Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart: Band 2: Mittelalter 3534711645, 9783534711642

Ohne Dialektik ist keine Philosophie denkbar. Dialektik als ›Lehre vom Denken‹ ist sowohl ein zentrales philosophisches

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German Pages 654 Year 2014

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Teil I: Ecclesia – von der Gemeinde zur Kirche
I. Hauptstück: Grundprobleme der Dogmenbildung
1. Kapitel: Die Transzendenz als Gegenstand der Philosophie
2. Kapitel: Die Inkarnation
3. Kapitel: Das Trinitätsproblem
1. Die trinitarische Formel
2. Logos-Christologie
3. Existentiale Deutung
4. Theologie im enzyklopädischen Feld
5. Spiegeltheoretische Deutung
6. Spekulative Theologie
7. Die Uneinholbarkeit des Glaubens
4. Kapitel: Der Logos
II. Hauptstück: Glaube – Theologie – Philosophie
1. Kapitel: Frühchristliche Theoriebildung in eschatologischem Horizont
1. Religionssoziologische Vorbemerkungen
2. Der Wandel der Welteinstellung in der Spätantike
3. Heilserwartungen zur Zeit des Augustus
4. Messianismus
5. Neutestamentliche Heilserwartung und alttestamentliche Kontamination
2. Kapitel: Institutionalisierung und Spiritualität
1. Paulus: Die Grundlegung der Konzeption von Gemeinde und Lehre
2. Johannes: Vom Messias zum Logos
3. Kapitel: Das Werden der theologischen Systematik
1. Der Kampf gegen altjüdische Orthodoxie und christliche Häresien. Irenäus
2. Der dialektische Ursprung der Theologie aus der Apologetik. Tertullian
3. Die hierarchische Einheit der Kirche. Cyprian
4. Kapitel: Die Theologie der Konzilien
1. Die konstantinische Wende
2. Formwandel des Christus-Verständnisses
3. Von Nicaea nach Chalcedon
4. Die Paganisierung des Christentums
5. Kapitel: Die Resurrektion der Philosophie. Marius Victorinus
6. Kapitel: Die philosophische Infiltration der Theologie. Augustinus
1. Der »Vater des Abendlandes«
2. Die Begründung der Subjektivität
3. Die Erkenntnis Gottes
4. Der Gottesstaat
7. Kapitel: Der Anfang der Philosophie im Herzen des Glaubens. Boethius
Teil II: Dogma und Denken – das Hochmittelalter
I. Hauptstück: Die antithetische Struktur des hochmittelalterlichen Denkens
1. Kapitel: Glauben und Wissen
2. Kapitel: Der Zwang zum System
3. Kapitel: Autorität, Vernunft und Fortschritt
II. Hauptstück: Die scholastische Kathedrale
1. Kapitel: Die Anfänge
2. Kapitel: Scotus Eriugena
3. Kapitel: Anselm von Canterbury – fides quaerens intellectum
4. Kapitel: Abaelard
5. Kapitel: Arnold da Brescia und die Klassenkämpfe im 12. Jahrhundert
6. Kapitel: Die Unruhe des Wissens. Petrus Lombardus und die Wirkung des Sentenzenbuches
7. Kapitel: Die Unruhe im Glauben
8. Kapitel: Friedrich II. – stupor mundi
9. Kapitel: Der Kampf um Aristoteles
10. Kapitel: Der islamische Einfluss
1. Aristoteles auf Umwegen
2. Avicenna und Averroes
3. Avicenna
4. Konfundation und Konfrontation von islamischer und christlicher Philosophie
11. Kapitel: Thomas von Aquino
1. Die Frühschriften
2. Zwischen Verurteilung und Kanonisierung
3. Der Boethius-Kommentar
4. Antiplatonistische Strategie
5. De veritate
6. Der Kompromiss
12. Kapitel: Siger von Brabant
13. Kapitel: Der Ausklang des Mittelalters
1. Der Nominalismus
2. Nicolaus Cusanus – der letzte Systemdenker des Mittelalters
3. Nicolaus Cusanus – De possest
4. Nicolaus Cusanus – De non-aliud
5. Auftakt der Neuzeit
Namenregister
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Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart: Band 2: Mittelalter
 3534711645, 9783534711642

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Hans Heinz Holz

Dialektik Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart

Band II Gott und Welt. Problemgeschichte der Dialektik im Mittelalter

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen nrheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2011

by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschafr), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgesraltung: Finken

& Bumiller,

Stuttgart

Satz: Frank Hermenau, Kassel Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Prinred in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www. wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23163-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF):

978-3-534-71163-5

Inhalt

Vorwort..............................................................................................

9

Einleitung............................................................................................ 11

Teil I: Ecclesia - von der Gemeinde zur Kirche I. Hauptstück: Grundprobleme der Dogmenbildung

19

1. Kapitel: Die Transzendenz als Gegenstand der Philosophie 21 2. Kapitel: Die Inkarnation ........................................................ 44 3. Kapitel: Das Trinitätsproblem ............................................... 54 1. Die trinitarische Formel .................................................... 56 2. Logos-Christologie ............................................................ 61 3. Existentiale Deutung ......................................................... 67 4. Theologie im enzyklopädischen Feld ............................... 71 5. Spiegeltheoretische Deutung ............................................. 76 6. Spekulative Theologie ........................................................ 82 7. Die Uneinholbarkeit des Glaubens .................................. 91 4. Kapitel: Der Logos ................................................................. 94

II. Hauptstück: Glaube- Theologie- Philosophie

.......... 111

1. Kapitel: Frühchristliche Theoriebildung

in eschatologischem Horizont .............................................. 113 1. Religionssoziologische Vorbemerkungen ....................... 113 2. Der Wandel der Welteinstellung in der Spätantike ........ 118 3. Heilserwartungen zur Zeit des Augustus ....................... 125 4. Messianismus ..................................................................... 132 5. Neutestamentliche Heilserwartung und

alttestamentliche Kontamination ..................................... 141

6

Inhalt 2. Kapitel: Institutionalisierung und Spiritualität

....................

152

1. Paulus: Die Grundlegung der Konzeption

von Gemeinde und Lehre

.................................................

2. Johannes: Vom Messias zum Logos

................................

3. Kapitel: Das W erden der theologischen Systematik

153 171 186

............

1. Der Kampf gegen altjüdische Orthodoxie und

christliche Häresien. lrenäus

............................................

186

2. Der dialektische Ursprung der Theologie aus der

Apologetik. Tertullian ...................................................... 205 3. Die hierarchische Einheit der Kirche. Cyprian .............. 232 4. Kapitel: Die Theologie der Konzilien .................................. 250 1. Die konstantinische Wende

..............................................

251

2. Formwandel des Christus-Verständnisses ...................... 258 3. Von Nicaea nach Chalcedon

............................................

261

4. Die Paganisierung des Christentums ............................... 270 5. Kapitel: Die Resurrektion der Philosophie. Marius

V ictorinus

...............................................................................

277

6. Kapitel: Die philosophische Infiltration der Theologie.

Augustinus ............................................................................. 291 1. Der >>Vater des Abendlandes>

Karl Barth und die

Weißenseer Blättern in drei Folgen 2002,

Aus Kirche und Welt

zum 80. Geburtstag von Prof. Hanfried Müller. Kapitel 8 wurde Pfr. Dr. Dieter Frielinghaus zum 80. Geburtstag gewidmet und gedruckt in dem Sonderdruck von

Erde«.

TOPOS »Salz der

Mein besonderer Dank gilt den Freunden Prof. Rosemarie Müller­ Streisand und Prof. Hanfried Müller für die intensiven theologischen und politischen Gespräche, die wir in den vergangenen zwanzig Jah­ ren miteinander führen konnten. Auf Hanfried Müllers Kritik an dem vorliegenden Band hatte ich mit Spannung und Freude gewartet; er hat nun das Erscheinen nicht mehr erlebt, möge das Buch sein An­ denken bewahren.

Einleitung

In der Philosophiegeschichte überlappen sich die Großepochen Antike und Mittelalter über Jahrhunderte hinweg. Bis zum Untergang des Römischen Reichs verläuft die Problementwicklung in der heidni­ schen Philosophie in den Bahnen der klassischen Antike, im Verfolg der von Platon und Aristoteles angelegten Fragestellungen. Gleich­ zeitig aber bildet sich seit dem Augusteischen Zeitalter ein neuer Typus des Philosophierens heraus, der im Christentum weltanschau­ liche Hegemonie gewinnt und seit Augustinus strukturbestimmend für das Denken des Mittelalters wird. In diesem weit gespannten Zeitraum finden natürlich Berührun­ gen zwischen den beiden Paradigmata statt. Antikes Denken infil­ triert das christliche, aus der Reibung zwischen den beiden Denkhal­ tungen entspringen neue Widersprüche, die die Dialektik vorantreiben. Exemplarisch ist dafür Boethius. Die lateinische Kirchenväter-Theologie ist Ausgangsbasis für das, was man rückschauend als Herausbildung der nachgriechischen abend­ ländischen Welteinstellung bezeichnen mag; die ostkirchliche Entwick­ lung hat andere Wege eingeschlagen. Griechisches Erbe ist reichlich in dieses »Abendländische« eingegangen, zum Teil schon gefiltert durch die römische Adaptation; aber erst in der Amalgamierung mit der jüdisch-christlichen Tradition ist daraus eine Kulturspezifik ge­ worden. So kommt den ersten fünf nachchristlichen Jahrhunderten eine Transformationsfunktion zu, die weit über das hinausreicht, was in ihnen an gedanklicher Substanz erarbeitet wurde. Nicht zuletzt gehört dazu, dass die T heologie das theoretische, die Kirche das po­ litische Erbe des Römischen Reichs antrat. Philosophisch bedeutete das, dass der Absolutheitsanspruch verkündeter Glaubenswahrheiten, die eben die Geltung von Wahrheiten behaupten, und die Relatio­ nalität historisch bedingter Problemformulierungen, die aus sich selbst die Fortentwicklung generieren, miteinander konfligieren mussten. Die Moderne, in der die Philosophie zusammen mit den empiri­ schen Wissenschaften den dominanten Typus des Denkens präfor-

12

Einleitung

miert, folgt ganz und gar dem Entwicklungsprinzip: Aus einem Wis­ sensstand oder einer Problemlösung ergibt sich die Reformulierung, Weiterentwicklung und gegebenenfalls Ablösung durch ausschließende Theoreme; im Kontinuum gibt es einen Fortgang und Falsifikation des Geltenden ist eine stets offene Möglichkeit. Weltliche Prozesse in ihren Veränderungen und ihrer konstanten Seinsgrundlage, in ihren Widersprüchen und deren Auflösung stel­ len sich theoretisch als eine Abfolge von Problemen dar. Diese wer­ den formuliert, auch einander entgegengesetzt und aus den Antwor­ ten und ihren Gegensätzen ergeben sich neue Probleme, nicht nur neue Aspekte, sondern auch andere Fragen. Aus Platons Ideenlehre ging die Substanzmetaphysik des Aristoteles hervor, aus Galileis Empirismus der Cartesische Rationalismus. Die Problemgeschichte der antiken und der neuzeitlichen Philosophie lässt sich in zeitlicher Linearität beschreiben. Was wir Mittelalter nennen, hat unter dem Vorrang des geoffen­ barten Glaubens und der Theologie eine andere Struktur. Die Pro­ blemformulierungen erweisen sich als Variationen über einige wenige Leitmotive - keineswegs ungeschichtlich von den jeweiligen Zeitbe­ dingungen abgehoben, aber eben doch nicht linear einander in einer quasi logischen Reihe ablösend, sondern die gleiche Thematik stets aufs Neue umkreisend. Es gibt ein Kontinuum feststehender Theo­ reme, deren Grundlagen und oft auch Einzelheiten nicht verändert werden durften und allenfalls interpretiert werden konnten. Die ln­ terpretationsbedürftigkeit entsprang der Tatsache, dass die unantast­ baren Texte Unstimmigkeiten oder sogar unversöhnbare Widersprüche enthalten, die ausgeglichen werden mussten, und dass es natürlich historische Veränderungen gab, denen es sich anzupassen galt. Pro­ blemgeschichte ist im Mittelalter eher eine Geschichte der Aneig­ nung der Auctoritas; und dass die Aneignung, wenn sie die Auctoritas nicht infrage stellen darf, selbst ein Problem ist, zeigt das Sentenzen­ buch des Petrus Lombardus. Es ist notwendig zur Pflichtlektüre des 13. Jahrhunderts und zur Bewährungsprobe angehender Theologie­

dozenten geworden. Diese Besonderheit der Philosophie des christlichen Mittelalters hat methodologische Konsequenzen für die Darstellung. Die histo­ rische Linie entlang dem Zeitstrang muss zwar eingehalten werden. Um ermüdende Wiederholungen in der Exposition der Systematik zu vermeiden, ist deren Grundthematik die geschichtlichen Stufen übergreifend als Problemeinheit im Ganzen darzustellen und der

Einleitung

13

Problemgeschichte sozusagen ausgeklammert voranzustellen. Das be­ dingt einen anderen Aufbau in beiden Bänden des Teils II, als er in den Teilen I und 111 aus der natürlichen Gestalt der Geschichte dem Wesen der Zeit folgt. 1500 Jahre lang stand im Mittelpunkt des philosophischen Den­

kens das Bemühen um die Erkenntnis des Unerkennbaren, die Er­ kenntnis der Transzendenz. Der Weltlauf wurde angesehen nur als eine (Sünden beladene) Vorstufe zum Reich Gottes, das etwas ganz anderes als die Welt sein sollte; der Weltgeschichte war eine zweite Bedeutungsebene unterlegt, die Heilsgeschichte, die sozusagen den eschatologischen Sinn der unerfüllt gebliebenen kurzfristigen Endzeit­ erwartung prolongierte. War die antike Philosophie wesentlich eine Orientierung in der Welt aufgrund eines Wissens über die Welt, so wurde es nun zur Aufgabe der Philosophie, auf ein Jenseits der Welt (oder, wie Nietzsche sagt, auf eine Hinterwelt) zu orientieren und das Wissen über die Welt diesem Zweck unterzuordnen. Der Inbegriff dessen, was jenseits der Welt dem Menschen ge­ genübersteht, ist Gott. Als jenseitig prinzipiell unerkennbar muss er doch als die präsente Instanz oder der Herr des Eschaton, des Ziels und Endes, der Gegenstand des Interesses der Menschen sein und sie mit Unruhe erfüllen. »lnquietum est cor nostrum, donec requiescat in te>unbeschreiblich>namenlos>keine Menschengestalt>Er sieht nach allen Seiten, indem er sich allein erblickt durch sich selbst. (... ) Man nennt ihn den >Vater des Alls< >Den Herrn des Alls nennt man wahrheitsgemäß nicht >Vater< , sondern >Vorvater< , denn der Vater ist der Ursprung dessen, was offenbar ist>Der anfangslose Vorvater sieht sich selbst in sich wie ein Spiegek8 Dieses Bild von sich, das in ihm wie in einem Spiegel als ein Spiegelbild erscheint, ist er selbst, >>gleichaltrig, aber nicht ebenbürtig an Kraft>Erste Mensch>unsterbliche Mensch>Durch den un­ sterblichen Menschen trat eine Benennung >Göttlichkeit und Herr­ schaft< zuerst in Erscheinung. Der Vater nämlich, den man >den Selbstvater-Mensch< zu nennen pflegt, ließ diesen in Erscheinung treten>

... der sich in der Erhebung Marias zur Mediatrix (Mittlerin),

Himmelskönigin und Miterlöserin vor allem in der Zeit vom I. bis zum II. Vatikanum ausrückende Götzendienst>von außen>Ihr sagt, dass ich es bin>denn«, indem er sich an das >>qua« des lateinischen Textes hält.

50

Grundprobleme der Dogmenbildung

waren Inhalte innerweltlicher Erfahrung. Auferstehung und Epipha­ nie sind Glaubensinhalte vor dem Hintergrund der Transzendenz. In diesem Hiatus besteht das Wesen und die Aporie der Inkar­ nation. Ich lasse hier den literarischen Parallelismus außer Betracht. Die Wiederherstellung des davidischen Königtums fand nicht statt die Parusie fand nicht statt, zweimalige Enttäuschung, hier geistl­ iche, dort weltliche. Wohl aber besteht im Verhältnis der beiden Glieder des Parallelismus die differentia spezifica des christlichen Glau­ bens gegenüber jedem anderen - in der Person Jesu, der Sohn als Messias Mensch ganz und gar (anthropos aleitos) zugleich von ein und derselben einzigen Art (monogeneis) mit Gott und also selbst Gott ganz und gar (theos aleitos). Schon das symbolum nicaenum und vollends das Chalcedonense8 fassen diese Einzigartigkeit der Person in die Eponymik einer heilsgeschichtlichen Funktion. Dem Menschen Jesus kann man glauben, an das Subjekt der Attribute des symbolum muss man glauben. Die Theologisierung des Glaubens ist wohl un­ ausweichlich. Nach dem Denkmuster der Analogie wäre es logisch leicht möglich zu sagen, der Mensch, der da als Kindlein in der Krippe zu Bethlehem gelegen hatte,9 sei Gott wesensähnlich (homoiousios) gewesen. Dann könnte er durchaus ein Mittler zu Gott sein, Sa­

cerdos, wie es die Priester in allen Religionen, auch der katholischen, zu sein in der Lage sind. Er würde dann die Gnade bringen (wie im

ego absolvo te des Beichtvorgangs). Jesus, filius Dei, soll aber die Gnade sein, das heißt er muss selbst Gott sein, wesensgleich mit Gott (homoousios). Nur die Wesensgleichheit entspricht der Inkar­ nation, alles andere wäre bloße Theophanie. Der Glaube bedarf hier dessen, was ihm von Hause aus fremd ist­ der begrifflichen Präzision. Was bei den Evangelisten (ausgenommen Johannes) in der Halbdämmerung den Hiatus übersprang- eine Un­ schärfe der Formulierung, eine Unbekümmertheit der Metaphorik, eine Doppeldeutigkeit im überkommenen Titel Menschensohn - das musste nun ins Licht einer festgelegten Apophansis gerückt werden. Die Nominalkonstruktionen des Chalcedonense legen Zeugnis davon

8

Siehe Hauptstück li, Kap. 4.

9

Allerdings nivelliert Kar! Barth, Dogmatik im Grundriss, Zürich '1998, S. 112, wenn er sagt: >>Das ist das Wunder der Existenz Jesu Christi, dieses Herab­ steigen Gottes von oben nach unten ( ...) Das ist das Geheimnis der Inkarna­ tion>Er ist Gottes Sohn, also Gott in jenem Sinn göttlicher Wirklichkeit, in welchem Gott durch sich selber gesetzt ist. Dieser durch sich selber gesetzte Gott, der eine Sohn Gottes, er ist dieser Mensch (...) Weil kein von Gott verschiedenes Wesen, sondern der einzige Sohn des Vaters, der einzigartig durch und aus sich lebende Gott selber, in Person.«10 >>Setzen« ist der Ter­ minus des Deutschen Idealismus (wie überhaupt eine T heologie, die das Wort ernst nimmt, der Begrifflichkeit des Deutschen Idealismus

10

Barth, ebd., S. 99 und 96. Im Existentialismus wird diese Dialektik materia­ listisch in den sexuellen Akt verlegt. Vgl. Jean Paul Sartre, L'etre et le neant, Paris 1943, S. 431 ff. Maurice Merleau-Ponty, Phenomenologie de Ia Percep­

tion, Paris 1945, S. 180 ff.

52

Grundprobleme der Dogmenbildung

nicht entraten kann, allerdings nicht in seiner romantischen, Schlei­ ermachersehen Verfallsform). Die Inkarnation als die Begründung des Glaubens an die Heils­ verkündigung bleibt innerhalb der Evangelien ein paradoxer Glau­ bensinhalt. Die Verkündigung der Botschaft wäre kein Evangelium, wenn der Sender der Botschaft und der Bote nicht identifiziert wer­ den könnten. Die Paradoxie der Verweltlichung der Transzendenz, der Fleischwerdung des Geistes, kann zwar logisch nicht aufgehoben werden- aber es muss möglich sein, ein Kriterium für die Annehm­ barkeit dieser Paradoxie anzugeben, salopp gesprochen eine Rutsch­ bahn zu konstruieren, auf der aus der Diskursivität in den Glauben geglitten werden kann. Johannes weiß, dass er vom Menschensohn, Gottessohn nur sprechen kann, wenn er ein Instrument für diesen Übergang bereit hat. Jesus betont bei Johannes wieder und wieder, dass es Gott selbst ist, der aus ihm und durch ihn spricht und dass dem Glauben zu schenken ist. Nur die Richtigkeit dieser Behaup­ tung rechtfertigt die Hoffnung auf die versprochene Seligkeit. Jeder Scharlatan, Hochstapler, Verrückte könnte dasselbe behaupten. Die Richtigkeit einer Behauptung ist aber nur diskursiv darzulegen. Diese Darlegung kann gegenüber der Transzendenz keine Beweisform ha­ ben. Um ihre Aussage einleuchtend zu machen, reicht indessen die Naivität des Glaubens auch nicht aus. Es muss wenigstens die Be­ dingung der Möglichkeit aufgezeigt werden, unter der der Geist Gottes menschliche Wirklichkeit annehmen kann. Die Inkarnation ist Gemeingut des christlichen Glaubens. Johannes stellt die Frage nach der strukturellen Bedingung der Möglichkeit der Inkarnation. Darum ist das Johannes-Evangelium als literarische Gattung theore­ tischen Sprechens eine andere als die synoptischen. 11 In ihm wird die spezifische dialektische Verfassung der christlichen Philosophie in der Spannung zwischen dem transzendenten Gott und der Welt, zwi-

11

Die Synoptiker berichten von Jesu Leben und Taten. Seine Wesensnatur erweist sich in seinem Tun und Reden. Gedeutet wird sie aus der jüdischen Geschichte und ihrer Sinngebung in den Schriften des Alten Testaments. Lite­ rarisch sind strukturbestimmend in den synoptischen Evangelien Exemplum, Kasus, Gleichnis und Genealogie. Johannes spricht dagegen von Jesus als Explikation einer Kategorie. Leben, Taten und Reden sind Manifestationen des kategorialen Sinns. Die Kategorie hat eine metaphysische und eine geschichts­ philosophische Dimension. Ihre literarische Form ist die der Metaphorik des spekulativen Begriffs - Iogos, pneuma, ph8s (Licht), zoi! (Leben), ali!­ theia (Wahrheit- Offenbarkeit).

Inkarnation

53

sehen dem Glaubensakt und der Systematik des Glaubens vorge­ zeichnet. Das Proömium des Johannes-Evangeliums ist keine Enarratio. Es ist ein wohl gefügtes metaphysisches Konstrukt. Die Apodeixis ist

logos sarx egeneto. Sie setzt die Hypothesis voraus theos logos. Daraus folgt: Der logos gleich sarx ist gleich dem logos gleich theos;

monogeneis, gattungsgleich, homoousios, wesensgleich. Mit Johannes 1,14

ist

die metaphysische

Grundlegung

abgeschlossen - das

Konstrukt, die Wesenseinheit von Gottvater und Gottsohn. 1,15-18 folgt die ontologische Konstruktion auf das Sein, die Rede vom Sein, in der das Sein präsent wird. Wie müssen aber die Inhalte des Logos im Aussagen präsent werden? Jetzt erst kann das Evangelium begin­ nen, jetzt ist es beglaubigt. Der Logos ist sozusagen das Amtssiegel. Das Proömium des Johannes-Evangeliums ist die einzige Form, in der die Verkündigung schon Theologie ist. In den beiden Gliedern des Binoms Vater-Sohn ist die Gattungs­ gleichheit eingeschlossen. Und der Logos Gottes ist, Fleisch geworden, der Logos Jesu Christi. Die Inkarnation enthält die Konfiguration der Trinität. Wer die Sohnschaft nicht mythologisch auffasst, wie Herkules der Sohn des Zeus gewesen sei und Maria eine Art Alk­ mene, muss in Vater und Sohn also eine Substanz erkennen und anerkennen- und eine Substanz können sie nur als Logos sein. Jo­ hannes legt das Muster der Theologie fest, so wie Paulus das Muster der Ekklesiologie. Es liegt auf der Hand, dass Predigt und Wunder, Theologia Cru­ cis und Auferstehung auf den Menschen Jesus abstellen, auf den

theos aner, mit dem sich der Gläubige identifizieren kann, in dem er und durch den er sich erlöst aus den Banden der Welt und aus des Fleisches Sünden weiß. Weil Gottes Sohn im menschlichen Fleisch Existenz nahm, konnte er den Menschen Heilsgewissheit geben, nicht als ein Geschenk, sondern als ein Zugehörigsein. Die Liebe darin kommen Paulus und Johannes überein-ist die Einstellung, in der ich beim anderen bin und der andere in sich bei mir ist. Die

coincidentia alterum, der dialektische Akt. Gewiss zielen Jesu Reden und Worte auf den Menschen, und das ist der Sinn der Inkarnation. Aber als Inkarnation ist sie das Ein­ wesen Gottes. Da kommen andere Zuordnungen ins Spiel- Gott als

pneuma, als zoe, als aletheia. Ist der erste Gesichtspunkt der der Christologie, so der zweite der der Theologie. Im Trinitäsdogma sind beide Gesichtspunkte miteinander verknüpft.

3. Kapitel:

Das Trinitätsproblem

Dass alle T heologie (wie jede Philosophie des Ganzen, des >>Gesamt­ zusammenhangs«) spekulativ ist, weil sie über Transempirisches spricht, versteht sich von selbst.1 Spekulativ im strengen Sinne heißt: im Spiegel einer prädikativen (also endlichen) Aussage eine nicht­ endliche Wirklichkeit aufscheinen zu lassen. Darum sagt Hegel, der Aussagesatz (d. h. >>der Satz in Form eines Urteils«) sei >>nicht ge­ schickt, spekulative Wahrheiten auszudrücken>una substantia- tres personae« (eine Substanz- drei Personen) hat

Hanfried Müller,

Evangelische Dogmatik im Überblick,

Berlin 1989, Bd. I,

S. 65: >>Unbiblische Theologie ist spekulative Theologie, und zwar sowohl wenn sie objektiv-idealistisch und metaphysisch->theologisch< über das höchste Sein Gottes spekuliert, als auch wenn sie subjektiv-idealistisch und existential­ anthropologisch über den Menschen und sein Selbstverständnis spekuliert.Der abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, die ewige, umfangende, totale Besonderheit. Wir sind auf der Stufe des Geistes; das All­ gemeine schließt hier alles in sich. Das Andere, der Sohn, ist die unendliche Besonderheit, die Erscheinung; das Dritte, der Geist, ist die Einzelheit als solche, aber das Allgemeine als Totalität ist selbst Geist - alle drei sind der Geist.(...) d. i. die absolute Reflexion-in-sich, was schon die Bestimmung des Geistes ist.>Über diese Sache muß man mit Bescheidenheit und Furchtsamkeit handeln, weil nirgendwo auf ge­ fährlichere Weise geirrt wird, nichts eifriger erforscht wird und nichts Fruchtbareres gefunden wirdAlle katholischen Autoren, die über die Trinität, die Gott ist, geschrieben haben, hat­ ten im Sinn das zu lehren, daß Vater und Sohn und Heiliger Geist von einer Substanz und ein Gott in untrennbarer innerer Gleichheit sind, so daß die Einheit im Wesen und die Vielheit in den Personen besteht, dergestalt daß es nicht drei Götter sind, sondern ein Gott.Der Sohn ist nicht, der der Vater ist, der Vater ist nicht, der der Sohn ist, und der Heilige Geist

6

>>De hac re cum modestia et timore agendum est, quia nec periculosius alicubi erratur, nec laboriosius aliquid quaeritur nec fructiosius aliquid invenitur.>Ümnes autem catholici tractatores qui de trinitate, quae deus ist, scripserunt hoc intenderunt docere quod pater et filius et spiritus sanctus unius sint sub­ stantiae et inseparabili aequalitate unus sint deus: ut sit unitas in essentia, et pluralitas in personis id eo non sunt tres dii, sed unus deus.Wenn sich das Wirken offenbart, dann ist es wirklich Wirken und wird >Wirken< genannt>Zeugung seiner selbstgleichsam von derselben Wesensart oder Gat­ tungsbeschaffenheit ist wie die des Vaters> >Im Anfang der Sohn, dann schuf Gott den Himmel und die Erde< . (...)Und das heißt soviel als vor der Schöpfung der Welt. (...) Denn vor der Schöpfung der Welt war Gott als Anfang der Sohn.>gloria quasi un­ igeniti a patre>Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater>Denn Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, daß (durch uns) entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Got­ tes in dem Angesicht Jesu Christiungeachtet aller Unterschiede der Denkweise und Begrifflichkeit eine tiefe sachliche Verwandtschaft zwischen Johannes und Paulus besteht.>Daß in Jesus Gott selbst begegnet, und zwar gerade in Jesus als einem Menschen, an dem nichts Außerordentliches wahrnehmbar ist als seine kühne Behaup­ tung, daß in ihm Gott begegne- darin liegt die Paradoxie des Offen­

barungsgedankens, die erst Johannes ins Auge gefaßt hat.In der Tat: die Werke Jesu - als Ganzes einheitlich gesehen: sein Werk -

sind seine Worte.37 Aber gerade nicht in ihrer konkreten Einzelheit, sondern allein in dem Anspruch, Gottes Sohn zu sein und die Wahr­ heit und das Leben zu spenden. >>Seine Worte sind Selbstaussagen, und so konzentriert sich schließlich alle Offenbarung, die er bringt, in den großen Sätzen des i:yw ELflL (...) Es ist zu beachten, daß in den i:yw ELflt-Sätzen das i:yw Prädikat und nicht Subjekt ist; der Sinn ist

immer der: >in mir ist gegenwärtig das Lebensbrot, das Licht, usw.< Er kommt als Mensch. Das T hema des ganzen Johannes-Evange­ liums ist der Satz 6 A6yoc;; aaql; tytvero Fleisch). Und diesen Satz verteidigen der

(1,14 - Das Wort ward 1. und 2. Brief des Johannes

gegen die Irrlehrer, d. h. offenbar gegen christliche Gnostiker, die die Identität zwischen dem Gottessohn und dem Menschen Jesus bestreiten, sei es, daß sie die Vereinigung der beiden Gestalten zu einer Erscheinung als eine nur temporäre behaupten, sei es, daß sie die Realität des Menschen Jesus überhaupt ablehnen und als Doke­ ten die Menschengestalt des Gottessohns nur für einen Scheinleib halten. Ihnen gegenüber gilt: jeder Geist, der nicht bekennt, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der nicht Jesus (den Men­ schen als den Gottessohn) bekennt, ist nicht >aus Gott.< Helle­ nisierung des Christentums«,43 sondern mehr noch intern in dem Aufeinanderprallen der logischen Paradoxa der Glaubensartikel und der Normen der >>natürlichen Vernunft«, die für das Denken unhin­ tergehbar sind. Der Versuch, das »credo quia absurdumanimal rationale>Rationalisierung>profanen Form>Die Kir­

chenväter fühlen sich nicht mehr als unmittelbare Zeugen der Christusoffen­ barung wie die Generationen der apostolischen und nachapostolischen Zeit.>natürlicher Vernunft>Dreyfaltigkeit>Die Lehre von der heiligen Dreyfaltigkeit ist ein Geheimnis. ( ...) Doch haben sich Leute gefunden, die (...) sta­ tuiret, daß die Vernunft solches erkennen könne. (...) Ehe dieses ge­ schiehet, muß man nach Anleitung der heiligen Schrift voraussetzen, daß die Lehre von der Dreyeinigkeit auf drey Sätze beruhet, ein­ mahl, dass drey unterschiedene Personen in dem Göttlichen Wesen seyn, hernach dass jede Person Gott sey, der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott und der Heilige Geist ist Gott, und daß drittens dennoch nur ein Gott sey. Dieses hält man mit Recht vor das aller größte Ge­ heimniss, für eine Sache, die über den Bezirck der menschlichen Ver­ nunfft gehet, das ist, die weder aus einem Principio ihre Existentz erkennet, noch da ihr solche aus heiliger Schrifft fürgesteilet wird, das Wesen derselben begreiffet, welche zwey Stücke wohl auseinander zu setzen sind. Wir sagen, es könne die Vernunfft erstlieh aus keinem Principio die Existenz der Dreyfaltigkeit erkennen, welches so viel heist, sie trifft in der Natur keinen Grund an, daraus sie schließen könte, daß mehr als eine Person in dem göttlichen Wesen seyn müßte, ja wenn sie sich selbst gelassen ist, so schließt sie vielmehr, daß der einzige Gott, der nothwendig sein müsse, in Ansehung der Natur eines Wesens, wenn dasselbe nicht soll getheilet werden, auch nur ein Suppositum ausmache. ( ...) Vors andere sagen wir, daß auch die Vernunfft das Wesen dieses Geheimnisses, wenn ihr seine Existentz aus der heiligen Schrifft fürgesteilet wird, nicht begreiffet, das ist, wir können uns in unserm Verstand von der Beschaffenheit und wie es zugehe, daß drey Personen in dem einigen göttlichen Wesen sind, keine Idee, die zur Empfindung kan gebracht werden, machen.natürlichen Theologie>Habitus intellectuales sunt qualitates, quae determinant intelleeturn ad fa­ cilius percipiendum sua obiecta, id est omnia intelligibilia.>Encyclopaedia est systema om­ nium systematum quibus res, homine dignae methodo certa explicantur.>Est universitas wv yvwmov>Die T heologen aller Parteien (die Fanatiker ausgenommen) sind, wie ich denke, wenigstens darüber einig, daß kein Glaubensartikel einen Widerspruch enthalten noch Beweisen wi­ dersprechen darf, die ebenso exakt sind wie die mathematischen, bei denen das Gegenteil der Schlußfolgerung ad absurdum, d. h. auf einen Widerspruch zurückgeführt werden kann.>perfectio>proprietas essentialis>Ümnia sunt Deo possibilia, exceptis illis, quae perfectioni eius contraria sunt. Sed contradictoria quoque eius perfectioni contraria sunt: fa­ cerent enim Deum ineptum ac simul veracem et falsam dicentem; simul sco­ pum suum assequentem et eo excidentem>Alles ist für Gott möglich, außer dem, was zu seiner Vollkommenheit im Widerspruch stünde: es würde näm­ lich Gott ungereimt machen, wenn er zugleich das Wahre und das Falsche sagte und zugleich sein Ziel verfolgte und es verfehlte>Sagt man daher, der Vater sei Gott, der Sohn sei Gott, der Heilige Geist sei Gott, und dennoch gebe es nur einen Gott, obgleich diese drei Personen unter sich ver­ schieden seien, so muss man zu dem Urteil kommen, daß das Wort Gott nicht dieselbe Bedeutung am Anfang wie am Ende des Satzes hat.«66 Das klingt fast so, als sei das Problem ein aus einer Äquivo­ kation entstandenes Scheinproblem. Indessen war Leibniz in seiner persönlichen Religiosität zu sehr den Konventionen verhaftet, als dass er auf der Ebene der personal gedachten Gottheit eine tritheistische Lösung hätte in Kauf nehmen können; und außerdem war er ein zu strenger Logiker, als dass er nicht eine Auflösung des Paradoxes hätte suchen müssen. Und da er in strikt metaphysischem Gebrauch (also in der Form des Begriffs und nicht der religiösen Vorstellung) von Gott nur als Titel für einen infinitesimalen Grenzwert der Positivität spricht,67 war ihm der so­ zusagen emanationstheoretische Ausweg, die eine Substanz in drei Hypostasen zu denken, philosophisch verwehrt. Er musste sich der Herausforderung stellen, die Einheit als Dreiheit zu begreifen, oder umgekehrt, die Dreiheit als Einheit zu konstruieren. Und wollte er mit den religiösen Vorstellungen in Einklang bleiben, so musste seine Konstruktion auch noch auf die herkömmlichen Analogien proji­ zierbar sein, die Vater-Sohn-Geist mit Schöpfung-Verkündigung­ Heiligung oder mit Macht-Verstand-Wille= esse-verum-bonum68 in Entsprechung setzen. Aber auch diese Dreiheiten können nur als Ein­ heit gelten (und somit eine Analogie ergeben), wenn ihr dreifaches So-sein aus einem und demselben Prinzip ihres Da-seins zu dedu­ zieren ist. Die Lösung des Problems musste also auf einer anderen Ebene gesucht werden als jener, auf der die Unterscheidung des nicaeanischen

65

Zur religionspolitischen Konzeption von Leibniz vgl. Hans Heinz Holz,

Leibniz, eine Monographie, Leipzig 1983, cap. 9. 66 67

Leibniz, T heodizee, a. a. 0., Disc. prel. §22, S 109. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch. Problemgeschichte der Dialektik

in der Neuzeit, Bd. I, Stuttgart/Weimar 1997, S. 285 ff. Gott als Primum, Totum, Optimum. 68

Leibniz, T heodizee, a. a. 0., Teil I, § 7, S. 2 19. Vgl. Textes inedits, ed. Grua, a. a. 0., S. 126: pouvoir, savoir, vouloir. Der Wille zur Güte wird dann mit der Liebe gleichgesetzt: voluntas seu amor.

78

Grundprobleme der Dogmenbildung

Konzils von Substanz und Person getroffen wurde. Denn Leibniz konnte auch nicht zugeben, dass eine Person keine Substanz sei. Gegen Sophianus69 wandte er ein, dieser habe der Person keine Sub­ stantialität zugestanden: »Daß eine Person eine Substanz sey, ge­ stehet man nicht, und nimt das Wort nicht also, sonst wuerde man auf drey goetter fallen. Dass der zeugende ehr als der gezeugte, ist nicht allerdings wahr. Wenn die Sonne ewig waere, wuerde ihr liecht oder strahl auch ewig seyn.>Hypostase>Die aktive Erzeugung ist eine innere und persönliche T ätigkeit Gott-Vaters, durch welche er auf eine geistige und nicht bildhaft darstellbare Weise seinen Sohn von Ewigkeit her aus sich und seinem Wesen hervorbringt, indem er sich selbst eine Hypostase gibt: oder, durch die der in sich selbst

69

Vernunfftige Religion, das ist gruendtlicher Beweis, dass man das Urtheil gesunder Vernunfft auch in der T heologie und in Eroerterung der Religions­ fragen brauchen muesse, verfasset durch Arsenium Sophanium, Amsterdam 1703.

70

Leibniz zu Sophianus, Textes inedits, ed. Grua, a. a. 0., S. 71.

71

Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch, Bd. I, a. a. 0., S. 222 ff.

72

Ebd., S. 396 ff.- Ders., Leibniz, Frankfurt am Main/New York 1992.

Trinität

79

reflektierte Vater den Sohn als einen Ausdruck seiner Hypostase auf diese Weise des Intellekts oder der Weisheit hervorbringt.«73 Auf dieser Grundlage konnte Leibniz einen spekulativen Begriff der Trinität bilden, der die unendliche unitas et totalitas (Einheit und Gänzlichkeit) Gottes (des Vaters) sich in der endlichen Personalität und Individualität Jesu Christi (des Menschensohns) spiegeln lässt, welches Spiegelverhältnis sich als Hlg. Geist zeigt (der so die sich offenbarende Einheit von Vater und Sohn ist). Die Analogie zum Verhältnis von Welt im ganzen und repraesentatio mundi in der ein­ zelnen Monade ist offenkundig. >>Das Wort, oder das, was erkannt wird, ist das Bild des Vaters, weil der Vater, der das Wort erkennt, eben das erkennt, was er selbst ist, also jenen Geist, der sich erkennt. Die Erkenntnis selbst oder die Liebe ist der Hlg. Geist. Daß Gott nämlich sich selbst erkennt, ist dasselbe, wie daß er sich liebt«.74 Diese Wesensbeziehung im Ganzen kann nur eine interne Beziehung auf sich selbst sein. >>Der Vater vervielfältigt nämlich die Person der Gottheit, indem er sich selbst erkennt und indem er sich selbst liebt. Daher wird der Sohn vom Vater erzeugt, und der Hlg. Geist geht aus Vater und Sohn hervor, obwohl jedoch allen drei Personen das Erkennen und Erkanntwerden, das Lieben und Geliebtwerden ge­ mein ist«.75 Gott bezieht sich auf sich selbst, indem er sich als ge­ genständliches Bild seiner selbst erkennt (wie in einem Spiegel) und in diesem Selbstbezug sich selbst liebt, also Liebe ist. Das Bild ist Gott und von Gott erzeugt, aber doch von ihm unterschieden.76 Der

73

>>Generatio activa est interna et personalis actio Dei Patris, qua spirituali et ineffabili modo Filium suum ab aeterno ex se et in essentia sua gignit, dando ipsi hypostasin: seu Pater in se ipsum reflexus gignit Filium tanquam cha­ racterem suae Hypostaseos per modum intellectus sive sapientiae>Verbum, seu id quod intelligitur, est imago patris, quia pater verbum per­ cipiens id ipsum percipit quod ipse est, nempe Mens illam quae se intelligit. Perceptio ipsa seu Amor est Spiritus Sanctus. Deum enim percipere seipsum idem est quod sese amare>Nihil est quod magis hanc in unitate pluralitatem illustret quam quod ex­ perimur in nobis, nam Mens nostra percipit se ipsam. Ubi discrimen aliquod est inter personam percipientem et perceptam, quae tarnen unum individuum sunt. (...) Manifestum enim est aliquod discrimen esse inter id quod intelligit et quod intelligitur, quorum unum habet vim percipiendi, alterum vim ex­ hibendi, utrumque est una eademque numero Mens, nec tarnen omnino et per omnia dici potest unum esse alterum>Hypostasen«) durch die ebenfalls exakte Metapher des Lichtes ausdrücken. Das Licht ist das Medium der Sichtbarkeit schlechthin; die Quelle des Lichts ist selbst Licht und ist als solche sichtbar und macht sichtbar, indem sie leuch­ tet (und dadurch anderes erleuchtet). Das Leuchten des Lichts aber geht von der Quelle aus und wird von ihr erzeugt und ist doch selbst wieder nichts anderes als das Licht. Gott ist die Lichtquelle, Chris­ tus das Leuchten(oder Erscheinen), der Geist das Licht als Medium, das sichtbar macht. Man könnte dies auch mit Karl Barths Deutung der Trinität sagen: >>Gottes Wort ist Gott selbst in seiner Offenba­ rung.(...) Das bedeutet nach der Schrift für den Begriff der Offenba­ rung, dass Gott selbst in unzerstörter Einheit, aber auch in un­ zerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist.«81 Denn auch für die Offenbarung ist Quelle, Voll­ zug und Ergebnis ein und dasselbe, sofern sie nicht etwas anderes, sondern nichts als sich selbst offenbart,82 im Offenbarwerden also nichts anderes als die Spiegelung des Einen, Ersten, Absoluten ge­ schieht. Dies aber ist der Sinn jeder spekulativen Erkenntnis, dass sie die Erscheinung der reinen Selbstbezüglichkeit ist und darum auch nur eine Konfiguration des Absoluten oder Ganzen, weil jedes Mo­

ment des Absoluten, jedes Element des Ganzen nie rein selbstbezüg­ lich sein kann, sondern in einem Bezugsrahmen mit anderen Mo­ menten, anderen Elementen steht. Gerrau das drückt der Weltbegriff des monadologischen Systems von Leibniz aus (der darum auch die Substantialisierung der Welt zur monas monadum nicht vornimmt, welcher Ausdruck erst bei Christian Wolff auftaucht). Mit Leibniz erreicht die philosophische Trinitätslehre den Punkt, an dem sie sich ganz von der theologischen emanzipiert hat - so wie

80 Vgl. Hans Heinz Holz, Die Bedeutung von Metaphern für die Formulierung dialektischer Theoreme, Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Bd. 39, Heft 4/2000. 81 Kar! Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 111, Zürich 1932, S. 311. (hier zitiert nach Hanfried Müller, a.a. O. S. 79). 82 Insofern ist das Wort >>Offenbarung>fideistisch« aufzufassenden substantiellen Identität der drei Perso­ nen.86 Über das »Geheimnisrational>fideistisch« in Anführungszeichen, weil beide Aus­ drücke den gerneinten Gegensatz schon in einer weltanschaulichen Perspek­ tive erscheinen lassen, hinter die ja gerade zurückgegangen werden soll.

87

Das ist der Weg, den Hegels

Wissenschaft der Logik geht.

88 Das ist der Sinn der Aufgabenstellung, die Ernst Bloch dem

Geist der Utopie

zugrunde legt: »Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage>Kirchlichen Dogmatik«89 entwickelt er die Trinität aus der Verfassung der Offenbarung- das, was offenbart wird (Gott-Vater); das, wodurch es sich offenbart (Sohn); und der Vorgang des Sich-Offenbarens (Geist) sind hier ein und dasselbe. Das ist strukturell-relational überzeugend, auch wenn man das Was (das Substrat) dieser drei >>Hypostasen« unbestimmt lässt (das ganz Andere). In den §§ 10-12 jedoch entfaltet Barth nun die drei Hypostasen als unterscheidbare und unterschiedene Wirkeinhei­ ten-Schöpfer, Versöhner, Erlöser, und die quasi auseinander treten­ den, personal gedachten, addierbaren >>Eigenschaften« des Heilsgesche­ hens >>vergegenständlichen« sich wieder.90 Der Betrachtungswandel wird auch im Stil ablesbar: § 8 ist Ausdeutung unter äußerster An­ strengung des Begriffs, die §§ 10-12 verfallen in einen appellativen Predigtton. Diese Inkonsistenz der Argumentation dürfte kaum einer logischen Schwäche des so präzis und scharfsinnig denkenden Karl Barth zu­ zuschreiben sein. Sie liegt vielmehr in der Sache selbst begründet. Wer irgendwie-aus welchen Gründen auch immer-an einer tran­ szendenten Substantialität und Personalität Gottes festhalten will (und sich ihm dann doch diese Substantialität des ganz Anderen nur in einer weltlichen Erscheinung des innerweltlich Seienden zeigen kann), der muss das Paradox aushalten, die logisch stringente Strukturbe­ schreibung in die logisch inakzeptable Drei-gleich-eins-Formel zu überführen. Der Punkt, an dem sich dieser Umschlag vollzieht, ist durch den Satz credo ut intelligam (ich glaube, damit ich einsehe) bezeichnet. Christ kann man allein durch den Glauben (sola fide) sein, und jeder Versuch, den Glauben durch >>Beweisführung>Überredungim Lichte>Im Lichte>Gemeinschaft mit dem Vater hatganzen Gemeinde>diasporalen Ekklesiologie«11 entsprach, die die relative Selbstän­ digkeit der einzelnen Gemeinden zum Ausdruck brachte.

>>Die

Verkündigung des Evangeliums ging über das Verkehrsnetz des Rö­ mischen Reiches und wählte meistens die jüdischen Diasporagemein­ den als Ausgangspunkt. Damit ist die Mission auf die Stadt be­ schränkt. (...) Die recht unterschiedliche Herkunft der Missionare und die vielfältige Art, in der der neue Glaube weitergegeben wurde, führten zur differenzierten Ausgestaltung der Verkündigung über Christus; sie bedingten auch, daß der Glaube zu verschiedener christlicher Lebensgestaltung und unterschiedlicher Gemeindeform anregte. (...) Urchristliche Mission zielte auf die Gemeinde am Ort. (...) Die Ortsbindung brachte Unterschiede von Gemeinde zu Ge­ meinde mit sich. Die Erinnerung an die Anfänge der Gemeinde, ihre >Erstlinge im Glaubendie Gemeinde Gottes>Berufsmissionaredie definitive Zerrüttung der Poleis« fest, >>die Ausartung des Staates, ( ... ) mit schrecklicher Söld­ nerwirtschaft und in gewaltsamen Oligarchien und Demokratien, welche sich durch Gemetzel, Verbannungen und Aufteilungen des Grundeigentums manifestieren ( ...), während die Städte der Diado­ chenlande wenigstens ein ruhiges ökonomisches Dasein führten>Soweit das Indi­ viduum ökonomisch frei war, war es überhaupt frei und völlig der­ jenigen Tätigkeit fähig, die einem jeden zusagte. Jedermann ging also jetzt denWeg, den seine eigene Individualität ihm wies. ( ... )Was die Menschen zusammenführt, ist jetzt statt des politischen Interesses die private Tätigkeit>Unvermeidlich schwach war in den Dia­ dochenstädten die Religion, soweit sie nicht, sowohl was die Götter als was Lehren betraf, durch orientalisch-ägyptische Kulte ersetzt war; denn hier fehlte es ihr an den uralten lokalen Kulten, die bei den

13 14

Jacob Burckhardt, Gesammelte Werke, Bd. schichte 4, Darmstadt 1957, S. 492. Ebd., S. 556 f. und 558.

VIII, Griechische Kulturge­

Frühchristliche Theoriebildung im eschatologischen Horizont

119

frühen Griechen ihr stärkster Anhalt gewesen waren«.15 Burckhardts konservative Grundgesinnung hindert ihn aber daran, die sozialen Spannungen als objektiven Klassenwiderspruch zu erkennen; er bleibt bei einer patrizischen Verachtung der plebejischen Demokratie, wo­ mit die Zerfallserscheinungen der Polis und ihre weltanschaulichen Folgen nicht erklärt werden.16 Dass die weltanschauliche Stimmungslage der Spätantike mit der Abdrängung der Bürger von öffentlichen Pflichten in die Privatheit eng zusammenhing, wurde in der Geschichtswissenschaft immer wieder hervorgehoben. In Bezug auf die religiös Entwicklung hat Rudolf Bultmann dieser Erklärung für das Wuchern spätantiker Er­ lösungsreligionen (einschließlich des Christentums) Nachdruck ver­ liehen: »Das Gefühl, dem Schicksal ausgeliefert zu sein, bemächtigt sich weiter Schichten, zumal der wachsenden großstädtischen Bevöl­ kerung. Die politischen Umwälzungen, denen die alte Polis wie auch das republikanische römische Bürgertum zum Opfer fällt, und die wirtschaftlichen Veränderungen sind für den Einzelnen in ihren Gründen und Folgen nicht mehr übersehbar; ihr Gesetz ist nicht verständlich, und der Einzelne vermag nicht mehr, wie einst im be-

15 Ebd., S. 560. 16 Gibbon, a. a.O., cap, 15, nennt fünf Ursachen, die den Erfolg der christlichen Mission begünstigten: >>The inflexible, and, if we may use die expression, into­ lerant zeal of the Christians, derived, it is true, from the J ewish religion, but purified from the narrow and unsocial spirit which, instead of inviting, had deterred, the Gentiles from embracing the law of Moses. 2. The doctrine of future life, improved by every additional circumstance which could give weight and efficacy to that important truth. 3. The miraculous powers ascribed to the primitive church. 4. The pure and austere morals of the Christians.

5. The

union and discipline of the Christian republic, which gradually formed an independent and increasing state in the heart of the Roman empire>das Weltver­ hältnis des Menschen fragwürdig geworden ist. Die Möglichkeiten der Welt bringen dem Menschen nicht das entgegen, was er braucht, um eigentlicher selbst zu sein, um ein Dasein zu führen, in dem er die Welt und sich in ihr versteht«?19 Eine Änderung des Existenz­ und Weltverhältnisses hat doch Gründe. Die periodisch auftretenden und sich perpetuierenden wirtschaftlichen Krisen dafür verantwort­ lich zu machen, mag für die Zeit seit dem Endes des 2. nachchrist­ lichen Jahrhunderts richtig sein, als vor allem die Bauern dem zu­ nehmenden Steuerdruck nicht mehr gewachsen waren.20 Um dem generellen Phänomen der sich von der diesseitigen Welt abwendenden Heilssehnsucht besser gerecht zu werden, bedurfte es einer differenzierten Klassenanalyse der Sektengruppen; so weiß man,

18 Ebd., S. 165, 178, 186. 19 Ebd., S. 174. 20

Mazzarino, a. a. 0., S. 158 f. >>Das sogenannte >Erwachen der Bauern< zur Kai­ serzeit, das Ergebnis einer vielfältigen, durch die verschiedensten Umstände bedingten Missstimmung, kann auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Was da dumpf im Herzen grollt oder offen aufbegehrt, ist Verzweif­ lung über die drückenden Steuern oder Unmut über allzu knappe Zumessung der Lebensgüter oder, auf den kaiserlichen Domänen, der Zorn auf die hab­ süchtigen und brutalen Verwalter. ( ... ) Langsam nehmen hinter den bäuerli­ chen Massen die Nationen Gestalt an, die ethne, die nach der biblischen Exe­ gese des hl. Hippolyt am Ende der Zeiten das Imperium zerstören sollenverwerfli­ chen Schlechtigkeiten>verstrickt in Geschäfte und ReichtumNicht allein nehmt das, was Gott geschaffen hat, aus der Brühe, sondern gebt auch den Bedürftigen ab! W ährend sich nämlich die einen vom Überfluß an Speisen Krankheit für ihren Körper zuziehen und ihrem Körper Schaden zufügen, nimmt der Körper der anderen, die nicht zu essen haben, Schaden, weil sie nicht genügend Nahrung haben, und ihr Leib geht zugrunde. Dieser Mangel an Solidarität ist also schädlich für euch, die ihr besitzt und nicht den Bedürftigen abgebt. Blickt auf das kommende Gericht! Ihr Überschuß Habenden nun, sucht die Hungrigen auf ( ... ) Seht also zu, ihr, die ihr euch mit eurem Reichtum brüstet, daß die Bedürftigen

Frühchristliche Theoriebildung im eschatologischen Horizont

123

Gemeinden sprechen eine deutliche Sprache, welche Bevölkerungs­ schichten die Adressaten der Botschaft des Evangeliums waren. Der polemische Ton gegen die Ansammlung von Reichtum und luxuriöse Lebensführung lässt erkennen, dass das von Bultmann be­ schriebene Lebensgefühe2 seinen Ursprung hat in dem Macht- und Wohlstandsgefälle, das den ärmeren Bevölkerungsteilen - und das war die große Mehrheit - keine Chance zu einem befriedigenden Lebensgenuss bot. Die Quellen zur Sozialgeschichte berichten von den Umständen, Gewohnheiten und Ausschweifungen der herrschen­ den Klassen und allenfalls noch von jenem Mittelstand, der sich aus Großbauern, Händlern und Handwerksunternehmern rekrutierte. Rostovtzeff bemerkt, »daß sich der Hauptteil des angesammelten Reichtums in den Händen der städtischen Bourgeoisie konzen­ trierte«.23 Es lohnt sich, einige weitere Feststellungen des großen Wirtschaftshistorikers hinzuzufügen: Von Griechenland berichtet er für die nachalexandrinische Zeit, dass ein »großer Anteil des angesammelten Reichtums während der Zeiten des Krieges und der Anarchie im späten dritten, zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr. vernichtet wurde.(...) In Zeiten des Krieges und der Verwüstung verdienten einige geschäftstüchtige, skrupellose

nicht stöhnen und ihr Stöhnen aufsteigt zum Herrn und ihr ausgeschlossen werdet samt euren Gütern.>Witwen helfen und Waisen, Bedürftige aufsuchen, dieSklaven Gottes aus Nöten erretten, gastfreundlich sein (...)Schuldner nicht unter Druck setzen.>Das Ich kann sich nicht mehr als einen Fall des Allgemeinen verstehen und seine Beruhigung finden, wenn es den Blick vom Einzelnen auf das Ganze richtet. Das Ganze vergewaltigt ja den Einzelnen.>Die Ausbreitung der Mysterienreligionen ist symptomatisch für den Wandel des Existenzverständnisses in der Oikumene. Es kommt da­ ran zutage, daß das Weltverhältnis des Menschen fragwürdig geworden ist. (...) Für den Durchschnittsmenschen enthält die Welt primär die Möglich­ keiten des Schicksals; ihm weiß es sich ausgeliefert (...) Er weiß sich endlich dem dunklenSchicksal des Todes preisgegeben, dessen Herr er nicht werden kann. Die Gottheit, die ihm helfen kann, ist weder die in der Polis und ihrem Nomos waltende Macht, noch auch der Logos, das rationale Gesetz der Natur, das dem Kosmos seine Einheit gibt und dem Individuum seinen rich­ tigen Platz anweist. Es muß eine überweltliche Gottheit sein, deren Willkür oder deren Gnade er anheimgegeben ist>daß die Inflation, die seit Augustus zu dauernden Münzverschlechterungen geführt hatte, am An­ fang der Regierung des Severus sehr viel raschere Fortschritte machte; die in Silber ausgezahlte Löhnung der Soldaten hatte den größten Teil ihrer Kaufkraft eingebüßtJohannes der war in der W üste, taufte und predigte von der Taufe der Buße zur Vergebung der Sün­ den. Und predigte und sprach: Es ist kommt einer nach mir, der ist stärker denn ich, dem ich nicht genugsam bin, daß ich mich vor ihm bücke und die Riemen seiner Schuhe auflöse. Ich taufe euch mit Wasser, aber er wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.>Eine der am sichersten bezeugten Tatsachen im Leben Jesu ist seine Taufe durch Johannes im Jordan zum Beginn seines öffentlichen Wirkens. Johannes ist in seiner Art keine Einzelgestalt im palästinensischen Judentum des erstenJahrhunderts. Zum damaligen Zeitpunkt traten mehrfach mes­ sianische Protestgruppen auf, die für ein Programm der Erneuerung eintraten. Die Taufe desJohannes rettet den einzelnen ein für allemal vom kommenden Zorn Gottes. In ihrem Kern ist die Botschaft des Johannes eschatologisch ausgerichtet: Der Tag ist nahe, an dem das Gericht Gottes über Israel hereinbrechen wird. In diesem Punkt folgtJesus genau den Spuren seines Meisters vomJordan.Er teilt mit ihm die gleiche Endzeitperspektive mit der Ankündigung einer be­ vorstehenden Geschichtswende, gleichem Aufruf zur Bekehrung, neuem Heilsweg und gleicher Betonung der drängenden Situation.kommen mit des Himmels Wolken«>sekundär« historisch aus, aber räumt dann ein: >>Zunächst muß doch gefragt werden: nicht, was ist als geschichtlich denkbar? sondern: was ist als christliche Gemeindetradition verständlich? und dieser Frage ist die Frage nach dem geschichtlich Möglichen je nach dem einzelnen Fall ein­ oder nachzuordnen. Für die spätere christliche Tradition, aus der der Bericht auf alle Fälle stammt, konnte auch Jesu Messiasanspruch, der Hauptstreit­ paukt zwischen der Gemeinde und dem Judentum als Grund seiner Ver­ urteilung erscheinen«. In unserem problemgeschichtlichen Zusammenhang ist auf jeden Fall die Gemeindeüberlieferung maßgebend. Buhmann, Synoptische

Tradition, a. a. 0., S. 291. 38

Vgl. Buhmann, Theologie des NT, a.a.O., S. 28, Anm. 1, wo die Fundstellen der basileus-Nomination ausgewiesen werden.

39

Mark. 13,6 lässt keinen Zweifel daran, dass Jesus sich als Christus, d. h. als Messias versteht. 13,26 spricht dann vom Menschensohn und 14,62 besagt,

134

Glaube- Theologie- Philosophie

Die Verheißung der Erlösung- sei es metaphysisch von Schuld und Leid, sei es geschichtlich von Unterdrückung und Not - gehört zu den ununterbrochenen Traditionen des Judentums, in deren Kon­ tinuität sich Jesus und die frühen Christen dezidiert gestellt haben. >>Das Judentum hat in allen seinen Formen und Gestaltungen stets an einem Begriff von Erlösung festgehalten, der sie als einen Vor­ gang auffasste, welcher sich in der Öffentlichkeit vollzieht, auf dem Schauplatz der Geschichte und im Medium der Gemeinschaft, kurz, der sich entscheidend in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Erscheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann.«40 Der diesseitig-weltliche Charakter der jüdischen Heilserwartung lässt auch den personalen Träger des Erlösungsprozesses als einen diesseitigen Vollstrecker des göttlichen Willens einwirken, einen irdischen Part­ ner im Alten Bund, dem Vertrag Israels mit Jahwe, seinem Gott. Der Messias ist keine Verkörperung oder Erscheinung, die aus der Tran­ szendenz kommt, sondern ein König aus dem Geschlecht Davids. Der jüdische Messianismus geht zwar in apokalyptische Vorstel­ lungen, auch solche visionärer Art über, worauf Scholem Nachdruck gelegt hat, aber er ist bis in späthellenistische Zeit frei von einer Transformation ins Spirituelle. An der Schnittstelle des Umschlags von jüdischer in christliche Religiosität verschiebt sich die Idee des Messianismus aus dem Feld der historischen Hoffnung und dies­ seitigen Utopie in den >>ganz anderen« Bereich der Transzendenz. Die Kategorien verändern ihren Sinn. Im Vollzug dieses Wandels entstehen gänzlich neuartige Probleme. Dieser Wandel bereitet sich in der vorchristlichen jüdischen Ge­ schichte vor, in der die Reaktion auf die Fremdherrschaft zu ekstati­ schen religiösen Eruptionen führte!' >>Das Hauptthema aller religiösen

dass dieser >>in den WolkenZaun um das Gesetz>Fürst der Gemeinde« nicht notwendig in der Rolle des Hohenpriesters aufgehen, sondern kann im Richterstand über Gnade und Verdamm­ nis auch das Privileg des Ievitischen Messias übernehmen, Gottes Wort zu hören und zu verstehen und anzuwenden. Jedenfalls wird statt der zwei Messiasse der Phase der Heraufkunft des Gottesreichs bei dessen Eintritt nur noch ein Messias das Regiment des Herrn führen. Zweifellos ist Jesus von seinen Anhängern als dieser eine und letztendliche Messias der eintretenden Endzeit angenommen wor­ den - mit der deutlichen Konnotation, dass die Ankunft des Gottes­ reichs hier in dieser Welt geschehe, die Herkunft Jesu also durchaus und gewiss mit Bedacht aus dem Geschlecht Davids abgeleitet wer-

steht: Bereitet in der Wüste den Weg des Herrn, macht in der Steppe den Pfad für unseren Gott>Im Testamenturn Levi 18,3 ( ... ) ist von einem neuen Priester die Rede, welchem alle Worte des Herrn enthüllt werden und der auf der Erde ein Gericht der Wahrheit halten wird. ( ...) 1 QSB 5,20-26 wird der >Fürst der Gemeinde< mit davidisch-messia­ nischen Attributen eingeführt. Seine Aufgabe ist es, das Gottesreich zu er­ richten«. Schubert, a. a.O., S. 348 und 351.- Im Gegensatz zu Schubert und in Übereinstimmung mit M. Allegro (The Dead Sea Scrolls, Harmondswoth 1956) und A. Dupont-Sommer (Les Esseniens, Evidence 8 (1956), Nr. 59) neige ich dazu, die mit den Titulaturen >>Lehrer der Gerechtigkeit« und >>Toralehrer« verschieden benannten Prophetengestalten als ein und dieselbe eschatologische Instanz aufzufassen, also den Propheten nicht in Analogie zu den Messiassen aufzuspalten.

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den konnte. (Dabei ist zu beachten, dass auch die Hasmonäer­ Dynastie, die dem Makkabäer-Aufstand ihren Aufstieg verdankt, ihr Königtum als messianisches auffasste und König Sirnon sich die Titulatur >>Erhabener Hoherpriester, Feldherr und Fürst der Ge­ meinde« beilegte, mithin schon die endzeitliche Einheit der messia­ nischen Funktionen für sich in Anspruch nahm). Jesu davidische Herkunftslegende macht den Anklagepunkt des Synhedriums ver­ ständlich, er habe die messianische Königswürde usurpiert, und ein orthodoxer Pharisäer konnte ihn gar nicht anders denn als einen Betrüger ansehen, so wie ein Funktionär des Hasmonäerstaats in dieser Anmaßung den Tatbestand von Aufruhr und Hochverrat er­ füllt finden musste.47 In der Tat erklären sich die Gründe für die Ereignisse um Jesus und die spätere flutartige Ausbreitung des Christentums aus dem Gegensatz von politisch abstinenter ritualisierter Gemeinde des Ge­ setzes (der >>Synagoge>Die Kreise, die national-religiöse Hoffnungen hegten, glaub­ ten, Jesus würde nun das >Reich Israels< aufrichten und den Raum der poli­ tischen Freiheit schaffen, in dem sich das letzte Gottesreich verwirklichen könnte>Umgestaltung der Geschichtsauffassung« ein. >>Die Eschatologie der Propheten war ausschließlich diesseitig und national. ( ...) Zu der nationalen Eschatologie gesellt sich jetzt einerseits ein eigentümliches kosmisches, andererseits ein individuel­ les Motiv. Im Hintergrund des Kampfes zwischen Israel und dem Heidentum steht nach der Auffassung des Buches Daniel der Kampf der Engel im Himmel: der Kampf Michaels und seiner Engel mit den >Fürsten< der heidnischen V ölker. Michael wird in der Endzeit das heidnische Reich samt seinen himmlischen >Fürsten< vernichten. Das ewige Reich Israels wird darauf gegründet werden. Gleichzeitig wird dann auch die individuelle Vergeltung eintreten. ( ...) Damit ist zu­ gleich der Grund gelegt zu der apokalyptischen Lehre von den zwei Aeonen, von den zwei Weltzeiten, die einander ablösen werden: die gegenwärtige Welt der Herrschaft der Sünde und des Todes wird in der Endzeit durch eine neue Schöpfung ersetzt werden. Es handelt sich hier nicht mehr allein um die Antithese Israel und die Heiden, sondern um den kosmischen Gegensatz zwischen Heiligkeit und Sünde, Leben und Tod, Gott und Teufel«.49 Die religiöse Intention richtet sich nicht mehr auf das Verhältnis der Stammesgemeinschaft zu >>ihrem« Gott, der sie fördert und straft, sondern in gleichzeitiger Universalisierung und Individualisierung auf den Weltzustand im ganzen und die persönliche Beziehung zu Gott, auf dessen Gnade man hofft und dessen Urteil man fürchtet. >>Zu den ganz neuen eschatologischen Vorstellungen gehört auch die vom Welterlöser. ( ... ) Vorherrschend ist die Gestalt des >MenschensohnsMenschensohnhimmlische Jerusalem< ist ge­ radezu das Symbol der apokalyptischen Eschatologie. Doch wird zwischen der messianischen Zeit und der zukünftigen Welt unter­ schieden: das messianische Reich wird zum Zwischenreich«.50

49

Jakob Klatzkon/Jeheskel Kaufmann, Apokalyptik, in: Ebd., S. 228 ff.

50

Dies., ebd., S. 239 f.

Frühchristliche Theoriebildung im eschatologischen Horizont

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Paul Volz hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit dieser Universalisierung ins Kosmische auch die strukturelle Beziehung zur Geschichte verändert. >>Die Geschichte spielt im Himmel oder in den Wolken, nicht auf der Erde, die irdische Ge­ schichte ist dann nur ein Abbild der himmlischen Vorgänge. ( ... ) So ist keine natürliche Vermittlung, keine Entwicklung von der Ge­ genwart zur Zukunft. Das Reich kommt durch ein Wunder.(... ) Die Jenseitsstimmung hat das Christentum mit dem apokalyptischen Judentum gemein, wie überhaupt die ganze Weltrichtung und Stim­ mung des apokalyptischen Judentums zeigt, daß wir vielfach den Schnitt zu ziehen haben nicht zwischen dem Judentum und dem Christentum, sondern zwischen dem Alten Testament und dem Ju­ dentum-Christentum«.51 Von daher kommt ein merkwürdiger Wider­ spruch in die frühchristliche Religiosität. Einerseits verweist die Heilserwartung in eine ungeschichtliche Transzendenz, andererseits ist die einmalige Personalität des Wirkens Jesu und überhaupt das Ereignis der Menschwerdung Gottes eine geschichtliche Setzung. So entsteht für die T heorie das Problem, wie religionsphilosophische und geschichtsphilosophische Kategorien in ihrer unterschiedlichen Intentionalität aufeinander bezogen und in eins gedacht werden können. Augustinus wird für den Umgang mit diesem Problem das Denkmuster liefern. Die Projektion des »Bundes« in die Transzendenz entspricht dem Übergang von einer monistischen zu einer dualistischen Welt­ anschauung. Der schlechten, sündhaften, verworfenen Welt steht das Heil des Gottesreichs gegenüber, der Macht der Finsternis die Ge­ stalt des Lichts, den Dämonen die Engel, der Hölle der Himmel, dem Teufel Gott. Alfred Loisy fasst den neuen Schwerpunkt der Religiosität zusammen und bemerkt dazu, es komme darauf an, die Quelle zu bestimmen, aus der diese neue Religiosität gespeist wird und ob die Lehre Jesu von daher beeinflusst wurde oder ob ihre Auf­ fassungen erst im Verlauf der frühchristlichen Zeit in die evangelische Überlieferung eingedrungen sind; »der richtige Ausgangspunkt ist jedenfalls die synoptische Überlieferung>Die Auf­ fassung des höchsten Wesens als Licht und Leben; die beständige Antithese

140

Glaube- Theologie- Philosophie

Dualismus in die monistische Geisteswelt des Alten Testaments auf orientalische, vorab iranische Einflüsse zurückgeht, sei dahinge­ stellt.53 Es beherrscht das Denken der Gnosis, später dann den Man­ däismus und Manichäismus.54 Wie immer die historische Quellenlage ist, der Dualismus ist eine systematisch notwendige Folge der Spiri­ tualisierung des Religiösen. Wenn dieses von seiner gesellschaftlichen Funktion abgelöst wird- >>mein Reich ist nicht von dieser Welt« -, so entsteht das Problem, die Differenz von Jenseits und Diesseits, von Tranzendenz und Weltwirklichkeit, von Geist und Materie55 zu bestimmen und ihr Verhältnis zu klären. Die radikal monistische Welt- und Gottesauffassung der Alten Testaments, die kosmologisch in der Genesis, normativ im Dekalog und theokratisch in den Herr­ schaftsgesetzen des Deuteronomiums formuliert ist, stellt das christ­ liche Selbstverständnis vor Probleme, die nur in der Konstruktion der Einheit des Unterschiedenen gelöst werden können: das Wesen der Gottessohnschaft, der Ursprung des Bösen, Vernunft und Will­ kür im Handeln Gottes, Prädestination und Freiheit im Handeln der Menschen ... Sobald streng logisch die Transzendenz des Göttlichen als >>das ganz Andere« gedacht wird und folglich in seiner Anders­ heit auch nicht mehr mit den Kategorien des Weltlichen begriffen werden kann, aber mit ihnen ausgedrückt werden muss) entspringt die Denkbewegung, die die europäische Philosophie von den Kir­ chenvätern bis zu Hegel zu immer neuen und verfeinerten Konzep­ tionen für die Einheit von Einheit und Widerspruch fortgetrieben hat. Am Anfang steht das Paradox der Menschwerdung Gottes und das

skandalon des Kreuzes.

Licht-Finsternis; der Gedanke des gegenwärtigen, der Finsternis ausgeliefer­ ten Zeitalters, das in der Zerstörung dieser vergänglichen Welt aufgehoben werden soll, und des künftigen Zeitalters, des ewigen Lebens in der göttli­ chen Welt; die Vorstellung von einem himmlischen Gesandten, dem Licht und dem Leben, dem Offenbarer der Heilswahrheit(...); die irdische Epipha­ nie dieses Gesandten und sein dauernder Beistand für die Gläubigen>Grundfrage der Philosophie>neuen Le­ bens>neuen Zeitalters>Bereits die ersten Christen beriefen sich auf die jüdischen Heiligen Schriften als Autoritäten, um die Geschichte Jesu aus Nazaret mit dem Gott Israels in Verbindung zu bringen. (...)Die meisten Septuaginta-Zitate im Neuen Testa­ ment entstammen dem Psalter und dem Jesajabuch (gefolgt vom Exodus und Deuteronomium), deren als christologisch besonders bedeutsam verstandene Aussagegehalte zahlreiche Ansatzpunkte für ihre begründete Verknüpfung mit dem apostolischen Kerygma ermöglichte>schlechte Unendlichkeit>Entweder nämlich muß unser Denken halt machen bei dem Gotte, der die Welt gemacht hat, und annehmen, daß er aus eigener Macht und von sich selbst die Idee der Welt empfangen hat, oder man wird gezwungen sein, wenn er von irgend einem anderen den Anstoß empfangen hat, immer weiter zu fragen: Woher hat denn der, der über ihm ist, die Idee der erschaffenen Dinge? Wie viele solcher Emanationen gibt es? Welches ist die Wesenheit des Vorbildes?Zu erklären bleibt also, warum Gott gerade diese Ordnung gewollt hat>Mit großer Weisheit und Sorgfalt, offen­ bar zweckmäßig und schön ist alles von Gott gemacht worden, so­ wohl das Alte als auch alles, was in den letzten Zeiten von seinem Wort gemacht worden ist>Damit man nicht glaube, daß wir dem Beweis aus der Schrift des Herrn aus dem Wege gehen wollen, wo doch die Schriften eben dasselbe noch viel deutlicher und klarer verkünden, so wollen wir noch für alle, die das Rechte wollen, ein eigenes Buch mit den einschlägigen Schriftstellen folgen lassen und aus den göttlichen Schriften den offenkundigen Beweis erbrin­ gen für alle Freunde der Wahrheit«.40 Die Architektur, die sich in den Büchern 3 bis 5 anschließt, haben wir schon skizziert. Für die Ge­ schichte der Dialektik braucht sie uns hier nicht weiter zu interessie­ ren. Entwicklungsgeschichtlich wichtig ist, dass mit Justinus und vor allem lrenäus ein neuer Diskurstyp in die christliche Lehre eindringt, der neben die Verkündigung und immer mehr an ihrer Stelle die Argumentation treten lässt - allerdings nicht so sehr in der Form aristotelisch-stoischer Logizität, sondern eher im Sinne forensisch­ rhetorischer Rechtfertigungs- und Durchsetzungsstrategien, was sich für die Apologetik von selbst versteht, aber weit darüber hinaus sich fortsetzt. Darauf wird im Zusammenhang der Diskussionen des Hochmittelalters noch eingegangen werden müssen.

40 Irenäus, a.a.O., S. 206 f.

Das Werden der theologischen Systematik

205

2. Der dialektische Ursprung der Theologie aus der Apologetik. Tertullian a) Christenverfolgung Verfolgung und Martyrium als Wesenszüge des Konstitutionsprozes­ ses der Kirche sind ein Bestandteil der Lehr- und T heoriegeschichte, ein Korollar der sich ausbildenden theologischen Dogmatik. Der Historiker muss mit dieser Tradition vorsichtiger umgehen. Eine plan­ mäßige, gar universelle Verfolgung der Christen gab es im Römi­ schen Reich keineswegs. Anklagen, Hinrichtungen und Pogrome waren zeitlich und lokal begrenzte Vorgänge, in jedem Falle schrecklich genug, aber keine allgemeine religionspolitische Strategie der Kaiser.'1 Das römische Imperium verhielt sich gegenüber fremden Reli­ gionen tolerant oder vielmehr indifferent. Die polysemantische Reli­ giosität der hellenistischen Welt erlaubte es, jeglichem Kult und Glaubensinhalt in der Weltanschauungspluralität einen Platz einzu­ räumen und ihn gegebenenfalls in den allgemeinen Synkretismus zu integrieren. Lokale und stammeskulturelle Besonderheiten wurden respektiert, sofern sie sich nicht gegen die verbindende Idee der Reichseinheit und römischen Oberhoheit auflehnten. Die Gemein­ samkeit der im Römischen Reich zusammengefassten V ölkerschaf­ ten, Kulturen, Traditionen war eine politische, und nur als eine sol­ che wurde sie auch durch einen religiösen Staatskult abgesichert, der sich mit anderen Formen der Verehrung durchaus vertrug. In diesem Sinne vollzog sich beim Übergang von der Republik zum Prinzipat ein religionspolitischer Wandel. Bis zum 2. Triumvirat

41

Antonie Wlosok, Die Rechtsgrundlagen der Christenverfolgungen der ersten zwei Jahrhunderte, in: Richard Klein (Hg.),

mischen Staat,

Das frühe Christentum im rö­

Darmstadt 1982, S. 275 ff., hier S. 290: >>Zusammenfassend ist

über den Verlauf der Christenverfolgungen aus ihrem Verlauf folgendes zu konstatieren: 1. Sie sind durchwegs sporadisch, zeitlich diskontinuierlich und auf bestimmte Rechtsgebiete beschränkt. Bis in die 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts hören wir überhaupt nur aus Rom und Kleinasien von Christenprozessen. Erst seit Mare Aurel dehnen sie sich auch auf die westlichen Provinzen aus: 177 Lugdurrum (Lyon), 180 Africa, 201 Ägypten. 2. Sie werden häufig von Volkstumulten in Bewegung gesetzt oder zumindest begleitet. Dagegen ist der Magistrat in der Anstrengung von Prozessen ge­ wöhnlich passiv, zuweilen sogar ablehnend gegen Anzeigen und in der Durch­ führung des Prozesses von der Volksstimmung abhängig.>So stellt Varro sehr selbstbewußt fest, daß er

Antiquitates divinae hinter die Antiquitates humanae gestellt civitas muß Vorrang vor den Institutionen der divinitas haben>Es scheint, als habe sich der Staat nur dann zu Maßnahmen gegen einen fremden Kult entschlossen, wenn dieser offenkundig die Ord­ nung und die öffentliche Moral bedrohte>Coerci­ tien« zu, bei denen die Schuldfeststellung weitgehend im Ermessen der Ermittlungsinstanzen lag und die Verteidigungsmöglichkeiten, die im Anklageprozess vor dem Quaestionengericht genutzt werden konnten, hier nicht zum Zuge kamen.

63 Zum mindesten kann die Formulierung des zweifelhaften lnstitutum Nero­ nianum non licet esse Christianus als Ausdruck einer Volksmeinung gelten, die die christlichen Gemeinden als collegia illicita betrachtete. Vgl. J. W. Ph. Borleffs, >>lnstitutum Neronianum>De pallio«, in: R. Klein (Hg.), Das frühe Christentum ..., a.a.O., S. 106 ff., hier: S. 107, sagt van Berchem im Vergleich mit dem Bacchanalienskandal: »Nicht die Tatsache, daß sie einen fremden Kult pflegten, sondern vielmehr, daß man ihnen gotteslästerliche Orgien, Mordtat, Blutschande und andere Vergehen gegen die allgemeine Rechtsord­ nung vorwarf«, habe die strafrechtliche Verfolgung ausgelöst.

Das Werden der theologischen Systematik

215

b) Apologetik Wir haben gesehen, dass die heidnische Polemik gegen das Christen­ tum auf verschiedenen Ebenen vorgetragen wurde: staatsrechtlich, philosophisch, populistisch. In der »Verweigerung des Kaiserkults, der geradezu orientalischen Form des crimen maiestatis>unrömische Haltung>Die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde war konstitutiv für das Christsein des ein­ zelnen. Er war also nur Christ als Anhänger einer bestimmten Ge­ meinschaft. Diese zeichnete sich durch regelmäßige geschlossene Zusammenkünfte, ohne Trennung der Geschlechter, gewöhnlich außer­ halb der normalen Tageszeiten aus. Den Inhalt dieser Zusammen­ künfte bildeten kultische Vollzüge, Gebet, Belehrung, gemeinsame kultische Mahle, Initiationsriten wie das Taufsakrament. Die Anhän­ ger nannten sich untereinander >Brüder< und >Schwestern< , zeichneten sich durch enge Verbundenheit und teilweise Gütergemeinschaft aus. Die Gemeinde hatte eine bestimmte Verfassung, einen Vorsteher, einen Ältestenrat und andere Amtsträger. Sie war also organisiertdürfen wir nicht vergessen, daß das Christentum in seinen frühen Tagen eine niedere Religion war. Nicht nur, daß die meisten seiner Anhänger niedrigen Standes waren und wenig oder keine Bildung hatten, auch ihre heiligen Bücher waren roh und bar­ barisch und verfaßt in einem Griechisch oder Latein, das das Fein­ gefühl eines jeden gebildeten Menschen verletzte>Passus est autem beatissimus Cyprianus martyr die octava decima kalenda­ rium Octobrium sub Valeriana et Gallieno imperatoribus regnante vero do­ mino nostro Iesu Christo cui est honor et gloria in saecula saeculorum>abhängig>Männern, die durch ihre makellose Gerechtigkeit würdig waren, Gott zu erkennen und zu offenbaren>Wir sind Sie­ ger, wenn wir umgebracht werden.(...) Mögt ihr uns immerhin Reisig­ und Pfahlleute nennen, weil wir, mit dem Rücken an den Pfahl eines halbierten Brettes gebunden, rings mit Reisig umgeben und verbrannt werden, - dies ist unsere Siegesgebärde, dies ist unser Siegesgewand, auf solchem Wagen feiern wir Triumph>Engagement>Vivos enim iustitiae innocentia dignos deum nosse et ostendere.>Vicimus, cum occidimur. (...) Licet nunc sarmenticios et semaxios appelletis, quia ad stipitem dimidii axis revincti sarmentorum ambitu exurimur, hic est habitus victoriae nostrae, haec palmata vestis, tali curru triumphamus.Cruciate, torquete, damnate, atterite nos: probatio est enim innocentiae nostrae iniquitas vestra. (...) Multi apud vos ad tolerantiam doloris et mortis hortantur, ut Cicero in Tusculanis, ut Seneca in Fortuitis, ut Diogenes, ut Pyrrhon, ut Callinicus; nec tarnen tantos inveniunt verba disci­ pulos, quantos Christiani factis docendo.>Die Wahrheit steht nicht mehr in kühler Neutralität über den streitenden Parteien, sondern sie ist selbst in Christus konkret geworden und lebt in einer bestimmten Gemeinschaft, in einer bestimmten Lehre, in einem bestimmten Wortdaß sein ganzes Leben und die unter den Juden vollbrachten Taten gewaltiger für ihn sprächen als eine Rede, die das falsche Zeugnis widerlegt hättenicht nur als wahr zu >beurteilenbefolgen< und dadurch als wahr zu erweisendaß der erst kürzlich Gekreuzigte freiwillig diesen Tod für das Menschengeschlecht auf sich genommen habe, ähnlich wie jene, die für ihr Vaterland gestorben sind, um es von drückenden Seuchen oder von Mißwachs oder von Stürmen, welche die Schiffahrt bedrohten, zu befreien.>Und doch gilt all eure ausgeklügelte Grausamkeit

nichts;

ein

Lockmittel

ist

sie

eher

für

unsere

Gemeinschaft. Nur zahlreicher werden wir, so oft wir von euch nie­ dergemäht werden: ein Same ist das Blut der Christen«.83 Die Kirchenväter haben die kämpferische Gebärde der Apologe­ tik aufgenommen, aber sie haben die apologetische Intention nicht einfach fortgesetzt, sondern sie ins Offensive gewendet. Aus Vertei­ digern der Christen sind sie zu Anklägern ihrer Verfolger geworden. Dieser Richtungswandel von der Apologetik zur Polemik hatte bedeutsame Veränderungen des Stils zur Folge-Stil im doppelten Sinne von Lebenshaltung und sprachlicher Ausdrucksform verstanden. An die Stelle der Bereitschaft zur Hinnahme von Ungerechtigkeit und Leiden trat nun die Überzeugung vom Sieg der gerechten Sache durch Leiden. War das Martyrium zunächst eine duldende imitatio Christi, so wird es nun zum Vorzeichen der ecclesia triumphans. Der Gegner wird nicht mehr beschwichtigt, sondern eingeschüchtert; der An­ hänger nicht mehr getröstet, sondern begeistert. Das Zutrauen in die Überzeugungskraft des eigenen Glaubens war unüberwindlich ge­ worden. Damit stellte sich nun aber zugleich eine neue Aufgabe. Es reichte nicht mehr, die Argumentationsmuster der klassischen Rhetorik auf­ zunehmen und nach ihnen die Verteidigungsrede zu gestalten. Viel­ mehr kam es darauf an, eine neue Linienführung der Argumentation zu entwickeln, die den Gehalten der christlichen Verkündigung an­ gemessen war. Es genügte nicht, den Glauben gegen das kritische Denken zu stellen; die Legitimität des Glaubens musste erwiesen werden -und sie beruht darauf, dass den Worten Jesu ein höherer Status gesichert werden konnte als denen jedes anderen Menschen. Der Mensch Jesus musste, über den Rang jedes Propheten hinaus, zur Göttlichkeit des Christus Jesus gesteigert werden. Der Messias, im altjüdischen Schrifttum der König der Juden, wurde nun, in An­ lehnung an den aus der Sektensprache stammenden Terminus >>Men­ schensohn«, zum Sohn Gottes, zur Inkarnation der göttlichen Sub­ stanz. Die Ausbildung eines einfachen Glaubens zu einer systema-

83

Tertullian, a.a.O., S. 222/223. >>Nec quicquam tarnen proficit exquisitior quaeque crudelitas vestra; illecebra est magis sectae. plures efficimur, quotiens metimur a vobis: semen est sanguis Christianorum.Es wird nämlich eine allgemeine Religionsfreiheit verkündet und da­ bei das Christentum gleichrangig neben alle anderen Religionen gestellt: ut

daremus et Christianis et omnibus liberam potestatem sequendi religionem quam quisque voluisset (§ 82). So wie das Christentum hier als ein Teil der Götterwelt des Reiches gedacht ist und gleichen Rang mit den anderen Reli­ gionen hat, wird in dem Edikt auch die gesamte Götterwelt mit Einschluß des Christengatts unter dem Begriff der divinitas zusammengefaßt (quicquid

est divinitas in sede caelesti § 2) und der Kaiser als der Anhänger dieser summa divinitas und als deren Günstling gesehenGesetZ< gesetzmäßigen allgemeinen Kirche«

>>gesetzmäßig>allgemein>Die Kirche verlor im Prinzip ihre Selbständigkeit, sank zu einer staatlichen Institution herab und wurde der obersten staatlichen Gewalt un­ tergeordnet. Auf der anderen Seite aber gewann die Kirche. Sie wurde wirk­ lich einheitlich. Sie erlangte für sich und ihren Klerus besondere staatliche RechteJeder­ mannphilosophie« die weltanschaulichen Vorstellungsgehalte aus vie­ lerlei Quellen sich mit den christlichen vermischten und diese zu zersetzen drohten. Die konstantinische Wende eröffnete die Möglichkeit, dass das Christentum als Religion vom Staat hätte absorbiert werden können. Ganz offensichtlich lief auch die Politik der Kaiser auf dieses Ziel hinaus, und in Bezug auf die Institution Kirche hat ja über andert­ halb Jahrtausende hinweg, durch viele Kämpfe hindurch, auch ein Verschmelzungsprozess stattgefunden. Dass aber das Christentum in der Spannung zwischen Spiritualität und Organisation sich gegen­ über der Einpassung in die Weltlichkeit behaupten konnte, hat seine ideelle Voraussetzung in dem dialektischen Konzept der zwei civi­ tates, mit dem Augustinus in der Dreistufigkeit von emotionaler Er­ regtheit der >>Soliloquien«, intellektueller Systematik der Theologie und politischer Konsequenz in der Geschichtstheorie einer univer­ sellen Lebensphilosophie ihre Koordinaten gab.

3. Von Nicaea nach Chalcedon Bei der Einberufung der Reichssynode nach Nicaea war sich Kon­ stantin keineswegs darüber im Klaren, dass er eine theoretische Kernfrage der christlichen Lehre zu beantworten hatte, die aus der Notwendigkeit entsprang, dem einfachen Glauben eine philosophi-

262

Glaube- Theologie- Philosophie

sehe Präzision zu geben, die ihm ursprünglich nicht eigen und in der Endzeiterwartung der Verkündigung auch überflüssig war. Ihm ging es, entsprechend seiner Funktion als pontifex maximus für alle Re­ ligionsgemeinschaften, um eine »einheitliche Haltung« in den christ­ lichen Diözesen, wie er in dem Brief schreibt, den er an Bischof Alexander von Alexandria und an Arius richtet. Der Kaiser als Oberhirte kann Schismen nicht zulassen, wenn er die Kongregation als Rechtssubjekt auffasst. Es waren die konkurrenzierenden Bi­ schofs- und Priesterweihen und die Exkommunikationen, die er unterbinden wollte und unterbinden musste, damit er den Christen einen bevorzugten Rang einer Reichsreligion zugestehen bzw. zu­ schreiben konnte. Die theologischen Querelen erschienen ihm dabei nebensächlich und als ideologische Verklärung machtpolitischer Aus­ einandersetzungen. >>Dabei verglich er die Debatte mit einer De­ taildifferenz zwischen Philosophen, die sich im Grundsatz einig seien. Die >Uneinigkeit untereinander ist durch uns entstanden, weil wir untereinander über so unbedeutende und keineswegs notwendige Fragen streiten. So etwas ist pöbelhaft und eher unvernünftigen Kin­ dern angemessen, als es sich für den Verstand von Priestern und ver­ ständigen Männern schickt< (71,3)>frem­ den>Die in Nicaea dezidiert vom Kaiser intendierte Versöhnung scheiterte freilich; der Streit, der nun zwi­ schen dem seit 328 als Bischof in Alexandrien amtierenden Athana­ sius und Melitius bzw. den Melitianern ausbrach, hatte nicht zuerst theologische Gründe. Die Kontakte zwischen den Melitianern und

6

Charles Pietri und Christoph Markschiess, Theologische Diskussionen in der Zeit Konstantins, in: Charles und Luce Pietri (Hg.), Die Geschichte des Christentums, Bd. II, Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 271 ff., hier S. 300 ff.

Die Theologie der Konzilien

263

eusebianischen Theologen, die Athanasius als >Arianer< betrachtete, hatten seit 325 eher kirchenpolitische Motive«.7 Wenn Konstantirr auf die Verabschiedung eines verbindlichen Glaubensbekenntnisses drängte, so hatte das den Grund, die organisatorische Einheit der Kirche zu garantieren. Es war dem Kaiser (wie sich im Verlauf der Religionspolitik nach Nicaea zeigte) gleichgültig, welche Version autoritativ galt. Seine Entscheidung war abhängig von den politi­ schen Umständen, unter denen ihm die eine oder andere Fraktion dem Staatsziel näher zu stehen schien. Wir müssen also in den Wechselfällen der konziliaren Streitig­ keiten zwischen Nicaea und Chalcedon zwei Ebenen unterscheiden: eine, auf der sich Reichs- und Kirchenpolitik verschränken, und eine andere parallele, auf der die dogmatischen Kontroversen ausgefoch­ ten werden. Für die dialektische Begründung der systematischen Theologie ist die zweite Ebene die tragende; hier wurden die Ent­ scheidungen gefällt, die die geistige Struktur der katholischen Kirche prägten. Die zweite Ebene wurde zum Feld, auf dem sich die ge­ sellschaftliche Rolle der Kirche im Zusammenspiel und Widerstreit von weltlicher und geistlicher Macht, von Kaiser und Papst ideolo­ gisch herausbildete; hier entwickelte und schärfte sich die Dialektik der Scholastik. Die knapp anderthalb Jahrhunderte, die zwischen der ersten For­ mulierung des Glaubensbekenntnisses zu Nicaea und der endgül­ tigen Fassung und Bestätigung in Chalcedon liegen, sind erfüllt von Streitigkeiten, in denen theologische Positionen und Machtansprüche von Metropolen, Bischöfen, Gemeinden ein unentwirrbares Gemisch bilden. Kirchenprovinzen standen gegeneinander, Ortsbischöfe gegen ihre Metropoliten, Presbyter gegen ihre Bischöfe. Gemeinden be­ standen auf ihrer Selbstständigkeit. Synoden wurden einberufen, die sich gegenseitig für unrechtmäßig erklärten, die einen exkommunizier­ ten die Protagonisten der anderen. Verfälschungen von Lehrmeinun­ gen und Verleumdungen füllen die Dokumente und fanden ihren Nie­ derschlag in der historiographischen Überlieferung. Sogar Mordan­ schläge kamen vor. Wer mit dieser Periode der organisatorischen Stabilisierung des Christentums als Reichsreligion die Vorstellung eines Ideals von Christlichkeit verbindet, täuscht sich schwer. Die Geschichte der einander ablösenden Synoden und Konzile ist eine

7

Ebd., S. 288.

264

Glaube- Theologie- Philosophie

Geschichte von Machtkämpfen, Niederträchtigkeiten und weltlichen Intrigen, in die der kaiserliche Hof als Entscheidungsinstanz hinein­ gezogen wurde. Und da diese Auseinandersetzungen immer auch unter dem Vorwand der Sicherung der Rechtgläubigkeit geführt wur­ den, bekamen die Kaiser immer mehr politischen Einfluss auf theo­ logische Entscheidungen, und sie machten Gebrauch davon - von Konstantin bis T heodosius, und es sind zumeist reichspolitische Erwägungen und nicht solche der Frömmigkeit, von denen sie ge­ leitet werden. Dennoch ging es in der Tat immer auch um zentrale Probleme der theologischen Systematik.8 Wir haben gesehen, dass es für das Verständnis der Inkarnation wesentlich ist, ob Vater und Sohn eine konsubstantielle göttliche Einheit bilden oder ob Jesus als Gottes­ sohn eine vom Vater verschiedene göttliche Hypostase ist: Die Natur seines Menschseins und damit seiner Erlösungsfunktion ist dann anders zu charakterisieren. Wir brauchen die vielen Varianten, die zwischen den Extremen einer monophysitischen und einer dyophy­ sitischen Lösung liegen, hier nicht zu erörtern. Die Hauptfronten bildeten sich entlang der logisch-metaphysischen Differenz in der Auffassung, ob Jesus mit Gott wesensgleich (homoousios- OflOOumoc;) oder wesensähnlich (homoi ousios - OflOLOUatoc;) zu gelten habe. Die zweite Formel, die der natürlichen Abkünftigkeit des Sohnes vom Vater Rechnung trägt, erlaubt auch die Annahme einer Doppelnatur J esu als Gottessohn und Mensch und vermeidet das Paradox, dass Gott in der Wesenseinheit mit seinem Sohn am Kreuz gestorben sei. W äre Christus als Gott aber nur dem weltlichen Schein nach am Kreuz gestorben, so gäbe es auch keine reale Auferstehung, sondern nur das ewige Leben Gottes in der Transzendenz. Die >>arianische>allen Völ­ kern« (cunctos populos), dass sie der nicaenischen confessio fidei zu folgen hätten, wenn sie dem Ausschluss aus der bürgerlichen Ge­ sellschaft entgehen wollten. Die Verordnung zielte auf die Wieder­ herstellung der religiösen Einheit des Reichs, wo sich der Westen zur Wesensgleichheit bekannte, während der Osten heillos zerstritten blieb. Die auf die ideelle Verankerung der Reichseinheit zielende Politik des Kaisers bestimmte autoritativ die Beschlüsse des Konzils von Konstantinopel381. Indessen darf man nicht außer acht lassen, dass es auch kir­ chenpolitisch wirksame theologische Motive gab, die gegen die »phi­ losophische>Da nämlich Gott als der allmächtige Vater geglaubt wird, wird auch der Sohn als ihm mit­ immerwährend (consempiternus) erwiesen; in nichts vom Vater ver­ schieden, weil von Gott; vom Allmächtigen allmächtig; vom Ewigen geboren ist er mitewig, nicht später hinsichtlich der Zeit, nicht ge­ ringer hinsichtlich der Macht, nicht unähnlich hinsichtlich der Herr­ lichkeit (gloria), nicht verschieden hinsichtlich des Wesens (essentia)«.10

10

Quellen zu Leo dem Großen vgl. Pietri (Hg.), Geschichte des Christentums, Bd. III, a. a. 0., S. 52.

266

Glaube- Theologie- Philosophie

Leo wusste dem Anspruch des römischen Bischofs auf den Lehr­ primat eine sozusagen mystagogische Rechtfertigung zu geben: Petrus sei unmittelbar durchdrungen gewesen vom Logos, habe aber den übrigen Aposteln nicht den ganzen Logos mitteilen können; dieser sei allein auf den jeweiligen Bischof von Rom als Nachfolger Petri übergegangen. »Durch dies dem Petrus gewordene und durch ihn allein auf die römischen Bischöfe übertragene Plus gründete Leo den Bestand der Kirche. Petrus besaß nicht wie die übrigen Apostel einen Teil der Machtfülle Christi, sondern diese ganz> Innozenz I. begründete den Primat Roms einfach damit, daß Petrus sich hier länger als in Antiochien aufge­ halten. Leo zeigte, warum Petrus gerade Rom zu seinem Bischofs­ sitz machen musste. Weil Rom das Haupt der Welt gewesen sei, habe sich auch hier das Haupt der Kirche erheben müssen>Der Papst (ep.

119,2) sprach von der >Lehre, die er­ (tradidit), so wie er sie von der Wahrheit, die er bekannte, empfangen hat (suscepit)Tomus ad FlavianumPetrus hat dies durch Leo ver­ kündet< >Bildungsbürgertum«, das schon den heidnischen Religionen mit der aufgeklärten Skepsis stoischer und mit­ telplatonischer Philosophien gegenübergestanden hatte, nahm diese distanzierte Haltung auch zum Christentum ein. Soweit man sich über­ haupt darum kümmerte und nicht nur nach altrömischem Verständnis die kultischen Pflichten einhielt, übernahm man die Axiomatik des Glaubensbekenntnisses und gab ihr eine philosophische Interpreta­ tion, die die Paradoxa intellektuell annehmbar machte; im lateinischen Westen trug diese Interpretation mehr stoische und ethische Akzente, im griechischen Osten mehr platonische und metaphysische. Man muss nicht meinen, dass die Kontroversen, die die Berufstheologen in Syno­ den ausfochten, das allgemeine Glaubensverhalten so tiefgreifend be­ einflußten, wie es aus der schriftlichen Überlieferung erscheinen mag, die ja eben nur diese Diskussionen wiedergibt; eher wird man in den theologischen Positionen den Reflex der Probleme sehen dürfen, die die Priester im Umgang mit dem Laienverständnis hatten, und daraus Rückschlüsse auf die religio communis ziehen. Jedenfalls zeigt sich in der Entwicklung von den frühen Kirchenvätern bis zu Boethius eine zunehmende lntellektualisierung des Glaubens, die der ursprünglichen Heilsverkündigung vor- bzw. nicht-christliche Elemente beimischte, die man aus späterer Sicht vielleicht aufklärerisch nennen würde, jedoch in diesen Jahrhunderten eher als heidnisch bezeichnen muss.16

16

In der stillschweigenden oder expliziten Abweichung vom klerikal festgeleg­ ten Dogma machen sich Weltanschauungselemente geltend, die je nach Zeit­ lage und Umständen (und je nach Perspektive des Historikers) als heidnisch, als sektiererisch, als ketzerisch, als aufklärerisch charakterisiert werden kön­ nen. Die Gesichtspunkte gehen gleitend ineinander über.

Die Theologie der Konzilien

271

Aber schon die Tatsache, dass zur Missionssprache der Christen das Griechische wurde und dass ein Großteil der Schriften, die die Inhalte des neuen Glaubens verbreiteten, verteidigten und kommen­ tierten, in Griechisch verfasst war, musste eine Infiltration der Lehr­ gehalte mit nicht-christlichem (d. h. ja doch abweichend vom ur­ sprünglich judenchristlichen) Geiste zur Folge haben. Die harsche Ablehnung griechischer Literatur und Philosophie bei den Apolo­ geten erklärt sich auch daraus, dass sie von Stil und Terminologie der klassischen Philosophie, die gerade die Gebildeten für die Rezeption der neuen Religion empfänglich machten und ihr Verständnis lenk­ ten, eine Verfälschung der Glaubensbotschaft befürchtetent und dies, obwohl sie selbst von dem Bildungsgut der Klassik durchdrungen waren und reichlich Gebrauch machten. »Man muß nur sehen, wie die Apologeten auf das Zeugnis der Tragödien- und Komödien­ dichter zurückgreifen, um ihre Darlegungen zu untermauern, oder wie die Dichterzitate ihre trockensten Ausführungen schmücken, um zu verstehen, daß sie nicht zum mindesten ihrer literarischen Bildung abgeschworen, noch die in den Schulen erlernten rhetori­ schen Grundsätze vergessen haben«.18 Je mehr sich die innerkirchlichen Auseinandersetzungen auf die theoretische und mithin systematische Begründung und Architek­ tonik der Glaubensinhalte konzentrierten und also über den Bestäti­ gungsmodus von Haeresiologie und Apologetik hinausgingen, umso zahlreicher wurden die Anleihen, die man bei den Denkmitteln der traditionellen Philosophie, insbesondere bei den Stoikern und bei Platon-Aristoteles machte. Der strenge Aufbau des symbolum von Chalcedon forderte geradezu eine formallogische und ontologische Kommentierung heraus. >>Die chalcedonische Christologie mit ihrer Terminologie - Person, Hypostase, Wesen, Natur, Proprietäten und die Reaktionen, die sie hervorrief, führten tatsächlich dazu, daß

17

>>Einer der wichtigsten Eindrücke, den die Lektüre der Apologien vermittelt, besteht darin, daß der Konflikt zwischen Christen und Heiden ebenso ein kultureller wie ein religiöser ist. (... )Die griechische Bildung (die paideia) im wesentlichen literarisch strukturiert, identifizierte sich damals völlig mit dem Heidentum. (... )Es waren die gesamten Leistungen der griechischen Kultur, die sich den Vorwurf der Gottlosigkeit zuzogen- dasjenige, was bereits der Redaktor des zweiten Makkabäerbuches den Hellenismus nannte - bis zu dem Punkt, daß die Termini >griechisch< und >heidnisch< gleichbedeutend wurdenGott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott«. Der Übergang von der Gottwesenheit zum Menschsein wird in der Idee der Errettung voll­ zogen (»wegen unserer Rettung«), also von Gottes Wesen als Güte und Liebe getragen, ohne dass die Frage nach der Kompatibilität des Leidens mit dem Gottsein auftaucht. Unter dem Einfluss des philo­ sophischen Wesensbegriffs und seiner Ausgestaltung in der griechi­ schen Philosophie wird aber dieser Widerspruch zu einer theologi­ schen Kernfrage, die die Kontroversen zwischen Nicaea und Chalcedon beherrscht und zu dem anderen Lösungsmodell des Chalcedonense führt: nämlich statt der in ihrem Modus unklaren Idee der Mensch­ werdung als Hervorgehen (Herabkommen) einen strengen Paralle­ lismus der Hypostasen zu konstruieren - eine aus der Rhetorik vertraute und in ihr schlüssige Figur, die zwar formallogisch als Subsumption zweier verschiedener Arten unter eine Gattung - der Hypostasen unter die Ousia- begriffen werden kann, aber genötigt

19

Bernard Flusin, Das reichskirchliche Christentum und seine Ausdrucksfor­ men, in: Luce Pietri, Die Geschichte des Christentums im Altertum, a. a.O., Bd. III, S. 647 ff, hier: S. 651.

20

Innovativ wagt sich Johannes Philoponos am weitesten vor, der >>die Tri­ nitätslehre neu überdachte: Gott, in drei Hypostasen seiend, muß auch als in drei Naturen seiend ausgesagt werdenvon

des Gedankens Blässe angekränkelt>Lamm Gottes>Amen>Wenn mich jemand sieht, so sieht er den Vater, sagt Christus. Darum hat man gesagt, dass der Sohn die Gestalt des Vaters ist. Nun darf man hierunter nicht eine Gestalt verstehen, die sich draußen, außerhalb der Substanz befände, oder wie bei uns das Antlitz, das zu der Substanz hinzukommt, sondern diese Gestalt ist eine subsistie­ rende Substanz, in welcher sichtbar wird und sich offenbart, was in

8

Ebd., I, 50 und 51.

9

Ebd., I, 51.

284

Glaube- Theologie- Philosophie

einer anderen verborgen und verschleiert bleibt. Gott ist nämlich sozusagen etwas Verhülltes, denn niemand sieht Gott. Der Sohn ist also die Gestalt, unter der Gott gesehen wird. (...) Gottvater ist das Sein und der Sohn das Leben. Der Sohn, das Leben des Vaters, ist folglich Gestalt Gottes, in welcher die Macht des Vaters zu sehen ist. Wir müssen daher an den Sohn Gottes glauben, damit in uns jenes Leben wirke, das wahr und ewig ist«.10 Gott ist substanzielle Potenz alles Seienden, das in ihm, wenn auch noch nicht in individueller Bestimmtheit, enthalten ist; er ist nicht einfach Potenzialität, die formale Möglichkeit von und zu allem, sondern dessen reale Prä­ existenz als Unbewusstes in Gedanken oder als bewusst Gedachtes­ und das von ihm Gedachte ist als solches aus ihm herausgetreten und in bestimmter Einzelheit subsistierend. In dieser Weise ist auch

Jesus, der Sohn, in bestimmter Einzelheit als Mensch aus Gott her­ vorgetreten. Aber als Gottes Sohn ist er mehr als nur ein von Gott Gedachtes, sondern das Denken Gottes, als des Seins, an sich selbst, als das Leben. Das müssen wir glauben - Victorinus ist redlich ge­ nug, nicht zu behaupten, er habe den Beweis dafür angetreten; er liefert nur ein Modell, das die abstrakte Ontologie Plotins gegen­ ständlich macht.11 Das Gedachte ist die Wirklichkeit des Denkens. Wenn in der Reflexion Gottes auf sich selbst das Gedachte, nämlich Gott selbst, der Inhalt seines Denkens ist (das als Gottes Denken ja auch Gott selbst ist), dann sind der denkende Gott und die gedachte Refle­ xionsgestalt Gottes ein und dasselbe. Oder mythologisierend gespro­ chen: der aus Gott hervorgegangene Sohn Gottes ist identisch mit Gott und die Identität ist begründet darin, dass sie im Denken Gottes als Gedanke und Gedachtes eines sind. Das aber ist der Lo­ gos, der Heilige Geist, der ihre Identität ausmacht und verbürgt. >>Fürs erste sind der Vater und der Sohn identisch; dann aber sind Sohn und der Heilige Geist identisch. Das Sein und das Leben sind identisch, das Leben und das Denken sind identisch (...) Das Sein ist nämlich zugleich Leben und Denken. So bezieht sich jeder auf den anderen. Sie sind also identisch und synonym, von der derselben Gattung und derselben Substanz.«12

10

Ebd., I, 53.

11

Ebd., I, 53.

12 Ebd., I, 54.

Die Resurrektion der Philosophie. Marius Victorinus

285

Der Logos ist nichts anderes als das Denken, das als Gedachtes sich im Wort manifestiert. Als Verbalsubstantiv verstanden ist er die Einheit von Vater und Sohn, substantivisch ist er die Verkündigung, die sich in Jesu Lehre ausdrückt und an der, aus dem Gefängnis des Irrtums erlöst, die Menschen glaubend teilhaben. >>Unsere Darle­ gung kommt also zu dem Ergebnis, daß Vater und Sohn substanz­ gleich sind, substanzgleich durch die Identität der Substanz. Der Geist ist nämlich eine einzige Substanz. Er ist das Sein an sich. Das Sein an sich ist zugleich auch Leben und Denken. Diese drei sind in jedem einzelnen, und daher ist eine Gottheit, eine Ganzheit, ein Gott, weil Vater, Sohn und Heiliger Geist eins sind. Nur in der Ord­ nung von Potenz und Akt erscheint ihre Andersheit, denn Gott bewegt alles in Potenz und in einer verborgenen Bewegung, und er befiehlt allem gleichsam in Schweigen, während der Logos - Sohn und Heiliger Geist - sich durch das Wort ausdrückt, um alles zu zeugen.«13 Letzten Endes erhält damit der Logos die Funktion, das eine jenseitige Ursein Gottes, die weltliche Zerstreuung in die Viel­ heit der Dinge und die Erlösung aus der Zerstreutheit durch das per­ sonale Hervorkommen des Gottessohnes in einem Prinzip zusam­ menzufassen. Die philosophische Interpretation des theologischen nicaenisch-chalcedonischen Dogmas ist damit vollzogen, und auch Augustinus, der zum eigentlichen Begründer der katholischen Theo­ logie wird, kann nur noch das Denkmuster des Victorinus wieder aufnehmen. Es fanden die konziliarischen Streitigkeiten schon im Bewusstsein statt, dass die richtige begriffliche Fassung des Vater­ Sohn- Verhältnisses essenziell für die Christlichkeit des christlichen Glaubens sei und also das Trinitätsproblem ins Zentrum der dogma­ tischen Theoriebildung gehörte. Doch erst Victorinus hat die logisch­ ontologische Konfiguration so eingeführt, dass sie deduktiv nach­ vollziehbar wurde und die Rolle des Glaubens konstitutiv in das diskursive Deduktionsverfahren einrückte. Philosophisch sind die Ausführungen von Buch 1, Kapitel 49 bis 64 die subtilsten Argu­ mentationen zur kategorialen Begründung des christlichen Glaubens.

13

Ebd., I, 59. Vgl. I, 54: >>Das Sein ist nämlich zugleich Leben und Denken( ...). Sie sind also identisch und synonym, von derselben Gattung und derselben Substanz.(...) Ihnen allein kommt es zu, eins und identisch zu sein, doch jenen Dingen, die aus ihnen hervorgehen, entspricht es, im Schoße der Identität so­ wohl dasselbe als auch anders zu sein>so wie vom Vater her­ kommend, in den Vater eingehend und mit dem Vater zugleich seiend der Sohn im Vater war, der Vater im Sohn«. In räumlicher Erstreckung bedeutet das, dass >>eine solche Bewegung nicht nur kreisförmig ist, sondern sphärisch, vielmehr sie ist die Sphäre, die in jeder Beziehung wirklich vollkommene Sphäre. Wenn Sein nämlich sowohl Leben als Denken ist, und wenn das Leben zugleich Sein und Denken ist, so sind in jedem einzelnen die Endpunkte und die Mitte>Lasst uns den Menschen ma­ chen«. Dabei geht er streng schulmäßig vor: >>Zuerst muß die Bedeu­ tung von Mensch und Abbild untersucht werden, dann der Unter­ schied von Abbild und Ähnlichkeit, danach wie der Mensch nach Abbild und Ähnlichkeit geschaffen und nicht selbst zum Abbild und zur Ähnlichkeit wurde, und schließlich was nach unserem bedeutet«.15 Ein endliches Individuum kann natürlich nicht Abbild Gottes sein. Wohl aber ist Christus, der Gottessohn oder das Spiegelbild Gottes, in streng logischem Sinne dessen Abbild; als inkarniert im Menschen Jesus, der am Kreuz stirbt, ist er der Christus aber nur in Ähnlich­ keit mit Gott. Die Inkarnation des Gottessohns im Menschen Jesus setzt voraus, dass Christus zum Menschen Jesus werden kann, weil

14 Victorinus I, 60. Vgl. Dietrich Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt, Halle 1937. Erstaunlicherweise macht Mahnke von dieser Stelle keinen Ge­ brauch. An ihr hätte er zeigen können>Gründerzeit« eindringt.

15

Victorinus, a. a. 0., I, 62.

Die Resurrektion der Philosophie. Marius Victorinus

287

der Mensch (als Gattungswesen) eine Ähnlichkeit zu Gott besitzt, der gemäß Jesus in seiner besonderen Sohnschaftsbeziehung zu Gott als Mensch eine gewisse Familienähnlichkeit in Anspruch nehmen kann. Der Mensch ist sozusagen schon auf Gott hingeordnet; darum kann Jesus seine Mittelrolle zwischen Gott und Mensch einnehmen. Zugleich setzt die Erschaffung des Menschen >>nach Abbild und Ähnlichkeit>in Abbild und Ähnlichkeit« voraus, gibt also auch die Ver­ fassung der Dreifaltigkeit nicht nur als Konsubstanzialität, sondern auch als Gleichursprünglichkeit an. >>Wenn Christus wirklich Leben und Logos ist, dann ist er Abbild Gottes, und in diesem Abbild sieht man Gottvater, das heißt im Leben sieht man das Sein. (...) Wenn Gott den Menschen nach seinem Abbild geschaffen hat, so hat der Vater ihn nach dem Abbild des Sohnes geschaffen«.16 Damit ist die Heilsgeschichte schon in die Schöpfungsgeschichte integriert - aller­ dings um den Preis, dass in der Folge die Frage nach den Ursachen und der Zulassung von Sündenfall und Bösem unabweisbar wird. Zu dieser Konsequenz dringt Victorinus noch nicht vor; doch das >>unde malum« wird schon für Augustinus zu einem Kern der geschichts­ philosophischen Aufhebung von Weltgeschichte in Heilsgeschichte. Im schrift-exegetischen Teil fasst Victorinus das Verhältnis von Vater und Sohn als >>Entäußerung« - als ein Aus-sich-Heraustreten Gottes in die Zweiheit der substanzgleichen Personen. >>In der ersten Bewegung hat er also alles zum Leben geführt; dieses ist der erste Abstieg des Logos, dass er, indem er vom Vater ausging, denen, die im Himmel sind, den Engeln, Drohnen, Herrlichkeiten und Seien­ den dieser Art, sein eigenes Leben durch die väterliche Kraft gab, denn er ist der Logos von allem, durch den alles gemacht worden ist«.17 In der Strukturanalyse wird diese Entäußerung des Seibigen von sich selbst als Selbstbeziehung beschrieben, deren reine, durch kein anderes vermittelte Form, die Selbsterkenntnis ist, in der das Einfach-Eine bei sich selbst bleibt und doch in zwei Glieder einer Relation auseinandertritt. Das Einfach-Eine ist sein eigener Logos und als solcher das Zweifach-Eine- und der Terminus Logos muss hier in seiner Bedeutung Verhältnis genommen werden. >>Das Ver­ mögen der Existenz ist dadurch, daß es ist und existiert, zugleich

16

Ebd., I, 63 und 64.

17

Ebd., I, 22.

288

Glaube- Theologie- Philosophie

Vermögen des Lebens. Es selbst ist durch sich selbst Idee und Logos seiner selbst«.18 Wie aber haben wir die Entäußerung zu verstehen, in der sich die Identität erhält? Wie sieht das Verhältnis- der Logos - aus, in dem sich das Einfach-Eine gegenübertritt? Victorinus beschreibt die Struk­ tur der Selbstvergegenständlichung:

>>Alle Erkenntnis ist als Er­

kenntnis außerhalb dessen, was sie zu erkennen begehrt. Ich sage außerhalb wie zum Beispiel bei einem Betrachten, wo es möglich ist, daß sie sich selbst sieht, das heißt jene präexistierende, väterliche Kraft kennt oder betrachtet. Im gleichen Augenblick- nicht als Zeit­ einheit verstanden -, in dem sie gleichsam aus ihrem Sein, das sie war, heraustritt, um zu sehen, was sie war, weil dort alle Bewegung Substanz ist, kehrt die aufgekommene Andersheit rasch zur Identität zurück. Es handelt sich nämlich nicht um eine Ausstrahlung, die sich hinter dem Rücken vollzöge, sondern so, wie sich Augen und Ant­ litze durch einen gegenseitigen Blick ansehen, so bleibt auch dieselbe Realität immer eine, identisch und vollkommen>ganz Anderennach unserem AbbildLaßt uns den Menschen nach unserem Abbild machenLaßt uns den Menschen nach dem einen Bild machen, das wir beide sind, aus der einen Substanz, die ich binLaßt uns den Menschen nach dem Abbild des Logos machen, der du bist und der ich bin>Augustin war nicht das, was die Romantik gerne in ihm sehen wollte und was wir heute wohl als eine >geschlossene< Persönlichkeit ansprechen. Er war sensibel, zu stark von den Bildern und Ereignissen um sich herum beeindruckt, als daß sie sich abschütteln ließen. (...)Es ist bezeichnend, daß große und für die Geruhsamkeit eines Gelehrtendaseins bestimmte Pläne wie eine Wissenschaftslehre, die enzyklopädisch die sieben >artes liberales< unter

Carl Andresen (Hg.), Zum Augustin-Gespräch Vorwort, zugleich eine Einführung.

1962,

der Gegenwart,

Darmstadt

292

Glaube- Theologie- Philosophie

christlichem Vorzeichen darstellen wollte, und selbst theologische Vorhaben (mehrere Versuche eines Genesis-Kommentars) aus Zeit­ mangel abgebrochen wurden. Manche mussten lange auf ihren Ab­ schluss warten, wie die Arbeit De doctrina christiana oder das dogmatische Hauptwerk De trinitate, das erst nach zehn Jahren zu Ende gebracht wurde. Stets durchkreuzten neue Anforderungen sol­ che Pläne. Das Gebot der Stunde mit ihren unabweisbaren Tages­ fragen und nicht zuletzt die ratsuchenden Freunde, denen Augustin sich niemals entzogen hat, stellten immer wieder ihre Ansprüche«.2 Diese Eigenart, sich von den gedanklichen Herausforderungen fesseln und auf jeweils andere Pfade führen zu lassen, habe auch seine theologisch-philosophische Systematik geprägt, die- als Syste­ matik- die schillernde Buntheit und Disparatheit der einzelnen T heo­ rie- Elemente in der Dialektik des Widersprüchlichen zur Einheit bringen musste. >>Die theologische Geisteswelt Augustins kann nicht mit einem geschlossenen und homogenen System verglichen werden, das organisch aus einer Wurzel wächst und, von gleichartigen Denk­ elementen geformt, eine harmonische Einheit darstellt. Dies Gedan­ kengebäude ist vielmehr aus den verschiedensten Bausteinen errich­ tet worden und gleicht eher einem magnetischen Spannungsfeld, auf das verschiedene Pole ausstrahlen. Die geistige Potenz des augustini­ schen Denkens beruht aber darauf, daß er die heterogenen Elemente immer wieder zu einer dialektischen Synthese zu einen versteht.wahr oder falsch« dogmatisch entgegengesetzt werden. Der intransigente Dogmatis­ mus Augustins und seine apologetische Polemik haben hier ihre systematische Wurzel und sind nicht einfach als Konsequenz einer Charaktereigenschaft zu erklären. Die neuplatonische Substantialisierung der Prädikate, die eher an den >>mittleren« Platon der Ideenlehre anknüpft, als dass sie sich auf den >>späten>Person>Gott>in qua et a quo et per quem vera surrt, quae vera surrt omnia>Quid sciam, quaero, non quid credam- mir geht es um die Frage, was ich wissen kann, und nicht, was ich glauben darf« (111, 8). Die beiden Konjunktive haben differenzierende Funktion: sciam zielt auf die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnisgewissheit, credam auf den Ursprung von Überzeugung. Im Hintergrund steht die plato­ nische Unterscheidung von aletheia und doxa. Die Meinung oder der Glauben kommt aus der sinnlichen Erfahrung (e sensibus); doch Augustinus wehrt dies als Wissensquelle ab: >>Das genügt nicht- non est satis«. Sicher ist es der Zeitgeist, der nicht nur in der gnostischen Sekte, sondern im religiösen Bewusstsein überhaupt, der Gnosis den Vorzug vor der Pistis zuerkannte. >>Bei all dem aber, was wir wissen, kann man vielleicht mit Recht sagen, wir glaubten es auch, aber nicht umgekehrt, wir wüßten auch alles, was wir glauben«. Wo aber findet der Suchende die richtige und vollkommene Ver­ nunft (>>vel recta vel perfecta ratioDie intellektuelle Schau ist jene, die in der Seele ist - visio intellectus est ille, qui in anima est>finis aspectus, quod nihil amplius habeat, quo se intendat> Visio dei>visio imaginis dei in me ipse>Wenn nun aber die Wahrheit selbst aufhören sollte zu sein, ist es dann etwa nicht wahr, dass sie aufgehört hat?« Die Antwort >>Das kann niemand bestreiten« ist evident falsch, weil sie Satzwahr­ heit und Seinswahrheit verwechselt; der Satz bleibt wahr, dass die Wahrheit aufgehört hat zu sein, er wäre nur dann falsch, wenn es nie eine Wahrheit gegeben hätte

(2. Buch, III, 2). Wenn es weiter heißt:

>>Es kann aber nichts Wahres geben, wenn es keine Wahrheit gibt«, so meint >>Wahres>ich denke« ist ein Apriori, von dem jede Erkenntnis abhängt. So schließt dies Kapitel mit dem lapidaren Satz: >>Restabit quaerere de intelli­ gendo - Dann wird noch die Untersuchung über die Erkenntnis übrig bleiben>von einem Kampf zwischen Glauben und Wissen nichts weiß, weil Glaube nicht eine selbstwertige Erfahrungsweise, sondern eine Vor­ stufe der rationalen Erkenntnis bedeutet und diese Erkenntnis nur durch eine Erleuchtung von der objektiv wesenden Wahrheit er­ reichbar scheint>die Bedeutung jenes Erlebnisses aufgegangen>er sich zur innerlichen Freiheit durchgerungen hatte>Es sind die Trugbilder der Wissenschaften, die man mit großer Vorsicht meiden muß. Ihre Falschheit entlarvt sich dadurch, daß sie sich ändern, wenn die Art Spiegelbild ihrer Vorstellung sich ändert,

23

Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, Bd. I/2, Bern 1950, S. 644.

24

Ebd., S. 646.

304

Glaube- Theologie- Philosophie

während das Antlitz der Wahrheit immer und ewig dasselbe bleibt.« (2. Buch, 20,

35) Darauf baut die weitere Lehre Augustins: »Wenn

wir ihn darum bitten, wird Gott uns beistehen; und das fühlen wir bereits. Verspricht er uns nicht nach dem Hinscheiden des Leibes ein Fortleben in der Fülle des Glückes und der Wahrheit ohne jeden Trug? Unsere Hoffnung möge in Erfüllung gehen!« (2. Buch, 20,

36).

Spes statt Ratio.

Confessiones- umgekehrt symme­ Soliloquia. Hier beginnt die Erkenntnis der Wahrheit

Dahin führt auch der Weg der trisch zu den

mit dem Erweckungserlebnis und dessen Glaubwürdigkeit wird mit einem wahrheitstheoretischen Diskurs untermauert; das ist ein apo­ logetisches Verfahren, bei dem die eigentliche Erkenntnis vorausge­ setzt und hier zum ersten Mal als intuitive Gewisswerdung des Ich geschildert wird. Da tastet sich in dem langen 7. Buch der Geist über die ontologische Grundlegung zu dem Punkt vor, an dem die philo­ sophische Grundlegung der Wahrheit umschlägt in das nicht mehr begründbare und begründungsbedürftige Erweckungserlebnis: »Tolle, lege, tolle, lege!« >>So weinte ich in der bittersten Zerknirschung meines Herzens«. Dann vernimmt Augustirr den Anruf und fährt fort: »Ich hemmte die Gewalt der Tränen und stand vom Boden auf: ich wußte keine andere Deutung, als daß mir Gott befehle, das Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die zuerst ich träfe.Wir schauen- hat Paulus in dem Sinn gesagt, daß wir durch einen Spiegel schauen, nicht in dem Sinne, daß wir von einer Anhöhe herabschauen. (...) Wenn wir fragen, wie

306

Glaube- Theologie- Philosophie

und was dieser Spiegel ist, dann stoßen wir in der Tat darauf, daß in einem Spiegel nur ein Bild erblickt wird. Das also haben wir zu ver­ wirklichen gesucht, daß wir durch das Bild, das wir selbst sind, irgendwie jenen sehen, von dem wir geschaffen sind gleichwie in einem Spiegel.>Du gewollt hast, daß die Dinge in solcher Ordnung ent­ standen oder in solcher Ordnung aufgeschrieben wurden. ( ...) Und Du hast dann, um die ungläubigen Völker einzuweihen, gemäß dem Firmament Deiner Schrift aus körperhaftem Stoff sakramentliche Zeichen und sichtbare Wunder und Stimmen und Worte hervorgehen lassen, auch Deinen Gläubigen zum Segen«

(Confessiones X,

34, 49).

Indem Gott sich aus der Einheit der absoluten Substanzialität in die Relativität des wörtlich zu Sagenden und bildlich zu Sehenden ent­ äußert, stellt sich für die Gottesschau das Problem seines Selbstver­ hältnisses als eines Selbstunterschieds. >>Es ist ein anderer Gedanke, durch den als Erzeuger, ein anderer, durch den als ungezeugt be­ griffen wird. ( ...) Zunächst ist zu beachten, daß wenn es gezeugt heißt, dasselbe bezeichnet wird, wie wenn es Sohn heißt. Deshalb nämlich ist er Sohn, weil er gezeugt, und weil er Sohn ist, ist er gezeugt. Wenn also jemand ungezeugt heißt, dann wird damit angezeigt, daß er nicht Sohn ist. (...) Alles also, was von Gott für sich gesagt wird, wird auch von den einzelnen Personen dreimal gesagt, vom Vater, Sohn und

308

Glaube- Theologie- Philosophie

Heiligem Geist, und wird gleichzeitig von der ganzen Drei-Einheit nicht mehrheitlich, sondern je einzeln ausgesagt (...) Vater ist also be­ ziehendlicher Ausdruck und besagt eine Beziehung zum Sohn, und in allen diesen Bezeichnungen bezieht man auf den Vater, keine von ihnen aber heißt Vater.>Warum soll ich noch mehr aufzählen? Dieses Gute und jenes Gute? Nimm dies und jenes weg und schaue das Gute selbst, wenn du kannst; von all dem Guten nämlich, das ich aufzählte, würden wir nicht das eine besser als das andere heißen, wenn uns nicht der Be­ griff des Guten selbst eingeprägt wäre, nach dem wir ein bestimmtes Gut prüfen und das eine dem anderen vorziehen. Was ist das anderes als Gott? Nicht die gute Seele, nicht der gute Engel, nicht der gute Himmel, sondern das gute GuteGott ist das Licht, nicht wie diese Augen es sehen, sondern wie das Herz es sieht, wenn es hört: er ist die Wahrheit. Frage nicht, was Wahrheit ist. Sogleich nämlich stellen sich die Dunkelheiten körperlicher Bil­ der und die Nebel der Einbildungen entgegen und trüben die Hellig­ keit, die dich im ersten Augenblick durchblitzt, als ich sagte: Wahr­ heit. Sie bleibe in eben diesem ersten Augenblick, in dem es dich wie ein Lichtblitz durchfuhr, da man sagte: Wahrheit>von Angesicht zu AngesichtIn der Natur ereignet sich wirklich nichts Neues ( ...) Innerhalb des stets wiederkehrenden Naturprozesses wiederholen Tage, Monate und Jahre sich in monotoner Folge; kein fixierter, absoluter Augenblick unterscheidet Vergangenheit und Zukunft. Mit der geschichtlichen Handlung eines schöpferischen Willens durchbrechen wir jedoch diesen zwangsläufigen Ablauf der Natur und betreten das Neuland einer Gegenwart, welche die Zukunft determiniert. Zugleich wird unsere frühere Existenz unwiderrufliche Vergangenheit: eine neue Art des Lebens in der Zeit beginnt für uns«.25 Das ist altestamenta­ risch, so hat es Augustinus übernommen. Aber Geschichte kann dies nur sein, solange das eschatologische Ereignis nicht eingetreten ist. Mit der Ankunft des Messias hört die innerweltliche Abfolge von Neuschöpfungen auf; ein anderer Seinszustand beginnt. Für den Juden ist das eine reale Möglichkeit, aber als Möglichkeit nur eine ideelle Grenze.26 Für den Christen ist dagegen mit dem Erscheinen Jesu, des Gottessohns, das eschatologische Ereignis schon geschehen. Der andere Seinszustand ist erreicht, jedoch die innerweltliche Ge­ schichte läuft wider Erwarten weiter. Der postmessianische Äon muss in einer prämessianischen Wirklichkeit abgebildet werden. Dieser Wi­ derspruch macht die Struktur der augustinischen Geschichtstheolo­ gie aus. Geschichte bedarf in mehrerer Hinsicht einer Legitimation. Ihre prämessianische Verfasstheit muss erklärt, die teleologische des zu erwartenden heilsgeschichtlichen Endes muss begründet, das ge­ schichtslose »In-Christus-Sein« des geschichtlich handelnden Men­ sehen muss entschieden ins Leben aufgenommen werden. Augusti­ nus bündelt die Antworten auf diese Probleme im dialektischen Dualismus von civitas Dei und civitas terrena. Er zahlt dafür philosophisch und theologisch einen hohen Preis. Der apokalyptische Modus der Geschichtlichkeit in der urchrist­ lichen Verkündigung wird durch den politischen Modus der Herr-

25

Erich Frank, Die Bedeutung der Geschichte für das christliche Denken, in: Carl Andresen (Hg.), Zum Augustinusgespräch der Gegenwart, a. a. 0., S. 381 ff., hier S. 382.

26

Zum jüdischen Verständnis der messianischen Zeit vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften I, , Frankfurt am Main 1974, S. 691 ff., hier: S. 704. Dazu: Hans Heinz Holz, Philosophie der zersplitterten Welt, Bonn 1992, cap. 2, S. 61 ff.

Die philosophische Infiltration der Theologie. Augustinus

313

schafts- und Verwaltungsordnung des göttlichen Willens ersetzt; das ist aber eine Verlängerung der jüdischen Gesetzesreligion als einer Einlösung der christlichen Erlösungsversprechen. Apokalyptisch ist gerade jener Modus von Geschichtlichkeit, der den Einstand der Zeit im Augenblick der Katastrophe oder der Errettung (die letztlich zusammenfallen) zum Knotenpunkt der Ge­ schichte macht. Die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Er­ eignisses manifestiert den radikalen Gegensatz zur Natur, deren Ge­ schichte antik als Kreislauf und Wiederkehr des Gleichen neuzeitlich als Evolution begriffen wird und der in beiden Konzeptionen eine kausale Ordnung als Prinzip der Bewegung zugrunde liegt. Demge­ genüber ist das Ereignis kontingent, in ihm geschieht ein unvor­ bereiteter Umschlag von einem Weltzustand in einen anderen: im Sündenfall zu einer aus freien Entscheidungen handelnder Subjekte hervorgehenden Weltgeschichte, in Kreuzestod und Auferstehung die Restitution des Standes der Unschuld. Ihnen kommt keine Stelle in der Zeit zu, kein »Ürt« auf dem linearen Zeitstrang, sie sind der nicht-extensionale Einschnitt im extensionalen Prozess: >>Hier wird das Kommen des Christus als ein absolutes Jetzt verstanden, der Tag, die Stunde, ein einmaliger, unwiederholbarer, historischer Augen­ blick (kairos), der sich nur einmal in der Menschheitsgeschichte ereignet und etwas schlechthin Neues darstellt. Die Wort einmal und neu gewinnen hier absolute Bedeutung«.27 Dieses absolute Jetzt ist der Ursprung der Geschichtlichkeit, die in der politischen Geschichte als Entfremdung, in der Glaubensgeschichte als Heimkunft als ka­ tegorialer Modus den Aktcharakter des Daseins definiert. »Das ist, wie Paulus sagt, solcher Zeitpunkt, der >in einem Nu, in einem Augenblick< (1. Kor. 15,52) erfolgt, aber ,es ist genau genommen nicht ein Augenblick der Zeit, sondern vielmehr ein Augenblick der Ewigkeit', wie Kierkegaard hinzufügt. Ein Augenblick der Ewigkeit wie der der Schöpfung (jeder Erstanfang oder Schlußpunkt) ist mit der beobachtbaren Zeit (Dauer) nicht zu vergleichen. Da die Schöp­ fung dem Reich der Ewigkeit angehört, mag der philosophische Verstand über sie als zu jeder Zeit vorhanden, das heißt als eine unaufhörliche und ewige Schöpfung denken. Als Augenblick in der meßbaren Zeit vorgestellt jedoch wird sie für uns zu einem escha­ tologischen Zeitpunkt«.28

27

Erich Frank, a. a. 0., S. 384.

28

Ebd.

314

Glaube- Theologie- Philosophie

Das absolute Jetzt der Auferstehung müsste sich im Jüngsten Ge­ richt erfüllen. Die Glaubens- und Gnadengewissheit stellt den Gläu­ bigen in eine andere Existenzform als die der Zeitlichkeit. >>In der religiösen Erfahrung eines jeden Christen, der in Christus ist, kommt die Geschichte an ihre Grenze. Als Glaubender ist der Christ mit Christus gleichzeitig, Zeit und empirische Weltgeschichte sind für ihn überholt. Das Kommen Christi vollzieht sich als Ereignis im Reich der Ewigkeit, das mit der historischen Zeit nicht zu verglei­ chen ist.Knoten­ linie>Was besagt aber der Sündenfall als erster Anfang der Geschichte? Er ist, antwortet Augus­ tinus, eine Art von Abtrünnigkeit gegenüber Gottes Werk zu dem eigenen Werk des Menschen. Von diesem Moment an ist die Ge­ schichte des Menschen die Geschichte seines selbstherrlichen Wirkens geblieben>Fürsten dieser Welt>ewige Wiederkehr des Gleichen>Die wesentliche Gleichartigkeit vergangener, gegen­ wärtiger und künftiger Geschehnisse kennt nur eine Ausnahme: in den letzten Tagen dieser Welt, wenn der Antichrist erscheinen und das Urteil gesprochen werden wird. ( ...) Und wenn alle Macht im Grunde von Gott herrührt, dann erst recht die Reiche, von denen alle anderen Kräfte ausgehen. Sind jedoch die Reiche verfeindet, so ist es besser, daß ein Reich die Herrschaft ausübt. So gab es im Anfang das babylonische, dann das mazedonische, später das afrika­ nische und schließlich das Römische Reich.«31 Erst Hegel hat in die Abfolge der weltgeschichtlichen Reiche den Gedanken des Fort­ schritts getragen32- eine Art Formationstheorie der Stufen oder Ma­ nifestationen des objektiven Geistes. Orosius trägt in die Sinnschicht der Reichsfolge einen moralisie­ renden Zug. Am Anfang des 5. Buches (1, 2) schreibt er: >>Welche Zeit ist glücklicher als die, in der es fortgesetzt Triumphe, berühmte Siege, reiche Beute, rühmliche Festzüge, bedeutende Könige vor dem Triumphwagen und besiegte Völker in langer Reihe gab?« Dann setzt er aber dem die Frage entgegen: >>Wie ist also dieser Tropfen mühselig erarbeiteten Glückes, dem die Glückseligkeit einer einzi­ gen Stadt zugeschrieben wird, bei einer solchen Masse von Unglück, die die Zerstörung des gesamten Erdkreises in Gang setzt, zu wer­ ten?« (1, 4) Auf diese seine Frage antwortet er mit der Universalität des Römischen Rechts: >>Für mich aber, der ich beim ersten Anzei­ chen von Wirren fliehe, weil ich sicher sein kann, einen Zufluchtsort zu finden, ist überall Vaterland; überall ist das Gesetz auch meine Religion.« (II, 1) Das klingt noch eher nach skeptischem Relativis­ mus, der in der Macht des Römischen Reichs seine Zuflucht sucht. Dem aber folgt der teleologische Übergang zum Sinn der Geschichte, der sich im Parallelismus der Botschaft Christi und der Stiftung des Reichsfriedens durch Augustus als Einheit von Heilsgeschichte und 31

Kar! Löwith,

Weltgeschichte und Heilsgeschehen,

Stuttgart 1953, S. 162. Oro­

sius wird im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Adolf Lippold,

antike Weltgeschichte in christlicher Sicht,

Die

2 Bände, Bibliothek der Alten

Welt, Zürich/München 1985.

32 Vgl. dazu Hans Friedrich Fulda, Hegels vier weltgeschichtliche Reiche, in:

Annalen der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie - Socie­ tas Hegeliana, Bd. II, Köln 1986.

316

Glaube- Theologie- Philosophie

Profangeschichte erweist. >>Die Breite des Ostens, die Ausdehnung des Nordens, die südliche Weite, die sehr ausgedehnten und sehr si­ cheren Wohnsitze der großen Inseln, sind meines Rechtes und meines Standes, weil ich zu Christen und zu Römern als Römer und als Christ komme ( ... ) Der eine Gott, der zu Zeiten, in welchen er selbst be­ kannt werden wollte, die Einheit dieses Reiches verordnete, wird von allen geliebt und gefürchtet« (II, 3 und 5). Dieser Parallelismus ist indessen profangeschichtlich eine ideale Konstruktion, gegen die der Einwand erhoben werden kann, dass sich im Einzelnen die Tatsachen nicht nahtlos in das Konstrukt ein­ passen lassen. Darauf gibt Orosius im 6. Buch eine Antwort: >>Wo aber dann vernünftige Überlegung versagt, kommt der Glaube zu Hilfe. Wenn wir nämlich nicht glauben, werden wir nicht verstehen. Von Gott selbst wirst du vernehmen und ihm selbst glauben, was du als Wahrheit über Gott wissen willst(...) Bereit, die Menschen durch einen Menschen zu lehren, schickte er seinen Sohn, der übermensch­ liche Wunder vollbrachte und der die Dämonen, die irgendwelche Leute für Götter hielten, niederrang. Selbst jene, die einem Men­ schen nicht geglaubt hätten, glaubten doch an die Werke Gottes« (Buch 6, I, 4 f. und 7). Mit dieser argumentativen Wendung führt Orosius zurück von einer empirisch verankerten Geschichtsphiloso­ phie zum Gestus des Apologetikers, der auch, wenngleich in zuge­ spitztem Subjektivismus, das Denken des Augustinus dominiert.33 Obwohl Orosius Geschichte schreibt, findet er den Sinn der Ge­ schichte außerhalb ihrer Ereignisse. Diese bleiben kontingent. Da­ durch ist Geschichtsphilosophie nicht einfach subjektive oder zeit­ bedingte >>Sinngebung des Sinnlosen«. Ihr Sinn offenbart sich vielmehr in ihrem Gesamtverlauf, dem Durchschreiten eines Sündentals, aus dem uns Gott durch die Sendung Christi herausführt. Die eschato­ logische Ausrichtung der Geschichte stellt aber vor eine Aporie: >>Für einen christlichen Gläubigen wie Augustirr oder Orosius ist die profane Geschichte ohne eigenen Sinn. Sie ist bestenfalls eine frag­ mentarische Widerspiegelung ihrer übergeschichtlichen Substanz, des Heilsgeschehens, das durch einen heiligen Anfang, eine heiligen Mitte

33 Kar! Löwith, a. a. 0., S. 163. In der frühchristichen Historiographie nimmt Gennadius den Faden des Hieronymus wieder auf. In seiner >>altchristlichen Literaturgeschichte rangiert Orosius nach Augustin, das heißt gilt als Testa­ mentsvollstrecker der augustinischen Geschichtsapologetik wider die Heiden>Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ist, das Zukünftige noch nicht ist? Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Vergangenheit über­ ginge, wäre nicht mehr Zeit sondern Ewigkeit. Wenn also die Ge­ genwart nur dadurch zu Zeit wird, daß sie in Vergangenheit über­ geht, wie können wir dann auch nur von der Gegenwartszeit sagen, daß sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, daß sie nicht sein wird? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht«

(Confessiones 11, 14)

Damit wird für die irdische Welt die Kohärenz des Seins zerbro­ chen. Im Kontinuum des Seinsflusses ist jeder Augenblick in jedem Augenblick schon vergangen und ist also nicht mehr. >>Könnte man irgendwas von Zeit sich vorstellen, so winzig, daß es gar nicht mehr sich teilen läßt, auch nicht in Splitter von Augenblicken: solche Zeit allein wäre es, die man gegenwärtig nennen dürfte; sie aber flieht so reißend schnell von künftig zu vergangen, daß auch nicht ein Weil­ chen Dauer sich dehnt. Denn so wie sie sich ausdehnt, zerfällt sie schon wieder in Vergangenheit und Zukunft; aber als Gegenwart ist sie ohne Ausdehnung>Wenn sie denn sind, Zukunft und Vergangenheit, so will ich wissen, wo sie sind. Wenn ich das vorerst auch nicht vermag, so weiß ich doch so viel, daß sie dort, wo sie sind, sei das wo immer, nicht Zu­ kunft und Vergangenheit sind, sondern Gegenwart. Denn ist das Künftige auch dort als erst künftig, so ist es dort noch nicht; ist das Vergangene auch dort vergangen, so ist es dort nicht mehr. Mögen sie also beide, was immer auch sie sind, sein wo immer: sie sind nur als Gegenwart« (Confessiones 11, 18). Glauben ist hier der spekula­ tive Modus, in dem die metaphysische Ganzheit alles Seienden in seinem Sein den Menschen präsent wird. Der Name dafür ist Gott. Dass Gott uns in diese Ganzheit am Ende aufnimmt und wir daran teilhaben, ist die Verheißung Jesu, die glaubwürdig ist, weil Jesus Gottes Sohn und selbst eine Hypostase Gottes ist. Im Glauben an Jesus Christus wird die Antizipation des Endes der Geschichte zur Erwartung des Heils, der Erlösung von den Übeln dieser Welt. Im Glauben ist der Mensch schon Bürger der civitas Dei inmitten der civitas terrena. Ungläubig bleibt er in die Wechselfälle des Gesche­ hens eingebunden und dem Übel ausgeliefert. Heilsgeschichte ver­ wirklicht sich in der Weltgeschichte. Die Kirche, die Gemeinschaft der Christen, ist der Ort, an dem sich dieser Umschlag von Irdi-

36

Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußt­

seins, Halle 1928.

320

Glaube- Theologie- Philosophie

schem ins Göttliche vollzieht, sie ist der Vollstrecker des Sinns der Geschichte und darum allen weltlichen Instanzen vor- und überge­ ordnet. Augustins Lehre vom Gottesstaat hat eine ontologische Grundlage in seiner Lehre von der Zeit und vom Ganzen als in­ tensionale Gleichzeitigkeit im Geist Gottes; und sie hat eine theo­ logische Grundlage in der Annahme eines Zielpunkts der Geschichte, mithin der Endlichkeit als das Kontinuum der Zeit. Er stellt aller­ dings nicht die Frage, was Gott nach dem Ende der Geschichte noch ist, wenn doch die geschichtliche Welt die extensionale Totalität seiner Gedanken war; so wenig wie zu sagen ist, was Gott war, bevor er die Welt erschaffen hat. Denn in dem Augenblick, in dem er die Gedan­ ken von den Weltseienden hatte, waren diese ja wirklich - und wenn diese nicht mehr wirklich sind, hat er auch keine Gedanken von ihnen. Da er aber nichts anderes ist als Geist, der Gedanken hat, würde er mit dem Ende der Geschichte aufhören zu sein. Das »ewige Leben« jenseits der Existenz der Welt wäre der Tod Gottes und aller Wesen. Auf die logische Aporie des Gottesbegriffs braucht Augustinus sich nicht einzulassen, weil die Transzendenz Gottes eine begriff­ liche Repräsentation seines Seins ausschließt. Emotional kann er, wie

Soliloquia und Confessiones zeigen, den Begriff der Transzendenz mit der Vorstellung von der personalen Existenz Gottes vereinbaren. Ein philosophisch strenges Verständnis vom Gottesstaat bezieht sich auf den ersten, ein sozusagen populäres auf den zweiten Aspekt. Mit Augustinus beginnt eine neue Periode der Philosophiege­ schichte. Vom Beginn christlicher T heoriebildung bis in die Konzils­ streitigkeiten hinein hatten die Protagonisten der neuen Religion versucht, mit dem Problem der Transzendenz ohne die Denkmittel der klassischen Philosophie umzugehen. In Argumentationszwänge gebracht, kamen sie nicht umhin, Anleihen bei der heidnischen Phi­ losophie zu machen. Dies umso mehr, als mit dem Eindringen des Christentums in die Mittelschichten und teilweise schon in die Ober­ schichten des weströmischen Reichsteils und der Hauptstadt Men­ schen gewonnen wurden, die in den Formen einer laizistischen Bil­ dung zu denken gewohnt waren, und gerade hier in stoischen Weisen des Denkens genügend Verwandtschaft mit christlicher Lebenshal­ tung finden konnten, um sich nicht gegen diese Bildungstradition abschotten zu müssen. So sickerte philosophische Argumentations­ weise in die Propaganda Fidei ein. Ihren Abschluss fand diese Entwicklung bei Augustinus. Er ent­ wickelte ein gedankliches System, in dem ein aus ekstatischem Erle-

Die philosophische Infiltration der Theologie. Augustinus

321

ben gespeister Glaube sich mit der intellektuellen Schulung der spät­ antiken Philosophie verband, sodass daraus für Jahrhunderte eine Einheit von Theologie und Philosophie entstand. Durch ein privates Gefühl von Sündhaftigkeit der paulinischen Predigt der Weltverdor­ benheit aufgeschlossen, übertrug er die Subjektivität des Schuldemp­ findens in die Objektivität der gattungsgeschichtlichen Verfallenheit an die Herrschaft des Satans und die frohe Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus. Das Interpretationsmodell des Gegensatzes von Weltgeschichte und Heilsgeschichte, von civitas terrena und civitas Dei und der darin liegende politische Widerspruch von Kaiser und

Kirche, der spirituelle Widerspruch von Liebesreligion und Machtaus­ übung, der intellektuelle Widerspruch von Glaube und Vernunft waren vorgezeichnet. 37

37 Man wagt kaum, an das von faschistoiden Phrasen durchsetzte und zersetzte Buch von Alois Dempf, Sacrum Imperium, Darmstadt 1954 (1929), zu erin­ nern. Und doch kann man von Dempf eine feinfühlige Wahrnehmung der Wi­ dersprüche lernen, die sich durch Augustinus, seine Person und sein Werk, ziehen. >>Augustins Ausgangspunkt von der Skepsis hat ihm wohl die Ent­ deckung der inneren Erfahrung, der apriorischen Werte, der Seelenmetaphy­ sik und den transzendentalen Idealismus des schöpferischen Gottesgeistes geschenkt, aber ihn dauernd zur Verachtung der äußeren Erfahrung und ihrer Grundlage, der ontologischen Gesetzlichkeit der Dinge und des Menschen ver­ führt. (... ) Sein Bekehrungserlebnis hat ihn zur Überbetonung der Gnaden­ wirkung und damit wiederum zu einer positivistischen Iex aeterna ohne das paulinische Gesetz der Freiheit verleitet>in dem Gott noch der Partner der Gemeinschaft ist, so wie es universal mit der Verantwortung der Könige vor Gott oder göttlichen Mächten für das ganze Volk überall gegolten hat, Königsverantwortung freilich magischer Art, das reine Gegenteil des Gottes­ gnadentums>Es kommt vor allem in Betracht, daß das Römische Imperium sakraler Absolutismus geblie­ ben war, darum volksfremd und ohnmächtig, daß die christlich fundierte Öffent­ lichkeit in ihm nicht durchdrang und darum die Nachwirkung des Heiden­ tums in Staat und Kirche so stark blieb. Es war kein christlicher Volksstaat da und schien auch gar nicht mehr möglich werden zu können (...) Hinzu kommt, daß dieser Geschichtsmetaphysik gerade das eigentliche Herzstück fehlt, um das sie aufgebaut ist, daß das Auftreten des Gottesreichs des Neuen Bundes, sein neues Gesetz der Freiheit und sein Fortwirken in der Kirche, das eigent-

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Glaube- Theologie- Philosophie

Ideengeschichtlich ist die Denkbewegung des Mittelalters deter­ miniert durch eine permanente Auseinandersetzung mit dem Augus­ tinismus. Boethius und Cassiodor haben das Verdienst, in diese Aus­ einandersetzung die Kenntnis und Methodik der antiken Philosophie eingebracht- man kann auch sagen: über die Epochenschwelle hin­ übergetragen - zu haben. Die >>Gründerzeit« der christlichen Phi­ losophie schließt mit Augustinus ab. Von da an liegt ein Kanon von Konzeptionen fest, und die Kontroversen des Hochmittelalters ent­ zünden sich, wie das Sentenzenbuch des Petrus Lombardus zeigt,

liehe Thema der Gottesreichslehre nicht ausgeführt ist und auf ein paar Sätze über Christus gleich die Eschatologie folgt.>basisdemokratische>Organisierte Autorität in Glaubens- und Sittensachen besagt geschichtlich gesehen nichts anderes als Führung der Geistigen, die in der Gemeinschaft stehen>Die Zeitaufgabe war es, die sichtbare Kirche Christi zur Volkskirche zu machen, die Lebensordnung der Christenheit durch die sa­ kramentale Bußdisziplin im Volksleben durchzusetzen (... ) Zyprian endlich spricht von der Kirche als der von Christus verordneten Einheit, von der Ratio, der Verfassung der Kirche als beruhend auf der bischöflichen Führung in der Gemeinschaft mit dem römischen Bischof, der in vicaria Christi sede thront>der letzte römische Philosoph« genannt wurde. Zugleich aber nimmt ihn die Historie als den >>ersten Scho­ lastiker« für das Mittelalter in Anspruch. Denn er war es, der die Methoden der Philosophie, der Beweisführung aus Vernunftgrün­ den, auf die T heologie anwandte. Damit schuf er die Voraussetzun­ gen für die Wiedergeburt der Philosophie im 12. und 13. Jahrhundert.

37

G. Misch, Geschichte der Autobiographie, 1, 2, Bern '1950, S. 702: >>Er macht sich die alten Gedanken zu eigen, indem er sie mit Bezug auf seine Lage zu­ sammenstellt.>Wenn wir nun den Einfluss der theologischen Schriften des Boethius auf den Entwicklungsgang der scholastischen Methode näher ins Auge fassen«, schreibt Grabmann, >>so hat der letzte Römer in seinen Opuscula sacra in einer für die Scholastiker mustergültigen Weise die aristotelische Philosophie auf die erha­ bensten und tiefsten Geheimnisse des Christentums angewendet zu dem Zweck, den Glaubensinhalt unserem Denken nahezubringen, denselben in logisch und theologisch korrekter Weise zu formulieren und zu analysieren, einen richtigen sermo de Deo zu ermöglichen.«39 So formuliert der Historiker der Scholastik die Stellung des Boe­ thius zwischen den Fronten, zwischen den Zeiten. Ganz so betulich und religionspädagogisch, wie es hier klingt, war nun allerdings seine theologische Schriftstellerei nicht. Dass er den sermo de Deo den Regeln der aristotelischen Logik unterwarf, dass er die Paradoxa des Glaubens mit den Mitteln der Ratio aufzulösen unternahm, hat natürlich weitreichende Konsequenzen. Johannes Scotus Eriugena, der einflussreiche Gilbert de la Porree und Thomas von Aquin haben den theologischem Opuscula des Boethius eindringliche und einfluss­ reiche Kommentare gewidmet. Hier fanden sie die philosophische

39 M. Grabmann, a. a. 0., S. 169.

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Glaube- Theologie- Philosophie

Verfahrensweise legitimiert, durch die sie sich aus der Zwangsjacke der theologischen Autorität lösen konnten. Insbesondere der Traktat De sancta Trinitate war es, der den mit­ telalterlichen Philosophen Anlass zu Reflexionen auf das Verhältnis von Glaubenssätzen und rationaler Deduktion gab. Schon Johannes Scotus Eriugena erläuterte im 9. Jahrhundert des Boethius program­ matische Ankündigung, er habe das Trinitätsproblem mit rationalen Mitteln behandelt, dahingehend, er habe die Untersuchung >>Argu­ menten unterworfen>Vernunftgründe beizubringen, durch welche über die Wahr­ heit Gewißheit erlangt werden könne>Es gibt nämlich, wie Augustinus im ersten Buch De Tri­ nitate sagt, zwei Weisen, die Trinität zu behandeln, nämlich aufgrund der Autoritäten und aufgrund von Vernunftgründen (...) Einige der heiligen Väter, wie Ambrosius und Hilarius, sind gemäß der einen dieser Weisen verfahren, nämlich aufgrund der Autoritäten. Boethius aber entschied sich, nach der anderen Weise, nämlich aufgrund von Vernunftgründen vorzugehen, das voraussetzend, was von anderen aufgrund der Autorität vorgebracht worden war.in ab­ steigender Ordnung der Autorität der Quellen>Der gute Wille und die Mühe- nichts anderes ist von mir gewesen>Voluntas bona et Iabor- aliud nihil fuit meum>Ich bin nicht der Autor dieser Sätze, sondern eher wie ein Blumenpflücker auf den Wiesen, darum bestimme ich, daß dies das Buch der Blumen genannt werden soll>Harum siquidem sententiarum non auctor sum, sed velut ex pratis florum collector, unde et Librum florum hunc esse nominandem de­ cerno>Das arabische Wort Kalam hatte zwei Hauptbe­ deutungen: einmal die des Wortes Gottes, [...] zum anderen die der Methode vernünftigen Argumentierens. >En effet, quiconque s'apprete a commenter ou a glaser un texte s'informe generalerneut de ce qui a ete ecrit avant lui sur le sujet. [...] L'histoire de Ia culture n'est pas une ligne droite; elle camporte des ruptures, des points de rebroussement. Les gloses et commentaires ne temoignent pas seulement de Ia continuite de cette culture, mais aussi de ses avatars.>Par analogie, en comprenait l'interpretation extensive des regles du droit existant en rapport avec !es cas concrets varies.>Denn wenn man mit gutem Gewissen davon überzeugt war, in einem bestimmten Falle der sunna des Propheten zu folgen, erfand man ganz naiv einen hadith, der ihm ein entsprechendes Wort oder eine entsprechende Handlung beilegte: mußte doch der Prophet so gesagt und gehandelt haben. Man kann heute noch die Geschichte der politischen, dogmatischen und juristischen Ausein­ andersetzungen der ersten Jahrhunderte an der Hand der Aussprüche verfol­ gen, die ihm in den Mund gelegt werden, und zwar jeweils für den Stand­ punkt beider streitender Parteien.>das Gewohn­ heitsrecht von Medina als Richtschnur (sunna), gerechtfertigt durch igma« erscheint. R. Hartmann, Die Religion des Islam, a.a.O. , S. 53.

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Die antithetische Struktur des hochmittelalterlichen Denkens

möglicher Bindung an das geschriebene bzw. durch die mündliche Tradition der Gefährten des Propheten (hadith) verbürgte Wort. So entstand frühzeitig in der islamischen Welt eine Diskussions­ kultur, die auch autoritativ geltende Glaubensinhalte dem argumen­ tativen Denken aussetzte, ja unterwarf.22 Über Spanien und das nor­ mannisch-Staufisehe Sizilien, wo eine >Kohabitation< von Islam und Christentum praktiziert wurde, drang diese Einstellung zur Über­ lieferung auch in das christliche Abendland vor. Zu den Florilegien, die das unbezweifelbare Bildungsgut vermittelten, gesellten sich die Kommentare zu biblischen, patristischen und antiken Texten.23 In der Folge vollzog sich im europäischen Mittelalter mit dem 12. Jahrhundert ein entscheidender Stilwandel im Verfahren der In­

terpretation. Ausdruck dieses Stilwandels sind die Libri Sententia­

rum des Petrus Lombardus, deren durchschlagende und langan­ dauernde Wirkung wesentlich dazu beigetragen hat, dass die neue Denkhaltung sich durchsetzen konnte. Alle bedeutenden T heologie­ und Philosophie-Lehrer verfassten Kommentare zu diesen Senten­ zen-Büchern, an der Pariser Artistenfakultät wurde man zum >Bac­ calaureus formatusohne das Wie>Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts sind die Stücke, die er ausgewählt hat, klassisch geblieben, und man las die Sentenzen gleichzeitig mit der Bibel in den theologischen Fakultäten zahlreicher europäischer Uni­ versitäten.>Abaelards Sie et non ist eine Kompilation von anscheinend sich widersprechenden Texten aus Schrift und Vätern über 150 wichtige theologische Fragen. Der methodologische Schwerpunkt dieser Schrift liegt auf dem Prologus, welcher die Regeln für einen Ausgleich die­ ser sich widersprechenden auctoritates gibt. Seit dem 12. Jahrhundert stellt man vor allem in den Schulen Fragen, wie es vorher schon in gewissen Kreisen der Antike Praxis war. [...] Die Tatsache, Fragen zu stellen, das >Befragenquestionner< n'est donc pas le privilege des disciples; il est le fait de tous ceux qui cherchent, bref, de tous ceux qui sont desireux de connaitremoderne< Einstellung, weil sie zur Historisierung und Relativierung der Über­ lieferung führen muss. Revolutionär ist jedoch erst Punkt 5, der sich auf das Postulat stützt, »daß die literarische Überlieferung (Gattung) nicht mit der Notwendigkeit zu glauben, sondern mit der Freiheit zu urteilen gelesen werden muß. Quod genus litteramm non cum credendi necessitate, sed cum iudi­ candi libertate legendum est«. Zitiert nach Grabmann, Geschichte der scho­

lastischen Methode, a.a.O., S. 202

=

Migne, PL Band CLXXVIII, S. 1347.

Grabmann bemerkt dazu ebd.: »Es müssen die Schriften der Väter nicht mit der Verpflichtung des Glaubens gelesen werden, es kommt bei ihrer Lektüre die Freiheit des Urteils zur Geltung.Das Sakrament ist ein Zeichen der heiligen Sache.Wir sagen dennoch, daß das Sakrament ein bezeichnendes Heiliges und ein bezeichnetes Hei­ liges sei; hier aber handelt es sich um das Sakrament, insofern es ein Zeichen ist.Sacramentum est sacrae rei signum.>Dicitur tarnen[...], ut sacramentum sit sacrum signans, et sa­ crum signatum.>Also sind die Sakramente nicht nur um des Zeichengebens willen eingesetzt worden, sondern auch um der Heili­ gung willen. Was nämlich nur des Zeichengebens willen eingesetzt wurde, ist nur ein Zeichen und kein Sakrament.Non ergo significandi tantum gratia sacramenta instituta surrt, sed etiam sanctificandi. Quae enim significandi gratia tantum instituta surrt, solum signa surrt, et non sacramenta.Gott scheint dem Bösen nicht zuzustimmen, weil er weiß, warum es geschehen muß; er kann es nicht verhindern, weil es einen Grund gibt, warum er selbst nicht gegen einen Grund handeln kann.>Die literarischen Gattungen existieren[...]. Wir müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, daß die Existenz der Gattungen

Autorität, Vernunft und Fortschritt

Die

401

quaestio ist hervorgegangen aus der lectio, der Lehrtätigkeit, auctoritates

>>die sich auf Texte konzentrierte, dem Verständnis der

gewidmet und dazu bestimmt war, die Tradition zu sichern.«41 Eine Tradition, die in sich selbst widersprüchlich ist, bedarf der auslegen­ den Weiterentwicklung, um die Widersprüche auszuräumen oder zu versöhnen.42 >>Sobald sie begonnen haben, Divergenzen in der Tra­ dition festzustellen, sahen sie sich genötigt, kritisch die vorgelegten Meinungen zu untersuchen, um zu bestimmen, auf welcher Seite sich die Wahrheit befand.«43 Aus diesem abwägenden Vergleichen der die Methode der

auctoritates ergab sich quaestio. Das Problem wurde in der Form einer

Entscheidungsfrage gestellt. Alsdann wurden die herrschenden Lehr­ meinungen referiert, sodann die entgegenstehenden. Danach entwickelt der Autor seine eigene Auffassung mit Gründen und schließlich folgt als Teil der Antwort die Einschätzung der zuvor referierten Lehrmei­ nungen im einzelnen, soweit der Autor ihnen widerspricht. Es ergibt sich folgender Aufbau: Frage

(Utrum ...), Referat (Videtur quod ...), (Sed contra ...), Antwort (Respondeo ...) mit kritischer Beurteilung (Ad primum, ad secundum ...). Gegen-Referat

Nehmen wir ein beliebiges Beispiel, den siebten Artikel der

Quaestio XIV des ersten Teils der Summa theologica des T homas von Aquino. Die Frage lautet: >>Üb das Wissen Gottes diskursiv sei«. Die erste Gruppe von drei referierten Auffassungen ist bejahend, gestützt auf die aristotelische Logik. Dagegen wird Augustinus,

trinitate

De

14, angeführt. T homas' Antwort hebt an mit der Bestim­

mung, was diskursiv ist- die Sukzession von Gedanken und die kau­ sale Ableitung; und er setzt dagegen, dass Gott alles in einem sieht, das er selber ist

(Deus autem omnia videt uno, quod est ipse). Im

weiteren wird die extensionale Struktur des Diskursiven ausgeführt.

dem Vorhandensein einer Literatur vorangeht. Die Gattungen müssen daher als ein wesentlicher Faktor der Deutung beleuchtet werden.Quaestiones aliquando fiunt causa dubitationis, aliquando causa docendi>voll Ehren« (honoris plenitudine) in seinem Amt bestätigt wurde.53 Im Prolog zu seinen Boethius-Kommentaren schreibt er, dass Interpretationen >>nicht so sehr durch Autorität, als vielmehr durch Gründe [...] befestigt« worden sind, und daß er den Sinn des Textes wiedergeben wolle, >>nichts aber aufgrund unserer Autorität hinzufügen, sondern den Sinn des Autors referieren«.54 Diesem Pro­ gramm philologischer Genauigkeit folgt dann im Prolog zu De trini­ tate die Definition, was als eine quaestio anzusehen sei - und diese Definition darf als ein methodologisches Postulat zur Präzision des argumentativen Verfahrens verstanden werden. >>Hier ist daran zu erinnern, daß die quaestio aus der Bejahung und der ihr widersprechenden Verneinung besteht. Aber nicht jeder Widerspruch ist eine quaestio. [...] Eine quaestio ist es, bei der beide Argumente einen Teil der Wahrheit zu besitzen scheinen.«55 Die Auflösung des Widerspruchs soll auf dem Wege der distinctio, der logischen Unterscheidung, angestrebt werden. Die Wahrheit tritt als das logisch Bestimmbare hervor, die Vernunft übernimmt das Richteramt im Streit der Autoritäten. Mit dieser Festlegung eines Verfahrens wissenschaftlicher Unter­ suchung ist der Übergang von der lectio, der rezeptiven Aneignung, zur quaestio, der problemlösenden Aneignung vollzogen. An die Stelle eines sakrosankten Textcorpus ist ein problemorientiertes Interpre­ tationsmuster getreten, das sich in der konzeptuellen Modeliierung der Wirklichkeit bewähren muss. Anders aber als in der klassischen Philosophie der Antike und anders auch als in der nach-cartesischen Moderne werden indessen die Fragen der philosophia speculativa nicht von den Sachen, d. h. letzten Endes von der Erfahrung (auch der transzendentalen Erfahrung des Denkens mit sich selbst) her gestellt, sondern in der Auslegung eines textuell vorgegebenen Sinnhori-

53 54

Otto von Freising, Gesta Friderici 1 ,56. Gilbert of Poitiers, The commentaries an Boethius, ed. Nikolaus M. Häring, Toronto 1966, S. 53 f. Gilbert hebt dann hervor, daß >>die Bedeutung des geschriebenen Wortes sich auf den Begriff seines Verfassers bezieht>Hic commemorandum est quod ex affirmatione et eius contra­ dictoria negatione questio constat. Non tarnen omnis contradictio questio

est. [...] Cuius uero utraque pars argumenta ueritatis habere uidetur, questio est.«

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Die antithetische Struktur des hochmittelalterlichen Denkens

zonts.56 Der Wortlaut der Texte, der heiligen Schriften, auf den sich das Welt- und Lebensverständnis bezieht, muss verstanden werden. >>Noch die einfachste Form des Glaubens war eine Art >literarische< Bildung- und das in Jahrhunderten, in denen nur eine verschwin­ dende Minderheit des Lesens kundig war. Um so wichtiger war es für die universelle Geltung der Weltanschauung, daß die mündlich verbreitete Kenntnis der Texte auf die Lebenssituationen der Men­ schen >angewandtallegorisch< gedeutet werden. Beim Allegorisieren ging es »um die Enthüllung des bei der Schöp­ fung in der Kreatur versiegelten Sinns der Sprache Gottes, um re­

velatio, um eine spiritualis notificatio, wie Hugo von St. Victor es nennt, die aus der stummen Welt der Dinge die Sprache göttlicher Verkündigung vernimmt.«57 Die Praxis allegorischer Deutung hat im Prinzip der Allegorie keine strenge Limitation des Sinngebungsspielraums. Sie läuft stets Gefahr, sich in subjektiver Beliebigkeit zu verlieren. So ist es ein vordringliches Erfordernis einer sich auf Schriftzeugnisse stützenden Weltanschauung, den »wahren« Sinn der Textüberlieferung zu si­ chern.58 Das Zitat und die möglichst eng ans Zitat sich haltende Dar­ legung sind die Bildungsmomente, die einen Weltanschauungskon-

56 Die Besonderheit des christlichen (wie auch später des islamischen) Mittelalters

liegt darin, dass dieser Sinnhorizont durch geoffenbarte Texte unverrückbar festgelegt ist. 57

F riedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darm­ stadt 1977, S. 13.

58

F ür die Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam gilt überein­ stimmend, was G. Schalem, Über einige Grundbegriffe des Judentums, a. a. 0., S. 97, von der Tora-Tradition schreibt: >>Daß die Offenbarung des Kommen­ tars bedarf, um verstanden und im richtigen Verständnis angewandt werden zu können, ist keineswegs selbstverständliche religiöse These, die dem Phä­ nomen der Schriftgelehrtheit und der von ihr inaugurierten Tradition im Judentum zugrundeliegt.>Jedes mit dem Wort gemeinte eine Ding hat selbst eine Menge von Bedeutungen [...]. Es macht nun das Wesen der Heiligen Schrift aus, daß dieses Ding, in dem sich der Buchstabensinn erschöpft, erst der eigentliche Bedeutungsträger ist. Jedes mit einem Wort­ klang in die Sprache gerufene Ding, alle von Gott geschaffene Kreatur, die durch das Wort benannt wird, deutet weiter auf einen höheren Sinn, ist Zeichen von etwas Geistigem.>dunklen Jahrhunderte«, wie Bischof Bernhard von Bildesheim und Gerbert von Aurillac (später Papst Silvester II.) spiegeln diese Begegnungslagen an den Grenzen. Der Technik- und Wissenschaftstransfer vollzog sich langsam und vielfach unterbrochen. Zwischen dem Karolingerreich und seinen Nachfolgestaaten einerseits und dem südspanischen Kalifat von Cor­ doba lagen andererseits zahlreiche autonome und selbständige Fürs­ tentümer und Emirate, zwischen denen mit wechselnden Bündnis­ fronten es mehr um Landgewinn oder um bloße Raubzüge ging als um wohl organisierten Handel samt der Vermittlung kultureller Er­ rungenschaften. Zudem trug im islamischen Spanien der wohl gelit­ tene jüdische Bevölkerungsanteil mit seinem gut ausgebauten Bildungs­ wesen zur Wissensbildung bei, während die Juden im christlichen

Die Anfänge

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Europa immer wieder durch religiösen und sozialen Antisemitismus abgetrennt wurden. So vollzogen sich die ersten Wahrnehmungen des Wissenskorpus des islamischen Nachbarn nur sehr zögernd. Im 10. Jahrhundert waren es vor allem Kenntnisse der Mathematik und der für die Schifffahrt wichtigen Astronomie und Chronometrie, die adaptiert wurden. Das Pyrenäenkloster Ripuli spielte dabei eine zentrale Ver­ mittlerrolle, die bis zum Kloster auf der Insel Reichenau, einer Kon­ stante der Bildung im karolingisch-ottonischen Zeitalter, reichte; Abt Hermann Kontraktus verarbeitete dort die in Ripuli aus dem Arabischen übersetzten astronomischen Schriften. Man darf diese wenigen Glanzlichter aus der Frühzeit des Mittelalters nicht über­ schätzen. An islamischer Wissenschaft geschulte Köpfe wie Gerbert von Aurillac galten den Zeitgenossen als Zauberer (>>Gerbertus Ma­ gus«). Er musste bei Nacht und Nebel als Leiter der Domschule Reims, der Hochburg christlicher Wissenschaft, fliehen, weil man ihn wegen seines Wissens des Paktes mit dem Teufel verdächtigte. Der Gunst seines Zöglings, des Kaisers Otto 111., verdankte er dann, dass er zuerst als Abt in Bobbio10 eingesetzt und dann 999 zum Papst ge­ macht wurde, obwohl er im Klerus und römischen Adel auf größten Widerstand stieß. Wirkliche Ausbeutung importierten Wissens und damit zugleich der Anstoß zu eigener Wissenschaftsentwicklung gehört erst ins 11. Jahrhundert im Zusammenhang mit der technischen Entwick­

lung städtischen Handwerks, der Organisation in Zünften, die das politische, aber auch das Wissensinteresse der neuen Stände vertra­ ten; und dem größer werdenden Bedürfnis nach wissenschaftlichen Kenntnissen, die nicht nur praktisch unmittelbar verwertbar sein, sondern auch Begründungszusammenhänge liefern sollten. Es war nicht nur Hochmut der Moderne, vom finsteren Mittel­ alter zu sprechen. Zwischen 500 und 1100 gab es wirklich nur sehr zögerliche geistige Entwicklungen und kaum eine Veränderung der allgemeinen Bewusstseinslage. Das soll nicht heißen, dass es eine Zeit kultureller Verarmung gewesen wäre. Dagegen spricht schon die Ar­ chitektur und Bildkunst in der Zeit. Parallel zur primitiven techni­ schen Produktionsweise verliefen auch die Zeitrhythmen anders. Verglichen mit den Jahrhunderten von T hales bis Aristoteles oder von

10 Dank seiner reich ausgestatteten Bibliothek war Bobbio ein Zentrum der Ge­ lehrsamkeit.

420

Die scholastische Kathedrale

Decartes bis Hegel war das frühe Mittelalter eine stille Zeit. Und man kann sich des Lächelns nicht erwehren, wenn man sieht, mit welchem Eifer sich Gelehrte auf einzelne herausragende Figuren stürzen, um in die dunkle Zeit etwas Licht fallen zu lassen. - Alkuin am Hof Karls des Großem, Johannes Scotus Eriugena (gestorben 880), Ger­ bert von Aurillac um 1000, Anselm von Canterbury (gestorben 1109). Keine sehr reiche Ausbeute in 300 Jahren; und die 300 Jahre vorher liefern für die Handbücher der Philosophiegeschichte nichts Nen­ nenswertes. Dieses ironische Bild hat Kurt Flasch, einer der besten Kenner des lateinischen Mittelalters, mit kräftigen Strichen korrigiert. Er führt die Philosophie in die Lebensumstände und Daseinshaltung der Zeit zurück. Er beginnt mit dem Aachener Münster, Karls des Großen Repräsentationsbau. >>Wir müssen das karolingische Achteck in seiner Reinheit rekonstruieren, in mühseliger Kleinarbeit, innen wie außen. Wir müssen uns die Welt vorstellen, in der es stand, umgeben von einigen wenigen Steinbauten, inmitten von riesigen Wäldern. Land­ straßen gab es fast keine. Die meisten Reisen, fast alle Transporte, geschahen mit dem Schiff. Ein Buch hatte den Wert eines Bauern­ hofes. Im ganzen Reich, das viel zu groß war, um effizient verwaltet zu werden, gab es nur einige wenige hundert Personen, die ein sol­ ches Buch lesen konnten. ... War der achteckige Rundbau auf Gott, auf den Altar oder auf den Kaiser konzentriert? Man konnte es nicht unterscheiden. Man wollte auch nicht. Hier war alles zusammen, was in einer wenig bearbeiteten Natur Halt und Ordnung verlieh. Hier war Form, Einheit, Mittelpunkt, nicht als wären alle Unterschiede verflossen in mystischem Dunkel: Der Kaiser war oben, alle ande­ ren, auch der Klerus waren unten. Hierarchie blieb sichtbar. Darauf kam es an: Herrschaft war Hierarchie, nicht bloße Funktion. Nicht als wäre sie ohne Gewalt und ohne Krieg zustande gekommen. An den Händen des Kaisers klebte Blut. Wir müssen ihn eher als einen erfolgreichen Bandenchef denken, denn als den idealisierten Pries­ terkönig späterer Darstellungen«.11 Das ist ein anderes Ambiente für Philosophie als Milet und Elea, später Athen oder Paris oder Leiden, später Berlin. Ich gebe Flasch Recht. Auch ich würde eine Geschichte der mittelalterlichen Philo-

11

Kurt Flasch,

Einführung in die Philosophie des Mittelalters,

Darmstadt 1987,

S. 1 f.- Vgl. die Schilderung des Aachener Münsters bei Wilhelm Pinder,

Kunst der deutschen Kaiserzeit, Köln 1952, S. 61 ff.

Die

Die Anfänge

421

sophie mit der Architektur beginnen lassen, mit dem T heoderichs­ Grabmal in Ravenna über das Münster von Aachen bis zum Dom von Speyer. Selbst die Dialektik, eher auf das Sprachlich-Begriffliche eingeschränkt und aus Texten entwickelbar, hat da ihre Formen: Die Lichtmetaphorik von Chartres, die Ordnung der T ürme und Chöre von Maria Laach, die Raumfolge von Sant Ambrogio in Mailand sind gestaltete Dialektik der Aisthesis, darin wirken Weltbegriffe. Flasch betont mit Recht, dass die Kultur, von der wir hier spre­ chen, die einer kleinen Minderheit war: des Hofstaats, der kaiserli­ chen Administratoren, der Klosteroberen und einiger Mönche, der Heilkundigen etwa oder der Schreiber, die Urkunden anfertigten und Bücher abschrieben. Vergessen wir letztere nicht. Sie haben das Meiste für die Bewahrung historisch-philosophischer Überlieferung getan und für deren langsame Ausbreitung gesorgt. Die Malereien dazu waren von größter gedanklicher Bedeutung. Denn auch vielen Lese­ kundigen machte der schriftliche Ausdruck doch Verständnisschwie­ rigkeiten und sie hatten es leichter, wenn sie Gesagtes in Gesehenem wieder erfassen konnten. Das Gedachte war primär bestimmt durch das Bildliche, das ja nicht unmittelbare Sinnlichkeit ist, sondern deren eidetische Gestalt. Denken war weithin anschauliches Denken, wo die breite Masse, auch die Adligen und die meisten Mönche, illiterat waren. Bilderzyk­ len, wie wir sie z. B. von der Kassettendecke der romanischen Kirche in Zillis kennen, übernahmen die Rolle von Büchern. Was der Pfar­ rer aus der Heiligen Schrift erzählt hatte, sah der Gläubige in der Abbreviatur charakteristischer Szenen; das Detail stand für das Ganze, die Versenkung ins Einzelne produzierte das Mitdenken der ganzen Geschichte. Das Faktum war immer Symbol einer Ganzheit. Wissen war nicht Tatsachenkenntnis, sondern Sinnkonstitution, die Situa­ tion, die durchaus präzis angegeben war, löste sich in einen Hori­ zont auf, in dem sie erst ihre Bedeutung als Situation freigab. Mann, Frau und Kind mit Esel auf dem Weg- das war alltäglich; dass es die Flucht nach Ägypten war, die hier dargestellt wurde, wusste man. Einzelerkenntnis war kontextuell eingelagert in Vorwissen. Die Em­ pirie spielte für den Wissenserwerb eine ganz nachgeordnete Rolle, auch die Logik hatte sich dem schon bekannten Sinn einzufügen. So konnten viele Varianten entstehen, aber kaum neue Paradigmata. Die Bildmuster hielten das Denken fest. In der Analyse der Varianten zeigt sich der geistige Reichtum eines analphabetischen Zeitalters auf seine Weise. Seine Gedanken müssen aus seinen Bildern abgelesen

422

Die scholastische Kathedrale

und in Sprache übersetzt werden, damit wir sie auf unsere Weise ver­ stehen. Bild-Denken und Wort-Denken sind eine merkwürdige Symbiose eingegangen in der Laudatio sanctae crucis des Rahanus Maurus. Der Text besteht aus einer Abfolge hymnenartiger Lobpreisungen Christi. Jeder Hymnus ist auf einer Seite in Buchstabenreihen von gleicher Buchstabenzahl ohne Wortabtrennungen und gleicher Zeilenzahl nie­ dergeschrieben, sodass sich völlig einheitliche verbale Schriftbilder ergeben. Diese sind wie ein Palimpsest unterlegt mit Zeichnungen, symmetrisch oder auf Mitte gestellt, so angeordnet, dass diejenigen Buchstaben, die vom Kontur der Zeichnung eingeschlossen sind (der sogenannte lntext) für sich Sentenzen bilden: Bibelstellen, Orationen und Ähnliches. Die zeichenhaften Bilddarstellungen sind visuelle Bedeutungsträger, die den kaum flüssig lesbaren Text erläutern und einem Sinnganzen zuordnen und die in ihrem Inneren noch einen esoterischen Verweis auf das Heilige bringen. Bildverständnis, Schrift­ verständnis und Sinndeutung überlagern einander, sind zu einer tektonischen Deckung gebracht und durch das Bildzeichen inte­ griert - eine raffinierte mehrschichtige Semantik, die noch mit der Zahlenmystik der Buchstabenrechtecke gekoppelt ist. Neupythago­ reische Zahlenkombinatorik ist Rahanus durch den Clavis scripturae vermittelt worden, der vermutlich aus dem 2. Jahrhundert stammt und im vorislamischen Spanien so wohl auch Isidor von Sevilla, be­ kannt war. Ein Beispiel solcher Zahlensequenzen gibt de rerum naturae XVIII, 3: »Die Zahl 3 gehört zum Geheimnis der Drei­ faltigkeit, wie es im Johannesbrief heißt: Drei sind es, die Zeugnis ablegen. Desgleichen bezieht sich die 3 auf das Begräbnis nach der Passion des Herrn und das Geheimnis der Auferstehung ... Weiter ist die 3 geeignet, Glaube, Hoffnung und Liebe auszudrücken ... Des­ gleichen bedeutet die 3 die drei Zeiten, das heißt die erste Zeit vor dem Gesetz, die zweite Zeit unter dem Gesetz, die dritte unter der Gnade. ... Gleichermaßen repräsentiert die 3 das dreigestaltige Wir­ ken des Menschen im Guten oder im Bösen, d. h. durch Denken, Reden und Tun ... Weiter zeigt die 3 die drei Stände der Gläubigen auf: den der Kleriker, den der Mönche und den der Verheirateten«. Man sieht, wie leicht dem Rahanus die Analogien von der Hand gehen. Das war die dominante Denkfigur der Zeit, die sich in zei­ chenhaften Entsprechungen fand, die vom Heiligsten bis zu den Prinzipien von Moral und Natur reicht und die Einheit der Weltord­ nung ausdrückt. Die Iaudatio crucis gehört in dieses Schema des

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Analogisierens. Das Inwendige der Figur, der lntext, war hier sozu­ sagen die erste Analogie zur Transzendenz (wenn man will, mag man darin eine Vorform der analogia entis sehen). Darin deutet sich an, dass in der Reflexion auf die Form die Methode eines Bezugs auf einen ungegenständlichen Seinsmodus gesucht wurde, also ein spe­ kulativer Übergang vom Bildhaften zum Bildlosen. Das Memoran­ dum des Kaisers zum byzantinischen Bilderstreit (der ihn streng genommen gar nichts anging) war sicher motiviert durch die Ab­ sicht, imperiale Macht zur Schau zu stellen und politische Präsenz einzumahnen, wie Flasch überzeugend deutet.12 Aber die Argumen­ tation gründete in der Metaphysik, sie war, modern gesprochen, politische T heologie. Rahanus war ja auch ein Schüler Alkuins, des Epoche machenden Beraters Karls des Großen. Der hymnische Ton der laudatio crucis, der mit Philosophie wenig gemein zu haben scheint, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Buch eine kategoriale Struktur hat. Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Verkündigung des Unsagbaren werden ineinander gebettet und sind so die dreifache Einheit des Logos: Gestalt (eidos, figura), Wort (le­

gomenon, verbum) und Licht (phos, lumen). Rahanus greift in seinen Schrift gern auf das Johannes-Evangelium zurück; dort findet er auch die Dreiheit des Logos als Analogon der drei Personen der Trinität. So kann das Bild-Denken der nachpatristischen Jahrhunderte wieder zurückgeholt werden in das Wort-Denken der Heiligen Schrift und der Kirchenväter. Die Kategorien der einen meinen dasselbe wie die Kategorien des anderen. Sie lassen sich aufeinander projizieren. Das ist eine Form, die wir dialektisch nennen dürfen; bei Leibniz erhält sie in der T hese von der Universalität des Ausdrückens die Ge­ schmeidigkeit, die sie (mit dem Prinzip der Analogie) zu einem me­ thodischen Instrument der Dialektik werden lässt. Die abbreviative, siegelhafte Bild-Sprache verzichtet ganz auf das Charakteristische. Es ist der Typus, der vorgestellt wird, und das Typische bekommt Symbolwert. In ihm materialisiert sich äußerlich (externus), was innerlich (internus) der spirituelle Gehalt ist. Die Termini, die später in der Eucharistie-Lehre bei Gerbert und Fulbert eine wichtige Rolle spielen, kommen schon bei Karl dem Großen in der epistula de literis calendis vor und beziehen sich da ausdrücklich auf den Un­ terschied von Glauben und scholastischer Darstellung. Der Brief wurde

12

Flasch, Das philosophische Denken, a. a. O., S. 155 ff. Ders., Einführung, a. a. 0., Kap. I und II.

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Die scholastische Kathedrale

auch an den Abt von Fulda geschickt13 und Raban dürfte mit seiner Intention vor der Entsendung an die Hofschule 791 bekannt ge­ macht worden sein. Jedenfalls entspricht die Anordnung in der Iau­

datio crucis- Gesamttext, Bildkontur, Irrtext- gerrau der Unterschei­ dung von bene loquendo doctus als äußerer und bene devotus als innerer Seite der docta. Beide Aspekte sind in höchster Gattungs­ einheit angesprochen, nicht nur bei den theologischen Hymnen, son­ dern auch in dem Widmungsblatt für Kaiser Lothar, das ganz im Sinne der augustinischen Funktionalität der civitas terrena für die civitas

dei gehalten ist. In diesem Denkfeld hat das Universalienproblem keinen Ort. Das angeschaute Einzelne ist das Allganze, und das Allgemeine ist die eigentliche Wirklichkeit, nicht wie eine platonische Idee, auch nicht als Gedanke Gottes - das sind Intellektualismen. Das Allganze ist das Wirkliche, weil eben das Einzelne samt seiner Varianten erst im Sinnganzen wirklich ist. Das Allgemeine wird nicht aus dem Einzel­ nen abstrahiert, die Einzelnen nicht als Exemplare dem Allgemeinen subsumiert, sie bilden eine Einheit. Wo die Universalienfrage als Problem auftaucht, ist diese anschau­ liche Einheit als Struktur des Weltbildes schon in Zerfall geraten. Die ottonischen und salischen Kaiser hatten mit dem Ausbau der Reichsorganisation eine neue Schicht von Administratoren geschaf­ fen, die rechts- und also auch lese- und schreibkundig sein mussten. Zuerst in Italien, dann auf Deutschland übergreifend entstanden die Zentren des Handels und Verkehrs, urbane Gemeinwesen, deren Existenzform eine höhere Bildung verlangte als die agrarische. Hein­ rich IV. konnte sich in seinen Auseinandersetzungen einerseits mit den Fürsten, andererseits mit dem Papst auf die Städte stützen, die er auch mit Privilegien ausstattete. Die cluniazensische Bewegung, kir­ chenreformerisch und im Gefolge der Kirchenreform zugleich macht­ politisch ausgerichtet, trug die religiösen Theoriengegensätze un­ mittelbar in die Politik. Der lnvestiturstreit, mit ekklesiologischen Argumenten begründet, wird als Kraftprobe zwischen Kaiser und Papst ausgetragen. Die neue Schicht des Stadtbürgertums nimmt den monastischen Vorrang in der feudalen Hierarchie, der auf dem Bil­ dungsprivileg beruhte, nicht mehr hin. Was die Kloster- und Dom-

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Urkundenbuch des Klosters Fulda.

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schulen an boetianisch-aristotelischer Logik gelehrt haben, wird nun im Kampf gegen sie als Waffe benutzt. Flasch fasst zusammen: >>Die Rationalisierung der Verwaltungen, das Vordringen der Rechenhaftigkeit, die Organisation des Handels, die Entwicklung des Geldwesens, die Erfahrung in der Selbstverwal­ tung kommunaler Körperschaften und die selbständige Regelung von Rechtskonflikten in den Städten veränderten den Begriff dessen, was die Menschen als ein gutes Argument anerkannten: Die Masse des Überlieferten sah sich einem neuen Kriterium der Rationalität gegen­ übergestellt.«14 Noch immer beschränkte sich die Bildung auf eine dünne Ober­ schicht, die nun aber doch breit genug war, dass heftige Diskus­ sionen in ihr geführt werden konnten und sich auch ideologische Fraktionen bildeten, die sich politischen Positionen zuordneten. Kurt Flasch konnte eine instruktive Einführung in die philosophischen Probleme des Mittelalters anhand theoretisch dichotomisch geführ­ ter Auseinandersetzungen verfassen.15 Ab dem 11. Jahrhundert ist die Philosophie alles andere als eine gleichförmige Affirmation der christlichen Dogmatik und deren augustinischer Auslegung. Jetzt geht es auch nicht mehr nur darum, wer Augustinus richtig anwen­ det, der Kirchenvater selbst stand nun auf dem Prüfstand. Das Hoch­ mittelalter ist erfüllt von erbitterten politischen und ideologischen Kämpfen, die eng mit der Veränderung der Produktionsweise durch Fortschritte in Technik und Verkehr verknüpft sind. Die scheinbar rein theoretischen, philosophisch-theologischen Kontroversen haben immer auch ein politisches Umfeld, in das sie eingebettet sind und dessen Parteiungen sie zugeordnet werden können. An den gesellschaftlich fortgeschrittensten Stellen, den in Handel und Handwerk entwickelten oberitalienischen Kommunen, traten diese Gegensätze am schärfsten hervor. Die Analyse der hochmittelalterlichen Entwicklung, deren intel­ lektuelle Ursprünge schon in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zurückführen, ist allerdings mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Keineswegs lassen sich nämlich die Fronten von Reaktion und Fort­ schritt, die Klassenfronten, jeweils eindeutig markieren - und man kann das angesichts der widerspruchsvollen Struktur der Gesellschaft jener Zeit auch gar nicht erwarten. Es kommt also darauf an, aus

14

Flasch, Philosophisches Denken, a.a. 0., S. 190 f.

15

Flasch, Einführung, a.a.O.

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einer verwirrenden Fülle von ideologischen Motiven, Abhängigkei­ ten und Beziehungen die entscheidenden Richtungen, die Grundzüge des Jahrhunderts herauszupräparieren. Das ist ein Unterfangen, das einer weit ausholenden monographischen Detailarbeit bedürfte. Für unseren Zweck, grobe Umrisse zu zeichnen, um dem Traditionsbe­ wusstsein einige Anhaltspunkte der Orientierung zu geben, müssen Vereinfachungen erlaubt sein, die der Wissenschaftler insofern guten Mutes vertreten zu können glaubt, als dadurch die aktuell wesentli­ chen Momente schärfer hervortreten, als das in einer differenzierten Studie möglich wäre. Die Parteiungen des Hochmittelalters sind bedingt durch den struk­ turellen Wandel von der feudalen Agrargesellschaft zur frühkapita­ listischen Bürgergesellschaft in den fortgeschrittensten Ländern Euro­ pas (Oberitalien, Florenz und Toskana, Provence, Nordfrankreich und Flandern, in geringerem Maße auch England). Der hohe Klerus, der sich in den vorangegangenen Jahrhunderten aufs beste den welt­ lichen Feudalherren akkomodiert und selbst als grundbesitzende Klasse mit institutionell weltlichem Einfluss etabliert hatte - der Investi­ turstreit ist ein Beleg dafür - stand naturgemäß auf Seiten der Adels­ schicht, die dem aufstrebenden Bürgertum politische Rechte zu ver­ wehren suchte. Daneben gesellte sich zu den bürgerlichen Kräften jedoch auch ein Teil der Geistlichkeit, darunter von einem gewissen Zeitpunkt an auch die Kurie, die sich die ökonomische Überlegenheit der Stadt­ bürger (Geldwirtschaft, Kapitalbildung) zunutze machen wollte - ein tendenzieller Anpassungsprozess unter Vermeidung eines revolutio­ nären Umschwungs, ein langsames Hinüberwachsen in neue Gesell­ schaftsverhältnisse, wobei sich den bestehenden Mächten die Chance bot, ihre Position so weit wie möglich zu erhalten. Schließlich aber gab es noch eine dritte, radikale Strömung, die besonders bei der niederen Geistlichkeit Anklang fand und die in den plebejischen Schichten der wachsenden Städte entstand und ihren Motor fand. Diese radikalen Kräfte, denen zum Teil eine Art ur­ kommunistische Gemeinschaft des Eigentums vage vorschwebte, forderten als erste von der Kirche Besitzlosigkeit und Unterstützung der sozial Schwächsten gegen ihre Ausbeuter. Die Zielsetzung war, nach dem Stand der historischen Entwicklung, gewiss illusionistisch; es lag aber ein real-utopischer Kern in ihr, der gerade an biblische und frühchristliche Traditionen anknüpfen konnte und über seine damalige Irrealität hinaus zukünftige Verwirklichungsmöglichkeiten

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des egalitären Prinzips wenigstens als Postulate enthielt. Dass dieser Radikalismus außerdem eine Reihe von realisierbaren Programm­ punkten umfasste, die abgelehnt zu haben für die Kirche den Verlust ihrer religiösen Glaubwürdigkeit bedeutete, gehört zu der verwickel­ ten Sachlage der ideologischen Bewegungen jener Zeit. Die Kirchen­ geschichte des 12. und 13. Jahrhunderts ist in mancher Beziehung eine Geschichte der versäumten Gelegenheiten. Jene Parteiungen stehen sich nun auch nicht rein voneinander geschieden gegenüber. Sie vermischten sich vielmehr häufig und gin­ gen in den bedeutendsten Denkern jener Zeit seltsame komplexe Ver­ bindungen ein, die es oft schwer machen, die Position eines Mannes eindeutig zu bestimmen. Unsere Skizze muss also versuchen, Profi­ lierungen betont einfach zu umreißen, die bei feinerer Binnenzeich­ nung zunächst wieder in einer Vielzahl divergierender Linien unter­ gingen, bis sie dann erneut, nun historisch reicher und vertiefter, in einer differenzierten bis zu Ende geführten Analyse auftauchen würden. Der Kampf, um den es hier geht, spielt sich auf zwei Ebenen ab, die sich zuweilen scharf voneinander trennen lassen, die zuweilen aber auch ineinander verfließen. Die eine ist die Ebene des politisch­ sozialen Klassenkampfs, die andere die der ideologischen Auseinan­ dersetzung zwischen altkirchlicher theologischer Tradition und neuen, sich auf Vernunft und philosophische Methode berufenden Auffas­ sungen. Dabei gibt sich dieser Prozess theologisch-philosophischer Streitigkeiten als eine fortschreitende Säkularisierung des Denkens zu erkennen, als eine Loslösung der Philosophie aus der Vormundschaft der T heologie, die dann folgerichtig in der Renaissance zu einer Ver­ selbständigung der weltlichen Wissenschaft führte. Nicht zufällig haben Kenner der mittelalterlichen Philosophie ausgesprochen, dass geis­ tesgeschichtlich die Renaissance bereits im 13. Jahrhundert beginnt. Ideologisch lässt sich der Gegensatz ziemlich gerrau bestimmen: Der Aufstand gegen den Primat der T heologie und die Revision des mit­ telalterlichen Weltbildes erfolgten als Kehrseite der bürgerlichen Op­ position gegen den Feudalismus. Die rationalistischen und mehr und mehr einer offen oder unterschwellig materialistischen Philosophie sich zuwendenden Denker der Hochscholastik standen in einer Front mit den aufstrebenden Kräften der Gesellschaft und akzentuierten deren Kampf gegen die feudalistische Tradition auf ihre Weise, näm­ lich als Kampf der Vernunft gegen die erstarrte Überlieferung, als Kampf der Wissenschaft gegen überholte Doktrinen. Wir werden das im einzelnen noch sehen. Die Philosophen dieser Richtung standen,

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trotz der ihnen innewohnenden Widersprüche, in der Kontinuität einer sich aus sich selbst entwickelnden Problementfaltung; anders als die Ideologien eines erneuerten urchristlichen Kommunismus über­ sprangen sie aber nicht die nächste Stufe der Entwicklung auf ein fernes unreifes, utopisches Ziel hin, sondern wandten sich gerrau der Aufgabe zu, die fällig war: Nämlich der Übernahme theologie-freier Denkformen, die eine im Gang der logischen Reflexion vorbereitete Entfaltung der Wissenschaftsgesinnung ausdrückten und die den Fort­ schritt der Produktivkräfte über den bisherigen Stand hinaus ermög­ lichten. Die Amtskirche empfand darum ihre Lehren mit Recht als ebenso umstürzlerisch wie die Parolen der Sozialrevolutionäre; denn ihre institutionelle Funktion, von diesen politisch-theologisch irrfrage gestellt, wurde von jenen ihrer geistigen Legitimation beraubt, also ihrer Autorität im Bewusstsein der Menschen entkleidet. Beide Be­ wegungen, die sozialrevolutionäre wie die philosophische, zwangen also die Kirche zu einer Selbstbesinnung auf ihre Grundlagen - zu einer Selbstbesinnung, die von den herrschenden Kreisen innerhalb der Kirche für sich verheerende Konsequenzen gefordert hätte. Darum wurden beide Bewegungen erbittert bekämpft. Jener Radikalismus, der auf eine prinzipielle Wandlung des Christentums drängte, ist ihnen gemeinsam. Er entsprang einer und derselben gesellschaftli­ chen Wurzel, nämlich einer aufstrebenden neuen Klasse, dem Stadt­ bürgertum, das die Vorkämpferin war für eine neue Gesellschafts­ form. Die Krisis der Auseinandersetzungen im Rahmen des christlichen Denkens und mit der kirchlichen Tradition fällt, wie gesagt, in das 13. Jahrhundert, das ganz und gar von dem Ringen um einen neuen

Sinn der christlichen Lehre erfüllt ist. Die Vorbereitung dieses histo­ rischen Umschlags vollzog sich in drei großen Schüben um die Mitte des 11. Jahrhunderts, und die Mitte des 12. Jahrhunderts und um die Wende zum 13. Jahrhundert, von wo aus die Bewegung dann konti­ nuierlich weiterlief. Ihren Ausgang nahm diese Bewegung vom öko­ nomisch fortgeschrittensten Teil Europas, der Lombardei. Dort hatte sich, durch die Italienzüge der deutschen Kaiser seit Otto I. begüns­ tigt, eine städtische Gesellschaftsform herausgebildet, die sich auf internationalen Warenumschlag und Fernhandel gründete und in Mai­ land ihren Mittelpunkt besaß. Dort entstand eine starke plebejische Unterschicht, für die das Evangelium eine soziale Bedeutung haben musste. Die urchristlichen Lehren von der Erlösung der Armen, von der Gleichheit der Menschen vor Gott, von der Eitelkeit des an-

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gehäuften Reichtums, die Forderung nach irdischer und jenseitiger Gerechtigkeit (die vor allem auch auf die Verteilung des Besitzes be­ zogen wurde) kamen hier zu neuer, betont politischer Geltung. Eine solche Ideologie richtete sich naturgemäß gegen den ver­ weltlichten Klerus, der die Macht in Händen hielt und Reichtum sammelte. So wurden die Trennung von weltlicher Obrigkeit und Geistlichkeit, die Besitzlosigkeit der Priester, die Durchführung der cluniazensischen Reform gefordert. Ja, die Versippung des vornehmen Klerus mit dem Hochadel gab den republikanischen Bestrebungen des Volks eine zugleich religiöse und politische Tendenz: Der Kampf um eine demokratische Verfassung wurde ebenso als Kampf um eine gereinigte Form des Christentums verstanden. Die lombardischen Plebejer organisierten sich schon um 1050 in einer Massenbewegung, der Pataria, deren zugleich religiöse und so­ ziale Doppelbedeutung die urchristlichen Impulse erneuerte und die in Mailand tatsächlich zeitweilig einen Volksstaat errichten konnte. Selbst später, in Perioden der aristokratischen Restauration, wurden wesentliche Errungenschaften der republikanischen Staatsordnung verteidigt. Diese Durchschlagskraft zog die fortschrittliche Partei aus ihrer Verbindung mit der evangelischen Verkündigung, die sie mit Recht als Ideologie der Unterdrückten und Ausgebeuteten für sich in Anspruch nahm und gegen die Allianz von Adel und feudalaristo­ kratischer Geistlichkeit geltend machte. Schon seit dem 11. Jahrhundert zeichnen sich deutlich mehrere Fronten gegeneinander ab. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier zunächst die cluniazensische Bewegung, deren gesellschaftlich-poli­ tischer Auftrag allerdings gerade nicht auf eine Entfeudalisierung und revolutionäre Umgestaltung der Kirche hinauslief, sondern vielmehr die Konstitution des Papsttums als einer feudalen, dem Kaisertum weltlich gleichberechtigten Macht erstrebte. Der Investiturstreit ist nicht zufällig zum Angelpunkt dieser Auseinandersetzung gewor­ den. Denn die Verleihung der Insignien an Bischöfe und Äbte durch den Kaiser, der damit zur letzten Instanz ihrer Bestallung wurde, musste den Kirchenfürsten ganz und gar den Charakter von kaiserlichen Lehensmannen und Magnaten des Reiches geben, mithin die Kirche nicht als eine selbständige Feudalmacht zur Geltung kommen lassen. Die Unabhängigkeit von einem weltlichen Lehensherren war aber das Ziel der hohen Geistlichkeit. Bistümer und Klöster waren reich mit Grundbesitz ausgestattet; sie fühlten sich als Staat im Staate. Insbesondere der päpstlichen Partei musste daran gelegen sein, diesen

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bedeutenden Reichtum an Sachwerten und an Macht der unmittel­ baren Verfügungsgewalt des weltlichen Oberherrn zu entziehen und dem eigenen Einfluss zu unterwerfen. Nur unter dieser Vorausset­ zung konnte das Papsttum damit rechnen, seinen Machtanspruch gegen den Kaiser wirkungsvoll vertreten zu können. So musste die von Cluny ausgehende Bewegung zunächst bei der päpstlichen Partei auf positiven Widerhall stoßen, bald aber auch die Unterstützung der Kirchenfürsten finden, die auf eine Stärkung ihrer eigenen Stellung gegen die Oberhoheit des Kaisers oder lokaler Feu­ dalherren bedacht waren. Im Rahmen der cluniazensischen Bewe­ gung vollzog sich der Übergang der Kirche zu einer selbständigen Feudalmacht, die Entwicklung des Klerus zu einem gleichberechtig­ ten Glied der feudalen Standesorganisation. Nun musste sich dieser Kampf der kirchlichen Grundherren um ihre verfassungsmäßige Selbständigkeit auf ideologische Argumente stützen, die über das gewünschte Ergebnis hinaus auch weiterreichende Folgerungen nach sich ziehen konnten. Im Mittelpunkt stand der Simonie-Begriff. Die Verleihung kirchlicher Würden gegen materielle Zuwendungen oder Zugeständnisse wurde angeprangert, und schließ­ lich legte man diesen Tatbestand so weit aus, dass schon die Investi­ tur durch eine weltliche Instanz als simonistisch galt. Damit war den Verfechtern der kurialen Partei ein kirchenrechtliches Instrument in die Hand gegeben, das sie nach Bedarf und Belieben gegen die >>Kaiserlichen>simonistische>eigentliche Aufgabe>Diese Pataria ist ein Vorläu­ fer der großen bürgerlichen Revolutionen des Abendlandes, die von nun an mit den Kämpfen des ersten und zweiten Standes bis zum Untergang des Feudalismus und zur Heraufkunft des Absolutismus verbunden bleibt>Als nun die echten Katharer immer zahlreicher im Mailändischen zum Vorschein kamen und eine ähnliche äußere Strenge und Ent­ haltsamkeit zur Schau trugen, wohl auch zuerst unter der Decke der Pataria sich festsetzten, fiel ihnen der dem Volke schon geläufige Name Patarener wie von selbst zu, und allmählich wurde derselbe in

16 Ernst Werner, Pauperes Christi, Leipzig 1956, S. 111 ff.

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Italien wie in Deutschland der Name der Katharer, die gewöhnliche Bezeichnung eines Irrgläubigen und ein Schmähwort im Munde des Volkes, so daß, als die Katharer bereits verschwunden waren, häufig die verschiedensten Personen als Patarener bezeichnete wurden.«17 So kam es zu der absurden Situation, dass der Klerus der Bischofs­ kirche, weil simonistisch und im Konkubinat lebend, von den An­ hängern der Pataria häretisch genannt wurde und umgekehrt die Amtskirche die Patarener als Häretiker bezeichnete. So weit, dass sich gegensätzliche Parteien wechselseitig als Patarener verdächtigten. So wurde auch im Jahre 1350 der Kardinallegat Annibaldo da Ceccano von den im Aufstand begriffenen Römern Patarener genannt und als derselbe den Volkstribun Rienzo bannte, geschah es mit der gleichen Bezeichnung.18 Da versteckt sich unter dem religiösen Kampfbegriff deutlich ein politischer Gegensatz. Wenn sich die Sekten in ihrer Kritik an der Amtskirche auf die Via Apostolica beriefen, so lag darin noch kein Widerspruch, der zu dialektischen Denkweisen geführt hätte. Die Entgegensetzung von

meritum

und

officium

mochte wohl dazu einen Anstoß geben, doch

lag da für die Häresien die Ausarbeitung theoretischer Konzepte fern; ihr Selbstverständnis lief ja gerade darauf hinaus, den alten Glauben gegen Deformationen zu bewahren oder wiederherzustel­ len, sodass sie keiner theologischen Absicherung durch Weiterrei­ chen der Gedankengänge bedurften. Es waren auch nicht bessere Argumente, sondern die Autorität von Bischöfen und Papst, durch die sie in die Enge und zu Verstößen gegen die Kirchendisziplin ge­ trieben wurden. Die Auseinandersetzungen mit den Ketzern des 11. Jahrhunderts wurden nicht auf theoretischer Ebene geführt.

Wohl aber gab es seit dieser Zeit, in der die Überlieferung mehr und mehr als Komplex von Problemen und nicht mehr nur als eine Sammlung von Glaubenswahrheiten rezipiert wurde, eine vertiefte theologische Reflexion, die schon bald das begriffliche und methodi­ sche Instrumentarium der Philosophie benutzte. Bis ins beginnende 12. Jahrhundert teilt man die Entwicklung der Philosophie/Theolo­

gie in zwei Ströme ein: Einerseits die an Kloster- und Kathedral­ schulen sich zu der Klerikerausbildung herausformende Exegese ka­ nonischer Texte (Bibel, Kirchenväter) und die darin auftauchenden

17

lgnaz von Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters, Darm­ stadt 1982, Bd. I, S. 128 ff.

18

Ebd., S. 129.

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lnterpretationsvarianten; deren Schwerpunkt lag in Deutschland und Frankreich, wo bis ins 10. Jahrhundert kaum eine belangvolle Schicht von Gebildeten existierte und es für die wachsende Rolle des Königtums unerlässlich war, eine - natürlich dem Klöstern entstam­ mende - Hofadministration heranzuziehen. Die karolingische Bil­ dungspolitik, der Einfluss der Kapetinger auf die Entstehung einer französischen >>Nationalkirche«, die auch zu den ersten Ketzerver­ folgungen in Orleans 1012 und in Arras 1025 führte, der Investi­ turstreit in Deutschland waren Stationen auf einem Weg, auf dem in der Auseinandersetzung der weltlichen Gewalten mit den Domi­ nanzansprüchen des Reformpapsttums die Funktion ideologischer Legitimation und damit die Bedürfnisse nach theoretischen Begrün­ dungen unmittelbar von politischen Konfrontationen abhängig waren. Anders in Italien, das heißt in Oberitalien. Entlang der Fernhan­ delsroute, die vom Orient über Byzanz und Venedig nach Mailand reicht und dort ihren Umschlagplatz in den Norden fand, hatten sich Kommunen in römischer Tradition erhalten bzw. neues Leben gewonnen, in denen eine deutliche Klasseneinteilung in handwerk­ liches Kleinbürgertum, kaufmännisches Großbürgertum und feudale, im Umland grundbesitzenden Nobilität bestand; diesen Differenzen entsprach in der Geistlichkeit der Abstand zwischen höherem und niederem Klerus. In Handel und Verkehr waren Kenntnisse gefor­ dert, die durch eine bescheidene, aber doch kontinuierliche Bewah­ rung antiker Bildung befriedigt werden konnten. Auf merkantile und juristische Belange ausgerichtet, suchte dieses Wissen weltanschaulich mehr einen ethischen und moralphilosophischen als einen metaphy­ sischen Hintergrund, und dem kam das Erbe der römischen Philo­ sophie entgegen. Im Umkreis urbaner Akkulturation fanden diese sozialen Gegensätze ihren Ausdruck eher in Häresien, die an die Feudalisierung der Kirche rührten, als in theologie-dogmatischen He­ terodoxien. Städtische anonyme Volksbewegungen, von Kommune zu Kommune durchaus variierend, charakterisieren hier die weltan­ schaulichen Fronten, während im Norden viel deutlicher theoretische Positionen von identifizierbaren Denkerpersönlichkeiten aufeinander trafen.19 In der Tat sind für unseren Zusammenhang, in dem das Auf-

19

Bei Flasch steht diese Personalisierung einseitig im Vordergrund, obschon er den politischen Kontext der theoretischen Kontroversen treffend kennzeichnet. So kommen bei ihm die Parteiungen im frühmittelalterlichen Italien und ihre Bedeutung für das europäische Geistesleben zu kurz, obwohl sie über den

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treten dialektischer Denkstrukturen ermittelt werden soll, die der Scholastik vorauseilenden Systementwürfe eines Eriugena und An­ seim ergiebiger als die begrifflich meist unscharfen (oder in den Quellen unscharf referierten) Sektenmeinungen, von denen wir eher allgemeine Tendenzen als präzise Reflexionen kennen. Auch möchte ich annehmen, dass personal festmachbare und dokumentierte litur­ gische Lehrauseinandersetzungen um Gnadenlehre und Abendmahl auf die aus diversen Motiven entstehenden Sektengruppen einen grö­ ßeren Einfluss ausübten als weltanschauliche Probleme; ging es doch bei ihnen immer auch um Rechtfertigung und Sakramente. Zwar stammen die Häresie-Gutachten und Inquisitionsakten, aus denen wir Näheres über die Argumente der Ketzer erfahren, durchgängig erst aus späterer Zeit,20 aber ein Rückschluss auf die chronologisch früheren Sekten ist zulässig. Denn die Begründungen für Dissiden­ zen berufen sich zumeist auf frühchristliche Quellen und halten der Amtskirche Systemwidersprüche vor, d. h. setzen die Vernunft gegen kirchliche Glaubensdisziplin ein. Das ist jedenfalls das gleiche geis­ tige Klima, aus dem auch die Begründung des Glaubens durch logi­ sche Beweisführung erwächst, die in Anselms Gottesbeweis schon auf einen ersten Höhepunkt gebracht wird. Anselm hat diesen Argu­ mentationsstil sicher nicht geschaffen, sondern ihm nur einen über­ zeugenden Ausdruck gegeben. Ohne eine längere Vorgeschichte im Feld theologischer Diskussionen ist dieses Niveau von Vernunftsys­ tematik gar nicht denkbar.

städtischen Rahmen der Universitätsstreitigkeiten im 13. Jahrhundert eine große Nachwirkung haben. 20

Siehe dazu die Darstellung von Döllinger, a. a. 0. Ein beispielhaftes Zeugnis ist die, allerdings erst nach 1400 entstandene Summa contra haereticos, Döl­ linger a. a. 0., Bd. II, S. 279 ff., die indessen althergebrachte Argumente hä­ retischer Bewegungen zusammenfasst und ihre Logik der Dogmenauslegung erkennen lässt.

2. Kapitel:

Scotus Eriugena

Wie die Taube auf den allegorischen Bildern des Pfingstwunders er­ scheint da mitten in einer von Philosophie ausgetrockneten Zeit aus heiterem Himmel der erste große philosophische Systembauer des nachantiken Mittelalters: Johannes Scotus Eriugena. Kurt Flasch sieht Eriugena als Produkt der karolingischen Bildungsreform. Sicher ist diese eine Voraussetzung dafür, dass der Denkstil Eriugenas auf dem Kontinent rezipiert werden konnte. Er selbst aber ist ein Kind der irischen Kultur, wie auch Alkuin, der Bildungspolitiker Karls des Großen. Da spielt zum ersten Mal wieder die antike Tradition eine Rolle, vermittelt vor allem durch Boethius. Aber auch die ostkirchliche T heologie war im irischen Christentum durch die Kenntnis des Areo­ pagiten präsent, der auf dem Kontinent bis dahin unbeachtet geblie­ ben war. Eriugena war mit einem anderen Neuplatonismus vertraut als der stoisch gefärbte Augustin. Bei ihm begegneten sich lateinische und griechische Geisteswelten in einer Freiheit, der durch Augus­ tinus der Atem genommen war. Zeitgenosse des dogmatischen Eife­ rers Rahanus Maurus, war er dessen Gegenpol. Der kritisch prüfende Logiker und Grammatiker. Das Trivium bekam durch ihn wieder Gewicht. Er konnte es unternehmen, eine Systematik von Gott und Welt zu entwerfen, die die Autoritäten auf der Basis logischer Prü­ fung auswertete statt bloß gläubigen Hinnehmens. Dass er überhaupt eine solche Systematik für sinnvoll und nötig hielt, bezeichnet den abgrundtiefen Abstand zwischen ihm und den weltanschaulichen Vordenkern auf dem Kontinent; er hatte den Zwang zum System, der in der T heologie liegt, im Bewusstsein. Dass er trotz der Ver­ urteilung seiner Prädestinationsschrift 855 durch das Konzil von Va­ lence sein großes Werk schreiben konnte, verdankt er dem Schutz des Königs, Karls des Kahlen. >>Eriugena schuf für das Mittelalter­ bis sein Werk verboten wurde, also immerhin bis 1210

-

eine Ver­

bindung zur intellektuellen Welt der griechischen Kirchenväter. Er vermittelte das Denken des Origines, des Gregor von Nyssa, des

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Maximus confessor; für immer bürgerte er Dionysius Areopagita im westlichen Denken ein.«1 Seit ihren Anfängen war es ein Hauptproblem der Philosophie, wie die Vielheit der in der Welt Seienden, also die Vielheit der Welt, als Einheit von Welt zu denken sei. Plotin hat die Einheitsmetaphy­ sik mit äußerster Konsequenz durchgeführt und war so als Denk­ muster für die monotheistische T heologie brauchbar. Auch Eriugena nimmt sofort dieses Problem der Einheit zum Eingangspunkt, aber nicht wie der Areopagite in der Form der Hierarchie eines Stufen­ baus, sondern in Aufnahme der johanneischen Logos-Spekulation; beide Varianten sind ja im Neuplatonismus angelegt. Das Eine oder die erste Ursache ist der eigentliche Gegenstand der Metaphysik und die Bezeichnung für Gott, das heißt wie wir Gott nennen und was wir von ihm sagen, sind nur Metaphern. >>Wir würden nämlich nicht so leichthin und fast ohne jede Bedenken dahin kommen, die Aus­ einandersetzung über diese Kategorie zu führen, das heißt Aussagen über Gott treffen zu können, wenn wir uns nicht vorher darüber im Klaren wären, daß die von der ersten Ursache vorweg gesetzte ur­ sprüngliche Kategorie in keiner anderen Weise als metaphorisch Gott bedeute>Natur ist also der allgemeine Name für alles, was ist und was nicht ist.>Diese Natur wie auch vieles derart Geschaf­ fene sind gewissermaßen göttliche Metaphern (das heißt Metaphern, die gewissermaßen das Göttliche meinen) und werden auf Gott be­ zogen>Haec igitur nomina sicut et multa similia (ex) creatura (per quandam

divinam metaphoram) quadam divina metaphora ad creatorem referuntur.>der Engel Ordnungen« dem Aufbau der Feudalgesellschaft zu­ ordnen, wie sie sich seit Karl dem Großen gerade zu entwickeln begann. Prinzipieller metaphysisch gibt es eine kosmologische Ent­ sprechung zur divisio naturae, eine anthropologische zu den Seelen­ vermögen des Menschen. Das ist platonisch - und der Areopagit ist Platoniker, Neuplatoniker. Bei Eriugena sind diese Entsprechungen

6

Flasch, Philosophisches Denken, a. a. 0., S. 163.

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Ratiocinatio ist genauer als ratio. Das Verbus ratiocinor bezeichnet den Vor­ gang des Rechnens und Berechnens. Der prozessuale Sinn ist im Substanti­ vum beibehalten. Ratiocinatio ist im kommerziellen Sprachgebrauch >>eine Rechnung aufstellen>berechnen>nach den Ver­ standesregeln denkend vorgehen>schlussfolgern>meinen >>, >>auf guten Glauben hinnehmen>einer Autorität folgenim Glauben gegeben>Am Anfang machte Gott Himmel und Erde>Das hat die Weisheit alles gemacht und Gott habe es durch das Wort gemacht>in dem und durch den der Vater ge­ macht hat>daß Gott nicht erkennt, was er ist>quod deus quid sit non intellegit.>Ein Verhältnis

(proportio) kann man nämlich in nicht weniger als Zwei finden, Verhalten (habitus) erkennt man aber im Einzelnen>Über­ weltliche« Gemeinte gegenständlich erfahrbar. Eriugena zeigt am Vergleich mit dem Feuer, wie das Transzen­ dente in der Materialisierung erscheint. Er kennt vom Areopagiten her den Gebrauch der Lichtmetapher und mit dem Evangelisten die Gleichsetzung von Gott, Wort, Licht und Leben. Aber diese Meta­ pher taugt für seinen Zweck nicht. Denn Licht ist an sich Finsternis (wie Sein an sich nichts ise2) und wird erst Licht, wenn es auf un­ durchsichtige Gegenstände stößt, durch deren Widerstand zurück­ geworfen wird. Licht ist Licht nur in der Reflexion. Das Eine aber, das sich manifestiert, ist nicht reflektiert, weil außer ihm nichts mehr ist, woran es sich reflektieren könnte. Die begriffliche Ausarbeitung des Konzepts »Reflexion in sich« stand Eriugena noch nicht zur Ver­ fügung, obwohl die Struktur schon bei Aristoteles und Platon ge­ dacht wurde. So modifiziert Eriugena die Metapher. Für das ubiqui­ täre Licht setzt er das Feuer ein. Das ist eine substanzielle Licht-

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Scotus Eriugena: >>Mit dem Namen Natur pflegt nämlich nicht bloß die Ge­ samtheit des Geschaffenen, sondern auch ihre Schöpferin selbst bezeichnet zu werden. Denn zuerst und vor allem wird die gesamte Natur als Schöpferin der geschaffenen Gesamtheit und als die im geschaffenen All geschaffene Na­ tur unterschieden ... Beginnt also die Einheit des ganzen Alls von der schöp­ ferischen Ursache selbst, so dürfen wir sie nicht als ersten Teil oder wie eine Einzelheit verstehen, weil sie Anfang, Mitte und Ende aller Gesamtheit ist