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German Pages 225 [228] Year 2010
Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass
Arturo Larcati / Isolde Schiffermüller (Hrsg.)
Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass Eine kritische Bilanz
Gedruckt mit Unterstützung der Universität Verona, Institut für Anglistik, Germanistik und Slavistik, und des Österreichischen Kulturforums Mailand.
Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Umschlagabbildung: Porträt von Ingeborg Bachmann. Abdruck mit frdl. Genehmigung von Isolde Moser.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-23461-5
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Hans Höller Krankheit und Politik. Bachmanns „Eintritt in die Partei“ . . . .
19
Isolde Schiffermüller Schwierigkeiten beim Lesen von Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Anton Reininger „Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen“. Das Problem der ästhetischen Distanz in Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Walter Busch Texte aus der Krise oder das zerbrochene Archiv. Anmerkungen zu den Nachlassgedichten Ingeborg Bachmanns . .
87
Arturo Larcati „An das Fernmeldeamt Berlin“. Zu einigen Problemkonstanten in Ingeborg Bachmanns posthumen Gedichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Anna Maria Carpi „Ich habe wie die Wilden geliebt“. Ingeborg Bachmanns poetischer Nachlass . . . . . . . . . . . . .
135
Fabrizio Cambi Der lyrische Nachlass und die Berliner Erfahrung Ingeborg Bachmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
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Inhaltsverzeichnis
Rita Svandrlik „Denn vernichten sollte man es sofort, was über das Heute geschrieben wird“. Von Ich weiß keine bessere Welt zu Malina . . . . . . . . . . . .
155
Marie Luise Wandruszka Bestandene Proben. Vom „Untergehen“ zum „Zugrundegehen“ in Bachmanns lyrischem Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Camilla Miglio Ingeborg, Maria, Gaspara. Stimmen eines „bitteren“ Stilnovo . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
Inge von Weidenbaum Die „eiskalte Geschichte des Tages“. Ingeborg Bachmanns Klage um den Verlust ihrer Gedichte . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Einleitung Einleitung
Die Veröffentlichung von Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass war die literarische Sensation des Jahres 2000.1 Die Erscheinung dieser bisher streng unter Verschluss gehaltenen, zum Großteil zwischen 1962 und 1964 entstandenen Texte lässt zunächst schon aufgrund ihrer Zahl aufhorchen: Die über hundert lyrischen Gebilde, eine Auswahl aus einem geschützten Konvolut, das an sich doppelt so groß ist, stellen einen aus der Versenkung plötzlich aufgetauchten Kontinent dar, der an Umfang mit Bachmanns bisher bekannten poetischen Ländern vergleichbar ist. Diese literarische Entdeckung zwingt berufsmäßige Leser wie einfache Lyrik-Liebhaber dazu, das Bild von Ingeborg Bachmann als Lyrikerin grundlegend zu revidieren, weil sie wesentliche Unterschiede zu den bisher veröffentlichten Gedichten offenbart. Das, was im Waschzettel mit großer Emphase als das „intime, aufwühlende, poetische Vermächtnis“ einer großen Dichterin angekündigt wurde, widerlegt die von Bachmann selbst in Umlauf gebrachte fable convenue, wonach sie nach ihrer Hinwendung zur Prosa in den sechziger Jahren bis auf wenige Ausnahmen aufgehört habe, „Gedichte zu schreiben, weil ihr der Verdacht“ gekommen sei, sie könne „jetzt Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe.“ (GuI, 40) Die neue Publikation bestätigt in-
1 Ingeborg Bachmann, Ich weiß keine bessere Welt. Unveröffentlichte Gedichte, hrsg. von Isolde Moser, Heinz Bachmann und Christian Moser, München Zürich 2000. Von nun an als KBW abgekürzt. Was die weiteren Abkürzungen betrifft, so steht im Folgenden die einfache Angabe von Band und Seitenzahl für: Ingeborg Bachmann, Werke, hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster, München Zürich 1978; GuI: Ingeborg Bachmann, Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, hrsg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, München Zürich 1983; TKA: ,Todesarten‘-Projekt. Kritische Ausgabe. Unter Leitung von Robert Pichl hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche, München – Zürich 1995; KS: Ingeborg Bachmann, Kritische Schriften, hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche, München–Zürich 2005.
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dessen die Realisierung ihrer im selben Interview aus dem Jahr 1963 angedeuteten Absicht, auch wieder Gedichte zu schreiben, aber „so neu, daß sie allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen.“ (Ebd.) Die Veröffentlichung der Gedichte Ende 2000 wurde durch eine wirkungsvolle, in Die Zeit ausgetragene Kontroverse medial vorbereitet. Dort wurde die Frage heftig diskutiert, ob es zulässig sei, Bachmanns private lyrische Notate, die nicht für die Veröffentlichung bestimmt waren, einem breiten Publikum zugänglich zu machen, zumal sie brisante Details aus ihrem Privatleben enthielten.2 Zur Diskussion stand auch das grundsätzliche Problem, ob es sich bei Bachmanns lyrischen Entwürfen überhaupt um Gedichte handle. Während Peter Hamm in der publizistischen Initiative einen von der „Rachsucht“ der Erben inspirierten Skandal wittert und in den lyrischen Texten bloß „herausgeschleuderte Worte und Sätze“ sieht, die aufgrund des intimen Charakters zum Voyeurismus verleiten und keinen „poetischen Mehrwert“ aufweisen, begrüßt Reinhard Baumgart die Veröffentlichung von diesen „Fast-Gedichten“; als „Schmerzdokumente“ machen sie in seinen Augen anschaulich, wie schwer es ist, eine saubere Trennungslinie zwischen Kunst und Leben zu ziehen. Die heikle Debatte wird dann in der Zeit mit zwei Beiträgen von Hans Höller und Nikolaus Schneider weiter geführt, die den Schwerpunkt der Diskussion von der Legitimität der Publikation des Nachlasses auf den richtigen Umgang mit den Gedichten verlegen. Höller sieht in der Veröffentlichung der posthumen Gedichte den Anlass, den ästhetischen Kunst- und Autonomiebegriff zu hinterfragen, der Positionen wie der von Peter Hamm zugrunde liege, nämlich eine fragliche „Werkreligion“, die Ingeborg Bachmann selbst im Roman Malina dementiert habe. Plädiert Hans Höller dafür, dass sich der Lyrikinterpret auch mit dem „Lebensschlamm“ (Hamm) auseinandersetzen solle, so meint hingegen Nikolaus Schneider, dass die Deutungsarbeit von der Biographie und den persönlichen Dramen abzusehen habe. Was seiner Meinung nach zählt, ist „die Bereitschaft, Gedichte gründlich und vorurteilsfrei zu lesen“ und die Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Eigenschaften der Texte zu lenken.3 2 Peter Hamm/Reinhard Baumgart, Ingeborg Bachmann. Ihre Gedichte aus dem Nachlass sind das Dokument einer Liebes- und Lebenskrise, in: Die Zeit, Nr. 41, 5. Oktober 2000, 61–62. 3 Hans Höller, Ingeborg Bachmann. Man sollte die Gedichte als zentralen Teil des Werkes lesen; Nikolaus Schneider, Ingeborg Bachmann. Man sollte die Gedichte unabhängig von der Biographie lesen, in: Die Zeit, Nr. 46, 9. November 2000, 70.
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Mit diesen repräsentativen Positionen wird ein Spannungsfeld entfaltet, auf das sich die vielen Rezensionen, die das Erscheinen des Buches begleiten, immer wieder beziehen. Gegenüber den ersten Stellungnahmen richtet sich nun der Fokus der Polemik immer mehr gegen die Bachmann-Erben und den Verlag und weniger gegen die Gedichte, die von den meisten Rezensenten als solche akzeptiert werden. Mehrere Kritiker bemängeln, dass der philologische Umgang mit dem lyrischen Nachlass im Vergleich zu den Editionen des Todesarten-Projekts und der „letzten Gedichte“4 zu wünschen übrig lasse. Die Nachlässigkeit, mit der diese Gedichte der interessierten Öffentlichkeit präsentiert wurden, lasse – so der Tenor der Kritik – die Realisierung einer kritischen Gesamtausgabe umso notwendiger erscheinen. Auch die von den Erben ins Feld geführten Argumente für die Freigabe der Gedichte – die große Faszination, die von ihnen ausgehe, sowie der Wunsch, die Arbeitsweise der Dichterin zu veranschaulichen – wurden wiederholt problematisiert ebenso wie die Begründung für die Auswahlkriterien der Texte. In der Frage nach der ästhetischen Qualität der Gedichte überwiegen nun die Stimmen, die den von Peter Hamm noch negierten „poetischen Mehrwert“ aus verschiedenen Perspektiven nachweisen und Reinhard Baumgarts Feststellung eines „unverwechselbaren Tonfalls“ bestätigen. Bald entdeckt man „auch im Fragmentarischen, womöglich Unfertigen dieser Gedichte überdurchschnittliches Sprachgefühl, überlegte Komposition und Stimmigkeit“,5 bald ist von „süchtig machenden“ Gedichten die Rede oder sogar von poetischen Fragmenten, die „kostbarer sind als die Summe der frühen Italiengedichte.“6 Und anlässlich des Erscheinens der italienischen Taschenbuchausgabe zählt der Kritiker Enzo Golino die posthume Lyrik zu einem der „bedeutendsten Werke“7 der europäischen Nachkriegsliteratur. Interessant ist auf jeden Fall der Umstand, dass selbst dann, wenn das ästhetische Niveau der Gedichte
4 Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller, Frankfurt/Main 1998. 5 Johanna Backes, Es ist doch Kunst. Ingeborg Bachmanns nachgelassene Gedichte verdienen eine freie Betrachtung, in: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=3756&ausgabe=200106. 6 Eva Corino, Gestaltlose Klagen einer verlassenen Frau. Und doch machen sie süchtig: Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass, in: Berliner Zeitung, 24./ 25. Februar 2001. 7 Enzo Golino, Ingeborg Bachmann e la devastante ironia dei suoi incompiuti, in: Il Venerdi di Repubblica, 5. Februar 2010.
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nicht oder nur teilweise anerkannt wird, aus ihnen doch ein neues Bachmann-Bild gelesen wird.8 Mit der wachsenden Distanz zum Zeitpunkt der Veröffentlichung setzt allmählich auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sammlung ein, die sich eine vorsichtige Beschreibung vornimmt sowie eine erste Bewertung der Texte im Kontext des Gesamtwerks vorschlägt. Einen bemerkenswerten Anfang in diese Richtung macht Klaus Dieter Post, der in den Gedichten einen thematischen Zusammenhang ebenso wie eine einheitliche rhetorische Strategie erkennen kann. Er sieht in der Verlusterfahrung eine übergreifende Thematik und im „Gedanken der poetischen Distanzierung und Engführung“ eine konsequente „Werkidee“, die die Texte des Bandes verbindet. Er warnt davor, die negativen und destruktiven Aspekte einseitig hervorzuheben, und weist stattdessen auf eine doppelte Bewegung der Textgestaltung hin, auf eine Dialektik von „Stimme und Gegenstimme“: Der Darstellung von „Krankheit, Martyrium und Folter, als Erlebnis der Verwüstung, als apokalyptische Vision, als Agonie und Wahnsinn, als Selbstaufgabe, Todesobsession und Wunsch nach Verlöschen“ antworte regelmäßig eine zweite Stimme, die „als Trotz und Widerstand, als Appell, als Aufruf zur Revolte, als Drohung und Rachegelüst, als Aggression und Hysterie, als blasphemisch-zynische Umwertung und Destruktion“ hörbar werde.9 Ähnlich wie Klaus D. Post plädiert auch Alexander von Borman für einen von mehreren Seiten geforderten behutsamen Umgang mit den Gedichten und deren Anerkennung als eigenständige poetische Texte: „Das Rauhe, Ungeschliffene, der nachgelassenen Gedichte sollte nicht einem vorläufigen Status zugeschrieben werden, als ob nur der Feinschliff ausgeblieben sei.“10 Im Zentrum von Bachmanns bewusster Arbeit am Wort steht in seinen Augen einerseits eine Ästhetik des Fragments romantischen Ursprungs und zum anderen das „Vergehen des Wortes in Musik, zwei Formmotive, die sich mit der Negativbesetzung 8 Ronald Pohl, Flaschenpost der Schrecken. Intime Gedichte aus dem Nachlaß zeichnen ein neues Ingeborg-Bachmann-Bild, in: Der Standard, 29. September 2000. 9 Klaus D. Post, „Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht“: Ingeborg Bachmanns Nachlaß-Zyklus ,Ich weiß keine bessere Welt‘ im Spannungsfeld von Verstörung und poetischer Reflexion, in: Grenzgänge. Studien zur Literatur der Moderne. Festschrift für Hans-Jörg Knobloch, hrsg. von Helmut Koopmann und Manfred Misch, Paderborn 2002, 272–295; hier 275. 10 Alexander von Bormann, Leiderfahrung und Form. Zu den Nachlaßgedichten von Ingeborg Bachmann, in: Schriftgedächtnis, Schriftkultur, hrsg. von Vittoria Borsò, Stuttgart 2002, 97–114; hier 108.
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von Sehnsucht interpretieren lassen.“11 Ferner erkennt er darin auch einen Vorgriff auf die Depotenzierung der Subjektivität in der postmodernen Poetik. In Übereinstimmung mit diesen Einschätzungen sieht Dieter Burdorf in den nachgelassenen Gedichten nicht ein Nebenprodukt, sondern einen wesentlichen Bestandteil von Bachmanns lyrischer Produktion – durch sie werde die Gestalt jenes dritten Gedichtbandes im Umriss durchsichtig, der in den sechziger Jahren so sehnsuchtsvoll und vergebens von der Kritik erwartet wurde. Burdorf betrachtet die Gedichte zwar im engen Bezug zur Prosa des Todesarten-Projekts, er stellt aber gleichzeitig fest, dass sie keineswegs „in dieser Vorbereitungsfunktion, diesem Entwurfcharakter“ aufgehen.12 Wie Alexander von Bormann erblickt er gerade im Rohzustand der Texte deren „spezifischen poetischen Reiz“ sowie eine innovative Möglichkeit poetischen Sprechens, die „die drohende Auflösung des poetischen Ich präzise auch im Zerfall der Sprache dokumentiert“,13 ähnlich wie dies in der Lyrik von Emily Dickinson oder Sylvia Plath geschieht. Die angedeutete Tendenz zur positiven Bewertung der Gedichte setzt schließlich Hubert Lengauer fort, der über die Bedingungen reflektiert, unter denen die Veröffentlichung der nachgelassenen Lyrik zu einem regelrechten Skandal werden konnte. Ähnlich wie Burdorf und Schneider tritt er dafür ein, die Texte nicht biographisch zu verkürzen, sondern die literarische Dimension auch jener Stellen verstärkt zu berücksichtigen, die den Leser in ihrer Direktheit schockieren können, denn Bachmanns Texte seien „wie immer fragmentarisch und überarbeitungsbedürftig, in Versanordnung, Bildlichkeit etc. ganz klar als lyrische Gedichte kenntlich“.14 Lengauer verurteilt den Anspruch vieler Kritiker, Kunst und Leben sauber zu trennen und „die Verarbeitung von ,Lebensschlamm‘ zu Marmorstatuen [zu] wünschen“. Bachmann selbst habe mit ihrem Bekenntnis zum „ungereinigten Schluchzen“ (I, 172) eine genaue Grenze von Leben und Schreiben negiert, andererseits habe sie sehr nach11 Ebenda, 106. 12 Dieter Burdorf, „Alles verloren, die Gedichte zuerst“. Ingeborg Bachmanns nachgelassene Lyrik, in: Deutscher Germanisten-Verband: Mitteilungen 50 (2003) H. 1, 74 – 85; hier 79. 13 Ebenda, 85. 14 Hubert Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal? Zu Ingeborg Bachmanns Gedichtband „Ich weiß keine bessere Welt“, in: Literatur als Skandal, hrsg. von Stefan Neuhaus und Johann Holzner, Göttingen 2007, 491– 502; hier 496.
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drücklich auf Diskretion bestanden und die biographischen Aspekte ihrer Werke stark verrätselt. Angesichts dieser Ambivalenzen kommt Lengauer zum Schluss, dass das Problem „von Biographie und Leben, von Deutung und Diskretion […] offenbar nicht generell lösbar [ist], nur historisch: im Sinne von diskursiver Veränderung und von Fall zu Fall.“15 Als Fazit der Diskussion lässt sich festhalten: Die breite mediale Resonanz des Streites um das Verhältnis von Biographie und Werk bzw. um den Status der Gedichte ebenso wie die Gewichtigkeit der an der Kontroverse beteiligten Stimmen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Texte aus dem Nachlass im Vergleich zu den „klassischen“ Werken der Bachmann in der wissenschaftlichen Diskussion nur eine sehr bescheidene Aufmerksamkeit erfahren haben. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der internationalen Tagung „La lirica postuma di Ingeborg Bachmann“ (Die posthume Lyrik Ingeborg Bachmanns), die am 26. und 27. Februar 2009 in Verona stattfand. Die Tagung, die von einer Gruppe italienischer Germanisten aus Verona organisiert wurde, beschäftigte sich erstmals systematisch mit den Gedichten im Band Ich weiß keine bessere Welt und setzte sich eine wissenschaftliche Erforschung dieses Textkorpus sowie dessen Verortung im Gesamtwerk der Autorin zum Ziel. Die Diskussion konnte dabei auf zwei einschlägige Monographien in italienischer Sprache sowie auf die Übersetzung der Gedichte durch Silvia Bortoli16 aufbauen, Veröffentlichungen, die das lebhafte und beständige Interesse für Ingeborg Bachmann in Italien bezeugen.17 Im Zentrum der Tagung stand die Frage, ob in den lyrischen Texten aus Bachmanns Nachlass eine neue Poetik – wie unbestimmt und fragmentarisch auch immer – zu erkennen sei, eine Theorie etwa „des verstörten und verstörenden Sprechens“ (Höller), und wenn ja, durch welche sprachlich-rhetorischen Verfahren sich der mehrmals beschworene „unverwechselbare Tonfall“ dieser Lyrik auszeichne. Was tritt an die Stelle der typischen Verbindung mythologischer, märchenhafter und historisch konnotierter Elemente, die die spezifische Signatur der 15 Ebenda, 497. 16 Ingeborg Bachmann. Non conosco mondo migliore, trad. di Silvia Bortoli, Parma 2004. 17 Francesca Franconi, L’opera di Ingeborg Bachmann alla luce della raccolta lirica postuma „Ich weiß keine bessere Welt“, Trieste 2004; Maria Grazia Nicolosi, „Addio, voi belle parole“. L’ultima produzione di Ingeborg Bachmann, Pasian di Prato 2006.
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frühen Lyrik ausgemacht hatte?18 Weiters ging es um die Eigenständigkeit der Gedichte gegenüber der Prosa der Todesarten, die von Isabella Rameder in ihrer Monographie, der bisher umfassendsten Studie zum Thema in deutscher Sprache, problematisiert wurde.19 Diskutiert wurde die Frage, ob es zulässig sei, die Autonomie der Gedichte so zu reduzieren, wie dies Rameder tut, wenn sie sie als bloße Inkunabeln für die Sammlung und Entwicklung von Motiven sieht, die erst in der Prosa konsequent entfaltet werden. Dass Ingeborg Bachmann allerdings ernsthaft daran gedacht hat, die Gedichte dem Piper Verlag zur Veröffentlichung anzubieten, scheint die Notwendigkeit zu bestätigen, das lyrische Textkorpus in seiner Selbstständigkeit gegenüber der Prosa der Todesarten zu betrachten.20 Die Beiträge, die in unterschiedlichen Perspektiven die thematischen 18 Die Unterschiede zur „klassischen“ Lyrik werden auch in der Rezeption der Gedichte evident. Während Bachmann früher selbst die Gunst der konservativen Kritiker für sich reklamieren konnte, spaltet und polarisiert die nachgelassene Lyrik. Über die Gründe für den frühen Erfolg vgl. etwa Marcel Reich-Ranicki, Der doppelte Boden. Ein Gespräch mit Peter von Matt, Frankfurt/Main 1994, 154: „Der Erfolg der Bachmann hat auch damit zu tun, daß sie das moderne Lebensgefühl mit mehr oder weniger traditionellen Mitteln ausdrückte. Sie konnte daher ein Echo bei sehr unterschiedlichen, auch bei ganz konservativen Kritikern finden, die bei ihr etwas Hölderlinisches wiederfanden.“ 19 Rameder Isabella, Ich habe die Gedichte verloren. Ingeborg Bachmanns lyrische Texte aus dem Nachlass und ihre Beziehung zum „Todesarten-Projekt“, Klagenfurt –Wien u. a. 2006. 20 Diese Absicht geht zum einen aus Verlagsbesprechungen im Oktober 1963 hervor (vgl. Monika Albrecht/Dirk Göttsche, Leben und Werk im Überblick – eine Chronik, in: Bachmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Monika Albrecht und Dirk Göttsche, Stuttgart–Weimar 2002, 2–21; hier 14). Zum anderen wird sie in einem Brief von Ingeborg Bachmann an den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke artikuliert: „Aber ich kann mich schon die laengste Zeit nicht dazu entschliessen, sie [die Gedichte] herauszugeben. Ein Prinzip will ich aus diesem neuen ,keine Vorabdrucke‘-Standpunkt nicht machen. Aber ich haette wahrscheinlich in unserem frueh verstorbenen ,Gulliver‘ gern alles gedruckt gesehen […] – jetzt ist das ,Kursbuch‘ daraus geworden, bei dem ich nichts mehr mitzureden habe. Aber aus der GulliverZeit gibt es natürlich noch Verpflichtungen. Sie wiederum sprechen in dem Telegramm von den älteren Rechten und haben also auch Recht, nur macht mich die Vorstellung, dass es nicht nur mit den Gedichten ein Kreuz ist, sondern auch mit den Herausgebern, noch niedergeschlagener. Loesung sehe ich also keine, und das beste ist wohl, ich behalte meine Blätter in der Mappe.“ (Brief vom 17. August 1965, zit. nach: Elke Schlinsog, Berliner Zufälle. Ingeborg Bachmanns „Todesarten“-Projekt, Würzburg 2005, 22.)
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und formalen Charakteristika der Texte beleuchten, gehen bewusst von einer Vielfalt methodologischer Ansätze aus, von textimmanenten Lektüreverfahren wie von kulturwissenschaftlichen, sozialgeschichtlichen oder diskursanalytischen Lesarten. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht sollte vor allem das reiche Spektrum von intertextuellen und intermedialen Bezügen rekonstruiert werden, das die Nachlassgedichte mit der deutschen Kulturgeschichte wie auch mit der italienischen Musik- und Opernkultur21 verbindet. Aus textgenetischer Perspektive geht es vor allem um die komplexen Bezüge der posthumen Gedichte zur Prosa der Todesarten. Im Mittelpunkt der Diskussion steht insbesondere auch die Konfrontation mit den problematischen und widersprüchlichen Aspekten von Bachmanns poetischem Nachlass. Fragwürdig erscheint etwa die direkte Verschränkung von individuellem Schmerz und kollektiver Geschichte, die diese Texte charakterisiert, eine Identifikation von privater Passionsgeschichte und kollektivem Leiden an der Geschichte, die sich im Kontext der aktuellen Diskussion um die Erinnerungskultur sowie um das Verhältnis von Opfern und Tätern in der deutschen Geschichte als äußerst problematisch erweist. Der Selbststilisierung der Dichterin zur Märtyrerin und zum stellvertretenden Opfer der Geschichte steht allerdings in den Gedichten auch der Kampf gegen die „schwachsinnige Moral der Opfer“ (KBW 20) gegenüber und damit das Bewusstsein der Dichterin, dass „die Opfer keinen Weg zeigen“ (IV, 335) können. Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Hans Höller, der mit Bezug auf die Bachmannsche Formel von „Politik und Physis“ in den Gedichten aus dem Nachlass den Weg einer neuen Poetik aufzeigt. Er liest diese Texte als Versuch, aus den primären Artikulationsformen physischer wie psychischer Krankheit eine neue „Politik“ des Schreibens zu gewinnen, die sich den destruktiven Wirkungen der gesellschaftlichen Realität aussetzt und zu einer Revolte aufruft, wie sie sich exemplarisch am Gedicht Eintritt in die Partei ablesen lässt, das den Band Ich weiß keine bessere Welt eröffnet. Höllers Beitrag kann nicht zuletzt als kritische Auseinandersetzung mit einem ästhetischen Formbegriff verstanden werden, der die negativen Reaktionen der Kritik auf den Band bestimmt hat und der angesichts der posthumen Gedichte der Bachmann seine ganze Fragwürdigkeit zu erkennen gibt. Der Beitrag von Isolde Schiffer-
21 Vgl. Áine Mcmurtry, Reading „Tristan“ in Ingeborg Bachmann’s „Ich weiß keine bessere Welt“ and „Malina“, in: German Life und Letters 60 (2007) H. 4, 534 – 553.
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müller nimmt den Horizont der von Höller angerissenen Fragestellungen auf, er legt jedoch den Akzent vor allem auf die Schwierigkeiten beim Lesen der Gedichte und beim Versuch, aus ihnen eine neue kohärente Poetik abzuleiten. Ausgehend von den heftigen und kontroversen Reaktionen der Pressekritik auf den Band Ich weiß keine bessere Welt wird das Verstörungspotential der posthumen Gedichte befragt und deren eigentümliche Ambivalenz aufgezeigt: Als Dokumente einer radikalen Krise, die sich im Medium der Poesie artikuliert, bleiben diese Texte doppelt lesbar, als symptomatische Aufzeichnungen einer Krankheit ebenso wie als Fragmente einer meta-poetischen Reflexion, die die frühere Poetik der fünfziger Jahre in Frage stellt. Während Höller auf die Stimmigkeit und Geschlossenheit der Poetik des „ungereinigten Schmerzes“ Nachdruck legt, hebt Schiffermüller mehr das Diskontinuierliche und Kontingente von Bachmanns Arbeit am Wort hervor. Anhand eines vertieften textimmanenten Kommentars setzt sich der Aufsatz von Anton Reininger mit der ästhetischen Form der Gedichte sowie deren linguistischen und semantischen Strukturen auseinander. Er kann dabei Bezüge zu klassischen Topoi der literarischen und religiösen Tradition sowie zur Zeitgeschichte und zur zeitgenössischen Literatur, insbesondere zur Lyrik von Gottfried Benn aufzeigen. Reininger liest die posthumen Gedichte als Zeugnisse einer radikalen Krise der Ausdruckskunst, einer existentiellen Bedrohung jener ästhetischen Distanz, die seiner Meinung nach für das frühere lyrische Werk von Bachmann konstitutiv war, und sieht sie zugleich als extremen Versuch, diese Krise noch im Medium der Dichtung selbst zu beantworten. Der Beitrag von Walter Busch schließt an diese Lesart an, er betrachtet die Gedichte aus dem Nachlass jedoch aus einer anderen methodologischen Perspektive: nicht allein als Zeugnisse einer persönlichen und ästhetischen Krise der Dichterin, sondern vor allem als Dokumente für das Zerbrechen der Nachkriegspoetik der fünfziger Jahre, die als „diskursive Formation“ im Sinne von Michel Foucault verstanden werden kann. Im ,archäologischen‘ Blick auf die Bruchstücke einer Ausdruckskunst des lyrischen Ich werden nicht nur die Formen und Materialien erkennbar, die Bachmanns Poetik bestimmt haben. Auch die Krankheit, die in vielen Gedichten thematisiert wird, stellt sich anders dar, nämlich als Heimsuchung der poetischen Sprache durch die kollektiven Stimmen und Ausdrucksformen der Epoche. Ging es in den ersten Beiträgen um allgemeine und transversale Fragestellungen, so steht im Essay von Arturo Larcati eine exemplarische Gedichtanalyse im Mittelpunkt. Am Beispiel des Gedichts An das Fern-
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meldeamt Berlin zeigt er auf, wie das „ungereinigte Schluchzen der Verzweiflung“ (von Bormann) und die wenig artikulierte Sprache der „verratenen Kreatur“ (Bossinade) mit einem analytischen Blick auf die deutsche Gesellschaft der sechziger Jahre einhergehen. Dementsprechend steht der Text beispielhaft für ein sprachlich extrem reduziertes Sprechen als Ausdruck einer reduzierten, vom Leiden gezeichneten Existenz und zugleich für ein allegorisches Schreiben, das unter der sprachlichen Oberfläche die Zeichen der jüngsten deutschen Geschichte aufblitzen lässt. An das Fernmeldeamt Berlin stellt in dieser Sicht einen repräsentativen Text bzw. eine Art symbolischer Mitte von Ich weiß keine bessere Welt dar, nicht nur weil das Gedicht die wichtigsten Problemkonstanten der Sammlung gebündelt vorführt, sondern weil es sich auch durch einen neuen, sehr aggressiven Ton auszeichnet: Im Unterschied zur Lyrik der fünfziger Jahre gibt Bachmann in den posthumen Gedichten, so die These von Larcati, die schöne Verbrämung des Leidens auf, um das Befreiungsversprechen des Zornes zur Geltung kommen zu lassen und die Aggressivität zum Vehikel einer Erneuerung der poetischen Sprache zu machen. Eine Reihe von Beiträgen setzt sich mit den thematischen und intertextuellen Bezügen der posthumen Gedichte zur Prosa der Todesarten auseinander. Eine überraschend neue und provokatorische Sicht auf diese Fragestellung schlägt Anna Maria Carpi vor, wenn sie die These vertritt, dass sich die neue Sprache, die Ingeborg Bachmann nach ihrem offiziellen Bruch mit der Lyrik gesucht habe, nicht in der Prosa verwirklicht, wie es die verbreitete Meinung will. Diese Sprache realisiere sich vielmehr in der Diktion der posthumen Gedichte, in der sich direkt und unvermittelt eine kreatürliche Erfahrung mitteile, sowie in einem Tonfall, in dem das Echo von Nietzsche und Brecht nachklinge. Der Beitrag von Fabrizio Cambi beschäftigt sich eingehend mit jenen Texten von Ingeborg Bachmann, die in der Stadt Berlin, dem geopoetischen und lebensgeschichtlichen Ort der Jahre 1963–65, entstanden sind. In einem synoptischen Vergleich zeigt Cambi thematische und poetologische Korrespondenzen zwischen den Nachlass-Gedichten und den Entwürfen zur Rede Ein Ort für Zufälle auf und stellt Bezüge zu den Materialien her, die in den Roman Der Fall Franza eingegangen sind. In all diesen Texten geht es um die literarische Verarbeitung einer Krankheit, die über die Existenz des Ich hinausweist und einer Pathographie der kollektiven Geschichte gleichkommt. Rita Svandrlik konzentriert sich auf ein poetologisches Thema, das im Zentrum weiblichen Schreibens steht, nämlich auf die enge Verbindung von Liebesverrat und Sprachverlust. In der zyklischen Struktur
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des Gedichtbandes erkennt Svandrlik eine Geschichte, deren signifikative Elemente – Schreiben, Krankheit, Leben, Tod – wieder in der Prosa der Todesarten, insbesondere in Malina, aufgenommen und weiter erzählt werden. Marie L. Wandruszka beginnt ihren Aufsatz mit der Erörterung einer spezifischen Fragestellung, die in der Auseinandersetzung mit Simone Weil entwickelt wird, der Frage nach dem Verhältnis von Glück und Literatur, die sich im Frühwerk und im Spätwerk der Bachmann auf radikal verschiedene Weise stellt. Sie setzt sich dabei mit einem zentralen Thema der posthumen Gedichte von Ingeborg Bachmann auseinander, mit dem Pathos des weiblichen Opfers und dessen ohnmächtigem Hass, der kein Verzeihen erlaubt. Mit Bezug auf Hannah Arendts Reflexionen über das Böse kann Wandruszka literarische Möglichkeiten der Verarbeitung und Überwindung dieses Pathos aufzeigen, die dem Spätwerk der Bachmann und im Besonderen den Erzählungen des Bandes Simultan zugrunde liegen. Camilla Miglio konzentriert sich in ihrem Aufsatz auf eine spezifische Gruppe der posthumen Gedichte, nämlich auf den Zyklus der GasparaStampa-Gedichte. Sie erörtert deren komplexes Kompositionsverfahren und zeigt, wie das lyrische Ich die Stimmen eines weiblichen Gesangs fortschreibt, der insbesondere von den Gestalten der Dichterin Gaspara Stampa und der Opernsängerin Maria Callas inspiriert ist. Miglio befasst sich dabei nicht nur mit den Bezügen der Nachlass-Gedichte zur Oper und zur italienischen Kunst und Literatur, sie kann in den Gedichten auch die Ansätze zu einer Ästhetik deutlich machen, die auf dem Begriff der Stimme aufbaut und als „bitterer Stilnovo“ bezeichnet wird. Der Beitrag von Inge von Weidenbaum schließlich kann als Zeugnis dafür verstanden werden, dass sich die Polemik über die Veröffentlichung der Nachlass-Gedichte noch keineswegs beruhigt hat. Weidenbaum, die ihre Vorbehalte dem Band Ich weiß keine bessere Welt gegenüber in keiner Weise verbirgt, bietet dem Leser vor allem interessante Informationen zum biographischen Hintergrund der Gedichte. Sie liest die Texte des poetischen Nachlasses als Notate einer persönlichen Katastrophe, deren künstlerische Verarbeitung scheitern musste, mit wenigen bezeichnenden Ausnahmen allerdings, nämlich den in Berlin entstandenen Texten und den Gedichten zu den Reisen nach Prag und Ägypten. Indirekt wird damit auch eine literarische Wertung des Textkorpus der Nachlass-Gedichte nahegelegt, die deren Heterogenität gerecht werden kann. Die Realisierung der Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung von mehreren Personen und Institutionen. Des-
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halb sei an dieser Stelle auch dem „Dipartimento di Anglistica, Germanistica e Slavistica“ der Universität Verona für die finanzielle Unterstützung der Tagung und der Publikation der Beiträge gedankt. Ebenfalls zu Dankbarkeit verpflichtet sind die Herausgeber dem Direktor des Österreichischen Kulturforums in Mailand, Dr. Georg Schnetzer, der die Initiative großzügig unterstützt hat, dem Direktor der Biblioteca Civica di Verona, Prof. Agostino Contò, der den schönen Rahmen der „Sala Farinati“ für die Tagung zur Verfügung gestellt hat, und dem ehemaligen Präsidenten der Provinz Verona, Prof. Elio Mosele. Schließlich danken wir Frau Mag. Johanna Weber und Frau Mag. Gabriele Holzinger von der Universität Salzburg, die die redaktionelle Arbeit der Tagungsakten begleitet haben. Arturo Larcati Isolde Schiffermüller
Verona, Jänner 2010
Hans Höller
Krankheit und Politik. Bachmanns „Eintritt in die Partei“ KrankheitHans und Höller Politik
I. Die Gedichte von Ich weiß keine bessere Welt1 erscheinen einem wie die Verwirklichung der Forderung, die das Ich im Gedicht Keine Delikatessen an sich selber und sein Schreiben stellt: „Mit dem ungereinigten Schluchzen, / mit der Verzweiflung […] / werde ich auskommen. / Ich vernachlässige nicht die Schrift, / sondern mich.“ (I, 172)2 Die Verweigerung der künstlerischen Fiktion und die Ablehnung der Gesetze des schönen Werkganzen sind in den fragmentarischen Texten von Ich weiß keine bessere Welt an der Vernachlässigung der dichterischen Form abzulesen. Das hat in der Literaturkritik die Frage aufgeworfen, ob es sich hier überhaupt um Gedichte handle oder nur um Vorstufen zu Gedichten oder überhaupt nur um „Material zu Gedichten“, obwohl die Bestimmung des werkgenetischen Status nicht notwendig mit der Qualität und literarischen Bedeutung zu verknüpfen ist. Am bestimmtesten, genauer müsste man sagen, am rabiatesten und gleichzeitig konformsten, hat Peter Hamm seinen Verriss der Edition von Ich weiß keine bessere Welt3 mit der 1 Die von den Herausgebern unter dem Titel Ich weiß keine bessere Welt zusammengestellten Texte dürften zwischen 1962 und 1964 entstanden sein. Es ist die Zeit der traumatisch erlebten Trennung von Max Frisch und die Zeit einer theoretischen Neubegründung des eigenen Schreibens aus der Krankheit. „Reise durch eine Krankheit“ ist die kurze Formel für das Sujet des Franza-Romans; die BüchnerPreis-Rede geht in eine ähnliche Richtung, sich in der Krankheit dem „Nachtmahr“ auszusetzen. 2 In mehreren Rezensionen beim Erscheinen der Edition von „Ich weiß keine bessere Welt“ sind diese Texte auch als Einlösung jener Forderung verstanden worden (vgl. z. B. Alexander von Bormann, „Ich bin ganz wild von Tod“. Das ungereinigte Schluchzen der Verzweiflung in den nachgelassenen Gedichten von Ingeborg Bachmann, in: Die Welt, Nr. 49, 23. Dezember 2000, 5. 3 Peter Hammn, Ingeborg Bachmann. Ihre Gedichte aus dem Nachlass sind das Dokument einer Liebes- und Lebenskrise, a. a. O.
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Unabgeschlossenheit der Texte begründet. In seinem Beitrag zur ZeitKontroverse anlässlich des Erscheinens der Edition empörte sich Hamm gegen das Unfertige und Zerrissene der Texte wie gegen die Editoren, die mit der Publikation Bachmanns Idee des geglückten Gedichts verraten hätten. In „diesem Band findet sich kein einziges abgeschlossenes Gedicht und schon gar nicht eines, das Ingeborg Bachmann je zur Publikation freigegeben hat“, so der Rezensent, der sich mit der Autorin einig zu wissen glaubt in der eigenen Idee von einem richtigen Gedicht, das „mehr und mehr vom auslösenden Affekt gereinigt“ und „zum objektiv gültigen Kunstwerk geläutert“ wird. Das klingt zwar überzeugend, aber mit Bachmanns Werk hat es wenig zu tun, vielmehr löscht Hamm hier auch das Skandalöse in Bachmanns früheren Gedicht-Editionen seit Die gestundete Zeit, das der große zeitgenössische Komponist und Freund Ingeborg Bachmanns schon 1954 aus ihren neuen Gedichten heraushörte: „You have in these new poems something alarming, scandalous, bewildering, startling. If you go on this way you’ll have the most beautiful scandals too, if you like it or not.“4 Dass dieser Skandal in der Bachmann-Rezeption der fünfziger Jahre mit dem Gerede vom schönen Gedicht verdrängt wurde, brachte die Autorin dazu, sich der kulinarischen Ästhetik immer radikaler zu verweigern und die „Todesart“ jenes Prinzips von Autorschaft, von dem Hamm noch fast fünfzig Jahre später nicht abzubringen ist, in den Blick zu rücken. Ihre Lyrik war von Beginn an die Infragestellung jenes Typus von Autorschaft, jenes ,Malina-Prinzips‘ einer Kunst, die nicht ohne Auslöschung und Vernichtung von affektiven Ich-Anteilen zu bewerkstelligen ist. Das Unglück, dass sie mit diesem Typus eines auf Sublimierung beruhenden Kunstwerks verbindet, hatte sie bereits in den frühen Briefen an Felician (1945/46) dargestellt, und es ist kein Zufall, dass Hamm gerade auch dieses Buch nicht verstehen kann, es als Sakrileg ansieht und nichts als Diffamierung für die Publikation übrig hat, weil ihm die „Briefe“ als „unsäglich pubertä[r]“ vorkommen und er auch in diesem Fall der Schwester der Dichterin vorwirft, „ebenjenen Voyeurismus“ zu bedienen, den er bei der Edition von Ich weiß keine bessere Welt am Werke sieht. Damit Hamm seinen Begriff von Kunst und Autorschaft aufrecht erhalten kann, müsste er freilich den größten Teil von Bachmanns Werk unter Verschluss halten und die Stellen aus ihrem publizierten Werk wegsperren, wo er seinen eigenen Kunstbegriff in ein Zwielicht 4 Hans Werner Henze, Brief an Ingeborg Bachmann, Ischia, 15 maggio [1954], in: Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze, Briefe einer Freundschaft, hrsg. v. Hans Höller. Mit einem Vorwort von Hans Werner Henze, München – Zürich 2004, 296.
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gerückt finden würde. Als „hätte er mich ausgeschieden, einen Abfall, eine überflüssige Menschwerdung“, sagt das weibliche Ich über seinen prekären Platz neben Malina, der Titelfigur, „eine unvermeidliche dunkle Geschichte“, die er „von seiner klaren Geschichte absondert und abgrenzt.“ (III, 22 f.) Am Ende des Romans wird diese Ausgrenzung als „Mord“ bezeichnet. Mit Malina wollte Bachmann die Todesart der Autorschaft als Ouvertüre an den Beginn der Reihe der geplanten Todesarten-Romane stellen. Ein Aspekt dieser „Todesart“ des Ich im Werk ist jene Reinigung und Läuterung vom „Lebensschlamm“, die Hamm dem schönen Gedicht abverlangt: „Da den im Zustand des totalen Außersichseins herausgeschleuderten Worten und Sätzen der poetische Mehrwert versagt bleibt, werden wir Leser zwangsläufig in die erbärmliche Rolle von Voyeuren des Unglücks dieser Frau gedrängt“. (Peter Hamm) Mit seiner Berufung auf den „poetischen Mehrwert“ besteht der Kritiker auf dem kapitalistischen Wertgesetz in der Literatur, so entschieden sich auch gerade die Gedichte von Ich weiß keine bessere Welt diesem Prinzip verweigern. Ob nicht auch ein Denken erbärmlich ist, das aus der Versagung des „poetischen Mehrwerts“ ableitet, dass der Leser dadurch „zwangsläufig“ in die Rolle eines Voyeurs versetzt wird? Ob Literaturkritik nicht wenigstens den Versuch der Autorin reflektieren müsste, sich dem alles beherrschenden Wertgesetz in der Literatur zu verweigern? Dazu wäre freilich ein anderer Typus von Kritik notwendig, ein anderes Wissen vom Kunstwerk und von der Gesellschaft, und es wäre dazu auch notwendig, sich nicht gegen Bachmanns eigene theoretische Überlegungen zu verschließen, sondern ihre Werke im Zusammenhang zu sehen, sie aneinander angrenzen zu lassen, auch an die Werke anderer Autoren und anderer Theorien der Literatur. Mit dieser Forderung an die Literaturkritik ist nichts Unmögliches gemeint, keine erst zu erfindende neue Theorie der Literatur, sondern die Erweiterung des Blicks für das Werk Bachmanns. Nicht wenige Rezensenten widersprechen ja indirekt dem voyeuristisch fixierten Blick von Peter Hamm, der „hier also nur ein enormes Elends- und Erregungspotential als Material für Gedichte“ zu „besichtigen“ meint, wenn sie in den Texten von Ich weiß keine bessere Welt dichterische Strukturierungsverfahren erkennen, Beziehungen zu anderen literarischen Werken und anderen künstlerischen Genres entdecken und das Grundmotiv der Liebesklage, wie rudimentär, zerbrochen oder verzweifelt auch immer, als eines der Textzentren ausfindig machen. Ernst Osterkamp hat in seiner Rezension mit dem Titel Wer ein Messer im Rücken hat, dem fällt keine
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gepfefferte Metapher ein5, die künstlerische Form der Gedichte bei aller scheinbaren Formlosigkeit betont und auf die motivische Arbeit und Variation von Texten aus der großen Oper hingewiesen, auf Tosca und vor allem auf die Liebestod-Szene der Isolde in Wagners Tristan. Verse aus den Operntexten würden in Bachmanns Gedichten aufgegriffen, um sich darin zu spiegeln oder davon abzusetzen, auch, um sie für unzuständig zu erklären und sich von den großen Rollen und allen Spiegeln zu verabschieden. Das „Seht ihr Freunde, seht ihr’s nicht“ aus Isoldes Liebestod oder das „Tot ist alles, alles tot“ des König Markes werde bei Bachmann zum Ausdruck für den Tod der Liebe und für das Nicht-Überleben-Können des Ich: „Seht ihr Freunde, seht ihrs nicht! / daß ich’s nicht überlebt / auch nicht überstanden habe, seht ihrs nicht, / daß ich einwärts gehe, daß / fürderhin einwärts rede, daß / ich […] mein Wort einziehe.“ Osterkamp bemerkt zu diesem Zitat, dass hier Tristan gelöscht werde und nur „ein einsames Ich als Figur alles umfassender Klage“ zurückbleibe: „Diese Klage weist nicht über sich hinaus, weist immer wieder auf sich selbst zurück, und die Tristan-Motive dienen nur noch dazu, ihr einen universalisierenden Duktus zu verleihen.“ Obwohl sich die Formulierungen „wie kaum verstellte Notschreie einer Frau“ ausnehmen, vergesse Bachmann „auch bei diesen Gedichtentwürfen, die oft wie mit fliegender Feder aufs Papier geworfen erscheinen, nicht das poetische Kalkül“. Die Gedichte, die vom Verlorengehen der Gedichte sprechen und von der Unmöglichkeit, den Schmerz aufzuschreiben – „Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. / Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln. / Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz / aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr“ –, reflektieren zugleich ihr „poetisches Verfahren“ und sie sind „deshalb nicht mit jener Art Schmerzensschrei zu verwechseln, die man ausstößt, wenn man tatsächlich ein Messer im Rücken hat.“ Die „Vielzahl der Motivverkettungen“ in dem Gedichtband, die „Wiederaufnahme einzelner Verse oder Versgruppen in unterschiedlichen Gedichten“, „die Vernetzung der Themen, Motive und Argumentationsfiguren“ und die in der Edition erkennbaren Ansätze textgenetischer Prozesse, die Osterkamp beschrieben hat, zeigen jedenfalls, dass es hier um etwas anderes geht als eine Materialsammlung für Gedichte. Was dieses ,andere‘ sein könnte, möchte ich im Anschluss an die ge5 Ernst Osterkamp, Wer ein Messer im Rücken hat, dem fällt keine gepfefferte Metapher ein. In jeder gesperrten Hinterlassenschaft wittert die Lesergemeinde ein furchtbares Geheimnis: Gedichte aus dem Nachlaß von Ingeborg Bachmann (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 2000.)
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naue, das Fragen ermöglichende Beschreibung von Osterkamps Rezension zu erklären versuchen. Es geht mir darum zu verstehen, was den „,kunstfernen Weg‘“6 ausmacht, den Bachmann damals, im imaginären Dialog mit diesem Celan-Wort, aber theoretisch obsessiver und unerbittlicher als er, für sich gewählt hat. Wenn man die Texte von Ich weiß keine bessere Welt als Vorstufen oder als Notate und Dokumente einer Krise bezeichnet, warum sollten sie nicht gerade dadurch besonders aufschlussreich für die Suche nach einem anderen Weg des Schreibens sein, wird doch in diesen Gedichten die persönliche Krise als Schreibkrise verstanden und im Schreiben ein Weg gesucht, der das Leben und Weiterleben ermöglichen sollte. Auch Osterkamp ist sich bewusst, dass diese Gedichte bzw. Vorstufen zu Gedichten textgenetisch aufschlussreich sind, weil sie zu einem anderen Begriff von Dichtung führen. In ihnen die Topik der Jahrtausend alten Liebeslyrik zu entdecken – Liebesklage, Liebesverrat, Anklage, Rache, Raserei –, bedeutet ja noch nicht, dass sie damit bereits verstanden sind. Die Zuordnung der Gedichte zu den alten genrespezifischen thematischen Motiven der Liebeslyrik ist auch nicht unproblematisch, weil sie dazu tendiert, den Protest, den Aufschrei, den Schmerz auf das Immer-Gleiche der alten Gattungsmuster festzulegen. II. Eine erste, nicht unwesentliche Differenz gegenüber dem scheinbar immer Gleichen der alten Topoi des Liebesverrats liegt darin, dass bei Bachmann die Liebesklage mit der Anklage gegen den Missbrauch männlicher Autorschaft verschränkt wird. Das liebende Ich sieht sich zum Objekt gemacht, betrogen, ausgenutzt und beraubt, es ist ein Opfer der Liebe und zugleich ein Opfer der Literatur. Diese besondere Variante des Verratenseins in der Liebe verbindet sich in einigen Gedichten mit der Vorstellung, dass damit die eigene Kreativität ausgelöscht wurde und das eigene dichterische Werk als utopischer Selbstentwurf und Idee der Schönheit verloren gegangen ist: „Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen“ – „Adieu, ihr schönen Worte, mit euren Verheißungen, / Warum habt ihr mich verlassen. / Ich habe euch hinterlegt … tut dort für mich ein Werk.“ (KBW 11) Einer bloß biographischen Lesart, welche die Gedichte nur als Dokument des dramatischen Endes der Beziehung mit Max Frisch liest, wäre 6 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, 21. September 1963, in: Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit. Der Briefwechsel, hrsg. und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann, Frankfurt/Main 2008, 159.
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entgegenzuhalten, dass die thematischen Motive des Liebesverrats und des Verschwindens des weiblichen Ich schon in früheren Werken Bachmanns zu finden sind. Auch das Ausgesetztsein, die tödliche Gefährdung und den Kampf auf Leben und Tod findet man bereits in den bekannten ,schönen‘ Gedichten. In Bachmanns berühmtem Italien-Gedicht, Das erstgeborene Land, spricht ein Ich in der Todesgefahr nach einem Schlangenbiss, allein in einer menschenfeindlichen Landschaft auf sich selbst gestellt, aber in dieser äußersten Gefährdung entdeckt es die ihm eigene Kraft zum Widerstehen, indem es das tödliche Gift aus der Wunde saugt: „Und als ich mich selber trank / […] war ich zum Schauen erwacht.“ (I, 119) Ein Ich spricht hier, das in der Todesnot aus dem eigenen Inneren eine neue Kraft zum Leben gewinnt und sich damit die künstlerische Wahrnehmung wie neu erobert. Solche Szenen von bedrohlicher Ausgesetztheit und Widerstehen findet man in einigen Gedichten von Ich weiß keine bessere Welt, in denen es um Erste Schritte (KBW, 159) geht, so der Titel eines der Gedichte, die aus dem lähmenden Entsetzen hinausführen oder von einem Hass befreien wollen, der das Ich blind macht. In dem Gedicht mit dem Titel Ach findet man die Selbstbehauptung eines Ich, das sich erhebt, „um der nackten / Gewalt / und den gutgekleideten / Gewalten / zu trotzen“ (KBW, 26), in anderen Gedichten findet man den Tagtraum von der organisierten Revolte, und zu diesen Ausbruchs- oder Aufbruchsversuchen gehören auch die blasphemischen Gedichte, die in der orgiastischen Sexualität den Bruch mit der Scheinmoral der Biedermänner vollziehen und dem Ich die Verfügung über den eigenen Körper zurückgeben. (Mit einem Dritten sprechen; KBW, 76–79) Dominant aber ist in den edierten Gedichten das rückhaltlose Registrieren eines aussichtslosen Zustands, das Nicht-mehr-weiter-Wissen, das Nicht-mehr-weiter-Können, das „Wer möchte leben / wenn er nicht zu atmen hat, / das schwarze Segel immer aufgezogen“, wie es in einer Anspielung auf den Tristan heißt. (Mild und leise; KBW, 99) Von diesen Gedichten prallen die Forderung von „Reinigung“ und „Läuterung“ und die Idee des schönen Gedichts, das gegen sie in Stellung gebracht wird, als eine biedere Scheinmoral ab. III. Die Gedichte von Ich weiß keine bessere Welt verlangen einen anderen Typus von Kritik, ein kritisches Wissen vom Kunstwerk und von der Gesellschaft. Es wird erst zugänglich, wenn man sie nicht mehr an vormodernen Begriffen wie Läuterung oder Reinigung misst, sondern aus ihnen selbst primäre Artikulationsformen des Entsetzens, der Schande, des Protests und des Widerstands herausbuchstabieren lernt. Als hilfreich erwei-
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sen sich dabei die theoretischen Reflexionen, die Bachmann damals, am Beginn der Arbeit an den Todesarten-Romanen und in der Zeit der Vorbereitung der Büchnerpreis-Rede niedergeschrieben hat. Sie kreisen um die Möglichkeit, krisenhaft erfahrene Zustände, psychische und physische Krankheitssymptome zu artikulieren und in der sprachlichen Artikulation der tiefgreifenden Krise zu einer neuen „Politik“ des Schreibens zu finden. Die Formel „Politik und Physis“, die Bachmann dafür geprägt hat, meint den Versuch, in möglichst großer Nähe zu primären körperlichen Erfahrungen, zur „Physis“, zu einer anderen „Politik“ des Schreibens zu finden: Was ich unter Politik verstehe, hat sich herangebildet in mir, einem einzelnen, und nun mag das Wort hingeworfen werden zum erstenmal: nicht als Resultat denkender Überlegungen, sondern als eines der Physis. Damit möchte ich sagen: ich habe nicht eines Tages alle möglichen Theorien vorgesagt bekommen, in alle Praktiken Einsicht genommen, um mich für die eine oder andere zu entscheiden, […], sondern auf Grund einer langen umwegigen Geschichte der Physis, das heißt, daß ein im Prozeß befindliches Körperwerk, dessen Tentakel die andren Tentakel des gesellschaftlichen Körpers dauernd berührt, von ihnen abgestoßen und angezogen wird. (Politik und Physis; KS, 373) Politik ist für sie keine abstrakte denkerische Entscheidung, sondern sie resultiert aus der „umwegigen Geschichte der Physis“ eines Ich. So wird die Krankheit per se politisch verstanden, und die Heilung ist ein komplexer Vorgang, der „ein im Prozeß befindliches Körperwerk“ betrifft. Das Schreiben zielt auf die Bewusstwerdung des Verhältnisses von „Politik und Physis“ und es zielt damit auf die Erhellung der unbewusst eingespielten Prozesse. Es geht dabei immer wieder um erste „Schritte“ der Artikulation, die aus den stummen körperlichen Symptomen hinausführen, es geht um die Wendung nach außen, um die Gebärde oder das Wort, das eine Verbindung herstellt zu den Worten anderer Menschen. Zitate, die für sie „das Leben“ sind – „Eben wie Leben“ (GuI, 69), Bachmanns eigensinnige Bestimmung von Intertextualität – verweisen auf diese tiefgreifende Begründung von Lesen und Schreiben, sie zeigt, was es mit dem lebendig machenden Wort auf sich hat und dass einem ein Wort wieder Halt geben kann in der Welt. Ob die Texte von Ich weiß keine bessere Welt Gedichte sind oder NichtGedicht, ob sie als Gedichte geglückt oder gescheitert sind, sie ,doku-
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mentieren‘ die Grundprobleme des Schreibens in einer äußersten persönlichen Ausgesetztheit, in der die Fragen der Kunst eine bestürzende Notwendigkeit erhalten: Was ist es, was einen weiterschreiben und also weiterleben lässt, was ist der kunstferne Weg, der hier beschritten wird und von dem sich die Ästheten und Anwälte des geglückten Gedichts mit Grauen abwenden, weil hier nichts vom „Lebensschlamm“ (Peter Hamm) gereinigt ist, ein Skandal, dem man sich besser nicht aussetzt? Das Wort vom „kunstfernen Weg“ kannte Bachmann aus Paul Celans Brief vom 21. September 1963, in welchem er ihr schrieb, er habe erfahren, dass es ihr „gar nicht gut gegangen sei“ und dass sie „eben erst wieder aus dem Krankenhaus zurück“ sei. Er habe selbst ein „paar nicht ganz erfreuliche Jahre hinter“ sich – „wie man so sagt“. Sein Gedichtband „Die Niemandsrose“ habe Verschiedenes davon „mit einverwoben“: „ich bin mitunter, denn das war so gut wie vorgeschrieben, einen recht ,kunstfernen‘ Weg gegangen. Das Dokument einer Krise, wenn du willst – aber was wäre Dichtung, wenn sie nicht auch das wäre, und zwar radikal?“7 In ihren ersten Entwürfen zur Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle (TKA I, 174) hat Bachmann Celans Formulierung als Forderung für ihr Schreiben übernommen: „lasst uns auf dem Kopf stehen, auf einem kunstfernen Weg, der einmal einmünden kann, dort wo wieder Kunst kommt.“ Sie skizzierte damals, 1964, in der Auseinandersetzung mit Büchners Lenz-Novelle – es ist auch die Zeit der Arbeit am Romansujet von Franzas „Reise durch eine Krankheit“ (TKA II, 77) –, ihre Theorie eines Schreibens, das sich so rückhaltlos wie möglich dem Leidensdruck der Realität aussetzt, um deren destruktive Wirkungen zu erforschen: „Der Wahnsinn, die Nerven, das sind die sichtbaren Niederlagen in einer total gesunden Welt, in der die Mörder das Alibi erbringen können für die Zeit des Mords“, liest man in den Entwürfen zur Büchner-Preis-Rede: „es sind also die Kranken [auf] die zu zählen ist und denen das Gefühl für Unrecht und Ungeheuerlichkeit noch nicht abhanden gekommen ist.“ (TKA I, 175) In den Skizzen zu einer Lesung aus dem Manuskript für ihr „Wüstenbuch“ spricht die Autorin von zwei Komponenten, von welchen die Erzählsituation dieses Buchs bestimmt sei: auf der einen Seite „von einem Delirium, von einer Krankheit, könnte man sagen, von schlechten Träumen“; auf der anderen Seite, „kontrapunktisch“, wie sie sagt, von einem „Ich, dem zuzutrauen ist, daß es sich auf einer Reise befindet, vielleicht 7 Paul Celan an Ingeborg Bachmann, Paris, den 21. September 1963, in: Herzzeit, a. a. O., 158 f.
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weniger auf einer Reise als auf einem Weg der Heilung und in der Unmöglichkeit, verordnete Eindrücke zu haben“.8 In dieser Erzähl-Konstruktion – ein Ich-Teil, der sich der Krankheit, dem Delirium, den Albträumen aussetzt, und ein kontrapunktischer Ich-Teil, der sich „auf dem Weg der Heilung“ befindet und einer neuen, nicht ,verordneten‘ Wahrnehmung folgt – könnte man auch die Grundstruktur vieler BachmannGedichte wiederfinden, und nicht zuletzt die der Gedichte von Ich weiß keine bessere Welt. In der Kontrapunktik von Krankheitszustand und Suche nach einem Weg, der herausführt, zeigen uns die Gedichte Grundimpulse des Schreibens, die zugleich Lebensimpulse sind. So hoffnungslos und verzweifelt und von aller Hilfe verlassen sich dieses Ich darstellt, es hat begonnen, sich in der Sprache nach außen zu wenden, in der eigenen Krankheit etwas Allgemeines, Politisches mitzudenken, allein schon dadurch, dass in den sprachlichen Formulierungen auf andere literarische Texte hingehört, oder, wie in Eintritt in die Partei, eine Politik des Widerstands in Erinnerung gerufen wird. So könnte man die „Politik“ dieser Gedichte darin sehen, dass sie die Literatur in tiefgreifenden Lebens- und Überlebensprozessen verankern und die „Physis“ zum Ausgangspunkt des Schreibens nehmen. Das ist auch der erste Eindruck der Lektüre der Gedichte von Ich weiß keine bessere Welt: die elementare Realität der menschlichen „Physis“, die Unmittelbarkeit des Leidens und der Affekte, und, genauso radikal, die primärprozesshafte Artikulation einer kritischen „Politik“. Wenige andere Texte Bachmanns sind so unmittelbar politisch, als wäre hier die Radikalität der analytischen Moderne in einer extremen Krisensituation neu zurück erobert worden. Der sich durchgängig aufdrängende Eindruck der politischen Radikalität dieser Texte dürfte die Herausgeber dazu gebracht haben, das Gedicht Eintritt in die Partei an den Beginn der edierten Texte zu stellen, in welchem es um eine „unverordnete“ Politik geht, welche die individuelle Opfer-Existenz übersteigt. IV. Das Gedicht Eintritt in die Partei gehört zeitlich in den Zusammenhang von Bachmanns Studien zum Verhältnis von Krankheit und Schreiben, mit denen sie sich auf die Büchner-Preis-Rede im Herbst 1964 vorbereitete. Es ist besonders erhellend im Hinblick auf die Frage des Verhältnisses von „Politik und Physis“, das ich, in Anlehnung an 8 Die Herausgeber des Todesarten-Projekts ordnen diese Varianten als Textstufe II: Berlin und die Wüste den Vorarbeiten zur Büchner-Preis-Rede Ein Ort für Zufälle (TKA I, 175) zu.
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eine Formulierung von Jean Améry, als ,Revolte in der Krankheit‘ bezeichnen möchte. Ist denn ein Mensch nichts unter Brüdern wert? Verleumdet und bespien, verhöhnt, verlästert, wer weiß es nicht, für eine Guttat, die sich nicht beweist. Die Ehre, verkauft an jedem Stammtisch. In aller Mund als eine dreckige Anekdote. Das Unmaß eines Gefühls ermordet von geschäftiger Nutznießerei. Mit der Aufstellung der Einnahmen Beschäftigt die Skrupellosigkeit. Ein Leben, ein einziges, zum Experiment gemacht. So ists gelungen. Vollbracht. Auch das Kaninchen, im Labor, aufgedunsen, das sein Fell läßt nach dem Versuch, auch die Ratte, abgespritzt, ohnmächtig wird den Arm ihres Mörders nicht zerfleischen. Auch die Fliege, gegen die eine Flitspitze sich richtet, die Mücken, die eine Charta der Mückenrechte noch nicht in Anspruch nehmen sind meine Genossen. Ich nehme in Anspruch meine Wenigkeit. Wenn aber Gott Fleisch geworden ist und ins Reagenzglas kommt und Farbe bekennt, wenn er die Liebe sein sollte und ich zweifle, daß etwas sein könnte von dieser Art, wird mich das trösten. Ich weiß, daß man die Opfer zwingen muß, zueinander, ohne Vereinbarung noch. Fliegenart will ein paar Tage, der Paria einen Blick in den Kastenschlitz, die Ratte, die Ich, die gänzlich Erniedrigten, wollen die Rache, eh sie geschändet sterben – wollen ein Wort des Bedauerns. Die Kommune verzichtet. Das Kapital einer zinsentragenden Grausamkeit
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steht gegen das Kapital eines abnehmenden Schmerzes. Diese Gesellschaft richtet sich dennoch selbst. Sterben ist es nicht, Aufstehen ist das Wort. Ohne Verständnis für die Ausbeutung diese Ausbeutung beenden. Es komme die Revolution. Es komme, so mag es denn kommen. Ich zweifle. Aber es komme die Revolution. auch von meinem Herzen, (KBW, 9–10)9 Die verzweifelte Frage im ersten Vers – „Ist denn ein Mensch nichts unter Brüdern wert?“ – thematisiert das kapitalistische Wertgesetz, das sich als eines der bestimmenden Wortfelder durch das fragmentarische Gedicht zieht. Der Ausdruck „unter Brüdern“ ruft eine Formulierung aus Robert Musils Isis und Osiris in Erinnerung – „Aller hundert Brüder dieser eine“10 –, die in Bachmanns Franza-Roman leitmotivische Funktion erhält. Hier, in Eintritt in die Partei, verweist der Ausdruck auf die Leitidee der Brüderlichkeit in den religiösen und politischen Utopien von der frühchristlichen Antike bis heute. Durchgängig werden im Gedicht der nackte, geschundene Mensch, der „Homo sacer“, wie man mit Giogio Agamben sagen könnte, und seine Mitgeschöpfe als Objekt des kapitalistischen Wertgesetzes und der instrumentellen Vernunft dargestellt. Neben dem kapitalistischen Wertgesetz ist es das „Experiment“, das als Paradigma einer inhumanen Rationalität vorgeführt wird, die die Kreatur schändet: „Ein Leben, ein einziges, zum Experiment / gemacht. So ists gelungen. Vollbracht.“ Die Textsplitter der Passionsgeschichte – „Verleumdet und bespien, verhöhnt, verlästert“ und, in der dritten Strophe, „Vollbracht“ – erinnern an das paradigmatische Opfer des Jesus von Nazareth, auf das sich so viele Aufstände und politische Bewegungen berufen haben. Aber im Gedicht entspringt daraus kein Trost – „Wenn aber Gott Fleisch geworden ist / und ins Reagenzglas kommt und Farbe / bekennt, […] / wird mich das wenig trösten“ –, eher ist es den Menschen aufgegeben, Gott gemeinsam mit den gequälten Kreaturen, den „Genossen“ des Ich, zu befreien. 9 Der Edition liegen Ts. Bl. 308 u. 276 aus dem Nachlass zugrunde. Der erste Vers auf Bl. 276 ist der letzte Vers der sechsten Strophe. 10 Robert Musil, Isis und Osiris, in: Ders., Prosa, Dramen, späte Briefe, hrsg. von Adolf Frisé, Hamburg 1957, 597.
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Mit dem Wertgesetz und mit dem Experiment spricht das Ich im Gedicht nicht nur die zentralen Paradigmen der instrumentellen Vernunft der Moderne an, sondern es erinnert auch an den literarischen und politischen Widerstand dagegen. Im Kontext ihrer Vorbereitung zur Büchnerpreis-Rede ist vor allem an Büchner zu denken, den revolutionären Dichter der Kreatur, wie ihn Paul Celan genannt hat. Bachmann radikalisiert in ihrem Gedicht Büchners Kritik der instrumentellen wissenschaftlichen Rationalität des Experiments, von der Woyzeck in seinem gleichnamigen Stück in die Krankheit getrieben wird. Sie greift damit eine ungewöhnliche kritische Tradition auf, die über Walter Benjamins Aktualisierung des Kreatur-Begriffs im Trauerspiel-Buch und über Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung bis zu Giorgio Agambens philosophischer Analyse der Experimente in den NS-Vernichtungslagern in Homo sacer führt.11 Bachmann dürfte sich durch die Studien zu ihrer Person, die Max Frisch für seinen Gantenbein-Roman anstellte, selbst als Objekt eines wissenschaftlichen Experiments gesehen haben. Aber der Text zeigt, wie ein zutiefst verletztes Ich fähig ist, die biographische Verletzung zu verwandeln in eine literarisch-politische Auseinandersetzung mit einer Welt, die dringend verändert werden muss. Jeder einzelne sprachliche Ausdruck protestiert gegen die beschämende Qual, die der Kreatur bereitet wird, die Dynamik des Gedichts drängt auf politisches Bewusstsein und Handlungsfähigkeit, die imstande wären, diese Leiden, „diese Ausbeutung / zu beenden.“ Die „Dialektik der Aufklärung“ wird hier, von einem krisenhaft erschütterten Ich, im Augenblick größter Gefahr, noch einmal gedacht, so dass sich die Formulierungen bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno wie ein Kommentar zum Gedicht lesen: Daß sie [die Behavioristen] auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zu11 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt/Main 2002.
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nutze macht. […] Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier, aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zu Flucht, die ihm abgeschnitten ist.12 Und doch kann das Gedicht nicht vom philosophischen Kommentar eingeholt werden, weil in ihm auch die Wut und die Scham über diesen Zustand in den sprachlichen Ausdruck eingegangen sind und das Drängen nach Möglichkeiten der Veränderung, das die eigene Hilflosigkeit erfährt und sich auch „mit den Worten“ nicht mehr „zu helfen“ weiß (Keine Delikatessen). Und hilflos und verlassen wirken auch die aufgerufenen Shibboleths revolutionärer Losungen, die sich im Gedicht nirgends über die sterbliche und quälbare „Physis“ hinwegsetzen. „Sterben ist es nicht, Aufstehen / ist das Wort. Ohne Verständnis / für die Ausbeutung diese Ausbeutung / beenden. Es komme die Revolution.“ Das Gedicht denkt im Aufstand das „Aufstehen“ des Kranken mit, und in der Revolution das Wissen um das mögliche Scheitern, es bewahrt sich den Zweifel noch in der messianischen Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung: „Es komme, so mag es denn kommen. / Ich zweifle. Aber es komme / die Revolution. auch von meinem Herzen,“. Die in Eintritt in die Partei angesprochene Politik, welche die für Schmerzen anfällige, sterbliche Physis kennt, hat Ingeborg Bachmann sogar in einem anderen Gedicht als ihre Idee der italienischen kommunistischen Partei bezeichnet.13 In allen Überlegungen zum eingreifenden Handeln ist bei Bachmann auch die Frage des Opfers gegenwärtig, die Problematik, die nie aufhörte, sie zu beschäftigen, ob und wie aus dem Opfer-Status auszubrechen wäre. Die Verse am Beginn der sechsten Strophe – „Ich weiß, daß man die Opfer zwingen muß, / zueinander, ohne Vereinbarung noch“ – gehören in den Zusammenhang dieses widersprüchlichen, in ihrem Werk immer wieder neu aufgegriffenen Opfer-Diskurses. Er nimmt im Gedicht Eintritt in die Partei eine ungewöhnlich radikale, aktivistische Richtung und trifft 12 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1988, 262. 13 Ingeborg Bachmann: Die ital. Kommunisten, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 81 (2003), Sonderband: Ingeborg Bachmann, 134 f. Die zweite Strophe von Die ital. Kommunisten beginnt mit den Versen: „Sie vergessen nicht, wenn / es um Veränderung geht, daß es / noch Dinge gibt, die nicht / leichter davon werden, sie / vergessen nicht, was da ist und / leidet unter uns, Liebe Schönheit, / Reinheit, […]“.
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sich darin mit der Forderung, aus der „Moral der Opfer“ auszubrechen, die geradezu blasphemisch im Titelgedicht Ich weiß keine bessere Welt erhoben wird: Ich weiß keine bessere Welt. Die schwachsinnige Moral der Opfer läßt wenig hoffen. Eine verruchte Frage, auf Ehre, allein, kommt dem Gefolterten, dies Überlebens sich wert zu zeigen, im Angriff, abzulegen die schwachsinnige Moral der Opfer sich zu erheben, […] Auf die verruchten Fragen kommt sie eines Tages, die lautlose, tätige Antwort. (KBW 20)
Isolde Schiffermüller
Schwierigkeiten beim Lesen von Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass Schwierigkeiten beim Lesen von Ingeborg Bachmanns Isolde Schiffermüller Gedichten
1. „Fragen und Scheinfragen“ Die Irritation, ja die Verstörung und Empörung, die die Lektüre von Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass hervorrufen konnte, zeigte sich beispielhaft an den heftigen und kontroversen Reaktionen, die der Band Ich weiß keine bessere Welt in der Presse ausgelöst hat. Wohl selten wurden Gedichte zum Anlass einer so erregten und erbitterten Debatte, die sich nicht allein – und sicherlich teilweise auch zu Recht – auf die Edition bezog1 und auch nicht bloß die ästhetische Form und Qualität dieser nie autorisierten Verse betraf, grundsätzlicher und radikaler stand vielmehr die Legitimität der Veröffentlichung intimer Aufzeichnungen ebenso wie die Poetizität der publizierten Texte zur Diskussion, deren prosaisch direkte Diktion manche Kritiker am „poetischen Mehrwert“ der Sprache zweifeln ließ. Hauptsächlich ging es also um die Frage, ob es sich hier denn wirklich um Gedichte handle oder nicht vielmehr um die indiskreten Zeugnisse einer „Lebens- wie Schreibkatastrophe“2, in denen „der ungereinigte Lebensschlamm“ (Hamm) an die Öffentlichkeit gezerrt werde, um so den unwilligen Leser in die erbärmliche Rolle des Voyeurs zu zwingen. Starkes Vokabular also war die Reaktion auf eine poetische Sprache, die sich den ersten Kritikern ungeschützt, fassungsund formlos darbot, für die einen enthemmt, peinlich, geschmacklos, be1 Vgl. etwa Ernst Osterkamp, Wer ein Messer im Rücken hat, dem fällt keine gepfefferte Metapher ein, a. a. O. Der Band könne kaum den Anforderungen einer „normalen Leseausgabe“, geschweige denn textkritischen Kriterien genügen. 2 Joachim Kaiser, Dokumente wahnsinnsnaher Verzweiflung. Zur Edition von Ingeborg Bachmanns unveröffentlichten Gedichten aus dem Nachlass, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 230, 6. Oktober 2000, 19.
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klemmend und traurig-banal – dies die Attribute, die in der Tagespresse wiederkehren –, für die anderen umso authentischer und wahrer im Ausdruck einer bitteren und herben Verzweiflung, die hier das Leben ebenso wie die Poesie zu erfassen scheint. Ingeborg Bachmanns „unveröffentlichte Gedichte“, ein Konvolut von Blättern und Notaten, das jahrelang unter Verschluss gehalten wurde, wirkten als Provokation der Literaturkritik. Schwierig zu qualifizieren sind diese Aufzeichnungen aus dem Nachlass, Handschriften und großteils Typoskripte, die im Band erklärtermaßen weder chronologisch noch textkritisch geordnet sind, es sind Fragmente, die oft mitten im Vers abbrechen, Entwürfe und Textvarianten, die einen faszinierenden Fundus für die textgenetische Forschung darstellen können, Material für das Studium einer Poetik des verstörten und verstörenden Schreibens, das zerstörerischen historischen Erfahrungen abgerungen ist.3 Wenn sich die Archive öffnen – wie der Klappentext ankündigt –, mag die Gelassenheit des Philologen die angemessene Haltung sein, um letztlich ein ausgewogenes Urteil anzustreben. Dieser Beitrag will zunächst jedoch das Erregungspotential der Texte aus dem Bachmannschen Nachlass befragen, die Verstörung des Lesers, die symptomatisch anzeigt, dass hier eine Schwelle berührt wird, auf der die Poesie ihre eigene Fragwürdigkeit ins Spiel bringt und ihre Legitimität aufs Spiel setzt. Die viel diskutierte Frage, ob es sich hier um Gedichte oder nur um biografische Aufzeichnungen handle, kann den problematischen Charakter der Nachlassgedichte allerdings kaum erfassen; schief benannt ist deren unauflösbare Ambivalenz in diesem aut aut zwischen Schmerzdokument und Poesie, das lähmend unfruchtbar und letztlich unentscheidbar ist.4 Die gattungstheoretische Alternative, die das lebensgeschichtliche Zeugnis vom poetischen Text unterscheiden will, könnte zu jenen „Scheinfragen“ zählen, die Ingeborg Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen bekanntlich klar getrennt hat von den Fragestellungen, die den Schriftsteller bewegen und die zuallererst „die Rechtfertigung seiner
3 Eine solche Poetik zeigt Hans Höller in seiner textgenetisch kommentierten Ausgabe: Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen, a. a. O. 4 Zum unentscheidbaren Unterschied zwischen Autobiographie und Fiktion vgl. etwa Paul De Mans Autobiographie als Maskenspiel, wo das autobiographische Element als eine Lese- und Verstehensfigur bestimmt wird, die auf keine bestimmte Gattung beschränkt werden kann: Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Christoph Menke, Frankfurt/Main 1993, 131–146.
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Existenz“ (IV, 186) betreffen. Zu Recht wurde die exemplarische Bedeutung der Bachmannschen Poetik für die Standortbestimmung der Nachkriegsliteratur betont5: Insbesondere die Frankfurter Vorlesungen repräsentieren das kulturelle Selbstverständnis der Epoche, das geprägt ist von der gesellschaftlichen Realität des Kalten Kriegs und des Wirtschaftswunders, von der Philosophie des Existentialismus und der kritischen Theorie, von einem Lebensgefühl, das die individuelle Leiderfahrung spiegeln will in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.6 In diesem Kontext findet die Poesie ihre Legitimation vor allem in einem moralischen Engagement, das sich abgrenzt vom Ästhetizismus, in einem Antrieb, den die Bachmann als „einen moralischen vor aller Moral“ (IV, 192) bezeichnet, ihre authentische Beglaubigung aber sucht sie in einer Schmerzerfahrung, in der der romantische Mythos vom gefährdeten Künstler weiterlebt. Ingeborg Bachmanns posthume Lyrik kann als Zeugnis gelesen werden für die Infragestellung solcher Grundsätze und Mythen, die das poetische Selbstverständnis der Nachkriegszeit begründen, als mise en abyme einer radikalen Krise, die die Wurzeln des poetischen Sprechens erfasst, die moralische Legitimation der Dichtung ebenso wie ihre authentische Beglaubigung in der Schmerzerfahrung des Schriftstellers, so wie sie in den Frankfurter Vorlesungen formuliert wurden. Wieweit dies wenn nicht eine Revision, so doch eine Akzentverschiebung oder gar Neubegründung des Schreibens aus der Krankheit bedeutet, bleibt zu untersuchen. Reduktiv wäre es auf jeden Fall, die Bedeutung dieser Texte festzulegen auf ihre biographische Interpretation und damit auf verifizierbare Ereignisse und Personen im Leben der Autorin. Nachzugehen ist hier vielmehr der Frage, ob diese Dokumente einer psychischen Krise und Krankheit auch als Manifest oder zumindest als Ansätze einer neuen Poetik lesbar sind.
5 Vgl. Arturo Larcati, Ingeborg Bachmann und das ,Wunderjahr‘ 1959. Die Frankfurter Vorlesungen im Kontext, in: Treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 5 (2009), 219–239. Allgemein zur Poetik: Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Poetik, Darmstadt 2006. 6 Vgl. Dirk Göttsche, Ingeborg Bachmann und der französische Existenzialismus, in: Cultura tedesca 25 (2004), Sonderband Ingeborg Bachmann, hrsg. von Robert Pichl und Barbara Agnese, 105–118.
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2. „Ich ohne Gewähr“ Die Gedichte, Fragmente, Entwürfe und Textvarianten, die im Band Ich weiß keine bessere Welt versammelt sind, bilden ein Netz von thematischen Konstellationen, in denen ein Grundmotiv wiederkehrt: die Klage um den Verlust der Gedichte, um das Verfehlen des poetischen Wortes, die Bedrohung des lyrischen Ich durch eine Aphasie, die immer wieder ganz explizit und direkt benannt wird: Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln. Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr. Weiß, daß man so nicht daherreden kann, es muß würziger sein, eine gepfefferte Metapher. müßte einem einfallen. Aber mit dem Messer im Rücken. (KBW, 11) Betont werden muss: die Texte sprechen über das Scheitern des poetischen Wortes und über den Verlust der Gedichte, meist im trockenen und prosaischen Tonfall einer unverblümten Feststellung. Ebenso direkt wird der Schmerz angesprochen, der das Überleben des lyrischen Ich bedroht und der ihm seine Stimme raubt, so etwa im Gedicht Die Folter: […] daß ich nie zur Ruh komm, daß das dauert, dieses Eisen im Leib, diese Faust auf dem Schädel, diese Geisel am Rücken […] (KBW, 95) und weiter: […] mich frißt ein größerer Hai ein Raubfisch, der heißt Schmerz. (KBW, 96) Benannt wird ein Schmerz, der keinen Ausdruck und keine Worte mehr hervorbringt, nur hässliche und entstellte „Mundgeburten“ wie es im Gedicht An Ingmar Bergman, der von der Wand weiss heißt: „Ich hab keine Worte mehr / nur Kröten […].“ (KBW, 65) Und dennoch weiß das lyri-
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sche Ich, dass es allein noch in diesem Schmerz am Leben ist, der die Authentizität seiner Worte verbürgen sollte: Das Herz schlägt nicht mehr. Wie wird das enden? Ich bin langweilig geworden und so langsam, und so kalt, daß ich ohne meinen Schmerz nicht mehr am Leben wäre. (KBW, 22) Die Sprachlosigkeit, von der in diesen Versen die Rede ist, ist radikaler noch als jener Verzicht auf die schönen Worte und auf die Effekte der Metapher, der im Gedicht Keine Delikatessen thematisiert wird. Während die poetologischen Gedichte der Spätphase, die 1968 im Kursbuch veröffentlicht wurden, den Scheincharakter der Kunst angreifen, um die Grenze der Sprache und das Schweigen des poetischen Wortes zu erkunden und das Unsagbare lesbar zu machen7, sprechen die Nachlassgedichte von einer Aphasie, die ganz konkret und buchstäblich verstanden werden will: Ich habe nicht geschwiegen, weil Schweigen gut ist schön ist, ich hatte nichts mehr zu sagen (KBW, 71). Viele der abgebrochenen und bruchstückhaften Verse aus dem Nachlass lesen sich als Mimikry an eine verzweifelte Sprachlosigkeit, die sich nur noch stammelnd und formlos äußern kann und keine poetischen Figuren mehr findet, so etwa in den folgenden Zeilen: und bettle und wein, seht ihr’s, aber ich hab nicht die große Musik die abführt einen der den Abgang nicht findet, in den Schlaf, in den Tod. Verklärung – für uns nicht, für die anderen, die Figuren, die sind reiner, (KBW, 72) Diese radikale Aphasie führt nichts ins Schweigen, sie erzeugt paradoxerweise eine obsessive und repetitive Rede, einen permanenten Ausdrucks7 Vgl. die Einleitung von Giorgio Agamben, Il silenzio delle parole, in: Ingeborg Bachmann, In cerca di frasi vere, Rom–Bari 1989, V–XV.
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zwang, der den Mangel füllen will, Worte wie Drogen (Die Drogen, die Worte; KBW, 68–73), denen das lyrische Ich nicht trauen kann. Verdacht lautet der Titel von zwei Gedichtfassungen (KBW, 127–128), die die Gewalt dieses tödlichen Ausdruckszwangs thematisieren, über den auch die folgenden titellosen Verse sprechen: Immerzu in den Worten sein, ob man will oder nicht, Immer am Leben sein, voller Worte ums Leben, als wären die Worte am Leben, als wäre das Leben am Wort. (KBW, 126) Wo sich Wort und Leben trennen, steht das Überleben des lyrischen Ich auf dem Spiel. Bachmanns posthume Gedichte inszenieren die Aporien eines schreibenden Ich, das nicht mehr zur Existenz kommen kann. „Ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd, aus mir herausgefallen, wenn ich nicht schreibe“ (IV, 294) – so Ingeborg Bachmann anlässlich der Verleihung des Wildgans-Preises im Jahr 1972. Schon Jahre vorher hatte sie ihre dritte Frankfurter Vorlesung den Problemen des schreibenden Ich gewidmet, seinem Auftritt in der Dichtung als bloße Diskursinstanz, als rein formales und rhetorisches Ich, dessen Verbindlichkeit in Frage steht, ein „Ich ohne Gewähr“, das die Literatur zum „Versuchsfeld“ seiner „geträumten Identität“ wie seiner „verrückten Entdeckung“ (IV, 218–219) macht. Die Überzeugung, die Ingeborg Bachmann – über die luzide literaturgeschichtliche Analyse hinaus – in ihrer dritten Vorlesung ausspricht, gilt dem Existenzbeweis dieses schreibenden Ich: „Ich möchte beinahe behaupten, dass es kein Roman-Ich, kein Gedicht-Ich gibt, das nicht von der Beweisführung lebt: Ich spreche, also bin ich“. (IV, 225) Nicht das logozentrische cogito ergo sum ist hier gemeint, das der Satz gleichwohl anklingen lässt, sondern die Hoffnung des Schriftstellers, dass das schreibende Ich seinen Triumph haben werde, „heute wie eh und je – als Platzhalter der menschlichen Stimme“ (IV, 237), eine Überzeugung, die einem Glaubensbekenntnis des Schreibenden gleichkommt: „Es ist das Wunder des Ich, daß es, wo immer es spricht, lebt“. (IV, 237) Die Gedichte aus dem Nachlass lesen sich wie ein demento dieses Wunderglaubens, als würde der elementare Existenzbeweis des lyrischen Ich einer radikalen Krise ausgesetzt, als müsste das schreibende Ich seine Selbstberechtigung aufkündigen und zweifeln an seinem Grundsatz „ich spreche, also bin ich“, als bliebe das Verbum sein in diesem verzweifelten Sprechen ohne Resonanz, eine fragile und tonlose Stimme, die sich dem
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Schrei und dem Schluchzen annähert und die vergeblich „Halt an einem Wort“ (IV, 237) sucht. „Erwürgt von Banalitäten“ (KBW, 27) – so heißt es im Fragment Für C. E. – behauptet dieses lyrische Ich seine Stellung am falschen Ort („Nämlich ich / bin, wo ich / nicht sein kann“; KBW, 95) und dennoch klagt es immer wieder sein Recht auf Existenz ein wie in der letzten Strophe des Gedichts Ach: Geh ich, der einer ist und noch sein will ohne Musik, ohne Trotz sein will ich und forthin dauern, nicht zum Trotz, aber trotzdem. (KBW, 26) Aus den zitierten Versen spricht ein heroisches Ich, das sich der Krankheit und der Sprachlosigkeit zum Trotz zu Wort meldet und moralisch behaupten will. Dieser Heroismus des schreibenden Ich, der die Sprechhaltung vieler Gedichte aus dem Nachlass kennzeichnet und in diesen gleichsam nackt zu Tage tritt, wird bereits in den Frankfurter Vorlesungen explizit angesprochen als ein konstitutives Element der Bachmannschen Poetik. Selbst dem Beckettschen Namenlosen, der sich von der Sippschaft der Menschen ins Gemurmel der Tonne zurückgezogen hat, will die Bachmann dieses Heldentum andichten: „noch immer ein Held, der Held Ich, mit seinem Heroismus von jeher“. (IV, 236) Nicht die Suspension der Identität oder ihr Zugrundegehen im poetischen Sprechen, sondern die heroische Selbstbehauptung scheint in den posthumen Gedichten der Grundgestus des schreibenden Ich zu sein; dieses spaltet sich auf in ein vom Schmerz zerstörtes und ein intellektuell starkes Ich, das die Aphasie der Emotionen souverän mit seinem poetologischen Bewusstsein beantworten kann. Die meta-poetische Reflexion ist integraler Bestandteil der Bachmannschen Gedichte, die insofern auch die germanistische „Zunft“ ansprechen, von der sich Dichter wie Paul Celan ganz bewusst fernhalten wollen.8 Das Ich als Diskursinstanz eines meta-poetischen Sprechens fällt in diesen Texten ein schonungsloses Ur8 Im Brief vom 10. 8. 1959 äußert Celan Bachmann gegenüber diese Bedenken gegen das Theoretisieren über Literatur: Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit, a. a. O., 119. Vgl. dazu: Arturo Larcati, Ingeborg Bachmann und das ,Wunderjahr‘ 1959, a. a. O., 222.
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teil über das Scheitern des poetischen Wortes. Eine unentscheidbare Ambivalenz scheint jedoch selbst dieses Scheitern zu betreffen, denn schwierig zu beantworten ist die Frage, wie der Verlust und das Verfehlen der Poesie, das in den Gedichten aus dem Nachlass geradezu zwanghaft benannt wird, zu lesen ist. Als Thema und Reflexion über das Ende der Poesie, als „Paradox eines kunstfernen Wegs“9, der sich in die Richtung einer neuen Poetik bewegt oder als Symptom und Diagnose einer Krankheit, die auch das poetische Sprechen erfasst und die Dichtung letztlich scheitern lässt?
3. „vivere ardendo e non sentire il male“ Über das Ende der Poesie schreibt Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Vorlesungen: „Denn wenn man über das ,Ende der Dichtung‘ zu reden anfängt, eine solche Möglichkeit schwelgerisch oder gehässig erwägt, als wäre es die Dichtung selbst, die zu Ende gehen wollte, oder als wäre dieses Ende ihr letztes Thema, so kann man nicht außer acht lassen, wo eine der Voraussetzungen dazu immer gelegen hat. In den Dichtern selbst, in ihrem Schmerz über ihre Unzulänglichkeit, in ihren Schuldgefühlen.“ (IV, 187) Die Lyrik der Bachmann sucht – so wird auch aus ihren theoretischen Stellungnahmen deutlich10 – ihre authentische Beglaubigung in einer extremen Lebens- und Leiderfahrung des Schreibenden, die posthumen Gedichte zeigen allerdings gerade in dieser Hinsicht ein eigenartiges Doppelgesicht. Hart, direkt, schonungslos meldet sich in ihnen einerseits eine Verzweiflung zu Wort, die vergeblich um ihren poetischen Ausdruck ringt, andererseits aber stellt das lyrische Ich seinen Schmerz immer wieder in rhetorischen Formeln emphatisch zur Schau. Ein melodramatischer Gestus charakterisiert viele dieser Verse, in denen sich das lyrische Ich zum Protagonisten eines Schauspiels macht, das den Blick der anderen auf sich ziehen will. Leitmotivisch wiederholt sich in vielen Gedichten der Appell „Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht!“, in dem die Worte aus der Wagnerschen Oper Tristan und Isolde anklingen: 9 So Hans Höller in: Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, a. a. O., 92. Der Ausdruck stammt von Paul Celan in einem Brief vom 21. September 1963 an Ingeborg Bachmann, in: Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit, a. a. O., 158. 10 Abgesehen von den Frankfurter Vorlesungen vgl. im Besonderen die Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. (IV, 275–277)
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Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht! daß ichs nicht überlebt auch nicht überstanden habe, seht ihrs nicht, (KBW, 115) Im Finale des Wagnerschen Dramas meint das „Seht ihr, Freunde!“ die Vision des Geliebten, die im Liebestod der Isolde aus der Einbildungskraft des Gefühls erstrahlt, in Bachmanns Versen ohne Tristan ist die Figur des anderen abwesend, die pathetische Gebärde bleibt gleichsam leer, ein rhetorischer Gestus des Ich, das sich zum Schauspieler und Regisseur eines Dramas macht, in dem nichts anderes als die eigenen tribula mortis ausgetragen werden. Die Überlebensstrategie des lyrischen Ich, das sich in die exhibitionistische Ausstellung des Leidens rettet, trägt einen hysterisch-theatralischen Zug11, sprachloser Schmerz und pathetische Rhetorik verschränken und verwirren sich in diesem Melodrama der Leidenschaft, das sich als Debakel der Ausdruckskunst liest. Im Schauspiel des Ecce artista kann das lyrische Ich die verschiedensten Rollen interpretieren: Es kann die großen Gesten der Oper vorführen und dabei die Gewänder von Tosca oder Isolde tragen, es kann sich identifizieren mit den Figuren des gefährdeten Dichters, mit dem Propheten oder mit dem Dichter im Wahnsinn wie Hölderlin, es kann sich der Topoi der literarischen Tradition bedienen, die Celan, Benn oder Büchner bereitgestellt haben. Ein ganzes Repertoire von literarischen Formeln und Figuren wird in den Nachlass-Gedichten von Ingeborg Bachmann zitiert. Die Intertextualität als distinktiver Zug ihrer Lyrik, der die Kritiker von Beginn an intensiv beschäftigt hat12, scheint frühe und späte Gedichte zu verbinden, die posthume Lyrik zeigt allerdings auch in dieser Hinsicht ein eigentümliches und zwiespältiges Gesicht: Ihre intertextuelle Vernetzung geht aus keinem souveränen Spiel mit den Texten der Tradition hervor, über die der Autor als poeta doctus verfügt, in ihr scheint sich die Sprache auch nicht so sehr (oder nicht allein) auf eine polyphone Mehrstimmigkeit zu öffnen, auf literarische Korrespondenzen und Affinitäten, die Texte vermitteln vielmehr den Eindruck, als zeugten sie von einer Heimsuchung 11 Ein Zug, der von einigen Kritikern bemerkt worden ist. Vgl. Klaus Amann, „Denn ich habe zu schreiben. Und über den Rest hat man zu schweigen“. Ingeborg Bachmann und die literarische Öffentlichkeit, Klagenfurt– Celovec 1997, 36 f. 12 Vgl. zur Intertextualität im Gesamtwerk: Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“. Intertextualität im dichterischen Werk Ingeborg Bachmanns, Tübingen 2002.
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der Sprache durch fremde Stimmen und kollektive Formeln. Oft wirken die Zitate wie eine Flucht ins fremde Idiom, in Fremdsprachen wie das Italienische oder das Spanische, die nach eigenen Worten wie „auf einer alten gestohlenen Platte“ (KBW, 11) klingen. Nimmt man das Bekenntnis der Bachmann ernst – „Es gibt für mich keine Zitate, sondern die wenigen Stellen in der Literatur, die mich aufgeregt haben, sind für mich das Leben“ (GuI, 69) – so scheint aus den Worten der anderen, die die posthumen Gedichte zitieren, oft ein falsches, ein ausgeliehenes oder gestohlenes Leben zu sprechen. Die Faszination durch das Pathos fremder Worte prägt auch die Sprache der Leidenschaft, die sich hier als authentisch weibliche ausgibt. Claudia Albrecht hat am Romanfragment Das Buch Franza gezeigt, wie sich die Leidenschaft der Protagonistin nach dem Modell der Koloniallegenden formt und wie sie vom Fundus kollektiver Phantasien zehrt, von einem Kolonialismus, der die „Geschichte im Ich“ (IV, 230) besetzt und die Imagination unterwandert bis in die entlegenen Winkel der österreichischen Provinz hinein: „Sire, this village is yours“13, so beispielhaft der Satz, mit dem Franza nach dem Krieg sich selbst und ihr Land dem englischen Soldaten zu Füßen legt. Ironische oder kritische Distanz wäre angesagt gegenüber der Erotisierung des Machthabers, die so charakteristisch ist für die Bachmannsche Sprache der Leidenschaft und diese kennzeichnet mit einem unauflöslichen Doppelgesicht: einerseits hysterischer Schatten kollektiver Machtstrukturen, andererseits Vehikel des weiblichen Wunsches, dem Repräsentanten der Macht das Gesicht der Liebe zu verleihen. Dieses Begehren, die Macht, ja die Gewalt des anderen in Liebe zu verwandeln, inspiriert den Eros ihrer poetischen Sprache.14 In den Gedichten aus dem Nachlass muss die erotische Inspiration der Sprache jedoch an eine Fürsprecherin, an die wahre Dichterin Gaspara Stampa delegiert werden. Die fremd faszinierende Diktion ihrer Verse – „vivere ardendo e non sentire il male“ – wird zum Motto einer Reihe von Gedichten und damit zum Leitstern einer Leidenschaft, die im poetischen Sprechen die Leiden der sexuellen Differenz überwinden soll: 13 Monika Albrecht, „Sire, this village is yours“. Ingeborg Bachmanns Romanfragment Das Buch Franza aus postkolonialer Sicht, in: Cultura tedesca 25 (2004), a. a. O., 167–178. 14 Über die Liebe als Prüfstein der poetischen Sprache in psychoanalytischer Sicht vgl. Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe. Aus dem Französischen von Dieter Hornig und Wolfram Bayer, Frankfurt/Main 1989 (Originaltitel: Histoires d’amour, Paris 1983).
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Alla più umile, alla più umana, alla più sofferente (KBW, 116), so der Titel eines dieser Gedichte, in dem sich das lyrische Ich dem Schlaf hingibt, während es die poetessa des Cinquecento als „Genie der Liebe“ anruft: Und sie lebt für mich, sie weiß zu leben, leidets für mich, wird verhöhnt, geschmäht, verstoßen und verdammt, sie leidet es. (KBW, 116) Rainer Maria Rilke zählte Gaspara Stampa bekanntlich im Malte zu den „gewaltigen Liebenden“, die „während sie ihn riefen, den Mann überstanden, die über ihn hinauswuchsen, wenn er nicht wiederkam“.15 Tief eingeprägt hat sich dem germanistischen Gedächtnis, das auch der Bachmann nur allzu präsent ist, die pathetische Mahnung der Ersten Duineser Elegie: „Ist es nicht Zeit, dass wir liebend / uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehen.“16 Gemessen an dieser Hoffnung lesen sich die Gedichte aus dem Nachlass wie das Zeugnis eines verzweifelten Werbens: „um jeden werb ich / und keinen gewinn ich“ (KBW, 25), so heißt es im Gedicht Werbung. Hier wie auch in anderen Versen, die vom Ausbleiben der Inspiration sprechen, verfällt das poetische Sprechen ins Weinen, Jammern und Betteln, um immer wieder nur die eine Klage zu erneuern: „daß / nicht und niemals, nie es ihn bewegt“ (KBW, 121). Reduktiv und banal wäre eine bloß biographische Interpretation, die den kalten und unbeweglichen Anderen mit dem ehemaligen Lebensgefährten Max Frisch identifizierte oder die Aphasie der Gefühle als Element einer psychischen Krankheit der Autorin diagnostizierte. Was auch für den Leser kalt bleibt, ist der Eros der poetischen Sprache, ein symbolischer Anderer, der das Wort beleben, erwärmen und erneuern könnte. Ingeborg Bachmanns sprachliche Leidenschaft gerät so in den posthumen Gedichten zur Mimikry an die Sprache der Gewalt, die sie aus der Welt schaffen will. Zerstört, rachsüchtig und krank vor Hass („Der Haß hat mich krank gemacht, / ich bin entstellt“; KBW, 115) begibt sich das lyrische Ich in Feindeshand (KBW, 139) 15 Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Ders., Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, Frankfurt/Main 1966, Bd. VI, 833. Vgl. den Beitrag von Barbara Agnese, „Qual nova salamandra al mondo“. Zu einigen Motiven aus der italienischen Literatur in Ingeborg Bachmanns Werk, in: Cultura tedesca 25 (2004), a. a. O., 29–46. 16 Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, in: Ders., Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 1, 687.
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und wohnt der Höllenfahrt des poetischen Eros bei. Die Macht des anderen, an den es sein Begehren richtet, pervertiert zur sadistischen Instanz, die das weibliche Ich nur quälen, vernichten und zum Objekt degradieren kann. Dass sich in diesem Drama der Selbstzerstörung, das die Gedichte in Szene setzen, der geliebte und zugleich verhasste Mörder kaum identifizieren lässt, zeigt beispielsweise das Gedicht Un altra notte ancora senza vederlo, dessen Titel wiederum in der Fremdsprache gehalten ist und das mit folgenden Zeilen beginnt: Daß keiner meiner Schmerzen ihn beweget (der Himmel, nein vom Himmel red ich nie, also von ihm, da doch vom Himmel nicht) daß nichts und nichts und alles ihn nie bewegt, (KBW, 123) Die dritte Person, die diese Verse ansprechen, oszilliert und changiert wie der Pol einer psychischen Projektion, abwechselnd scheint der andere ein männlicher Abgott zu sein, der sich als kalter und sadistischer Vertreter der sexuellen Differenz erweist oder er ist eine gleichsam vertikale Alterität, die als Himmel benannt und zugleich negiert wird, wie um den fehlenden höheren Auftrag der Dichtung zu bestätigen. Besonders deutlich tritt schließlich in diesem Gedicht der aggressive und destruktive Impetus in den Vordergrund, der die Grammatik der Verse zerbricht und ihre Form in Fragmente zerstückelt: Das Gedicht schließt mit einer gedrängten Folge von Partizipien, die kein Subjekt mehr zulassen und so die Objektivierung und Zerstörung des Ich unwiderruflich festschreiben. Buchstäblich, roh und direkt, ohne jedes lyrische Pathos, wird das objektivierte Ich in dieser brutalen Sequenz festgenagelt bis zum unvermittelten Abbruch des Gedichts: … ich gesotten, [ge]braten und verbrannt gefoltert, gemordet, [er]drosselt und erwürgt, es hat ihn nie bewegt, (KBW, 123)
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4. „Ich weiß keine bessere Welt“ Der aggressive und selbstdestruktive Gestus, der aus den Fragmenten, Entwürfen und abgebrochenen Versen spricht, scheint die Sprache der posthumen Gedichte zu beherrschen und wie ein Virus zu infizieren. Kann diese stigmatisierte poetische Sprache – im Unterschied zu den frühen Gedichten – noch als Anklage und als moralischer Appell wirken? Oder liest sich ihre Klage nicht vielmehr als verzweifelte Mimesis an die Gewalt, als unfreiwilliges und dennoch bewusstes intimes Bekenntnis, dass keine andere Welt und kein anderes Sprechen möglich sind? In Frage steht hier eine der Grundlagen der Bachmannschen Poetik, die ihre Rechtfertigung im moralischen Antrieb des Schriftstellers und in der Utopie einer neuen Sprache sucht. Das lyrische Ich, das in den frühen Gedichten der Bachmann diesen Auftrag vertreten kann, dankt hier gewissermaßen ab und identifiziert sich selbst nur noch mit der Rolle des Opfers. Die Identifikation mit der Opferrolle, ja die Opfermythologie des weiblichen Ich stellt sicherlich einen der problematischsten Aspekte der Gedichte aus dem Nachlass dar. Sie zitieren ein ganzes Repertoire von Leidensformen herbei, Ikonen, Topoi und Figuren des Schmerzes, vom Kreuz Christi bis zu Büchners gottloser geschändeter Kreatur, von den Gaskammern über die schrecklichsten Formen physischer Tortur bis zum kalten Laboratorium des Tierversuchs, beispielsweise im Gedicht Eintritt in die Partei: Auch das Kaninchen, im Labor, aufgedunsen, das sein Fell läßt nach dem Versuch, auch die Ratte, abgespritzt, ohnmächtig wird den Arm ihres Mörders nicht zerfleischen. Auch die Fliege, gegen die eine Flitspitze sich richtet, die Mücken, die eine Charta der Mückenrechte noch nicht in Anspruch nehmen sind meine Genossen. (KBW, 9) Können diese Figuren der Ohnmacht, die das Ich zu seinen kreatürlichen Genossen erklärt, als „Pathosformeln“ bezeichnet werden, in denen das lyrische Ich seinen Schmerz benennt und erkennt? Eher schon geht es um ein Manifest, um eine Programmankündigung, wie der Titel des Gedichts nahe legt, das den Band eröffnet. „Die Ich, die gänzlich Erniedrigten, wollen / die Rache, eh sie geschändet sterben“ – so heißt es zur Identifika-
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tion des Ich mit den Opfern und weiter: „Ich weiß, dass man die Opfer hier zwingen muß, zueinander“ (KBW, 9). Was die Genossenschaft der erniedrigten Kreaturen verbindet, kann keine „Vereinbarung“ sein, nur die ohnmächtige Wut und die Rachsucht, die dem Ich seine menschliche Sprache raubt und eine einzige „verruchte Frage“ übrig lässt, „ob dies Geröchel noch / Werbung ist, für die schwachsinnige Moral / der Opfer“ (KBW, 20). Auf das Opfer darf keiner sich berufen – so heißt es in einem kurzen Prosaentwurf aus dem Nachlass, in dem diese Feststellung auch begründet wird: „[…] weil der geopferte Mensch nichts ergibt. Es ist nicht wahr, daß die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Poetisierungen.“ (IV, 335) Im zitierten Prosastück konfrontiert sich die Bachmann mit dem Missbrauch der Opfer und mit einem Diskurs, der die Epoche nach dem Krieg bestimmt hat und weit ins Denken unserer Zeit hineinreicht. Insbesondere in der unmittelbaren Nachkriegszeit kann „der Mensch, der nicht Opfer ist“ nur die „zwielichtige Existenz par excellence“ (IV, 335) darstellen, denn er muss zu den Tätern zählen. Mit der Zeugenschaft der Opfer steht in den posthumen Gedichten allerdings auch die Existenzberechtigung des lyrischen Ich auf dem Spiel, das sich selbst nur in der Opferrolle identifizieren kann und das dennoch weiterhin hofft: „[…] dies Überlebens / sich wert zu zeigen, im Angriff, abzulegen / die schwachsinnige Moral / der Opfer.“ (KBW, 20)17 Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass zeugen keineswegs für die Opfer, ihre Bedeutung liegt vielmehr darin, dass sie Zeugenschaft ablegen vom Zerbrechen eines Diskurses, der das Denken der deutschen Nachkriegskultur bis heute geprägt hat. Aus dem zynischen Wissen, dass das „Geröchel“ des Schmerzes nur zur Werbung geraten kann für die dumme und irrsinnige Moral der Nachkriegszeit18, spricht jedoch eine Verzweiflung, die dem ganzen Gedichtband den Titel gibt: Ich weiß keine bessere Welt – dieser Satz liest sich wie eine Sentenz, die das Ich über seine Zeit und ihre Utopie der poetischen Sprache spricht, denn – so die Motivation im folgenden Vers: „Die schwachsinnige Moral der Opfer läßt wenig hoffen.“ (KBW, 20) 17 Aus Versen wie diesen könnte man die programmatische Absicht ablesen, „den eigenen Körper in den Kampf (zu) werfen“, vgl. Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Poetik, a. a. O., 129–149. 18 Das Thema wird auch in der Erzählung Unter Mördern und Irren behandelt, vgl. Marie Luise Wandruszka, Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt unter Mördern und Irren, in: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft XXXVIII (2007), 1. Halbband, 55–66.
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In den posthumen Gedichten der Bachmann meldet sich ein schreibendes Ich zu Wort, das seinen Schmerz zwar spiegeln möchte in allen Figuren der Vernichtung, das zugleich jedoch weiß, dass sich die ganz persönliche Krankheit nicht stilisieren lässt zum universalen Symbol: „[…] und die Leiden sind nicht die großen […]. / Die Kranken wissen, / daß […] ein Grasgewimmer der Welt schon das Herz umdreht im Leib“ (KBW, 68), sie wissen, dass die großen Leidensfiguren der Geschichte den alltäglichen Qualen im Krankenzimmer der Gloriastraße (KBW, 58) fremd bleiben: Wie soll einer allein soviel erleiden können, soviele Deportationen, soviel Staub, sooft hinabgestoßen sooft gehäutet, lebendig verbrannt, sooft geschunden, erschossen, vergast, wie soll einer sich hinhalten in eine Raserei die ihm fremd ist und der heult über eine erschlagene Fliege. (KBW, 60) Hier spricht „einer“ für eine, die sich hinter dem schreibenden Ich verbirgt; weder gläubige Christin noch Jüdin ist es eine, die sich bewusst ist, dass ihre Verzweiflung, das Heulen „über eine erschlagene Fliege“, nichts Exemplarisches hat, die weiß, dass sie heimgesucht wird von der Krankheit: heimgesucht von jeder Nadelspitze, jeder Würgspur, jedem Druckmal, ganz ein Körper, auf dem die Geschichte und nicht die eigene, ausgetragen wird, (KBW, 60) Krankheit, das ist ein Schmerz, der nicht zur Erfahrung wird und den auch der Schriftsteller nicht „wahrmachen“ (IV, 275) kann, insofern er sich der Vermittlung zwischen Literatur und Leben entzieht. Nur symptomatisch schreibt sich in den Körper die fremde Geschichte ein. Der kolonisierte Körper als Schlachtfeld einer kollektiven Geschichte gibt keine „Geschichte im Ich“ mehr zu lesen, eher schon eine Erzählung, die im unpersönlichen und unbewussten Freudschen Es beheimatet ist. Wenn die Bachmann in ihrer dritten Frankfurter Vorlesung von der Veränderung des schreibenden Ich in der Moderne sagt, „daß es sich nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neuerdings die Geschichte im Ich aufhält“ (IV, 230) und wenn sie Proust als Zeugen dafür anführt, so betont sie das Vertrauen auf die Fassungskraft dieses epischen Ich, die bis in die Tiefe
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der Zeit hinein reicht und aus der Erinnerung eine ganze Welt erstehen lässt. Der kranke symptomatische Körper dagegen, beleidigt, besetzt und beschriftet durch eine anonyme Gewalt, erzählt nichts als den Zusammenbruch dieser Geschichte, den Verlust des Vertrauens in die Fassungskraft des Subjekts. Er gibt sich als Urschrift19 zu lesen, als Erinnerungsspur, die nur mühselig zu entziffern ist wie die antiken archäologischen Reste von Hieroglyphentafeln, die Freud mit dem berühmten Motto saxa loquuntur bezeichnet hat und die ihm in den Studien über Hysterie den Weg zur Entdeckung des so genannten Unbewussten weisen. In den posthumen Gedichten bietet das schreibende Ich diesen kranken, von der Gewalt kolonisierten und infizierten Körper der Poesie als Opfergabe an. Das poetische Wort als Opferhandlung soll das Krankheitssymptom zur Sprache erlösen. Bachmanns Verse aus dem Nachlass zitieren die Evangelien, das Wort der Bibel ebenso wie die Figuren einer imitatio Cristi herbei, um den Schmerz und das Böse zu verwandeln, Litaneien, Gebete und Kniefälle dienen der Invokation eines Opfers, das nie vollbracht wird, sie sprechen über die „Auferstehung“ im Wort und über das Verfehlen und Scheitern dieser Hoffnung, denn die Sprache dieser Gedichte bleibt unerlöst. Das christliche Passionsgeschehen und die Erlösungshoffnung sind auch in der früheren Lyrik der Bachmann Prätexte der poetischen Sprache20; der Christologie der Nachlassgedichte aber, die Gott „ins Reagenzglas“ zwingen wollen, damit er „Farbe / bekennt, wenn er die Liebe sein sollte“ (KBW, 9), eignet ein blasphemischer Zug, sie liest sich wie eine böse Karikatur der Verwandlung und der alchemischen Wiedergeburt aus dem Chaos. Ein signifikatives Beispiel sind die folgenden Zeilen aus dem Gedicht Meine Zelle: Man hätte mit mir, mit jeder meiner Zellen eine Himmelfahrt machen können. Das Meßopfer auf meinen Wunden auf meiner Brust die Litanei der Bitten und Vergebung ist noch Nicht dargebracht. 19 Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Ders., Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché, Frankfurt/Main 1976, 302 – 350. 20 Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 71–75.
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Ich sage Euch, und nicht durch Blumen daß die Litanei fehlt und daß ich warte auf den Kniefall und die Gerechtigkeit und daß ein Freispruch nur von mir kommen kann. (KBW, 83–84) Meine Zelle: dieser Körper, den die Sprache in einzelne Zellen zersplittert und einem anonymen man überlässt, ist verurteilt zu einer Leidenschaft, die nur noch in der irrealen Vergangenheit existiert und insistiert, während jetzt, im Präsens, die Litanei fehlt, die dieses verdammte Ich erlösen könnte, das nicht vergeben kann, ein Ich, das sich nicht freisprechen kann und das sich selbst festnagelt ans Kreuz des Ressentiments. Verse wie diese sind blasphemische Opfergaben. Andere Gedichte verletzen intime Tabus, sie zerren die ungeborenen Julikinder (KBW, 49) aus ihren Gräbern, „fromm und böse“ (KBW, 129), werben mit dem Tod in Selbstmordgedanken oder sie setzen den unerlösten Körper einem kalten, ja pornographischen Blick aus: „ich verstand / nichts, nur / diese Religion“ (KBW, 78). Der „Skandal“21 solcher Dichtung liegt, mehr noch als im moralischen Missbrauch der Opfer, im Höllensturz eines geistigen, ja geistlichen Anspruchs der Poesie, über den das lyrische Ich selbst sein hartes Urteil fällt. Ähnlich wie die Welt der Franza, die in den Todesarten ihre „Reise durch die Krankheit“ antritt, ist auch der Horizont dieser Gedichte „umsäumt von zerbrochenen Gottesvorstellungen“. (III, 447)
5. Pharmakon Ingeborg Bachmanns lyrische Aufzeichnungen aus dem Nachlass sind verstörend in ihrer doppelten Lesbarkeit: als lebensgeschichtliche Dokumente einer Krankheit von Körper und Seele und als eigentümliches Manifest einer Poetik, das vom Scheitern, aber auch vom Überleben und von der Erlösungshoffnung der Poesie spricht. Erzählen diese Aufzeichnungen eine Geschichte, die vom Drama des schreibenden Ich handelt, das
21 Vgl. Hubert Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal?, a. a. O.
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sich dem „Paradox eines kunstfernen Wegs“22 aussetzt und so die erlittene Gewalt zum Sprechen bringt? Auf den Leser wirken sie zunächst wie die Trümmer der früheren Utopie einer neuen Sprache, Bruchstücke eines Ausdruckstraums, der nur allzu oft einem therapeutischen Wort Platz machen muss. Das Wort als Droge und Trost kann den Schmerz lösen in einem Gesang, der in den verschiedenen Varianten des Mild und Leise oder in Habet acht das musikalische Schema eines Tagelieds aufruft und den Wagnerianischen Tristan wie eine Trostarie anklingen lässt: „Tot ist alles, alles tot“. (KBW, 101) Das Ich sucht den Schlaf des Bewusstseins im Klang seiner Worte, im Anklang an die Musik des Tristan wird der narkotische Effekt spürbar, der sich im spektakulären Gesamtkunstwerk Wagners verbirgt. Die therapeutische Wirkung des Narkotikums kann allerdings auch im Alkohol ertrinken wie im gleichnamigen Gedicht Alkohol – „Trinken, was trinken, / ich trinke, trinke“ (KBW, 151) – oder sie kann betäubt werden in der Droge: „Die Gnade Morphium, / aber nicht / die Gnade eines Worts“. (KBW, 53) So liest man in Das Narrenwort und in den Varianten von Gloriastrasse, in denen ein krankes Ich spricht: „Die Gnade Morphium, aber nicht die Gnade eines Briefs“. (KBW, 54) Es gibt aber auch Gedichte in der Sammlung, in denen das Weinen eine menschlichere Stimme annimmt, wie in Nacht der Liebe, wo das Ich endlich sterben kann: Mein Rächer trat hervor und nannte sich Leben. Ich sagte sogar: laß mich sterben, und meinte furchtlos meinen lieberen Tod (KBW, 157) Es gibt Momente, in denen der Ausdruckszwang zur Ruhe kommt wie in Dein Tod, und wieder: „Ich ruhe mich aus, / ein schwarzes Laken, von Worten“ (KBW, 173) – oder Verse, in denen ein erstmaliges Staunen über ein poetisches Wort zurückkommt wie in Enigma (KBW, 156) oder in Erste Schritte: sprechen. das muß lang her sein Ein Wort, Wort und Unterbrechen 22 Hans Höller, Die Infragestellung des Scheincharakters der Kunst: „Keine Delikatessen“, in: Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, a. a. O., 81– 93; hier 92. Vgl. Francesca Falconi, L’opera di Ingeborg Bachmann alla luce della raccolta lirica postuma „Ich weiß keine bessere Welt“, a. a. O., die im Aufbau ihrer Arbeit einen Weg vom Verlust der Gedichte hin zur Rekonstruktion der Ich-Identität nahelegt.
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habt Satz und Atemnot mitten im Unterbrechen kommt jetzt ein Wort ins Lot. (KBW, 159) In einigen Gedichten schließlich deutet sich eine Heimkehr zur poetischen Sprache an, auf den Stationen einer Reise, auf der das Ich zugrunde gehen kann wie in Böhmen liegt am Meer, um so in Heimkehr über Prag, in Wenzelsplatz (KBW, 162) oder in Jüdischer Friedhof (KBW, 163) einem unpersönlichen Subjekt das Wort zu überlassen. „Auf einem Umweg, es kehrt heim / es spricht wieder“ (KBW, 161) – so lauten die Verse von Heimkehr. Im unpersönlichen Es will das Ich seine Heilung suchen: „versuch es zu kennen, es will heilen“ (KBW, 39) – so heißt es im Gedicht Im Lot. Die wache Distanz zu diesem unbekannten heilsamen Es, die das Schreiben erst ermöglicht, droht allerdings in vielen dieser Gedichte einzustürzen. Das Es wird zur dissoziativen Kraft, die das schreibende Ich bedrängt mit seiner unmittelbaren Nähe und dessen Ausdruck symptomatisch blockiert. Im Entwurf über Georg Groddeck bezieht sich Ingeborg Bachmann auf dieses Es, das aus den Symptomen der psychischen wie physischen Krankheit spricht. Vor aller psychoanalytischen Interpretation oder Freud-Exegese interessiert sie die schöpferische Potenz und die Macht des Groddeckschen Es über das Ich: „Das Es ist für ihn ein Hilfswort, es ist kein Ding an sich, sondern es soll heißen, da ist etwas, das ist da und stärker und viel stärker als Ich“. (IV, 352) In der Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle will die Bachmann dieses mächtige unpersönliche Subjekt der Krankheit direkt in ihrer Prosa inszenieren und den Wahnsinn buchstabieren, der „auch von außen kommen“ (IV, 278) kann, im ohrenbetäubenden und durchdringenden Lärm der Stadt Berlin, der die Wahrnehmung zerrüttet und das Krankenzimmer einer psychiatrischen Klinik zum Resonanzraum einer chaotischen Welt macht. In gattungstheoretischer Hinsicht mag es erstaunlich sein, dass Ingeborg Bachmann gerade in einer Rede den Versuch macht, das Sprechen über Literatur ins literarische Sprechen selbst zu übersetzen, im Unterschied zu den Gedichten aus dem Nachlass, die meist über die Krankheit sprechen und die poetologische Dimension in den Vordergrund stellen. Es ist die Prosa der Bachmann, die das delirante Es zum Sprechen bringt, dieses meldet sich allerdings auch in einigen Nachlass-Gedichten zu Wort, beispielsweise in Schallmauer, wo „dieser Wahn“ nahe am Explodieren ist und die Schallmauer durchschlägt: eine „Wahnkraft, für deren / Durchschlag der Himmel immer zu weich / und die Erde zu hart ist“ (KBW,
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137).23 Im Wahn kann das Ich eine Brandmauer anstarren „ohne Gesicht“ (KBW, 130), um sich für den Moment einer Schrecksekunde dem eigenen Scheintod gegenüber zu sehen wie in An das Fernmeldeamt Berlin oder der „Lärmteppich“ der Stadt Berlin kann ein Stück realer Geschichtserfahrung aufreißen wie in Das deutsche Wunder. (KBW, 133) Doch können Verse wie diese die destruktiven Impulse einer dissonanten Welt zur Sprache erlösen? Oder allgemeiner gefragt: Zeichnet sich im Band der Weg einer Heilung durch das Schreiben und durch das pharmakon Schrift ab? Im Spätwerk der Bachmann verbindet sich die Hoffnung auf eine Heilung im gesunden Wahn mit dem Vorstellungskomplex einer Reise in die ägyptische Wüste, so im Buch Franza und im Wüstenbuch. Im Gedicht Enigma wird in diesem Sinn die Nacht am Nil angerufen: „Am Nil in der Nacht, am Nil, / wo die Sterne dir bis in den Mund hängen / und dein trockenes Herz wieder befeuchtet wird“ (KBW, 156). Andere Verse stellen den Versuch dar, die Sprache in die Wüste zu führen und so die Wüste zum Purgatorium eines verwüsteten Herzens zu machen: Die Wüste hat meine Augen begegnet mit Sand, von meinem verwüsteten Herzen konnt ich nur vorher sprechen, jetzt ist es verwüstet wunderbar, die Sandschleier ziehen auf, die Dünen habens genommen, meine Blicke besänftigt mit ihrer unendlichen Zeichnung mein Gang ans Rote Meer. Mehr sag, ich mehr, mehr noch vom Sand. (KBW, 169) Zeilen wie diese könnten von der poetischen Hoffnung sprechen, die Sprache aus der „unendlichen Zeichnung“ der Wüste neu zu erschaffen, doch schon das benachbarte und thematisch verwandte Gedicht Auflösung, das seine Hoffnung auf den schwarzen Kontinent setzt, liest sich wider den Willen der Autorin wie eine Karikatur solcher Wüstenfahrt der Poesie: Ich rufe Dich von der Straße, komm, hab schwarzes Haar, sei jung, 23 Zur detaillierten Analyse dieses Gedichts vgl. Hans Höller, „Schallmauer“ und „In Feindeshand“. Zwei späte unveröffentlichte Gedichte von Ingeborg Bachmann, in: „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …“. Interpretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, hrsg. von Primus-Heinz Kucher und Luigi Reitani, Wien– Köln–Weimar 2000, 253–263.
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sei hart, tu weh, hier wo alle blond sind, terra nova, Africa, ultima speranza. (KBW, 168) Im selbstdestruktiven Gestus verfällt die poetische Leidenschaft der Sexualität. So auch in Immer wieder schwarz und weiß (KBW, 167), wo weniger von der Vermischung der Rassen als von den Versteckspielen eines weiblichen Ich die Rede ist, das nachts die „Königin von Sambesi“ spielen will: „Meine Haut ist farbig von deiner geworden. / Ach wie gut, daß niemand weiß, wie du heißt“ (KBW, 167). Im letzten Gedicht des Bandes schließlich, das sich im Titel An jemand ganz anderen wendet, wird die leidenschaftliche Hoffnung des schreibenden Ich ganz bewusst in einem poetischen Flirt verspielt: […] du sagst auch : dunque, und ich sterbe und bete an, während ich vor Träumereien die Rechnung unseres Abends erhöhe, ich trinke noch ein Glas und höre, ich höre ich verstehe. vor lauter Zuhören daß ich es nicht bin. Ich habe mich aufgelöst und meine Vergangenheit in dir, ich sitze am Telefon und werde pronto sagen, und ohne Hoffnung, daß es klingt […]. (KBW, 174–175) Ohne Erlösungshoffnung betet ein weibliches Ich noch einmal den gefallenen Abgott Mann an und löscht sich in dessen fremder Sprache aus, eine Fremdsprache, die trotz aller Bemühungen ohne Resonanz bleibt und so nichts mehr bewegt: […] ich will mich auslöschen wenn ich spreche. Deine Erleichterung, daß ich Sätze bilde und Fehler mache, ist meine Erleichterung. Das Gepäck, ein Schutthaufen, wird nicht mehr bewegt. (KBW, 175) Die bittere Ironie solcher Zeilen sollte der Leser – wohl auch der Absicht der Herausgeber des Bandes zum Trotz – nicht als letztes Wort aus dem poetischen Nachlass der Bachmann gelten lassen. Die posthumen Gedichte bleiben mehrfach lesbar und wirken gerade deshalb verstörend auf den Leser. Sie inszenieren das intime Drama einer
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Lyrikerin, die mit der Rechtfertigung ihrer schriftstellerischen Existenz auch die Legitimität ihrer Poesie aufs Spiel setzt. Aus dieser Selbstzerstörung im Medium des poetischen Wortes spricht eine Verzweiflung, die die Wurzeln des poetischen Sprechens erfasst und dessen Prämissen freilegt. Als Dokumente einer radikalen Krise stellen diese Gedichte die „Problemkonstante“ (IV, 193) der früheren Poetik in Frage, den moralischen Anspruch der Dichtung ebenso wie ihre existentielle Beglaubigung im Schmerz. Sind diese Verse Symptome einer Krankheit oder das Manifest einer neuen Poetik? Auffällig ist die Spaltung des schreibenden Ich, das die destruktiven Affekte notiert und zugleich deren poetologische Relevanz aufzeigt. Selbstdestruktion und Reflexion treffen direkt und hart aufeinander in der Ich-Aussage dieser Gedichte, die sich immer wieder in autoreferentiellen Aporien festschreibt. Die Dominanz des poetologischen Sprechens über das poetische Wort scheint hier selbst Teil des Krankheitsbildes zu sein. So wach das meta-poetische Bewusstsein auch bleibt, es weist kaum den Weg einer via poetica, eher schon lesen sich die posthumen Gedichte als Abgesang auf eine Poetik, die das Selbstverständnis der Epoche geprägt hat, Schwanengesang auf die Lyrik der Nachkriegszeit, deren „unverwechselbare Wortwelt, Gestaltenwelt und Konfliktwelt“ (IV, 163) nur noch in Bruchstücken erkennbar bleibt: die „schwachsinnige Moral“ der Opfer, der scheiternde Ausdruckstraum, das sentimentale oder selbstdestruktive Pathos eines lyrischen Ich, das sich selbst überlebt hat. In ihren Krisengeschichten kann sich die Literatur erneuern oder auch versagen; in der heroischen Negativität, im Durchbrechen der kanonischen Formen und der ästhetischen Codes und „Delikatessen“ kann ihr Scheitern zum Moment eines zweiten Gelingens werden, eine Konzeption, die der Bachmann keineswegs fremd war. Lässt sich das Bachmannsche „Adieu ihr schönen Worte“, das manchen Leser peinlich berühren mag in seiner klischeehaften Formulierung, in jene „Variationen über ein altes Thema“24 einordnen, in denen die Literatur der Moderne – vom Tasso bis zur Hamletmaschine – immer neu ihren Abschied zelebriert, ihr emphatisches, erhabenes oder auch minimalistisches Pereat ars, fiat opus?25 Wohl kaum. Die Schwierigkeiten beim Lesen der Gedichte aus dem Bachmannschen Nachlass scheinen sich dem eigenartigen Doppelgesicht dieser Texte zu verdanken; es sind ambivalente Dokumente einer 24 Reinhard Baumgart, Addio. Abschied von der Literatur. Variationen über ein altes Thema, Wien 1995. 25 Ebenda, 279.
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lebensgeschichtlichen wie poetischen Krise, die man symptomatisch und zugleich poetologisch lesen kann, Aufzeichnungen einer Krankheit, die über die Zerstörung des lyrischen Ich hinaus weist und Fragmente einer unerlösten Poesie, die die utopische Richtung der früheren Poetik aufkündigt.
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„Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen“. Das Problem der ästhetischen Distanz in Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass „Meine Gedichte sind mir abhanden Anton gekommen“ Reininger
Die erste Lektüre der Gedichte, die in dem Band Ich weiß keine bessere Welt aus dem Nachlass Ingeborg Bachmanns zusammengestellt wurden, bewirkt wohl bei den meisten Lesern eine starke Desorientierung. Das mag zum Teil auf ihren unfertigen Charakter zurückzuführen sein. Oft brechen sie ganz unvermittelt ab, sind also über den Stand eines ersten Entwurfes nicht hinausgekommen. Die Sprache ist vielfach jener des Alltags nahe, schmucklos, ja sogar banal, aber das sprachliche Register kann schnell wechseln und in nahezu religiöses Pathos übergehen, vor allem wenn es darum geht, die eigene Rolle als Dichterin gegen die Wechselfälle des Lebens zu verteidigen. Schließlich ist auch die Neigung zur Wiederholung der behandelten Themen offenkundig. Die Gedichte kreisen letztlich um einige traumatische Erfahrungen, deren biographischer Hintergrund weitgehend geklärt ist, so dass hier nicht noch einmal besonders darauf hingewiesen werden muss. Offenkundig setzt Ingeborg Bachmann immer wieder an, um der sie bedrängenden Situation eine endgültige Gestaltung zu geben, ohne dass sie wohl mit dem Ergebnis wirklich zufrieden war. Wenn also auch viele, vielleicht sogar alle Gedichte auf eine außerliterarische Situation Bezug nehmen, deren Kenntnis einen privilegierten Zugang zu ihrem Verständnis verspricht, so wollte ich doch vermeiden, sie vor allem als biographische Dokumente zu lesen. Deshalb habe ich eben diese Möglichkeit ihrer Interpretation mit Hilfe eines ständigen Bezuges zur zugrunde liegenden existentiellen Situation ganz bewusst beiseite gelassen, weil ich davon überzeugt bin, dass jedes Gedicht, das als solches, also als ästhetisches Phänomen wahrgenommen werden will, in seiner linguistischen und semantischen Struktur Träger eines Sin-
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nes ist, der auch ohne Beziehung zur außerliterarischen Wirklichkeit erfahrbar ist. Sollte der sich als unzureichend herausstellen – was das auch immer heißen mag – wird das Schicksal dieser Gedichte wohl in eben die Richtung gehen, die ich als für mich nicht zielführend bezeichnet habe. In der Gedichtsammlung selbst fehlt es nicht an Beispielen, aus denen deutlich wird, dass die existentielle Krise auch eine des dichterischen Ausdrucks gewesen ist, und dies vor allem deshalb, weil Ingeborg Bachmann den Versuch unternommen hat, zwischen Leben und Kunst eine so enge Verbindung zuzulassen wie nie zuvor. Man kann natürlich auch die Hypothese aussprechen, dass sie in diesen Jahren vom Andrang der eigenen Lebensproblematik überwältigt wurde, so dass sich ein kurzschlüssiges Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen herausbildete. Sie selbst war sich dieses Problems durchaus bewusst und aus diesem Grund scheint es mir höchst aufschlussreich, meine kritische Reflexion mit einem Gedicht zu beginnen, das die Erfahrung der tiefen dichterischen Krise widerspiegelt, in die sich Ingeborg Bachmann gestürzt sah. Ob die darin enthaltenen analytischen Elemente tatsächlich als Erklärung ausreichen, soll zunächst dahingestellt bleiben. Doch aus der Beschreibung der Symptome ihres Leidens an der Unzulänglichkeit ihrer sprachlichen Mittel lassen sich doch einige wichtige Schlüsse über den Charakter dieser Krise ziehen. Sie artikuliert sich als Suche nach einer neuen Schreibweise, deren Analyse das Anliegen dieses Aufsatzes ist. Die Gestaltung der Ausgabe von Ingeborg Bachmanns Gedichten aus dem Nachlass erlaubt nicht, den zeitlichen Ort jener Verse zu bestimmen (KBW, 11), die mit großer Offenheit von einer schweren Schaffenskrise sprechen, ja von einem wahren Verlust des dichterischen Ausdrucks und von der Unmöglichkeit, sich mit Worten der so bedrängenden neuen Wirklichkeit zu nähern: Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln. Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr. Von der Selbstironie gehen die Verse in einen Aufschrei der äußersten Verlorenheit über. Ist es der Beginn des Versuchs, jenen Spalt zwischen innerer Erfahrung und sprachlichem Ausdruck zu schließen, von dem hier so deutlich gesprochen wird, oder ist es das Eingeständnis eines endgültigen Scheiterns des lyrischen Wortes, das unter dem Druck der Schmerzerfahrung nach den eigenen Ansprüchen der Dichterin versagt?
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Das „Daherreden“, das sie sich selbst vorwirft: Weiß, dass man so nicht daherreden kann, es muß würziger sein, eine gepfefferte Metapher. müsste einem einfallen. Aber mit dem Messer im Rücken. (KBW, 11) deutet auf ein sprachliches Register, das sowohl gestalterische Ohnmacht wie auch das Versinken in der Banalität und Bedeutungslosigkeit der vorgegebenen, unpersönlichen Alltagssprache andeutet. Der Schmerz, den auszudrücken sie sich bemüht, scheint so zerstörerisch zu sein, dass er die Möglichkeit der dichterischen Gestaltung aufhebt und nur mehr eine gleichsam dokumentarische Mitteilung, ein Reden darüber, zulässt. Unter der Gewalt der andrängenden Erfahrungen, der die Dichterin sich ausgesetzt sieht, zerfallen ihre gestalterischen Kräfte und sie muss ihre Zuflucht in dem spontan sich einstellenden, aber natürlich reduktiven Material der gesellschaftlichen Kommunikation suchen. Die eigene dichterische Vergangenheit war auch, wenngleich keineswegs allein oder sogar dominierend, durch den Gebrauch des metaphorischen, bildhaften Sprechens charakterisiert gewesen. In Anrufung des Großen Bären wird überdies deutlich, dass die besondere ästhetische Wirkung von Ingeborg Bachmanns Gedichten davon ausgeht, dass sie eine geschichtlich und existentiell durchaus identifizierbare Wirklichkeit phantastisch verfremdet, indem ihre Elemente nach einer neuen Logik zusammengesetzt werden, so dass eine bisher unbekannte Welt auftaucht, die das Spiegelbild der Ängste und Hoffnungen des lyrischen Subjekts ist. Mit einiger Selbstironie macht sich Ingeborg Bachmann zum Anwalt derer, die an ihren jüngsten dichterischen Versuchen vor allem die Unfähigkeit bemängeln, wirksame Metaphern für ihre neuen Erfahrungen zu finden. Was läge letztlich näher, als sich eines schon erprobten und erfolgreichen Mittels wieder zu besinnen und es den neuen Ausdrucksbedürfnissen anzupassen. Doch die Adjektive, die sie verwendet, lassen kaum Zweifel daran aufkommen, dass ihr diese dichterische Verfahrensweise inzwischen verdächtig geworden ist: „es muß würziger sein, eine gepfefferte Metapher / müßte einem einfallen“. Es ist offenkundig, dass die Adjektive aus Bachmanns Sicht eine kulinarische Dimension besitzen, die dem Ernst ihrer existentiellen Situation nicht gerecht wird. Sie würde die eigene Leidenserfahrung in ästhetischen oder intellektuellen Genuss verwandeln und damit die gelebte Wirklichkeit verfälschen. Dieser Vorwurf zielt indirekt auch auf den intellektuellen, technischen Anteil an der dichterischen Tätigkeit, obwohl im Falle von Ingeborg Bachmanns Meta-
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phernsprache, die einigen ihrer gelungensten Gedichte ihren besonderen ästhetischen Charakter verleiht, offenkundig ist, dass ihre spezifische Ausprägung weitgehend durch emotive Werte gesteuert wird. Doch scheint es nach den oben zitierten Versen, dass für Ingeborg Bachmann in der Situation, in der sie sich befand, dieser Weg der Gestaltung von Emotivität nicht mehr gangbar war. Ihr Verhältnis zur gelebten Wirklichkeit war wohl einer so schweren Zerreißprobe ausgesetzt, dass jener Minimalabstand zwischen Wort und Wirklichkeit nicht mehr gegeben war, der die Voraussetzung für die gestaltende Freiheit war. Doch eben deshalb wurde die Metapher in den Augen Ingeborg Bachmanns zum Zeichen der Verfälschung der Wirklichkeit. Schwerlich wollte sie sich damit von ihrer eigenen dichterischen Vergangenheit distanzieren, die sich keineswegs auf eine Poetik der Metapher reduzieren lässt. Es geht vielmehr darum, mit ihr ein dichterisches Verfahren zu treffen, das dem Ernst der eigenen existentiellen Lage nicht angemessen ist, weil es einen verklärenden ästhetischen Charakter besaß. In der von Ingeborg Bachmann offenkundig erlebten Situation war eben diese Dimension nicht mehr erfüllbar. Um noch die an sie gestellten Ansprüche zu erfüllen, müsste die Metapher, wie es heißt, „mit dem Messer im Rücken“ auftreten, teilhaben an der Unmittelbarkeit des Schmerzes und an der Erfahrung des drohenden Todes. Deshalb kann der Versuch, an die Vergangenheit anzuknüpfen, nicht gelingen. Aber aus diesem Gedicht geht auch hervor, dass ihr ebenso wenig ein neues Wort zur Verfügung steht: Parlo e tacio, parlo, flüchte mich in ein Idiom, in dem sogar Spanisches vorkommt, los toros y las planetas, auf einer alten gestohlenen Platte vielleicht noch zu hören. Mit etwas Französischem geht es auch, tu es mon amour depuis si longtemps. (KBW, 11) Sie sieht als einzigen Ausweg aus dem Schweigen die Flucht in die Entfremdung der Sprachen, die nicht ihre Muttersprache sind, Italienisch, Spanisch und Französisch. Die Worte aus der Fremde, auch wenn sie alltäglich und kunstlos sind, erhalten einen Schein von Substantialität, der denen ihrer Muttersprache fehlt, eben weil in ihnen nicht mehr die Lebensnähe kreatürlicher Unmittelbarkeit aufbewahrt ist. Sie kleben nicht so eng an der bedrängenden Wirklichkeit wie es mit den Worten der Muttersprache geschieht. Der bedrohlichen Formlosigkeit der existentiellen Erfahrung lässt sich also leichter begegnen, wenn man zu Worten greift,
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die an ihrer materiellen Erscheinung den größten Teil ihrer Substanz haben. Die gelebte Wirklichkeit würde mit einem unartikulierten Schrei ihren tiefsten Ausdruck finden. Deshalb ist es nur in der Logik dieser existentiellen und sprachlichen Krise, dass sich Ingeborg Bachmann ganz ausdrücklich, wenngleich mit dem Gefühl eines unersetzlichen Verlustes von ihrer dichterischen Vergangenheit lossagt: Adieu, ihr schönen Worte, mit euren Verheißungen. Warum habt ihr mich verlassen. War euch nicht wohl? Ich habe euch hinterlegt bei einem Herzen, aus Stein. Tut dort für mich, Haltet dort aus, tut dort für mich ein Werk (KBW, 11) Die „schönen Worte“, von denen sie sich verlassen fühlt, gehören einer Welt an, in denen es noch „Verheißungen“ gibt, an die sich glauben lässt. Sie sind nur in einer Wirklichkeit möglich, deren vorherrschende Erfahrung nicht der Verlust jedes Sinns ist, wie aus diesen Versen, aber mehr noch aus den anderen dieses Bandes durchscheint. Wohl auch deshalb endet das Gedicht mit der überraschenden Wendung, dass die Dichterin ihren verloren gegangenen Worten kraft ihrer früher erprobten magischen Wirkung einen Erfolg bei einem „Herzen aus Stein“ zutraut, das für die ungefilterten Äußerungen des Schmerzes nicht erreichbar erscheint, wohl weil in ihnen eine existentielle Aggressivität sich äußert, die keine Zuflucht in das Reich der Ästhetik mehr zulässt. Eben in dem Augenblick, in dem sie sich von ihrer dichterischen Vergangenheit verabschiedet, greift sie wieder zur Metapher, um einen Rest von Hoffnung zu retten, die wohl nur im Scheinreich der Ästhetik vorstellbar war. Freilich ist das „Herz aus Stein“ aller dichterischen Individualität entkleidet, denn es ist ein Ausdruck der Alltagssprache geworden, der nur mehr mit dem Zungenschlag der Ironie verwendet werden kann, ohne den Eindruck eines falschen Pathos zu erwecken. Dass dieses Problem der Ausdruckskrise tatsächlich eine zentrale Stelle in ihrer damaligen künstlerischen Entwicklung – wir sind in den ersten sechziger Jahren – beanspruchen darf, wird schon daraus ersichtlich, dass dieses Gedicht kein Einzelfall ist. Schon in der Werkausgabe findet sich ein Gedicht, Keine Delikatessen, das eine noch eindeutigere Absage an die Kunstsprache der Literatur enthielt, dafür jedoch eine gesellschaftliche Motivation lieferte, so als hätte ihr die eigene existentielle Krise die Augen für eine andere sprachliche Wirklichkeit geöffnet, die sie durch ihren persönlichen Werdegang aus den Augen verloren hatte:
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Ich habe ein Einsehn gelernt mit den Worten, die da sind (für die unterste Klasse) Hunger Schande Tränen und Finsternis. (I, 172) Angesichts bedrängender menschlicher Erfahrungen, die altbekannte Worte wie „Hunger“, „Schande“, „Tränen“ und „Finsternis“ mit einer neuen, zutiefst gefühlten Bedeutung erfüllen, erscheint die Suche nach einer ästhetisch anspruchsvollen Form als Verrat an der Wirklichkeit und Auslieferung an den literarischen Markt. Ich bin mir nicht so sicher, dass dieses Gedicht nicht auch als eine Art von Kritik am eigenen Werk und künstlerischen Selbstverständnis zu verstehen ist.1 Das heißt nun keineswegs, dass Ingeborg Bachmann ihr früheres Schaffen verworfen hätte. Indem sie in diesen Versen sich auch ganz bewusst eins weiß in ihrem Leben mit der „untersten Klasse“, der die mit diesen Worten verbundene konkrete Erfahrung als klassenspezifisches Schicksal zugedacht ist, erhält ihre Absage an den ästhetischen Scheincharakter der Kunst auch eine gesellschaftliche Dimension. Diese Kritik an einer ästhetisierenden Lyrikkonzeption weist also in zwei Richtungen: einerseits auf eine Erneuerung der dichterischen Sprache, die entschieden von den rhetorischen Mitteln der lyrischen Avantgarde im Gefolge Baudelaires Abschied nimmt und eine neue Unmittelbarkeit sucht, ohne dass schon klar wäre, wie sie sich erreichen ließe. Anderseits zeichnet sich auch eine Hinwendung zu Themen des „Lebens“ ab, d. h. zu existentiell bedrängenden Fragen, seien sie nun individueller oder gesellschaftlicher Art, die als zu ernst empfunden werden, als dass sie in eine ästhetische Distanz gerückt werden könnten, wie sie für ihr früheres lyrisches Werk konstitutiv gewesen war. Die große Anzahl von Gedichten aus dem Nachlass, die veröffentlicht wurde, lässt erkennen, dass Ingeborg Bachmann sich nicht einfach ins 1 Hans Höller (Ingeborg Bachmann. Das Werk, a. a. O., 189) besteht hingegen stärker auf den Aspekt der Ablehnung des bewusst gepflegten Warencharakters der Kunst.
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Schweigen geflüchtet hat, sondern der Krise, die vielleicht auch in diese Richtung wies, entgegengetreten ist. Sie hat mit äußerster Anstrengung darum gerungen, ihre Rolle als Dichterin zu bewahren, obwohl sie ihre existentielle Situation als so bedrängend empfunden hat, dass ihr die Worte dafür zu fehlen schienen. Der vielfach fragmentarische Charakter der Gedichte, das weitgehende Fehlen von Verbesserungen in den Manuskripten, aber vor allem der Verzicht auf die Veröffentlichung, legen freilich nahe, dass sie selbst wohl von den erreichten Ergebnissen nicht ganz überzeugt war. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass auch der starke bekenntnishafte, autobiographische Charakter der Gedichte ihrer Veröffentlichung entgegengestanden hat. Die Frage bleibt bestehen, ob es ihr zumindest streckenweise gelungen ist, eine neue Art lyrischen Ausdrucks zu finden, der mehr gewesen wäre als der Drang, sich dem drohenden Verstummen zu entziehen. Neu und überraschend ist an diesen Gedichten, dass sie dem lyrischen Ich rückhaltlos das Wort erteilen, über sich selbst und sein Verhältnis zur Wirklichkeit zu sprechen, ohne sich hinter einer Maske zu verbergen. Dabei kommt es zu einer illusionslosen, oft bitteren Analyse der eigenen Lage, als deren Ergebnis kaum ein Licht der Hoffnung die dunklen Schatten verdrängen könnte. Das Gefühl des eigenen Scheiterns, der eigenen Nichtigkeit steigert sich bis zur schon wahnhaften Überzeugung, in den Augen der anderen überflüssig, ja ein Stein des Anstoßes zu sein: Verschwinden soll ich, sagt man mir, dahin, und gestoßen, verschwind ich noch nicht, (KBW, 71) So beginnt eines der bittersten Gedichte der Sammlung, in dem Ingeborg Bachmann in protokollartigen Sätzen ihren jetzigen Zustand im Blick zurück auf die eigene Vergangenheit beschreibt. Dem Vernichtungswillen, den sie um sich wahrnimmt, setzt sie einen obstinaten Willen zum Überleben und den Wunsch entgegen, vor der bedrängenden Wirklichkeit nicht abzudanken, wobei die Erinnerung an die Zeiten eines geglückteren Lebens die nötige Zuflucht und Kraft bietet. Freilich hat dieser Wunsch einen phantasmagorischen Charakter: […] ich will noch einmal zufliegen auf die Terrasse, (KBW, 71)
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Das Gemeinte verbirgt sich unter einem Traumbild, in dem die Schwere des Daseins aufgehoben ist. Dieses Bild steht wohl für jenen Blick auf die Totalität des Lebens, der inzwischen verloren gegangen ist, weil sich die Wirklichkeit entleert hat, ihre Elemente in ein nicht mehr entzifferbares Chaos versunken sind. Das eigene Unglück stellt sich vor allem als Verlust einer sinnvollen Beziehung zur Wirklichkeit dar. Nicht nur die Dinge schweigen, nein auch das Ich erfährt seine Entwertung durch den Verlust der gesellschaftlichen Rolle als Vermittler des wahren Wortes: Ich habe nicht geschwiegen, weil Schweigen gut ist schön ist, ich hatte nichts mehr zu sagen (KBW, 71) Das umgangssprachliche Register erlaubt es nicht, hier von der Abdankung einer Prophetie zu sprechen, die nichts mehr zu verkünden hat. Ingeborg Bachmann verweigert sich hier letztlich dieser religiös-mythischen Dimension ihres dichterischen Auftrags. Sie lehnt es auch ab, sich auf den Schein von Weisheit zu berufen, nach dem Schweigen der Ausdruck einer tieferen Selbsterkenntnis von den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten sei. Sie beruft sich hingegen in der Erklärung ihres Scheiterns – wobei sie sich einer nüchternen, diskursiven Sprache bedient – auf einen komplexen psychologischen, gesellschaftlichen und zugleich auch ästhetischen Vorgang, in dem sie die Voraussetzung ihrer eigenen dichterischen Existenz und der ihr inhärenten Dynamik erkennt. Wie weit diese Analyse Anspruch auf Wahrheit erheben kann, muss dahingestellt bleiben. Sie hat auf jeden Fall symptomatischen Wert für die tiefe Verunsicherung, mit der sie ihre eigene Rolle wahrnimmt. In ihr spielt der Begriff des Maßes, der gut in die klassizistische Tradition hineinpasst, ja auch an Hölderlin erinnert, eine zentrale Rolle, wenngleich ihm zweifelsohne die bei Hölderlin so zentrale ethische Dimension fehlt: Ich hatte das Maß, ich schwieg weil ich nichts mehr zu sagen hatte. Das Maß, das ist ein rechtes Verhältnis, ein Pfund wiegt dort ein Pfund, eine Menge ist dort eine Menge […] (KBW, 71) Auch diese Verse suchen Zuflucht bei einer bewusst emotionsfreien Sprache, die Begriffe aus der Alltagswelt gebraucht. Das Maß erscheint
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als adäquates, wohl vor allem auch sprachliches Zeichen für die Dinge der Wirklichkeit. Zwischen dem Ich und seiner Welt herrschte also nach der Aussage dieser Verse eine Art stabiles Gleichgewicht, in dem die Ordnung des Seins durch die Ordnung der Sprache garantiert war. Doch eben dieser Zustand enthüllt sich im Blick zurück als allen Übels schwanger. Überraschenderweise formuliert Ingeborg Bachmann an diesem Punkt nämlich die Hypothese, dass in dem klassischen Gleichmaß dieser realistischen Beziehung zur Welt eine ungeahnte selbstzerstörerische Dynamik wohnte. Eben dieser Zustand der Harmonie zwischen Wirklichkeit und Bewusstsein erscheint als Ursache der Sprachlosigkeit, von der sie geschlagen wurde. Der Grund seiner Aufhebung und der Entfesselung aller zerstörerischen Kräfte liegt freilich ursprünglich außerhalb des Ich, in den Gesetzen des literarischen Marktes, das heißt im Druck, den das Publikum mit seinen Erwartungen auf den Dichter ausübt. Denn eben diese bisher konstitutive Erfahrung der Harmonie zwischen Ich und Welt führte nach den Worten der Dichterin zu einem Zustand, der nach den geltenden ästhetischen Vorstellungen des Publikums als innere Erstarrung und als Verlust einer produktiven dialektischen Beziehung zur Gesellschaft anzusehen wäre. Mit der Botschaft einer stabilen Harmonie zwischen Innen und Außen, wie sie ihre Vergangenheit charakterisierte, ist diesen an die Dichtung herangetragenen Erwartungen nicht gedient: […] ich war ich, ich fürchte mich kaum, ich war also nicht mehr ich, keine Nahrung mehr für das Ich und Eure unersättliche Gesellschaft, meine Zeit. (KBW, 71) Die Zeit verlangt anderes, nicht die in sich gefestigte Identität, nicht eine Dichtung, für die das Leben keine Aufgabe mehr ist, an der sich die Sprache abarbeitet, nicht ein Ich, das die Furcht verlernt hat. Das schließt die Vorstellung mit ein, dass Dichtung letztlich nur aus der Unruhe entstehen kann, wenn das Ich über sich selbst und sein Verhältnis zur Wirklichkeit keine Botschaft der selbstverständlichen Sicherheiten anzubieten hat. Doch auf jenen Zustand der Gnade, eines Daseins in der gedeuteten Welt zu verzichten, heißt auch, jenes „Maß“ zu verlieren, in dem sich das Gleichgewicht dieses klassischen Weltzustands spiegelt. Mit ihm geht die ihr analoge Welt und ihr sicherer Reichtum an Bedeutungen zugrunde. Als wahre Ursache des jetzigen Zustandes erscheint also der Wunsch,
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dieser Harmonie sich zu entziehen und über sich selbst hinauszugehen, ja über alles das hinauszugehen, was als gesicherte Erfahrung zur Verfügung stand, wie es am Beginn der zweiten Strophe heißt: Ich hatte alles, und habe alles verloren, zuerst das Maß, ich ging über mich hinaus und hinaus über alles, ich wußte nicht, dass ein Mensch diesen Schmerz beweisen kann mit seinem Traum […] (KBW, 71) Ursprung der gegenwärtigen Krise und des mit ihr verbundenen Leides wird also die Hybris, über das gesicherte Maß der eigenen harmonischen Beziehung zur Wirklichkeit hinausgehen zu wollen. Wohl handelt es sich um eine eigene Entscheidung, aber sie wurde von dem Zwang gesteuert, den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen, die vom Dichter verlangt, er möge sich und seine Sicherheiten in Frage stellen. Das gegenwärtige Leiden ist gleichsam der Preis für den Wunsch, aus dem gesicherten Bereich der vorherigen Existenz auszubrechen. Das nun verloren gegangene harmonische Bild der Wirklichkeit macht einem Chaos Platz, das als schmerzvoller Verlust der Beziehung zur Wirklichkeit erlebt wird, insofern als sich ihre Bedeutung nun der unmittelbaren Erfahrung entzieht. Die hier gelieferte Selbstdarstellung folgt dem Modell des Sündenfalls und dem Mythos des Verlustes des einst besessenen Paradieses („ich hatte alles“). Was es freilich mit dem Traum auf sich hat, der die Existenz dieses Schmerzes erst beweist, bleibt im Dunkeln. Um die Tiefe des dadurch heraufbeschworenen Leidens sichtbar zu machen, zögert Ingeborg Bachmann nicht, Begriffe zu benutzen, die mit dem Pathos einer langen religiösen und kulturellen Geschichte beladen sind.2 Der von Benn so sehr gepflegte Topos des Dichter-Märtyrers taucht auch hier auf, freilich ohne die bei ihm bestimmende Beziehung auf die historische Dimension einer katastrophal sich wendenden Zeitgeschichte. Der eigene innere Tod, schuldhafte Folge der Schwäche, einem von außen auf2 Vgl. Hermann Weber, An der Grenze der Sprache. Religiöse Dimension der Sprache und biblisch-christliche Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns, Essen 1966; Marie-Luise Habbel, „Diese Wüste hat sich einer vorbehalten“. Biblischchristliche Motive, Figuren und Sprachstrukturen im literarischen Werk Ingeborg Bachmanns, Altenberge 1992.
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erlegten ästhetischen Ideal nachgegeben zu haben, wird als ein Ereignis erfahren, das den Bau der Welt erschüttert. Das individuelle Leid hat damit sogar seine Analogie in der Zerstörung der kosmischen Ordnung: ich wusste nicht, [….] daß er so sterben kann, daß die Himmel ins Stürzen kommen, und ein Himmel ins All abgelenkt wird, mein unsterbliches Herz. (KBW, 71) Um das persönliche Schicksal anschaulich zu machen, greift Ingeborg Bachmann also zur Typologie des Märtyrers vor einem endzeitlichen Horizont. Die Gleichsetzung von unsterblichem Herz und Himmel drückt freilich auch das Pathos der säkularisierten religiösen Tradition aus, die in der Dichtung der Empfindsamkeit erstmals ihren Ausdruck fand. An diesem Punkt wird die Beschwörung des eigenen Leidens das eigentliche Thema des Gedichts. Das lyrische Ich stürzt aus der Sphäre der Ästhetik in die des in erster Person erlebten psychischen und physischen Leidens, das jedoch untrennbar mit ihrem Schicksal als Dichterin verbunden ist, ja in ihm seine Voraussetzung hat. Die implizite Selbstbehauptung in der Beschwörung des eigenen unsterblichen Herzens scheitert nicht nur angesichts dieser Vision eines kosmischen Chaos, sondern vor allem angesichts der eigenen kreatürlichen Schwäche, der Erfahrung des Leidens, durch die sich die Wirklichkeit entwertet: Ich wusste nicht, dass ihm jeder Mord unter die Haut geht und bei Tag und Nacht die Kranken mit ihrem erschöpften einsamen Gewimmer seine Genossen sind, daß man so in den Wirbel rückt und die Jammertäler seine einzige Landschaft sind. (KBW, 72) Nüchterner lässt sich nicht über die eigene psychische Situation sprechen. Der einzige Versuch, der Alltagssprache zu entgehen und im metaphori-
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schen Sprechen Zuflucht zu finden, greift zu einem Sprachmaterial, das durch den Gebrauch zur Banalität verurteilt ist („Jammertäler“). So viel wird aus diesen Versen jedoch klar: Es ist letztlich wohl die Erfahrung des eigenen wie des fremden Leides, die jenes Maß in Frage stellt, die Harmonie der Welt zerbricht, die freilich eine scheinbare war, weil sie die negative Dimension des Lebens ausgeschlossen hatte. Die Klagen über das ausweglose Versinken in den „Jammertäler[n]“ widerrufen jedoch auch die bekannten Worte Tassos in der Schlussszene von Goethes Schauspiel: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/ gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.“ Von dieser Gnade ist hier nicht mehr die Rede. Die Leidenserfahrung, die diesem Gedicht zugrunde liegt, lässt die Welt ins Wesenlose versinken. Die einzige Wirklichkeit ist die der Schmerzen und der einzige Ausweg aus ihr scheint die Selbstvernichtung: Ich wusste nicht, dass man nichts mehr sehen kann und hören, alles verloren, darüber hinaus, mit einem Sprung aus dem Fenster, einem Mal am Hals, einem gekreuzigten Körper und zuwenig Freisprüche sind, für ihn zuwenig (KBW, 72) Die Sprache begnügt sich mit einfachen Feststellungen, deren emotiver Untergrund nur im Verzicht auf eine rational strukturierte Syntax fühlbar wird. Der „gekreuzigte Körper“ verweist noch einmal auf die märtyriologische Typologie des Selbstverständnisses. Bachmann kleidet ihre der Goetheschen so gegensätzliche Erfahrung in das Bild von der „großen Musik“, die ihr fehlt, jene Musik, die das Leiden vergessen lässt, das heißt wohl seine Verwandlung in Ausdruck, ins Wort, die immer auch Verklärung der grausamen Wirklichkeit ist: und bettle und wein, seht ihr’s, aber ich hab nicht die große Musik die abführt einen der den Abgang
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nicht findet, in den Schlaf, in den Tod. (KBW, 72) Die Kunst, idealistisch mit der Macht ausgestattet, vom Schmerz zu erlösen – sei es nun durch den Übergang in den Schlaf oder den Tod – hat angesichts der Übergewalt der Wirklichkeit ihre Ohnmacht bewiesen. Die versprochene Rettung kommt nur den anderen, den „Figuren“ zu, den künstlichen Schöpfungen, die „reiner“ sind, also nicht an der Bindung und Beschmutzung durch die Alltäglichkeit leiden. Doch ist ebenso offenkundig, dass ihnen damit jene Aura der Authentizität fehlt, die an die Leiden der Subjektivität gebunden ist: Verklärung – für uns nicht, für die anderen, die Figuren, die sind reiner, Wo ich nicht sein kann. (KBW, 72) Mit der Abdankung dieses heroischen Begriffes von Genie und Kunst verabschiedet sich auch die Idee des herrschaftlichen Subjekts: Das Ich erkennt sich wieder in einem vom Wind bewegten und vor sich hergetriebenen Blatt, Zeichen der Unfähigkeit, Herr der eigenen Lage zu werden, aber auch Zeichen der Unfähigkeit, zu seiner wahren Erkenntnis zu kommen: Nämlich ich bin auf diesem Papier, und in dem Wort, das ich gebe. (KBW, 72) Diese Erfahrung des Selbstverlusts, ja der Selbstvernichtung in der Identifizierung mit einem vom Wind davongetragenen Blatt Papier, gipfelt im Schlussbild des Gedichts, mit dem das Ritual der Selbstbeschuldigung in einer schrecklichen Anklage endet: denn das Papier das flattert, da kann ich auch nicht ruhen, und ich flattere auf Fetzen den Weg daher, dahin, da wickelt einer sein blutiges Messer hinein, damit’s niemand sieht. (KBW, 73) An dem Bild mag einiges logisch unstimmig sein. Das Papier, wenn auf ihm nur die Spuren der Leiden verzeichnet sind, mag nicht ausreichen,
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um die Spuren eines Meuchelmordes zu verwischen. Doch der intendierte Sinn, dass Literatur auch dazu dienen kann, die Wahrheit zu verbergen, drängt sich unabweisbar auf. Bachmanns Gedichte aus diesen Jahren definieren sich jedoch polemisch als Versuch, die Worte zu finden, um die ganze Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Die monomanische Ichbezogenheit dieser Gedichte aus dem Nachlass wird nur selten durch den Versuch durchbrochen, das eigene Schicksal in einen weiteren gesellschaftlichen Rahmen zu stellen. Die Ausdrucksprobleme, denen sich Ingeborg Bachmann dabei gegenüber sieht, sind nicht allzu verschieden von denen, die ihr bei dem Versuch begegnet waren, das eigene Schicksal zu definieren. Aber überdies verbindet die Welt der Innerlichkeit und die der gesellschaftlichen Dimension ein gemeinsames zentrales Thema: das des Schmerzes und der Leiden, vielfach vor allem durch die Schuld der anderen. Diese Gedichte erscheinen als ein letzter und wohl gescheiterter Versuch, sich nicht vom eigenen Leiden überwältigen zu lassen, sondern Zuflucht in einer ideellen Gemeinschaft zu suchen, in der sich das Individuum aufgehoben fühlen kann. Die dabei verwendete Sprache macht offenkundig Anleihen bei jener, die in diesem Bereich der Öffentlichkeit gesprochen wird. Der Schein der Unmittelbarkeit und der Nähe zur Wirklichkeit, der dabei entsteht, beruht auf dem in diesen Versen wahrnehmbaren Echo der in den beginnenden sechziger Jahren aufflammenden politischen Diskussion mit ihrer immer stärker werdenden Kritik am kapitalistischen System im Namen eines utopischen Marxismus, der bewusst die allzu große Nähe zum realen Sozialismus jenseits der Mauer vermeiden will. Das anspruchsvollste und letztlich wohl auch gelungenste Gedicht aus dieser so kleinen Gruppe ist wohl Eintritt in die Partei. Schon der Titel spielt eindeutig mit dem Gedanken, aus der Vereinzelung der ästhetischen Existenz hervorzutreten und einen Platz in einem Kollektiv zu suchen. Dessen Züge lassen sich jedoch historisch nicht so leicht identifizieren. Der bestimmte Artikel weist nach geläufigem Sprachgebrauch auf eine Situation, in der nur eine Partei zählte. Welche nun genau damit gemeint ist, bleibt freilich unentschieden, obwohl auf den ersten Blick hin einige linguistische Indizien in eine bestimmte Richtung deuten. Dieses Gedicht endet nämlich ausdrücklich mit der Hoffnung auf das Kommen der Revolution. Doch die Revolution, die hier beschworen wird, hat durchaus eigene und überraschende Züge und nicht nur deshalb, weil sie auch das eigene Herz verwandeln soll, was durchaus auch in die Tradition utopischen Denkens passt. Die Identität der Partei, in die das lyrische Subjekt eintreten zu wollen
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scheint, entzieht sich einer eindeutigen Identifikation. Dazu trägt natürlich vor allem bei, dass Ingeborg Bachmann in der hier verwendeten politischen Rhetorik zunächst im Wesentlichen moralisch argumentiert. Sie vermeidet den Gebrauch des damals gängigen gesellschaftsanalytischen Vokabulars: Ist denn ein Mensch nichts unter Brüdern wert? Verleumdet und bespien, verhöhnt, verlästert, wer weiß es nicht, für eine Guttat, die sich nicht beweist. (KBW, 9) Implizit wird wohl an die Idee der Brüderlichkeit erinnert, die aus der Französischen Revolution stammt, doch die Verse „Verleumdet und bespien, verhöhnt, verlästert“ verweisen sehr wohl auch auf ein religiöses Umfeld, denn sie zitieren das Schicksal des Menschensohns, so wie es in den Evangelien stilisiert ist. Der gute Mensch erscheint als Opfer einer letztlich bösartigen Welt, die unfähig ist, die wahren Werte zu erkennen, weil sie keine sichtbare Beweiskraft in sich tragen. Die Kritik an der Gesellschaft heftet sich an Phänomene, die vor allem die moralische Unzulänglichkeit der einzelnen hervorstellen. Die Strophe Die Ehre, verkauft an jedem Stammtisch. In aller Mund als dreckige Anekdote. Das Unmaß eines Gefühls ermordet von geschäftiger Nutznießerei. Mit der Aufstellung der Einnahmen beschäftigt die Skrupellosigkeit. (KBW, 9) liest sich etwa wie ein Abstract von Heinrich Bölls Romanen. Ihr moralisches Pathos hat kaum etwas mit der bald gängig gewordenen politischen Argumentation zu tun, was durchaus kein Nachteil sein muss. Was aber für die Einschätzung des Gedichtes von besonderer Bedeutung ist: Die vom Titel angekündigte Thematik erscheint nur in verfremdeter Form, so als ginge es darum, erst eine ganz neue Partei zu schaffen. Die Genossen sind zu „Brüdern“ geworden, und was noch mehr zählt, die Solidarität zwischen Genossen hat sich auf die ganze geschundene und verfolgte Tierwelt ausgeweitet, was nicht nur den von der Wirtschaft gewollten Tierversuchen gilt. Es geht also nicht mehr um gesellschaftliche Konflikte nach dem traditionellen Klassenkampfschema, sondern um einen Mangel, der in der gegenwärtigen Kultur oder sogar in der Natur des Menschen verankert ist. Ingeborg Bachmann will offensichtlich nicht mit den geläufigen ideologischen oder auch religiösen Kollektiven in Verbindung
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gebracht werden. Angesichts des universellen Leidens, dem die Kreatur unterworfen ist, verliert selbst die Verkündigung der Liebe durch den Fleisch gewordenen Gott ihre Glaubwürdigkeit: Ich nehme in Anspruch meine Wenigkeit. Wenn aber Gott Fleisch geworden ist und ins Reagenzglas kommt und Farbe bekennt, wenn er die Liebe sein sollte und ich zweifle, dass etwas sein könnte von dieser Art, wird mich das wenig trösten. (KBW, 9) Angesichts der grausamen Mechanismen der Wirklichkeit ist selbst die Vorstellung eines Gottes der Liebe kein Trost. Auf gesellschaftlicher Ebene kann sich Ingeborg Bachmann freilich aus der Opferhaltung lösen, die für sie im persönlichen Bereich so schwer abzustreifen ist. Opfer zu sein ist kein moralischer Wert, ganz im Gegenteil. Die romantische Verklärung derer, die Opfer dieser grausamen Umstände werden, liegt ihr ganz fern. Sie nimmt eine durchaus kritische Haltung ihnen gegenüber ein, was nun wohl letztlich auch für sie selbst gelten mag. Das Vertrauen in ihre Kraft, durch eigene Entschlüsse ihrer Rolle zu entgehen, ist gering, denn: „Ich weiß, daß man die Opfer hier zwingen muss, / zueinander, ohne Vereinbarung noch“. Das scheint nicht weit entfernt von der Idee der Zwangsbeglückung durch die gesellschaftliche Organisation unter Aufsicht leitender Organe, eben der Partei, die es besser weiß, doch in Wahrheit sieht Ingeborg Bachmann dabei weit über die gesellschaftliche Wirklichkeit hinaus und meint, ein universelles Lebensphänomen in den Griff zu bekommen: Fliegenart will ein paar Tage, der Paria einen Blick in den Kastenschlitz, die Ratte, die Ich, die gänzlich Erniedrigten, wollen die Rache, eh sie geschändet sterben – wollen ein Wort des Bedauerns. (KBW, 9) Der Kampf ums persönliche Überleben macht blind für kollektive Strategien. Was hier der geschundenen Kreatur vorgeworfen wird, ist das Bedürfnis, den beschränkten individuellen Wünschen nachzugeben, sich mit ihrer augenblicklichen Befriedigung zufrieden zu geben. Der Ton der Verachtung in diesen Worten ist nicht zu überhören. Er gilt der Unfähigkeit, über die spontane Wunscherfüllung hinauszusehen, das eigene Schicksal in einem größeren Zusammenhang zu verstehen.
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Nun erst fallen die Worte, die seit hundert Jahren in den Sprachschatz gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Revolutionspolemik gehören und damit eine Verbindung zwischen dem Gedicht und der kritischen Gesellschaftstheorie herstellen: „Kapital“, „zinsentragend“ und „Ausbeutung“. Sie sind gleichsam der Besitz derer, die nicht Gefangene der Unmittelbarkeit sind. Doch erfahren sie in der Tat eine schwere semantische Verschiebung: Die Kommune verzichtet. Das Kapital einer zinsentragenden Grausamkeit steht gegen das Kapital eines abnehmenden Schmerzes. Diese Gesellschaft richtet sich dennoch selbst. (KBW, 10) Es handelt sich offenkundig nicht mehr um Begriffe aus dem Wirtschaftsbereich: Es geht um psychische Erfahrungen, die mit diesem Wortschatz umschrieben werden und dadurch eine neue gesellschaftliche Dynamik erhalten. Der Feind ist nicht das bürgerliche Finanzkapital, sondern „das Kapital einer zinsentragenden Grausamkeit“, einer Art von metaphysischer Kraft, ein negatives Seinsprinzip, das sich von selbst „zinsentragend“ vermehrt. Ihr Gegner ist nicht das organisierte Proletariat, sondern „das Kapital eines abnehmenden Schmerzes“, das wohl dann anwächst, wenn die Schmerzen weniger werden. Die Geschichte wird also interpretiert als ein Kampf zwischen Tätern und Opfern, der sich als ein kommunizierendes Gefäß darstellt, in dem die Zunahme des einen Elements die Abnahme des anderen bedeutet. Ist der letzte Vers als Anspielung darauf zu verstehen, dass die der Gesellschaft immanente Dynamik von selbst dafür sorgen wird, dass alles anders wird? Die letzten zwei Strophen nähren einige Zweifel daran. Sterben ist es nicht, Aufstehen ist das Wort. Ohne Verständnis für die Ausbeutung diese Ausbeutung beenden. Es komme die Revolution. (KBW, 10) Das lässt sich wohl nur als Aufruf zum Eingreifen verstehen, aber eine Revolution besonderer Art, schwerlich mit dem ineins zu setzen, was sich in der politischen Protestbewegung jener Jahre abzeichnete. Denn den Akteuren der hier beschworenen Revolution fehlt eben das, was damals unentbehrlich schien, ein politisches Bewusstsein. Ingeborg Bachmann träumt den Traum einer spontanen Auflehnung gegen die für das schwa-
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che Individuum unhaltbaren Zustände. Es gilt, die Ausbeutung – worin sie auch immer bestehen mag – zu beenden, „ohne Verständnis für die Ausbeutung“, gleichsam über den Kopf derer hinweg, die ihre Opfer sind, ohne dass sie sich Klarheit über die Mechanismen und den Charakter dieses Phänomens schaffen können. Ingeborg Bachmanns Traum vom Aufstand gegen das Leiden lässt freilich im Dunkeln, wer die Verantwortlichen für die Grausamkeit sind. Die letzten Verse drücken jedoch eine eher gedämpfte, ja resignative Erwartung der Revolution aus: Es komme, so mag es denn kommen. Ich zweifle. Aber es komme die Revolution. auch von meinem Herzen, (KBW, 10) Man darf die unvollendet abbrechenden Verse als Zeichen eines wohl nicht beseitigten Zweifels an der Möglichkeit und dem Sinn einer Revolution auch dieser Art lesen. Auf wie unsicheren Grundlagen dieser Aufruf zur Revolution ruht, wird spätestens dann deutlich, wenn man zwei motivisch sehr eng miteinander verbundene Gedichte (KBW, 20–21) liest. Der erste Vers „Ich weiß keine bessere Welt“ (KBW, 20) hört sich zunächst wie die triumphierende Erklärung eines unverbesserlichen Konservativen an, der sich mit dem Bestehenden eins weiß, weil alles gut sein muss, was in das Sein tritt. Es ist gerechtfertigt durch das bloße Gewicht seines Daseins. Doch der zweite Vers: „Die schwachsinnige Moral der Opfer lässt wenig hoffen“ (KBW, 20) gibt eindeutig zu verstehen, dass diese Behauptung aus der Enttäuschung über jene hervorgeht, denen allein nach damals gängiger Überzeugung der Wunsch und auch die Kraft zu einer Umgestaltung der Welt zukommen sollte, die „Opfer“ des Bestehenden. Doch eben mit ihnen verbindet sich wegen ihrer „schwachsinnigen Moral“ keine Hoffnung. Was damit gemeint sein könnte, sagt einer der folgenden Verse: Eine verruchte Frage, auf Ehre, allein, kommt dem Gefolterten, dies Überlebens sich wert zu zeigen, im Angriff, abzulegen die schwachsinnige Moral der Opfer sich zu erheben, dieses Geröchel nicht mehr zu werben um eine Stunde. (KBW, 20) Das auf den ersten Blick so harte Urteil bezieht sich auf die Passivität der Opfer, auf ihre Unfähigkeit, dem Leiden durch „Angriff“ abzuhel-
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fen. Dies ist wohl auch der Inhalt der „verruchten Frage“, die vier Mal – gleichsam wie eine idée fixe – im Verlauf des Gedichts erinnert wird. Verrucht vielleicht deshalb, weil sie das fast Unmögliche als möglich unterstellt. Die erwartete Antwort ist die wortlose Tat. Das „Geröchel“ der Leidenden weckt eine idiosynkratische Ablehnung, so als wäre es einfach nicht mehr erträglich, welche guten Gründe es auch zu seiner Rechtfertigung haben könnte. Doch verliert sich das Gedicht gerade an dieser Stelle, als es darum geht, die Möglichkeit des „Gutseins“ („selige Fragen“) in diesem Rahmen doch noch vielleicht zu retten: Auf verruchte Fragen, nicht die seligen, gibt es nicht auf die seligen, der die da leiden auf die verruchtesten finden sich eine Antwort. der die da leiden, lassen sich stellen. Die schöne Seele (KBW, 20) Die Logik des Aktivismus, in der für das Leiden kein Platz ist, hat schneller eine Antwort zur Hand als die Reflexion über die Rettung des Wahren, Schönen und Guten unter diesen Bedingungen. Die letzte Zeile zitiert einen der zentralen Begriffe des Weimarer Humanismus, die „schöne Seele“. Ist sie als die Repräsentantin dieser positiven Werte gedacht? Dann ist zumindest dem Leiden und dem Verzicht eine zentrale Stelle in dieser Wertehierarchie zugewiesen, was sich wieder nicht leicht mit der „schwachsinnigen Moral der Opfer“ vereinbaren lässt, die vielleicht auch Ingeborg Bachmann nicht fremd war, so dass dieses Gedicht auch als eine Art Selbstkritik zu verstehen wäre. Trotzdem soll die Hypothese gewagt werden, dass die Existenz der „schönen Seele“ eine Versuchung war, der sie sich nicht stellen wollte. Wie sehr die Flucht ins seiner Ziele bewusste Handeln von Zweifeln begleitet war, wird an den Versen des zweiten angekündigten Gedichts deutlich, das den Titel der Sammlung geliefert hat: Ich weiss keine bessere Welt. Wer weiß eine bessere Welt, der trete vor. Allein, nicht mehr in Tapferkeit, und diesen Speichel nicht abgewischt diesen Speichel, im Gesicht ihn tragen, als ging es zur Krönung, und dies vergolten, es geht zur Kommunion, (KBW, 21)
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Der erste Vers stellt die Frage aller Fragen für den, der in dem bestehenden Zustand der Welt keine Heilsmöglichkeit mehr findet und nur mehr auf die völlige Revolutionierung des vorhandenen Zustands hoffen kann. Der Titel schlägt sich eindeutig auf die Seite derer, die wenn sie schon nicht wie Leibniz an die Existenz der besten aller Welten glauben, so doch mit der vorhandenen ihr Auslangen finden wollen. Das lyrische Ich misst sich jedoch herausfordernd mit denen, die auf eine Veränderung hoffen. Wer sich diese Tat zutraut, der möge sich zu erkennen geben, das ist wohl der Sinn dieser Aufforderung. Der Tonfall, in dem dies geschieht, ist freilich der des Unglaubens. Er rechtfertigt sich an dem hohen Maßstab, der an den sich berufen Glaubenden angelegt wird. Von ihm wird verlangt, dass er den Mut besitzt, der Erniedrigung standzuhalten, ja ihre Spuren gleichsam zur Schau zu stellen. Seine Beschwörung ist offenkundig mit religiösen Erinnerungen besetzt: der Speichel im Gesicht, die Krönung des geheimen Königs, die Kommunion als utopische Form gesellschaftlicher Beziehung, all das enthält Anklänge an die Lebensgeschichte des christlichen Religionsgründers. Sie steht im Zeichen des Leidens, des Martyriums, wie die Existenz aller schwachen und verfolgten Kreatur, des Kaninchens wie der Ratte. Doch entwickelt sich das Gedicht nicht diskursiv, sondern assoziativ, im Aneinanderreihen von nur angedeuteten Bildern, deren Bedeutung sich nur hypothetisch erschließen lässt. Geht es um einen Appell an die Solidarität der Leidenden, zählen diese fragmentarischen Verse auf die Kraft der Masse? Denn an die Erinnerungen der Leiden und Schwäche schließt sich der Begriff des Schreckens und der des Traums von der Wiederkehr und von der Bewaffnung an, so als läge im Leiden aller eine implizite Bedrohung, vielleicht in Form der Dynamik von Vergeltung. Diese Spuren eines Versuches, die Erfahrung des Leidens im gesellschaftlichen, ja universellen Zusammenhang zu sehen, verlieren sich bald. Die weiterhin auftauchenden Beziehungen zur Zeitgeschichte sind nicht Teil einer aktiven dialektischen Beziehung zur zeitgenössischen Umwelt. Wenn ihre Negativität auch überaus deutlich hervorgestellt wird, so ist diese nur Quelle verstärkten Leidens und die Selbstrettung hat zur Voraussetzung, dass es gelingt, die Außenwelt beiseite zu schieben. Das Gedicht Das deutsche Wunder ist dafür das überzeugendste Beispiel. Es hat zur Voraussetzung die Berliner Szenerie nach dem Mauerbau und die damit verbundenen politischen Spannungen, obwohl nicht direkt darauf eingegangen wird. Der Titel selbst ist ironiegetränkt: Das Wunder, von dem die Rede ist, ist keineswegs das deutsche Wirtschaftswunder, dem damals die allgemeine Bewunderung und auch das allge-
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meine Selbstlob galt. Das Wunder zielt, wie am Ende deutlich werden wird, auf ein durchaus privates Ereignis, die Überwindung der Schlaflosigkeit, die Ausdruck existentieller Krise war. Das Gedicht beginnt mit Versen, die wie ein fernes Zitat aus Benns Gedicht Spät klingen: Dort ging es um die Beschwörung endzeitlicher Erfahrung, der persönlichen des Alters wie der geschichtlichen. Aber die dort eher ironische, wenngleich nicht ohne sentimentalen Beiklang entworfene Großstadtidylle der in „freundlichem Licht“ durch die City fahrenden Bierwagen mit ihrem Versprechen von Erfüllung, welcher Art auch immer, hat sich bei Ingeborg Bachmann in Bedrohliches gewandelt: Frühmorgens, wenn Fruchtlieferwagen durch die Stadt poltern, wenn die S-Bahn durch dein Bett fährt und die Einflugschneise tiefer hängt als sonst, (KBW, 133) Die polternden „Fruchtlieferwagen“ sind Teil einer Lärmtortur, zu der die S-Bahn, die landenden und startenden Flugzeuge und dann in der zweiten Strophe die lautstarken Manöver der Amerikaner im geteilten Berlin gehören. Die Schüsse, die zu hören sind, wirken wie die Vorwegnahme des Ernstfalls und die vorgestreckten Bäuche der Generäle lassen keinen Zweifel zu, dass die Sympathie der Leidenden nicht ihnen gilt: Frühmorgens, wenn die Amerikaner im geteilten Berlin das Manöver beginnen, wenn die Schüsse fallen, als ginge es an, […] Frühmorgens, wenn es hell ist und im Tiergarten die Generäle ihren Bauch vorstrecken, […] (KBW, 133) Das Leiden der Schlaflosigkeit geht gleichsam über in das Leiden an der Großstadt und an der geschichtlichen Situation. Aber es ist eine nur scheinbare Gleichung. Denn eben aus der viermaligen Wiederholung am Strophenbeginn „Frühmorgens, wenn …“, der in leichter Abwandlung die Antwort entspricht, „mußt du, du mußt / du kannst nicht schlafen“, steigt schließlich auch das Zeichen der Erlösung, des Versinkens in den
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ersehnten Schlaf auf, der wie die Vorwegnahme des Todes, des ewigen Vergessens und Abschieds ist. Alle die Beziehungen zur negativ erfahrenen Zeitgeschichte sind folgenlos – weder die Drohgebärden der amerikanischen Beschützer, die Ahnung der stillschweigenden Anwesenheit von Geheimdiensten, das Leid und der Triumph der Flüchtlinge, noch die als Entfremdung erlebte Maschinerie der Justiz können letztlich das Versinken in den rettenden Schlaf aufhalten. Es ist im Gegenteil sogar die Undeutbarkeit der Zeichen der Geschichte, die zum Schlaf und Vergessen einlädt. Der Gongschlag – ein weiteres Benn-Zitat aus Stilleben, Teil einer Metapher, die das Gefühl der Endzeit in die Schlussphase eines Boxkampfes verwandelt, es ist spät, die Schläge verteilt noch ein wenig Clinch und halten, Gong – ich verschenke die Welt […]3 beendet die letzte Runde in einem nur vorläufig gewonnenen Kampf. Die Teilnahme am Geschehen der Welt stand im Zeichen des Leides und der Ablehnung, aber der wahre Feind war nicht in ihr aufzufinden, sondern blieb ungenannt als die quälende Ursache einer Schlaflosigkeit, von der befreit zu werden wie der Eingang in die Ruhe des Todes erscheint: wenn du deinen Korridor findest, in den Tod, in die Abgeschiedenheit ins Vergessen dann schläfst du, beim Gongschlag und sie sprechen über den Schlaf wie über ein Wunder. (KBW, 134) Die Leiden der Welt verblassen vor den Qualen der eigenen Existenz, deren Ursachen jedoch jenseits des Aussagbaren verborgen bleiben. Ich und Welt dissoziieren in zwei nicht mehr verbundene Bereiche. 3 Gottfried Benn, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verbindung mit Ilse Benn hrsg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 1986, Bd. 1: Gedichte 1, 250 – 251.
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Die so oft beschworene Stärke als einzige Verteidigung gegen die Aggression der Wirklichkeit scheint in Wahrheit nur der verzweifelte Versuch, sich von den eigenen Leiden zu dissoziieren, nicht das Schicksal des Opfers auf sich zu nehmen. Das schien Bachmann offenkundig nur dadurch erreichbar, dass sie die eigene Rolle als Dichterin mit all den darin enthaltenen Ansprüchen auf öffentliche Wirkung verteidigte, ja darin die wahre und einzige Lebensberechtigung erblicken wollte. Um diese Rolle zur Geltung zu bringen, zögert sie nicht, ganz ungeschminkt die sakrale Dimension ihres dichterischen Amtes hervorzuheben oder doch zumindest ein nicht sofort zu durchschauendes Spiel mit ihr zu treiben. In Meine Zelle, offenkundige Anspielung auf eine existentielle Situation, die als Gefängnis und Isolation von der Welt erfahren wird, hat sich Ingeborg Bachmann einerseits wie kaum in einem anderen Gedicht dem Brennpunkt des Schmerzes genähert, jedoch auch zugleich ein höchst ambivalentes, ja schillerndes dichterisches Gebilde geschaffen, dessen wahre Bedeutung sich erst mit dem letzten Vers erschließt. Wieweit Ingeborg Bachmann dabei eine bewusste Strategie verfolgte, oder sich von den Impulsen der fortschreitenden Inspiration mitreißen ließ, muss freilich dahingestellt bleiben. Dabei beginnt das Gedicht mit zwei Versen, die Verzweiflung und Hybris untrennbar zu vermischen scheinen und damit den allgemeinen Ton des Gedichtes schon vorwegnehmen: „Wo die anderen Körper / haben, hatte ich Genie […]“ (KBW, 83) Die Fähigkeit, Kunst zu schaffen, scheint an den Verlust der kreatürlichen Sicherheit gebunden, an die Entfremdung von Geist und Leben, wie sie vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende zelebriert wurde. In der Wendung, die Ingeborg Bachmann benutzt, überwiegt jedoch beinahe der Stolz auf das eigene Schicksal der Erwähltheit. In der darauf folgenden Strophe äußert sich ein schroffer Selbstbehauptungswille, der auf den eigenen Wert im Namen einer fast religiösen Berufung besteht. Das lyrische Ich ist wohl Märtyrer und Opfer, aber zugleich bewirkt es durch seine Leiden die Erlösung, welcher Art auch immer sie sein mag, denn die wohl vertrauten linguistischen Chiffren werden nicht eingelöst. Jedenfalls sind die religiösen Beziehungen in der Wahl der sprachlichen Mittel nicht zu übersehen: Aus meinem rauchenden Blut wird etwas entspringen, da kann einen Tag die Welt retten. (KBW, 83)
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Die hier dargestellte künstlerische Existenz als Leiden und bildlich gesprochen blutiges Opfer erinnert deutlich an die von Benn in der Zeit seiner politischen und künstlerischen Isolierung während des Nationalsozialismus entwickelte Ideologie absoluter ästhetischer Werte, die vor der Nachbarschaft zu religiösen Symbolen nicht zurückschreckte. Doch der Anspruch Ingeborg Bachmanns geht darüber noch hinaus. Bei Benn war die Stimme des Dichters die des Propheten, der im „Namen dessen, der die Stunden spendet“ 4, spricht und sich in die Reihe historisch verbürgter Märtyrer, darunter zweifelsohne Jesus Christus, einfügt. Der Vorgang schöpferischen Schreibens wurde dabei gleichgesetzt mit einem Prozess vor einem Tribunal, in dem über die Geschichte geurteilt wird. Ingeborg Bachmann geht darüber hinaus, wenn sie ausdrücklich von der eigenen Rolle einer möglichen Retterin der Welt spricht. Ihre dichterische Berufung erscheint als letzte Sinndeutung des eigenen Lebens, auch weil sie mit einer auf die Gesellschaft bezogenen Rolle verbunden ist, also nicht nur auf Selbsterlösung ausgeht. Wie oft in der typologischen Retterfigur, die religiösen Ursprungs ist, auch wenn sie auf gesellschaftlicher Ebene wirkt, ist die Rolle des Opfers untrennbar mit seiner Existenz verbunden. In diesem spezifischen Fall betreffen die Leiden des lyrischen Ich den Verlust alles dessen, was die kreatürliche Qualität seines Lebens ausmacht. Eindeutig ist diesmal die Schuldzuweisung an andere, wenngleich ihre Identität im Dunkeln bleibt: Jedes Gefühl in mir haben sie ausgeräuchert, ich weiß nicht was warm oder kalt oder blau ist. Ich hör einen einzigen hohen Ton, auch wenn die Musik nicht angeht, Ich sehe tränengrau, wo die anderen Farben [–] (KBW, 83) Es dominiert das Gefühl des Verlustes und des Andersseins, der Ausschließung als Ergebnis einer Aggression, von der man nicht weiß, ob sie Absicht oder gedankenlose Grausamkeit war. Worin diese Aggression freilich bestanden hat, die diese vernichtende Wirkung hervorgerufen hat, wird nur ganz allgemein umschrieben: 4 Gottfried Benn, Gedichte, in: Ebenda, 186.
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Ich denke nichts, solang will ich nichts denken, bis die Schmach weggenommen getilgt ist bis die Beschimpfungen genommen sind von mir. (KBW, 83) Grund für die eigene Verstörung sind die erfahrene „Schmach“ und „die Beschimpfungen“, die nach Sühne verlangen. Solange sie nicht getilgt sind, bleibt das lyrische Ich in seiner inneren Erstarrung und Abwehrhaltung der Welt gegenüber. Auch hier orientiert sich die Wortwahl („Schmach“, „von mir nehmen“) an religiösen Vorbildern. Leiden und Verdienste des Genies gehören eindeutig einer religiösen Ordnung an: Man hätte mit mir, mit jeder meiner Zellen eine Himmelfahrt machen können. Das Meßopfer auf meinen Wunden auf meiner Brust die Litanei der Bitten und Vergebung ist noch nicht dargebracht. (KBW, 83) Es ist von der Himmelfahrt die Rede, vom Messopfer, von der Litanei, vom Kniefall und von der Vergebung, alles Begriffe, die in der religiösen Tradition eine feste Bedeutung haben, hier freilich aus ihrem gewohnten Kontext losgelöst werden. Die Himmelfahrt ist freilich wohl eher das Versprechen von Glück, einer säkularisierten Form der Erlösung, die das lyrische Ich kraft der ihm innewohnenden magischen Macht gewähren könnte. Das Messopfer, das es für sich verlangt – in den christlichen Konfessionen Erinnerung oder Wiederholung der Selbstopferung Jesu – wird hier ritualisierte Feier des eigenen Leidens, der Wunden auf der Brust, die blasphemisch an die Jesu auf dem Kreuz erinnern, doch vielleicht auch nicht allzu blasphemisch, nachdem das Bild des Gekreuzigten ja auch eine idealtypische Darstellung allen menschlichen Leidens sein soll. Wie die Heiligen sieht sich die Dichterin als Objekt der Verehrung und als Spenderin von spirituellen Gaben, doch vor allem auch als verletzte Autorität, die wie der beleidigte alttestamentarische Gott auf die schuldige Sühne wartet:
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Ich sage Euch, und nicht durch Blumen daß die Litanei fehlt und daß ich warte auf den Kniefall und die Gerechtigkeit und daß ein Freispruch nur von mir kommen kann. (KBW, 84) Die Litanei der Bitten, von der die Rede ist, zielt wohl auf die Gewährung der Vergebung für die ihr angetanen Leiden. Dass es um die Abbitte für eine tiefe Kränkung geht, sollte nicht bezweifelt werden, wenn man an das religiöse Sprachfeld denkt, innerhalb dessen sich diese Strophe bewegt. Sogar von einem „Kniefall“ ist die Rede, auf den das lyrische Subjekt wartet, ehe der oder die Sünder freigesprochen werden können in einem Prozess, der die Gerechtigkeit wiederherstellt. Und nur sie besitzt die Macht, Vergebung zu gewähren. Eben dieses Motiv der Rechtsprechung und des Urteils wird dann noch weiter ausgebaut und dient dazu, dem lyrischen Subjekt die Züge eines universalen Richters über die Zeit zu verleihen: Es ist eine unversöhnte, ja unversöhnliche Instanz, die hier spricht, ein Gott, der zürnt, weil es die Schuldigen eben an dieser Geste der Unterwerfung haben fehlen lassen, so dass weder Gerechtigkeit noch Vergebung möglich geworden sind. Der Erkenntnis und dem Urteil dieses inappellablen richterlichen Ich kann keine Minute der Vergangenheit noch auch ein Tag der Zukunft entgehen: o wie richt ich, wie habe ich gerichtet, dreihundert eine Million Minuten und kommen 300 Tage und immer neue Tage, und ich gebe nicht frei, was mich nicht freigibt, spreche nicht frei, was mich tagtäglich nachtnächtlich zur Leidenschaft verurteilt, (KBW, 84) Es scheint um ein an Kafkas Erzählung Das Urteil erinnerndes Delirium richterlicher Allmacht zu gehen, das ersichtlich Kompensation sein soll für eine vernichtende Kränkung. Die Identität des Angeklagten wie seine
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Schuld bleiben anonym, nur ihre tödliche Wirkung ist klar ausgesprochen. Doch die letzten Zeilen des Gedichtes tauchen all dieses Pathos in ein neues Licht, denn was wie eine maßlose Hybris sich ausnahm, verwandelt sich auf einmal in das gewagte und missverständliche rhetorische Mittel der Sprache der Leidenschaft. Richter, Gericht und Verurteilter sind die Teilnehmer an einem Prozess, in dem es um die Leiden der Liebe und die Bedeutung der menschlichen Beziehungen, aber auch um die Ambivalenz der von ihnen entfesselten Gefühle geht. Es ist das ganz persönliche Schicksal des lyrischen Subjekts, über das hier verhandelt wird, aber die empirische Person und die von ihr beanspruchte ästhetische Rolle sind ununterscheidbar. Und trotz dieser Relativierung der religiösen Dimension des Gedichts bleibt das Pathos ihrer Sprache unbeschädigt. Freilich hat eben die Analyse dieses Gedichtes zu verstehen gegeben, dass semantische Elemente, die auf den ersten Blick eindeutig in ein bekanntes Wortfeld einzuordnen scheinen, durch den syntaktisch vermittelten Kontext in ihrer Bedeutung wieder verschoben werden. Wenn Ingeborg Bachmann auch die ästhetische Distanz eingerissen hat, die ihrer früheren Metaphernsprache zugrunde lag, so gewinnt sie sie nun zumindest für Augenblicke zurück, wenn sie sich einem Spiel mit der Sprache überlässt, das delirierend den Schmerz vergessen lassen will, der Anlass des Gedichtes war. Verse wie Politik der Schwäche oder eine verlorene Liebe nehmen sich aus wie ein dialektisches Spiel mit dem Sprachmaterial, das aus dem Umkreis einer langen Tradition der Liebeslyrik stammt, so dass es für Augenblicke scheint, als könnte die Dichterin die herandrängende Wirklichkeit durch das Sprachspiel beherrschen: Eine verlorene und wie man das nennt und immer noch eine und eine Liebe das heißt sich gewinnen, gehen und leben, das heißt sein von den Fußspitzen bis zu den Haar spitzen, das heißt leben, […] (KBW, 152) Nach dem Einsatz in einem durchaus umgangssprachlichen Register geht es zumindest teilweise darum, die möglichen semantischen Beziehungen zwischen „lieben“, „leben“, „spielen“, „verlieren“ und „gewinnen“ abzuwandeln. Liebe und Spiel bezeichnen die semantischen Pole, zwischen denen die Verse spielerisch und dabei doch auch autosuggestiv die Erfahrung der verlorenen Liebe in dem verzweifelten Versuch umkreisen, dem
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Schmerz nicht nachzugeben, der mit ihr verbunden ist. Dass er in Wahrheit tief sein muss, geht zumindest aus dem emphatischen Begriff der Liebe als wahrem Seinsgrund hervor. Liebe wird also gleichgesetzt dem Leben und damit auch mit dem Erreichen der eigenen Identität. Was es deshalb heißen würde, die Liebe zu verlieren, ist das einfach Unvorstellbare, über das gleichsam ein Tabu verhängt wird, das im Sprachspiel umkreist und relativiert wird. Die Auflösung der Syntax suspendiert auch die diskursive, begriffliche Qualität der Sprache. Der Gegensatz lieben – „leben“ vs. „gewinnen“ – verlieren schlägt die Gedanken in seinen Bann, als müsste in seinem Kraftfeld die Lösung aller existentiellen Rätsel erfolgen. Als könnte dies ein Ausweg aus dem unerträglichen Verlust sein, wird die verlorene Liebe schließlich als verlorene Einbildung denunziert. Das lyrische Ich sucht sich selbst davon zu überzeugen, dass nichts verloren ist, dass an die Stelle des Seins nicht das Nichts getreten ist, sondern eine Form der Alltäglichkeit: […] eine verlorene Einbildung, daß weiter nichts ist als auch leben und gehen und eine Arbeit tun, das heißt nicht viel ist doch zwischen nicht und etwas ein etwas, das heißt, keine verlorene Liebe, das heißt nichts verloren nichts verlieren du bist nicht verloren. (KBW, 152) Das Sprachspiel mit den semantischen Varianten von „verlieren“ – „verloren“ gleicht einem sophistischen Syllogismus, mit dem der doch sehr konkret erlebte Schmerz aus der Wirklichkeit herausargumentiert wird. Die eigene existentielle Situation wird schließlich auf einen Begriff gebracht, der aus dem gewohnten Vokabular der Liebesrhetorik ausbricht und sich an eine ihr sonst ganz entgegengesetzte Sphäre anlehnt, jene der Politik: Zwischen Berlin und Rom und zwischen amtierenden Städten bist du eine Politik der Schwäche machst du eine Politik der Schwäche (KBW, 152) Berlin und Rom, zwei Orte, an denen Bachmann in jenen Jahren lebte, die auch eine eminente geschichtliche Bedeutung haben, wie von dem
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Ausdruck „amtierende Städte“ zusätzlich suggeriert wird, werden zu Bezugspunkten, um sich selbst zu definieren, freilich an Hand einer Anspielung, die mehr verschleiert als sichtbar macht. Die „Politik der Schwäche“ ist außerdem ein Begriff, der in allen Farben schillert. Sie ist Zeichen eines schon mit der eigenen Unterlegenheit, ja sogar mit der eigenen Niederlage rechnenden Handelns, mit dem Anspruch moralisch höheren Wertes, da es auf die Ausübung der Gewalt verzichtet, doch auch mit dem nicht offen eingestandenen Bewusstsein, den Stärkeren kraft der eigenen Intelligenz und subtilen Mittel seine Grenzen fühlen zu lassen. Doch wem gilt die darin enthaltene Mahnung? Die nicht leicht aufzulösende autobiographische Verschlüsselung lässt von diesem Motiv vor allem die Bedeutung der Selbstermunterung übrig, trotz des Gefühls der Unterlegenheit den Kampf nicht aufzugeben. Doch scheint in diesem Motiv auch Selbstmitleid durch. Die Politik der Schwäche schließt offenkundig auch einen Verzicht auf die Idee einer absoluten Liebe mit ein. Nur unter dieser Voraussetzung erscheint es möglich, dass die Liebe als solche noch eine zugängliche Erfahrung ist: Viel liebst du nicht mehr, doch du liebst, du liebst magst ein Haar, magst daß ein Gesicht so ist und magst dich sehen in ihm, du willst seinen Spiegel, du gehst lieber unter in diesem Spiegel als dich zu halten im nirgendwo, du liebst noch eine Hand, liebst noch ein fünffingerknochenspiel, liebst noch daß es spielt mehr, als daß nichts mehr spielt, du liebst noch das spiel, […] (KBW, 152) Doch sind von ihrem emphatischen Begriff, in dem sie mit dem Dasein und Selbstsein gleichgesetzt wurde, nur mehr wenige Spuren übrig geblieben. Aber dies wenige ist immer noch etwas, was es erst ermöglicht, über sich selbst hinauszugehen und den anderen wahrzunehmen. Sie bedeutet also Nähe zum anderen, aber auch Selbsterkenntnis im Spiegel, den das Gegenüber liefert, Spiel vor allem auch als Raum der Freiheit und Selbstverwirklichung, aber gebunden ans „noch“ der vergehenden Zeit. Die Gebundenheit der Liebe an die physische Nähe, die Zeichen des Lebens ist, enthält in sich auch den Keim des Verfalls.
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Die folgende Selbstanalyse lässt sich an Bitterkeit nicht mehr übertreffen. Was bleibt, ist eine verzweifelte kreatürliche Liebe zum eigenen hinfälligen Körper, der sich als „Schlachtfeld“ darstellt, auf dem tödliche Krankheiten um den Sieg kämpfen. Liebe, die über sich hinausweist, verwandelt sich in einen Akt der Pietät, der jedoch voller Ambivalenz ist, denn die Geste der Liebe scheint unterzugehen in dem unbesiegbaren Drang, allem ein Ende zu machen: du liebst noch, liebst einen Körper, der an sich selbst nicht mehr glaubt du liebst sein[e] Hinfälligkeit, Infarkt und die Kluft zwischen dem möglichen Magenkrebs und der Leberzirrhose, du liebst also ein Schlachtfeld, auf dem du, ein Feind, der rosig aussieht, mit deiner Gebrechlichkeit eine Gebrechlichkeit in den Arm nimmst und tötest durch einen Blick auf die Zeit vor Dir auf die Zeit nach Dir auf den Tod, der das eine ist, den Tod, der das andre ist für dich, den der Tod sein wird, das ist bald. (KBW, 152–153) Durch einen Blick zu töten ist der Traum des Ohnmächtigen, der sich der Magie des Geistes anvertrauen muss, weil seine eigenen materiellen Kräfte unzulänglich sind: Die tödliche Kraft nährt sich an der Erinnerung vor die Zeit der fatalen Begegnung und an der Verzweiflung angesichts der unerträglichen Zukunft (nach der Trennung?), für die es nur mehr den Ausweg in den Tod gibt. Die Selbstdarstellung als Schlachtfeld der Vergänglichkeit hat einerseits barockes Pathos, grenzt aber in der klinischen Genauigkeit der Verfallsbeschreibung auch an die naturalistische Protokoll-Sprache. Die Beschwörung des ersehnten und schließlich als nah erfahrenen Todes hat delirierende Züge durch das Spiel der variierenden Wiederholung. Der Tod ist ausweglos, er ist das eine und auch das andere. Es gibt keine glaubwürdige Alternative zu ihm.
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Texte aus der Krise oder das zerbrochene Archiv. Anmerkungen zu den Nachlassgedichten Ingeborg Bachmanns Texte aus der Krise oder das zerbrochene WalterArchiv Busch
I. An Stelle vieler Hinweise auf eine weitgehend hilflose Kritik sei eingangs nur ein Satz von Jean-Luc Nancy zitiert: „Ces poèmes sont vraiment chaotiques et rompus sans être nés, pourtant ils sont là et ils parlent une langue imparlée.“1 Es sind Gedichte, die um Verlust und Versehrtheit, Krankheit, Tod und Schmerz kreisen. Ich will versuchen, das Provisorische, Zerbrechende und Unfertige dieser Niederschriften als Vorteil zu nehmen, als Blickwendung, die helfen kann, das Fadenscheinige aller ästhetisch gelingenden Gestaltung bloßzulegen. Die Lebenskrise hat letzte Motivationen und Legitimationen des Schreibens der Bachmann entblößt. Lassen sich in diesen Texten Züge einer eigenen Poetik erkennen? Konturen einer Gegenpoetik? Linien des Ausbruchs aus vorgegebenen poetologischen Ordnungen? Das Sprechen in den nachgelassenen Gedichten ist unabsehbar in Fluss, es bietet sich ein Feld sprachlicher Kräfte, in dem sich Durchbrüche zu Neuem, Blockierungen und Regressionen überlagern. Mit Schock-Effekten spielt eine andere Strategie, die Tatsachen der vita cruda e nuda – Selbstmord, Krankheit, Abtreibung, klinische und existentielle Fakten – umstandslos in den Text einrücken zu lassen. Es gibt in diesen Gedichten einen provokanten Lakonismus, der sich jeder Zurechtmachung in Kunstformen entzieht, ja mitunter das Durchbrennen der Kunstform zum Selbstzweck erhebt. Da ist etwas nicht zum Schweigen zu bringen, was uns zwingen will, nach den Umständen und Gründen solcher Ausdrucksimpulse zu fragen, die sich da artikuliert haben, aber auch für uns, die Leser heute, 1 Jean-Luc Nancy, ,Je ne connais pas de monde meilleur‘, in: Europe. Revue littéraire mensuelle 81 (2003), Sonderband: Ingeborg Bachmann, 139 –143; hier 140.
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noch wirksam sind, wie etwas, das nicht in die Kunst eingehen und verlöschen wollte. Manche Gedichte verzeichnen die unaufhaltsame Erosion des sprechenden Subjekts, die nackte Erfahrung des Sprechens, das der Gewalt des Körpers, der Krankheit und des Schreis ausgesetzt wird. Immer wieder bricht die Ausdrucksbewegung zusammen, wie unter hoher Spannung stehend. Unübersehbar stellt das gleichsam „erlittene Experimentieren“ mit der Ausdrucksfunktion der lyrischen Sprache das geheime Zentrum vieler dieser Texte dar. Als ob die Ausdrucksfunktion zerfiele, ohne sich wirklich aufzulösen, vor dem Schachmatt behütet durch die letztlich unerschütterliche intellektuelle Selbstpräsenz der Dichterin. Die Texte sind das Ergebnis eines kaum kontrollierbaren Registrierund Aufschreibzwangs; ihr Stil ist uneinheitlich, es dominieren abrupte Tonalitätswechsel, der Leser sieht sich in eine Art verstörtes Vers-SatzLabyrinth hineingezogen. Es fallen die Unterbrechungen bzw. Abbrüche auf, die Aphasien und zugleich die energische Suche nach der Kontrolle über das Wort. In die Augen fällt ein stark akzentuiertes, ja „experimentelles Ich“, das sich in rhetorischen Rollen zu inszenieren versucht. Die intensiv bewegten Sprach-Oberflächen werden markiert durch Pathoswörter, Schlagwörter, ja Fangwörter; die Gemeinplätze einer kollektiven Erregung, der politischen nicht weniger als der kulturellen, sind eingedrungen und wollen vernetzt werden, wie dies z. B. in dem Gedicht Eintritt in die Partei (KBW, 9) geschieht. Diese fremden Wörter bewirken im Text eine durchgehende Polysemie und Vielstimmigkeit. Wie man einen Stein auf einem besonnten Hang weg hebt und unter ihm im Abdruck zerquetschten Grases ein merkwürdig vergilbtes, wimmelndes Leben sichtbar wird, so gestikulieren, schreien, klagen, verkrampfen sich diese Texte, die zugleich zu einem sehr nahen Blick einladen ja fast zwingen, und die sich doch nur einem fernen, ja fremden Blick erschließen.2 II. Die Texte gewinnen ihre Einheit an einer begrenzten Zahl thematischer Eigentümlichkeiten. Eines der zentralen Themen dieser Nieder2 Zu Ingeborg Bachmanns Lyrik allgemein vgl. Hans Höller, Ingeborg Bachmann. Das Werk. Von den frühen Gedichten bis zum ,Todesarten‘-Zyklus, Frankfurt/Main 1987; Ria Anders/Maria Behre, Abschied vom Gedicht? Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns, Aachen 1996; Manfred Geier, Poetisierung der Grammatik: Ingeborg Bachmann, in: Ders., Linguistische Analyse und literarische Praxis. Eine Orientierungsgrundlage für das Studium von Sprache und Literatur, Tübingen 1986, 124–144.
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schriften ist die Verzweiflung darüber, dass der Schmerz sich nicht darstellen lässt, dass er sich dem Wort, dem symbolischen Ausdruck entzieht. Wie den Schmerz, einen unabgrenzbar eigenen und einen unermesslich fremden, operativ machen, ihm Sichtbarkeit und Bedeutung verleihen? Es fällt auf, dass das Ich dieser Texte sich nicht wirklich dem eigenen Schmerz anvertraut, es blickt je schon darüber hinaus; die Autorin redet über ihn, mehr Poetologin als Poetin. Die Gesten dieser Texte, noch die selbstdestruktivsten, sind nie ein rückhaltloses Eingehen ins Zerreißende der Empfindungen, sie sind immer schon eine sprachliche Bewegung darüber hinaus, oft Spiel mit Anklang oder Zitat. Immer wieder wird das Ich von der Angst vor der Banalisierung des Schmerzes heimgesucht, es registriert die ,Entauratisierung‘ aller Formen des Schmerzausdrucks, dieser hat in Wahrheit keinen Ort mehr in der umgebenden Kultur. Wie schreibt man den Schmerz im Schmerz? Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln. Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr. (KBW, 11) Die Texte werden lesbar als Dokumente einer Ausdrucksbewegung, die in eine Polarität eingespannt ist: Empfindung und Schmerz einerseits, Ausdruck und Darstellung auf der anderen Seite konfigurieren sich als zwei antinomisch einander zugeordnete Realitäten, als untrennbar Unterschiedene.3 Unübersehbar durchdringt das Gefühl eines radikalen Opferseins diese Texte, eine Empfindungskonstante, die den Verzicht auf die Form zu fordern scheint: Als ob die benannten Tatsachen (physische und solche der inneren Gefühlskatastrophen) außerhalb des Mediums existierten, in dem sie repräsentiert, tradiert und rezipiert werden. Die materielle Trag-
3 Mit der Stimme des Leids interferieren die Stimmen von Hass, Ekel, vor allem die des Ressentiments. Im Ressentiment artikuliert und blockiert sich zugleich der Weg in die Vergangenheit. Die Stimmung des Ressentiments – dies war der Bachmann vor allem aus den Schriften Jean Amérys bekannt – ist eine Art Heimzahlen, das einen Akt des Zurückgebens in den Mittelpunkt der sprachlichen Transaktionen stellt: eine Zurückzahlung. Die Bindung an oder das Bekenntnis zum Ressentiment verhindert die Verarbeitung des Vergangenen, dieses behält den Vorrang: „Der Haß hat mich krank gemacht, / ich bin entstellt, diese Eiterbeulen / verbieten es mir, mich noch unter / Menschen zu zeigen.“ (KBW, 113)
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weite von Schmerz und Vernichtung soll wirklich, d. h. physisch vergegenwärtigt werden, wobei jedes Vermittlungsmoment in Frage gestellt wird. Die Feder in der Hand brennt wie das Scheit auf dem Scheiterhaufen. Die Sprache wird über ihre funktionalen linguistischen Aspekte hinaus lebendig, wenn sie sich dem Traum und Ausdruckswahn anvertraut. Der produktive Impuls, der in diesen Texten wirkt, scheint der zu sein, angesichts einer extrem exponierten Schmerzsituation immer erneut Tonalitäten, Gesten, Zitate zu suchen, für Hass, Ekel, Angst und Schmerz, und sie hyperbolisierend gegeneinander zu führen. Es bleibt jedoch ein in der Regie von Ich-Rollen verfangenes Sprechen. Dieses Ich ist sich selbst verdächtig, es fühlt sich stigmatisiert, von der Geschichte in Frage gestellt: ein „Ich ohne Gewähr“. (IV, 218) Dichter sind jene Menschen – dies die definitorische Vorgabe der Frankfurter Vorlesungen –, die ihr Ich „zu ihrem Versuchsfeld gemacht oder sich selber zum Versuchsfeld für das Ich“ (IV, 218), und die ständig riskieren, um den Verstand gebracht zu werden. Das poetische Ich dieser Texte verschiebt sich ständig, immer auf der Suche nach Selbstüberschreitung, so dass es in Gefahr gerät, in eine radikale Heteronomie überzugehen. In diesem Experimentieren hält das Ich nicht inne, bis es nur mehr in der Schrift, den beschriebenen PapierFetzen, zu existieren vermeint. Alles verloren, die Gedichte zuerst dann den Schlaf, dann den Tag dazu dann das alles dazu, was am Tag war und was in der Nacht, dann als nichts mehr, noch verloren, weiter verloren bis weniger als nichts und ich nichts mehr und schon gar nichts war, (KBW, 13) Hier ist das Null-Punkt-Subjekt der poetischen Rede wenn nicht erreicht, so doch angesprochen; doch auch der Nullwert des Ich ist noch ein IchWert und dieses Ich will von der vorgegebenen Geformtheit seiner Wahrnehmungsbedingungen nicht lassen. Die Texte werden lesbar als Klage um ein romantisches Ich, das der Welt, vor allem aber sich selbst, abhandengekommen ist. In diese Klage schreibt sich ein modernes Fort-daSpiel4 mit einem traumatisierten Ich ein, das nicht von sich loskommt und
4 Wie nach Sigmund Freud die verängstigten Kinder mit Hilfe des Fort-da-Spiels mit ihrem Spielzeug drohende traumatische Erfahrungen (Verschwinden oder Ver-
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das nicht – auch nicht um den Preis des Verstummens – auf die Verlusterfahrung verzichten mag. Im Gedicht An das Fernmeldeamt Berlin sieht sich das Ich dem Wahnsinn als einzigem Gesprächspartner gegenüber, bei gleichzeitiger luzider Beobachtung („weiß ich“) dessen, was geschieht. Der Wahnsinn zirkuliert, fast wie eine Allegorie der Verstörung, zwischen den Polen von Ich und Mauer: In der Mauerritze habe ich in der Schrecksekunde einen schwarzen Käfer gesehen, der stellt sich tot. Totgestellt. Und ich lerne von ihm, ich stelle mich tot, ohne Kind, ohne Geliebten, ohne Radio, ohne Telefon, in dieser Ritze, verlaufen auf diesem Planeten, in diesem Berlin. […] angestarrt. weiß ich, daß ich mich selber anstarre. Eine Brandmauer die andre. ohne Gesicht. von einem erlöschenden Brand. unlöschbaren Brand. (KBW, 130) Der Wahnsinn sucht das Ich heim, bis zum Löschen des Gesichts in der Brandmauer, eine Bewegung, in der unschwer der Stil Rilkes im Malte erkennbar ist. Doch kaum dass sich der Wahn geltend macht, tritt eine Art poetisches Text-Gedächtnis in Kraft, das, vielleicht auch unbewusst, auf berühmte Zeilen Hölderlins verweist: „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“5 In solchen impliziten Verweisen stellt sich die sprachliche Bewegung still, um sich wie gesättigt auszuru-
lust der Eltern) bewältigen, so lässt die Dichterin mitunter ihr Ich im Text verschwinden, um es dann verändert wieder hervorzuziehen. Rainer Nägele hat das Schema des Fort-da-Spiels zur Matrix einer subtilen Erinnerungsarbeit gemacht. (Vgl. R. N., fort / da – topobiographien, Bozen–Innsbruck 2005.) 5 Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe. Drei Bände, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt/Main 1992, Bd. 1: Die Gedichte, 320.
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hen. Es ist nicht zu übersehen, dass der benannte Wahnsinn keinen direkten Ausdruck in Ton und Sprechweise findet, da ist kein unbezwinglicher, spasmodischer Schmerz. Die Vermutung könnte auftauchen, dass der Wahn lediglich als Risiko, als Modus der Radikalisierung der Sprache aufgefasst wird. Texte wie der zitierte haben etwas Paradigmatisches für die Kompositionsformen der Sammlung: als handele es sich um den Versuch einer Flucht vor einem Ich, das unbedingt gerettet sein will und in diesem Willen die Figuren des Wahnsinns selbst erzeugt. Die Rede ist von einer profanen Rettung, dem unbezwinglichen Bedürfnis, dieses besondere Ich sicher zu stellen. Das bedrohte Ich findet in extremis nicht den Ausweg aus sich selbst, den es doch sucht. Wird nicht, so wird man fragen dürfen, auf diese Weise die Chance verpasst, die in der Erfahrung des Scheiterns mitgegeben ist, zu einem Zusammenstoß, einer unausweichlichen Berührung mit dem traumatisch Realen zu kommen? Viele dieser Texte fallen, obgleich sie die Ichbezogenheit zu hintergehen versuchen, dennoch in die schwindelnde Leere der Selbstreferentialität zurûck6: Fenstersturz, abzustürzen, aufzuschreien Hinzufallen, auszulöschen, mild und leise, sag ichs wieder, sag ich nichts mehr, weckt mich auf, (KBW, 105) III. Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass sind nicht allein das Zeugnis einer persönlichen Krise der Dichterin, sondern vor allem Dokumente für die Erschütterung der Ausdruckskunst eines lyrischen Ichs. Im Rückblick von heute aus wird sichtbar, wie stark die Nachlasstexte gefangen bleiben in jenen Gebrauchsformen des Wortes, die die Kultur der Nachkriegszeit konstituierten, deren prima ballerina die Bachmann ja war7, wie sehr diese 6 Schon in den späten Aufzeichnungen Kafkas steht den Ritualen der Beobachtung und der narzisstisch gesteuerten Aufmerksamkeit die Selbstvergessenheit als den darzustellenden Phänomenen angemessene Haltung gegenüber. Paul Celan hat in seiner Meridian-Rede den Künstler als „Selbstvergessenen“ bezeichnet, der im Stadium der „Ich-Ferne“ arbeite, insofern er sich in eine empirische und eine phantasmagorische Seite aufspalte. (Paul Celan, Gesammelte Werke in fünf Bänden, hrsg. von Beda Allemann und Klaus Reichert u. M. von Rolf Bücher, Frankfurt/ Main 1986, III, 193 f.) 7 Klaus Amann betont, dass Ingeborg Bachmann von allem Anfang an eine „öffentliche Person“ war, das, was man schon damals einen Star nannte; sie „war in die-
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Texte mit anderen Worten konstitutiver Teil von kulturellen Praktiken sind, die man mit Michel Foucault als „diskursive Formation“8 bezeichnen kann. Was im Gedränge dieser Niederschriften, im Schwinden der Schreibkraft aufbricht, ist nichts weniger als eben jener Grundkonsens des kulturell-literarischen Diskurses der Nachkriegsepoche. Nur einige der markantesten Artikulationen dieser kulturellen Realität sollen im Material bezeichnet werden. Da sind Nietzsches DionysosDithyramben, vor allem die Klage der Ariadne, die Suche nach dem höchsten Schmerz, um sich des eigenen Seins und der eigenen Berufung zu vergewissern: „Ich bin langweilig / geworden und so langsam, und so kalt, / dass ich ohne meinen Schmerz nicht mehr am Leben wäre.“ (Bis zur Wiederkehr; KBW, 22) Da ist die Klage, die immer wieder auf sich selbst zurücklenkt, ohne über sich hinauszuweisen.9 Da ist Richard Wagner, oder besser der nachlebende Wagnerianismus, die Trauer, dass ihr die „große Musik“ fehle, das Wagnersche Pathos, das Isoldes Liebestod inszeniert, das Arienhafte, das in den Texten die Rolle der Musik über-
ser Rolle stärker präsent als jede andere deutschsprachige Autorin vor ihr.“ (K. A., Der Tod der Poetessa. Leben und Werk Ingeborg Bachmanns, die übermorgen 75 geworden wäre, sind Gegenstand zahlreicher Neuerscheinungen. Eine Einschätzung, in: Der Standard, Nr. 3798, 23. Juni 2001, 7.) 8 Ich beziehe den Ausdruck „diskursive Formation“ hier auf poetologische Konstanten seit der Romantik, Praktiken des expressiven, metaphorischen und allegorischen Wortgebrauchs. Die Nachkriegspoetik war weithin bestimmten Formen des Wortgebrauchs verpflichtet, der sich mit einer umfassenden Formation kultureller Praktiken verband. Michel Foucault spricht in der Archäologie des Wissens von der Aussageform („énoncé“), die den Raum möglicher Formulierungen entstehen lässt. (Vgl. M. F., Archeologie des Wissens, Frankfurt/Main 1981, 113 –191.) Diese Aussageformen sind historische Aprioris, Möglichkeitsgesetze, sie betreffen weder Sinnverhältnisse noch Wahrheitswerte, sondern Gebrauchsregeln, Anwendungsschemata auch der dichterischen Sprache. Die damit vorgeschlagenen Wahrnehmungsbedingungen determinieren einen Blick, der sich auf die Formen des Gebrauchs von Wort, Bild und Sprache bezieht. Der Blickwechsel hin zum Archiv ist keineswegs als spielerische Variation von Wahrnehmungsmustern gemeint, denn nur auf diese Weise ist es möglich, das andere, das nicht ins Archiv aufgenommen wurde, wieder zu finden. Es gehört zum Archiv, dass es ausschließt, was mit ihm nicht kompatibel ist. Und die Texte der Bachmann sind ein einziges Graben und Suchen nach dem ausgeschlossenen Anderen. Der archäologisch informierte Blick richtet sich auf das Gesamt der subjektzentrierten postromantisch-expressiven Lyrik auch der Moderne. Vielleicht ist Max Kommerell der bedeutendste Theoretiker dieser lyrischen Ausdruckskunst. (Vgl. M. K., Gedanken über Gedichte, Frankfurt/Main 1968.) 9 Vgl. dazu Ernst Osterkamp, Wer ein Messer im Rücken hat, dem fällt keine gepfefferte Metapher ein, a. a. O.
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nimmt.10 Wichtig ist Freud, das Spiel mit den Ich-Rollen und der Lehre vom Unbezeichenbaren des Traumas, das immer erneut ausagiert werden muss. Dann Martin Heidegger: die Angst, dass nichts sich zur Sprache öffnen könnte; das Unterwegssein zur Sprache. Der betäubte Schmerz soll eine neue Gnade im philosophisch gedachten Wort finden (vgl. das Gedicht Das Narrenwort; KBW 53). Und da ist vor allem das Gespräch mit Paul Celan: „Liebe, das heißt nichts verloren / nicht verlieren / du bist nicht verloren.“ (KBW, 152) Deutlich spiegelt sich in den Texten das Gestirn der in den fünfziger Jahren gefeierten Dichter, Hölderlins Anschreiben gegen die Sprachlosigkeit einer dürftig-geistlosen Zeit und seine Gedichte der Vereinsamung11, Büchners nihilistisches Pathos der gequälten Kreatur (vgl. das Gedicht Abschied; KBW 85), Rilkes radikale Selbstbefragungen im Malte, die Suche nach der direkten Berührung mit der Erfahrung von Krankheit, Wahnsinn und Tod. (Verschwinden soll ich; KBW 71) Da ist schließlich, emotional aufgeladen, Kafkas Bekenntnis, nichts als Literatur zu sein, und seine „lidlosen Augen“, die ungeschützt alles sehen müssen. (Verdacht; KBW 127) Deutlich spürbar ist die Gegenwart von Gottfried Benn: die Ich-Besessenheit und der Ausdruckszwang, das „gezeichnete Ich“ und der nie ganz zu verwirklichende Ausdruckstraum, der sich zum Wahn steigern kann. Es dominiert das bis zum Äußersten gesteigerte, ausdrucksvolle Wort: „Die Drogen, die Worte“. (KBW, 68) Und zweifellos ist da ein letzter Rest von Artistenmetaphysik.12 Andere Spuren verweisen auf den Nachkriegsexpressionismus à la Borchert – „Alles tot. Ist alles tot?“ (KBW, 35) – mit seiner Ablehnung der gehobenen Poetensprache und dem Einbruch der Hässlichkeit und des Grauens der modernen Großstadt. Auch der Nachkriegsexistentialismus mit dem Ernst seiner einseitig vom Subjekt her entworfenen ,Situationen‘ ist spürbar. Ebenso wie der chirurgische Blick, mit dem gewisse Filme Ingmar Bergmans die inneren Dramen des Identitätszerfalls ausleuchten.13 Es fällt schwer zu sagen, wie weit die
10 Vgl. dazu Alexander von Bormann, „Ich bin ganz wild von Tod“, a. a. O. 11 Der Text Fromm und böse (KBW, 129) konfiguriert sich als Spiel mit den zwei Tonalitäten „Hölderlin“ und „Nietzsche“: die starken Affekte wie der Zorn Nietzsches versus Hölderlins hinnehmende Haltung. 12 Vgl. Anton Reininger, ,Die Leere und das gezeichnete Ich‘. Gottfried Benns Lyrik, Firenze 1989. 13 Ingmar Bergman ist das Gedicht Für Ingmar Bergman, der von der Wand weiß (KBW, 65) gewidmet. Vgl. Andrea Kresimon, Ingeborg Bachmann und der Film. In-
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Dinge gespielt oder im „Pathographischen“ erlitten werden. Als ob die biographische Krise einen Wirbel bewirkt hätte, in dem die eingeübten Muster des dichterischen Wortes zu zerbrechen und unterzugehen drohen, um im Untergang momentan den Blick freizugeben auf die tragenden Gesten: formelhaft erstarrt, überlebendig und doch gelähmt. Die zitierten Ausdrucksformen kommunizieren mit anderen kulturellen Realitäten der Nachkriegszeit, dem alltäglichen Faschismus und der latenten Gewaltbereitschaft im Kalten Krieg, Themen und Stimmungen, die in den Texten der Bachmann oft bemerkt worden sind. Nicht zuletzt – und die anderen Elemente umfassend – ist da die Zuwendung zum Realen der jüngsten deutschen Geschichte. Durch den Raum dieser Gedichte geistert die Erinnerung an Krieg, Gewaltherrschaft und an Auschwitz, ein lastendes Gedächtnis, ein damals noch leerer, relativ wenig dokumentierter Raum, von Kräften durchzogen, die Angst machen, den Boden entziehen und, die historischen Unterscheidungen und Grenzen aufhebend, die Imagination in die Gaskammern stürzen lässt, als sei man selbst den Selektionen unterworfen gewesen: Wie soll einer allein soviel erleiden können, soviele Deportationen, soviel Staub, sooft hinabgestoßen sooft gehäutet, lebendig verbrannt, sooft geschunden, erschossen, vergast, wie soll einer sich hinhalten in eine Raserei die ihm fremd ist und der heult über eine erschlagene Fliege. (KBW, 60) Von heute aus erscheint dieser Zug oder Zwang zur Zeugenschaft wie ein großer Resonanzraum, in dem in wie immer verkürzter, panischer, traumatischer Form ein Gedächtnis sich artikulieren wollte, das dann erst mit den Frankfurter Auschwitzprozessen seine technisch-juridische Schreckensgestalt erhielt. Dies alles sind sprachliche Artikulationen jener Welt kulturell eingespielter Formen, deren Brüchigwerden die Bachmann erleidet, von der eigenen Krise äußerst sensibel gemacht für das Verabredete der Perspektiven, Ausdrucks- und Vorstellungsformen. Das Ziel ihrer poetischen Praxis ist, so will es der poetologische Diskurs der Frankfurter Vorlesungen, die „gute Sprache“, die, über die vergangenen Dichtungs-
termedialität und intermediale Prozesse in Werk und Rezeption, Frankfurt/Main – Wien u. a. 2004, 128 –143.
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sprachen verfügend, weder Realität noch bloßes Symbol ist und nur als Projekt existiert: in Gegenbewegung zur schlechten Sprache, zu dem, was Kierkegaard und nach ihm Heidegger das „Gerede“ genannt hat. IV. Die Gedichte aus dem Nachlass können als Versuch gelesen werden, aus den Gebrauchsformen der lyrischen Sprache der Nachkriegszeit auszubrechen, wie aus einem diskursiven Gefängnis, aus dem Ingeborg Bachmann die Flucht versucht und in dem sie doch gefangen bleibt. Der Ausbruchsversuch aus dem Archiv meint keinen einfachen Austritt, wie man aus einer literarischen Vereinigung austritt, oder gar eine Liquidation und Verwerfung gewohnter Ausdrucksmuster, eher eine Erschütterung, eine Richtungsänderung als eine vollzogene Lösung. Was viele dieser Gedichte auszeichnet, ist eine Art von Neugierde, von intellektuellem Erkenntnishunger dahinter zu schauen, hinter die Gebrauchsmuster zu kommen, das kulturell Eingespielte und poetologisch Verabredete der etablierten Kulturproduktion zu hintergehen. Wie dem Ausdruckszwang entrinnen, ein Jenseits der Ausdrucksfunktion verwirklichen, ohne in die Leere eines rhetorisierten Ichs abzustürzen? Gegen den Ausdruckszwang rebellieren bedeutet schließlich nicht dessen Widerlegung oder Überwindung. Die posthumen Gedichte der Bachmann finden keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Es kommt nicht zu jenem „Ruck des Kopfes“, von dem Kafka beispielsweise in der Erzählung Der Bau spricht und von dem die Fähigkeit der Verfremdung der Selbst- und Fremdwahrnehmung abhängt („nun ist nur noch ein Ruck des Kopfes nötig, und ich bin in der Fremde“14), woraus auch Kafkas Vorliebe für Dinge, Tiere, Räume, Bauten und neue, merkwürdige Wortgebräuche resultiert, die die Sprache von der Fixierung auf die Ausdrucksfunktion des Ich befreien.15 Bei 14 Franz Kafka, Erzählungen, hrsg. von Paul Raabe, Frankfurt/Main 1969, 419. Vgl. zum Verhältnis Ingeborg Bachmanns zu Kafka Arturo Larcati, ,Die Axt für das gefrorene Meer in uns‘. Ingeborg Bachmann legge i romanzi di Kafka, Cultura Tedesca, 35 (2008), Sonderband: I Romanzi di Kafka, hrsg. von Isolde Schiffermüller, 191– 211. In der Erzählung Der Bau beobachtet das anonyme Tier angstvoll den Eingang von außen, um der Gefahr Herr zu werden, die den Bau umlauert: „[…] es ist schon fast so, als sei ich der Feind und spionierte die passende Gelegenheit aus, um mit Erfolg einzubrechen.“ (Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, a. a. O., 423.) Ein verfremdender Rollentausch, der dazu dient, Gesten und Haltungen in Szene zu setzen, die die Wahrnehmungsbedingungen definieren. 15 Zu Kafkas Weg vom Ich zur Er-Position vgl. Isolde Schiffermüller, La metamorfosi del volto. I ,diari‘ di Franz Kafka, in: Dies., Saggi sul volto. Rilke, Musil, Kafka, Verona 2005, 69–94. Mit dem „kleinen Ruck des Kopfes“ hängt auch der
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der Bachmann bleibt auch in Grenzsituationen die Sprache Ausdrucksmittel von Erlebnissen einer bedrohten Psyche. Da ist sicherlich ein Fremdwerden der Bilder, eine Konfiguration und Erstarrung der Bilder im Schock, doch kein aktives Verfremden der Elemente bildlicher Repräsentation. Indizien einer subvertierten, doch nicht überwundenen Ausdruckskunst durchziehen die ganze Sammlung. Eine stilistische Eigentümlichkeit dieser Gedichte ist die Evokation früherer Tonfälle der Dichtung und deren weitestgehende Assimilation. Das betrifft etwa die Kunst Wagners, der sich die Bachmann mit dem Vorsatz nähert, doch noch der Aura des poetischen Wortes mächtig zu werden, ein Bedürfnis, das sich häufig in den Gesten eines Nachhörens vergangener Sprachen manifestiert. Nirgendwo wird das deutlicher als in der beschworenen Musik der Wagnerschen Isolde. Denn was ist diese betörende Musik, die nichts Heroisches hat, anderes als die Sehnsucht nach der Verschränkung eines Jetzt mit einem Fernen? Aus den Worten Isoldes spricht keine Anwesenheit, nur das Versprechen künftiger Melodie, sie verführt nicht durch das, was sich im Hier und Jetzt verwirklicht, sondern durch das, was fern aufleuchtet. Sicher ist, dass der Wagnersche Weg durch die Sinne nicht das letzte Wort hat, so wenig wie die Bennschen Zynismen und Blasphemien. Im Zitat und im blasphemischen Tonfall wird durchaus eine religiöse Komponente fassbar und eine Figur wie Gaspara Stampa trägt auch Züge einer säkularisierten Helferfigur, einer Fürsprecherin.16 Doch reduziert sich die Sprache mitunter drastisch zugunsten der nackt exponierten Fakten des physischen Lebens, ebenso häufig lädt sie sich mit großer Erregung auf; dann leidet die Dichterin
Blick zusammen, den Kafka am Beispiel des Jargons, des Jiddischen, auf die Sprache überhaupt fallen lässt. Das Jiddische bestehe nur aus Fremdwörtern, es ist unstabil, im Grunde ein durchgehaltener Dialekt, der der Sprache der Gesten freien Ausdruck erlaubt. Der Sinn der jiddischen Wörter wird nach Kafka „in der Tiefe der Geschichte“ gefunden. (Vgl. Claudia Natale, Franz Kafkas Rede über die jiddische Sprache: Nomadismus und Vitalität der Sprache, in: Brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei, DAAD, 2008, 2007–2015.) Der Blick Ingeborg Bachmanns auf „die ganze Sprache“ nimmt durchaus die Vielheit der Sprachen in der Sprache wahr, doch findet die Unreinheit, das Fremde und Geraubte der lebendigen gesprochenen Sprache bei ihr keine wirkliche Anerkennung. 16 Jener „leidenschaftliche Aufstand gegen den Katholizismus“, der für Walter Benjamin im Ursprung des Surrealismus (Rimbaud, Apollinaire) stand, hat sich in unseren Gedichten in ein Spiel mit Blasphemien aufgelöst. (Walter Benjamin, Der Surrealismus, in: Ders., Angelus Novus, Frankfurt/Main 1966, 200 – 215; hier 202.)
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unter dem Grobschlackigen der Empfindungen und sucht die Reinheit der Form. Doch während sie, sich selbst entzogen, scheinbar ganz im Gesang zu wohnen scheint, wird sie unversehens bedrängt von der Krankheit, von den elementarsten Fakten der Pathologie. Man könnte mit Blick nach vorn die Grenzen der Nachkriegspoetik festmachen an den neuen künstlerischen Tendenzen der sechziger Jahre, an Film, atonaler Musik, am Dokumentarismus einer direkt politisch orientierten Literatur und einer betont unauffälligen, alltagssprachlichen und engagierten Lyrik; nicht zuletzt an den Anfängen der feministischen Literatur. Auch Brechts sprachliche Verfremdungen im epischen Theater, das in diesen Jahren seine internationale Wirkung zu entfalten beginnt, wären zu nennen.17 Der Fluchtweg, den die posthume Lyrik der Bachmann beschreibt, führt jedoch in eine andere Richtung, eher in die Sprache und ihre versteckten Potentiale und Gebrauchsformen hinein als über sie hinaus in die leichte Verständlichkeit kommunikativer Welten und gängiger Diskurse. Diesen Such- und Fluchtbewegungen ist nur ein archäologischer Blick angemessen. Zu den Autoren, die in der Nachkriegsperiode die Ausdrucksfunktion der Sprache radikal in Frage stellten, gehört auch Beckett. Ihm geht es um eine eingreifende Veränderung der Gebrauchsweisen der dichterischen Sprache, ihrer verfremdenden Kraft. Mit Kafka teilt Beckett die Intention, die Gegenwart zu verfremden und die Tradition abzubrechen, um über den Sinn der Wörter neu zu verfügen. „CLOV I use the words you taught me. If they don’t mean any more, teach me others. Or let me be silent.“18 Beckett unterwirft die traditionelle Dichter-Sprache gezielten Deformationen, in knappster Verdichtung bietet er die Montage jener Gesten, die die Haltung eines Zeitalters kennzeichnen, das die Katastrophe hinter sich hat: das allgemeine Absterben, das Löschenwollen, das Nicht-enden-Können und das Reden- und Erzählen-Müssen.
17 Sicherlich lag eine Übernahme der Haltung Brechts, wie er sie im ,Dreigroschenexperiment‘ formuliert hat, weder im Willen noch in den Kräften der Bachmann. Brecht fordert programmatisch, die „alte, untechnische, antitechnische, mit dem Religiösen verknüpfte, ,ausstrahlende‘ ,Kunst‘“ zu überwinden. (Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus Detlef Müller, Berlin u. a. 1988 ff., Bd. 21, 466.) Bachmann nimmt allerdings auch das Werk Brechts in ihren „Ausdruckstraum“ auf. Sie erkennt in diesem Werk einen Virus gegen die schlechte Sprache. (IV, 367) 18 Samuel Beckett, Endspiel / Fin de partie / Endgame, Frankfurt/Main 1974, 62.
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CLOV I’ll leave you. He goes towards door. HAMM Before you go … Clov halts near door … Say something. CLOV There is nothing to say. HAMM A few words … to ponder … in my heart. CLOV Your heart!19 Nach Adorno ist es Beckett mehr als anderen Autoren gelungen, den Wahrheitsgehalt der eigenen Dichtung in Abstoßung von der Tradition zu retten: Seine Produktionen setzten äußerste ästhetische Differenziertheit voraus, die doch zugleich verweigert und in den Müllkästen, Sandhaufen und Urnen zum Krepieren gebracht werde, seine Zentralfiguren seien reduziert zu schlotternden Vogelscheuchen des Subjekts, seine Clownerien ließen das Ideal des selbstherrlichen Subjekts „in leibhaft gegenwärtiger Kritik“20 zugrunde gehen. Bachmann kannte dies alles, Kafka nicht weniger als Beckett und Adorno, warum dann, so wird man fragen dürfen, die sprachlichen Ausweichmanöver und die Ich-Regie? Vielleicht kann das poetische Ich nicht auf ein Privileg verzichten, das es mit seiner Dichterrolle verbindet, mit bestimmten Formen und Ordnungen kultureller Erfahrung, die von Autoren wie Kafka und Beckett unwiderruflich kassiert worden ist? V. Ingeborg Bachmann zeigt im vorliegenden Textkorpus eine entschiedene Vorliebe für eine pathologisierende Sprache, um ihre Situation zu beschreiben. In dieser klinischen Rede – „Krankheit“ ist ein Leitbegriff vieler Texte – liegt ein Problem für die Kritik, die gehalten ist, jenseits der falschen Sicherheit differentialdiagnostischer Konzepte (Delirium, Hysterie) dem spezifischen Verhältnis zur Sprache nachzuspüren. Lässt sich aufgrund der bisherigen Ausführungen Krankheit anders definieren? Die Frage, die den verzweifelten Ausdruckssignalen dieses lyrischen Ichs zugrunde liegt, das in kollektive Ordnungen emigriert, hat sich gewendet: In Frage steht nicht länger, was ein Subjekt in extremen Situationen mit den Worten und Bildern zu machen versteht, sondern umgekehrt, was die dissoziativen, verstörenden Sprachen der Kollektivität aus dem Subjekt 19 Ebenda, 110. 20 Theodor W. Adorno, Über Tradition, in: Ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/Main 1967, 29–41; hier 38.
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machen. Diese Texte hören in einem gewissen Umfang auf, persönliche Stimme zu sein. Der Filter des literarisch individuierten Sprechens, das Dichtung im konventionellen Sinne ausmacht, hat sich getrübt und geschwächt, bis zur Grenze der Aphasie.21 In Kraft tritt ein Spiel der Irritation und Deformation des kollektiv bestimmten Wortes, zugleich auch ein freies Einströmen des dichterischen Gedächtnisses ins aktuelle Sprechen. In den Texten lässt sich eine merkwürdige Streuung und Vernetzung expressiv aufgeladener Worte und Wortgruppen feststellen. Es ist fast immer eine angespannte Ausrichtung auf den anderen, die den Stil bestimmt. Hinzu kommt die endlos offene Rede, die überfluteten Satzenden. Gerade bei den ersten Texten ist der Eindruck einer leicht hysterisierten Werbesprache mit Reiz- und Stichwörtern für die kulturell Eingeweihten nicht abzuweisen; ein geschicktes Aufnehmen von Formeln mit der Absicht, Effekt zu machen, kollektive Formeln, wie sie dem Zeitmilieu entsprechen. Charakteristisch sind Brüche im Akzent, scharfe dialogische Wendungen und die Fähigkeit, einen negativen Ton anwachsen zu lassen, bis zur Grenze des Deliranten. Als Beispiel kann das erste Gedicht Eintritt in die Partei (KBW, 9) dienen, eine Reihe stark geladener Worte wird durchlaufen: Ehre, Gefühl, Leben, Schmerz, Ausbeutung, Kapital, Partei; politische verbindet sich mit sakraler Lexik, fast wie montiert, doch nicht wirklich montiert: Ein ideologisches Wort verzerrt das andere in einem zynischen oder mehr noch närrischen Pathos. Inszeniert wird auf diese Weise der Karneval des fremd gesetzten Wortes, von dem keine Ablösung gelingt.22 Die zwanghaft evozierten Worte gewinnen Macht über das Ich, so dass diesem nur die Flucht in die versuchte Selbstauslöschung bleibt. Das „Dialogisieren“ mit dem fremden Wort folgt inneren Rhythmen der Stimmenkombination. Der Andere reicht, in zwiespältiger Rolle, mit Urteil oder Verzeihen, ins Herz der poetischen Sprache hinein. Die um sich greifende Bewusstseinskrise kann bis zum Zerfall des Willens führen. Wie sich von der Stimme der anderen trennen, mit denen man ununterscheidbar verflochten ist? Einige Texte wollen aus dieser Dynamik ausbrechen, teils in Richtung eines inständigen, bekennenden Sprechens, teils im Rückbezug des Sprechens auf sich selbst: 21 Eine Ausnahme sind übrigens die mehr topographisch orientierten, Prag und Berlin gewidmeten Gedichte, sie sind sprachlich kohärenter und gewinnen ihre Konsistenz im bewussten Außenbezug. 22 Andere Beispiele sind die Wortfelder von ,Opfer‘ und ,Holocaust‘ oder auch ,Anschluss‘.
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sprechen, das muss lang her sein ein Wort, Wort und Unterbrechen habt Satz und Atemnot mitten im Unterbrechen kommt jetzt ein Wort ins Lot. (KBW, 159) Hier gelingt der Ausblick auf ein Sprechen, das sich nicht aus dem IchSagen ergibt, das vielmehr in Atemnot und Unterbrechung angesiedelt ist. Die dominante Stimme spricht indessen viele Sprachen, sie nimmt sich die verschiedensten Sprachmasken vor, als ob die im Archiv versammelten Sprachen durch sie hindurch sprächen, ohne dass die persönliche Wahrnehmung und der individuierte Wortgebrauch noch garantiert wären. Krankheit wird in dieser Sicht lesbar als ein Erregt- und Gesprochenwerden vom anderen her, von den Stimmen aus einem Archiv, das unter dem Druck massiv ver-, ja zerstörerischer Energien des kollektiven Lebens seine historische Abgrenzung und Verortung einzubüßen droht. Je kollektiver, desto ausgelieferter, desto ,kranker‘ und heteronomer das Sprechen: eine offene Skala intensiver und zugleich zerfallender Ausdrucksmöglichkeiten. In dieser Sicht hört die Krankheit auf, ein sich selbst erklärender Begriff von banaler Geläufigkeit zu sein; auf dem „Versuchsfeld des Ich“ (IV, 218) wirkt sie als operative Größe, im Inneren einer literarischen Kultur, die sich in einem unabsehbaren Prozess des Abbaus und Übergangs befindet. In den Berlin-Gedichten beispielsweise wird die Krankheit und die Beschädigung durch die Großstadt bewusst illustriert. Mit dieser illustrativen und mitunter allegorisierenden Darstellung verbindet sich, versteckt oder nur zum Teil bewusst, eine andere: eben jene verstellte Krankheit, die im kollektiven Sprechen oder Gesprochenwerden selbst besteht. Der archäologische Blick aufs Archiv ermöglicht es, dieser Krankheit, die die Bachmann deutlich spürt, auf den Grund zu gehen. VI. Unser Textkorpus entzieht sich dem traditionellen hermeneutischen Zugriff, darum soll eine Reihe von Feststellungen die Erörterung abschließen, die vielleicht eine produktive Haltung gegenüber einem Material ermöglichen, das – so zerklüftet es auch ist – den Versuch einer Antwort auf eine umschreibbare kulturelle und literarische Situation darstellt. 1. Die Krise, deren Zeugnis die vorliegende Sammlung von Gedichten ist, bewirkt einen Bruch mit dem Dispositiv der literarischen Gebrauchsweisen der Sprache der fünfziger Jahre. Die ,verrückte‘ Perspektive bedingt eine Desintegration des poetischen Diskurses, zu dem auch die
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frühen Gedichtsammlungen der Autorin gehören. In den Bruchstücken der Ausdruckskunst des lyrischen Ich werden die Elemente, Formen und Materialien entzifferbar, die dieses Archiv bestimmt haben. Die Hinterfragung des Archivs gibt den Blick frei auf die eingeübten Funktionsformen des Wortes, vor allem den Ich-Zwang und den Ausdruckswahn, die sich wechselseitig in Bann halten und eine Aporie sichtbar machen: Noch die entschlossensten Versuche, aus dem Diskurs auszubrechen und dessen Voraussetzungen zu hinterfragen, führen in selbstreferentielle Ausdrucksformen zurück. Mit den Inszenierungen des fremden Wortes, der Sehnsucht nach dem ,auratischen Wort‘, den Gesten des sich rettenden Ichs bleiben diese Texte in Prämissen gefangen, die der Beharrungskraft des Archivs der fünfziger Jahre geschuldet sind. Die in den Ich-Inszenierungen verfangenen Texte werden heimgesucht von Zweifeln an der Autorität des eigenen Sprechens. Und von Autorität, nicht von Authentizität ist die Rede. Selbst die höchste Intensität des Ausdrucksgeschehens kann diese Autorität nicht verleihen. Der „Auftrag zum Dichten“ muss wie eine fremde Kraft von außen kommen: etwas, das nicht im Bereich der Selbstermächtigung liegt, macht den Dichter zum Zeugen und sein Sprechen zu einem „fait littéraire“. Mit großer Entschiedenheit hat Ingeborg Bachmann im Zyklus der Todesarten die gender-Frage als Ort neuer Legitimation des dichterischen Sprechens ergriffen: eines prosaischen Sprechens. Nicht die Öffnung zu anderen Traditionen, sondern eine andere Öffnung zur Tradition hätte vielleicht einen Weg hinaus aus den Kreisläufen der Ich-Aussage weisen können. Tradition, das sagt sich leicht, doch welche ist gemeint? Eine intakte im Sinne von „Gestalten des Geistigen in der Geschichte“? Das „Haus Österreich“? Oder das „Haus der Sprache“? Oder ist dies alles nicht je schon der Defiguration seitens eines von Aphasie bedrohten Subjekts unterworfen? Die Gedichte haben unverkennbar eine eigene Kraft der Verführung. Die Rede ist von jener illusorisch tröstenden Nähe zu den Ereignissen, die einen noch warmen Abdruck selbst des Schreckens und der Verzweiflung versprechen. Manche Niederschriften suggerieren eine fast physische Nähe des teilnehmenden Lesers. In dieser romantischen Sehnsucht nach einer absoluten Präsenz wird jedoch den Erinnerungen eines verwehrt, nämlich sich als Erinnerung zu verwirklichen, das heißt sich vom aktuell Erlebten abzulösen und damit allererst jene Kräfte freizusetzen, die im Weiterleben von Verwüstetem, Ungelebtem und Verfehltem bestehen.
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6. Gerade die überlebendige Vielfalt der Artikulationen und Empfindungen des Ich sollte mit archäologischem Blick wahrgenommen werden, statt Einfühlung zu üben und sich in biographischen Vermutungen zu ergehen, um ein Kraftfeld in den Blick zu bekommen, das noch einige Strahlen zu uns schickt; denn die Angst, das Ende der Ausdruckskunst könnte das Ende jedes Lebens in dichterischer Differenz sein, ist vielleicht niemandem von uns ganz fremd. Hat die Bachmann nicht den Schock vorgelebt, der mit der Angst vor dem Verlust sprachlich-kultureller Identität einhergeht, mit dem Glauben an die Ausdruckskunst als einzig attraktiver Form von Geistigkeit und Kultur? Das poetische Material, dessen Wellen der Erschütterung wir noch wahrnehmen, erzeugt gerade deshalb eine Betroffenheit, die den Leser und heutigen Kommentator nicht zur Ruhe kommen lässt. 7. Andererseits ist heute der Abstand zum Archiv der Nachkriegsepoche unübersehbar, mag auch die späte Publikation der Bachmannschen Gedichte aus dem Nachlass darüber hinweg täuschen. Dies ermöglicht eine historische Erkenntnis, in deren Licht das Streben nach ästhetisch gelebter Dichtung sowie das Pathos lyrischer Ausdruckskunst zerfallen.
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„An das Fernmeldeamt Berlin“. Zu einigen Problemkonstanten in Ingeborg Bachmanns posthumen Gedichten „An das Fernmeldeamt Arturo Berlin“ Larcati
1. Autobiographie und Signatur der Zeit in Bachmanns Schreiben Ingeborg Bachmanns Texte leben von der Spannung, dass sie autobiographisch und zugleich nicht autobiographisch sind. Die nachgelassenen Gedichte bilden dabei keine Ausnahme. Für sie gilt das, was Bachmann mit Blick auf Sylvia Plaths Roman Die Glasglocke ausführt, dass sie zwar autobiographisch sind, „aber keineswegs, weil hier jemand seine Privatangelegenheit einem sensationssüchtigen Publikum anbietet, sondern autobiographisch in dem Sinn“, dass „die geistige Figur einer denkenden, zerfallenden, geschlagenen und zerstörten Kreatur als das einzig Interessante und Hinreißende an einem Menschen […]“ (IV, 358) gezeigt wird. Deuten wir die Gedichte aus dieser Perspektive, die Bachmann auch für die eigenen Texte gelten lassen wollte, dann sind sie nicht auf das „Dokument einer [persönlichen] Liebes- und Lebenskrise“1 zu reduzieren. Ihr Wert liegt vielmehr darin, dass in der „geistigen Figur“, in der „psychischen Konstellation“, die durch sie sichtbar wird, bzw. im „Erfahrungsmuster“, das sie erkennbar machen, auch „die Signatur der Epoche“ zum Ausdruck kommt.2 1 Peter Hamm, Ingeborg Bachmann. Ihre Gedichte aus dem Nachlass sind das Dokument einer Liebes- und Lebenskrise, a. a. O. 2 Hans Höller, Ingeborg Bachmann. Das Werk, a. a. O., 158; Klaus Amann, „Denn ich habe zu schreiben. Und über den Rest zu schweigen.“, a. a. O.
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Erlaubt uns die skizzierte Interpretation von Sylvia Plaths Roman, den Begriff der „geistige[n] imaginäre[n] Autobiographie“3 auf die Gedichte aus dem Nachlass anzuwenden, so können wir aus dem Zitat auch einen zweiten Lektüreschlüssel für diese nicht leicht verständlichen Texte entnehmen – nämlich die Beobachtung, dass die Zerstörung und Verstörung der Kreatur durchaus nicht ausschließt, dass sie klar denkt. Dementsprechend lässt sich an den Gedichten klar feststellen, dass hier ein Ich „mit dem scharfen Gehör für den Fall“ (I, 61) agiert. Wie aufgewühlt und verstört dieses Ich auch sein mag, es erweist sich in diesen Texten – besonders in jenen der Berliner Phase, die hier fokussiert werden sollen – als nicht minder scharfer Beobachter der deutschen Gesellschaft in den sechziger Jahren. Der Befund lässt sich verallgemeinern: Zwar klagt das Ich um den Verlust seiner Gedichte, muss die „schönen Worte“ (KBW, 11) mit Wehmut verabschieden und mit Entsetzen feststellen, dass aus seinem Mund keine artikulierten Laute mehr, sondern lauter hässliche Kröten (KBW, 65) herausspringen; trotzdem gelingt es ihm immer wieder, einen sehr luziden Blick auf die „Berliner Zustände“ zu werfen und diesem Blick einen beeindruckenden Ausdruck zu verschaffen.4 Wie Bachmann die angedeutete Dialektik von biographischen und nicht-biographischen Elementen im Detail in Szene setzt und wie sie ihre Darstellung der „zerstörten Kreatur“ (IV, 238) mit einer genauen Beobachtung der sozialen Verhältnisse verbindet, soll nun an einem Text wie An das Fernmeldeamt Berlin bzw. an dessen titelloser Variante exemplarisch analysiert werden: Daß es gestern schlimmer war, als es heute ist, wieder kein Anschluß, die Anschlüsse sind da, aber es wird nicht angeschlossen, wieder im Winter, im Sommer, wie gestern, da war es schlimm, in der Nachbarschaft niemand, zu essen 3 Zwar spricht Bachmann im Zusammenhang mit dem ihrem Roman Malina von „geistige[r] imaginäre[r] Autobiographie“ (GuI, 73); der Begriff lässt sich jedoch mit jenem der „geistigen Figur“ bzw. der „psychischen Konstellation“ gleichsetzen. 4 In seiner Rezension der Gedichte plädiert Kurt Bartsch dafür, dass nicht „biographisches Interesse“ oder „Bachmanns blasphemische oder obszöne Verse“, sondern vielmehr „der auch in diesen unausgefeilten Texten erkennbare scharfe Verstand und ihre Sprachmächtigkeit“ den „Mittelpunkt der Lektüre“ bilden sollten (K. B., Ingeborg Bachmann, Ich weiß keine bessere Welt, in: Sprachkunst 31 (2000) H. 2, 371– 380; hier 373.)
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nichts, kommt ja niemand, ka[m] nie[mand] die alten Nudeln waren schon alle verkocht. Verdünnt auch der Essig getrunken. Schweigen befohlen und ausgeführt. Gestern, da ging der ganze Regenguß mit einmal in meinen Hals, ich konnte nicht schreien. Ich bin froh, daß ich rufen kann heute, aber es ist ja besser, das Schweigen ein Leichtes. Über mir kegeln sie, schlagen ans Hammerklavier. Unter mir schreinern und sägen unsere Bastler. In der Mauerritze habe ich, in der Schrecksekunde, einen schwarzen Käfer gesehen, der stellt sich tot. Ich möchte sprechen mit ihm aus diesem feinen Haus ihm den Ausweg zeigen, ihm einen Ausweg zeigen, oder ihn gleich zertreten. Ich lerne von ihm, ich stelle mich tot, in diese Ritze Berlin fallen, verlaufen auf diesem Planeten, angestarrt auch, zwischen zwei Brandmauern, von welchem Aug, von wem, der wieder mit mir nicht sprechen kann, in der Schrecksekunde, Mich endlich ganz zu zertreten Ist auch in seinem Sinn, in meinem Wahnsinn, ich selber bins, der mich und den Käfer anstarrt Ich habe ein Romanebuch in der Hand, genug schwer, um diesen Käfer zu töten (KBW, 131) An der Auseinandersetzung mit diesem Gedicht lassen sich nicht nur die allgemeinen Interpretationsmöglichkeiten und -schwierigkeiten mit den lyrischen Texten aus dem Nachlass im Spannungsverhältnis von biographischer und nicht-biographischer Lektüre konkretisieren. Das Gedicht kann auch deshalb als höchst repräsentativ für die Sammlung betrachtet werden, weil es jene „Problemkonstanten“ (IV, 193) bündelt, die für Bachmanns Schreiben in den sechziger Jahren charakteristisch sind. Die thematischen Achsen, um die es sich entfaltet, sind die Krankheit und der
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Wahnsinn in ihren vielfältigen Dimensionen, die „Geschichte im Ich“ (IV, 230), die Zerstörung der Persönlichkeit bzw. die Opfer- und die Geschlechter-Problematik. Schließlich sollte aus der Gedichtanalyse klar werden, dass Bachmann der Behandlung der Probleme, die sich aus der Trennung von Max Frisch ergeben oder zumindest in deren Folge akut werden, mit einer neuen Sprache begegnet. Die stilistische Neuorientierung markiert nicht nur einen prononcierten Unterschied gegenüber den frühen und den so genannten späten Gedichten. Sie setzt ebenfalls Akzente, die nur zum Teil ihr Pendant in der Prosa der Todesarten finden.
2. Reduziertes Sprechen und reduzierte Existenz Die erste Lesart, die sich beim Gedicht aufdrängt, ist freilich eine autobiographische. Es gibt in der Tat genug Anhaltspunkte, um den Text als poetischen Bericht über Bachmanns schwierige Zeit in Berlin zu lesen, über die Einsamkeit und die Angstzustände, die ihren Aufenthalt in der deutschen Hauptstadt von ihrer Übersiedlung im April 1963 bis 1965 begleiten. Diese Deutung wird auch von der Gedichtumgebung legitimiert – etwa von den Gloria-Gedichten, die sich ebenfalls als Protokoll der dramatischen Erfahrungen in einer Züricher Klinik unmittelbar vor dem Aufenthalt in Berlin lesen lassen.5 Gleich am Anfang des Gedichts spielt Bachmann mit den verschiedenen Konnotationen von „Anschluss“ bzw. mit der Doppelbedeutung von „Telephonanschluss“ und „Kontakt mit Menschen“. Hinter der bitteren Ironie der Anschlüsse, die zwar vorhanden sind, aber nicht an das Netz angeschlossen werden, wird das Drama der Einsamkeit und der Isolierung einer leidenden Person durchsichtig. In der ersten Variante des Gedichts werden die Gründe für das physische und psychische Leiden direkt genannt: der Vers „ohne Kind, ohne Geliebten“ spielt auf die Trennung von Max Frisch und auf eine erfolgte Abtreibung an. Hier hingegen erfahren wir lediglich, dass das Leiden so extrem ist, dass es dem Tod vorausgeht, von dem der zweite Gedichtteil handelt: Die Schmerzen sind so stark, dass das Ich das Gefühl hat, gewürgt zu werden; die angedeutete Verbesserung seines Zustands erweist sich als illusorisch; anders als behauptet bleiben die Schmerzen (in der ersten Version des Gedichts)
5 Vgl. den Beitrag von Inge von Weidenbaum in diesem Band, der eine dezidiert biographische Lektüre dieser Gedichte vorschlägt.
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durch den Wechsel der Jahreszeit hindurch konstant. Zu diesem Zustand gehört auch das Nicht-Schreien-Können – ein symbolträchtiger Gestus, der sich sowohl in Der Fall Franza als auch im „Traumkapitel“ von Malina an exponierter Stelle wiederfindet. Bei „Regenguss“ stellt sich die Assoziation zu „Tränen“ her: Das Gedicht suggeriert hier, dass ein Ich alle Tränen hinuntergeschluckt habe. Wie stark die physischen Schmerzen auch sein mögen, so deuten Gedichttitel (in der ersten Variante) und Anschluss-Metaphorik doch darauf hin, dass das Drama der Isolierung, des Herausfallens aus dem Kommunikationsnetz als unmittelbare Folge der Krankheit noch schwerer wiege.6 Das an und für sich schon bedrohliche Gefühl der Isolation wird durch den Lärm noch verschlimmert: Der ganz „normale“ Lärm, der einen wahnsinnig macht, ist ein Leitmotiv, das sich durch viele Gedichtentwürfe zieht. Dementsprechend erscheinen hier Schreinern und Hämmern als etwas Bedrohliches, sie assoziieren ein tödliches Handwerk, scheinen mit Foltern und Töten in Verbindung zu stehen. Somit haben diese biederen Tätigkeiten einen Aspekt des Schrecklichen, ohne dass man auf den ersten Blick erklären könnte, warum. Sie weisen eine unbestimmte Nähe zum toten Käfer auf, die erst im Lauf der Lektüre der zweiten Strophe klar nachvollziehbar wird. In formaler Hinsicht haben wir es in der ersten Strophe des Gedichts mit einem extrem reduzierten Reden als Ausdruck einer extrem reduzierten Existenz zu tun. Die Rede imitiert das Sprechen eines Obdachlosen, der betrunken ist und vor sich hinredet. Es ist die Rede von jeman-
6 Das Gedicht reflektiert eine Situation, die auch im Essay Ein Ort für Zufälle aufgegriffen wird. Hier wird die Einlieferung von Kranken in ein Krankenhaus fokussiert als ein Zustand, in dem das Nichtangeschlossensein bzw. der fehlende Halt bei anderen Menschen besonders schwer zum Tragen kommt: „Einige bekannte Personen sind hier auch heimlich eingeliefert worden, nachts bei Blaulicht, die meisten sind aber Anverwandte, die alle keinen Halt angeben können. Adresse haben sie, aber keine nächsten Angehörigen. Wichtigster Punkt: der nächste Angehörige. Alle liegen schweigend. Die Nachtschwester sagt, er ist unterwegs, er kommt von da und dort, es gibt gleich ein Flugzeug, es kommt vor, darauf verlassen Sie sich. Gemeint sein muß der nächste Angehörige.“ (TKA I, 209) Ähnlich wie im Gedicht wird hier die Vereinsamung unverblümt dargestellt und mit Sarkasmus kommentiert: Die einzige Gemeinsamkeit, auf die sich die im Krankenhaus Eingelieferten – selbst die „bekannten“ unter ihnen – stützen können, ist das Fehlen jeglicher Anbindung an das menschliche Kommunikationssystem. Das Herausfallen aus dem menschlichen Beziehungssystem scheint also ein typisches Merkmal der conditio humana in der Nachkriegszeit zu sein.
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dem, dessen Horizont eingestürzt ist und der sich auf das Essen und Trinken beschränkt. Mit anderen Worten: hier spricht jemand, als hätte er gerade eine Krise hinter sich. Im Gedicht liefert Bachmann eine sehr kontrollierte, mimetische Wiedergabe dieses beschränkten Zustands. Das Sich-Mitteilen reicht nicht über das Stammeln hinaus. Der Horizont der sprechenden Person ist sehr eingeschränkt, er bewegt sich nur zwischen „gestern“ und „heute“. Jemand ist so krank und zugrundegerichtet, dass er gleichsam aus der Geschichte herausgetreten ist; nur das Essen und Trinken ist für ihn relevant. In diesem Sinne ist „getrunken“ getrennt von „Essig“ zu lesen und im Sinne von ,Betrunken-Sein‘ zu interpretieren – ein möglicher Hinweis auf die Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit der Schriftstellerin, die in dieser Zeit einsetzt. Nicht zufällig verfährt Bachmann im thematisch damit zusammenhängenden Gedicht Alkohol sprachlich wie im vorliegenden. Sie versucht nämlich, die Folgen der Alkoholabhängigkeit aus der Perspektive der süchtigen Person anschaulich zu machen, indem sie ein sprachliches Äquivalent für die progressive Einschränkung von deren Denk- und Artikulationsmöglichkeiten liefert: es weiß ja jeder und wer nicht säuft, weiß auch, es weiß ja jeder, das sage ich nicht mehr, weiß weiß weiß weiß weiß weiß weiß weiß weiß weiß weiß mehr sage ich nicht als das jeder weiß (KBW 151) Dieses reduzierte Reden, das in beiden Texten monomanisch um bestimmte Wörter wie „Anschluß“, „Angeschlossensein“, „Kam niemand“ bzw. „weiß“ kreist, imitiert den sprachlichen Duktus der Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle. Gleich die ersten Sätze des Essays führen vor, wie das Sprechen in die Nähe eines Stammelns gerät, die Syntax progressiv reduziert wird und viele Wortwiederholungen vorkommen: Es ist zehn Häuser nach Sarotti, es ist einige Blocks vor Schultheiss, es ist fünf Ampeln weit von der Commerzbank, es ist nicht bei Berliner Kindl, es sind Kerzen im Fenster, es ist seitab von der Straßenbahn, ist auch in der Schweigestunde, ist ein Kreuz davor, es ist so weit nicht, aber auch nicht so nah, ist – falsch geraten! – eine Sache auch, ist kein Gegenstand, ist tagsüber, ist auch nachts, wird benutzt, sind Menschen drin, sind Bäume drum, kann, muß nicht, wird getra-
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gen, abgegeben, kommt mit den Füßen voraus, hat blaues Licht, hat nichts zu tun, ist, ja ist, ist vorgekommen, ist aufgegeben, ist jetzt und schon lange, ist eine ständige Adresse, ist zum Umkommen, kommt, kommt vor und hervor, ist etwas – in Berlin. (TKA I, 205–206) Die progressive Reduzierung des Redens als Ausdruck einer sich mehr und mehr reduzierenden Existenz entspricht dem Programm, das Bachmann im Gedicht Keine Delikatessen auf den Punkt bringt. In ihrem Manifest gegen den Ästhetizismus heißt es diesbezüglich: „Ich habe ein Einsehn gelernt / mit den Worten, / die da sind / […] / Hunger / Schande / Tränen / und Finsternis.“ (I, 172) Direktheit, Verzicht auf Überflüssiges und Konzentration auf das Wesentliche sind Leitideen dieses Programms: „Mit dem ungereinigten Schluchzen, / mit der Verzweiflung / (und ich verzweifle noch vor der Verzweiflung) / über das viele Elend, / den Krankenstand, die Lebenskosten, / werde ich auskommen.“ (Ebd.) Zu den literarischen Vorbildern für ein solches „kreatürliches Sprechen“ zählen einerseits Ungaretti7 und andererseits Büchner, Beckett und Celan, wobei sich Bachmanns Verfahren der extremen sprachlichen Verknappung besonders mit Becketts Kunst des „Weglassens“ vergleichen lassen.8 Wie Adorno feststellt, verwendet auch Beckett, der große „Simplificateur des Schreckens“, mit Vorliebe Reduktionsverfahren auf mehreren Ebenen, wobei „[i]m Akt des Weglassens das Weggelassene als Vermiedenes“ überlebe: „Die protestlose Darstellung allgegenwärtiger Regression protestiert gegen eine Verfassung der Welt, die […] dem Gesetz von Regression gehorcht […]“.9 Jenseits der formalen Affinitäten ist nicht zu übersehen, dass Bachmann auch Becketts Sympathie für kaputte Existenzen und „extraterritoriale“ Figuren teilt, d. h. für Figuren, die gleichsam außerhalb von Zeit
7 Im Nachwort zu ihren Übersetzungen aus Ungarettis Lyrik zitiert Bachmann dessen Ausspruch „Sono una creatura“ (IV, 620) als Inbegriff der „lebendigen Stimme“. Mit dem italienischen Dichter teilt sie den „Glauben an die Lyrik als endgültigem Beweis dafür, dass der Mensch der Zerstörung und den Gewalttaten der Geschichte widersteht.“ (Francesca Falconi, La Poetessa traduce il Poeta: Ingeborg Bachmanns Ungaretti-Übersetzungen, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik XLI (2009) H. 1, 47– 64; hier 58.) 8 Theodor W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: Ders., Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden, hrsg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt 1997, Bd. 11: Noten zur Literatur, 281–321; hier 289. 9 Ebenda.
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und Raum leben.10 So kann das Ich des Gedichts getrost als Verlängerung bzw. als Verwandter im Geist von Mahood, dem Protagonisten des Romans Der Namenlose, gesehen werden – einer Person, die nur mehr „aus Kopf und Rumpf besteht“ und trotzdem „versucht, sich zu konzentrieren, zu denken, […] um zu fragen […], um sich fragend am Leben zu erhalten.“ (IV, 235) Ebenfalls mit dem Ich des Gedichts ist Piotruse verwandt, der Protagonist des gleichnamigen, 1967 in deutscher Übersetzung erschienenen Romans des polnischen, nach Israel ausgewanderten Schriftstellers Leo Lipski: Als Krüppel und als psychisch Kranker, als Versehrter im doppelten Sinn ist dieser, darin auch Mahood ähnlich, eine reduzierte Existenz per excellence, er ist nur noch ein Trümmerhaufen, ein Mensch, der auf seine Tierheit und Kreatürlichkeit beschränkt ist. Wie im Gedicht kreise die „leidenschaftliche Bewegung“ von Lipskis Roman „um einen Punkt, […] der ein Maximum an Exil heißt, der Nichtlebenkönnen heißt, der […] Einverleiben, der Murmeln ist, Zerbröckeln, Zerfallen, Weinen, Versinken […].“ (IV, 356) Bachmann bewundert das Buch, weil es „die Radikalität des großen Unglücklichen, der Gescheiterten, der Überlebenden […]“ (IV, 356) aufweist. Sie geht davon aus, dass Becketts und Lipskis Allegorien der leidenden Kreatur gerade aufgrund ihrer „Extraterritorialität“ und Radikalität einen sehr hohen Wahrheitsgehalt, einen sehr hohen Erkenntniswert besitzen.
3. Allegorien der Gewalt und des Terrors Die biographische Interpretation, die auf die These des reduzierten Sprechens als Ausdruck einer reduzierten Existenz setzt, hat zweifellos eine gewisse Plausibilität.11 Wenn man jedoch den Akzent auf die Bedeutungskomponenten einiger Wörter im Gedicht setzt, ergibt sich eine zweite Lektüreebene, die man geschichtsallegorisch nennen könnte. Steht 10 Bereits 1955 teilt Bachmann Hans Werner Henze ihr starkes Interesse für „Menschen am Rande der Gesellschaft und der Geschichte“ mit (I. B./Hans Werner Henze, Briefe einer Freundschaft, a. a. O., 63; Brief vom 19. und 20. Oktober 1955). 11 Als Stütze für eine solche Lesart vgl. die Erinnerungen von Reinhard Baumgart an seine Berliner Zeit Mitte der sechziger Jahre: „In meinen Berliner Monaten hatte ich sie [Ingeborg Bachmann], diesseits oder jenseits ihrer raren strahlenden Auftritte, immer wieder grau und zerschlagen erlebt, jämmerlich, mutlos, von Hirnkrämpfen geplagt und erschüttert, dann sich an den Besucher klammernd wie ein Kind. Ja, sie litt damals wie ein Tier […].“ (R. B., Damals. Ein Leben in Deutschland 1929 – 2003, München–Wien 2003, 240).
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im Zentrum der biographisch orientierten Lektüre eine Kranke, die gerade eine Krise hinter sich hat und versucht, wieder zu sich selbst zu finden, so setzt nun die zweite, sozialkritisch pointierte Deutung des Gedichts eine Österreicherin in Berlin voraus, eine Österreicherin im Zustand gesteigerter Wahrnehmung: In ihrer Halluzination wird der Raum im Gedicht dezentriert bzw. geöffnet, sodass plötzlich die Vergangenheit wie ein Alptraum einbricht. Eine solche Lektüre setzt freilich voraus, dass Bachmann ein subtiles Spiel mit Worten treibt, die sowohl auf die Krise des Subjekts als auch auf die Verhältnisse im Berlin der sechziger Jahre bezogen werden können. Der Leser, der sich auf dieses Spiel einlässt, entdeckt hinter jedem Wort gleichsam einen doppelten semantischen Boden. Zum Beispiel: Der gleich in der ersten Zeile angesprochene Unterschied zwischen „gestern“ und „heute“ kann einen Hinweis auf die momentane Verbesserung des emotionalen bzw. gesundheitlichen Zustands des Ich enthalten oder/und zugleich auf die Mentalität der Deutschen nach dem Krieg anspielen. In diesem zweiten Sinn sollte der Satz als sarkastisch gelesen werden, denn er meint, dass das Heute nicht besser als das Gestern sei und dass sich die Deutschen nicht verändert hätten. Auch die zweite und die dritte Zeile – so wie der Titel, der dazu dient, das Gedicht als fiktiven Brief an das Berliner Fernmeldeamt zu präsentieren – können je nach Perspektive eine persönlich-individuelle und eine historische Valenz annehmen. In dieser doppelten Optik erscheint das Leiden, das zunächst in seiner persönlichen Dimension als Krise eines Subjekts wahrnehmbar wird, bei näherem Zusehen auch als Leiden des Ich an der Geschichte, an Berlin, an den Deutschen. In diese Richtung deuten gleich mehrere Textzeichen. Das erste klingt bereits im Wort „Anschluß“ mit: Aus dem Mund einer österreichischen Schriftstellerin kommend, erweckt es unmittelbare Erinnerung an Österreichs „Rückkehr ins Reich“, wie es im Jahr 1938 hieß, auch wenn die Wendung „kein Anschluß“ – für sich genommen und im Kontext des Gedichts – keinen richtigen Sinn ergibt. Noch deutlicher sind andere Hinweise – etwa der Vers „Schweigen befohlen und ausgeführt“. Dieses Schweigen kann durchaus als das Schweigen des Ich intendiert werden, das auf Diskretion bedacht ist, seine Schmerzen für sich behalten will, um seine Privatsphäre zu schützen, um sich vor Unbekannten nicht zu entblößen. Es kann aber auch das „Totschweigen“ der Deutschen sein, die über die jüngste Geschichte und ihre Mitverantwortung an den Greueltaten des Nationalsozialismus hinwegschauen wollen, um sich lieber auf die Zukunft zu konzentieren: So gesehen schließt das Gedicht an Das deutsche Wunder an – ein Text, der bereits im ironisch gemeinten
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Titel die mangelnde Bereitschaft der Deutschen anmahnt, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wenn man diese Strophe so akzentuiert, dann könnte die Verwendung des Militärjargons – „befohlen und ausgeführt“ – ein Reflex des damals stattfindenden Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965) sein12 bzw. ein Hinweis auf das Argument, mit dem die meisten SS-Offiziere und NS-Funktionäre ihr Verhalten zu rechtfertigen suchten, es wäre ihnen ja „befohlen“ worden, sie hätten ja „nur“ Befehle „ausgeführt“. Trifft diese Vermutung zu, dann wird einmal mehr die Überzeugung untermauert, dass nach dem Krieg – „heute“ – alles so wie vor dem Krieg – „gestern“ – geblieben ist. Die hier angedeutete doppelte Lektüremöglichkeit betrifft auch die Charakterisierung der Nachbarn: Das können einerseits die Mitbewohner von nebenan sein, die ihren Geschäften nachgehen und dem Leiden des Ich gleichgültig gegenüberstehen. Wenn man allerdings bedenkt, dass hier eine Österreicherin schreibt, dann können auch die Deutschen überhaupt gemeint sein; nur so ergibt die sarkastische Bezeichung „unsere Bastler“ einen richtigen Sinn. In der Tat sind die Deutschen, will Bachmann sagen, gar nicht so harmlos, wie die Tätigkeiten des Kegelns oder des Bastelns es suggerieren. Durch ihre Ironie bzw. ihren Sarkasmus will die Dichterin andeuten, dass sich hinter der Fassade der Normalität Profis der Gewalt verstecken. Bachmann wählt die Worte sehr genau, um diese Überzeugung nicht direkt auszusprechen, sondern nur zwischen den Zeilen anzudeuten. Wenn diese Interpretation stimmt, dann streut Bachmann schon hier Zeichen der Gewalt und des Todes ein, die dann im zweiten Teil in den Mittelpunkt des Gedichts rücken. Dem Kegeln kann etwas Unheimliches bzw. Makabres anhaften, weil es – gerade unmittelbar nach dem Krieg – möglich ist, das Umstürzen von Kegeln mit einer Exekution, mit einer Erschießung in Verbindung zu bringen. Bei Personen, die „schreinern und sägen“, kann man ebenfalls daran denken, dass sie Särge vorbereiten, und bei jenen, die „ans Hammerklavier“ schlagen, ist Brutalität das Mindeste, woran man denken muss: das Wort „Hammerklavier“ bezieht sich in der Tat nicht primär auf das Instrument; es ist eher ein bestimmter Bedeutungsaspekt des Hämmerns gemeint. Es spricht viel dafür, dass Bachmann hier die Deutschen als Meister des Verbrechen und des Todes hinstellt und mit sehr subtilen Mitteln die berühmte Aussage aus Celans Todesfuge bekräftigt: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ Als Österreicherin sieht sie die 12 Vgl. das Gedicht Das deutsche Wunder: „Frühmorgens / wenn die Prozesse / beginnen und die / sanften Gesichter / der Mörder und / die urteilssprechenden Richter einander / vermeiden […].“ (KBW, 134)
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deutschen Nachbarn „mit einer hintergründigen Lebenspraxis der Gewalt verbunden […], die jetzt nicht mehr von staatspolitischer Doktrin, sondern von wirtschaftlichem Erfolgs- und gesellschaftlichem Machtstreben her motiviert ist, wo diese faschistoide Mentalität im Alltagsleben zunehmend Raum gewinnt und bis in die Privatsphäre eindringt.“13 Diesen Befund bestätigen andere Texte der Berliner Phase, in denen verschiedene Formen des Ressentiments gegenüber den Deutschen zum Ausdruck kommen. Dabei wäre es verfehlt, diese Gefühle als Produkt einer geistigen Verwirrung oder einer Obsession abzutun. Vielmehr reflektiert die Einstellung eine Denkweise, die in den sechziger Jahren noch weit verbreitet war: Die Deutschen verursachten noch Angst, die benachbarten Nationen waren noch weit davon entfernt, ihnen Vertrauen entgegenzubringen nach dem, was geschehen war. Bachmanns Misstrauen wird von unbestrittenen Protagonisten der literarischen Szene in und außerhalb Deutschlands geteilt. Sorgen wie die ihren werden schon von Primo Levi in seinem Werk Se questo è un uomo artikuliert. Als die erste deutsche Übersetzung 1961– also zwei Jahre vor Bachmanns Berliner Aufenthalt in Berlin – erscheint, verfasst Levi einen Brief an den Übersetzer, indem er sein Verhältnis zum deutschen Volk zum Ausdruck bringt und versucht, „dem Kapo, der sich die Hand an meiner Schulter säuberte, dem Doktor Pannwitz, denjenigen, die den Letzten erhängten, und ihren Erben zu ,antworten‘.“14 In seiner Antwort beteuert Levi zwar, trotz seiner Erfahrungen in Auschwitz das deutsche Volk nie gehasst zu haben und von jeglichem eventuellen Ressentiment „geheilt“ zu sein, weil er – im Lager noch – durch Thomas Mann etwas in Deutschland erkannt habe, „was Gültigkeit hat“ (Ebd.); auf der anderen Seite behauptet er auch zu wissen, „daß Deutschland, heute im Schlaf liegend, trächtig ist und eine Brutstätte ist, gleichzeitig Gefahr und Hoffnung für Europa“.15 Genau die gleiche Metapher hatte auch Bert Brecht sechs Jahre vorher verwendet, um in seiner Kriegsfibel jene berühmte Formel zu prägen, die bis heute als Inbegriff des allgemeinen Misstrauens gegenüber den Deutschen gilt: „Der Schoß ist fruchtbar noch / aus dem das kroch.“16 Wenn 13 Robert Pichl, Deutsche und Österreicher bei Ingeborg Bachmann, in: Cultura tedesca. Deutsche Kultur 25 (2004), a. a. O., 179–189; hier 183. 14 Primo Levi, Aus einem Brief Primo Levis an den Übersetzer, in: P. L., Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 1992, 7– 8; hier 7. 15 Ebenda, 8. 16 Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, a. a. O., Bd. 12, 266.
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selbst im Jahre 1989 – also fünfundvierzig Jahre nach Ende des Krieges – viele Nationen der friedlichen Metamorphose der Deutschen in ein demokratisches Volk nicht trauten und noch glaubten, vor dem „vierten Reich“ warnen zu müssen, und wenn die Debatte über das nationalsozialistische Erbe in den Köpfen der Menschen bis heute nicht aufhören will, dann kann man sich gut vorstellen, dass in den fünfziger und sechziger Jahren, als die Folgen der NS-Vernichtungspolitik noch sehr sichtbar waren, Skepsis und Misstrauen umso stärker ausgeprägt waren. Bachmann greift im Gedicht diesen Gedanken auf und akzentuiert ihn auf ihre eigene Weise, indem sie die Deutschen als „Mörder und Irre“ bzw. Berlin als Hauptstadt der Gewalt und des Terrors präsentiert. Das Bedrückende für das Ich ist in der Tat, dass es den Eindruck hat, in Berlin sitze man in der Falle. Das hat maßgeblich mit der Last der Geschichte zu tun, die in beiden Gedichtvarianten durch Brandmauern17 symbolisiert wird. Als dauernde Spuren des Krieges erscheinen diese als Inbegriff einer Vergangenheit, die nicht vergeht.18 In formaler Hinsicht sind die Brandmauern Teil einer Isotopie, die um den Bedeutungsaspekt ,Tod‘ aufgebaut ist und sich durch das ganze Gedicht zieht. Sie fungieren als Klammer zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Gedichts: Sie machen den anfangs bloß suggerierten Todesgedanken explizit, übertragen ihn dann auf den Käfer, weil dieser schwarz wie die Mauern ist, und bereiten in einer Art Crescendo den Schluss vor, in dem der Tod die Szene ganz beherrscht. Bachmanns besondere Form der Stadtwahrnehmung hat mit ihrem Augenmerk für Brandmauern einen durchaus nachvollziehbaren Hintergrund, denn Berlin war nach Kriegsende die deutsche Stadt, in der der Krieg am präsentesten war: Wenn selbst bis in die neunziger Jahre hinein noch verbrannte Ruinen und Einschusslöcher vorhanden waren19, dann muss man sich die Präsenz solcher Kriegszeichen zur Zeit von Bachmanns Aufenthalt als noch dominanter vorstellen. Auf dieser realen Grundlage baut Bachmann ihren eigentümlichen Umgang mit dem Pro-
17 Das Wort ,Brandmauer‘ ist als ,Relikt des Luftkrieges‘ und nicht als ,Brandschutzmauer‘ zu verstehen (wie etwa die – sonst ausgezeichnete – italienische Übersetzung des Gedichts nahelegt; vgl. I. B., Non conosco mondo migliore, a. a. O., 185.) 18 Die Rede von einem „unlöschbaren Brand“ in der ersten Variante weist auf das Weiterwirken der NS-Gräuel im Bewusstsein der Menschen hin. 19 Vgl. folgende Verse im Gedicht 13/3/90 von Durs Grünbein: „Wie Poren schließen / Die Einschußlöcher des letzten Krieges sich an der Luft.“ (D. G., Schädelbasislektion. Gedichte, Frankfurt/Main 1991, 65.)
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blem des Gedächtnisses im Gedicht auf. Im Kern besteht er darin, dass die Bilder des kollektiven Gedächtnisses wie die Brandmauern verwandelt bzw. – um es mit einem Wort aus der Lipski-Rezension zu sagen – „einverleibt“ werden. Der Körper selbst avanciert hier zum privilegierten Organ des Gedächtnisses bzw. zum Resonanzraum für das Nachbeben der geschichtlichen Katastrophe: ohne sich wehren zu können, registriert er seismographisch die Erschütterungen einer Geschichte, die noch lange nicht zu Ende ist, er wird zum Medium bzw. zum Austragungsort einer Geschichte, die nicht seine eigene ist. (KBW, 60) In der ersten Variante des Gedichts macht Bachmann aus dem Ich eine „Brandmauer“ „ohne Gesicht“: Das Ich erlebt am eigenen Körper die Last der Vergangenheit, die nicht vergeht, indem es seine menschlichen Züge verliert. Bachmann stilisiert das Ich zum lebenden Mahnmal der Zerstörung der Menschheit, die im Krieg stattgefunden hat, wobei sie – vielleicht in Anlehnung an Rilkes Malte – das Werk der Zerstörung gerade an jenem Teil der Person sichtbar macht, in dem die Individualität und die Menschlichkeit mehr als in jedem anderen konzentriert ist: dem Gesicht. In den Berliner Gedichten ist Erinnerung also nicht das Ergebnis einer bewussten und kontrollierbaren Erinnerungsarbeit, vielmehr wird diese erlitten, hat einen diskontinuierlichen Charakter, kommt in Schüben, hat etwas Zwanghaftes, überfällt gleichsam das Ich und hält es in seiner Gewalt. In der deutschen Hauptstadt erfährt das lyrische Ich „die Geschichte als inneren Schock, der fortan immer mit körperlichem Schmerz und Grauen einhergeht.“20 Dementsprechend markieren die „Schrecksekunden“ in beiden Fermmeldeamt-Gedichten jenen schockhaften Augenblick der Wahrnehmung, in dem die (jüngste) Geschichte ins Bewusstsein hereinbricht und dieses belastet. Die Last der Vergangenheit ist so schwer, dass das Ich aus seinem bedrohlichen Zustand kein Entkommen sieht und seinen Untergang – dem Wahnsinn anheimfallen bzw. in die „Ritze Berlin“ fallen – nur ohnmächtig betrachten kann. In beiden Fernmeldeamt-Gedichten erscheint das Gedächtnis als Gefängnis bzw. als Gespensterhaus – das „feine Haus“ ist natürlich sarkastisch zu verstehen –, aus dem kein „Ausweg“ hinausführt.
20 Elke Schlinsog, Berliner Zufälle, a. a. O., 36.
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4. Zwei „Problemkonstanten“ der Gedichte: der Blick und der Anschluss Im zweiten Teil des Gedichts weitet sich die Blickperspektive aus: Von der engen Küche einer Berliner Wohnung ausgehend umfasst der Blick zuerst die Stadt Berlin und dann den ganzen Planeten. Parallel zu dieser Erweiterung des Blicks verändert sich die Bedeutung des im ersten Teil beschriebenen Leidens: Wurde dieses zuerst in seiner physischen Dimension charakterisiert und auf persönliche Ursachen zurückgeführt, so treten nun dessen bereits angedeutete symbolische Komponenten in den Vordergrund – und je mehr sich der Blick ausweitet, desto mehr wächst auch das Leiden: Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins steigert sich graduell zu Angst, Desorientierung und Panik bis hin zum Wahnsinn. Auch akustisch verändert sich die Choreographie des Gedichts von Grund auf: War der erste Teil vom Lärm beherrscht, tritt nun an dessen Stelle eine Stille, die sich dann immer mehr als Totenstille erweist. Das noch vom Lärm betäubte Ich erlebt plötzlich ein böses Erwachen und wird in dem Moment von der Panik erfasst, als es in einer Ritze der Küche einen schwarzen Käfer bemerkt, der unbeweglich ist und sich tot stellt. Das Ich schwankt zuerst zwischen Hilfsbereitschaft und Ekel; es weiß nicht, ob es helfen oder ob es töten soll. Dann aber erkennt es eine Analogie zwischen dem Zustand des Käfers und seinem eigenen: wie das Insekt empfindet das Ich ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgesetztseins, es fühlt sich in einem Schwebezustand zwischen Todesurteil und Hoffnung auf Rettung. In der Haltung des Käfers erkennt es ein Verhaltensmuster für sich selbst: sich tot stellen, um nicht entdeckt zu werden und zu überleben. In einer zweiten Schrecksekunde entdeckt das Ich wie in einem Spiegel, dass es selbst dieser Käfer ist. Die Ritze in der Mauer wird zur Ritze zwischen zwei Brandmauern, selbst Berlin weitet sich zu einer gewaltigen Ritze aus, zu einem riesigen Abgrund, aus dem es kein Entkommen gibt. Ohne dass das Ich weiß, warum es in diese ausweglose Lage gekommen ist, ist es machtlos, es kann sein Schicksal nicht steuern. Im Drama des Ich in der Falle spiegeln sich aus Bachmanns Perspektive nicht nur die Folgen der jüngsten Geschichte, sondern auch die Entgleisungen der zivilisatorischen Moderne. Das Ich der nachgelassenen Gedichte identifiziert sich mehrmals mit unnötig gequälten Tieren, die im Namen der Wissenschaft und des Fortschritts unnötig leiden und elend sterben müssen. Die Sammlung enthält ein Bestiarium des Schreckens.
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Im Gedicht Das Strafgesetzbuch (KBW, 120–121) werden zum Beispiel scheinbar kleine Verbrechen genannt, die unbestraft bleiben, weil die Gesetzgebung noch keine Strafen für sie vorsieht: Bald geht es um einen Käfer – den gleichen wie im vorliegenden Gedicht – und einen Schmetterling, die aufgespießt werden, bald um ein Blatt, das in ein Buch gepresst wird. Diese kleinen Verbrechen, die niemandem auffallen, gegen die niemand protestiert, machen das unterschwellige Klima der Gewalt durchsichtig, das in der Gesellschaft herrscht, einer Gesellschaft, die in Malina als „Mordschauplatz“ erscheinen wird. Um die im Gedichtschluss enthaltene Spannung völlig zu entfalten, baut Bachmann ein feines Beziehungssystem zwischen Blick und Auge auf. Die letzten Verse des Gedichts sind symptomatisch für die große Bedeutung des Sehens bei Bachmann. In ihrer Lyrik und ihrer Prosa liefert sie auf beeindruckende Art und Weise kulturkritische, mikroanalytische Studien zum Sehen, die „das Zivilisationsschicksal des Subjekts“ in verschiedenen Situationen kolportieren.21 Im vorliegenden Gedicht fühlt sich das Ich von einem fremden Blick so intensiv angestarrt, dass es sich als Objekt fühlt.22 Es ist der fremde, tödliche Blick, der die Kreatur im Buch zum Objekt macht, der die angeschaute Person wie einen Käfer aufspießt bzw. auslöschen kann.23 Hinter dem Bild der Verwandlung in einen Käfer steht für Bachmann eine konkrete psychologische Erfahrung: Wenn man einem Blick ausgesetzt wird, wenn man angeschaut wird, wird man diesen Blick nicht mehr los, man verinnerlicht ihn. Wenn man hinter dieser Erfahrung das persönliche Trauma sieht, das von der Lektüre des Romans Mein Name sei Gantenbein ausgelöst wurde, dann liegt der Grund für die Identifikation des Ich mit dem Käfer darin, dass Bachmann im Buch sieht, wie sie zum Objekt gemacht wird, und sich wie ein aufgespießter Käfer fühlt. Als sie sich in der Schauspielerin Lila wiedererkennt, geht sie davon aus, dass Max Frisch ihre Liebesgeschichte zu Literaturmaterial degradiert hat. Und sie fühlt sich genau so, wie Frisch sie angeblich in diesem Buch präsentiert. Dass sie sich von einem großen
21 Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten. Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, München–Wien 1983, 24. 22 Zum Prozess der Reifizierung durch den Blick vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hrsg. von Traugott König. Dt. von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1991, 457 f. 23 Vgl. das Gedicht An jemand ganz anderen: „Ein Blick auf / dein Gesicht bedeutet mein Auslöschen.“ (KBW, 174)
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Auge angestarrt fühlt, heißt, dass sie den Blick eines anderen spürt, den sie nicht los wird, wenn sie im Buch liest. Die traumatische Erfahrung der Reifizierung thematisiert Bachmann im Roman Der Fall Franza. Hier reflektiert die weibliche Protagonistin, wie sie von ihrem Mann, dem berühmten Arzt und Psychiater Jordan, graduell und systematisch „zugrunde gerichtet“ wird.24 Nach vielen Jahren des Zusammenlebens kommt sie nämlich darauf, dass ihr Mann die Ehe mit ihr nicht aus Liebe eingegangen ist, sondern ihr Verhalten in der Ehe als psychiatrischen Fall untersucht hat und die daraus gewonnenen Erkenntnisse in ein Buch über die Spätschäden bei weiblichen NS-Opfern hat einfließen lassen, das ihm zu Ruhm und beruflichem Erfolg verholfen hat: „Man hat mich benutzt, ich bin in einen Versuch eingegangen, ein Objekt für den privaten Wissensdurst eines Wissenschaftlers.“ (TKA II, 216) In der Art und Weise, wie Franza den Zerstörungsprozess beschreibt, dem sie durch Jordan zum Opfer gefallen ist, ist ein Reflex auf die Art und Weise zu sehen, wie Bachmann in ihren Augen in der Beziehung mit Max Frisch zugrunde gerichtet wurde: Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist. (TKA II, 231) Aus Bachmanns Perspektive spielt es keine Rolle, ob dieses Zum-ObjektMachen bzw. die literarische Instrumentalisierung so intendiert war, wie sie vermutet: sie zieht die Faszination, die im Roman von der Figur Lila ausgeht, gar nicht in Betracht. Aus dem Gedicht entnehmen wir nur, dass der Blick, der auf sie gerichtet wird, zu einem Teil ihrer Psyche wird. Der psychische Prozess, der im Schlussteil des Gedichts beschrieben wird, lässt sich somit auf jeden Fall autobiographisch interpretieren; es ist aber auch möglich, ihn als Ausdruck eines allgemeinen Verhaltens, als Reflex einer allgemeinen (Ver-)Störung aufzufassen. Demnach würde uns Bachmann vor Augen führen, wie es zur Introspektion kommt, die Freud mit der Autorität der Familie erklärt. Dieser geht davon aus, dass sich die Menschen so empfinden wie ihre Eltern sie sehen: Die Tugenden oder negativen Eigenschaften, die diese ihnen zuschreiben, eignen sie sich 24 Der aus der Perspektive von Franzas Bruder Martin erzählte Beginn des Romans lautet: „Der Professor, das Fossil, hatte ihm die Schwester zugrunde gerichtet.“ (TKA II, 13)
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unkritisch an. Somit erweist sich das Über-Ich, das wir in Folge der Erziehung aufbauen, als weitaus stärker als unsere kritischen Selbsteinschätzungsfähigkeiten und stärker als die Kraft, mit der sich die Menschen normalerweise gegen die Eltern auflehnen. In dieser Interpretation zeigt das Gedicht, dass im Blick der Literatur der Prozess der Menschwerdung bzw. der Vernichtung einer Person wie in einer Monade enthalten sein kann. Im Gedicht Prag Jänner 64 heißt es zum Beispiel: „Gehen, schrittweis ist es wiedergekommen, / Sehen, angeblickt, habe ich zu sehen erlernt.“ (I, 169) Die positive Erfahrung der in einem menschlichen Blick enthaltenen Zuwendung wird auch in Erste Schritte festgehalten, einem Text aus dem Nachlass, der unmittelbar an Prag Jänner 64 anschließt. Auch hier überwindet das Ich seine Krankheit – seine Blindheit – und lernt wieder zu sehen: Ich konnte nicht mehr was erkennen jetzt schau ich einen an da hat er wie zwei Augen den meinen zugetan (KBW, 159) Das Thema, das Bachmann in den beiden Texten behandelt, entwickelt den Gedanken des Berliner Gedichts weiter: Wenn sich das Subjekt durch einen freundlichen Blick als Mensch angesprochen fühlt, hat es selbst diesen menschlichen Blick und gibt diese Erfahrung weiter. Aufgrund der gleichen Voraussetzung gilt umgekehrt auch das Gegenteil: Wird das Ich böse angeschaut, wie es im Berlin-Gedicht geschieht, gibt es den gleichen bösen Blick weiter und erscheint als krank und wahnsinnig. Aus den kommentierten Texten geht hervor, dass es viele verschiedene Möglichkeiten des emphatischen Sehens und des Blicks gibt: Blicke können utopische Visionen eröffnen oder auch Skepsis und Trauer auslösen. Letzeres ist etwa der Fall im Berlin-Gedicht oder im Essay mit dem Titel ,Reflexionen über Berlin‘ – zwei Texte, die vielfältige, in diesem Zusammenhang relevante Berührungspunkte aufweisen. Nicht nur sind beide zur gleichen Zeit – etwa im Sommer 1963 – entstanden; darüber hinaus kreisen beide um die zentralen Metaphern des Auges bzw. des Fallens sowie um die „Problemkonstante“ der Last der Geschichte: Ich bin nach Deutschland gekommen. Aber ohne das geringste Interesse, mir die Deutschen zu betrachten und gar festzustellen, wie sie sind. Aber ich betrachte sie. Das ist der quälendste Zustand, in den ich je geraten bin in einem Land. Ich betrachte sie ununterbro-
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chen, ich starre sie an auf der Straße, im Restaurant, in den Kneipen, im Autobus, im Tiergarten, wenn ich spazieren gehe. Ich starre mit einem großen kalten Aug, das schauen und schauen muß, und sie fallen in meine Augen hinein und bleiben da liegen, ich habe einen großen Augensack, in dem schon zehntausend Deutsche schmachten und darauf warten, erlöst zu werden oder im Traum unter den Lidern hervorzukriechen und davon zu fliegen. Aber ich glaube nicht, daß die Deutschen fliegen können und sich zwischen einem Lid durchzwängen können. In meinem Augensack trinken und essen und warten sie auf Trinken und Essen, und sie gehen, wie auf der Straße, neben ihren Körpern her, und trinken Bier, zehntausend Flaschen Bier, wie vorgestern auf dem Vatertag. (KS, 399) Hier wird der Blick auf Berlin und auf die Deutschen mit dem Problem des Gedächtnisses in Verbindung gebracht. Die Rede ist von einer belasteten Wahrnehmung bzw. vom Zwang des Ich, die Deutschen anzustarren, sie nicht aus dem Auge zu verlieren. Die originelle Metapher des Augensacks steht für die Speicherung im Gedächtnis: Dass die Deutschen hineinfallen, bedeutet, dass sie durch die Wahrnehmung im Gehirn gespeichert werden, wobei das Gedächtnis ebenso belastet erscheint wie die Wahrnehmung. Der Wunsch der Deutschen, „erlöst zu werden“ bzw. zu „fliehen“, spielt auf deren Versuche an, sich der Auseinandersetzung mit der Geschichte zu entziehen: „Schweigen befohlen und ausgeführt“, heißt es diesbezüglich im Gedicht. Gegenüber dem bitteren Sarkasmus dieses Verses setzt Bachmann im Essay verstärkt auf eine ironische Diktion: Durch den Hinweis auf die Unfähigkeit der Deutschen zu fliegen postuliert sie die Unmöglichkeit, der Belastung der Geschichte zu entkommen. Schließlich nennt sie auch die Bedingungen für eine solche Geschichtsvergessenheit: Abstumpfung durch Alkohol und Essen, Konsumrausch, Entfremdung von den körperlichen, emotionalen Anteilen der Persönlichkeit. Der Auge-Isotopie verleiht die Opposition von Fülle und Leere zusätzliche Brisanz. In den Entwürfen zum so genannten Wüstenbuch ist von einer Reise in die Wüste die Rede bzw. von einer Landschaft, die deshalb eine heilende Wirkung auf das kranke Subjekt ausübt, weil sie dessen Blicke immer „reiner“ und dessen Augen immer „leerer“ (TKA I, 261) werden lässt.25 Das Leer-Werden der Augen bedeutet, dass die 25 Vgl. das Gedicht Ich habe euch, meine Spießer: „Die Wüste hat meine Augen begegnet mit Sand, von meinem verwüsteten / Herzen konnt ich nur vorher sprechen, jetzt ist es verwüstet / wunderbar, die Sandschleier ziehen auf, die Dünen
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zehntausend Deutschen, die darin waren, verschwunden sind bzw. der Zwang, sie anzustarren, weggefallen ist; mit anderen Worten: Die Last der Geschichte, die belastende Erinnerung trübt den Blick nicht mehr, der nun die Weite der Wüste umfassen kann. Im Berlin-Gedicht selbst steht hinter der Frage des Blicks nicht nur der schwierige Umgang mit der Last der Geschichte, sondern auch das Bedürfnis nach Kommunikation bzw. nach einem Angeschlossensein an die anderen. Die Metaphorik des fehlenden Anschlusses, der nicht stattfindenden Kommunikation, wird am Schluss des Gedichtes wieder aufgegriffen: „angestarrt auch, zwischen zwei Brandmauern, / von welchem Aug, von wem, der wieder mit mir / nicht sprechen kann, […].“ Auch diese Stelle kann zunächst autobiographisch gelesen werden. Nach der Trennung von Max Frisch hat Bachmann in Zürich noch versucht, mit ihm zu reden: Im Krankenhaus hat sie fingiert, einen anderen Verehrer zu haben, um ihn zu einem Gespräch zu bewegen; in Berlin hingegen ist der Kontakt mit dem Schriftsteller ganz abgebrochen. Den Absichten von Bachmann kommt man aber näher, wenn man die Bedeutung der Verse verallgemeinert und sie als Reflexion über den Verlust von menschlicher Nähe, von menschlichen Kontakten als Ausdruck der steigenden sozialen Kälte bzw. der Entfremdung zwischen den Geschlechtern interpretiert. Das lässt sich an den vielen Telephonszenen ablesen, die im Zyklus der Todesarten topisch sind – Szenen, die immer besonders aufschlussreich sind, weil sie die „Problemkonstanten“ der Texte in nuce vor Augen führen.26 Das fängt schon bei einigen Passagen des bereits erwähnten, in zeitlicher Nachbarschaft zum Gedicht entstandenen Essays Ein Ort für Zufälle an, die sich auf die Unmöglichkeit beziehen, „Anschluss“ zu finden: „In der Telephonzelle rollen die Pfennigstücke – alles umsonst eingeworfen – unten wieder heraus. Es kommt keine Verbindung zustande.“ (TKA I, 219) Die Situation wiederholt sich am Anfang von Der Fall Franza, als Franzas Bruder, der Geologe Martin, den Mann seiner Schwester in dessen Klinik anruft, um sich nach ihr zu
habens genommen, / meine Blicke besänftigt mit ihrer unendlichen Zeichnung / mein Gang ans Rote Meer. Mehr sag, ich mehr, mehr noch vom Sand.“ (KBW, 169) Über das Auge als „neues Organ des versteheden Kommunizierens“ neben der Sprache bzw. „in der Doppelfunktion als Instanz des Erkennens bzw. als Ort der Trauer“ vgl. Klaus D. Post, „Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht“, a. a. O., 290, 294. 26 Vgl. das Kapitel: „Malinas“ Medientheorie: Telephon, Post, Schreibmaschine, in: Sigrid Weigel, Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999, 543–558.
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erkundigen. Auch diesmal kommt keine richtige Verbindung zustande: Nur der Psychiater darf reden, Martin kommt im Grunde gar nicht zu Wort. In der Szene zeigt sich also, wie sich hinter den scheinbar harmlosen Manieren des Arztes die ganze Brutalität eines „Monsieur Le Vivisecteur“ (Musil) versteckt, der einen Verwandten als Patienten und die Ehefrau als „Fall“ behandelt: Das Fossil fertigte ihn ab wie einen Kassapatienten oder eingebildeten Kranken, der ihn dauernd belästigte, mit einer genau dosierten Mischung aus professioneller Güte und Schärfe, und wenn Martin, der nur einmal eine Zwischenfrage stellte, die übergangen wurde, überhaupt etwas verstanden hatte, so war es, daß er sich nicht einmischen solle und die Scheidungs- was? formalitäten, modalitäten? von einem Anwalt. (III, 348–349) In den berühmten Telephonszenen von Malina findet sich mutatis mutandis die gleiche „geistige Figur“ wieder, die im Gedicht die Anschluss-Metaphorik mit dem Komplex Angst verbindet: Auch im Roman sind die Anschlüsse zwar da, weil das weibliche Ich und sein Geliebter Ivan ans Netz angeschlossen sind, aber zwischen ihnen kommt kein richtiger Kontakt zustande. Stattdessen sprechen sie in ihren Telephonaten aneinander vorbei: Ivan unterbricht das Ich, er findet, es gebe zwischen ihnen nichts zu klären. Die Gespräche zeugen eigentlich von der Unmöglichkeit, einen authentischen Zugang zur geliebten Person zu finden: „Für sie ist es etwas Ungeheures, wenn das Telephon läutet, für ihn ist es einfach ein Telephonanruf.“ (GuI, 75) Diese „Ungeheuerlichkeit“ wird in den posthumen Gedichten durch die zentrale Metapher des Feuers allegorisiert. In Soziologie heißt es: „Es brennt mich, wie soll ich sagen, / daß ich warte auf Anrufe“ (KBW, 170). Ähnlich in Strangers in the night: „das Telefon ist blaß / geworden, geläutet hat es auf andre Art, / die Zigaretten haben mich / an den Fingern verbrannt“ (KBW, 171). Dass sich das Ich die Finger an den Zigaretten verbrennt, die es während des Wartens raucht, bedeutet, dass es aus seiner Sicht um Leben oder Tod geht. Es kann auch passieren, dass das Sprechen am Telefon mit Phantasien der Selbstauslöschung verbunden wird. Dies ist etwa beim bereits erwähnten Gedicht An jemand ganz anderen der Fall, das einen weiteren Aspekt der zentralen Problematik von Malina vorwegnimmt: Ich habe mich aufgelöst und meine Vergangenheit in dir, und ich sitze am
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Telephon und werde pronto sagen, und der Hörer wird schwarz werden vor Angst und der verwickelte Draht wird etwas wissen von der Verwicklung, und das Klingeln wird in mein Herz einen Schmerz von meinem Alter drehen, und von Orten, an die ich reisen möchte und einen kampf und ein Auslöschen, ich will mich auslöschen wenn ich spreche. (KBW, 174–175) Aus den kommentierten Telephonszenen lässt sich schließen, dass Ingeborg Bachmann in ihren besten Werken „eine Literatur des unaufhörlichen Haltsuchens und Nicht-Halt-Findens“ schreibt.27 Indem sie über den Verlust der engsten Beziehungen klagt, macht sie deutlich, dass ihr Anliegen das Sich-Verankern, das Sicheinschalten in eine möglichst stabile Verbindung zur Welt ist. Wird man in ein Netz von Beziehungen geschaltet – und sei es auch nur auf der Ebene der Simulation bzw. der Sprache –, hat man in ihren Augen auch den ersten Schritt gemacht, um wieder mit der Welt verbunden zu sein. Umgekehrt gilt auch: Wo man aufhört, „anzugehören,“ fängt das Sterben an. Der Schluss des Gedichts Die Lebenslinie greift diese Metapher auf, die auch im Essay Ein Ort für Zufälle in der sarkastischen Variante des „nächsten Angehörigen“, der nicht in der Nähe ist und nicht kommen wird, oder in Bis zur Wiederkehr (KBW, 22)28 vorkommt: Ich will zerfallen wie ein altes Kleid an den Gelenken brüchig werden schrumpfen, so schrumpft der Apfel, klein uralt und steingrau werden und eines Tags gebückt mich unter eine Wurzel legen und lachen aller Tode, und nicht gewaltsam, auslöschen so daß ich kaum merk, wo ich anfang aufzuhören, wo ich aufhöre, anzugehören (KBW, 91) Dementsprechend ist das (Nicht-)Angeschlossensein des Berlin-Gedichts und von Malina ein synonymer Ausdruck für das (Nicht-)Angren27 Elfriede Jelinek, Der Krieg mit anderen Mitteln, in: Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann, hrsg. von Christine Koschel und Inge von Weidenbaum, München–Zürich 1989, 311– 320; hier 318. 28 Hier wirft das lyrische Ich einem undankbaren Du vor, ihm alles geopfert, selbst seine „Angehörigkeit vergessen“ zu haben.
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zen im Sinne von Böhmen liegt am Meer. Der fehlende Anschluss steht für einen krankhaften Zustand, der unbedingt überwunden werden muss. Krankt jemand daran, dass er nicht an die anderen angeschlossen ist, so die im Gedicht enthaltene Schlussfolgerung, muss er versuchen, wieder an sie anzugrenzen, wieder in einer Gemeinschaft aufgehoben zu werden, sei es auch jener der „Unverankerten“: Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser, und Venezianer alle. (I, 167) In Bachmanns imaginärer Topographie bilden somit das phantastische Böhmen und das Prag des gleichnamigen, bereits erwähnten Gedichts den absoluten Gegenpol zu Berlin. Während die deutsche Hauptstadt zum Ort der Vereinsamung und der sozialen Desintegration degradiert wird, erscheinen Prag und Böhmen als utopische Stätten der Menschwerdung durch (Re-)Integration des Individuums in die Gemeinschaft: Wird dort das Ich von Albträumen verfolgt, die es in den Wahnsinn treiben, so erlebt es hier, wenn auch nur für kurze Augenblicke, wieder Menschennähe und Glück.
5. Aggressivität und Wut: zum neuen Ton der Gedichte aus dem Nachlass Das Finale des Gedichts hält ein unerwartetes Ende bereit, unerwartet vor allem deshalb, weil in ihm das Verhalten des sonst gedrückten und niedergeschlagenen Ich plötzlich in eine ausgeprägte Aggressivität umkippt. Zu Beginn erleben wir ein Ich, das eine schwere Krise gerade hinter sich hat und ans Ende seiner Kräfte gelangt ist; ganz auf sich gestellt, muss dieses Ich die Gleichgültigkeit der Nachbarn über sich ergehen lassen, es ist einem unerträglichen Lärm ausgesetzt und vom Weinen so erschöpft – darauf deuten die Verse „Gestern, da ging der ganze Regenguß mit einmal / in meinen Hals“ –, dass es nicht einmal schreien kann. Im zweiten Teil des Gedichts wird es von Albträumen heimgesucht, die es in Angst und Schrecken versetzen, fühlt sich in einen Abgrund fallen, an dessen Ende der Wahnsinn steht. Im Laufe des Geschehens wird das Ich immer passiver, unbeweglicher, bis es gegen Ende des Gedichts, in einen
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Käfer verwandelt, ganz gelähmt ist: Es stellt sich tot wie der Käfer. Am Schluss wendet sich jedoch das Blatt: Das Ich wird plötzlich aktiv, es schlägt gleichsam zurück. Es schwankt zwischen zwei – gleichermaßen gewaltsamen – Möglichkeiten: sich ganz zu zerschlagen, „zu zertreten“ bzw. mit dem „Romanebuch“29 den Käfer zu töten. Hinter der zweiten Option ist unschwer Bachmanns Wille zu erkennen, sich durch den Romanzyklus der Todesarten dafür zu rächen, dass sie literarisch missbraucht und gleichsam zum Käfer gemacht wurde. Dieser Befreiungsakt ist auf das eigene Schreiben bezogen. Das „Romanebuch“ ist eine Art Rage Against the Machine, ein Aufstand gegen die Maschinerie der Gewalt, die gegen das Ich ausgeübt wurde. Das zum Käfer gemachte Ich macht nun den Prozeß der Verwandlung im Sinne Kafkas30 rückgängig, indem es das Bild zerstört, das ihm aufgezwungen wurde. In dieser Optik erscheint das Zerschlagen des Insekts in einem positiven Licht als erster Schritt des Handelns, der dem Ich erlaubt, aus der Lethargie der Krankheit auszubrechen, seine Passivität zu überwinden. Das Besondere dabei ist, dass das Ich in seinem Drang nach Befreiung eine extreme Aggressivität freisetzt und nicht davor zurückschreckt, ein kleines Verbrechen zu begehen. Die inhaltliche Wende schlägt sich in dem abrupten Wechsel der Tonlage nieder: War das Gedicht bisher von Melancholie und Trauer bestimmt, stimmt es plötzlich einen sehr aggressiven Ton an, der in der anderen Variante des Gedichts völlig fehlt.31 Obwohl man merkt, dass Bachmann in diesen Texten experimentiert und sich nur langsam an ihren neuen Ton herantastet, kann man den großen stilistischen Unterschied zur Lyrik der fünfziger Jahre nicht übersehen. Unabhängig davon, wie gelungen die seltsame Mischung von Melancholie und Aggres29 Bei einem „Romanebuch“ handelt es sich um verschiedene zusammengeheftete, zusammengebundene Romane, wie es bei Kriminalromanen der Fall ist. 30 Bei einem Ich, das sich plötzlich in einen Käfer verwandelt sieht, denkt man sofort an die berühmte Erzählung Kafkas: Gegen eine Analogie zu Kafka spricht der Umstand, dass sich Kafkas Käfer nicht tot stellt; dafür der Versuch, sich gegen die Verwandlung zu wehren. 31 Bis zu dieser aggressiven Wende lässt sich eine gewisse Parallelität zwischen den beiden Varianten erkennen. Der Verwandlung des Ich in einen Käfer entspricht in der ersten Variante dessen Verwandlung in eine Brandmauer: „in einer Schrecksekunde / vom Wahnsinn fühl ich mich / angestarrt. weiß ich, daß / ich mich selber anstarre. / Eine Brandmauer die andre. / ohne Gesicht. / von einem erlöschenden Brand. / unlöschbaren Brand“ (KBW, 130). Hier wird die Problematik der Last der Vergangenheit akzentuiert, während dort das Thema der „Opfer der Literatur“ zum Ausdruck kommt.
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sivität erscheinen mag, steht auf jeden Fall fest, dass dieser aggressive Zug den typischen „Bachmann-Sound“ (Krolow) der fünfziger Jahre ablöst. Konnte Elfriede Jelinek noch behaupten, Bachmanns Stil sei nicht „aggressiv“, sondern aufgrund ihrer philosophischen Ausbildung „analytisch“32, so zwingen uns die posthumen Gedichte dazu, dieses Urteil zumindest dahingehend zu revidieren, dass sich der analytische Blick und eine extreme Affektgeladenheit nicht mehr ausschließen. Mit diesem Stilwechsel setzt Bachmann eine Wende in ihrer lyrischen Praxis um, die sich in den gleichzeitig entstandenen Entwürfen zur Büchnerpreisrede ankündigt. Hier bestimmt sie die Grundlagen für die neue Poetik, die dem Projekt der Todesarten zugrunde liegen soll, und vollzieht eine Radikalisierung ihrer früheren Positionen. Um sich von den „Fingerübungen, die überhand nehmen“, dezidiert zu distanzieren, plädiert sie nämlich dafür, „zu schreiben, mit einem Druck von Erfahrung hinter sich, mit Wut und Tränen, mit Rachsucht, mit Nievergessen, erniedrigt und beleidigt wie eh und je […].“ (TKA I, 177) Durch die Absage an Formexperimente, die nicht von der Erfahrung als „einzige[r] Lehrmeisterin“ (IV, 184) getragen sind, bleibt Bachmann zwar der Poetik der Frankfurter Vorlesungen noch treu. Im Jahre 1964 jedoch akzentuiert sie das zentrale Postulat der Authentizität neu33: Ging es in den Vorlesungen um Prinzipien wie Erkenntnis, Moral, Kritik, Sisyphus-Arbeit gegen die „schlechte Sprache“, Utopie – allesamt Prinzipien, die ihre Poetik in der Nachfolge der Aufklärung situieren, so tritt Bachmann nun, ohne diese zu verleugnen, für eine stärkere Betonung der Affekte bzw. für eine stärkere Emotionalisierung des Schreibens ein, die gegen die ästhetische Distanz gerichtet ist bzw. den Ausdruck von Wut, Aggressivität bis hin zu Hassgefühlen favorisiert.34 32 Zit. nach: Margarete Sander, Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. Das Beispiel „Totenauberg“, Würzburg 1996, 24. 33 Die Forderung nach Authentizität und nach unmittelbarem Ausdruck des Erlebten darf nicht mit Mangel an Gestaltung verwechselt werden, denn die Verzweiflung, wie Dieter Bundorf zu Recht feststellt, spricht bei Bachmann nur „scheinbar poetisch ungestaltet“. (D. B., „Alles verloren, die Gedichte zuerst“, a. a. O., 77.) In der Tat verträgt sich die Verzweiflung mit einem so hohen Grad an Strukturiertheit, dass es denkbar wäre, das zweite Fernmeldeamt-Gedicht auf das Niveau der so genannten letzten Gedichte zu stellen. Zeichen der intensiven Gestaltungsarbeit sind hier das subtile Spiel mit der semantischen Doppeldeutigkeit der Worte, die vielen Korrespondenzen zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Gedichts und der Aufbau von Isotopien, die den ganzen Text strukturieren. 34 Wenn man beim „Druck von Erfahrung“ den Akzent auf den Teil des Ausdrucks setzt, dann ergibt sich eine Reihe von Berührungspunkten mit den poetolo-
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Werkintern ist diese vom sprachlichen Gestus her an das Alte Testament bzw. an Nietzsche erinnernde Neuorientierung als Versuch zu deuten, sich der „schwachsinnigen Moral der Opfer“ (KBW 20) zu entziehen. Dieser Schritt wurde von Ingeborg Bachmann freilich nicht als die definitive Lösung des facettenreichen Opfer-Problems betrachtet und im Zyklus der Todesarten nicht konsequent weiterverfolgt: Vergleicht man das Berlin-Gedicht aufgrund der Ähnlichkeit der Situation etwa mit dem Schluss von Malina – in beiden Fällen gibt es eine Person, die dabei ist, in einer Ritze zu verschwinden, ohne dass jemand zu Hilfe kommt –, fällt im Roman das Fehlen jeglicher Form von Aggressivität auf. Und auch die Rachegelüste von Fanny Goldmann, die ihren Liebhaber Marek mit einem Revolver „niederknallen“ möchte, werden im Kontext des gleichnamigen Romans zu einer „Phantasie“ relativiert, die von vornherein ohne Folgen bleiben soll.35 In literaturgeschichtlicher Hinsicht vollzieht Bachmann mit ihrer Hinwendung zu „Wut und Tränen“, zu „Rachsucht“ und „ungereinigtem Schluchzen“ (I, 172) eine Entwicklung, die in der deutschsprachigen Nachkriegszeit bereits in den fünfziger Jahren durch Peter Weiss, Arno Schmidt und Heinrich Böll eingesetzt hatte. Mit ihren Gedichten setzt sie den erbitterten Kampf gegen das „Tabu der Aggressivität“ bzw. gegen die mangelnde Bereitschaft fort, „[o]hne Abmilderung, Entschuldigung und Beschwichtigung Negatives auszusprechen, Menschen und Sachverhalte zu verurteilen,“36 – einen Kampf, der ebenfalls von Weiss’ Marat/Sade, (1964),
gischen Texten der letzten Phase: zum einen die in Keine Delikatessen reflektierte Arbeit „mit dem Schreibkrampf in dieser Hand, / unter dreihundertnächtigem Druck“ (I, 173), zum anderen das in der Anton-Wildgans-Rede entwickelte Konzept von Sprache als „Zwang“, als „Obsession“, als „Verdammnis“, als „Strafe“. (IV, 295) Die gemeinsame Achse, um die sich diese Äußerungen drehen, ist das Verhältnis von Schreiben und Krankheit. 35 In dieser Szene wird der geträumte Racheakt von Fanny Goldmann mit der göttlichen Rache verglichen und das Dies irae zitiert, in dem neben der Posaune und dem Richter auch ein Buch eine Schlüsselrolle spielt. In diesem für die Analogie mit dem Berlin-Gedicht relevanten Zusammenhang betont Guiomar Topf, dass „[d]ieses Buch […] die Heilung für die durch ein ,vergiftetes‘ Buch getötete Fanny Goldmann [wäre].“ (G. T., Zur Problematik einer ,weiblichen Ästhetik‘ in Ingeborg Bachmanns Requiem für Fanny Goldmann, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 22 (2007– 2008), 308–320; hier 312.) 36 Jörg Drews, Das Tabu über Aggressivität und Kritik. Zu einer verborgenen Kontinuität der deutschen Literatur vor 1945 und nach 1945, in: Protokolle 1991, H. 1, 3 –16; hier 4.
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Bernhards Frost (1963) bzw. Celans Niemandsrose (1963) mitgetragen wird.37 Ohne den Vergleich mit diesen Werken zu sehr zu forcieren, kann man schon am Berlin-Gedicht nachvollziehen, wie nahe Bachmanns posthume Lyrik etwa dem Drama von Peter Weiss steht: Sprachlich und inhaltlich transportiert sie den gleichen Wunsch, Affekten und Trieben freien Lauf zu lassen, sie stellt die traditionellen Unterscheidungen von Gesunden und Kranken, von Normalität und Wahnsinn in Frage, rückt Körperlichkeit in den Vordergrund, probt den Aufstand gegen Tod und Gewalt. Bachmanns skizzierter Wechsel der Tonlage in den frühen sechziger Jahren lässt sich an einem sensiblen Thema wie dem Fortleben des Nationalsozialismus in der Nachkriegsgesellschaft und der Verdrängung der Vergangenheit besonders genau beobachten. In den frühen Gedichten kommt der Zorn gegen die Mörder, die noch „unter uns“ sind, nur sehr verhalten zum Ausdruck, die Affekte unterliegen noch der Kontrolle, der Selbstzensur, ab 1963 hingegen wird die Stimme des Zornes immer lauter. Im Gedicht Psalm etwa orientiert sich Bachmann an der Vehemenz der biblischen Sprache, um ihre Wut gegen die „neuen Mörder“ (I, 54) zu artikulieren. Jedoch kommt der apokalyptische Zorn, den sie gerne über die Mörder-Welt hereinbrechen sehen würde, erst in den in der Prosa der sechziger Jahre formulierten Tiraden gegen die Deutschen voll zum Ausdruck. Während Bachmann die apokalyptische Vision, die im Bild der im Augensack schmachtenden Deutschen enthalten ist, noch ironisch bzw. sarkastisch bricht, lässt sie in einer 1962 entstandenen Notiz ihrer Wut freien Lauf: „[…] ich hasse die Deutschen, nicht weil sie schlecht sind, denn wie sollten sie schlechter sein als andere, aber weil sie uns wieder das Fürchten lehren, und ich hasse sie, weil sie nicht begreifen, daß sie es tun.“ (TKA I, 166) Der Fluch, den sie über die Deutschen verhängt, nimmt hier fast alttestamentarische Ausmaße an.38 Ähnlich verhalten im Vergleich zu späteren Texten ist das Gedicht Früher Mittag aus dem Jahre 1952: Aggressivität und Zorn gegen die „Henker von gestern“, die „[s]ieben Jahre später“ „den goldenen Becher“ „[aus]trinken“ (I, 44), werden hier durch ein melancholisches Seufzen gemildert, gleichermaßen ästhe37 Vgl. Hans Höller, Ingeborg Bachmann, Reinbek bei Hamburg 1999, 127. 38 In den Hass-Tiraden gegen die Deutschen tritt die Ambivalenz in der Behandlung der Opfer-Problematik noch einmal zu Tage. Bedenkt man den Umstand, dass hier eine Österreicherin spricht, dann könnte der Eindruck entstehen, dass sie ihr eigenes Volk entlastet und einen Beitrag zum Exkulpationsmythos liefert. Somit würde sie ihrem eigenen Postulat widersprechen, sich nicht „auf die Opfer zu berufen“.
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tisch abgefedert: „Die Augen täten dir sinken.“ Ganz anders die Wendungen, mit denen Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen die so genannte „Literatur hinter uns“ bezeichnet, um sie zu diskreditieren: „von Herzwänden geschnittene Worte, und tragisches Schweigen, und Brachfelder von zerredeten Worten und Tümpel von stinkendem, feigem Schweigen […]“. (IV, 209) Während ein solch aggressiver Duktus in den Vorlesungen eher die Ausnahme bildet, avanciert er in den posthumen Gedichten zum bevorzugten Ausdrucksmittel. Bachmann zieht hier alle Register der Aggressivität: Einmal verbindet sie sie mit Bitterkeit und Sarkasmus, ein anderes Mal verdankt sich die Aggressivität den blasphemischen Aussagen.39 In dem Entwurf mit dem Titel Ich habe die Feder (KBW, 89) etwa „kratz[t], reiß[t], schärf[t]“ das Ich „ein grausames Lied“ und droht sogar, „ein Blutbad“ anzurichten – wobei die Geste des sich verachtet fühlenden Ich, das mit der „härter“ gespitzten Feder „ins eigene Gesicht“ und in andere „Gesichter“ springt, jenem des Fernmeldeamt-Gedichts sehr ähnlich ist. Wollte Bachmann in den Vorlesungen die Waffen durch die richtigen Worte noch überflüssig machen, so pflegt sie nun eine aggressive Rhetorik und bedient sich der Literatur wie einer Waffe. Ein anderes Mal – wobei sich die Reihe der Beispiele noch weiter fortführen ließe40– radikalisiert sie den in der Erzählung Undine geht artikulierten Protest gegen die Männer und wünscht dem verhaßten Du eine Vielzahl von Krankheiten: Andere Krankheiten zehn auf einmal hab du, zehn auf einmal sei krank die Zehn sperrangelweit Schorf, am Bein ein Klopfzeichen im Bauch Wackersteine in der Brust Sechseläuten im Arm Goldfieber im Finger den Span […] (KBW, 46) Vermutlich hatte Bachmanns Zweifel, die Gedichte zu veröffentlichen, um nicht missverstanden zu werden. Denn was läge näher, als die Aggres39 Zu diesem Aspekt vgl. Hubert Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal?, a. a. O. 40 Zu nennen wäre etwa das Gedicht Alla più umile, all [a] più umana, alla più sofferente (KBW, 116 –117).
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sivität und die Wut auf die Äußerungen eines in seinem Stolz verletzten Ich zu reduzieren, auf ein persönliches Ressentiment zu verkürzen und die dahinterliegende Kritik an den allgemeinen sozialen und geschlechtsspezifischen Verhältnissen zu übersehen? Zwar hatte Andersch in den Gedichten von Enzensberger die willkommene Äußerung „eines zornigen jungen Mannes“41 begrüßt und somit dazu beigetragen, dem Zorn öffentliche Respektabilität zu verschaffen. Bachmann hat jedoch offensichtlich ihren Zeitgenossen nicht genügend Einfühlungsvermögen, nicht ausreichende Sensibilität zugetraut, um im Zorn eine positive Triebkraft von Entwicklung und Veränderung zu sehen.42 Angesichts ihrer Befürchtungen kann man trotz einiger Einschränkungen die Veröffentlichung der Gedichte aus dem Nachlass nur begrüßen. Wären sie weiterhin unter Verschluss geblieben, dann hätten wir weder Bachmanns Schritt zu einer Poetik des „verstörten und verstörenden Schreibens“ (Höller) noch ihren wichtigen Beitrag zu einer differenzierten „Theorie“ der Gewalt zur Kenntnis nehmen und als relevanten Teil der Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex der Todesarten würdigen können. In den posthumen Gedichten denkt Bachmann so konsequent über das Doppelgesicht der Gewalt nach wie in keinem ihrer vorausgegangenen Werke. Einerseits schärft sie unseren Blick für subtile Gewaltmechanismen, die in ihren Augen Ausdruck einer in den Köpfen mancher Menschen noch tief verwurzelten faschistoiden Mentalität sind und unsere Gesellschaft allmählich in einen „Mordschauplatz“ verwandeln. Denn sie macht auf die latente, hinter scheinbar harmlosen Gesten erkennbare Gewalttätigkeit, die den Alltag beherrscht, aufmerksam, auf die kleinen, unscheinbaren Verbrechen gegen die Kreatur, auf die ungeahnten Zerstörungspotentiale, die selbst in einem literarischen Werk stecken. Bemerkenswert dabei ist, dass das Ich des Gedichts, obwohl es das Zerstörungswerk dieser Gewaltmaschinerie an sich selbst erfährt und daran zugrunde geht, noch luzide genug bleibt, um mit dem Finger auf sie zu zeigen. Am Schluss seiner traumatischen Erfahrungen angelangt, sagt es entschlossen: „ich weiß“. (KBW, 130) Auf der anderen Seite würdigt Bachmann aber auch die befreienden Energien, die in der Aggressivität und der Zerstörungswut des Ich enthal41 Alfred Andersch, 1 (in Worten: ein) zorniger junger Mann [1958], in: Über Hans Magnus Enzensberger, hrsg. von Joachim Schickel, Frankfurt/Main 1970, 9–13. 42 Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/ Main 2008. Eine Kulturgeschichte des poetischen Zornes nach dem Muster von Sloterdijk steht freilich noch aus.
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ten sind. ,Gewalt‘ ist aus ihrer Sicht nicht gleich ,Gewalt‘: In der Schlussszene des Berlin-Gedichts wird überraschenderweise auch eine legitime Form der gewaltsamen Reaktion vor Augen geführt. Das lyrische Ich zerstört die negative Verzauberung, die vom Blick ausgeht und es gefangen hält, es unterbricht den psychischen Gewaltzusammenhang, dem es lange unterlag. Indem Bachmann hier die Schlüsselrolle der Aggression und des Zornes für den Prozess der Heilung der „Krankheit“ des Ich und für den Wiederaufbau seiner zerstörten Persönlichkeit postuliert, liefert sie die poetisch angereicherte Version einer Erkenntnis, die mittlerweile zum Allgemeinplatz in der Pädagogik und der Psychoanalyse avanciert und neulich auch von philosophischer Seite – etwa von Sloterdijk – anerkannt worden ist.
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„Ich habe wie die Wilden geliebt“. Ingeborg Bachmanns poetischer Nachlass „Ich habe wie die Anna Wilden Maria geliebt“ Carpi
Das Motto der Nachlass-Gedichte, eine Zeile von Gaspara Stampa „Vivere ardendo e non sentire il male“, drückt mit wenigen herrlichen Worten die Utopie einer brennenden Vitalität ohne Schmerz aus. Der Bachmannsche Titel Ich weiß keine bessere Welt, aus zwei aufeinander folgenden Gedichten entnommen, ist bereits eine düstere, rationale Widerrufung und der zweite Vers des letzteren (KBW, 20) erklärt warum: Dass es keine bessere Welt gibt und daher nichts zu hoffen, liegt an der „schwachsinnige[n] Moral der Opfer“. Auf dem Blatt 302 des Nachlasses gibt es einen lakonischen Eigenkommentar, einen nackten Sarkasmus, der alles auf Null reduziert, sowohl den utopischen Schwung als auch die Reflektion: „eine schwarze Operette, die mich geniert und zum Lachen bringt“. Der Weg von Bachmann ist, wie man weiß, zweigeteilt: Die fünfziger Jahre, Jahre der Anerkennung und der intensiven Kontakte mit der Welt, kulminieren in den Frankfurter Poetikvorlesungen (1959–60) und in der Prosa von Das dreißigste Jahr (1961), sind aber von der Poesie gekennzeichnet, von Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des großen Bären (1956). Darauf folgt der überraschende Verzicht auf die Dichtung, ein nur offizieller Verzicht, weil Bachmann weiter Gedichte schreibt, auch wenn vieles notizenartig aussieht und das, was wir kennen, eine Reihe von Fragmenten ganz unterschiedlichen Werts ist, eigenartig auch in der Interpunktion. Es ist zu leicht, Gedichte zu schreiben, sagte Bachmann, und ich gebe ihr recht: Wer von uns will heute hören, dass es einfach ist, Gedichte zu schreiben? Es ist eine zumal in Italien weit verbreitete Meinung, die Dichtung stehe höher als die Prosa, vielleicht nur ein paar wahre Dichter wissen, dass es umgekehrt ist; wie übrigens schon Mallarmé feststellte, es sei erheblich schwieriger, Prosa zu schreiben. In den frühen sechziger Jahren fühlt Bachmann, dass sie jetzt die gemachten
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Erfahrungen bedrängen und dass diese nun in der Prosa weiter ausgeführt und artikuliert werden müssen. Es reichen auch nicht die Hörspiele Ein Geschäft mit Träumen (1952), Die Zikaden (1955) und Der gute Gott von Manhattan (1958): Ingeborg Bachmann fährt unerbittlich fort in ihrem Vorsatz einer Militanz, die sich nur im Roman niederschlagen kann. Auf die Frage, die immer an Autoren, die sich in verschiedenen Genres ausdrücken, gestellt wird, was für sie das Wichtigste sei: Lyrik, Hörspiel oder Prosa, antwortet Bachmann 1963 in einem Interview: Die sind mir alle eins, Angriffe und Expeditionen in die eine Richtung, von verschiedenen Seiten aus, mit verschiedenen Mitteln. Notwendig ist mir nur, dass ich in einem für mich wichtigen Augenblick Schreiben abbreche und Schreiben woanders aufnehme. (GuI, 40) Aber der Konflikt mit der Lyrik wurde für Bachmann dramatisch, ein Konflikt zwischen Substanz und Erscheinung. Kunst ist ein „schmutziges Geschäft“, sagt Bachmann in Enigma (KBW, 112). Nichts Neues. Die Verspottung der Kunst ist schon bei Georg Büchner gegenwärtig, und der Konflikt zwischen Wahrheit und Wort steht im Zentrum der Dichtung Paul Celans. Es genügt ein kurzes einleuchtendes Beispiel aus Atemwende: „Ein Dröhnen: es ist / die Wahrheit selbst / unter die Menschen / getreten, mitten ins / Metapherngestöber“.1 „Soll ich eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte?“, fragt Bachmann in Keine Delikatessen (I, 172), ein Gedicht, das ein einziges ikonoklastisches Manifest gegen die „Delikatessen“ ist, d. h. gegen die leeren und graziösen Gesten und die Selbstbezüglichkeit des Dichtens. „Nichts gefällt mir mehr“, behauptet sie hier in fast brechtschem Ton, jetzt hat sie gelernt, sieht klar in Bezug auf die Wörter, die für „die unterste Klasse“ sind: „Hunger / Schande / Tränen / und / Finsternis.“ Ein Roman stellt dennoch erhebliche Ansprüche: Er fordert, wenn schon nicht Fakten, so doch plausible Verkettungen, erkennbare und kohärente Figuren und einen Spannungsbogen. Aber all diese Handgriffe interessieren Bachmann nicht, was erklärt, dass in der Trilogie der Todesarten nur Malina beendet ist, während Der Fall Franza und Requiem für Fanny Goldmann unvollendet bleiben. In ihrer neuen Prosa richtet Bachmann ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die kreatürliche Dimension des Mensch-Seins, auf das Opfer-Sein. In 1 Paul Celan, Gesammelte Werke, a. a. O., II, 89.
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ihren Erzählungen der fünfziger Jahre kamen noch Protagonisten bzw. männliche Ich-Erzähler vor; in den Todesarten ist die verletzte Kreatürlichkeit nur eine weibliche. Die Unterwerfung der Frau ist so alt wie die Welt, und Bachmann bleibt fest darin verankert: Obwohl ihre rationale Seite oft dominiert, manchmal kantig und durch die Auseinandersetzung mit der Philosophie verstärkt wirkt, besiegt die verfeinerte Intellektuelle ihren erotisch-emotionalen Teil nicht, und auch nicht die freudige Berufung jeder Frau zur Liebe und den qualvollen Kommunikations- und Widerspiegelungsdrang, der jeder Frau eigen ist. Sie preist ihn als den höchsten Wert. Aber dieser Drang geht über den Gegensatz Mann-Frau weit hinaus, die Liebessuche geht über die Zweisamkeit hinaus, wird zu einer fast christlichen Instanz der Nächstenliebe. In den heute immer stärker kodifizierten und verfälschten Sprachen geht die menschliche Kreatur unter – dies ist bekanntlich die Grundannahme in den Todesarten. Es gibt keinen natürlichen Tod, wir werden langsam von den anderen getötet, aber nicht plötzlich, sondern allmählich, immer ein wenig mehr. Es ist schon hervorgehoben worden, wie sehr in dieser Annahme Jean Amérys Aufsatz über die Tortur, der ausdrücklich in der Erzählung Drei Wege zum See (II, 421) zitiert wird, nachklingt, und zugleich eine Stelle aus dem Meti, Buch der Wendungen von Brecht, der all die unblutigen Todesarten aufzählt, die der Staat nicht verfolgt.2 Indem Ingeborg Bachmann von der Dichtung Abschied nimmt, will sie ihre Militanz ausweiten. Aber die ideologischen Voraussetzungen von Todesarten schwächen den Stoff (was einem gleichsam frivolen Überfluss an Details keineswegs widerspricht), um daraus eine zähflüssige, den Leser gleichzeitig einnehmende und frustrierende Prosa zu entwickeln, in der ein allmächtiges lyrisches Subjekt vorherrscht, das nur gelegentlich maskiert wird und alle Nebenfiguren leer, hypothetisch und zu reinen Schatten werden lässt. Dadurch entsteht Raum – zahlreiche auch exotische Orte –, aber keine Zeit, nicht einmal dort, wo es eindeutige Bezüge zur Gegenwart gibt oder, wie in Fanny Goldmann, geschichtliche Daten vorkommen. Auch der Alltag, die Gesten und Einrichtungen, das Innen und Außen lösen sich in einer Art Isolierung und Unwirklichkeit auf. Deshalb schreibt Bachmann in dem Vorwort zu Der Fall Franza: „Denn es ist das Innen, in dem alle Dramen stattfinden, kraft der Dimension, die wir oder imaginierte Personen diesem Leidenmachen oder Erleiden verschaffen können.“ (III, 342) Aber dieses „Innen“ von Todesarten durch2 Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, a. a. O., Bd. 18, 90.
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bricht nicht die eigene repetitive Liturgie. Es entwickelt sich keine Geschichte und deshalb kann es auch kein Ende geben, die beiden RomanFragmente können unendlich fortgesetzt werden und dadurch haben sie etwas Märchenhaftes; märchenhaft ist ganz und gar auch die letzte Seite von Malina, wo das Ich von einem Riss in der Wand verschluckt wird. Im Märchen ist auch das Grauen vorgesehen und hier fehlt es nicht, man denke nur an die Reihe der Alpträume des Ichs, aber weder diese noch die idyllischen Momente können einen richtigen Zauber hervorrufen. Wollte Bachmann in den Romanen der Erfahrung Raum geben, so begegnen wir dieser doch erst in den zeitgleichen posthumen Gedichten, brüsk, wirklich und tragisch. Als Beispiel diene der Riss in der Wand, der das Ich bereits in Malina verschluckte, in An das Fernmeldeamt Berlin (KBW, 130), in dem sich in einer „Schrecksekunde“ ein Käfer, eine Kakerlake, verbirgt: der stellt sich tot. Totgestellt. Und ich lerne von ihm, ich stelle mich tot, ohne Kind, ohne Geliebten, ohne Radio, ohne Telefon, in dieser Ritze, verlaufen auf diesem Planeten, in diesem Berlin, angestarrt von niemand zwar, von einer Brandmauer. Die Mauer kommt ein zweites Mal im Ingmar Bergman gewidmeten Gedicht (KBW, 65) vor, als Mauer neben dem Bett in der Berliner Klinik, wo Ingeborg Bachmann lag (und Berlin hatte selber eine Mauer): Ich habe die Wand gesehn und geschrien in meinem weißen weißen Bett, an das keiner kam, ich habe in einem weißen weißen Bett gelegen und geschrien weil alle Orkustiere es abgesehen hatten auf mich die Kröten, die [– –] die Saurier, und das schlug um sich mit Flügel und Flosse.
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Ich habe keine Worte mehr nur Kröten, [….] Wenn die kreatürliche Situation in den drei Fällen der Todesarten recht konstruiert erscheint, so geht sie im Nachlass in eine Umarmung über, die die gequälten Tiere in der Vivisektion, eine zerquetschte Fliege ebenso wie das Leiden Christi umfasst. So beginnt Eintritt in die Partei (KBW, 9– 10) nicht ohne brechtsches Echo: Ist denn der Mensch nichts unter Brüdern wert? Verleumdet und bespien, verhöhnt, verlästert, wer weiß es nicht, für eine Guttat, die sich nicht beweist. [….] Ein Leben, ein einziges, zum Experiment gemacht. So ists gelungen. Vollbracht. Wenn aufgrund der „schwachsinnigen Moral der Opfer“, die sich nicht untereinander verbünden, „keine bessere Welt“ entstehen kann, so sehnt sich dennoch jedes dieser Opfer nach ein wenig Rache und Anerkennung: Sterben ist es nicht, Aufstehen ist das Wort. Ohne Verständnis für die Ausbeutung diese Ausbeutung beenden. Es komme die Revolution. (KBW, 10) Und das „Ich“, hier weder Mann noch Frau, nicht unsicher und untergeben wie die drei Ichs in Todesarten, fordert in der wütenden Litanei Fromm und böse (KBW, 129) Rache bis zur letzten Generation, auch wenn die Rache wie die Liebe zu „gering, nebensächlich“ sein wird, […] eine Erhebung, hügelhaft, in dem Gebirg von Fragen auf Gletscher angesetzt, die kälter sind als wir uns Kälte denken. Schon der Titel des Gedichts zeigt eine Vitalität und Arroganz, die an Nietzsche erinnern. Dieselbe Rebellion zeigt sich bis zur Groteske in der Parodie des populären Weihnachtslieds Stille Nacht, heilige Nacht (KBW, 141–142), wo es gilt, die christliche Feier mit derartigen Schmerzensschreien zu entweihen, dass den Straßenhändlern das Hemd auf der Haut festklebt: auf den Paradeplätzen der Weihnachtsstadt habe ich geschrien, gejohlt, daß die
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Polizei rot wurde und die Karpfen zu glotzen aufhörten. In Bis zur Wiederkehr (KBW, 22) erhebt sich bündig, körperlich und ohne Scham, wie es in der Prosa nicht geschieht, die Anklage an das unzureichende „Du“: Eingepflanzt habe ich meine Freundlichkeit, mein Lachen und eine Zukunftsmusik, in die dürre einer abgeernteten Brust. Ich habe geliebt wie die Wilden, begeistert von der Liebe und jedem Tag. Angebetet, Wurzeln verbrannt, jedem Klimbim zu einem Fest verholfen, nachgeplappert jedes Wort und meine Angehörigkeit vergessen. In den Gedichten der fünfziger Jahre finden wir keine so aussagekräftigen Verweise, die den Unterschied zwischen poetischem und alltäglichem Wort auflösen, noch diese Klarheit, die ganz ohne poetische Einfälle und Metaphern auskommt, wie in dem kurzen Gedicht Werbung: um jeden werbe ich […] ich brauch ein Heer von Menschen um sie lieben zu können […] (KBW, 25) Wirkungsvoll, fast biblisch klingt aber die Metapher der Wüste in Ich habe euch, meine Spießer (KBW, 169), wo das vertrocknete Herz auf seinem Gang ans Rote Meer von der Sanftheit der Dünen aufgenommen wird. Von dem Bachmannschen Mythos der Flucht auf eine südliche Insel, vom Mythos der Freiheit und des endlosen Festes bleibt – so scheint mir – ein in mehreren Gedichten wiederholtes „Milde und leise“ zurück, der Appell an die Freunde: „seht ihrs, Freunde, seht ihrs nicht?“ (KBW, 97, 115) Es ist nicht die absolute Liebe, die – wie in Der gute Gott von Manhattan – die Gesellschaft aus den Angeln heben würde. Aus dem Fragezeichen ist ein Ausrufezeichen geworden, eine extreme Klage: Freunde, ihr seht nicht, daß ich mir abgehe, daß ich abwärts gehe, dass ich mich abgebe,
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und schreie, weil die Irren nach ihren Wärtern tasten suchen, wie ich nach meinem Wärter (KBW, 115) Auch dies ist näher an der in den fünfziger Jahren ersehnten vollkommenen Sprache, die in der mehr metaphorischen, erhabenen und komplexen Dichtung jener Jahre nicht erreicht wurde.
Fabrizio Cambi
Der lyrische Nachlass und die Berliner Erfahrung Ingeborg Bachmanns Der lyrische Nachlass und die Berliner Fabrizio Erfahrung Cambi
Trotz des schweren Gepäcks von Problemen und Fragen nach dem Einordnen ,privater‘, das heißt nicht für den Druck genehmigter Texte in die literarische Produktion von Ingeborg Bachmann hat die Veröffentlichung des poetischen Nachlasses Ich weiß keine bessere Welt – dreißig Jahre nach ihrem Tod – etwas Unbestreitbares zur Folge. Die Verbreitung von 106 lyrischen Texten bereichert nämlich das Gesamtwerk der Autorin mit Materialien, die auch als Bestandteil des poetischen Laboratoriums ihres Erzählprojektes der Todesarten anzusehen sind. Obwohl man nicht über sichere Datierungen verfügt, ist es unzweifelhaft, wie Isolde Moser und Heinz Bachmann in ihrem Vorwort klar stellen, dass „die Gedichte in Zürich, Berlin und Rom, den Lebensstationen Ingeborgs der letzten Jahre, in der Zeit zwischen 1962 und 1964“ (KBW, 5) geschrieben wurden. Dieser Beitrag konzentriert sich auf den Berliner Aufenthalt vom April 1963 bis Ende 1965, während dessen Bachmann eine schwere psychische Krise erleidet, die ihre literarische Übertragung in der Rede Deutsche Zufälle findet, die sie am 17. Oktober 1964 anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises hält. Zum Teil verändert und erweitert, wird diese 1965 beim Verlag Klaus Wagenbach, mit 13 Zeichnungen von Günter Grass ausgestattet, unter dem Titel Ein Ort für Zufälle veröffentlicht. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht ein synoptischer Vergleich von einigen Gedichten des Nachlasses, insbesondere Wer holt mich ab und Nach vielen Jahren, mit den frühen Entwürfen von Ein Ort für Zufälle (zunächst mit der Textstufe II: Berlin und die Wüste), die in der kritischen Ausgabe des Todesarten-Projektes enthalten sind, sodann mit der Druckfassung. Da nun auch die hinterlassenen Gedichte verfügbar sind, geht es außerdem darum, sowohl die Verarbeitung des Essays Ein Ort für Zufälle als auch den Prozess der Ausgliederung und Verteilung von Textstellen
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und Satzgefügen nachzuvollziehen, die in den Gedichten und in der Textstufe II noch nicht fest verankert sind und die dann im Roman Der Fall Franza verwendet werden. Da die Biographie Bachmanns bekannt ist, genügt es hier, einige zeitliche, geographische und topographische Merkmale hervorzuheben, die sich auf den existentiellen und literarischen Weg der Autorin auswirken. Dank einer Einladung der Ford Foundation zieht sie im April 1963 nach Berlin um, wo sie sich bis Ende 1965 aufhält. Im Januar 1964 unternimmt sie eine Fahrt nach Prag und Ende April reist sie nach Ägypten und in den Sudan. Berlin, Prag, Ägypten werden in wenigen Monaten drei geopoetische Etappen, die sich in Literatur umwandeln; die letzten zwei gestalten sich zu Gegenmitteln gegen die trostlosen und destruktiven Berliner Erlebnisse. Die Berücksichtigung topographischer Perspektiven kann zwar zum Verständnis der Selbstorientierung Bachmanns in ihren Lebensstationen verhelfen, wichtiger aber ist der Literarisierungsprozess der topographischen Koordinaten, die durch die Umsetzung in Literatur historische Konturen gewinnen und das Subjekt in die Geschichte versetzen. Berlin wird als Ort der Krankheit erlebt und mit den Augen eines kranken Ichs gesehen. Die private Dimension des Pathologischen fließt in das Kollektiv ein, um so Berlin „auf einer Landkarte des Gedenkens“1 darzustellen. Bleiben wir also in Berlin und legen weitere topographische Hinweise vor. Nach einem anfänglichen Aufenthalt im Gästestudio der Akademie der Künste am Hanseatenweg in Berlin-Tiergarten zieht Bachmann nach Grunewald um, in eine Villa in der Königsallee Nr. 35, nicht weit von der Stelle, wo der Minister Walther Rathenau ermordet worden war.2 Das an eine ruhmreiche preußische Vergangenheit erinnernde Stadtviertel, wenige Schritte vom Grunewaldsee entfernt, war aber wegen der nahen Schnellbahn, der umliegenden AVUS und des gut sichtbaren Funkturms nur dem Anschein nach ruhig. „Der Lärmteppich, breit und laut“, so der erste Vers des bereits 1998 im Band Letzte, unveröffentlichte Gedichte gedruckten Gedichtes Schallmauer (KBW, 135), d. h. das „Geräuschchaos“
1 Bernhard Böschenstein, Die Büchnerpreisreden von Paul Celan und Ingeborg Bachmann, in: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen, hrsg. von Bernhard Böschenstein und Sigrid Weigel, Frankfurt/Main 1997, 260 – 269; hier 262. Über das Verhältnis zwischen Topographie und Literatur vgl. die umfangreiche Untersuchung von Veronika Bernard, Das emotionale Moment der Veränderung. Stadt als Dichtung, Bonn 1999. 2 „Am Knie der Königsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, die Schüsse auf Rathenau“, schreibt Bachmann in Ein Ort für Zufälle. (I, 287– 288)
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wird in der akustischen und optischen Wahrnehmung des Ich zum betäubenden Atem der kranken und halluzinierenden Stadt. „Der donnernde Lärm“, dieses anschwellende Getöse einer hektischen und ungesunden Kollektivität, war auch die Geräuschkulisse beim Hören der Quartette Beethovens in der Wohnung des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz, die auf den Hohenzollerndamm hinausging. Die Verstörung, die Wahrnehmung der topographischen Teilung durch den Mauerbau in einer erstarrten Gegenwart, die tragische Belastung der Geschichte, das sind die Empfindungen und Gefühle der Bachmann, die in diesen Monaten ein zurückgezogenes Leben führt und am Rande des Literaturbetriebs in West-Berlin bleibt, als ob die Isolierung einen eigenen Weg zur Selbstorientierung in der geteilten Stadt und in der unbewältigten Geschichte ermöglichen würde. Intensiver und augenfälliger ist dagegen die Teilnahme am Kulturleben Ost-Berlins und der DDR überhaupt, die durch die Kontakte mit Stephan Hermlin, Hans Mayer und Anna Seghers und durch die Freundschaft mit Peter Huchel und Johannes Bobrowski bestätigt wird.3 Es scheint, dass Bachmann die betäubende Fassade eines lärmenden amerikanisierten West-Berlins durch das Erlebnis krasser Widersprüche im Osten abbauen möchte, wie es bereits das Prosafragment Sterben für Berlin (1961–62) andeutet.4 Vor ihrem Umzug nach Berlin war Bachmann unzählige Male in Deutschland gewesen. München, Bonn, Frankfurt am Main, Bremen und Leipzig, das in seiner schwermütigen Langsamkeit (IV, 338–339) dargestellt wird, hatten nicht die Pathologien ausgelöst, die erst in Berlin ausgebrochen sind. Die Nichtzugehörigkeit und die Abneigung, die sie im Einklang mit Gombrowicz gegen Berlin spürt, das „nach Krankheit und Tod riecht“ (IV, 326), bedingen hier nicht die Darstellung eines zur Isolation verurteilten Ichs, sondern die Imagination einer Kollektivität, die das Resultat aufs äußerste erhitzter Empfindungen und Wahrnehmungen ist, Ursache eines fast unsinnigen Leidens. Das, was die Geschichte verursacht hat, wird hier durch ein umfangreiches Spektrum von rhetorischen Variationen sowie durch das kompositorische Prinzip der Intertextualität veranschaulicht. Tatsache ist, dass ausgerechnet die Rede Deutsche Zufälle vom Oktober 1964, die sich geschichtlich situiert und – wie Paul Celan vier Jahre zu3 Mehr darüber in Elke Schlinsog, Berliner Zufälle, a. a. O., 50 – 54. 4 Vgl. die Passage: „In der Zeitung stand, daß unter Schutz des Nebels 7 Personen die Grenze zwischen West- und Ostberlin hatten überschreiten können. Beim Schutz der Nacht, fiel ihm ein. Im Schutz der Nacht.“ (TKA I, 73)
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vor mit seiner Rede Der Meridian – auf das Werk Büchners bezieht, den Grund, d. h. die Grundlage und die Existenzfrage derjenigen erklärt, ja definiert, welche „die Kluft unrettbaren Wahnsinns“ (IV, 278) erfahren. Zwischen diesem Text und den Gedichten, die durch ihren Inhalt offensichtlich dem Berliner Aufenthalt zuzuschreiben sind, entwickeln sich Wechselbeziehungen und Verkettungen, die die Entwürfe der Rede bestätigen. Außerdem zeichnen sich in diesem Text, der sich als Prosadichtung kennzeichnet, Wege ab, die parallel zu denen von Lenz und Büchner verlaufen oder sich mit jenen überschneiden. Die Darstellung des Wahnsinns Berlins, in dessen westlichem Teil die hektische Bewegung und der rasende Hyperaktivismus auch zur Betäubung der Vergangenheit und zur Verdrängung der nationalsozialistischen Geschehnisse dienen, erfordert ein perzeptives System, dessen ungeregelte Sinnesbetätigung kausale und topographische Zusammenhänge aufhebt und neue, unerwartete Kombinationen scheinbar zusammenhangsloser Bilder entstehen lässt. Hans Höller hat diesbezüglich die Ähnlichkeit dieses Schreibens mit Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge bereits hervorgehoben.5 Berlin ist das Zentrum, das schwarze Loch einer Katastrophe, die die Geschichte mit ihren Vorfällen aus dem Vergangenen in die Gegenwart einstürzen lässt, mit „Zufällen“, die „weit zurückliegen, intermittieren, konsequent“, die aber mit neuen Zufällen wiederkommen: „Der Wahnsinn kann auch von außen kommen, auf die einzelnen zu, ist also schon viel früher von dem Innen der einzelnen nach außen gegangen, tritt den Rückweg an, in Situationen, die uns geläufig geworden sind, in den Erbschaften dieser Zeit“ (IV, 278). Die Geschichte regelt in einer Art Wechselbeziehung zwischen Außen und Innen die Chiffren des Bösen. Das scheint der eigentliche Schlüssel zu sein, um die lyrischen Sequenzen der verzweifelten Emigration des Ichs auf dem kollektiven Leidensweg in dem geteilten Berlin zu verfolgen. Im Gedicht Wer holt mich ab („Wer holt mich ab, / Mitternacht, nur noch / der Krankenwagen, Mitternacht, / in Berlin, die Glocken, / die läuten zuviel, / man muß es dem Bürgermeister/ sagen […], KBW, 149) kommen mehrere paradigmatische Motive vor: Die Krankheit erscheint verbunden mit dem Fahrzeug, dem Kranken5 Vgl. Hans Höller: „Obwohl im Einleitungsteil der ,Rede zur Verleihung des Georg-Büchner Preises‘ aus der Erzählung Lenz zitiert wird, steht der Prosa-Text insgesamt Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge dadurch näher, dass in Rilkes Roman ebenfalls die Strapazierung der menschlichen Wahrnehmungsapparatur durch die Bewegungen und Geräusche der Großstadt zum Thema wird […].“ (H. H., Ingeborg Bachmann. Das Werk, a. a. O., 220.)
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wagen, der das Ich in die psychiatrische Anstalt überführt, das Szenarium vieler Gedichte, in denen die Körper mit der Umständlichkeit eines chirurgisch versierten Folterns gequält werden, wie bereits in den drei Züricher Gedichten mit dem Titel Gloriastraße: „[…] Die große Visite, angeführt von dem Weißmantel, von der Nacht / steht im Zimmer, allein und hebt das Skalpell, immer die Nacht. […] und suchen ein Herz, in Kügelchen, / in Glasröhren, in einem Schlamm aus / Blut und einem herausgewürgten einem / ausgespienen zwischen Nadeln und / / Flaschen und Bandagen, […]“ (KBW, 55–56) Und in Ein Ort für Zufälle: „Alle husten und hoffen und haben die Fieberthermometer in der Achselhöhle, unter der Zunge, im After, und die zehn Zentimeter langen Nadeln im Fleisch“. (IV, 283). Ähnliches findet sich im Gedicht Tagschwester, Nachtschwester: „Nadeln bis ans Heft / ins Fleisch bohren“. (KBW, 62) Der Krankenwagen kommt um Mitternacht mit der Begleitung eines anhaltenden und überlauten Glockengeläutes an, weil es zu viele Kirchen gibt, „man muß es dem Bürgermeister sagen“. Man hat die aufdringliche akustische Dimension der Glocken bereits betont6, die schon in Texten vor der Sammlung Die gestundete Zeit thematisiert werden, wie in Abends frage ich meine Mutter („Abends frag ich meine Mutter / Heimlich nach dem Glockenläuten, / wie ich mir die Tage deuten / und die Nacht bereiten soll“; I, 10) oder im „Heideggerschen“ Gedicht Hinter der Wand („Ich bin der großen Weltangst Kind, / die in den Frieden und die Freude hängt / wie Glockenschläge in des Tages schreiten“; I, 15) und deutlicher noch später in Psalm: „Schweigt mit mir, wie alle Glocken schweigen!“ (I, 54–55) Der Stille, die den Samen eines heimlichen Wortes ermöglicht („In die Mulde meiner Stummheit / leg ein Wort“), widersetzt sich hier die anmaßende und disharmonische Zudringlichkeit eines Geläutes, das das Gehör heimsucht. Dieses Element, das sich in den Berliner Erlebnissen verstärkt, wird in Ein Ort für Zufälle detailliert aufgenommen und in die klinische Wirklichkeit versetzt, wo es sich mit dem Vorbeifliegen dröhnender Flugzeuge verbindet („Jetzt fliegt jede Minute ein Flugzeug durchs Zimmer, böllert an dem Haken mit dem Waschlappen vorbei, prasselt eine Handbreit über der Seifenschale“; IV, 280): „Im nächsten flugfreien Augenblick läuten alle Kirchenglocken von Berlin, es steigen Kirchen aus dem Boden, die ganz nah herankommen, lauter neue kahle ungefärbte Kir6 Vgl. Francesca Falconi, L’opera di Ingeborg Bachmann alla luce della raccolta lirica postuma „Ich weiß keine bessere Welt“, a. a. O. Über den lyrischen Nachlass vgl. auch den schon erwähnten Band von Elke Schlinsog und die Arbeit von Isabella Rameder, Ich habe die Gedichte verloren, a. a. O.
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chen mit Glockentürmen und protestantischen Tonbändern“. (IV, 281) Die Aufregung bei den Krankenhauspatienten wächst dermaßen, dass „der regierende Bürgermeister selber kommen“ [soll], während der Anstaltspfarrer, der „von den Glocken nichts [weiß]“, die Situation ausnützt, um „den Zwieback vom Teller“ zu nehmen. In der Entwurfsreinschrift Textstufe III ist die Szene bezüglich der Kirchen nicht so markant und wirkungsvoll geschildert: „es werden noch mehr Kirchen gebaut“, statt „es steigen Kirchen aus dem Boden“, „lauter unfarbene Kirchen mit Glockentürmen und protestantischen Glocken“, statt „lauter neue kahle, ungefärbte Kirchen mit Glockentürmen und protestantischen Tonbändern“. (TKA I, 184) Im oben erwähnten Gedicht Wer holt mich ab verwandelt sich der Krankenwagen in den „Leichenwagen“; eigentlich war er von jeher der Leichenwagen, denn das kranke lyrische Ich ist in der Selbstwahrnehmung bereits tot und der Wagen ist mit dem Öl des Hasses geschmiert, das an die Öligkeit der „Fettpapiere“ erinnert, die am Anfang von Ein Ort für Zufälle die Berliner am „Maiensonntag“ am Wannsee einwickeln, während in der Textstufe III das „Fettpapier“ zum „Butterbrotpapier“ wird. Die zwei Schlüsselverse: „Ich bin unter die armen Teufel gegangen“ spielen darauf an, dass das zerbrochene und von der Qual vernichtete Ich, das nichts zu fürchten hat, weil sich alles ereignet hat, in eine undifferenzierte Masse verschwimmt. In der Textstufe II hatte Bachmann eine besonders wichtige Stelle eingefügt, die vielleicht für einige Zeit das Incipit von Ein Ort für Zufälle darstellte und danach in der Rede gestrichen wurde, worauf noch einzugehen ist. Um das Verschwinden des Ichs im schwarzen Loch der Geschichte durch groteske, halluzinierende Visionen und diskontinuierliche Wahrnehmungsbilder zu veranschaulichen, nimmt sich Bachmann vor zu beschreiben, „wie eines zum andern kommt, in ein Berlin, das nicht von einer Person besucht wird, sondern von einem Delirium, von einer Krankheit, könnte man sagen, von schlechten Träumen, und kontrapunktisch ein Ich, dem zuzutrauen ist, daß es sich auf einer Reise befindet, vielleicht weniger auf einer Reise als auf einem Weg der Heilung und in der Unmöglichkeit, verordnete Eindrücke zu haben.“ (TKA I, 181) Die Autorin, die vorausschickt, „aus einem Manuskript, also aus einer unveröffentlichten Arbeit, Teile von etwas, was einmal ein Buch werden könnte“ zu lesen, streicht aus dem Redetext jeglichen Verweis auf ihre ästhetische und poetologische Reise, deren Ansätze in den Entwürfen zu finden sind und die in den darauffolgenden Monaten tatsächlich stattfinden wird. Sie konzentriert sich auf das „Delirium“ Berlins, auf die Krankheit, die weitere Krankheit hervorbringt (wie sie im
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Gedicht Grippe und andere Krankheiten schreibt: „Andere Krankheiten / zehn auf einmal hab du“; KBW, 46). West-Berlin, eine „Insel (in einem kommunistischen Ozean)“, wie Gombrowicz in seinen Tagebüchern anmerkt7, in denen er die Spaziergänge mit Bachmann in der Stadt nach dem Mauerbau erinnert, der „Brandmauer“, in deren „Ritzen“ sich das von weither kommende ganze Böse sammelt, während die Katastrophen der Geschichte in einer militarisierten Konsumgesellschaft fortgesetzt werden. Die Mauer und das dramatische, schizoide Grenzgebiet, das auch von Uwe Johnson in seinem Prosastück Berliner Stadtbahn mit seinen psychischen Konsequenzen photographiert wird8, kommen übrigens nicht häufig im Nachlass vor. Im Gedicht Das deutsche Wunder wird die Alltäglichkeit durch die Geschwindigkeit gekennzeichnet, und das Geräusch ist die betäubende Begleitung des Stellungskrieges der Grenzwachen diesseits und jenseits der Mauer, die von der Schallmauer und den unaufhörlichen, bedrohlichen amerikanischen Anflügen auf den Flughafen Tempelhof übertönt wird. Noch aggressiver und beklemmender werden die Flüge in Ein Ort für Zufälle: In den „helle[n] ruflange[n] Weiten“ werden das Geräusch und der Krach zur Bedrohung und zur Qual der Patienten, die von den verdrehten, zerschnittenen und aus den Angeln geratenen Raumkoordinaten überwältigt und erschüttert werden. Es besteht eine offensichtliche Wechselbeziehung zwischen den zwei lyrischen Texten des Nachlasses, Schallmauer und Das deutsche Wunder, und den Prosaentwürfen, sowie eine thematische Konvergenz mit Ein Ort für Zufälle und zum Teil mit Der Fall Franza. Es handelt sich um Korrespondenzen kompositorischer Strukturen, die sich einmal auf synkopierte und zusammenhangslose, einmal auf miteinander verwobene Bilder stützen. Auch wenn man voraussetzt, dass die von der Autorin nicht autorisierte und nach fragwürdigen Kriterien durchgeführte Zusammenstellung der Gedichte des edierten poetischen Nachlasses auf jeden Fall eine eigene Poetik repräsentieren kann, so ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass sich diese lyrische Sprache in ihrer flüssigen und magmatischen Kraft in die Prosatexte überträgt. Das lyrische Feld erweitert sich und durchdringt kompositorisch und inhaltlich Prosawerke und Essays, gerade in der Schaffensphase des vermeinten und doch offensichtlich nicht stattgefundenen Bruchs mit der Lyrik. Besonders deutlich kommt dies zweifelsohne am Beispiel einiger Gedichte ans Licht, die unbestreit7 Witold Gombrowitz, Die Tagebücher, Pfullingen 1970, Bd. 3, 126. 8 Uwe Jonsohn, Berliner Stadtbahn, in: Merkur 15 (1961) H. 162, 722 –733.
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bar in den Berliner Erlebnissen begründet sind, die sich in einem emotionalen Schwebezustand im Text niederschlagen. Dies reflektiert sich weiter in einem Prosatext wie Ein Ort für Zufälle, der sich als lyrisch bedrängende und bedrückende Nachdichtung darstellt. Die Beunruhigung und der psychische Anfall als Übertragung von Büchners „Zufall“, die bei Bachmann schwere Krisen und Krankenhausaufenthalte verursachen, fügen sich in das entfremdete städtische Gewebe ein; mit ungeklärter oder verdrängter Geschichte beladen verwandeln sie sich in Groteske und Alptraum, um so die Trauerarbeit wieder aufzunehmen oder überhaupt erst zu beginnen, wie im Gedicht Trauerjahre. Die Gewalt und der Wahnsinn der Geschichte und in der Geschichte, die in der Pathographie Berlins die zur Einsamkeit und unerträglichen Belastung Verurteilten aufsaugen, werden das Hauptmotiv im Gedicht Nach vielen Jahren, dessen erste Strophe lautet: „Nach vielen Jahren / nach viel erfahrenem Unrecht, / beispiellosen Verbrechen rundum, / und Unrecht, vor dem nach Recht / schreien sinnlos wird […].“ (KBW, 60) Vor der faktischen Rekonstruktion der Geschichte ist der Körper des Ich Beute der Qual, da auf ihm „die Geschichte und nicht die eigene, ausgetragen wird“.9 Noch einmal transportiert der Krankenwagen am Bellevue den „von Spritzen betäubten“ Körper, der einer „Raserei“ und „einem Zufall“ preisgegeben wird, wegen der Unerträglichkeit dessen, was die Geschichte hervorgebracht hat. In den Fragen und im Dilemma der letzten Strophe wird – willentlich oder auch nicht – darauf beharrt, noch an einem Ort für Zufälle, der uns in den Abgrund verschlingt, weiter zu bestehen. In Ein Ort für Zufälle humpeln – im Unterschied zu der Textstufe III, wo „Schatten herunterlaufen“ – „auf dem S-Bahnhof Bellevue die Versehrten die Stiegen herunter, das Licht schwankt wie in einem Gewölb […]. Alles ist versehrt, nicht durch Geschosse, sondern inwendig, die Körper sind durcheinander, sie sind oben oder unten zu kurz, das Fleisch ist ganz stumpf und gelähmt in den Gesichtern.“ (IV, 283) Der ratternde Zug zur Friedrichstraße scheint die Unterführung in der Imagination eines voraussichtlichen Luftangriffes herunterstürzen zu lassen, aber die Schaffnerin versichert: „Es geht weiter. Es wird nicht mehr vorkommen.“ (IV, 284) Nichtzugehörigkeit, „Radikalisierung“, Auf-dem-Kopf-Gehen: das sind die kompositorischen Bestandteile, auf die Bachmann am Anfang der 9 Ähnliche Worte benutzt Franza: „Meine Geschichte und die Geschichten aller, die doch die große Geschichte ausmachen, wo kommen die mit der großen zusammen. Immer an einem Straßenrand? Wie kommt das zusammen?“ (III, 433)
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Rede Deutsche Zufälle hinweist, um „die Beschädigung von Berlin“ durch „die Einstellung auf Krankheit“ darzustellen. Sie kehren in mehreren Gedichten des Nachlasses wieder, verbunden mit dem Motiv des Fensters und des Balkons in Auf der obersten Terrasse („Von der obersten Terrasse / habe ich springen wollen“; KBW, 125) und in Ein Ort für Zufälle: „Wir haben so viele Kranke hier, sagt die Nachtschwester und holt die überhängenden Patienten vom Balkon zurück, die ganz feucht sind und zittern“ (IV, 280), oder mit dem Motiv des Absturzes, der vom Dach herunterfallenden Vögel, der Flugzeuge und der zusammenbrechenden Häuser. Es liegt wohl in der Absicht der Bachmann, sich von den fürchterlichen Zufällen von Lenz anstecken zu lassen, die Büchner selbst angenommen und sich angeeignet hat: „Dann geriet er zwischen Schlaf und Wachen in einen entsetzlichen Zustand, er stieß an etwas Grauenhaftes, Entsetzliches, der Wahnsinn packte ihn, er fuhr mit fürchterlichem Schreien, in Schweiß gebadet, auf, und erst nach und nach fand er sich wieder. […] [S]ein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“10 In der Schall-Welt des lyrischen Nachlasses bezeichnen die Schreie das „Entsetzen“ vor der pathologischen Zeitepoche, aber auch den Lebensrest, den die von der Geschichte Gehetzten zu verlieren glauben, wie in Meine Schreie verlier ich: „Meine Schreie verlier ich / wie ein anderer sein Geld / verliert, seine Moneten, / sein Herz, meine großen / Schreie verlier ich in / Rom, überall, in Berlin“. (KBW, 145) Um zum anfänglichen Verweis auf die Textstufe II von Ein Ort für Zufälle zurückzukommen: Der Titel Berlin und die Wüste bezieht sich auf die Wirkungen der wenige Monate zuvor unternommenen Reise Bachmanns nach Ägypten, die jedoch in der letzten Fassung der Rede nur am Schluss und beiläufig umgesetzt werden. Die Kamele, mit den zwei Zeichnungen von Grass, werden hier nämlich in den Zirkus versetzt, der in Berlin-Zoo von den Alliierten geleitet wird. Im Entwurf verbindet Bachmann sehr deutlich die Wüste mit dem Licht und dem Heilungsprozess des Ichs, das sich in seinem Nomadensein nach der Etappe Berlin anderswohin, nach Prag und nach Ägypten begibt: „Das Ende der Krankheit ist nicht Gesundsein. Es ist die Heilung […]. Berlin teilt sich dem Autor mit, aber der Autor teilt sich der Wüste mit.“ (TKA I, 179) In den Gedichten des Nachlasses erscheint die Wüste in Ich habe euch, meine Spießer, einem Text, der sich auf die mögliche Vernarbung der „Beschädigung von Berlin“ richtet: „Die Wüste hat meine Augen begegnet mit Sand von mei10 Georg Büchner, Lenz, in: Ders., Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, München 1988, 135 –158; hier 155–156 und 158.
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nem verwüstenen / Herzen konnt ich nur vorher sprechen, jetzt ist es verwüstet / wunderbar, die Sandschleier ziehen auf […].“ (KBW, 169)11 Diese Verse, die bereits auf die „feinen Zeichnungen“ der Wüste als Spiegel von Franzas innerlichem Befinden anspielen, lassen die ersten Schritte („ich konnte nicht mehr gehen, / jetzt kann ich’s auf das Mal / zwei Schritte um das Haus, / da ist das Haus schon“ (KBW, 159), so im Gedicht Erste Schritte) erkennen, die die mögliche Heilung einer immer wieder aufbrechenden Wunde bezeugen. Die Reise nach Ägypten12 im April 1964 schlägt sich im Gedicht Enigma nieder, in dem „die Wüstenzunge deine Feuchtigkeit sucht“ und „dein trockenes Herz wieder befeuchtet wird“ (N. 156) und in der „Terra Nova“, in Afrika, wird die letzte Hoffnung gesucht. Gerade die erste Strophe: „Am Nil in der Nacht, am Nil, / wo die Sterne dir bis in den Mund hängen“ erinnert an eine Stelle in Der Fall Franza: „Enigma. In einer Nacht am Nil, in der ich nie sein werde, in einer Nacht am Nil, wenn nicht die Dorflampen, sondern alle Sterne angezündet sein werden. (Am Nil, am obersten Nil, weit weg von den Schattenjahren, in denen kein Stern mir in den Mund hing.)“ (IV, 435) Aus der Berliner Lähmung, die bewegte und verzerrte Bilder produziert, scheint sich ein Hoffnungsschimmer auf einen aufrechten Gang zu erschließen, wenn auch von anderer Art als am Ende der Erzählung Das dreißigste Jahr. Die Prager Gedichte des Nachlasses (Heimkehr über Prag, Wenzelsplatz, Jüdischer Friedhof, Poliklinik Prag) sind durch die Nacht dringende Lichter, die diese jedoch nicht ausreichend erhellen können, um sie auszutreiben, wie Prag Jänner 64 (I, 169), wo die von den 11 Über die Bedeutung der Wüste bei Bachmann vgl. das Wüstenbuch, in: TKA I, 239 – 283, insbesondere im Wüstenbuch A den Teil unter dem Titel Durch die Wüste, 243: „Ich komme zu mir, mit einem einzigen Gedanken: die Wüste, ich will die Wüste, die meine Augen und alle meine Nerven beschäftigt, sie rinnt langsam in meine Augen, nach neuen Stunden in der Wüste weiß ich, daß ich mein Gleichgewicht wieder habe, auf der Raststätte […].“ 12 Die Reise nach Ägypten und der mit ihr verbundene Heilungsprozess sowie deren Übertragung ins Konvolut des Todesarten-Projektes lassen auf das Gedicht In Ägypten verweisen, das Paul Celan Bachmann im Juni 1948 mit Widmung zuschickte. Die aufgezählten neun Gebote der Liebe und des Schreibens nach der Shoah, der Schmerz um den Tod der jüdischen Frauen Ruth, Noemi, Mirjam und das Totengedächtnis verbinden sich mit der Zuneigung und der Einfühlungsgabe des Dichters für Bachmann, wie er zu diesem Eingangsgedicht ihrer Beziehung noch in einem Brief zehn Jahre später gesteht: „Du warst, als ich Dir begegnete, beides für mich: das Sinnliche und das Geistige. Das kann nie auseinandertreten, Ingeborg.“ (Brief vom 31.10–1. 11. 1957; Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit, a. a. O., 64.)
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Schneeschauflern gekehrten Scherben der „Eisdecke“ mit den Rissen eines inneren Frostes verglichen werden, aus dem „das befreite Wasser“ der eigenen Existenz endlich hervorkommen kann, oder wie das große rettende Ziel von Böhmen liegt am Meer. (I, 167–177) In Ein Ort für Zufälle suchen die Berliner Kranken nach dem Schutz der Kamele, ein Symbol der erlösenden Flucht, Kamele, die nach der Wüste und der Freiheit riechen und die über die tödliche Frost-Welt hinaustragen können. Es sind dieselben, im Berliner Zoo lebenden Kamele, die im Prosafragment Sterben für Berlin ausführlich dargestellt und als „Wüstentiere“ mit den Menschen verglichen werden: „[E]r verbot sich das Gefühl nicht, daß er ein Wüstentier herausfühlen könnte und daß man herausfühlen kann, welche Menschen noch keine Berliner Menschen und keine deutschen Menschen […] sind, und wie sie leiden an ihren Stätten, und sich erinnern an die Plätze, die noch keine Spielplätze waren, die man ihnen zugewiesen hat.“ (TKA I, 79) In der Textstufe II, in der Bachmann vorhat, die Zuhörer ihrer Rede auf einer doppelten und sich gleichsam überschneidenden Reise zu leiten (sie „möchte vorausschicken, daß von Absatz zu Absatz sich zwei Bewegungen überschneiden“; TKA I, 181), ist das Kamel das Tier, das zur Rettung führt und auf das sich das Ich völlig verlässt: „Ich werde mit meinem Kamel […] ins Grün.“ (TKA I, 180) Die Empfindung „Man ist draußen“ und der Ausweg aus dem Alptraum Berlins sind allerdings illusorisch, denn dieser beschränkt sich auf die Traumclownerie eines Zirkus. In den Entwürfen gleichen sich dagegen die Kamele den Arten der Großstadt und ihren Bewegungsmodellen an und fliegen hoch „an Potsdam vorbei, den Tegeler Forst hinauf und hinunter, durch die Havel“ nach der Freiheit mit „einer unendlichen Erleichterung“. (TKA I, 186) Auf die Frage, warum diese scharf gezeichnete, zweifache Sicht auf die gegensätzliche Richtung Berlin-Wüste nicht in die letzte Fassung der Rede eingefügt worden ist, kann man mit der Vermutung antworten, dass Bachmann in Ein Ort für Zufälle ihre eigene Berliner Erfahrung hat eingrenzen wollen, indem sie eine engere Beziehung mit vielen Gedichten des Nachlasses angeknüpft hat. Sie hat es vielleicht für angebracht gehalten, eine ausgeprägtere Zäsur gegenüber den folgenden Erlebnissen in Prag und in Afrika zu setzen, die für sie eine – wenn auch ungewisse – Wiedergeburt darstellten, von der Berlin ausgeschlossen blieb.
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„Denn vernichten sollte man es sofort, was über das Heute geschrieben wird“. Von Ich weiß keine bessere Welt zu Malina „Denn vernichten sollte man Rita es Svandrlik sofort“
I. In der Darstellung der Grenzerfahrungen, die im Mittelpunkt der im Jahre 1961 veröffentlichten Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr stehen, gibt es manchmal Textstellen, die eine noch nie realisierte Möglichkeit ganz leise heraufbeschwören: […] und hätte der Himmel damals noch Verwendung für die Mädchen gehabt, so hätte er sie gewiß an die Quellen, in die Wälder, in die Grotten versetzt, und eine zum Echo erwählt, um die Erde jung zu erhalten und voll von Sagen, die alterslos waren. (II, 204) Die Imagination einer Belebung der Erde durch weibliche Elementargeister, die über das Erzählen eine mythische Zeit einleiten, dient den Möglichkeiten eines „anderen Zustands“1, wie sie in der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha durchgespielt werden, als Folie. Aber ein Jahr nach der Veröffentlichung des Prosabandes ist die Autorin in eine Krise geraten, in der die Entwürfe eines „anderen Zustands“ nur Züge mit negativem Vorzeichen annehmen können, wie wir sie nun in den posthum veröffentlichten Gedichten feststellen können; ansonsten gibt es ja aus den Jahren 1962 –1963 keine zu Lebzeiten veröffentlichten Texte. In seinem vorletzten Brief an Bachmann, am 21. September 1963, kündigt Paul Celan aus Paris der Kollegin und ehemaligen Geliebten die Veröffentlichung seines neuesten Lyrikbandes an:
1 Im Sinne des Utopismus musilscher Prägung, der auch Bachmanns theoretische Schriften in der Zeit der Entstehung des Erzählbandes Das dreißigste Jahr prägt.
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Liebe Ingeborg, ich hatte Dich, als ich in der Zeitung las, Du seist in Russland gewesen, sehr um diese Reise beneidet, zumal um den Aufenthalt in Petersburg. Aber kurz danach, Ende August, erfuhr ich in Frankfurt von Klaus Wagenbach, daß das gar nicht stimme, daß es Dir vielmehr gar nicht gut gegangen sei und Du eben erst wieder aus dem Krankenhaus zurück seist. – Ich wollte Dich darauf anrufen, aber Du hattest noch kein Telephon. Jetzt schreibe ich Dir, ein paar Zeilen nur, um Dich ebenfalls um ein paar Zeilen zu bitten. Laß mich doch bitte wissen, wie es Dir geht. Ich habe ein paar nicht ganz erfreuliche Jahre hinter mir – „hinter mir“, wie man so sagt. In den nächsten Wochen erscheint ein Gedichtband von mir – Verschiedenes ist da mit einverwoben, ich bin mitunter, denn das war so gut wie vorgeschrieben, einen recht „kunstfernen“ Weg gegangen. Das Dokument einer Krise, wenn Du willst – aber was wäre Dichtung, wenn sie nicht auch das wäre, und zwar radikal? Schreib mir also ein paar Zeilen. Ich wünsche Dir alles Gute, Ingeborg Herzlich Paul2 Ein Antwortschreiben von Bachmann ist nicht bekannt; vielleicht war es ihr doch zu beschwerlich, mit Celan oder überhaupt mit jemandem über ihren Zustand und über den zweimonatigen Aufenthalt in einer Berliner Klinik zu sprechen. Wahrscheinlich hat sie es vorgezogen, ihr radikales „Dokument einer Krise“ auf private, nicht zur Veröffentlichung vorgesehene Blätter aufzuzeichnen, indem sie auch, wie Celan, eine ganz und gar „kunstferne“ Schreibstrategie wählte. Die Ergebnisse sind wie bekannt sehr unterschiedlich: Auf der einen Seite Celans Gedichtband Die Niemandsrose, auf der anderen die Texte, die posthum 2000 mit dem Titel Ich weiß keine bessere Welt von Bachmanns Erben veröffentlicht wurden. Die Krise der beiden Autoren hatte unterschiedliche Ursachen, ist also nicht unmittelbar in ihrem komplizierten Liebesverhältnis, unter dem schon Jahre zuvor, im Sommer 1958, endgültig der Schlussstrich gezogen worden war, zu suchen. Für Celan war es die Affaire Goll und Günter Blöckers schreckliche Besprechung des Bandes Sprachgitter (1959) sowie 2 Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit, a. a. O., 159.
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eine allgemeine Verschlechterung seines Nervenzustands; für Bachmann war es das Scheitern der Beziehung mit Max Frisch Ende 1962, ein so traumatisches Ereignis für sie, dass sie einen Selbstmordversuch unternommen hatte, wie sie selbst in einem Brief an Henze, am 4. Januar 1963 schreibt. Dieser Brief zeugt von großer Dramatik und zugleich unerbittlichem Scharfblick: Aber ich hätte nie geglaubt, dass alles so schlecht für mich ausgehen würde: dass es einen Schmerz geben würde, ja – aber nicht so einen totalen und fast tödlichen Zusammenbruch. Das Ganze war wie eine lange lange Agonie, Woche für Woche, und ich weiß wirklich nicht warum, es ist nicht Eifersucht, sondern etwas völlig anderes; vielleicht weil ich, vor vielen Jahren, wirklich etwas Dauerhaftes, „Normales“, begründen wollte, bisweilen gegen meine Lebensmöglichkeiten, immer wieder habe ich darauf bestanden, auch wenn ich von Zeit zu Zeit gespürt habe, daß die notwendige Transformation mein Gesetz verletzt oder mein Schicksal – ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll. Vielleicht sind auch diese Erklärungen falsch – doch Tatsache ist, daß ich tödlich verletzt bin und dass diese Trennung die größte Niederlage meines Lebens bedeutet. Ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen als das, was ich durchgemacht habe und was mich bis heute verfolgt, auch wenn ich heute anfange, mir zu sagen, daß ich weitermachen muß, daß ich an eine Zukunft denken muß, an ein neues Leben.3 Elfriede Jelinek hat nach dem Erscheinen des Briefwechsels Bachmann/ Celan auf ihrer Homepage einen Text veröffentlicht unter dem Titel Krankheit und der moderne Mann (14.09.08): Der Titel spielt ganz deutlich auf ihr eigenes Theaterstück Krankheit oder moderne Frauen (1984) an; die Variation der Konjunktion (oder/und) sowie im Geschlecht und in der Anzahl (von „Frauen“ zu „Mann“) zielt auf einen Mann, der in Jelineks Meinung den gesunden modernen Mann darstellt, der „naturgemäß“, so könnte man mit Thomas Bernhard sagen, kein Verständnis für Kranke aufbringen kann: Es handelt sich dabei um Max Frisch (zu dem Zeitpunkt Bachmanns Lebensgefährte), der im Anhang des Briefwechsels mit einigen Briefen an Paul Celan vertreten ist. Celan hatte Frisch um Unterstützung bei einer öffentlichen Verteidigung gegen Blöcker gebe3 Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze, Briefe einer Freundschaft, a. a. O., 2 4 4 – 245.
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ten, hatte aber vom „Schweizer Kracher“ Frisch nur eine „gesunde Antwort“ bekommen, in der es um allerlei subtile Differenzierungen ging, die Celan nur enttäuschen konnten. Jelineks ironischer und zugleich „pathosvoller“ Text Krankheit und der moderne Mann ist durchwoben mit Zitaten aus Werken von Celan und Kafka, und erhält sein strukturelles Gerüst durch die Opposition krank/gesund, also die Opposition Bachmann und Celan auf der einen Seite, Frisch auf der anderen. Für die beiden Kranken gibt es keinen Ausweg und keine Möglichkeit der Heilung. Auch zum Zeitpunkt ihres gemeinsamen Auftritts bei der Gruppe 47, 1952 in Niendorf, waren sie schon verloren; aber Bachmann hänge der Illusion nach, so Jelinek, eine Besserung herbeiführen zu können, wenn sie sich an den „gesunden“ Frisch klammere: Zwei Unheilbare wechseln Briefe. Die eine ahnt etwas, der andre weiß es schon, in seinem Kopf sind nur Leichen, das paßt so gar nicht in diesen Aufbruch einer Gruppe 47, einen der wichtigsten Foltervereine, man muß eingeladen werden zur Folter, es kann nicht jeder gefoltert werden, nein, dazu muß man nicht berufen sein, dazu muß man berufen erst mal werden! Diesem Ruf folgen alle. Es ist der Ruf des modernen Menschen nach Gesundheit, von der man, von uns aus, ruhig kleine Ausflüge in die Dichtung unternehmen kann, von uns aus geht’s dort lang, wir sagen es ihnen doch eh!, und dort wird Gesundheit auch angeboten, und wer darf, nimmt sie sich, nimmt zwei, Paul Celan nimmt sich keine. […] und Max Frisch hat es ihm gesagt, er hat ihn gewarnt, als es schon zu spät war, auch die Bachmann, aber die hat wenigstens geahnt, daß sie selber schon krank war, gerade indem sie versucht hat, sich mit dieser Menge Gesundheit da neben sich zu verbünden; war das vielleicht ihre Krankheit, gesund sein zu wollen durch einen andren, durch einen gesunden?, wollte sie sich an der Gesundheit eines anderen anstecken?4 Jelineks einfühlende Diagnose stimmt mit Bachmanns Selbsteinschätzung überein, wobei Bachmann im Brief an Henze den Akzent auf ihr „Gesetz“ legt, nicht auf die Krankheit. Dieses Gesetz oder „Schicksal“ hätte sich mit der von Frisch dargestellten „Normalität“ nicht vereinbaren lassen, so schreibt sie. Ein uraltes Motiv eigentlich, der Gegensatz 4 http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/; vgl. auch einen Kommentar dazu von Ina Hartwig in der Neuen Rundschau (26.09.08, 30) unter dem Titel Verlorenheit.
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zwischen Kunst und „normalem“ Leben, erhält bei Bachmann seine geschlechtsspezifische Dimension. Jelinek geht ihrerseits mit der am Ende der zitierten Textstelle formulierten Frage zu einer tiefenpsychologischen Diagnose über, indem sie die Hypothese aufstellt, dass gerade die Suche nach der Gesundheit in einem anderen, in einem Mann, die eigentliche Krankheit sein könnte. Nun, aus vielen Stellen des Todesarten-Projekts ist ersichtlich, dass Bachmann sich mit dem Thema der Gefährlichkeit einer krankhaften Anlehnung an einen „gesunden“, womöglich älteren Mann literarisch auseinandergesetzt hat: Ich brauche nur an die Konstellation Franza/Jordan in Das Buch Franza zu erinnern und an das Traumkapitel in Malina5. Seine ironisch-parodistische Darstellung hat das Motiv „Krankheit aller Männer“ und Ansteckung der Frauen durch die Männer6, also in Umkehrung der von Jelinek angenommenen Gesundheit der „modernen Männer“, in einer berühmten Stelle des Romans erfahren: Die Männer sind nämlich verschieden voneinander, und eigentlich müßte man in jedem einzelnen einen unheilbaren klinischen Fall sehen, […] Eine einzelne Frau muß schon mit zuviel Merkwürdigkeiten fertig werden, und das hat ihr vorher niemand gesagt, auf welche Krankheitserscheinungen sie sich einstellen muß, man könnte sagen, die ganze Einstellung des Mannes einer Frau gegenüber ist krankhaft, obendrein ganz eigenartig krankhaft, so dass man die Männer von ihren Krankheiten gar nie mehr wird befreien können. Von den Frauen könnte man höchstens sagen, daß sie mehr oder weniger gezeichnet sind durch die Ansteckungen, die sie sich zuziehen, durch ein Mitleiden an dem Leiden. (III, 268–269) 5 Vgl. noch eine weitere Aussage Jelineks, diesmal in einem Interview: „Sobald aber das Werk einer Frau aggressiv und anklagend wird, wie meines, wird man zur Megäre, zur Unperson, gegen die man Auslöschungsphantasien hegt. Auch das hat die Bachmann sehr gut thematisiert, obwohl sie nicht aggressiv war, sondern analytischer, sie war ja auch Philosophin. […] Ich würde sagen, es gibt kaum eine andere Autorin der Gegenwart, die den Geschlechterkampf mit dieser Härte thematisiert hat, wie die Bachmann, wobei sie da sicher über mich hinausgeht, weil sie die Dinge konkret beim Namen nennt, die ich umschreibe“, zit. nach: Dossier 2 Elfriede Jelinek, hrsg. von Kurt Bartsch und Günther A. Höfler, Graz Wien 1991, 15. 6 Vgl. Johanna Bossinade, Kranke Welt bei Ingeborg Bachmann. Über literarische Wirklichkeit und psychoanalytische Interpretation, Freiburg im Breisgau 2004, 171: „Was Elfriede Jelinek (geb. 1946) in ihrem gleichnamigen Schauspiel als Krankheit oder Moderne Frauen (1987) in eine parodistische Perspektive stellt, wird von Bachmann gleichsam strukturell erschlossen. Frauen sind krank, wenn sie sich einem Platz anzupassen suchen, an dem nicht krank zu sein nicht möglich ist.“
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Das Ich im Roman weiß also um die Gefährlichkeit des Sich-Anvertrauens: „Jeder ältere Mann entsetzt mich, auch wenn er nur einen Tag älter ist, und ich würde es nie über mich bringen, ich würde mir lieber den Tod geben, als mich ihm anzuvertrauen.“ (III, 246) Im „Traumkapitel“ wird der Leser über die Ursachen und Folgen aufgeklärt, die eine Beziehung mit einem „älteren“ Mann auszeichnen. Auch in den Texten aus der Sammlung Ich weiß keine bessere Welt kann man auf zahlreiche Stellen stoßen, in denen das Ich mit einer aggressiven, gewalttätigen und übermächtigen männlichen Figur oder Instanz obsessiv konfrontiert wird. Insbesondere die Verse von Memorial erinnern an Szenen aus dem „Traumkapitel“ (KBW, 42)7, doch liegt das Interesse von Ich weiß keine bessere Welt nicht nur in der Fülle an Motiven und Bildern, die in den späteren Texten des Todesarten-Projekts wiederkehren. II. Man kann zweifelsohne die nachgelassenen Gedichte sowohl formal wie auch inhaltlich als Zyklus definieren.8 Insofern erscheint es bei dem Versuch einer Interpretation auch legitim, neben einer geschlossenen Lektüre von einzelnen Gedichten, die ohnehin durch den fragmentarischen Charakter vieler Texte sehr erschwert wird, eine thematische Linie in den Gedichten zu verfolgen. Mit Berücksichtigung des Kontextes im Bachmannschen Werk finde ich das Verfolgen des poetologischen Leitfadens im Zyklus besonders ergiebig9: Die Textsammlung Ich weiß keine bessere Welt
7 „In meinen schlaflosen Nächten / räuchere ich die Wohnung aus / mit Ministranten / noch immer gebe ich die / Trinkgelder und halte / die Stürme ab / es gewittert nur noch / in meiner Erinnerung / die Straßenreinigung kommt / die wäscht eine Gasse / die aufwärts führt / aber deine Hände um meinen / Hals und die Erde an meinem / Gesicht von den Blumen, / jemand ruft nach der Polizei / ich rufe zum Himmel / dass diese Hände sich lösen / die meine Schreie ersticken“. 8 Vgl. auch Klaus D. Post, „Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht!“, a. a. O., 276: „[…] so verweisen doch die metaphorischen Verklammerungen, die sprachlichen Intensitäten, die Obsessionen der Darstellung von Tortur und Körperlichkeit auf den motivlichen und sprachlichen Zusammenhang der Sammlung“. Von einem fragmentarischen lyrischen Tagebuch ohne erzählerische Elemente spricht dagegen Maria Grazia Nicolosi, „Addio, voi belle parole …“, a. a. O., 51. 9 Vgl. Klaus D. Post, „Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht!“, a. a. O., 288: „Jeder Text hat direkt oder indirekt am Thema teil […], spricht von Sprachverlust, Sprachschuld, Sprachverdacht, Sprachkritik, entlarvt Sprachklischees, besteht auf Spracherneuerung (Terra Nova), entwirft (in der Dialektik von Untergang und Heimkehr) eine Utopie poetischen Sprechens […]“. Post ist auch eine präzise Interpretation des
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entsteht zur Zeit der völligen Neuorientierung, des so genannten Werkbruchs, in dem die Autorin auf der Suche nach einer neuen Form ist, und die meisten Gedichte, die sie noch einzeln vor oder nach dieser Zeit veröffentlicht hat, haben eine starke poetologische Ausrichtung: Ihr Worte, Wahrlich, Keine Delikatessen, Exil, Böhmen liegt am Meer; und auch Enigma, das in der vorliegenden Sammlung öfters anklingt. Wie schon aus der Anrufung des Großen Bären bekannt, sind der in den Nachlass-Gedichten dominierende Liebesverlust und der Liebesverrat eng verbunden mit Sprachverlust10: „Ich habe die Gedichte verloren / sie allein nicht, aber zuerst“ (KBW, 13); und in einer anderen Fassung: Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. Ich suche sie in allen Zimmerwinkeln. Weiß vor Schmerz nicht, wie man einen Schmerz aufschreibt, weiß überhaupt nichts mehr. Weiß, daß man so nicht daherreden kann, es muß würziger sein, eine gepfefferte Metapher müsste einem einfallen. Aber mit dem Messer im Rücken. Parlo e tacio, parlo, flüchte mich in ein Idiom, in dem sogar Spanisches vorkommt, […] (KBW, 11) Unschwer erkennt man hier, vor allem im Bild der „gepfefferten Metapher“, die Affinität zum Gedicht Keine Delikatessen, neu ist aber das Motiv der Fluchtbewegung zu anderen Idiomen, in denen die Ausdrucksdynamik an der Grenze zwischen Sprechen und Schweigen evoziert wird („parlo e tacio“).11 „Das Messer im Rücken“ steht für die konkrete exisGedichts Verdacht zu verdanken. In meinem Beitrag gehe ich dem poetologischen Thema vor allem in Hinblick auf den Roman Malina nach. 10 Vgl. Mechtild Oberle, Die sprachutopische Poetologie der Liebeslyrik Ingeborg Bachmanns, Frankfurt/Main 1990. 11 Vgl. Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Poetik, a. a. O., 191: „Das Ich erlebt den Sprachverlust als schmerzvolles Abschiednehmenmüssen von den verheißungsvollen ,schönen Worten‘ und versucht ihn durch die Fluchtbewegung zu anderen Sprachen zu kompensieren, die Bruchstücke von Erinnerungen enthalten, aber die teuren Worte nicht ersetzen können. Das fragmentarische dieser privaten Liebessprache(n), die Verwirrung der Sprache(n), das Hin- und Hervagabundieren zwischen den Sprachen spiegeln den Zustand eines Ich wider, das sich nach dem Verlust der geliebten Person verlassen, hoffnungs- und orientierungslos fühlt, das sein sprachliches und gefühlsmäßiges Zentrum verloren hat.“
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tentielle Notlage, deren Ursachen von außen kommen, und deren Dringlichkeit den Ausweg in den schönen Schein des Ästhetizismus verunmöglicht. Der Schmerz lässt das Ich zur geschundenen Kreatur werden, zu einem leidenden, kranken Körper, dessen Leiden mit einer radikalen Offenheit angesprochen werden in Grippe und andere Krankheiten (KBW, 46), in Gloriastraße (im zweiten Gedicht mit diesem Titel; KBW, 55 – 56), in Die Folter (KBW, 95–96), in [Tot ist alles, alles tot] (KBW, 106); auch in Nach vielen Jahren (KBW, 60). All das vom Ich aufgenommene und angesammelte Wissen hat verspielt, der den Schmerzen ausgelieferte Körper vermittelt ein anderes Wissen, und wie ein „gekreuzigter Körper“ (KBW, 72) nimmt er nicht nur die eigene Geschichte auf sich, im Versuch, sie zu artikulieren, in Gemeinschaft mit allen „missbrauchten Geschöpfen“ (KBW, 85): Nach vielen Jahren erst, alles gewußt, alles erfahren, alles bekannt, geordnet, gebucht, jetzt erst geh ich da, lieg ich da, von Stromstößen geschüttelt, zitternd über das ganze Segeltuch ganz Haut, nach keinem Ermessen, in meinem Zelt Einsamkeit, heimgesucht von jeder Nadelspitze, jeder Würgspur, jedem Druckmal, ganz ein Körper, auf dem die Geschichte und nicht die eigne, ausgetragen wird, mit zerrauftem Haar und Schreien, […] Wie soll einer allein soviel erleiden können, soviel Deportationen, soviel Staub, sooft hinabgestoßen sooft gehäutet, lebendig verbrannt, sooft geschunden, erschossen, vergast, wie soll einer […] (KBW, 60) Die Subjektivität und Unmittelbarkeit der lyrischen Form gipfelt hier in der Formel „einer allein“, doch das Pathos, das auch die zahlreichen Textstellen prägt, in denen das Ich sich vollkommen mit den geschundenen Kreaturen wie Versuchskaninchen, Ratten, Fliegen, Mücken und Käfern identifiziert (KBW, 9–10), wird von der Gewissheit konterkariert, dass die „Moral der Opfer“, der „Gefolterten“ „schwachsinnig“ ist (KBW, 20), sowie von der Aufforderung zum Bewusstseinswandel („Aber es komme / die Revolution. auch von meinem Herzen“; KBW, 10). Die eige-
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nen Nöte spiegeln die Nöte des Kollektivs (Berlin) wider und sind verschränkt mit der historischen Situation (Frankfurter Prozesse) in Das deutsche Wunder (KBW, 133–134). Doch immer wieder wird über Schwierigkeiten die Wahrheit darzustellen geklagt, jene Wahrheit, die schon in einem Gedicht aus der Anrufung „Sprünge in die Wand“ trieb (Was wahr ist): Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen, was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab als eingefleischt, von jedem Schmerz beraten, was wahr ist, rückt den Stein von deinem Grab. (I, 118) Das Ich der posthumen Gedichte sieht dagegen, wie die Wahrheit von der Riesenschlange aufgefressen wurde (KBW, 65); dazu gehört auch, dass die Wirklichkeit selbst zu den Opfern zu rechnen ist, weil sie ermordet wurde. (KBW, 120) Dem Ich ist es also unmöglich, den Schmerz zu artikulieren: Keine Wörter kommen aus dem Mund, sondern Kröten und verschiedene reißende Tiere, eine Dynamik verursachend, die noch nicht, wie im späteren Böhmen liegt am Meer, die Doppelsinnigkeit des „Zugrundegehens“ kennt (KBW, 65 – 66; auch 155), sondern nur die Vernichtung; selbst die eigenen Schreie sind dem Ich verlorengegangen. (KBW, 146) Im letzten Teil des Zyklus, eingeleitet durch Texte mit den vielsagenden Titeln Nacht der Liebe (KBW, 157) und Erste Schritte (KBW, 159), kann man in den Gedichten mit der Topographie, Prag, Jerusalem, Afrika/Terra nova (Nil, Ägypten, Wüste), eine sehr fragile Heilung herauslesen, das Wiederfinden der Liebe und damit der Worte: „In einer Nacht der Liebe nach einer langen Nacht / habe ich wieder sprechen gelernt und ich weinte, / weil ein Wort aus mir kam.“ (KBW, 157) Diese Liebe ist jedoch sehr bedroht durch dieselben Mechanismen der Abhängigkeit und Vergötterung des „Heilers“, die das Ich schon in der früheren Beziehung an sich selbst beobachtet hatte. (KBW, 22) Dass in den letzten Gedichten von einem Warten vor dem Telefon die Rede ist (KBW, 170, 171, 175), lässt angesichts der Telefonszenen in Malina wenig Gutes für die neue Liebe hoffen. Im Falle von Ich weiß keine bessere Welt handelt es sich also um lyrische Texte, die über die zyklische Struktur eine Geschichte erzählen – eigentlich ein Novum im lyrischen Werk der Autorin. Deshalb überrascht es nicht, dass wir so zahlreiche Motive finden, die in den Prosatexten jener Jahre wieder aufgenommen werden. In Bezug auf Malina verweise
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ich hier nur noch auf die den zyklischen Charakter des Gedichtbandes prägenden Zitate aus Wagners Tristan und Isolde12 und aus Texten von Gaspara Stampa, des Weiteren auf die Figur des – männlichen – Mörders und auf die alptraumhaften diversen Todesarten, sowie auf die Motive der Wand (KBW, 62, 65) und der zertretenen Blumen (KBW, 42–43, 150). Diese Nachlass-Gedichte könnten also einen Steinbruch darstellen, aus dem die besten Steine für das Todesarten-Projekt verwendet werden; aber was hier einige Elemente zu den ausgewählten „besten“ macht und wie sie im Gewebe vor allem des Romans Malina eingesetzt werden, wäre eigentlich die zu beantwortende Frage.13 Und letztendlich kommt es ja nicht auf die erzählte Geschichte an, auf die nach einer Liebeskatastrophe mit anschließender Durchquerung der Hölle wiedergefundene, wenn auch zerbrechliche Liebe (einige der Gedichte im letzten Teil, insbesondere das letzte, erinnern z. B. an Ivan-Szenen im Roman), sondern auf eine weiterführende Erkenntnis der verschiedenen Phasen in Bachmanns Werk14, vor allem in Hinsicht auf die poetologische Position in den Texten aus Ich weiß keine bessere Welt und im Roman Malina (unter Berücksichtigung der gattungsspezifischen Merkmale von lyrischen Texten und Roman). Das will nicht sagen, dass die Nachlass-Gedichte keinen eigenständigen literarischen Wert haben, auch wenn er ihnen bei ihrem Erscheinen zumeist nicht zuerkannt wurde.15 12 Zu diesen Zitaten gibt es einen interessanten Beitrag von Áine McMurtry, Reading Tristan in Ingeborg Bachmann’s „Ich weiß keine bessere Welt“ and „Malina“, a. a. O. 13 Die Arbeit von Isabella Rameder, „Ich habe die Gedichte verloren“, a. a. O., beschränkt sich darauf, die Motive herauszuarbeiten. 14 Hans Höller hat schon bei seiner ersten Besprechung des Gedichtbandes dessen Publikation „als brisante Fortsetzung der Malina-Diskussion“ begrüßt, da „die Autorin damals bereits an einer poetischen Theorie dieses verstörten und verstörenden Schreibens arbeitete“, vgl. Hans Höller, Ingeborg Bachmann. Man sollte die Gedichte als zentralen Teil des Werks verstehen, a. a. O. 15 Zum literarischen Wert der Nachlass-Gedichte vgl. Klaus Dieter Post, a. a. O.; und Hubert Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal?, a. a. O. Lengauer setzt sich mit den inzwischen bekannten Rezensionen von Peter Hamm, Ernst Osterkamp, Joachim Kaiser und Alexander von Bornmann auseinander, verweist u. a. auf Bachmanns Besprechung der Glasglocke von Sylvia Plath und kommt zum Schluss: „Es ist die Frage, ob nicht gerade die Kritiken, die sich die Verarbeitung von ,Lebensschlamm‘ zu Marmorstatuen wünschen, an diesem Aspekt der Bachmannschen Poetik vorbeigehen.“ Und weiter: „Das Problem von Biographie und Werk, von Deutung und Diskretion ist offenbar nicht generell lösbar, nur historisch im Sinne von diskursiver Veränderung und von Fall zu Fall.“ (496 – 497)
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III. „Die Kunst / ein schmutziges Geschäft mit den Worten / es wird honoriert werden […].“ (KBW, 112) Angesichts der festgestellten Korrumpierbarkeit der Kunst, der Sprachkunst, stellt sich die Frage, welches Gegengewicht eine auf den ethischen Auftrag der Kunst so bedachte Autorin wie Bachmann setzt, um weiterhin ihrer Aufgabe als Schriftstellerin nachzukommen: Immerzu in den Worten sein, ob man will oder nicht, Immer am Leben sein, voller Worte ums Leben, als wären die Worte am Leben, als wäre das Leben am Wort. So anders ists, glaubt mir. Zwischen ein Wort und ein Ding Da dringst du nur selber ein, wie bei einem Kranken liegst du bei beiden da keins je ans andre sich drängt du kostest einen Klang und einen Körper, und kostest beide aus. Es schmeckt nach Tod. (KBW, 126) „Immerzu in den Worten sein“ bezeichnet die schlechte, korrupte Sprache des öffentlichen Gebrauchs und der richtungslosen, nicht in der historischen Erfahrung wurzelnden Literatur, wie Bachmann sie in den Frankfurter Vorlesungen angeprangert hatte. „Immerzu in den Worten sein“ bedeutet hier nicht Lebensnähe, weder für die Worte noch für das Subjekt, es führt eher in die Richtung der Ermordung der Wirklichkeit im Buch: „Der Käfer, aufgespießt, der Schmetterling / ins Album gepreßt, das Blatt zwischen / Buchseiten gelegt – / ermordet die Wirklichkeit, auf feinste Weise / nur Menschen gestattet […].“ (KBW, 120) Dem Bild des toten Käfers oder des toten Schmetterlings, der zwischen die Seiten eines Albums gelegt wird, in der Annahme, damit Wirklichkeit eingefangen zu haben, wird das Bild eines Subjektes entgegengesetzt, das sich in Eigenverantwortung nicht zwischen, sondern sowohl zum (abbildenden) Wort als auch zum (abzubildenden) Ding legt. Das Subjekt muss sich also mit dem eigenen Körper, mit einem zu Fleisch gewordenen Wort – wie es die Autorin eben in diesen nachgelassenen Gedichten versucht16 – sowohl zum Wort/Klang wie auch zum Ding/Körper „legen“, die beide krank sind und wie Kranke sich nicht unbedingt „aneinanderdrängen“. Das 16 Vgl. Hubert Lengauer, Nachgelassener (oder nachlassender) Skandal?, a. a. O.
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Subjekt maßt sich dabei keine Heiler-Rolle an, es macht aber die Erfahrung, dass beide, Wort und Ding, nicht nach Leben, sondern nach Tod schmecken: In der Nähe zum Tod und im Motiv des „Bei-beiden-Liegens“, also in den Versen dieses Gedichts, scheint mir das poetologische Programm von Malina enthalten zu sein. Wie kann man die Wirklichkeit darstellen, wie kann man als AutorIn zwischen ein Wort und ein Ding eindringen und zum Beispiel von den Opfern erzählen, ohne an ihnen dasselbe Verbrechen zu verüben, wie es am Album-Schmetterling verübt wurde, indem man die Opfer und überhaupt das lebendige Material zu Objekten der Erzählung und der Anschauung macht? Das Album selbst mit seinen Blättern erhält ja durch das Einkleben von toten Kreaturen kein Leben, eher verwandelt es sich in ein „Blutbuch“. (KBW, 109)17 Um kein „Blutbuch“ zu schreiben, müssen auch die Opfer, die Opfer jener Verbrechen, für die kein Paragraph des Strafgesetzbuches vorgesehen ist (KBW, 120), und selbst die „Opfer der Literatur“ (TKA I, 352–353), eine Stimme erhalten, um aus der Subjektposition erzählen zu können. Und was heißt es, den Tod „schmecken“ und „auskosten“? Im Gedicht [Immerzu in den Worten sein] folgen den oben zitierten zwei Strophen folgende Verse: Doch Tod und Leben, ob es beides gibt, wer weiß, da soviel Totes Fernes, in mir ist mich soviel Totes, mich Tote auch schon mitgenommen haben. Eine Freundin, die mich früher kannte, ein Scherben, aus dem ich dir zutrank (KBW, 126)
17 Der Text, in dem das Wort „Blutbuch“ vorkommt, [Mir leuchtet ein, was letzte Tage sind], in dem Vers „Der schreibt kein Wort mehr in sein Blutbuch“, lässt, wie ein paar andere aus dem mittleren Teil der Sammlung, an den Fanny-GoldmannText aus dem Todesarten-Projekt denken, und zwar an die Episode, als Fanny das Buch ihres ehemaligen Geliebten Tony Marek liest; der junge Schriftsteller und angebliches Nachwuchsgenie hatte darin ihre Liebesbeziehung als Material verwendet und „ausgeschlachtet“; es liegt selbstverständlich die Vermutung nahe, die Episode sei durch Bachmanns Lektüre von Frischs Mein Name sei Gantenbein inspiriert; außerdem war der Autorin schon einmal Ähnliches passiert, ein gutes Jahrzehnt früher, mit Hans Weigels Unvollendeter Symphonie (1951).
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Man kann diese Verse als Bekenntnis zu einer Schreibweise lesen, die sich dem Gedenken der Toten verpflichtet weiß18, aber wichtiger für meinen Zusammenhang scheint es mir, die Aufmerksamkeit auf die Versstelle „soviel Totes Fernes, in mir ist“ zu lenken, weil sie auf etwas hinweist, welches ebenfalls ein „Wort“, einen „Klang“, benötigt, um zum Ausdruck zu kommen. Mit „Tod“ und „Leben“ („ob es beides gibt“) sind ja hier zwei Dimensionen der Existenz gemeint; das Tote bedeutet auch das Abgelebte, die Vergangenheit, die gescheiterte Liebe. Nicht umsonst evozieren die beiden letzten Verse des Gedichts Personen und Episoden aus der Vergangenheit des Ich, und zwar im Präteritum. Das in der Vergangenheit Erlebte liefert ja in jeder ,lebendigen‘ Erzählung, und selbst in der Lyrik, das eigentliche Material; dank der Worte wird das Vergangene wieder zu neuem Leben erweckt, dies ist der Sinn einer jeden Erzählung. Aber ein solcher tradierter Sinn mit seinem herkömmlichen theoretischen Rahmen wird in Bachmanns Roman auf den Kopf gestellt, um zu neuen Perspektiven zu gelangen. Und zwar heißt: „auf dem Kopf gehen“ (wie Büchners Lenz) keine einfache Umkehrung, sondern eine Verkehrung und Verstellung, zum Beispiel in der ironischen Inszenierung eines Nicht-Erzählens sowie in der Verdoppelung der Subjektpositionen, nicht nur im Paar Ich/Malina, sondern – erzähltechnisch wichtiger – in der Konstellation Ich-Figur und Erzähler-Ich. Um kein Verbrechen am Vergangenen, an den Erlebnissen des (erzählten) Ich zu verüben, behauptet das Erzähler-Ich in Malina formal eine nicht-epische Position, es sträubt sich gegen das Erzählen und gegen das Prinzip der Abfolge in der Zeit; deshalb will es nur im Präsens sprechen, um das Erzählte nicht der Vergangenheit und damit dem Tod anheim zu geben, „denn vernichten sollte man es sofort, was über das Heute geschrieben wird“, „weil es in keinem Heute mehr ankommen“ wird. Dem nicht-epischen Anspruch dient auch das Spiel mit der dramatischen Form auf den ersten Seiten des Romans und in den zahlreichen Dialogen, in denen erzählte Zeit und Erzählzeit zusammenfallen. Aber die Sprechhaltung des Ich ist völlig widerspruchsvoll, weil es seine Erzählung eben doch im Heute (die angegebene Einheit der Zeit, die sich das doch souveräne Erzähler-Ich „lange überlegen“ musste; III, 12) ansiedelt, aber gegenläufig dazu im sogenannten Vorspann19 des Romans paradoxerweise aus seiner Vergangenheit erzählt, 18 Auch der Verweis auf die Freundin bewegt sich in diese Richtung, da sich aufgrund der Nachbartexte die Assoziation mit Gaspara Stampa aufdrängt. 19 Oder „Vorkapitel“ in der von Monika Albrecht und Dirk Göttsche herausgegebenen Edition des Romans mit Kommentar, Frankfurt/Main 2004.
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eben um immer wieder die Kohärenz und Linearität seiner Erinnerungen zu diskreditieren: Wenn meine Erinnerung aber nur die gewöhnlichen Erinnerungen meinte, Zurückliegendes, Abgelebtes, Verlassenes, dann bin ich noch weit, sehr weit von der verschwiegenen Erinnerung, in der mich nichts mehr stören darf. (III, 23) Ein fragmentarisches Erzählen, immer wieder von Erinnerungsstörungen durchbrochen, wird von der Ich-Figur vor allem im dritten Kapitel vorgeführt, während die Ursachen der Störung in der konstruierten Traumsprache des zweiten Kapitels thematisiert werden.20 Im ersten Kapitel versteckt sich das Erzähler-Ich häufig hinter der Ich-Figur. Die Verdoppelung der Subjektposition verweist darauf, dass es sich nicht mehr um ein souveränes Subjekt handelt, das über seine Geschichten verfügt; es hat die Kontrolle darüber verloren, aber nicht nur, weil es selbst ein Konstrukt der verschiedenen Diskurse ist, sondern weil es vielmehr die Kontrolle verlieren will: In einem der Dialoge mit Malina, der deutlich auf das Ende, d. h. das Verschwinden des Ich zusteuert, versichert das Ich, es wolle sich „verzetteln, verirren, verlieren“. (III, 313)21 Meiner Lesart zufolge bedeutet dies, dass es sich dem von Malina vertretenen ordnenden Prinzip der Zielrichtigkeit widersetzt, um sich eben sowohl zum „Wort“, also zum Erzähl-Prozess, wie auch zum „Ding“, zur erzählten Geschichte, zu „legen“. Am wenigsten will die Ich-Figur ihre Liebesgeschichte mit Ivan preisgeben und in der Erzählung abtöten. (III, 315) Der Geschich20 Die Traumsprache wird eingehend untersucht in der Arbeit von Christine Steinhoff, Ingeborg Bachmanns Poetologie des Traumes, Würzburg 2008. 21 Zu diesem langen Dialog (III, 308–314) scheinen mir die Ausführungen sehr gut zu passen, mit denen Annegret Pelz die theoretischen Positionen von Maurice Blanchot in Hinblick auf Bachmann resümiert: „Nur im Schreiben kann ein Schriftsteller die für die Literatur der Moderne entscheidende Erfahrung machen, daß er das Werk niemals beherrscht, sondern nur versuchen kann, sich ihm anzunähern. Sobald aber etwas geschrieben und also kein Platz mehr für Schöpfung ist, stößt das Werk seinen Schriftsteller aus, läßt ihn außerhalb des Werkes stehen, macht ihn im wahrsten Sinn des Wortes zu einem Unbeschäftigten, Kunstlosen, Ausgestoßenen seines Werks. […] [Es] gehört […] zu den Aufgaben des Schriftstellers, sich zurückzuziehen, das Buch freizugeben und zu sterben.“ (A. P., Bachmann, Blanchot und das Problem der neutralisierten Erzählstimme, in: Ingeborg Bachmann. Neue Bilder zu ihrer Figur, hrsg. von Friedbert Aspetsberger, Innsbruck–Wien – Bozen 2007, 165– 176; hier 170, 172.) Auch in diesem Sinne „schmeckt“ das Schreiben „nach Tod“.
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ten-Kontrolleur Malina, der vorgibt, die wahren von den falschen Geschichten unterscheiden zu können, würde es sowieso zu keiner Erzählung im Sinne des Erzähler-Ich bringen, er darf ja auch das eigentliche Vermächtnis des Ich, ihre versteckte Schrift, nicht finden: In den letzten Szenen ist die Ich-Figur damit beschäftigt, ihre kostbaren Liebesbriefe so zu verstecken, dass Malina sie nach ihrem Verschwinden nicht auffinden kann, und zwar in der untersten Lade ihres Sekretärs. (III, 333) Aber trotzdem ist ein Vermächtnis hinterlassen worden, mit dem Malina äußerst zerstörerisch umgeht: Er hat meine Brille zerbrochen, er wirft sie in den Papierkorb, es sind meine Augen, er schleudert den blauen Glaswürfel nach, es ist der zweite Stein aus einem Traum, er läßt meine Kaffeeschale verschwinden, er versucht, eine Schallplatte zu zerbrechen, sie bricht aber nicht, sie biegt sich und leistet den größten Widerstand, und dann kracht es doch, er räumt den Tisch ab, er zerreißt ein paar Briefe, er wirft mein Vermächtnis weg, es fällt alles in den Papierkorb. (III, 336) Nach dem Eingehen des Ich in die Wand wirft Malina, dem das Ich doch das Ordnen ihrer vielen erzählerischen Versuche und Bruchstücke anvertraut hatte, die nachgelassenen Papiere in den Papierkorb; Malina ist also eine Attrappe, die Maske einer schriftstellernden Instanz, genauso wie er im „Traumkapitel“ einen parodistisch gezeichneten Therapeuten darstellt.22 Bleibt nur zu hoffen, dass die Adressaten der Erzählung, die Leser also, die versteckte, „im Staunen“ geschriebene Schrift finden.23 Eigentlich hatte Bachmann schon früh ein Bild für die unlösbaren Widersprüche, Brüche und Sprünge ihrer „Spiegelschrift“ gefunden, indem sie zwei Fassungen „eines Briefs“ entwirft und nebeneinander bestehen
22 Vgl. Britta Herrmann, Ingeborg Bachmanns Malina – eine Poetik der Kritik, in: „Über die Zeit schreiben“ 2, hrsg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche, Würzburg 2000, 49 –73; und von den neueren Arbeiten Jasmin Hambsch, „Das schreibende Ich“. Erzählerische Souveränität und Erzählstruktur in Ingeborg Bachmanns Malina, Würzburg 2009, insb. 48 f.; Christine Steinhoff, a. a. O., 129 –130; Jutta Schlich, Inzest und Tabu. Ingeborg Bachmanns Malina gelesen nach den Regeln der Kunst, Sulzbach/Taunus 2009, 152 f. 23 Vgl. Magdalena Tzaneva, Die Pierrot lunaire. Musik in Ingeborg Bachmanns Malina, Berlin 2005, 63 f.
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lässt: Das Gedicht Brief in zwei Fassungen endet mit der Formulierung: „ich bin inmitten – was erwartest du?“24 Der Textkörper zeigt am Ende, im Riss in der Wand konzentriert, all seine „Blessierungen“ und Wunden, all seine Widersprüche, aber auch die dissonante Vermischung des Gegensätzlichen, „eine Parodie, eine Gemeinheit und die Serenade vor dem Heimkommen“. (III, 320)25 Um ein Ende, nämlich das Verschwinden des Ich aus seiner Schöpfung, mit einem Anfang zusammenzuhängen, wozu uns das Erzähler-Ich autorisieren würde (III, 26), schließe ich mit der Strophe eines fragmentarischen Textes aus den Nachlass-Gedichten: Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht! daß ichs nicht überlebt auch nicht überstanden habe, seht ihrs nicht, daß ich einwärts gehe, daß fürderhin einwärts rede, daß ich mich einziehe, mein Haar herablasse meine Hände einstreiche mein Wort einziehe, seht ihrs nicht, seht ihr, (KBW, 115)
24 Vgl. meinen Aufsatz: Thematisierung der Schrift. Über Bachmanns Brief in zwei Fassungen, in: „In die Mulde meiner Stummheit leg ein Wort …“, a. a. O., 151–163. 25 Ich kann in diesem Rahmen nicht näher darauf eingehen, verweise aber auf das Malina-Kapitel meines Buches: Ingeborg Bachmann. I sentieri della scrittura, Roma 2001, insb. 197–218.
Marie Luise Wandruszka
Bestandene Proben: Vom „Untergehen“ zum „Zugrundegehen“ in Bachmanns lyrischem Nachlass MarieBestandene Luise Wandruszka Proben
I. Ich möchte mit einer etwas gewagten Hypothese beginnen: Die Qualität eines Textes ist dem Glück proportional, das dieser bei seinem Autor und danach bei seinen LeserInnen auslöst. Zu dieser Beziehung zwischen Glück (der Produktion und der Rezeption) und künstlerischem Gelingen hat sich Ingeborg Bachmann mehrmals geäußert, wobei ein radikaler Unterschied zwischen der früheren und der späteren Auffassung zu bemerken ist. In der ersten der Frankfurter Vorlesungen, die vor den Gedichten, um die es hier geht und damit auch vor der Erfahrung von Bachmanns persönlichem „Tremendum“ entstanden, kritisiert sie Simone Weil: „Das Volk braucht Poesie wie das Brot“ – diesen rührenden Satz, einen Wunschsatz wohl, hat Simone Weil einmal niedergeschrieben. Aber die Leute brauchen heute Kino und Illustrierte wie Schlagsahne, und die anspruchsvolleren Leute (und zu denen gehören nämlich auch wir) brauchen ein wenig Schock, ein wenig Ionesco oder Beatnikgeheul, um nicht überhaupt den Appetit auf alles zu verlieren. Poesie wie Brot? Dieses Brot müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können. (KS, 268)1 1 Zu den Frankfurter Vorlesungen siehe Arturo Larcati, Ingeborg Bachmanns Poetik, a. a. O., und zum obigen Zitat besonders das 5. Kapitel, 99, wo die Übereinstimmung mit „Adornos strenge[r] Opposition zwischen der Unterhaltungs- und der moralisch bewussten Kunst“ unterstrichen wird, wenn „Bachmann behauptet,
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Simone Weils Satz ist, glaube ich, kein Wunschsatz. In La Personne e le Sacré reflektiert sie über die Schönheit und Rezeption literarischer Kunstwerke: So wie das Unglück hässlich ist, so ist die wahre Darstellung des Unglücks auf souveräne Weise schön. Als Beispiele kann man […] anführen: Phèdre, l’École des femmes, Lear, die Gedichte Villons, aber noch besser die Tragödien von Aischylos und Sophokles; und noch besser die Ilias, das Buch Hiob, einige Volksepen; oder noch viel besser die Erzählungen von der Passion in den Evangelien. Der Glanz der Schönheit ergießt sich über das Unglück dank des Lichts des Sinnes für Gerechtigkeit und Liebe, der allein den menschlichen Geist dazu befähigt, das Unglück so zu erschauen und zu reproduzieren, wie es wirklich ist (de regarder et de reproduire le malheur tel qu’il est).2 Die angeführten Werke sind schön und wahr, insofern sie von Gerechtigkeit und Liebe inspiriert sind (und ließen sich in die aufgezählten Werke nicht mit einigem Recht auch die in den Vorlesungen zitierten Celan-Gedichte einreihen?) Wie Ingeborg Bachmann war auch Simone Weil davon überzeugt, dass die Schönheit den Hunger erweckt, ohne ihn zu stillen, dass sie eine „deliziöse Qual“ (tourment délicieux) erregt. Doch Simone Weil genügt es, dass Literatur das menschliche, soziale und politische Unglück in seiner Wahrheit darstellt, was nur in „Gerechtigkeit und Liebe“ möglich ist. Dann ist Literatur schön, nützlich und macht auch glücklich: „Wenn man nicht nach Notbehelfen sucht, um sich von der deliziösen Qual, die sie bereitet, zu befreien, dann verwandelt sie sich nach und nach in Liebe, und es entsteht ein Keim von freier und reiner Aufmerksamkeit“.3 Und „Aufmerksamkeit“ ist die Basis für jegliches sinnvolle Denken und Tun. Der Unterschied zu der Moral der Frankfurter Vorlesungen besteht darin, dass die Schönheit der Poesie und die Freude
dass die Gedichte von Enzensberger, Kaschnitz und Celan ,nicht genießbar, aber erkenntnishaltig‘ [sind]“ (das letzte Bachmann-Zitat findet sich in KS, 285). Zu Adorno passt auch, dass die „Schlagsahne“ mit dem „Kino“ assoziiert wird, was eine schöne Differenz zum Kinofan und Tui-Kritiker Brecht bezeichnet. 2 Simone Weil, La personne et le sacré. Collectivité – personne – impersonnel – droit – justice, in: Dies., Écrits de Londres e dernières lettres, Paris 1957, 11– 44; hier 37. 3 Ebenda.
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an ihr keinen prinzipiellen Verdacht erregen, dass im Gegenteil beide gegen die falschen Tröstungen der Einbildungskraft – die „Schlagsahne“ der Vorlesungen – eingesetzt werden können. In der zweiten Vorlesung (Über Gedichte) zitiert dann Ingeborg Bachmann, nach dem Enzensberger-Gedicht Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer, aus einem „wundervollen“ Brief von Kafka: Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich. (KS, 280) Dieses Zitat stammt aus einem in belehrend-terroristischem Ton gehaltenen Brief des zwanzigjährigen Kafka an seinen Freund Oskar Pollak.4 Um den Leser zu wecken, muss die Literatur ihn unglücklich machen. Für Ingeborg Bachmann ist dieser Brief Kafkas „wundervoll“, was ein Paradox benennt, das die Frankfurter Vorlesungen nicht thematisieren. Mich macht er – im Unterschied zum Roman Amerika zum Beispiel, dem die junge Bachmann einen Radio-Essay widmete – nicht sehr glücklich. Erstens, weil geliebte Bücher, auch oder gerade wenn sie schmerzhafte Wahrheiten zur Sprache bringen, Freude machen, zweitens, weil ich nicht fähig bin, mir diese Bücher selbst zu schreiben, drittens, weil auch die „wundervolle“ Rhetorik dieser Zeilen einen Effekt von „Schlagsahne“ zeitigen kann und auch gezeitigt hat – siehe so viele „engagierte Literatur“ der folgenden Jahre. In den Texten, die Ingeborg Bachmann nach ihrer finstersten Zeit (19 62–1964) verfasst – nach den unveröffentlichten Gedichten, um die es hier geht –, wird das Verhältnis Glück/Kunst anders definiert. Da ist zum Beispiel das Gedicht Böhmen liegt am Meer, zu dem der Herausgeber Hans Höller ausführt: Die Dichterin hat Böhmen liegt am Meer immer als einen Glücksfall ihrer Lyrik empfunden. Sprach sie über dieses Gedicht, erschien es ihr wie ein „Geschenk“, als hätte sie selber nichts zu seiner Entstehung beigetragen und könnte es deshalb nicht für sich „beanspruche[n]“ – „ich glaube nicht einmal, daß ich es geschrieben habe, ich 4 Franz Kafka, Briefe 1902–1924, hrsg. von Max Brod, Frankfurt/Main 1966, 27.
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kann es manchmal nicht glauben“. Am liebsten würde sie ihren „Namen wegnehmen und darunter schreiben ,Dichter unbekannt‘“.5 Dieses unglaubliche Glück verbindet die Autorin mit ihrer Abwesenheit, mit dem, was Simone Weil „l’impersonnel“ nennen würde. Zwei Jahre nach dem „Geschenk“ Böhmen liegt am Meer, am 22. Juni 1966, schreibt Ingeborg Bachmann einen sehr glücklichen Brief an Hans Werner Henze: Ich habe, nach wie vor, viel gute Zeit, freue mich insbesondere an der Aussenwelt, eine Sache die mir mirakulös vorkommt, weil die am meisten abhanden gekommen war. […] Ich ziehe bunte Fähnchen an und esse Spargel und die ersten Erdbeeren aus den Castelli, bastle an der Wohnung weiter, und Mühe macht mir nur das erste schlimme Buch, aber jeden Tag schreib ich eine Stunde was ins zweite, in dem viel Komisches vorkommt, Witziges, Impertinentes, momentan nenn ich es nicht ein Buch, sondern eine Operette, tutto quanto molto viennese, un tributo dovuto, bald ein inchino, bald eine Frozzelei – und so fort. […] Jetzt kommen unsre Geburtstage, das muss wohl so sein. Ich bin nicht nur gefasst, sondern teils gleichgültig, teils erheitert: und im Ganzen ruhig, weil ich mir denke, sowas Schifoses wie meine Dreissigerjahre ist nicht mehr auf Lager, und heute wüsst ich mich auch zu wehren und es abzuwehren, wenn etwas Derartiges auf mich zukäme. Mit wehmütigem Zurückblicken ist also nichts, im Gegenteil. […] Al tuo futuro, al Nostro, al mio, alla saggezza selvaggia!6 Dieses erste „schlimme“ Buch (das Buch Franza) strengt sie an, glücklich ist sie, wenn sie über die tragikomischen „Wienerinnen“ schreibt, wenn sie der „saggezza selvaggia“, der „wilden Weisheit“ vertraut, die sie mit
5 Hans Höller, „Böhmen liegt am Meer“ – „das Gedicht, zu dem ich immer stehen werde“, in: Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen, a. a. O., 119–133; hier 119. Siehe dazu auch Bachmanns Äußerungen zu diesem Gedicht in ihrem Gespräch mit Gerda Haller, in: Ingeborg Bachmann, Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Mit einem Nachwort von Hans Höller. Salzburg und Wien 2004, 77– 82. 6 Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze, Briefe einer Freundschaft, a. a. O., 2 7 2 – 273.
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ihrem Freund verbindet. Ähnliches steht auch in den Poetologischen Entwürfen zum Band Simultan, in dem die „Wienerinnen“ erscheinen werden: In einer Zeit, in der ich finster und angestrengt versuchte, mit dem Buch Todesarten zurechtzukommen […]. Während ich ein Buch geschrieben habe, dessen Ende ich auch heute noch nicht absehen kann und das so schwierig für mich ,ist‘, daß es mir nur Mühe macht und so wenig Freude […] (TKA IV, 3,16) … sind ihr diese tragikomischen Frauen „erschienen“, die Heldinnen des Simultan-Bandes. Sie musste sie nicht mühevoll konstruieren, denn „nicht ich habe sie erfunden, sie sind eines Tags zu mir gekommen und wollten leben“. (TKA IV, 16) Diese Erzählungen, aber auch viele im selben Stil gehaltene Passagen des Todesarten-Projekts, gehören m. E. zu den schönsten (und sehr politischen!) Arbeiten Ingeborg Bachmanns. Unsere Gedichte, die die Autorin nicht gedruckt sehen wollte, wurden sicherlich nicht in einem Glückszustand geschrieben, nichts ist ihnen „eingegeben“, nichts „fällt zu“. Sie zeugen von einer verzweifelten Suche, durch Arbeit an der Sprache eine existentielle Situation zu klären, aus einer unerträglichen Situation herauszukommen. Doch die Themen, die in Bachmanns folgenden Werken im Zentrum stehen werden, sind hier – obsessiv, zwanghaft, in oft hilflosen Wiederholungen und Abbrüchen – benannt. So können uns diese Gedichte, in der Nähe und in der Distanz zu Böhmen liegt am Meer (aber auch zur späteren Prosa) zeigen, was Ingeborg Bachmann zu der großen Prosaistin gemacht hat, die sie ist. II. Zwei der hervorstechendsten Themen – sie sind miteinander verbunden – möchte ich herausgreifen: das Böse und das Verzeihen. Das „Böse“ kann nicht verziehen werden. Es kann auch nicht neutralisiert, vergessen, nicht mehr gefühlt werden. Die venezianische Renaissance-Dichterin und Kurtisane Gaspara Stampa steht für eine vom Ich nicht erlernbare Kunst. Alla pi[ù] umile, all[a] pi[ù] umana, alla più sofferente vivere ardendo e non sentire il male (Gaspara Stampa)
Meine Schwester soll mir weiterhelfen. meine Schwester ist nicht weit von hier. Nur viel Zeiten ferner und so nah bei mir. Nur viel länger tot als ich.
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Zu ihr sprech ich seit fast tausend Tagen, […] Und sie lebt für mich, sie weiß zu leben, leidets für mich, wird verhöhnt, geschmäht, verstoßen und verdammt, sie leidet es. Ich vertrete nur den Schlaf, den langen. Die Gnade Morphium, aber nicht die Gnade eines Briefs […] um das Böse gutzumachen, bedarf es bloß eines Worts, um das Böse nicht mehr zu fühlen, bedarf es des Tods. Meine Schwester hat mich auch verlassen. Wenn ich aber fühle und hasse, wenn der Haß mich irrsinnig macht, weil ich so sehr hasse, wenn ich auf ewig hasse, wie soll ich leben. Als sie von der Engelsbrücke gesprungen war, und sie hatte ihm schon verziehen, blieb ihr Schrei stehen. O Scarpia, davanti a Dio. Nie habe ich die Burg sehen können, ohne den Schrei zu hören und die wahnsinnigen Folterungen, nicht nur dieses einen Mario. Gerechtigkeit, auch für unsere Mörder. Oft habe ich gedacht, wenn der Haß stärker war und wenn ich springen wollte, von der obersten Terrasse, dich dorthin zu rufen, wo Verzeihung und Gericht sein könnte. (KBW, 116–117) Als Motto dient der berühmte Vers „vivere ardendo e non sentire il male (glühend leben und den Schmerz nicht spüren)“ aus Gaspara Stampas Sonett Nr. CCVIII,7 den Ingeborg Bachmann, hier und auch in der Folge, uminterpretiert. Aus dem „Schmerz“ – die Bedeutung von „male“ in Verbindung mit „sentire“ – wird bei Bachmann das „Böse“. Stampas Sonett besingt eine neue Liebe, die, wie alle Leidenschaft, auch Leid mit sich bringen wird, was aber heroisch schon in Rechnung gestellt wird. Wobei die venezianische Kurtisane, im Unterschied zum weiblichen Ich der Gedichte Ingeborg Bachmanns, auf ganz besondere Ressourcen rekurrieren 7 Gaspara Stampa, Rime, eingeleitet von Maria Bellonci, Anmerkungen von Rodolfo Ceriello, Milano 1976, 212–213.
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kann. Sie ist öffentlich als eine „poetessa laureata“ anerkannt, deren Spezialität das Verfassen wunderschöner Liebesgedichte ist, in denen der mit der Leidenschaft einhergehende Schmerz von der Freude, ihn so gut ausdrücken zu können, gebannt wird. Die Liebespassion scheint der notwendige Katalysator ihrer Kunst zu sein, wenn sie z. B. im Sonett Nr. XII darüber klagt, sich zu spät verliebt zu haben; wäre es früher passiert, dann hätte ihr Ruhm schon alle an die Adria grenzenden Länder erfüllt: „E sarei forse di sì chiaro grido, / che […] risoneria fors’Adria oggi, e ’l suo lido“.8 Für Ingeborg Bachmann ist Gaspara Stampa eine Schwester, die unendliche Schmerzen zu leben und zu leiden weiß: „sie weiß zu leben, / leidets für mich, wird verhöhnt, geschmäht, / verstoßen und verdammt, sie leidet es“9, während das weibliche Ich des Gedichts vom Hass „irrsinnig“ gemacht wird. Mir scheint, dass genau in diesem Hass der Unterschied zu Gaspara Stampa liegt, die im Erleiden zu leben „weiß“, und dass das weibliche Ich deshalb zur Überzeugung gelangt, dass auch ihre „Schwester“ sie „verlassen“ hat. Das Ich dieses Gedichts weiß, dass es diesen Hass, um leben zu können, überwinden muss – „wenn ich auf ewig hasse, wie soll ich leben“ – und sucht Rat bei einer anderen Frau, bei Tosca, der Heldin von Puccinis Oper. Von dieser wird gesagt, dass sie dem mächtigen und bösen Minister Scarpia schon verziehen hatte, als sie sich mit dem Ruf „Oh Scarpia, vor Gottes Angesicht“ – also mit der Anrufung des obersten Richters – von der Engelsburg (bei Bachmann: „Engelsbrücke“) stürzte. Tosca hatte aber Scarpia nur in dem Augenblick verziehen, in dem sie ihn wegen 8 Ebenda, 88. Rodolfo Ceriello merkt zum Salamander-Sonett an, dass Stelio Effrena, der Held von D’Annunzios Roman Il fuoco, an Gaspara Stampas Gedichten „un miscuglio di gelo e di ardore“, „eine Mischung aus Eiseskälte und Glut“, bewundere. (ebenda, 212) Zu Bachmanns Gaspara Stampa siehe Barbara Agnese, „Qual nova salamandra al mondo“, a. a. O., und Rita Svandrlik, Ingeborg Bachmann. I sentieri della scrittura, a. a. O., 78–79. 9 In einem Ilse Heim gegebenen Interview erzählt Ingeborg Bachmann, dass Gaspara Stampa ihre Gedichte an einen „Grafen Sowieso“ gerichtet hätte, „der sie offenbar sehr rasch verlassen hat. Ihr ist, glaub’ ich, rasch – wie das im 16. Jahrhundert häufig war – eine Lungenschwindsucht zu Hilfe gekommen, sich aus dieser für sie nicht mehr erträglichen Welt davonzumachen.“ Dass sich das SalamanderSonett an den neuen Liebhaber Bartolomeo Zen wendet und eine Wiedergeburt besingt (im Sonett kommt auch ein zweites mythisches Tier vor, der Phönix, der aus seiner eigenen Asche wiederersteht), passt nicht in das von Ingeborg Bachmann für ihre „Schwester“ vorgesehene Leben. (GuI, 110)
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seines grausamen, erpresserischen Verhaltens mit wiederholten Dolchhieben zu Tode gebracht, und bevor sein letzter Betrug zur realen und nicht nur wie versprochen simulierten Erschießung von Toscas Geliebtem, Mario Cavaradossi, geführt hatte. Sie entzieht sich den Häschern, die ihre Tat entdeckt haben, sie entflieht dem menschlichen, korrupten Tribunal, im Vertrauen darauf, bei Gott eine Instanz zu finden, die ihren Mord entschuldigen und Scarpia verurteilen wird. Das Verzeihen des Opfers setzt also in Puccinis Oper die Ermordung des Bösewichts voraus, und die Endabrechnung wird einem verständnisvollen Gott überlassen. Wenn in Bachmanns Gedichten das männliche „du“ einfach verschwindet, keines Briefes, keines Wortes fähig ist (und auch nicht erdolcht werden kann), dann bliebe als letzter Ausweg, „wenn der Haß stärker war“, den Mann durch einen Selbstmord dorthin zu „rufen“, (mitzunehmen?), „wo Verzeihung und Gericht sein könnte“. Der Selbstmord wäre also die Voraussetzung für das folgende „Gericht“. Eine Dulderin, wie Bachmanns Gaspara Stampa oder eine auf Gott vertrauende tatkräftige Tosca – beide sind in einer verzweifelten Situation angerufene Leitbilder. Die leidende – nicht hassende und wohl immer verzeihende (oder nicht fühlende?) – „Schwester“ Gaspara Stampa hat das Ich „verlassen“ und so erscheint Tosca – die, sich in den Abgrund stürzend, an das gerechte Gericht Gottes appelliert – als geeignetere Identifikationsfigur, auch und besonders weil das Gedicht die Tatsache verdrängt, dass Tosca erst töten musste, um dann verzeihen zu können. In diesen privaten Gedichten wird der Hass nur benannt, lebt sich aber nie in Bildern aus. Er scheint zur Selbstverachtung des „Ich“ beizutragen. Wo Tosca sich von der „Engelsbrücke“ stürzte, wollte das Ich, „wenn der Haß / stärker war“, sich von der „obersten Terrasse“ stürzen, um den Hass durch „Verzeihung und Gericht“ zu bannen. In dem Gedicht Auf der obersten Terrasse (KBW, 125) wird diese Situation konkretisiert. Von der obersten Terrasse habe ich springen wollen, zu Fuß bin ich Hintertreppe hinaufgegangen, für die Dienstboten und habe an der Tür gehorcht, auf das Lachen in meinen Zimmern, das hat mich entmutigt. Einen Leichnam, gleich nach dem Frühstück, hättest du schlecht ertragen.
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Das Lachen hat das Ich wohl nicht „entmutigt“, sondern den masochistisch blockierten Hass in sarkastische, ich wäre geneigt zu sagen „gesunde“ Aggressivität verwandelt. Es gibt in diesen Texten immer wieder Ansätze, das Pathos des Opfers zu hinterfragen. In Ich weiß keine bessere Welt (KBW, 20) ist die Rede von einer „schöne[n] Seele“, von der „schwachsinnige[n] Moral der Opfer“, die „im Angriff abzulegen“ wäre. Und in Wie schwierig ist zu verzeihen (KBW, 113) wird gegen die christliche „Liebe, die mir verordnet ist“ rebelliert. Doch es ist der Hass, der das Ich „krank gemacht“ hat, und so verordnet es sich, nicht mehr zu hassen: Ich weiß nur, daß ich nicht mehr so hassen darf nicht deinen Tod wünschen, den ich auch gar nicht wünsche, oder von meiner Hand […] Diesen ohnmächtigen Hass lernen wohl viele Frauen (und Männer) im Laufe ihres Lebens kennen. Bei den normalen Sterblichen heilt die Zeit; die Anthropologie kennt das, was man in Süditalien die „fattura“ nennt, z. B. ein Püppchen, das den oder die „Böse“ symbolisiert und mit Nadeln zerstochen werden kann. Eine Schriftstellerin hat andere Möglichkeiten. Die gehasste Mannsfigur wird im Buch Franza zum Professor Jordan, im Goldmann/Kottwitz-Roman zu den Schriftstellern Marek und Jung, in Malina zum „Dritte[n] Mann“. Es sind dies sadistische „Kranke“, die aber nicht leiden, sondern ihre Opfer leiden lassen. Es sind die „Blaubärte“, das „Böse“. Dass ein Liebhaber in unseren Gedichten eine Personifikation des „Bösen“ werden kann, antizipiert so die in den Todesarten entwickelte Vorstellung eines privaten Faschismus, antizipiert die manchen so ärgerliche Gleichsetzung von weiblichen Blaubartopfern mit den Opfern des Nationalsozialismus. Das „Böse“, das „Verzeihen“ sind Begriffe, mit denen sich in denselben Jahren auch Hannah Arendt auseinandersetzte, in Texten, die Ingeborg Bachmann zum großen Teil kannte (wir wissen, wie leidenschaftlich interessiert sie an Arendts Person und an ihrem Denken war10). Ich 10 Siehe Sigrid Weigel, Ingeborg Bachmann, a. a. O., 462 – 464. „Der Katalog [von Bachmanns Bibliothek] verzeichnet folgende Titel von Hannah Arendt: Rahel Varnhagen (1959), Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus (1958), Über die Revolution (1963), Vita activa oder Vom tätigen Leben (o. J.),
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denke, dass Ingeborg Bachmann nicht nur ihre Blaubärte mit dem „Bösen“ assoziierte, sondern sich auch mit Arendts Unterscheidung zwischen den Sadisten und den gedankenlosen, banalen Mördern à la Eichmann beschäftigte, wobei die genannten Blaubärte der Todesarten eine Mischung der beiden Kategorien darstellen: Sie sind mittelmäßig-gedankenlos, aber auch voll Hass gegen eine als Bedrohung ihrer öffentlichen Position erlebte Frau. In so einer Konstellation hätte das Verzeihen, das nach Arendt im Unterschied zur Rache einen Neuanfang ermöglicht, nicht viel Sinn. Zum einen, weil das Verzeihen, stets „eminent persönlicher Art“ ist (sich nur auf die Person und niemals auf die Sache bezieht), einen „Bezug-stiftenden“ Charakter aufweist, während der in diesen Gedichten Angeklagte sich entzieht, an Verzeihung nicht interessiert scheint; zum anderen, weil er explizit als der „Böse“ erfahren wird und: „Böse Taten sind buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich“, sie können, im Unterschied zu den gewöhnlichen „Verfehlungen“ nicht verziehen werden.11 In demselben Sinn und Wortlaut heißt es in Gloriastrasse: Das Böse, nicht die Fehler, dauern, das Verzeihliche ist längst verziehen, die Messerschnitte sind auch so verheilt, nur der Schnitt, den das Böse tut, er heilt nicht, bricht aus in der Nacht, jeder Nacht, (KBW, 54) Die einzige Alternative zum Vergeben ist nach Hannah Arendt die Strafe, und in diesen Gedichten wird mehrmals ein „Gericht“ ersehnt, doch ohne an seine Möglichkeit zu glauben. Daher das Quälende, der Teufelskreis, in dem sich das „Ich“ dieser Gedichte hetzt. „Es gehört zu den elementaren Gegebenheiten im Bereich der menschlichen Angelegenheiten, daß wir außerstande sind zu verzeihen, wo uns nicht die Wahl gelassen ist, uns auch anders zu verhalten und gegebenenfalls zu bestrafen“.12
Wahrheit und Lüge in der Politik (1972).“ (Ebenda, 464, Anm. 26) Zu Hannah Arendt im Werk Ingeborg Bachmanns siehe Andreas Stuhlmann, „Tapferkeit vor dem Freund“ – Zu Korrespondenzen im Schreiben Ingeborg Bachmanns und Hannah Arendts, in: Language – Text – Bildung, hrsg. von Andreas Stuhlmann u. a., Frankfurt/Main 2005, 103–122 und mein: Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt unter Mördern und Irren, a. a. O. 11 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München Zürich 2002, 307. Die amerikanische Ausgabe, The Human Condition, erschien aber schon 1958. 12 Ebenda.
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III. Das, was getan werden kann, und was Ingeborg Bachmann auch tun wird, und zwar literarisch, in ihrer immer weiser und schöner werdenden Prosa, ist dreierlei: 1.) den Hass enttabuisieren, 2.) die Mit-Verantwortung des weiblichen „Opfers“ an seinem Leid darstellen und 3.) ein Erzählen entwickeln, das dem eigenen „Zugrundegehn“ immer mehr vertraut. Ad 1. Das Todesarten-Projekt ist, vielleicht gerade dank der in ihm entwickelten Poetik der Diskretion, auch (!) ein Werk der Rache. Der Hass wird so nicht mehr tabuisiert, sondern dient der Arbeit, einer Darstellung, die im Sinne von Hannah Arendts eben zitiertem Satz als „Bestrafung“ wirkt, und somit dem Hass einiges von seiner lähmenden Virulenz genommen haben mag. In den Entwürfen zu einem Romanschluss berät Malina einen jungen österreichischen Schriftstellerkollegen auf der Frankfurter Buchmesse: [V]ielleicht sagt Ihnen ein Engel rechtzeitig, schau nicht zurück, und dann werden Sie Frankfurt nicht sehen, das in Rauch und Schwefelgestank aufgeht, wie ich es heute und jedes Jahr zweimal aufgehen sehe, weil die Rache gekommen ist. Nicht die meine, denn ich bin ja gekommen, zu erzählen und nicht zu richten, aber in allen Erzählungen spukt das Richten mit und das Weinen im Rauch, wenn das zum Himmel steigt und erzählt wird. (TKA I, 364). Keine Rache, kein Richten … oder doch? Ad 2. Schon in Das Buch Franza wird ein Grund angeführt, der die Protagonistin dem „Fossil“, dem „Blaubart“ ausliefert: eine maßlose Eitelkeit, das Gefühl eines unbegrenzten eigenen Reichtums und der Überlegenheit über ihre „Vorgängerinnen“. Franza versteht, dass sie ihr ganzes „Erbarmen“ aktiviert hatte: „[I]ch hab es ausgeschüttet über ihn und ihn dann an mich gezogen, damit seine Falten und sein abgenutztes Leben und dieser tote Blick wieder gut werden“. (TKA II, 52) Sie war überzeugt gewesen, die reichere zu sein, und ihn „retten“ zu können. Nun versteht sie, dass sie nicht besser als die anderen Frauen dieses Blaubarts ist: „Erst jetzt habe ich mich nach den anderen Frauen gefragt und warum die alle lautlos verschwunden sind […] und wie bereitwillig habe ich geglaubt, sie seien dumm, verständnislos, defekt gewesen, nichtswürdige Kreaturen“. (TKA II, 207) In ihrer 1965 gehaltenen Vorlesung zu Fragen der Ethik: Über das Böse zitiert Hannah Arendt Meister Eckhart und resümiert:
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Ich versuchte zu zeigen, daß unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden. Und noch einmal: Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt, in Beispielen von toten oder lebenden wirklichen oder fiktiven Personen und in Beispielen von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammensein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, daß er niemals in unsere Nähe gelangt.13 Die persönliche Ethik hat nach Arendt etwas mit der Wahl der Menschen zu tun, mit denen wir Umgang haben wollen. Und sie lädt dazu ein, uns an die Vorbilder und die Menschen zu halten, mit denen wir leben wollen. Das weibliche Ich unserer Gedichte erkennt, dass sie sich einem Fremden ausgeliefert hat und dass sie dabei ihrem Gesetz untreu geworden ist: Ich habe mich ganz zur Verfügung gestellt. mich oft gefürchtet, aber meine Furcht mit der Liebe ausgetrieben, […] (KBW, 124) Eingepflanzt habe ich dir ein Herz, […] in die Dürre einer abgeernteten Brust. […] […] nachgeplappert jedes Wort und meine Angehörigkeit vergessen. Ich war das längst nicht mehr. (KBW, 22) Ad 3. In den Gedichten aus dem Nachlass kommt der Ausdruck „untergehen“ sehr oft vor, z. B. in Politik der Schwäche oder Eine verlorene Liebe (KBW, 152–153), und auch in Während eine Ideologie die andere rammt (KBW, 147): […] während es da und dort sich stirbt […] bist Du allein in Lebensgefahr […] tapfer sein, das heißt 13 Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlass herausgegeben von Jerome Kohn, aus dem Englischen von Ursula Ludz, Nachwort von Franziska Augstein, München–Zürich 2006, 149.
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leben mit dem Geröll im Kopf mit dem Rollen und beim Untergang dessen was glücklich macht, was war es, es war bloß ein wenig, aber alles, ist schon untergegangen, du gehst unter, du mußt etwas dagegen sagen, Dir den andren das übliche sagen, wie geht es und danke gut, gutt gutt gutt in einer Lache Blut […] Die Ausdrücke „Untergang“, „untergehen“ implizieren hier ein isoliertes, gefährdetes Ich, das mit den anderen nur in einem konventionellen Jargon sprechen kann. Es wäre wichtig, etwas gegen den Untergang zu sagen („du mußt“), aber es ist unmöglich, möglich ist nur „das Übliche“. In dem Gedicht des Glücks, in Böhmen liegt am Meer, finden wir den Ausdruck „zugrundegehen“: „Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich. // […] Bin ich’s, so ist’s ein jeder, der ist soviel wie ich. / Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn. // Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder. / Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf. / Von Grund auf weiss ich jetzt, und ich bin unverloren.“ (I, 167) Das „Zugrundegehen“ bezeichnet eine ganz andere Bewegung als das „Untergehen“. Es gehört zum Vokabular der Mystik Meister Eckharts und bezeichnet ein Auf-den-Grund-kommen, das Begreifen des „Grunds“ der Dinge. So ist es ein Zeichen von Stärke, das genaue Gegenteil von dem in dem Gedicht Politik der Schwäche dargestellten Zustand: „du liebst / […] du willst seinen Spiegel, du / gehst lieber unter in diesem Spiegel / als dich zu halten im nirgendwo.“ (KBW, 152) In Böhmen liegt am Meer braucht das „Ich“ keinen männlichen Spiegel mehr. Es „hält“ sich nicht, sondern „grenzt“ „an alles immer mehr“, und öffnet sich von seinem eigenen „Grund“ aus den anderen: „Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe / unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser / und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen // Und die zum Weinen sind.“ Diese Gestalten sind, im Unterschied zum Blaubart im Buch Franza, keine moralischen Instanzen der Nation, sondern eine ausgewählte Gesellschaft von Komödianten, die, wie das Ich, begabt sind, ihr Land zu wählen: „ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, / begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.“ (I, 168) Nur nach dem „Zugrundegehen“ scheint die Wahl des eigenen Umgangs, des eigenen Ortes in der Welt möglich zu werden. So wirft sich Eka
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Kottwitz, eines der Opfer des Todesartenprojekts, aus dem Fenster, doch im Rollstuhl bedauert sie dann diese Tat: „Ich habe einen irrsinnigen Blödsinn gemacht. Ich hätte früher etwas sagen müssen.“ (TKA I, 414) Mit den Freunden reden – auch das kann ein „Zugrundegehen“ sein, ein Verzicht auf die großartige Einsamkeit von Bachmanns früher Identifikationsfigur „Undine“ und auf die leidende Einsamkeit des weiblichen Ich unserer Gedichte. In Bachmanns späterer Prosa wird so – neben der Konstellation „Untergehen-Opfer-Mörder-das Böse“ – eine neue Möglichkeit ersichtlich: Im eigenen „Zugrundegehen“ die Perspektive zu wechseln. Dann weitet sich die Welt und die Komödianten, die lachen und weinen machen, können auftreten.
Camilla Miglio
Ingeborg, Maria, Gaspara. Stimmen eines „bitteren“ Stilnovo Ingeborg, Maria, Camilla Gaspara Miglio
1. Das „Ich“ als Kompositum Rien au monde ne peut nous enlever le pouvoir de dire je. Rien, sauf l’extrême malheur. (Simone Weil, La pesanteur et la grâce)
Ausgehend von einem Gedichtkorpus aus Bachmanns Nachlass, das wir als „Gaspara-Stampa-Zyklus“ bezeichnen möchten, und von einigen poetologischen Entwürfen und Essays, die offensichtlich mit diesen Gedichten zusammenhängen, will dieser Beitrag die strukturelle und thematische Funktion bestimmter Frauengestalten untersuchen, die die Signatur des weiblichen Gesangs tragen und den disiecta membra des Korpus ein Gefüge geben. Sie zeigen sich einerseits als Stimmenkombination im Gedicht, andererseits als Zitatmontagen, die ständig auf einen Themenkreis verweisen, ganz im Zeichen eines „bitteren“ stilnovo. Das Zentralthema der ars amandi einer paradigmatischen Künstler(in)figur wird ständig mit den Noten einer mehrfachen ars moriendi wiederholt und variiert. Das schreibende Ich schafft somit ein bewegliches Gebilde, das mittels polyphonischer Reprisen und Variationen eine Dynamik unter changierenden, erinnerten und vergegenwärtigten Teil-Identitäten durchspielt. Der Zitat-Charakter dieser Stimmen erfährt aber eine Temperierung und Umschreibung durch eine neue Kontextualisierung in Bachmanns Texten.1 Die Zitate wirken dabei als Erregungsauslöser, sie 1 Zur Funktion der Stimme(n) als „Platzhalter, d. h. als eine rhetorische Trope des Lesens (wildcard of reading)“ vgl. Harun Maye, Bachmanns Medienpoetik, in: Bachmanns Medien, Vorwerk, hrsg. von Olivers Simons und Elisabeth Wagner, Berlin 2008, 162 –174; hier 169. Zum kritischen, umschreibenden Gebrauch der Zitate am Beispiel des Gedichts Enigma vgl. Hans Höllers Kommentar in: Ingeborg Bach-
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bestehen aus Opern- und Literaturscherben, welche aber dieselbe Konsistenz und Wirkung wie das Erlebte haben.2 Das Besondere an Bachmanns Kompositionsbegriff besteht gerade darin, daß er sowohl der textuellen als auch der musikalischen Arbeit inhärent ist.3 In den „Stampa-Gedichten“ produziert diese Technik eine gleitende Ich-Gestalt, in der autobiographische Züge, Topoi und Sprechweisen der venezianischen Lyrikerin Gaspara Stampa (1523–1554) und Elemente aus der Gestalt der Opernsängerin Maria Callas (1923–1977) durchkomponiert werden. Ein so gestaltetes Kompositionsverfahren zeigt sich in einem Großteil der Nachlass-Gedichte und entfaltet sich in den Prosawerken, in denen das schreibende Ich als Gewebe, als Kompositum aus verschiedenen Ich-Instanzen aufgebaut wird.4 Diesen beiden Figuren gemeinsam ist die Notwendigkeit, das eigene Leben und Leiden auf einer anderen Ebene als der bloß biographischen künstlerisch (schreibend bzw. singend) zu gestalten. Bachmann postuliert
mann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen, a. a. O., 157– 158. Zur textuellen Konstruktion der Musikzitate und ihrer „Temperatur“ in den neuen Bachmannschen Kontexten vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O. 2 „Es gibt für mich keine Zitate, sondern die wenigen Stellen in der Literatur, die mich immer aufgeregt haben, sie sind für mich das Leben. Und es sind keine Sätze, die ich zitiere, weil sie mir so sehr gefallen haben, weil sie schön sind oder weil sie bedeutend sind, sondern weil sie mich wirklich erregt haben. Eben wie Leben“. (GuI, 69) 3 So Bachmann: „[…] dann verwende oder variiere ich einen Ausdruck, gebe ihm einen neuen Stellenwert. Das ist also […] ein Verhältnis zur Vergangenheit, ein Arbeitsverhältnis, das zum Beispiel in der Musik seit jeher vorkommt.“ (GuI, 60) Vgl. dazu Suzanne Greuner, Schmerzton. Musik in der Schreibweise von Ingeborg Bachmann und Anne Duden, Das Argument, Hamburg 1990, 64. Zum Weiterschreiben und Variieren als musikähnliche Schreibtechnik, a. a. O., 70 –71; 75, 79, 89, 95. 4 Zur Verwobenheit der Gedichte aus dem Nachlass mit dem Todesarten-Projekt und Bachmanns Biographie vgl. Isabella Rameder, Ich habe die Gedichte verloren, a. a. O. M. E. sollte allerdings die ästhetische Konsistenz dieser Gedichte hervorgehoben werden, als Suche nach einem neuen Stil jenseits von jedem Biographismus und nicht als „Inspiration[en], […] die die Dichterin festgehalten hat, um sie später in ihre Romane einfließen zu lassen.“ (So Rameder, a. a. O., 56). Interessant in diesem Kontext die Studie von Joachim Eberhardt. Dieser verweist auf die Technik der Kontamination unter weiblichen Figuren, mit besonderem Bezug auf Gaspara Stampa und Eleonora Duse im Malina-Roman (368, 342). Zur Präsenz der Gaspara in Bachmanns Gesamtwerk vgl. Barbara Agnese, ,Qual nova salamandra al mondo‘, a. a. O.
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aber kein Entweder-Oder-Muster. Sie setzt keine (platonische) Gegenüberstellung zwischen Welt und Darstellung, sondern impliziert einen Riss, in dem das schreibende Ich wohnt, das von beiden Bereichen physisch berührt und affiziert wird. So in einem titellosen Gedicht aus dem Nachlass (KBW, 126): Immerzu in den Worten sein, ob man will oder nicht, Immer am Leben sein, voller Worte ums Leben, als wären die Worte am Leben, als wäre das Leben am Wort. So anders ists, glaubt mir. Zwischen ein Wort und ein Ding da dringst du nur selber ein, Die Stellung des Ich zwischen „Wort und Ding“ zeigt eine sehr konkrete, sinnliche Nähe zu Krankheit und Tod: wie bei einem Kranken liegst du bei beiden da keins je ans andre sich drängt du kostest einen Klang und einen Körper, und kostest beide aus. Es schmeckt nach Tod. Diese Todesnähe ist ein immerwährender Zustand. Das lyrische Ich singt und spricht die Stimmen der Toten aus, indem es sie fort- und umschreibt: Doch Tod und Leben, ob es beides gibt, wer weiß, da soviel Totes Fernes, in mir ist mich soviel Totes, mich Tote auch schon eingenommen haben. Die Stimme einer fernen Freundin kann als Fragment neu geschrieben werden, sie kann als „Scherben“ einer zersplitterten Vase dienen, aus der man schöpfen kann – um das schreibende Ich instande zu setzen, sich einem Du mit der Stimme einer Anderen zuzuwenden: eine Freundin, die mich früher kannte, ein Scherben, aus dem ich dir zutrank (KBW, 126)
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2. Stimmenscherben Die Gefühle sind Wandergestalten. Sie ziehen von einer Brust in einen Klang – oder ein Wort oder Bild – und nehmen wieder die erste Gestalt an in einer anderen Brust. (KS, 210)
Dieser Gefühlskern bewegt bei Bachmann die Erkenntnis des Menschlichen (beim Erleben der Callas als Violetta auf der Opernbühne) und des Künstlerischen (beim Hören der Callas als Tosca5 – wahrscheinlich von einer Schallplatte). Beim „Lesen“ der Gedichte von Gaspara Stampa sind beide Aspekte vorhanden. Eine geheime Spur verbindet Gaspara Stampa und Maria Callas: Eleonora Duse, die in Bachmanns Vorstellung als vorausdeutende Gestalt der Callas gilt. Ihr Lebensmotto6 war gerade der von Bachmann zitierte Vers aus Gasparas Rime: „vivere ardendo e non sentire il male“.7 Duse und Callas teilen auch ein gemeinsames Schicksal in der Legende um ihre Partnerschaften, in denen sie die Opferrolle übernahmen.8 Die Rolle des Opfers bekleiden auch, mit verschiedenen Variationen des Schmerzes in der Liebe und an der Liebe, im Tod und am Tod, Violetta, Tosca und Leonora auf der Opernbühne – ihnen hat Callas eine ungeheure Wirkungskraft verliehen, die Bachmann poetisch und poetologisch zu gestalten versucht hat. Die Gaspara Stampa-Legende verkörperte, auch in der Überlieferung von ihren Zeitgenossen bis zur 1913 erschienenen Laterza-Ausgabe9, die 5 Tosca. Melodramma in tre atti. Testi di Victorien Sardou, Luigi Illica e Giuseppe Giacosa; musiche di Giacomo Puccini (UA: Rom, 14. 1. 1900). 6 Zit. nach: Edith Bauer, Drei Mordgeschichten: Intertextuelle Referenzen in Ingeborg Bachmanns „Malina“, Frankfurt /Main u. a. 1998, 163; dazu Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 368–369. 7 Gaspara Stampa, Rime, a. a. O, 213. [Abk. GS]. 8 Zur Opferrolle der Duse gegenüber D’Annunzio und zu möglichen Parallelen zur Bachmann-Frisch-Konstellation vgl. Edith Bauer, Drei Mordgeschichten, a. a. O. 9 Vgl. Gaspara Stampa/Veronica Franco, Rime, a cura di Abdelkader Salza, Bari 1913, wo beide Dichterinnen als Kurtisanen beschrieben werden; Eugenio Donadoni widmete der Dichterin eine Monographie, ohne die zwei Ebenen des erlebten und erdichteten Lebens zu trennen (siehe Eugenio Donadoni, Gaspara Stampa, Messina 1919, 41). Benedetto Croce hat als Erster die Legende durchbrochen und
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Schablone der unglücklichen, misshandelten, aber mutigen Liebenden. Der Legende nach nahm sie sich in Venedig durch einen Sprung in einen Kanal das Leben, aber die Philologie weiß schon längst, dass sie an Fieber in ihrem Bett starb. Sie war Künstlerin, Dichterin, aber auch begabte und faszinierende Sängerin und Musikerin. Sie bezauberte die venezianische Gesellschaft, indem sie die Rime des Petrarca sowie die eigenen, von einer Laute begleitet, vortrug. Gaspara deutete sich selbst als Mensch und als Künstlerin, immer im Begriff, in den Tod zu gehen, immer von Liebe am Leben gehalten, Salamander und Phönix zugleich, auf der Bühne eines „stile“, in dem ganz innovativ Sappho und Petrarca zusammenkamen. „Arsi, piansi, cantai; piango, ardo e canto; / piangerò, arderò, canterò sempre.“ So Gaspara im Sonett XXVI ihrer Rime: Ihre Kunst, die auch als ihr Leben dargestellt wird, ist ein ewiges Glühen, Weinen, Singen mittels des „Verstandes“, der „Augen und des Herzens“, „des Feuers und der Tränen“ (so Gasparas Sonett), denen nur der Tod oder das Geschick ein Ende setzen können. Ihre Kunst vermag Natürlichkeit und Gefühl, Präzision und Verstand in eins zu bringen. In Bachmanns „Stampa-Zyklus“ zeigt sich die Wirkung einer Stilisierung (Stampa, aber auch Petrarca und Sappho; indirekt auch Rilke, der Gaspara im Malte und in der I. Elegie zitiert)10: In den fortgeschriebenen Motiven kehrt die Form eines Zeit- und Lebensgefühls der Liebe und der Not wieder, wo sich Leid in stile (GS, 25) verwandelt. Von Gaspara übernimmt Bachmann zunächst die Themenkomplexe der Verlassenheit, des künstlerisch vollzogenen Todes, des Hasses und der Hingabe, der Suche nach dem Du mittels des Gesangs und der Poesie. Von ihr übernimmt Bachmann auch die formelhaften Wendungen, deren poetische Konvention das eigene erlebte Leiden durchscheinen lässt. Der Kanon wird durch ein existentielles Gefühl gesprengt, in demselben Moment, in dem er herbeizitiert wird. Maria Callas besitzt für Bachmann eine Zeichenhaftigkeit, die der Gaspara analog ist; Callas teilt durch die jeweiligen Rollen auch wieder-
darauf hingewiesen, ihrer Kunst statt ihrer Biographie Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. B. C., Poesia popolare e poesia d’arte, Bari 1919, 366 – 375). In diesem Sinne hat Maria Bellonci die neue Ausgabe der Rime bei Rizzoli 1954 herausgegeben. Die Gender-Forschung in den USA hat der Gestalt von Gaspara im Kontext der Frauenliteratur eine gewichtige Rolle zugeteilt. Vgl. z. B. Lawrence Lipking, Abandoned Women and Poetic Tradition, Chicago 1988. 10 Vgl. Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, a. a. O., VI, 833; I, 686.
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holte Spiegelungen von sich selbst mit, gerade wie es die Gaspara der Rime tut, die verschiedene Modulationen ihrer Künstlerin-Existenz und Liebesthematik darstellen; allerdings ist die Callas-Figur dadurch verstärkt, dass sie unmittelbar in ihrer Körperlichkeit zu vernehmen ist. Für beide gelten folgende Sätze aus dem zweiten Callas-Entwurf11: Sie wird nie vergessen machen, dass es Ich und Du gibt, dass es Schmerz gibt, Freude, sie ist groß im Haß, in der Liebe, in der Zartheit, in der Brutalität, sie ist groß in jedem Ausdruck […]. (KS, 410) Callas beleuchtet einen Aspekt der Poetologie des Südens bei Bachmann. Obwohl sie in New York geboren und griechischer Herkunft, ist sie Bestandteil des Bachmannschen Italien-Erlebnisses. Sie war der erste Impuls ihres „besessene[n] Interesse[s]“ für die Oper12, Lieblingsinterpretin von Visconti und Zeffirelli als Violetta, Tosca, Norma, aber auch von Pasolini als Medea. Der Gesang ist außerdem ein Terrain, auf dem Bachmann und Henze ästhetisch einander trafen.13 Für Bachmann ebenso wie schon für Henze wird die Kraft von Schauritualen und Urkräften im Gesang (Litanei, Lied oder Oper) reaktiviert, die von der Zivilisation verhindert oder verdrängt wurden. Der Callas hatte 1959 der Gesanghistoriker Teodoro Celli einen Aufsatz unter dem Titel Una voce venuta da un altro secolo gewidmet, den Bachmann gelesen haben soll.14 In diesem Aufsatz argumentiert Celli zugunsten der Breite des Stimmspektrums der Sängerin, die in ihr die Tradition des Belcanto wieder auferstehen lässt. Dieselbe bildliche Bewegung und Assoziation kann sich bei Bachmann mit Bezug auf Gaspara reak11 Corina Caduff, „dadim-dadam“ – Figuren der Musik in der Literatur Ingeborg Bachmanns, Köln 1998, 106–111, zeigt die Unterschiede zwischen den zwei Entwürfen auf: Der erste trägt eine subjektivierende, der zweite eine objektivierende Marke, „zugunsten dessen, was die Callas als Künstlerin präfiguriert“. 12 In den Notizen zum Libretto. Der junge Lord gibt Bachmann zu, dass ihr „besessenes Interesse für diese Kunstform“ (KS, 420) erst nach dem Callas-Erlebnis wirkte. 13 Vgl. Camilla Miglio, Gedächtnis, Schrift, „Musica impura“. Ingeborg Bachmanns Lieder von einer Insel, in: „arcadia“. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 42 (2007), H. 2, 352–374. 14 Vgl. Corina Caduff, „dadim-dadam“, a. a. O., 112 –113. Eine ähnliche Formulierung kommt im „Traumkapitel“ von Malina vor: „Sie ist viel älter als meine Schwester, sie muss in einer anderen Zeit gelebt haben.“ (III, 213) Dazu Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 342–343.
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tiviert haben: Die Stimme von Gaspara lebt durch den „Callas-Ruck“ in der Schrift von Bachmann wieder in einer neuen „voce da un altro secolo“ auf. Callas tritt sehr differenziert in verschiedenen kritischen und poetischen Werken von Bachmann auf: Einmal als Eigenname und Person, einmal als Stimme der Violetta aus der Traviata oder der Tosca aus der gleichnamigen Oper. Es handelt sich dabei um Frauengestalten, die Callas mittels ihrer eigenen Stimme als Erscheinungen ins Leben ruft, die aber andererseits für die künstlerische Existenz der Sängerin konstitutiv sind. Einmal taucht sie auch als Stimme der Leonora aus dem Trovatore auf. Der Moment, in dem Bachmann als schauendes und hörendes Ich die Callas als „Traviata“ erlebt, beschwört die Gegenwärtigkeit eines Menschen, der fähig ist, über den Tod hinaus zu singen: VIOLETTA Cessarono Gli spasmi del dolore. In me rinasce m’agita Insolito vigore! Ah! io ritorno a vivere (trasalendo) Oh gioia! (Ricade sul canapé.)15 Die Sängerin allerdings spielt nicht, sie ist „die neue“ Violetta: sie haucht einer Kunstfigur neues Leben ein; sie aktiviert das Gedächtnis im Zuschauer, im Hörer: „Violetta, von der ich alles vergessen hatte“. (KS, 408) Wenn Bachmann die Callas als Tosca erlebt, besteht die Erkenntnis in der „Präsenz“ des Künstlerischen.16 Tosca ist die Bühnenfigur einer Künstlerin von großem Charisma; als kühne Liebende ist sie fähig, aus Liebe alles über Bord zu werfen und anderen und sich selbst den Tod zu geben. In ihrer Geschichte wird Gewalt nicht von dem Geliebten auf die liebende Frau, sondern von der Macht des bösen lüsternen Scarpia, d. h. des politischen Systems ausgeübt, das sie immerhin anzugreifen vermag, indem sie Scarpia umbringt. 15 La Traviata. Opera in tre atti, Libretto di Francesco Maria Piave, Musica di Giuseppe Verdi (UA: Venedig, La Fenice, 6. 3. 1853). 16 Gerade die Kunstfertigkeit und die Freude an der Genauigkeit ermöglichen die Einfühlung und den „Ruck“ im Publikum.
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Und später, als ich sie die Tosca singen hörte, das triumphierende „Ecco, un artista!“ mit einer rasenden Stimme, die auf das zurast, was sie selbst war, weil sie wusste, was das war, hätte ich damals denken können: Ecco, un artista. (KS, 409) „Hätte ich damals denken können“: Das Ich identifiziert sich mit dem Gedanken der Bühnenfigur; sie denkt von Tosca gerade das, was Tosca von Mario gedacht hatte. Wie die Figur von Tosca erscheint das Ich im Text sich selbst als Künstlerin, die auf eine Kunst reagiert, die sich als „Todesart“ erweist. „Ecco un artista“, der triumphierende Ausruf ist nur ein Präludium zur tiefsten Verzweiflung. Mario seinerseits wollte eigentlich wie ein Künstler bzw. wie eine Künstlerin, „come la Tosca a teatro“17, fallen. Aber keine Fiktion und keine Kunst, sondern der Tod wird auf ihn unerwarteterweise zukommen. Der Zauber der Callas liegt für Bachmann nicht nur in ihrer Stimme, sondern auch in ihrer Kreatürlichkeit, die erst in der Gegenwart ihrer Kunst zwischen Hoffnung und Verzweiflung wirksam und wahrnehmbar wird: „Sie ist die einzige Kreatur, die je eine Opernbühne betreten hat“. (KS, 409) Bachmann, Leserin von Ungaretti und Celan, ist mit dem Wort ,Kreatur‘ wohl vertraut. Wichtig ist „[i]hr Atemholen“, „die Art, ein Wort auszusprechen“.18 Und weiter: Sie war immer die Kunst, ach die Kunst, sie war immer ein Mensch, immer die Ärmste, die Heimgesuchteste, die Traviata. (KS, 410)19 Diese physisch-technische Bühnenpräsenz der Callas erlaubt Bachmann, eine weitere Gestalt ins Spiel zu rufen: Eleonora Duse. (KS, 410) Daran wird noch ein Malina-Kapitel anknüpfen, wo eine Schwestern-Konstel17 So Cavaradossi an Tosca im III. Akt. 18 Ebenda; vgl. auch KS, 408: „[U]nd ich hörte und sah vor mich hin, bis zu dem Augenblick, als eine Bewegung, eine Stimme, ein Wesen, alles zugleich, diesen Ruck in mir zustandekommen ließ, den ein physischer Zusammenstoß oder vehementes Begreifen, ein geistiger Vollzug, plötzlich auslösen können. Ein Geschöpf war auf dieser Bühne, ein Mensch.“ 19 Zu erkennen sind in diesem Satz ein Wittgensteinscher Gedanke über das ,zeigen‘ eher als ,bedeuten‘ (vgl. KS, 61) und der Celansche Duktus aus der MeridianRede: „Ach, die Kunst!“, wo das Büchner-Zitat auf dieselbe Kunst-und-KreaturProblematik anspielt (P. C., Gesammelte Werke, a. a. O., III, 191.) Auch die „Heimsuchung“ konnotiert in der ersten Frankfurter Vorlesung die „revolutionäre[n] Stöße der Künstler“. (KS, 261)
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lation wieder aufscheint: immer noch Stampa, und Duse als Name der Schwester im Traum: Eleonore. (III, 213–214) Caduff hat zusätzlich bemerkt, dass eine bedeutende Kontinuität zwischen dieser Callas-Konfiguration und dem „Projekt einer Bühnen-Kunstfigur mit Analogien zur Callas-Darstellung“ auch in den Entwürfen zum Goldmann/RottwitzRoman20 besteht. Es bestätigt sich daher auch im Fall des Nachlasses die „Kontinuität der Gedichtbände und des Romanprojekts“.21 Alle partizipieren an einem Figurationsprojekt der weiblichen Künstlerexistenz, die das Stigma des Untergangs, ja sogar der Hinrichtung trägt: gerade das Tosca-Zitat „Ecco un artista“ ist die Todesmarke dafür.22
3. Wirkung auf Liebende Il n’y a qu’un faute: ne pas avoir la capacité de se nourrir de lumière. (Simone Weil, La pesanteur et la grâce)
So Bachmann in der ersten Frankfurter Vorlesung: „Mit einer neuen Sprache wird der Wirklichkeit immer dort begegnet, wo ein moralischer, erkenntnishafter Ruck geschieht“. (KS, 263) Der „Ruck“ entspringt Augenblicken von Epiphanien, die auch die Sinne (Sehkraft und Gehör) miteinbeziehen. Anders aber als bei der para-mystischen Erfahrung der Epiphanie im Modernismus bewirken diese bei Bachmann keine Aufhebung des vernünftigen Urteils, im Gegenteil: Sie verstärken es, durchziehen es wie Adern (Callas ist „jemand, der durch sein Vorhandensein Vernunft und Gefühl schärfte“; „Und das schärfte meinen Kopf und rief alle Geister in mir wach“; KS, 408–409). Gerade die Plötzlichkeit des Seh- und Hörerlebnisses der singenden Callas provoziert den „Ur-Ruck“ in der schauenden und hörenden Bachmann während der Generalprobe der Traviata unter der Regie von Visconti am 24. Januar 1956. Die Sing-
20 Corina Caduff, „dadim-dadam“, a. a. O.,115. 21 Vgl. Dirk Göttsche, Späte Gedichte, in: Bachmann-Handbuch, a. a. O., 78 – 82; hier 80. 22 Zu Callas als Figur der Künstlerinexistenz und zur Schauspielerin Maria Malina im Goldmann/Rottwitz-Roman vgl. Corina Caduff, „dadim-dadam“, a. a. O., 1 1 4 –115. Zum poetologischen Gehalt der Seh- und Hör-Erlebnisse bei Bachmann vgl. ebenda, 93 – 95, wo die Verfasserin auf Die wunderliche Musik (KS, 201– 215) und auf Was ich in Rom sah und hörte (KS, 145–154) verweist.
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stimme wirkt als „Identifikations-und Reflexionsmedium des weiblichen Ich“.23 Das Ich, das imstande ist, auf sie zu reagieren und zu „weinen“, erweist sich als ein liebesfähiges Wesen. Sie hat immer direkt getroffen, auf den Umwegen über Libretti, über Figuren, zu denen man Liebe haben muß, um sie akzeptieren zu können. (KS, 410–411) Die Liebenden seien diejenigen, die auf das Märchen – noch hier und heute – warten und sich daran erinnern. So auch das schreibende Ich im Essay, das mit Nachdruck die Tränen, also die Erregung erwähnt: Sie war, wenn Sie sich an das Märchen erinnern, die natürliche Nachtigall dieser Jahre, dieses Jahrhunderts, und die Tränen, die ich geweint habe – ich brauche mich ihrer nicht zu schämen. (KS, 410) Ein „Name“ verweist auf einen anderen. Callas verweist auf die Nachtigall24, oder besser: Sie ist die Nachtigall. Die Nachtigall, in Henzes Worten, war sogar Bachmann selber.25 Sie ist die Kunst, die ihren Triumph über die Zeit erreicht. Sie ist in sich und außer sich, beides zugleich. Sie hat die Macht, im Gedächtnis des Publikums sogar viele Vergangenheitsebenen wiederzuerwecken.
23 Vgl. Dirk Göttsche, Bachmann und die Musik, in: Bachmann-Handbuch, a. a. O., 297– 308; hier 304. 24 So Bachmann in einem Brief an Oswald Döpke aus Ischia im August 1956: „,Oh Freude‘: habe ich nichts Beethovensches gedacht … sondern an die Traviata, den letzten Akt, das letzte Wort, denn sie singt, eh sie stirbt, ,O gioia!‘ –“ (zit. nach: KS, 570). Die Anspielung auf Andersens Märchen befindet sich in Die wunderliche Musik (KS, 214 – 215). 25 Vgl. den Brief von Henze an Bachmann vom 6. November 1958: „mein vögelchen mein goldenes auf dem zweig“ (Ingeborg Bachmann/Hans Werner Henze, Herzzeit, a. a. O., 210) und Höllers Anm. dazu. Bachmann und Henze, durch die Callas inspiriert, planten eine Oper mit dem Titel Belinda über den Konflikt zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit im Musikbetrieb. Henze hat auch die Musik für eine Bühnenfassung des Märchens verfasst (KS, 610); Hans Werner Henze, Des Kaisers Nachtigall. Ballettpantomime von Giulio di Majo / frei nach Hans Chr. Andersen (1959), Studienpartitur Schott – UA La Fenice, Venezia, Biennale 1959. (Vgl. auch: KS, 417.)
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Sie war der Hebel, der eine Welt umgedreht hat, zu dem Hörenden, man konnte plötzlich durchhören, durch Jahrhunderte, sie war das letzte Märchen. […] – wann hat sie gelebt, wann wird sie sterben? (KS, 411) Wirken heißt bei Bachmann (wie die Nachtigall vor dem sterbenden Kaiser des Märchens von Andersen und wie Callas auf der Bühne vor dem Publikum) für das fühlende, bzw. liebende und schreibende Ich konstitutiv zu sein.26 Hier lassen sich Züge einer Ästhetik erkennen, die sich als „bitterer“ Stilnovo bezeichnen ließen. Gaspara und Maria, Violetta und Tosca, Eleonore und Leonora könnten zu den „unausweichlichen Namen“ hinzugefügt werden, von denen in der dritten Frankfurter Vorlesung die Rede ist: Ja, was sind uns Lulu und Julien Sorel, was Manon und der Knabe Elis? Sind sie nur Stellvertretungen oder Anspielungen? So wie einer anspielt auf Hekuba und Hekuba wiederum anspielt auf ein Drittes. Sind sie Platzhalter? Oder noch etwas mehr? (KS, 314) Cristina Campo, eine italienische Autorin, die wohl zu dieser Konstellation gehören könnte, würde diese Namen in der Reihe der „Imperdonabili“ („Unverzeihbaren“) aufzählen.27 In ihnen hat Bachmann auch einige „unverzeihbare“ Aspekte ihrer eigenen Biographie mitverwoben. Die Um- und Neuschreibung der Lebensdaten verwandelt sie in unausweichliche Figuren und Motive eines neuen dichterischen ,Gewebes‘. In einem in mehreren Fassungen überlieferten Fragment, Das Gedicht an den Leser (KS, 242 –245), schenkt Bachmann dem Gedicht eine eigene Stimme, die sich in Form eines Liebesdiskurses an den Leser wendet. Es geht um eine Liebesart, die nicht tröstet. Die Gewebe-Metapher wird hier konkret: Ich bin ein Gespinst aus vielen Stoffen, aber meinen Stoff mußt du tragen […]. Deine Nacktheit, und ist es nicht dies!, habe ich nie bedeckt, aber ich bin in deinen Sinnen und in deinem Geist aufgesprungen, wie die Goldadern in der Erde, und ich will dich durch-
26 Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 235. 27 Vgl. Cristina Campo, Gli Imperdonabili, Milano 1987; zur Zusammengehörigkeit von diesen Autorinnen vgl. Laura Boella, Le Imperdonabili. Hetty Hillesum, Cristina Campo, Ingeborg Bachmann, Marina Cvetaeva, Mantova 2000.
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schimmern und durchleuchten, wenn du schwarz wirst und deine Sterblichkeit die alte Krankheit ausbricht, die man den Brand nennt. (KS, 244 – 245) Das Gespinst ist keine äußerliche Decke des Trostes, sondern das innere Licht, das im Medium der Poesie auch im tiefsten Leiden durch den Geist und die Sinne des leidenden Menschen hindurch schimmert.
4. Der „Gaspara-Stampa-Zyklus“ Mécanique humaine. Quiconque souffre cherche à communiquer sa souffrance – soit en maltraitant, soit en provoquant la pitié – […]. Celui qui est tout en bas, […] qui n’a le pouvoir de maltraiter personne […], sa souffrance reste en lui et l’empoisonne. (Simone Weil, La pesanteur et la grâce)
Zurück zum Stampa-Zyklus. Titel und Motto des Gedichts Alla più umile, alla più umana, alla più sofferente (KBW, 116–117) fädeln ein komplexes Gespinst in den Text hinein, das die Gestalten von Callas, Stampa und sogar Duse eng zusammenführt. Der Titel steht im Duktus dem ViolettaZitat des Callas-Entwurfes nahe: „[…] ein Mensch, […] die Ärmste, die Heimgesuchteste, die Traviata“ (KS, 410) schreibt sich um und überträgt sich auf den italienischen Titel. Das Motto zitiert an exponierter Stelle die Zeile aus dem Stampa-Sonett CCVIII („vivere ardendo e non sentire il male“), die sich als Leitmotiv durch Bachmanns Werk zieht. Bachmann muss sich in die Neigung zum „vivere in foco“ sofort eingefühlt haben; für ihre Gedichte und Prosawerke ist die Feuerthematik grundlegend; auch der Salamander taucht in ihren Versen auf.28 Aber das zitierte Motto, schon Teil des fiktionalen Diskurses D’Annunzios (Il Fuoco)29 und der existentiellen Konstellationen der Eleonora Duse (als ihr Lebensmotto), gewinnt an Bedeutung, wenn wir es im Ausgangstext der Gaspara Stampa zurückverfolgen. Hier das Sonett CCVIII der Rime: 28 Siehe das Gedicht Erklär mir, Liebe: „Ich seh den Salamander / durch jedes Feuer gehen. / Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.“ (I, 110). Dazu Barbara Agnese, ,Qual nova salamandra al mondo‘, a. a. O.; Rita Svandrlik, Ingeborg Bachmann. I sentieri della scrittura, a. a. O., 78–79. 29 Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 368 – 369; Edith Bauer, Drei Mordgeschichten, a. a. O., 163.
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Amor m’ha fatto tal ch’io vivo in foco, qual nova salamandra al mondo, e quale l’altro di lei non men stranio animale, che vive e spira nel medesmo loco. Le mie delizie son tutte e ’l mio gioco viver ardendo e non sentire il male, e non curar ch’ei che m’induce a tale abbia di me pietà molto né poco. A pena era anche estinto il primo ardore, che accese l’altro Amore, a quel ch’io sento fin qui per prova, più vivo e maggiore. Ed io d’arder amando non mi pento, pur che chi m’ha di novo tolto il core resti de l’arder mio pago e contento. „Delizie e gioco“: Man kann glühend leben, aber zu dieser Lebensart gehört auch die Erkenntnis der Rollenspiele: diejenige des brennenden, sehnenden, liebenden schreibenden Ich, und die des gleichgültigen Adressaten. Das Ich leidet nicht mehr darunter („e non curar ch’ei […] abbia di me pietà molto né poco“); in diesem Sinne vertritt dieses Sonett mit wenigen anderen eine Ausnahme im Rahmen der Rime, deren Grundhaltung die verzweifelte Erwartung einer nicht erwiderten Liebe ist. Die brennende Sehnsucht sucht und findet in diesem Gedicht ein neues Liebesobjekt. Dieses Sonett markiert nämlich den Übergang von der alten, paradigmatischen unglücklichen Liebe für den Grafen Collalto Collaltino zur glücklichen Liebe zum Grafen Zen. Im Gegensatz zu den meisten lyrischen Kompositionen von Gaspara preist dieses Gedicht die glühende und siegende Macht der Liebe im schreibenden Ich, die stärker ist als die Gleichgültigkeit des ersten Liebhabers und des Todes selbst. In diesem Sinne findet das lyrische Ich ein Pendant in dem Salamander oder im „altro animal“, womit der Phönix gemeint ist. Es kann für und durch die neue Liebe zum neuen Leben kommen. Mit dieser aktiven, aggressiven Gaspara, mit ihrer Liebeskraft und Kunst bewaffnet, verschwistert sich nun im Bachmannschen Gedicht die zürnende Tosca.30 „Die Richtung“ des Gedichts orientiert sich 30 In diesem Sinne widerspricht sie de facto der Äußerung von Bachmann (GuI, 109 –110), woraus Eberhardt erschließt, dass Bachmann Stampa in „den Reigen der Ermordeten“ einreihe. Das ist nur ein Teil der Gaspara-Figuration, der in Dissonanz mit diesem anderen Teil in der literarischen, kontaminierten Darstellung eingefügt wird. Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 343.
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zwar an Gasparas Sonett. Allmählich bewegt es sich aber hin zur ToscaGestalt, um am Schluss mit der Stimme des para-biographischen Ich im Duett mitzusingen. So das Incipit des Gedichts: Meine Schwester soll mir weiterhelfen. meine Schwester ist nicht weit von hier. Nur viel Zeiten ferner und so nah bei mir. Nur viel länger tot als ich. (KBW, 116) „Meine Schwester“: Die erste Identifikationsebene trifft Gaspara Stampa. Es lohnt sich daran zu erinnern, daß auch Gaspara von der eigenen Schwester, Cassandra, „geholfen“ wurde. Die Publikation ihrer Rime ist nur Cassandra zu verdanken. Es gehört übrigens auch zur poetischen „sapphischen“ Konvention der Gaspara, sich an die Freundinnen zu wenden.31 Die Schwester, ein geistes- oder schicksalsverwandtes Subjekt, ist weit weg in der Zeit entfernt, eine „voce da un altro secolo“. Dies kann für Gaspara Stampa wie für Maria Callas gelten, obwohl sie vier Jahrhunderte auseinanderliegen. Der letzte Vers der Strophe sagt uns noch etwas: Das lyrische Ich ist ein totes, wie dasjenige der Schwester: „Nur viel länger tot als ich“. Für beide Gesprächspartnerinnen gilt also eine posthume Perspektive; beide sind zwar tot, aber lebendig in den Wörtern, die sie im Text reaktivieren. Die außergeschichtliche Zeitstruktur ist durch eine musikalische, anaphorische Syntax und Reimstruktur markiert. Die zweite Strophe (ein Dreizeiler) zeigt einen dynamischeren Charakter; sie entspricht der zentralen Stellung des Ich, das von dem Dialog zwischen den zwei Gesprächspartnerinnen berichtet. Auch dieser Bericht zeigt eine iterative, wiederholende Gangart. Zu ihr sprech ich seit fast tausend Tagen, und sie sagt mir, dass ein Ende wird lass mich schlafen, nie erwachen (KBW, 116) Das Präsens markiert keine punktuelle Aktion; es geht um ein Gespräch, das schon seit fast „tausend Tagen“ geführt wird (etwa drei Jahre).32 Auch 31 GS, 135, Son. LXXXVI,: „Piangete donne“. 32 Sind hier die drei Jahre seit der Trennung von Max Frisch, also seit 1962 gemeint? Hier könnte man einen biographischen Splitter erkennen, also eine Stimme, die von der erlebten Geschichte in den Text hineinspricht; bei Gaspara ist ebenfalls die Wendung zu finden, die die Jahre nach der Trennung aufzählt.
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die Antwort fasst viele andere Antworten zusammen und bestärkt das Wissen vom Ende des Leidens. Es kommt von ferne die Erinnerung an die Märchenwelt des Schneewittchens oder des schlafenden Dornröschens: „Lass mich schlafen“. In der dritten, auch dreizeiligen Strophe, spricht das lyrische Ich, es lasse sich von der „Schwester“ vertreten, sie soll als sein „Platzhalter“ in der Welt leben und leiden, während es in der darauffolgenden Einzelzeile den schweren Morphium-Schlaf, also die Abwesenheit des Bewusstseins, vertrete: „Ich vertrete nur den Schlaf, den langen“. (KBW, 116) Sich dem Leben zu entziehen ist aber keine wirkliche und wirkende Gnade. Die formelhafte Stimme des Leidens, moduliert nach dem Muster von Gaspara, kehrt in der vierten, fünfzeiligen Strophe wieder. Auch die Wiederholungen kehren wieder, und sogar der Satz „das Böse nicht fühlen“, der das Hemistichion „non sentire il male“ umschreibt. In den ersten Hemistichien der ersten drei Verse hört man die Stimme des Ich, in den zweiten die Stimme der Gaspara-gestaltigen Schwester durch. In den letzten zwei Versen sprechen die Stimmen aufeinander, wie im Duett der Oper; die Stimmen und die Perspektiven überlappen und kreuzen sich.33 Im Text (KBW, 116) resultiert ein Chiasmus: Stimme des Ich
Stimme der Schwester
Die Gnade Morphium, die Gnade schmerzt [–], die Gnade Delirium,
aber nicht die Gnade eines Briefs aber nicht die Hand, aber nicht die Rückkehr
Stimme der Schwester
Stimme des Ich
um das Böse gutzumachen, um das Böse nicht mehr zu fühlen,
bedarf es bloß eines Worts, bedarf es des Tods.
Das para-biographische Ich wird durch die Schlüsselwörter ,Morphium‘, ,Schmerz‘, ,Delirium‘ konnotiert, nach der Mittelzäsur des Kommas wiederholt sich die adversative Konjunktion ,aber‘; die Gaspara-Stimme antwortet, als Antiphona, durch die exponierten Worte ,Brief‘, ,Hand‘, ,Rückkehr‘, die dem Wortschatz der Rime entnommen sind. Es kommt keine Antwort, keine Reaktion, nicht einmal „die Gnade eines Briefs“. So schon 33 Vgl. KS, 413: „[…] Gleichzeitigkeit von Texten, die Möglichkeit vom Duett bis zum Ensemble die Personen nicht hinterein-, sondern übereinander zu legen […] sich ,ins Wort‘ fallen […]“.
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Gaspara in den ersten Zeilen der Zueignung ihrer Rime: „né anco cortese di scrivermi una parola […].“ (GS, 79)34 In der coda geschieht eine Bedeutungsverschiebung dem italienischen Motto gegenüber. „Il male“ wird als „das Böse“ gedeutet, wobei im Text von Gaspara Stampa eigentlich der Schmerz gemeint ist. Der Vers wird auf eine universelle, existentielle Ebene projiziert. Der Gaspara des Sonetts war es gelungen, den Schmerz durch eine neue Liebe wieder „gutzumachen“ und „nicht mehr [zu] fühlen“. Dem Ich im Bachmannschen Gedicht steht eine schwierigere Aufgabe gegenüber, nicht den Liebesschmerz, sondern das Böse aufzuheben. Ihm bleibt, in dieser Umkehrung, nur die Möglichkeit, „Wort[s]“ und „Tod[s]“ reimen zu lassen, also im Gesang zu verschwistern. An dieser Stelle des Gedichts, in der neuen Einzelzeile, findet eine Zäsur statt, in der auch die Stimme der Schwester verschwindet: „Meine Schwester hat mich auch verlassen.“ (KBW, 116) Angesichts des Todes und des Schweigens lebt aber das schreibende Ich immer noch, weil es noch gefühlsfähig ist. In der fünften Strophe schläft das Ich nicht mehr. Es fühlt, indem es hassen kann. Hier ereignet sich wieder eine Umkehrung der Poetik von Gaspara, wie z. B. im VIII. Sonett der Rime35, wo „pena e penna“, Leid und Feder, Schmerz und Schreibkunst einander entzünden („focile“ reimt sich mit „simile“). Bei Bachmann ist das schreibende Ich im Gegenteil über den Schmerz hinaus in einen Hass hinein geraten, der mit dem Leben unversöhnlich ist. Im Bachmannschen Gedicht wirkt dieses Wort wie ein Generalbass am Rande des Wahns: Wenn ich aber fühle und hasse, wenn der Hass mich irrsinnig macht, weil ich so sehr hasse, wenn ich auf ewig hasse, wie soll ich leben. (KBW, 116) Eine weitere Schwestergestalt kommt gleich zuhilfe: Tosca, die liebende und hassende Künstlerin schlechthin, tritt in der sechsten Strophe auf. 34 Interessanterweise kann man dieses Motiv auch außerhalb des Stampa-Zyklus verfolgen, man sieht anhand der Verwendung des wandernden Zitats die ständige Verknüpfung von biographischen Splittern und literarischer Stilisierung. Damit könnte sich eine weitere Studie befassen; hier sei nur als Beispiel an Gedichte wie An jedem Dritten des Monats oder Gloriastraße erinnert. Eine ähnliche motivische Arbeitsweise könnte man auch zum Thema Folter, Martyrium, Wahn erörtern. Das Besondere an diesem Zyklus ist die aktive Wendung der poetischen Geste, die die Gangart des Geistes von Tosca und Gaspara hat. 35 „S’Amor con novo, insolito foc le, / ov’io non potea gir, m’alzò a tal loco, / perché non può non con usato gioco / far la pena e la penna in me sim le?“
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Die Worte der Oper werden, mit den Worten der Poesie verschränkt, zu „Schlüsselwörtern“.36 Bachmann zitiert aus dem Gedächtnis, da Tosca im Text von der Engelsbrücke und nicht von der Engelsburg stürzt. Als sie von der Engelsbrücke gesprungen war, und sie hatte ihm schon verziehen, blieb ihr Schrei stehn. O Scarpia, davanti a Dio. (KS, 116) In dem Melodrama von Puccini werden zwei Männerfiguren gegenübergestellt. Der eine ist der Chef der Geheimpolizei, Scarpia: Wir kennen ihn schon als Verkörperung des Bösen, die deutlich sadistische Eigenschaften trägt; der andere ist der republikanische37 Maler Mario Cavaradossi: ein tugendhafter Künstler, ein liebender, edler Mensch. Die Politik, aber auch das Verlangen nach Tosca stellt die beiden gegeneinander. Die Handlung erreicht ihre Klimax in der Verhaftung und Tortur Marios in Toscas Gegenwart. Tosca kann nicht umhin, das geheime Versteck von Marios Freund zu verraten, da sie die Wirkung der „Ahimé“38-Schreie ihres gefolterten Geliebten nicht aushalten kann. Tosca verhandelt mit Scarpia um „una vita per un istante“ und gibt vor, seiner Lust nachgeben zu wollen. Sie bekommt die Pässe für Mario und für sich und das Versprechen, dass die Hinrichtung Cavaradossis nur eine scheinbare sein werde. Im Moment, wo Scarpia seine sexuellen Ansprüche erhebt, bringt sie ihn mit einem Messer um. Lesen wir im Libretto der Tosca, II. Akt, wo die Sängerin mittels der Regieanweisungen zur Modulation der Stimme als Hassende charakterisiert wird: „gridando“ (schreiend); „con odio“ (mit Hass). Statt eines Kusses bekommt Scarpia einen Messerstich in den Bauch. TOSCA (gridando) Questo è il bacio di Tosca! SCARPIA (con voce strozza) Aiuto! Muoio! (barcollando cerca di aggrapparsi a Tosca, che indietreggia 36 Vgl. KS, 414, wo die Worte der Oper als „Wortmarken“ für die Musik und als „Schlüsselwörter“ bezeichnet werden. 37 Die Geschichte von Tosca findet während der Unruhen in der Römischen Republik um 1800 statt. 38 Vgl. „Ahimé“ als „tragische Wortmarke“ der Oper in KS, 414. Im selben Kontext wird ein weiteres vom gefangenen Cavaradossi gesungenes Tosca-Zitat erwähnt: die berühmte Arie „e lucean le stelle“ aus dem Anfang des III. Aktes.
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terrorizzata) Soccorso! Muoio! TOSCA (con odio, a Scarpia) Ti soffoca il sangue? (Scarpia si dibatte inutilmente e cerca di rialzarsi, aggrappandosi al canapè) E ucciso da una donna! Tosca sucht auch in der Stunde des Hasses und des Mordes, ihre Wirkung auf Scarpia auszuüben und wahrzunehmen. Sie will als Hassende und als für alle physisch und psychisch Gefolterten Gerechtigkeit stiftende Kraft erkannt werden. TOSCA M’hai assai torturata! … Odi tu ancora? Parla! … Guardami! … Son Tosca! … o Scarpia! Scarpias Tod bewirkt eine Veränderung. Tosca tritt aus der Rolle der Rächerin heraus und verzeiht ihm: TOSCA (piegandosi sul viso di Scarpia) Muori dannato! Muori, Muori! (Scarpia rimane rigido) È morto! Or gli perdono! Im III. Akt der Oper geschieht die Katastrophe. Im rasenden Wahn, in dem sie vom Tod ihres Geliebten erfährt, verfolgt von Scarpias Männern, die inzwischen die Leiche des Polizeichefs entdeckt haben, stürzt sich Tosca von der Engelsburg hinunter mit dem Schrei: „Scarpia, avanti a Dio!“ In der sechsten Strophe des Bachmann-Gedichts „singt“ Tosca ihre Schlussszene als leicht verändertes Zitat oder vielmehr als herbeigerufene Schwester-Stimme: „O Scarpia, davanti a Dio!“. Tempus ist in dieser Strophe das Plusquamperfekt. Diese zeitliche Perspektive erlaubt es, den Sprung der Tosca episch zu erleben. Tosca hatte im II. Akt dem bösen Scarpia verziehen; im dritten Akt der Oper wird die Verzeihung widerrufen. Der zornige Schrei überlebt alle anderen Stimmen. Der Leser sieht Tosca nicht mehr, nur der Schrei schwebt noch, als „Platzhalter“ der Künstlerin.
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Ein topographisch verortetes Ich ergreift das Wort in der darauffolgenden siebten Strophe des Gedichts: ein Ich, das in dem Rom spazieren geht, in dem auch die Autorin zuhause war, sah und hörte.39 Sein Gedächtnis rekapituliert die Geschehnisse des II. und des III. Aktes der Tosca, obwohl die Folterungen nach dem Opernlibretto im Palazzo Farnese und nicht auf der Engelsburg stattfinden. Nie habe ich die Burg sehen können, ohne den Schrei zu hören und wahnsinnigen Folterungen, nicht nur dieses einen Mario. (KBW, 116)40 Nochmals kann man solche kleine Abweichungen als Marken der ,anderen Wirklichkeit‘ deuten, die sich zwar der Elemente der Geschichte und der Existenz bedienen, aber ihren eigenen Wert nur als poetische Rekonstruktion haben. Das Seh-Erlebnis der Burg löst ein Hör-Erlebnis aus, das über die Zeit hinausgreift und das Ich zum Schreib-Erlebnis bewegt. Mitleid und Erkenntnis des Schmerzes werden allgemein gültig. Die Frage nach der Gerechtigkeit, „davanti a Dio“, betrifft alle, auch die Mörder, die tatsächlich auch ermordet wurden, in einer chiastischen Oszillation und Verschränkung zwischen Opfern und Tätern. Die Strophe schließt nämlich mit dem Vers: Gerechtigkeit, auch für unsere Mörder. (KBW, 116) Verzeihung und Gerechtigkeit sind wieder nur im Tode, also im nicht-hiesigen Stillstand des „Zu-Grunde-Gehens“, angesiedelt.41 In der letzten Strophe wird die Gestalt des Geliebten einer Zumutung exponiert: In ihm werden Eigenschaften des Scarpia, des Collaltino, also des bösen Täters und nicht des edlen Mario, zusammengewoben. Der 39 Hans Höller spricht von der „Offenheit der Wahrnehmung im Rom-Erlebnis“ und von der „Verbindung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen“ (H. H., Ingeborg Bachmann. Das Werk, a. a. O., 201.) 40 „Dieses einen Mario“ ist offensichtlich Mario Cavaradossi, und nicht „ein gewisser Mario“, wie es bei Rameder (Ich habe die Gedichte verloren, a. a. O., 69) steht. 41 Zum Motiv des „Zugrundegehens“ vgl. Marie Luise Wandruszka, „Ich will zugrunde gehen“ – Metamorphosen einer Maxime, in: Topographien einer Künstlerpersönlichkeit. Neue Annäherungen an das Werk Ingeborg Bachmanns, herausgegeben von Barbara Agnese und Robert Pichl, Würzburg 2009, 101–111. Zum poetologischen, ethischen, politischen Themenkomplex des Mörders vgl. Dies., Ingeborg Bachmann und Hannah Arendt unter Mördern und Irren, a. a. O.
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Sprung von Tosca wird auf die Gedanken des lyrischen Ich projiziert. Die oberste Terrasse der Engelsburg gleitet in das Bild einer römischen Terrassenwohnung hinein. Oft habe ich gedacht, wenn der Hass stärker war und wenn ich springen wollte, von der obersten Terrasse, dich dorthin zu rufen, wo Verzeihung und Gericht sein könnte. (KBW, 117) Die Gefühle, seien sie Liebe, Verlassenheit, Hingabe oder Hass, werden nie unmittelbar ausgedrückt, sondern immer rhetorisch in einer Stimmenkomposition organisiert. Jede Geste, von der Anrufung an die ferne Schwester oder an den fernen Geliebten (bzw. die Vermessung des zeitlichen Abstandes zu ihm) bis zum Schrei und zum Hass, wird immer rhetorisch in ein System von Zitaten eingefügt. Der Rekurs auf Traditionssplitter und auf eine (wenn auch) gesprengte Tradition dient dazu, den unsäglichen Schmerz sagbar und singbar zu machen. Das Motiv des Geliebten als Folterer wird im Gedicht Das Strafgesetzbuch. Gaspara Stampa (KBW, 120 –121) wieder aufgenommen. Dieses Gedicht trägt zwar dasselbe Motto wie das vorige: „Vivere ardendo e non sentire il male“; „il male“ erweist sich aber sofort als Folterungsschmerz, der Menschen und Tiere verbindet: „Der Käfer, aufgespießt, der Schmetterling / ins Album gepresst“. Die Ausgesetztheit der Tiere stiftet die Solidarität des Ich mit ihnen. Keine ihrer Schmerzen kann den Folterer bewegen: Daß keine meiner Schmerzen ihn bewegt, kein Schweiß ihn feuchtet, nicht der Todesschweiß nicht gelbes Fieber, nicht der Scharlachbrand ihn brennt, ihn brennen macht, und keine Litanei, und Rufe, Briefe, Schreie wie nie gewesen sind, was soll noch mehr sein, […] (KBW, 120) In dieser Übertragung des Folterungsdiskurses auf die Tiere bedient sich Bachmann der Formeln und Topoi der Gaspara Stampa. Gaspara stilisiert sich oft zur Gefolterten und Märtyrerin, deren Schmerzen den Geliebten nie bewegen: so zum Beispiel im Sonett VII: „Imagin de la morte e de’ martiri, / […] Una, che, perché pianga, arda e sospiri, / non fa pietoso il suo crudel amante“ (GS, 85) oder noch im Sonett LXXIII, wo der
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Geliebte auch sadistische Züge annimmt: „chi contento i miei tormenti vede“. (GS, 127) Aus dem Motiv der psychischen wie physischen Folterung entwickelt sich Un’altra notte ancora senza vederlo (KBW, 123), wo sogar eine enumeratio von verschiedenen Sorten des Martyriums zu lesen ist. Der Wortschatz gehört wieder der Tradition der Gaspara an.42 Incipit des Gedichts ist die Zeile „Daß keiner meiner Schmerzen ihn bewegt“, die ihrerseits eine Zeile aus dem vorigen Gedicht Das Strafgesetzbuch entwickelt und variiert. Von Gaspara stammt auch das Motiv der verschiedenen Todesarten43, das schon im vorigen Gedicht angedeutet wurde in der Formulierung „Daß keiner dieser Tode […] ihn bewegt“. (KBW, 221, 223)44 Es gibt keinen allgemein gültigen Tod; die Todesarten sind viele und verschiedene. Aber keine bewegt „ihn“: „kein Sammelsurium von Schmerzen, Ersticken, Angst“. (KBW, 123) Ausgehend von den „Folterungen“, die auf den zweiten Akt der Tosca verweisen, erweitert sich das Bild zum Katalog von verschiedenen Martern (Hautabziehen, kochendes Wasser, Erdrosselung), die aber auch eine persönliche Bachmannsche Konstellation entwerfen. Jahre von Haut, mir abgezogen Und ich gesotten, [ge]braten und verbrannt Gefoltert, gemordet, [er]drosselt und erwürgt, es hat ihn nie bewegt, (KBW, 123) Man kann das Martyrium vom gesottenen Vitus erkennen, das Bachmann von Ischia her kannte, sowie von San Lorenzo auf dem Bratgitter, dessen Reliquien in San Lorenzo in Lucina, nicht weit von Bachmanns römischem Wohnsitz aufbewahrt sind. Man kann in der abgezogenen Haut die Figur des Bartholomäus sehen, von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle abgebildet, aber auch Marsia: Apollo zieht dem Sänger Marsia die Haut ab, weil er ihn auf dem Terrain seiner Kunst herausgefordert hatte. Eine Punizione di Marsia von Domenico Rietti da Figline (1547) befindet sich im Appartement Farnese der Engelsburg. Könnte 42 Mit Bezug auf das Stampa-Zitat in Malina verweist Joachim Eberhardt auch auf die portugiesische Nonne Alcofarado, die schon Rilke im Malte neben Gaspara erwähnt (J. E., „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O, 341– 345.) 43 Vgl. GS, 228, Son. CCXXXVII: „perché io / moro più volte, e pur cresce il disìo“. 44 Vgl. ebenda; oder GS, 97, Son. XXVII, und GS, 159, Son. CXXIII.
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sich hier nicht auch eine Anspielung auf die Konkurrenz des schreibenden Partners der Bachmann verbergen? Der Titel dieses Gedichts gehört allerdings zum Callas-Komplex: Es zitiert wortwörtlich die Leonora aus dem Trovatore. LEONORA Un’altra notte ancora Senza vederlo … INES Perigliosa fiamma Tu nutri! … Oh come, dove La primiera favilla In te s’apprese?45 Die Feuermetaphorik steht hier für die Liebe der Leonora zum „Trovatore“. Gerade seine Eigenschaft als Sänger entzündet den ersten Funken in Leonoras Herzen. Das Feuer ist auch Zentralmotiv der Oper, im Thema der Zigeunerin, die den vermeintlichen Bruder des Verlobten von Leonora in die Flammen geworfen haben soll. Im metaphorischen Feld des Feuers verknüpfen sich hier die Konfigurationsbereiche von Callas, Leonora, Eleonora (Duse), Stampa, Sänger und Partner. Ausgehend von einem Vers aus dem Gedicht Alla più umile … – „[…] und sie sagt mir, dass ein Ende wird“ (KBW, 116) – entwickelt sich die Variation Wie lange noch. (KBW, 124) Als Folter bezeichnet wird hier die hoffnungslose Erwartung eines Winkes des entschwindenden Geliebten. Der andauernde Zuruf an den fernen und abwesenden, sich entziehenden Geliebten entwickelt sich zur Liebeswut, ganz nach dem Gaspara-Muster. Auch in dieser ersten Strophe sind zwei Stimmen zu erkennen. Die erste spricht in den ersten Hemistichien und stellt die Fragen des lyrischen Ich nach dem Muster eines Gaspara-Gedichts. Das Motiv vom Ende des Leidens wird hier wiederholt und variiert. Was im Ausgangsgedicht im Vers „und sie sagt mir, dass ein Ende wird“ angesprochen wird, kehrt sich hier ins Negativum um. Die zweite Stimme antwortet jeweils in den zweiten Hemistichien, sie beantwortet die Frage mit einer ständigen Negation, die zur Sprachlosigkeit führt.
45 Callas sang die Rolle der Leonora zum ersten Mal 1953 in der Arena von Verona.
Ingeborg, Maria, Gaspara
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Vivere ardendo e non sentire il male Gaspara Stampa Erste Stimme
Zweite Stimme
Wie lange noch. Warum so lange schon. Wird das nie enden. Es wird nie enden.
Nicht mehr lange. Ich weiß es nicht. Nicht fragen. Wozu fragen.
Eine einzige Stimme formuliert in der zweiten Strophe Mutmaßungen über die neuen Gefährtinnen des Geliebten oder über die Bosheit und mögliche Gewalt anderen Frauen gegenüber, wobei sich eine Solidarität unter Opfern ergibt: Ich spreche immer mit dir, aber nicht mehr freundlich, ich habe zuviele Fragen. Auch über deinen Verbleib. Aber wo warst du in den gemeinsamen Jahren. Mit wem hast du gesprochen, wen gewürgt, wen beansprucht, wen angeschrien. Die dritte Strophe schreibt in Bachmannscher Färbung Gasparas Thema der Liebeshingabe und Selbstopferung um, nach dem der Geliebte trotz seiner Folterungen begehrt wird: Ich habe mich ganz zur Verfügung gestellt, mich oft gefürchtet, aber meine Furcht mit der Liebe ausgetrieben, ich habe mich nicht einmal vor Deinen Händen gefürchtet nur manchmal, und zu spät. Auf der obersten Terrasse gehört offensichtlich auch zum Zyklus. Es entwickelt nämlich das Thema des Terrassensturzes aus Alla più umile … Mit Gasparschem Akzent, nur noch bitterer, entzieht sich das Ich dem Selbstmord. Sarkastisch genug behauptet es, den Geliebten nicht beim Frühstück stören zu wollen: „Einen Leichnam, gleich / nach dem Frühstück, hättest du / schlecht ertragen,“ (KBW, 125)
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Camilla Miglio
5. Die Gnade einer Stimme La création est faite du mouvement descendant de la pesanteur, du mouvement ascendant de la grâce et du mouvement descendant de la grâce à la deuxième puissance. (Simone Weil, La pesanteur et la grâce)
Bachmann versucht, der Erkenntnis des eigenen, verzweifelten Schmerzes eine „Aura“46 zu geben, indem sie sich gegen ihre Zerstörung als Person als schreibendes Ich durchzusetzen vermag. Dazu ruft sie die Stimmen ihrer Schwestern zuhilfe. Die erlebten Begebenheiten, die manchmal noch erkennbare Züge aus ihrer Biographie aufweisen, treten in der Form von „Wandergestalten“ auf: Die „unausweichlichen“ Gaspara, Maria, Eleonora, Violetta, Tosca und Leonora bewegen sich von Text zu Text, zwischen Wort und Welt, wie Musikzitate oder in musikalischer Komposition; sie verursachen einen Ruck, aber auch einen Riss in der Zeitlichkeit. Eine Besonderheit der Stimme der Schwestern in dieser Schaffensphase, die später anders in Malina auftaucht, ist die raue Stimme eines Opfertypus, der imstande ist, zorn- und rachefähig zu reagieren, wie die neuverliebte Gaspara oder die zornige Tosca, die in einem dissonanten Duett auf der Bühne des Gedichts auftreten. Den Text kann man als Opernprobebühne ansehen, wo sich die Stimmen oft übereinander legen, sich „ins Wort fallend“. Sie stammen aus verschiedenen Zeiten, aber konstituieren ein einziges, mobiles Ich-Kompositum. Es kann kein einstimmiges Ich die Erkenntnis des Schmerzes, der Liebe und der Todeserfahrung des Menschen ausdrücken, man braucht eine Solidarität verschiedener Stimmen.47 Alles bleibt Fragment.48 Es geht hier auch um den Versuch, eine neue lyrische Sprache, einen neuen Stil zu finden, der sich aus der Betrachtung der Gemeinsamkeiten
46 Vgl. KS, 312: „[…] [H]at ein Name einmal solche Strahlkraft, so scheint es, dass er sich frei macht und verselbständigt; der Name allein genügt, um in der Welt zu sein“. 47 Als weiteres Beispiel kann die Behandlung des Motivs von Tristan und Isolde in Malina und in einem anderen Gedichtkomplex aus dem Nachlass gelten. 48 „Die Sprache bringt sich laut Bachmann als Sprache zur Sprache im Fragmentarischen der Dichtung, in einer Zeile oder Szene, oder Stelle, aber nie im Ganzen“, so Harun Maye, Stimmen Hören, a. a. O., 170.
Ingeborg, Maria, Gaspara
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zwischen Lyrik und Belcanto entwickelt. In ihrer Unvollkommenheit partizipieren sie beide am Menschsein. Nur die Unvollkommenheit erlaubt einen Riss, einen Schritt, eine Wendung zum Möglichen, weit entfernt von der Perfektion der seriellen Musik oder der experimentellen Poesie.49 Viele von den späten Gedichten setzen ein Gegenüber voraus. Sie tragen Widmungen, sie verstehen sich als „Antworten“, sie komponieren in sich Frage-und-Antwort-Strukturen, die typisch für die Oper sind.50 Der Dialog zwischen Musik und Literatur schafft einen poetischen Raum, in dem das schreibende Ich um ein „neues Leben“ und daher um einen neuen Stil ringt, rund um den Themen-Komplex des Abschieds und des Verlustes.51 Es gibt viele Fragen, „zerstörerisch“, „furchtbar […] in ihrer Einfachheit“ (KS, 255) und nur vorläufige Antworten. Das Gedicht kann nur als Frage- und Antwort-Spiel inszeniert und durchgeführt werden. Seine Aufgabe ist es nicht, einen Augenblick der Wahrheit zu stiften und zu fixieren, sondern nach ihm zu fragen.52 Gnade bedeutet niemals Erlösung, sondern Eröffnung des Raums für „Briefe“ aus der Ferne. Man kann die Stimmen der Schwestern als Gnade ansehen. Mit den Worten von Simone Weil kann sogar ein Sturz, eine dargestellte Bewegung nach unten in den Tod, wie der Sprung von Tosca, dieser Gnade teilhaftig sein: „La grâce, c’est la loi du mouvement descendant“.53
49 Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 237; Corina Caduff stellt Bachmanns Einstellung zur Neuen Musik in Zusammenhang mit Adornos Kritik an der Musik nach 1945 und deren „tödliche[r] Monotonie“ (C. C., „dadim-dadam“, a. a. O., 85–93, besond. 87.) 50 Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 243 – 246. 51 Ebenda; vgl. auch Corina Caduff, „dadim-dadam“, a. a. O., 89. 52 Vgl. Joachim Eberhardt, „Es gibt für mich keine Zitate“, a. a. O., 251; KS, 255. 53 Simone Weil, La pesanteur et la grâce, Paris 1947, zit. nach der zweisprachigen italienischen Ausgabe: L’ombra e la grazia, Milano 2002, 9.
Inge von Weidenbaum
Die „eiskalte Geschichte des Tages“.1 Ingeborg Bachmanns Klage um den Verlust ihrer Gedichte Die „eiskalte Inge Geschichte von Weidenbaum des Tages“
Wir schreiben das Jahr 2009, doch ich darf Sie für einen Augenblick in die Vergangenheit entführen. Dorthin, wo Ingeborg Bachmann als Kronzeugin gegen die Verklärung des Gedichtbandes Ich weiß keine bessere Welt überraschende Argumente zu meinem Plädoyer beitragen wird. Im Januar 1963 erschien in der Münchner Monatszeitschrift Das Schönste ein Interview des Schweizer Schriftstellers Kuno Raeber mit Ingeborg Bachmann. Wir erinnern uns an ihr freimütig klingendes Geständnis darin: „Ich habe aufgehört, Gedichte zu schreiben, als mir der Verdacht kam, ich ,könne‘ jetzt Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu schreiben, ausbliebe. Und es wird eben keine Gedichte mehr geben, eh ich mich nicht überzeuge, dass es wieder Gedichte sein müssen, und nur Gedichte, so neu, dass sie allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen.“ (GuI, 40) Solche Worte hören sich an wie eine von Ingeborg Bachmann souverän vorgebrachte Absage an ihre eigene Virtuosität. Und weil die Dichterin weiß, mit welcher Bravour sie über das Gedichteschreiben gebietet, haben Gedichte zu diesem Zeitpunkt für sie überhaupt keine Bedeutung. Das war im Januar des Jahres 1963. Etwa ein halbes Jahr zuvor, im Spätsommer des Jahres 1962, war Ingeborg Bachmanns Beziehung mit Max Frisch zerbrochen. Von Frisch gibt es dazu den lakonischen Satz „Seine Hörigkeit ist aufgebraucht“.2 1 Friedrich Hölderlin, Brief an Neuffer vom 12. November 1798, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, a. a. O., Bd. 3: Die Briefe. Briefe an Hölderlin. Dokumente, 316. 2 Schon im September 1962 verbrachte Max Frisch mit seiner neuen Gefährtin und späteren Ehefrau Marianne Oellers Ferien in Sperlonga. Siehe Max Frisch, Montauk, Frankfurt/Main 1975, 102. Max Frisch spricht von sich in der dritten Person: „Seine Hörigkeit ist aufgebraucht.“ (Ebenda, 153)
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Von Ingeborg Bachmann ist über die Trennung keine Verlautbarung bekannt. Wir kennen nur die biographischen Angaben aus der Zeittafel in Herzzeit, sie lauten: [in Folge der Trennung] „ernsthafte psychische Probleme“ und „Ende 1962/Anfang 1963: Klinikaufenthalt in Zürich.“3 Die – nicht näher bezeichnete – Klinik ist eine von insgesamt 29 Kliniken auf dem „Unispital“ genannten Areal an der Rämi- und der Gloriastraße in Zürich. Den „Aufenthalt“ in dieser Klinik hat Ingeborg Bachmann in 3 Gedichtversionen unter dem Titel Gloriastrasse immer wieder neu zu schreiben versucht. Sie geben den Grundton an für die überwiegende Mehrzahl der Gedichte und Entwürfe in dem Band Ich weiß keine bessere Welt. Ingeborg Bachmann muss damals schon gewusst haben, dass sie ihre Gedichte „verloren“ hat, dass sie ihr „abhanden gekommen“ waren, weil sie ihrem eingangs zitierten Anspruch, es müssten Gedichte sein, „die allem seither Erfahrenen wirklich entsprechen,“ nicht genügt haben. Aus Verzweiflung über den Verlust der Gedichte, der die Schmach des „Verrats“, der ihr durch Frisch widerfahren war, noch unerträglicher erscheinen ließ, nahm sich Ingeborg Bachmann das Recht zur Täuschung. Sie legte eine Maske an, um diese – schwerste – Verletzung unter dem Schein der Nonchalance zu verbergen: Kraft ihrer facultas fingendi gelingt ihr die Stilisierung, niemand ahnt die schmerzende Realität darunter. Vor sich selbst diese Realität zu bejahen, dazu besaß Ingeborg Bachmann den Mut und die Ehrlichkeit. Sie vor der Öffentlichkeit preiszugeben war unmöglich. Freimut war ihre Sache nicht. Das Recht, die Täuschung aufzuheben, und sie vor aller Augen als Täuschung sichtbar zu machen, dieses Recht haben sich im Jahr 2000 Ingeborg Bachmanns Erben genommen. Ihre Begründung der Publikation, um das unlautere Moment der Preisgabe ihrer eigenen Kriterien von einst zu rechtfertigen, lautet, die Lektüre der Gedichte hätte sie „fasziniert“. (KBW, 5) Es soll jedoch, ungerührt von der Faszination der Erben, das Entsetzen mancher Menschen, die Ingeborg Bachmann in Freundschaft gekannt hatten, an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Zudem wurde die Publikation nicht etwa aus entgegengesetzten Lagern kontrovers diskutiert, sondern von Anbeginn überwiegend negativ beurteilt.
3 Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit, a. a. O., 371.
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Keiner hat sein Entsetzen und seine Ablehnung so unumwunden zu erkennen gegeben wie der Kritiker Peter Hamm.4 Und ich brauche nicht zu betonen, dass ich selbst alle von der Kritik angeführten Vorbehalte gegen die Publikation des Gedichtbandes teile. Denn als Mitherausgeberin der Werkausgabe von Ingeborg Bachmann kannte ich ja diese Gedichte, die früher einmal von den Erben zur 50-jährigen Sperrung bestimmt worden waren. Unterdessen ist es allerdings zu einer Selbstverständlichkeit geworden, sich in jeder Art „Liturgie des Leidens“ gnadenlos bloßzustellen. Mit Begriffen wie „Nacktheit“, „Echtheit“, „Authentizität“ wird die öffentliche Bloßstellung des Privaten nicht mehr bloß akzeptiert, sondern selbstge4 Peter Hamm nennt die Veröffentlichung einen „Skandal“ und „elenden Etikettenschwindel“ und fügt hinzu: „Zu besichtigen ist hier nur ein enormes Elends- und Erregungspotential als Material für Gedichte“. (P. H., Ingeborg Bachmann. Ihre Gedichte aus dem Nachlass sind das Dokument einer Liebes- und Lebenskrise, a. a. O.) Vgl. die Stellungnahme von Christoph Schmitt-Maaß: „Daß der Begriff Gedicht zu hoch gegriffen ist, steht außer Frage … Die aktuelle Publikation soll nun einen Blick in die verletzte Seele der Bachmann öffnen. Verständlich gemacht wird dieser Anspruch dem Leser im pathetischen Vorwort der Herausgeber, das in seiner Peinlichkeit die Grenzen des schlechten Editorengeschmacks neu verhandelt. Letztlich weckt es nur neue Lustbarkeiten – die des literarischen Klatsches und Voyeurismus.“ (Ch. Sch.-M., Die totgeborene Sprache. In: Göttinger Zeitschrift für neue Literatur, http://www.hainholz.de/wortlaut/bachmann.htm) Aus dem von Christoph Schmitt-Maaß inkriminierten Vorwort der Herausgeber: „Bei Durchsicht des Nachlasses, auf der Suche nach ein paar bestimmten Blättern, fielen uns die unveröffentlichten gesperrten Gedichte unserer Schwester in die Hand. Das Wiederlesen nach fast drei Jahrzehnten war für uns faszinierend, berührend und so beeindruckend, daß der Gedanke aufkam, diese Texte nicht länger unter Verschluß zu halten, sondern auch den Leserinnen und Lesern von Ingeborg Bachmann zugänglich zu machen“. (KBW, 5) Dazu der Kommentar von Armin König: „Ingeborg Bachmann blieb das Unglück treu … Bei [ihr], die weder einen Witwer noch Kinder hinterließ, wirkt das Unglück in der Form der Familie, sprich ihrer beiden Geschwister, an die der Nachlaß fiel. Man kennt seit Karl Kraus die Doppelbedeutung des Wortes Familienbande … die Schwester im Kärntner Gailtal [hat] sich des Werks Ingeborg Bachmanns bemächtigt und spielt sich als dessen Hüter auf … mit der Herausgabe dieses Bandes bedient sie ebenjenen Voyeurismus, vor dem sie ihre Schwester angeblich stets bewahren wollte …“ In der Rezension unter dem Titel „Ist denn der Mensch nichts unter Geschwistern wert?“ (http://www.arminkoenig.de/Literatur/Ingeborg_Bachmann/ingeborg_ bachmann.html) wird, wie bei den oben genannten Rezensenten auch, auf die sträfliche Missachtung editorischer Mindestanforderungen hingewiesen: „Die editorische Betreuung des Bandes ist beklagenswert. Es ist die Willkür literarischer Laien.“
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fällig gefordert. Der Marktwert der Bloßstellung ist gesichert, dank dem parasitären Geschwätz der Profiteure. Was im Jahr 2000 den einen unerträglich erschien an der Publikation des Bandes Ich weiß keine bessere Welt – in dieses weit aufgerissene „Eingangstor des Schmerzes“ hinein zu schauen – und Zeugen zu sein eines Abstiegs in die Hölle, in die wüsten Vorstellungen des Selbsthasses einer gedemütigten Frau, all das wird heute als selbstverständlich akzeptiert, vielleicht auch aus mangelnder Einfühlung in Ingeborg Bachmanns Not, die dazumal nach einer so massiven Abwehrgeste gegen ihre Gedichtversuche verlangte, dass sie sie öffentlich verleugnet hat, wie in jenem eingangs zitierten Interview vom Januar 1963. Unbeachtet ist auch geblieben, dass Ingeborg Bachmann das Täuschungsmanöver ein zweites Mal, im November 1964 in Berlin, wiederholt. Während sie in Wahrheit in immer neuen Versuchen um „Fassung“ des Geschehenen ringt, etwa in dem Gedicht5 Immerzu in den Worten sein, ob man will oder nicht, immer am Leben sein, voller Worte ums Leben, als wären die Worte am Leben, als wäre das Leben am Wort. So anders ists, glaubt mir. Zwischen ein Wort und ein Ding da dringst du nur selber ein, wie bei einem Kranken liegst du bei beiden da keins je ans andre sich drängt du kostest einen Klang und einen Körper und kostest beide aus. Es schmeckt nach Tod. Doch Tod und Leben, ob es beides gibt, wer weiß, da soviel Totes Fernes, in mir ist mich soviel Totes, mich Tote auch schon mitgenommen haben. Eine Freundin, die mich früher kannte. Ein Scherben, aus dem ich dir zutrank erklärt sie in einem Fernsehinterview: „Ich habe jedenfalls schon seit Jahren keine Gedichte mehr geschrieben, schreibe keine, werde auch keine 5 Ingeborg Bachmann, Non conosco mondo migliore, a. a. O., 174. Alle Gedichtzitate fortan aus dieser zweisprachigen Edition.
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schreiben, auf die Gefahr hin, die Kritiker und die Leser zu enttäuschen“. (GuI, 46) „Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten“, lautet die Rechtfertigung solcherart „salti mortali“ in Kafkas Prozeß. Doch gehen wir von 1964 zurück in das Jahr 1958. Es ist das Jahr, dem die Trennung, nicht das Ende der Liebe Ingeborg Bachmanns zu Paul Celan eingeschrieben ist. Und es ist das Jahr, in dem sie – nach der Erfahrung ihres erneuerten Herzkontakts mit dem Dichter Celan6 – den gefährlichen Balanceakt unternimmt, mit Max Frisch zu leben. Der war bekannt als „Weltmeister der Eifersucht.“ Und er hatte wohl auch Grund zur Eifersucht, so redlich Ingeborg Bachmann sich bemüht haben mag, seit jenem 3. Juli des Jahres 1958 in Paris. Es ist der Tag, den Ingeborg Bachmann ungeschehen machen wollen und ihr folgendes Leben lang verfluchen wird. Der 3. Juli 1958 war für Ingeborg Bachmann zum Schicksalstag geworden, weil sie tags zuvor Paul Celan in Paris zum ersten Mal als Ehemann und Vater, gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn erlebt hatte. Diese Begegnung mit der Familie Celan war es wohl7, durch die das Unheil in Ingeborg Bachmanns Leben gekommen ist. Sie hatte eine Nähe erlebt, der sie selbst nicht zugehörig war. Der Schock, ihren Geliebten en famille zu sehen, der ist nicht mitteilbar – wie jeder auf ein unantastbares Geheimnis konzentrierte Schmerz. Doch umso mehr muss es sie nach Nähe verlangt haben und danach, sich bei einem Menschen aufgehoben zu fühlen.
6 Vgl. hierzu Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou: „Den kürzesten und zugleich reichsten Abschnitt des Briefwechsels nach der Wiederbegegnung [1957] dominiert nun Celan […], er schreibt Briefe von einer Intensität, wie sie in Celans Korrespondenz überhaupt einmalig ist. Jetzt ist er ihr als Person wieder und dem Werk vielleicht erstmals wirklich zugewandt. Jetzt reflektiert er auch die Einzigartigkeit dieser Beziehung. […] Die neue, alte Liebe steht im Zentrum: ,Du warst, als ich Dir begegnete, beides für mich: das Sinnliche und das Geistige. Das kann nie auseinandertreten.‘“ (B. W./B. B., „Laß uns die Worte finden“. Zum Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, in: Ingeborg Bachmann/Paul Celan, Herzzeit, a. a. O., 215 – 223; hier 220.) 7 Vgl. Zeittafel, in: Ebenda, 367: „23. Juni 1958 bis Anfang Juli 1958 Bachmann in Paris, Treffen mit Celan am 25., 30. Juni und 2. Juli 1958. Erstes persönliches Treffen zwischen ihr und Gisèle Celan-Lestrange“.
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Max Frisch konnte nicht erraten, warum sein Wunsch, diese Frau zu besitzen, sich so rasch erfüllt hat. Drei Monate seit jenem Julitag 1958 hat Ingeborg Bachmann vergehen lassen, ehe sie ihren Entschluss, mit Max Frisch zusammen leben zu wollen, Paul Celan anvertraut: „Paul, lieber Paul“, schreibt sie, „ich habe so lange geschwiegen und doch so sehr an Dich gedacht. Denn das Schweigen in einer Zeit, in der ich Dir nur einen Brief hätte schreiben können, in dem nicht gestanden wäre, was wirklich vorging, erschien mir ehrlicher.“8 Und nun das Geständnis: „Max Frisch ist gekommen, um mich zu fragen, ob ich es könnte, mit ihm leben, und nun ist es entschieden. […] Paul, wenn Du doch hier wärst. Wenn ich mit Dir sprechen könnte! Ich bin sehr froh, sehr aufgehoben in Güte und Liebe und Verständnis, und ich bin nur manchmal traurig über mich selbst, weil eine Angst und ein Zweifel nicht ganz weggehen, der mich selbst betrifft, nicht ihn.“ Max Frisch war 1911 geboren, er war 15 Jahre älter als Ingeborg Bachmann. Sie muss dazumal seine Ruhe, seine Beherrschtheit, seine impassibilité als eine Verheißung angenommen haben. Sich schön zu wissen, macht es leicht, sich geliebt zu fühlen. Denn Schönheit ist auch eine Verheißung von Glück. Und Glück, das wissen die Zyniker, ist der romantische Gestus eines Missverständnisses. Sich geliebt zu fühlen, solange die Übereinkunft hielt – für Ingeborg Bachmann hieß das, als die akzeptiert zu werden, die sie ist, ohne Vorbehalte, ohne Befristung, aufgehoben sein in „Güte und Liebe“ und Vertrauen. Warum dann aber die warnenden Zeichen der Angst? Warum die Ungewissheit? Was wollten die beiden als Paar einander beweisen? Die Idealität des Partners? Oder bestand die Gleichgewichtsstörung par excellence von Anbeginn? Hätte denn je eine Verbindung Bachmann-Frisch entstehen können, die auch nur von fern an jene innige Intimität mit Celan heranreichte, eine Intimität, der Ingeborg Bachmann in ihrem ersten Brief in Herzzeit das geheimnisvolle Liebesprädikat eines „Gedichts“ verliehen hatte. Das „Gedicht, das wir miteinander gemacht haben“.9 8 Ebenda, 94 (Brief von Ingeborg Bachmann an Paul Celan vom 5. 10. 1958.) 9 Ebenda, 8 (nicht abgesandter Brief von Ingeborg Bachmann an Paul Celan von Weihnachten 1948).
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Gleichwohl ist nicht dieser Gegensatz entscheidend für die antagonistische Beziehung der Autoren Bachmann und Frisch. Der Wirklichkeit nahe kommt sie in den Entwürfen zu der so genannten Eka Kottwitz oder Rottwitz-Todesart aus dem Zyklus Todesarten. Dort lesen wir: Sie war ihm zu gescheit, er hatte zwar ausgerechnet das gewollt, aber zu Hause strengte es ihn an, sie war zu erfolgreich, das hatte ihn restlos fasziniert und es machte ihn krank.10 […] daß sie auch größere Quantitäten Literatur kannte, das kam ihm wie eine Unverschämtheit vor, gegen die er machtlos war, und seine anfängliche Bewunderung schlug so unvermutet in Hass um, dass er kein Mittel fand, als das zu zerstampfen.11 In der Zeit, in der er seine Wut nicht mehr verbergen konnte und nächtelang auf sie einschrie, kam aus der Wortflut ihre ganze verdammte Vielwisserei, ihr Hochmut, ihre Überheblichkeit, und dieses verdammte Weib hatte sich das überhaupt nur ausgedacht, um ihn zu erniedrigen, ihn, einen Welterfolg oder jedenfalls jemand, der gerade in Frankreich auf der Bestsellerliste stand, der eine moralische Instanz in Zeitfragen war.12 Hätte er sich […] getrennt in den ersten Wochen, in denen er weitaus klarer sah als später und seine Verletztheit nur oberflächlich war, aus Hautabschürfungen bestand, aus Herzschmerzen, Kopfschmerzen, anstatt seine ganze Existenz zu treffen, so wäre auch [sie] mit einer Hautabschürfung davongekommen, aber [er] hätte dann womöglich gemeint, aus Feigheit geflohen zu sein, und so floh er erst, als dort wo früher [sie] war, ein Trümmerhaufen war, dessen Anblick unerträglich war, und er bestanden hatte, weil er der Stärkere war.13 Lässt man sich auf die hier angedeutete autobiographische Motivation des Desasters ein, so schreibt Ingeborg Bachmann die Schuld allein dem Mann zu, jenem Jung, der für Frisch steht, mit dem zu leben sie sich unter Zweifeln und Ängsten entschlossen gehabt hatte. Doch Max Frisch war eben nicht ihre intellektuelle Überlegenheit 10 11 12 13
Eka Kottwitz-Todesart, Nachlaßblatt Nr. 2000 (Nationalbibl. Wien). Eka Kottwitz-Todesart, Nachlaßblatt Nr. 1833 (Nationalbibl. Wien). Eka Kottwitz-Todesart, Nachlaßblatt Nr. 1718 (Nationalbibl. Wien). Eka Kottwitz-Todesart, Nachlaßblatt Nr. 1833 (Nationalbibl. Wien).
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allein ein Gräuel. Ihm konnte nicht verborgen bleiben, dass noch immer Ingeborg Bachmanns Liebe auch dem anderen galt, Paul Celan, der ihr „Nächster“ war, weil er war wie sie, obwohl er nicht sie war. Die Briefe in Herzzeit sagen es. Wut und Hass lassen kein Mitgefühl aufkommen. An die Stelle von Mitgefühl tritt der kalte, „vom Herzen abgespaltene“ Intellekt. Deswegen schreibt Max Frisch in Montauk über das Ende: „Seine Hörigkeit war aufgebraucht.“ Es ist das Ende einer für Ingeborg Bachmann fatalen Bindung, in der sie als Frau unterlegen ist. Und darum stellt sie – gleichsam von einer moralischen Dringlichkeit getrieben – den „Täter“ auch im Gedicht unter die Forderung, seine Missetaten zu gestehen, sie wiedergutzumachen, weil nur so die fürchterliche Wunde verletzter Würde hätte geheilt werden können. Das Gedicht An jedem dritten des Monats (74) enthält die ganze Bitternis über die Vergeblichkeit einer solchen Forderung. An jedem dritten des Monats trifft kein Brief ein, als Antwort auf ein Datum, da könnte geschlachtet werden, oder ein Kind gezeugt werden, das auch geschlachtet wird, die Kinder merken es nicht. Dann sagen sie eines Tag, du sollst ja nicht weinen. Dann lässt man merken eines Tags, für sowas bezahlen wir nicht, für sowas sind wir nicht da, da sind wir schon weg, es geht uns nichts an, geht niemand was an. Eines Tags fährt man in die Mongolei und ist unsichtbar, für Kinder, die es nicht gibt, zahlen wir nicht, die fahren alle in die Mongolei, die nicht zahlen wollen. Zerstörtes Leben verlangt nach Wiedergutmachung. Doch zugleich geht es hier um die Wiederherstellung des Gleichgewichts von symbolischer und quantifizierbarer Schuld, die der Beklagte zu tilgen unterlassen hat. Max Frischs Unbelangbarkeit ist in den Gedichten als Anklage gegen ein offen zutage liegendes, ungesühntes „Vergehen“ aufbewahrt.14 Und 14 Max Frisch spricht sich in Montauk partiell von der hier verhandelten Anklage frei: „Nie ohne Schrecken. Die Rolle des Mannes dabei. Der dann den Arzt bezahlt“ (M. F., Montauk, a. a. O., 108–109.)
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Bachmanns Sprache ist, wie mit diesem Vergehen verwachsen, auch ein Akt der Vergeltung. Wie nie zuvor ist zwischen ihrer Lebenssituation und den Gedichten nur ein sehr enger, ja zumeist überhaupt kein Raum. Keine Distanz, keine Abstraktion. Gedichte, die nicht zur Bachmann-Idolatrie verleiten. Mitunter wenig mehr als Notate, ohne eine Vision, die auf die Realität zurückstrahlt. Es ist allein ihre herzzerreißende Klage, begraben unter dem Geröll einer Wortlawine: Mir leuchtet ein, was letzte Tage sind. Vom höchsten Stockwerk schau ich in die Tiefe vom höchsten Ton gleit ich zum unteren Klang und [–] der [–] scheint die graue Süße Ist keiner da, der mich vom Fenster ruft. Unter Terrassen wohnt die wunde Tiefe Die Gassenschlucht ist glühend aufgetan Ich leb von keinem Wort, da reicht man keine Hand Der schreibt kein Wort mehr in sein Blutbuch Ein jeder Augenblick hat süße Tiefe Entwürfe reiner Zeit und öffnen ihnen dieses Blutenbuch Von jeder Brüstung seh ich in die Tiefe Die Männer werfen eine Frau von sich Wer dem die Freunde auch verstoßen hat möchte noch schlafen und wer möchte wachen ihm glänzt das Aug (148) Der Text offenbart in dramatischer Weise, um wie viel größer die emotionale Energie der Dichterin war als die Kraft zur künstlerischen Kontrolle über ihr Unglück. Und sie hat es gewusst. Das quälende Erinnerungsund Erfahrungsmaterial wirkt wie „eingesperrt“ in den Bedingungen des Traumas, weil die Wirklichkeit des Vergangenen unablässig drängt, in die Gegenwart einzubrechen, sie erschüttert und aufzulösen droht. Ihr Formwille ist – mit wenigen Ausnahmen15 – gescheitert an der Unmöglichkeit, ihrer persönlichen Katastrophe das Siegel der Tragödie aufzuprägen. 15 Eine Neuedition des Gedichtbandes wird den qualitativen Sprung der in Berlin entstandenen Gedichte verzeichnen, ungefähr beginnend mit dem Gedicht
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Ingeborg Bachmann braucht die Fiktion eines „gelungenen“ Lebenslaufs nicht und ebenso wenig sollte man diesen Gedichten durch eine ästhetische Rechtfertigung Gewalt antun. Erst mit dem Kompendium der Todesarten wird ihr wirklich gelingen, was Franz Kafka genannt hatte, „im Schmerz den Schmerz zu objektivieren“.16
Nacht der Liebe, und gefolgt von den Gedichten zu den Reisen nach Prag und nach Ägypten. Im Gesamtkorpus von Ich weiß keine bessere Welt (Non conosco mondo migliore) machen diese – überdies zum Teil längst veröffentlichten – Gedichte eine geringe Zahl aus. 16 Franz Kafka, Gesammelte Werke, hrsg. von Max Brod, Frankfurt/Main 1976, Bd. 7: Tagebücher 1910–1923, 387 (Eintragung von 19. September 1917).
Literaturverzeichnis zu Ich weiß keine bessere Welt und zur Lyrik von Ingeborg Bachmann Rezensionen zu Ich weiß keine bessere Welt Literaturverzeichnis
Amann, Klaus, Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt, in: ORF-Exlibris, 15. Oktober 2000. Amann, Klaus, Der Tod der Poetessa. Leben und Werk Ingeborg Bachmanns, die übermorgen 75 geworden wäre, sind Gegenstand zahlreicher Neuerscheinungen. Eine Einschätzung, in: Der Standard, Nr. 3798, 23. Juni 2001, 7. Backes, Johanna, Es ist doch Kunst. Ingeborg Bachmanns nachgelassene Gedichte verdienen eine freie Betrachtung, in: http://www.literaturkritik. de/public/rezension.php?rez_id=3756&ausgabe=200106 (29. 12. 2009) Bartsch, Kurt, Ingeborg Bachmann: Ich weiß keine bessere Welt, in: Sprachkunst 31 (2000) H. 2, 371– 380. Betäubt von Zerstörung, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 239, 14. Oktober 2000. Bjorklund, Beth, Ingeborg Bachmann, Ich weiß keine bessere Welt, in: World Literature Today 76 (2002), Nr. 1, 188. Borman, Alexander von, „Ich bin ganz wild von Tod“. Das ungereinigte Schluchzen der Verzweiflung in den nachgelassenen Gedichten von Ingeborg Bachmann, in: Die Welt, Nr. 49, 23. Dezember 2000, 5. Bossi Fedrigotti, Isabella, Ingeborg Bachmann inedita. Versi di ordinaria autodistruzione. Un mondo fatto di cose quotidiane: giornali, caffè, sigarette, in: Corriere della sera, 16. April 2004. Bovenschen, Silvia, In den Händen der Erben. Was man mit Notaten und Entwürfen einer Dichterin anstellen kann, in: Literaturen Nr. 12/2000, 44 – 46. Braun, Michael, An der Liebe zerbrochen. Die nachgelassenen Gedichte von INGEBORG BACHMANN zeigen das ganze Ausmaß eines zerstörten Lebens, in: Die Woche, Nr. 47, 17. November 2000, 39. Corino, Eva, Gestaltlose Klagen einer verlassenen Frau. Und doch machen sie süchtig: Ingeborg Bachmanns Gedichte aus dem Nachlass, in: Berliner Zeitung, 24./25. Februar 2001.
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