifft nicht wirklich für Gleichheit zu. Wir verstehen ohne Weiteres, dass es viele Situationen gibt, in denen Ungleichheit (in Behandlung, Ergebnis, Verteilung etc.) leicht begründbar ist. Aber nichtsdestotrotz, wenn kein Aspekt eines gegebenen Kontextes bekannt ist, gibt es eine normative Annahme, dass Gleichheit gegenüber Ungleichheit zu bevorzugen ist, und dass Ungleichheit einer Begründung und Rechtfertigung bedarf. Walzers Darstellung von Verwandtschaft und Familie anerkennt schlicht, dass es inter- und intragenerationelle Ungleichheit gibt, und dass Verwandtschaftsordnungen generell Ungleichheiten verankern. Die Ungerechtigkeit dieser Ordnungen, falls es denn eine solche ist, wird nie angesprochen. Ich habe oben erwähnt, dass Walzer Zeitloses und Zeitgebundenes verbindet. Im letzten Drittel des Kapitels thematisiert er die veränderlichen Aspekte des Verhältnisses von Verwandtschaft / Familie und Gesellschaften, die diese umgeben, und zwar solche Aspekte des Lebens im Hier und Jetzt, die sich zur Zeit, in der sein Buch schrieb, gleichsam im freien Fall befanden und revolutionären Veränderungen unterlagen. Seine Themen sind, erstens, die Ehe – zusammen mit der freien Partnerwahl und der Freiheit, sich auf Liebesverhältnisse einzulassen – und zweitens die Stellung der Frau. Mit diesen Themen gibt er seine anthropologische Objektivität (oder Indifferenz) auf und erkennt Normativität stillschweigend an. Wahlmöglichkeiten sind begrüßenswert und Frauen verdienen einen gleichen Status. Offensichtlich hat Walzer sowohl ein Gespür dafür, wie und weshalb sich in den 1970er Jahren die kulturellen Einrichtungen, die sich mit Familie und Liebe befassen, so schnell entwickelten, als auch Sympathie für die Werte, die sich damals zu entwickeln schienen (SJ 239–242). Walzers Auseinandersetzung mit der Partnerwahl für intime Beziehungen scheint letztlich ambivalent zu sein. Er beobachtet umsichtig, dass die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Ehe im späten 20. Jahrhundert in Amerika größer sein dürfte als jemals zuvor. Walzer betont das Zeitgebundene durch das Zeitlose. Er beobachtet, dass die Tradition des Bürgerballs (die unter dem Titel der Einführung von Debütantinnen in die Gesellschaft bewahrt wurde) und die demokratischere Tradition der Stadtpromenade die Partnerwahl in eine Art von begrenztem Marktplatz verwandelten (SJ 236–238), und dass solche Veranstaltungen die Freiheit der Beliebigkeit verdrängen oder zumindest einschränken. Es bestand zwar freie Wahl, aber innerhalb einer geordneten Verteilung der verfügbaren „Waren“. Obwohl er diese Gepflogenheiten dem weniger freien System der arrangierten Ehe gegenüberstellt, dürfte sein Hauptargument sein, dass der Kompromiss zwi-

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schen offensichtlicher Freiheit und sozialen Zwängen ein Konstituens von Gesellschaften ist. Aber dann wechselt Walzer ins Zeitgebundene, indem er bemerkt, dass es in der Zeit der 1980er Jahre nicht nur einen Reingewinn in absoluter Freiheit (in diesem Bereich) in der zeitgenössischen Partnersuchpraxis (dating) gegeben haben dürfte. Er stellt diese Freiheit der Ordnung und dem Zwang der Heirat gegenüber. Sodann richtet er die Aufmerksamkeit mit deutlicher Ambivalenz nicht auf die Ehe, sondern auf Liebesverhältnisse, womit er nahelegt, dass diese ein Weg sind um die Freiheit zu bewahren. Gewiss heißt er weder Liebesverhältnisse gut noch ignoriert ihre nachteiligen Auswirkungen, aber er scheint nur zögernd zuzugestehen, dass diese lediglich nebensächlich und kurzlebig sein können. Er merkt geradezu wehmütig an, dass „Freiheit in der Liebe nur selten mehr sein [kann] als ein freiwilliges Akzeptieren (eines bestimmten Regelsystems) häuslicher Zwänge und Beschränkungen“ (SG 343). Das letzte Thema des Kapitels betrifft die Stellung der Frauen. Hier rechnet Walzer mehr als in den anderen Teilen mit einem beträchtlichen Wandel. Er verdeutlicht, dass die Beherrschung von Frauen weder ein häusliches Phänomen war noch ist. Es ist eine Form von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die in das Gewebe von Politik und Wirtschaft tief verflochten ist. Er betrachtet die Langzeitfolgen der Wahlrechtsbewegung für Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und ihre positive Diskriminierung (affirmative action) in der zweiten Hälfte. Und sein Schwerpunkt basiert nicht so sehr auf Mustern, die sich im Laufe der Geschichte wiederholt haben, als vielmehr auf dem Momentum des Wandels, der die Einrichtungen und Praktiken dauerhaft umgestaltet. Obwohl er kaum eindeutige Aussagen über diese offensichtlichen Folgerungen trifft und den Begriff „Gerechtigkeit“ sparsam benutzt, schlägt er vor, dass viele Aspekte des Familienlebens überdacht und neu geordnet werden müssen, sobald die Gleichheit der Frauen gefestigt und allgemein als eine Tatsache des Lebens akzeptiert wird. Er macht deutlich, dass er durch das Verschwinden der expliziten Barrieren für Frauen in politischen und wirtschaftlichen Bereichen ermutigt ist, und er dürfte der Auffassung sein, dass die impliziten Barrieren mit der Zeit überholt sein werden. Es ist hilfreich die Schwierigkeiten, denen Walzer gegenüberstand, als er ein Kapitel über Verwandtschaft und Liebe in Sphären der Gerechtigkeit einbezog, zu überdenken und zu besprechen, wie er mit diesen Schwierigkeiten umgeht. Das Buch selbst ist stark normativ. Walzer betont in seiner Einführung, dass Gleichheit die Antithese zu Dominanz ist, und dass Dominanz ein Zeichen von Ungerechtigkeit ist. Er hält daher fest, dass seine „Intention in diesem Buch ist […], das Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, in der soziale Güter und Werte nicht als Mittel der Herrschaft genutzt werden bzw. nicht als solche genutzt werden können.“ (SG 19). In der Reflexion auf Verwandtschaft und Liebe erkennt Walzer, dass die Familie ein besonders robustes und unbezwingbares Gebiet der Herrschaft darstellt, und dass bestimmte Formen der Dominanz (Herrschaft der Eltern über Kinder) natürlich und angeboren sind, während andere (Herrschaft der Ehemänner über Ehefrauen) sich leicht bezweifeln lassen. Aber er räumt ein, dass Familien- und Verwandtschaftsstrukturen immer eine Bastion der Günstlingswirtschaft bleiben

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werden, und dass es hier keine Aussicht auf Veränderung gibt, solang das Konzept der Familie nicht gänzlich beseitigt wird (wie es in der utopischen / dystopischen Literatur von Plato bis Huxley antizipiert wird). Ohne einen plausiblen Weg zur Gestaltung eines normativen Programms, wie die Herrschaft in der Familienund Liebessphäre beseitigt werden kann, greift Walzer auf die Beschreibung zurück. Er erzählt uns mit beachtlichem Einfühlungsvermögen, wie und warum ungleiche Praktiken bestehen bleiben, und er berücksichtigt die Grenzen für jeglichen Reingewinn an Gleichheit, und jeglichen Nettoverlust an Beherrschung. Aber es ist klar, dass er, wie jeder andere Sozialrealist, normative Ambitionen zurücknehmen muss. Gleichzeitig sind, wie ich angedeutet habe, im Laufe der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts viele dringliche Fragen über Ungleichheit und Gerechtigkeit innerhalb von Familien aufgetreten. Bedauerlicherweise spielen diese in Walzers Erörterung keine Rolle. Aus dem Amerikanischen von Angelina Reif, Michael Spieker und Manuel Knoll

GÖTTLICHE GNADE Michael Spieker

In einem Werk, das die Eigengesetzlichkeit der Verteilungsräume unterschiedlicher sozialer Güter darstellen will und das darauf aufbauend zur Wahrung von Freiheit und Gerechtigkeit die Trennung von Sphären postuliert, darf die Religion nicht fehlen. Schließlich hängt es von deren Bedeutung ab, ob überhaupt von einer weltlichen oder sozialen Sphäre die Rede sein kann. Erst wo dies gegeben ist, kann im Weiteren an der Unterscheidung von Sphären innerhalb des Weltlichen gesprochen werden. Vor diesem Hintergrund sind bereits Stellung und Ausmaß von Walzers Berücksichtigung der Religion unter dem Titel der „Göttlichen Gnade“ auffällig. Ihre Behandlung nach den Sphären von Sicherheit und Geld sowie nach Freizeit und Verwandtschaft spricht eher gegen eine zugrundeliegende systematische Absicht des Autors. In diese Richtung deutet auch die Kürze des Kapitels, das mit lediglich sechs Druckseiten im englischen Original lediglich halb so viel Platz einnimmt wie beispielsweise die Sphäre der Freizeit.1 Entwickelt Walzer die Bedeutung der sozialen Güter stets anhand von mindestens zwei Erzählungen, so muss im Bereich der Religion eine historische Reminiszenz genügen, die im Übrigen ein Nachhall seiner 1965 erschienenen Dissertation über die Revolution of the Saints ist, in der es um die Rolle der Puritaner in der englischen Revolution ging. Andererseits ist zu fragen, ob göttliche Gnade überhaupt ein zu verteilendes soziales Gut ist. So kommt Walzer zu der Einsicht, dass sie gerade jenseits dessen liegt, was gemäß menschlicher Übereinkunft zu verteilen ist. Insofern könnte man es als konsequent bezeichnen, dass die Religion nur im Vorbeigehen gestreift und nicht ausführlich behandelt wird. Einer Übersicht über Walzers Einordnung der Religion in Sphären der Gerechtigkeit soll hier die Frage nach der Tragweite seiner dort vorgebrachten Argumente folgen. Schließlich wird auch ein Blick auf das weitere Werk Walzers zu werfen sein, in dem das Feld der Religion stets präsent ist. Zwar verweist Walzer in den Sphären nicht ausdrücklich auf seine anderenorts erfolgten Erörterungen, doch ist es denkbar, dass er sich auch vor diesem Hintergrund (und dem was er später noch schrieb) kurz fassen wollte.

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Mit seiner Unterscheidung der Sittlichkeit in die Sphären von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat könnte man Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts als einen Wegbereiter für Walzers Projekt sehen. Dort ist die Anmerkung zu § 270 über das Verhältnis des Staats zur Religion die ausführlichste und längste des gesamten Buches.

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1. RELIGION IN DEN SPHÄREN Gleich zu Beginn macht Walzer deutlich, dass er die Verteilung von Gnade aus einer abendländischen Perspektive thematisieren will (SG 348), denn dieses Gut stehe womöglich nicht in allen Kulturen überhaupt zur Verfügung. Zur Verfügung steht es freilich auch im Westen nicht, zumindest nicht in menschlicher Verfügungsgewalt, da die Gnade, gleichgültig ob man ihr ein Konzept des Verdienstes unterlegt oder nicht, in jedem Fall einem göttlichen Ratschluss entspringt. Weshalb angesichts ihrer streng genommen gilt: „[…] wir wissen nichts über diese Geschenke.“ (SJ 243, eigene Übersetzung). Die Verteilung der Gnade wurde in der Geschichte zum einen als abhängig von spezifischen institutionellen Arrangements und zum anderen verbunden mit politischer Bedeutung gedacht. So war sie stets umstritten, auch ohne dass sie als ein knappes Gut erschien. Beides sei in der Gegenwart obsolet geworden, da das „Streben nach Gnade“ als frei betrachtet werde. Trotz dieser Fraglosigkeit möchte Walzer sich der Tragweite der Gnade vergewissern, jedoch – wie es scheint – aus einem rein historischen Interesse. „Hier haben wir vermutlich den in unserem Kulturkreis eindeutigsten Fall einer autonomen Sphäre vor uns.“ (SG 349). Gnade könne nur frei erlangt und nicht gekauft2 oder verliehen werden. Diese Autonomie kam aber nicht von selbst zustande und war stets umstritten. Dabei sei sie aber vom christlichen Glauben her, um den es Walzer im Folgenden geht, stets nahegelegen, da „politischer Zwang und christliche Lehre“ schon ursprünglich in einem Spannungsverhältnis standen. Als Beleg werden Augustinus, Luther und Locke sowie – mit Matthäus 22, 21 – die christliche Offenbarung zitiert: „So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.“ Doch so deutlich es ist, dass damit zwei unterschiedliche, jeweils in sich einheitliche Räume konstituiert sind, so unklar ist doch, wo die Grenze zwischen ihnen verläuft. Nicht überall ist das wie auf der Münze eingeprägt, die der Meister des Neuen Testaments vor Augen hatte. Darauf weist auch Walzer sogleich hin, wenn er auf die interessengebundene Verwirklichung des Trennungsgebots hinweist (SG 350). Mit John Lockes Brief über Toleranz, auf den noch zurückzukommen ist, folgert Walzer aus der Individualität von Glauben und Gnade die Trennung und jeweils in ihrem Bereich freie Entfaltung von Kirche und Gemeinwesen. Es handle sich dabei um „Himmel und Erde“, deren Trennung evident sei. Mit dem ersten Zusatz zur amerikanischen Verfassung erklärte das Parlament, dass es nur für die Erde zuständig ist. Wer in den Himmel will, der musste sich fortan selbst darum kümmern. Weder bringt der Staat die Einzelnen auf den Weg dorthin, noch will er davon abhalten, den Weg mit welchen Mitteln auch immer zu beschreiten. Damit verstärkt das Gemeinwesen die religiöse Individualisierung, denn nun ist jeder selbst für seine Gnadenerlangung zuständig. Für sich mögen sie sich zu religiösen Gemeinschaften mit hierarchischen Ordnungen zusammenfinden, der Staat steuert hier nichts. Er könne jedoch durchaus Rücksicht auf religiöse Eigenheiten nehmen und beispielsweise Kriegsdienstverweigerungen aus Ge2

Dazu äußerte Walzer sich bereits in der Sphäre des Geldes (SG 160).

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wissensgründen akzeptieren (SG 352). Die „religiöse Freiheit“ bedingt auf dem Wege der Individualisierung Gleichheit: Alle Wege zum Heil sind in der öffentlichen Sicht gleich gültig, denn sie berühren den Bürgerstatus nicht: „Die Politik dominiert nicht über die Gnade, und die Gnade dominiert nicht über die Politik.“ (SG 351). So selbstverständlich in der westlichen Gegenwart auch der zweite Teil des Satzes gelte, so musste er doch lange erkämpft werden. Walzer führt dazu Lockes Zurückweisung von Oliver Cromwells Herrschaftsanspruch in der puritanischen Revolution an. Auch hier ist es das Recht des Einzelnen, das Reichweite und Grenze von religiös motivierten Ordnungsansprüchen bezeichnet. Es könnten sich „die Heiligen“ – als solche bezeichneten sich die Puritaner – durchaus zusammenschließen und (gleichsam im Wortsinne) hierarchisch regieren. Aber eben nur über jene, die ihre Heiligkeit anerkennen. Das Heil kann nur der Einzelne für sich selbst erlangen, seine Heiligkeit kann nur für den bestimmend sein, der sie frei anerkennt: „Wenn aber genug Menschen die Herrschaft der Heiligen wollen, dann sollte es den Heiligen nicht schwer fallen, auch Wahlen zu gewinnen.“ (SG 353). Eine gerechtfertigte Priesterherrschaft bräuchte also gar nicht mehr priesterlich sein. Dass man all das aus einer religiösen Perspektive auch anders sehen kann, räumt Walzer mit der Erwähnung des Islam ausdrücklich ein, er problematisiert es aber nicht weiter. Die „Mauer zwischen Kirche und Staat“, so Walzer mit der berühmten Formulierung Thomas Jeffersons3, sei jedenfalls eine menschliche Erfindung, auch wenn er bereits in der „Idee der Gnade“ (SG 355)4 selbst einen Widerstand gegen den Zwang in Sachen des Seelenheils erkennt, wofür er nochmals auf seinen Gewährsmann Locke rekurriert. Weil die Trennung eine menschliche Erfindung ist, deshalb müssen auch menschliche Einrichtungen über ihre Aufrechterhaltung wachen: Die politische Macht hat die Aufgabe, über „die Mauer zwischen Kirche und Staat“ (SJ 282) zu 3

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Von einer „wall of eternal separation between Church and State“ sprach Jefferson in seinem Brief an die Danbury Baptist Association vom 1. Januar 1802 (online unter: http://www.loc. gov/loc/lcib/9806/danpost.html – letzter Zugriff: 07.04.2014). Damit legte er das First Amendement der amerikanischen Verfassung von 1791 und dessen Verbot eines Verbots oder einer Anerkennung einer Religion auf nationaler Ebene aus. Jefferson seinerseits nahm damit eine ältere Formulierung von Roger Williams aus dem Jahr 1644 auf: „First the faithful labors of many Witnesses of Jesus Christ, extant to the world, abundantly proving, that the Church of the Jews under the Old Testament in the type, and the Church of the Christians under the New Testament in the Antitype, were both separate from the world; and that when they have opened a gap in the hedge or wall of Separation between the Garden of the Church and the Wilderness of the world, God hath ever broke down the wall itself, removed the Candlestick, and made his Garden a Wilderness, as at this day. And that therefore if he will ever please to restore his Garden and Paradise again, it must of necessity be walled in peculiarly unto Himself from the world, and that all that shall be saved out of the world are to be transplanted out of the Wilderness of the world, and added unto His Church or Garden.“ (Williams 1963, S. 108) Was Walzer als Auszeichung dieser Trennung sieht, nämlich, dass sie menschlicher Verfügbarkeit unterliegt, wird in der deutschen Übersetzung von Hanne Herkommer (SG 353) zu einer pejorativen Kennzeichnung verfremdet.

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wachen. Wachen haben nur dort einen Sinn, wo ein Gut bedroht ist. Als Bedrohung eigener Art, noch über die potenzielle Dominanz von Geld hinaus, muss die Religion gelten, denn ihr ist die Beanspruchung eines Einheitssinns inhärent. So ist sie vielleicht die größte Gefahr für Walzers Verständnis distributiver Gerechtigkeit, nach dem es einen Einheitssinn gerade nicht geben kann (SJ 4). Zwischen einem inklusiven und einem exklusiven Universalitätsanspruch von Religionen unterscheidet Walzer allerdings nicht. Zugleich zeichnet sich eine gerechte Gesellschaft dadurch aus, dass sie nicht nur die Politik vor dem Übergriff der Religion bewahrt, sondern ebenso das religiöse Leben selbst schützt und sich entfalten lässt. Schon im dritten Punkt seiner „Theorie der Güter“ geht Walzer auf das Differenzierungspotenzial religiöser Weltsicht ein, wenn er davon spricht, dass es kein einziges und einheitliches Ganzes basaler Güter gebe, dass in allen moralischen oder „materiellen Welten“ (SG 33 f.) als solches gilt. Sein Bespiel dafür ist die Deutung des Brotes als Nahrung aber ebenso als Leib Christi, Symbol des Sabbats oder der Gastlichkeit. Die These von der Verschiedenheit in der Deutung von Gütern ist damit anschaulich belegt. Der Konflikt, der aus der unterschiedlichen Deutung derselben Sache am selben Ort und zur selben Zeit entsteht, wird dabei aber nicht weiter angesprochen.5 Auch das Kapitel über „Göttliche Gnade“ löst den Widerspruch nicht auf, sondern beschreibt lediglich historisch den Versuch, den Raum des Widerspruchs zu befrieden, indem ihm das Medium der Macht entzogen wird und diese für die – von Erwägungen über Wahrheit, Gnade und Heil freie – Politik reserviert wird.

2. WER ZIEHT DIE GRENZE? Der Verweis auf Lockes Brief über Toleranz liegt angesichts von Walzers Ausgangspunkt bei der Auseinandersetzung um die von den Puritanern behauptete Dominanz der Gnade nahe. Locke analysiert sehr deutlich den Herrschaftsanspruch der Puritaner und weist ihn als Grenzverletzung zurück: Daß Herrschaft auf Gnade beruht, ist auch eine Behauptung, wodurch die, die sie aufstellen, Anspruch auf den Besitz aller Dinge machen. Denn sie stehen sich nicht selbst so sehr im Lichte, daß sie nicht glaubten oder nicht wenigstens verkündigten, sie seien die wahren Frommen und Gläubigen.6

Eine bürgerliche Herrschaft der Frommen wäre allerdings unrechtmäßig, da die Frömmigkeit wohl im Blick auf das Heil notwendig, aber in Betreff der Regelung der äußeren Freiheit von keinerlei Bedeutung sei. Weil es in Bezug auf das Heil um eine strikt individuelle Angelegenheit geht, die nur jeder Einzelne für sich erlangen kann, dürfe es hier von Seiten Dritter keine Einflussnahme mit dem Schwert geben. Das wäre widersinnig, die staatliche Gewalt darf nicht auf den

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Dies tut Walzer freilich in anderen Werken, beispielsweise in Walzer 1992, S. 100 ff. Locke 1996, S. 93.

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Bereich der Seele ausgeweitet werden. Ebenso wenig darf umgekehrt die Leitung der Seelen auf die Regelung äußerer Freiheiten ausgreifen. Die Vorzeichen, unter denen Locke diese Trennung konzipierte, sind von Walzers unausgesprochenen Vorannahmen jedoch weit entfernt. Sein Ansatz zur Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Macht war die Unterscheidung zwischen (im Blick auf das Heil) indifferenten und nicht-indifferenten Angelegenheiten. Erstere regelt die staatliche Obrigkeit und für Letztere ist die Kirche zuständig, die sie gemäß einer göttlichen Weisung zu regeln beanspruchen darf. Wo aber die Trennlinie zwischen indifferent und nicht-indifferent verläuft, kann wiederum nur durch Offenbarungsweisheit und nicht auf dem Wege menschlicher Setzung deutlich werden. Die Trennung selbst ist nicht-indifferent. Letzteres dürfte auch der Befund angesichts der zeitgenössischen Stellung von religiöser Praxis und Öffentlichkeit sein. Wie das Leben des Einzelnen nicht in unterschiedlichen Sphären getrennt verläuft, so auch nicht sein Glaubensleben. Gerade in den Vereinigten Staaten ist das in Gestalt daraus entstehender Konflikte stets präsent gewesen, sei es im Streit über Schulgebete und Erziehung, Abtreibung und Schöpfungslehre oder in der Frage des Einflusses verschiedener religiöser Lobbygruppen auf die Politik. Im Unterschied zu Locke geht Walzer in Sphären der Gerechtigkeit auf keinen einzigen religiös motivierten Konflikt der Gegenwart ein. Daher kann hier nicht wirklich davon die Rede sein, dass Walzer – wie er behauptet – seine Charakterisierung dieser Sphäre auf dem Wege einer besonderen Nähe zur „sozialen Welt“, in der er lebte, entwickelt hat.7 Locke gibt zumindest ein Beispiel des Konflikts: „Was immer im Gemeinwesen erlaubt ist, kann nicht durch die Obrigkeit in der Kirche verboten werden.“8 Doch, so Locke, umgekehrt sei auch in der Kirche verboten, was der Staat für das weltliche Gemeinwesen nicht erlaubt. Der Staat dürfe derart in die Ordnung der Kirche eingreifen, weil ein solches Verbot „nicht eine religiöse, sondern eine politische Materie betrifft“. Üblicherweise sei das Schlachten und Opfern beispielsweise einer Kuh auch für religiöse Zwecke gestattet. Wenn aber zufällig der Stand der Dinge so wäre, daß das Interesse des Gemeinwesens erforderte, daß alles Schlachten von Tieren eine Weile unterlassen werden müßte, um den Vorrat an Vieh zu vergrößern, der durch eine außergewöhnliche Seuche vernichtet worden ist – wer sieht da nicht, daß die Obrigkeit in einem solchen Falle allen ihren Untertanen verbieten darf, Kälber für welchen Gebrauch immer zu schlachten.

Locke sieht es als ausgemacht an, dass jeder das Recht des Staates erkennt und anerkennt. Den Widerspruch, der darin liegt, dass nur der Einzelne beurteilen kann, was der Gottesdienst erfordert, und dass dazu eben mitunter die Opferung eines Kalbes und die Verletzung eines obrigkeitlichen Rechts gehören kann, und dass die vorausgesetzte Trennung religiöser und politischer Materien dann nicht mehr haltbar ist, erkennt er nicht. Locke fragt: „Aber wie, wenn die Obrigkeit 7 8

Das aber ist der Anspruch, den er im Vorwort formuliert. Dessen zweiter Bestandteil hingegen, der Partikularismus, ist womöglich gerade deswegen erfüllt (SG 20, SJ XIV). Locke 1996, S. 67. Vgl. dazu auch Ebbinghaus’ Erläuterungen in seiner Einleitung zur Übersetzung des Briefes über Toleranz in Locke 1996, S. XLIX.

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glaubt, sie hat das Recht, solche Gesetze zu geben, und daß sie dem öffentlichen Wohl dienen, und ihre Untertanen glauben das Gegenteil? Wer soll Richter zwischen ihnen sein? Ich antworte: Gott allein.“9 Letztlich kann die Grenze zwischen politischem und religiösem Bereich nach Locke also gar nicht mehr gezogen werden. Die Eindeutigkeit der Trennung einer Sorge für das Heil der Seelen und einer Ordnungsinstanz für die natürliche Freiheit und das natürliche Wohl, von der Locke ausging, ist am Ende nicht mehr haltbar.10 Nach Walzer war die Trennung jedoch eindeutig eine menschliche Erfindung (SG 355), seine Berufung auf Locke ist vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht haltbar.

3. WÜRDIGUNG DER RELIGION IN WALZERS WERK In seinem Essay über Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie nennt Walzer die Differenzierung und die ihr folgende Trennung von Kirche und Staat die „berühmteste“11 einer ganzen Reihe von „Trennungen“, die den liberalen Staat erst entstehen ließen. Die Zivilgesellschaft und ihre interne Differenzierung „hat ihren Ursprung im Kampf für Religionsfreiheit.“12 Hier finden sich viele der Formulierungen wieder, die bereits in den Sphären auftauchten. Erwähnt wird im Essay aber auch der Prozess der Trennung. Die Entstaatlichung der Kirche funktioniert nur dadurch, dass der Kirche der materielle Reichtum und die Macht genommen wird.13 Die Freiheit des Staats und der Politik von den Heilserwartungen der Religionen birgt aber auch einen Verlust für den liberalen Staat: „Der Liberalismus mag die Unterschiede zwischen uns vergrößern, indem er den Bereich erlaubter Unterschiede erweitert, aber er schafft auch Muster der Anpassung und Gewöhnung, was wir schätzen sollten.“14 Die Politik wird weniger gefährlich, aber auch weniger interessant. Das wird nun wiederum zur Gefahr für die liberale Republik, die auf allen Ebenen stets auf das Engagement ihrer Bürger angewiesen ist. Doch der Einzelne ist an das Gemeinwesen weniger eng gebunden, wenn er seinen persönlichen Weg zum Heil in einer anderen Gemeinschaft verfolgt, als in der öffentlichstaatlichen Sphäre. Das ist der unabwendbare Preis der grundsätzlichen Befriedung der öffentlichen Sphäre.15

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Locke 1996, S. 89. Das sieht Walzer an anderem Ort ebenso, vgl. Walzer 1992, S. 62. Walzer 1992, S. 38. Walzer 1992, S. 85. Walzer 1992, S. 133. Walzer 1992, S. 183. Mancher mag dies bedauern und eine Revitalisierung der Bürgerschaft aus dem Geiste der Religion ersehnen, so etwa Kartheininger 2012, S. 221 f., in seinem Beitrag über die Religion bei Walzer. Worin die von ihm vermisste substanzielle Quelle der Solidarität bestehen könnte, klärt er aber nicht auf.

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Die Trennung der Religion vom Staat bedeutet für Walzer im Unterschied etwa zu John Rawls16 nicht den Verweis ins Private. Das wird an Walzers Untersuchung der jüdischen Tradition deutlich: „Die prophetische Religion umfaßte nicht nur die Politik, sondern alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. […] In Wirklichkeit waren [die Propheten; M. S.] die Erfinder der Gesellschaftskritik, wenngleich sie ihre eigene kritische Botschaft nicht selbst erfunden hatten.“17 An der Deutung des Propheten Amos tritt aber auch Walzers strikt kulturalistischsäkulares Verständnis der religiösen Botschaft hervor. Nur vor dem Horizont vorgängig geteilter Werte könne die prophetische Botschaft wirksam werden, von Gott ist nicht mehr die Rede.18 Der Prophet selbst mag sich vielleicht in dieser Einordnung nicht wieder finden, doch der ordnende Blick des liberalen Gesellschaftstheoretikers hat nicht die besondere Stellung Einzelner, sondern das Allgemeine des Systems zu betrachten und zu erklären. Gläubige motivieren ihr politisches Handeln auch in der Gegenwart der liberalen Demokratien weiterhin mit religiösen Überzeugungen, und dies ist auch gewünscht, „but they do need to surrender their absolutism.“19 In der Öffentlichkeit muss die religiöse Sprache sich ändern. Walzer teilt aber nicht die These vom Bedeutungsverlust des Glaubens und er fordert auch nicht dessen Verschweigen. Drei Voraussetzungen nennt Walzer für die Trennung von Staat und Kirche: ein striktes Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol des Staates („institutional divide“), die Freiheit öffentlicher Repräsentation von spezifisch religiösen Gehalten („ceremonial divide“) und die Akzeptanz der unabschließbaren Offenheit des politischen Prozesses („cultural divide“).20 Politik beinhaltet notwendigerweise Kontingenz und damit Wahrheitsabstinenz. Es muss immer möglich sein und mitgedacht werden, dass der politisch Andersdenkende vielleicht doch im Recht ist. Wenn die Politik daher eine religiöse Sprache spreche, dann sei das ein Zeichen für „politics gone bad“. Der liberale Staat nötigt den Gläubigen daher auch einen Lernprozess ab, er verhindert jedoch nicht deren – gleichsam sphärenübergreifendes – Engagement. Dessen Voraussetzung allerdings ist die Übersetzbarkeit der religiösen Forderungen.21 Vor dem Hintergrund der Religion hat es der Staat nicht nur mit einzelnen Individuen, sondern auch mit Gruppen zu tun, die aus dem Interesse der Gruppe 16 17 18 19

Vgl. Rawls 1998, S. 312 ff. Walzer 1993, S. 84. Walzer 1993, S. 95. Walzer 1998, S. 297. Manches an Walzers Aneignung der jüdischen Prophetie und ihrer säkularen Übersetzung in die Sprache der Politik ist freilich problematisch. So bleibt stets die Frage, ob der religiöse Gehalt dadurch tatsächlich beherrschbar wird, oder ob er nicht die Trennung zwischen der Sphäre des Heiligen und des Säkularen durchkreuzt. Dafür spricht etwa der genau besehen unklare Bezug Walzers auf Locke, wie er an der Frage der Schlachtung des Kalbes deutlich wird. Siehe zu Walzers säkularer Bezugnahme auf die religiöse Prophetie auch die Diskussion bei Honig 2014. 20 Walzer 1998, S. 295 f. 21 So die Formulierung dieser Forderung bei Habermas 2005.

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heraus Rechte einfordern. Solche Interessen müssen nicht nur religiöser Natur sein, auch kulturelle und ethnische Fundierungen von Gruppenrechten treten in der Gegenwart auf. Sie fordern als ganze bestimmte Rechte im Umgang mit ihren Mitgliedern, die nicht die Freiheit haben, die spezielle Behandlung abzulehnen, etwa im Falle religiöser Riten oder Erziehung. Der strikt individualistische Liberalismus hat hierfür kein Verständnis. Walzer aber plädiert für Toleranz auch gegenüber solchen Gruppen, die die Institutionen des liberalen Staats explizit ablehnen.22 Damit würde die Bedeutung der kulturellen Gemeinschaft für das Gedeihen der Einzelnen anerkannt. Zudem scheint er unter der Bedingung religiöser Vielfalt auf die extremismenabstumpfende und friedensfördernde Wirkung des religiösen Wettbewerbs zu hoffen. Schließlich würde gerade die Marginalisierung von Minderheiten die Gefahr ethno-religiöser Konflikte verschärfen. Daher ist es auch ein Gebot der Klugheit, dass der liberale Staat weitestgehende Toleranz walten lässt; womit übrigens ein Argument Lockes fortlebt, der allerdings Toleranz gegenüber Katholiken und Atheisten als unmöglich ausschloss und zudem kein Recht auf Toleranz anerkannte.23 So nimmt Walzer die Fragen und Konflikte der „sozialen Welt“ seiner Zeit, die er im Schematismus der Sphären der Gerechtigkeit im Bereich der Religion umging, also doch noch auf.

4. SCHLUSS Der weithin wahrgenommenen Renaissance der Religion24 war Walzer einen Schritt voraus, weil er die ihr zugrunde liegende säkularisierungstheoretische Perspektive eines Absterbens oder zumindest doch der Individualisierung und Privatisierung der Religion nicht teilte.25 Insofern musste, was gar nicht gestorben war, auch nicht wieder geboren werden. Mit seinen auf die Sphären folgenden Aufsätzen macht er deutlich, dass die verfassungsrechtliche Trennung zwischen Staat und Religion mit der Trennung von Öffentlichem und Privatem nicht deckungsgleich ist. Wenn er dazu betont, dass Fortschritte in der Verwirklichung individueller rechtlicher Freiheit mitunter mit religiösen Begründungen gestützt wurden, wie etwa in der Befreiung der Schwarzen26, dann beteiligt er sich an einer Debatte, die erst durch Jürgen Habermas’ Beschäftigung mit religiös motivierten Argumentationen breite Aufmerksamkeit gefunden hat.

22 Walzer 2004, S. 49 ff. 23 Vgl. Locke 1996, S. 97 ff. 24 Eine Zusammenfassung der Diskussion rund um die ‚Rückkehr der Religion‘ mit besonderer Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Diskussion in Deutschland findet sich bei Dreier 2013. Eine Übersicht über die politikwissenschaftliche Rezeption der ‚Rückkehr-These‘ (unter anderem mit Erwähnung Walzers) findet sich bereits in einem Artikel von Minkenberg / Willems 2002. Beide bieten auch umfangreiche Literaturangaben. 25 Dafür steht auch das editorische Werk Walzers, in dem er sich der Herausgabe der politischen Tradition der jüdischen Philosophie widmet, vgl. Walzer 2000. 26 Vgl. Walzer 1998.

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Religiöse Bürger müssen danach ein demokratiekompatibles Verhältnis zum Pluralismus entwickeln. Ebenso braucht aber die säkulare Vernunft Offenheit gegenüber dem möglichen rationalen Gehalt religiöser Bezüge. Wie dieses Verhältnis konkret zu denken sei, untersuchte Walzer schon früh mit seinen Studien zum Wirken der Propheten.27 Spricht Habermas angesichts seiner Einsicht in die (für ihn unerwartete) Bedeutung religiöser Bezüge auch im Verständigungsprozess der liberalen Demokratie von „Postsäkularismus“, so würde Walzer diese Sicht nicht teilen, weil er demzuvor die Diagnose des Säkularismus der modernen Gesellschaft nicht mitvollzog. Das wird freilich nicht schon an den knappen Bemerkungen innerhalb der Sphären, sondern erst im Lichte von Walzers Gesamtwerk deutlich. So sehr die liberale Republik auf die Anteilnahme und Motivation ihrer Bürger angewiesen ist, so wenig kann sie diese mit dem ihr zur Verfügung stehenden Mittel des zwangsbewehrten Rechts herstellen. In der deutschen Diskussion findet sich diese Erkenntnis im sogenannten Böckenförde-Diktum niedergelegt.28 Walzers Liberalismus ist jedoch wesentlich zuversichtlicher und nicht von der leisen Melancholie geprägt, die man vielleicht bei Böckenfördes Vermissen der Homogenität noch mithören kann. Auch im Bereich der staatstragenden Gesinnungen soll es keine Dominanz geben. Sie wäre eine Verletzung des individuellen Rechts auf „Glauben, Unglauben, Irrglauben, Aberglauben einschließlich der Glaubenslosigkeit, ja Glaubensfeindschaft“.29 Gemeinsame Interpretationen sozialer Güter gibt es nach Walzer auch über religiöse Differenzen hinweg. Diese Heterogenität bildet den Kontext, in dem sich die Freiheit im Bereich der Suche nach Sinn realisieren lässt. Die Zivilreligion der gerechten Gesellschaft besteht darin, diese unterschiedlichen Deutungen gelten und nicht zu bürgerlichen Gegensätzen werden zu lassen. In den Sphären der Gerechtigkeit ist deutlich formuliert, dass dies nur eine menschliche Erfindung sein kann. Insofern ist die Stabilität der durch diese Erfindungsgabe errichteten „Mauer“ angesichts stets möglicher Fundamentalismen immer prekär. Weil sie Erwägungen über die Ewigkeit in eine Sphäre eingrenzt, kann sie selbst keine Ewigkeit beanspruchen, sondern nur an die Einsicht appellieren, die Grenze als Bedingung der Möglichkeit bürgerlicher und religiöser Freiheit zu respektieren. In diesem Sinne ist auch Walzers Rechtfertigung – seiner eigenen Einschätzung nach – ein politischer Appell und keine philosophische Begründung, was aber nicht bedeutet, dass es Letztere nicht geben könnte.

27 Vgl. Walzer 1993, S. 81 ff. 28 Vgl. Böckenförde 1976, S. 60. 29 So die Aufzählung der von der Religionsfreiheit gewährleisteten Haltungen bei Heckel 1997, S. 859. Vgl. dazu auch Walzers Zurückweisung der Kritik George Katebs an seinem angeblichen „ethno-religious radicalism“ in Walzer 2014.

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LITERATUR Böckenförde, Ernst-Wolfgang, 1976: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. In: Ders.: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt am Main, S. 42–64. Habermas, Jürgen, 2005: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hrsg. von Florian Schuller, Freiburg. Heckel, Martin, 1997: Das Kruzifix in der christlichen Gemeinschaftsschule. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Staat – Kirche – Recht – Geschichte. Bd. III/IV. Tübingen, S. 827–859. Honig, Bonnie, 2014: Between sacred and secular? Michael Walzer’s Exodus story. In: Yitzhak Benbaji / Naomi Sussmann (Hrsg.): Reading Walzer. Milton Park / New York, S. 146–166. Kartheininger, Markus, 2012: Zum theologisch-politischen Profil des Sozialdemokratismus. Religion und Staat bei Michael Walzer. In: Karl-Heinz Nusser (Hrsg.): Freiheit, soziale Güter und Gerechtigkeit. Michael Walzers Staats- und Gesellschaftsverständnis. Baden-Baden, S. 211– 245. Locke, John, 1996: Ein Brief über Toleranz. Übers. und hrsg. von Julius Ebbinghaus. Hamburg. Minkenberg, Michael / Willems, Ulrich, 2002: Neuere Entwicklungen des Verhältnisses von Politik und Religion im Spiegel politikwissenschaftlicher Debatten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43– 44/2002, S. 6–15. Rawls, John, 1998: Politischer Liberalismus. Übers. von Winfried Hinsch. Frankfurt am Main. Walzer, Michael, 1992: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. Übers. von Christiane Goldmann, hrsg. von Otto Kallscheuer. Berlin. Walzer, Michael, 1993: Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik. Übers. von Otto Kallscheuer. Frankfurt am Main. Walzer, Michael, 1998: Drawing the Line. Religion and Politics, in: Soziale Welt 49, S. 295–307. Walzer, Michael et al. (Hrsg.), 2000: The Jewish Political Tradition. New Haven. Walzer, Michael 2004: Politics and Passion. Toward a More Egalitarian Liberalism. New Haven / London. Walzer, Michael, 2014: Response to Part III. In: Yitzhak Benbaji / Naomi Sussmann (Hrsg.): Reading Walzer. Milton Park / New York, S. 222–228. Williams, Roger, 1963: Mr. Cottons Letter Lately Printed, Examined and Answered, London 1644. In: Reuben Aldridge Guild (Hrsg.): The Complete Writings of Roger Williams, Vol. 1. New York.

ANERKENNUNG Markus Schütz

1. DIE SPHÄRE DER ANERKENNUNG Seit etwa zwanzig Jahren ist „Anerkennung“ eines der wichtigsten Themen der politischen Philosophie. Den Anfang machten der kanadische Philosoph Charles Taylor mit seinen Werken Das Unbehagen in der Moderne (1991) und Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1993), sowie Axel Honneth mit seiner Habilitationsschrift Der Kampf um Anerkennung (1992). Seitdem schießen die Publikationen zum Thema „Anerkennung“ wie Pilze aus dem Boden. Bereits etwa zehn Jahre vor der intensiven Beschäftigung mit diesem Thema hat sich auch Michael Walzer in seinen Sphären der Gerechtigkeit mit diesem Thema auseinandersetzt. Und alle diese Ansätze gehen zurück auf Hegel, der sich in seinen Jenaer Frühschriften mit Anerkennung als Grundlage der subjektiven Identität auseinandersetzt. Dass gerade zu diesen Zeitpunkten Anerkennung zu einem zentralen Thema der politischen und sozialen Philosophie wird, ist kein Zufall, weder bei Hegel am Beginn der industriellen Revolution, noch bei den Autoren in den 1980er und 1990er Jahren. Wie auch „Gerechtigkeit“ ist Anerkennung ein Thema, das mit der bürgerlichen Gesellschaft untrennbar verbunden ist. Der Grund dafür ist, dass dieser Gesellschaftstyp seinen Mitgliedern keine von vornherein gesicherten Positionen bietet. In traditionellen Gesellschaften erhielten die Menschen ihren Platz in der sozialen Ordnung durch Geburt zugewiesen. In bürgerlichen Gesellschaften muss sich das Individuum seinen Platz erst suchen und verdienen (zumindest der Idee nach – in der Wirklichkeit können einige Bessergestellte ihre Führungsposition durchaus an ihre Nachkommen vererben). Zwar bietet uns dieser Gesellschaftstyp eine Vielzahl verschiedener Rollen an, die unterschiedliche Funktionen für die Gemeinschaft ausüben. Aber zwischen diesen Angeboten kann und muss der Einzelne wählen. Dies hat die Handlungsspielräume und damit die Freiheit der Menschen enorm vergrößert. Die Bürgerinnen und Bürger sind in diesem Gesellschaftstypus nicht mehr auf einen engen Rahmen ihrer Lebensführung festgelegt, sondern können ihre Lebensweise weitgehend selbst bestimmen. Die bürgerliche Gesellschaft gibt den Menschen Raum zur Selbstverwirklichung. Jeder einzelne nimmt mit seinen Fähigkeiten und Leistungen einen Platz in dieser Gesellschaft ein und erwartet dafür eine angemessene Gegenleistung – materiell und ideell. Aber bei der Suche und dem Streben nach diesem Platz können wir auch scheitern. Gerade weil unser Ort in der Gesellschaft nicht festgelegt ist, haben wir keine Sicherheit. Dieses Fehlen von Sicherheit ist der Preis der Freiheit.

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In den 1970er und 1980er Jahren hat sich diese Unsicherheit noch einmal verschärft. Die Jahre zuvor waren in den westlichen Industrienationen Zeiten des Aufschwungs. Zum ersten Mal seit der Industrialisierung ist es gelungen, die breite Masse der Bevölkerung an der Ausweitung des Wohlstandes zu beteiligen. Der Soziologe Ulrich Beck hat für diese Entwicklung den Begriff des „Fahrstuhleffekts“ geprägt.1 Das Wohlstandsniveau der Gesellschaft als Ganzer wurde nach oben gefahren. Aber mit der ersten Ölkrise in den frühen 1970er Jahren gerät diese Entwicklung wieder ins Stocken und es beginnt eine Phase neuer Verteilungskämpfe – um materielle Güter, aber auch um ideelle Güter wie Sicherheit und eben Anerkennung. Das Besondere am Begriff der Anerkennung ist, dass er sowohl einen kognitiven, als auch einen evaluativen Aspekt enthält. Wer anerkannt wird, der wird nicht nur als ein spezifisches Individuum inmitten der Gesellschaft erkannt, sondern auch aufgrund bestimmter Eigenschaften geschätzt und bestätigt. Beide Bereiche werfen gesonderte Probleme auf: der erkennende Aspekt, was wir überhaupt anerkennen und damit wertschätzen sollen; und der evaluative, wie unsere Leistungen für die Gesellschaft zu bewerten sind und wo unser verdienter Platz im sozialen Gefüge der Gesellschaft liegt. Anerkennung wird nicht immer freiwillig gewährt, sie kann auch verweigert werden. Gelegentlich muss sie geradezu erkämpft werden, weil nämlich mitunter offen ist, was anerkannt werden kann und soll. Da jedoch die Erfahrung von verweigerter Anerkennung oder Missachtung die Subjekte in ihrem Selbstbewusstsein verletzt, sind die Betroffenen (meist) zu einem Kampf um Anerkennung motiviert. Derartige Anerkennungskämpfe finden auf mehreren Ebenen statt, weil wir von unterschiedlichen Personen und Institutionen in verschiedener Weise anerkannt werden wollen. Hegel, Taylor und Honneth sind sich darin einig, dass wir zunächst einmal von den anderen Individuen Anerkennung erwarten, dann aber auch von der Gesellschaft als ganzer. Und dies sowohl für unsere Leistungen, die wir für die Mitmenschen und die Gemeinschaft erbringen, als auch für den Platz, der uns dafür im sozialen Gefüge zusteht. Und schließlich erwarten wir auch eine Minimalanerkennung als teilhabeberechtigte Bürger in einem demokratischen Staat – ohne dafür schon eine bestimmte Leistung zu erbringen, einfach nur aufgrund unserer Mitgliedschaft. Und all diese Anerkennungsverhältnisse stehen nicht von vorneherein fest, sondern müssen erst historisch entwickelt und theoretisch erarbeitet werden. So auch bei Walzer. In seinem Essay Kritik und Gemeinsinn2 hat Walzer gezeigt, dass Moral (und um ein moralisches Phänomen handelt es sich bei Anerkennung) nicht auf dem Wege objektiver, allgemeinverbindlicher Regeln entdeckt und auch nicht aus dem Nichts konstruiert werden kann. Daher bleibt nur der Weg der Interpretation vorhandener sozialer Regeln und Praktiken. Diesen Weg geht er auch in seinem Kapitel „Anerkennung“ in den Sphären der Gerechtigkeit. Er greift bestimmte histo-

1 2

Vgl. Beck 1986. Vgl. Walzer 1990.

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rische Entwicklungen, akzeptierte Rechte, soziale Praktiken und Institutionen auf, und untersucht sie auf das Problem der Anerkennung hin. Dabei entfaltet Walzer seine Argumentation in vier Schritten. Im ersten Teil (2.1 Kampf um Anerkennung) geht es ihm darum, wie sich in (und mit) der bürgerlichen Gesellschaft zwischenmenschliche Anerkennungsverhältnisse entwickeln. Im Zentrum steht dabei die gegenseitige Anerkennung der Personen. Menschen wollen aber nicht nur die Anerkennung von anderen Menschen. Auch der Staat bzw. die Gesellschaft als Ganze verteilen Anerkennung – und dies in positiver wie in negativer Hinsicht. Walzer schildert zunächst an einigen Beispielen wie öffentliche Institutionen Ehrungen vornehmen (2.2 Öffentliches Ansehen und individuelle Verdienstlichkeit) bzw. wie Staat und Öffentlichkeit auf Verstöße gegen wichtige Regeln mit Strafen reagieren (2.3 Die Bestrafung). Wichtig ist in beiden Fällen, dass es sich bei dem jeweiligen Ausdruck von Hochachtung oder Missachtung um begründete Urteile auf der Basis gemeinsam geteilter Werte handelt, und nicht nur um beliebige Meinungen. Im letzten Teil des Abschnittes (2.4 Selbstschätzung und Selbstachtung) geht Walzer auf die zentrale Frage ein, warum uns Anerkennung so wichtig ist: weil wir nur im Spiegel der Anderen ein positives Selbstverständnis aufbauen können. Anerkennung ist ein psychisches Bedürfnis, weil wir nur in der Interaktion mit anderen Menschen, die für uns wichtig sind, ein positives Bild von uns aufbauen können. Außerdem ist es nur auf diesem Weg möglich, gesellschaftliche Werte und Normen zu verinnerlichen.3

2. DAS PROBLEM DER ANERKENNUNG

2.1 Der Kampf um Anerkennung Walzer nähert sich dem Problem auf eine ähnliche Weise wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes. In dem Kapitel über die Dialektik von Herr und Knecht erzählt dieser vordergründig eine seltsam altmodische Geschichte über einen Kampf zweier Männer um Leben und Ehre in einer fiktiven Ursituation. In Wirklichkeit geht es ihm jedoch um die Ablösung der alten Adelskultur durch die moderne bürgerliche Gesellschaft. Walzer löst diese Geschichte auf, in eine historische und soziologische Analyse der alten und neuen Sozialstrukturen und ihrer Anerkennungsverhältnisse. Er nähert sich dem Problem über die Anerkennungsund Ehrbeziehungen in den Adelskulturen des alten Europa. In derartigen traditionalen Gesellschaften bestimmt der Rang den Grad der Anerkennung. Der Titel als Rangbezeichnung ist mit dem Namen des Bezeichneten eine feste Verbindung eingegangen. Jemanden mit seinem Titel anzureden, bedeutete, ihn in eine soziale Rangordnung zu stellen, und die damit verbundene Ehre (oder Missachtung) zum Ausdruck zu bringen. Hierarchische Gesellschaften machen in ihren Titeln die kleinsten sozialen Unterschiede deutlich. Allerdings gibt es in den unteren Rängen 3

Vgl. Iser 2004, S. 11.

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nur mehr sehr grobe und in den untersten Rängen gar keine Unterscheidungen mehr. Insgesamt gibt es für jeden Menschen eine ihm angemessene Anredeformel, die das ihm zustehende Maß an Anerkennung festlegt und es ihm auch in genau diesem Maß zukommen lässt. Wenn wir alle Titel einer solchen Gemeinschaft kennen, dann kennen wir auch ihre soziale Rangordnung. Walzer bezeichnet diese Titel als „Instant-Anerkennungen“ (SG 357). Da es für jedermann einen Titel gibt, wird auch jeder in seinem Rang erkannt und anerkannt. Aber diese Aristokratie hat nichts mit Leistung zu tun – auch nicht an der Spitze der Gesellschaft. Lob und Tadel sind in der Rangordnung irrelevant; es gibt weder etwas zu beweisen, noch zu überprüfen (SG 358). Das Fundament der Anerkennung ist in der alten Adelshierarchie nicht das unabhängige Urteil, sondern das soziale Vorurteil. Findet kein Aufstand und keine Revolution statt, so haben die Menschen keine Wahl, als den guten wie den schlechten Aristokraten die geforderte Ehre, den Respekt und die Achtung zu erweisen. Die kritische Bemerkung „Sie sind kein Gentleman.“ kommt in einer hierarchischen Gesellschaft in der Regel nicht aus dem Mund eines Rangniedrigeren. Man kann Rangniedrigere oder bestenfalls Gleichgestellte loben oder tadeln, die Anerkennung des Ranghöheren kennt keine Vorbehalte und Differenzierungen. Wer den Rang bestimmt, hängt von der Gesellschaftsform ab: wenn Titel für die Aristokratie oder auch für Ämter und andere gesellschaftliche Ehren erblich sind, dann dominiert die Abstammung über den gesellschaftlichen Rang. Sind sie dagegen käuflich, dann fällt ihre Vergabe in die Machtvollkommenheit derer, die den Staat lenken. Aber in keinem der Fälle wird Anerkennung frei und regellos erteilt. In der jüdisch-christlichen Welt sollte eigentlich der Gedanke der freien Anerkennung überwiegen, weil Gott in der Heiligen Schrift fordert, dass Menschen nicht nach ihrem weltlichen Titel zu beurteilen seien. Walzer zitiert den alten Satz „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?“4 Aber dieser soziale Skeptizismus blieb subversiv. In der Regel haben kirchliche Institutionen die bestehende Ordnung gutgeheißen (zumal sie von der Kirche gerne kopiert wurde). Das hatte den Effekt, dass die hierarchische Ordnung noch einmal ausdrücklich bestätigt wurde; zumeist mit dem Argument, dass die weltliche Ordnung die Ordnung des Himmels abbildet. Erst so konnte eine Rangordnung zu einer „Hierarchie“, einer heiligen Herrschaft werden. Innerhalb der einzelnen Ränge bildeten sich je spezifische Vorstellungen von Ehre heraus, die Außenstehenden als willkürlich und sogar grotesk erscheinen, die aber den Maßstab abgeben, an dem Menschen, die den gleichen Titel tragen, gemessen und voneinander unterschieden werden. Thomas Hobbes sah in den Kontroversen, die der Adel seiner Zeit austrug, speziell im Duell, eine Urform des Krieges Jeder gegen Jeden. Solche Kämpfe werden nur unter Gleichen ausgetragen – das heißt innerhalb der Ränge und nicht zwischen diesen. Wenn „die niedrigeren Ränge die höheren herausfordern“, dann sprechen wir nach Walzers Überzeugung „nicht von einem Duell, sondern von einer Revolution“ (SG 359). 4

Walzer macht den Satz als Zitat kenntlich, gibt aber keine Quelle an. Er stammt vermutlich aus einem Volkslied aus der Zeit der Bauernaufstände im 15. Jahrhundert.

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Bei diesen Revolutionen interessiert ihn besonders die demokratische Revolution, die das System der sozialen Vorurteile als Ganzes angreift, denn sie bildet den Wendepunkt zwischen der alten, traditionellen und hierarchischen Gesellschaft, hin zur bürgerlichen Gesellschaft. Sie zielt darauf, das System der Titelhierarchien insgesamt zu beseitigen und durch einen einzigen Universaltitel zu ersetzen. Der Titel, der sich am Ende durchsetzt, ist die Bezeichnung für den niedrigsten Rang, den Personen von aristokratischer oder vornehmer Herkunft einnehmen können. In der englischen Sprache lautete er „Master“ oder „Mister“. Im 17. Jahrhundert wurde er zur üblichen Bezeichnung eines Mannes unterhalb des Ritterstandes und oberhalb eines nicht genau definierten niedrigeren Sozialstatus. Die Entwicklung im übrigen Europa führte zu dem gleichen Ergebnis: Monsieur, Herr, Signor, Senor; sie alle entsprechen dem englischen „Master“ oder „Mister“. In dieser neuen Gesellschaft kann der aufsteigen, das heißt Ansehen und Anerkennung gewinnen, der sie zu erringen vermag. Wie Hobbes es ausdrückt: die Titelgleichheit erzeugt zunächst eine Gleichheit der Hoffnungen und dann einen allgemeinen Wettstreit. Walzer spricht deswegen auch immer wieder vom „Hobbesschen Wettlauf“. Dabei jagen die Betroffenen jedoch nicht der aristokratischen Ehre nach. Mit der Ausweitung des Kampfes erfuhr auch das umkämpfte soziale Gut eine enorme Diversifizierung: Ehre, Respekt, Wertschätzung, Lob, Ansehen, Status, Ruf, Würde, Rang, Hochachtung, Bewunderung, Bedeutung, Berühmtheit, Ehrerbietung, Ehrfurcht, Würdigung, Glorie, Ruhm und Prominenz (SG 361). Sie sind Bezeichnungen für weitgehend klassenunabhängige oder -unspezifische positive Formen der Anerkennung. Unter dem neuen System hat niemand einen festen Platz. Da keiner einen festen Rang hat und niemand von vorneherein weiß, wohin er gehört, muss jeder seinen Wert selbst begründen; und das kann er nur, indem er die Anerkennung seiner Mitbürger erringt. Aber jeder Mitbürger wird versuchen, genau das gleiche zu tun. So stößt der Wettstreit innerhalb einer Gesellschaft auf keine sozialen Grenzen und unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung. Diese erstrebte Anerkennung muss Menschen abgerungen werden, die zunächst einmal nur ihre eigenen Ansprüche im Kopf haben und ihrerseits nur zögernd Anerkennung spenden. Aber Walzer ist auch der Meinung, dass die meisten Menschen ebenso bereit sind, Anerkennung zu spenden, wie zu empfangen; denn „wir brauchen Helden, Männer und Frauen, die wir bedingungslos und rückhaltlos bewundern können“ (SG 362). Aber wir suchen diese bewundernswerten Personen nicht in unserer unmittelbaren sozialen Umgebung. Der Grund dafür ist, dass der Vergleich mit ihnen für uns meist unangenehm ist, weil sie unseren eigenen Wert infrage stellen. Anerkennung lässt sich auf Distanz leichter spenden. Aus den Medien bekommen wir den Anschein vermittelt, Anerkennung sei ein Gut, das massenhaft zu Verfügung steht (SG 363), als sei die Verteilung zwar instabil, aber im Grunde doch unbegrenzt. Aber die Praxis sieht anders aus. In der Realität ist Anerkennung ein knappes Gut. Zudem haben unsere täglichen Vergleiche den Effekt, dass der Gewinn des Einen zulasten eines Anderen geht. In der Sphäre der Anerkennung kommt der relativen Position eine große Bedeutung zu.

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Aber warum streben wir überhaupt nach Anerkennung? Es sind nur sehr wenige Menschen, die ernsthaft auf ewigen Ruhm hoffen. Aber praktisch jeder hofft auf etwas mehr Anerkennung, als ihm realiter zuteil wird. Die Unzufriedenheit ist vielleicht kein Dauerzustand, aber sie taucht immer wieder auf. In der bürgerlichen Gesellschaft werden wir zwar alle mit demselben Titel angesprochen, aber wir erfahren nicht alle das gleiche Quantum an Anerkennung. Einfache Gleichheit ist in Sachen Anerkennung für Walzer nicht möglich. Auch in Zukunft werden nicht alle Menschen fünfzehn Minuten lang weltberühmt sein, wie Andy Warhol einmal prophezeite. In Wirklichkeit werden in der Zukunft genau wie in der Vergangenheit einige Menschen berühmter sein als andere und die Meisten werden überhaupt keine Berühmtheit erlangen. Das Maß an Anerkennung, das ein Mensch erringen kann, wird weiterhin von den Ressourcen abhängen, die er im Kampf um Anerkennung aufbringen kann (SG 365). So wie der Ruhm als solcher nicht umverteilt werden kann, so können auch die Ressourcen, mit deren Hilfe er erworben wird, nicht umverteilt werden, denn sie sind persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Talente, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort geschätzt werden. Zudem gibt es keine Möglichkeit vorauszusagen, welche Eigenschaften, Talente und Fähigkeiten es sein werden, die eine Wertschätzung erfahren. So kann es im Kampf um Anerkennung zwar keine Gleichheit der Resultate geben; aber Walzer nimmt doch an, dass es eine Gleichheit der Chancen geben könne. Diese Chancengleichheit ist das Versprechen, das die moderne bürgerliche Gesellschaft uns macht. Doch es gibt auch keine moderne Gesellschaft, die dieses Versprechen einlösen könnte. Die Abschaffung von Titeln bedeutet nicht die Abschaffung von Klassen. In der aktuell herrschenden Ideologie des Hobbesschen Konkurrenzkampfes ist der Kampf um Anerkennung ein Kampf um Posten und Einkünfte. Anerkennung wird in Form von hohen Gehältern und Macht erwiesen. Oder genauer: der Kampf um Ehre und Ansehen ist mit dem Kampf um Macht und Einkommen zu einem Kampf verschmolzen, zu einem allgemeinen Wettstreit um soziale Güter. Wir ehren die Menschen gemäß ihren Siegen in diesem Wettstreit. Der Status, das heißt die Position in diesem Wettstreit, bestimmt über das Ausmaß an Anerkennung, die sein Inhaber erfährt. Dies ist zwar etwas anderes als die Dominanz des hierarchischen Ranges, aber es ist immer noch keine freie Bewertung und Würdigung der einzelnen Person durch eine andere Einzelperson. Eine solche freie Würdigung würde eine „Disaggregation von Sozialgütern erfordern, die relative Autonomie von Ehre und Ansehen“ (SG 367). Kritikwürdig ist für Walzer hier nur die unrechtmäßige Umwandlung des beruflichen Status in Ansehen und Reichtum. Auch wenn das Ergebnis einer freien Würdigung komplexe Gleichheit in der Sphäre der Anerkennung wäre, so wäre das Ansehen der einzelnen Menschen immer noch unterschiedlich groß. Selbst wenn es mehr Gewinner gäbe, so gäbe es doch immer unausweichlich noch so manchen Verlierer. Komplexe Gleichheit ist auch keine Garantie dafür, dass genau die Anerkennung finden, die sie in einem objektiven Sinne verdient haben. Generell dürften jedoch solche Personen Anerkennung finden, die von einer gewissen Anzahl ihrer Mitbürger dessen für würdig erachtet werden. Geehrt, geach-

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tet, geschätzt würden von uns jene Menschen, die dies unserer Meinung nach verdienten. Im Allgemeinen dürften solche Personen Anerkennung finden, die von einer gewissen Anzahl (selbständig urteilender) Mitbürger dessen für würdig erachtet werden. Aber unabhängig von der besonderen Wertschätzung, die die Menschen erfahren, zeichnet sich die bürgerliche Gesellschaft in Walzers Augen auch dadurch aus, dass jeder Mensch in ihr zumindest einen minimalen Respekt erfährt. Er unterscheidet deswegen zwischen „einfacher Anerkennung“ und den komplexeren Formen der „Anerkennung im je speziellen Fall“ (SG 369). Einfache Anerkennung ist für ihn ein moralisches Erfordernis. Wir müssen anerkennen, dass jeder Mensch zumindest ein potenzieller Empfänger von Ehre und Bewunderung ist; ein Konkurrent, ja, sogar eine Bedrohung. Die Aufforderung „Nennen Sie mich Mister“ macht einen Anspruch geltend, nicht schon auf ein bestimmtes Anerkennungsquantum, wohl aber auf die Möglichkeit, Ansehen zu erwerben. Jeder verdient zumindest unsere Bewertung, während wir der seinen unterliegen. Dies garantiert jedem einen minimalen Grundrespekt. Walzer zitiert als Beleg dazu Hegel: „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend“.5

2.2 Öffentliches Ansehen und individuelle Verbindlichkeit Neben den individuellen Formen der Verteilung von Ehre und Ansehen gibt es eine Vielzahl von kollektiven. Walzer nennt: Belohnungen, Preise, Medaillen, lobende Erwähnungen, Lorbeerkränze usw. Diese öffentlichen Ehrungen bleiben jedoch solange wirkungslos, wie sie nicht den Normen und Maßstäben von privaten Individuen entsprechen. Die Menschen legen in der Regel bei der Anerkennung von anderen wesentlich strengere Maßstäbe an, als wenn es sich um ihren eigenen Anspruch auf Anerkennung handelt. Das entscheidende Kriterium für die öffentliche Anerkennung (public honor), ist die Verdienstlichkeit (deserve); das heißt nicht die von einem Einzelnen oder von ein paar Gesellschaftsmitgliedern subjektiv bestimmte Verdienstlichkeit, sondern ein objektiv messbarer Verdienst. Öffentliche Ehrungen werden von Privatpersonen nur dann akzeptiert, wenn sie objektive Kriterien erfüllen. Und deswegen werden sie auch von Institutionen vorgenommen, deren Mitglieder nicht eine Meinung äußern, sondern ein Urteil abgeben; eine Wahrheit verkünden, über die Qualität der Empfänger. Es müssen dabei Regeln eingehalten und Beweise geführt werden. Der Zweck der öffentlichen Ehrung besteht darin, diejenigen herauszufinden, die es verdient haben, geehrt zu werden. Die Suche nach diesen verdienten Personen soll (Walzer meint „wird“) Personen zutage fördern, deren „heroische Taten, einzigartige Leistungen oder Dienste an der Allgemeinheit“ von ihren Mitbürgern bis dahin übersehen wurden (SG 370). Dabei ist es wesentlich, dass es die Eigenschaften, Fähigkeiten oder Taten der Geehrten sind, die geehrt werden, und nicht 5

Hegel 1952, S. 143.

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die Personen selbst. Leider zeigt sich bei öffentlichen Ehrungen aber meist das Phänomen der „Mischverteilung“: ein paar wirklich verdienstvolle Personen werden mit auf die Liste der Auszuzeichnenden gesetzt, „in dem Bestreben, jene hinter ihnen zu verstecken, die aus politischen Gründen geehrt werden“ (SG 371). Und die meisten Sozialgüter werden ohne Rücksicht auf Verdienste verteilt. Selbst dort, wo es um Ämter oder Ausbildungsplätze geht, haben Verdienste nur einen minimalen oder indirekten Einfluss (SG 372). Mitgliedschaft, Wohlfahrt, Reichtum, harte Arbeit, Muße, familiale Liebe und politische Macht kennen überhaupt keine Verdienstkriterien. Dies sei vermutlich der Grund, so Walzer, warum „Verfechter der Gleichheit“6 behaupten, Menschen die wir als verdienstvoll bezeichneten, seien nichts als „Glückspilze“. Dabei würde die Fähigkeit sich anzustrengen oder Mühen auf sich zu nehmen, wie alle anderen Fähigkeiten auch, nur als das Zufallsgeschenk einer launenhaften Natur angesehen. Dabei, meint Walzer, würden wir „mit Wesen konfrontiert, die kaum noch als Menschen angesehen werden könnten.“ (SG 372). Die hier wirkende Triebkraft ist eng verwandt mit dem Impuls, die konkrete Bedeutung von sozialen Gütern einfach zu ignorieren. Menschen, die ihrer Qualitäten, und Güter, die ihrer Bedeutung beraubt sind, bieten sich natürlich an für Verteilungen, die abstrakten Prinzipien folgen. Es erscheint Walzer aber zweifelhaft, dass solche Verteilungen den lebendigen Menschen Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Die Menschen, denen wir begegnen, sind keine moralisch und psychologisch unbeschriebenen Blätter, keine neutralen Träger zufälliger Eigenschaften und Fähigkeiten. Die Person und ihre Eigenschaften und Fähigkeiten sind nicht zwei völlig verschiedene Dinge, sondern bilden eine Einheit. Das Problem der Gerechtigkeit besteht somit darin, vorhandene Güter unter einer Vielzahl von Personen in einer Weise zu verteilen, die den jeweils konkreten Personen gerecht wird. Das heißt Gerechtigkeit beginnt bei den Menschen, die in eine soziale Umwelt eingebunden sind und dabei auf Güter angewiesen sind. Öffentliches Ansehen ist ein solches Gut und als solches kann es nur existieren, wenn es auch tatsächlich verdienstvolle Menschen gibt. Natürlich können öffentliche Ehrungen auch aus reinen Nutzenerwägungen heraus verteilt werden, etwa um Menschen zu politisch oder sozial nützlichem Verhalten zu motivieren. Aber Walzer meint, dass sie nicht alleine den Ausschlag geben können, denn wir wissen ja nicht, wen wir ehren sollten, wenn wir nicht gehalten sind, dies in Ansehung seiner persönlichen Verdienste zu tun. Ansonsten bleibt die Ehrung ganz und gar der despotischen Nutzung überlassen: „Weil ich die Macht dazu habe, werde ich diesen oder jenen ehren“ (SG 373). Um zu zeigen, wie öffentliche Ehrungen vorgenommen werden können, greift Walzer drei Beispiele auf: die Praxis der Auszeichnung verdienter Arbeitskräfte in der Sowjetunion, die Vergabe des Literaturnobelpreises und die römischen Triumphzüge für siegreiche Feldherren. Im ersten Beispiel bezieht sich Walzer auf den russischen Bergarbeiter Alexei Grigorjewitsch Stachanow. Der hatte am 31. August 1935 als Hauer in einer Kohlegrube im Donezbecken mit seinen sieben Zuarbeitern in einer Schicht 102 Ton6

Er bezieht sich hier vor allem auf Rawls 1975, S. 121 f. und 92 ff.

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nen Kohle gefördert. Dabei übererfüllte er die gültige Arbeitsnorm um das 13fache. Seine sicherlich herausragende Leistung wurde später von der Stalin-Regierung genutzt, um die Idee des Verdienstes zu propagieren, höhere Leistungen von den anderen Bergleuten zu fordern und so gesellschaftlichen Nutzen aus ihm zu ziehen. Aber diese „Ehrung“ verstößt nach Walzers Ansicht gegen die Bedingungen der Anerkennung. Die Idee der Verdienstlichkeit impliziert eine gewisse Vorstellung von menschlicher Autonomie: ehe ein Mensch sich achtbar verhalten kann, muss er für sein Verhalten verantwortlich sein. Er muss ein moralisch Handelnder sein. Aber Stalin vertrat eine sich radikal an Pawlow und dem Behaviorismus orientierende Auffassung vom Menschen als einem reaktiven Mechanismus. Diese Haltung muss jede Vorstellung eines individuellen Verdienstes ablehnen. Stalin hob Stachanow auch nicht hervor, weil er es verdient hätte, geehrt zu werden, sondern aus rein utilitaristischen Erwägungen. Der Zweck des StachanowSystems war es, andere Arbeiter zu veranlassen, sich in einer ähnlichen Weise zu verhalten und entsprechende Leistungen zu erbringen. Die Stachanow-Prämie war deswegen nach Walzers Ansicht keine Anerkennung, sondern ein Anreiz, „eine jener Gaben, die sich schnell in eine Bedrohung verwandeln“ (SG 375). Die anderen Arbeiter erhoben Einspruch. Zum einen war Stalins Nutzen nicht ihr Nutzen, zum anderen aber verdienten die in den folgenden Jahren ausgezeichneten Stachanow-Arbeiter ihrer Ansicht nach nicht, geehrt zu werden. Die Prämiengewinner wurden als Opportunisten und sogar Verräter gesehen. Sie hatten zwar hart gearbeitet, aber auch die Normen ihrer Klasse gebrochen und die Solidarität mit den Kollegen verletzt. Und wie bereits gesagt, werden öffentliche Ehrungen nur dann vom Volk anerkannt, wenn sie die Kriterien für die Vergabe anerkennen. Den Schluss, den Walzer daraus für öffentliche Ehrungen zieht, ist, die Maßstäbe nicht zu hoch anzusetzen. „Wir sind keine Götter, und wir wissen niemals genug, um zu absolut zuverlässigen Urteilen über die Fähigkeiten und Leistungen anderer Menschen zu gelangen und die volle Wahrheit über sie verkünden zu können.“ (SG 376). Und dennoch gilt: was wir anstreben, sind Urteile und keine Meinungen. Ein richtiges Urteil ist zumindest dem Prinzip nach möglich. Das zweite Beispiel ist eine der angesehensten und umstrittensten öffentlichen Auszeichnungen: der Preis, den Alfred Nobel 1896 testamentarisch für besondere literarische Leistungen ausgesetzt hat. Allerdings hat er die Vergabe nicht an genauer bestimmte Kriterien geknüpft. Die späteren Juroren mussten selbst entscheiden, wie sie bei der Preisgabe vorgehen wollten – mit großen Schwierigkeiten. „Es ist absolut unmöglich“, schrieb Carl David Wirsén, der erste Vorsitzende des Preisrichterkollegiums, „zu entscheiden, wem der höchste Rang gebührt, dem Dramatiker, dem Epiker oder dem Lyriker […]. Es ist, als beurteile man die relativen Vorzüge von Ulmen, Linden, Eichen, Rosen, Maiglöckchen oder Veilchen.“ (SG 377). Dennoch kamen sowohl die Preisrichter, als auch ihre Kritiker, zu ganz konkreten Auffassungen (wenn auch nicht immer denselben). Auch wenn es töricht scheint, so Walzer, die Aufstellung einer Rangordnung für alle Schriftsteller der Welt auch nur zu versuchen, wird die Kenntnis einer kleinen Zahl herausragender Autoren doch als natürlich empfunden. Walzer selbst ist überzeugt, dass das es auf diese Frage mehr als eine einzige Antwort gibt. So vermisst er Autoren

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wie Tolstoi, Ibsen oder Strindberg. Die Geschichte des Nobelpreises und der Kontroversen um die einzelnen Preisvergaben belegen seiner Ansicht nach eindeutig, dass wir fast alle daran glauben, dass es Autoren gibt, die es verdienen, besonders geehrt und ausgezeichnet zu werden. Allerdings ist es nicht nötig, immer nur nach der „herausragendsten“ Leistung zu suchen (SG 378), wir können einfach alle herausragenden Leistungen in Betracht ziehen. Dies ist auch die gebräuchlichste Form der öffentlichen Ehrung in modernen Gesellschaften. Begründet sieht er das in der Tatsache, dass Ehrenlisten immer implizite Entschuldigungen an die Adresse derer enthalten, die versehentlich vergessen wurden. Aber das eigentliche Problem ist, dass im Normalfall die herausragenden Leistungen ganz normaler Menschen übersehen werden. Speziell in einer Demokratie wäre es wichtig, die Tugenden der Normalbürger anzuerkennen. Hier könnte die öffentliche Ehrung Abhilfe schaffen und erzieherisch wirken. Das letzte Beispiel, das Walzer aufgreift, sind die römischen Triumphzüge, in denen Bürger wie Könige gefeiert werden. Diese Ehrung wurde vor allem Feldherren zuteil, die mit einer gewaltigen Parade auf den Capitol zogen. Derartige Triumphzüge taugen nur für einen volkstümlichen Staat, denn ein König muss eifersüchtig über sein Ansehen wachen; er ist ein geiziger Ehrenspender, ein „Monopolist des Ruhms“ (SG 379). Er kann es nicht zulassen, dass außer ihm noch andere Personen die Herzen der Bürger entzücken. Die Ehre des Sieges gebührt immer dem Fürsten. Deswegen dichtete Bert Brecht in seinen Fragen eines lesenden Arbeiters: „Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch dabei?“ Tyrannen dagegen verteilen Auszeichnungen aus manipulativen Gründen oder auch aus einer puren Laune heraus und unterhöhlen so gezielt den Wert der Ehrung. Die Ehre des Königs (und erst recht die des Tyrannen) ist so gesehen eine politische Lüge. Verdienstvolle Menschen gebührend anzuerkennen ist nur in einer Demokratie möglich. Und tatsächlich haben Demokratien auch mehr Helden aufzuweisen als jedes andere Regime; mehr Bürger, die bereit sind, sich für das Gemeinwohl aufzuopfern. Der Grund: die Bürger werden vom „süßen Köder Ehre“ (SG 380) angezogen. Gleichzeitig dürfen Ehre und Ansehen jedoch niemals so weit verbreitet sein, dass sie den Wert verlieren. Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Wenn Bürger sich an den Staat wenden, muss allen die gleiche Aufmerksamkeit zuteilwerden. Auch wenn Wohlfahrtsgüter zur Verteilung kommen, müssen alle gleichermaßen bedacht werden. Aber wenn es um Achtung und Ehre geht, um eine besondere Auszeichnung, dann haben sie solange keinen Anspruch darauf, wie sie von ihren Mitbürgern nicht für würdig befunden werden. Öffentliches Ansehen ist keine freundliche Gabe, sondern eine zuverlässige Aussage über die Vortrefflichkeit und den Wert geschätzter Personen. Die öffentliche Anerkennung kann deswegen nicht egalitärer sein als die private.

2.3 Die Bestrafung Auch im Fall von öffentlicher Unehre, einer Bestrafung durch ein Gericht, gilt das Verdienstkriterium. Alle Bürger sind unschuldig, bis zum Beweis ihrer Schuld.

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Eine Bestrafung setzt ein spezifisches Urteil voraus, das Urteil eines Gerichts. Wir bestrafen nur Menschen, wenn sie es verdienen, bestraft zu werden; und auch nur für spezifische Taten, nicht für eine schlechte Lebensführung im Allgemeinen. Eine Bestrafung ist ein schweres Stigma, denn sie entehrt den von ihr Betroffenen. Es gibt keine Möglichkeit der Bestrafung, die den Bestraften nicht stigmatisieren würde. Auch deswegen muss unterschieden werden zwischen denen, die es verdient haben, entehrt zu werden, und denen, die es nicht verdient haben. Aber wir bleiben auch irrtumsanfällig, wir können unserer Sache niemals völlig gewiss sein. Deswegen müssen wir die Urteilsfindung so gestalten, dass wir der Gewissheit so nahe wie möglich kommen. Der Mechanismus, mit dem wir versuchen herauszufinden, wer die Richtigen sind, ist der Strafprozess oder das Gerichtsverfahren; eine öffentliche Untersuchung, die dem Ziel dient, in einer bestimmten Sache die Wahrheit zu ermitteln. Dabei meint Walzer, kommt das Urteil der Strafe gleich, ist eigentlich schon die Strafe, denn es ist das Urteil, das dem Verurteilten das Stigma anheftet. Ein Beispiel, für welches dies nicht gilt, war der in Athen praktizierte Ostrazismus – das Scherbengericht. Sein Zweck war es, den Bürgern die Möglichkeit zu geben, allzu mächtige und ehrgeizige Individuen, die möglicherweise nach Alleinherrschaft strebten, oder deren Rivalitäten den Frieden der Stadt bedrohten, loszuwerden. Es handelt sich also um eine Form der Verbannung. Die Verbannung war in der Antike eine Strafe, mit der sehr häufig die schwersten Vergehen bestraft wurden. Sie hatte den Verlust der politischen Zugehörigkeit und der Bürgerrechte zur Folge. Doch war sie nur dann einen Strafe, wenn ihr ein Gerichtsverfahren und ein Urteilsspruch voraus ging, Beides war beim Ostrakismos nicht der Fall, denn der betroffene Bürger wurde nicht verurteilt, sondern ausgewählt. Es gab weder eine Anklage, noch eine Verteidigung, selbst Nominierungen und Aussprachen waren vom Gesetz verboten. Die Bürger schrieben nur den Name desjenigen, den sie ostraziert sehen wollten, auf eine Tonscherbe. Auf wessen Namen genügend Stimmen entfielen, der wurde, ohne die Möglichkeit einer Berufung, auf zehn Jahre exiliert.7 Die Unterscheidung zwischen Ostrazismus und Bestrafung zieht eine feine, aber bedeutsame Trennlinie zwischen der öffentlichen Meinung und dem Urteil eines Gerichts, zwischen politischer Niederlage und kriminellem „Verdienst“. Wenn eine Verurteilung eine gerechte Verurteilung sein soll, muss ihr unbedingt ein Gerichtsverfahren und ein Urteil vorausgegangen sein. Die damit verbundene Schmach muss eine verdiente sein. Heutzutage hört man gelegentlich Empfehlungen, von denen Walzer denkt, dass sie dem Ostrazismus nahekommen. Allerdings sollten wir dabei niemanden exilieren sondern inhaftieren. Verfechter dieser Auffassung sind überzeugt, dass von einigen Menschen eine Gefahr ausgeht – in diesem Fall keine politische, son7

Athen hatte zu dieser Zeit etwa 300 000 Einwohner, von denen aber nur etwa 30 000 das Bürgerrecht besaßen. Die Bürgerversammlung, von der das Ostrakismos verhängt wurde, galt als beschlussfähig, wenn etwa die Hälfte der Bürger anwesend war. Davon musste die Mehrheit sich für eine bestimmte Person aussprechen. Für eine derartige Verbannung waren also etwa 7 000 bis 9 000 Stimmen nötig.

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dern eine kriminelle. Menschen, die voraussichtlich ein kriminelles Verhalten an den Tag legen werden, sollten in einen vorbeugenden Gewahrsam genommen werden. Hier ist nicht ein Urteil verlangt, sondern eine Prognose. Wenn die Prognose richtig ist, dann sollte es möglich sein, die betreffenden Personen von ihren Untaten abzuhalten, ehe es nötig wird, sie zu verhaften. Damit könnte die Sicherheit des Alltagslebens erheblich gesteigert werden. Aber natürlich ist eine Prognose nicht das gleiche wie ein Urteil. Wenn man auf der Basis einer Prognose agiert, ist es unmöglich, jemals zu erfahren, ob es sich wirklich um eine verlässliche Aussage handelte. Wenn ein derartiges Programm des vorbeugenden Gewahrsams erst einmal eingerichtet wäre, könnte die Verbrechensrate erheblich sinken. Sie würde sogar ganz bestimmt sinken, wenn man nur genügend Leute in Gewahrsam nimmt. Aber wir werden niemals wissen, ob diejenigen, die prophylaktisch eingesperrt sind, auch tatsächlich straffällig geworden wären. Strafe sollte aber auf Handlungen folgen. Wir bestrafen Individuen, die ihre Handlungen bereits begangen haben. Dem vorgeschlagenen Verfahren hält Walzer den hohen Wert der Freiheit entgegen. „Selbst diejenigen Männer und Frauen, von denen sich sagen lässt, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach kriminelle Taten begehen werden, haben das Recht, selbst zu entscheiden, ob sie sie auch tatsächlich begehen wollen.“ (SG 387). Menschen, die in diesen vorbeugenden Gewahrsam genommen werden, würden aus Gründen bestraft, die mit unserem allgemeinen Verständnis davon, was Strafe ist und wie sie zu verteilen ist, nichts zu tun haben. Die Gefangensetzung ist in diesem Falle nichts anderes als ein Akt der Tyrannei.

2.4 Selbstschätzung und Selbstachtung „Achtung und Verachtung sind“ für Walzer „deshalb so bedeutsam und wichtig, weil sie so leicht eine reflexive Form annehmen“ (SG 388). Es gibt keine Selbsterkenntnis ohne Mithilfe der anderen. Wir nehmen uns durch die Augen der anderen wahr. Wir können nur dann eine hohe Meinung von uns haben, wenn die Menschen um uns herum uns wertschätzen und achten. Walzer unterscheidet zwischen Selbstschätzung (self-esteem) und Selbstachtung (self-respect). Selbstschätzung ist eine „positive Einschätzung oder Meinung von der eigenen Person“, Selbstachtung die „angemessene Beachtung der Würde der eigenen Person oder der eigenen Position“ (SG 390). Dieser zweite Begriff ist ein, auf unserem moralischen Verständnis von Personen beruhender normativer Begriff. Selbstschätzung resultiert aus dem Vergleich mit anderen Personen. Selbstachtung dagegen bemisst sich nicht aus einem Vergleich mit anderen Personen, sondern aus einer allgemeinen Norm, anhand derer eine Person (und auch die Umwelt) beurteilen kann, ob sie ihre Position so ausübt, wie es sich für diese Position gehört; und damit, ob die Selbstachtung gerechtfertigt ist. Was dabei zur Debatte steht, ist die Würde der Position und die Integrität dessen, der sie inne hat. Die Selbstachtung von Bürgern in modernen Demokratien lässt sich kaum mit der Selbstachtung von Menschen in einer aristokratischen Ranghierarchie auf ei-

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nen Nenner bringen. Ein Diener, der seinen Platz in der Gesellschaft kennt und akzeptiert, dürfte keinen guten Bürger abgeben, denn beide gehören unterschiedlichen Sozialwelten an. In der Welt der Herren und Diener hat das Bürgerrecht keinen Platz. Dienerschaft gilt in der Welt der Bürger als entwürdigend (SG 393). Das demokratische Bürgerrecht garantiert einen Status, der sich keiner Hierarchie beugt. Was die demokratische Revolution beabsichtigt, ist eine Neukonzeptualisierung der Selbstachtung: es soll erreicht werden, dass ein einheitliches, für alle verbindliches Normensystem geknüpft wird. Die gesamte Bürgerschaft soll ein und derselben Respektsnorm unterliegen. Die Selbstachtungsnormen leiten sich nach Walzers Ansicht aus den Richtlinien minimaler Anerkennung her, die der demokratischen Praxis innewohnt. So wird eine Art der Selbstachtung ermöglicht, die nicht an spezielle Positionen gebunden ist, sondern sich aus der generellen Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft, der Bürgerschaft und dem daraus resultierenden Selbstverständnis speist. Es ist das Selbstverständnis eines Menschen, der nicht bloß ein Individuum ist, sondern zugleich auch eine Person, die als volles und gleiches Mitglied für die Gesellschaft etwas leistet. Die Praxis des demokratischen Bürgerrechtes setzt voraus, dass jedem Gesellschaftsmitglied der Bürgerstatus zuerkannt wird. Dies ist eine staatliche Form von einfacher Anerkennung, die jedem Bürger als Bürger gleiche Achtung und gleichen Respekt zuteilt. Inhaltlich besteht sie darin, dass jeder die gleichen gesetzlichen und politischen Rechte hat, und dass die Stimme jedes Einzelnen so viel zählt, wie jede andere. Aber diese gleiche Achtung ist nach Walzers Überzeugung keine notwendige Bedingung für die Entstehung von Selbstachtung, denn schwerwiegende Ungleichheiten im Rechtswesen und im politischen System enden mit der Einrichtung von Demokratien nicht, sondern bestehen häufig weiter fort – und, wie er meint, auch ohne den Bürgern die Fähigkeit zur Selbstachtung zu nehmen. Aber es ist notwendig, dass die Idee des Bürgerrechts von der Gruppe von Menschen geteilt wird, die einander wechselseitig als Bürger anerkennen. Damit setzt Selbstachtung eine Bindung an die spezielle Gesellschaft voraus, der man angehört und innerhalb der diese Ideen verankert sind. Das ist der Grund, warum der Ausschluss oder die Verbannung aus der Gemeinschaft als eine so schwere Strafe empfunden werden. Sie bedrohen Achtung und Respekt. In einer ähnlichen Weise bedrohlich wirken langwährende Arbeitslosigkeit und Armut – wie eine ökonomische Verbannung. Sie stellen Strafen dar, von denen niemand sagen kann, ob irgendein Mitbürger sie verdient. Der Wohlfahrtsstaat ist der Versuch, diese Strafe abzuschaffen und die ökonomisch Verbannten in die Gemeinschaft zu reintegrieren. Aber selbst wenn der Wohlfahrtsstaat dies auf die bestmögliche Weise tut, indem er Bedürfnisse stillt, ohne Menschen zu erniedrigen, kann er nur die Voraussetzungen dafür schaffen. Dies ist vielleicht auch der tiefere Sinn von distributiver Gerechtigkeit. Wenn alle sozialen Güter vernünftig und gerecht verteilt werden, dann ist dies der beste Nährboden für die Entstehung von Selbstachtung. Um unsere Selbstschätzung genießen zu können, müssen wir uns selbst davon überzeugen, dass wir sie auch wirklich verdient haben. Dies können wir nur, wenn

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uns unsere Freunde dabei helfen. Deswegen wählen wir in der Regel nur solche Menschen zu unseren Freunden, die uns ein positives Bild von uns wiederspiegeln. Anders bei der Selbstachtung: um sie empfinden zu können, müssen wir uns zutrauen, den gesetzten Maßstäben zu entsprechen. Und wir müssen die Verantwortung übernehmen, für unsere Handlungen, ob sie den Maßstäben entsprechen oder nicht. Das bedeutet aber für Walzer, dass die Selbstachtung von einem tiefer liegenden Wert abhängt, den er als Selbstbeherrschung bezeichnet. Er meint damit eine Herrschaft, die sich nicht nur auf den eigenen Körper bezieht, sondern auch auf den eigenen Charakter, in Gestalt der geäußerten Eigenschaften und Handlungsweisen. Der Bürgerstatus ist ein Ausdruck dieser Selbstbeherrschung. Wir halten uns für eigenverantwortliche Wesen und werden von unseren Mitbürgern als solche anerkannt. Selbstschätzung ist eine Sache von „geborgten“ Qualitäten; wir leben „in der Vorstellung der anderen“ (SG 397). Selbstachtung ist eine Sache der eigenen Qualitäten, worauf es ankommt, „ist Wissen, nicht Meinung, ist Identität und nicht die relative Position“. Der sich selbst achtende Bürger ist ein autonomes Wesen – nicht in Bezug auf die Welt im Allgemeinen, wohl aber in Bezug auf die Gesellschaft, in der er als ein frei und verantwortlich handelndes, und damit partizipierendes Mitglied lebt.

3. KOMPLEXE ANERKENNUNGSVERHÄLTNISSE UND MENSCHLICHE WÜRDE Walzer ist der Überzeugung, dass Anerkennung, wie andere Güter auch, nicht absolut gleich verteilt werden kann – und auch nicht gleich verteilt sein soll. Er vertritt ein Verständnis von gerechter Anerkennung, das an Aristoteles’ Grundsatz von distributiver Gerechtigkeit angelehnt ist. Demnach soll jedem Menschen die Anerkennung zukommen, die er aufgrund seiner Fähigkeiten und Leistungen tatsächlich verdient. Ungleichverteilungen von Anerkennung sind nach seinem Prinzip komplexer Gleichheit dann, und nur dann legitim, wenn sie gemäß den innerhalb der Sphäre der Anerkennung allgemein akzeptierten Kriterien zugeteilt werden. Er fordert jedoch auch eine Ausnahme von der Ungleichverteilung: jedem Menschen kommt ein gewisses Maß an grundsätzlicher Wertschätzung als Mitglied der Gemeinschaft zu. Wir würden von Würde, oder sogar von Menschenwürde sprechen. Damit ist mehr gemeint als die Teilhabe am Bürgerrecht, weil man ein Mitglied der Gemeinschaft ist. Wir meinen damit einen grundsätzlichen Wert des Menschen, der ihn über die anderen Objekte der Natur erhebt. Wie Immanuel Kant es ausdrückt: jedes Ding hat seinen Preis, nur der Mensch hat eine Würde. Und nach Kant rührt sie daher, dass Menschen vernünftige und selbstbestimmungsfähige Wesen sind. Aber diese universalistische Formulierung dürfte sich für Walzer verbieten, deswegen konstruiert er dieses Mindestmaß an Anerkennung aus der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft.

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Diese Argumentation greift jedoch zu kurz, auch im Hinblick auf seine eigene Argumentation. Im Zentrum seines letzten Abschnitts zum Problem der Anerkennung steht die Unterscheidung zwischen Selbstachtung und Selbstschätzung. Sie bezeichnet eine wichtige Differenz bezüglich dessen, was es heißt eine Person in einem allgemeinen und allen Personen zukommenden gleichen Sinne anzuerkennen, und eine Person als besonderes Individuum mit besonderen Fähigkeiten anzuerkennen. Man achtet alle Personen auf gleiche Weise und ohne Abstufung, weil sie Personen sind, man schätzt jedoch eine Person auf eine bestimmte Weise, weil sie eine Persönlichkeit ist, die bestimmte Werte verkörpert, die man selbst für schätzenswert hält.8 Eine Person als die Person zu schätzen, die sie ist, bedeutet freilich nicht nur, dass ich sie als eine besondere Verkörperung eines Wertes schätze, der mir für einen guten Charakter wesentlich erscheint, sondern dass diese Person selbst diesen Wert akzeptiert und sich entsprechend selbst versteht (in Walzers Terminologie: Selbstachtung). Ihr Selbstwertgefühl (bei Walzer: Selbstschätzung) muss durch diesen Wert konstituiert sein. Nun kann aber der Verlust des Selbstwertgefühls daraus folgen, dass diese Person den ethischen Standards, die sie und andere als wertvoll anerkennen, nicht genügt, dass sie in den Augen anderer, primär jedoch in den eigenen Augen versagt hat. Eine Person kann so ihre Überzeugungen insgesamt als unbegründet und mangelhaft begreifen und in eine Identitätskrise geraten. Die Abstufung der Anerkennung kann in dieser Hinsicht durchaus fragwürdig wirken. Hinzu kommt: Personen begegnen sich nicht nur als Mitglieder von politischen oder ethischen Gemeinschaften, sondern auch – vielleicht sogar überwiegend – als Fremde, ohne das Netz gemeinsamer Werte oder gegenseitiger Rechtsansprüche. Was sie allein verbindet, ist der Kontext gemeinsamen Menschseins, und was sie voneinander verlangen, ist die Anerkennung als Mensch. Menschsein heißt: Mitglied der Gemeinschaft zu sein, der alle Menschen als Menschen angehören. Das Prinzip gleicher Würde verlangt deswegen auch, und dies wird von Walzer zu wenig gewürdigt, die Menschen als gleiche Wesen zu behandeln, indem wir ihren Interessen gleiches Gewicht beimessen. Es schließt aus, dass den Menschen durch Zwang, Manipulation oder Paternalismus ein bestimmtes Leben aufgezwungen wird. Ihre Würde wird missbraucht, wenn sie das Leben, das sie führen, nicht als ihr eigenes, als authentisch, empfinden. Bestimmte Werte und damit Konzeptionen des guten Lebens zu bevorzugen, würde bedeuten, zu urteilen, sie seien von Natur aus mehr wert, als andere. Das wiederum würde bedeuten, dem Leben einiger Bürger einen größeren Wert zuzubilligen als demjenigen anderer. Dadurch würde die menschliche Lebensform degradiert oder verächtlich gemacht. Die grundsätzliche Anerkennung als Mensch muss also auch auf die Wahl der persönlichen Lebensführung angewendet werden. Erst dann kann Raum für Abstufungen sein.

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Vgl. Forst 1996, S. 417.

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LITERATUR Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Forst, Rainer et al. (Hrsg.), 2009: Sozialphilosophie und Kritik. Frankfurt am Main. Forst, Rainer, 1996: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 1952: Phänomenologie des Geistes. Hamburg. Honneth, Axel, 1992: Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main. Honneth, Axel, 2010: Das Ich im Wir. Frankfurt am Main. Iser, Mathias, 2004: Anerkennung. In: Gerhard Göhler / Mathias Iser / Ina Kerner (Hrsg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe. Wiesbaden, S. 11–28. Knoll, Manuel, 2013: Zivilgesellschaftstheorie: Michael Walzer. In: Rolf Gröschner / Antje Kapust / Oliver W. Lembke (Hrsg.): Wörterbuch der Würde. Stuttgart, S. 119–121. Krause, Skadi / Malowitz, Karsten, 1998: Michael Walzer zur Einführung. Hamburg. Krebs Angelika, 2007: Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. In: Manfred Brocker (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Frankfurt am Main, S. 697–713. Taylor, Charles, 1993: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main. Taylor, Charles, 1995: Das Unbehagen in der Moderne. Frankfurt am Main. Rawls John, 1975: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übers. von Hermann Vetter. Frankfurt am Main. Schmidt am Busch, Hans-Christoph / Zurn, Christopher F. (Hrsg.) 2009: Anerkennung (= Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 21). Berlin. Walzer, Michael, 1990: Kritik und Gemeinsinn. Frankfurt am Main.

MACHT UND POLITIK Alexander Thumfart

Wir sollten, wie das Hans Blumenberg einmal ganz wunderbar formuliert hat, die Probleme, Theorien und Konstellationen in den Hintergrund von Texten projizieren, auf die diese Texte die Antworten waren bzw. sind.1 Textverstehen vollzieht sich im Wesentlichen vor einem Problemhintergrund, den wir als Rezipienten und Interpretinnen konstruieren. Die hermeneutische Angemessenheit dieser konstruktiven Projektionen bestimmt sich dann im Grad der Plausibilität der Bezugnahmen zum (in sich vielschichtigen) Kontext wie in der für die kritische Öffentlichkeit (möglichst) bruchfreien und also schlüssigen Montage des Textes zum kohärenten Bild seiner selbst. Hermeneutik stellt letztlich systematisch stimmige textuale „imagines“ / Darstellungsbilder her im Spiegelsaal der potenziell unendlichen Referenzen. Für die Analyse der Bedeutung des Gerechtigkeitsmodells einer komplexen Gleichheit in der Sphäre der Politik, wie Michael Walzer sie vorlegt, schlage ich vor, insgesamt die (in sich natürlich plurale) Theorietradition des Republikanismus aufzurufen. Sie scheint mir die geeignete Folie zu sein, vor der wir Michael Walzers Analysen von Macht, Politik und komplexer Gleichheit angemessen und gewinnbringend interpretieren können. Das bezieht sich sowohl auf den Aufbau und die Choreographie des Textes zu Macht und Politik, als auch auf die Diskussion eines spezifischen Ausschnittes, nämlich des Verhältnisses zwischen Eigentum und politischer Macht. Wenn wir die Ausführungen Walzers zu dieser Beziehung als eine spezifische Positionierung innerhalb eines republikanischen Debattenfeldes lesen, wird uns, so möchte ich zeigen, die Logik der Argumentation innerhalb des Abschnittes zur politischen Macht klarer.2 Walzers Analysen zur gerechten Verteilung von politischer Macht werden durch zwei Schemata geregelt. Das erste Schema ist ein eher formales, und lässt sich als das Dual eines Blickes von „oben“ und eines Blickes von „unten“ charakterisieren. „Oben“ und „unten“ bezieht sich dabei (recht schlicht) auf diejenigen, die politische Macht ausüben (oben), und diejenigen, die dieser Ausübung mehr oder weniger unterworfen sind (unten).3 Das zweite Schema ist ein inhaltliches. 1 2

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Siehe Blumenberg 1998, S. 91. Panajotis Kondylis hat vorgeschlagen, intellektuelle Positionen dadurch klar zu machen, indem man ihre Widersacher oder Kontrahenten mit einbezieht. Das scheint mir ein sehr gutes Verfahren; siehe Kondylis 1986, S. 25–28. Man fühlt sich durch diese Perspektivenverschränkung sofort an das Widmungsschreiben Niccoló Machiavellis an Lorenzo de’Medici aus dem Il Principe erinnert. Denn dort positioniert und präsentiert sich Machiavelli als ein Beobachter, der sowohl den Blick von oben, also des Fürsten auf das Volk, als auch den Blick von unten, den des Volkes auf den Fürsten, ein-

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Walzer gliedert seine Untersuchung in drei große Themenkomplexe, in deren erstem es um den Zusammenhang von Wissen und Macht geht, deren zweites die Relation von Macht und Besitz behandelt, und deren drittes sich um die Ausübung von Macht und komplexer Gleichheit dreht. Beide Schemata sind (notwendig) mit einander verbunden und ergeben eine zusammenhängende Geschichte.

1. DAS PARADOX POLITISCHER MACHT Diesen drei inhaltlichen Schritten vorausgestellt sind ein paar generelle Feststellungen zur Bedeutung politischer Macht. Diese Feststellungen greifen natürlich zurück auf das, was Walzer in seinem programmatischen ersten Kapitel „Komplexe Gleichheit“ bereits über Staat und politische Macht ausgeführt hat. Politische Macht ist nämlich nicht irgendeine Form von sozialem Gut, das irgendwie verteilt werden muss. Politische Macht ist vielmehr jene normalerweise im und als Staat institutionalisierte Handlungssphäre, „von der aus alle übrigen Sphären reglementiert werden“ (SG 438). Genauer gesagt, „wacht“ politisch institutionalisierte Macht „über die Grenzen, innerhalb derer die verschiedenen Sozialgüter verteilt werden.“ (SG 399).4 Politische Macht lässt sich also als komplexes Grenzregime begreifen, das sicherstellt, dass die einzelnen (zuvor behandelten) gesellschaftlichen Sphären nach den je eigenen angemessenen Gerechtigkeitsverfahren und -prinzipien prozessieren können, und es nicht zu jenen Grenzüberschreitungen und Übergriffen kommt, die Michael Walzer ganz zu Beginn unter dem Begriff der „Dominanz“ und (im Rückgriff speziell auf Baruch de Spinoza) der „Tyrannei“ rubriziert hatte (SG 398).5 Aus dieser Aufgabe resultiert nahezu zwangsläufig ein Paradox, das politische Macht unvermeidbar kennzeichnet. Denn politische Macht muss einerseits so stark sein, dass sie die Sphärengrenzen wirksam garantieren kann und nicht dazu verurteilt ist, tatsächlicher Intervention, Dominanz und Tyrannei – etwa im Bereich von Bildung, Wirtschaft oder Wohlfahrt – hilf- und eben machtlos gegenüber zu stehen. Auf der anderen Seite darf politische Macht ihrerseits aber nicht so zentralisiert und stark sein, dass sie selbst die Sphärengrenzen ignoriert und rücksichtslos Dominanz, ja letztlich Tyrannei ausübt. Denn es gilt nun eben: „Die politische Macht schützt uns vor der Tyrannei […] und wird darüber selbst tyrannisch.“6 Diese Diagnose, die sich bei Hannah Arendt ganz ähnlich findet,7 führt

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zunehmen und in Beziehung zu setzen vermag; siehe Machiavelli 1986, S. 7. Dass damit natürlich zugleich die Position des Kritikers politischer Macht formuliert ist, hat Viroli gezeigt; siehe Viroli 2000, S. 196–206. Die „Staatsmacht […] ist wichtigster Garant distributiver Gerechtigkeit“ (SG 399; Hervorhebung im Original). Siehe SG 37 und 47. Im ersten Kapitel fasst Walzer das Paradox politischer Macht in die Worte: „Wir werden Macht mobilisieren, um das Monopol in Schach zu halten, und danach nach einer Möglichkeit suchen, die Macht, die wir mobilisiert haben, einzudämmen.“ (SG 45). Siehe Arendt 2000, S. 90–97; Arendt 2006, S. 79–84.

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ihrerseits zwanglos zur Aufforderung, politische Macht mit Augenmaß zu teilen und mit Klugheit auszubalancieren. Denn zu wenig Macht ist ebenso schädlich wie zu viel Macht.8 Die weitestgehende Diffusion und maximale Parzellierung von Macht bis hin zu ihrer fast vollständigen Auflösung kann folglich ebenso wenig eine sinnvolle und letztlich gerechte politische Option sein wie die (absolutistisch-tyrannische) Konzentration von Macht.9 Es ist diese Feststellung, die die folgenden Analysen normativ orientiert. Die erste Form der Machtbegrenzung ergibt sich, wendet man das erste eher formale Schema der wechselseitigen Blicke an. Wir sollten sinnvoller Weise und erfahrungsgesättigt von einer „Übermut der Ämter“ ausgehen, von „Amtsanmaßung“ und den Verlockungen der politisch Herausgehobenen, ihre politische Macht in andere Formen von Gütern zu konvertieren, etwa in Schulkarrieren, bevorzugten Zugang, großzügige Regelauslegungen oder religiöse Ämter (SG 403). Denn politische Macht zeichne sich auch in Demokratien gerade dadurch aus, dass sie von den Bürgerinnen und Bürgern in jedes andere gewünschte Gut konvertiert und umgewandelt werden könne.10 Diesen all gegenwärtigen Verlockungen politischer Macht sollten wir als Bürgerinnen und Bürger (von unten) entgegentreten, indem wir einen „Katalog der blockierten Tauschaktivitäten“ festlegen, der auflistet, was – also welche Konversionen – Vertreter des Staates keinesfalls (ungestraft) tun dürfen (SG 401). Elemente dieses Kataloges zählt Walzer an Beispiel der USA auf, darunter etwa die klassischen Bürgerrechte (von habeas corpus bis Redefreiheit), das Verbot der Diskriminierung, die Freiheit von Forschung und Lehre, die Eigenständigkeit der Judikative, das Verbot des Handels mit politischer Macht und Weiteres mehr.11 Diese Begrenzung legitimen politischen Handelns intendiert nicht nur die Sicherung der relativen Autonomie anderer Sphären, etwa Wissenschaft, Presse, Recht, Religion und Privatsphäre, und wehrt damit der zentralisierenden Monopolisierung politischer Macht. Sondern sie „befördert“ und stärkt simultan das Bewusstsein der „Egalität der Bürger“ (SG 403). Denn politisch übermütige Intervention stellt ja nicht nur einen (tendenziell tyrannischen) Angriff auf die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger dar, sondern kann durch Zurücksetzung wie (klientelistische) Förderung gleichermaßen auch Ungleichheit

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„Daher das Doppelerfordernis, die Macht zu erhalten und sie gleichzeitig einzudämmen; sie zu mobilisieren, zu teilen, zu kontrollieren und im Gleichgewicht zu halten.“ (SG 399); siehe auch SG 44. 9 „Generäle und Diktatoren“ trachten danach, „die Macht durch eine einzige Person“ zu monopolisieren, also „nicht nur innerhalb der Sphäre der Politik, sondern auch jenseits von ihr in allen anderen Distributionssphären die Vorherrschaft zu erringen.“ (SG 400 f.). 10 „Theoretisch gesprochen ist die politische Macht in einer Demokratie das dominante und in jeder von ihren Bürgern gewünschten Weise konvertible Gut.“ (SG 44). 11 Siehe SG 401– 403. Natürlich gibt es auch hier wieder partiell einen Rückverweis, nämlich auf die blockierten Tauschgeschäfte aus dem Kapitel 4 „Geld und Waren“. Auch dort wurde festgehalten, dass „politische Macht und politischer Einfluss […] nicht gekauft und nicht verkauft werden (dürfen).“ (SG 157). Die Problematik der Konversion von politischer Macht in Geld, also etwa Korruption, nimmt Walzer kurz wieder auf in seinem Buch „Lokale Kritik – globale Standards“; siehe Walzer 1996, S. 50–55.

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erzeugen, und damit das Bewusstsein von Solidarität und bürgerschaftlichem Miteinander, also den kritischen Blick von unten, beschädigen.

2. WISSEN UND POLITISCHE MACHT: STATT PLATON VOLKSSOUVERÄNITÄT Diese formalen Grenzziehungen, die politische Macht einschränken, sagen jedoch nichts darüber aus, wer oder welche Gruppe denn nun politische Macht ausüben darf. Denn auch eine wohlmeinende Monarchie oder Aristokratie könnte mit einem spezifischen Set an Machtbeschränkungen und Grundrechten zurechtkommen. Paradebeispiel wäre ein (liberaler) Rechtsstaat des europäischen 19. Jahrhunderts.12 Machtbegrenzung und Demokratie bilden folglich keine notwendige Verbindung. Walzers Option für eine demokratische Regierungsform setzt sich deshalb mit der Legitimationsbasis all jener nicht-demokratischen und damit exklusiven Herrschaftsformen auseinander: dem Wissen. Wissen soll (angeblich) der Grund dafür sein, weshalb einige Wenige herrschen dürfen und die Vielen von Herrschaft ausgeschlossen werden und ausgeschlossen bleiben müssen. Nun mag man darüber streiten, ob es noch andere Begründungen gibt, weshalb einige Wenige herrschen sollten und die vielen anderen nicht. Denken könnte man da etwa an die edle Herkunft (was auch immer das sein mag), die Familie, den Reichtum, eine kollektive Geschichte oder eine besondere Tüchtigkeit. Poggio Bracciolini hat all diese Optionen exemplarisch und auf literarisch höchstem Niveau bereits einmal durchgespielt.13 Keine dieser Begründungen vermag, so demonstriert Bracciolonis Dialog De vera nobilitate, wirklich zu überzeugen und genauerer Betrachtung standhalten, zu variabel und kulturell eingefärbt zeigten sich die diversen Begründungen. Und schließlich ließe sich so etwas wie Vortrefflichkeit sowohl in der Politik als auch in der (privaten) Studierstube erwerben. Insofern stellt Walzers kritische Bezugnahme auf Wissen sicher nicht die einzige Legitimationsmöglichkeit exklusiver Herrschaft dar, aber auch nicht die schlechteste. Das Modell für die Absicherung politisch exklusiven Herrschaftsanspruches durch Wissen liefert Platon. Denn Platon entwirft in der Politeia seine Vorstellung von der (im wahrsten Wortsinne) notwendigen Herrschaft des (wahren) Wissens gerade als Antwort auf die Anarchie einer demokratischen Schiffsbesatzung, in der jeder einzelne glaubt, steuern zu können. Gerade diese unsägliche und anmaßende Inkompetenz jedes Einzelnen der Besatzungsmitglieder in allen Fragen der 12 Siehe dazu am Beispiel Deutschlands Nipperdey 1992, S. 85–200; mit Blick auf die enorme Vielfalt politischer Ordnungen mit unterschiedlich ausgeprägter Rechtsstaatlichkeit aber ohne breite demokratische Partizipation weltweit siehe Osterhammel 2009, S. 820–882. 13 Siehe Braccioloni 2004. Niccoló Niccoli vertritt als ein Gesprächspartner in diesem Dialog zunächst ganz phantastisch einen geradezu kulturvergleichenden Ansatz, während Lorenzo de’Medici einen politisch-pragmatischen, auf Aristoteles sich beziehenden Zugang verkörpert. Das Ende des Dialogs bleibt bewusst offen und fordert sehr klug zum Selber-WeiterDenken auf.

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Navigation und Steuermannskunst sei, so Platon, aber letztlich der Grund für die desaströsen Zustände auf Deck und den unvermeidlichen Untergang des Staatsschiffes. Diesem Missstand aus Unwissen könne deshalb einzig ein der Kunst der Steuerung und Navigation Kundiger, natürlich der Philosophenkönig, abhelfen und wehren, weshalb auch nur das Wissen um jene Steuermanns- und Führungskunst Grundlage aller politischen Herrschaft sein könne und sein müsse.14 Diesem Blick von oben hält Walzer entgegen, Platon habe ein so deutlich verqueres wie verkürztes Verständnis von Politik. Zwar mag der Steuermann ein hervorragender Navigator sein, also sein Amt exzellent ausführen. Er lege jedoch nicht das Ziel der Schiffsreise fest. Vielmehr „vertrauen (wir) uns dem Steuermann ja erst dann an, wenn wir bereits entschieden haben, wohin die Reise gehen soll“ (SG 406).15 Die Bestimmung des Zieles staatlicher Politik obliegt den Reisenden (also dem Blick von unten). Sie verfügen über die vorgelagerte und damit tatsächlich grundlegende Macht. Der Steuermann und sein Wissen sind dann lediglich abgeleitete, sekundäre Machtkompetenzen, die deutlich instrumenteller Natur seien. Aber auch das sei kein angemessenes Konzept politischer Herrschaft im Sinne der Ausübung eines politischen Amtes. Denn Politikerinnen und Politiker müssten nicht primär Spezialistinnen und Fachmänner in einem Wissensgebiet sein. Ihre Kompetenz besteht vielmehr darin, kommunikativ und responsiv in der Lage zu sein, den Willen des Volkes zu erkennen, zu ermitteln, zu formulieren und verantwortlich umzusetzen. „Die entscheidende Qualifikation für die Ausübung von politischer Macht ist nicht ein spezielles Wissen um die menschlichen Ziele, sondern eine spezielle Beziehung zu einer bestimmten Gruppe von Menschen.“ (SG 407).16 Weder also beruht die politische Macht eines Amtes auf (einer behaupteten Sakralität von) Wissen, noch ist sie die ursprüngliche Form politischer Macht. Vielmehr ist die politisch-institutionalisierte Macht von der, nun ja ganz deutlich als (neuzeitliche) Souveränität des Volkes zu benennenden, Macht aller Bürgerinnen und Bürger abgeleitet.17 Walzer nutzt also das starke Gegenmodell Platons (zur Legitimierung nicht demokratischer Ordnung qua Wissen), um den inhärenten Zusammenhang von politisch-verfasster Macht und demokratischer Volkssouveränität zu zeigen (Verbindung beider Blicke). Daraus folgt dann, dass die Mög-

14 Siehe Platon 2001, S. 481–483 (Politeia 488 a – 489 a). 15 Diese Kritik an Platons gerade politisch so verhängnisvoller Trennung von Wissen und Tun hat ganz ähnlich (natürlich) Hannah Arendt formuliert. Auch für sie hat sich diese „platonische Trennung […] bis heute als die Wurzel aller Herrschaftstheorien erhalten“. Arendt 1981, S. 219. Natürlich kann man hier auch an Poppers vehemente Platon-Kritik denken; siehe Popper 1992, S. 104–200. 16 „Was Politiker und Steuerleute, sofern es um Politik geht, wissen und kennen müssen, ist der Wille des Volkes bzw. der an Bord des Staatschiffes befindlichen Passagiere“ (SG 407). 17 „Perikles und Protagoras artikulieren jenes demokratische Verständnis von Macht, das gemeinhin auf das zentriert ist, was ich – in einem Anachronismus, wenn ich von den Athenern spreche – als ‚Souveränität‘ bezeichnet habe. Souveränität als staatliche, bürgerliche, kollektive Herrschaft. Solcherlei Macht gründet in der Entscheidungskompetenz der Bürger“ (SG 408).

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lichkeit des Zugangs zu politischen Ämtern mit keinerlei Zusatzqualifikationen für Bürgerinnen verbunden ist (und werden kann). Bürgerinnen und Bürger müssen keine Bildungskurse durchlaufen und (etwa staatwissenschaftliche) Diplome erwerben, um Politik machen zu können. Und zugleich sagt dies, dass die Bürgerinnen und Bürger damit auch insgesamt und völlig legitim über die politische Kontrollmacht gegenüber allen Ämtern verfügen, also wieder den kritischen Blick von unten.18 Auch die Berechtigung zur kritischen Kommentierung politischen und staatlichen Handelns ist nicht an irgendwelche (akademische) Zeugnisse und Zertifikate gebunden.19 Sehr viel weiter, tiefer und genauer hat Michael Walzer diese unhintergehbare egalitäre zivile und politische Kritikkompetenz aller Bürgerinnen und Bürger ausgeführt etwa in seinem Werk „Kritik und Gemeinsinn“.20

3. BESITZ UND MACHT: STATT PULLMAN REPUBLIKANISCHE WEITSICHT Wenn Wissen nicht die Grundlage politischer Macht sein kann, Spezialwissen damit aber auch nicht automatisch tyrannisch sein muss, so kann doch Besitz eine Gefahr für das Grenzregime demokratischer Ordnung darstellen. Dabei geht es nicht primär darum, dass ökonomische Potenz politische Entscheidungen beeinflusst oder, in einer marxistischen Sicht der Dinge, präjudiziert, also politische Ämter in geschäftsführende Ausschüsse der ökonomisch herrschenden Schicht verwandelt. Im Fokus der Walzer’schen Untersuchung steht vielmehr die Disziplinierung und „Kontrollherrschaft über die Ziele und Risiken anderer Menschen“, die durch Besitz in der ökonomischen Sphäre ausgeübt wird (SG 413). Eines der angeführten Beispiele, die Luftverschmutzung durch Fabriken und Betriebe, differenziert näher, was Walzer darunter versteht, macht die Sache aber auch nicht wirklich transparenter. Walzer scheint sich hier selber nicht so ganz klar zu sein, was er denn nun alles einfangen möchte, landet aber schließlich doch bei einem Punkt, der zwar weniger umfänglich aber zumindest sehr präzise ist. Industrielle Luftverschmutzung bürdet anderen, das heißt allen im mittleren Umkreis Lebenden, Risiken auf, unabhängig davon, ob sie in dieser Fabrik arbei-

18 Die Normalität aller Berechtigten, die Alltäglichkeit des Zugangs der Mitglieder wird schön (und natürlich wieder gegen Platons Unterstellung) formuliert etwa von Christoph Möllers: „Der Einwand der Experten, dass in Demokratien ohne Kompetenz entschieden würde, zeigt die demokratische Inkompetenz der Experten.“ Möllers 2008, S. 45. 19 In einer historischen Perspektive steht Walzer damit insgesamt auf der Seite des Aristoteles, zumindest in der Hinsicht, dass in der Politie mit ihrer Fähigkeit zur kollektiven Rationalitätssteigerung alle (Voll-)Bürger selbstverständlich und voraussetzungslos auf der Pnyx reden und entscheiden konnten. „Dass aber die Entscheidung eher bei der Menge als bei der geringen Zahl der Besten zu liegen habe, das scheint zu bestehen und sich verteidigen zu lassen, ja vielleicht sogar wahr zu sein […]. Denn die Menge, von der der einzelne kein tüchtiger Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein zu können als jene Besten; nicht jeder Einzelne für sich, sondern die Gesamtheit“. Aristoteles 1984, S. 119 (Politik 1281 a 38–1281 b 2). 20 Siehe Walzer 1990, speziell S. 43–79.

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ten oder nicht. Diese diffuse und allgemeine Bürde wie Zumutung nimmt Charakteristika politischer Macht an. „Wer aber anderen Menschen Risiken, zumindest Risiken solcher Art, aufzwingt, übt Macht über sie aus, und zwar im exakt politischen Wortsinn.“ (SG 415). Bei genauerem Hinsehen lässt sich diese Parallelisierung aber nicht wirklich halten. Denn wir sind als Souverän ja durchaus in der Lage, politisch dem Betrieb scharfe oder schärfere Umweltschutz-Auflagen zu erteilen, also die Zumutung zu reduzieren. Außerdem kann nicht jede Intervention (Bürde, Zumutung) in das soziale Leben als politische Macht beschrieben werden, die zurückgedrängt werden müsse. Wollen wir Beeinflussung durch Risiken überhaupt reduzieren, müssten wir das soziale Leben insgesamt zurückschneiden. Robinson war zumindest vor „Freitag“ vor der Bedrohung sozialer Anderer frei – allerdings um den Preis seiner Einsamkeit. Die herbeigezogene Parallelisierung führt in eine Richtung, die wenig sinnvoll und erfolgversprechend scheint. Deshalb fügt Walzer wohl auch (reichlich unscharf) an, dass dies insgesamt „schwierige Fälle“ sein, und er „nicht versuchen“ werde, „hier zu einer detaillierten Lösung zu gelangen“ (SG 415). Die Frage nach dem Zusammenhang von Eigentum und politischer Macht muss also in eine andere Richtung gehen und aufgelöst werden. Dazu vermag das von Walzer im Anschluss beschriebene Beispiel von George Pullman beizutragen, das ganz ausdrücklich auf der Perspektive aufruht, dass „ein Wirtschaftsunternehmen einer Stadt recht ähnlich zu sein“ vermag (SG 425).21 Der durch den Bau von Waggons reich gewordene George Pullman gründete eine Stadt Pullman, Illinois, in der das Leben für die Beschäftigten ordentlich, sauber, idyllisch und sicher sein sollte. Unbezweifelbar waren das im Vergleich zum Kontext der Jahrhundertwende durchaus positive Ziele. Jedoch beanspruchte Pullman, den Bewohnerinnen und Bewohnern eine gewisse (strenge) Disziplin und Lebensführung aufzunötigen, die nicht nur die Stadt in Schuss hielt, sondern auch der Fabrikarbeit zu Gute kam. Im Privaten disziplinierte (und erfolgsorientiert durch Überwachung kontrollierte) Angestellte sorgen auch für höhere Qualität im Betrieb.22 Pullman war in dieser Hinsicht ganz bestimmt kein Einzelfall und könnte durchaus gelesen werden als Erbe einiger früh-industrieller Sozialutopien.23 Dass damit wieder der (Kontroll-)Blick von oben aufgerufen ist, bedarf sicher keiner Erwähnung.

21 Die Pullman-Erzählung findet sich SG 418– 429. 22 „Die ständige Kontrolle der Stadtbewohner durch seine Inspektoren war zudringlich und despotisch und konnte kaum anders empfunden werden.“ (SG 421). 23 In seinem Vortrag „Über ein neues Gesellschaftssystem“ vor dem Repräsentantenhaus in Washington D.C. vom 25. Februar 1825 bemerkt Robert Owen über seine sozialen Experimente in New Lanarck (Schottland) und New Harmony (Indiana, USA): „Unter den damaligen Umständen brachte ich fünfhundert Personen – Männer, Frauen und Kinder – unter meine Verwaltung; von damals an bis heute hatte ich zwischen 500 und 2 500 Menschen, die gegenwärtige Anzahl, unter meiner direkten Leitung.“ Owen 1988, S. 81 (Hervorhebung von A. T.). Auch wenn es sozial-reformerisch gedacht war, ist es doch Tyrannei.

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Wie sich zeigen wird, betrachtet Walzer Pullman-City aber eher als USamerikanisches Analogon zum europäischen Feudalismus,24 und gewinnt daran drei zusammenhängende Ergebnisse. Erstens sind alle Entscheidungsbefugnisse bei einem einzigen Mensch konzentriert, der damit eine paternalistische und letztlich willkürliche (und tyrannische) soziale Kontrolle und Herrschaft ausübt, die die Herrschaftsadressaten de facto in „eine Metökenbevölkerung“ ohne Selbstachtung verwandelt (SG 421), unbeschadet der weiterhin natürlich existierenden politischen Rechte, über die jede und jeder Einzelne verfügt. Zweitens gewinnt Walzer daraus die Auffassung, dass „eine demokratische Verteilung von politischer Macht nicht an den Fabriktoren enden kann“, sondern so etwas zu fordern sei wie eine „Wirtschaftsdemokratie“, da nämlich drittens die „Grundprinzipien […] für beiderlei Institutionen dieselben (sind)“ (SG 422). Man kann daraus mindestens zweierlei folgern. Die schiere Existenz, so erstens, gewaltenteiliger Institutionen allein im Raum der Politik genügt nicht, um paternalistische (schließlich despotische) Herrschaft auszuschließen oder zumindest zu erschweren. Aktive Beteiligung, Partizipation der Bürgerinnen und Bürger ist politisch unumgänglich nötig, um gewaltenteilig organisierte Demokratie auf Dauer zu stellen und zu garantieren, worüber gleich noch mehr zu sagen sein wird. Und zweitens ist die Wirtschaft keine Sphäre, die von demokratischer Mitbestimmung ausgenommen werden kann. Zwar fällt sie nicht direkt in die Politik und vernichtet auch keine politischen Rechte. Sie hat aber durch ihre repressive Struktur so gravierende Auswirkungen auf die Partizipationsbereitschaft der polites, dass eine nicht kontrollierte ökonomische Disziplinierung die partizipativ notwendige Kontrolle gewaltenteilig organisierter politischer Macht motivational beschädigt und gefährdet. In ökonomischer Unsicherheit und prekärer Abhängigkeit gehaltene Bürgerinnen und Bürger werden kaum ein demokratisches (kollektives) Selbstbewusstsein entwickeln und sich auch kaum in politische Prozesse einmischen.25 Ohne Partizipation und eigenes kollektives und unter Umständen solidarisches Handeln werden umgekehrt die Bürgerinnen und Bürger dann auch in politicis langsam aber stetig in „Metöken“ verwandelt. Nicht zuletzt hatten wir ja schon gesehen, dass willkürliche Belohnung und / oder Bestrafung das Bewusstsein von Gleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern massiv angreift, also Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühle und kollektives Handeln behindert und schädigt. Diese Position kann klarer gemacht und profiliert werden, blendet man die Tradition des europäischen Republikanismus in den Hintergrund.26 Das legt sich insofern nahe, als der Republikanismus zentral mit jenem Gegensatzpaar „Herr / Tyrann – Sklave“ arbeitet, mit dem ja auch Walzer operiert. Republikanismus in 24 Eigentlich liegt es nahe, an das 19. Jahrhundert zu denken und hier an die Arbeitersiedlungen von Krupp in Essen oder der MAN in Augsburg. Walzer will aber einen spezifischen Punkt machen, der ihn tatsächlich sehr in die Nähe zum Feudalismus bringt, siehe SG 422. 25 Den engen Zusammenhang von prekärer Beschäftigung und Wahlverhalten hat etwa jüngst eine Studie der Bertelsmann Stiftung gezeigt; siehe Schäfer / Verkamp / Gagné 2013. 26 Siehe zum Folgenden etwa Pettit 1999, S. 51–79; Honohan 2002; Richter 2004; Skinner / van Gelderen 2002; Thumfart 2012a; Viroli 2002.

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der griechischen wie römischen (und schließlich humanistischen) Variante zielt darauf ab, (politische) Herrschaft so willkürfrei wie möglich zu machen. Ausgangspunkt dieser politiktheoretischen wie -praktischen Konzeption ist die unhintergehbar soziale Existenz des Menschen. Menschen beeinflussen und gestalten sich (positiv wie negativ) wechselseitig. Politik kann es also unmöglich damit zu tun haben, jede Form von sozialem Einfluss auf Personen bannen und verdammen zu wollen, es wäre denn die Vernichtung menschlicher Existenzweisen. Vielmehr geht es darum, den Einfluss, den Menschen unweigerlich aufeinander ausüben, berechenbar, geregelt, klar, transparent, begründbar und begrenzt zu gestalten, eben: so willkürfrei wie nur möglich.27 Dieser Zugang zum Phänomen politischer Macht hat mindestens zwei Vorteile. Erstens beruhigt sich diese Konzeption nicht mit der Aufstellung (unverlierbarer) Personenrechte. Auch wenn wir über einen Satz an Grundrechten verfügen, die gegenüber einem Staat als Abwehrrechte in Stellung gebracht werden können, dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass es Alltagsinterventionen und Machtstrukturen gibt, die Menschen in Angst und Schrecken halten, sie mit Unsicherheit und Furcht quälen, Diskriminierungen produzieren, Abhängigkeiten erzeugen, die eine möglichst weitgehende freie soziale Entfaltung, Begegnung und Kooperation erschweren wenn nicht gar verhindern. Zwar mag eine Person über Menschenrechte verfügen, die etwa ökonomische Abhängigkeit von der Willkür eines Arbeitgebers wird aber ihre freie Welt- und Sozialbegegnung massiv lädieren. Obwohl Menschen also unsterbliche Rechte besitzen (mögen), sind sie willkürlicher Macht unterworfen und leben aufgrund ökonomischer Umstände doch in einer Art Sklaverei, die es ihnen nahezu unmöglich macht, den Kopf zu heben, aufrecht zu gehen und der Bedrohung auf Augenhöhe zu begegnen.28 Eine reine Konzentration auf Rechte vermag diesen Umstand nicht in den Blick zu bekommen und in seinem Bedrohungspotenzial zu würdigen. Damit wird der zweite Vorteil republikanischer Heuristik bereits aufgerufen. Die Forderung nach möglichst willkürfreier Organisation sozialer Interaktion ist nicht auf die politische Sphäre beschränkt. Es gibt keinen Grund, weshalb nicht auch Hochschulen, Fabriken, Kirchen, Schulen, Krankenhäuser (also andere Le-

27 Paradigmatisch und natürlich mit Anspielungen auf Aristoteles hat diese Freiheit von Willkür der Humanist und Florentiner Kanzler Leonardo Bruni in seiner Grabrede auf Nanni Strozzi im Frühjahr 1428 formuliert: „Hec est vera libertas, hec equitas civitatis, nullius vim, nullius iniuriam vereri, paritatem esse iuris inter se civibus, paritatem reipublice adeunde.“ Bruni 1996, S. 716. (Das ist wahre Freiheit, darin besteht die Gleichheit in einer Stadt: keines Menschen Macht, keines Menschen Gewalttat zu fürchten, und sich der Gleichheit des Gesetzes für alle und des gleichen Zuganges zur res publica zu erfreuen; Übersetzung von A. T.). 28 Pettit hat die Asymmetrie dieser Machtbeziehung sehr klar beschrieben: „Domination (i. e. Willkürherrschaft, A. T.) is generally going to involve the awareness of control on the part of the powerful, the awareness of vulnerability on the part of the powerless, and the mutual awareness […] of this consciousness on each side. The powerless are not going to be able to look the powerful in the eye, conscious as each will be – and conscious as each will be of the other’s consciousness – of this asymmetry.“ Pettit 1999, S. 60–61.

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bensbereiche) nach republikanischen Prinzipien aufgebaut sein und kontrolliert werden sollten.29 Vor diesem Hintergrund gewinnen die Ausführungen Walzers zum Verhältnis von Besitz und Macht zusätzliches Profil. Die Parallelisierung von Fabrik / Unternehmen und politischer Stadt verliert ihren Irritationscharakter und wird plausibel. Beide Formen sozialer Organisation können auch angesichts einer Sphärentrennung zwischen Ökonomie und Politik denselben Prinzipien der (weitestgehenden) Willkürfreiheit von Herrschaft gehorchen. Sie vermögen tatsächlich für einander ein zu stehen und sich wechselseitig zu spiegeln. Macht eine Aufspaltung in politische Freiheitsrechte einerseits und ökonomische Unterdrückung andererseits deshalb wenig Sinn, wird sie gänzlich fragwürdig, wenn sie die politischen Wirkungen ökonomischer Abhängigkeiten ausblendet und ignoriert. Auch wenn Bürgerinnen und Bürger über politische Freiheitsrechte verfügen, werden sie diese kaum nutzen, einsetzen und verteidigen, wenn sie im Alltag in unterschiedlichen Formen sozialer Abhängigkeit, Machtasymmetrien, Überwachungen und prekären Unterstellungsverhältnissen leben. Auch mit unsterblichen Rechten versehene Personen können eben sozio-ökonomisch oder im Erziehungssystem – wenn natürlich nicht in völlig rechtlose Sklaven, so doch – zu Parias und „Metöken“ gemacht werden. Die Fragen nach politischer Herrschaft, Macht und Freiheit lassen sich deshalb systematisch von Fragen der ökonomischen Organisation gar nicht trennen.30 Erst eine republikanisch geschulte, und damit eben nicht klassisch liberale, Rekonstruktion von Herrschaft und Abhängigkeit bekommt diese enge Verzahnung in den Blick.31 Und deshalb ist es unabweisbar, dass umgekehrt natürlich auch Fabriken, Industrien und Unternehmen intern demokratisiert werden müssen.32 Sind ihre Herrschaftsstrukturen doch extrem anfällig für willkürliche Behandlung von Angestellten und Arbeiterinnen. Deshalb zögert Walzer auch nicht, die Empfehlung auszusprechen, dass ab einem nicht näher spezifizierten und damit der öffentlichen Diskussion anheimgestellten „Punkt in der Unternehmensentwicklung […] der Betrieb der unternehmerischen Kontrolle entzogen und im Einklang mit der herrschenden (demokratischen) Vorstellung davon, wie Macht zu verteilen sei, sozusagen politisch organisiert oder reorganisiert wird.“ (SG 428 f).33 Die nun

29 Siehe Bellamy 2007, S. 145–175; Richter 2004, S. 156 ff.; Honohan 2002, S. 214–249. 30 An anderer Stelle verweist Michael Walzer dann auch konsequent auf den „politischen Charakter“ von Geld (SG 185). Geld hat Bedeutung ja nur in einem Deutungskosmos, der immer auch politisch verfasst ist. Deshalb ist Geld politisch nie unschuldig, und wir würden die politische und damit auch Macht-Dimension von Geld ganz bewusst ignorieren, wenn wir in unseren politischen Überlegungen den Markt ausblendeten. Im Gegenteil würden wir dann Macht dem Markt überlassen, wo sie nichts zu suchen hat; siehe SG 186. 31 So fehlt etwa in der Analysen von Christoph Seibert zur politischen Macht bei Walzer genau jene ökonomische Dimension von Herrschaft; siehe Seibert 2004, S. 217–221. 32 „Wenn also solche Herrschaftspraktiken (i. e. Regeln ohne öffentliche Diskussion erlassen, Opposition verbieten, keine Rechtsverfahren etc., A. T.) für Städte untauglich sind, dann taugen sie auch nicht für Handelsunternehmen und Fabriken.“ (SG 426). 33 Siehe dazu auch Haus 2012, S. 77–81.

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eben unbegrenzte Konzentration von Entscheidungsmacht in einer Zentrale eines multi-nationalen Konzerns etwa gewinnt tyrannische (Pullman’sche) Qualitäten, und muss deshalb ähnlich wie bei Regierungszentralisierung konterkariert und verhindert werden. Das ist nun erkennbar wieder der Blick von unten. Das Plädoyer für eine „Wirtschaftsdemokratie“ nimmt nicht nur kurz darauf etwa Benjamin Barber auf,34 sondern erinnert an jene Forderungen und Überlegungen, die gegenwärtig im Kontext der Debatten um eine Verbindung von Nachhaltigkeit und Kapitalismus geführt werden. Mag man bei Walzers Vorschlag auch zunächst an die schlichte Einführung von Gewerkschaftsvertretungen, Schutz vor Entlassungen und das Streikrecht denken, die in Europa gängige Regelungen (mit vielen Lücken) sind, so hindert nichts daran, auch weitergehende Konzepte zur Demokratisierung der Wirtschaft aufzurufen. Warum sollte nicht das Genossenschaftsmodell ab einer gewissen Betriebsgröße verpflichtend werden, das die Entscheidung über ein Unternehmen in die Hände der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter legt?35 Warum sollten nicht demokratisch legitimierte politische Vertreterinnen und Vertreter festlegen, dass gewisse umweltschädliche und damit gefährliche Produkte und Produktlinien gar nicht mehr produziert werden dürfen?36 Und warum sollten nicht Trusts ökonomisch bevorzugt werden, denen es primär um den Bestandserhalt geht und nicht um (kapitalistisches) Wachstum?37 In Michael Walzer hätte man ganz offenbar einen Verbündeten in der Frage der demokratischen Steuerung und Transformation kapitalistischer Produktionsweisen. Allerdings kann auch dabei nicht stehen geblieben werden. Zwar haben wir nun den engen Zusammenhang von Markt und Stadt erkannt, und damit auch gesehen, dass die schiere Existenz gewaltenteiliger politischer Institutionen nicht garantiert, dass politische Macht nicht doch noch (via ökonomischer Zu- und Abrichtung) leer laufen und despotisch werden kann. Wie denn nun im Bereich des Politischen und der politischen Macht selbst (zusätzlich zur Gewaltenteilung) Despotie erschwert werden kann, ist gleichwohl und trotz einiger Hinweise weiterhin offen. Und deshalb schließt Walzer auch sehr konsequent hier seinen dritten inhaltlichen Teil in der Untersuchung politischer Macht an.

4. BÜRGERRECHTE UND MACHT: KOMPLEXE GLEICHHEIT ALS PARTIZIPATION MIT AUGENMAß Wie politische Macht unabdingbar ist, so sind es auch Politikerinnen und Politiker. Deren Amt besteht in einer gewaltenteiligen Demokratie wesentlich im Reden. Die speziellen Kompetenzen des demokratischen politischen Personals liegen, wie schon vermerkt, in der Responsivität, dem besonderen Verhältnis zwi34 35 36 37

Siehe Barber 1994, S. 233–296. Siehe Felber 2012. Siehe Randers 2012, S. 208 ff. Siehe Barnes 2008.

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schen Politikerin und Bürgerschaft, also kurz in „Sprachvermögen, Überzeugungskraft und rhetorische(m) Geschick“ (SG 430). Politikerinnen werben, versuchen zu überzeugen, begründen und beeinflussen, überreden und streiten öffentlich und vor einem Publikum für die Sache, die sie für richtig halten. Das ist nicht nur legitim und nimmt jene alte Bestimmung von Politik wieder auf, für die der rhetorische Streit auf der Agora den Kampf mit den Waffen ersetzt.38 Es ist darüber hinaus auch notwendig. Denn es geht ja darum, Macht zu generieren, Macht zu bündeln und Macht einzusetzen, um Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen, nicht zuletzt auch, um das Grenzregime der Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten.39 Das heißt aber nicht, dass den politischen Amtsträgern nicht geantwortet werden darf. Ganz im Gegenteil. Zur Rede gehört demokratisch natürlich die Gegenrede und Walzer optiert für eine Pluralisierung der Arenen, in denen Politikerinnen und Bürgerinnen aufeinandertreffen und miteinander reden und debattieren.40 Demokratie ist ohne Bürgerbeteiligung, ohne vielfältige und vielgestaltige Partizipation durch eine aktive Zivilgesellschaft undenkbar. Denn es ist ja schließlich der Widerspruch, der den Machtanspruch (der Ämter) begrenzt. Und darum geht es ja gerade. Das mag (für uns) zunächst wenig überraschend sein. Selbstverständlich ist es nicht. Denn es gibt gerade in der republikanischen Tradition auch eine hinreichend breite Anzahl an Stimmen, die vermerken, dass das Volk (wer immer das genau sein mag), im Grunde lediglich nicht willkürlich beherrscht werden will, aber nicht danach strebt, selber zu herrschen oder an der politischen Regierung beteiligt zu sein. Wie die Diskussionen etwa um ein governo largo oder governo stretto im italienischen Bürgerhumanismus zeigen, sind beide Seiten gleichermaßen überzeugte Republikaner, die sich lediglich darin unterscheiden, wie weit sie den Kreis der politisch Zugangsberechtigten ziehen.41 Walzer bezieht hier (wie viele andere so genannte Kommunitarier) die Position einer breiten Beteiligung der polites an politischen Machtprozess selbst. Allerdings darf diese Beteiligung nicht so weit gehen, dass die Differenzen zwischen 38 Siehe dazu mit weiteren Verweisen die grandiose Studie von Cacciari 1995, S. 26–76. 39 So müssen „Entscheidungen auch tatsächlich getroffen werden; und wie sie ausfallen, hängt nicht von einzelnen Stimmen, sondern von deren Akkumulation ab – das heißt von Einflussnahmen, Überredungen, Pressionen, Unterhandlungen, Zusammenschlüssen usw. Durch ihre Beteiligung an solchen Aktivitäten üben Politiker, ob sie nun als Führer oder als Mittelsmänner auftreten, politische Macht aus.“ (SG 432). 40 „Unter modernen Verhältnissen wäre an eine sehr viel größere Vielfalt von Diskussionsforen – Ausschüssen, Wahlversammlungen, Parteien, Interessengruppen usw. – und damit auch an eine sehr viel größere Vielfalt von rhetorischen Stilen zu denken.“ (SG 430–431). 41 Siehe dazu mit weiteren Verweisen von Harrington bis Pitkin Pettit 1999, S. 27–31; Hankins 1996; Thumfart 2013; Natürlich sollten wir uns ins Bewusstsein rufen, dass auch diejenigen, die – wie etwa in der Renaissance – für eine breite Beteiligung votierten, nie auf die Idee gekommen wären, die plebs bzw. die Wollweber (Ciompi) an der Stadtregierung in Florenz zu beteiligen. Im Grunde handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Konzepten innerhalb einer republikanischen Stadtaristokratie; siehe Brucker 1998; Najemy 2000.

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politischem Amt und Bürgerin gänzlich verschwinden. Eine Form politischer Gleichheit im Machtspiel ist und kann nicht Sinn und Zweck der Beteiligung sein, auch wenn „Demokraten immer ein gewisses Misstrauen gegen Politiker gehegt und nach Wegen gesucht haben, die einfache Gleichheit in der Sphäre der Politik erfolgreicher zu verankern“ (SG 433). Vielmehr geht es nun expressis verbis um komplexe Gleichheit, also wiederum die Verbindung der beiden Blicke. „Wer für die massiveren Formen von Partizipation plädiert, plädiert zugleich für komplexe Gleichheit.“ (SG 436). Denn der Diskussionsraum sei eben weder egalitär strukturiert, noch sei die Auseinandersetzung selber mit rein formaler Gleichheit zu messen, noch seien die politischen Kompetenzen aller gleich verteilt. Manche Personen verfügten über „ein größeres rhetorisches Geschick“ als andere, über „mehr persönlichen Charme“ oder „mehr moralisches Gewicht“, vielleicht manchmal auch nur über „mehr Sturheit“ (SG 436). Außerdem wiesen die Diskursräume durch ihre institutionelle Einfassung Personen unterschiedliche Plätze und Kompetenzen zu, als Stadträtin, als Verwaltungschef, als Vertreterin überregionaler Verbände oder als interessierter Bürger. Es sei illusorisch, all diese unterschiedlichen Machtpositionen, Hierarchien und Einflusskorridore zu ignorieren oder auf eine gleichmäßige Verteilung bringen und dringen zu wollen.42 Wahrscheinlich, so müsste man hinzufügen, wäre eine Politik der strikten Egalität im politischen Prozess selber sogar tyrannisch. Das führt Walzer zu der programmatischen These: „Demokratie setzt gleiche Rechte voraus, nicht gleiche Macht.“ (SG 436). Politische Macht ist ungleich verteilt. Dagegen ist so lange gar nichts einzuwenden, im Gegenteil ist das zu begrüßen, solange alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen das Recht und die Chance haben, selber Macht zu erlangen, mithin den Zugang zum politischen Prozess haben. Denn: „Es ist nicht die Macht selbst, die alle miteinander teilen, es sind die Chancen und Möglichkeiten, Macht zu erlangen. Jeder Bürger ist ein potentieller Teilhaber an der Macht, ein potentieller Politiker.“ (SG 438). In der Sphäre der Politik bedeutet komplexe Gleichheit also die unterschiedliche Verteilung des Gutes, worum es in der Politik geht: Macht. So hat sich nun gezeigt, was zu Beginn lediglich als Leitlinie formuliert worden war: Weder Machtallokation in einer Person (oder einer kleinen Gruppe) noch die Machtdispersion an alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen ist sinnvoll und wünschenswert. Führt das erste zur schrecklichen Tyrannei, so das zweite zur Machtlosigkeit (und meistens zu gefährlichen Ressentiments).43 Einzig sinnvoll ist die 42 Diese unweigerlichen Machtgeflechte und politischen Hierarchien einer demokratischen Stadtpolitik hat etwa Tilo Schabert am Beispiel Bostons analysiert. Wesentliches Element einer gelingenden (und deshalb immer umstrittenen) Stadtpolitik sei die Existenz eines „court“, also einer Mannschaft, mit dem Stadtoberhaupt (in diesem Fall Kevin White) als primus inter pares. Politische Gestaltungskraft wird damit reguliert, kanalisiert, strukturiert, ausgerichtet und gegen permanente Störungen (von opponierenden Fraktionen) abgeschirmt. Das ist deutlich jenseits der Vorstellung einer gleichen Partizipation aller – und ist trotzdem demokratisch; siehe Schabert 1989. Man könnte Schabert problemlos als empirische Konkretisierung Walzers lesen. 43 Ressentiments sind ja wohl nicht anderes als die Rache der Machtlosen an den Mächtigen.

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komplexe Gleichheit der Macht in politicis, also die moderat ungleiche Verteilung von Macht verknüpft mit offenen Zugängen für alle. Vor diesem Hintergrund wird dann auch verständlich, warum die Bezugnahme auf die politische Verteilungsregel „one man, one vote“ allein zu kurz greift. Denn die völlig berechtigte (und in repräsentativen Demokratien auch verwirklichte) Forderung einer Gleichverteilung blendet gleichwohl zu schnell aus, dass es in der parlamentarischen Politik neben dem fundamental gleichen Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zu politischen Prozessen auch um kollektiv bindende Entscheidungen geht. Und diese basieren auf dem Sammeln von Stimmen, um Mehrheiten zu erreichen. Über diese Akkumulation von Stimmen, „d. h. von Einflussnahmen, Überredungen, Pressionen, Unterhandlungen, Zusammenschlüssen usw. […] üben Politiker […] politische Macht aus.“ (SG 432). Politische Macht ist deshalb immer eine Kombination aus Gleichheit und Ungleichheit, eben: komplexe Gleichheit.

5. POLITISCHE KLUGHEIT UND MODERATION Damit ist Michael Walzer wieder bei seinem Ausgangspunkt bzw. bei seiner normativen Leitidee angekommen und hat in diesem Gang all jene Implikationen entfaltet, die darin liegen. Fachwissen oder eine höhere Wahrheit oder eine Form sakralen Wissens haben in der Politik keinen legitimen Machtanspruch. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem Normalverstand kollektiv die Ziele formulieren, und es sind die Politikerinnen und Politiker, die durch ihre Kompetenz der Rezeption und Responsivität diese Ziele in politischen Machtprozessen operationalisieren, in Programme transformieren, öffentlich präsentieren und verantwortlich wie korrigierbar (und Korrektur nötig) umzusetzen suchen. Wichtiger als die De-Legitimierung des Wissens als Anspruchsgrund bei der Verteilung politischer Macht ist allerdings die Kontrolle von Eigentum und Besitz. Ökonomische Strukturen mit ihrer Konzentration von Entscheidungsmacht an der Spitze können mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass Beschäftigte fremdbestimmt, beherrscht, duckmäuserisch und gegenüber dem Allgemeinwohl (also dem bonum commune und den beni commune) gleichgültig (gemacht) werden. Zwar werden sie nicht versklavt, denn sie besitzen in modernen Staaten spezifische Bürgerrechte. Doch bekommen sie den Status von Metöken, also von geduldeten „Fremden“, die im politischen System nichts zu sagen haben. Diese im wahrsten Wortsinne Entfremdung zwischen politischem System und Bevölkerung muss beobachtet und durch unter Umständen strenge (Kontroll-)Maßnahmen im Feld von Eigentum und Verfügungsmacht vermieden werden. Der notwendigen Demokratisierung der Wirtschaft korrespondiert eine vielfältige Partizipationskultur in der Politik. In einer Vielzahl von Arenen von der kommunalen bis zur nationalen (vielleicht auch supra-nationalen) Ebene müssen

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Bürgerinnen und Bürger mit Politikerinnen und Politikern streiten dürfen.44 Lebt Demokratie vom Engagement aller, ist eine Nivellierung politischer Macht gleichwohl der falsche Weg und die falsche Konzeption. Politische Macht ist ungleich verteilt, und das ist notwendig, um die Differenz der Sphären zu sichern. In der Politik und also in Fragen der Macht muss komplexe Gleichheit angestrebt, akzeptiert und gewollt werden. Zum Schluss ist also Augenmaß gefordert, die politische Klugheit aller, die weiß, das gewaltenteilige politische Institutionen, eine kontrollierte Wirtschaftsverfassung und komplexe Gleichheit in der Machtverteilung notwendig sind, aber natürlich die Demokratie und ihre Gerechtigkeit nicht zu schützen in der Lage sind, wenn die Bürgerinnen und Bürger nicht bereit sind, politisch zu handeln und mitzugestalten. „Wir können Rechte anerkennen und Macht verteilen, oder zumindest die Gelegenheiten zur Machtentwicklung, aber wir können nicht das stolze Agieren garantieren, dem jene Rechte und Gelegenheiten den Boden bereiten.“ (SG 439).45 So bleiben der politische Mut der Bürgerinnen und Bürger die gerade auch in der Demokratie unverzichtbare politische Tugend, wie die vielfältigen Beteiligungsformen einer kritischen Öffentlichkeit die Institute der Machtkontrolle.46 Trotz aller Spannungen läge darin die Verschränkung der beiden Blicke, die Verbindung aller drei Themenfelder und damit auch durchaus so etwas wie eine Verknüpfung von repräsentativen und plebiszitären Formen der Demokratie. Man könnte auch sagen: einer guten und zusammenhängenden Geschichte politischer Macht.Und doch, und doch: in dieser Geschichte gibt es keinen Zieldurchlauf, kein Ende, keinen glücklichen Zustand, keine einmalige Stabilität, keine fixierte Balance. Ganz im Gegenteil: Die Geschichte politischer Macht ist eine endlose Geschichte von Einfluss und Kontrolle, Durchsetzung und Widerstand, Engagement, Aufstieg und Blockade, Gleichheit und Ungleichheit, Kontrolle und Geheimnis, Borniertheit und Umsicht. Wir sind politisch immer gefordert, weil wir immer sozial in Bewegung sind. Machiavellis Klugheit aus den Discorsi ist denn auch die Walzer’sche Sicht der politischen Dinge im komplexen Geflecht von politischer Gleichheit / Ungleichheit: The ‚ruling class‘ may be much less coherent than Marxist theory suggests; nonetheless, something like it exists, with more or less self-awareness, and aims to sustain itself. Popular

44 Diese Präferenz für rhetorische face-to-face-Kommunikation dürfte wohl der Grund sein, weshalb Walzer einer e-democracy oder press-button-democracy sehr skeptisch, ja ablehnend gegenüber steht. 45 Wenn Walzer an anderer Stelle sagt: „Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften“ (SG 449), dann muss man immer auch hinzufügen: ja, stimmt, aber die Zäume müssen von der Öffentlichkeit auch regelmäßig kontrolliert werden. Gerade deshalb stellen die Geheimdienste eine für jede Demokratie selbst immense Gefahr da, heißen sie nun NSA, MI6 oder BND. 46 Die sichtbar gestiegene und nachgefragte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am demokratischen Prozess außerhalb der bisher üblichen Formen mag dafür durchaus ein Beleg sein. Selbst die deutsche Immobilien-Wirtschaft optiert für die Stärkung der „Mut-Bürger“ (Hesse 2013, S. 6). Zu den sehr vielfältigen Formen politischer Partizipation auf regionaler aber auch internationaler Ebene von Charette bis world cafe siehe Nanz / Fritsche 2012.

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Man muss dies als Element des Glücks denken.

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TYRANNEIEN UND GERECHTE GESELLSCHAFTEN John-Stewart Gordon

Im Folgenden werde ich zunächst einen allgemeinen und zugleich kommentierenden Überblick über das 13. Kapitel „Tyranneien und gerechte Gesellschaften“ von Michael Walzer geben und im Anschluss daran zwei Aspekte– die „Idee des Guten“ in der Verteilung und Zustimmung aller als Kriterium von Gerechtigkeit – herausgreifen und diese kritisch beleuchten. Walzer diskutiert im letzten Kapitel seines Werkes drei Punkte im Kontext von Verteilungsgerechtigkeit: Er geht zunächst auf den relativen Charakter von Verteilungsgerechtigkeit ein (1) und beschreibt danach die Form der Verteilungsgerechtigkeit in den USA (2) und geht dann abschließend auf die Stabilität dieser Form ein (3). Er betont am Anfang des Kapitels, dass er sich nicht dazu äußert, ob es eine spezifische Verteilung von sozialen Gütern im Staat gibt, die objektiv gesehen als „gut“ bezeichnet werden kann, und verzichtet in seiner Konzeption von Gerechtigkeit und komplexer Gleichheit ebenfalls darauf, der Idee des Guten eine besondere Bedeutung beizumessen. Ob dieser Verzicht jedoch insgesamt unproblematisch ist oder vielmehr eine systematische Verkürzung darstellt, die unerwünschte Implikationen zur Folge hat, wird sich in der kritischen Diskussion zeigen.

1. DIE RELATIVITÄT UND DIE NICHTRELATIVITÄT VON GERECHTIGKEIT Walzer betont am Anfang des Abschnitts, dass Gerechtigkeit kein absoluter, sondern vielmehr ein relativer Begriff ist, dessen Inhalt stets im Verhältnis zu spezifischen sozialen Zielen und Sinngehalten steht (SG 440), wobei man eine Verteilung nur dann als gerecht oder ungerecht bestimmen kann, wenn das Verhältnis der Personen zueinander mit Blick auf die Verteilungsgüter bekannt ist. Eine gerechte Gesellschaft liegt nach Walzer dann vor, „wenn sie ihr konkretes Leben in einer bestimmten Weise lebt – in einer Weise, die den gemeinsamen Vorstellungen ihrer Mitglieder entspricht.“ (SG 441). Falls sich, so Walzer, die gemeinsamen Vorstellungen zum Beispiel mit Blick auf die sozialen Verteilungsgüter verändern, dann muss das politische System darauf reagieren und dafür Sorge tragen, dass es institutionelle Möglichkeiten gibt, sich zum einen kritisch äußern zu können, und zum anderen sollten zudem rechtliche Entscheidungsverfahren sowie alternative Verteilungsweisen entwickelt werden (SG 441). In diesem Kontext diskutiert Walzer das Beispiel der ungleichen Nahrungsverteilung in einem indischen Dorf (SG 441– 444). Auf Grund der hierarchischen

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Gesellschaftsstruktur, so Walzer, leistet hier „die Gerechtigkeit der Ungleichheit Vorschub“ (SG 441). Die stark ungleiche Nahrungsverteilung auf die Dorfbewohner orientiert sich am religiösen Kastensystem und an der Tradition. Nach internen Maßstäben der Dorfgemeinschaft sind die ungleichen Anteile am Korn gerecht, während jedoch das Anwerben von billigen Lohnarbeitern zu Ungunsten der untersten Kaste im Dorf ungerecht gewesen wäre. Dies soll verdeutlichen, dass es auch innerhalb einer hierarchischen Gesellschaft interne Regeln bzw. „gerechte“ Standards gibt, die eingehalten werden müssen (vgl. Piratenmoral). Im Folgenden behandelt Walzer zwei Fälle mit Blick auf die Einstellungen der Dorfbewohner bezüglich ihrer sogenannten gemeinsamen Vorstellungen im Kontext der Nahrungsverteilung. Zunächst diskutiert er den Fall, dass es sich hierbei nicht um gemeinsame Vorstellungen handelt – das heißt die Nahrungsverteilung wird als ungerecht empfunden, und geht dann näher auf den gegenteiligen Fall ein – das heißt die Nahrungsverteilung wird insgesamt als gerecht empfunden. Wenn man infrage stellt, ob es mit Blick auf die Nahrungsverteilung im indischen Dorf wirklich gemeinsamen Vorstellungen gibt, da es ja sein könnte, dass sich die unterste Kaste benachteiligt fühlt und sich über die stark ungleiche Verteilung empört, dann muss man laut Walzer ihre Prinzipien kennen, die die Grundlage ihres Gefühls sind, sich ungleich behandelt zu wissen. Auch wenn Walzer einräumt, dass „die gemeinsamen Vorstellungen und Sinngebungen“ bezüglich der Verteilung von sozialen Gütern nicht „harmonisch“ sein müssen, betont er jedoch, dass dieser Rahmen „wichtig und notwendig“ ist und er den Hintergrund von Verteilungsgerechtigkeit bildet. Diese gemeinsamen Vorstellungen und Sinngebungen könnte man auch als Hintergrundmetaphysik einer Gemeinschaft bezeichnen, als einen geistig-sozialen Überbau auf dessen Grundlage die Menschen innerhalb einer Gesellschaft agieren. Wenn es nach Walzer also ein starkes Gefühl der Ungleichbehandlung aus Sicht der untersten Kaste gibt, dann ist es wahrscheinlich, dass dies auch von den anderen Kasten wahrgenommen wird (oder wurde), gleichwohl es diesbezüglich bei den anderen Kasten auch einen Verdrängungsmechanismus geben könnte (SG 442). Um die Diskussion weiter zu erhellen, erscheint es nach Walzer ratsam, sich der für ihn bedeutenden Frage zuzuwenden, auf Grund welcher Eigenschaften Menschen eigentlich als gleich angesehen werden. Seine Antwort darauf enttäuscht und ist wenig erhellend. Er argumentiert, dass Menschen „kulturproduzierende Geschöpfe“ sind und „bedeutungsvolle Welten“ schaffen und bewohnen, wobei es unmöglich ist, „diese Welten hinsichtlich ihres Verständnisses von Sozialgütern in eine Rangfolge zu bringen“ (SG 442 f.). Gerechtigkeit stellt sich demnach dann ein, wenn wir die unterschiedlichen Leistungen und Tätigkeiten der Gemeinschaftsmitglieder „respektieren“ (SG 443). Walzer betont: „Gerechtigkeit wurzelt in dem spezifischen Verständnis von Positionen, Ehrungen, Tätigkeiten, in toto: von all den Dingen, die eine gemeinsame Lebensweise ausmachen. Sich über dieses Verständnis rücksichtslos hinwegzusetzen, heißt (immer) ungerecht zu handeln (SG 443). Hierzu kann man nun zweierlei kritisch anmerken. Erstens, mit Blick auf Walzers Argumentationsgang hätte man vielleicht angenommen, dass er den ersten Fall im Rekurs auf die drei bereits genannten Kriterien – institutionelle Kanäle

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schaffen, rechtliche Entscheidungsverfahren und alternative Verteilungsweisen entwickeln – diskutiert. Denn es liegt offenkundig ein Bruch im Kontext der gemeinsamen Vorstellungen vor, wenn sich eine Gruppe bzw. Kaste innerhalb einer Gemeinschaft systematisch benachteiligt und damit „ungerecht“ behandelt fühlt. Walzers Annahme, dass „jede Beschreibung von distributiver Gerechtigkeit […] ein Lokalkolorit“ trägt, mag nicht überzeugen, wenn es darum geht, dass sich die unterste Kaste (vermutlich) externer Beurteilungskriterien bedient bzw. bedienen muss, um die ihrer Meinung nach „ungerechten“ internen Standards der Nahrungsverteilung zu bewerten (SG 442). Die Mitglieder der untersten Kaste würden im Kontext der besonderen Hintergrundmetaphysik der indischen Gesellschaft kritisiert werden, da sie sich nicht an die internen Regeln oder Gerechtigkeitsstandards halten (vgl. das Beispiel des Grundbesitzers). Zweitens, der Ausschluss von externen Bewertungsmaßstäben im Kontext von Verteilungsgerechtigkeit öffnet einem unreflektierten und gefährlichen Relativismus Tür und Tor. So gibt es viele unterschiedliche historische Beispiele für ungerechte Gesellschaften, die erst durch externe Einflüsse und wertvolle Perspektiven eine moralische Konversion zum Guten hin durchgemacht haben (vgl. die Rassentrennung in den USA und die Apartheid in Südafrika). Sich an dieser Stelle systematisch darauf zu beschränken, dass Fragen nach dem Guten in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit vernachlässigbar sind oder die so wichtige Frage auszusparen, ob es eine objektiv gute Verteilung von sozialen Gütern gibt (SG 440), ist zu kurz gegriffen, um solche und ähnliche Beispiele zu würdigen und angemessen diskutieren zu können. So erscheint es sinnvoll, einen moderaten Objektivismus hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit von sozialen Gütern anzunehmen. Es gibt eben offenkundig minimale Ansprüche, die eingelöst werden und gewahrt bleiben müssen, um von einer Verteilung als einer gerechten sprechen zu können, ob dies nun bei der Nahrungsmittelverteilung eines kleinen indischen Dorfes oder beim Zugang zu und der Verteilung von Gesundheitsressourcen in den USA („Obamacare“) der Fall ist. Beim zweiten Fall wird davon ausgegangen, dass die Dorfbewohner mit der traditionellen Nahrungsmittelverteilung einverstanden sind, wobei man sich nach Walzer zusätzlich vorstellen soll, dass es einen externen Einfluss gibt, der zu einer grundlegenden Konversion in der Frage der Verteilungsgerechtigkeit von sozialen Gütern führt (Korn, Ämter etc.). Die Folge ist, dass sich die Hintergrundmetaphysik innerhalb der Gemeinschaft entscheidend verändert und somit auch die sozialen Güter anders – nämlich objektiv gerechter (jedenfalls aus „unserer“ Perspektive) – verteilt werden. In diesem Kontext geht Walzer kurz auf die Bedeutung von stark ausdifferenzierten, kapitalistischen Systemen ein und kritisiert mit Recht, dass es die „Dominanz des Kapitals außerhalb des Marktes [ist], die den Kapitalismus ungerecht macht“ (SG 444). Wenn dies von Walzer jedoch kritisch gesehen und als ein wichtiges Beurteilungskriterium an das kapitalistische System herangetragen wird, dann erscheint seine eher starke Zurückhaltung mit Blick auf die Diskussion der ersten These unverständlich. Für die ausstrahlende Dominanz eines Gutes auf andere Sphären ist es unerheblich, ob es sich hierbei um Geld oder rituelle Reinheit handelt. Ent-

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scheidend ist hierbei, dass es gegen die komplexe Gleichheit verstößt. Damit ist Walzers eher relativistische Position mit Blick auf die Beachtung der jeweiligen Hintergrundmetaphysik einer Gemeinschaft, in der die Verteilungsgerechtigkeit als „Lokalkolorit“ respektiert werden müsse (SG 442), unplausibel. Aber vielleicht sind wir zu streng; vielleicht will Walzer uns nur bedeuten, dass interne Gerechtigkeitsstandards nicht ohne Weiteres infrage gestellt werden sollen und eine eher universalistische nach objektiven Gerechtigkeitsstandards agierende Perspektive häufig verfehlt und kulturell wenig sensibel ist. Dies wäre zumindest eine Position, der man sich durchaus anschließen könnte, gleichwohl man dann zugleich einfordern sollte, dass sich die Menschen innerhalb einer Gesellschaft auf eine angemessene Weise mit abweichenden Positionen fruchtbar auseinandersetzen müssen (vgl. Walzers drei Kriterien). Der bloße Hinweis auf die lange Tradition oder die religiöse Reinheit für den Status quo im indischen Dorf erscheint unangemessen und liefert letztendlich keine guten und damit überzeugenden Gründe, die man gegenüber jedermann, also auch der untersten Kaste, vorbringen könnte. Hier kann man von der Asymmetrie im Begründungskontext ausgehen, nämlich, dass eine gleiche Verteilung keine weitere Begründung erfordert, eine ungleiche Verteilung jedoch immer eine angemessene Begründung voraussetzt.1 Abschließend weist Walzer darauf hin, dass in besonders stark ausdifferenzierten Gesellschaften die Gerechtigkeit „einen weitergefaßten Geltungsbereich“ hat. Dies bedeutet, dass es mehr Verteilungsprinzipien und Sphären sowie mehr Personen als auch mehr Verhaltens- und Verfahrensweisen im Kontext der Güterverteilung gibt. Ob Walzers These von der Zunahme komplexer Gleichheit beim grösser werdenden Geltungsbereich von Gerechtigkeit2 jedoch überzeugt, kann durchaus infrage gestellt werden. Letztendlich ist dies eine rein empirische Frage, die hier nicht weiter verfolgt werden kann. Doch die Tatsache, dass zum Beispiel so ausdifferenzierte und moderne Gesellschaften wie Indien, China und Russland im Verhältnis zu westlichen Demokratien offenkundig über eine eher moderat ausgeprägte komplexe Gleichheit verfügen, unterminiert Walzers These zumindest teilweise, wobei er allerdings zugesteht, dass Gesellschaften nicht dann „am gerechtesten sind, wenn sie besonders differenziert sind“ (SG 444). Dies wird dadurch noch erhärtet, dass tyrannische Gesellschaften solche sind, die über einen großen Aktionsradius verfügen und hochdifferenziert sind. Die Tyrannei kennzeichnet sich durch „ein beständiges Greifen nach Dingen, die sich nicht von selbst einstellen, ein nicht endender Kampf um die Herrschaft außerhalb der eignen Lebenssphäre“ (SG 444). Nach Walzer erreicht die Ungerechtigkeit im Totalitarismus die Vollkommenheit, da es hierbei auf dem Rücken der sogenannten Gleichschaltung zu einer Überlagerung der einzelnen Sphären kommt und die Tyrannen unablässig im Einsatz sind, ihre Macht auszubauen und in andere Sphären hineinzutragen (SG 445).

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Tugendhat 1997, Gordon 2008. „Je weiter aber der Geltungsbereich von Gerechtigkeit, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie in der Form der komplexen Gleichheit praktiziert wird.“ (Walzer 2006, S. 444).

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Walzer betont, dass es eine große Ähnlichkeit zwischen Tyrannen und indischen Brahmanen gibt, wobei die Brahmanen nur dann zu Tyrannen werden, wenn die gemeinsamen Vorstellungen bezüglich Ihrer Vorrechte auf Grund ihrer rituellen Reinheit nicht mehr bestünden bzw. von allen geteilt werden (SG 444). Diese Annahme erscheint jedoch problematisch, da dann allein die Zustimmung, das heißt die gemeinsamen Vorstellungen einer Gesellschaft, den Ausschlag darüber geben, ob eine Tyrannei besteht oder nicht. Es geht also nicht so sehr darum, dass die anderen Sphären mit Blick auf Verteilungsgerechtigkeit von einer dominierenden Eigenschaft wie zum Beispiel der rituellen Reinheit überlagert werden, sondern allein um das Kriterium der „gemeinsamen Vorstellungen“. Dies ist jedoch wenig plausibel und entspricht in keiner Weise unseren alltäglichen Ansichten und Intuitionen. Wenn, wie Walzer argumentiert, „Gerechtigkeit als Gegensatz zur Tyrannei“ zu bestimmen ist (SG 445) und zusätzlich angenommen wird, dass eine Tyrannei sich wesentlich dadurch auszeichnet, dass es „ein beständiges Greifen nach Dingen, die sich nicht von selbst einstellen, ein nicht endender Kampf um die Herrschaft außerhalb der eignen Lebenssphäre“ (SG 444) gibt, dann verdunkelt dies den eigentlichen Sinn von Walzers Überlegungen bezüglich seiner These von der komplexen Gleichheit. Das Kriterium der Zustimmung, nämlich das Haben gemeinsamer Vorstellungen3 ist weder notwendig noch hinreichend für die Zuschreibung von Gerechtigkeit4 und somit kein geeignetes Mittel zwischen Tyranneien und gerechten Gesellschaften zu unterscheiden. Die indische Dorfgemeinschaft ist auf Grund der stark ungleichen Verteilung der sozialen Güter (Nahrungsmittel) ungerecht und zwar unabhängig davon, ob es eine gemeinsame Vorstellung aller Dorfbewohner dazu gibt oder nicht. Gemeinsame Vorstellungen können moralisch falsch sein, auf sachlichen Fehlern beruhen, unzureichend begründet sein oder sonst einen Mangel aufweisen. Dieser Aspekt tritt insbesondere im Kontext der Idee des Guten im Politischen zum Vorschein und zeigt, dass der Gerechtigkeitsbegriff wenig mit Mehrheitsmeinungen zu tun hat (vgl. hier Abschnitt 5).

2. GERECHTIGKEIT IM 20. JAHRHUNDERT Im Zentrum des Abschnitts steht die Frage, wie man die komplexe Gleichheit, die Walzer als Gegenteil von Totalitarismus versteht und als ein Schutzschild gegen die Unterdrückung durch den Staat und die Partei ansieht, beschützen und erhalten kann. In der modernen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und der sogenannten „Tyrannei des Geldes“ sieht Walzer den Ursprung der heutigen „egalitä-

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„Eine bestehende Gesellschaft ist dann eine gerechte Gesellschaft, wenn sie ihr konkretes Leben in einer bestimmten Weise lebt – in einer Weise, die den gemeinsamen Vorstellungen ihrer Mitglieder entspricht.“ (Walzer 2006, S. 441). Ein Beispiel mag dies erhellen: Sich selbst in die Sklaverei zu begeben, wird mit guten Gründen als „ungerecht“ angesehen und ist sowohl moralisch als auch legal geächtet und verboten (vgl. Menschenrechte), unabhängig von der Zustimmung aller Menschen.

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ren Politik“ (SG 445). Vor dem Hintergrund der amerikanischen Verhältnisse referiert er mit wenigen Sätzen einige bekannte Thesen bezüglich des Verhältnisses von Besitz bzw. Geldherrschaft und politischer Macht. Grundsätzlich vertritt Walzer die Ansicht, dass es zu kurz gegriffen ist, wenn man glaubt, dass beide Seiten lediglich in einem ausgewogenen Verhältnis gehalten werden müssen, um etwaige Probleme zu vermeiden. Er betont mit Recht, dass „das Problem des Tandems von Besitz und Macht […] jedoch darin [besteht], daß es in sich bereits eine Verletzung der Grenzen darstellt, eine Inbesitznahme von in der Sphäre der Politik gelegenem Terrain.“ (SG 446). Auch wenn nach Walzer die Plutokratie weniger „angsteinflößend“ ist als der Totalitarismus und sich „der Widerstand gegen sie auch weniger heroisch ausnimmt“, ist er dennoch wichtig (SG 446 f.). Walzer diagnostiziert einen wesentlichen Unterschied zwischen der Geldherrschaft und dem Totalitarismus mit Blick auf das Fehlen einer radikalen Gleichschaltung hinsichtlich der unterschiedlichen Verteilungssphären bei der Herrschaft des Geldes und der Möglichkeit, weder alternative Prozesse noch Akteure auszuschließen. Die Geldherrschaft kann zwar tyrannisch sein und die „Verteilungsmuster“ korrumpieren, jedoch „transformiert“ es diese nicht. Nach Walzer erfordert der Widerstand gegen die Dominanz des Geldes eine politische Bewegung oder Partei, die aus Bürgern besteht, die „über genug Selbstachtung verfügen“ und sich als „Träger und Agenten“ der Idee einer „distributive[n] Unabhängigkeitserklärung“ Gehör verschaffen und nach ihr leben. Das Gewicht, so Walzer, liegt auf der Fähigkeit der Bürger „sich in dem großen Reich der Güter mit ihren eigenen Ziel- und Wertvorstellungen zu behaupten“, ohne die eine solche politische Umwälzung nicht erfolgreich zu Ende gebracht werden kann (SG 447). Die Bürger müssen sich in einem solchen Staat „heimisch“ fühlen und bereit sein, den Staat, der sich der komplexen Gleichheit verschrieben hat, gegen Feinde zu verteidigen. Dies, so Walzer, bedarf jedoch „beständiger Wachsamkeit“ (SG 448). Ob sich jedoch seine Überlegungen zu den USA im Sinne „eines dezentralen demokratischen Sozialismus in Gestalt eines starken Wohlfahrtsstaates“, in dem Wirtschaft und Politik strikt voneinander getrennt sein sollen, jemals bewahrheiten werden, wird sich in der Zukunft erweisen müssen. Auch wenn man geneigt ist, Walzers Ausführungen im Großen und Ganzen zuzustimmen, erscheint es notwendig und angeraten, seine Aussagen bezüglich der „egalitären Politik“ zu relativieren. Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man das Aufkommen des Egalitarismus in der Politik einzig in der Auseinandersetzung mit der „Tyrannei des Geldes“ im Kapitalismus in der Moderne erblicken wollte. Vielmehr sollte man die wichtigen sozialen Errungenschaften der Moderne – auch aus dem Kontext der politischen 68er Bewegung in den USA – berücksichtigen, die in der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie der moralisch-politischen Gleichheit von African-Americans im Zuge der Aufhebung der Rassentrennung in den USA ihren (ersten) real-politischen Ausdruck gefunden haben. Diese Form von Gleichheit ist jedoch offenkundig eine andere Form als die von Walzer angenommene, wenn er von komplexer Gleichheit spricht, da diese nach Walzer bedeutet, „daß die Position eines Bürgers in einer bestimmten Sphäre oder hinsichtlich

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eines bestimmten sozialen Guts nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre oder hinsichtlich eines anderen sozialen Guts“ (SG 49).

3. GLEICHHEIT UND SOZIALER WANDEL Die unterschiedlichen Verteilungssphären mit ihren je spezifischen Funktionsprinzipien sowie die sich daraus ergebenden Verhaltens- und Gefühlsmuster innerhalb einer Kultur stehen, so Walzer, nicht immer im Einklang miteinander, sondern können durchaus entweder tiefe Spannungen oder „kuriose Nebeneinanderstellungen“ hervorrufen. Letzteres expliziert er am Beispiel des alten Chinas, in dem das Erbkaisertum von Gottes Gnaden Hand in Hand mit einer meritokratischen Bürokratie regiert hat (SG 448 f.). Solche kontingenten Konstellationen werden durch die kulturellen „Geschichten“ einer Gemeinschaft erklärt und damit die „verschiedenen Teilstücke ihrer sozialen Existenz“ in einen „sinnvollen Zusammenhang“ gebracht (SG 449). Die Gerechtigkeit hingegen fungiert als Prinzip, das die Teilstücke voneinander unterscheidet. „In jeder differenzierten Gesellschaft“, so Walzer, „wird Gerechtigkeit nur dann zu Harmonie und Eintracht führen, wenn sie zunächst für Separierung und Unterscheidung sorgt. Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften.“ (SG 449). Dieser Satz ist nicht ohne weiteres verständlich, da es unklar bleibt, was mithilfe der Gerechtigkeit unterschieden werden soll. Auf den ersten Blick könnte Walzer die unterschiedlichen Teilstücke meinen, die voneinander separiert werden sollen. Dies ist jedoch insgesamt wenig plausibel, da das Trennen der einzelnen Teilstücke hinsichtlich der Erklärung sinnvoller Sachzusammenhänge gar nichts weiter austrägt. Auf den zweiten Blick könnte er die unterschiedlichen Verteilungssphären im Blick haben, was jedoch ebenfalls problematisch ist, da ja gerade die komplexe Gleichheit dafür Sorge tragen soll, dass die einzelnen Sphären voneinander getrennt werden. Komplexe Gleichheit – auch im Sinne Walzers – ist allerdings nicht mit Gerechtigkeit gleichzusetzen. Walzers Zaunmetapher – „Gute Zäune garantieren gerechte Gesellschaften“ (SG 449) – und seine weiteren Äußerungen geben uns jedoch einen Hinweis darauf, dass es sich dabei um die einzelnen Verteilungssphären handelt, da er annimmt, dass es die „Zäune“ sind, die die Güter voneinander unterscheiden, und betont, dass „die einmal gezogenen Grenzlinien […] nicht unwandelbar [feststehen], sondern […] sich [verschieben], wenn sich die sozialen Bedeutungen wandeln“ (SG 449). Walzer bezweifelt vielleicht zu Recht, dass sich das „Faktum der Differenzierung“ und die Existenz der komplexen Gleichheit nicht in absehbarer Zeit verändern werden, auch wenn sich in der Zukunft ein sozialer Wandel vollziehen würde, der ebenfalls die Verteilungsgerechtigkeit tangierte. Was sich allerdings, so Walzer, verändert, sind „die Formen von Herrschaft und Macht, die konkreten Mittel und Wege, Gleichheit zu verhindern“ (SG 450). Als Beispiel für einen möglichen Wandel mit Blick auf die Formen von Herrschaft und Macht nennt er die beiden Güter Bildung und technisches Wissen, die – so die These einiger Sozialtheoretiker – zu den dominanten Gütern in einer modernen Gesellschaft avancie-

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ren und das Kapital als dominantes Gut ablösen könnten, was jedoch von Walzer bezweifelt wird. Grundsätzlich nimmt er im Kontext von „großvolumigen Transformationen“ – unter Beibehaltung der anderen Güter und der sozialen Bedeutungen – an, dass es zu keiner so starken Veränderung kommt, dass diese dominanten Güter andere Verteilungsprozesse überlagern würden, in denen sie vorher irrelevant waren (SG 450). Die Theorie der Gerechtigkeit wird nach Walzer durch eine spezifische „Geisteshaltung“ getragen und durch das Wirken der komplexen Gleichheit unterstützt. Er identifiziert diese Geisteshaltung mit einem „geziemenden Respekt vor den Ansichten und Meinungen der Menschheit als Ganzen“ (SG 451), wobei er damit die basalen Auffassungen“ meint, die – so könnte man sagen – das gesellschaftliche Zusammenleben steuern und sich derzeit in den „autonome[n] Distributionen“ widerspiegeln. Abschließend geht Walzer auf einen zentralen Punkt der politischen Philosophie des Aristoteles ein, nämlich, dass es die Vorbedingung von Gerechtigkeit in einer Demokratie sei, dass „die Bürger im Wechsel [regieren] und regiert“ werden sollen (SG 451). Hier stellt Walzer zutreffend fest, dass die modernen großflächigen Staaten sehr viel mehr Bürger haben als die antiken Poleis und man somit nicht mehr davon ausgehen kann, dass jede Person auch „regieren“ kann. Mit anderen Worten, nicht jeder hat die Möglichkeit, in der wohl wichtigsten Sphäre innerhalb eines Staates, das heißt der Politik, „mehr Macht auszuüben als der Rest der Bevölkerung“ (SG 451). Erforderlich ist nach Walzer „ein umfassenderer Begriff von Gerechtigkeit“, der nicht darauf abstellt, dass „Bürger im Wechsel regieren und regiert werden, sondern daß sie in der einen Sphäre regieren und in einer anderen regiert werden – wobei ‚regieren‘ nicht bedeutet, daß sie Macht ausüben, sondern daß sie einen größeren Anteil an den zur Verteilung gelangenden Gütern haben als andere Menschen – ganz gleich, um welche Güter es sich immer handeln mag.“ (SG 451). Ob nun auch die von Walzer so gepriesene Autonomie der Verteilungssphären immer und unter allen Umständen „für eine breitere Verteilung von Sozialgütern als jedes andere vorstellbare soziale Arrangement“ (SG 452) sorgt, bleibt dahingestellt und ist letztendlich eine empirische Frage, die nicht verifiziert, sondern nur falsifiziert werden kann. Am Schluss greift Walzer nochmals die beiden so bedeutenden Begriffe des Respekts und der Selbstachtung auf, die er im 11. Kapitel ausführlich erläutert hat (SG 388–398), und nimmt an, dass der Fortbestand der komplexen Gleichheit schlussendlich durch wechselseitigen Respekt und „eine allseitige Selbstachtung“ ermöglicht werden kann. Demnach, so kann man Walzer interpretieren, sind dies die beiden großen Stützen einer bürgerlichen Gemeinschaft, dessen Mitglieder sich einander als Gleiche anerkennen und respektieren.

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4. EIN PLÄDOYER FÜR EINE GERECHTE UND GUTE VERTEILUNG Ich werde nicht versuchen, der Frage nachzugehen, ob Gesellschaften mit einer gerechten Güterverteilung auch gute Gesellschaften sind. Zweifellos ist Gerechtigkeit besser als Tyrannei; aber ob diese gerechte Gesellschaft besser ist als jene, weiß ich nicht zu sagen. Und ob es überhaupt ein spezielles Verständnis und, in seinem Gefolge, eine spezielle Verteilung von sozialen Gütern gibt, die als solche gut sind, dies ist eine Frage, mit der ich mich in diesem Buch nicht beschäftigt habe. Und so kommt denn auch der Idee des Guten in meinen Überlegungen zur Gerechtigkeit keine spezielle Bedeutung im Sinne eines Leitgedankens zu. (SG 440).

Fragen der Gerechtigkeit waren in der antiken Vorstellung auf das innigste mit Fragen des guten Lebens verbunden. Der Staat sollte den Bürgern ein gutes Leben ermöglichen und dieses sicherstellen. Die bloße Vorstellung, dass die Einrichtung einer gerechten Polis ohne Bezugnahme auf die „Idee des Guten“ bewerkstelligt werden sollte, ist für die antiken Autoren ein „undenkbarer“ Gedanke, etwas was schlichtweg nicht hätte gedacht werden können. Dies verändert sich in der frühen Moderne mit Autoren wie Thomas Hobbes und John Locke jedoch grundlegend, die die primäre Funktion des modernen Staates – auf Grund ihrer spezifischen anthropologischen Sichtweise – darin erblicken, dem „schrecklichen“ Leben des Menschen im Naturzustand durch die Etablierung einer staatlichen Gewalt ein Ende zu setzen. Allein im Staat, so die moderne Vorstellung, ist der Mensch vor den Gefahren im Naturzustand, in der ein Kampf aller gegen alle herrscht, sicher.5 In der späten, zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich jedoch im Kontext des sogenannten Fähigkeiten-Ansatzes der bekannten Neo-Aristotelikerin Martha Nussbaum eine breite Gegenbewegung formiert, die in Anlehnung an die antike Auffassung die Position stark macht, dass ein Staat nicht nur gerecht, sondern auch gut sein müsse, das heißt seinen Bürgern ein gutes Leben ermöglichen sollte.6 Walzer selbst geht auf das Beispiel des indischen Dorfes ein und betont, dass eine Verteilung der sozialen Güter dann gerecht ist, wenn sie die Zustimmung aller Beteiligten hat. Ob sie dann auch „gut“ ist, diskutiert er nicht. Dies ist jedoch im Rahmen einer politischen Philosophie, die sich mit der Verteilungsgerechtigkeit von sozialen Gütern befasst, ein echter Mangel. Warum? Kennt man das indische, stark hierarchisch geprägte Kastensystem samt der zu Grunde liegenden postulierten Ungleichheit der Menschen, dann erscheint es geradezu als grotesk, dass man hier von einer gerechten Verteilung spricht (auch wenn alle Mitglieder der Gemeinschaft – aus welchen Gründen auch immer – damit einverstanden wären). Martha Nussbaum hat auf einen interessanten Fall einer Alphabetisierungskampagne für Frauen im ländlichen Bangladesh aufmerksam gemacht, der gut geeignet ist, eine Lanze für die Redeweise einer nicht nur gerechten, sondern auch

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Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass es den modernen Vertragstheoretikern des 20. Jahrhunderts primär darum geht, eine bestimmte politische und rechtliche Ordnung rational-argumentativ zu legitimieren, und nicht mehr darum, den Ausgang des Menschen aus einem realhistorischen Naturzustand zu beschreiben. Vgl. Nussbaum 1999.

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guten Verteilungsgerechtigkeit im Staat zu brechen.7 Dabei geht es um das vielerorts in Indien immer noch auftauchende Problem, dass Frauen weder lesen, schreiben noch rechnen können und dies weder von den Betroffenen selbst, noch anderen in der Gemeinschaft auf den ersten Blick als ein Problem angesehen wird (hier am Beispiel von Frauen im ländlichen Bangladesh). Es geht hierbei also um die Verteilung von grundlegender Bildung bzw. die Möglichkeit, diese zu erwerben, und um die Frage, inwiefern Bildung ein gutes Leben für die Frauen einerseits und für die Gemeinschaft andererseits ermöglichen kann. Auf Grund der jahrelangen sozialen Indoktrination bezüglich ihrer Minderwertigkeit – warum sollten Frauen überhaupt lesen, schreiben und rechnen können? – waren die betroffenen Frauen in ihrer Selbstwahrnehmung und Selbstachtung verkümmert. Nussbaum konnte im von Chen geschilderten Fall der Frauen im ländlichen Bangladesh feststellen, dass der stärker aristotelisch-orientierte Ansatz der Entwicklungshilfe schließlich erfolgreich war, ähnlich ihrem Fähigkeiten-Ansatz, und dass die Alphabetisierungskampagne nicht nur für das Leben der betroffenen Frauen eine enorme Verbesserung darstellte, sondern auch einen echten Nutzen für die gesamte Gemeinschaft brachte.8 Dieser Fall zeigt deutlich, dass Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ebenfalls im Kontext der Idee des Guten verhandelt werden müssen. Es mag durchaus sein, dass es mehr als nur eine einzige Möglichkeit gibt, eine gute Verteilung von sozialen Gütern gerecht vorzunehmen; doch nicht jede gerechte Verteilung ist auch eine gute Verteilung sozialer Güter, wie das Beispiel des indischen Dorfes ganz offenkundig zeigt. Wenn es uns Menschen also darum geht, nicht nur zu überleben, sondern vielmehr auch ein gutes Leben führen zu wollen, dann sollten wir uns darin einig sein, dass ein Staat sowohl gerecht als auch gut verteilen sollte, um allen Gemeinschaftsmitgliedern in gleicher Weise respektvoll gegenüber zu treten und Handlungsweisen zu fördern, die das Zusammenleben der Mitglieder untereinander auf gleicher Augenhöhe ohne etwaige Benachteiligungen der Frauen (oder einzelner Kasten) gestalten.

5. IST DAS KRITERIUM DER ZUSTIMMUNG HINREICHEND FÜR GERECHTIGKEIT? Gerechtigkeit ist kein absoluter, sondern relativer Begriff, dessen je konkreter Inhalt in Relation steht zu bestimmten sozialen Zielen und Sinngehalten. […] Eine bestehende Gesellschaft ist dann eine gerechte Gesellschaft, wenn sie ihr konkretes Leben in einer bestimmten Weise lebt – in einer Weise, die den gemeinsamen Vorstellungen ihrer Mitglieder entspricht. […] Es gibt keine externen und universellen Prinzipien, die ihn [das heißt den geistigen Rahmen, J. S. G.] ersetzen könnten. Jede konkrete Beschreibung von distributiver Gerechtigkeit ist ein Lokalkolorit. (SG 440– 442).

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Vgl. Chen 1983 und Nussbaum 1998, S. 226–229. Nussbaum 1998, S. 226–229; vgl. auch Nussbaum 1999, S. 204 –211 und Nussbaum 2000.

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Es ist bereits in der Kommentierung des ersten Abschnitts darauf hingewiesen worden, dass Walzers Position problematisch ist und die These, dass Gerechtigkeit zur Gänze von der Zustimmung aller Gemeinschaftsmitglieder abhängt, unangemessen ist. Gewiss, Walzer räumt ein, dass, wenn es mit Blick auf die gemeinsamen Vorstellungen der Mitglieder zu Verwerfungen kommt, man dann aufgefordert ist, die Streitigkeiten aufzulösen. Hier schlägt Walzer bekanntlich drei Lösungsmöglichkeiten vor: Erstens, Schaffung von institutionellen Möglichkeiten, sich kritisch (öffentlich) äußern zu können, zweitens rechtliche Entscheidungsverfahren und drittens alternative Verteilungsweisen. Auch wenn Walzer zugesteht, dass die Gerechtigkeit der Ungleichheit Vorschub leistet, wenn es sich um eine Gesellschaft handelt, in der die Sinngehalte hierarchisch sind (SG 441), zieht er in seiner Diskussion der ungleichen Nahrungsmittelverteilung im indischen Dorf dennoch nicht den Schluss daraus, dass das Kastensystem und damit die spezifische Verteilungsgerechtigkeit „ungerecht“ sind. Ungerecht wäre die Verteilung nach Walzer nur, wenn sie nicht mehr die gemeinsamen Vorstellungen der Mitglieder widerspiegelt. Ob also etwas gerecht oder ungerecht ist, erschließt sich nur im Kontext innerhalb einer jeweiligen Gesellschaft. Walzers Position ist keineswegs neuartig, sondern erfreut sich einer langen Tradition, die zumindest bis auf Epikur (Hauptlehrsätze 31–38, insbesondere 37 und 38) zurückgeht. Nehmen wir an, dass es eine Gesellschaft gibt, in der es zwei unterschiedliche Klassen – Herren und Sklaven – gibt, die aus welchen Gründen9 auch immer, die gemeinsame Vorstellung etabliert hat, dass die Klasse der Herren mit Recht über die Klasse der Sklaven herrscht und Letztere dazu verpflichtet ist, entsprechende „Dienste“ zu verrichten. Die Verteilungsgerechtigkeit orientiert sich entsprechend an den gemeinsamen Vorstellungen. Fraglich ist nun, ob andere Gemeinschaften bzw. Staaten das Recht haben, hier zu intervenieren und den Sklaven beizustehen, um sie zu „befreien“, ihnen die Augen zu öffnen oder ihnen einfach nur eine andere Lebensweise nahezubringen etc. Das Beispiel kann natürlich weiter verfeinert werden, um zu erklären, wie es dazu kam, warum sich die Klasse der Sklaven nicht zur Wehr setzt oder ob es in der Vergangenheit irgendwelche Versuche seitens der Sklaven gegeben hat, gegen die Herren zu opponieren etc. Diese weiterführende Geschichte mag den Kontext zwar erhellen, doch der eigentliche Kern des Arguments bleibt davon unberührt. Wenn Walzer mit seiner Argumentation Recht hat, dann ist es nicht gestattet, dass andere Staaten intervenieren und damit die gemeinsamen Vorstellungen dieser ungleichen Gemeinschaft unterminieren (wie zum Beispiel durch die Anwendung von Nussbaums Ansatz der Fähigkeiten). Eine solche Folgerung erscheint mir jedoch im hohen Maße fraglich zu sein. Die grundsätzliche Idee „Gerechtigkeit“ an die Zustimmung aller Gemeinschaftsmitglieder zu knüpfen, ist nicht nur verfehlt, sondern birgt ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotenzial. Warum sollte man sich im Zeitalter der universellen Menschenrechte damit zufrieden geben, dass es im Sinne Walzers gerechte, aber höchst ungleiche Gesellschaften gibt? 9

Zum Beispiel Religion, Tradition, soziale Indoktrination, Schicksalsergebenheit, falsche Vorstellungen etc.

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Eine Gemeinschaft hat kein Recht, ihre Mitglieder (oder diese untereinander) in einem fundamentalen Sinn ungleich zu behandeln – vollkommen unabhängig, ob es den gemeinsamen Vorstellungen aller Mitglieder entspricht oder nicht.

6. SCHLUSSBETRACHTUNG So sehr man Walzers Gerechtigkeitstheorie mit Recht als einen sehr bedeutenden und gut durchdachten Gegenentwurf zu John Rawls Theory of Justice begreifen kann, umso auffälliger sind jedoch diejenigen Passagen (vor allem im letzten Kapitel), die so gar nicht zu seiner Grundeinstellung einer dezidiert egalitären Gemeinschaft passen mögen. Grundsätzlich argumentiert Walzer für eine egalitäre Gesellschaft, die der Norm der komplexen Gleichheit entspricht, und entwirft dabei ein plausibles Bild einer politischen Verteilungsgemeinschaft, in der die unterschiedlichen sozialen Verteilungsgüter in je unterschiedlichen Sphären gemäß bestimmter Kriterien distribuiert werden sollen. Er geht jedoch nicht soweit und kritisiert ungleiche aber in seinem Sinne gerechte Verteilungen in hierarchischen Gesellschaften, deren Mitglieder gemeinsame Vorstellungen teilen. Dies mag vielleicht auch im Rahmen von Walzers kommunitaristischer Gerechtigkeitstheorie zu viel erwartet sein. Damit werden jedoch zugleich die Grenzen einer solchen Position markiert.

LITERATUR Chen, Martha, 1983: A Quiet Revolution: Women in Transition in Rural Bangladesh. Cambridge (Mass.). Epikur, 1973: Philosophie der Freude. Hrsg. von Johannes Mewaldt. Stuttgart. Gordon, John-Stewart, 2008: Moral Egalitarianism. In: Internet Encyclopedia of Philosophy (online unter: http://www.iep.utm.edu/moral-eg/ – letzter Zugriff 24.07.2014). Nussbaum, Martha, 1998: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus. In: Holmer Steinfath (Hrsg.): Was ist ein gutes Leben. Philosophische Reflexionen, Frankfurt am Main, S. 196–234. Nussbaum, Martha, 1999: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt am Main. Nussbaum, Martha, 2000: Women and Work. The Capabilities Approach, in: The Little Magazine, 1/1, S. 26–37. Rawls, John, 1979: Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Tugendhat, Ernst, 1997: Gleichheit und Universalität in der Moral. In: Ders.: Moralbegründung und Gerechtigkeit. Münster, S. 3–28.

NATUR Eine neue Sphäre der Gerechtigkeit Angelika Krebs

1. EINLEITUNG Der Niedergang der Natur ist eine der vier großen Gerechtigkeitsherausforderungen unserer Zeit, neben Hunger, sozialer Stratifikation und religiösem Fanatismus. Dennoch sind unsere Theorien der Gerechtigkeit fast stumm, was unseren Umgang mit der Natur betrifft. Das hat seinen Grund darin, dass diese Gerechtigkeitstheorien aus einer Zeit stammen, in der sich das ökologische Bewusstsein noch nicht herausgebildet hatte. John Rawls’ Theory of Justice erschien 1971, Michael Walzers Spheres of Justice geht auf einen Kurs zurück, den er zusammen mit Robert Nozick 1970/71 in Harvard unterrichtete. Man bedenke, der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums kam erst 1972 heraus. Heute dagegen sind wir uns der ökologischen Bedrohung schmerzlich bewusst. Wo die Bürger und Bürgerinnen vor Ort gefragt werden, votieren sie inzwischen oft für den Erhalt der Natur und gegen einen weiteren Ausbau (zum Beispiel kein Stuttgart 21, keine dritte Startbahn in München, keine Überbauung des Tempelhof in Berlin). Nach der Energiewende droht unserem Land jedoch eine Invasion von Windrädern und gigantischen Stromtrassen. Die Windräder besetzen den Horizont wie eine Armee feindlicher Insekten. Sie zerstören die Konturen der Landschaft. Ihre Flügel wühlen den Himmel auf. Wo immer sich diese gespenstischen Besucher niederlassen, fühlen sich die Menschen nicht mehr zuhause. Doch wenn Politiker und selbst Umweltaktivisten die Kosten der Energiewende kalkulieren, bleibt dieser unheimliche und landschaftsverschandelnde Effekt gewöhnlich außen vor. Manch einer, der für Windkraft eintritt, mag sich sogar darüber freuen, wenn die nostalgischen Nimbys, die so viel in ihre schöne Aussicht investierten, nun bald das Nachsehen haben („nimby“ kürzt „not in my backyard“ ab, im Deutschen spricht man vom „Sankt-Florians-Prinzip“). Windräder gelten als Zeichen des ökologischen Fortschritts und der gerechten Umverteilung der Ressourcen. Dem entgegen möchte ich mich hier stark machen für die Bedeutung schöner Landschaften und für ihren identitätsstiftenden Wert. Meine These ist, dass der Sinn für die Schönheit der Natur und die Verbundenheit mit ihr als Heimat zwei der wichtigsten, aber bisher kaum beachteten Gründe und Motive darstellen für den Schutz der Natur. Diese Gründe und Motive gilt es zu mobilisieren, wenn der Niedergang der Natur noch aufgehalten werden soll. Ich werde diese These unter

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Rückgriff auf Michael Walzers Sphärentheorie der Gerechtigkeit entwickeln und begründen. Da Walzer die Natur (noch) nicht als eigene Sphäre der Gerechtigkeit vorsieht, muss ich meine Phantasie spielen lassen, um seine Theorie zu aktualisieren und für den Naturschutz fruchtbar zu machen. Im ersten Teil skizziere ich Walzers Gesamtansatz und streiche seinen nonegalitaristischen Charakter heraus. Ein Gerechtigkeitsansatz ist egalitaristisch, wenn er auf Gleichheit abzielt, wenn es ihm vor allem darum geht, wie Menschen im Vergleich zueinander gestellt sind, wenn seine Verteilungskriterien komparativer oder relationaler Art sind und nicht absolut. Ein Beispiel eines absoluten Verteilungsstandards ist: Niemand soll unter Hunger leiden, alle sollen genug zu essen haben. Der entsprechende komparative Standard lautet: Alle sollen gleich viel zu essen haben.1 Walzers Gerechtigkeitsansatz ist nonegalitiaristisch, da es ihm nicht um die Abschaffung von Ungleichheit geht, sondern um die Brechung von Dominanz. Gleichheit ergibt sich in diesem Ansatz nur als wahrscheinliches Nebenprodukt von Autonomie. Im zweiten Teil trage ich das Wenige, was man in Walzers Buch zur Natur findet, zusammen. Es findet sich interessanterweise im Kapitel über Freizeit. Im dritten und letzten Teil baue ich das, was ich gefunden habe, aus und frage mich, was Walzer, wenn er in seinem Buch Natur als eigene Sphäre der Gerechtigkeit begriffen hätte, wohl darüber geschrieben hätte. Als ich Michael Walzer von meinem Vorhaben erzählte, antwortete er, dass er liebend gern lesen würde, was er über Natur geschrieben hätte, wenn er darüber ein eigenes Kapitel geschrieben hätte. Er erklärte mir, dass er noch nie etwas über das Thema Gerechtigkeit und Natur oder das eng verwandte Thema Gerechtigkeit und zukünftige Generationen verfasst hat. Das liege daran, dass er „sort of got trapped in the war stuff“. Er werde halt meist zu Vorträgen über Menschenrechte und den gerechten Krieg eingeladen.

2. KOMPLEXE GLEICHHEIT Lassen Sie mich also mit einer Skizze von Walzers Gerechtigkeitsansatz beginnen. Sein Ansatz stellt ein Gegenmodell zur Rawlschen Theory of Justice dar. Über sie schreibt Walzer in seiner Danksagung, dass er, trotz aller Bewunderung, mit ihr größtenteils nicht übereinstimme: „I have mostly disagreed“ ( SJ XVIII). Rawls’ Theorie ist monistisch und egalitaristisch, sie weist ein oder zwei Prinzipien der Gleichheit auf, welche sich auf eine kurze Liste an Allzweckmitteln oder Grundgütern („primary goods“) beziehen. Als Verteilungsinstanz hat Rawls vor allem den Staat vor Augen. Walzers Ansatz hingegen ist pluralistisch und nonegalitaristisch, er weist eine Vielzahl an Verteilungsprinzipien auf, vor allem Bedürfnis, freier Tausch und Verdienst. Die Walzer’schen Verteilungsprinzipien ergeben sich aus den Bedeutungen verschiedener sozialer Güter. Seine lange Liste an sozialen Gütern um1

Mehr dazu in Krebs 2002, Kap. 3–5, und Krebs 2000.

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fasst: Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, Ämter, harte Arbeit, Freizeit, Bildung, Verwandtschaft und Liebe, göttliche Gnade, Anerkennung sowie politische Macht. Als Verteilungsinstanzen kommen neben dem Staat die aktiven Bürger, Nachbarschaften, Vereine, Stiftungen, Kirchen, der Markt etc. ins Visier. Während Rawls seine Theorie auf Einsichten aus Psychologie und Ökonomie stützt, arbeitet Walzer mit Anthropologie, Literatur und Historie. Sein Buch ist voller Geschichten, welche das menschliche Leben durch die Zeiten hinweg und auf der ganzen Erde zeigen oder „exemplifizieren“, um es mit dem Ästhetiker Nelson Goodman zu sagen. Walzer bringt uns dazu, dem, was er für den „first impulse of the philosopher“ hält, zu misstrauen und nicht herunterzuschauen auf die „displays of history, the world of appearances and to search for some underlying unity“ (SJ 4). Statt nach tieferer Einheitlichkeit zu suchen, sollten wir „the particularism of history, culture and membership“ hochhalten (SJ 5). Die Kernbegriffe von Walzers Gerechtigkeitstheorie sind: „Dominanz“, „Monopol“ und, damit verbunden, „einfache“ und „komplexe Gleichheit“. Ein soziales Gut ist „dominant“, wenn diejenigen, die es haben, allein deswegen über weitere Güter verfügen können. Im Kapitalismus ist Geld dominant, denn es unterwandert andere Sphären, wie die der Anerkennung und der politischen Macht. Ein soziales Gut ist „monopolisiert“, wenn diejenigen, die es haben, es erfolgreich gegen Rivalen, die es nicht oder nicht in dem Maße haben, verteidigen können. Der Egalitarismus oder, wie Walzer ihn nennt, die Strategie „einfacher Gleichheit“ will dominante Güter gleich verteilen, das heißt, er hält Monopole für ungerecht. Für Walzer hingegen sind es nicht die Monopole, die ungerecht sind. Nur Dominanz, der Zugriff von Gütern auf Sphären, in denen sie nichts zu suchen haben, ist ungerecht. Walzers „relevant reasons“-Ansatz zielt auf die autonome Verteilung eines jeden sozialen Gutes nach seinen eigenen Kriterien. Daher sind Monopole, welche andere Sphären nicht tangieren und deren inhärente Verteilungslogik nicht verletzen, unproblematisch. Walzer glaubt jedoch, dass eine wirklich autonome Verteilung aller Güter zu einer „overall“-Gleichheit zwischen den Menschen führt. Er hält es zu Recht für unwahrscheinlich, dass ein in freier Wahl und ungeachtet seines familiären Hintergrundes oder seiner persönlichen Finanzkraft in sein Abgeordnetenamt gewählter Volksvertreter zugleich ein kühner und ideenreicher Unternehmer, ein naturwissenschaftlicher Erfinder, ein tapferer Soldat und ein guter Freund, Vater und Liebhaber sein wird. Die meisten Menschen sind eben nur in ein oder zwei Dingen wirklich gut. Und wenn alle nur in dem, worin sie wirklich gut sind, anerkannt würden, käme für alle eine grob gleiche Verteilung heraus. Das ist der Grund, warum Walzer seinen eigenen Ansatz einen der „komplexen Gleichheit“ nennt. Dies wurde allerdings oft falsch verstanden. Walzer wurde irrtümlicherweise als Egalitarist einsortiert (etwa von Michael Haus). Walzer ist aber kein Egalitarist. Er steht vielmehr Schulter an Schulter mit anderen Nonegalitaristen wie Harry Frankfurt, Joseph Raz, Bernard Williams, Derek Parfit, Robert Nozick, Roger Scruton und Avishai Margalit. In der „Response“ auf seine Kritiker von 1995 machte Walzer klar, dass Gleichheit seinen Ansatz zur Gerechtigkeit

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nicht charakterisiere. Komplexe Gleichheit sei eine empirisch falsifizierbare Vorhersage und keine Definition: „Now, complex equality will be the product of autonomous distributions – when all the necessary remedies for past injustice are in place (and working efficiently). This is a prediction, not a definition, and it can be empirically falsified, though I continue to believe that it won’t be“.2 Zugegebenermaßen gibt es einen Punkt in Walzers im Großen und Ganzen nonegalitaristischem Ansatz, an dem relationale Gleichheit doch eine Rolle spielt, allerdings nur im negativen und minimalen Sinn der Nonstratifizierung nach Klasse, Kaste, Rasse oder Geschlecht, nicht im positiven Sinn eines Gleichviel an Anerkennung oder politischer Macht für alle. Das ist der Punkt, an dem Walzer der modernen demokratischen Erfindung des Bürgerstatus Beifall zollt, als eines Status, der in sich keinerlei Hierarchien duldet: „no more bowing and scraping, fawning and toadying; no more fearful trembling; no more high-and mightiness; no more masters, no more slaves“ (SJ XIII).3 David Miller spricht in diesem Zusammenhang von „Statusgleichheit“.4 Die Erklärung, warum Walzer die irreführende Gleichheitsterminologie zur Betitelung seines eigenen Ansatzes bemüht, mag zum Teil wiederum in historischen Umständen zu finden sein. Als Walzer Sphären der Gerechtigkeit schrieb, war der Egalitarismus à la Rawls, Dworkin und Sen noch nicht zum Mainstream der politischen Philosophie avanciert. Es war damals noch nicht so wichtig wie heute, sich vom egalitaristischen Kernprinzip dieser Philosophie so deutlich wie möglich abzugrenzen. Ferner waren die USA in den 1970er Jahren (und sie sind es auch heute noch) in einem Ausmaß von Ungleichheit gezeichnet, wie wir es in den europäischen Wohlfahrtsstaaten nicht kennen. Die politische Botschaft, dass Gerechtigkeit eine solche Ungleichheit verurteilen muss, mag Walzer wichtiger gewesen sein als philosophische Klarheit. Walzer hat nie einen Hehl aus seiner politischen Haltung gemacht. Er ist ein linker Intellektueller, der in seiner politischen Philosophie engagiert für seine Vision der Gerechtigkeit, den „demokratischen Sozialismus“, wirbt.

3. NATUR IN WALZERS SPHÄREN DER GERECHTIGKEIT In Sphären erwähnt Walzer den Schutz der Natur explizit nur an zwei Stellen. Die erste, prominentere findet sich im Kapitel zu Freizeit, die zweite im Kapitel zu politischer Macht.

2 3

4

Walzer 1995, S. 283. Siehe auch das Ende des Anerkennungs-Kapitels, zum Beispiel: „Democratic citizenship is a status radically disconnected from every kind of hierarchy. There is one norm of proper regard for the entire population of citizens.“ (SJ 277). Miller 1995a und Miller 1995b.

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3.1 Urlaub und Wildnis Im Freizeit-Kapitel erzählt Walzer eine kurze Geschichte des Urlaubs. Diese Geschichte sei so kurz, weil sich bis in die 1920er Jahre nur ein kleiner Teil der arbeitenden Bevölkerung Urlaub überhaupt leisten konnte. Die ganze Sache habe ihren Anfang genommen als bürgerliche Imitation des aristokratischen Rückzugs aus der Stadt auf das Land. Zu Beginn, im 18. Jahrhundert, tat man noch so, als ginge es um Gesundheit, um frische Bergluft und die Heilkraft des Wassers. Bald jedoch war die Flucht aus der Stadt etwas, das man um seiner selbst willen unternahm. Mit der Erfindung der Eisenbahn konnten sich auch die Arbeiter des 19. Jahrhunderts eine solche Flucht, wenn auch nur für einen Tag, erlauben. Die „high time“ des Urlaubs begann kurz nach dem Ersten Weltkrieg: „more time, more places to go, more money, cheap lodgings, and the first projects in communal provision, public beaches, state parks, and so on.“ (SJ 190). Was solche Ferien von Feiertagen, wie beispielsweise dem Sabbat, unterscheidet, ist ihr individualistischer oder persönlicher Zuschnitt, wobei das Auto als Symbol und Mittel der Freiheit eine nicht wegzudenkende Rolle spielt: „[T]he experience is clearly one of freedom: a break from work, travel to some place new and different, the possibility of pleasure and excitement.“ (SJ 190 f.). Im Namen der Gerechtigkeit verlangt Walzer, dass die Verteilung des Urlaubs nicht von Vermögen und Macht dominiert wird. Vielmehr sei zu garantieren, nötigenfalls über Steuergelder, dass ein Spektrum an Wahlmöglichkeiten für alle besteht. Daher fordert er unter anderem: „the preservation of wildlife and wilderness without which certain sorts of vacation (widely thought to be valuable) cease to be possible.“ (SJ 192). Die Bemerkung in der Klammer „widely thought to be valuable“ ist nicht unwichtig, spricht sich doch Walzer in einem anderen Kapitel gegen die öffentliche Finanzierung von Kunstmuseen aus, die nur eine kleine Elite ansprechen (SJ 24). Eine Besonderheit der ästhetischen Naturerfahrung ist ihr nicht-elitärer Charakter. Man braucht keine Bildung, um einen Sonnenuntergang am Meer genießen zu können.

3.2 Luftverschmutzung und Gesundheit Die zweite Stelle, an welcher Walzer den Umweltschutz in Sphären erwähnt, findet sich unter dem Titel „Eigentum und Macht“. Diskutiert wird dort das Beispiel einer Fabrik, die die Luft einer Stadt so stark verschmutzt, dass es die Gesundheit der Einwohner gefährdet. Wenn die Fabrikbesitzer in Reaktion auf die Intervention der politischen Entscheidungsträger mit dem Wegzug ihrer Fabrik an einen anderen Standort drohten und sich damit sozusagen eine unbeschränkte Lizenz zur Luftverschmutzung ausstellten, verdienten sie nach Walzer „tyrants“ genannt zu werden (SJ 293). Denn sie würden ihre polit-ökonomische Macht auf Kosten anderer sozialer Güter, hier der Gesundheit, ausüben. Macht würde über Wohlfahrt dominieren.

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4. DIE SPHÄRE DER NATUR „Natur“ ist mit Aristoteles das, was von sich aus entsteht, sich verändert und wieder vergeht, das Gegenteil also zu dem, was nur dadurch in die Welt kommt, dass wir es herstellen. In all unsere Artefakte gehen Materialien ein, die wir nicht hergestellt haben, mithin Natur: Es gibt keine reinen Artefakte. Es gibt auch keine unberührte Natur, zumindest gibt es sie nicht mehr in unseren Breiten. Alles, was wir „Natur“ nennen, ist mehr oder weniger durch menschliches Handeln überformt. Die Übergänge zwischen wilder Natur, gestalteter Natur, genutzter Natur und Artefakten sind fließend. In der Natur unterscheiden wir zwischen Organismen (wie Pflanzen) und Dingen (wie Steinen) auf der einen Seite und größeren räumlichen Einheiten (wie Landschaften) auf der anderen Seite. Ist die uns umgebende Natur ein „soziales“ Gut in dem Sinn, in dem Walzers Gerechtigkeitstheorie von der Verteilung sozialer Güter handelt? „People conceive and create goods, which they then distribute among themselves“, heißt es am Anfang von Walzers „Theory of Goods“ (SJ 6). Anders als die Menschenrechte, die allgemeinmenschliche Grundbedürfnisse (Walzer nennt ihrer zwei: Leben und Freiheit) betreffen, geht es in seiner Gerechtigkeitstheorie um sozial erzeugte, kulturspezifische Güter. Das darf aber nicht zu strikt verstanden werden. Denn zum einen wirken etliche allgemeinmenschliche Grundbedürfnisse in Walzers Theorie der Verteilungsgerechtigkeit hinein. Das Bedürfnis nach Gesundheit oder Zugehörigkeit hat klarerweise eine universale Seite und findet sich in der einen oder anderen Form in jeder Kultur.5 Zum anderen reicht es hin, wenn die Wertschätzung (auch) kulturspezifischer Natur ist. Das, was wertgeschätzt wird, ihr Gegenstand, muss nicht selbst ein Kulturprodukt sein. Die gute Luft, die wir zum Atmen brauchen, haben wir nicht erzeugt. Und warum sollte man die ästhetische Wertschätzung von Artefakten wie Kunstwerken privilegieren vor der ästhetischen Wertschätzung der gestalteten Natur und diese vor der wilden Natur? Das wäre absurd. Vielmehr geht es in Walzers Theorie der Güter darum, den Blick für die jeweilige, vielfältige und weit divergierende Wertigkeit von Gütern in verschiedenen Kulturen zu öffnen und zu schärfen. Es steht zum Beispiel außer Frage, dass der Sinn für Schönheit nur dort gedeiht, wo die äußerste Not bezwungen ist. Oder dass die Epoche der Romantik, als Gegenbewegung zum Vormarsch der mathematisch-naturwissenschaftlichen Rationalität in der Aufklärung, unseren Sinn für die Schönheit der Natur vertieft hat – obgleich es selbstverständlich Beispiele ästhetischer Naturbetrachtung auch vorher schon gab, in der Antike etwa. Denken Sie an den „locus amoenus“ in Platons Phaidros.6 Warum aber sollte man Natur als eigene Sphäre der Gerechtigkeit begreifen und damit Walzers Liste von elf Sphären um eine erweitern? Warum unseren Bedarf an Natur nicht innerhalb anderer einschlägiger Sphären abhandeln, so wie 5 6

Für eine kritische Untersuchung der Walzer’schen Unterscheidung zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Menschenrechten siehe Krebs 2002, S. 83–87. Vgl. Elliger 1975.

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dies Walzer selbst ja tut? Die simple Antwort ist, dass die Natur heute zu wichtig geworden ist, um unter ferner liefen abgehakt zu werden. Das Gleiche mag übrigens für andere Bereiche unseres Lebens gelten, die Medien etwa. Wie das „world wide web“ unser gesamtes Leben durchwirkt, wirft eine Fülle neuer Gerechtigkeitsprobleme auf. Doch spricht nicht die Polyvalenz der Natur – wir brauchen sie zum Leben (Menschenrechte), zur Wohlfahrt und zur Freizeitgestaltung – gegen die Etablierung einer eigenen Sphäre? Nicht wirklich, denn es gibt in Walzers Ansatz etliche polyvalente Güter und Sphären, zum Beispiel Brot und Bildung. Brot dient, wie Walzer ausführt, zu Nahrungszwecken, aber auch als Zeichen der Gastfreundschaft. Außerdem hat es eine religiöse Bedeutung als Leib Christi beim Abendmahl. Bildung hingegen ist wichtig für aktive Bürgerschaft, bereitet aber auch auf den Beruf vor. Zudem hilft Bildung uns, glücklich zu leben. Was ist nun der Wert der Natur? Welche sozialen Güter finden wir in ihr? Drei besonders bedeutsame seien im Folgenden mit und über Walzer hinaus entwickelt: Wohlfahrt, Schönheit und Heimat.7

4.1 Wohlfahrt Wie das Problem der Luftverschmutzung bereits anzeigt, liegt der offensichtlichste soziale Wert der Natur in ihrer Bedeutung für unsere Wohlfahrt: für unser Bedürfnis nach Nahrung, Obdach, Gesundheit und Sicherheit. Es geht dabei nicht nur um unser eigenes Wohl, sondern auch um das der Nachkommen unserer politischen Gemeinschaft und der Haus- und Nutztiere, die mit uns leben. Da man bei Pflanzen, Ökosystemen und dem Rest der Natur kaum von einem „Wohl“ im moralisch relevanten subjektiven Sinn sprechen kann, sollte ökologische Gerechtigkeit weder bio- noch physiozentrisch ansetzen, sondern nur anthropo- und pathozentrisch.8 Das Verteilungskriterium für ökologische Wohlfahrt ist das biologisch bedingte und kulturell geprägte Bedürfnis nach Nahrung, Obdach, Gesundheit und Sicherheit. Verdienst spielt dabei keine Rolle. Niemand hat die Befriedigung von Grundbedürfnissen verdient oder mehr verdient als andere. Freie Wahl und Tausch auf dem Markt kommen nur am Rande herein, bei dem „Wie“ der Bedürfnisbefriedigung, zum Beispiel ob Reis oder Nudeln oder Brot als Grundnahrungsmittel bevorzugt werden. Zukünftige Generationen, die nicht unsere eigenen Nachkommen sind, und Tiere, die nicht mit uns leben, fielen aufgrund des dezidiert kommunitaristischen, nationalen Zuschnitts dieser Gerechtigkeitstheorie nur unter die Menschenrechte und nicht unter die Verteilungsgerechtigkeit – so wie die gegenwärtig lebenden Menschen in anderen Ländern der Welt.9 Wir schuldeten zukünftigen Generatio7 8 9

Für eine umfassende Übersicht über den Wert der Natur vgl. Krebs 1999 und Krebs 1997. Vgl. zur Begründung wiederum Krebs 1999. Zum nationalen „setting of the argument“ siehe SJ 28–30.

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nen im Allgemeinen nicht mehr als eine Natur, die ihnen Leben und Freiheit ermöglicht. Das mag zu wenig sein. Man sollte über die bei Walzer ohnehin angelegte Erweiterung der Menschenrechtsliste nachdenken.

4.2 Wellness und Schönheit Die zweite Art von Wert ist die „aisthetische“ und ästhetische Attraktion der Natur: Wellness und Schönheit – das ist es vermutlich, was Walzer im Sinn hat, wenn er vom Vergnügen und vom Abenteuer in der wilden Natur spricht und ihren Erhalt fordert. Dass wir uns inzwischen bestenfalls, auch in den Ferien, in Kulturlandschaften bewegen, tut dieser Argumentation kaum Abbruch. Denn die Weinberge der Toskana oder die Wiesen und Tannenwälder des Schwarzwalds sind auch sinnlich und ästhetisch anziehend. Das Verteilungskriterium für natürliche Wellness und Schönheit ist wiederum das Bedürfnis jedoch nun kombiniert mit freier Wahl. Wir brauchen zwar alle Abstand von der Arbeit und dem Alltag, etwas Muße, einen Gegenpol zu übergroßer Zweckorientierung, um einigermaßen gut zu leben. Doch können wir diesen Abstand in vielfältiger Form finden, etwa indem wir in ein Konzert gehen oder eine Städtereise unternehmen. Natur erscheint hier nur als eine Option unter anderen, als allgemein schützenswert, da weithin geschätzt. Ob wir selbst die Option jedoch wählen oder nicht, bliebe ganz uns überlassen. Es fragt sich freilich, ob diese in Walzers Buch angedeutete Argumentation nicht zu schwach ist. Einerseits brauchen wir alle diesen Abstand nicht nur einoder zweimal im Jahr, beim Urlaub, sondern integriert in unser alltägliches Leben, „aus dem Hause tretend“. Dies kommt in Bertolt Brechts Keuner-Geschichte „Herr K und die Natur“ gut zum Ausdruck: Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: ‚Ich würde gern mitunter aus dem Hause tretend ein paar Bäume sehen. Besonders da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen einen so besonderen Grad an Realität erreichen. Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer Gebrauchsgegenstände zu sehen. Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären. Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Menschen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für den Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann.‘10

Andererseits ist die Walzer’sche Argumentation dahingehend zu stärken, dass erstens klar wird, wieso die naturästhetische Option in ihrer Eigenart nicht ersetzbar ist durch andere ästhetische Optionen. Zweitens lässt sich vielleicht sogar zeigen, dass die schöne Natur doch mehr ist als eine (unersetzbare) ästhetische Option, nämlich notwendiger Teil eines jeden guten menschlichen Lebens. Schöne Natur ist aus verschiedenen Gründen ästhetisch unersetzbar. Ein Grund wurde bereits genannt: ihre im Vergleich zu den Künsten leichte Zugäng10 Brecht 1967, S. 381 f.

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lichkeit, unabhängig von Bildung. Ein anderer Grund ist ihre Freiheit. Die Natur als das nicht vom Menschen Gemachte weist weniger Spuren menschlicher Zwecksetzung auf und lässt dem Betrachter mehr Freiheit, als dies die von Menschen gemachten Kunstwerke tun.11 Wie Nietzsche so schön sagt: „Wir sind so gern in der Natur, weil sie keine Meinung über uns hat.“.12 Ein noch einmal anderer Grund ist der Status des Erhabenen in der Natur. Es gibt zwar Erhabenheit auch in der Kunst, man denke an die Größe des Straßburger Münsters oder die Gewaltigkeit der neunten Symphonie von Beethoven. Aber mit der Abundanz an Erhabenheit in der Natur kann die Artefaktenwelt nicht mithalten. Der wichtigste Grund allerdings für die ästhetische Unersetzbarkeit der Natur ist, dass wir in der ästhetischen Naturerfahrung, insbesondere in der über alle fünf Sinne vermittelten Immersion in atmosphärischen Landschaften, mit der Natur emotional mitgehen, mit ihr „resonieren“ und uns als Teil eines größeren Ganzen fühlen.13 Indem wir mit dem natürlichen Kreislauf aus Werden und Vergehen mitgehen, setzen wir uns auch in ein Verhältnis zu unserer eigenen Natalität und Mortalität. Kein Kunstwerk vermag uns diese Erfahrung zu vermitteln. Denn in der Kunst resonieren wir „nur“ mit dem Kunstwerk, nicht mit der Natur selbst. Das gilt auch für Naturlyrik oder Landschaftsmalerei. Wir resonieren „nur“ mit dem Blick des Künstlers auf die Natur, nicht direkt mit der Natur. Man mag diesen letzten Grund für so wichtig halten, dass man ein Leben, dem diese Erfahrung des Einklangs mit der Natur außer und in uns fehlt, kein gutes menschliches Leben mehr nennen möchte.

4.3 Heimat Der dritte Wert der Natur liegt darin, dass sie das Territorium und die Heimat unserer politischen Gemeinschaft ist. Denken wir zum Beispiel an die Alpen in der Schweiz und wie die Schweizer, spätestens seit dem berühmten Gedicht Albrecht von Hallers, sich selbst mit den Alpen und der traditionellen Almwirtschaft identifizieren.14 Die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft verliert an Wert, wenn die Heimat sich in einen Nichtort wandelt, fast ununterscheidbar vom Rest der Welt.15 Bei der Bewahrung unseres natürlichen Erbes handelt es sich um etwas, das wir uns nicht nur gegenseitig schulden. Wir schulden es auch unseren Nachkommen und Vorfahren. Die politische Gemeinschaft, deren Mitglieder wir sind, ist schließlich nicht mit unserer Geburt erst entstanden („Hoppla, jetzt komm ich“), 11 Zur Bedeutung der Freiheit der Natur vgl. Seel 1991 und speziell mit Bezug auf die Kindheit Gebhard 1994. 12 Nietzsche 1978, S. 316. 13 Zum Phänomen der Resonanz vgl. Rosa 2012 im Anschluss an Charles Taylor und Krebs 2014 unter Rückgriff auf Otto Friedrich Bollnow und Roger Scruton. 14 Vgl. von Matt 2012. 15 Vgl. dazu die berühmte Bildermappe von Müller 1973 und den letzten Roman von Kurzeck 2011.

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sondern wurde von unseren Vorfahren aufgebaut, und sie endet auch nicht mit unserem Tod („Nach uns die Sintflut!“). Wenn wir uns als Mitglieder einer generationenübergreifenden Gemeinschaft verstehen, verliert das Gegenargument an Kraft, nach dem heutzutage immer mehr Menschen in Städten leben und für immer weniger Menschen die Natur Heimat ist. Das Distributionskriterium für Natur als Heimat ist wiederum das Bedürfnis und zwar eines nach einer geteilten räumlich verwurzelten Identität. Hinzu kommen die Pietät gegenüber unseren Vorfahren und die Verantwortung für unsere Nachkommen. „Heimatliebe“ oder „oikophilia“ nennt Roger Scruton dies in seinem 2012 erschienenen Buch Green Philosophy, „oikophilia“, um missverständlichen Konnotationen, wie der der „Blut und Boden“-Politik des Dritten Reiches vorzubeugen. Oikophilia ist nicht nur ein guter Grund für Naturschutz, sondern auch ein wirkkräftiges Motiv dafür, dass wir die Opfer, die nötig sind, damit unsere Kinder und Kindeskinder dereinst in einer lebenswerten Welt werden leben können, auch tatsächlich erbringen. Wir alle tragen Sorge um das, was „unser“ ist. Nichtorte wie Autobahnen, Einkaufszentren und das architektonische Durcheinander in Suburbania sind nicht von ungefähr oft von Vernachlässigung und Vandalismus gezeichnet. Oikophilia dürfte das Hauptmotiv hinter den eingangs erwähnten Bürgerentscheiden (Stuttgart 21 etc.) und dem Bürgerprotest gegen die Windkraft sein. Damit die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger das Gewicht erhalten, das ihnen zusteht, sind Verfahren der direkten Demokratie, wie Bürgerentscheide ohne allzu hohe Hürden, in die repräsentative Demokratie einzulassen.

4.4 Dominanz über die Natur Nachdem wir uns die „Trivalenz“ des Gutes Natur vor Augen geführt haben, sollten wir klären, wie sich die Natur-Sphäre zu anderen Gerechtigkeitssphären verhält. Die Frage lautet hier vor allem, welche anderen Sphären über die der Natur dominieren und ihren Niedergang vorantreiben. Wie Walzers Beispiel der Luftverschmutzung bereits anzeigt, ist es vor allem die ökonomische Sphäre, die über die Sphäre der Natur dominiert. Wo, wie im kapitalistischen Wirtschaftssystem, der Kapitalstock exponentiell wächst und „verzweifelt“ nach gewinnbringenden Anlagen sucht, wird eben produziert und gebaut, „was das Zeug hält“. Der Gier der Kapitaleigner steht die durch Werbung angestachelte Gier und der gegenseitige Neid der Konsumenten gegenüber. Dass die Natur als öffentliches Gut und die zukünftigen Generationen mit ihrer Nachfrage nach Natur nicht auf dem Markt auftreten, verschärft das Problem weiter.16 Dominiert auch die Sphäre der Wohlfahrt über die der Natur? Man hört oft, dass wir Menschen schließlich immer mehr werden und irgendwo wohnen müssen, daher die Zersiedlung und Verstraßung. Dass wir Strom brauchen, um zu 16 Vgl. zum Beispiel Kambartel 1998 und Stiglitz 2012.

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heizen und zu kochen, und die Kernkraft zu unsicher ist, daher die Windräder usw. Doch es stimmt gar nicht, dass die Deutschen oder die Schweizer mehr werden, sie beanspruchen nur dreimal so viel Wohnraum wie ihre Elterngeneration. Und man kann ohne Auto leben. Auch beim Stromverbrauch könnten wir kürzer treten und das Risiko der Kernkraft zumindest so lange noch auf uns nehmen, bis erneuerbare Energiequellen gefunden und ausgereift sind, welche den Menschen ihre Heimat und Landschaft nicht „verhunzen“. Die Sonnenenergie ist da der große Hoffnungsträger.17 Anstatt einen inhärenten und unauflösbaren Konflikt zwischen materieller Wohlfahrt auf der einen Seite und natürlicher Schönheit und Heimat auf der anderen zu konstruieren, täte eine Kritik falscher Bedürfnisse Not, die Unterscheidung zwischen wahren Bedürfnissen und bloßen Begierden, der Ruf nach mehr Suffizienz oder Genügsamkeit. Nicht materielle Wohlfahrt und Natur konkurrieren unvereinbar miteinander, sondern Gier und Natur.

4.5 Internationale ausgleichende Gerechtigkeit Zum Abschluss sei eingeräumt, dass es sich beim zunehmenden Niedergang der Natur selbstverständlich nicht nur um ein national anzugehendes Problem handelt. Dies liegt im Fall des Klimawandels auf der Hand. Oikophilia wird uns bei diesem Problem nicht viel helfen. Wie allerdings die fruchtlosen Effekte rund um das Kyoto-Protokoll zeigen, sollten wir auch nicht zu viel Hoffnung in internationale Kooperation setzen. Eher sollten wir, die reichen Nationen der entwickelten Welt, voranschreiten und ein Beispiel setzen. Als die größeren Verschmutzter unserer Atmosphäre haben wir ohnehin eine höhere Verantwortung für den angerichteten Schaden und müssen deshalb mehr Ressourcen zur Wiedergutmachung beisteuern. Die Forschung nach sauberen Energiequellen sollte stark subventioniert werden. Danach sollte diese Energie kostenlos an Entwicklungsländer abgegeben werden. Auf internationaler Ebene ergänzen so die Anforderungen der ausgleichenden Gerechtigkeit die Standardanforderungen gegenseitiger Hilfe, wo Leben und Freiheit auf dem Spiel stehen.

LITERATUR Brecht, Bertolt, 1967: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 12: Prosa 2. Frankfurt am Main. Elliger, Winfried, 1975: Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung. Berlin. Ewald, Klaus / Klaus, Gregor, 2009: Die ausgewechselte Landschaft. Bern. Gebhard, Ulrich, 1994: Kind und Natur. Wiesbaden. Kambartel, Friedrich, 1998: Philosophie und Politische Ökonomie. Göttingen. Krebs, Angelika (Hrsg.), 1997: Naturethik. Frankfurt am Main. Krebs, Angelika, 1999: Ethics of Nature. Berlin. 17 Vgl. zum Beispiel Ewald / Klaus 2009.

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Krebs, Angelika (Hrsg.), 2000: Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main. Krebs, Angelika, 2002: Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Krebs, Angelika, 2014: And What Was There, Accepted Us. Landscape, Stimmung, and Heimat. In: New German Critique [im Erscheinen]. Kurzeck, Peter, 2011: Vorabend. Frankfurt am Main. Miller, David, 1995a: Introduction. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 1–16. Miller, David, 1995b: Complex Equality. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 197–225. Müller, Jörg, 1973: Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder. Aarau. Nietzsche, Friedrich, 1978: Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Stuttgart. Rawls, John, 1971: A Theory of Justice. Cambridge. Rosa, Hartmut, 2012: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Frankfurt am Main. Scruton, Roger, 2012: Green Philosophy. London. Seel, Martin, 1991: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt. Stiglitz, Joseph, 2012: The Price of Inequality. New York. von Matt, Peter, 2012: Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation. In: Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. München, S. 9–93. Walzer, Michael, 1983: Spheres of Justice. New York. Walzer, Michael, 1995: Response. In: David Miller / Michael Walzer (Hrsg.): Pluralism, Justice and Equality. Oxford, S. 281–298.

AUTORENVERZEICHNIS

John-Stewart Gordon, geb. 1976, Dr. phil., Professor für Anthropologie und Ethik in den Rehabilitationswissenschaften an der Universität zu Köln, ständiger Gastprofessor in Philosophie an der Vytautas Magnus Universität in Kaunas (Litauen). Forschungsschwerpunkte: Anthropologie (systematisch), Ethik (Theorie und angewandt), Bioethik, Klassische Griechische Philosophie, Sozial- und Politische Philosophie und Philosophie der Menschenrechte. Publikationen u. a.: Global Ethics and Moral Responsibility. Hans Jonas and His Critics, hrsg. zusammen mit Holger Burckhart, Farnham 2014; Clinical Ethics Consultation. Theories and Methods, Implementation, Evaluation, Morality and Justice, hrsg. zusammen mit Jan Schildmann und Jochen Vollmann, Farnham 2010; Reading Boylan’s A Just Society, Lanham 2009; Aristoteles über Gerechtigkeit. Das V. Buch der Nikomachischen Ethik, Freiburg / München 2007. E-mail: [email protected], Website: www.johnstgordon.com Michael Haus, geb. 1970, Dr. phil. habil., Professor für Moderne Politische Theorie an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, insbesondere Gerechtigkeits- und Demokratietheorie, Governanceforschung, Stadtforschung, interpretative Policy-Analyse. Publikationen u. a.: Regieren, hrsg. zusammen mit Björn Egner und Georgios Terizakis, Wiesbaden 2012; Transformation des Regierens und Herausforderungen der Institutionenpolitik, BadenBaden 2010. Kommunitarismus. Einführung und Analyse, Wiesbaden 2003; Die politische Philosophie Michael Walzers. Gemeinschaft, Kritik, Gerechtigkeit, Wiesbaden 2000. Antje Kapust, geb. 1962, Dr. phil. habil., Professorin für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und für Philosophie der Kunst und des Bildes an der Ruhrakademie. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Sozialphilosophie, insbesondere Theorien zur Menschenwürde, Kunst- und Bildtheorie, Ästhetik. Publikationen u. a.: Wörterbuch der Würde, hrsg. zusammen mit Rolf Gröschner und Oliver Lembcke, München 2013; Addressing Levinas. Ethics, Phenomenology and the Judaic Tradition, hrsg. mit Eric Nelson und Kent Still, Chicago 2004; Der Krieg und der Ausfall der Sprache, München 2004. E-mail: [email protected], Website: www.antje-kapust.de Manuel Knoll, geb. 1964, Dr. phil. habil., Professor für Philosophie an der Boğaziçi University (Istanbul), Lehrbeauftragter für Theorie der Politik an der Hochschule für Politik (München), Mitglied von Instituto „Lucio Anneo Séneca“ (Universidad Carlos III de Madrid), Privatdozent für Politische Theorie und Phi-

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losophie an der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie und Ethik, insbesondere antike und zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien, Sozialphilosophie und Kritische Theorie, klassische griechische Philosophie. Publikationen u. a.: Nietzsche as Political Philosopher, hrsg. mit Barry Stocker, Berlin / Boston 2014; Das Staatsdenken der Renaissance – Vom gedachten zum erlebten Staat, hrsg. mit Stefano Saracino, Baden-Baden 2013; Niccolò Machiavelli – Die Geburt des Staates, hrsg. mit Stefano Saracino, Stuttgart 2010; Aristokratische oder demokratische Gerechtigkeit? Die politische Philosophie des Aristoteles und Martha Nussbaums egalitaristische Rezeption, München 2009; Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München 2002. E-mail: Manuel.Knoll@lrz. uni-muenchen.de, Website: www.manuelknoll.eu Peter Koller, geb. 1947, Professor für Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-FranzensUniversität Graz, Studium der Rechtswissenschaften sowie der Philosophie und Soziologie in Graz (seit 1991), 1985 Habilitation aus den Fächern Rechts- und Sozialphilosophie sowie Rechtssoziologie, 1988/89 Mitarbeit am Forschungsprojekt des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld über „Staatsaufgaben“, Gastprofessuren an der University of Minnesota in Minneapolis (1988), an der Universität München (1991) und an der Law School der Rutgers University, New Jersey (1990, 2006, 2009). Forschungsschwerpunkte: Rechtstheorie, Politische Philosophie, Ethik, Rechtssoziologie. Publikationen u. a.: Neue Theorien des Sozialkontrakts, Berlin 1987; Theorie des Rechts. Eine Einführung, Wien / Köln / Weimar 1992 (2. Aufl. 1997); Gerechtigkeit im politischen Diskurs der Gegenwart (Hrsg.), Wien 2001; Die globale Frage. Empirische Befunde und ethische Herausforderungen (Hrsg.), Wien 2006; zahlreiche Aufsätze über Themen der Rechts- und Sozialphilosophie, der Ethik und der Rechtssoziologie. E-mail: [email protected] Skadi Krause, geb. 1970, Dr. phil., wiss. Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Theorie und Praxis der Demokratie. Tocquevilles erfahrungswissenschaftliche Konzeption einer ‚Neuen Wissenschaft der Politik‘ “ an der Martin-Luther Universität HalleWittenberg. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Demokratietheorie, Theorie des gerechten Krieges. Publikationen u. a.: Demokratischer Föderalismus. Tocquevilles Würdigung der kommunalen Selbstverwaltung als Teil der Civil Liberty. In: Politische Vierteljahresschrift 55 (1/2014), S. 94 –117; Robert Michels’ Soziologie des Parteiwesens: Oligarchien und Eliten – die Kehrseiten moderner Demokratie, Wiesbaden 2012; Die Politische Kraft der Religion. Zum Verhältnis von Religion und Politik bei Michael Walzer. In: Michael Kühnlein (Hrsg.): Kommunitarismus und Religion, Berlin 2010; Gerechte Kriege, ungerechte Feinde – Die Theorie des gerechten Krieges und ihre moralischen Implikationen, in: Herfried Münkler / Karsten Malowitz (Hrsg.): Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung. Grundlagen und Diskussion, Wiesbaden 2008, S. 113–142; Michael Walzer zur Einführung, zusammen mit Kasten Malowitz, Hamburg 1998.

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Angelika Krebs, geb. 1961, Dr. phil., Ordinaria für Praktische Philosophie an der Universität Basel (seit 2001); 2005/2006 Rockefeller Visiting Fellow am Center for Human Values in Princeton, 2010; Faculty Visitor am Institut für Philosophie der Universität Oxford; 2014 Fellow am Rachel Carson Center for Environment and Society in München. Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische Praktische Philosophie, insbes. Angewandte Ethik, Gerechtigkeitstheorie, Sozialphilosophie, Emotionstheorie, Literatur- und Landschaftsästhetik. Publikationen u. a.: Ethics of Nature. A Map. Mit einem Vorwort von Bernard Williams, Berlin / New York 1999; Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion (Hrsg.), Frankfurt am Main 1997; Arbeit und Liebe. Die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 2002; Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik (Hrsg.), Frankfurt am Main 2000; Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe, Frankfurt am Main 2015. E-mail: [email protected], Website: www.philsem.unibas.ch/semi nar/personen/krebs Karsten Malowitz, geb. 1971, M.A. Forschungsschwerpunkte: Normative politische Theorien, insbesondere moderne Theorien der Demokratie, der Gerechtigkeit und der Menschenrechte, Kritische Theorie, Rechts- und Staatsphilosophie der Neuzeit und der Aufklärung. Publikationen u. a.: Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung. Grundlagen und Diskussion, zusammen mit Herfried Münkler, Wiesbaden 2008; Michael Walzer zur Einführung, zusammen mit Skadi Krause, Hamburg 1998. E-mail: karsten.malowitz@ gmx.de Thomas Morawetz, geb. 1942, Tapping Reeve Professor an der University of Connecticut School of Law (Hartford, Connecticut), zuvor: Associate Professor of Philosophy, Yale University. Forschungsschwerpunkte: Rechtsphilosophie, Hermeneutik, Selbsterkenntnis. Publikationen u. a.: Criminal Law: Cases and Materials, third edition, co-written with Steven Saltzburg, John Diamond, Kit Kinports, and Rory Little, New Providence 2008; Literature and the Law, New York 2007; Making Faces, Playing God: Identity and the Art of Transformational Makeup, Austin 2001; Law’s Premises, Law’s Promise: Jurisprudence after Wittgenstein; The Collected Papers of Thomas Morawetz, Farnham 1999. E-mail: Thomas. [email protected] Thomas Schramme, geb. 1969, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ethik und Medizinphilosophie. Publikationen u. a. Gerechtigkeit und soziale Praxis, Frankfurt am Main / New York 2006; Being Amoral: Psychopathy and Moral Incapacity (Hrsg.), Cambridge 2014; John Stuart Mill: Über die Freiheit, hrsg. mit Michael Schefczyk, Berlin 2015. E-mail: [email protected], Website: http://www.philosophie.uni-hamburg.de/Team/Schramme/index.html

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Markus Schütz, geb. 1964, Dr. phil., Lehrbeauftragter für Theorie der Politik an der Hochschule für Politik München und am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft der LMU München. Forschungsschwerpunkte: zeitgenössische Theorien der Politik und Gesellschaft, Gerechtigkeitstheorien, Ethik. Publikationen u. a.: Negative Ethik in politischen Entscheidungen. In: Henning Ottmann / Stefano Saracino / Peter Seyferth (Hrsg.): Gelassenheit – und andere Versuche zur negativen Ethik, Münster 2014; Social Media vs. Wahlzettel: Demokratie als Institution. In: Dirk Lüddecke / Felicia Englmann (Hrsg.): Zur Geschichte des politischen Denkens. Denkweisen von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 2014. E-mail: [email protected] Christian Schwaabe, geb. 1967, Dr. phil. habil., lehrt Politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der LMU München; Leiter des Voegelin-Zentrums für Politik, Kultur und Religion. Forschungsschwerpunkte: Theorien der Moderne; politische Theorie und Philosophie. Publikationen u. a.: Freiheit und Vernunft in der unversöhnten Moderne. Max Webers kritischer Dezisionismus als Herausforderung des politischen Liberalismus, München 2002; Antiamerikanismus. Wandlungen eines Feindbildes, München 2003; Die deutsche Modernitätskrise. Politische Kultur und Mentalität von der Reichsgründung bis zur Wiedervereinigung, München 2005; Politische Theorie 1. Von Platon bis Locke, 2. Aufl., München 2010; Politische Theorie 2. Von Rousseau bis Rawls, 3. Aufl., München 2013. Stephen Snyder, geb. 1962, Dr. phil., Assistant Professor für Philosophie an der Fatih University (Istanbul). Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie und Kunstphilosophie, insbesondere Kritische Theorie und die Theorien von Arthur Danto. Publikationen u. a.: The End of Art: The Consequence of Hegel’s Appropriation of Aristotle’s Nous. In: The Modern Schoolman LXXXIV, S. 301–316; Arthur Danto’s Andy Warhol: The Embodiment of Theory in Art and the Pragmatic Turn. In: Leitmotiv: Topics in Aesthetics and Philosophy of Art 1 (2010), S. 135–151. E-mail: [email protected] Michael Spieker, geb. 1975, Dr. phil., Dozent für Ethik und Theorie der Politik an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing und Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg i. Br. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Antike und des Deutschen Idealismus, Religion und Politik, Sozialstaatlichkeit, Inklusion. Publikationen u. a.: Wahres Leben denken. Über Sein, Leben und Wahrheit in Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2009; Konkrete Menschenwürde. Über Idee, Schutz und Bildung menschlicher Würde, Schwalbach 2012; Der Sozialstaat. Fundamente und Reformdiskurse (Hrsg.), Baden-Baden 2012. Ulrich Steinvorth, Dr. phil. habil., em. Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: politische Philosophie, Ethik, Metaphysik. Jüngere Veröffentlichungen: The Metaphysics of Modernity. What makes Societes thrive, Milwaukee 2013; Rethinking the western Understanding of the

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Self, New York 2009; Docklosigkeit, oder zur Metaphysik der Moderne, Paderborn 2006; Was ist Vernunft: eine philosophische Einführung, München 2002; Gleiche Freiheit: politische Philosophie und Verteilungsgerechtigkeit Berlin 1999. E-mail: [email protected] Alexander Thumfart, geb. 1959, Dr. phil., Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: klassische und moderne politische Theorie, insbesondere Humanismus und Republikanismus, Transformationsund Gerechtigkeitsforschung und Nachhaltigkeitspolitik. Publikationen u. a.: John Rawls. In: Samuel Salzborn (Hrsg.): Klassiker der Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2014, S. 257–261; Giovanni Pico della Mirandola. In: Winfried Böttcher (Hrsg.): Klassiker des europäischen Denkens, Baden-Baden 2014, S. 96–109; Breaking Routine and Adjusting Anew: Elections, Persons, Local Politics. In: John von Heyking / Thomas Heilke (Hrsg.): The Primacy of Persons in Politics. Empiricism and Political Philosophy, Washington D.C. 2013, S. 171–206; Vergiftete Atmosphären. Klimawandel, Klimakriege und eine neue Politik. In: Christiane Heibach (Hrsg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 119–154. E-mail: [email protected]; Website: www.uni-erfurt.de/politischetheoriethumfart/ Michael Walzer, geb. 1937, Prof. Dr., em. Professor für Sozialwissenschaften am „Institute for Advanced Studies“ in Princeton, Mitherausgeber u. a. von Dissent und The New Republic. Forschungsschwerpunkte u. a.: Theorie des gerechten Krieges, Gerechtigkeitstheorie, Politische Ethik, Toleranz, Sozialkritik. Publikationen u. a.: Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. Fourth Edition with a New Introduction by the Author, New York 2006 (Orig. 1977); Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality. New York 1983; Pluralism, Justice and Equality, hrsg. mit David Miller, Oxford 1995; Politics and Passion. Toward a More Egalitarian Liberalism. New Haven / New York 2004; Thinking Politically. Essays in Political Theory. Selected, Edited, and with an Introduction by David Miller, New Haven 2007.

s ta at s d i s k u r s e Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Norbert Campagna, Paula Diehl, Manuel Knoll, Eun-Jeung Lee, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Peter Schröder. Franz Steiner Verlag

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ISSN 1865–2581

Salzborn Samuel (Hg.) Staat und Nation Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion 2011. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-09806-9 Oliver Eberl (Hg.) Transnationalisierung der Volkssouveränität Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates 2011. 354 S., kt. ISBN 978-3-515-09830-4 Rüdiger Voigt (Hg.) Freund-Feind-Denken Carl Schmitts Kategorie des Politischen 2011. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09877-9 Tobias ten Brink (Hg.) Globale Rivalitäten Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus 2011. 225 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09905-9 Andreas Herberg-Rothe / Jan Willem Honig / Daniel Moran (Hg.) Clausewitz The State and War 2011. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-09912-7 Frauke Höntzsch (Hg.) John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff 2011. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-09923-3 Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 2012. 242 S., kt. ISBN 978-3-515-10117-2 Matthias Lemke (Hg.) Die gerechte Stadt

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Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume 2012. 208 S., kt. ISBN 978-3-515-10148-6 Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.) Tropen des Staates Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938 2012. 208 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10170-7 Tobias Bevc / Matthias Oppermann (Hg.) Der souveräne Nationalstaat Das politische Denken Raymond Arons 2012. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-10179-0 Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.) Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse 2012. 267 S. mit 1 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10281-0 Rüdiger Voigt Alternativlose Politik? Zukunft des Staates – Zukunft der Demokratie 2013. 247 S., kt. ISBN 978-3-515-10326-8 Pedro Hermílio Villas Bôas Castelo Branco Die unvollendete Säkularisierung Politik und Recht im Denken Carl Schmitts 2013. 267 S., kt. ISBN 978-3-515-10342-8 Bernd Belina (Hg.) Staat und Raum 2013. 188 S., kt. ISBN 978-3-515-10346-6 Beatrice Brunhöber (Hg.) Strafrecht im Präventionsstaat 2014. 171 S., kt. ISBN 978-3-515-10751-8 Christoph Lundgreen (Hg.) Staatlichkeit in Rom? Diskurse und Praxis (in) der römischen Republik 2014. 276 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10710-5

Was bedeutet soziale und politische Ge­ rechtigkeit? Wie können der Sozialstaat und die dazu nötigen Umverteilungen von Einkommen und Vermögen gerechtfertigt werden? Über diese Fragen wurde in den letzten Jahrzehnten ausgiebig geforscht und diskutiert. Die vielleicht bemerkens­ wertesten Antworten präsentierte der amerikanische Philosoph Michael Wal­ zer in seinem 1983 erschienenen Werk Spheres of Justice. Die fünfzehn Beiträge des Bandes kom­ mentieren die verschiedenen Maßstäbe einer gerechten Verteilung, die Walzer für Güter bzw. Sphären wie Staatsbürger­ schaft, Wohlfahrt und Sicherheit, Geld,

Ämter, Arbeit, Freizeit, Bildung, Anerken­ nung und politische Macht vorschlägt. Der Band enthält zudem eine ausführliche Einführung der Herausgeber in Sphären der Gerechtigkeit und ein Vorwort von Mi­ chael Walzer, in dem er seine Idee einer „komplexen Gleichheit“ und seine zent­ rale Fragestellung erklärt: Wie lässt sich eine gerechte Gesellschaft von Gleichen schaffen, wenn sich ungleiche Verteilun­ gen letztlich nicht vermeiden lassen? Der Band ist unerlässliche Lektüre für alle Phi­ losophen, Politikwissenschaftler und So­ ziologen, die sich für Walzers Gerechtig­ keitstheorie interessieren.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10916-1

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