183 99 43MB
German Pages 291 [292] Year 1999
PHONAI Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch
Herausgegeben von Walter Haas und Peter Wagener
Band 44
Peter Gilles
Dialektausgleich im Letzebuergeschen Zur phonetisch-phonologischen Fokussierung einer Nationalsprache
MAX N I E M E Y E R V E R L A G 1999
TÜBINGEN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gilles, Peter: Dialektausgleich im Letzebuergeschen : zur phonetisch-phonologischen Fokussierung einer Nationalsprache / Peter Gilles. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Phonai ; Bd. 44)
ISBN 3-484-23144-0
ISSN 0939-5024
D16 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: AZ Druck- und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren
Inhalt Vorwort Abkürzungen und Transkriptionskonventionen 0 Einleitung 1 Die Sprachgemeinschaft 'Luxemburg' 1.1 Geschichte, Demographie, Wirtschaft 1.2 Entstehung und Struktur der luxemburgischen Mehrsprachigkeit 2 Die Forschung zu Dialektveränderungen im Letzebuergeschen 2.1 Entstehung der Koin6hypothese 2.2 Die 'Κοίηέ' 2.2.1 Entstehung, Verbreitung und Sprechergruppen der Koine 2.2.2 Varietätenstatus der Koine 2.2.3 Zusammenfassung der Koin6debatte 3 Diatopische Variation und Dialektphonologie 3.1 Grundbegriffe der Variationslinguistik 3.1.1 Dialektabbau und Dialektaufgabe 3.1.2 Dialektausgleich 3.1.3 Koineisierung 3.1.4 Konvergenz und Divergenz/Fokussierung und Diffusion 3.2 Ein Modell der Dialektphonologie 3.3 Vorstellung weiterer phonologischer und phonetischer Konzepte 3.3.1 Grundprinzipien der nicht-linearen Phonologie 3.3.2 Grundlagen der akustischen Phonetik 4 Methodik 4.1 Hypothesenbildung und Untersuchungsdimensionen 4.1.1 Hypothesenbildung 4.1.2 Variationslinguistische Untersuchungsdimensionen 4.2 Dialekteinteilung 4.2.1 Äußere Sprach-/Dialektgrenzen 4.2.2 Interne Dialektgliederung 4.2.3 Zusammenfassung und Diskussion der Dialekteinteilung 4.3 Korpuserstellung und -beschreibung 4.3.1 Das Sample 4.3.2 Datensammlung 4.3.3 Datenaufbereitung 4.4 Erstellung und Beschreibung des Bezugssystems 4.5 Übersicht über die dokumentierte diatopische Varianz 5 Einzelanalysen diatopischer Variationsphänomene 5.1 Variationsbereich Z-a: 5.1.1 Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen 5.1.2 Überblick über die Dialektgeographie
IX X 1 3 3 5 12 12 13 13 19 22 23 23 23 24 28 30 31 37 37 39 47 47 47 49 49 49 50 59 64 64 65 69 71 79 88 88 89 92
VI 5.1.3 5.1.3.1 5.1.3.2 5.1.3.2.1 5.1.3.2.2 5.1.3.2.3 5.1.3.2.4 5.1.3.3 5.1.4 5.1.5 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.3.1 5.3.3.2 5.3.3.3 5.3.4 5.4 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.3.1 5.5.3.2 5.5.3.3 5.5.4 5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.3.1 5.6.3.2 5.6.4 5.7 5.7.1
Kontrastierung mit den Korpusdaten Fragebuchauftaahme Dialektgespräch Variable Z-a:, Variable Z-a:2 Variable Z-a:3 Variable Z-a:4 Interdialektaufhahme Akustisch-phonetische Analyse Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereich Z-a Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Akustisch-phonetische Analyse Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereich Ζ-ε Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Dialektaufnahmen Akustisch-phonetische Analyse Interdialektaufhahme Dialektologische und phonologische Diskussion Akustisch-phonetischer Zusammenhang zwischen Z-a:, Z-a und Ζ-ε Variationsbereiche Z-ia, Z-ua Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Dialektgeographischer Überblick Kontrastierung mit den Koipusdaten Fragebuchaufnahme Dialektgespräch Interdialektaufhahme Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereiche Z-i, Z-u Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Dialektaufnahmen Interdialektaufhahme Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereich Z-e Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
95 95 96 97 99 101 105 106 107 110 112 113 114 116 117 119 120 120 121 123 123 125 127 127 . . . . 128 132 132 133 136 136 138 144 144 145 145 146 148 148 152 153 154 154
νπ 5.7.2 5.7.3 5.7.3.1 5.7.3.2 5.7.3.3 5.7.4 5.8 5.8.1 5.8.2 5.8.3 5.8.3.1 5.8.3.2 5.8.3.3 5.8.3.4 5.8.4 5.9 5.9.1 5.9.2 5.9.3 5.9.3.1 5.9.3.2 5.9.3.3 5.9.4 5.10 5.10.1 5.10.2 5.10.3 5.10.4 5.10.5 5.11 5.11.1 5.11.2 5.11.3 5.11.3.1 5.11.3.2 5.11.3.3 5.11.4 5.12 5.12.1 5.12.1.1 5.12.1.2 5.12.1.3
Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Fragebuchaufnahme Dialektgespräch Interdialektaufnahme Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereiche Z-e:, Z-o: Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Fragebuchaufnahme Dialektgespräch Akustisch-phonetische Analyse Interdialektaufnahme Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereiche Z-ei, Z-ou Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Fragebuchaufnahme Dialektgespräch Interdialektaufnahme Dialektologische und phonologische Diskussion Variationsbereiche Z-ai, Z-au Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Akustisch-phonetische Analyse Dialektologische und phonologische Diskussion ί-Palatalisierung Historische Entwicklung Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten Fragebuchaufnahme Dialektgespräch Interdialektaufnahme Dialektologische und phonologische Diskussion Velarisierungen im Silbenreim Velarisierung I (VELA I) Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Überblick über die Dialektgeographie Kontrastierung mit den Korpusdaten
155 156 156 157 159 159 160 160 161 163 163 165 170 172 173 175 175 176 179 179 182 183 184 184 184 185 188 191 194 195 195 196 199 199 201 205 206 208 208 208 209 209
vm 5.12.1.3.1 5.12.1.3.2 5.12.1.4 5.12.2
Dialektaufnahme Interdialektaufnahme Dialektologische und phonologische Diskussion Velarisierung II (VELA II)
209 210 210 211
5.12.2.1
Lautgeschichtliche Entwicklung v o n VELA II
211
5.12.2.2 Überblick über die Dialektgeographie 5.12.2.3 Kontrastierung mit den Korpusdaten 5.12.2.3.1 Fragebuchaufnahme 5.12.2.3.2 Dialektaufnahme 5.12.2.3.3 Interdialektaufnahme 5.12.2.4 Dialektologische und phonologische Diskussion 5.13 -«-Tilgung ('bewegliches -n') 5.13.1 Allgemeine linguistische Beschreibung 5.13.2 Variabilität der -«-Tilgung 5.13.2.1 Variabilität in der maximalen Anwendungsdomäne 5.13.2.2 Blockierung in Lexemen mit -n im sekundären Auslaut im Osten 5.13.2.3 Variable Tilgung vor ζ (stimmhafter, alveolarer Frikativ) 5.13.3 Dialektologische und phonologische Diskussion 5.14 Varianz der Silbenzahl 5.14.1 Historische Entwicklung 5.14.2 Dialektgeographischer Überblick 5.14.3 Kontrastierung mit den Korpusdaten 5.14.3.1 Fragebuchaufnahme 5.14.3.2 Dialektgespräch 5.14.4 Dialektologische und phonologische Diskussion 5.15 f-Koronalisierung 5.15.1 Entwicklung, Verbreitung und Dynamik der Koronalisierung 5.15.2 Akustisch-phonetische Analyse 5.15.3 Dialektologische und phonologische Diskussion 5.16 g-Spirantisierung im Anlaut 5.16.1 Überblick über die Dialektgeographie 5.16.2 Kontrastierung mit den Korpusdaten 5.16.3 Dialektologische und phonologische Diskussion 5.17 Einzelwortvarianz 5.17.1 ais 'uns' 5.17.2 du' du' 5.17.3 mir 'wir/dir', dir 'mir' 5.17.4 gemaach 'gemacht' 5.17.5 Dialektologische und phonologische Diskussion 6 Ergebnisse Literaturverzeichnis Anhang
212 215 215 216 217 218 221 221 225 225 226 226 229 229 230 231 231 231 232 233 236 236 239 241 242 242 244 245 250 250 251 252 253 254 256 263 275
Vorwort
An der Entstehung und am Zustandekommen dieser Untersuchung haben einige Personen großen Anteil gehabt. Vor allem zu danke ich danke Prof. Dr. Klaus J. Mattheier, der die Arbeit mit seinem großen Interesse durch viele Anregungen und streamlining betreut und gefördert hat, sowie Prof. Dr. Hans-Joachim Solms, der den Themenanstoß 'Luxemburg' gegeben. Durch ein Stipendium des Graduiertenkollegs 'Dynamik von Substandardvarietäten' (Heidelberg/Mannheim) konnte die Arbeit in absehbarer Zeit und in einer konstruktiv-kritischen Atmosphäre erstellt werden. Dafür sei allen Stipendiatinnen, Kollegiatlnnen und Professorinnen gedankt. Fir allen Dengen soen ech merci de vilen Informantinnen an Informanten aus Letzebuerg, άέί bei den deelweis ustrengenden Opholsetzongen matgemaach an sou herriech Donee'e geliwwert hun. Für den Zugang zum luxemburgischen Netzwerk und für Unterstützung bei der Feldarbeit bedanke ich mich besonders bei Jean-Paul Hoffmann, Joseph Reisdoerffer und Nico Weber. Für die Mobilität in Luxemburg danke ich meinen Eltern. Für viele Anregungen, Hinweise und auch Kritik danke ich Frans Hinskens, Peter Auer, Beat Glauser, Walter F. Sendlmeier und Volker Mohr. Fürs Korrekturlesen sei Christian Timm, Miriam Kubina und Harald Baßler herzlich gedankt. Für immer kurzweilige Diskussionen, unermüdliches Korrekturlesen und permanente Stütze danke ich ganz herzlich Jasmin Sinha und Anja Kellermann. Den Herausgebern Walter Haas und Peter Wagener danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Phonai und den Mitarbeiterinnen des Niemeyer Verlages für die verlegerische Betreuimg. Am meisten danke ich meiner Frau Jasmin Sinha Ohne sie wäre nicht nur diese Arbeit nicht zustande gekommen.
Mannheim, im September 1998
Peter Gilles
Abkürzungen und Transkriptionskonventionen
Siglen fiir die Dialektgebiete Ζ Zentrum (Zentralluxemburgisch) Ν Norden (Nordluxemburgisch) Ο Osten (Ostluxemburgisch) (Südluxemburgisch) S Süden Sonstiges ahd. DSA FB FRZ fmhd. HL HLH Inf(n) KV le. LSA LV LWb Md. mhd. Moselfr. MrhSA Ν nhd. omd. StD sth. stl. TAI TA2 Va. wgerm. 1 2
althochdeutsch Deutscher Sprachatlas (1927-1956) Fragebuch Französische frühneuhochdeutsch Tonkontur 'high-low' für Tonakzent 1 (TAI) Tonkontur 'high-low-high' für Tonakzent 2 (TA2) InformantIn(nen) Kurzvokal letzebuergesch Luxemburgischer Sprachatlas (Brach/Goossens 1963) Langvokal Luxemburger Wörterbuch (1950-1977) Mitteldeutsch mittelhochdeutsch Moselfränkisch Mittelrheinischer Sprachatlas (Bellmann/Herrgen/Schmidt 1995ff.) Gesamtanzahl der Belege neuhochdeutsch ostmitteldeutsch Standarddeutsch stimmhaft stimmlos Tonakzent 1 ('Schärfung', 'Korreption', 'eingipfliger Akzent') Tonakzent 2 ('Schleifton', 'Zirkumflexion', 'zweigipfliger Akzent') Variable westgermanisch Superskript für Tonakzent 1 (in Transkriptionen) Superskript für Tonakzent 2 (in Transkriptionen)
XI
VV
Genitiv feminin Hilfsverb Infinitiv maskulin Nominativ Pronomen Umlaut Vollverb
$ + #
Silbengrenze Morphemgrenze Wortauslaut
Gen f HV Inf
m Nom Pro
U
offenere Realisierung (unter Transkriptionssymbol) geschlossenere Realisierung (unter Transkriptionssymbol) h
palatalere fla]) bzw. zentralisierte ([u]) Realisierung (unter Transkriptionssymb.)
^
velarere ([a]) bzw. ([1]) zentralisierte Realisierung (unter Transkriptionssymbol)
ω
prosodisches Wort
σ [=] {...}
Silbe Variante entspricht der zentralluxemburgischen Variante in Text: morphemische Klammern in phonologischer Kontextangabe: alternative Elemente
Orthographie und Transkriptionssystem Es wird die offizielle Orthographie des Letzebuergeschen verwendet, die im Luxemburger Wörterbuch (1950ff., Band 1: XLV-LI) vorgestellt worden ist. In dieser Orthographie soll nach dem allgemeinen Prinzip der größtmöglichen Phonem-Graphem-Entsprechung die Vokallänge direkt aus der Schreibung ableitbar sein. Daher steht ein einfaches Vokalgraphem, das von einem einfachen Konsonantengraphem gefolgt wird, für einen Langvokal (Schof [Jo:f] 'Schaf'). Ein Kurzvokal wird durch einfaches Vokalzeichen + zwei oder mehr Konsonantenzeichen repräsentiert (kachen [kaxan] 'kochen'). Dagegen wird ein Langvokal vor zwei oder mehr Konsonanten durch Doppelschreibung des Vokalgraphems ausgedrückt (Aarbecht [aiRba/t] 'Arbeit'). Vor Velarkonsonanten wird kurzes [e] zusätzlich durch einen Akzent gekennzeichnet (Stäng [Jteq] 'Steine'). Das Graphem < j h > steht im Wortanlaut für den stimmhaften alveopalatalen Frikativ [3] wie injhust [just] 'gerade'. Zur phonetischen Transkription werden die Symbole der A.P.I. verwendet. Um eine höhere Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, wird auf die phonetischen Klammern [..] weitgehend verzichtet und auf Kursivdruck zurückgegriffen. Kursive Buchstabengruppen oder einzelne kursive Buchstaben im Text repräsentieren somit Sprachlaute. Auf die Elemente des phonologischen Bezugssystems, das auf der Varietät von Zentralluxemburg basiert, wird mit einem vorangestellten 'Z-' (für 'Zentrum') referiert, also Z-a für kurzes α des Be-
χπ zugssysteins usw. Diese Kürzel stehen auch für die untersuchten linguistischen Variationsbereiche. Wird ein Variationsbereich in mehrere Variablen aufgeteilt, so wird dem Kürzel ein Index hinzugefügt. So steht z.B. 'Z-a:2' für die Variable 2 des Elements a: des Bezugssystems usw. Eine vollständige Auflistung aller Variationsbereiche und Variablen befindet sich in Kap. 4.5. Auf luxemburgische Ortschaften wird mit einem Buchstabenkürzel verwiesen. Zur Verdeutlichung wird ihm die Sigle für die Dialektregion vorangestellt: O-Gr: Ortschaft Grewenmacher im östlichen Dialektgebiet. Alle Lokalitäten sind im Anhang aufgelistet.
0
Einleitung
In der Dialektologie und Soziolinguistik werden die Veränderungen sprachlicher Strukturen und Gebrauchsnormen heute nicht mehr eindimensional in einer Gegenüberstellung zwischen - defensivem - Dialekt und - expandierender - Standardsprache/Schriftsprache interpretiert. Die Beschäftigung mit Umgangssprachen, 'Neuem Substandard', Stadtsprachen und Regionalsprachen verdeutlicht, wie komplex sich das Variationsspektrum zwischen den Polen 'Standard' und 'Dialekt' tatsächlich darstellt.1 Es ist daher notwendig, weitere Variationsdimensionen in Betracht zu ziehen. Neben die 'vertikale' Standard/Dialekt-Variation tritt die 'horizontale' Variation der gegenseitigen Beeinflussimg benachbarter Dialekte. Diese zwei Dimensionen konstituieren den analytischen Raum, in dessen mehrdimensionalem Kontinuum Idiolekte und/oder feste Varietäten lokalisiert werden können. Darin manifestieren sich Idiolekte als individuelle Variantenmischungen, und Varietäten können linguistisch und/oder soziolinguistisch faßbar und damit abgrenzbar sein. Einhergehend mit der Verfeinerung der dialektologisch-soziolinguistischen Variationsmodelle haben sich auch die phonetisch-phonologischen Beschreibungs- und Analysemethoden sprachlicher Variation weiterentwickelt. Variation und ihre Dynamik kann damit sowohl im sprachlichen Repertoire als auch im phonologischen Gesamtsystem an spezifischen Punkten verortet werden, um "Typen sprachlicher Verschiedenheit" (Auer 1990: 257) zu isolieren. Die Verbindung diasystemarer Variationsmodelle mit neueren phonetisch-phonologischen Modellen gestattet es weiterhin, die Interdependenz von systeminternem Wandel (' Sprachwandel') und kontaktinduziertem Wandel ('Sprachkontakt', 'Dialektkontakt') zu erforschen.2 In der Analyse der luxemburgischen Sprachgemeinschaft werden Aspekte aus den Forschungsaspekten der Dialektologie, der Umgangssprachenforschung und der Standardisierung zusammengeführt. In der historisch gewachsenen Mehrsprachigkeit Luxemburgs hat sich das indigene Letzebuergesch neben dem Standarddeutschen und Französischen eine feste Stellung als alleinige Sprache der mündlichen Kommunikation unter Luxemburgerinnen erstritten und gilt heute als Nationalsymbol. Die fast ausschließliche Existenz des Letzebuergeschen in der Mündlichkeit hat dazu geführt, daß sich eine reiche Dialektlandschaft erhalten hat, die in einigen Dialektmonographien und dem Luxemburgischen Sprachatlas (LSA \ Bruch/Goossens 1963) aus der ersten Jahrhunderthälfte dokumentiert ist. Gesellschaftliche Modernisierung und zunehmende Mobilisierung haben in den letzten Jahrzehnten - wie auch in anderen europäischen Sprachgemeinschaften - zu Veränderungen der Dialektstruktur und des Dialektge1 2
Vgl. u.a. Munske 1983, Bellmann 1983, Auer 1990, Kallmeyer 1994, Jakob 1985. Vgl. Hinskens' (1992: 20) Unterscheidung zwischen 'inter- and intra-systemic variation' oder Auers (1993a) auf Kranzmeyer zurückgehende Dichotomie zwischen 'Lautwandel' und 'Wortverdrängung/Lautersatz'. Mattheier (1996: 48f.) differenziert zwischen artikulatorisch-perzeptiver, innersystematischer, sozio-kommunikativer und kontaktinduzierter Variation.
2 brauchs geführt. Dies soll nach dem Dafürhalten einiger luxemburgischer Linguistinnen zur Herausbildung einer überregionalen Umgangssprache, der Κοϊηέ, beigetragen haben. Mit dieser Arbeit wird zum ersten Mal eine empirische Untersuchung vorgelegt, die die Auswirkungen der gesellschaftlichen Dynamik auf die historische Entwicklung und die heutige linguistische Variation des Letzebuergeschen hatten bzw. haben. Im Vordergrund steht die Interaktion zwischen intern motiviertem Sprachwandel und extern motiviertem Dialektkontakt. Ziel der Untersuchung ist es, die diatopische Variation des Letzebuergeschen holistisch zu erfassen und sie erstens mit älteren Dialektuntersuchungen zu vergleichen (diachronischer Aspekt) und zweitens auf die Herausbildung einer überregionalen Varietät, die neben den Dialektvarietäten existiert, zu überprüfen (diaphasischer Aspekt). Im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen zur Dynamik zwischen Dialekten und/oder Standardsprache, die jeweils nur einen Dialekt in Bezug zu einem anderen Dialekt oder einer Standardsprache betrachteten, bietet eine Analyse der letzebuergeschen Dialektgeographie die neue Möglichkeit, mehrere (hier: vier) Dialekte in ihrer variationslinguistischen Verflechtung erforschen zu können. Zur Gliederung dieser Untersuchung: Nach einer allgemeinen Vorstellung der luxemburgischen Sprachgemeinschaft in Kapitel 1 folgt in Kapitel 2 die kritische Aufarbeitung der Literatur zu Dialektveränderungen im Luxemburgischen. In Kapitel 3 werden die variationslinguistischen Konzepte eingeführt, die im Zentrum der Untersuchung stehen werden. Die Konzepte 'Dialektausgleich', 'Koineisierung', 'Konvergenz/Divergenz' und 'Fokussierung/ Diffusion' werden erläutert und in ein Modell der Dialektphonologie eingebettet. In Kapitel 4 werden die Arbeitshypothesen aufgestellt sowie die methodischen Grundlagen diskutiert. Dazu zählt die Einteilung Luxemburgs in Dialektgebiete und die Beschreibung von Korpuserstellung und -auswertung. Die dokumentierte diatopische Varianz in den einzelnen Dialektgebieten wird am Schluß von Kapitel 4 systematisch aufgearbeitet. Den Hauptteil der Arbeit (Kapitel 5) bilden 17 Einzelanalysen von diatopischen Variationsphänomenen, die die Phonetik/Phonologie des Letzebuergeschen weitgehend abdecken. Die Variationsphänomene werden hinsichtlich folgender Aspekte untersucht: • • • •
historische Entwicklung dialektgeographische Dynamik diaphasische Variation phonetisch-phonologische Implikationen
In Kapitel 6 werden die Einzelergebnisse zusammengeführt, um die Varietätendynamik des Letzebuergeschen beurteilen zu können. Es wird sich zeigen, daß sich in Luxemburg ein Dialektausgleich abzeichnet, der in Richtung auf das Zentralluxemburgische geht. Daneben kann dennoch ein hohes Maß an Dialekterhalt beobachtet werden.
1
Die Sprachgemeinschaft 'Luxemburg'
1.1 Geschichte, Demographie, Wirtschaft Die historischen Wurzeln des heutigen Großherzogtums Luxemburg reichen bis ins Jahr 963 zurück, als Graf Siegfried das castelliun Lucilinburhuc von der Abtei St. Maximin in Trier erwarb.1 In der Folgezeit wechselten die Herrscherhäuser häufig. Luxemburg gehörte abwechselnd zum romanischen und germanischen Kulturraum und war nacheinander unter wallonischer, burgundischer, österreichischer, spanisch-niederländischer, spanischer, französischer, preußischer und niederländischer Herrschaft. Über die äußerst wechselreiche Geschichte Luxemburgs informiert die folgende Übersicht aus Weber (1994: 139): 1443-1506 ab 1482 ab 1496 1506-1684 1684-1698 1714-1795 1795-1815 ab 1815 ab 1839
nach Eroberung durch Philipp den Guten Teil des Herzogtums Burgund Erbbesitz der österreichischen Habsburger durch Heirat Philipp des Schönen mit Johanna von Spanien Teil der spanischen Niederlande unter spanischer Herrschaft französisch (Ludwig XIV.); danach abwechselnd spanischer und französischer Herrschaft unterworfen österreichisch ("das goldene Zeitalter Luxemburgs") französisch (Napoleon) als Großherzogtum persönlicher Besitz des Königs der Niederlande (Wilhelm I.), wobei die Hauptstadt Luxemburg Bundesfestung mit preußischer Besatzung wurde durch den Londoner Vertrag geteilt, bis 1890 weiterhin von niederländischen Königen, anschließend von eigener Dynastie Nassau-Weilburg regiert und (mit Unterbrechungen 1914-1918 und 1940-1945 durch deutsche Besetzungen) selbständig
Als Folge der wechselnden Herrschaft kam es zu ständigen Gebietszuwächsen bzw. -abtretungen. Seine größte Ausdehnung hatte Luxemburg unter Johann dem Blinden (de blanne Jhang; 1310-1346), der durch die Heirat mit einer böhmischen Prinzessin Böhmen an Luxemburg band. Unter seiner Herrschaft kam es 1340 zur Aufteilung der luxemburgischen Stammlande in zwei administrative Regionen, das quartier wallon und das quartier allemand. Nach Hoffmann (1996a: 110) zog diese Aufteilung auch Konsequenzen fur den Sprachgebrauch nach sich: Im quartier wallon soll Französisch (Wallonisch), im quartier allemand Deutsch als Verwaltungssprache verwendet worden sein. Damit soll die diglossische Situation Luxemburgs zum ersten Mal offiziell bestätigt worden sein. Dieser Auffassung widerspricht Kramer (1986: 232), der in der Aufteilung in quartiers lediglich eine Verwaltungseinteilung sieht, die keine Konsequenzen für den Sprachgebrauch nach sich gezogen hat. Im Verlauf des 19. Jh. mußte Luxemburg in Folge des Wiener Kongresses (1815) und des Londoner Vertrags (1839) beträchtliche Gebiete an Preußen (Bitburger Raum) und Belgien abtreten (Region Arlon, Region um St. Vith). In Abb. 1.1 sind die abgetretenen Gebiete einge-
Die Geschichte Luxemburgs soll hier nur kurz angerissen werden; ausführliche Darstellungen bieten Berg (1993: 9-18) und Calmes/Bossaert (1996).
4 zeichnet. Mit dem Gebiet um Arlon, 't Areler Land, verlor Luxemburg 1839 das ehemalige (französischsprachige) quartier wallon. Seitdem besteht das Staatsgebiet aus ursprünglich germanophonen Teilen. Dieses Jahr gilt auch als das offizielle Jahr der Unabhängigkeit und der Staatsgründung.2
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DIE 3 T E I L U N G E N
LUXEMBURGS
ItiS on Frankreich abjelrtltn b^SSSsl ISIS an Prtussen obgetrtHn V / / / / A 1839 an Belgien abgttrtten Abb. 1.1 Übersicht über die Gebietsabtretungen Luxemburgs 1659-1839 (aus Scheidweiler 1988: 22)
Tatsächlich verblieb aber, trotz Unabhängigkeit, das Großherzogtum bis 1890 im Privatbesitz des niederländischen Königs, der sich 1867 mit dem Gedanken trug, es an Frankreich zu verkaufen. Ein historisch-politisches Kuriosum ist auch, daß die Festung Luxemburg in der Zeit zwischen 1815 und 1866 immer noch fester Bestandteil der Verteidigungsanlagen des Deutschen Bundes war und zur selben Zeit eine preußische Garnison beherbergte.
5
Im Großherzogtum Luxemburg leben heute 395200 Einwohnerinnen auf einer Fläche von 2586 km2 (Statec 1993). Die Bevölkerungsdichte ist im Zentrum des Landes, also um die Hauptstadt Luxemburg-Stadt herum, und im Süden, dem Minett, am höchsten; hier wohnen ca. 65 % der Einwohner. Der Norden und der Osten des Landes sind weit weniger dicht besiedelt. 119700 der Einwohnerinnen besitzen nicht die luxemburgische Staatsbürgerschaft. Das entspricht einem Ausländerinnenanteil von 30,3% und ist damit der höchste in Europa. In der Hauptstadt reicht die Ausländerinnenquote sogar an 50% heran. Die meisten von ihnen stammen aus Portugal und Italien. Die Bevölkerung lebte bis zum 19. Jh. überwiegend von der Landwirtschaft. Gegen Ende des Jahrhunderts etablierte sich im Süden des Landes die Bergwerks- und Stahlindustrie, wodurch innerhalb weniger Jahrzehnte Tausende neuer Arbeitsplätze geschaffen wurden. Der Stahlboom zog Arbeitsmigranten aus vielen europäischen Ländern an, besonders aus Italien und Deutschland. Aber auch aus den übrigen luxemburgischen Landesteilen kamen viele Arbeiter in den Süden. In der Zeit von 1871-1966 hat sich die Bevölkerung in dieser Region verfünffacht.3 Die Einwohnerzahl der Kantonsstadt Esch-sur-Alzette wuchs zwischen 1850 und 1936 sogar um das 18fache.4 Durch den wirtschaflichen Aufschwung hatte Luxemburg bis zur europäischen Stahlkrise in den 70er Jahren Vollbeschäftigung. Parallel zum Rückgang der Stahlproduktion kommt es seit den 60er Jahren zum Aufschwung des Bankenwesens. Motiviert durch vorteilhafte Steuerregelungen siedelten sich große Bankgesellschaften an, die aus Luxemburg ein international führendes Finanzzentrum machten. Auch heute noch ist Luxemburg im Vergleich mit anderen europäischen Ländern eine durchaus prosperierende Gesellschaft, deren Stärken auf dem Dienstleistungssektor liegen. Die Arbeitslosenquote lag 1992 bei 1,6%, das Bruttoinlandsprodukt betrug 1990 17928 US$ (zum Vergleich: Deutschland: 16954 US$, Frankreich: 16157 US$).
1.2
Entstehung und Struktur der luxemburgischen Mehrsprachigkeit
Durch die besondere geographische Lage im Übergangsgebiet zwischen Romania und Germania (Hoffmann 1981: 'Zwischenland') hat sich aus dem Sprach- und Kulturkontakt über mehrere Jahrhunderte hinweg eine mehrsprachige Gesellschaft herausgebildet. Dabei spielten lange Zeit das Deutsche und das Französische die führende Rolle. Die jeweiligen Herrscher über Luxemburg versuchten, im Land die Sprachen ihrer Hemisphären durchzusetzen. Doch zu einer vollständigen Einsprachigkeit ist es nie gekommen, obwohl das heutige Luxemburg aus dem historisch germanophonen Gebiet des quartier allemand hervorgeht. Berg (1993: 16) weist im Zusammenhang mit der Teilung Luxemburgs auf dieses Paradox hin: Die Folgen dieser (bislang letzten) territorialen Verstümmelung [von 1839, P.G.] sind widersprüchlich. Zum einen wird durch den Verlust aller wallonischen Gebiete und durch die Beschränkung auf
3 4
Vgl. Atlas du Luxembourg (1971). Einwohner 1850: 1510; 1936: 27485 (nach Palgen 1948: 3).
6 die verbleibenden germanophonen Landesteile der germanische Charakter des Großherzogtums unterstrichen, zum anderen hält das Land an der längst liebgewonnenen, an sich aber überflüssigen zweisprachigen Tradition fest.
Für die Insistenz auf einer 'überflüssigen Zweisprachigkeit' sind sicherlich sozialpsychologische Gründe (mit-)verantwortlich. Das jahrhundertelange Streben nach Eigenstaatlichkeit, das in der Gründung des Nationalstaates 1839 sein Ziel fand, ist gleichzeitig auch als Suche nach einer nationalen Identität zu verstehen. In der Konstruktion dieser Identität bezog man sich teilweise bewußt sowohl auf den romanischen als auch auf den germanischen Kulturraum, um einerseits die eigene Verschiedenheit zum jeweils anderen Land auszudrücken und andererseits auch die Mischimg aus beiden Kulturräumen hervorzuheben. Neben dem selektiven Rekurs auf den deutschen und französischen Kulturraum und deren Sprachen ist seit dem Beginn des 19. Jh. der Aufschwung der eigenen, indigenen Sprachvarietät, des Letzebuergeschen, von großer Bedeutung. Dieses als Dialekt und Muttersprache neben dem Deutschen und Französischen immer präsente Idiom erlebte im Verlauf des 19. Jh. einen Prestigezuwachs, der es zum wichtigsten Nationalsymbol werden ließ.5 Diese Entwicklung zeitigte auch die ersten Standardisierungbemühungen im Letzebuergeschen. In dieser Zeit entstand mit Anton Meyer (1801-1857), Michel Lentz (1820-1893), Edmond de la Fontaine (genannt Dicks; 1823-1891) und Michel Rodange (1827-1876) die letzebuergesche Literatur und auch die letzebuergesche Orthographie (vgl. de la Fontaine [1855]). Dennoch wurde trotz dieser Abgrenzungsbemühungen von luxemburgischer Seite bis weit ins 20. Jh. hinein Letzebuergesch als Dialekt des Deutschen betrachtet. So spricht der luxemburgische Nationaldichter Edmond de la Fontaine [1855: 1] von der "luxemburger deutschen Mundart". Noch in der um 1870 geborenen Generation wurde die Verwandtschaft mit dem Deutschen hervorgehoben, indem nicht etwa zwischen Letzebuergesch und Däitsch, sondern zwischen Letzebuerger Däitsch (oder gar nur Däitsch) und Houdäitsch ('Hochdeutsch') unterschieden wurde (vgl. Hoffmann 1987: 110).6 Heute jedoch hat das Letzebuergesche, sowohl in der Sprecherinnenmeinung als auch in den Analysen zur mehrsprachigen Situation, seinen festen, gleichberechtigten Platz in der Triglossie gefunden. JedeR Luxemburgerin würde die Behauptung, Letzebuergesch sei ein Dialekt des Deutschen, vehement zurückweisen. Bereits in einem Flugblatt der luxemburgischen Resistance aus dem II. Weltkrieg kommt die Ablehnung der Verwandtschaft mit dem Deutschen und Deutschland klar zum Ausdruck (aus Kramer 1994: 395, zitiert nach Trausch 1981: 162): Ons Spröch ass dat, wat mir draus mächen. Dofir müsse mir selwer dru glewen, datt ons Spröch ken Dialekt, ma eng Spröch ass. Mir selwer müssen dofir gröndlich opraumen mat dem alen a falschen Ausdrock: "Letzebuerger Deitsch." Et get fir ons Spröch nemmen en Num, an den ass: Letzebuergesch. Et get fir ons Letzebuerger nemmen eng Hemechtsspröch, an dat ass: d'Letzebuergescht! 7
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Zum 'Nationalsymbol' siehe Bloomaert/Verschueren (1992). Die Diskussion um 'Sprache oder Dialekt?' wurde in der soziolinguistischen Literatur lange geführt; vgl. Hoffmann (1979), Berg (1993) und jüngst Ammon (1995). Übersetzung (Kramer 1994: 395): "Unsere Sprache ist das, was wir daraus machen. Daher müssen wir selber daran glauben, daß unsere Sprache kein Dialekt, sondern eine Sprache ist. Wir selber müssen daher gründlich aufräumen mit dem alten und falschen Ausdruck: "Luxemburger Deutsch." Es gibt für unsere Sprache nur einen Namen, und der lautet: Letzebuergesch. Es gibt für uns Lu-
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In milderem Ton heißt es heute auf der offiziellen Internet-Homepage des Großherzogtums (auf StD): 'Letzebuergesch', das Luxemburgische, ist die gemeinsame Sprache der Luxemburger und Symbol nationaler Identität. Nach dem Erscheinen eines Luxemburger Wörterbuchs in den 1950er Jahren wurde das Luxemburgische 1984 per Gesetz Nationalsprache. Luxemburgisch, das sprach-wissenschaftlich dem moselfränkischen Zweig des Germanischen zugeordnet ist, hat sich im Trevererraum an der Sprachgrenze zur Romania und im Austausch mit ihr entwickelt. 8 [Hervorhebung P.G.]
In einer amerikanischen news group betont ein Luxemburger den Unterschied zwischen Letzebuergesch und Deutsch: Linguistically speaking, Luxembourgisch is a Germanic language (*not* dialect) derived from Mosel-Fraenkisch (an old language that has essentially died out, except in Luxembourg), but with strong French influence, and thus not mutually intelligible with either German or French.
Oder auf einer privaten Homepage eines Luxemburgers über die Sprachsituation: Die offizielle Sprache Luxemburgs ist nicht französisch oder deutsch, sie ist "letzebuergesch". Sie ist auch die Umgangssprache: deutsch, französisch oder englisch sprechen wir nur mit Ausländern, die unsere Sprache nicht verstehen. Obwohl unsere Sprache schon seit Jahrhunderten gesprochen wurde, hatte sie doch Schwierigkeiten, als gleichwertig zu andern Sprachen anerkannt zu werden, dies deshalb, weil Luxemburg erst seit 1839 als selbständiger Staat existiert und vorher von Fremdmächten regiert wurde, die natürlich versuchten [sie!] ihre Sprachgewohnheiten der einheimischen Bevölkerung aufzuzwingen. 9
Die Linguistik des Letzebuergeschen wird in den soziolinguistischen Arbeiten entweder nur angerissen, oder es wird auf die bislang umfassendsten, überwiegend dialektologischen und sprachhistorischen Untersuchungen des Luxemburgers Robert Bruch (1920-1959) verwiesen.10 Sprachhistorisch ist das Letzebuergesche aus dem Westmoselfränkischen hervorgegangen. Bruch selbst geht noch weiter zurück, indem er in ältesten westfränkischen Sprachströmungen die Entstehungsimpulse für das Letzebuergesche auszumachen glaubt. Demnach kam es durch die fränkischen Expansionsbewegungen ins Pariser Becken hinein zu einer Vermischung mit gallo-romanischen Elementen. Diese dort entstandene Mischsprache breitete sich Hann später wieder nach Norden (Luxemburg, Niederlande) und Osten (Deutschland) aus. In dieser 'Westfränkischen Bucht' (Bruch 1953), die bereits vor der Herausbildung des Rheinischen Fächers existierte, haben sich in Luxemburg die ältesten sprachlichen Merkmale erhalten, während sie nach Osten hin abnehmen bzw. nur noch sporadisch vorhanden sind. Bruch kritisiert damit den hauptsächlich von Frings (1966) herausgearbeiteten Rheinischen Fächer, der eine generelle Ausbreitungsdynamik sprachlicher Eigenschaften von Süden nach
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xemburger nur eine Heimatsprache, und das ist die Luxemburgische!" http: //w w w. restena. lu/gover/documents/populat ion_g .html http: //ourworld. Compuserve. com/homepages/AFrisch/lux. html Besonders seine Hauptwerke, Grundlegung einer Geschichte des Luxemburgischen. Luxemburg (1953) und Das Luxemburgische im westfränkischen Kreis (1954) gelten bis heute als die wichtigsten und zuverlässigsten Quellen zur Sprachgeschichte und Dialektologie des luxemburgischen Sprachraums und werden auch in dieser Arbeit ausführlich berücksichtigt und gewürdigt.
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Norden vorsieht. Nach Bruch sind die West-Ost-Strömungen der Westfränkischen Bucht bedeutend älter und überlagern damit die Isoglossen des Rheinischen Fächers." Die Struktur der dreisprachigen Gesellschaft Luxemburgs wurde bis heute in zahlreichen Untersuchungen beschrieben.12 Im Gesamtüberblick stehen die drei Sprachen Luxemburgs Letzebuergesch, Deutsch, Französisch - in einem triglossischen Verhältnis zueinander. Letzebuergesch ist dabei Erst- und Muttersprache. Es wird zuerst erworben und am häufigsten verwendet. Im Gegensatz zur Muttersprache Letzebuergesch werden Deutsch und Französisch erst in der Schule gelernt und besitzen in der Selbsteinschätzung der Luxemburgerinnen bis heute den Status von Fremdsprachen. Sofern die Kommunikation zwischen Luxemburgerinnen betroffen ist, ist die Sprachsituation durch mediale Diglossie gekennzeichnet, die auf der Unterscheidung 'geschrieben ~ gesprochen' basiert. In fast allen Domänen der Mündlichkeit wird ausschließlich Letzebuergesch verwendet. Es ist für Luxemburgerinnen unvorstellbar, untereinander Französisch oder gar Deutsch (pejorativ als Präisesch 'Preußisch' bezeichnet) zu verwenden. Nicht nur in der privaten Mündlichkeit, sondern auch zu offiziellen Anlässen wird Letzebuergesch verwendet (z.B. in den meisten Parlamentsreden, Ansprache des Großherzogs Jean zum Nationalfeiertag). Aber auch die Nachrichtensendungen des staatlichen Senders RTL und der zahlreichen Lokalsender sowie das RTL-Fernsehprogramm Hei elei werden auf Letzebuergesch ausgestrahlt. Dagegen kommen in den Domänen der Schriftlichkeit alle drei Sprachen vor. Letzebuergesch findet sich fast nur im privaten oder halb-öffentlichen Kontext (Privatbriefe, Tagebücher, Internet, Klein- und Familienanzeigen). In den übrigen schriftsprachlichen Domänen herrscht das Standarddeutsche und das Französische vor. In der Literaturszene Luxemburgs werden alle drei Sprachen geschrieben, und hier ist auch in den letzten Jahren ein Zuwachs an letzebuergescher Literatur zu verzeichnen. Die bekanntesten Schriftsteller, Guy Rewenig und Roger Manderscheid, veröffentlichen überwiegend auf Letzebuergesch. Der heutzutage am meisten gelesene und bekannteste Text dürfte die Comicreihe De Superjhemp von Lucien Czuga und Roger Leiner sein. Daneben existiert eine Vielzahl von Übersetzungen; doch eine Bibelübersetzung wurde noch nicht vorgelegt. Letzebuergesche Sachbücher sind selten und beschränken sich auf Sprachführer, -kurse oder populärwissenschaftliche Themen wie Heimatkunde oder Folklore. Berg (1993 : 82) konstatiert zwar einen Zuwachs an letzebuergescher Schriftlichkeit, der zu Lasten von ehemals standarddeutschsprachigen Domänen geht; der Anteil des Französischen bleibt dagegen stabil. Dennoch ist trotz der Verfügbarkeit letzebuergescher Texte sowohl das Lesen als auch das Schreiben des Letzebuergeschen nicht sehr beliebt. Die Gründe dafür liegen vor allem im Schulsystem bzw. in der dahinter stehenden Schul- und Sprachpolitik sowie in der als schwierig und gewöhnungsbedürftig angesehenen Orthographie des Letzebuergeschen. Alle Texte des öffentlichen Bereichs sind entweder
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Bruchs Sichtweise ist von Heeroma (1957) und Schützeichel (1976) stark kritisiert worden und ist in dieser rigiden Form heute nicht mehr haltbar. Verdoot (1968), Hoffmann (1979, 1987, 1988, 1989, 1996a), Davis (1992, 1994), Berg (1993), Weber (1994); weitere Literatur in Newton (1996: 258-281).
9 auf Deutsch oder Französisch verfaßt. Dazu zählen auch die Tageszeitungen (.Luxemburger Wort, tageblatt). Gesetzestexte sind ausschließlich auf Französisch verfaßt. Die stabile Triglossiesituation (compartmentalization; vgl. Fishman 1968) einer mehrsprachigen Gesellschaft wird zu großen Teilen durch ein adäquates Schulsystem aufrecht erhalten und gewährleistet. In Luxemburg sind de jure die drei Sprachen der Triglossie offiziell als Unterrichtsfacher vorhanden. Nach der rein letzebuergeschsprachigen Vorschule (Spillschoul) werden von der Primarschule an ausschließlich Deutsch und Französisch als Unterrichtssprachen verwendet. Da die meisten Kinder ohne Kenntnis des Deutschen oder Französischen eingeschult werden, nimmt der Unterricht in diesen Sprachen die meiste Zeit in Anspruch. Deutsch wird im ersten und zweiten Schuljahr acht- bzw. neunstündig unterrichtet. Französisch, das im zweiten Halbjahr des zweiten Schuljahres dazukommt, wird zuerst drei- und danach siebenstündig unterrichtet. Diesem Übergewicht an Fremdsprachenunterricht steht ein lediglich einstündiger Letzebuergeschunterricht gegenüber.13 Nach Auskunft einiger Lehrerinnen gehört diese Schulstunde mehr in den Bereich der Landeskunde denn zum eigentlichen Sprachunterricht. Oft wird der Letzebuergeschunterricht (inoffiziell) auch dazu verwandt, den Lehrstoff des Deutschen oder Französischen zu vertiefen. Obwohl Letzebuergesch offiziell keine Unterrichtssprache ist, wird es de facto dennoch oft von Schülerinnen und Lehrerinnen verwendet. Aus der soweit dargestellten Situation erscheint es gerechtfertigt, Luxemburg in der intranationalen Mündlichkeit als strikt einsprachig zu bezeichnen. Ein domänengebundener Wechsel ins Deutsche oder Französische findet nicht statt und ist für die Sprecherinnen auch undenkbar. Lediglich in der Kommunikation mit Ausländerinnen, die oft kein Letzebuergesch beherrschen, wird in die andere Sprache gewechselt. Das Letzebuergesche als alleiniges Medium der Mündlichkeit besitzt somit einen festen Stellenwert. Wie Berg (1993) ausführt, ist die mehrsprachige Situation auch diastratisch invariant: Die beschriebene mediale Diglossie läßt sich für alle Bevölkerungsschichten und Altersstufen feststellen. Die strenge Trennung der Sprachdomänen führt zu einem für mehrsprachige Gesellschaften ungewöhnlichen Fehlen von code switching. Selbstverständlich hat der jahrhundertelange Sprachkontakt zu einer Reihe von Interferenzerscheinungen in den drei Sprachen beigetragen, und auch heute sind immer noch Entlehnungen aus dem Französischen und Deutschen ins Letzebuergesche zu beobachten, doch zu einer vollständigen Mischung der Sprachen, die sich in code switching manifestieren würde, ist es nie gekommen. In dieser Eigenart unterscheidet sich die luxemburgische Sprachsituation grundlegend von anderen mehrsprachigen Gesellschaften, z.B. in Belgien oder in der Schweiz, wo code switching integraler Bestandteil der Mehrsprachigkeit ist. Seine legislative Bestätigung fand die luxemburgische Mehrsprachigkeit im Sprachgesetz von 1984. In der Verfassung von 1948 war die Sprachenfrage noch ausgeklammert worden: "L'emploi de la langue d'administration sera regle par la loi." (Art. 29). Erst in der Loi sur le regime des langues vom 24. Februar 1984 kam es zu einer endgültigen Regelung. In Artikel 1 wird das Letzebuergesche als 'Nationalsprache' deklariert ("La langue nationale des
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Zum Schulsystem vgl. Kraemer (1993).
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Luxembourgeois est le luxembourgeois"). Als 'Amtssprachen' werden alle drei Sprachen klassifiziert. Amtliche Schriftwechsel sollen "dans le mesure de possible" in der Sprache geführt werden, in der ein Antrag o.a. eingereicht wurde. Für den gesetzgebenden Bereich ist jedoch nur das Französische bindend. Durch diese gesetzliche Regelung wurde nach Hoffmann (1989: 50) das Letzebuergesche zu einer 'in-dominanten Amtssprache' (neben den dominanten Amtssprachen Deutsch und Französisch) erhoben. Doch damit das Letzebuergesche eine solche Funktion auch ausüben kann, sind nach Hoffmann Sprachstandardisierungen erforderlich. Dazu wäre es notwendig, für die überwiegend mündlich existierende Varietät 'Letzebuergesch' eine einheitliche und verbindliche lexikalische, orthographische und orthoepische Norm zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, müßte Letzebuergesch in gleichem Umfang wie die beiden Fremdsprachen als Unterrichtsfach in der Schule gelehrt werden, was unter Umständen zu einer Überbelastung der Kinder fuhren könnte. In seiner Kritik am Sprachgesetz von 1984 sieht Hoffmann (1989: 51) somit den "sprachlichen Landfrieden" in Gefahr und befürchtet einen "innerluxemburgischen Sprachkampf [...], der unter Umständen, je nach seinem Ausgang, verheerende Folgen zeitigen könnte". Diese Angst wäre begründet, wenn dem Sprachgesetz tatsächlich auch weitreichende sprachplanerische Aktivitäten gefolgt wären (oder folgen). Derartige Aktionen sind von staatlicher Seite bis heute ausgeblieben. Lediglich die Interessenvereinigung 'Actioun Letzebuergesch' nimmt diese Aufgabe wahr (s.u.). In diesem Zusammenhang bemerkt Kramer (1992: 207) zu Recht: "Die Hervorhebung des Letzebuergeschen als 'langue nationale' ist rein deklamatorisch und hat keinerlei praktische Konsequenz." Das Sprachgesetz ist somit in Zusammenhang mit dem ideologischen Wert des Letzebuergeschen als Nationalsymbol zu sehen. Sinn und Zweck des Gesetzes ist weniger, die funktionale Stellung des Letzebuergeschen gegenüber dem Deutschen und Französischen zu stärken und die Sprachstandardisierung voranzutreiben, als vielmehr den status quo zu festigen. Die luxemburgische Mehrsprachigkeit läßt sich meiner Meinung nach adäquat mit Koch/Österreichers (1990) Varietätenmodell erfassen. Grundlegend ist dabei die Unterscheidung zwischen Nähesprache und Distanzsprache. In Luxemburg übernimmt das Letzebuergesche alle nähesprachlichen Funktionen. Es drückt das Heimat- und Nationalgefühl aus, und die Sprecherinnen haben ihm gegenüber eine positive emotionale Attitüde. Als Distanzsprachen fungieren das Standarddeutsche und das Französische. Diese Sprachen werden als fremd und 'importiert' empfunden. Sie finden im privaten Bereich keine Verwendung, und die Sprecherinnen haben ihnen gegenüber eine eher positive instrumentelle und oft auch eine negative emotionale Attitüde. Mit den Bereichen der Nähe- und Distanzsprache korreliert das entsprechende Sprachmedium. Als Nähesprache ist Letzebuergesch an das Medium 'Mündlichkeit' gebunden. Hierzu gehört auch der Bereich der 'konzeptionellen Mündlichkeit' wie z.B. schriftlich vorbereitete Parlamentsreden, Nachrichtensendungen oder Predigten in der Kirche. Die Distanzsprachen Deutsch und Französisch finden folglich und ausschließlich als schriftliche Medien Verwendung. Inwieweit der Fortbestand der 'kleinen' Sprache Letzebuergesch innerhalb einer zunehmenden Globalisierung gefährdet ist, kann an dieser Stelle nur angerissen werden. In der Diskussion wird deutlich, daß das Letzebuergesche einerseits ein immenses Prestige besitzt,
11 sich aber dennoch in einer defensiven Rolle gegenüber den plurizentrisch14 dominanten Sprachen Deutsch und Französisch befindet. Die zunehmende Internationalisierung Luxemburgs im Finanz- und Dienstleistungssektor verlangt nach mehrsprachigen Angestellten (vgl. Davis 1992: 147); hier spielt das Letzebuergesche nur eine marginale Rolle und droht, nicht zuletzt durch den hohen Ausländeranteil von ca. 30%, seine Domänen zu verlieren. Dennoch bleibt im privaten Bereich die Verwendung des Letzebuergeschen dominant, so daß in nächster Zukunft keine Veränderung der Sprachsituation zu befürchten ist. Eine Überfremdung durch oder gar ein Aufgehen im Standarddeutschen wird seit den letzten 50 Jahren immer wieder befürchtet und ließ sprachpflegerische Bemühungen um den Erhalt (und die Reinhaltung) des Letzebuergeschen aufkommen. So hat die 1971 gegründete Actioun Letzebuergesch (Mitgliederzahl 2000 (1993), Publikationsorgan (1971-1993) Eis Sprooch 'Unsere Sprache') das erklärte Ziel, das Letzebuergesche zu pflegen, insbesondere seine Verwendung als Schriftsprache zu forcieren und Sprachkurse für ausländische Mitbürgerinnen anzubieten. Geknüpft daran sind auch Bemühungen um die Standardisierung des Letzebuergeschen, die jedoch mehr privaten Charakter haben, nicht über staatliche Institutionen laufen und nur punktuell greifen.15
14 15
Zur Plurizentrizität vgl. Clyne (1992). Zum Purismus im Letzebuergeschen vgl. Hoffmann (1987).
2
Die Forschung zu Dialektveränderungen im Letzebuergeschen
In diesem Kapitel wird die Herausbildung der Koinehypothese innerhalb der luxemburgischen Linguistik vorgeführt. Ein kurzer historischer Teil stellt in chronologischer Reihenfolge die Autoren vor, die als die Initiatioren der Koinehypothese gelten können (2.1). In einem systematischen Teil wird der Theorieentwurf bezüglich Entstehung, Verbreitung, Sprechergruppen (2.2.1) und Varietätenstatus (2.2.2) der Koine in seiner Dynamik dargestellt und auf seine Stimmigkeit überprüft. Eine Zusammenfassung (2.2.3) schließt das Kapitel ab.
2.1 Entstehung der Koinehypothese Für das 19. Jh. liegen nur wenige wissenschaftliche Quellen zum Letzebuergeschen vor (Hardt 1843, Klein 1855 u.a.). In diesen Arbeiten wird aus noch mangelnder Abgrenzung vom Deutschen das Letzebuergesche als deutsche Mundart bezeichnet. Häufig sind Sprachbezeichnungen wie luxemburger deutsche Mundart (de la Fontaine [1855]), letzebuerger Däitsch oder gar Däitsch (vgl. Hoffmann 1987) anzutreffen, die die Einordnung des Letzebuergeschen ins Varietätengefuge der deutschen Mundarten belegen. Als vom Deutschen überdachte Mundart, d.h. 'unterhalb' der nhd. Schriftsprache stehend, hatte das Letzebuergesche im 19. Jh. qua Dialekt einen diatopisch variablen Charakter. Hinweise auf eine standardisierte Variante des Letzebuergeschen finden sich nicht. Der noch jungen nationalstaatlichen Eigenständigkeit (seit 1839) entspricht auf sprachpsychologischer Seite ein mangelndes oder geringes Bewußtsein einer eigenen Nationalsprache. So thematisieren die Autoren immer wieder die diasystemare Abhängigkeit von der nhd. Schriftsprache. Letzebuergesch gilt in diesen Entwürfen als die mundartlich-regionale Ausprägung des Deutschen. Besonders wegen mangelnder Schriftsprachlichkeit wird die Existenz einer selbständigen Sprache 'Letzebuergesch' häufig von Luxemburgern selbst in Abrede gestellt. So etwa Peter Klein: Man hört in der neuesten zeit häufig die meinung äuszern, unsere mundart könne sich wol zu einer Schriftsprache ausbilden und dereinst, gleich der holländischen eine eigene literatur besitzen. Obgleich die Vaterlandsliebe, die diesem gedanken zugrunde liegt, lobend anerkannt werden musz, scheinen solche hoffnungen doch etwas zu sanguinisch. (Klein 1855: 91)
Betonen die Arbeiten des 19. Jh. noch die deutliche Abhängigkeit und Überdachung des Letzebuergeschen von der nhd. Schriftsprache, so beginnt erst im 20. Jh. der Ablösungsprozeß vom mächtigen Nachbarn. Die sprachliche Souveränität Luxemburgs hinkt damit der politischen Unabhängigkeit von den umgebenden Nationalstaaten (Preußen/Deutschland, Belgien,
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Frankreich) zeitlich etwas hinterher. In der ersten Hälfte des 20. Jh. erscheinen primär dialektologische Untersuchungen. Es handelt sich dabei um Ortsgrammatiken und Dialektmonographien, wie sie im Gefolge des Deutschen Sprachatlasses (DSA)1 häufig entstanden sind.2 Obwohl bei den Autoren und Autorinnen immer lautgeographische Beschreibungen im Vordergrund stehen, finden sich in den Einleitungskapiteln häufig pauschale Aussagen über Dialektveränderung zugunsten einer überregionalen Koine (im folgenden als 'Koinehypothese' bezeichnet). Diese sehr allgemein gehaltenen Bemerkungen über die Entstehung einer überregionalen Varietät übernehmen die Autoren soziolinguistischer Analysen der luxemburgischen Mehrsprachigkeit, die etwa ab den 1960/1970er Jahren zu erscheinen beginnen (besonders bei F. Hoffmann). Als Reflex des gefestigten Sprachbewußtseins wird der ursprüngliche angenommene Bilinguismus 'Deutsch - Französisch'3 nun in der Charakterisierung als Triglossie 'Letzebuergesch - Deutsch - Französisch' adäquater gefaßt. Die Koin6hypothese dient diesen Arbeiten als willkommenes Argument, das Letzebuergesche als Ausbausprache (Kloss 1976, 1978) zu definieren und eine zum Deutschen divergente linguistische Entwicklung anzunehmen.
2.2
Die 'Koine'
2.2.1
Entstehung, Verbreitung und Sprechergruppen der Koine
Der erste Hinweis auf Tendenzen von Dialektveränderungen sowie die erstmalige Nennung des Terminus 'Koine' findet sich in Rene Engelmanns Ortsgrammatik Der Vokalismus der Viandener Mundart (1910a). Im Kapitel 'Die heterogenen Elemente in der Mundart' beschreibt er Einflüsse, die zur Auflösung der ursprünglichen Einheit des Lokaldialektes führen. Neben Interferenzen aus der nhd. Schriftsprache und dem Französischen trägt auch die "allgemeine luxemburgische Umgangssprache (Koine)" (1910α: 10) zum Dialektabbau bei. Es folgt die erste Charakterisierung der luxemburgischen Koine: Das bedürfnis einer gemeinsamen Umgangssprache hat hierzulande infolge unserer politischen Selbständigkeit und des offiziellen bilinguismus an der hochdeutschen Schriftsprache vorbei zur entstehung einer über den lokalmundarten stehenden koine geführt. (Engelmann 1910a: 10)
2
3
Auch das Gebiet von Luxemburg wurde 1885 in die Erhebungen zum DSA miteinbezogen. Engelmann 1910a, Bertrang 1921, Huss 1927, Palgen 1931, 1948, 1954, Bruch 1949, 1952, 1953. Bemerkenswert erscheint, daß in dieser Zeit für Luxemburg weit mehr Ortsgrammatiken verfaßt wurden als für den deutschen Teil des Moselfränkischen (hier nur: Ludwig 1906, Thome 1908). So z.B. noch im Luxemburger Wörterbuch (1950: XX, XXXIV-XXXVIII). Interessanterweise wurde in der Zeit zwischen den Weltkriegen, als Luxemburg die Hundertjahrfeier beging (1939), von Literatenseite bereits von 'Trilinguismus' (Deutsch, Französisch, Dialekt) gesprochen, was jedoch von den luxemburgischen Linguisten nicht weiter beachtet wurde.
14 Seiner Meinung nach war das Bedürfnis nach einer überregionalen Umgangssprache aus der nationalstaatlichen Eigenständigkeit und der Mehrsprachigkeit des Landes erwachsen. Die enigmatische Formulierung "offizieller bilinguismus an der hochdeutschen Schriftsprache vorbei" verweist dabei auf eine im Vergleich zu Deutschland divergierende Entwicklung der luxemburgischen moselfränkischen Dialekte. Denn bedingt durch Einfluß der Standardsprache geht, nach Engelmann, der Gebrauch des Dialekts in Deutschland (aber auch in den ehemals luxemburgischen Gebieten Belgiens und Frankreichs) zurück. In Luxemburg dagegen entsteht eine über den Regionaldialekten liegende Koine, die sich als alltagsprachliche Varietät neben den Schrift- und Amtssprachen Deutsch und Französisch etabliert. Engelmann betrachtet die Koine als bereits existent und gibt Auskunft über ihren diatopischen Ursprung: Diese koitii ist im großen ganzen identisch mit dem im Alzettetal von Luxemburg an nördlich gesprochenen dialekt, der unter dem beständigen einfluß des hauptstädtischen idioms steht, jedoch die als speziell stadtluxemburgisch und etwas affektiert gefühlten eigentümlichkeiten wie z.b. die singenden diphthonge in Irnich, haaus und andere zu vermeiden sucht. (Engelmann 1910a: 10)
Das nördliche Alzettetal nimmt geographisch die Mitte des Landes ein (vgl. Abb. 4.5). Aus welchen Gründen (Prestige, sozioökonomische Aspekte) diese Region als Ursprung der Koine gelten soll, thematisiert Engelmann nicht. Luxemburg wies zu Beginn des 20.Jh. noch eine ausgeprägt agrarische Struktur auf und die einzigen wirtschaftlichen, kulturellen und infrastrukturellen Zentren des Landes waren die Hauptstadt Luxemburg-Stadt und die Industriestadt Esch-sur-Alzette im Süden. Es erscheint daher logischer, hier nach dem Ursprung der Koine zu suchen. Statt dessen verstrickt sich der Autor wiederholt in eine Zwitterargumentation, die in der Koine starke hauptstädtische Einflüsse annimmt, spezielle hauptstädtische Merkmale jedoch ausgeklammert wissen möchte. Tatsächlich muß im Alzettetal mit starken hauptstädtischen Einflüssen gerechnet werden, liegt es doch an der Hauptverkehrsstrecke (Straße und Eisenbahn), die den Norden Luxemburgs mit der Hauptstadt und weiter mit dem Industriezentrum im Süden verbindet. Beim Alzettetal handelt es sich um ein dünn besiedelte, agrarisch strukturierte Region; es erscheint unwahrscheinlich, daß sie eine sprachliche Vorbildfunktion übernommen haben soll. Obwohl Engelmann von 'Koine' spricht, hat er damit nicht das Mischungsprodukt aus permanentem Dialektkontakt ('Koineisierung') im Sinn, wie es für die klassisch-griechische Κοΐηέ angenommen wird. Es handelt sich vielmehr um die diatopische Verallgemeinerung und Ausbreitung der Varietät einer bestimmten Region. Er verwendet damit den Begriff im Sinnevon 'Gemeinsprache'; der Entstehungsmodus entspricht einem Dialektausgleich.4 Hinsichtlich der Verbreitung der Koine innerhalb Luxemburgs unterscheidet Engelmann zwischen ihrer Verwendung als 'Alltagssprache' und als 'Reservesprache' (1910a: 10). Als Alltagssprache werde die Koine von der Bevölkerung des Alzettetals benutzt. Diese Sprechergruppe erwirbt also mit dem Lokaldialekt gleichzeitig die überregional gültige Varietät. "[D]urch den vielfachen verkehr von dorf zu dorf nach allen seiten" (ebd.) breite sich die Koine im Land aus. Angesichts der Tatsache, daß das Alzettetal kein Verkehrsknotenpunkt ist, erscheint eine Ausbreitung von diesem Punkt aus nicht sehr plausibel. Weiterhin
4
Die Konzepte 'Koine', 'Koineisierung' und 'Dialektausgleich' werden in 3.1 erläutert.
15
bedienen sich, so Engelmann, der Koine auch die "beamten und geschäftsleute[] aus allen teilen des landes, die ihre heimat verlassen und ihren lokaldialekt aufgegeben haben" (ebd.). Es bleibt jedoch unklar, warum die obere Mittelschicht gerade diese Varietät übernimmt und wie der Erwerb der Varietät stattfinden soll. Da das Letzebuergesche (fast) ausschließlich als Sprechsprache existiert, könnte der Erwerb nur über direkten Kontakt mit den Bewohnern des Alzettetals vor sich gehen. Engelmann scheint sich dieses argumentativen Schwachpunkts bewußt zu sein und konzediert, daß sich der Erwerb - er spricht von 'Anpassung' - nie vollständig und von Individuum zu Individuum unterschiedlich vollziehe. Dennoch entbehrt dem Gedankengang die Überzeugungskraft. In überregionalen Kommunikationszusammenhängen benutzen die Sprecher und Sprecherinnen aus den umliegenden Dialektregionen die Koine als 'Reservesprache', um nicht durch Dialektmerkmale aufzufallen. Für diese Sprecherinnen hat die Koine den Status einer H-Variety. Wie der Erwerb der Koine bei dieser Sprecherinnengruppe vonstatten gehen könnte, ist ebenfalls unklar. Schließlich handelte es sich zu dieser Zeit überwiegend um eine nicht-mobile Landbevölkerung, die mit Bewohnern des Alzettetales in direkten und ausreichenden Sprachkontakt treten müßte, um die Varietät zu erlernen. Engelmann nimmt die strikte Kategorisierung zwischen Lokaldialekt und überregionaler Koine mit dem Hinweis auf den variablen Charakter der Koine schließlich selbst zurück, denn die Sprecher verwenden sie "natürlich mit denselben und noch größeren abstufungen und unbewußten rückfällen in den dialekt, wie diejenigen, die sie als alltagssprache reden" (Engelmann 1910a: 11). In der Einleitung zum ersten Band des Luxemburger Wörterbuchs (LWb) wird Engelmanns Koinegedanke im wesentlichen unverändert wiedergegeben, jedoch um eine Verstehbarkeitskomponente5 erweitert. Die Koine wird hier als "eine Gemeinsprache, eine Art von Reservesprache, die jedermann versteht" (LWb 1950: XXIV; Hervorhebung P.G.) beschrieben. Innerluxemburgische Verstehbarkeitsprobleme waren noch für Engelmann kein Motivationsfaktor zur Herausbildung der Koine gewesen. Wie weiter unten zu zeigen sein wird, ist gegenseitige Verstehbarkeit in Luxemburg fast immer gewährleistet. Lediglich einige phonologische Phänomene des Nordens (Ösling) mögen zu sporadischen Verständigungsproblemen führen, die in der direkten Kommunikation schnell bereinigt werden können. Das Argument der Verstehbarkeitsschwierigkeiten erweist sich somit als fadenscheinig. Überraschenderweise taucht in Kapitel Ε 'Die luxemburgische Mundart' eine zweite, von der ersten abweichende, Charakterisierung der Κοίηέ auf. Diese argumentative Inkonsistenz ist wohl dem Umstand geschuldet, daß die Wörterbuch-Einleitung von verschiedenen Autoren verfaßt wurde. Seit der Unabhängigkeit Luxemburgs und dem Erblühen seiner Dialektliteratur, welche rasch populär wurde, entstand auf Grund der Sprache des früheren Kantons Luxemburg-Land die Koine oder Luxemburger Gemeinsprache. (LWb 1950: XXXIX; [Hervorhebung P.G.])
Neben dem von Engelmann übernommenen Argument der nationalen Unabhängigkeit kommt nun mit der Entstehung der letzebuergeschen Literatur im 19. Jh. ein Aspekt hinzu, der auch s
Zum Begriff der 'interdialektalen Verstehbarkeit' vgl. Schmitt 1992.
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der Schriftlichkeit einen Anteil an der Vereinheitlichung des Letzebuergeschen einräumt.6 Doch bliebe zu prüfen, welchen tatsächlichen Einfluß die Schriftlichkeit einer Literatengruppe auf die Herausbildung einer neuen alltagssprachlichen Varietät haben kann.7 Weiterhin wird mit dem "früheren Kanton Luxemburg-Land", ein zweigeteiltes Gebiet westlich und östlich der Hauptstadt, eine vollkommen neue diatopische Basis der Koine angegeben, die mit dem nördlichen Alzettetal keine geographische Gemeinsamkeit aufweist. Wiederum bleibt aber das Gebiet der Hauptstadt ausgeschlossen. Bezüglich der Verbreitung der Koine werden Engelmanns Ansichten übernommen. Mit ihren gedanklichen Brüchen und begrifflichen Unsicherheiten demonstriert die Wörterbuch-Einleitung, wie Sprachwirklichkeit mangels empirischer Überprüfung beliebig kategorisiert werden kann. Für Robert Bruch (1953, v.a §46) zeichnet besonders die überwiegende Sprechsprachlichkeit des Letzebuergeschen für den Erhalt lokaler Variation verantwortlich. Anders als in Deutschland wirke keine schriftsprachliche Norm ausgleichend auf die Ortsdialekte ein. Dennoch werde die Dialektlandschaft infolge der gewachsenen sozialen und räumlichen Mobilität seit der Mitte des 19. Jh. "langsam vom Zentrum des Landes her aufgelöst" (Bruch 1953: 96). Trotz des obligatorischen Hinweises, daß die Mundart der Hauptstadt {'t Stiets) keine Einflüsse auf die Koine ausübe,8 sei die "Wiege jener Koine" (ebd.) dennoch hier zu suchen. Die Ausbreitung der Koine aus dem Zentrum heraus drängt die alten Orts- und Lokaldialekte zurück und leitet den sukzessiven Dialektabbau der luxemburgischen Dialektlandschaft ein. Andererseits rekurriert er mit der Bemerkung, daß die "Κοίηέ heute schon in jedem Gehöft ihren Platz über der lebendigen Lokalmundart behauptet", wieder auf Engelmanns Annahme eines binnendiglossischen Verhältnisses zwischen Lokaldialekten und Koine. Damit bleibt die Unklarheit, in welcher Weise die Binnendiglossie an die Ausbreitung der Koine gekoppelt ist, bestehen. Hatte Engelmann den Begriff 'Koine' noch im Sinne von 'Gemeinsprache' verwendet, so ist Brach der erste, der am deutlichsten die Entstehung durch tatsächliche Koineisierung, d.h. durch direkten Kontakt zwischen gegenseitig verstehbaren und verwandten Dialekten favorisiert.9 [I]n Luxemburg ergibt sich die Koine aus dem Ausgleich zwischen allen bodenständigen Lokalmundarten, und zwar im alten Stammland. (Bruch 1953: 96)
Wie Engelmann rekurriert auch Bruch auf die Sprache des Alzettetals als das gegenwärtige Äquivalent der Koine. Da diese Region "an den Rändern der ältesten kulturellen und politischen Strahlungsherde, des Ferschweiler Plateaus (Bitburg-Trier) und des Titelbergs (ArlonMageroux)" (Brach 1953: 97) liegt, habe die Koine im Kontakt zwischen diesen frühmittel-
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Vgl. dazu auch Solms/Hofftnann 1995. LWb (1950: XL) erläutert, daß sich die ersten letzebuergeschen Texte (Wende vom 18. zum 19.Jh.) zwar der Lokalmundarten bedienen, durch Publikation des ersten Wörterbuches (Gangler 1847) "übernahm das Zentrum definitiv die Führung" (ebd.). Dem widerspricht Bruch (1953: 94f.). Seiner Meinung nach behalten die luxemburgischen Autoren ihre Lokaldialekte bei. Hier korrigiert er gleichzeitig Bach (1969: §201), der die Stadtsprache von Luxemburg-Stadt als Grundlage der Koine ansah. Zur Theorie von 'Koine' und 'Koineisierung' vgl. Kapitel 3.
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alterlichen Kulturen ihre Entstehungsimpulse erhalten und sich bis heute zu einer vollwertigen Varietät herausgebildet. Später, in seiner Luxemburger Grammatik in volkstümlichem Abriss (1973), verlegt Bruch das Datum der Entstehung der Koine jedoch weiter nach vorne. Allerdings hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine Art von Koine oder basic Luxemburgish herausgebildet, und zwar zunächst in der Hauptstadt und in den administrativen Zentren, dann in allen großen Ortschaften, die allmählich längs der großen Straßen und der hauptsächlichsten Bahnlinien, besonders im Erzbecken entstanden sind. (Bruch 1973: 109)
Konkrete Beispiele dafür, wie sich dieser "langsame Ausgleich zwischen allen bodenständigen Ortsmundarten" (Bruch 1973: 110) abgespielt haben könnte, werden nicht angeführt. Dennoch soll sich aus den vielfältigen, oben zitierten Kontaktsituationen eine einheitliche Varietät entwickelt haben, die zudem noch den "Lokalmundarten des Alzettetales nördlich von Luxemburg" (ebd.) am ehesten entspräche. Für Bruch trägt - im Gegensatz zu Engelmann und dem LWb, die die Koine mehr als Sprache des Mittelstandes und besonders der Gebildeten sahen - der Kontakt zwischen allen sozialen Schichten zu ihrer Ausbreitung bei. Viele von ihnen tragen diese bequemen Lautgewohnheiten [i.e. die Koine, P.G.], mit denen man am unauffälligsten durch Stadt und Land kommt, hinaus in einen neuen Wirkungskreis: Strahlungsherde der Κοίηέ entstehen überall, wo Zugewanderte Tag für Tag mit Einheimischen verkehren, um den Pfarrer, das Lehrpersonal, die Polizei, die Post-, Zoll- und Forstbeamten, an den großen Arbeitsplätzen der Landwirtschaft und besonders der Industrie, die Schicht um Schicht ihre Arbeitskräfte aus allen Landesteilen an sich zieht und Schicht um Schicht wieder hinausschickt. (Bruch 1953: 96)
Mit der Nennung der Industrie wird auch der Süden Luxemburgs (Minett) für die Korne relevant, da sich hier ab 1870 das landesgrößte Industriezentrum etablierte (1890-1914 Bau der Stahlwerke), und Arbeiter aus allen Landesteilen, aber auch aus dem Ausland,10 in diese Region zog. Obwohl von Bruch nur am Rande erwähnt, muß dieser bevölkerungsreichen Region für die Verbreitung der Koine ebenso wie der Hauptstadt eine beträchtliche Multiplikatorwirkung zugestanden werden. Im Anschluß an die dialektologischen Untersuchungen, die die Koinehypothese zwar in die Diskussion eingebracht haben, jedoch nicht bis zur empirischen Validierung fortschritten, übernehmen die Autoren der soziolinguistischen Arbeiten, die seit den 70er Jahren erscheinen, nicht nur das Konzept der 'Koine', sondern setzen gar deren Existenz voraus. In den soziolinguistischen Arbeiten stehen Diskussionen zur luxemburgischen Mehrsprachigkeit im Vordergrund. Das Letzebuergesche wird überwiegend in makrosoziolinguistischer Relation zum Deutschen und Französischen sowie hinsichtlich einer Klassifizierung 'Dialekt oder Sprache?' betrachtet. Der Koineproblematik widmet sich Fernand Hoffmann (1987) am ausführlichsten." Er nimmt die getrennte Existenz von Lokaldialekten einerseits und Koine andererseits als gegeben an. Im Gegensatz zu Bruch sieht er keine Anzeichen für den Abbau der Regionaldialekte. Dementsprechend richtet sich der Erwerb der beiden Varietäten nach der diaphasischen
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Die größte Gruppe kam Ende des 19. Jh. aus Italien. In Hoffmann (1996t) wird dieselbe Meinung vertreten; es handelt sich dabei um die geringfügig geänderte und lediglich ins Englische übersetzte Fassung von Hoffmann (1987).
18 Zweiteilung 'örtlich/regional' - 'überregional': Die jeweilige Lokal-, Orts- bzw. Stadtmundart lernt das Kind in der Familie bzw. seinem Heimatort; die Koine dagegen wird im Umgang mit Landsleuten aus anderen Landesteilen erworben (Hoffmann 1987: 140). Deutlicher als seine Vorgänger postuliert Hoffmann, daß in der Sprachgemeinschaft das Wissen um eine überregionale, allgemein akzeptierte Form des Letzebuergeschen existiere. Doch bleibt unklar, welchen Bewußtseins- und Explizitheitsgrad Koine als Varietät besitzt. Als Entstehungsmodus setzt er Sprachausgleich infolge der Konstituierung der Ballungszentren (Luxemburg-Stadt im Zentrum, Esch-sur-Alzette im Süden), demographische Verschiebungen und gestiegene Mobilität an. Gleichzeitig betont er, daß die einzelnen Dialektregionen ihr "sprachliches Eigenleben" (Hoffmann 1987: 140) weiterführen und ignoriert damit Engelmanns und Bruchs Aussagen zum parallel stattfindenden Dialektabbau. Das Nebeneinander von Lokaldialekt und Koine führe zu Bilingualismus oder gar zu Diglossie innerhalb des Letzebuergeschen. Zur Frage, ob es sich bei der Koine ursprünglich um eine regionale Varietät handelt, "die zum überregionalen Idiom promovierte", oder ob sich tatsächliche Koineisierung als "Kompromiß auf der Ebene der mittleren, allen verständlichen Lautung" (Hoffmann 1987: 141) abspielte, nimmt der Autor eine indifferente Haltung ein. Ja, die Koine entspreche in ihrer Lautung dem nördlichen Alzettetaldialekt,12 sie sei aber parallel dazu auch "eine Art von Ausgleich, bei dem die charakteristischsten Merkmale der südlichen, nördlichen, östlichen und westlichen Mundartlandschaften entfallen" (ebd.). Dieser Mischungsprozeß habe sich im oberen Alzetettetal abgespielt, und zwar, in Anlehnung an Bruch (1953: 19f.), beginnend in der sog. Latenezeit (Beginn ca. 500 v.Chr.) - aber mit bis heute spürbar gebliebener Dynamik. Es ist fraglich, ob solch frühe Einflüsse in heutigen sprachlichen Verhältnissen noch greifbar sein können. Nach Löffler (1982: 449) können sich "politische und kulturgeographische Zustände [...] als Ursache für sprachliche Befunde kaum über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren [...] erhalten". Die Annahme einer Sprachmischung in der Eisenzeit bekommt damit spekulativen Charakter. Wie für Bruch so ist damit auch für Hoffmann die luxemburgische Koine ein Koinesierungsprodukt, das jedoch bereits vor langer Zeit entstand, sich aber erst seit Beginn des 20. Jh. als überregionale Norm durchzusetzen beginnt. Weiterhin korrigiert er ältere Auffassungen, denen zufolge sich die Koine direkt vom Alzettetal ausgebreitet haben soll, und nimmt statt dessen eine Vermittlung über die Hauptstadt an. Die Diskussion der Koineproblematik scheint in Hoffmanns Definition der Koine im Handbuch 'Soziolinguistik' als "the super-regional (mainly phonological) standard version of Luxemburgish" (Hoffmann 1988: 1335) ihren vorläufigen Abschluß gefunden zu haben. Damit ähnelt das Varietätenspektrum des Letzebuergeschen dem einer monolingualen Sprachgemeinschaft (Standardvarietät überdacht Dialekte). Diese vereinfachende (und empirisch
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Hoffmann spricht von der Region zwischen Dommeldingen (bei Engelmann: Eich) und Schieren (bei Engelmann: Ettelbrück). Damit hat sich die Koineregion im Vergleich zu Engelmanns Angaben sowohl im Süden als auch im Norden um jeweils eine Ortschaft verkleinert. Möglicherweise soll damit die Nähe zum stigmatisierten Idiom der Hauptstadt und der schon nördlich klingenden Stadtmundart Ettelbrücks vermieden werden. Dialektgeographische oder variationslinguistische Evidenz für die Ausgrenzbarkeit der Alzette-Region geben weder Engelmann noch Hoffmann an.
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nicht überprüfte Sichtweise wird von ausländischen Linguisten bereits übernommen. So spricht Ammon (1995) bereits explizit von einem 'Standardletzeburgisch'. Abgesehen von einigen gedanklichen Brüchen und der kritiklosen Übernahme älterer Konzepte liegt der Nachteil aller bisher vorgestellten Untersuchungen vor allem darin, zwar von kompetenten luxemburgischen Linguisten verfaßt worden zu sein, aber die empirische Überprüfung durch den ausschließlichen Rekurs auf die eigene subjektive, meist intuitive Anschauung vernachlässigt zu haben.
2.2.2
Varietätenstatus der Koine
Hinsichtlich der funktionalen Relation zwischen der Koine und den luxemburgischen Dialekten ergeben sich theoretisch zwei Möglichkeiten. Koine und Dialekte können entweder in einem koexistierenden (1) oder einem hierarchischen (2) Verhältnis zueinander stehen. (1)
Koexistenz Dialekt,, Dialekt,, ..., Dialekt,,, Koine
(2)
Hierarchie
Κοίηέ Dialekti Dialekt? Dialekte Modellentwurf (1) sieht ein gleichberechtigtes, funktionales Nebeneinander von Koine und Dialekten vor. In (2) dominiert die Koine als Normvarietät die Dialekte. Nun ist gerade für die Hauptvertreter der Koinehypothese, Engelmann und Bruch, ein auffälliges Schwanken zwischen einem koexistierenden und einem dominierenden Status der Koine zu konstatieren. Wenn Engelmann explizit von der "über den Lokaldialekten liegenden Koine" (1910α: 10) spricht und der Varietät des Alzettetals die Funktionen einer 'Gebildetensprache' (diastratisches Argument) und überregionalen Verkehrssprache (diatopisches bzw. diaphasisches Argument) beilegt, kommt das Varietätenspektrum dem hierarchischen Modell (2) sehr nahe. Bei genauerer Durchleuchtung des Gedankenganges stößt man jedoch auf Hinweise, die die Koine den Lokaldialekten eher nebengeordnet erscheinen läßt. So hebt der Autor den variablen, dialektinterferierten Charakter der Koine hervor (1910a: 10) und attestiert auch Koinesprechern "größeren und unbewußte[] rückfällef] in den dialekt" (1910a: 11). Aber auch implizit, nämlich in der Unplausibilität der Argumentation, wird deutlich, daß das Koexistenz-Modell (1) die von Engelmann beschriebene Varietätenkonstellation besser faßt. Die schwer nachvollziehbare Ansicht über die Ausbreitung der Koine allein über direkten Kontakt mit Bewohnern des Alzettetals legt den Umkehrschluß nahe, daß es sich bei dieser ländlichen Region um ein Dialektgebiet wie jedes andere handelt. Dazu kommt die mangelnde infrastrukturelle, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung und das fehlende oder zumindest unklare Prestige des Landstrichs. Obwohl er die Ausbreitung der Koine auf Kosten der Lokaldialekte deutlich hervorhebt, schließt sich Bruch in seinen Analysen doch stellenweise wieder Engelmanns Vorstellung einer Binnendiglossie an. So manifestiert sich auch beim ihm wieder das Schwanken zwischen Modell (1) und Modell (2).
20 Bedingt durch die unkritische Übernahme des linguistischen Koine-Konzepts hat sich in den soziolinguistischen Untersuchungen der Übergang von Modell (1) zu Modell (2) eindeutig vollzogen. Für Hoffmann (1987, 1989) und - sich daran anlehnend - Ammon (1995) erfüllt die Koine die Funktion der luxemburgischen Standardvarietät und überdacht die Dialekte. Dieser Übergang läßt sich in der Beschreibung des Aneignungsmechanismus der Koine erkennen. Bei Engelmann (1910a: 10) findet sich der Terminus 'Anpassung' an die Koine, der lediglich auf eine partielle Modifikation des eigenen Dialekts hinweist. Hoffmann (1987: 100) spricht dagegen explizit vom 'Erwerb' der Koine. Er hat damit eine genau abgrenzbare, erlernbare Varietät im Sinn. Die wissenschaftshistorische Dynamik der Koinehypothese vermittelt den Eindruck eines Wandels einer dialektalen Varietät, die vormals nur als (Funktional-)Stil oder Register eingesetzt wurde, zu einer funktional-dominierenden, überregionalen Varietät. Daß Engelmann und Bruch in ihren Ausführungen zwischen dem nebenordnenden und dem hierarchischen Modell schwanken, kann auf das noch mangelnde Varietätenbewußtsein bezüglich der neuen Varietät zurückgeführt werden. Besonders Engelmann bedient sich zur Definition der Koine einer Argumentationsweise, die als ex negorivo-Definition bezeichnet werden kann. Es fällt auf, daß die Koine nicht intensional durch ihre positiven Merkmale bestimmt wird, sondern ex negativo als eine Dialektalismen vermeidende Sprechweise beschrieben wird. Die Definition erfolgt damit immer durch permanenten Rekurs auf die luxemburgischen Dialekte und erscheint ohne diesen Ankeipunkt nicht denkbar, wie die folgenden Zitate belegen. Der Wiltzer, Grewenmacherer, Viandener [Ortschaften im nördlichen bzw. östlichen Dialektgebiet, P.G.], der sie [die Koine, P.G.] redet, hat mehr das bestreben, seine dialektpartikularitäten zu vermeiden, als eine bestimmte spräche zu sprechen. (Engelmann 1910a: 10) Jeder färbt sie [die Koine, P.G.] anders, der Wiltzer, der Redinger, der Remicher, mit unbewußten Rückfällen in seinen Dialekt. Sie ändert von Ort zu Ort und von Individuum zu Individuum. In beständiger Annäherung an das Stadtluxemburgische begriffen, sucht sie, trotzdem einige als spezifisch städtisch gefühlte Eigentümlichkeiten desselben zu vermeiden und ist in diesem Bestreben wiederum je nach den Gegenden verschieden. Sie ist eben einstweilen noch eine Idealsprache, mit fließenden Formen, mit ausgesprochen negativem Charakter. (Engelmann 1916, Auf heimatlichen Pfaden, Diekirch; zit. nach Bruch 1953: 96f.) Gemeinsprache ist nach Rene Engelmanns Definition (Floreal, I, 159): «Die durch das ganze Land von Beamten gesprochene und die dialektischen Idiotismen vermeidende Sprache.» (LWb 1950: XL; Hervorhebung P.G.)
Genau genommen findet also (noch) kein vollständiger Varietätenwechsel zwischen Lokaldialekt und Koine statt. Der Koinesprecher vermeidet lediglich seine primären Dialektmerkmale (Schirmunski 1930). Die Konstruktionen 'Dialektpartikularitäten [...] vermeiden', 'keine bestimmte Sprache sprechen' oder 'Idealsprache mit fließenden Formen' deuten auf die Verwendung der Koine als Stil hin. Ihre stilistische Leistung liegt vornehmlich darin, die Variation der diatopischen Dimension zu minimieren bzw. zu eliminieren. Im Gegensatz zur konventionellen Auffassung von 'Stil' als einer "Menge kookkurrierender sozial interpretier-
21 ter Merkmale"13 zeichnet sich der Stil der luxemburgischen Koine durch das Fehlen von besonderen, auffälligen Merkmalen aus. Gerade Meikmallosigkeit avanciert zum kennzeichnenden Attribut der Koine. Bruch verwendet die Bezeichnung 'Durchschnitts-sprache', die sich durch "bequeme Lautgewohnheiten, mit denen man am unauffälligsten durch Stadt und Land kommt" (Bruch 1953 : 96), auszeichnet. Auch Hoffmanns Beschreibungen heben den indifferenten, unmarkierten Status der Koine hervor. Für ihn handelt es sich um eine "relativ neutrale[] und farblose[], mittlere[] Lautung" (Hoffmann 1987: 142). Erst im Fehlen oder Abbau jeglicher Dialektalismen 'entsteht' also die Koine. Hierzu ist folgendes anzumerken: Um Dialektalismen zu vermeiden, muß der Sprecher/ die Sprecherin nicht nur das Wissen um die eigenen Dialektmerkmale besitzen, sondern auch um das entsprechende substituierende Koinemerkmal. Die Sprecherinnen müßten daher über ein kontrastives Variantenbewußtsein verfügen, das im jeweiligen Fall entscheidet, ob eine Variante 'regional' oder 'überregional' indiziert ist. Da die vorhandenen expliziten Normen des Letzebuergeschen nur sporadisch verbreitet sind,14 dürfte das Wissen um den adäquaten Variantengebrauch über subsistente Normen gesteuert sein. Beim Adaptionsvorgang von 'Dialekt' zu 'Koine' ist mit idiolektalen Unterschieden zu rechnen, die durch eine Vielzahl von Faktoren hervorgerufen werden, wie z.B. Prestige der Heimatregion, Ortsloyalität, persönliche Präferenzen, Mobilität und/oder Bildung. Die Verwendung der Koine wird damit zusätzlich zu einer individuellen Strategie, 'Dialekt' und die evtl. damit verknüpften außersprachlichen Konnotationen wie Provinzialität und/oder einen niedrigeren Bildungsgrad zu vermeiden oder zumindest zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund wird deudich, wie gerade das Alzettetal mit der Ursprungsheimat der Koine gleichgesetzt werden konnte. Aus dialektgeographischen Gründen, die in Kapitel 4 erläutert werden, gruppieren sich die Lokaldialekte kleeblattartig um das Zentrum des Landes. Die räumliche Mitte Luxemburgs bildet das obere Alzettetal. Die zentrale Lage führte nach Ansicht der luxemburgischen Dialektologen dazu, daß im Zentrum nur die den umliegenden Lokaldialekten gemeinsamen Merkmale zu finden sind. Die Verhältnisse werden jedoch nie durch eine positive Definition beschrieben, es wird vielmehr mithilfe einer ex negaίινο-Strategie vom Dialekt her argumentiert: Koine = nicht-Dialekt = Varietät des Alzettetals Der Abbau bzw. das Vermeiden von Dialektalität als Hauptmerkmal der Koine trägt damit auch zur Standardisierung des Letzebuergeschen bei. Durch die reduzierte diatopische Varianz in einer neuen Varietät kann sich ein Standard/Dialekt-System etablieren, wie es (als Vorbild?) im benachbarten Deutschland und Frankreich zu beobachten ist. Das Schwanken zwischen einem dominierenden und einem koexistierenden Status der Koine ist bei Engelmann und Bruch auf das noch wenig ausgeprägte Varietätenbewußtsein zurückzuführen. Dabei spielt die ex negarivo-Definition mit ihrem permanenten Rückbezug auf die Dialekte eine
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Auer 1989: 29. Vgl. auch Hymes 1979. V.a. Bruchs (1973) Luxemburger Grammatik im volkstümlichen Abriß. Weitere Titel (Schul-, Lehr-, Wörterbücher) in Berg (1993: 68).
22 wichtige Rolle.15 Auch Hoffmann, der ja die Koine eindeutig als die luxemburgische Standardvarietät betrachtet, rekurriert - widersprüchlicherweise - dennoch weiterhin auf die ex negaii vo-Strategie. Wäre die Koine die luxemburgische Standardvarietät, so wäre ein derartiger ex negativa-Bezug auf die Dialekte nicht notwendig. Erwartbar wäre vielmehr folgende, 'positive' Argumentation: 'In Luxemburg existiert eine überregionale Varietät, 'Κοίηέ' genannt, deren linguistisches System sich durch bestimmte Merkmale auszeichnet. Weiterhin finden sich noch Regionaldialekte, die in bestimmten Merkmalen von der Koine abweichen.'
2.2.3
Zusammenfassung der Koinedebatte
Bei der Sichtung der Argumente haben sich die Autoren hinsichtlich des Entstehungsmodus und der Art der Ausbreitung der Koine uneinheitlich gezeigt. Tab. 2.1 stellt die wichtigsten Meinungen gegenüber. Tab. 2.1 Entstehungsmodus und Ausbreitungsdynamik der luxemburgischen Κοίηέ bei Engelmann (1910a), Bruch (1953) und Hoffmann (1987) Engelmann + Dialektausgleich + Dialekterhalt + Koineisierung - Dialekterhalt + Koineisierung + Dialekterhalt
Bruch
Hoffmann
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Neben der Kontroverse, ob die Koine als die diatopische Verallgemeinerung einer Varietät oder als Produkt von Koineisierung anzusehen ist, herrscht Dissens, ob die Regionaldialekte abgebaut oder neben der Koine erhalten bleiben. In Engelmanns und Bruchs Ausführungen lassen sich, wie oben gezeigt, sowohl Hinweise auf Dialekterhalt als auch auf Dialektabbau zugunsten der Koine finden. Weitgehender Konsens zeichnet sich bei der Angabe der Ursprungsregion der Koine ab: Hier werden immer Gebiete im geographischen Zentrum Luxemburgs angegeben. Von hier breitet sich die Koine aus. Die unterschiedlichen und wechselnden Aneignungsmöglichkeiten von Koinemerkmalen führen zu idiolektaler Varianz, die sich im Wechsel zwischen Dialektvariante und Nicht-Dialektvariante äußert. Darüber hinaus gelten die Koinemerkmale als diatopisch unmarkiert.
15
Vergleichbare Definitionsstrategien beschreibt Kellermann (1997) für die Entstehung des New English von Gibraltar.
3
Diatopische Variation und Dialektphonologie
Aus dem Überblick über die Koinehypothese in Kapitel 2 wird deutlich, daß Fragen der Dynamik diatopischer Variation im Fokus dieser Arbeit stehen. Es gilt, ein Modell zu erstellen, das es erlaubt, verschiedene Konzepte der Variationslinguistik mit der Dynamik phonetischphonologischer Variation zu verbinden.
3.1
Grandbegriffe der Variationslinguistik
3.1.1
Dialektabbau und Dialektaufgabe
Es erweist sich als sinnvoll, 'Dialektabbau' als linguistische Veränderungen eines Dialektsystems methodologisch vom soziolinguistischen Begriff der 'Dialektaufgabe' zu trennen (Mattheier 1986). Bei letzterem geht der Gebrauch des Dialekts zugunsten einer anderen Varietät (z.B. des Standards) in bestimmten Situationen zurück. Im Dialektabbau dagegen gehen linguistische Eigenschaften eines Dialektsystems verloren. Dennoch sind in dieser Entwicklung Dialektabbau und Dialektaufgabe interdependent. Wenn der Dialekt in immer weniger Situationen verwendet wird, so bleibt davon die linguistische Struktur des Dialekts nicht unbeeinflußt, sondern wird verstärkt Abbautendenzen zeigen. Gemeinsamkeiten haben die beiden Entwicklungen hinsichtlich des Auslösers von Abbau und Aufgabe, nämlich gesellschaftliche Modernisierungen und der dadurch erhöhte Sprach- bzw. Dialektkontakt verbunden mit veränderten attitudinalen Strukturen. Vom theoretischen Standpunkt aus gesehen ist ein Dialektabbau an sich nur schwer vorstellbar; impliziert er doch, daß Elemente des Dialekts oder sein gesamtes Sprachsystem verschwinden. Doch diese Entwicklung würde zu einem defektiven System führen, in dem einige Systemstellen unbesetzt sind. In einem Gedankenexperiment wäre so vorstellbar, daß durch "den Abbau der rheinischen Reliktwörter mit unverschobener Tenuis (dot 'das', wat 'was' und et 'es') diese Wörter künftig fehlen. Diese Entwicklung tritt selbstverständlich nicht ein. Statt dessen ist an den Abbau von Merkmalen eines Dialekts deren parallele Substitution durch neue Elemente geknüpft. Diese neuen Elemente können entweder durch eine systeminterne Entwicklung ('Sprachwandel') entstehen oder durch Transfer aus anderen Varietäten hineinkommen. Je nach Ausdifferenzierung der Varietäten innerhalb der Architektur einer Sprache können unterschiedliche, aber meist mehrere Kontaktvarietäten bestimmt werden. Es bieten sich u.a. folgende Kontaktvarietäten an:
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• • • •
benachbarte Dialekte regionale Umgangssprachen (Neuer Substandard) die überdachende Standardsprache andere Sprachen (in multilingualen Sprachgemeinschaften)
Notwendigerweise steigt mit der Zahl der Kontaktvarietäten auch die Anzahl der denkbaren möglichen Veränderungsprozesse. Als Spezifizierung haben Dialektologie und Kontaktlinguistik mehrere Einzelprozesse isolieren können, die sich aber m. E. alle unter den Begriffen 'Dialektabbau' und 'Dialektaufgabe' zusammenfassen lassen. Für die vorliegende Studie werden folgende variationslinguistische Konzepte im Vordergrund stehen: • Dialektausgleich (dialect levelling) • Koineisierung • Konvergenz/Divergenz bzw. Fokussierung/Diffusion
3.1.2
Dialektausgleich
Das Konzept des Dialektausgleichs (dialect levelling) als die gegenseitige Beeinflussung sprachlich wie räumlich benachbarter Dialekte bzw. als Kontaktphänomen zwischen Dialekt und Standardsprache wurde bereits von Wrede (1919) beschrieben. In seiner dialektgeographischen Interpretation von Sprachkarten kam er zu dem Schluß, daß bestimmte sprachliche Merkmale in angrenzende Dialektgebiete eindringen und die vormaligen Merkmale zurückdrängen. Gemäß junggrammatischer Terminologie wird so die Regelmäßigkeit eines Ortsdialekts ge- und zerstört. Damit ist Dialektausgleich als eine Sonderform des allgemeineren Dialektabbaus anzusehen. In der Sprachinseldialektologie hat Schirmunski (1930) erstmals dialektale Ausgleichsprozesse exakter beschrieben und ihren Verlauf prognostiziert. Er untersuchte die neu entstandenen Varietäten deutschstämmiger Aussiedler in der Sowjetunion und verglich sie mit den entsprechenden Ursprungsdialekten bzw. mit der 'Schriftsprache' (= überdachende Standardsprache). In seiner Systematik differenzierte er zwischen 'primären' und 'sekundären' Dialektmerkmalen, die als Distanzmaße zur 'Schriftsprache' zu interpretieren sind. Unter den primären Dialektmerkmalen sind diejenigen Merkmale zu verstehen, die aufgrund ihrer 'Auffälligkeit' in Kontaktprozessen als erste aufgegeben werden, "[d]enn sie bilden eine unbequeme Hemmung für den sprachlichen Verkehr der Kolonien untereinander, fallen am meisten einem anders sprechenden auf" (Schirmunski 1930: 172). Dagegen werden sekundäre Merkmale, da sie weniger auffällig und den Sprecherinnen weniger bewußt sind, in Kontaktprozessen entweder spät oder nicht aufgegeben. Die Unterteilung in primäre und sekundäre Merkmale war in der Folgezeit Kritik unterworfen (Trost 1967, Reiffenstein 1976, Jakob 1985), obwohl ihr bis heute die intuitive Plausibilität nicht abzusprechen ist. Hauptkritikpunkt war die Definition von 'Auffälligkeit', die Schirmunski teilweise zirkulär und nicht unabhängig vom beobachtbaren Verhalten der Dialektmerkmale durchführte. In seinem Rettungsversuch isoliert Jakob (1985) aus Schirmunskis Ansatz vier Kriterien für die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Merkmalen: Das Kriterium der 'artikulatori-
25 sehen Verschiedenheit' weist phonetisch größeren Unterschieden zwischen zwei Varianten den Status eines primären Merkmals zu, während phonetisch geringere Differenzen als sekundäre Merkmale klassifiziert werden. So fällt z.B. der Unterschied zwischen Monophthong und Diphthong stärker auf (primäres Merkmal) als eine Öffhungsgradvarianz zwischen [i] und [e] (sekundäres Merkmal). Als zweites Kriterium führt Jakob den 'sprachpsychologischen Aspekt' an, wonach sprachliche Merkmale in bewußte und unbewußte eingeteilt werden. Primäre Merkmale sind den Sprecherinnen bewußt und können unterdrückt werden. "[B]ei sekundären Merkmalen bemerkt der Sprecher selbst den Unterschied nicht, der zwischen seiner Sprechart und der schriftsprachlichen Norm besteht [...]" (Schirmunski 1930: 183).1 Das dritte und vierte Kriterium - 'kommunikative Unterschiede' bzw. 'räumliche Unterschiede' - beziehen sich beide auf die kommunikative bzw. räumliche Reichweite eines sprachlichen Merkmals: Primäre Merkmale funktionieren oft nur in kleinen Kommunikationsgemeinschaften (z.B. innerhalb eines Dorfes) und sind dementsprechend auch dialektgeographisch kleinräumig verbreitet. Sekundäre Merkmale dagegen besitzen sowohl eine große kommunikative Reichweite als auch eine große dialektgeographische Ausdehnung und können für die regionale 'Färbung' der Aussprache verantwortlich sein ('Akzent'). In seiner dialektologischen Untersuchung zur Umgangssprache im Heilbronner Raum vermeidet Jakob (1985) Schirmunskis Zirkelschluß bei der Definition von Dialektmerkmalen und schlägt eine rein extralinguale Definition vor. Die Merkmale werden nach den Varietäten, in denen sie vorkommen, unterschieden. So können Merkmale, die im Dialekt auftauchen, von denen getrennt werden, die in der Regionalsprache oder in der Standardsprache auftauchen. Diese Aufteilung der Dialektmerkmale wird damit durch die Gebrauchsnormen der jeweiligen Varietäten gesteuert (286). Der Status eines Merkmals richtet sich nach dessen Gebrauchsweise. Primäre Merkmale sind diejenigen Merkmale, die im Dialekt fakultativ vorkommen, in der Regionalsprache und in der Standardsprache jedoch obligatorisch nicht vorhanden sind. Folglich sind sekundäre Merkmale im Dialekt obligatorisch und in der Regionalsprache fakultativ vorhanden, aber im Standard obligatorisch nicht vorhanden. Die extralinguale, d.h. an die Gebrauchsnorm der jeweiligen Varietät gebundene Definitionsweise macht es notwendig, parallel zur Anzahl der Varietäten auch ebensoviele Typen von Dialektmerkmalen anzunehmen. Demnach tritt der dritte Typ, die tertiären Merkmale, im Dialekt und in der Regionalsprache obligatorisch und im Standard fakultativ auf. Die Entscheidung, wann ein Merkmal fakultativ und wann obligatorisch vorhanden ist, wird aufgrund der Häufigkeit in der Varietät getroffen: Ein obligatorisches Merkmal hat eine Häufigkeit zwischen 90 und 100%, wohingegen ein fakultatives Merkmal Häufigkeiten unter 90% aufweist. Im Vergleich seiner beiden Korpora zum Dialekt und zur Regionalsprache kann Jakob (1985: 282) dann drei Gruppen von Merkmalen extrahieren, die das Verhalten der primären, sekundären und tertiären Merkmale aufweisen. Da die Dialektmerkmale ausschließlich extralingual definiert werden, führt Jakob leider keine linguistische Interpretation seiner Ergebnisse
1
In dieser Dichotomie klingt die später von Flydal (1951) und Labov (1972) eingeführte Unterscheidung zwischen kontrollierbaren 'Markem' und nicht-kontrollierbaren 'Indikatoren' an (vgl. auch Auer/Di Luzio 19886).
26 durch. Doch bereits in einer oberflächlichen Reananlyse ergibt sich, daß für die tertiären Merkmale, also die dialektfernsten und damit standardnächsten Merkmale, das Schirmunskische Kriterium der mangelnden Auffälligkeit für sekundäre Merkmale zutrifft. Bei den tertiären Merkmalen aus dem Raum Heilbronn handelt es sich überwiegend um konsonantische und prosodische Merkmale, die sich Sprecherinnen- und/oder hörerlnnenseitig durch einen niedrigen Bewußtheitsgrad auszeichnen. Somit können für das Vorhandensein von Merkmalen, wie z.B. die Apokopierung in der l.P.Sg. (find '(ich) finde') oder stimmloses s im Silbenanlaut, in Dialekt und Regionalsprache sehr wohl innersprachliche, nämlich phonetische Gründe angegeben werden. Umgekehrt zeichnen sich einige der von Jakob analysierten primären Merkmale dadurch aus, daß sie sich phonetisch besonders deutlich von der Regionalsprache und dem Standard absetzen. Linguistische Interpretationen bestätigen natürlich nicht für alle Merkmale Schirmunskis Definitionskriterien, doch sollten sie in keinem Falle unterlassen werden. Es sollte vielmehr überprüft werden, ob neben extralingualen Konditionierungen nicht noch linguistische Faktoren für den Status und das Verhalten eines Dialektmerkmals verantwortlich sind. An Jakobs Ergebnissen ist hervorzuheben, daß die Verteilung der Dialektmerkmale stark mit ihrer dialektgeographischen Verbreitung korreliert. Die primären Merkmale zeigen eine kleinräumige und an Sonderentwicklungen reiche räumliche Verbreitung. Demgegenüber vergrößert sich die diatopische Basis der sekundären und tertiären Merkmale von Regionalsprache bis hin zum Standard sukzessive. Eine exakte theoretische Fundierung des Konzepts 'Dialektausgleich' und seine praktische Anwendung auf Kontaktsituationen wurde in den Untersuchungen von Kristensen/Thelander, Trudgill und Hinskens unternommen. Kristensen/Thelander (1984) untersuchen Ausgleichsprozesse zwischen Ortsdialekt und (Regional-)Standard in je einem dänischen (Vinderup) und einem nord-schwedischen Dorf (Burträsk) und kommen zu dem Schluß, daß diejenigen Merkmale am ehesten aufgegeben werden, die nur kleinräumig verbreitet sind. Diese Analyse bestätigt damit auch Schirmunskis Beobachtungen. In seinem Buch Dialects in Contact weitet Trudgill (1986) das umgrenzte Forschungsinteresse an Standard-Dialekt Beziehungen aus und beschreibt im weitesten Sinne "contact between varieties of language that are mutually intelligible at least to some degree" (1). Ausgehend von der Prämisse, daß jede Form von Dialektkontakt auf Akkommodationsprozesse2 zwischen Sprecherinnen in/ace-io-/ace-Konstellationen zurück geht, beschreibt er Kontaktsituationen und die dazugehörigen linguistischen Prozesse, die zur Herausbildung von Mischdialekten (dialect mixture), neuen Dialekten und Koines führen. Als levelling bezeichnet Trudgill eine bestimmte Form von dialect mixture, "implying the reduction or attrition of marked variants" (98, seine Hervorhebung). Dabei referiert 'marked variants' auf "forms that are unusual or in a minority" (98) oder "socially marked" (101, seine Hervorhebung). Diese ungewöhnlichen bzw. kleinräumig verbreiteten Formen werden in Kontaktprozessen abgebaut, wie z.B. bei der Entstehung des New Dialect aus verschiedenen umliegenden Dia-
2
Diese Prämisse leitet Trudgill teils aus der sozialpsychologischen Speech Accommodation Theory (Giles/Taylor/Bourish 1973) und teils aus dem Konzept der Fokussierung bzw. Diffusion von LePage/Tabouret-Keller (1985) ab.
27 lekten in der norwegischen Industriestadt H0yanger oder bei der Herausbildung des Fidji Hindi als das 'transplantierte' Hindi auf den Fidjis. Umgekehrt bleiben "forms with the widest geographical (and social) usage" erhalten. Zusätzlich zur demographischen und dialektgeographischen Markiertheit einer Variante führt Trudgill auch die linguistische Markiertheit und die Natürlichkeit einer Variante ("how natural it is", 102; seine Hervorhebung) an. Am Beispiel des Fidji Hindustani weist er nach, daß im Ausgleichsprozeß oft die kürzeste Form3 oder die nicht-nasalierte statt der nasalierten Form beibehalten wird; hier setzen sich somit die phonologisch natürlicheren Varianten durch. Für andere Entwicklungen scheint es "no obvious explanation at all" (102) zu geben. Die Unterscheidung zwischen 'marked' und 'unmarked variants' läßt sich mit Schirmunskis (1930) primären und sekundären Merkmalen gleichsetzen. Ohne auf Schirmunski zu referieren, führt Trudgill die vergleichbare Distinktion zwischen salienten und weniger salienten Merkmalen ein. Saliente Merkmale sind u.a. durch Stigmatisierung und/oder größere phonetische Distanz zum Standard gekennzeichnet. Als zweiten Prozeßtyp in einem Dialektkontakt führt Trudgill simplification ein. Während levelling zu einer Reduktion der Variation und der Varianten führt, kommt es durch simplification zur Entstehung von "new or interdialect forms that were not actually present in the initial mixture but developed out of interaction between forms that were present" (Trudgill 1989: 244). Die neuen Formen sind oft "more regular than their predecessors" (ebd.). Die bislang theoretisch und empirisch umfangreichste Untersuchung zum Dialektausgleich hat Hinskens (1992) mit seiner Arbeit über die Dynamik limburgischer Dialekte vorgelegt. In einer ersten Begriffsklärung unterscheidet er zwischen intersystemischer und intrasystemischer Variation (29f.). Dabei bezieht sich erstere auf die Variation zwischen Systemen oder Varietäten, wie sie infolge von Sprach- oder Dialektkontaktsituationen entsteht. Im Gegensatz dazu ist die intrasystemische Variation nicht kontaktinduziert, sondern auf interne Entwicklungen und Tendenzen wie z.B. Sprachwandel (im junggrammatischen Sinne) zurückführbar. In der Empirie lassen sich die beiden Variationstypen schwer oder gar nicht trennen. In diesem Modell wird Dialektausgleich allgemein als die Reduktion der dialektgeographischen Variation aufgefaßt. Hinskens (1992: 20-28) stellt drei Hypothesen auf, die er in seiner Arbeit überprüft: 1. Dialect levelling is a two-dimensional process. 2. Dialect levelling proceeds gradually. 3. Dialect levelling is foreshadowed in accomodation. Als zweidimensionaler Prozeß kann sich Dialektausgleich sowohl auf der 'vertikalen' Standard-Dialekt-Achse als auch auf der 'horizontalen' Dialekt-Dialekt-Achse manifestieren. Ausgleich auf der Standard-Dialekt-Achse führt zur Herausbildung einer "partly de-dialectalized variety" (21), die durch steigenden Gebrauch und Durchsetzung zu einer Umgangssprache oder einer "regional variety of the Standard language" (22) avancieren kann. Auch Hinskens faßt dialect levelling damit als eine Form von Dialektabbau ("process of structural dialect loss", 21) auf, d.h. ein Basisdialekt verliert seine Eigenschaften zugunsten einer regionalen Umgangssprache und kann im Zuge weiter fortschreitenden Dialektabbaus auch ganz ver3
Vgl. dazu auch Lüdtke (1980).
28 schwinden. Diese Umgangssprache wird damit im Sinne von Munske (1983) oder Bellmann (1983) als ein Mischungs- und Kontaktprodukt zwischen Dialekt und Standard verstanden. Als theoretische Möglichkeit und relevant für die Untersuchung der letzebuergeschen Dialekte muß jedoch auch damit gerechnet werden, daß trotz der Herausbildung einer Umgangssprache zwischen Dialekt und Standardsprache der Basisdialekt erhalten bleiben kann. Es kann dann entweder zu einer (individuellen) Binnendiglossie zwischen Basisdialekt und Umgangssprache oder zu einer Aufteilung der Sprachgemeinschaft in Dialektsprecherinnen, Umgangssprachesprecherinnen und Standardsprecherinnen kommen. Der Dialektausgleich zwischen benachbarten Dialekten kann zwar auch in eine Umgangssprache münden, darüber hinaus aber auch zur Entstehung einer neuen Varietät, die als "a koine in the form af a regional dialect characterized by supralocal dialect variants" (22) bezeichnet wird. Bei diesem Ausgleich spielt der Einfluß der Standardsprache nur eine geringe Rolle. Vielmehr entstammen die Merkmale dieser neuen Varietät aus den am Kontakt beteiligten Dialekten. Oft kommt es im innerdialektalen Ausgleich zu einer Abnahme von kleinräumigen zugunsten größerräumiger Dialektvarianten (464). Die beiden Typen des Dialektausgleichs können auch unabhängig voneinander auftreten. Laut Hinskens (1992: 460ff.) ist dies für das limburgische Untersuchungsgebiet der Fall, da sich dort auch linguistische Variablen finden, deren Dynamik ausschließlich durch den Kontakt zwischen Dialekten und nicht durch Standardeinfluß bestimmt ist. Hypothese 2 besagt, daß Dialektausgleich sowohl extralinguistisch als auch linguistisch graduell verläuft. Demnach vollzieht sich der Ausgleich in der scheinbaren Zeit zwischen verschiedenen Altersstufen, im geographischen Raum und in den verschiedenen linguistischen Kontexten. Durch Hypothese 3 wird zum Ausdruck gebracht, daß sich Dialektausgleich in Akkommodationsprozessen ankündigt. Damit spielen diaphasische und diastratische Aspekte eine Rolle. So ist überregionale Kommunikation durch eine Reduktion von Dialektmerkmalen gekennzeichnet.
3.1.3
Koineisierung
In den Beschreibungen der luxemburgischen Linguistinnen steht der Begriff 'Κοϊηέ' im Mittelpunkt. Ebenso wie unter den luxemburgischen Autorinnen herrscht auch in der neueren Literatur zur Koin6forschung kein Konsens über das tatsächliche Wesen und die Herausbildung einer solchen Varietät. Der Begriff selbst leitet sich von der klassisch-griechischen koirie glössa ab, die als Mischungsprodukt zwischen verschiedenen griechischen Dialekten angesehen wird und zur offiziellen Sprache des mazedonischen Reiches avancierte (Mesthrie 1994). Im neueren Gebrauch des Terminus können mindestens zwei Bedeutungen festgestellt werden: (1) (2)
Koine als Synonym für 'Gemeinsprache' oder 'Lingua Franca' Koine als stabiles Mischungsprodukt entstanden im Dialektkontakt
29 Die erste Verwendungsweise findet sich häufig in der Literatur und wurde z.B. auch von Engelmann (1910a) für die Dynamik des Letzebuergeschen angenommen. In seinem Überblick kritisiert Siegel (1985: 362) diese Verwendungsweise zu Recht, da sie "too broad" sei und das zentrale Konzept, die Dialektmischung, vernachlässige. Seine Definition, die sich an der Bedeutung (2) orientiert, berücksichtigt daher sowohl die soziolinguistischen als auch die linguistischen Aspekte einer Κοίηέ. Thus, a koine is the stabilized result of mixing of linguistic subsystems such as regional or literary dialects. It usually serves as a lingua franca among speakers of the different contributing varieties and is characterized by a mixture of features of these varieties and most often by reduction or simplification on comparison. (Siegel 1985: 363)
Es ist zwischen Regionalkoines und Immigrantenkoines zu unterscheiden. Erstere entstehen durch den Dialektkontakt in dem Gebiet, in dem auch die Ausgangsdialekte gesprochen werden (Beispiel: griechische Koine). Bei letzteren werden die beteiligten Varietäten in neue Regionen 'transplantiert', wie es in der Kolonialzeit oft geschehen ist. Große Sprecherinnengruppen von verwandten Varietäten treten in der neuen Umgebung in Kontakt, und es kommt zur Entstehung einer Immigrantenkoine (Beispiele: israelisches Hebräisch, hawaianisches Japanisch, australisches Englisch). Sowohl für die Regionalkoine als auch für die Immigrantenkoine ist Deregionalisierung das entscheidende Merkmal. Eine Koine besitzt keine regionenspezifischen Eigenschaften und dient fortan als Medium der überregionalen Kommunikation. Mit Siegel (1985) können bei der Herausbildung einer Koine ('Koineisierung') mehrere Stadien unterschieden werden. Das erste Stadium, das 'Präkoinestadium', ist durch eine erhöhte Variabilität gekennzeichnet: "A continuum exists in which various forms of the varieties are used concurrently and inconsistently." (Siegel 1985: 373). Im zweiten Stadium stabilisieren sich die Verhältnisse (stabilized koine): "Lexical, phonological, and morphological norms have been distilled from the various subsystems in contact, and a new compromise subsystem has emerged" (ebd.). Im nächsten Stadium kann es zur Entstehung einer expanded koine kommen. Die Koine bildet eine komplexere Morphologie und ein reicheres Lexikon aus und kann dann auch die Funktionen einer Standardvarietät übernehmen und gegebenenfalls ein Schriftsystem entwickeln (Beispiel: das Serbische/Kroatische). Im letzten Stadium kommt es zur Nativisierung der neuen Varietät (nativized koine), die nun auch im kindlichen Spracherwerb erworben werden kann (Beispiel: klassisch-griechische Koine). Im Kern der Diskussion um die Koineisierung steht m.E. die Dynamik der linguistischen Form der Ausgangsdialekte und der Κοίηέ. Als herausragendes Merkmal wird immer wieder die im Vergleich zur Ausgangslage reduzierte Komplexität und vereinfachte Struktur einer Koine genannt.4 Hock (1991: 488f.) führt eine weitere Konkretisierung ein, indem er von 'selektiver Vereinfachung' spricht. Demnach findet die Vereinfachung nur für diejenigen Merkmale statt, in denen sich die beteiligten Dialekte/Sprachen am stärksten unterscheiden. So werden z.B. die komplexen Tonsysteme der einzelnen Bantu-Dialekte in den Koines 'Swahili' oder 'Lingala' durch ein rigides Akzentsystem ersetzt (Betonung auf der Pänulti-
4
Vgl. Siegel 1985, Trudgill 1986, Hock 1991: 485-491, Mesthrie 1994, Kerswill 1994.
30 ma). Es wird zu prüfen sein, ob sich in der Dynamik der letzebuergeschen Varietäten diese Tendenzen ebenfalls feststellen lassen. Koineisierung ähnelt dem Dialektausgleich. Trotz der Gemeinsamkeit können die beiden Begriffe nicht gleichgesetzt werden: Dialektausgleich kann zusätzlich auf der Standard/Dialekt-Dimension stattfinden, muß nicht zu Vereinfachung und Reduktion führen und auch nicht zur Entstehung einer neuen Varietät (vgl. Hinskens 1992: 14f.). Im Gegensatz zum Dialektausgleich ist eine Koine eine sowohl funktional als auch linguistisch abgrenzbare, stabile Varietät, die (meist) einen Sprachnamen hat und deren linguistische Normen beschreibbar sind.5
3.1.4
Konvergenz und Divergenz/Fokussierung und Diffusion
Die Begriffe 'Konvergenz' und 'Divergenz' sowie 'Fokussierung' und 'Diffusion' weisen große Ähnlichkeit mit den bereits besprochenen Konzepten auf und bezeichnen oft die Prozesse, die im Dialektausgleich oder in der Koineisierung ablaufen. Ursprünglich aus der Sozialpsychologie stammend (Akkommodationstheorie) bezieht sich Konvergenz auf die gegenseitige, sprachliche Annäherung von zwei Sprecherinnen in einer Kommunikationssituation, um eine höhere soziale Integration zu erzielen. Entsprechend stellt Divergenz das Gegenteil dar: sprachliche Abkehr vom Gegenüber (vgl. Giles/Taylor/Bourhis 1973). In die Soziolinguistik ist das Begriffspaar in einer leicht veränderten Bedeutung übernommen worden. Konvergenz kann sich hier sowohl auf Idiolekte als auch auf ganze Varietäten ('Varietätenkonvergenz') beziehen. Weiterhin bezeichnet Konvergenz oft nicht die beiderseitige Annäherung von Idiolekte n/Varietäten, sondern nur die einseitige Annäherung; mit Mattheier (1996) wäre dieser Vorgang im Terminus 'Advergenz' adäquater zu fassen. Die Begriffe 'Fokussierung' und 'Diffusion' wurden in der Kreolistik geprägt (LePage/ Tabouret-Keller 1985). In Sprachkontaktsituation werden alte Normensysteme durch neue Varianten erweitert und in einem graduellen Prozeß in eine neue Norm überführt, die Ausdruck des Selbstverständnisses der Sprachgemeinschaft wird. Aus sogenannten diffuse varieties, die sich durch eine hohe Variabilität auszeichnen, kristallisieren sich allmählich linguistische Formen heraus, die sich quantitativ im Gebrauch der Sprachgemeinschaft durchsetzen: Die Varietät bzw. ihre Sprecherinnen 'fokussieren' auf eine neue Gebrauchsnorm. Es ist evident, daß diese Variantendynamik große Ähnlichkeit mit dem Dialektausgleich aufweist. In beiden Prozessen können sich Kontaktvarietäten aneinander angleichen. Die Fokussierung beinhaltet darüber hinaus noch den Begriff der 'Identität', denn die Varietät, auf die die Sprachgemeinschaft fokussiert (hat), besitzt oft einen hohen Symbolwert. Milroy (1982) und Milroy/Milroy (1985) haben ein mit der Fokussierung vergleichbares Konzept vorgeschlagen: phonological normalization. In ihren Untersuchungen zur Stadtsprache von Belfast stellen die Autoren fest, daß Fokussierung auf ein bestimmtes Variantenset
5
Trudgill (1989: 244) geht eigene Wege, indem er koineisation als Oberbegriff für levelling und simplification ansetzt; zur Kritik an diesem Modell vgl. Hinskens (1992: 16-19).
31
oft von einer phonologischen Vereinfachung begleitet ist: " A characteristic of this process is phonological simplification - reduction of allophony or loss of low-level rules and constraints on rules" (Milroy 1982: 42). Nach Meinung der Autoren ist die Phonologie der Dialekte durch ein hohes Maß an Koartikulation und Allophonie gekennzeichnet, wodurch der einzelne Sprachlaut keine feste ('normierte'), sondern eine kontextsensitive Ausprägung erhält. Im Prozeß der Normalisierung, der stellenweise mit standardization gleichgesetzt wird, geht der Einfluß, den die lautliche Umgebung auf Sprachlaute ausübt, zurück und es kommt zur Etablierung von stabilen Phonemrealisierungen. Im Entwurf der Milroys ist Normalisierung damit nicht nur ein soziolinguistischer Begriff, sondern beinhaltet ebenso eine linguistische Implikation, die sich auf das Vorhandensein oder die Abwesenheit kontextueller Einflüsse begründet: "Vernaculars maintain allophony, and standardization reduces it" (Milroy 1982: 42) oder: "Working-class speech (even when it is careful speech) is rich in low-level phonological variation; middle-class speech appears to suppress this variation" (Milroy 1982: 46). Im Verlauf dieser Untersuchung wird sich die Gelegenheit ergeben, diese These zu überprüfen.
3.2
Ein Modell der Dialektphonologie
In der Diskussion der variationslinguistischen Konzepte wurde bislang nicht darauf eingegangen, auf welche Art Prozesse wie Dialektausgleich und Koineisierung ablaufen: Es muß expliziert werden, welche phonologischen Ebenen von Veränderungen betroffen sind und welche phonologischen Methoden und Beschreibungsverfahren geeignet sind, die Variation dynamisch zu modellieren. Ziel ist es, linguistische (Teil-)Systeme miteinander in Beziehung zu setzen und die Auswirkungen von Sprach- bzw. Dialektkontakt in seiner historischen und geographischen Dynamik zu verfolgen. Im Mittelpunkt der Empirie stehen daher die einzelnen Varianten, deren 'Schicksal' untersucht werden soll. Doch darf dieser Bezug auf die (phonetische) 'Oberfläche', auf die 'parole', nicht zu einer reinen Darstellung der Daten führen, bei der die aus den Varianzmustem ableitbaren phonologischen Implikationen vernachlässigt werden. Vielmehr gilt es, die strikte Trennung zwischen 'substanzbasierter' (Hjelmslev 1974), 'naturwissenschaftlicher' Phonetik (Trubetzkoy 1939) und 'formbasierter', 'geisteswissenschaftlicher' Phonologie teilweise aufzuheben und die beiden Bereiche füreinander durchlässig zu machen. Angestrebt wird eine kontinuierliche Überprüfung phonologischer Behauptungen mit der phonetischen Realität und vice versa.6 Im folgenden werden die für die Analyse der Varietäten- und Variantendynamik des Letzebuergeschen relevanten phonetischphonologischen Aspekte überblicksartig vorgestellt und mit den variationslinguistischen Konzepten aus 3.1 in Beziehimg gesetzt. Sprachliche Variation auf phonetisch-phonologischer Ebene bedeutet für die generative Phonologie (bislang) nur zu einem kleinen Teil soziolinguistisch oder varietätenlinguistisch
6
Zum Verhältnis zwischen Phonetik und Phonologie vgl. Tillmann/Günther (1986), Dressler/Moosmüller (1991).
32 bedingte Varianz. Herkömmlicherweise umfaßt 'Variation' hier vor allem grammatische Variation, die mit Hilfe formaler Beschreibungsmethoden erfaßt wird. Die Grenzen zu Morphologie und Syntax sind dabei teilweise verschwommen.7 Im Interessenspektrum der generativen Phonologie können fünf Variationsbereiche unterschieden werden: Variationsbereich
Beispiele
1. 2. 3. 4. 5.
Flexion, Derivation Akzentzuweisung, Sandhierscheinungen Allophonie,8 Allegroprozesse, Sprechstile Lautwandel Dialektverschiedenheit, Soziolekte
morphologische und morphophonologische Varianz prosodische Variation postlexikalische Variation historische Variation soziolinguistische Variation
Die soziolinguistische Variation wurde in der generativen Phonologie vor allem deswegen stiefmütterlich behandelt, weil das Vorkommen von z.B. regionalen oder soziolektalen Varianten nur bedingt lautlich-grammatisch, sondern im weitesten Sinne außersprachlich motiviert zu sein schien. In jüngerer Zeit konnte gezeigt werden, daß sich gerade in der Dynamik von Varietäten phonologische Prozesse analysieren lassen, die sowohl sprachlich als auch außersprachlich bedingt sein können. Wenn innerhalb der generativen Phonologie Variation beschrieben wird, so werden oft zwei Varietätenmonolithe einander gegenübergestellt und mit Regelkomplexen verbunden. Dies ist z.B. der Fall in Rennisons (1981) 'bidialektaler Phonologie' oder in Wurzeis (1976) 'Adaptionsregeln'. In diesen Modellen werden die phonologischen Strukturen der Standardsprache aus dem Dialekt (oder umgekehrt) abgeleitet. Soziolinguistische Kriterien bleiben größtenteils außen vor. In Abb. 3.1 findet sich ein solches monolektales Modell, wie es in der 'lexikalischen Phonologie' entwickelt wurde.9 Die Grundarchitektur besteht aus drei Ebenen ('Strata'), die auf unterschiedliche Weise miteinander verknüpft sein können. Bei der Ableitung eines Wortes werden die drei Ebenen durchlaufen, auf denen jeweils spezifische Operationen stattfinden. Auf der prälexikalischen Ebene werden das Inventar der Sprachlaute und deren kombinatorische Möglichkeiten festgelegt. Die Sprachlaute sind redundanzfrei durch distinktive, phonologische Merkmale repräsentiert, um alle phonologischen Oppositionen ausdrücken zu können. Eventuelle allophonische Differenzierungen werden auf späteren Ebenen eingeführt. Weiterhin geben phonotaktische Beschränkungen an, welche Silben- oder Wortstrukturen in dieser Sprache zulässig oder unzulässig sind; sie werden durch 'positive' bzw. 'negative Silbenstrukturbeschränkungen' ausgedrückt (vgl. Itö 1988). Die Bezeichnung 'prälexikalisch' leitet sich aus der Tatsache ab, daß auf dieser Ebene keine lexikalischen oder morphologischen Grenzen/Prozesse auf die phonologischen Segmentketten einwirken. Auf dieser Ebene operieren Redundanzregeln, die "sowohl die paradigmatischen als auch die syntagmatischen Kookkurrenzbeziehungen zwischen phonologischen Merkmalen und Lauten erfassen" (Auer 1993a: 5). Diese Regeln besagen z.B., daß im StD alle hinteren Vokale ge-
7 8
9
Vgl. Vennemanns (1983: 8) Diktum, daß generative Phonologie eigentlich reine Morphologie sei. Unter 'Allophonie' sei hier die Auffüllung von lexikalisch-phonologisch redundanten Merkmalen verstanden, wie z.B. die Aspiration der Plosive im Deutschen. Zur Lexikalischen Phonologie vgl. Mohanan 1986, Kenstowicz 1994; eine Übertragung auf das Deutsche unternahm Wiese 1988.
33
prälexikalische Ebene • Inventar der Sprachlaute • Phonotaktik
lexikalische Ebene Morphologie phonologische Regeln
Lexikon
1
postlexikalische Ebene • Anpassung an phonetische Realität (Allegroprozesse, Lenierungen ...)
Abb. 3.1 Monolektales Modell der phonologischen Ableitung
rundet sind u.a. Sie wirken meist als natürlich-phonologische Forderung und maximieren dadurch den perzeptiven Kontrast zwischen Sprachlauten. Auf der lexikalischen Ebene finden alle phonologischen Prozesse statt, die durch die morphologischen Operationen von Flexion und Wortbildung hervorgerufen werden. Dazu werden die zugrunde liegenden Lexikoneinträge aus dem 'Lexikon' abgerufen. Im Lexikon sind die Einträge in einer semantisch-logischen und einer phonologischen Struktur mental repräsentiert. Auf dieser lexikalischen Ebene operieren vor allem phonologische (besser: morpho-phonologische) Regeln, die z.B. die Umlautung in der Pluralbildung oder Derivation des Deutschen oder die Wortakzentzuweisung in Komposita regeln. Die Ausgabe der lexikalischen Ebene sind Sequenzen von Sprachlauten. Auf der postlexikalischen Ebene schließlich werden diese Sequenzen an die phonetische Realität 'angepaßt'. Die binären, distinktiven Merkmale werden in graduelle, phonetische Parameter umgeformt. Dabei können die Grenzen zwischen den einzelnen Sprachlauten aufgehoben werden. Besonders morphologische Grenzen stellen hier für phonologische Prozesse keine Blockierung mehr dar. Die Ausgabe dieser Ebene entspricht der tatsächlich produzierten Äußerung. Hier kann es je nach den Bedingungen der Kommunikationssituation zu Allegroprozessen wie z.B. Kürzungen, Assimilationen oder Tilgungen kommen. Im Rahmen der 'natürlichen Phonologie' (Donegan/Stampe 1979, Dressler 1985) handelt es sich bei letzteren um 'lenitions', um 'Lenierungen', die die artikulatorische Komplexität einer Äußerung reduzieren; sie stellen für die Sprecherin/den Sprecher eine Vereinfachung dar. Treten Lenierungen überwiegend in schnellen Sprechtempi und in Situationen großer kommunikativer Nähe auf, so finden sich in Situationen von kommunikativer Distanz 'fortitions', 'Fortierungen', die zu einer erhöhten Artikulationsgenauigkeit beitragen und die Verständlichkeit des Gesagten steigern. Demnach sind Fortierungen als hörerinnenorientiert anzusehen, während Lenierungen sprecherinnenorientiert sind. Mit einem solchen Modell kann nicht nur die
34 Phonologie einer Einzelsprache adäquat beschrieben werden, sondern es kann auch dazu dienen, die Prozesse, die im Kontakt zwischen Sprachen/Dialekten auftreten, zu charakterisieren. Dazu ist es notwendig, die vertikale Dimension der Phonologie um die horizontale Dimension des Sprachkontakts zu erweitern. Abb. 3.2 zeigt schematisch den Kontakt der phonologischen Systeme zweier Sprachen. Die sprachtypologische Distanz zwischen den Sprachen ist durch zwei getrennte Systeme dargestellt. Je nach der Intensität können im Sprachkontakt alle phonologischen Ebenen involviert sein. Für die vorliegende Untersuchung ist ein Spezialfall der allgemeinen Kontaktsituation relevant, nämlich der Kontakt zwischen eng verwandten Dialekten (Abb. 3.3). Im Dialektkontakt überschneiden sich die phonologischen System teilweise. Die beteiligten Dialekte weisen teilweise die gleichen Sprachlautinventare SpracheA
Spracheg
prälexikalische Ebene • Inventar der Spraciilaute
prfllexikalische Ebene • Inventar der Sprachlaute • Phonotakük
lykajische Ebene ! Morphologie ' phonologische Regeln
lexikalische Ebene S Morphologie !• phonologische Regeln
postiexikatische Ebene
} J
posModkalische Ebene
' Anpassung an phonetische WirkJichkeit (Al)egroprozesse, Lenierungen...)
• Anpassung an phonetische Wirklichkeit (Allegroprozesse. Lenierungen...)
Abb. 3.2 Kontakt der phonologischen Systeme zweier Sprachen DialektA
Dialekte
prälexikalische Ebene
lexikalische Ebene phon. Regeln
Abb. 3.3 Phonologische Systeme zweier Dialekte im Kontakt
Lexikon |/abc/ /der/
I
35 auf, die phonologischen Regeln und das Lexikon sind sich ähnlich, und auch die postlexikalischen Prozesse bilden eine Schnittmenge. Dabei bestimmt die Größe der Schnittmenge den Grad der Ähnlichkeit zwischen den Dialekten. Prinzipiell kann mit diesem Modell auch der Kontakt zwischen einer Standardsprache und einem Dialekt abgebildet werden (vgl. Auer 1990, 1993a). In der Analyse von Kontaktsituationen ist die Dynamik der einzelnen phonologischen Ebenen zu überprüfen. Es kann hier zur Aufgabe, Neueinführung oder Veränderung von (prälexikalischen) Redundanzregeln sowie morphonologischen und/oder postlexikalischen Regeln kommen. In den Arbeiten von Dressler/Wodak (1982), Moosmüller (1987) und Auer (1990) wurde festgestellt, daß noch ein weiterer Regeltyp notwendig ist, der zwischen den Kontaktvarietäten vermittelt. Je nach Intensität des Kontaktes bzw. nach Kompetenz in den beteiligten Varietäten stellen die Sprecherinnen Beziehungen zwischen Morphemen/Lexemen her, die nur unzureichend mit einer formalen Regel beschrieben werden können. Wenn einE Sprecherin sowohl Dialekt als auch Standard beherrscht, so wird sie/er die Lautung von bestimmten Lexemen der einen Varietät der Lautung der anderen Varietät gegenüberstellen. Zwischen der Dialekt- und der Standardlautung vermittelt somit eine 'Korrespondenzregel' (Auer 1990; bei Dressler/Wodak 1982 'input switch rule')· Korrespondenzregeln beziehen morphologische Formen (Morpheme, aber auch Wörter) aufeinander. Sie können oft nicht über die atomistische Zusammengruppierung von Einzelpaaren von Morphemen oder Wörtern hinaus generalisiert werden. Insbesondere sind aufgrund von lexikalischen Umbesetzungen, Phonemzusammenfall und Phonemtrennung ('split') keine Regeln möglich, mittels derer sich die Standard- oder Dialektstrukturen aus der jeweils anderen Varietät generieren ließen. (Auer 1993a: 9)
So existiert z.B. in der Konstanzer Stadtsprache eine Korrespondenzregel, die das Vorkommen von gerundeten Vordervokalen im standardnahen Bereich des Repertoires regelt und sich als Tendenz beschreiben läßt: "[D]em i im Dialekt entspricht manchmal ein ü im Standard" (Auer 1990: 274). Eine schöne Beschreibung einer Korrespondenzregel hat eine Informatin der vorliegenden Untersuchung gegeben. In Bezug auf die s-Palatalisierung, die sie in besonders vielen Kontexten anwendet, gab sie an: "Ich sage oft sch für s." Da sich Korrespondenzregeln nur bedingt auf Lautgruppen beziehen und ihnen also die Generalisierbarkeit einer phonologischen Regel ermangelt, müssen die Korrespondenzen für jedes Wort eigens gelernt werden. Die durch Korrespondenzregeln hervorgerufenen Tendenzen können dazu führen, daß Kovarianz10 zwischen den beteiligten Formen entsteht, die den Beginn von sprachlichen Wandel signalisieren. Als Folge von Dialektabbau kann eine Korrespondenzregel ihre Produktivität einbüßen. Die ehemalige Lautung ist rlann nur noch in wenigen Lexemen vorhanden, und es kommt zu Lexikalisierungen oder Reliktwortbildung. Ein Beispiel hierfür sind die drei Wörter mit unverschobenem t des Rheinischen (dat, wat, et). Die Lautungen von lexikalisierten Lexemen weisen weder in diachroner noch synchroner Hinsicht Zusammenhänge mit vergleichbaren Lexemen auf und werden als 'Ausnahmen' im (menta-
10
Unter 'Kovarianz' sei hier das 'ungeregelte' parallele Vorkommen von zwei Varianten in einem Idiolekt oder einer Varietät verstanden.
36 len) Lexikon gespeichert. Trotz ihrer Seltenheit können sie als Dialektmarker fungieren ('primäres Dialektmerkmal'). Mit Hilfe der vier Regeltypen • • • •
Redundanzregel lexikalisch-phonologische Regel postlexikalische Regel Korrespondenzregel
ist es möglich, nicht nur die Dynamik zwischen Standard und Dialekt(en) zu erfassen. Vielmehr erlaubt es ein solches zweidimensionales Modell auch, Kontaktbeziehungen zwischen einzelnen Dialekten zu untersuchen. Eine empirische Voraussetzung hierfür ist, daß zwischen den beteiligten Varietäten bzw. ihren Sprecherinnen ein ausreichend intensiver Kontakt besteht. Es muß also gewährleistet sein, daß in den beteiligten Varietäten ein 'Wissen' um Merkmale der jeweils anderen Varietät existiert. Es würde wenig Sinn machen, die Dialekte 'Bairisch' und 'Moselfränkisch' durch prälexikalische oder gar Korrespondenzregeln in Beziehung zueinander zu setzen, da es keinen (varietären oder dialektgeographischen) Kontakt zwischen ihnen gibt. Im Fall der relativ kleinen luxemburgischen Dialektlandschaft kann vorausgesetzt werden, daß viele Sprecherinnen aus den einzelnen Regionen in ausreichendem und intensivem Dialektkontakt stehen, so daß die phonologischen Beziehungen des skizzierten zweidimensionalen Modells darauf angewendet werden können. Abb. 3.4 veranschaulicht den Prozeß 'Dialektausgleich' in einem zweidimensionalen Modell. Die kurzen horizontalen Pfeile deuten die Reduktion der arealen Variation an. Dadurch werden die Schnittmengen der sprachlichen Merkmale von DialektA und DialektB größer, d.h. ähnlicher. Diese Veränderungen werden sich auf den einzelnen phonologischen Ebenen der Kontaktvarietäten in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß manifestieren. Es kann davon ausgegangen werden, daß die prälexikalische und postlexikalische Ebene von eng verwandten Dialekten weitgehend identisch ist. Die meisten Veränderungen DialektA
•
Dialekte
prälexikalische Ebene
Α
Β
Abb. 3.4 Schematische Darstellung eines Dialektausgleichs in einem zweidimensionalen Modell
37 Dialekt.
Dialekt,
prtlexikalische Ebene
lexikafache Ebene
Ck,
Κοϊηό prfllexikaiische Ebene • Inventar der SpracWaute
poetleBkafecfle Ebene
• Phonotaktik
lexikalische Ebene {Morphologie {· phonologische Regeln t
J
Lexikon
Τ
Τ
l~J
i
postfexjkaiische Ebene * Anpassung an phonetische Wirklichkeit (AHegroprozesse, Lenierungen ...)
Abb. 3.5 Schematische Darstellung von Koineisierung in einem zweidimensionalen Modell dürften sich somit im Bereich der lexikalischen Ebene vollziehen. Abb. 3.5 zeigt die Modellierung einer Koineisierung. Hier entsteht im Kontakt zwischen zwei verwandten Dialekten eine neue, stabile Varietät. Da die Κοίηέ durch eine Merkmalsmischung gekennzeichnet ist, die nicht dem Überlagerungsbereich zwischen den ursprünglichen Dialekten entspricht, ist sie im Modell durch ein eigenes phonologisches System repräsentiert. Im Hauptteil der Untersuchung, in Kapitel 5, wird die Dynamik der Varianten hinsichtlich ihrer Lokalisierung auf den phonologischen Ebenen und hinsichtlich ihrer Einordnung in die variationslinguistischen Konzepte überprüft werden.
3.3
Vorstellung weiterer phonologischer und phonetischer Konzepte
Abschließend werden einige der phonologischen und phonetischen Konzepte vorgestellt, die in dieser Untersuchung Anwendung finden: Nicht-lineare Phonologie und akustische Phonetik.
3.3.1
Grundprinzipien der nicht-linearen Phonologie
Grundlegend für diese phonologische Theorie ist der Ausbau der linear-segmentell organisierten SPE-Phonologie (Chomsky/Halle 1968) in eine hierarchische non-lineare Architektur. Ausgelöst durch die 'Wiederentdeckung' der 'Silbe' in der generativen Phonologie werden auch die einzelnen Merkmale von Segmenten auf unterschiedlichen phonologischen
38 Ebenen (tiers) repräsentiert (Clements/Keyser 1983, Harris 1994, Kenstowicz 1994). Die Verbindungen der Ebenen geschieht durch festgelegte Assoziationsprinzipien, die in den graphischen Darstellungen als die Linien der Baumdiagramme erscheinen (Assoziationslinien). Die Motivation für Assoziationslinien ist aus Beobachtungen entstanden, daß phonologische Regeln oder Prozesse nicht ausschließlich auf Segmente oder distinktive Merkmale zugreifen, sondern auch größere Einheiten wie z.B. die Silbe, den phonologischen Fuß oder das prosodische Wort betreffen. Im Entwurf der Silbenphonologie von Clements/Keyser (1983) werden drei Repräsentationsebenen unterschieden. Unterhalb der 'Silbenebene' setzen sie die CV-Ebene und - abhängig von dieser - die Melodieebene an. Die CV-Ebene besteht aus abstrakten Positionen für Konsonanten und Vokale und gibt die zeitliche Abfolge der Sprachlaute wieder. Diese Positionen werden durch die Sprachlaute der Melodieebene gefüllt, die sich selbst wiederum aus binären, distinktiven phonologischen Merkmalen zusammensetzen. In diesen Modellen wird Quantität nicht als inhärente Eigenschaft eines Segments aufgefaßt, sondern leitet sich aus der prosodischen Struktur ab. So besetzen kurze Segmente eine Silbenposition (C oder V), während lange. Segmente wie Monophthonge, Diphthong oder Geminaten zwei Positionen einnehmen (VV oder CC). Phonologische Prozesse können auf die unterschiedlichen Ebenen der phonologischen Repräsentation einwirken. So wirken z.B. Vokalepenthesen auf der Silbenebene, während Assimilationen auf der Segmentebene operieren. In diesem Modell gilt grundsätzlich Konstituenz: Elemente der jeweils höheren Ebene setzen sich aus Elementen der tieferen Ebene zusammen. So besteht ein phonologisches Wort (ω) aus einzelnen Silben (σ). Silben bestehen aus einem Onset (O) und einem Reim (R), der sich wiederum in einen Nukleus (N) und eine Coda (C) aufspaltet. ω
A
σ
Κ
σ
κ
Ο R ΟR
ι1 Ν
Ν ΟΝ C
Λ I I I
CVVC V C
I I I I II b αι d 3 π Die letzten Konstituenten (C und V) setzen sich aus den Segmenten/Sprachlauten zusammen, die wiederum durch Bündel distinktiver, phonologischer Merkmale repräsentiert sind. Zur Charakterisierung von Sprachlauten werden die folgenden distinktiven Merkmale verwendet (vgl. Giegerich 1992).
39
Vokale i [consonantal]
0
e
u
Q
-
-
-
-
-
[sonorant]
+
+
+
+
+
[continuant]
+
+
+
+
+
[back]
-
-
+
+
-
[high]
+
-
-
+
-
[low]
-
-
-
-
+
[round]
-
-
+
+
-
Konsonanten m n
η
ρ
t | k [ b
d
g
+
+
+
+ +
[consonantal]
+
+
+
[sonorant]
+
+
+
[continuant] [anterior] [coronal]
+
+
s
jJ
χ
ν
ζ
3
j1
+
+
+
+
+
+
+
-
-
+ -
f
+
+ + + + - +
- + - -
+ + -
+
+
+
+
+
+
- + - -
+
+
+
+ +
+
-
+
j | ·»
+ -
- +
+ + - + + +
[strident]
R
+
+ +
+
+ -
+ -
+
+
-
+
-
+
-
-
-
-
-
-
-
-
+
+
+
[high] [low] [back]
.
.
+
[tense]
+
+
+ -
-
+
+
+ -
- -
. _
+
. .
-
+
+ +
_ -
- -
+ -
-
- -
- -
-
- -
+
- +
+
- -
_ + -
[voice] [nasal]
- -
-
[lateral]
3.3.2
Grundlagen der akustischen Phonetik
Der Einsatz akustisch-phonetischer Untersuchungsverfahren in der Soziolinguistik im allgemeinen und in der Dialektologie im besonderen hat eine längere Tradition, die ca. 20 Jahre nach dem Aufkommen der phonetischen Spektrographie in den späten 40er Jahren begann. Vor allem Labov setzte in seinen Untersuchungen zur urban dialectology akustisch-phonetische Meßverfahren ein, um einerseits Unterschiede in der Realisation von Vokalen von Sprecherin zu Sprecherin vergleichen zu können und andererseits die einem gesamten Vokalsystem inhärente Dynamik erfassen zu können.11 Akustisch-phonetische Methoden erlauben es, die Nachteile einer rein ohrenphonetischen Analyse lautlicher Daten aufzuheben, indem z.B.
11
Vgl. Labov (1972, 1991, 1994, 1996), Labov/Yaeger/Steiner (1972). Weitere sprach- bzw. dialektvergleichende Studien existieren u.a. von Delanre (1965), Moosmüller (1997), Lauf (1993), livonen (1987, 1989, 1994a,b), Barry (1986), Aulanko/Nevalainen (1995), Peters (1991), Schouten/Peters (1996), Mettas (1979), Disner (1986), Herrgen/Schmidt (1986).
40 einzelne Vokalrealisierungen einem exakt benennbaren Punkt im Vokalraum zugeordnet und zu anderen Realisierungen in Beziehung gesetzt werden können. In Labovs (1991: 3) Sicht besteht eine general tendency for impressionistic phonetics to be governed by previous expectations: once an utterance is understood, and words are assigned to historical classes, we tend to hear radically divergent phones as slight variants of the phones we are used to. [...] For an accurate view of dialect differences, instrumental analysis is needed, combined with repeated rehearings of comparable forms.
Die artikulatorische Konfiguration bei der Hervorbringung von Sprachlauten führt zur Modulation von akustischen Parametern. Je nach Stellung der Artikulatoren (besonders Zunge, Lippen, Pharynx) verändern sich die akustischen Resonanzverhältnisse im Vokaltrakt. Als akustische Kenngrößen zur Produktion der Vokale gelten die sog. Formanten, die als periodische, spektrale Energiekonzentrationen in bestimmten Frequenzbereichen definiert sind. Sie sind für die Qualität der Vokale verantwortlich.12 Der erste Formant (Fl) ist an die Veränderung des Vokalöffhungsgrades gebunden. Ein relativ hoher Fl signalisiert einen offenen Vokal (α), während ein relativ niedriger Fl für einen geschlossenen Vokal (i, u) steht. Der Wert des Fl beträgt für männliche Sprecher des StD ca. 750 Hertz (Hz) für α und ca. 250 Hz für i bzw. u. Der zweite Formant (F2) steuert die Vokaldimension 'vome ~ hinten', also zwischen den Vokalen der palatalen und der velaren Reihe. Ein relativ niedriger F2 steht für einen hinteren Vokal (D, O, W), ein relativ hoher F2 für vordere Vokale (ε, e, i). Oberhalb der ersten Formanten existieren noch weitere Formanten, deren Einfluß auf die Vokalqualität jedoch eher gering ist. Auch nimmt die Energie in den hohen Frequenzbereichen rapide ab, wodurch der Einfluß dieser Formanten auf die Perzeption verringert wird. Manchmal wird der F3 zur Unterscheidung von i und e herangezogen.13 Die Bestimmung der Formantwerte kann durch verschiedene Methoden erfolgen. Zum einen können die Werte aus einem Spektrogramm/Sonagramm abgelesen werden. Das Spektrogramm für das Wort spät in der unteren Hälfte von Abb. 3.6 gliedert sich in eine von links nach rechts verlaufende Zeitachse und in eine vertikal verlaufende Frequenzachse. Zusätzlich wird die spektrale Energiekonzentration, die einen Formanten auszeichnet, durch den Schwärzungsgrad des Diagrammabschnitts markiert. Damit können in einem Spektrogramm drei Dimensionen dargestellt werden: Zeitverlauf, Frequenzwerte und spektrale Energiekonzentration. Die Formanten eines Vokals manifestieren sich durch dunkle, waagrechte Balken. In Abb. 3.6 sind die Formanten Fl bis F3 gekennzeichnet. Um Einflüsse des vorausgehenden und/oder folgenden konsonantischen Kontexts zu minimieren, wird in der Mitte des Vokals gemessen, was hier durch die vertikale Cursorlinie ausgedrückt ist. Eine einfachere und verfeinerte Meßmöglichkeit gestattet die Kurzzeitspektralanalyse. Hierbei werden über ein Zeitintervall ('Fenstergröße' ca. 10-30ms) die Formantwerte eines Vokals gemittelt und in einer Wellenlinie dargestellt (LPC-Verfahren). Im Spektrum in Abb. 3.7 nehmen die Frequenzwerte von links nach rechts zu, und auf der y-Achse ist die Energie für die jeweilige 12
13
Zum Zusammenhang zwischen dem Formantraum und dem artikulatorischen Raum vgl. Ladefoged/ Harshmann (1979). Zum Einfluß des F3 vgl. Iivonen (1989: 12-15).
41
Abb. 3.6 Oszillogramm und Spektrogramm des Wortes spät mit Markierung der Formanten F l - F3
Frequency (Hz)
Abb. 3.7 Kurzzeitspektrum mit Markierung der Formanten F1-F3 für eine Vokalrealisierung von [a:]
Frequenz abgetragen. Die 'Wellenkämme' geben die Werte für die Formanten an. Für die Vokalmessungen der vorliegenden Studie wurde dieses Verfahren angewendet.14 Durch die Kombination der Werte von Fl und F2 zu einem geometrischen Datenpunkt kann für jeden Vokal seine relative Position im akustischen Vokalraum festgelegt werden. Wird diese Anordnung für alle Vokale eines Sprechers unternommen, so ergibt sich der gesamte akustische Vokalbereich und kann in einer Formantkarte dargestellt werden. In diesen topographischen
14
Die verwendete Software ist in 4.4.3 beschrieben.
42 Darstellungen der Vokalrealisierungen in einem x/y-Diagramm wird die Orientierung der beiden Achsen umgekehrt, um eine Simulation des artikulatorischen Dreiecks zu erreichen. Die Fl-Werte ('Öffhungsgrad') auf der y-Achse nehmen nach unten hin zu; die F2-Werte ('Zungenlage') auf der x-Achse steigen von rechts nach links an. In Abb. 3.8 ist eine Formantkarte für die Monophthonge des StD wiedergegeben.
3000
2500
2000
1500F2 Hz
1000
GERMAN VOWELS (data: RAUSCH 1972) FOUR MALE SPEAKERS (mainly West Middle German?) Abb. 3.8 Formantkarte aus Iivonen (1994: 31), nach Daten von Rausch (1972)
Die Abbildung von Formantmessungen in einer Fl/F2-Matrix, die mit einer linearen Einteilung in Herz arbeitet, bildet lediglich die akustisch-physikalische Realität ab. Diese Darstellung kommt der psycho-akustischen Realität, d.h. der Abbildung eines lautlichen Reizes, z.B. eines Vokals, als perzeptorische Kategorie, nur bedingt nahe. Gerade für die Analyse soziolinguistisch gesteuerter Variationsmuster ist es erstrebenswert, angeben zu können, wann eine Variante als verschieden von einer anderen und wann als identisch wahrgenommen wird. Zur Analyse von Dialektunterschieden ist es daher notwendig, ein Maß zur Verfügung zu haben, das auf die Größe eines tatsächlich perzipierbaren Unterschiedes zwischen Vokalrealisierungen Bezug nimmt. Eine solche Methode sollte es erlauben, relevante und weniger relevante Differenzen zwischen intraindividuellen Vokalqualitäten festzustellen (z.B. zwischen a und a) als auch interindividuelle Vergleiche zwischen denselben Vokalen verschiedener Sprecherinnen/Regionen anzustellen (etwa der Öffhungsgrad von e: oder of). Hierzu ist eine Transformation der physikalischen Daten in lautperzeptiv relevante Einheiten vorzunehmen. In der Psychoakustik (vgl. Zwicker/Feldtkeller 1967, Bladon 1983) ist mit der Einfuhrung der 'Frequenzgruppenskala' ein Konzept bereitgestellt worden, mit dem das frequenzabhängige Lautheitsempfinden im Gehör modelliert werden kann. Denn trotz und neben der hohen Trennschärfe, die das Gehör in die Lage versetzt, über 600 verschiedene Tonhöhen unterscheiden zu können, "besitzt das Gehör die bemerkenswerte Fähigkeit, bestimmte Frequenzgebiete zu Frequenzgruppen zu integrieren" (Zwicker/Feldtkeller 1967: 70). Fre-
43 quenzen innerhalb dieser Frequenzgruppen (Einheit: Bark) werden als gleich (laut) wahrgenommen. Die Umrechnung von Frequenzwerten in Barkwerte erfolgt mit der folgenden Formel (aus Traunmüller 1983): Bark
=
26,81 ^ - 0,53 1960 + f
(für f >
200 He)
Die gehöranaloge Darstellung von Vokalrealisierungen mittels einer Barkskala wurde bereits in mehreren Untersuchungen eingesetzt (vgl. Traunmüller 1983, Lindblom 1986, Iivonen 1994ab, 1995). Nach Iivonen (1995) werden Vokalrealisierungen, die innerhalb der Ausdehnung eines Barks (sowohl für den Fl als auch für den F2) liegen, als zur gleichen Vokalqualität gehörig peizipiert. Oder umgekehrt formuliert: Vokalrealisierungen, die sich im Fl oder F2 mindestens um die Größe eines Barks unterscheiden, werden als Manifestationen zweier verschiedener Vokalqualitäten gehört. Diese Behauptung müßte aber noch mit Hilfe von Perzeptionsexperimenten überprüft und bestätigt werden. Denn neben der kategorialen Identifizierung von Vokalen, auf die die Barkskala Bezug nimmt, muß auch die teilweise feinere Diskriminationsfahigkeit des Gehörs berücksichtigt werden. Es können durchaus auch Frequenzveränderungen, die nur 3-5% betragen und damit unterhalb der Barkschwelle liegen, als Veränderung der Vokalqualität perzipiert werden (Flanagan 1955). Weiterhin wird bei der Sprachperzeption auch auf die top tfown-Kompetenz zurückgegriffen werden: Ist ein Wort erst einmal holistisch im Satzzusammenhang erkannt, so kann eine eventuell vorhandene deutliche Abweichung des Vokals vom erwarteten Vokal die Perzeption unbeeinflußt lassen.15 Lexikalische Faktoren oder das Diskurs wissen können sich so als stärker als die phonetisch-phonologischen Faktoren erweisen.16 Angesichts dieser Kritikpunkte wird in dieser Untersuchung statt der kategorischen Auslegung der Zwickerschen Frequenzgruppenskala, wie sie Iivonen unternimmt, eine gemäßigtere Auffassung vertreten: Für Frequenzänderungen, die größer als ein Bark sind, ist es wahrscheinlich, daß sie im Gehör auch als Qualitätsveränderung des Vokals perzipiert werden. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, daß Vokalrealisierungen, deren Formantwerte sich um weniger als ein Bark unterscheiden, als die gleiche Vokalqualität wahrgenommen werden. Damit ist ein Maß geschaffen, daß dazu beiträgt, vokalische Variation in perzeptiv relevant und perzeptiv weniger relevant einzuteilen.17 Das Konzept der Barkskala kann ebenfalls dazu verwendet werden, einen psychoakustisch motivierten Vokalraum mit den möglichen Vokaltypen zu erstellen. In Anlehnung an Lindblom (1986) hat Iivonen (1995) die folgende Formantkarte erstellt (Abb. 3.9). In diesem idealisierten Vokalraum stellen die Kreise die ein Bark großen Realisationsspannen von 19 Vokaltypen dar.
15
16
17
Zur 'multimodalen Sprachperzeption' vgl. Sendlmeier (1995), der zeigt, daß zur Sprachperzeption auf unterschiedliche linguistische Einheiten (Merkmale, Segmente, Silben, Wörter) zugegriffen wird, zwischen denen es auch zu Gewichtungen und Interaktionen kommen kann. Vgl. auch Vieregges (1992) Differenzierung zwischen 'analytischem' und 'semantischem' Hören bei der phonetischen Transkiption. In der Konsequenz ergibt sich eine interessante Koppelung an das dialektologische Konzept der 'primären' und 'sekundären' Dialektmerkmale (Schirmunski 1930).
44 8**
F1 DIMENSION ENLARGED 60X IN RELATION TO FZ A b b . 3 . 9 Psychoakustischer Vokalraum aus Iivonen (1995: 406)
Obwohl durch die Skalierung mit einer perzeptiv motivierten Barkskala eine tatsächliche Annäherung an das Hörvermögen - und damit an die Diskriminierungs- und Identifikationsfähigkeit - des/der Sprecherin ermöglicht werden kann, wird in Labovs Formantanalysen immer noch die Hertzskala verwendet. Eine Reinterpretation seiner Daten mit Hilfe einer Barkskala könnte zu einer Teilkorrektur seiner Ergebnisse führen.18 Für das Luxemburgische existiert mit Keyser-Besch (1976) eine Formantuntersuchung, mit der einerseits die heutigen letzebuergeschen und andererseits die standarddeutschen Realisierungen verglichen werden können. Keyser-Besch (1976) ermittelte die Frequenzwerte von drei Sprechern (einer aus Luxemburg-Stadt, zwei aus Esch-sur-Alzette) und zeichnete daraus eine Formantkarte, die, transformiert in Barkwerte, in Abb. 3.10 zu sehen ist. Für einen ersten Vergleich ist in Abb. 3.11 eine Formantkarte für das Standarddeutsche eingefügt; die Werte stammen aus Heid et al. (1995) und wurden aus ca. 10000 Vokalen des Deutschen gewonnen. Auf den ersten Blick zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Sprachen: Der Zusammenfall des kurzen und langen α findet sich im Luxemburgischen nicht; hier nimmt a; eine mittlere Position ein, und α ist ca. 1 Bark nach hinten zu den Velarvokalen verschoben. Das kurze ε des Deutschen ist bedeutend geschlossener als das luxemburgische, das den gleichen Öffhungsgrad wie a aufweist. Die langen e: und o: dagegen sind im Deutschen nicht so geschlossenen wie im Luxemburgischen: Diese beiden Vokale fallen hier fast mit i: bzw. u: zusammen.
18
Vgl. auch Iivonen (1994ft), der in seiner Rezension zu Lauf (1993) die gleiche Kritik übt.
F2 (Bark) Abb. 3.11 Formantkarte für die Monophthonge des Standarddeutschen (nach Daten von HEID et al. 1995)
F2 (Bark) Abb. 3.10 Formantkarte für die Monophthonge des Letzebuergeschen (nach Daten von KEYSER-BESCH 1976)
46 Neben einem ansatzweisen Vergleich mit den standarddeutschen Vokalen werden die Methoden der akustischen Phonetik zur Analyse der folgenden phonetischen Variationsphänomene herangezogen: • • • • • • •
relative Positionen der Vokale im Vokalraum Realisationsstreuungen von Vokalen Bestimmungen der Vokalqualität Überlappungen von Vokalklassen interindividueller Vergleich von Vokalrealisierungen relative Abstände zwischen einzelnen Vokalen bei Diphthongen: Grad der Diphthongierung
Die akustisch-phonetischen Analysen werden für ein Subset von 10-16 Sprecherinnen durchgeführt. Zu ihnen zählen die Infh in nachfolgender Übersicht." Region
Sprecherinnen
Norden
Nl, N2, N3, N4
Osten
Ol, 02, 04, 0 6
Süden
SI, S2, S3, S6
Zentrum
Z I , Z2, Z3, Z5
Die Belege sind sämtlich einer Fragebuchaufnahme entnommen, da in diesem Sprechstil der Anteil an Allegroformen gering ist und so explizite Formen vorliegen, die den Erfordernissen einer akustischen Untersuchung genügen. Da die Fragebuchaufnahme für jedeN Sprecherin erhoben wurde, können auch jeweils immer dieselben Lexeme zur Analyse herangezogen werden. Pro Vokaltyp und Sprecherin werden die Formanten Fl und F2 in 5 bis 15 Belegen ausgemessen und der Mittelwert und die Standardabweichung errechnet. Um eine Vergleichbarkeit zwischen Frauen- und Männerstimmen zu erreichen, werden von den Frequenzwerten der Sprecherinnen 13 % subtrahiert.20
19 20
Für eine Übersicht über alle Sprecherinnen des Korpus siehe Tab. 4.2. Zur Motivation dieser Normalisierung vgl. Iivonen 1987.
4
Methodik
Zur Durchführung der Untersuchung zu Dialektveränderungen in Luxemburg sind die folgenden materiellen und instrumenteilen Arbeitsvoraussetzungen notwendig. Es werden die Arbeitshypothese und die daran geknüpften Untersuchungskomplexe formuliert (4.1). Die luxemburgische Dialektlandschaft wird in Dialekt(kem)gebiete eingeteilt (4.2). Aus diesen Gebieten wird das der Untersuchung zugrunde liegende Sample zusammengestellt (4.3). Um eine Klassifizierung und Übersichtlichkeit der linguistischen Variablen und ihrer Varianten zu gewährleisten, wird ein Bezugssystem verwendet (4.4). Abschließend werden in einem Überblick die Variablen und ihre Varianten in der Dialektlandschaft vorgestellt (4.5).
4.1
Hypothesenbildung und Untersuchungsdimensionen
4.1.1
Hypothesenbildung
In Analogie zu Entwicklungstendenzen in verschiedenen westeuropäischen Sprachgemeinschaften kann auch für Luxemburg angenommen werden, daß die gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung im Verlauf des 19. und 20. Jh. bedeutenden Einfluß auf die kleinräumig geprägte Sprachvariation hatte bzw. hat (vgl. Auer/Hinskens 1996, Mattheier 1996). Im Zentrum der Untersuchung steht damit die Frage nach der Herausbildung einer Varietätendifferenzierung zwischen 'Dialekt(en)' und einer möglichen 'Standardsprache' ( — 'Koine') und die daran geknüpften Veränderungen der Dialektlandschaft. Die Arbeitshypothese lautet dementsprechend: Arbeitshypothese Durch Veränderungen der dialektgeographischen Struktur kommt es in Luxemburg zur Herausbildung einer überregionalen Varietät. Aus dieser Hypothese können zwei Untersuchungskomplexe abgeleitet werden. Erstens muß geklärt werden, auf welche Weise sich eine überregionale Varietät herausbilden kann. Zweitens ist der soziolinguistische Status der überregionalen Varietät zu explizieren. Untersuchungskomplexe 1. Entstehungsmodus der überregionalen Varietät 2. Soziolinguistischer Status der überregionalen Varietät Ad 1: Als Entstehungsmodus der überregionalen Varietät sind drei Möglichkeiten denkbar. Es könnte erstens zu einem Sprachwechsel ('language shift') zum Standarddeutschen oder Französischen kommen, das dann als die überregionale Sprache neben den letzebuergeschen
48 Ortsvarietäten fungiert. Doch angesichts des immensen Prestiges, das das Letzebuergesche als Nationalsymbol besitzt, erscheint dies unwahrscheinlich. Tatsächlich ist auch ein Vordringen des Letzebuergeschen in neue Domänen (Schriftsprachlichkeit), die vormals dem Deutschen bzw. Französischen vorbehalten waren, zu beobachten (vgl. Berg 1993). Zweitens ist ein allgemeiner Prozeß eines Dialektausgleichs (als Sonderform von 'Dialektabbau') vorstellbar. Hier kann der Ausgleich regionaler Strukturen zu einer Homogenisierung der regionalen Variation führen. Für diese Option ist von besonderem Interesse, aus welcher Varietät die linguistischen Merkmale stammen, die Bestandteil der neuen Varietät werden und die Merkmale der alten Dialekte ersetzen. Die dritte Möglichkeit ist ein Sonderfall des Dialektausgleichs, nämlich der von Hoffmann (1987) und teilweise von Bruch (1953) angenommene Koin6isierungsprozeß. In diesem Entwurf ist die 'Κοίηέ' das Konvergenzprodukt zwischen allen letzebuergeschen Regionaldialekten, d.h. in der Koine sind Merkmale aus allen beteiligten Varietäten wiederzufinden. Ad 2: Hinsichtlich des soziolinguistischen Status der überregionalen Varietät ergeben sich zwei Optionen. Sollte der Hoffmannsche Vorschlag der Varietätendifferenzierung zwischen Regionaldialekten und 'Koine' zutreffen, so ist eine innerletzebuergesche Diglossie anzunehmen ('Überdachung' nach Kloss 1976, 'Binnendiglossie' nach Bellmann 1983). Die Wahl der jeweiligen Varietät wird durch situative Faktoren gesteuert. Das Varietätengefüge würde sich demnach an deutsche oder britisch-englische Verhältnisse annähern. Eine Standardvarietät würde die Funktion einer überregionalen Norm übernehmen, während die Dialekte der lokalen Kommunikation vorbehalten blieben. Wenn sich diese Entwicklung nicht beobachten läßt, so ist die sich bildende überregionale Varietät den übrigen Dialekten nebengeordnet. Die Sprachgemeinschaft bleibt in diesem Fall monoglossisch, indem ein Teil der Sprachgemeinschaft die neue Varietät verwendet, während der übrige Teil weiterhin den/die Dialekt(e) gebraucht. Es kommt damit zu keiner situativen Differenzierung der Varietäten. Voraussetzung dafür ist, daß die alten Dialekte und die neue überregionale Varietät gegenseitig verstehbar sind und Prestige/Stigma-Relationen nur wenig Einfluß auf die Varietätenwahl haben. In der folgenden Übersicht sind die Untersuchungskomplexe und ihre potentiellen Manifestationen in Konzepten der Varietätendynamik (vgl. Kap. 3) zusammengefaßt. Untersuchungskomplexe: 1. Entstehungsmodus der überregionalen Varietät • Sprachwechsel? • Dialektausgleich? • Koin6isierung? 2. Varietätenlinguistischer Status der überregionalen Varietät • Binnendiglossie (zw. 'Koine' und Dialekt(en))? • Koexistenz (von 'Κοίηέ' und Dialekt(en))?
49 4.1.2
Variationslinguistische Untersuchungsdimensionen
Die nachzuzeichnende Varietätendynamik betrifft die vier Regiolekte des Zentrums, des Ostens, des Nordens und des Südens. Doch kann die diatopische Variation nicht losgelöst von situativen Faktoren untersucht werden.1 In dieser komplexen Situation ist es wahrscheinlich, daß sich in den Regionen unterschiedliche Grade und Formen von Dialektausgleich bzw. Unterschiede im situativen Sprachgebrauch manifestieren. In der Analyse wird somit eine Kombination der in Kapitel 3 vorgestellten theoretischen Konzepte notwendig. So ist es denkbar, daß ein linguistisches Merkmal ein Verhalten zeigt, das auf Koineisierung hindeutet während für ein anderes Merkmal Dialektausgleich beobachtet werden kann. Da in der Untersuchung die linguistische Variation im Vordergrund steht, werden die soziolinguistischen Dimensionen 'Regionalität' (Diatopik) und 'Kommunikationssituation' (Diaphasik) als die unabhängigen Variablen deklariert. Die diastratische Variation bleibt von der Untersuchung ausgeklammert, indem eine sozial homogene Sprecherinnengruppe herangezogen wird. Eine weitere Einschränkung betrifft die zu untersuchenden linguistischen Ebenen. Da sich Dialektunterschiede und deren Veränderungen am deutlichsten auf der lautlichen Ebene abspielen, werden nur phonetisch-phonologische Variablen beschrieben. Die Herausbildung einer überregionalen Varietät kann nur mittels einer kontrastiven Vorgehensweise nachgewiesen werden. Dazu werden zwei Vergleiche durchgeführt. Zuerst werden die historischen Veränderungen untersucht. Durch die Kontrastierung der heutigen Korpusdaten mit den zahlreich vorhandenen Dialektbeschreibungen zum Letzebuergeschen aus der ersten Jahrhunderthälfte kann ermittelt werden, welche linguistischen Merkmale in welcher Region im Laufe der Sprachgeschichte aufgegeben wurden bzw. sich ausgebreitet haben. An zweiter Stelle steht der synchrone Vergleich zwischen der Varietät, die einE Sprecherin im privaten, heimatlichen Umfeld verwendet ('Dialekt') mit der Varietät, die er/sie in einer formelleren, überregionalen Situation verwendet ('Interdialekt').
4.2
Dialekteinteilung
4.2.1
Äußere Sprach-/Dialektgrenzen
Die deutsche Dialektologie (z.B. DSA, Wiesinger 1970) hat das Staatsgebiet des heutigen Luxemburg in den rheinischen Fächer eingegliedert. Innerhalb des Mittelfränkischen zählt es zum Moselfränkischen. Kulturgeographisch deckt sich dieses Gebiet in weiten Teilen mit dem ehemaligen Trierer Kulturraum. Der Einfluß von Trier hatte jedoch nicht den gleichen integrierenden Einfluß auf die Region wie z.B. das Erzbistum Köln auf das ripuarische Gebiet. Kleinräumige Gebietsherrschaften ließen eine politisch zerstückelte Landschaft entste-
Vgl. die inkludierende Relation der 'Coseriu-Dimensionen' in Koch/Österreichers (1990) Varietätetenmodell.
50 hen. Infrastrukturell war die Region lange Zeit unterentwickelt. Folglich stellt sich das Moselfränkische sprachlich auch heute noch als ein "Gewirr sich vielfaltig kreuzender Isoglossen" (Beckers 1981: 472, vgl. auch Cajot 1989, I: 32) dar, so daß sich eine interne Aufgliederung schwierig gestaltet. Wrede war der Meinung, in der op/auf-Isoglosse (vgl. DSA 56) eine Haupttrennlinie zur Unterscheidung von West- und Ostmoselfränkisch zu erblicken. Eine weitere Einteilung leistete Lerchner (1971) in seinem Vergleich zur Durchführung der II. Lautverschiebung im Rheinisch-Westmitteldeutschen. Wiesinger (1983a: 855ff.) geht weiter und teilt das Moselfränkische in neun Bereiche ein (die Luxemburg betreffenden Bereich sind durch Fettdruck hervorgehoben) : 1. rheinfränkisch-moselfränkisches Übergangsgebiet 2. unteres Saar- und oberes Moselgebiet, westliches Lothringen, südliches und mittleres Luxemburg, Areler und Tintinger Gebiet (Belgien) 3. südwestliche Eifel und Nordluxemburg (Osling) 4. mittlere Eifel und luxemburgische Region um Echternach 5. unterer Moselraum und südöstliche Eifel 6. zentralhessisches-moselfränkisches Übergangsgebiet 7. Westerwald 8. mittleres Sieggebiet 9. Siegerland
Die Einteilung zeigt, daß eine eindeutige Ausgrenzung Luxemburgs aus dem deutschen Dialektgebiet aus dialektgeographischer Sicht nicht möglich ist. Vielmehr sind Überlappungen mit den Gebieten der Eifel,2 der Moselgegend und dem Saargebiet festzustellen. Die Unbestimmtheit der Sprachgrenze nach Norden, Osten und Südosten wurde auch von luxemburgischen Dialektologen immer wieder hervorgehoben und bedauert (LWb, Hess 1946). Deutlicher läßt sich die Westgrenze des Moselfränkischen in Luxemburg bestimmen. Sie fällt mit der Sprachgrenze zur Romania (Belgien, Frankreich) zusammen und verläuft größtenteils entlang der heutigen westlichen Staatsgrenze.3Nur in der belgischen Province du Luxembourg (Gegend um Arlon/Arel) und in Nordwestlothringen reicht das Moselfränkische auch heute noch stellenweise über die luxemburgische Staatsgrenze hinaus.4
4.2.2
Interne Dialektgliederung
Wiesingers oben angeführte Einteilung des Moselfränkischen deutet die luxemburgische Binnengliederung bereits an. Sie deckt sich weitgehend mit der ersten Gliederung der letzebuer-
3 4
Wiesinger beschreibt die Dialektlandschaft noch - auf der Basis des DSA - in den Grenzen des Deutschen Reiches von 1914. Das Gebiet der Eifel umfaßt damit auch die Region um Eupen und St.Vith im heutigen Belgien. Bruch (1953: 106-112 und Karte 5) diskutiert die westliche Sprachgrenze ausführlich. In der belgischen Province du Luxembourg gibt es nach Newton (1990: 148) noch "around thousand" Sprecherinnen der Areler Sprooch. Der Dialekt wird hier nicht mehr weitergegeben und stirbt wahrscheinlich aus. Bemühungen zum Spracherhalt sind vorhanden und zeigen sich in der Zeitschrift Revue Arelerland α Sprooch (Arlon 1976ff.) und im wenige Stunden ausstrahlenden Radiosender Radio Arel. In Nordwestlothringen dagegen ist der Dialekt noch vital (vgl. Philipp 1978).
51
gesehen Mundarten, die Hardt (1843: 1) leistete: "Die luxemburger sprechen in vier mundarten, die, wie es mir scheint, am füglichsten mit den namen Elz-, Mosel-, Sauer- und Öslingmundart bezeichnet werden." Drei von Hardts Räumen finden sich in Wiesingers Einteilung wieder. Der Elzmundart (Alzette) entspricht Wiesingers Raum 2, der Sauermundart Raum 4 und die Öslingmundart stimmt mit Raum 3 überein. Das kleine Gebiet der Moselmundart, gemeint ist die Strecke von Schengen moselaufwärts bis Wasserbillig im luxemburgischen Südosten, fehlt bei Wiesinger. Hardts geographisch angelegte Einteilung bleibt jedoch die 'Füllung' durch sprachliche Merkmale der einzelnen Regionen schuldig. Eine mehr dialektologische, wenn auch gröbere Gliederung gibt das Luxemburger Wörterbuch, wo eine sowohl historisch als auch geographisch begründete Trennung von Ösling (Norden) und Gutland (restliches Luxemburg) vorgeschlagen wird: "Die Sprache des ersteren ist besonders durch die Kölner Velarisierung5 gekennzeichnet." (LWb 1950: XL). Für die übrigen Dialektgebiete, wie den Osten, Süden und das Zentrum sahen sich die Luxemburger Dialektologen außerstande, exakte Dialektgrenzen anzugeben. Die vielfältige Überlappimg einzelner linguistischer Phänomene im Raum verhinderte es, abgrenzbare Regionen zu definieren. Statt dessen werden von luxemburgischen Linguistinnen in der ersten Hälfte des 20. Jh. im Gefolge des Deutschen Sprachatlasses verstärkt Ortsdialekte beschrieben. Die Monographien sind durch die Überzeugung motiviert, daß in dieser Zeit der Industrialisierung und der wachsenden Mobilität die als urtümlich empfundenen Ortsdialekte vom Aussterben bedroht sind und daher konserviert werden müßten.6 Für die folgenden luxemburgischen Ortschaften bzw. Regionen liegen Ortsgrammatiken vor (in Abb. 4.5 unten sind die Ortsgrammatiken eingetragen): Ortschaft Knaphoscheid Vianden Echternach Esch
Region Norden äußerster Norden Osten Osten Süden
Verfasser Palgen (1954) Bruch (1952) Engelmann (1910a) Palgen (1931) Palgen (1948)
Diese Arbeiten bestehen überwiegend aus Sammlungen der einzelnen diatopischen Varianten, die in das Raster des westgermanischen Lautsystems eingeordnet werden. Angaben über die Erhebungsmethoden werden nicht gemacht. Obwohl in diesen Sammlungen Analysen zu Sprach- und/oder Dialektwandel nur am Rande behandelt werden und sie das Verhältnis der Ortsvarietät zu einer anderen luxemburgischen Varietät (z.B. des Zentrums) nicht thematisieren, stellen sie dennoch ein umfassendes Reservoir von Dialektlautungen in relativ enger phonetischer Transkription dar, das als diachroner Bezugspunkt dient, auf den die heutigen Realisierungen bezogen werden können, und auf das im Analysekapitel 5 häufig rekurriert wird. Die umfassendste Quelle zum Letzebuergeschen ist der Luxemburgische Sprachatlas (LSA), dessen Entstehungsgeschichte und Arbeitsweise unglücklicherweise nur in Randbe5 6
Das Phänomen (z.B. [lekt] für [lait] Leit 'Leute') wird in 5.12 beschrieben. Vgl. z.B. Palgen (1948: 4): "Es handelt sich hier also um eine sterbende Mundart, von der nach 25 Jahren nur noch Reste zu finden sein werden." Ähnliche Prophezeiungen finden sich in vielen Dialektmonographien aus dieser Zeit.
52 merkungen dokumentiert ist (z.B. Bruch 1952: 1). Die Erhebungen der 'Linguistischen Sektion des Großherzoglichen Instituts' unter Verwendung der Wenkersätze (vgl. DSA S. 1-2) fanden von 1925 bis 1939 statt. Vergleichbar der Erhebungsmethode des DSA wurden die Sätze von Volksschullehrern in den Lokaldialekt übersetzt. Das Gesamtnetz der Grundkarte des LSA und auch alle Sprachkarten verzeichnen 546 Lokalitäten, doch wurden die Erhebungen nur in 361 dieser Ortschaften durchgeführt. Da nicht bekannt ist, welche Lokalitäten tatsächlich erhoben wurden, beinhalten die heute vorliegenden Sprachkarten Ungenauigkeiten. Die Skizzen der Atlaskarten selbst wurden von Bruch gezeichnet. Durch Bruchs vorzeitigen Tod konnte der Atlas zunächst nicht veröffentlicht werden. Erst 1963 zeichnete Goossens aufgrund der Skizzen die heute vorliegenden Sprachkarten. Zwar bietet der LSA eine umfassende Darstellung der Dialektgeographie, dennoch sind die Karten nicht immer fehlerfrei (z.B. fehlende Symbole auf Karte bzw. Legende). Diese Einzeldarstellungen werden in den Arbeiten von Bruch (1953, 1954), zusammen mit den bis dahin noch unveröffentlichten Daten des LSA, zu einer umfassenden dialektgeographischen Darstellung synthetisiert (v.a. Bruch 1953: 152ff.). Seine Sprachkarten dokumentieren die Dialektverhältnisse aus der Zeit von ca. 1889 bis ca. 1954.7 Er orientiert sich an der Methode der Marburger Dialektologie und durchzieht den Dialektraum mit Isoglossen, die diatopische Varianten von Einzellexemen oder Gruppenentwicklungen bestimmter Laute bzw. Lautverbindungen mit einer Linie umschließen. Der Luxemburger Raum, der als Grenzland zwischen Romania und Germania vom Französischen (bes. Nordlothringen, Wallonien) und als Mischgebiet sowohl von nördlichen (rheinischen) als auch von östlichen (Trier, Mainz) Einflüssen geprägt wurde, offenbart sich auf diesen Karten als ein kaum durchschaubares Konglomerat aus gestaffelten Isoglossen, die sich aus den vier Himmelsrichtungen auf das Zentrum zubewegen. Dementsprechend setzt Brach vier innerluxemburgische Regionen an, die kleeblattartig in die geographische Mitte des Landes hineinreichen: 1. Norden
2. Osten
3. Westen
4. Süden
In Kap. 2 wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich in Bruchs Beschreibungen die Dialektgebiete immer an den Landesgrenzen konzentrieren und daher das Zentrum des Landes, also auch das Ballungszentrum Luxemburg-Stadt, von der Beschreibung ausgeschlossen bleibt. Diese zentralluxemburgische Varietät wird von der luxemburgischen Dialektologie nie als Dialektgebiet sui generis bezeichnet. Im LSA und in Bruchs Arbeiten ist dieses Gebiet zwar mit erfaßt, jedoch wird es nicht 'beschrieben' oder sein Verhältnis zu den umliegenden Dialekten erörtert. Als relativ junge Varietät genießt die Zentrumsvarietät nur geringes Interesse der Dialektologen, die bemüht sind, älteste Sprachschichten freizulegen. Bezeichnenderweise existiert auch keine Ortsgrammatik über die zentralluxemburgische Varietät. Dennoch wird die Varietät immer wieder als Bezugspunkt herangezogen. Sie wird 'Gemeinluxemburgisch' oder 'Κοίηέ' benannt (auch das Alzettetal, das ja als die 'Wiege der Koine' gilt, liegt in diesem Gebiet), und die dialektalen Varianten aus Osten, Süden, Westen und Norden werden ihr oft gegenübergestellt. Damit erscheint in den dialektologischen Arbeiten eine Dichoto7
1889 fanden die Erhebungen zum DSA in Luxemburg statt, die Bruch mitverarbeitet. 1954 erschien die bislang letzte Ortsgrammatik (Palgen 1954).
53 mie, die das Zentrum - implizit - als Bezugssystem den übrigen Dialekten entgegensetzt. Das Zentrum wird damit von den übrigen Dialektgebieten abgehoben und bekommt den Status einer Standardvarietät. Zumindest von einem synchronen Standpunkt aus - der beim Sprachhistoriker Bruch nicht im Vordergrund steht - erscheint es daher unverständlich, warum diese Varietät ausgeklammert werden soll. Wie weiter unten gezeigt wird, ist für die praktische Durchführung einer Analyse über Dialektveränderungen die Annahme eines zentralluxemburgischen Gebietes unerläßlich. Die Bruchschen Dialektgebiete können nur unzureichend über exklusive Merkmale definiert werden. Tatsächlich sind Mischungen zu beobachten, die in einem so kleinen Gebiet, durch das zudem keine der Isoglossen des rheinischen Fächers verlaufen, nicht weiter verwunderlich sind. Mit Hilfe von innerluxemburgischen Isoglossen lassen sich am deutlichsten die Regionen Norden, Osten und Süden bestimmen. Ein westliches Gebiet, das Bruch (1953) sehr ausführlich beschreibt, kann dialektgeographisch jedoch nur ungenau umrissen werden. Im folgenden werden die einzelnen von Bruch definierten Dialektgebiete in ihren ungefähren Grenzen und mit ihren linguistischen Merkmalen vorgestellt und ihre Varianten den zentralluxemburgischen Formen, wie sie der LSA angibt, gegenübergestellt. Norden Der Norden, das sog. 'Ösling', umfaßt das Gebiet nördlich der Ardennenschranke. Dieses Gebiet ist dünn besiedelt und war bis zur Mitte des 20. Jh. überwiegend agrarisch strukturiert. Im Jahr 1991 lebten hier 15% der Gesamtbevölkerung (57668 Einwohner) auf einer Fläche, die 44,3% der Gesamtfläche entspricht (1145,55 km2). Dies kommt einer Bevölkerungsdichte von 50 Einwohnern pro km2 gleich (STATEC 1992). Die größte Stadt ist Wiltz (3900 Einwohner). Aufgrund der geographischen Abgeschiedenheit des Öslings haben sich hier einige alte Dialektphänomene erhalten. Es handelt sich damit um ein klassisches 'Rückzugsgebiet'. In der Sprechermeinung gilt der Norden als die Region Luxemburgs, die am stärksten durch ihre Lautung auffällt. Eine genaue Grenzlinie zum südlichen Teil Luxemburgs kann nicht angegeben werden, da es sich um eine 'Staffellandschaft' handelt, durch die ein breites Isoglossenbündel verläuft (vgl. Bruch 1952). Die südlichste Isoglosse bildet die kengt-ken-Lhäe (Linie J in Abb. 4.1), die im Westen nördlich von Bondorf beginnt und über Diekirch nördlich an Vianden vorbei verläuft. Wie Abb. 4.1 zeigt, ist eine weitere Unterteilung in Nordösling ('Hundsösling', Gegend um Ulfingen/Troisvierges, Huldingen) und Südösling (Gegend um Clerf, Wiltz) notwendig; die Linie A (tsektsn-tse.itan-Lime) fungiert als deutliche Grenze. Dem sprachlich homogenen Hundsösling steht der Südösling als ein "wirres, zwischen Redingen und Clerf über eine Tiefe von etwa 35 Kilometern hingebreitetes Linienbündel" (Bruch 1952: 5) gegenüber. Die folgenden Merkmale finden sich im nördlichen Dialektgebiet. Nicht jeder Ortspunkt weist alle diese Eigenschaften auf, und auch die Realisierung ist nicht immer identisch. In dieser Darstellung wird zwischen 'lautgesetzlichen' Merkmalen, die einheitliche, lautliche Entwicklungen bezeichnen, und 'lexikalisierten' Merkmalen, die nur eine bestimmte Gruppe von Lexemen betreffen, getrennt. Die nördliche Variante (in Lautschrift) wird der zentralluxemburgischen Form (in Lautschrift und orthographischer Form) gegenübergestellt.
54 intik
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Abb. 4.1 Einige Isoglossen von Nordluxemburg, dem 'Ösling' (aus Bruch
1952: 5) Lautgesetzliche Merkmale: • Schwund von ahd. h vor t
Norden
Zentrum
[na: it] [lu:t]
Nuecht Luucht Fra kafen lafen gin geschter war(s) nach kachen gewiescht gewiescht Kuelen Kuelen
[jaqk]
[nuaft] [lu:xt] [f R a:] [ka:fsn] [Ia:fen] [gin] [ga/tSR] [gei]
• Verdumpfung von ahd. α
[vo:r(s)]
[va:R(s)] [nax] [kaxan]
• steigende8 Diphthonge 'ε, "α bzw. Monophthonge e:, o:, a: für is, us
[no(:x)] [ko(:)xsn] [ga'verst] [ga'v'est] [kualan] [ko:tan]
• Monophthongierung von ahd. ou zu o;
[fRo:]
• Spirantisierung von anlautendem g
[ko:fen] [b'.fan] [jen]
[jests R]
[ga'visjt] [kuabn]
'Nacht' 'Luft' 'Frau' 'kaufen' 'laufen' 'geben' 'gestern' 'geh!' 'war(st)' 'noch' 'kochen' 'gewesen' 'gewesen' 'Kohlen' 'Kohlen'
In steigenden Diphthongen nimmt der Expirationsdruck vom Onset zum Offset zu; sie beginnen also mit einem Gleitlaut' o d e r F a l l e n d e Diphthonge wie ai, au sind durch die inverse Struktur gekennzeichnet.
55 • Velarisierung von Langvokal bzw. Diphthong vor t zu KV-k-t • Erhalt eines Diphthongs aus ahd. ie. uo (wgerm. e2, ö) vor t,d,l,x
[lekt] [Jnegdan] [meit] [gout] [/teil]
Haiti
[bRoudaR]
[bRudaR]
[kouxsn] [gs'nou]
[kux] [ga'nux]
[pe:faR] [/ve:tsan]
[/vetsan]
[Jnaidan] [mit] [gut] [/til]
Leit schneiden mit gutt Still Brudder Kuch genuch
'Leute' 'schneide! 'müde' 'gut' 'Stühle' 'Bruder' 'Kuchen' 'genug'
Peffer schwätzen Kleder Eer mir dir
'Pfeffer' 'reden' 'Kleider' 'Eier' 'wir, mir' 'dir'
Lexikalisierte Merkmale: • teilweise Entwicklung von e: aus ahd. e/e in geschlossener Silbe • Erhalt eines Diphthongs aus ahd. ei im Silbenauslaut • Senkung von i: > ε: in mir, dir
[pefsR]
[kleidsR]
[kle:d3R]
[aisr]
[e:3R]
[me:R]
[mi:R]
[de:R]
[di:R]
Osten Der Osten erstreckt sich als schmaler Saum an der deutschen Grenze von Schengen im SO über Echternach bis nach Vianden im NO und umfaßt in manchen Erscheinungen Gebiete des Öslings und des Südens (vgl. Abb. 4.2, weitere Isoglossen auf Bruchs (1954) Karten 34, 35, 33). Wie der Norden ist diese Region ländlich geprägt; größere Gemeinden sind Echternach und Grewenmacher. Kulturhistorisch stand dieses Gebiet in engem Kontakt mit der eiflerisch-trierischen Region. Diese Varietät ähnelt auch heute noch den bundesdeutschen Dialekten der Eifel und der Trierer Gegend. Auch in dieser Region sind nicht alle Merkmale in jedem Ort vorhanden. Lautgesetzliche Merkmale: • Erhalt eines Diphthongs aus ahd. ie, uo (wgerm. e2, ö) vor d,t,l,x
1
Hebung von ahd. e, ö zu i(.j, u(.j
• Dehnung von ahd. e/e, ο > e:, ο: in offener Silbe statt is, uo
Osten
Zentrum
[meit] [gout] [/teil]
[mit] [gut] [/til]
[bROUdSR]
[bRUdSR]
[kouxsn] [ga'nou] [/ni(0]
[gfc]
[bi:s] [hilf] [/in, /ig]
[kux] [ga'nux] [/nei] [gei] [beis] [heif] [/ein]
[Rudsn]
[ROudsn]
[«tat] [bRUt]
[bROUt]
[gRu:s]
[gROUS]
[uiRan]
[0U3R3n]
[dout]
[doiRaf]
[dU3R3f]
[ko:bn]
[kusbn] [usvsn] [gs'vis/t]
[o:van] [ga've:st]
mit gutt Still Brudder Kuch genuch Schnei gei! Mis heich schiin rouden dout Brout grouss Oueren Dueref Kuelen uewen gewiescht
'müde' 'gut' 'Stühle' 'Bruder' 'Kuchen' 'genug' 'Schnee' 'geh!' 'böse, zornig' 'hoch' 'schön' 'roten' 'tot' 'Brot' 'groß' Ohren' 'Dorf 'Kohlen' 'Ofen' 'gewesen'
56
A Β C D
gemeinle. gutt, gudden [gut, gudan] / ostle. [gout, goudan] 'gut, guten' gemeinle. mit [mit] / ostle. [meit] 'müde' gemeinle. Brudder [bRudsr] / ostle. [bRoudar] 'Bruder' gemeinle. Kuchen, genuch [kuxan, gs'nux] / ostle. [kouxan, gs'nou(x)] 'Kuchen, genug' Punkte: ostle. ['mi.an] fur gemeinle. meien [meisn] 'mähen'
A b b . 4 . 2 Einige Isoglossen des Ostens von Luxemburg (aus BRUCH 1953: 240, Karte 36)
57 1
[le:fal]
[lefal]
[pe:faR]
[pefaR]
[no(:x)] [ko(:)xan]
[nax] [kaxen]
Bett schwätzen Leffel Peffer nach kachen
Lexikalisierte Merkmale: • Diphthongierung in den Pronomen ech, du [aif] [dou] • ausbleibende Diphthongierung [i:s], [u:s] [het] [let] • Hebung in knfen [keifan]
[du] [ais] [haut] [leit] [kaifan]
ech du ais haut Leit kafen
1
Dehnung von ahd. e, ο υ in geschlossener Silbe
Verdumpfung von ahd. a
[JVe:tS3n]
[be:t]
[bet] [Jvetsan]
'Bett' 'reden' 'Löffel' 'Pfeffer' 'noch' 'kochen'
'ich' 'du' 'uns' 'heute 'Leute' 'kaufen'
Süden Als Süden ('Minett') wird die Region südlich der Hauptstadt bezeichnet. Die Gegend erlebte infolge der Einrichtung eines Schwerindustriezentrums in der Zeit zwischen der Jahrhundertwende und ca. 1960 einen dramatischen Bevölkerungszuwachs. Heute leben dort ca. 116000 Einwohner (=30% der Gesamtbevölkerung) auf 8,5% der Gesamtfläche (Einwohnerdichte: 526 pro km2). Es handelt sich um ein Gebiet mit hohem Verstädterungsgrad. Hier sind die größten Städte Esch-sur-Alzette (24012 Einwohner), Differdange (15699 Einwohner), Dudelange (14677 Einwohner) und Petange (12345 Einwohner). Einige Merkmale reichen aus dem SW und SO noch weiter in das Zentrum hinein, sparen aber in jedem Fall das Gebiet von Luxemburg-Stadt aus (Abb. 4.3, Linien I, J, K, L). Im Südosten kommt es zur Überschneidung mit dem östlichen Gebiet, und im Südwesten finden sich Phänomene des Westens. Als südliche Merkmale gelten: Lautgesetzliche Merkmale: • Schwund von ahd. h vor t • Monophthongierung von ahd. ou zu o: • Verdumpfung von gedehntem ahd. a vor R > O: • i-Palatalisierung
Lexikalisierte Merkmale: • Senkung von i: > ε: in mir, dir
Süden [nuat] [lu:t] [fRD!] [VOIR]
Zentrum [nuaft] [lu:xt] [fRa:] [va:R]
[go:R]
[ga:R]
[ge:Jt] [hrajt]
[ge:s(t)]
[me:R]
[mi:R]
[deR]
[di:R]
[hU3( S )]
Nuecht Luucht Fra war Gare gees hues
'Nacht' 'Luft' 'Frau' 'war' 'Bahnhof '(du) gehst' '(du) hast'
mir dir
'mir, wir' 'dir'
58
A, L Λ-Schwund: gemeinle. Nuecht [nuaft] / nordle. [na:it], siidle. [nuat] 'Nacht' Β, Μ Λ-Schwund: gemeinle. Luucht [lu:xt] / nordle., siidle. [lu:t] 'Luft, Leuchte' C gemeinle. Fra [fka:] / nordle. [fRau] 'Frau' D, I gemeinle. Fra [fRa:] / nordle., südle. [fRo:] 'Frau' Ε gemeinle. war(s) [va:R(s)] / nordle., siidle. [VO:R(S)] 'war(st)' F, J gemeinle. kafen, lafen [kaifan, la:fan] / nordle., siidle. [kaifan, btfan] 'kaufen, laufen' gemeinle. Nuecht [nueft] / nordle. [na:ft] 'Nacht' G gemeinle. Nuecht [nueft] / nordle., ostle. [no:xt] 'Nacht' Η gemeinle. kqf[ka:f] / siidle. [ko:t] 'gekauft' Κ Abb. 4.3 Einige Isoglossen des Luxemburger Südens (aus Bruch 1953: 248, Karte 44)
59 Es fällt auf, daß die meisten dieser Merkmale auch für den Norden gelten. Der Grund hierfür liegt darin, daß ursprünglich in ganz Luxemburg 'nördliche' Formen vorherrschten. Allmählich wurde dann das Land vom Zentrum heraus aufgespalten (Bruch 1953: 193) und die alten Formen in Richtung Norden und Süden zurückgedrängt. Im Gegensatz zu Norden und Osten grenzt sich der Süden durch verhältnismäßig wenige Merkmale vom Zentrum ab. Dennoch wird in der Spracheinschätzung der Bevölkerung die Varietät dieser Region als stark dialektal empfunden. Westen Das Kerngebiet des Westens (Abb. 4.4) besteht aus den Kantonen Capellen und Redingen westlich der Hauptstadt und wurde schon von Bruch als 'Rückzugsraum' bezeichnet. Hierzu zählt dialektgeographisch auch die im heutigen Belgien gelegene Region um Arlon ('t Arelerland). Bruch (1953: 166-177) beschreibt den Westen zwar sehr ausführlich, dennoch kann lediglich ein lautgesetzliches Merkmal als konstitutiv ermittelt werden. Die übrigen Merkmale sind Lexikalisierungen und verteilen sich nicht flächendeckend, sondern sind lediglich punktuell verbreitet. Lautgesetzliches Merkmal: • Diphthongierung vor Tonakzent 2
Westen
Zentrum
[Jtouan] [meitof] [ga'Jmoult] [ka'unt] [gafa-ul]
[Jtoian] [malief]
[ga'Jmoht] [kan:t] [ga'fal:]
stoen Melleck geschmolt kant gefall
'stehen' 'Milch' 'geschmolzen' 'gekannt' 'gefallen'
Lexikalisierte Merkmale:
•
Ausbleiben der nhd. Diphthongierung in einigen Wortern (bei, beißen, drei, Eis, gleich, mein, sein, Wein, Zeiten, aus, draußen, Haus) (vgl. Bruch 1953: Karte 37) [mi:R] mir 'mir, wir' Senkung von i; > ε: in mir, dir [me:R]
• •
Nicht-Senkung von i > e in neng 'neun' (vgl. Bruch 1953: Karte 39) Palatalisierung von a: > e:/e: in gemaat 'gemacht' (vgl. Bruch 1953: Karte 39)
•
[deR]
[di:R]
dir
'dir'
Es zeigt sich, daß der Westen nach Bruch nur über ein Merkmal (Diphthongierung nach Schwebelaut) flächendeckend definiert werden kann und die lexikalisierten Merkmale lediglich an einigen Ortspunkten auftreten. Damit ähnelt diese Varietät stark der zentralluxemburgischen.
4.2.3
Zusammenfassung und Diskussion der Dialekteinteilung
Die Bestimmung von Dialektgebieten durch Isoglossenbündelungen war in der Dialektologie immer wieder Kritik unterworfen (vgl. Trudgill 1980: 46f, Chambers/Trudgill 1980: 105124). Weiterhin besteht bislang auch kein Konsens darüber, wie eine Gewichtung von Isoglossen hinsichtlich ihrer Wichtigkeit und Signifikanz vorgenommen werden könnte (Problem der saliency; vgl. Trudgill 1986). Dies ist jedoch notwendig, um eine universelle Rangordnung der linguistischen Merkmale aufstellen zu können. Chambers/Trudgill (1980: 115)
60
Α Β C D Ε F G
gemeinte, stoen [Jto:sn] / westle. [Jtouan] 'stehen' gemeinte. Melleck ['mabf] / westle. ['meilej] 'Milch' gemeinte, geschmolt [ga'Jmoht] / westle. [ga'/mo'ult] 'geschmolzen' gemeinlle. font [fon:t] / westle. [fo'unt] 'gefunden' gerne inle. kant [kan:t] / westle. [ka'unt] 'gekannt' gemeinte, gefall [ga'fol:] / westle. [ga'fa'ul] 'gefallen' Kombination der Grenzlinien aller Belege für Dehnung des Vokals (statt Diphthongierung) in den Bsp. A-F Abb. 4.4 Einige Isoglossen des Luxemburger Westens (aus Bruch 1953: Karte 46)
geben zwar eine solche Skala an, die lexikalisierten Aussprachen geringere Wichtigkeit zugesteht als phonemischen Unterschieden oder gar syntaktischen und semantischen Dialektunterschieden, doch räumen die Autoren ein, daß diese Skala keine universelle linguistische Wahrheit beanspruchen kann. Bruch versäumt eine wie auch immer geartete Gewichtung seiner Isoglossen. Die wenigen kartierten Lexeme können nicht als repräsentativ für eine Region gelten, da sie lediglich Einzelfälle und nur selten systematische phonologische Entwicklungen widerspiegeln. Besonders bei der Definition des westlichen Gebietes durch Bruch ergibt sich die Schwierigkeit, daß die Region lediglich über ein einziges lautgesetzliches Merkmal definiert werden kann. Auch Wiesinger (1983a: 810) weist darauf hin, daß "das Herausgreifen eines einzelnen sprachlichen Teilsystems [...] noch keine umfassende strukturelle
61
Dialektgliederung liefert [...]". Damit fehlt aber die notwendige methodische Berechtigung, um eine bestimmte Variante eines Wortes bzw. die Varianten einer Gruppe von Wörtern als definitorisches Merkmal für eine ganze Region zu werten. Da in dieser Arbeit keine umfassende dialektgeographische Darstellung angestrebt wird, sondern die Veränderung und der Abbau von regional-dialektalen Strukturen ermittelt werden soll, ist eine Einteilung in Dialektkerngebiete ausreichend. Die Kerngebiete sind jeweils innerhalb der Maximalausdehnung eines Dialektgebietes lokalisiert. In Abb. 4.5 sind aus Bruchs Sprachkarten die Maximalausdehnungen der einzelnen Gebiete in eine Karte Luxemburgs übertragen worden, um eine schematische Übersicht über die Dialektgebiete zu erhalten.9 Unter einem Kerngebiet soll hier eine Region innerhalb einer Maximalausdehnung verstanden werden, die sich in möglichst vielen sprachlichen Merkmalen von ihrer Umgebung absetzt und damit ein relativ homogene Varietät darstellt (vgl. Bach 1969: 60ff, Nabrings 1981: 50f.). Zusätzlich sind einige der vorhandenen Dialektmonographien und Sprachatlanten zum Letzebuergeschen (Engelmann 1910, Palgen 1931, 1948, 1954, Bruch 1952) und den angrenzenden Ländern mit ihren bibliographischen Kurzformen (Ludwig 1906, Thome 1908, Bertrang 1921, Mattheier 1987; Mittelrheinischer Sprachatlas, Philipp 1977) eingetragen. Der Westen, der sich dialektgeographisch vom Zentrum nur wenig absetzt, konstituiert folglich kein Kerngebiet und wird aus diesem Grund nicht weiter berücksichtigt. Innerhalb der luxemburgischen Regionen werden somit die folgenden vier Gebiete ausgewählt und als Dialektkerngebiete der Untersuchung zugrunde gelegt: Region
Kerngebiet
Norden
Gebiet zwischen. Troisvierges und Wiltz
Ν
Osten
Gebiet zwischen. Vianden und Grewenmacher
0
Süden
Gegend um Esch-sur-Alzette
S
Zentrum
Gegend um Hauptstadt und nördliches Alzettetal
Ζ
Sigle
Wie oben ausgeführt wurde bisher in der lux. Dialektologie das Zentrum nicht als eigenständige Dialektregion behandelt. Aus Abb. 4.5 wird ersichtlich, daß diese größte Region in der Karte erscheint, wenn die Maximalausdehnungen von Norden, Süden und Osten eingetragen werden. Auf die Varietät dieses Landstrichs wird im Laufe der Untersuchung als Zentralluxemburgisch rekurriert. Bruchs Bezeichnimg 'Gemeinluxemburgisch', das mit 'Koine' gleichzusetzen ist, ist irreführend, da sie bereits eine Wertung dieser Varietät gegenüber den übrigen Regiolekten beinhaltet. Auch in der sprachlichen Einschätzimg durch Luxemburgerinnen selbst erfahrt diese regiolektale Einteilung ihre Rechtfertigung. In einer Fragebogenaktion am Centre Universitaire (Luxemburg-Stadt) wurden 54 Studentenlnnen aus allen Regionen u.a. nach "Gebieten oder Ortschaften Luxemburgs, wo Ihrer Meinung nach das Letzebuergesche anders klingt als in Ihrer Aussprache" gefragt. Fast jeder der Befragten gab an, daß besonders der Norden (Ösling), der Osten (Moselgegend, Vianden) und/oder der Süden (Minett) als die Regionen mit 9
Da der Westen nur über sehr wenige exklusive Merkmale definiert werden kann, bleibt er von dieser Einteilung ausgeschlossen.
62
Philipp (1977)
Abb. 4.5 Maximalausdehnung der luxemburgischen Dialektgebiete, Dialektkemgebiete (Schattierungen) und Zuordnung der vorhandenen Dialektdokumentationen
dem höchsten Dialektalitätsniveau empfunden werden. Dem westlichen Gebiet attribuierten die Informantinnen keine besondere Auffälligkeit. Diese Einschätzung paßt zur oben festgestellten geringen linguistischen Distanz dieser Region zum Zentrum. Das Zentrum selbst wurde nicht als Dialektgebiet benannt. Dies kann als Hinweis auf dessen potentiell überdachenden Status gewertet werden. Die nach dialektologischen Kriterien aufgestellte Einteilung spiegelt sich in der verwaltungstechnischen Aufgliederung Luxemburgs in einer Kombination aus Bevölkerungsdichte und geographischer Abgrenzbarkeit wider, wie sie in den Publikationen des Service central de la statistique et des itudes äconomiques (Statec) verwendet wird. Eine Übersicht über die
63 Bevölkerungsverteilung und Bevölkerungsdichte der einzelnen Regionen geben Tab. 4.1 und Abb. 4.6. Tab. 4.1 Fläche, Bevölkerungsverdichtung und Gesamtbevölkerung der lux.Regionen (aus Statec 1992 : 15)
Zentrum Süden Osten Norden Gesamt
Fläche (km 2 )
Bevölkerungsdichte (Einwohner/km 2 )
Gesamt bevölkerung
750,77 220,64 469,40 1145,55 2586,36
229 526 81 50 148
172246 116072 38076 57668 384062
Abb. 4.6 Kreisdiagramme zur Bevölkerungsverteilung und Flächenaufteilung in den vier luxemburgischen Regionen (nach Daten aus Statec 1992: 15)
Auch hier wird das Lande unter 'Les quatre regions de l'amenagement du territiore' in "Centre, Sud, Est, Nord" (Statec 1992: 15) unterteilt. Diese Einteilung entspricht weitgehend der Maximalausdehnung der von Bruch definierten Dialektgebiete. In Abb. 4.6 ist zu sehen, daß die Bevölkerung des Südens und des Zentrums zusammen drei Viertel der Gesamtbevölkerung stellen, jedoch nur ein Drittel der Gesamtfläche bewohnen. Dies verdeutlicht den hohen Verstädterungsgrad der Region um Luxemburg-Stadt und des Südens. Umgekehrt ist die ländliche Prägung des Nordens daran zu erkennen, daß hier auf 44% der Gesamtfläche lediglich 15% der Bevölkerung wohnen. Ein Teilergebnis kann nach diesem dialektgeographischen Überblick berei festgehalten werden: Eine Region 'Alzettetal', die für die Diskussion um die Koine eine zentrale Rolle spielt, kann aufgrund der dialektgeographischen Daten nicht ausgegrenzt werden.
64
4.3
Korpuserstellung und -beschreibung
4.3.1
Das Sample
Auf der Grundlage der Arbeitshypothesen (Kap. 4.1) können die Anforderungen an das Sample formuliert werden, das eine empirische Annäherung an das letzebuergesche Varietätengefuge ermöglichen soll. Um eine linguistische Varietätendifferenzierung zwischen Dialekt und überdachender, überregionaler Umgangssprache evaluieren zu können, ist die Simulation einer Dialektsituation und einer Interdialektsituation notwendig. Es kann davon ausgegangen werden, daß dieser Varietätenwechsel nicht für jeden Sprecher gleich ablaufen wird, da eine Standardnorm, die als Orientierungspunkt für das Sprachverhalten gelten könnte, (noch) nicht existiert. Ob und wie ein solcher Varietätenwechsel stattfindet bzw. welche Veränderungen der Dialekt im Vergleich mit älteren Zeugnissen erfahren hat, kann daher empirisch adäquat nur auf der Basis des Idiolekts untersucht werden. Durch einen zufälligen Vergleich von Dialektsituationen einer Sprecherinnengruppe mit Interdialektsituationen einer anderen Sprecherinnengruppe könnten keine Angaben über das individuelle Varietätengefüge und über den individuellen Umgang mit dem Variantenrepertoire gemacht werden.10 Daher werden in dieser Untersuchung Dialekt- und Interdialektaufnahmen von jeweils denselben Personen miteinander verglichen. Aus forschungspraktischen Gründen wird das Sample für diese Untersuchung nur hinsichtlich der sozialgeographischen Variable 'Sprecherinnen aus den vier Dialektgebieten' unterteilt. Die übrigen sozialen Variablen (mobil vs. nicht mobil, Bildungsgrade, Alter, soziale Schicht, usw.) werden in folgender Weise konstant gehalten: Die Informanten kommen aus der Mittelschicht, sie besitzen alle eine Hochschulausbildung, sind zwischen 20 und 30 Jahren alt und überwiegend weiblichen Geschlechts. Weiterhin werden nur mobile Sprecherinnen berücksichtigt, da anzunehmen ist, daß diese Gruppe einem hohen Ausmaß an Dialektkontakt ausgesetzt ist. Im Gegensatz zu klassischen dialektologischen Untersuchungen, die sich auf alte, nicht-mobile, ortsansässige Männer konzentrierten, wird hier also gerade die junge, mobile und weibliche Bevölkerungsschicht als die sprachlich progressivere Gruppe in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt.11
10
Diesen Fehler begeht Jakob 1985, der Dialektaufnahmen einer Sprecherinnengruppe mit Regionalspracheaufnahmen einer anderen Sprecherinnengruppe vergleicht. Dadurch tritt zwar die linguistische Verschiedenheit zwischen Dialekt und Regionalsprache hervor, es kann jedoch keine Aussage darüber gemacht werden, ob in der individuellen Kompetenz ebenfalls zwischen den Varietäten 'Dialekt' und 'Regionalsprache' unterschieden wird. Vgl. Gumperz 1994 zu einer allgemeinen Kritik am Labovianischen Paradigma der Korrelationsanalyse: Nach Gumperz sind möglicherweise nach einer quantitativen Analyse Grundstrukturen einer Sprachgemeinschaft sichtbar, dennoch werden die individuellen sprachlichen Ressourcen durch eine Mittelwertbildung der Variablenwerte von mehreren Sprecherinnen nicht korrekt erfaßt und teilweise sogar überdeckt.
11
Vgl. die Kritik von Trudgill/Chambers 1980 an der ersteren Sprecherinnengruppe, die sie als NORM-informants bezeichnen: non-mobile, old, rural males. Dieser Gruppe können die MYUFs (mobile, young, urban females) entgegengesetzt werden. Zu den soziolinguistischen Strategien, wie sich Frauen an einer Standard- oder Prestigevarietät orientieren vgl. Chambers 1992.
65 Die Auswahl der Informantinnen erfolgte durch judgement sampling Ρ An den beiden Hochschulen Luxemburgs, dem Centre Universitaire (Luxemburg-Stadt) und dem Institut Superior d'Etudes et de Recherches Pidagogiques (ISERP, Walferdingen), konnten die meisten der Aufnahmen erstellt werden. Zusätzlich konnten durch networking (vgl. Milroy 1987: 26f.) noch weitere Informantinnen gewonnen werden. Diese Informantlnnen genügen den oben aufgestellten sozialdemographischen Kriterien und stellen ein homogenes Sample: Es handelt sich um Studentinnen oder Absolventinnen der genannten Hochschulen, die zu Vor- oder Grundschullehrerinnen ausgebildet werden/wurden. Ihr Studium in Luxemburg-Stadt verlangt von den Sprecherinnen einen hohen Mobilitätsgrad; die meisten pendeln zwischen ihrem Wohnort und ihrem Ausbildungsort in der Hauptstadt. Einige der Sprecherinnen aus dem Norden wohnen während der Woche in Luxemburg-Stadt und verbringen lediglich die Wochenenden in ihrem Heimatort. Die Sprecherinnen des Samples sind nicht nur einem intensiven Dialektkontakt ausgesetzt, sondern üben durch ihren Beruf und ihre gesellschaftliche Stellung innerhalb der Sprachgemeinschaft auch die Funktionen von Multiplikatoren und Modellsprecherlnnen aus. Ihr Status als 'offizielle' Personen läßt auch ihren Sprachgebrauch, z.B. für Schülerinnen, als mustergültig und Übernehmenswert erscheinen. Insbesondere trifft dies auf die Vorschullehrerinnen zu, da in diesem Schultyp das Letzebuergesche die Unterrichtssprache darstellt.
4.3.2
Datensammlung
Die Sprecherinnen in Tab. 4.2 konstituieren das Hauptkorpus, das allen folgenden Analysen zugrunde liegt. Es besteht aus 23 Sprecherinnen aus den vier luxemburgischen Dialektregionen. In Abb. 4.7 (unten) sind die Heimatorte der Sprecherinnen verzeichnet. (Zusätzlich finden sich die Begrenzungslinien der Regionaldialekte, wie sie in Kap. 4.2 definiert wurden, um die geographische Distanz zwischen den einzelnen Sprecherinnen bzw. zwischen den Sprecherinnengruppen aus den vier Dialektgebieten zu illustrieren.) Neben den Aufnahmen des Hauptkorpus existieren weitere Aufnahmen, die in den Einzelanalysen bei Bedarf verwendet werden. Dabei handelt es sich um weitere Aufnahmen von Sprecherinnen der jüngeren Generation (Gesamtaufnahmedauer 2 h), von neun Sprecherinnen der älteren Generation ( < 60 Jahre, Gesamtaufnahmedauer ca. 3 h) und um die Aufnahmen einer Nachrichtensprecherin des nationalen Radiosenders RTL Radio Letzebuerg (Gesamtaufnahmedauer ca. 2 h). Jede Aufnahme wurde jeweils als Gespräch zwischen zwei Sprecherinnen durchgeführt. Der genaue Aufnahmezweck wurde den Informantlnnen nicht mitgeteilt; es wurde lediglich erwähnt, daß es sich um Sprachaufnahmen handelt, die in allen luxemburgischen Regionen stattfinden. Die Aufnahmen des Korpus gliedern sich in drei Aufnahmetypen: (1) (2) (3)
12
Übersetzung eines dialektologischen Fragebuchs Freies Gespräch: Dialekt (Sprecherinnen aus demselben Dialektgebiet) Freies Gespräch: Interdialekt (Sprecherinnen aus verschiedenen Dialektgebieten)
Zur empirischen Rechtfertigung des judgement samplings vgl. Milroy 1987.
66 Tab. 4.2 Übersicht über die Informanten des HauDtkorrius Dialektgebiet Zentrum
Süden
Osten
Norden
Lokalität Bridel Mamer Kirchberg Heisdorf Contern Itzig Esch-sur-Alzette Soleuvre Kayl Schifflingen Soleuvre Esch-sur-Alzette Vianden Grewenmacher Vianden Consdorf Bech Niederdonven Grewenmacher Troisvierges Wincrange Wiltz Wiltz
Alter 25 24 24 23 23 21 21 25 23 21 24 23 25 27 24 23 23 23 28 25 25 22 22
Geschlecht w w w w w m w w w w w w m m m w w m m w w w w
Sprecherkürzel ZI Z2 Z3 Z4 Z5 Z6 S1 S2 S3 S4 S5 S6 Ol 02 03 04 05 06 07 N1 N2 N3 N4
Die Aufnahmetypen (1) und (2) dienen dazu, die Dialektkompetenz und -performanz zu erheben und wurden hintereinander mit jeweils zwei miteinander befreundeten Gesprächsteilnehmerlnnen aus dem selben Ort oder zumindest derselben Dialektregion aufgenommen. Als Fragebuch wurde eine gekürzte Fassung des Fragebuchs zum Mittelrheinischen Sprachatlas (MrhSA) verwendet, das speziell auf die Phonologie des westmitteldeutschen Dialektraumes zugeschnitten ist und sämtliche Phoneme des mhd. Bezugssystems in allen Kontexten abfragt. Es beinhaltet 118 meist einphrasige Sätze.13 Obwohl von soziolinguistischer Seite mit Recht kritisiert werden kann, daß 'Einzelsätze' nur marginale Relevanz für die alltagssprachliche Kommunikation haben, übernimmt dieser Aufnahmetyp doch drei wichtige Funktionen: Erstens entsteht so ein einheitliches Set von Lexemen, das von allen Informantinnen vorhanden ist, so daß die direkte Vergleichsmöglichkeit der Idiolekte miteinander gewährleistet ist.14 Zweitens können die Belege des Fragebuchs als Lentoaussprachen für einzelne Lexeme angesehen werden. Der Vergleich mit dem Gesprächsstil des freien Gesprächs ermöglicht es
13 14
Die Sätze des Fragebuchs sind im Anhang abgedruckt. Dieser Vorteil zeigt sich in Kapitel 5, wo durch die Anordnung der Transkripte des Fragebuchs in Tabellen in übersichtlicher Weise alle Sprecherinnen miteinander verglichen werden können.
67
Troisvierges •
Wincrange (N2)
(N1)
θ Clerf
NORDEN (ösling) ..... Wiltz φ (N3, N4)
Vianden·! (01.03) "
Redingen
Mersch ® ZENTRUM
I · Heisdorf Bridel
J Kirehberg f
, (Ζβ>: Zotver • (S2, S5) Schifflia
. Consdorf ; · (04) feech· /
hän as mickt.
( z " e ; ) a ' - αχ (f/x-Tilg.), oa - a: (Z-a:3), ou - u
In LWb-Orthographie
ä
03
"
00
U3
" e: (Z
(Z-us), ο - us (Z-ua), ä - e: e:>·ick
"1
sangen) gesehen werden (Z-a; vgl. 5.2). Durch diese Entwicklung war die Position des α einer hohen funktionalen Belastung ausgesetzt, die durch die Dehnung von ursprünglichem α zu a: verringert werden konnte.
90 Tab. 5.1.2 Übersicht über die historische Entwicklung von ahd. α im Zentralluxemburgischen; (die Reflexe in den schattierten Reihen werden in den Kapiteln 5.2, 5.8 und 5.5 behandelt)
Variable Z-a:,
Z-a:2
Realisierung a:
a:
historischer Prozeß Dehnung
Dehnung
historischer Kontext /
-voice [-son
/ I HL
V
baken Kaatz haassen
{1:, m:, η:, 0 } $ V # laang Flaam kalewen
Z-a:3
a:
Dehnung
Z-a
α
(keine / Veränderung)
Z-o:
ο:
Dehnung + Hebung
/_$*
Z-U3
us
'Brechung'
/
$ [+voice]
/
{ht, hs}
/
Beispiele
R
(C) $
{1, m, n} (C) # 1 HLH
'backen' 'Katze' 'hassen' 'lange' 'Flamme' 'kalben'
Gaart schwaarz Dali Marin Damp
'Garten' 'schwarz' 'Tal' 'Mann' 'Dampf
Nol soen Fuedem fueren
'Nagel' 'sagen' 'Faden' 'fahren'
Nuecht wuessen
'Nacht' 'wachsen'
Entsprechend der Einteilung des Folgekontextes von ahd. α in natürliche Klassen können drei Variablen für Z-a: ermittelt werden, die im folgenden in ihrer diachronen Entwicklung im Z-System, dem Zentralluxemburgischen, erläutert werden. Z-a:,
Dehnung fand erstens vor den stimmlosen Obstruenten k, p, t, ts, f , s, x, /('Tenues') statt, und zwar unabhängig von deren Position im Wort oder in der Silbe (1). (1)
[ba'.ksn] [tRa:p] [plaits] [Jpa:s]
baken Trap Piaatz Spaass
'backen' 'Treppe' 'Platt' 'Spaß'
Da sowohl in offenen als auch in geschlossenen Silben gedehnt wurde, ist der Wandel nicht durch den Silbentyp determiniert. Doch nicht alle stimmlosen Obstruenten favorisierten die Dehnung: Konsonantenverbindungen wie xt ( < wgerm. h oder f + t ) und xs ( < wgerm. hs) blockierten die Dehnung.1 In diesen Fällen entwickelte sich, wie die Beispiele in (2) zeigen, der Diphthong ua (Z-ua, vgl. 5.5). (2)
[nueft] [vussan]
Nuecht 'Nacht' wuessen 'wachsen'
Die Affrikate ts (Piaatz 'Platz') wird als Monophonem gewertet und gestattet daher die Dehnung.
91 Daß nur vor Einzelkonsonanten gedehnt werden konnte, zeigt sich auch in morphologischen Alternationen wie z.B. [ma:xan] 'machen' vs. [ma^t] '(er/sie) macht' vs. [muaft] 'Macht'. Als diachronische Regel hat die Entwicklung folgendes Format (3). (3) Regel für die Herleitung von Z-a:, ahd. α > a: /
-son -voice
Z-a:2 Vor den inlautenden, größtenteils geminierten Sonoranten /:, m:, η:, η und / mit folgendem Konsonanten wurde ahd. α ebenfalls zu a; gedehnt. Die Lexeme dieser Gruppe sind aus Zweisilbern, die heute teilweise einsilbig sind (4a), oder aus doppelt gedeckten Einsilbern entstanden (4b). (4a) (4b)
[fla:'m] [la:'q] [kai'lvsn] [a:'l] [ka:'l]
Flam laang kalewen cd kal
'Flamme' 'lange' 'kalben' 'alt' 'kalt'
Die Dehnung findet in diesen Fällen also immer in geschlossener oder zumindest ambisilbisch gedeckter Silbe statt (ahd. [flam:a] 'Flamme'). Die Motivation für die Dehnung liegt im Verlust der zweiten Silbe (flamma > [flai'm]) bzw. in der Tilgung des finalen Obstruenten (alt > [a:'l]), so daß von einem kompensatorischen Prozeß ('Ersatzdehnung') gesprochen werden kann, der die verlorenen Moren (μ) wieder restituiert (5). (5)
Ersatzdehnung μμμ
III ahd. [flam:a]
μμμ
> le.
μμμ III
ahd. [alt]
V| [fl a: m] μμμ
> le.
ν ι
[a: 1]
Nach Ausweis der dialektologischen Literatur trägt der Stammvokal den Tonakzent 1 (TAI). Die diachrone Regel hat folgendes Aussehen (6). (6)
Regel für die Herleitung von Z-a:2 ahd. a > a: / {1(:), m(:), n(:), η}(0 $ V # I HL
Z-a:3 Die Dehnung erfolgte weiterhin vor tautosilbischem R, und zwar auch denn wenn diesem noch weitere Konsonanten folgen. Dieser Prozeß ist auf die intrinsische Tendenz des Vibranten R zurückzuführen, in postvokalischer Stellung zu Β (Tiefschwa) zu vokalisieren. In diesem Kontext kann somit eine natürlich-phonologische Basis zur Dehnung des vorausgehenden Vokals festgestellt werden (7).
92 (7)
[ga:Rt] [aiRba/t] [ha:Rt] [JVaiRts]
Gaart Aarbecht haart schwaartz
'Garten' 'Arbeit' 'hart' 'schwarz'
Tautosilbizität des R ist die notwendige Voraussetzung der Dehnung. Wenn R im Onset der Folgesilbe silbifiziert ist, ist die Dehnung blockiert, und es findet eine andere Entwicklung statt. In diesen Fällen bildet sich ua heraus (8).2 [fua s R3n] [Jpu3IRan]
(8)
fueren spueren
'fahren' 'sparen'
Da die Λ-Vokalisierung nur in der Coda direkt nach dem vokalischen Silbennukleus stattfinden kann, ist sie in einer Onsetposition blockiert. Mit einer phonologischen Regel kann Z-a:3 wie in (9) hergeleitet werden. (9)
Regel für die Herleitung von Z-a:3 ahd. a > a: /
R
(C) $
Im Überblick über die Entwicklung läßt sich sagen, daß es sich bei der Dehnung von ahd. a im Zentralluxemburgischen um einen unnatürlichen, diachronen Prozeß handelt. In seiner Beschreibung von Dehnungen in der Sprachgeschichte benennt Hock (1991: 139) nachfolgende stimmhafte Laute bzw. Offensilbigkeit als phonologische Kontexte, die Dehnung motivieren.3 Doch in diesen Fällen liegen teilweise genau die entgegengesetzten Kon-texte vor, nämlich folgende stimmlose Laute und oft auch geschlossene Silben. Eine kontextbedingte Motivation für die Dehnung liegt damit nicht vor. Plausibler ist es, die Dehnung von ahd. α als eine 'therapeutische' Reaktion auf die Hebung von ahd. α > o/zu interpretieren.
5.1.2
Überblick über die Dialektgeographie
Nachdem nun die historische Entwicklung von Z-a: vorgestellt ist, kann die dialektale Situation vom Beginn des 20. Jh. mit der heutigen dialektalen Situation verglichen werden. Zur Rekonstruktion der historischen Situation werden diejenigen Lexeme des LSA, die Z-a: aufweisen, in eine Matrix übertragen. Als nächster Schritt werden für 32 Lokalitäten, die sich homogen über ganz Luxemburg verteilen, die Varianten des Vokals in der Tabelle notiert.4 Stimmt die Variante des Ortspunktes mit Ζ überein, wird ein ' + ' in die Tabellenzelle eingetragen. Im Falle der Abweichung von Ζ wird die Transkription des Stammvokals aus dem LSA eingetragen. Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen und Parallelentwicklungen zeigen
2 3 4
Eine Ausnahme bildet war [va:(B)], wo in Analogie zu waren [vaiRan] gedehnt werden konnte. Vgl. die mittelenglische Vokaldehnung oder die frühneuhochdeutsche Dehnung. Dazu wurde für 30 Planquadrate des LSA jeweils eine Ortschaft ausgewählt. Für die Ballungszentren Luxemburg-Stadt und Esch-sur-Alzette wurden jeweils zwei Ortspunkte - einer direkt im Zentrum, ein zweiter am Stadtrand - ausgewählt, um die Einflüsse von Stadtsprachen abschätzen zu können. Nach Möglichkeit wurden Lokalitäten gewählt, für die sich auch Sprecherinnen im Sample finden. Die Auflistung der Ortschaften sowie die Grundkarte sind im Anhang wiedergegeben.
93 zu können, sind die Lexeme nach den entsprechenden Variablen von Z-a: angeordnet. Die Darstellung erlaubt es, die Verbreitung der zentralluxemburgischen Varianten zu visualisieren: Spalten, i.e. Lokalitäten, mit vielen +-Zeichen zeigen einen hohen Anteil von Z-Formen, und umgekehrt deuten wenige +-Zeichen auf wenige Z-Formen und auf eine größere linguistische Distanz zu Ζ hin. Gemäß der Dialekteinteilung (Kap. 4.2) sind jeweils mehrere Lokalitäten zu den entsprechenden Dialektregionen zusammengefaßt. Zusätzlich ist ein Übergangsgebiet definiert, das den Übergang vom Norden zum Zentrum (Ν > Z) deutlich machen soll. Im Text wird den Abkürzungen für die Lokalitäten noch die Sigle für die Region vorangestellt (z.B. N-Tr = Troisvierges, nördliches Dialektgebiet). Diese regionale Variation, wie sie der LSA dokumentiert, ist in Tab. 5.1.3 dargestellt. Es ergibt sich ein sehr unüberschaubares Muster. Quantitativ überwiegt die Variante a:. Von den 416 Belegen in Tab. 5.1.3 werden 309 (74,3 %) mit a: realisiert. Ausschließlich a: zeigen die Lokalitäten N-Me, Di, O-Mo, O-Ch und O-Co. Die Lokalitäten N-Is, N-Wc, Ba, Kü, Z-Bi, Z-Br und Z-LUX haben maximal zwei Abweichungen vom Z-System. Es handelt sich dabei überwiegend um Kürzungen und Palatalisierungen. Damit umfaßt die Region, die fast ausschließlich a: aufweist, einen Großteil des zentralluxemburgischen Gebietes, aber auch Bereiche des Nordens. In fast allen Regionen bzw. Lokalitäten finden sich velarisierte Varianten vom Typ o: oder o:. Wie Tab. 5.1.3 zeigt, manifestiert sich im Süden und Osten diese Variante als Diphthong oa. Der zweite Bestandteil des Diphthongs ist auf die Vokalisierung des r zurückzuführen, der hier wohl deutlicher zu hören war als im Norden, für den immer Monophthonge O:!D: transkribiert werden. Palgen (1948: 9) beschreibt die südliche Variante als "q vor r, das wohl reduziert ist, aber doch seinen Eigenwert behält". Weiterhin sind Palatalisierungen zu ε: und e: festzustellen. Das auffälligste Merkmal der Variantenverteilung liegt darin, daß nur sehr wenige Ortschaften und keine der Regionen ein einheitliches Muster aufweisen. Jede Ortschaft wird durch ein eigenes Variantenset gekennzeichnet. So kann gefolgert werden, daß schon zu Beginn des Jahrhunderts die zentralluxemburgische Varietät in fast alle Ortschaft zumindest mit Einzelformen eingedrungen ist und es zur Entstehung von Mischdialekten kam (vgl. Lokalität N-Tr: [ka:f] 'gekauft' neben verk[o:]fen 'verkaufen').
94 + + + § β + + + + + + + §
« Μ Ο ο « « Κ 1
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m σ> c3 sz ο β) 1π ρ
'φ/
0,2 ω
8
02
Ν3
01
Ν4
Ζ3
Z1
S1 N2 04 Z5 Sprecherinnen
S2
S3
S6
06
N1
Z2
0
A b b . 5.1.9 Maximal-, Minimal- und Mittelwerte für F2 von Z-a:, angeordnet nach zunehmendem F2-Mittelwert. Standardabweichung (ovales Symbol) auf der rechten y-Achse
5.1.5
Dialektologische und phonologische Diskussion
Die Analyse des Variationsbereichs Z-a: zeigt, daß für alle Variablen die zentralluxemburgische Variante in die Dialekte des Südens, Ostens und Nordens eingedrungen ist. Aber auch
Ill
im Zentrum sind vorher vereinzelt vorhandene velare Varianten abgebaut worden. Diese Dynamik führt zu einer Reduktion der arealen Variation und kann als Dialektausgleich bezeichnet werden. Der Ausgleich ist im Süden am weitesten fortgeschritten. Dies hängt mit der geographischen Nähe zum Zentrum und mit der rapiden Bevölkerungszunahme in der ersten Jahrhunderthälfte zusammen. Im Osten und Norden werden die ursprünglichen Variantenverhältnisse noch stärker bewahrt. Doch auch hier ist der Z-Einfluß zu spüren. Bei einigen Sprecherinnen hat er bereits zu einem vollständigen Abbau der alten Dialektformen geführt. In diesem Dialektausgleich sind verschiedene phonologische Prozesse involviert. So wird die Variante οι für Z-a:3 abgebaut und verschwindet aus dem Lautinventar des Letzebuergeschen. Von diesem Abbau ist die Anzahl der Sprachlaute betroffen, somit ist der Wandel auf der prälexikalischen Ebene des phonologischen Systems angesiedelt. Auf der lexikalischen Ebene haben sich Umdistribuierungen ergeben. Die Variante o: für Z-a:4 wird durch a: ersetzt, oder genauer formuliert: Die Wortklasse auf ahd. ou, deren lexikalische Repräsentation vorher ein o: enthielt, wird nun mit a; realisiert. Es kommt also zu einer Veränderung der lexikalisch-phonologischen Struktur bestimmter Wörter. Generell findet in allen Regionen ein Abbau der velaren Varianten α, ο:, ο: statt. Der Abbau verläuft über ein Stadium der Kovarianz; diese kann mit Hilfe von Korrespondenzregeln beschrieben werden. In Tab. 5.1.6 ist die heutige Variantenverteilung wiedergegeben. Die schattierten Zellen geben die Veränderungen und Variabilisierungen gegenüber der LS/1-Situation an. Die Tilde - symbolisiert Kovarianz zwischen zwei Varianten an. Tab. 5.1.6 Heutige Variantenverteilung für Z-a: pro Region (schattierte Zellen geben Veränderungen gegenüber der L&4-Situation an) Osten Süden Norden Zentrum a: + + + + o: o: ~a: o: —a: o: ~a: — o:
o: ~a:
a:
a:
—
α
α - ai
—
—
—
Die Tabelle belegt, daß das in allen Regionen vorhandene a: die Varianten mit einer ursprünglich kleinräumigeren Verbreitung (i.e. ο:, ο:, α) zurückdrängt. Im Falle von Z-a:3 führt der Dialektausgleich zu einem Rückgang des Einflusses des lautlichen Kontextes. Die velaren Varianten O:/o:, die koartikulatorisch durch die Interaktion mit R entstanden sind, werden sukzessive durch a: ersetzt. Das bedeutet, daß R nicht mehr zu einer Velarisierung eines vorausgehenden Vokals beitragen kann. James Milroy (1982) hat in diesem Zusammenhang auf ein wichtiges, linguistisches Unterscheidungskriterium zwischen 'vernaculars' und 'standard varieties' hingewiesen. Im phonologischen System von ersteren sind vielfältige Kontexteinflüsse durch benachbarte Segmente möglich. In Standardvarietäten dagegen ist der Kontexteinfluß minimiert. Jedes einzelne Segment besitzt eine 'normierte' Aussprache, die stabil gegenüber Einflüssen der lautlichen Umgebung ist. Diese Unterscheidung läßt sich auf die Dynamik der Variable Z-a:3 anwenden. Die ursprünglichen Dialekte von Süden, Osten und Norden ließen den Kontexteinfluß von R auf ein vorausgehendes a: zu, wodurch die velaren Va-
112 rianten entstanden. In der heutigen Situation dringt in die Dialekte die Z-Varietät ein, die diesen Kontexteinfluß nicht aufweist. In diesem Merkmal verhält sich die zentralluxemburgische Varietät wie eine Standardvarietät: Stabile Phonemrealisierungen können durch den unmittelbaren Kontext nicht beeinflußt werden. Durch den Abbau geht damit in den phonologischen Systemen der Dialekte die Allophonregel verloren, die a: vor R ZU O:/O: werden läßt. Der Abbauvorgang selbst manifestiert sich in einer Variabilisierung zwischen zwei (oder mehr) Varianten. Dabei werden ursprünglich stabile Variantenverhältnisse durch Z-Einfluß aufgelöst. Als phonologische Formalisierung kann Auers (1990) Konzept der 'Korrespondenzregel' verwendet werden. Wie die akustisch-phonetische Analyse zeigt, ist der Abbau der velaren Varianten α, ο:, ο: auch an die Realisierung von a: gekoppelt. Es kann ein Übergang der Realisierung von einem hinteren, leicht geschlossenen σ/über ein mittleres a: zu einem frontierten (und überoffenen) «/ermittelt werden. Parallel dazu bewegt sich die luxemburgische a/-Realisierung vom Lautsystem des StD weg; es kommt damit zur Divergenz von der Sprache des Nachbarlandes.7 In der Interdialektaufnahme konnte die Κοίηέ-Hypothese nicht bestätigt werden. Die Anteile der Dialektvarianten gehen in der überregionalen Gesprächssituation nicht zurück. Für einige Infn kann sogar eine Zunahme der Dialektalität beobachtet werden. Nach dieser ersten phonetisch-phonologischen Analyse kann eine erste Gruppierung der Sprecherinnen nach dem Grad des Dialektausgleichs vorgenommen werden. • • • •
Z-Infn sehr einheitlich auf a: fokussiert Infn mit deutlichem Abstand zu Ζ und wenig Dialektabbau: O l , N1 Infn mit starkem Dialektabbau: S2, S4, S5, S6, 0 4 , 0 5 , 0 6 , N3 die übrigen Infn ( S l , 0 2 , 0 3 , 0 7 , N2, N4) haben mittleres Dialektalitätsniveau
Im folgenden wird zu prüfen sein, ob diese Dialektalitätseinteilung bzw. die Gruppierung der Infn sich auch in der Analyse der übrigen Variationsbereiche bestätigen läßt.
5.2
Variationsbereich Z-a
Der LSA stellt für die Variable Z-a drei Hauptvarianten fest. Weiteste Verbreitung hat kurzes α. Besonders im südwestlichen Gebiet des Landes findet sich im präsonorantischen Kontext häufig au. Weniger verbreitet sind die Varianten a: und o:. Die Qualität von Z-a variiert zwischen einem mittleren a und einem velaren und etwas geschlossenerem q..
7
In diesem Aspekt eröffnen sich interessante Forschungsperspektiven bezüglich der Etablierung und linguistischen Konturierung einer deutsch-luxemburgischen Sprachgrenze. Zu divergenten Tendenzen im Moselfränkischen beiderseits der Staatsgrenze vgl. J.-P. Hoffmann (1985), Cajot (1989) und Gilles (i.V.c).
113 5.2.1
Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
Wie Tab. 5.2.1 zeigt, geht Ζ-α aus drei ahd. Vorgängerphonemen hervor. Tab. 5.2.1 Historische Entwicklung von Ζ-α im Zentralluxemburgischen historischer historische Variable ahd. Prozesse Bezugslaut Kontext Z-Q,
α /
Z-a2
(keine Veränderung)
σ /\ {1, m, n} (C) # 1 HLH
i
Senkung — lexikalisiert — meist:/ [+son](C)$
0
Senkung -son +cont
Beispiele [man2] [gakan2t] [kal2af]
'Mann' 'gekannt' 'Kalb'8
[kan2!] [van^ß]
'Kind' 'Winter'
[/las]
'Schloß'
[kaxsn]
'kochen'
Ζ-α geht zurück auf unverändertes ahd. α in ursprünglichen Einsilbern, die auf l, m, η oder l, m, η + stimmlosen Konsonanten auslauten. Dabei tragen die Sonoranten in der Coda den Tonakzent 2 ('Schwebelaut'; Diakritikum ,2 '), der häufig zur Dehnung derselben führt ([dal:2] Dali 'Tal'). Es ist offensichtlich, daß diese diachrone Herleitung derjenigen für die Entwicklung von Z-a:2 ähnelt (5.1; vgl. ahd. lange > [la:q]). Doch die beiden Wortklassen unterscheiden sich zum einen in der Tonkontur - Z-a:2 trägt TAI, Ζ-α trägt TA2 - und zum anderen in der Silbenzahl der historischen Lexeme. Ehemals zweisilbige Wörter wurden ersatzgedehnt, ehemalige Einsilber behalten ihre Kürze. Zu Ζ-α, zählen auch die Reflexe von gesenktem ahd. i. Diese Senkung, die wohl im 12. Jh. einsetzte (vgl. Jungandreas 1962), ist eines der charakteristischen Merkmale des Moselfränkischen. Sie fand meist vor Sonorant statt, doch findet sie sich sporadisch auch in anderen Kontexten, so daß eine exakte Kontextbedingung nicht angegeben werden kann. Es handelt sich damit um einen lexikalisierten Lautwandel (1). (1)
8
9
blann Lann schwammen sangen batter dratten mat an
'blind' 'Linde' 'schwimmen' 'singen' 'bitter' '(der) dritte' 'mit' 'und' 9
In jüngeren Entwicklungen wurden auslautende 'Sonorant + Obstruent'-Verbindungen durch SchwaEpenthese aufgelöst, und aus Einsilbern wurden Zweisilber (vgl. hallef 'halb', Kallik 'Kalk', Schallik 'Schalk'). Der Konjunktor an 'und' geht im Letzebuergeschen auf die ahd. Variante inde zurück und wurde so in die Senkung hineingezogen.
114 aber:
Schitm Dill Still Bild
'Schienbein' 'breiter Balken, Diele' 'Stiel* 'Bild'
Da für die Reflexe von ahd. α und i keine Unterschiede in der lautlichen Entwicklung und in der dialektgeographischen Verteilung festgestellt werden können, werden sie zur Variablen Z-α, zusammengefaßt. Als Variable Z-a2 wird die Senkung von ahd. ο zu α in geschlossener Silbe und vor intervokalischem, stimmlosen Frikativ ( < wgerm. Tenuis) behandelt.
5.2.2
Überblick über die Dialektgeographie
Tab. 5.2.2 gibt die dialektgeographische Situation wieder, wie sie durch den LSA erhoben wurde. Deutlich zeigt sich, daß in Norden, Teilen des Ostens und des Zentrums α vorherrscht. In den übrigen Bereichen sind di- und monophthongische Varianten verbreitet (au, oi). Die Mehrzahl der oo-Formen findet sich in der Südwesthälfte Luxemburgs (vgl. Meyers 1930: 23f., Palgen 1948: 8f.).10 Für Z-α, zeigt sich, daß σα und o: nur im Kontext ahd. α + l, m, «-Verbindungen vorkommen. Nach Bruch (1954: 88ff.) sind diese Dehnungen und Diphthongierungen als Weiterentwicklungen des zentralluxemburgischen kurzen α zu betrachten. Die Endhälfte des (kurzen!) α sei besonders vor Sonorant 'hörbar' geworden und darauf zum Diphthong au phonemisiert worden. Aus phonetischen Gründen erscheint diese Herleitung unplausibel. Erstens bleibt unklar, wie sich dann aus au die Variante o: entwickeln konnte. Und zweitens ist ungeklärt, wie gerade ein Kurzvokal einen hörbaren Abglitt herausbilden soll. Wahrscheinlicher ist es, daß es in diesem Kontext zu einer Assimilation zwischen Vokal und Sonorant gekommen ist. Die erste More des durch den TA 2 gedehnten Sonoranten h, m:, n: wurde vokalisiert. Je nach der Qualität des vorausgehenden Kurzvokals entstand entweder ein o: oder ein au. Bei diesem Prozeß ging dann der TA2 verloren. In (2) sind die entsprechenden Varianten aus Südwesten und Zentrum einander gegenüber gestellt. (2)
S [kaunt] [koint] [gefaul] [gsfo:l] [kaunt] [ko:nt]
Ζ [kan2t] [gsfal 2 ] [kan2t]
kannt gefall Kand
'gekannt' 'gefallen' 'Kind'
Die Varianten für Z-a2 fokussieren im Norden, Süden und Zentrum auf a. In einem kleinen östlichen Gebiet in der oberen Moselgegend und an der Sauer (O-Gr, O-Vi) haben sich statt dessen Dehnungen zu o: herausgebildet (3). (3)
10
O-Vi, O-Gr [gebRoix] [ka:xen] [no:x]
Ζ [gabRQx] [kaxan] [nax]
gebrach kochen nach
'gebrochen' 'kochen' 'noch'
In Bruchs (1953) Karte 46 sind einige der relevanten Isoglossen eingetragen (vgl. oben Abb. 4.4).
115 ο ζ υ
+ + +α3
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5
116 Nach Angabe von Palgen (1931: 21) und Engelmann (1910a: 30) wurden die Dehnungen für Z-a2 ausnahmslos durchgeführt. Anzeichen für die Lexikalisierung von Ζ-α2 in diesen östlichen Ortsmundarten liegen damit nicht vor.
5.2.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
Die heutige Situation, wie sie in Tab. 5.2.3 für die Fragebuchaufhahme dargestellt ist, vermittelt sofort den Eindruck eines sehr weitreichenden Nivellierungsprozesses. Bis auf zwei Belege für Z-a2 hat sich in allen Regionen α durchgesetzt.11 In Tab. 5.2.3 sind die Spalten deijenigen Infn schattiert, die aus Lokalitäten stammen, für die der LSA noch au und o: angegeben hatte. T a b . 5.2.3 Dialektgeographische Verbreitung für den Stammvokal von Ζ-α in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Referenzsystem (hier: a); bei Abweichung vom Referenzsystem: Transkription der Variante des Stammvokals; schattierte Spalten geben Veränderungen gegenüber der L5/4-Situation an
•halb' Hals 'Hals' Kallef 'Kalb' 'Salz' Salz dannzen 'tanzen' 'Zahn' Zanru 'Vater' Papp 'Stall' Stall formen 'finden' Kapp 'Kopf 'noch' nach Schloss 'Schloß' halewer
Va. ZI Z2 Z3 Z4 z s Z6 S1 S2 S3 S4 S5 S6 0 4 OS 0 6 N2 N3 N4 0 2 0 7 N1 Ol + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + +
Z-a, Z-a, Z-a, Z-a, Z-a, Z-a, Z-a, Z-a, Z-a, Z-a2 Z-a2 Z-a2
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+ + + + + + + +
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o: o:
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+ + +
+
+ + + +
+ + + + + +
Der dicht besiedelte und industrialisierte Südwesten (S-Zo, S-Es, S-Sc, S-Ka), der sich vormals beträchtlich vom Zentrum unterschied, zeigt heute ausschließlich Z-Formen. Schon Palgen (1948: 9) hatte bemerkt: "Doch stirbt dieser Laut [o;, P.G.] mehr und mehr aus; man hört diese Formen heute nur noch bei alten Leuten." Der Abbau der alten Formen für Z-a, ist vollständig: Selbst Einzelformen, die als Lexikalisierungen erhalten bleiben könnten, sind nicht (mehr) vorhanden. Auch für Z-Q2 sind die alten Varianten des Nordens und Ostens verschwunden. Als Rest der ursprünglichen Formen verwenden N1 und Ol je eine der Varianten mit langem Monophthong o: für Z-Q2 (4). 11
Für den dünn besiedelten Bereich westlich der Hauptstadt können keine Aussagen gemacht werden, da hier keine Daten erhoben wurden.
117 (4)
Nl, Ol
Ζ
[Jb:s]
[/las]
Schiass
'Schloss'
Da die Infn alle übrigen Belege für Z-a2 mit α realisieren, ist davon auszugehen, daß es sich bei (4) um eine Reliktform handelt. In den Daten des freien Gesprächs zeigen sich keine Veränderungen des Variationsmusters von Z-a, ebensowenig in der Interdialektaufnahme. Auf eine Darstellung der Variantenhäufigkeiten kann daher verzichtet werden.
5.2.4
Akustisch-phonetische Analyse
Auf subphonemischer Ebene variiert Z-a einerseits zwischen mittleren und andererseits zwischen mehr velaren und geschlosseneren ^-Realisierungen. Da in einer ohrenphonetischen Transkription diese feinen qualitativen Unterschiede nur unzureichend erfaßt werden können, wird die regionale Variation von Z-a akustisch-phonetisch näher untersucht. In Abb. 5.2.1 sind die Mittelwerte der Infn für Z-a in einen Ausschnitt einer Formantkarte eingetragen. Es können zwei Sprecherinnengruppen unterschieden werden. Wie die relativ niedrigen Fl- und F2-Werte zeigen, realisieren die meisten Infn aus Osten und Norden geschlossene und velare α-Qualitäten. Für die Infn aus dem Zentrum und dem Süden dagegen sind stärker offene und weniger velare Realisierungen festzustellen, die teilweise in der Qualität mit Keyser-Beschs (1976) Messungen übereinstimmen (Sl, ZI). Eine zweite Sprecherinnengruppe verwendet sogar noch offenere und palatalere α-Qualitäten (S6, 04, S3). Ob für die Infn aus Osten und
F2 (Bark) Abb. 5.2.1 Mittelwerte für Z-a im psychoakustischen Vokalraum; zusätzlich sind die Werte für das StD (Heid et al. 1995) und der luxemburgische Referenzwert (LUX; Keyser-Besch 1976) eingetragen
118 Norden einmal die gleiche Qualität wie für das übrige Luxemburg gegolten hat, kann in Anbetracht der Quellenlage nicht zweifelsfrei entschieden werden. Angesichts der Tatsache, daß sich die α-Qualitäten fast aller Infh aus Norden und Osten deutlich vom übrigen Luxemburg unterscheiden, kann jedoch vermutet werden, daß auch die ursprüngliche östliche bzw. nördliche α-Qualität geschlossener und velarer war. Die beiden Sprecherinnen 0 6 und 04, die beide nicht (mehr) den ösdichen Dialekt verwenden, haben sich von dieser ursprünglichen Realisierung entfernt und zeigen eine Öffnungs- und Frontierungstendenz. Sie haben sich damit der Z-Varietät angenähert. Vom Wert des StD liegen die Mittelwerte der meisten Infh deutlich entfernt. Lediglich 0 6 kommt an den Wert des StD heran. Insgesamt kann somit keine Konvergenz zur standarddeutschen Phonemrealisierung festgestellt werden, vielmehr hat sich in Luxemburg, wie bereits für Z-a: ermittelt, eine eigene Realisierung für den Vokal α herausgebildet. In den folgenden Abb. 5.2.2 und 5.2.3 sind getrennt für die beiden Forxnanten zusätzlich zum Mittelwert noch der minimale und maximale Wert sowie die Standardabweichung abgetragen. In diesen Darstellungen werden die individuellen Varianzspannen sichtbar, die in einer Formantkarte, die nur die Mittelwerte enthält, nicht zum Ausdruck kommen. So können Sprecherinnen mit stabilen Phonemrealisierungen von denjenigen getrennt werden, deren Realisierungen über einen weiten Bereich streuen. Wie Abb. 5.2.2 für die Öffnungsgradvarianz (Fl) für Z-a zeigt, bewegen sich die Varianzspannen einiger Infn in der Größenordnung um ein Bark herum. Diese Infh zeigen damit stabile Phonemrealisierungen, die nur wenig durch kontextuelle Faktoren wie konsonantische Umgebung oder Grad des Wortakzentes beeinflußt werden. Demgegenüber lassen die Infn aus dem Norden (aber auch Z3, S2, S3, 04) weite Variationsspannen von ca. zwei Bark erkennen, die darauf hindeuten, daß hier zwischen offenen und geschlossenen α-Varianten gewechselt wird. Bedeutend variabler stellt sich der F2 von Z-a dar (Abb. 5.2.3), denn hier sind die Varianzspannen insgesamt größer. Besonders Z2 und N4 fallen durch ca. 2,5 Bark große Variabilitätsbereiche auf. Für diese Infn ist auch die Standardabweichung sehr hoch. Dies zeigt, daß es sich bei den Extremwer8
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Sprecherinnen Abb. 5.2.2 Maximal-, Minimal- und Mittelwerte des F l von Z-a, angeordnet nach zunehmendem Fl-Mittelwert. Standardabweichung (ovales Symbol) auf der rechten y-Achse
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e:n
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123 5.3.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.3.3.1 Dialektaufhahmen Die heutige Dialektsituation, wie sie sich in der Fragebuchaufnahme darstellt, ist in Tab. 5.3.3 wiedergegeben. Tab. 5.3.3 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Ζ-ε in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Referenzsystem (hier: e); bei Abweichung vom Referenzsystem: Transkription der Variante des Stammvokals
Z2 S4 ZS ZÖ ZI Z4 Z3 82 S1 S5 S4 S6 S3 N3 IM N2 04 05 06 02 07 N1 Ol
beichten 'besten'
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Fändel
'Pfeffer' + + + + + + + + + + + + + + + + + 'Fahne' + + + + + + + + + + ae:n + + + + + +
+
+
+
+ ε: e: + 'ε +
treffen
'treffen'
Fläsch hell
+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + 'Flasche' + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + 'hell'
'Fest'
Zänn stellen
'Zähne'
Äst
'Äste'
Fräsch
'Frosch'
'stellen'
Fräschen 'Frösche' + + + + + + + + + + + 'Köpfe' + + + + + + + + + + + Kapp Peffer
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+
-
-
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-
-
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-
+
-
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-
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+ e: + e:
+ + e: + e:
-
+ e: + e:
-
+
Im Vergleich mit den Daten des LSA haben sich eine Reihe von Veränderungen ergeben. Die Infn N3 und N4 aus N-Wi weisen ausschließlich Zentrumsformen auf; in dieser Ortschaft sind die lexikalisierten Belege, wie sie der LSA dokumentiert, nicht mehr vorhanden. Nur N1 (aus N-Tr) hat die Einzelform [pe:fe] Peffer, die im LSA für den Nachbarort N-Is belegt war. Ebenfalls nur Z-Formen sind für 02 und 0 7 aus Grewenmacher (O-Gr) festzustellen. Die im LSA mit relativer Systematizität dokumentierte Dehnung im Osten ist vollständig zugunsten von Z-Formen abgebaut. Dieser Befund gilt auch für die übrigen Aufnahmetypen (Dialektgespräch, Interdialektgespräch) von 0 2 und 07. Als systeminteme Konsequenz dieses /eve/Zmg-Prozesses werden in einigen Fällen morphologische Prozesse wie z.B. die Pluralbildung, die ehemals eine regelmäßige, vorhersagbare Alternanz aufwiesen, gestört. Im alten System geschah z.B. die Pluralbildung bestimmter Substantive durch alleinige Umlautung. Durch die Übernahme der Pluralform des Zentrums geht die Durchsichtigkeit der Pluralbildung verloren, da zusätzlich zur Umlautung a: > e: noch ein Kürzungs- und Senkungsprozeß e: > ε angesetzt werden muß (2). (2)
Ο [a:st — e:st]
>
Ζ [a:Jt — est]
Aascht ~ Äscht
'Ast — Äste'
Die Regelmäßigkeit der östlichen Pluralbildung und damit die Einheitlichkeit des Paradigmas wird somit durch das Eindringen der Z-Pluralform aufgehoben. Das phonologische System
124 des Zentrums setzt sich über die morphologischen Regularitäten des Ostens hinweg und 'importiert' eine neues Allomorph. Durch diesen Abbau einer vormals regelmäßigen Erscheinung mündet der Dialektausgleich nicht in ein vereinfachtes, sondern in ein komplexeres System. Wie Tab. 5.3.3 zeigt, besitzt lediglich Inf 0 2 aus Vianden (O-Vi) die Dehnung in einer Ausprägung, in der die frühere Systematizität noch größtenteils vorhanden ist. Gegenüber den LS/l-Daten zeigt dieser Inf leichte Veränderungen, doch dominiert weiterhin e:. In den Lexemen beschten '(am) besten', Fest 'Fest' und Fläsch 'Flasche' wäre e: erwartbar (vgl. Engelmann 1910a: 26). Der Inf verwendet jedoch die Z-Lautung ε. Damit kommt es zu einem Nebeneinander von e/und ε (3). (3)
ε [flej] [best]
e: [fRe:J] [erst]
Fläsch ~ Fräsch beseht ~ Äscht
'Flasche ~ Frosch' 'beste — Äste'
Die Fastminimalpaare in (3) belegen weiterhin, daß keine Kontextfaktoren für die Verteilung von e: und ε verantwortlich sind. Auch die Anzahl der Folgekonsonanten hat keinen Einfluß auf die Länge des Stammvokals (4). (4)
e: ustr[e]ngend
'anstrengend' 'Fälle' 'beste'
mn
k[f,]nnen [e:]ppes
'kennen' '(du) fällst' 'etwas'
Das dialektale System von Ol hat somit eine Vermischung mit Z-Formen erfahren. Neben der Realisierung e: tritt nun die neue Variante ε. In der quantitativen Variantenverteilung für das Dialektgespräch kommt diese Tendenz deutlicher zum Vorschein. In Tab. 5.3.4 sind die Häufigkeiten für Ol und 03 (ebenfalls aus O-Vi)14 zusammengestellt. Tab. 5.3.4 Variantenhäufigkeiten für Ζ-ε im Dialekteesnräch für die Lokalität Vianden (O-Vi)
Ol
03
token
%
token
%
ε
14
38,9
9
50
e:
21
58,3
9
50
sonstige
1
2,8
0
0
Für Ol ist, deutlicher als in der Fragebuchaufnahme, die Variabilisierung zwischen e/und ε zu erkennen, doch dominiert e: mit knapp 60% nach wie vor. Bei 0 3 hingegen herrscht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Z- und Dialektformen, so daß im gleichen Lexem beide Lautungen vorkommen können (Kovarianz) (5). (5)
14
e: [e:n] [eipas] [feilt]
ε [εη:] [epas] [feilt]
Enn eppes fällt
'Ende' 'etwas' 'fällt'
Für diese Infn liegt keine Fragebuchaufnahme vor.
125 Besonders deutlich manifestiert sich das Nebeneinander der Formen in einer Passage von 0 3 , in der sie von einem Gesprächsbeitrag zum anderen kurz hintereinander zwischen der alten und der neuen Variante wechselt (6). (6)
Ol 03
[...] bis Enn [e:n] Juni hun άέί awer mindestens [...] Aise geet den zwielefte Juni m bis Enn [e:n] Juni, mer hun bis Enn [εη:] Mee hu mer Schoul [...] Übersetzung:
Ol 03
'bis Ende Juni haben die aber mindestens [...]' 'Unserer beginnt am 12. Juni und geht bis Ende Mai, wir haben bis Ende Mai haben wir Schule [...]'
Im ersten Beleg greift 0 3 das Wort Enn 'Ende' ihres Vorredners Ol in der dialektalen Realisierung en auf. Doch in der Wiederholung verwendet sie bereits im nächsten Satz die Z-konforme Lautung εη:. Dieses Schwanken kann als Indiz für eine Unsicherheit im Dialektgebrauch als Folge des Dialektkontaktes mit der Z-Varietät gedeutet werden.
5.3.3.2 Akustisch-phonetische Analyse Während des ohrenphonetischen Transkribierens von Ζ-ε wurde für einige Infh eine eigentümliche Senkung des Vokals in den α-Bereich hinein beobachtet. In der Formantkarte der Mittelwerte wird die Senkungstendenz sichtbar (Abb. 5.3.1). Im Vergleich mit dem Französischen und dem StD ist der luxemburgische Referenzwert bereits deutlich offener. Von diesem LUX-Wert haben sich die meisten Infh noch weiter entfernt. In der Kombination von Fl
F2 (Bark) Abb. 5.3.1 Mittelwerte für Ζ-ε im psychoakustischen Vokalraum; zusätzlich sind die Werte für das StD (Heid et al. 1995) und FRZ (Mettas 1979) sowie der luxemburgische Referenzwert (LUX) eingetragen
126 und F2 zeigt sich, daß der Senkungsprozeß (Zunahme des F l ) von einer Zurückverlagerung der Artikulation (Abnahme des F2) begleitet ist. In Abb. 5.3.2 sind die individuellen Mittelwerte des F l von Ζ-ε eingetragen. Die weite Realisationsspanne der Mittelwerte in einem Bereich von 1,5 Bark deutet auf große Unterschiede innerhalb des Samples hin. Die niedrigsten Fl-Werte besitzen die Sprecherinnen aus dem Norden und Osten (02, 0 6 , N3, N4, N2). Ihre Realisationen von Ζ-ε sind damit relativ geschlossen. Am rechten Ende des Diagramms gruppieren sich Infn aus Zentrum und Süden, und auch 0 4 , die nur noch Reste des östlichen Dialekts zeigt. Die Abbildung illustriert damit den dialektgeographischen Gegensatz zwischen ε in Osten und Norden und ee in Süden und Zentrum. Die Mittelwerte des F2 von Ζ-ε zeigen etwas weniger Variation. Die Sprecherln1 0,8
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02 Ζ3 06 Ν3 Ν4 Ν2 Ζ2 RTL N1 Z1 S1 04 S3 S2 Ζ5 S6 Sprecherinnen Abb. 5.3.2 Maximal-, Minimal- und Mittelwerte für Fl von Ζ-ε, angeordnet nach zunehmendem Fl-Mittelwert. Standardabweichung (ovales Symbol) auf der rechten y-Achse 13
0,8
12
0,6
TO
a
11 r
X 10
9
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Μ
0,4
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O) c D sz
ο
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Ό c TO iS
ω
Z5 N2 S1 N3 04 S2 N4 Z3 02 Z1 Z2 S6 S3 N1 06 RTL Sprecherinnen
Abb. 5.3.3 Maximal-, Minimal- und Mittelwerte für F2 von Ζ-ε, angeordnet nach zunehmendem F2-Mittelwert. Standardabweichung (ovales Symbol) auf der rechten y-Achse
127 nen konzentrieren sich um 11 Bark herum; die Realisationsspanne der Mittelwerte beträgt ca. 1,1 Bark (Abb. 5.3.3). Lediglich Nl, 06 und RTL weisen mit ihren erhöhten F2-Werten frontierte £-Qualitäten auf.
5.3.3.3 Interdialektaufnahme In der Interdialektaufnahme weist Ol einen Anteil von 55,8% für die gedehnte Variante e: auf. Im Vergleich mit seiner Dialektaufhahme ist die Dialektvariante um nur 2,3 % zurückgegangen. An dieser niedrigen Differenz kann keine sprecherlnnenseitige Kontrolle des Variantengebrauchs festgemacht werden.
5.3.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Aus den vorgestellten Daten ergibt sich, daß die kleinräumig verbreiteten gedehnten Varianten für Ζ-ε zugunsten der größerräumig verbreiteten e-Formen zurückgehen. Es findet somit Dialektabbau statt, der zu Dialektausgleich führt. Aus den vorhandenen Dialektmonographien kann rekonstruiert werden, daß im Norden und Osten nicht nur für die Reflexe von ahd. e/e und ου, sondern generell kein /e/-Phonem vorhanden war. Dieses 'Fehlen' eines Sprachlautes wird auf der prälexikalischen Ebene des phonologischen Systems festgelegt (vgl. oben 3.2). Damit unterscheiden sich Norden und Osten einerseits und das Zentralluxemburgische andererseits in ihren Phonemsystemen. In der Gegenüberstellung entspricht einem ε des Zentrums immer ein e: in Norden und Osten - aber nicht umgekehrt. Die beiden Sprachlaute stehen in einem einseitig rekonstruierbaren Verhältnis zueinander ('unique'; vgl. Dressier 1985, Auer 1990: 262). Durch die Auswirkungen des heute beobachtbaren Dialektkontakts ist dieses phonologisch-systematische Verhältnis verändert worden. Für die Infh des Nordens (Nl bis N4), 02 und 07 wurde die Struktur der prälexikalischen Ebene modifiziert. In ihre Systeme wurde der Sprachlaut ε des Zentrums eingeführt und dadurch gleichzeitig bei einem Teil der Lexikoneinträge e: durch ε ersetzt. Die Veränderung auf der prälexikalischen Ebene führt damit auch zu einer Veränderung der lexikalischen Ebene. Bei Ol und 03 ist dieser Prozeß noch nicht abgeschlossen. Die fehlende Kontextbedingtheit und Kovarianz belegen, daß bei diesen Infh der Einfluß der Z-Varietät über die Domäne des einzelnen Lexems ausgeübt wird: Wort für Wort dringen die Lautungen des Zentrums in die Dialekte ein. Damit kann die heute beobachtbare Varianz zwischen e: und ε auf der lexikalischen Ebene des phonologischen Systems lokalisiert werden. Das oben vorgeführte Abwechseln zwischen der Z-Form und der Dialektform ist auf die teilweise vorhandene sprecherlnnenseitige Unsicherheit zurückzuführen, welches Lexem im mentalen Lexikon mit e: und welches mit ε repräsentiert ist. Dieser variable Zustand kann durch eine Korrespondenzregel beschrieben werden, die die tendenzielle Zusammengehörigkeit von Lexemvarianten in zwei Varietäten beschreibt. Im Gegensatz zu phonologischen Regeln ist dieser Regeltyp nicht
128 kategorisch: Für Korrespondenzregeln können keine exakten Anwendungsbedingungen wie z.B. linguistische Kontexte formuliert werden. Vielmehr beschreiben Korrespondenzregeln 'Tendenzen', z.B. 'Ein ε des Zentrums entspricht teils einem ε und teils einem e: in Vianden.' Durch die Korrespondenzregel wird der Sprachlaut ε zuerst als freie Variante für e: eingeführt. Im weiteren Verlauf können durch diesen Prozeß alle alten e:, die auf historischen Kurzvokal zurückgehen, durch das ε des Zentrums ersetzt werden. Für Ol und 0 3 kann die weitere Entwicklung entweder zur vollständigen Substitution durch ε führen, oder einige e/-Lautungen bleiben in Reliktformen erhalten. Für die Progression der Variabilität von Ζ-ε kann damit eine Entwicklungslinie ausgehend vom (rekonstruierten) Erhalt der gedehnten Varianten über ein variables Stadium zwischen e: und ε bis hin zum vollständigen Abbau angesetzt werden. In (7) finden sich die wichtigsten Aspekte der Varianz von Ζ-ε zusammengefaßt. (7)
e: für Ζ-ε Verbreitung: Variationstyp Dynamik
kleinräumig (einige Ortschaften in Norden und Osten) Korrespondenzregel (Kovarianz) Erhalt — > Kovarianz — > Abbau
Ol, 03
N3, N4, 02, 07
5.4 Akustisch-phonetischer Zusammenhang zwischen Z-a:, Z-a und Ζ-ε Die Einzelbetrachtung der akustisch-phonetischen Dynamik von Z-a:, Z-a und Ζ-ε hat Tendenzen aufzeigen können, die erstens zum Auseinanderdriften von Z-a: und Z-a und zweitens zur gegenseitigen Annäherung von Z-a: und Z-e führen. Um die relativen Abstände der drei Vokale in einer Formantkarte zu visualisieren, sind in Abb. 5.4.1 (unten) die individuellen Mittelwerte durch Linien verbunden. Die Punkte auf den Linien geben die Mittelwerte an, die Linien selbst illustrieren den Abstand zwischen den Vokalen. Der Punkt am rechten Ende der Linie repräsentiert den Mittelwert für Z-a, der Punkt am linken Ende gibt den Wert für Ζ-ε an, und der Punkt im Verlauf der Linie steht für den Mittelwert von Z-a:. Für das StD zeigt sich, daß kurzes und langes α nicht unterschieden werden. Dagegen sind kurzes ε und α-Ja sehr deutlich um mehr als 2 Bark voneinander entfernt. Die deutschen α-Laute liegen ungefähr zwischen den meisten luxemburgischen kurzen und langen α-Lauten. Für das FRZ sind nur die Werte für ε und das a antirieur verzeichnet; die Opposition zwischen kurzen und langem α-Laut fehlt in dieser Sprache. Das frz. a reicht fast in den Bereich des luxemburgischen ε hinein. Bei 0 2 ist Z-a noch deutlich in der velaren Reihe und entspricht fast einem o. Sein langes a: dagegen liegt ungefähr in dem Bereich, in dem die Realisierung von Z-a der meisten übrigen Infh liegen. Die Realisierung des Ζ-ε von 0 2 ist deutlich von Z-a: getrennt ist (ca. 1,4 Bark). Eine ähnliche Konfiguration, wenn auch in etwas anderer Lage, weisen die Mittelwerte für LUX auf. Für die übrigen Infh ist - in unterschiedlichem Maße - die Frontierung von Z-a: weit vorangeschritten. Diese Infn zeigen
129 F2 (Bark) 13
11
12
\\
e
\fc
X \
10
Tl>
a:
1
Q
-FRZ -StD -LUX -N2 -02 -04 -06 -S1 -S6 -Z1 -Z3
Abb. 5.4.1 Formantkarte der Mittelwerte von Ζ-ε, Z-a: und Ζ-α für 8 Sprecherinnen; zusätzlich sind die Werte für das StD (Heid et al. 1995), das FRZ (Mettas 1979) sowie der luxemburgische Referenzwert (LUX; Keyser-Besch 1976) eingetragen; die Verbindungslinien dazwischen illustrieren die akustische Distanz zwischen den einzelnen Vokalen
somit einen deutlichen Abstand zwischen Z-a und Z-a: einerseits und einen zunehmend kleiner werdenden Abstand zwischen Z-a: und Ζ-ε andererseits. Der sich andeutende Zusammenfall manifestiert sich im kürzer werdenden Streckenabschnitt am linken Ende einer jeden Linie. Fast-Zusammenfall ist u.a. für ZI, N2 und 04 zu beobachten. Bei S1 und S6 liegen die Punkte für Z-a: und Ζ-ε fast übereinander: Die beiden Laute sind zusammengefallen. Um den Grad des Zusammenfalls bzw. der Auseinanderentwicklung exakter bestimmen zu können, ist es notwendig, die akustisch-phonetische Distanz zwischen den Vokalen zu errechnen. Mit Hilfe der folgenden Formel, die auf dem 'Satz des Pythagoras' basiert, kann im geometrischen Raum einer Formantkarte der direkte Abstand zwischen zwei Vokalpunkten bestimmt werden. Distanz
= \J(Fla-
Flß)2
+ (F2a
- F2ß)2
Dabei ist α der Vokal 1 und β der Vokal 2, die jeweils durch Fl und F2 im Vokalraum festgelegt sind; damit immer positive Zahlen entstehen, muß jeweils der größere vom kleineren Wert abgezogen werden. Der so errechnete Abstand zwischen Z-a: und Z-a ist in Abb. 5.4.2 eingetragen. Für alle Infn (auch für die Nachrichtensprecherin RTL) wurde die Distanz zwischen den beiden Vokalen errechnet und in aufsteigender Reihenfolge, d.h. nach zunehmendem Abstand, angeordnet. Zum Vergleich sind die Differenzen für das StD und das Luxemburgische (Keyser-Besch 1976) hinzugefügt.15 Wie der geringe Abstand für StD in Abb. 5.4.2 zeigt, sind hier kurzes und langes a: qualitativ nicht unterschieden. Im Luxem-
15
Für das FRZ kann dieser Vergleich nicht durchgeführt werden, da es keine Längenopposition für a besitzt.
130
LUX 0 2
06 RTL Z1
S1
N4 S6 0 1 Sprecherinnen
Abb. 5.4.2 Psycho-akustische Distanz zwischen den Mittelwerten von Z-a: und Z-a für 17 Infn; zusätzlich sind die Distanzen für das StD (nach Werten von Heid et al. 1995) sowie für den luxemburgischen Referenzwert (LUX; nach Werten von Keyser-Besch 1976) abgetragen 3
N3 06 04 Sprecherinnen
Abb. 5.4.3 Psycho-akustische Distanz zwischen den Mittelwerten von Z-a: und Ζ-ε für 16 Infn; zusätzlich sind die Distanzen für das StD (nach Werten von Heid et al. 1995), das FRZ (nach Werten von Mettas 1979) sowie für den luxemburgischen Referenzwert (LUX; nach Werten von KeyserBesch 1976) errechnet worden burgischen dagegen liegen Z-a: und Z-a bereits in Keyser-Beschs (1976) Untersuchung um ein Bark auseinander. Im Vergleich zur heutigen Situation hat sich dieser Abstand beträchtlich vergrößert. Ein Teil der östlichen Infn ( 0 2 , 0 6 ) gruppiert sich noch um den LUX-Wert; doch bei O l und 0 4 nimmt der Abstand zwischen den beiden Vokalen stark zu. Für Z3 ist der Abstand gar drei Bark. (Zum Vergleich: Der psychoakustische Abstand zwischen a: und o: im StD beträgt ebenfalls drei Bark.) Es zeigt sich also auch hier, daß strukturelle Eigen-
131 Schäften des östlichen Regiolekts aufgegeben werden. Das Auseinanderdriften von Z-a: und Z-a impliziert darüber hinaus, daß sich das Letzebuergesche von den Realisierungen des StD entfernt (Divergenz). In Abb. 5.4.3 wird die gleiche Darstellungsweise für die Differenz zwischen Z-a: und Ζ-ε angewendet. Die Anordnung richtet sich nach abnehmendem Abstand, d.h. von links nach rechts nähern sich die Mittelwerte der beiden Vokale aneinander an. Die Differenzen der Sprecherinnen sind sämtlich deutlich geringer als im StD und FRZ. Auch im Vergleich mit dem luxemburgischen Bezugssystem hat sich in der heutigen Sprecherinnengruppe die Distanz drastisch verringert. Nur 0 2 und Z3 zeigen einen Abstand, der dem LUX-Wert entspricht. Bei allen übrigen Sprecherinnen beträgt der Vokalabstand weniger als ein Bark, und es kann angenommen werden, daß a: und ε qualitativ kaum voneinander unterschieden werden können. Für S6 und S1 sind die beiden Vokale qualitativ gänzlich zusammengefallen und werden ausschließlich durch die Länge unterschieden. Die Annäherung der Vokale manifestiert sich (in unterschiedlichen Ausmaß) in allen Regionen und scheint idiolektal bedingt zu sein: Deutlich getrennt sind a/und ε für 0 2 und Z3; die geringsten Unterschiede weisen Nl, N2, S6 und S1 auf. Im Kontinuum dazwischen verteilen sich die übrigen Infn, ohne daß eine Regionenspezifik erkannt werden könnte. Auch für das frz. ε konstatiert Mettas (1979: 99) eine Senkungstendenz, die es dem α ähnlicher macht.16 Wie Abb. 5.4.3 jedoch zeigt, ist die Differenz zwischen frz. (kurz) a und ε aber immer noch bedeutend größer als im Luxemburgischen. Von einer Konvergenz zum Französischen kann daher nicht gesprochen werden, denn im Luxemburgischen ist der Beinahe-Zusammenfall von Z-a: und Ζ-ε bereits viel weiter
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4
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•
6
α Χ ο:
I
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7
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8 15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
F2 (Bark) Abb. 5.4.4 Formantkarte der Sprecherin Nl 16
Mettas (1979: 99) führte auch Perzeptionsexperimente mit Pariser Studenten durch, die den Vokal ε in Wörtern wie dix-septiime, anglais, St-Germmn und Angleterre mit Häufigkeiten zwischen 20% und 55% als α ([a] oder [a]) hörten.
132 fortgeschritten. Dieser Zusammenfall ist damit wohl nicht kontaktinduziert, sondern wird vielmehr durch die interne Dynamik des luxemburgischen Vokalsystems hervorgerufen. In Abb. 5.4.4 sind in einer vollständigen Formantkarte beispielhaft die einzelnen Vokalrealisierungen für die Sprecherin N1 eingetragen. Im a/-Bereich (unten links) sind deutlich die partielle Überlagerung der Realisationen für a:und ε bzw. ihre Streuungen zu erkennen.
5.5
Variationsbereiche Z-ia, Z-ua
Die beiden Variationsbereiche fokussieren im Zentrum und Süden auf die eingleitenden Diphthonge ia bzw. ua. Für den Osten und besonders den Norden lassen sich eine Vielzahl von Varianten beobachten, die auf allen phonologischen Ebenen (prälexikalisch, lexikalisch und postlexikalisch) vom Z-System abweichen.
5.5.1
Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
Gemäß der Tab. 5.5.1 und 5.5.2 gehen die Diphthonge ia/ua überwiegend auf die ahd. Kurzvokale e/e bzw. ο und α (wenn verdumpft) zurück. Tab. 5.5.1 Diachrone Vorgängerphoneme von Z-ia ahd. BezugsBeispiele Prozesse laut e au(=e) äu(=ae) °u
Biesem Wieder Blieder Hiem wier Kieref
'Biesen' 'Wetter' 'Blätter' 'Hemd' 'wäre' 'Körbe'
'Brechung' 'Brechung' 'Brechung'
Tab. 5.5.2 Diachrone Vorgängerphoneme von Z-ua ahd. BezugsBeispiele Prozesse laut α Buedem 'Boden' 'Brechung' mueleti 'mahlen' ä bruecht 'gebracht' 'Brechung' 0 bueren 'bohren' 'Brechung' Uewen 'Ofen'
Die beiden Diphthonge haben sich (überwiegend) in offenen Silben herausgebildet.17 Wie Tab. 5.5.2 zeigt, weisen ahd. ο und ahd. α in offener Silbe dieselbe Entwicklung auf und es 17
In geschlossenen Silben dagegen sind die Kurzvokale erhalten geblieben (Mann 'Mann', schwätzen 'reden', Vollik 'Volk'; zu ε vgl. 5.3, zu ο vgl. 5.2).
133 ist anzunehmen, daß die beiden Kurzvokale historisch bereits in ο zusammengefallen waren. Ahd. α und ο konnten in offener Silbe nur Hann zu ua werden, wenn keine ursprüngliche Tenuis folgte; traf diese Bedingung nicht zu (wenn also eine Tenuis folgt), so wurde ο zu ο gesenkt ([kaxan] kochen 'kochen', [afsn] äffen 'offen') und α zu a: gedehnt ([.za:xan] 'Sachen'; vgl. 5.1). Die Diphthonge haben sich nicht direkt, sondern über Zwischenstufen aus den Kurzvokalen entwickelt. Nach Bruch (1954: 70ff.) entstanden i slue aus 'sekundär gedehnten Kürzen'. Er setzt drei Bildungsstufen an (1). ahd. e e 0 α
Stufe I > Dehnung [be:zam] [ve:dar] [koitan] [gafo:R3n]
StufeH > 'Brechung' [b'ezam] [v'edaR]
[kuabn] [gaf^QRan]
Stufe m Akzentumsprung [biazam] Biesem [viadsR] Wieder [kuabn] Kuelen [gafuaR] gefuer
'Besen' 'Wetter' 'Kohlen' 'gefahren'
In Stufe I erfolgte zuerst die Dehnung zu Langvokalen e: bzw. o:. Danach kam es zur Hebung der ersten More des Langvokals zu einem Gilde ' bzw. u , so daß die steigenden Diphthonge 'ε bzw. ua (Akzentuierung auf dem zweiten Diphthongbestandteil) entstanden ('Brechung'). Diese steigenden Diphthonge entwickelten sich in Stufe III zu fallenden Diphthongen (Akzentuierung auf dem ersten Diphthongbestandteil). Bruch (1954: 82ff.) weist auf parallele historische Prozesse in der nördlichen Galloromania hin: "Dehnung der klass. lat. Kürzen e und ο in offener Silbe, anschließend Diphthongierung zu ie resp. uo." Aber auch das Friesische weist gebrochene Kurzvokale auf (sljucht 'schlecht', rjucht 'recht'). In diesen Gemeinsamkeiten innerhalb eines weiten geographischen Gebiets erblickt Bruch die ehemaligen Auswirkungen des Westfränkischen in der "westfränkischen Bucht" (1954: 133).
5.5.2
Dialektgeographischer Überblick
Die drei Entwicklungsstufen von ahd. ele, α, ο finden sich in der historischen Dialektsituation wieder. Die folgenden Tab. 5.5.3 und Tab. 5.4.4 geben die Daten des LSA wieder. In beiden Tabellen ist eine große Variation zwischen den Hauptvarianten ia bzw. ua, langen Monophthongen eile: bzw. o:/o:, steigenden Diphthongen 'ε bzw. υο/υα und vereinzelten Sonderformen (α:, ai, o.-u, ei, a) zu beobachten. Quantitativ überwiegt in den ausgewählten Ortschaften ia mit 52,8% (169 von 320 Belegen für Z-ia) und ua mit 66,2% (339 von 512 Belegen für Z-ua). Sprachlaute der Entwicklungsstufe I (lange Monophthonge) finden sich verstreut in allen Gebieten, herrschen jedoch im Norden und nördlichen Osten vor (vgl. auch Palgen 1931: 16, 20). Das Vorkommen der steigenden Diphthonge ' ε und υ α der Stufe II ist auf das Nordösling (N-Sa, N-Tr, N-Is) und das nordöstliche Vianden (O-Vi) beschränkt. Die fallenden Diphthonge (Stufe III) dominieren besonders im Zentrum und im Süden. Fast ausschließlich ia bzw. ua zeigen die Lokalitäten um die Hauptstadt herum (O-Ni, O-Co, O-Da, Z-Ju, Z-Cn, Z-Si, Z-He, Z-Kh, Z-Br, LUX, S-Es, S-Sc). Damit reicht die diatopische Basis von ia/ua aus dem Zentrum in den angrenzenden Osten bzw. Süden hinein.
134
U + + ΰ ωυ + + υ + + + + + + + + ϋ + + ω + 55 + + ω ω + + ω + + + ϋ + ω jj4
&
+ + +55 + + + + + + + + + + + + + + + + +ω + + + + + +
j2 + + + + + + + + + 55 Β ϋ ϋ ϋ 55 53 + + + + ϋ + + + ϋ ϋ
\
υ + + +
+ + + + + + +
+ + + ϋ 55 ϋ ω ϋ + + + + + + + + + ϋ + + + + η 55 ο ο + 55 +
55 + + ΰ + + + + ϋ ϋ ϋ ϋ + ϋ ϋ 55 ω + υ υω + + 'S + 'S 55 55 + ω ω 55 + • · 55 + ω + 55 ίο ΰ 55 Μ+ , ι ö + 55 55 ι ι 55 + + _ω 55 ω ώ + ω 55 55 55 + ω η ω ω ιό +
ϋ + ϋ + + + 55 ϋ ϋ ω .2 + Ν: S υ υ υ Λ 55 + 55 + + + Ζ 55 + 55 55 _ω Jli _ω + _ω +
Β ο4ΙΛ Ν β 1/5 Λ£ •i Q •Μ
55 + 55 + 55 + + + + 'S + μ 55 + + « Λ 55 η 55 Μ 55 rt + η •9 S
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+
fallender Diphthong 'ε > i a
u
a > U3
Auch Bruch (1954: 78f.) setzt diesen Wandel an und gibt gute Gründe an, daß noch in jüngster Zeit in Hauptstadt und Zentrum steigende Diphthonge gehört werden konnten. Die LSAKarte 41 'Wetter' zeigt im Nordwesten (ganz in der Nähe von N2's Wohnort) sogar noch ein kleines Gebiet mit Übergangsformen zwischen [v'edß] und [viad^]. Im Vergleich mit dem oben beschriebenen leichten Abbau von 'ε > ε-Je: bei N1 zeichnet diesen Wandel ebenfalls phonologische Natürlichkeit aus. Es handelt sich um eine Forderung, durch die ein inhärent schwaches Segment in ein perzeptiv salienteres überfuhrt wird. Wie (9) belegt ist bei N2 der Abbau der steigenden Diphthonge für Z-ua anders verlaufen, denn hier wurde ua durch o: ersetzt. Diese Entwicklung ist als regionale Konvergenz zu den im Norden (v.a. Wiltz) weit verbreiteten Monophthongen zu betrachten. Vergleicht man die heutige Situation mit den Belegen des LSA, wie sie für N2's Wohnort N-Wc (Tab. 5.5.4) dargestellt sind, so wird der Eindruck der regionalen Konvergenz noch bestätigt, denn zu Beginn des Jh. waren hier noch bedeutend mehr Z-konforme ua verbreitet. Bei dieser Sprecherin wurde somit Z-konformes UQ zugunsten von nördlichem o: abgebaut. Das Ergebnis dieses Prozesses entspricht einer regional-nördlichen Konvergenz, die gleichzeitig Divergenz zum Zentrum impliziert. Insgesamt kann für N2 ein asymmetrisches Verhalten für die Diphthonge Z-ia und Z-ua festgestellt werden: Ihre Z-ia-Realisierungen konvergieren auf das Zentrum, während Z-ua auf die Region 'Norden' konvergiert. Eine Ursache für diese Entwicklung liegt möglicherweise in der unterschiedlichen Salienz zwischen palatalen und velaren Vokalen begründet. Veränderungen von palatalen Vokalen gelten (Sprecherinnen- und hörerlnnenseitig) als auffälliger und besser kontrollierbar. Umgekehrt bedeutet dies, daß velare Vokale in Konvergenzprozessen resistenter gegenüber Veränderungen sind. Als letzte bleibt die Variante a: für Z-ua im äußersten Norden zu besprechen. Ebenso wie die steigenden Diphthonge weisen diese Formen eine hohe phonetische Distanz zu den zentralluxemburgischen Bezugslauten auf (11). ahd. -ahs-aht-aht-ar-ar-ar-al-
Nordösling [vaisan] [na:ct] [nait] [bra:ct] [bRait] [faiRan] [baifeis]
[ga:] [ma:bn]
Ζ [vuasan] [nuact] [bRUSCt] [fuaRan]
[buafeis] [gue] [miratan]
wuessen Nuecht bruecht fiteren buerfiiss guer muelen
'wachsen' 'Nacht' 'gebracht' 'fahren' 'barfuß' 'gar' 'mahlen'
144 Bei diesen Formen ist die Verdumpfung von ahd. α ausgeblieben, so daß sich weder o: noch u aherausbilden konnte. Statt dessen sind diese Lexeme in die allgemeine Dehnung zu a; hineingeraten (vgl. Z - a 5 . 1 ) . Im Vergleich mit dem Z-System wurde damit im äußersten Norden in mehr Kontexten gedehnt; die lautgeschichtliche Entwicklung von ahd. α verlief hier einheitlicher. In den Korpusdaten verwendet N1 die a:-Varianten konsistent. Abbautendenzen sind nicht erkennbar. Lediglich in einem Fall kann Variation zwischen a: und einer velarisierten Form beobachtet werden, wenn N1 zwischen [gafoc] und [gofa:] gefuer 'gefahren' wechselt. Die Ersatzform entspricht aber nicht der Z-Form, sondern ist die regional-nördliche Variante, wie sie im Südösling zu hören ist. Die a:-Variante, die auch als primäres Merkmal des äußersten Nordens gilt, erweist sich somit als sehr resistent gegenüber den Zentrumseinflüssen. Ein Grund für diese Resistenz liegt in der allgemein einheitlicheren lautgeschichtlichen Entwicklung von ahd. α, in die a: ja eingebettet ist.
5.5.3.3 Interdialektaufnahme In der Interdialektaufnahme werden die Variantenverhältnisse des Dialekts größtenteils unverändert beibehalten. Eine Diskussion der Häufigkeiten ist somit nicht erforderlich.
5.5.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Für die Varianzbereiche Z-ia und Z-ua können eine Vielzahl von Varianten festgestellt werden, die zur Variation auf allen Ebenen des phonologischen Systems führen (Tab. 5.5.7). Tab. 5.5.7 Zusammenfassung der Varianz für Z-ia und Z-ua Verbreitung Varianz u äußerster Norden, Vianden prälexikalisch ' ε ~ ia, a — ua lexikalisch postlexikalisch
e: ~ is, o: — ua
Norden, Osten
a: —
us
äußerster Norden
es ~
13, 0 3 — U3
LUX
Auf der prälexikalischer Ebene unterscheiden sich der äußerste Norden und Vianden von den übrigen Gebieten durch das Vorhandensein der steigenden Diphthonge 'ε und υ α (Unterschiede im Phonemsystem). Auf lexikalischer Ebene stehen die Varianten e: und o: von Norden und Osten den zentralluxemburgischen Diphthongen ia und ua gegenüber. Für einige Infn hat sich dieser kategorische Unterschied bereits etwas aufgelockert, da ia- und ws-Formen in die Dialekte eingedrungen sind und es zur Entstehung einer Korrespondenzregel gekommen ist. Diese Varianz zeigen vor allem die Infn N3 und N4 aus Wiltz (N-Wi). Ebenfalls auf der lexikalischen Ebene anzusiedeln ist die Variation zwischen a: im Nordösling und ua des Zentrums. N1 behält diese massive Abweichung von Ζ konsistent bei, weil die Entwicklung zu
145 a; einer homogeneren regionalen Lautgeschichte entspricht. Variation auf postlexikalischer Ebene ist in allen Regionen zu finden: Die Senkung des Diphthongonsets von ia, ua zu es, 03 entspricht einer natürlichen Lenierungsteleologie. Von dem festgestellten Dialektausgleich sind nur diejenigen Infn betroffen, deren Wohnorte dem Zentrum am nächsten liegen (N3, N4, 04, 05, 08). Nl, N2 und Ol, die am weitesten vom Zentrum entfernt wohnen, zeigen nur geringen oder gar keinen Dialektausgleich. Diesen Ausgleichtendenzen laufen die Entwicklungen im Zentrum teilweise entgegen, denn für einige Infn hat sich eine Kovarianz zwischen is und e: herausgebildet.
5.6
Variationsbereiche Z-i, Z-u
Die hohen, kurzen und gespannten Vokale i und u gehen auf diverse Vorgängerphoneme zurück und weisen ein entsprechend komplexes regionales Variationsmuster auf. Im Zentrum selbst haben sich für i die Allophone i, e, a herausgebildet. In den übrigen Regionen sind neben diesen Senkungen für Z-i vor allem die Varianten ei, ig, i:, a und für Z-u die Varianten ou, ug, u:, α: zu beobachten.
5.6.1
Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
Die Tab. 5.6.1 und 5.6.2 illustrieren die Lautgeschichte von Z-i und Z-u in der Z-Varietät. Die vielfältigen Zusammenfälle der Vorgängerlaute in Z-i und Z-u machen es notwendig, jeweils drei bzw. vier Variablen zu unterscheiden. Nach Angabe des LWb (1950: XXVIII) fanden diese Prozesse in der Zeit vom 11.-14. Jh. statt.21 Neben dem Beibehalt alter Kürze in offener Silbe (Z-i,, Z-u,) handelt es sich um Monophthongierungen, die von Kürzungen begleitet sind (Z-i2, Z-u2), sowie um Hebungen (Z-i3, Z-u3, Z-u4). Für Z-i2 und Z-u2 ist es problematisch, als Vorgängerphoneme ahd. ie bzw. uo anzunehmen. Nach Bruch (1954: 96) haben "die luxemburgischen Mundarten [...], wie das Asächs., die ahd. Diphthongierung des wgerm. ö zu uo (und die parallele Diphthongierung des wgerm. e2 zu ie) nicht mitgemacht". Möglicherweise gehen diese Variablen daher auf ahd. ei (< wgerm. e2) und ou (< wgerm. ό) zurück. Wie auch immer die diachrone Phonologie zu interpretieren ist, die heutigen Z-Formen i, u sind in jedem Fall Kürzungen alter Diphthonge. Die Kürzung wurde durch den Tonakzent 1, den diese Lexeme tragen, ausgelöst. Für Z-u3 ist eine ungewöhnliche Entwicklung zu konstatieren. Diese Variable geht auf ahd. α vor Nasal zurück; das u des Zentrums ist als Allophon von uo zu werten, das vor Nasal immer gekürzt erscheint (vgl. 5.5). In den beiden Kurzvokalen Z-i und Z-u sind damit eine Reihe von Sprachlauten zusammengefallen. Auch Lexikalisierungen fanden statt, die in der Gruppe Z-i3 zusammengefaßt sind. 21
Der Umlaut von ahd. u (indiziert mit y) verhält sich so wie seine ungerundete Entsprechung (ahd. i) und wird daher hier mit dieser zusammen behandelt.
146 Tab. 5.6.1 Diachrone Vorgängerphoneme von Z-i Variable Z-i,
Z-i2
historischer ahd. Kontext Bezugslaut i -lexikalisiertmeist: / $ "u ie
UOu Z-i3
e
/
/
historische Prozesse (keine Veränderung)
{t,d,k,g,x/5,l,m,n,q}
{t,d,k,g,x/f,l,m,n,q}
Monophthongierung + Kürzung
- lexikalisiert meist: / [+son]
Hebung
Tab. 5.6.2 Diachrone Vorgängerphoneme von Z-u historischer historische ahd. Variable Prozesse Kontext Bezugslaut (keine Veränderung) u Z-U! / $ / [+nas] $ / {t,d,k,g,x/f,l,m,n,r)} Monophthongierung uo Z-u2 + Kürzung α Hebung / [+nas] Z-u3 Z-U4
5.6.2
0
/
$
Hebung + Kontraktion
Beispiele 'Wiese' Wis Kinnek 'König' 'bin/sind' zin flitt 'fliegt' Lidd 'Lied' 'fühlen' flllen gliddeg 'glühend' 'gehen' gin
Beispiele kucken um Brudder Buch unKummer gezun Vull
'gucken' 'um' 'Bruder' 'Buch' 'an-' 'Kammer' 'gezogen' 'Vogel'
Überblick über die Dialektgeographie
Tab. 5.6.3 und 5.6.4 geben für Z-i bzw. Z-u die Varianten in 32 Lokalitäten wieder, wie sie der LSA erhoben hat. Wie zu erwarten war, hat sich infolge der vielen historischen Reflexe in Z-i und Z-u, ein komplexes diatopisches Variationsmuster herausgebildet. Neben den Hauptvarianten i und u sind vor allem die Diphthonge ei bzw. ou weit verbreitet (=Z-i 2 bzw. Z-u 2 ). Sie finden sich in Osten und Norden, wobei letzterer kontextbedingt noch velarisierte Formen ('^-Epenthese') aufweist (vgl. 5.12.2). Bereits in der LS/l-Situation ist in einigen Lokalitäten Mischung zwischen Kurzvokal und Diphthong festzustellen. So steht in O-Co [ b R O u e t e ] Brudder 'Bruder' neben [gudan] gudden 'guten'. Hier ist es schon damals zu einer Mischung von ösdichen und zentralluxemburgischen Formen gekommen. Für Z-i,, das auf nicht-gedehntes ahd. i in offener Silbe zurückgeht, hat das Zentrum teilweise die Dehnung durchgeführt, wie die Beispiele [bliivan] bliwwen 'geblieben' und [vi:s] Wiss 'Wiese' zeigen. Lexemgebundene Varianz zeigt die Verbform sin '(ich) bin, (wir/sie) sind', die in Süden und Zentrum [zin, zin], in Osten und Norden [zan] lautet. Die Varianten a, a: für Z-u3 sind spezifisch nördliche Varianten und nur kleinräumig verbreitet. Sie gelten als marker der Region und sind durch große phonetische Distanz zum Bezugssystem gekennzeichnet (μ a, a.).
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mit
1 Ν
ss + + + + + + + + + + V) ·+ · - + •55 η + β
hin
1
+ +
+ + + + + + + +
+ + + + + + · -
8 +
•S
.c ab
09
« J
148 5.6.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.6.3.1
Dialektaufhahmen
In den Tab. 5 . 6 . 5 und 5 . 6 . 6 werden die Transkripte der Fragebuchaufhahmen für Z-i und Zu vorgestellt. Die Anordnung der Infh richtet sich wieder nach der Abnahme der Z-Formen, um in einem Dialektalitätsprofil das Kontinuum von Z-konformen Sprechern bis zu vom Zentrum abweichenden Sprecherinnen visualisieren zu können. T a b . 5.6.5 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Z-i in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezugssystem (hier: i); bei Abweichung vom Bezugssystem: Transkription der Variante des Stammvokals; schattierte Zellen markieren die stärksten Veränderungen Va. Z2|Z5Z6 ZI Z3 |S2|Sl|S5|S3j Z7 |S6|S4j N3 05|06| N4 0 4 Spigel
'Spiegel'
Z-i2 +
+
+
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+ ei ei
Ligen
'Lüge'
Z-i, +
+
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
i:
sichert
'suchen'
Z-ij +
+
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ei
+ ei ei
Dicher
'Tücher'
Z-i, +
+
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
ei
ei ei ei
'(du) rufst' Z-i, +
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
ei
ei ei ei
Still
Z-i, +
+
+
+
+
+
+
+
riffs
+
+
+
+
+
3 +
+
+
+
+
ei
ei ei ei ei
Z-i2 +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ei ei ei ei
+
+
+ ei
+
+
+
+
+
ei
+
ei ig ei ei
'Stühle'
gliddeg 'glühend' fillt
'fühlt'
Z-i2 +
+
+
+
+
+
Z-i, +
+
+
+
+ +
flitt
'fliegt'
Z-i, +
+
+
+
+
+
bitzen
'nähen'
Z-i, +
+
+
+
+
sin
'bin/sind'
Z-i, +
+
+
+
+
+
gin
'geben„v'
+
+
+
gin
'geben™'
Z-i, + Z-i, +
+
+
+
fidderen 'füttern'
+ +
ei
i:
ei ei ei
+
+
+
+
+
+
+
ei
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ig
ei
ei i-3 ei ei
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ik
ei
ei ik +
+
+
+
+
+3 +
3
+3 +
+
+
+
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ei
+
3
3
3
+
3
+ +
'ε
+
+
+ +
'ε
3+ 3
T a b . 5.6.6 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Z-u in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezugssystem (hier: «); bei Abweichung vom Bezugssystem: Transkriptiorl der Variante des Stammvokals; schattierte Zellen markieren die stärksten Veränderungen Va. |Z6|Z7[Sl[S3|Z2jZl[Z3|S2[S7|Z5[S4[S6|N3|N4|05|06[04[02[07|N2|Nl[ O l 'Kugel'
Z-u, +
- +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
bludden 'bluten'
Z-Uj +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
*
*
#
+
Φ ou ou ug ou ou
Brudder 'Bruder'
Z-u, +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ou ou ou ug ou ou
Buch
Z-Uj +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
ou ou ou ou ou ou
Z-u,
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
o:a:
Hummer 'Hammer' Z-u, +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
a:a:
+
Kummer 'Kammer' Z-u3
+
+
+
+
+
+
+
+
+ a
+
+
+
+
+
+
a: a:
o:
Z-u4
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
u:
Kugel
'Buch'
un-
Vull
'Vogel'
+
+
+ -
+ +
+
+ -
-
+
u:
a:
Zwei der vier Infn des Nordens (N3, N4) und zwei der sechs Infh des Ostens ( 0 5 , 0 6 ) weisen keine der einstigen Dialektlautungen mehr auf und verwenden heute ausschließlich Z-Formen. Inf 0 4 aus Consdorf (O-Cn) an der Nahtstelle zwischen Osten und Zentrum zeigt
149 in der FB-Aufnahme einen variablen Zustand. Bei ihr kovariiert i mit ei bzw. u mit ou. Die Infn Ol, 02, 07, N1 und N2 gruppieren sich erwartungsgemäß ganz rechts und erweisen sich als stark abweichend von Z. Sie verwenden konsistent die diphthongischen Formen für Z-i2 und Z-u2. Die Tabellen belegen, daß sich alle Varianten, die der LSA erhoben hat, auch heute noch finden. Allerdings zeigen einige Infn Abbautendenzen. In Abb. 5.6.1 sind die Beleghäufigkeiten des Dialektgesprächs für Z-i, in Abb. 5.6.2 diejenigen für Z-u eingetragen. Es werden nur die Daten von Infn ausgewertet, die bereits in der Fragebuchaufnahme eine deutliche Abweichung vom Z-System zeigten. Für Z-i sind zur
Abb. 5.6.1 Variantenhäufigkeiten für Z-i im Dialektgespräch (N=784)
Abb. 5.6.2 Variantenhäufigkeiten für Z-u im Dialektgespräch; wa = "a (N=495)
150 Kontrolle zusätzlich die Infh Sl, ZI und Z2 aufgeführt. Die Balkendiagramme zeigen von links nach rechts den Übergang von einheitlicher Variantenverwendung zu einfacher Variation bis hin zu 'komplexer Variation' (Milroy 1982). Bei letzterer nimmt nicht nur die Häufigkeit einer dialektalen Variante zu, sondern auch die Anzahl der verschiedenen Varianten. Für Z-i ist bei fast allen Infh ein hoher Anteil an Schwa-Varianten zu beobachten. Sie treten zum größten Teil in der Verbform sin '(ich) bin, (wir/sie) sind' auf. Überwiegend in der Verbform hurt '(ich) habe, (wie/sie) haben' ist o/o ([hon, hon]) anzutreffen. Bei N3 ist ein Stadium der Kovarianz festzustellen, denn bei ihr sind bereits die Z-Formen [zin] und [hun] in einigen Belegen vorhanden. Obwohl die phonetische Distanz zwischen diesen Varianten sehr gering ist (sekundäres Dialektmerkmal), dringen die Z-Formen dennoch in den Idiolekt von N3 ein. Die Varianten ei und ou der Variablen Z-i2 und Z-u2, die als die älteren Varianten zu gelten haben, sind in unterschiedlichen Anteilen bei fast allen Infn aus Osten und Norden zu beobachten. Aus den Abb. 5.6.1 und 5.6.2 geht nicht hervor, ob sich in dieser Wortklasse Veränderungen ereignen. Dazu ist es notwendig, die Belege für Z-i2 und Z-u2 isoliert zu betrachten. Die Infn N3, N4 und 0 5 weisen sowohl für Z-i2 als auch für Z-u2 ausschließlich die Z-Varianten auf. 0 4 zeigt für Z-i2 und Z-u2 Kovariation zwischen alter und neuer Variante. [mit] [zicsn] [dicc] [filt] [glidaq]
midd sichen Dicher fiUt gliddeg
'müde' 'suchen' 'Tücher' 'fühlt' 'glühend heiß'
[fleit] [beitsan] [/teil]
flitt bitzen Still
'(er/sie/es) fliegt' 'nähen' 'Stühle'
[gudan] [kuxan] [bludsn]
gudden Kuchen bludden
'guten' 'Kuchen' 'bluten'
[ganoux] [bRoudu] [boux]
genuch Brudder Buch
'genug' 'Bruder' 'Buch'
Bei dieser Informantin ist die Kovarianz stark ausgeprägt. Die übrigen Infh verwenden die Diphthonge noch sehr konsistent. Lediglich in Einzelbelegen ist der Einfluß des Zentrums auszumachen (2). (2)
N1
dat as och net [gut], et as alles net [gout] dobannen
'das ist auch nicht gut, es ist alles nicht gut darin'
N1
Na [gut], den hu mer do locker geholt
'nun gut, den haben wir dann locker geholt'
02 Ol
[ganux] [kRit]
'genug' '(er/sie) bekommt'
~ ~
[gsnou] genuch [kReit] kritt
151 Für Z-i2 und Z-u2 kann somit Dialektausgleich zugunsten der Z-Formen angenommen werden. Im Verlauf des Abbaus bewahren die Infn, die auch für andere Merkmale Dialekterhalt aufweisen, die alten Formen am ehesten (Ol, 02, N2, N2). Die Kontextbedingung, nach der aus ahd. ei bzw. ou im Zentralluxemburgischen i bzw. u werden kann, lautet: / {t, d, k, g, x/f, 1, m, η, η}. Nur vor dieser heterogenen Konsonantengruppe ist die Monophthongierung und Kürzung eingetreten. Entsprechend dieser Kontextbedingung finden sich im Zentralluxemburgischen in morphologisch zusammengehörigen Lexemen Alternationen zwischen i und ei bzw. zwischen u und ou (3). (3)
Z-i [flit]
'(er/sie) fliegt'
Z-ei [fleian]
'fliegen Inf '
[kRit]
'(er/sie) bekommt'
[kReisn]
'bekommen ]nf '
Z-u [glidag]
'glühend heiß'
Z-ou [glouzan]
'glühen'
Das Vorkommen von Kurzvokal bzw. Diphthong kann somit synchron direkt auf das Vorhandensein bzw. das Fehlen des entsprechenden konsonantischen Kontexts zurückgeführt werden. Immer wenn die Kontextbedingung erfüllt ist, erscheint der Kurzvokal, in allen übrigen Fällen steht der entsprechende Diphthong. Die Belege in (3) sind damit durch eine lexikalisch-phonologische Regel aufeinander bezogen. Als zugrundeliegende Repräsentation kann ei bzw. ou angesehen werden, das mit Hilfe der Regel (4) in die korrekte Oberflächenform überführt wird.22 (4) [+high] [+low] [aback] Beispiele:
eit out
[+high] [aback]
[+high] [aback]
> >
/
{t, d, k, g, x/f, 1, m, n, q}
it ut
Da diese Regel morphologisch zusammengehörige Wörter miteinander in Beziehung setzt, muß sie auf der lexikalischen Ebene des phonologischen Systems operieren. Warum ausschließlich vor dieser Konsonantengruppe die Regel angewendet wird, ist aus der Sicht der Phonetik nicht ganz klar. Da der Diphthong häufig (aber nicht immer) in offenen Silben und der Kurzvokal oft in geschlossenen Silben steht, darf angenommen werden, daß durch die Regel (4) versucht wird, die Morenzahl innerhalb der Silbe konstant zu halten. Die Regel würde Hann der natürlich-phonologischen "Teleologie der optimalen Silbenstruktur" folgen (Auer 1990: 29; vgl. auch Vennemann 1988). Diese komplexe phonologische Regel des Zentralluxemburgischen dringt in die Regiolekte von Norden und Osten ein. Dort gab es diese Regel vorher nicht. Vielmehr wurden dort unabhängig vom Kontext alle wgerm. e2 und ö zu 22
Die Konvention [aback] gibt an, daß die entsprechenden Segmente in der Regel in der Ausprägung des Merkmals [back] übereinstimmen müssen; also entweder alle [-back] für Vordervorkaie oder alle [+back] für hintere Vokale.
152 ei bzw. ou. Die historische Entwicklung ist hier regelmäßiger und einfacher verlaufen. Mit dem Vordringen von Regel (4) wird die alte Regelmäßigkeit gestört, und die Systeme von Osten und Norden werden komplexer. 23 Milroys (1982) Hypothese, daß eine Standardsprache durch relativ wenig und ein Dialekt durch relativ viel Kontexteinfluß gekennzeichnet ist, kann für diesen Fall nicht bestätigt werden, denn die Dialekte in Norden und Osten weisen ei und ou unabhängig vom lautlichen Kontext auf, während das Zentralluxemburgische, das standardsprachliche Funktionen übernimmt, die beschriebene komplexe phonologische Regel herausgebildet hat. 24 Als letzte ist die Variable Z-u 3 zu analysieren. Die Varianten, die der LSA für das Nordösling und den Nordosten notiert, weichen beträchtlich vom Zentralluxemburgischen ab (5). (5)
Zentrum [kurtiB] [humu] [un-]
Nordösling/Nordosten [ka:me] Kummer [hame] Hummer [a:n-, uan-] un-
'Kammer' 'Hammer' 'an-'
Die a:- Varianten des Nordens sind im Zuge der Dehnimg von ahd. α entstanden; sie fallen folglich dort mit Z-a: zusammen. 25 N1 und N2 zeigen keine Veränderungen, sie verwenden die alten Varianten konsistent. Jedoch läßt sich bei O l und 0 3 aus Vianden eine Variabilisierung beobachten, die auf Dialektausgleich hindeutet (6). (6)
Ol [uge:t] [ufaqk]
Ufank
'Anfang'
03 [gavunict] [ugafaiq]
— —
[uage:t] [uan]
— ~
[g3v"anigt] Gewurmicht [uQgafa:q] ugefaang
ugeet un
'angeht' 'an'
'Gewohnheit' 'angefangen'
In diesen Beispielen werden die steigenden Diphthonge zu Z-konformen υ abgebaut.
5.6.3.2 Interdialektauftiahme In den Abb. 5.6.3 und 5.6.4 sind die Häufigkeiten der Varianten i bzw. u aus Dialekt- und Interdialektauftiahme gegenübergestellt. Für O l und 0 2 nehmen im Interdialekt die Z-Formen zwischen 7% und 28% ab, die Dialektalität nimmt also zu. Eine Unterdrückung von Dialektformen kann somit nicht konstatiert werden. Bei Sprecherin N1 dagegen kann für Z-i ein leichter und für Z-u ein deutlicher Anstieg von Z-Formen festgestellt werden.
23
24
25
Diese Dynamik ist vergleichbar mit dem Eindringen von Ζ-ε in den Osten, wodurch regelmäßige Umlautverhältnisse zerstört werden (vgl. Ζ-ε 5.3). Dies liegt möglicherweise daran, daß die Regel (4) nur eine geringe phonetisch-phonologische Natürlichkeit besitzt. Milroys (1982) Ansatz bezieht sich größtenteils auf natürliche Kontexteinflüsse, wie z.B. Assimilationen. Der steigende Diphthong "a im Präfix un- 'an' ist im Zusammenhang mit der 'Brechung' alter Kurzvokale zu sehen (vgl. Z-ua, 5.5).
153
Dialekt Interdialekt
Abb. 5.6.3 Gegenüberstellung der Häufigkeiten für die Variante i von Z-i in Dialekt- und Interdialektaufnahme (NImOT,ialektaufnahme= 96)
Dialekt Interdialekt
Abb. 5.6.4 Gegenüberstellung der Häufigkeiten für die Variante u von Z-u in Dialekt- und Interdialektaufnahme (NIntenlislekBuftBllme= 74)
5.6.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Die Variationsbereiche Z-i und Z-u lassen ein hohes Maß an Dialekterhalt erkennen. Alle Varianten, die der LSA dokumentierte, sind auch heute noch vorhanden. Dennoch existieren Hinweise, daß Dialektausgleich stattfindet. Bei einigen Infh ist Kovarianz zwischen Dialektformen und i bzw. u zu konstatieren. Andere haben gar die alten Formen vollständig abgebaut. Eine Herausbildung von Zwischenformen ist nicht festzustellen. Der Abbau geht immer in Richtung auf das Zentralluxemburgische. Durch das Vordringen einer phonologischen Regel, die Lexeme der Wortklassen Z-i und Z-ei bzw. Z-u und Z-ou miteinander in Beziehung setzt, wird in Osten und Norden ein vormals regelmäßiger Zustand gestört. Mit der Ausbreitung des Z-Systems ist damit keine Vereinfachung der Kontaktvarietäten verbunden, wie sie z.B. von Siegel (1985) und Trudgill (1986, 1989) vorhergesagt wird.
154
5.7 Variationsbereich Z-e Im Zentralluxemburgischen wird ein kurzer, geschlossener Vordervokal vor velarem Nasal überwiegend als e realisiert. Als zweite Variante findet sich i. Neben diesen Varianten, die in allen Regionen zu finden sind, existieren im äußersten Norden und im Osten teilweise diphthongische Formen ei. Parallel dazu gestaltet sich die Varianz der velaren Entsprechung Z-o vor velarem Nasal. Für dieses finden sich u- und ow-Formen. In (1) sind die häufigsten Varianten wiedergegeben. (1)
[gReq] [neq] [Joq]
~ — ~
[gRiq] [niq] [Juq]
~
[gRein] [ηαιη] [Jou]
'grün' 'neun' 'Schuh'
greng neng Schong
Da die Belegdichte für Z-o sehr gering ist, wird auf eine quantitative Analyse verzichtet und lediglich das Variationsmuster von Z-e untersucht.
5.7.1
Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
Wie Tab. 5 . 7 . 1 illustriert, geht Z-e aus unterschiedlichen Vorgängerphonemen hervor. Tab. 5.7.1 Diachrone Vorgängerphoneme von Z-e ahd. Bezugslaut
historische Aszesse
I
Senkung Kürzung, Senkung Kürzung, Senkung, Kürzung, Senkung
e
VELA I
i UOU
1U
Beispiele
VELA I
klingen gring neng Lengt zeng
'klingen' 'grün' 'neun' 'Leine' 'zehn'
Als Kontextbedingung für die Herausbildung von Z-e gilt, daß ein geschlossener Palatalvokal vorausgeht und ein velarer Nasal darauf folgt. Der Vokal selbst kann kurz, lang oder diphthongisch gewesen sein. Und für den folgenden velaren Nasal ist es unerheblich, ob er historisch ererbt oder erst sekundär durch den Prozeß der silbenfinalen Velarisierung aus einem alveolaren Nasal entstanden ist
(VELA
I,
5.12).
Die Variation von Z-e kann nur eintreten,
wenn beide Bedingungen erfüllt sind. Damit liegt hier ein Fall von Kookkurrenz zwischen Vokal und Folgekontext vor. Die historische Entwicklung des Vokals ist (von e abgesehen) als eine Kombination aus Kürzung und Senkung zu beschreiben. Besonders die Senkung ist für das Mittelfränkische häufig belegt (vgl. Newton 1990: 156) und führte im Fall von wgerm. i1 sogar bis zum a (Wiesinger
1983Z>:
len/Diphthongen uou,
1058;
und
5.2,
Z-α). Die Kürzen aus den ehemaligen Langvoka-
i, iu sind auf den Einfluß des Tonakzents 1 ( T A I ) zurückzuführen.
Diese Herleitung wird durch Palgens Untersuchung
(1931;
1948:
32)
bestätigt. Ihr zufolge
findet sich im Osten, wo für e noch Diphthonge gelten, der T A I auf dem Stammvokal. Im Süden ist nach erfolgter Kürzung des Diphthongs der T A I auf den Nasal übergegangen (2).
155 (2)
Osten [pai'n] [lai'n]
Süden [peq1] [leq't]
Ping Lengt
'Pein' 'Leine'
[gRei'n]
[gReq 1 ]
gring
'grün'
In der historischen Rekonstruktion erscheint es sinnvoll, i als die ältere und e als die jüngere Variante anzusehen. Innerhalb des synchronen Lautsystems von Ζ ist Z-e funktional nur schwach belastet und kann als komplementäres Allophon von ia betrachtet werden, das vor η zu e gesenkt und gekürzt wird. In der Orthographie wird dieser Laut mit < e > gekennzeichnet, um ihn von ε ( < e > ) zu unterscheiden, das ebenfalls häufig vor velarem Nasal steht. So ist die Differenzierung von Lexemen wie mengen 'meinen,.,,,' und mengen 'meinen vv ' gewährleistet.
5.7.2
Überblick über die Dialektgeographie
Die Sprachkarte 133 'neun' des LSA suggeriert für Z-e eine Dreiteilung Luxemburgs in ein westliches /-Gebiet (Südwesten, westlicher Teil von Z, Nordwesten), ein mittleres e-Gebiet (weite Teile von Z, Süden) und ein oi-Gebiet im Osten. (In letzterem Gebiet fand der Prozeß VELA I nicht statt, und die oben formulierte Kookkurrenz zwischen Vokal und folgendem velaren Nasal ist nicht gegeben.) Die Karte 116 für das Pronomen 'meinem' dagegen gibt für ganz Luxemburg bis auf wenige Ortschaften des Ostens die Form [meqan] an. Auch auf der Karte 50 ('trinken') findet sich überwiegend e (im Norden geht die Senkung sogar bis zu a: [dRaqkan]). Damit scheint die e-Variante die Form mit der weitesten geographischen Verbreitung zu sein. Durch die Ortsgrammatiken wird dieses Bild relativiert. Palgen (1948) gibt zwar wie auch der LSA für den Süden i-Formen an, notiert aber neben diesen auch e und beobachtet sogar freie Varianz zwischen beiden Varianten in denselben Lexemen (3). (3)
e [leqt] [peq] [meq] e [neq]
[heqaR]
Längt Peng meng^ —
i [gRiq] [kiq] [tsiq]
'Leine' 'Pein' 'meine' i [niq]
[hiqaR]
näng Hinger
greng keng zeng
'grün' 'kühn' 'zehn'
'neun'
'Hühner'
Die Beispiele in (3) zeigen, daß zumindest für den Süden die Annahme einer einzigen Variante, wie es der LSA suggeriert (hier: i), nicht gerechtfertigt erscheint. Tatsächlich ist von einer Mischung zwischen ungesenkter und gesenkter Variante auszugehen. Diese Mischung stellt Palgen (1954) auch für Knaphoscheid im nördlichen Dialektgebiet fest, das laut LSA im i-Gebiet liegen müßte, tatsächlich aber auch e-Formen aufweist. Die Monographien für den Osten (Engelmann 1910a, Palgen 1931) geben für die aus historischen Langvokalen/Diphthongen hervorgegangenen Reflexe selbstverständlich diphthongische Varianten an. Hier ist, wie oben angesprochen, die Kookkurrenz zwischen Kurzvokal und velarem Nasal nicht in allen Fällen gegeben (vgl. oben Beispiel 2). Da für das Zentrum selbst keine Mono-
156 graphien vorliegen, kann nicht entschieden werden, ob auch hier bereits zu Beginn des Jahrhunderts freie Varianz zwischen i und e angenommen werden muß. Angesichts der Variation in den übrigen Gebieten kann diese Möglichkeit aber in Betracht gezogen werden. Im Überblick ist damit die Varianz zwischen e- und /-Formen auf das Zentrum, den Süden und (Teile) des Nordens beschränkt. Bereits zu den Erhebungszeiten des LSA und der Monographien muß von Mischungen dieser Varianten ausgegangen werden. Diese Varianz ist nur wenigen Sprecherinnen/Hörerinnen bewußt und wurde auch in der Fragebogenuntersuchung nicht benannt. Lediglich S2 gibt einen Hinweis darauf, als sie den Satz 'Mein Schienbein ist gelb, grün und blau' übersetzt: Do soen ech och [gRiq] oder [gReq], meeschtens soen ech [gReq], meeschtens soen ech [gRiq], dach, 't hänkt dovun of bei mer.26
Die Sprecherin konnte aber nicht weiter konkretisieren, unter welchen Umständen sie welche Variante verwendet. Daraus kann geschlossen werden, daß es sich bei der Varianz zwischen e und i um ein sekundäres Merkmal handelt. Die diphthongischen Formen des Ostens weichen von jenen bedeutend stärker ab und könnten fast als Suppletivformen bezeichnet werden. Dementsprechend besitzen sie auch den Status eines primären Merkmals. Das Varianzmuster dieser östlichen Varianten wird im Zusammenhang mit der Velarisierung im Silbenreim in 5.12 als Vela I ausführlich behandelt.
5.7.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.7.3.1 Fragebuchaufnahme In Tab. 5.7.2 sind die Realisierungen für Z-e aus der Fragebuchaufnahme eingetragen. Im Vergleich zu den älteren Dialektdokumentationen fällt in Tab. 5.7.2 als erstes auf, daß es sich bei der geschlossenen Variante um ein ungespanntes / handelt und nicht, wie in der Literatur angenommen, um das gespannte i. Inwieweit dieser Unterschied als Wandel interpretiert werden kann oder lediglich auf die Transkriptionskonvention der damaligen Autoren zurückzufuhren ist, kann heute nicht mehr eindeutig entschieden werden. Infolge der phonetischen Nähe der beiden Varianten und da keine phonologischen Oppositionen betroffen sind, kann die Varianz auf der postlexikalischen Ebene lokalisiert werden. ZI und 04 verwenden als einzige ausschließlich die Variante e. Alle übrigen Sprecherinnen zeigen eine Mischung zwischen e, / und ε. Für 02, 07, Ol und teilweise auch N1 ist die Kookkurrenz zwischen Kurzvokal und velarem Nasal nicht in allen Fällen gegeben - sie weisen dementsprechend Formen vom Typ [ζαιη, gRein] sing, gring 'sein, grün' auf. In Tab. 5.7.2 lassen sich die Infn und die Lexeme nicht derart anordnen, daß ein konsistentes Variationsmuster erkennbar wird, wie es z.B. in Tab. 5.1.4 für Z-a: vorliegt.
26
Übersetzung: 'Da sage ich auch [gRiq] oder [gReq], meistens sage ich [gReq], meistens sage ich [gRiq], doch, es hängt davon ab bei mir.'
157 Tab. 5.7.2 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Z-e in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezugssystem (hier: e); bei Abweichung vom Bezugssystem: Transkription der Variante des Stammvokals ZI 04 OS Ζ5 S6 72 S3 Ζ7 06 Ζ3 Ζ6 S2 S1 Ν3 Ν4 S4 Ν2 S5 ΝΙ 02 0 7 ΟΙ + + ε + + + + + + + + ε + ε ε ε + ε ι + ε α ι η Lengtf 'Leine' + + + + ι + + + + + + + + + + a i + ι + αιηαιηαιη sing, 'sein' + + ε + + ι + + + + + ι ι + αιηαιηαιη sengem, 'seinem' + + + ι + + + + + + + ι ι + ειηαιηαιη singer, 'seiner' + + + + + + + ε ι ε + + + + + ι + + + + + +ι ι + + ι ι ι ein ein ein ein gring'grün' + + + + + + ι + + αιη ι +ι i. ι ι + ι ι ein ein ein ein zengt 'zehn' + + + + Ι ι ι + ε + ι ι ι ι ι ι ι + ι αιηαιηαιη rUngm 'neun' Es ist damit keine Ordnung erkennbar, die es zuläßt, einzelne Varianten bestimmten Regionen oder bestimmten Lexemen zuzuweisen. Zusätzlich ist noch Paradigmeninkonsistenz anzutreffen, da einige Infn (Z5, Z6, 06, SI, S6, Nl) für Formen des gleichen Lexems beide Varianten nebeneinander verwenden (4). (4)
[zeq] ~ [zeqam] ~ [zequ] ~
[ziq] [ziqam] [ZII]B]
seng^ singem^ singer^
'sein' 'seinem' 'seiner'
Eine Region, für die ausschließlich e-Formen belegt sind, kann nicht ermittelt werden. Die oben festgestellte Variantenmischung hat sich somit bis heute erhalten. Weiterhin sind auch alle Varianten, die in den Dialektdokumentationen erfaßt wurden, heute noch vorhanden. Mit der Variante e, die vereinzelt auftaucht, hat sich eine Neuerung herausgebildet. Sie läßt sich aus der Fortsetzung der Senkungstendenz erklären, in der e sich weiter kurzen ε annähert.
5.7.3.2 Dialektgespräch In der weiteren quantitativen Analyse werden die token-Häufigkeiten für die einzelnen Regionen miteinander verglichen. Sollte es sich bei der Varianz zwischen e und / tatsächlich um ein postlexikalisches Phänomen handeln, so sind für die Regionen ungefähr gleiche Verteilungen der Varianten zu erwarten. Wie Abb. 5.7.1 zeigt, ist dies auch für das Zentrum und den Norden mit Werten um den Gesamtdurchschnitt von ca. 50% zutreffend. Der Süden weist höhere Werte für e auf (ca. 69%). Unter den 'sonstigen' sind hauptsächlich die diphthongischen Formen zusammengefaßt; so erklärt sich ihr hoher Anteil im Osten. Es ergibt sich somit für die Variante e ein relativ homogenes Bild. Sie ist mit Werten zwischen 69,2 und 45,2% die häufigste Form. Zweithäufigste Variante ist /, die in Zentrum und Norden ungefähr genauso häufig auftritt wie e. Diese hohen Werte für beide Varianten implizieren eine massive quantitative Varianz zwischen e und i. Weiterhin folgt daraus, daß in keiner Region eine bestimmte Variante exklusiv vorhanden ist. Die Varianz zwischen e und / ist insgesamt großräumig und weist keine Regionenspezifik auf (Deregionalisierung). Bei einer Analyse der individuellen Häufigkeiten wird dieser Eindruck nur teilweise bestätigt. In
158 Abb. 5.7.2 sind die Häufigkeiten der einzelnen Sprecherinnen gemäß der absteigenden Werte für e eingetragen. Diese Darstellungsweise erlaubt es, Fokussierungen einzelner Infh auf bestimmte Varianten sichtbar zu machen. Die Variantenverteilung entspricht einer flachen SKurve (vgl. Bailey 1973), die daraufhindeutet, daß ein Lautwandel ι > e im Gange ist. Es befinden sich jeweils nur wenige Infh an den beiden Enden der Darstellung, d.h. es gibt nur wenige Sprecher, die fast ausschließlich bzw. gar nicht die ^-Variante verwenden. Infn, die auf e fokussiert haben, sind demnach S2, 04 und eventuell noch 05 und die Nachrichtensprecherin (RTL). Zwar zählen zu dieser Gruppe keine Z-Sprecherlnnen, doch handelt es sich bei ihnen um Infn, die auch andere Dialektmerkmale ihrer Herkunftsregion zugunsten der Z-Varietät abbauen bzw. abeebaut haben. Diese Sprecherinnen können nach Milroy
Abb. 5.7.1 Variantenhäufigkeiten für Z-e im Dialektgespräch ( N = 3 3 3 )
Abb. 5.7.2 Variantenhäufigkeiten für Z-e im Dialektgespräch ( N = 3 3 3 )
159 (1992) als innovators gelten, da sie konsistent die neue Variante verwenden. Ob die Sprachgemeinschaft diese Innovation übernimmt, hängt von weiteren Faktoren ab; darüber kann aufgrund der vorliegenden Daten nur spekuliert werden. Fokussierung auf die Variante / läßt sich für Z5 und N2 feststellen. Alle übrigen Infn gruppieren sich mit Häufigkeiten um 50% für e im breiten Mittelfeld des Diagramms und weisen damit diffuse Variationsmuster auf. Diese individuellen Muster werden in der gröberen Darstellung für die einzelnen Regionen in Abb. 5.7.1 verdeckt. Der deregionalisierte Charakter der Variation zwischen / und e läßt sich jedoch auch in Abb. 5.7.2 feststellen. Er manifestiert sich darin, daß Infn aus allen Regionen auf allen Positionen des Rankings zu finden sind. So sind z.B. 04 und 05 ganz links, 02 in der Mitte und Ol und 03 ganz rechts positioniert. Ebenso weit streuen die Häufigkeitsmuster der Z-Sprecherlnnen ZI, Z2, Z6 und Z7 einerseits und Z5 andererseits. Doch eine ausgewogene, stabile Mischung, wie sie Abb. 5.7.1 suggeriert, kann in dieser detaillierten Darstellung nicht entdeckt werden. Für die neue Variante e, die in den Dialektmonographien nicht beschrieben wurde, weisen nur ZI, Z7, S3 und S5 nennenswerte Häufigkeiten auf. In Abb. 5.7.2 ist ε in der Kategorie 'sonstige' zusammengefaßt. Für diese Infn korreliert das Vorhandensein von ε mit hohen Werten für e. Dies deutet auf eine Fortsetzung der Senkungstendenz in einer Reihe / > e > ε hin. Die Träger dieser Entwicklung stammen alle aus dem Zentrum oder dem Süden; in den stark dialektalen Regionen des Nordens und Ostens ist diese Weiterführung der Senkung nicht festzustellen. Damit kann der sprachlich-konservative Charakter der letzteren Regionen bestätigt werden.
5.7.3.3 Interdialektaufnahme Auch für die Variable Z-e lassen sich im Vergleich von Dialektaufnahme und Interdialektaufnahme kaum Veränderungen feststellen. Die Abweichungen der Infn von der Dialektaufnahme liegen jeweils zwischen -10% und 17%. Dadurch wird auch hier bestätigt, daß die Varianz von Z-e nicht bewußt kontrolliert wird, da sie in beiden Gesprächssituationen relativ gleich bleibt.
5.7.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Das Variationsmuster für die Variable Z-e ist heute wie damals durch massive Diffusivität gekennzeichnet. Gegenüber den älteren Dialektdokumentationen und auch im Vergleich zwischen Dialektaufnahme und Interdialektaufnahme können keine Unterschiede in der Variantenverwendung festgestellt werden. Damit hat sich die für den Beginn des Jh. konstatierte Variantenmischung bis heute in hohem Ausmaß erhalten. Im Gesamtdurchschnitt dominieren die diachron neueren e-Formen nur leicht. Das deregionalisierte Variationsmuster macht es unmöglich, nach einem konkreten Vorbild für die e- Variante zu suchen.
160 Aus phonetischer Sicht ist die e- Variante durch eine postlexikalische Lenierung entstanden, indem der Kontexteinfluß des Nasals zur Senkung des Vokals führte. Da in der Varianz zwischen ι und e keine phonologischen Oppositionen involviert sind und sie auch nicht durch grammatische Prozesse beeinflußt wird, ist sie auf der postlexikalischen Ebene anzusiedeln. Das Verhältnis zwischen beiden Varianten dieser Lexemgruppe ist als biunique zu bezeichnen (vgl. Auer 1990: 262): Aus jeder der Varianten kann die jeweils andere abgeleitet werden. Für die meisten Infn manifestiert sich diese Regel in individueller Varianz und Paradigmeninkonsistenz. Für diejenigen Infn jedoch, die fast nur die neue Variante e verwenden, wird im Zuge der Fokussierung eine allophonische Detailregel eingeführt (i > e I η). Sollte sich die e-Variante weiter in der Sprachgemeinschaft durchsetzen, so bedeutet dies, daß eine lenierte, koartikulative, d.h. 'einfachere' Variante Bestandteil des phonologischen Systems wird. Damit wäre eine Eigenschaft von Koin6s, nämlich ihr im Vergleich zum Ausgangssystem 'simplifiziertes phonologisches System' (Siegel 1985) erfüllt. Doch diese Entwicklung ist in den hier untersuchten Korpusdaten nur andeutungsweise erkennbar. Schließlich muß die Fokussierung auf e auch als Divergenz zum StD interpretiert werden. Denn Lexeme wie bringen, ging, singen und klingen, die als Teil des gemeinsamen Lexikons des StD und Letzebuergeschen gleich lauten, setzen sich mit einem Stammvokal e deutlicher vom StD ab (5). (5)
Letzebuergesch [bReqen]
StD [bRirpn]
'bringen'
[zerjan]
[zirpn]
'singen'
In einer Übersicht stellt sich die Variation von Z-e wie folgt dar: Typ: Dynamik: Status: Phonolog. Ebene:
5.8
Dialektmischung, deregionalisiert sehr virulent sekundäres Merkmal postlexikalisch
Variationsbereiche Z-e:, Z-o:
Die Variationsbereiche Z-e: und Z-o: zeigen Öffnungsgradvarianz zwischen ε/und e/bzw. o: und o:. Das Zentrum fokussiert auf die geschlossenen Varianten.
5.8.1
Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
Die sprachgeschichtliche Entwicklung der Langvokale e:und o/geht aus Tab. 5.8.1 hervor. Beim Lautwandel von ahd. ei > e: (Z-e^) liegt nach Wiesinger (1970, I: 176-188) ähnlich wie bei ahd. ou > a: (Z-a:„; vgl. 5.1) eine 'Assimilationsdehnungsmonophthongierung' vor. Die Entstehung verlief in einer Monophthongierung und einer Hebung über ei > e: > e:.
161 Tab. 5.8.1 Diachrone Vorgängerphoneme von Z-e: und Z-o: historische Kontexte
Beispiele
Variable
ahd. Bezugslaut
historische Prozesse
Z-e:,
ei
- alle -
Monophthongierung Kled
'Kleid'
Z-e:2
ele
meist: 1 $
(Ersatz-) Dehnung
Ren seen dem
'Regen' 'sägen' 'dem'
Z-o:
ä
— alle —
Hebung
Blosen blo
'Blasen' 'blau'
Die Entwicklung betrifft die vollständige Wortklasse von ahd. ei, es fanden keine Phonemspaltungen statt. Die Wortklasse, die der Variable Z-e: 2 zugrunde liegt, ist dagegen heterogener. Hier finden sich Dehnungen von ahd. ele, die entweder in offener Silbe (seen 'sägen') oder kompensatorisch nach Konsonantenausfall stattfanden (Ren 'Regen'). Auch einige analogische Umlaute (Nel 'Nägel') sowie Dehnungen vor Nasal in wenigen Einsilbern (dem 'dem') gehören in diese Gruppe. Die Variable Z-o: geht ausnahmslos auf ahd. ä zurück, das eine Hebung auf der Linie der Velarvokale erfuhr.
5.8.2
Überblick über die Dialektgeographie
In der arealen Variation der beiden Langvokale können neben den Hauptvarianten e: bzw. o: noch Formen mit ε:, ei bzw. ou festgestellt werden. Der LSA hat für diese häufigen Vokale leider nur wenige Lexeme kartiert, so daß in den Tab. 5.8.2 und 5.8.3 ein relativ ungenaues Bild der Dialektgeographie entsteht. Doch finden sich in den Dialektmonographien noch weitere Belege, die zur Ergänzung herangezogen werden. In Tab. 5.8.4 sind die wichtigsten Varianten pro Region zusammengefaßt. Tab. 5.8.4 Reginnale Varianten für Z-e: und Z-o: (nach IM und PialfiktmonoRranhien) Norden Zentrum Süden Osten ε: ε: e: e: Z-e:, Z-e:2
e:
e:
e:
e: äußerster N: ε:
Z-o:
o: ~ou
o:
o:
ο: — ou
Im Zentrum hat Z-e: auf geschlossenes e: fokussiert. Für Z-o: sind einige ow-Formen zu beobachten. Im Süden und Osten liegen jeweils die identischen Verhältnisse vor, denn hier findet sich für Z-e:, offenes ε:, und für Z-e: 2 geschlossenes e:. Im Norden wird Z-e:, mit der geschlossenen Variante realisiert. Für das südliche Ösling trifft dies auch auf Z-e: 2 zu. Doch im äußersten Norden hat sich für Z-e: 2 zudem ε: entwickelt. Im Vergleich mit Süden und Osten liegt damit eine spiegelbildliche Variantenverteilung vor.
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Umlaut ei) (vgl. Auer 1989). Diese Form des Umlauts entspricht dann dem der übrigen hinteren Vokale (u > i, ο > e/o, us > ig, ou > ei). Durch diese Entwicklung wird der allgemeine Dialektausgleich teilweise
182 gestört, denn es entsteht neue Varianz. Im Korpus sind die analogischen Umlaute für Z-ei3 noch in der Minderzahl.
5.9.3.2 Dialektgespräch Abb. 5.9.1 und 5.9.2 geben die Variantenhäufigkeiten für Z-ei und Z-ou wieder. Für beide Diphthonge kann eine parallele Variantenverteilung festgestellt werden. Für die meisten Infn sind ei, ou mit Werten zwischen 80% und 100% die häufigsten Varianten. Erwartungsgemäß weisen die Infh aus Zentrum und Süden die höchsten Werte für ei bzw. ou auf. Umgekehrt verwenden N1 und Ol, die schon in der Fragebuchaufnahme nur wenige ei und ou realisierten, auch im Dialektgespräch überwiegend die Monophthonge e:H:. Auffällig im Vergleich zum Fragebuch sind die Infn N3 und N4 aus Wiltz (N-Wi), die sehr geringe Werte für ei, ou aufweisen - im Fragebuch hatten sie fast ausnahmslos die Z-Varianten verwendet. Doch im Dialektgespräch kovariieren diphthongische Varianten mit kurzen und langen Monophthongen, ohne daß ein Muster erkennbar wäre (4). [leif] [leivi] [ongsfeii] [fRei] frei
'früh'
Uif leiwer ongefäier Breitchen
'Brötchen'
Fouss Schoul Mount
'Fuß' 'Schule' 'Monat'
[fous]
-
[fo:s]
[foul]
-
[Jol]
[mount]
'lieb* 'lieber' 'ungefähr'
[le:f] [le:vB] [ongafeie] [bRietJan]
[mo:nt]
Dieser deutliche Gegensatz zwischen der Fragebuchaufnahme und dem Dialektgespräch belegt, daß, zumindest für die beiden Diphthonge, bei N3 und N4 in der Fragebuchaufnahme nicht der Basisdialekt erhoben worden ist, sondern eine dem Z-System nahestehende Varietät. Im Dialektgespräch lassen diese Infn dann doch noch einen Anteil von ursprünglicher 100
0
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Z2 Z1 S 3 S 5
S6 S4
S 1 0 6 Z4 0 7 0 2 0 5 S2 Z3 0 4 N2 0 3 N3 O l Sprecherinnen Abb. 5.9.1 Häufigkeiten der Variante ei im Dialektgespräch (N = 706)
N4 N1
183
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0 7
0 2
24
N3
0 3
N4
N1
II 01
Abb. 5.9.2 Häufigkeit der Variante ou im Dialektgespräch (N=402)
Dialektalität erkennen. Die hohe Kovarianz spricht dafür, daß es zumindest zu einer Variabilisierung zwischen altem Dialekt und dem Zentralluxemburgischen gekommen ist.
5.9.3.3 Interdialektaufnahme Die Häufigkeiten der Interdialektaufnahme finden sich in Abb. 5.9.3 und 5.9.4. Es sind nur die Infh verzeichnet, die auch im Dialekt hohe Anteile von Varianten aufwiesen (Nl, N3, N4, Ol). Für Nl ist ein nur minimaler Zuwachs von ei und eine relativ deutliche Abnahme von ou festzustellen. Ahnlich verhält sich Ol: Bei ihm nehmen sowohl die «-Formen als auch die ow-Formen zugunsten der Dialektvarianten ab. Diese Infn erhöhen damit im Interdialekt ihr Dialektalitätsniveau. Auch bei N4 nehmen die Dialektlautungen leicht zu. Dage100
~60 CS
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glnterdialek.
Abb. 5.9.3 Gegenüberstellung der Häufigkeiten der Variante ei in Dialekt- und Interdialektaufnahme (N,^^,.^,,,,,,,,,. = 183)
Abb. 5.9.4 Gegenüberstellung der Häufigkeiten der Variante ou in Dialekt- und Interdialektaufnähme (NInl£rtjialetoufnahm£=44)
184 gen ist für N3 ein deutlicher Anstieg der Z-Formen um mehr als 30% zu verzeichnen. Für diese Sprecherin trifft damit die dritte der Hinskensschen (1992) Hypothesen zu, gemäß der sich Dialektausgleich in Akkommodation ankündigt. Doch für die übrigen Infn läßt sich diese Hypothese nicht bestätigen.
5.9.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Der Dialektausgleich zugunsten des Zentralluxemburgischen ist für Z-ei und Z-ou insgesamt sehr weit fortgeschritten. Nur zwei Infn des Samples (Nl, Ol) haben ihre ursprünglichen Dialektvarianten in einem konsistenten Muster erhalten. Bei zwei weiteren Infn (N3, N4) ist massive Variabilisierung zwischen der alten Form und der Z-Variante zu konstatieren. Die Varianz läßt sich phonologisch mit einer Korrespondenzregel beschreiben, die auf der lexikalischen Ebene operiert. Es kommt zur Mischung von Lexemen mit Monophthong in ihrer lexikalischen Repräsentation und Lexemen, die den Z-Diphthong aufweisen. Betroffen von dieser Entwicklung ist auch der historische Umlaut von ahd. ä. Hier ist Kovarianz zwischen dem historischen Umlaut ei und dem analogischen Umlaut e; festzustellen. Auch diese Variation ist auf der lexikalischen Ebene zu lokalisieren. Wie der dialektgeographische Überblick zeigt, ist der Süden die einzige Region, in der die Diphthonge ei, ou als alleinige Variante vorhanden waren/sind. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Ausbreitung von ei, ou nicht auf die Koineisierung südlicher Formen zurückzuführen ist. Diese Option kann aufgrund der Datenlage nicht gänzlich zurückgewiesen werden. Es erscheint dennoch wahrscheinlicher, daß es zu einer generellen Ausbreitung von ei, ou gekommen ist, denn diese Diphthonge sind in allen Regionen vorhanden gewesen. Auch für diesen Variationsbereich vollzieht sich damit der Ausgleich in der Ausweitung der Varianten mit der größten dialektgeographischen Gültigkeit.
5.10 Variationsbereiche Z-ai, Z-au Die zentralluxemburgischen Diphthonge ai und au sowie ihre komplementären Allophone e.i und am weisen regionale Variation hinsichtlich der phonetischen Parameter 'Qualität' und 'Quantität' auf. Qualitativ variieren die Onsets der vier Diphthonge auf der Dimension 'vorne ~ hinten'; ei und a.u zeigen zusätzlich Variation des Öffnungsgrades. Darüber hinaus können Dauerunterschiede im ersten Diphthongbestandteil festgestellt werden.
5.10.1 Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen Die beiden Diphthonge gehen auf die ahd./mhd. Langvokale t, iu und ä zurück. Wie in vielen deutschen Dialekten (auch im StD) vollzog sich auch auf luxemburgischem Gebiet die Di-
185 phthongierung in mehreren Zwischenstufen. Als erste Stufe dieses spontanen Lautwandels gilt die Entstehung eines Silbenkerns innerhalb des alten Monophthongs, der sich vom nachfolgenden Glide absetzte (/'/, uu). In der weiteren Entwicklung kam es zur Dissimilation, indem der erste Bestandteil sukzessive in Richtung α gesenkt wurde (vgl. Stampe 1972, Donegan 1978, Wiesinger 1983c: 1076, Klein 1993). (1)
ahd. i/iu
ahd. ü
II
uu
Entstehung eines Offglides
ou
Senkung des Onsets
Iei i ει 1
I I ου I
Senkung des Onsets Senkung des Onsets
Beide Diphthonge tragen Tonakzente, die zur Entstehung zweier komplementär verteilter Allophone führten.32 Trug oder trägt der Diphthong den TAI ('Schärfung'), so erscheint die Variante des Extremdiphthongs ai bzw. au. Trug der Diphthong dagegen den TA2 ('Zirkumflexion'), so entwickelten sich die überlangen und geschlossenen Varianten ei bzw. a.u. TAI [voit]
[fRaidic] [laian] [lait] [haut] [laudsn] [aus]
Weit Freideg leien Leit haut lauden Auer
'Weite' 'Freitag' 'liegen' 'Leute' 'heute' 'läuten' 'Uhr'
TA2 [ve:it]
[fRE:i] [le:it] [tsei:t] [ha:ut] [ma:ul] [ha:us]
wäit fräi läit Zäit Haut Maul Haus
'weitAdv
'frei' 'liegt' 'Zeit' 'Haut' 'Maul' 'Haus'
5.10.2 Überblick über die Dialektgeographie Ahnlich wie sich in einigen dt. Dialekten die Diphthongierung nicht bis zur vollständigen Polarisierung zwischen maximalem und minimalem Öffnungsgrad vollzogen hat (vgl. Auer 1988, 1990 für die Stadtsprache von Konstanz), finden sich in Luxemburg Varianten zwischen ei und ai einerseits und ou und au andererseits, die darauf hindeuten, daß die Diphthongierung noch nicht bis zur maximalen Dissimilation zwischen Onset und Offset fortgeschritten ist (vgl. Tab. 5.10.1, nächste Seite). Für Z-ai und Z-au sind im LSA ai bzw. au die häufigsten Varianten, die in allen Regionen vertreten sind. Für ais 'uns' zeigen sich monophthongische Varianten i.s im Osten und eine aus dem StD entlehnte Form ons in Stadtluxemburg; auf diese Einzelwortvarianz wird in 5.17.1 eingegangen. Im Norden haben sich vor alveolarem Plosiv velarisierte und gekürzte Formen herausgebildet ([fkegdaf] Freideg 'Freitag'); sie werden als Vela II in 5.12.2 beschrieben.
32
Die Kontexte sind im Exkurs (S. 75-79) über die mittelfränkischen Tonakzente beschrieben.
186
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187 Eine bedeutend weitere Verbreitung weisen die zu ε/a bzw. ο gekürzten Varianten im Südwesten (S-Zo, S-Es, S-Sc, S-Ka), Teilen des Ostens (O-Mo, O-Ch, O-Co) und im nördlichen Zentrum (Z-Bi, Z-He) auf. Genetisch stehen sie im Zusammenhang mit den velarisierten Formen des Nordens. Auch hier führte der TAI zu einer Kürzung des Diphthongs. In (1) sind die gekürzten Formen den Z-Varianten gegenübergestellt.33 (1)
[fRedan] [let] [hot]
[fRaidaf] [lait] [haut]
Freideg Leit haut
'Freitag' 'Leute' 'heute'
Für haut 'heute' ist die Kürzung sogar bis in die Nähe der Hauptstadt vorgedrungen und findet sich im Ort Bridel (Z-Br). Für die beiden Diphthonge mit Überlänge, Z-a:i und Z-o:u, finden sich im westlichen Zentrum (Z-Si) noch die Monophthonge e: und o:. Die frnhd. Diphthongierung ist nach Bruch (1953: 168f.) nicht bis in dieses westliche Gebiet vorgerückt. Wesentlich weiter verbreitet ist die Variation im Öffnungsgrad der beiden Diphthonge. Überwiegend im Osten lassen sich geschlossene Diphthonge vom Typ e.i, o.u feststellen. Sie finden sich jedoch nicht flächendeckend, sondern auf die Lokalitäten O-Gr und O-Re beschränkt. Für Z-a:u kann in einigen Lokalitäten des Zentrums (Z-Rd), Ostens (O-Ni, O-Mo) und Nordens (N-Wi) eine Frontierung (Palatalisierung) des Diphthongonsets zu e; beobachtet werden. Werden zur Beschreibung des Diphthongonsets noch die Dialektmonographien herangezogen, so zeigt sich, daß die Angabendes LSA teilweise unterdifferenzieren. In Tab. 5.10.2 sind die Transkriptionen zusammengestellt. Tab. 5.10.2 Regionale Varianten für Ζ-ε:ί und Z-a:u (nach Daten des LSA und der Dialektmonographien)
Region/Lokalität
Quelle
Lux-Stadt
LSA
[Qli]
[Ü:U]
Mittelösling/Knaphoscheid
Palgen 1954
M F
[o:u]
Süden/Esch
Palgen 1948
[ε:>]
[o:u]
Osten/Echternach
Palgen 1931
Μ ]
Ν
Nordösling
Bruch 1952
[ε:ί]
[a:u]
Osten/V ianden
Engelmann 1910(2
[ei]
[ou]
Z-a:u
Die größte Diphthongierungsspanne weisen die stadtluxemburgischen Diphthonge auf, hiei liegt der Onset im α-Bereich. Im mittleren Ösling, im Süden und im Osten ist der Onset mit ε;bzw. o/eine Stufe geschlossener. Der Nordösling weist für Ζ-ei die Variante e.i auf, gehl aber mit a.u für Z-a:u konform mit Luxemburg-Stadt. In Vianden schließlich fehlt die Überlänge und der Diphthongonset bewegt sich auf dem Niveau von e bzw. o. Somit kann in dei Dialektgeographie Luxemburgs ein Kontinuum festgestellt werden, das die verschiedener 33 34
Weitere Beispiele in Palgen (1948: 19f.). Palgen (1931, 1948, 1954) verwendet für den Onset das Transkriptionssymbol [ä:] und spricht vor einem "ganz offene[n] e-Laut" (1948: 5), der hier durch das IPA-Symbol [e:] ersetzt ist.
188 Stufen des Diphthongierungsprozesses darstellt. Die stärksten Diphthongierungen, und damit die historisch neuesten Varianten, sind im Stadtgebiet zu finden. Das nordöstliche Vianden repräsentiert den ältesten Zustand, dessen Diphthonge ei, ou noch eine deutliche Nähe zu den ursprünglichen mhd. Langvokalen i und ü zeigen.
5.10.3 Kontrastierung mit den Korpusdaten Die Belege für Z-ai und Z-au in Tab. 5.10.3 und 5.10.4 verdeutlichen, daß sich die Varianten ai und au weiter ausgebreitet haben. Im Norden finden sich zwar noch die velarisierten Varianten (VELA Π; vgl. 5.12), doch die Kürzen vor alveolarem Plosiv, die ursprünglich im Süden, Teilen des Zentrums und Ostens vorhanden waren, sind heute ausschließlich durch ai, au ersetzt worden. Diese Veränderungen sind in Tab. 5.10.3 und 5.10.4 durch Schattierung angezeigt. Lediglich in den Daten des Zusatzkorpus realisiert ein Sprecher der älteren Generation aus dem Süden die Form [let] für Leit 'Leute'. Er tut dies jedoch nicht konsistent, es läßt sich Kovariation mit [lait] feststellen. Tab. 5.10.3 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Z-ai in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezuessvstem (hier: ai)
N3lS6iZ5|Z2|sijS5;S3|05l06102j07j0l|N4|N2|NI 'bleib!' + + 'Läuse' 'hier' + 'liegen' + 'neu' + 'Säue' + schneien 'schneien' + Gei 'Geige' + Zeitung 'Zeitung' + Feier 'Feuer' + Leit + 'Leute' aisen 'unser' + ais + 'uns' Hait + 'Häute' blaif! Leis hei leien nei Sai
+ + + + + + + + + + + + + + + +
+
+
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+
+
α·ι
+
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+ +
+ + + + + + + + + + + + + + + + +
+
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+
+
+
+
+
+
sei
f + + + +
+
+
+ +
+
+
+
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+ + + + + + + +
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+
+ +
+
+
+ + + + + + +
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
1 ek ek ek
+
+
+ +
+ + + i: i: i: + + + + + + + i: + i: i: i: + ei ει + α·υ α·υ + au + aei X I + + + + +
ons ons +
+ + + + + + + + + + + + + +
+ + + +
Tab. 5.10.4 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Z-au in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezugssystem (hier: au); bei Abweichung vom Bezugssystem: Transkription der Variante des Stammvokals Z2 [ Z5 ] Z61 ZI [ Z41Z31S2) SI [ S5 [ S4 j S6 [ S3 j Q4 |osj Q6 jP2 jp7 j Ol | N3JN4 |n2]~nT haut 'heute' + + + + + + + + + + + + + + + + + + + okokok
Dauf
'Taube'
Aueren 'Uhren' räumen räumen
+ + +
+ + +
+ + +
+ + +
+ + + + + + + + +
+ + + + + +
+ + + + + +
+ + + + + +
+ + +
+ + + + + + + + + + + + + + +
+ + +
+ + +
+ + +
189
Gravierendere Veränderungen haben sich für Ζ-ε:ί und Z-a:u ergeben (Tab. 5.10.5, 5.10.6). Ol, 0 2 und 0 7 weisen mit ε(·)ΐ, ei bzw. a(-)u, ou noch denselben Diphthongierungsgrad auf, wie er im LSA beschrieben wurde. Bei den übrigen Infn jedoch ist die Diphthongierung von ei zu as(:)i bzw. von am zu se(:)u fortgeschritten. In einigen wenigen Belegen kann sogar die Extremdiphthongierung, wie sie im StD vorliegt, ermittelt werden. Die Daten deuten darauf hin, daß im Vergleich zur L&4-Situation der Prozeß der frnhd. Diphthongierung vorangeschritten ist. Tab. 5.10.5 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Ζ-εή in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezugssystem (hier: e.i); bei Abweichung vom Bezugssystem: Transkription der Variante des Stammvokals S1 SS S4 SO Oft S3 Z2 Z5 Z6 /Λ Z4 Z3 0 4 C)5 N3 N4 N2 0 2 0 7 O l N1 dräi
'drei'
aei XI αϊ KI aei aei aei aei aei ssi aei aei aei aei aei aei aei aei ει ει ei XI
Ais
'Eis'
aei αϊ ae-i ε ι αϊ ae-i aei αϊ αϊ aei αϊ XI aei ai XI aei aei aei QI ει aei aei
mischt
'nichts'
aei aei ae-i XI ae-i aei aei sei aei a:i aei XI aei XI aei aei aei aei ει ει ei XI
gesäit
'sieht'
aei aei aei asi aei asi aei aei aei aei aei aei aei aei aei aei aei aei ει ει ei ik
Schräiner 'Schreiner' aei aei aei aei Wain
'Wein'
aei aei aei aei aei aei aei aei aei XI aei αϊ αϊ ει aei ει Ό aeu se:i ae:i ae:i ae:i aei aeu ae:i aei aei aei aei αϊ aei QI aei ai sei ει ει ei II)
Zäiten
'Zeiten'
aei ae-i ae i ae i x i x-i aei aei asi aei aei aei aei aei αϊ aei aei XI αϊ ει ei ek
säift
'säuft'
aei aei ae-i aei ae-i ae-i ae-i aei au 3 aei aei aei
leit
'liegt'
+
leit
'liegt'
S.I aei aei + aei + aei +
+
+
-
-
aei 3 QU 3 ει ει ei XI
+ aei + aei aei + κ ι ae-i + aei aei aei + aei aei aei XI + ak + aei aei aei aei aei aei aei aei aei aei XI + sk
Tab. 5.10.6 Dialektgeographische Varianz des Stammvokals Z-a:u in der Fragebuchaufnahme; ' + ' = Übereinstimmung mit dem Bezugssystem (hier: α«); bei Abweichung vom Bezugssystem: Transkription der Variante des Stammvokals Z2 Z5 Z6 Z I Z4 Z3 S2 S1 S5 S4 S6 S3 0 4 0 5 0 6 N3 N4 N2 N1 0 2 0 7 O l x u x u xu xu xu xu xu x-u xu xu xu x u xu xu x-u xu xu xu xu a - u Qu Qu brauchen 'brauchen' X-UX'U x"U X'U χ-u χ-u x u x u x u x u x-u χ υ x*u ae u χ-u χ-u x u x u ae-u α-u α-u ou brauch
'braucht'
ae u ae-u ae-u χ-u xu χ-u ae-u ae-u aeu ae u ae-u ae-u ae-u ae-u ae-u ae-u ae-u χ-u ae-u a-u Q-u ou
'rauh'
ae-u ae-u ae-u ae-u aeu aeu χ-u ae-u aeu x-u ae-u ae-u ae-u aeu ae-u ae-u ae-u ae-u ae-u ae-u ae-u ou
Von den Sprecherinnen Ol, 0 2 und 07 abgesehen, die die velaren Varianten des Ostens beibehalten haben, hat für Z-a:u in allen Regionen Frontierung von ursprünglich velarem a.-ul ο,-u zu as(.ju stattgefunden. Diese Frontierung (Palatalisierung) steht in Zusammenhang mit der in 5.1 herausgearbeiteten Frontierung von Z-a:. Auch für jenes konnte eine Entwicklung vom Velarvokal zum Palatalvokal festgestellt werden. Durch die Frontierung fällt dann der Onset von Z-am mit Z-a: und Z-e:i im palatalen se(.j fast zusammen. Die frontierten Onsets waren, wie Tab. 5.10.1 zeigt, in einigen Lokalitäten bereits zu L&4-Zeiten vorhanden, wo sie überwiegend in Wiltz (Norden), Redingen (westliches Zentrum), Niederdonven (Osten) und einigen anderen Ortschaften vorkamen. Im Vergleich mit den Hauptvarianten ei und a.u waren sie jedoch weniger weit verbreitet. Da die Lokalitäten mit ε.υ über ganz Luxemburg
190 verstreut liegen, ist es wenig wahrscheinlich, daß sich die Systeme der übrigen Ortschaften an ihnen orientiert haben. Es liegt daher näher, von einer polygenetischen Entstehung der heute dominanten e.w-Lautungen auszugehen, die auf die interne Dynamik des luxemburgischen Vokalsystems zurückzuführen ist. Ähnlich wie Z-a: ist somit auch die Veränderung von Z-a:u durch den Abbau velarer, offener, langer Vokale gekennzeichnet. Neben den qualitativen Veränderungen hat sich auch die Quantität der Diphthonge verändert. In der Fragebuchaufnahme läßt sich Variabilisierung der Vokallänge zwischen normallangen und überlangen Diphthongen feststellen. Das Vorkommen der Länge ist auch an den Wortakzent gekoppelt. Sie tritt nur in hauptbetonten Wörtern oder unter dem Satzakzent auf; in schwachbetonten Wörtern geht sie oft verloren. Eine Regionenspezifik für die Dauervariation ist nicht ersichtlich. In Tab. 5.10.7 sind für sieben Infn die Dauermittelwerte zusammen mit der Standardabweichung für Z-ai und Z-e:i exemplarisch gegenübergestellt.35 Für beide Diphthonge sind hohe Standardabweichungen charakteristisch, die auf die Variabilisierung hindeuten. Tab. 5.10.7 Mittelwerte und Standardabweichung für Z-ai und Z-e-.i in Millisekunden (ms)
02 Mittelwert Z-ai
S1
136,875
| Standardabweichung Mittelwert Z-e:i
N2
154,440 166,400 37,430
18,279
18,249
ZI
S2
Z2
Z3
142,111
131,000
142,083
136,875
21,105
29,036
36,967
18,279
160,857
161,571
37,173
41,747
123,600
166,800
160,666
140,333
163,300
28,931
32,492
33,339
15,965
18,809
| Standardabweichung
Abb. 5.10.1 sind die absoluten Differenzen zwischen ai und ε:ϊ eingetragen. Für vier der sieben Infh ist ei zwischen 32 und 12 ms länger als ai, für ZI sind die beiden Diphthonge jeweils gleich lang und bei N2 und 0 2 ist ai sogar länger als e.i. Nach Neppert/Petursson
•II 1 1π
40 • 30 20
•g 'S
ίο
-10
-20
I I I · S2
Z3
Z2
• S1
Z1
N2
• 02
Sprecherinnen
Abb. 5.10.1 Absolute Dauerdifferenzen zwischen Ζ-ε:ί und Z-ai (nach Daten der Fragebuchaufnahme) 35
Zur Dauermessung wurde die Software WinCECIL verwendet (vgl. 4). Beginn und Ende eines jeden Diphthongs wurden im Spektrogramm ermittelt.
191 80
Ζ2
02
S2
Z3
Sprecherinnen
Abb. 5.10.2 Absolute Dauerdifferenzen zwischen Z-a:u und Z-au (nach Daten der Fragebuchaufnahme)
(1992: 167) beträgt der minimale wahrnehmbare Dauerunterschied in einer Laborsituation ca. 10 ms. Es ist davon auszugehen, daß in ungesteuerten Kommunikationssituationen dieser Wert noch deutlich höher liegt. Im Hinblick auf die Differenzen in Abb. 5.10.1 kann somit geschlossen werden, daß für S l , ZI, N2 und 0 2 der Dauerunterschied zwischen den beiden Diphthongen εήund ainur noch schwer perzipiert werden kann. Wie Abb. 5.10.2 zeigt, ist der Dauerunterschied zwischen Z-au und Z-a:u noch ausgeprägt vorhanden. Für alle Infn wurden relativ hohe Differenzen zwischen 37 und 78 ms gemessen. Die Tendenzen, die sich im Fragebuch abzeichnen, finden sich in den Aufnahmen des Dialektgesprächs sowie in den Interdialektaufnahmen bestätigt. Auf eine quantitative Darstellung kann daher verzichtet werden.
5.10.4 Akustisch-phonetische Analyse Die individuellen Grade der Diphthongierung lassen sich ohrenphonetisch nur unzureichend wiedergeben. Durch die akustisch-phonetische Analyse ist es möglich, den momentanen Stand der Diphthongierung zu erfassen. Für Ζ-ειί kann er ermittelt werden, indem die Distanz zum Vokal Z-a: bestimmt wird. Dazu wird die in 5.4 entwickelte Formel verwendet, die sowohl die Distanz des Fl als auch des F2 berücksichtigt. In Abb. 5.10.3 sind diese individuellen Distanzen eingetragen. Die Infh sind von links nach rechts nach abnehmendem Abstand zwischen Z-a: und dem Onset von Ζ-ε:ί angeordnet. Wie zu erwarten ist für 0 2 der Abstand zwischen den beiden Vokalen mit 1,7 Bark am höchsten. Etwas niedrigere Werte zeigen Nl, S2 und ZI; auch bei ihnen beträgt die Distanz noch mehr als ein Bark: Die beiden Laute können somit noch deutlich unterschieden werden. Bei den übrigen Infh ist die Distanz bereits sehr gering. Der Onset von Ζ-ε:ί hat sich dem offenen Vokal a: beträchtlich angenähert. Die Infh mit der geringsten Distanz stammen entweder aus dem Zentrum (RTL, Z2, Z3, Z5) oder dem Süden (Sl). Dennoch kann aufgrund der Datenlage nicht pauschal angenommen werden, daß in dieser Region die Diphthongie-
192
02
N1
S2
Z1
N2 06 Z3 S1 Z5 RTL Z2 Sprecherinnen Abb. 5.10.3 Psycho-akustische Distanz zwischen Z-a: und dem Onset von Ζ-ε:ί (nach Daten der Fragebuchaufnahme)
rung am weitesten fortgeschritten ist, denn hier finden sich auch Infn wie S2 oder ZI mit relativ geschlossenen Onsets für Ζ-εή. Die Dynamik der Senkung des Onsets von Ζ-εή belegt deutlich, daß die spezifisch stadtluxemburgische Variante ad, die der LSA und die Monographien beschreiben, kein Vorbild der Entwicklung ist. Die Einschätzungen Engelmanns (1910a) und Bruchs (1954) sind somit zutreffend: Spezifisch stadtluxemburgische Realisierungen stellen nicht die Zielvariante des Ausgleichs dar. Drei Gründe sind dafür verantwortlich. Erstens genießt die Stadtmundart ein geringes Prestige; zweitens wäre die Realisierung a.i der standarddeutschen zu ähnlich, und drittens gehört a.i nach Ausweis des LSA zu den kleinräumig verbreiteten Varianten. Damit greift hier ein allgemeines Prinzip des Dialektausgleichs, das in dieser Untersuchung bereits auch für andere Variablen bestätigt werden konnte: Großräumig verbreitete Varianten setzen sich auf Kosten der kleinräumig verbreiteten durch. Um die individuellen Stufen der Diphthongierung innerhalb des Samples zu visualisieren, sind in Abb. 5.10.4 und 5.10.5 die Positionen von Z-e:i bzw. Z-a:u relativ zu anderen Diphthongen in einer Formantkarte dargestellt. Die Linien verbinden die jeweiligen Mittelwerte des Diphthongonsets von ai, ei, ei bzw. ou, au, a.u, e.i von 11 bzw. 10 ausgemessenen Sprecherinnen. Die Verbindungslinien repräsentieren die akustischen Abstände zwischen den Vokalen. Die Infn sind durch Symbole und Grauschattierungen unterschieden. In der Legende sind die Infn so angeordnet, daß eine Abfolge von älteren hin zu neueren Realisierungen erkennbar wird. Für Z-e:i zeigt sich in Abb. 5.10.4 deutlich, daß die Mittelwerte des ei-Onsets überwiegend im Öffhungsgrad (Fl) variieren. Ein Teil der Infn hat Fl-Werte um 5,7 Bark (02, 06, Nl, N2, ZI), wohingegen für Sl, Z2, Z3, Z5 und RTL höhere Fl-Werte um 6,8 Bark auf sehr offene Realisierungen hindeuten. Der Unterschied zwischen den beiden Sprecherlnnengruppen beträgt ca. ein Bark; er dürfte damit perzipierbar sein. Die Variation des F2 fällt im
193
F2 (Bark)
13
12
V
11
10
e -Onset
-•-02 -•-S1 -»-Z1 "•"S2 -»-Z2 -*-Z3 -«-06 -e-N1 • RTL -*-Z5
ai-Onset
Ol 6
. ä:i-Onset
»
Abb. 5.10.4 Formantkarte der Mittelwerte von Z-ai, Ζ-ε:ί und Z-ei für 11 Sprecherinnen; die Punkte auf den Linien geben den jeweiligen Mittelwert an; die Verbindungslinien illustrieren die akustische Distanz zwischen den einzelnen Diphthongonsets
F2(Bark) 13
12
11
10
9
8
-*~02
~*-N2 -*-Z1 -e-S2 -+-Z2 —-Z3
-e-N1 -B-RTL
au-Onset 8
Abb. 5.10.5 Formantkarte der Mittelwerte für Z-ou, Z-au, Z-a:u und Ζ-ε:ί für 10 Sprecherinnen; die Punkte auf den Linien geben den jeweiligen Mittelwert an; die Verbindungslinien illustrieren die akustische Distanz zwischen den einzelnen Diphthongonsets
194 Sample relativ gering aus. Es ergeben sich Abhängigkeiten zwischen Z-e:i und Z-ai, die im Öffnungsgrad korrelieren (parallele Verbindungslinien). Weiterhin führt ein geschlossener Onset für Ζ-εή dazu, daß die Distanz zum Diphthong Z-ei relativ gering ist. Für N1 und 0 2 beträgt die Distanz zwischen ei und ei jeweils weniger als ein Bark. Für diese Infn sind die beiden Diphthonge somit fast zusammengefallen; sie können nur durch den Dauerunterschied voneinander unterschieden werden. Für die übrigen Infn ist die Distanz zwischen Z-ei und Ζ-εή jeweils größer als ein Bark. In Abb. 5.10.5 zeigt sich für Z-a:u die bereits ohrenphonetisch ermittelte Tendenz zur Frontierung des Onsets und damit der Zusammenfall mit dem Onset von Ζ-ε:ί. In der Formantkarte entspricht der o.w-Onset jeweils dem dritten 'Knotenpunkt' von rechts auf der Linie. Für 0 2 und N2 liegen die Onsets noch um ca. 1 Bark voneinander getrennt und unterscheiden sich qualitativ. Wie das dichte Beieinanderliegen der Mittelwerte am rechten Ende einer jeden Linie andeutet, ist für die übrigen Info der Abstand jeweils geringer als 1 Bark. Es ist daher anzunehmen, daß die beiden Onsets zusammengefallen sind.36
5.10.5 Dialektologische und phonologische Diskussion Für die Dynamik von Z-ai und Z-au kann Dialektausgleich zugunsten der Z-Lautung angenommen werden. Für diese Variationsbereiche sind die gekürzten Varianten e/s bzw. ο im Südwesten und im Osten zugunsten von ai und au abgebaut worden. Die auf ahd. i/iu und ü zurückgehende Wortklasse zeichnet sich so durch eine für alle Lexeme einheitliche Entwicklung zu den Diphthongen ai, au aus. Für Z-eii und Z-a:u können zwei Prozesse beschrieben werden: Fortsetzung der Diphthongierung und Variabilisierung bzw. Aufgabe der Überlänge. Im gesamten Untersuchungsgebiet ist die Diphthongierung weiter fortgeführt und der in den Dialektmonographien dokumentierte Onset ε von Z-εύ weiter zu as gesenkt worden. Bei Z-a:u kam es parallel zur Senkung noch zur Frontierung in Richtung &(:). Durch den Zusammenfall des Onsets von Z-a:u mit Ζ-ειί hat eine Variantenreduktion stattgefunden (2). (2)
F o r t s e t z u n g d e r D i p h t h o n g i e r u n g v o n a h d . i/iu u n d ü
e :i χ (-)i, a (')u
ο :u a:u
Die ursprünglichen drei Diphthongsonsets ε//', DIU und A:u sind in as: zusammengefallen.37 Im Rahmen der natürlichen Phonologie handelt es sich bei dem beschriebenen Prozeß um eine 36
37
Z5 fällt geringfügig aus dem allgemeinen Muster heraus. Ihre F2-Werte für Z-a:u und Ζ-εή sind nahezu identisch, doch ist ihr Z-a:u-Onset deutlich geschlossener als der von Ζ-ε:ί. Es ist evident, daß die aus dem LSA übernommenen Transkriptionen Ζ-ε:ί und Z-a:u heute nicht mehr zutreffen und durch Z-ae:i und Z-ae:u ersetzt werden müssten. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit werden jedoch hier noch weiterhin die alten Symbole beibehalten.
195 perzeptive Forderung: Durch die Fortführung der Dissimilation der Diphthongbestandteile kann eine der Haupteigenschaften von Vokalen, nämlich deren Sonorität (sonority; Donegan 1978), optimiert werden (vgl. Auer 1990: 273). Weiterhin wird durch die Aufgabe der Überlänge in den beiden Diphthongen ein redundantes Merkmal abgebaut. Die Opposition zwischen den normallangen Diphthongen ai, au und den überlangen ei, am zeichnete ohnehin nur eine schwache funktionale Belastung aus; es finden sich nur wenige Minimalpaare ([vait] Weit 'Weite' vs. [ve:it] wäit 'weit'; [haus] Haus 'Haus^,' vs. [ha:us] Haus 'Haus Nom ' u.a.). Ursprünglich ist die Längendistinktion durch die Tonakzente hervorgerufen worden. Mit dem generellen Abbau der Tonakzente in Luxemburg geht auch der Verlust der Längendistinktion einher. Diese Entwicklung führt aber nicht dazu, daß Ζ-εύ und Z-a:u nun mit Z-ai bzw. Z-au zusammenfallen, denn die Onsets der Diphthonge haben sich auseinander entwickelt: ai, au liegen im velaren, s(.ji, x(:)u im palatalen Bereich des Vokaltrapezes. Somit ist zwischen den beiden Diphthongpaaren genügend perzeptiver Abstand gewährleistet. Wie Abb. 5.10.4 und 5.10.5 (oben) belegen, beträgt die Distanz zwischen den Diphthongpaaren jeweils beträchtlich mehr als ein Bark. Die soweit erkennbaren Veränderungen lassen sich nur bedingt als Ausbreitung der Z-Varietät beschreiben, denn die beschriebenen Prozesse finden in allen Regionen statt. Es handelt sich vielmehr um die Fortführung eines Lautwandels, der in frnhd. Zeit seinen Anfang genommen hat. Eine gewisse Regionenspezifik ist noch erkennbar: Es sind überwiegend Infn aus Osten und Norden, die die älteren Realisierungen, also die geschlosseneren Varianten, verwenden.
5.11
s-Palatalisierung
5.11.1
Historische Entwicklung
Bei der s-Palatalisierung handelt es sich um die Dissimilation des Frikativs s zu / v o r einem Plosiv (meist t) (1). (1)
ahd. lust mist
letzebuergesch [lojt] Loscht [malt] Mest
'Lust' 'Mist'
Historisch betrachtet hat sich im StD dieser Prozeß lediglich lexeminitial etabliert (ahd. [spil] spil > StD [Jpi:l] Spiel). Im Letzebuergeschen haben sich mehrere Anwendungskontexte herausgebildet. Bruch (1953:191) hält die j-Palatalisierung für einen 'Alemannismus', der aus dem westoberdeutschen Raum nordwärts bis nach Luxemburg vorgedrungen sein soll. Das Phänomen deswegen als 'Alemannismus' zu deklarieren, ist jedoch wenig stichhaltig, denn die Palatalisierung ist mehr oder weniger stark auch in anderen fränkischen Dialekten verbreitet, so daß statt einer generellen Ausbreitung aus südlicher Richtung die Annahme einer autochthonen Entwicklung in verschiedenen Regionen angemessener erscheint.
196 Von der s-Palatalisierung, die als progressive Dissimilation bezeichnet werden kann, ist die Palatalisierung des historischen -rs-Clusters zu trennen (vgl. Bruch 1954: 20ff.). Dessen Entwicklung ist als Assimilation aufzufassen, durch die ursprünglich apiko-alveolares r mit s verschmolz und zu / w u r d e (2). ahd. burst durst erst
letzebuergesch [bi:Jt] Biischt [du:Jt] Duuscht [ei/t] äischt
'Bürste' 'Durst' '(zu)erst'
Wie die ersten beiden Beispiele in (2) zeigen, tritt neben der Palatalisierung eine Ersatzdehnung auf. Diese Palatalisierungsfälle unterscheiden sich auch hinsichtlich der dialektgeographischen Verbreitung von denjenigen vor -t. Sie treten im gesamten luxemburgischen Gebiet (und auch weit ins Mitteldeutsche hinein) auf und sind hier keinerlei Varianz unterworfen. Daher wird dieser Palatalisierungstyp nicht weiter berücksichtigt.
5.11.2
Überblick über die Dialektgeographie
Das luxemburgische Sprachgebiet kann je nach Ausprägung der s-Palatalisierung in vier relativ homogene Regionen eingeteilt werden, die sich weitgehend mit der hier zugrunde gelegten Dialekteinteilung decken. Mit Bruch (1953: 191-193) und Palgen (1948: 27-29, Karten 1,2) ist das Phänomen ausführlich dokumentiert. Auf Bruchs (1953) Karte 45 'Der Alemannismus st > seht in seiner Süd-Nordstaffelung' (Abb. 5.11.1) ist die Aufteilung der vier Palatalisierungsregionen ersichtlich. Die durch Isoglossen(bündel) umschriebenen und von (1) bis (4) numerierten Gebiete unterscheiden sich hinsichtlich der Anwendungskontexte. In Gebiet (1), das dem südlichen Dialektgebiet entspricht, wird "jedes primäre und sekundäre aus [wgerm.] -s + p resp. [wgerm.] -t + p entstandene -st" (191) zu -Jt dissimiliert (3). (3)
Gebiet 1 (=S) [fe/t] [mujt]
Ζ [fest] [mus(t)]
[feinJteR]
[fanstaR]
[ajt] [Jvet/t]
[ast] [Jvetst]
fest muss(t) Fenster esst schwätzt
'fest' '(du) mußt' 'Fenster' '(er/sie) ißt' '(er/sie) redet'
Die beiden letzten Beispiele belegen, daß im Süden auch über Morphemgrenzen hinweg palatalisiert wird (ess+t, schwätz+t). In alemannischen Dialekten blockiert eine intervenierende Morphemgrenze die s-Palatalisierung, und die obigen Verbformen kämen dort groben grammatischen Fehlern gleich (vgl. Auer 1990: 58-60). Diese Eigenheit der Palatalisierung in Luxemburg zeigt deutlich, daß die Gemeinsamkeiten mit der alemannischen Ausprägung mehr zufalliger Natur sind und sich nicht auf genetische Zusammengehörigkeit zurückführen lassen können, wie dies noch in Palgen (1948: 27) Untersuchung zur Palatalisierung in Luxemburg angenommen wird: Dieser Lautwandel ist etwas spezifisch Alemannisches, d.h. er geht von der Schweiz aus, umfaßt weite Teile der südwestdeutschen Mundarten, gilt in Elsaß-Lothringen und mündet in unser Land.
197
(aus Bruch 1953: Kane 45)
In der südlichen Region ist das quantitative Ausmaß der Palatalisierung besonders hoch, da auch das Morphem für die 2.P.Sg. {-st} davon betroffen ist. Dies ist ein Grund dafür, warum die südliche Ausprägung des Merkmals innerhalb Luxemburgs als Kennzeichen für diese Region so bekannt ist. Die Sprecherinnen aus Gebiet (2) sind sich oft selbst dieses Merkmals bewußt, wie ein Ausschnitt aus einer Aufnahme mit einer Sprecherin der älteren Generation (08J aus Dahlheim (Südosten) belegt (4). (4)
08 z PD 08 z
Ech soen, zum Beispiel, mer son en '[fe:njte]\ nä. Fir en 'Fenster'? Fir en '[fe:nJtE]' soen mer, 'maach 't [fe:n/te] zou!', nä, oder: 'elo ech muss nach akäfe goen', nä, '[ge:J] de mat, oder [baj] de ze meid?' oder sou, sou schwätzen mer do, ne38
Auch in der Fragebogenaktion war Sprecherinnen aus dieser südlichen Region das Merkmal auffällig, so daß sich Aussagen wie 'Ich sage oft sch für s' finden. In dieser Einschätzung
38
Übersetzung: 08 r Ich sage, zum Beispiel, wir sagen 'ein Fenster', ne. PD Für 'Fenster'? 0 8 t Für 'Fenster' sagen wir, 'mach' das Fenster zu!', ne, oder: 'jetzt muß ich noch einkaufen gehen', ne, 'gehst du mit oder bist du zu müde?' oder so, so sprechen wird da, ne [...]
198 zeigt sich deutlich, daß die südliche Ausprägung der s-Palatalisierung als primäres Dialektmerkmal im Sinne von Schirmunski (1930) einzustufen ist. Das Gebiet (2) in Abb. 5.11.1 nimmt die größte Fläche ein. Seine Ausdehnung entspricht der des Zentralluxemburgischen. Nach Bruch (1953: 191) ist das Vorkommen der s-Palatalisierung hier auf die "primären -st" eingeschränkt. Damit sind wohl diejenigen Fälle gemeint, in denen die Sequenz -st Bestandteil des Lexems ist (lexeminitial, -medial und -final). Doch muß bereits schon damals mit Lexikalisierung gerechnet werden, da z.B. Fenster 'Fenster' im Zentralluxemburgischen nie palatalisiert wurde. Im Gegensatz dazu wird im Partizip gewiescht 'gewesen' ausnahmsweise auch über die Morphemgrenze palatalisiert (gewiesch+t). Lexikalisierung läßt sich auch für das Superlativsuffix {-st} beobachten. Im Gebiet (2) erscheint es nur in den hochfrequenten Superlativen meeschten 'meisten', leschten 'letzten' und beschten 'besten' (und deren Ableitungen) palatalisiert. Infolge der Lexikalisierung war das Zentralluxemburgische somit sehr heterogen. Beispiel sind in (5) wiedergegeben. (5)
Gebiet 2 (=Z) [Jtern] [lo/t] [dan/daf] [ne:i/t] [gaviajt] [mei/tan] aber: [fanste] [Jeinstan]
Sten Loscht Denschteg näischt gewiescht meeschten Fenster scheinsten
'Stein' 'Lust' 'Dienstag' 'nichts' 'gewesen' 'meisten' 'Fenster' 'schönste(r)'
Das Gebiet (3) erstreckt sich als schmaler Streifen nördlich von Gebiet (2) und beinhaltet Teile des Ostens und Nordens. Hier ist die Palatalisierung nur lexeminitial und zusätzlich im Wort näischt 'nichts' belegt. Dieses Lexem demonstriert damit seine Sonderstellung, da es lauthistorisch nur bedingt mit den übrigen -sf-Fällen zusammen betrachtet werden kann. Die Variante näischt könnte auf die Koronalisierung des ς zurückgeführt werden (vgl. Kap. 5.15) vergleichbar dem omd. [nijt] ( < ahd. neowiht; Bertrang 1921). Die nicht-palatalisierte Variante [neiist], die nördlich von Gebiet (3) gilt, kann mit Bruch (1953:193) auf ein *niust zurückgeführt werden, eine Form, die sich im Ripuarischen als [ny:s] findet. Das Gebiet (4) schließlich umfaßt den äußersten Norden und einen sehr schmalen Teil des Ostens zur deutschen Grenze hin. j-Palatalisierung ist hier soweit eingeschränkt, daß sie wie im StD nur lexeminitial auftreten kann. In Tab. 5.11.1 ist die dialektgeographische Situation zusammengefaßt, wie sie aus den Dialektdokumentationen entnommen werden kann. Tab. 5.11.1 zeigt, daß von rechts nach links, also von Süden nach Norden, die ί-Palatalisierung abnimmt. Diese dialektgeographische Abnahme ist an linguistische Kontexte gekoppelt. Wie die Anordnung der Reihen nahelegt, ist die Palatalisierung weiter verbreitet, wenn sie innerhalb des Lexems auftritt, und weniger verbreitet, wenn grammatische Faktoren, wie Morphemgrenzen oder Suffixtypen, intervenieren. Damit ist an die Variation dieses Merkmals neben dem diatopischen Aspekt auch ein linguistischer Aspekt gekoppelt, der sich in der Spannung zwischen Lexikalisierung
199 und Grammatikalisiemng manifestiert. Die Anordnung der Kontexte selbst läßt ein Implikationsmuster erkennen. Tab. 5.11.1 Dialektgeographische Verteilung der ί-Palatalisierung in den vier luxemburgischen RegioKontext
Abk. INI
Gebiet 0 ) St
Gebiet (2)
Gebiet (3)
Gebiet (4)
Jt
Jt
Jt
näischt 'nichts'
NÄI
Jt
Jt
Jt
st
st
lexeminitial intralexemisch
LEX
Jt
Jt/st
st
Superlativ {-st}
SUP
Jt
Jt/st
st
st
P.Sg. {-st}
2PS
Jt
s(t)
s(t)
s(t)
über Morphemgrenzen M o G
Jt
st
st
st
2.
5.11.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.11.3.1
Fragebuchaufnahme
In Tab. 5.11.2 sind diejenigen Belege der Fragebuchaufnahme aufgelistet, in denen der Palatalisierungkontext gegeben ist. Im Vergleich mit der historischen Situation haben sich einige Veränderungen ergeben. Tab. 5.11. 2 Durchführung der ί-Palatalisierung vor t/d in verschiedenen Kontexten (Fragebuchaufnähme); f - palatalisiert, s = nicht-palatalisiert, Schattierung = Veränderung gegenüber hist. Befund) näischt 'nichts' NÄI Aascht 'Ast' LEX Ascht 'Äste' LEX Mescht 'Mist' LEX Meeschter 'Meister' LEX bescht(en) 'best(en)' SUP gewiescht 'gewesen' MOG hues (de) 'hast (du)' 2PS gees (de) 'gehst (du)' 2PS kanns (de) 'kannst (du)' 2PS mechs (de) 'machst (du)' 2PS wells (de) 'willst (du)' 2PS (de) hells '(du) holst' 2PS (de) mechs '(du) machst' 2PS (de) riffs '(du) rufst' 2PS (de) wärts '(du) wirst' 2PS (de) wells '(du) willst' 2PS
S ! ι ί J I J s
} ί s f ! S S s
I f J f J I s s ; I J I 1 I S I S ! S J I s s s s s s s s s s s s
J J J ί ί J J s s s s s s s s s s s s s s s s
s s s s s s s s s s
I ί J ί 1 !
s s s s s s s s s
s s s s
I J } s ί I s s s s s s s s s s s
/ f J s s S
; ι s s s J s s s s s s s s s s s s s
200 Kont Zl|Z2jZ3|2>l{Z5)Z6|SljS2)S3|S4|S5jS6|O4|05)O6tN8jN4|N3fN7|N2fNljOl|07|m s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s S
Fenster
'Fenster'
esst
'(er/sie) ißt* MoG s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s 'wächst' MoG s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s s
wiist
LEX
s
s J
s
/
/
Die Sprecherinnen des Zentrum zeigen keine Veränderungen. Dagegen ist bei den Sprecherinnen aus dem Süden die Palatalisierung beträchtlich zurückgegangen. Der Abbau fand genau in den Kontexten statt, für die Ζ keine Palatalisierung aufweist, also besonders in den Kontexten 2PS und MoG. Der Rückgang in den Verbformen der 2.P.Sg. hängt mit dem Ausfall von finalem -t zusammen. Die L&4-Karte 167 gibt für den Süden in den meisten Ortschaften explizit noch den Erhalt des finalen Plosivs an. Nach Palgen (1948: 28) findet sich aber auch hier zumindest teilweise der Plosivausfall. Doch zu Beginn des Jh. konnte trotz des Fehlens des Plosivs im Suffix {-st} Palatalisierung stattfinden, so daß Formen wie [va:RJ] wars '(du) warst' möglich waren. Im Sprecherlnnenbewußtsein war somit der Plosiv noch latent vorhanden und konnte Palatalisierung auslösen.39 Heute ist das historische Bewußtsein, daß im Suffix der 2.P.Sg. {-st} einmal zugrunde lag, geschwunden - folglich ist der Anwendungskontext der Palatalisierung nicht gegeben. Damit stehen die Prozesse der /-Tilgung und s-Palatalisierung in bleeding order zueinander: Der erste entzieht dem zweiten die Anwendungskontexte (vgl. Kiparsky 1968). Am Abbau der Palatalisierung sind damit auch linguistische Faktoren beteiligt. Daran schließt sich die Frage an, woher die Tendenz zur i-Tilgung gekommen sein kann. Hier liegt die Vermutung nahe, daß Kontakteinflüsse der Z-Varietät die Ursache sein könnten, wo finales -t großflächig ausgefallen ist. Ein umgekehrtes Ausgleichsmuster ist für die Infn des südlichen Öslings (N3, N4, N7Z, N8J und für 04 und 0 5 festzustellen. Hier, wo Palatalisierung nur lexeminitial (INI) und in wischt 'nichts' (NÄI) dokumentiert ist, hat das Ausmaß der Palatalisierung zugenommen. Ebenso wie im Süden hat hier Dialektausgleich zugunsten der Z-Varietät stattgefunden. Bei 0 4 und 0 5 entspricht das Palatalisierungsmuster dem des Zentrums. Dagegen verläuft der Ausgleich für die Infh aus dem Norden über ein Stadium der Kovariation, in dem die alte neben der neuen Form existiert (6). [majt] [me:/tB] [a:Jt] [ε/t]
~ ~
[mast] [meiste] [a:st] [est]
Mest Meeschter Aast Äst
'Mist' 'Meister' 'Ast' 'Äste'
Die Infii aus dem Nordösling (Nl, N2) und dem Nordosten (Ol), für die die Palatalisierungskontexte aus Gebiet (4) gelten, lassen keine Veränderungen erkennen. Die Daten von 0 2 und 07, wie sie in Tab. 5.11.2 stehen, scheinen in keines der besprochenen Palatalisierungsmuster zu passen. Auf diese Sonderformen wird im nächsten Abschnitt eingegangen. Insgesamt kann aus den Daten der Fragebuchaufhahme entnommen werden, daß in den direkt an das Zentrum grenzenden Regionen die jeweils dort gültigen Palatalisierungsnormen zugunsten der Ausprägung des Zentrums ausgeglichen werden.
39
Für ähnliche Formen im Alemannischen vgl. Auer (1990: 59).
201 5.11.3.2
Dialektgespräch
In der Dialektaufnahme werden die Ergebnisse der Fragebuchaufnahme vollständig bestätigt. Auf eine quantitative Darstellung der Belege wird daher verzichtet. Für die Sprecherinnen des Südens ist keinerlei Variabilität festzustellen. Ebenso wie in der Fragebuchaufnahme haben sie auf die Z-Formen fokussiert. Im Kontext SUP hat sich im Zentrum die Palatalisierung der drei hochfrequenten Superlative beseht 'best', meescht 'meist' und lescht 'letzt' konsolidiert. Alle übrigen Superlative werden varianzlos mit -st realisiert. Auch die Info des Südens haben das Vorkommen der Palatalisierung auf die drei hochfrequenten Adjektive und deren Ableitungen eingeschränkt. Noch nicht ganz so weit ist die Entwicklung für N3, N4 und 0 5 aus Gebiet (3) verlaufen. Für diese Infh kann aus den Daten entnommen werden, daß, wie schon in der Fragebuchaufnahme, der Ausgleichsprozeß über ein Variabilitätsstadium verläuft. So realisieren N3 und N4 das Partizip gewiescht 'gewesen' im FB ohne Palatalisierung, im Dialektgespräch dagegen mit Palatalisierung: [g9ve:/t]. Im Vokalismus weicht dieses Lexem allerdings noch von Ζ ab (vgl. dazu Kap. 5.5). Dies deutet daraufhin, daß in der Fragebuchaufnahme tiefendialektale Strukturen erhoben wurden, die im tatsächlichen Dialektgebrauch nicht mehr verwendet werden. Im Kontext SUP ist die Realisation der drei hochfrequenten Superlative auch Intrasprecherlnnenvariation unterworfen, die die Infh zum Wechseln zwischen den beiden Varianten veranlagt (7). (7)
Kontext
+ palataüsiert
- palatalisiert
SUP SUP SUP
mee[!]t le[i]t be[i]t
mee[s,]ten le[s]ten
'meist' 'letzt' '(am) besten'
'meisten' 'letzter'
Alle übrigen Superlative werden wie im Zentrum mit -st realisiert (8). (8)
weins tens dennsten laangst greissten
heichstens
'wenigstens' 'dünnste' 'längste' 'größten'
'höchstens'
Gerade in der Übernahme dieser lexikalisierten Superlative äußerst sich der starke Druck der zentralluxemburgischen Varietät. Denn diese Varianten können nur nach intensivem Dialektkontakt und durch Wort-für-Wort-Lernen erworben werden. Im Kontext LEX (intralexemisch) ist für N3, N4 und 04 keine Intrasprecherlnnenvariation zu beobachten. Für das jeweilige Lexem verwendet der/die Sprecherin durchgängig entweder die palatalisierte oder die nicht-palatalisierte Form (9). (9)
Kontext
+ palatalisiert
LEX
begee[f]tert däi[5]ter Lo[i\t laan[i]t gelilter
LEX LEX LEX LEX
'begeistert' 'dunkel' 'Lust' 'längs' 'gestern'
- palatalisiert 'Fest' '(er/sie) 'lustig' 'Rest'
Fe[s]t fle[s]tert lo[s]teg Re[s]t
202 Im Zusammenhang mit der Lexikalisierung der palatalisierten Formen im Zentrum stellt sich nun die Frage, wie diese Lexemgruppe zusammengesetzt ist. Eine Auszählung des Kleinen Deutsch-Luxemburgischen Wörterbuchs (Rinnen/Reuland 1974), das sich "auf die luxemburgische Gemeinsprache oder Koine" (=Zentralluxemburgisch) stützt, ergibt folgende Variantenverteilung (Ableitungen und Zusammensetzungen eines Lexems werden nicht mitgezählt). 40 Tab. 5.11.3 Variantenverteilung für intralexemische S-Palatalisierung (LEX); extrahiert aus Rinnen/Reuland (1974) Belege A
58
58,60 36,30
st
36
variabel
5
5,10
Summe
99
100,00
Tab. 5.11.3 zeigt, daß die Palatalisierung mit fast gibt das Wörterbuch zwei Lesarten an (10). (10)
Most Muster Pest Pengsteti Schwester
~ ~ ~ ~
Moscht Moschter Pescht Päischten Schweschter
leicht überwiegt. Für 5% der Lexeme
'Most' 'Muster' 'Pest' 'Pfingsten' 'Schwester'
Ein Teil der Lexeme mit if-Lautung ist offensichtlich aus dem StD entlehnt, wie der Vokalismus zu erkennen gibt. Gerundete Palatalvokale fehlen im Letzebuergeschen, bleiben aber in einigen Lehnwörtern erhalten (11). (11)
Küst Wüst
'Küste' 'Wüste'
Auch bei Fremdwörtern griechisch-lateinischen Ursprungs unterbleibt die Palatalisierung. (12)
fantastesch Distanz Existenz Minister
Bei einigen Lexemen ist nicht klar, aus welchem Grund die ί-Palatalisierung ausgeblieben ist, da ihre übrige Wortstruktur durchaus 'Letzebuergesch' klingt (13). (13)
40
bastelen Fenster fest Fest Gespenst jhust
'basteln' 'Fenster' 'fest' 'Fest' 'Gespenst' 'gerade'
Mit Hilfe eines maschinenlesbaren Wörterbuchs des Deutschen konnten alle deutschen Lexeme, die die Sequenz st enthalten, herausgesucht werden. Anschließend wurden in Rinnen/Reuland (1974) die letzebuergeschen Entsprechungen dieser Lexeme ermittelt.
203 knesteren Pist Pistoul Poopst Posten Probst Uebst Wulst
'knistern' 'Piste' 'Pistole' 'Papst' 'Posten' 'Probst' Obst' 'Wulst' aber: Wuuscht 'Wust'
Aus dieser Heterogenität kann geschlossen werden, daß in der Gruppe LEX die Palatalisierung bzw. Nicht-Palatalisierung nicht mehr durch phonologische, sondern durch lexikalische Faktoren gesteuert wird. Die Daten des Korpus belegen, daß sich heute im Zentralluxemburgischen diese lexikalisierte Ausprägung der s-Palatalisierung stabilisiert hat. Für zwei der Infh haben sich Sonderfonnen entwickelt. In der Auflistung der Fragebuchrealisierungen (Tab. 5.11.2 oben) fallen die Brüder 0 2 und 0 7 aus dem Moselort Grewenmacher durch den ungewöhnlich hohen Anteil an Palatalisierungen auf, obwohl sie in Gebiet (3), wo nur in näischt 'nichts' palatalisiert wird, beheimatet sind. Die Infn sind in Grewenmacher geboren, aufgewachsen und wohnen auch dort, und weisen alle übrigen phonologischen Merkmale des Ortes auf - bis auf die ί-Palatalisierung. Aus der persönlichen Biographie der beiden Infn wird schnell deutlich, warum sie ein phonologisches Merkmal aufweisen, das eigentlich weiter südlich anzusiedeln ist, denn die Mutter der beiden stammt aus einem Ort aus dem Kerngebiet der s-Palatalisierung und hat das Merkmal an ihre Söhne weitergegeben. Dennoch hat sich das Merkmal bei 0 2 und 0 7 nicht in der für Gebiet (1) kennzeichnenden Ausprägung herausgebildet. Es finden sich vielmehr systematische Abweichungen, die einen genaueren Einblick in den allgemeinen Abbau- und Ausgleichsprozeß der ί-Palatalisierung erlauben. In (14) sind einige Belege von 0 2 und 0 7 den Z-Formen gegenübergestellt. Kontext
02/07
Ζ
INI
2PS 2PS 2PS
[S]ten Begee[i]terong Fen[i]ter näi[i]t be[S]t op d' man[f]t wii[[]t dat [J] de weini [J] de hue[S] de ba[i\ de SO[J] dach
[Uten Begee[f]terong Fen[s]ter näi[f]t be[!]t op d' man[s]t w«[s]i dat [s] de weini [s] de hue[s] de fta[s] de so[s] dach
'Stein' 'Begeisterung' 'Fenster' 'nichts' 'best-' 'mindestens' 'wächst' 'daß du' 'wann du' 'hast du' 'bist du' '(du) sagtest doch'
aber: 3PS 2PS
de hues[s] de kann[s]
de hue[s\ de karm[S]
'du hast' 'du kannst'
LEX LEX NÄI SUP SUP
MoG FLK FLK
Die Übersicht in (14a) läßt auf den ersten Blick den Rückschluß zu, daß 0 2 / 0 7 dem s-Palatalisierungstyp von Gebiet (1) zuzurechnen sind, da sie in allen Kontexten palatalisieren. Darüber hinaus wird auch noch das 'gestrandete' Flexiv der 2.P.Sg. nach Konjunktionen
204 palatalisiert (Kontext FLK; sog. 'flektierte Konjunktionen'). Auffällig sind dagegen die Formen in (14b), wo in der 2.P.Sg. die Palatalisierung blockiert ist, wenn kein d/f-initiales Wort folgt. Aus dem Kontrast zwischen (14a) und (14b) kann abgeleitet werden, daß die Palatalisierung nunmehr eine neue phonologische Konditionierung erfahren hat. Es wird jetzt regelmäßig palatalisiert, wenn tatsächlich ein d/t folgt, gleichgültig, ob eine Wort- oder Morphemgrenze folgt oder nicht. Gegenüber der Kontextangabe für Gebiet (1) sind damit bei 0 2 / 0 7 die Palatalisierungskontexte ausgeweitet worden. War s-Palatalisierung vormals in Gebiet (1) auf das 'Lexem' eingeschränkt, operiert sie hier auch wortübergreifend. Aus einer Redundanzregel (vgl. 3.2), die prälexikalische und lexikalische Anwendung findet, ist nun eine Redundanzregel geworden, die zusätzlich auch postlexikalisch angewendet werden kann. Oder umgekehrt formuliert: Die Weiterentwicklung der Palatalisierungsregel durch 0 2 / 0 7 ist durch den Verlust des Einflusses von morphologischen und/oder prosodischen Grenzen gekennzeichnet. Diese Weiterentwicklung ist aber sicherlich auch als Eigenentwicklung zu verstehen, die auf die besonderen biographischen Umstände der beiden Infn zurückzuführen ist. Daß diese phonologische Innovation von weiteren Teilen der Sprachgemeinschaft übernommen werden könnte, muß bezweifelt werden. Die Variantendynamik, die die übrigen Infn aufweisen, nämlich Ausbreitung der lexikalisierten s-Palatalisierung, spricht dagegen. In (15) ist die Redundanzregel für die j-Palatalisierung mit ihren unterschiedlichen Domänen dargestellt.41 -son
(IS)
prälexikalisch
+cont
> [-ant] /
t/d
(= alle zugrunde liegenden st)
> [-ant] /
t/d
schwät\S]+t
'(er/sie) redet'
>[-ant] /
t/d
so[S]dach
'sagtestdoch'
+cor
-son
lexikalisch
+cont +cor
-son
postlexikalisch
+cont +cor
Die Regel besagt, daß einem nicht-sonoranten, koronalen Kontinuanten das Merkmal [-anterior] zugewiesen wird, wenn es vor t/d zu stehen kommt (st > ß). Der Unterschied zwischen der Regelanwendung auf den drei Ebenen besteht in der Einflußmöglichkeit von morphologischen und phonologischen Grenzen. Prälexikalisch kann die Redundanzregel nur angewendet werden, wenn keine Morphemgrenze ( + ) interveniert. Dies trifft z.B. auf die alemannischen Verhältnisse zu (Auer 1990: 272), wo jede intervenierende Morphemgrenze ( + ) 41
In der Darstellung ist die Herleitung der lexeminitialen Palatalisierung wie z.B. von sp (Spill 'Spiel') noch nicht berücksichtigt. Dazu ist eine zusätzlich Einschränkung notwendig, die auf die vor dem Cluster liegende Lexemgrenze Bezug nimmt. Ausschließlich lexeminitiale Palatalisierung triff z.B. auf das StD zu (Straße, Splitter); vgl. die Formalisierung in Auer (1990: 330).
205 die s-Palatalisierung unterbindet. Für das luxemburgische Gebiet (1) stellen auch Morphemgrenzen kein Hindernis dar. Dies wird durch die lexikalische Redundanzregel in (15) ausgedrückt. Als phonologische Regel werden durch sie die verschiedenen Formen eines lexikalischen Paradigmas aufeinander bezogen (schwätzen ~ (du) ic/iwä[tjt]). Und für 0 2 / 0 7 schließlich kann der Prozeß auch nicht durch Wortgrenzen (*) blockiert werden. Für diese beiden gilt damit die Redundanzregel zusätzlich auf der postlexikalischen Ebene. Für das Zentralluxemburgische ist eine Regelformulierung wie in (15) nicht möglich, da die ausschließlich auf das 'Lexem' beschränkte Anwendung der s-Palatalisierang eine phonologisch konditionierte Beschreibung nicht zuläßt. In Tab. 5.11.4 sind die verschiedenen Kombinationen der Anwendungsdomänen für einige Varietäten bzw. Idiolekte zusammengefaßt. Tab. 5.11.4 Anwendungsdomänen der i-Palatalisierung für einige Varietäten bzw. Idiolekte
Alemannisch Südluxemburg 02/07 Zentralluxemburg
5.11.3.3
prälexikalische Ebene / /
lexikalische Ebene
postlexikalische Ebene
Lexik alisierung
—
—
—
/
—
—
/
/
•
—
—
—
—
/
Interdialektaufnahme
In den Interdialektaufnahmen behalten fast alle Infn ihre jeweiligen Variantenverteilungen für die j-Palatalisierung bei. Nur für 0 2 können zwei Fälle von Unterdrückung des Merkmals festgestellt werden. Im ersten Fall vermeidet dieser Sprecher gerade in seinem ersten Redebeitrag der Aufnahme die Palatalisierung, als er seinen Gesprächspartner Z6 nach dessen beruflicher Laufbahn befragt (16). (16)
[hus da] hei fir Mirer gemaach, oder wii 'Hast du hier für Lehrer gemacht, oder wie?'
Im weiteren Verlauf des Gesprächs behält 0 2 den hohen Palatalisierungsgrad bei, den er bereits im Dialektgespräch aufwies. Weiterhin findet sich für 0 2 eine Hyperkorrektur, indem der Frikativ /falschlich zu einem ί depalatalisiert wird (17). (17)
An sou engem Fach blaift am Fong herno och näischt [a:nas] \νέί Prof oder sou [...] 'In so einem Fach bleibt im Grunde auch nichts anderes [übrig] als Lehrer [zu werden]'
Die Palatalisierung im zentralluxembugischen Adverb anescht 'anders' ist doppelmotiviert. Sie geht zum einen aus der Assimilation des historischen rs-Clusters hervor und zweitens aus der 'normalen' 5-Palatalisierung vor t. Die für 0 2 (und auch für ganz Luxemburg) erwartbare Form wäre also in jedem Fall [a:naj] - so realisiert er sie auch im Dialektgespräch. Bei dieser Depalatalisierung kann es sich somit nur um eine Hyperkorrektur handeln. Diese Beispiele demonstrieren, daß dem Sprecher das Merkmal der s-Palatalisierung zwar bewußt ist, dennoch findet keine deutliche, d.h. quantitativ merkliche Unterdrückung desselben statt.
206 5.11.4 Dialektologische und phonologische Diskussion Die Analyse der s-Palatalisierung hat deutlich den Einfluß des Zentralluxemburgischen (=Palatalisierungsgebiet 2) auf die umliegenden Dialektgebiete herausgestellt. In Tab. 5.11.5 sind die historischen Veränderungen gegenüber Tab. 5.11.1 eingetragen und durch schattierte Zellen hervorgehoben. Tab. 5.11.5 Heutige dialektgeographische Verteilung der s-Palatalisierung in den vier Regionen und in verschiedenen phonologischen/lexikalischen Kontexten (zusammengestellt aus Korpusdaten); historische Veränderungen gegenüber Tab. 5.11.1 sind durch schattierte Zellen hervorgehoben Abk.
Gebiet (1)
Gebiet (2)
-Gebiet (3)
Gebiet (4)
lexeminitial
INI
Jt
Jt
Jt
Jt
näischt 'nichts'
NÄI
Jt
Jt
Jt
st
intralexemisch
LEX
Superlativ {-st}
SUP
Kontext
meescht, beseht, lescht
Iiadkalisierimg: Lexikalisierung: Lexikalisierung: Jt/st Jt/st St/Jt
st
st
st
st
st
LexikaHsierung: Jt
Jt
st ~ Jt
st
2.P.Sg. {-st}
2PS
s
s
s
s
Morphemgrenzen
MoG
st
st
st
st
Die Lexikalisierung der Palatalisierung ist das hervorstechende Merkmal der Z-Varietät. Ihr Einfluß ist so nachhaltig, daß die drei hochfrequenten Superlative in Gebiet (1) als einzige nicht depalatalisiert werden und in Gebiet (3) als einzige palatalisiert werden. Aber auch die Gruppe der intralexemisch lexikalisierten Palatalisierungen dringt in den Süden bzw. den Norden und Osten ein, wodurch es zur partiellen Depalatalisierung bzw. zur partiellen Palatalisierung gekommen ist. Für die Inlh des Südens hat sich die Palatalisierung in der Ausprägung des Zentrums stabilisiert. Für den Norden (N3, N4) und Osten (04, 05) ist noch Kovarianz der beiden Varianten zu beobachten.42 Insgesamt kann die Dynamik als Dialektausgleich aufgefaßt werden, da die strukturelle geographische Variation minimiert wird. Zudem scheint mit der ί-Palatalisierung aber auch eines der wenigen Beispiele für Koineisierung in Siegels (1985) Sinne vorzuliegen. Wenn vorausgesetzt werden kann, daß die Palatalisierung ursprünglich ein exklusives Merkmal des Südens war, so hat sich dieses Merkmal heute in einer reduzierten Form nicht nur in die übrigen Gebiete, sondern auch in die Ursprangsregion selbst ausgebreitet. Diese Sichtweise entspräche der Hoffmannschen (1987: 151) Auffassung der Koine als "Kompromiß auf der Ebene der mittleren, allen verständlichen Lautung". Dagegen ist jedoch zweierlei einzuwen42
Für den Südosten Luxemburgs, wo die j-Palatalisierung am stärksten verbreitet ist, können nur vage Aussagen gemacht werden, da für diese Region lediglich eine Aufnahme einer älteren Sprecherin vorliegt. Doch auch ihre Realisierungen schwanken bereits zwischen der palatalisierten und der nicht-palatalisierten Form, so daß davon ausgegangen werden kann, daß auch hier die j-Palatalisierung zurückgeht.
207 den. Erstens ist es für einen Koineisierungsprozeß notwendig, daß mehrere linguistische Merkmale aus verschiedenen Dialekten vermischt werden. Auch wenn sich die s-Palatalisierung wie ein koineisiertes Merkmal verhält, bedeutet dies nicht automatisch, daß die entsprechende Varietät damit zu einer Koine wird. In der Tat haben die bisherigen Analysen gezeigt, daß sich für Luxemburg weniger Mischungen von Merkmalen aus allen Regionen als vielmehr die Ausbreitung der Z-Varietät konstatieren läßt. Der zweite Einwand betrifft die diachrone Analysetiefe, die für einen Koineisierungsvorgang angenommen werden kann. Da, wie in Kap. 3.1.4 dargelegt wurde, Koineisierung in vielen Fällen die Deregionalisierung der Sprecherinnengruppen voraussetzt (z.B. durch Auswanderung oder Vertreibung), ist der Anfangszeitpunkt des Sprach-/Dialektkontakts und damit der Anfang der Koineisierung leicht zu bestimmen: Er fällt mit der Konsolidierung der Sprachgemeinschaft in der neuen Umgebung zusammen. Im Fall von Luxemburg dagegen fand kein radikaler Einschnitt statt, sondern der Dialektkontakt wurde durch die allgemeine gesellschaftliche Modernisierung lediglich verstärkt. Ein exakter Anfangszeitpunkt kann so nicht ermittelt werden. Für die Analyse der s-Palatalisierung ist es nun relevant, wann und ob das Merkmal ursprünglich exklusiv im Süden vorhanden war, und weiter: ob dieser Zeitpunkt für die Herausbildung einer überregionalen, identitätsstiftenden Varietät 'Letzebuergesch' überhaupt von Bedeutung ist. Die Rekonstruktion einer Ausbreitungsdynamik aus dem Süden erscheint auf der Grundlage der Dialektdokumentationen durchaus plausibel, doch liegen keine Zeugnisse vor, aus denen hervorgeht, daß die Palatalisierung ausschließlich im Süden heimisch war. Vielmehr ist in den ältesten verfugbaren Dialektdokumentationen die Palatalisierung schon im Zentralluxemburgischen vorhanden. Folglich ist es empirisch adäquater, davon auszugehen, daß hier weniger mit Koineisierung denn mit Dialektausgleich zu rechnen ist. Auch in der linguistischen Analyse des Merkmals erscheint die Annahme einer Koineisierung unplausibel. Für Koines wird gemeinhin "reduction and simplification in comparison to earlier varieties" (Siegel 1985: 358; vgl. auch Trudgill 1986) angenommen. Doch dies kann dem heute zu beobachtenden Variationsmuster nicht attestiert werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Von einem formal linguistischen Standpunkt stellt die historische Struktur von Gebiet (1) (aber auch diejenige von Gebiet 4) in Tab. 5.11.1 das homogenste und transparenteste System dar. Mit einer Redundanzregel, die prälexikalisch und lexikalisch operiert, konnte hier ohne größere Einschränkung in allen Kontexten palatalisiert werden. Diese Regelmäßigkeit ist heute zugunsten der lexikalisierten s-Palatalisierung abgebaut. Die sich ausbreitende Struktur führt somit zu einer Zunahme der Komplexität und läuft dem Konzept einer Koine zuwider. Aus der Redundanzregel ist nun eine Korrespondenzregel geworden. Das Vorkommen der Palatalisierung kann nicht mehr durch Rekurs auf phonologische Kontexte vorhergesagt werden, sondern wird durch eine Tendenz bestimmt, die in manchen Lexemen Palatalisierung zuläßt und in anderen nicht. Dennoch, in Bezug auf die Homogenisierung der Dialektlandschaft manifestiert sich die Dynamik der s-Palatalisierung als Normalisierung in Milroys (1982) Sinne, da sich eine relativ stabile Ausprägung des Merkmals in die umliegenden Dialekte ausbreitet.
208
5.12
Velarisierungen im Silbenreim
Aufgrund lautgeschichtlicher Entwicklungen finden sich im luxemburgischen Sprachgebiet zwei Typen von Velarisierungen im Silbenreim. Je nach Art des postvokalischen Konsonanten hat sich entweder VELA I oder VELA II herausgebildet. Diese prosodischen Phänomene teilt das Letzebuergesche mit dem Ripuarischen (vgl. Frings 1966, Newton 1990: 163f.). VELA I (5.12.1) tritt in Lexemen mit historischem Langvokal/Diphthong vor η auf. Der Typ VELA II (5.12.2) gilt für Lexeme mit historischem Langvokal/Diphthong vor t.
5.12.1
V e l a r i s i e r u n g I (VELA I)
5.12.1.1
Historische Entwicklung im Zentralluxemburgischen
Der Typ VELA I betrifft Wörter mit einen Langvokal bzw. Diphthong gefolgt von einem alveolaren Nasal n. Als Effekt der VELA I wird der Vokal gekürzt und -n zu -η velarisiert (Mouillierung). Nach Palgen (1948: 32) soll der Tonakzent 1 ('Schärfung') für die Kürzung verantwortlich sein. Die Entstehung der velarisierten Formen des Zentrums kann durch eine phonologische Regel beschrieben werden (1). (1)
ω
->
/\λ NN O R O R er
,1 A
ι
ω
1rr l\ O R Ν I1
I
11
..VV r1 3 . . .
..
ν
C I
1 ϋ
Durch (1) wird ein zweisilbiges Wort einsilbig und der ehemalige Anlautnasal rückt in den Auslaut der ersten Silbe und wird zu -rj verschoben. In der synchronen Phonologie von Ζ finden sich in der Numerusunterscheidung noch morphologische Alternationen zwischen velarisierten und nicht-velarisierten Formen, die die unterschiedlichen Silbenzahlen der ursprünglichen Formen reflektieren (2). (2)
Singular Sten Zant
Plural Steng Z0ng
'Stein ~ Steine' 'Zahn ~ Zähne'
Doch wie die Beispiele in (3) zeigen, ist die Alternation aus (2) nicht regelmäßig. (3)
Singular Ben Toun
Plural Ben Τέίη
*Bing *Ting
'Bein ~ Beine' 'Ton - Töne'
209 VELA I ist damit in der Morphologie nicht mehr produktiv; die Belege in (2) sind Idiosynkrasien. Die Velarisierung ist somit Bestandteil der jeweiligen lexikalischen Repräsentation und wirkt nicht als lexikalisch-phonologische Regel.
5.12.1.2
Überblick über die Dialektgeographie
Nach den LS/l-Karten 116, 128, 133, 142, 169 ist VELA I in Zentrum, Süden und Norden vollständig durchgeführt. Nur in Teilen des Ostens haben sich die ursprünglichen Zustände mit Langvokal/Diphthong + -n bewahrt (4). Z, S, Ν [bRoq] [peol [neq] [keq] [meqgan]
Ο [bRQun] [pain] [na in] [ke:n] [meinsn]
brong Fing ndng keng mengen
'braun' 'Schmerz, Pein' 'neun' 'kein(e)' 'meinen/glauben'
Die nicht-velarisierten Formen des Ostens fallen Hörerinnen der übrigen Regiolekte auf; sie gelten als ein primäres Dialektmerkmal. Zur Charakterisierung von ländlich-östlichen Sprecherinnen wird es auch in der Literatur eingesetzt.
5.12.1.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.12.1.3.1
Dialektaufnahme
Die Realisierungen der Infh des Zentrums, Südens und Nordens entsprechen vollkommen den Angaben des LSA. Die Fragebuchdaten für sechs Infh aus dem Osten sind in Tab. 5.12.1 wiedergegeben. Bei ihnen ist VELA I in unterschiedlichem Maße durchgeführt. Bei Ol findet sich kein velarisierter Beleg, auch 02, 0 7 zeigen nur in Einzelfällen Formen des Zentrums. Umgekehrt verwenden 04, 0 5 und 0 6 fast keine VELA I- Formen mehr. Ursprünglich östliche Varianten sind bei ihnen nur noch in keng 'kein(e)' und Klengen 'Kleiner' vorhanden. Die Form [kk:qsn] 'Kleiner', die 0 6 verwendet, kann als Mischform zwischen altem [kleinan] und neuem [kleipn] betrachtet werden. Diese Verhältnisse bleiben im Dialektgespräch unverändert. Wie bereits für andere Merkmale festgestellt, behalten Ol, 0 2 und 07 ihre ursprüngliche Dialektvariante bei, während für 04, 0 5 und 0 6 Dialektausgleich in Richtung auf die Z-Varietät festzustellen ist.
210 Tab. 5.12.1 Variantenverteilung für VELA I im Osten; ' + ' = Z-Variante Lengt
5.12.1.3.2
'Leine'
06
04
05
07
02
Ol
+
+
+
+
+
αιη
Zeng
'Zähne'
+
+
+
+
+
ein
gräng
'grün'
+
+
+
ein
ein
ein
näng
'neun'
+
+
+
αιη
αιη
αιη ain
sing
'sein^f'
+
+
+
ain
am
zeng
'zehn'
+
+
+
ein
ein
ein
ailing
'alleine'
+
+
+
ε:η
ε:η
ε:η
keng
'kein(e)'
+
e:n
ε:η
ε:η
ε:η
Klengen
'Kleiner'
ε:η
+
ε:η
ε:η
ε:η
-
e:n
Interdialektaufnahme
Erwartungsgemäß weisen 04 und 06 in der Interdialektaufnahme keine Veränderungen auf. Umgekehrt verwenden Ol und 0 2 auch hier nur ihre nicht-velarisierten Formen. Lediglich in einem Einzelbeleg 'rutscht' Ol (bei der Beschreibung seiner Lateinbücher) eine Z-Form heraus (5). (5)
Da hate mer sou dräi sou Bicher, sou grouss waren se, sou wei Gebietsbicher, sou, een zwee dräi, dat eent as giel, nä, dat eent as giel, dat anert as [bRaun] an dat anert as ((Pause)) [gReq], mengen ech, jo. 4 3
Zwar realisiert der Sprecher brong 'braun' noch dialektal mit [bRaun], doch in der nächsten Phrase schon taucht, nach einer Pause, die Z-Form [gReq] greng 'grün' auf. Ol akkomodiert an die Variante seines Gegenübers bzw. an die Variante des Zentrums. In der FB-Aufnahme lautete dieses Wort bei Ol noch [gRein]. Das Beispiel demonstriert, daß das Merkmal VELA I sprecherseitig durchaus kontrollierbar ist. Die Ersatzform [gReq] deutet darauf hin, daß die Variante des Zentrums im Osten, oder zumindest dem Sprecher, bekannt ist.
5.12.1.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Das Ausbleiben des Merkmals VELA I war und ist kleinräumig verbreitet. Diejenigen Infn, die auch für andere Merkmale Dialektausgleich in Richtung Zentrum zeigen, haben nur in Einzelfällen nicht-velarisierte Formen erhalten (04, 05, 06). Die Infh Ol, 02, 0 3 und 0 7 zeigen nur sehr leichte Abbautendenzen zugunsten der Z-Varietät. Im Vergleich zwischen der Dialekt- und der Interdialektsituation kann für VELA I nur in einem Einzelwortbeleg das Verhalten eines primären Merkmals festgestellt werden. Ein Grund für die Resistenz der 43
Übersetzung: "Wir hatten drei solcher Bücher damals, so groß waren sie, so wie Gebetsbücher, so, eins-zwei-drei, eins ist gelb, nein, das eine ist gelb, das andere braun und das andere ist ((Pause)) grün, glaube ich, ja."
211 nicht-velarisierten Formen bei Ol, 02, 0 3 und 0 7 liegt in der lauthistorischen Entstehung der betroffenen Wörter. Wie oben gezeigt, ist VELA I eine kontextspezifische Sonderentwicklung von Lexemen mit bestimmten Langvokalen/Diphthongen vor -n. Im Osten ist diese Sonderentwicklung ausgeblieben und die Lexeme auf -n haben sich 'normal' wie in den übrigen Kontexten entwickelt. Da sich die in Frage kommenden Vokale ahd. ie/üe, ou, i/iu, ü nur zu jeweils einem Reflex (i.e. e:, ο:, ai, au) gewandelt haben, ist die Lautgeschichte im Osten wesentlich einheitlicher verlaufen als im Zentrum. Die 'Reihenspaltung', wie sie das Zentrum aufweist, fand hier nicht statt. 5.12.2
Velarisierung II (VELA II)
VELA II ist vermutlich das bekannteste primäre Dialektmerkmal des Nordens. Es wird so-
wohl von Sprecherinnen der nördlichen als auch der übrigen Regionen als stark auffallende Eigenheit benannt, so z.B. in der Fragebogenuntersuchung: "Sie [Sprecherinnen des Nordens; P.G.] sagen Lekt statt Leit." Es wird auch in der letzebuergeschen Literatur als Stilmittel zur Kennzeichnung von Personen ländlicher, bäuerlicher Herkunft eingesetzt, wie z.B. in folgender Passage aus einem Roman von Guy Rewenig (1989: 59f.), wo eine Kapelle aus dem Ösling in der Hauptstadt auftaucht. Die velarisierten Wörter sind durch Fettdruck hervorgehoben. Hannen dem Kiosk klemmt eng ganz Fanfare - 81 Mann - aus engem gielen Autocar. "Wat hun dei Eisleker Banditten dann hei verluer?" pespert de President vum Geschäftsverband sengem Sekretär an d'Ouer. "E Koosär", seet de Sekretär. "Em 4 Auer." "Dat get et dach net!" birelt de President. [...] "Dei Tuterten hu sech am Datum geiirt! Si solle sech nees vive of hir Kroumperestecker verdrecken!" - "Mär sullen hei blosen", säggt de Chef van der Fanfare. "Räumt ääss mol huertig de Rotzbuuwe vam Kiosk!" De President seet: "Hei get sech näischt ze blosen! Hütt Dir da keng Aen am Kapp? As et lech net opgefall, datt mir hei grad e Weltrekord briechen? Vu wou kommt Dir iwwerhaapt?" - "Faffa grodükal Knapphäischterbelleg!" säggt de Chef a schläggt un. "För 't lischt blose märr Schtaars änn Schtreips, ameekaasche Follklo! Souvill Püblik hotte märr ääss öwer nik erwoort! Djess! Djess!" 44
5.12.2.1
Lautgeschichtliche E n t w i c k l u n g v o n VELA II
Wenn Velarisierung II stattgefunden hat, so erscheint ein altlanger Stammvokal (mono- oder diphthongisch) vor alveolarem Plosiv gekürzt, und es kommt zu einer Epenthese von k bzw.
44
Übersetzung: Hinter einem Kiosk klettert eine ganz Fanfarenkapelle - 81 Mann - aus einem gelben Auto. "Was haben die Öslinger Banditen hier verloren?" flüstert der Präsident vom Geschäftsverband seinem Sekretär ins Ohr. "Ein Konzert", sagt der Sekretär. "Um 4 Uhr." "Das gibt's doch nicht!" brüllt der Präsident. [...] "Die Bläser haben sich im Datum geirrt! Sie sollen sich schleunigst auf ihre Kartoffelfelder verdrücken!" - "Wir sollen hier spielen", sagt der Chef der Fanfarenkapelle. "Räumt mal schnell die Rotzbuben vom Platz!" Der Präsident sagt: "Hier wird nicht geblasen! Habt ihr denn keine Augen im Kopf? Ist es euch nicht aufgefallen, daß wir hier gerade einen Weltrekord brechen? Von wo kommt ihr überhaupt?" - "Fanfare Grand Ducal Knapphäischterbelleg!" sagt der Chef und schlägt an. "Zuerst blasen wir Stars and Stripes, amerikanische Folklore! Soviel Öffentlichkeit hätten wir für uns aber nicht erwartet! Djess! Djess!"
212 g im Silbenreim. Die exakte lauthistorische Genese ist umstritten (vgl. Werlen 1983). Nach Bruch (1954) ist das Letzebuergesche durch eine Artikulationsbasis mit "geringer Kiefersenkung" und u flache[r] Zungenhaltung in der Nähe des Gaumens" (109) gekennzeichnet, die zu einer generellen Tendenz entweder zur Palatalisierung oder zur Velarisierung beiträgt. Weiterhin soll auch der Tonakzent 2 ("Trägheitsakzent"), den diese Lexeme tragen, durch "Zerdehnung" (109) dafür sorgen, daß am Ende des Vokals eine Konstriktion entstehen kann. Bei VELA II kommt es damit "zu einer allmählichen Verengung (durch Annäherung der Zunge an den Gaumen) des zweiten Elements der aus zirkumflektierten (primären oder sekundären) Langvokalen entstandenen Diphthonge" (109f.). Diese Konstriktion entwickelt sich zunächst zu einem Halbvokal, dann zu einem Frikativ und schließlich zu einem Plosiv. Die einzelnen Stufen dieser Entwicklung sind in (6) dargestellt (nach Brach 1954: 128). (6)
ahd. rff 'Zeit' [tsi:t] 'Zerdehnung' [tsiit] Halbvokalbildung [tsi:jt] [tsijt] Frikativierung [tsift] [tsixt] 'Verhärtung' [tsikt]
hüt 'Haut' [hu:t] [huut] [hu:Yt] [huvt]
bruoder 'Bruder' [bRoidaR] [bRoudeR] [bRouwdeR] [bRUYdaR]
[huxt] [hukt]
[bRugdaR]
Die 'verhärteten' Endstufen repräsentieren die dokumentierten Formen des Öslings. In Bruchs Herleitung ist die Velarisierung auf Veränderungen des Stammvokals zurückzuführen. Zu Recht ist Bruchs Herleitung kritisiert worden (Werlen 1983, Kuepper 1992), da die phonetischen Zwischenstufen in keinem letzebuergeschen oder ripuarischen Ortsdialekt belegt sind und somit als reine Spekulation gelten dürfen. Überhaupt nicht geklärt ist, warum sich sowohl aus den Palatal- als auch aus den Velarvokalen die gleiche velare 'Verhärtung' k/g entwickeln konnte. Ähnlich wie Bruch argumentiert auch Frings (1966: 163), der, nach dem dialektgeographischen Zentrum der Erscheinung, den Prozeß als 'Rheinische' oder 'Kölnische Gutturalisierung' bezeichnet. Für ihn führte die "alte rheinische Artikulationsgewohnheit" der stark palatalisierten Vokalrealisierungen, die sich später weiter nach hinten in den velaren Bereich verlagert haben soll, zur velaren Konstriktion. Doch auch er kann keine phonetische Evidenz liefern, warum sich aus palatalisierten Vokalen velarisierte Vokale bzw., daraus hervorgehend, velare Konsonanten entwickelt haben könnten.
5.12.2.2
Überblick über die Dialektgeographie
Im Norden ist aus der Komplexität von VELA II eine sehr kleinräumig geprägte dialektgeographische Verteilung der velarisierten Varianten entstanden. Entsprechend dem Vorkommen in bestimmten historischen Kontexten gliedert Bruch (1949, 1954: 110-114) den Ösling in vier Areale, die sich teilweise überlappen (vgl. Abb. 5.12.1).
213
J
Κ Areal 1 ..' CG
k-Epenthese vmOwtal fi^lWlfcotldniMtiijJ Jncgden tipa>»»*idiutaO
_ tsEktefl,taqdM«*/n-UW} duld ίΚ*»Β0·ΐΜ·} , hokt.Mrt.hiMl/MZT' Iwrtti . ltkt,kj4»(n>tinpiM·«] _ brugd»r {Μικ-Μβή _ bikivn _ mikt (KtrM Kl~τύ4·Ί
Abb. 5.12.1 Kombinationskarte für VELA II ('^-Epenthese') in Nordluxemburg (aus LSA 170) und Kennzeichnung der Areale mit homogener Durchführung von VELA II nach bestimmten ahd. Vokalgruppen Areal (1) In dem kleinen Areal (1), im nördlichen Ösling, tritt V E L A II nur in Lexemen mit ahd. t oder ü gefolgt von alveolarem Plosiv in ursprünglicher Endsilbe auf (8a). Doch durch Analogie konnte die Velarisierung auch auf flektierte und derivierte, mehrsilbige Formen übertragen werden (8b). (8a)
(8b)
['Ri:ftje:it]
Areal (1) ['Ri:tjek]
[ve:it] [tse:it] [ha:ut]
[vekt] [tsekt] [hokt]
Riichtschäit wäit Zait Haut
'Richtscheit' 'weit' 'Zeit' 'Haut'
[tse:itan] [s'laiutsR] [Jple:it3R]
[tsektan] [a'loktaR] [/plektaR]
Zäiten elauter Spläiter
'Zeiten' 'lauterAdv' 'Splitter'
Ζ
Areal (2) Areal (2) umfaßt das gesamte Gebiet des Öslings und inkludiert folglich alle übrigen Velarisierungsräume. Seine Südgrenze fallt mit der Ardennenschranke zusammen. Die Kontextbedingung ist hier auf ahd. i, ü und iu vor alveolarem Verschluß in "sekundärer Endsilbe nach Apokope eines alten Thema- oder Flexionssuffixes oder im Wortinneren" (Bruch 1954: 111) ausgeweitet (9). (9)
Ζ
Areal (2)
[zait]
[zekt] [fREgds;] [hokt] [lekt]
[fRaids;] [haut] [lait]
Seid Fraideg haut Leit
'Seide' 'Freitag' 'heute' 'Leute'
214 Areal (3) Areal (3) erstreckt sich nördlich der Südgrenze für Areal (2) im östlichen Ösling und schließt Areal (1) mit ein (vgl. Abb. 5.12.1). Dieses im Osten an die Eifel angrenzende Gebiet zeigt VELA II in den Fällen von Areal (2) (nördlich der tse:itsn/tsekXsn-L.\mc auch die Fälle von Areal 1) und zusätzlich in Lexemen mit ahd. se (Umlaut von ä), e und ö (mit und ohne Umlaut) vor alveolarem Plosiv in allen Wortpositionen (10). (10)
Ζ [neidaj] [Jpeit] [bROut] [dout]
Areal (3) [nigde/] [/pikt] [bRukt] [dukt]
Niideg speit Brout dout
'Näherin' 'spät' 'Brot' 'tot'
Areal (4) Das Areal (4) schließlich spannt sich zwischen den Grenzen von (1) und (2) im Westösling auf, mit Wiltz, der größten Stadt des Öslings, im Zentrum. Hier findet sich VELA II also in den gleichen Fällen wie in Areal (2) und außerdem in Lexemen mit ahd. uo, umgelautetes ahd. OK, ahd. io und vereinzelt mit ahd. ei vor alveolarem Plosiv (11). [blut]
Areal (4) [blukt]
[bRUdSR]
[bRUgdaR]
[fidsRsn]
[figdsRan]
Ζ
[lit] [kle:d3R]
[flit] [t Jnait] [nat]
Di*] [klegdsR]
[flikt] [t JriEkt]
[nik]
Bludd Brudder fldderen Lidd Kleder flitt 't schneit net
'Blut' 'Bruder' 'füttern' 'Lied' 'Kleider' '(er) fliegt' 'es schneit' 'nicht'45
Die vielfaltigen Überlagerungen der vier Velarisierungsareale sind in Abb. 5.12.2 dargestellt.
Überlappung der vier VELA IiAreale in Nordluxemburg
4S
Die Negationspartikel net 'nicht' gehört auch zu dieser Gruppe, da historisch hier nicht das normalmhd. niht (> nhd. nicht) sondern ein altniederfränkisches niewiht, niewet mit Diphthong ie zugrunde liegt (vgl. Bruch 1954: 113).
215 5.12.2.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.12.2.3.1
Fr agebuchaufhahme
Die Fragebuchdaten für die Infn des Nordens sind in Tab. 5.12.2 wiedergegeben. Zusätzlich zu den vier Infn des Hauptkorpus sind vier weitere Infn aus dem Zusatzkorpus (N5Z, N6Z, N7Z, N82)46 hinzugefügt, für die ausschließlich FB-Aufnahmen vorliegen. In der Tabelle sind alle Lexeme aufgelistet, die der Kontextbedingung von VELA II genügen. Sie sind gemäß der vier Velarisierungsareale aufgeteilt (Spalte 'Areal' links). In der gewohnten Konvention sind die Infn nach zunehmender V E L A II angeordnet. Die schattierten Zellen geben für die Infn diejenigen Lexeme an, für die VELA II erwartbar ist. So kann die kleinräumige Variation dargestellt werden und darüber hinaus ermittelt werden, für welche Lexeme velarisierte Varianten noch in hohem Ausmaß vorhanden sind. Tab. 5.12.2 Variantenverteilung für VELA II der acht Infn des Nordens. Ahd. Vorstufe, zentralletzebuergesche Entsprechung; Schattierte Zellen geben an, für welche Infn in welchen Lexemen VELA II erwartbar ist. ' + ' = keine Abweichung vom zentralluxemburgischen Stammvokal; bei Abweichung: Transkript der von Ζ divergierenden Segmente; '-' = fehlender Beleg Areal 1 1 1 1 2 2 3 3 3 3 3 3 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 46
Lexem Zeitung Zäiten leit gesäit haut Leit speit schneien schleit Brout rout dout Kled Kleder Weed flitt net gliddeg fidderen bitzen bludden Brudder
ahd. Ζ N3 'Zeitung' i Gl + 'Zeiten' i ει + 'liegt' ϊ Ol + '(er/sie) sieht' ί ει + 'heute' ü αυ + 'Leute' iu αϊ + ae ei + 'spät' 'schneien' e Ol + 2 '(er/sie) schlägt' E ei + 'Brot' ö ou + 'rot' ö ou + 'tot' 6 ou + 'Kleid' ei e: 'Kleider' ei e: + 'Weide' ei e: + '(er/sie) fliegt' ie i + 'nicht' ie 3 + 'glühend heiß' UOu i + 'füttern' UOy i + 'nähen' UO,j i + 'bluten' UO u + 'Bruder' uo u +
N4 N7Z N8Z N2 N5Z Nl + + + + + + + + + + ek ek + 9k ak + + + + + + + ik ik ok ok ok ok ok ok 8k ek ek ek ek ek + + + + + + + + + + + + + + + + ik e: + + + + uk uk + + + + uk uk + + + + uk uk + + + + + + + + + + + ei + ek ik + ek ik + ei + ik + i3 + iko ike ike ik0 + + + ei »g •g + + ei ig lg ei ik ei ik Ig ik + + ou ou ug ug + Ug Ug ug ou ou
N6Z + ek ak ik ok ek + + ik uk uk uk + + ek ei + ei ei ei ou ou
N5Z und N6Z stammen aus Nachbarortschaften von Nl; N7Z und N82 sind aus Wiltz, derselben Stadt wie N3 und N4.
216 Die Infn aus dem Nordösling (Nl, N5Z, N6J, für die die VELA II-Areale (1), (2) und (3) zutreffen, zeigen eine konsistente Verwendung von velarisierten Formen. Hier werden nur die Lexeme Zeitung (möglicherweise noch als Lehnwort empfunden), späit 'spät' und schneien in der Z-Variante realisiert. Schon Brach (1952: 26) hat die Form [/pikt] speit 'spät' als veraltet markiert, und auch [Jnegdsn] schneien (entstanden in Analogie zur flektierten Form [t Jhekt] 't schneit 'es schneit') tritt ebenfalls nur selten auf. Da die übrigen Belege fast ausschließlich velarisiert sind, kann gefolgert werden, daß das Merkmal in dieser Region noch sehr stabil ist. Nivellierungstendenzen sind nicht erkennbar. Ahnlich stabile Verhältnisse finden sich bei N2. Dagegen lassen sich die vier Infn aus dem südöslingischen Wiltz (N3, N4, N7Z, N8J auf einem Kontinuum mit vollständig erhaltenen velarisierten Formen (N8j) bis zu vollständig zugunsten von Ζ abgebauten Formen (N3) anordnen. Innerhalb dieses Kontinuums wird sichtbar, daß die Formen mit der weitesten Verbreitung im gesamten Norden, nämlich die Formen aus Areal (2), sich auch am deutlichsten erhalten haben und die Formen aus dem kleinen, westöslingischen Areal (4) bereits deutlicher verschwunden sind. Das Abbaumuster erlaubt auch Rückschlüsse auf den Verlauf der geographischen Diffusion der eindringenden Z-Formen. Wieder ist die Region mit der größten Entfernung zum Zentrum auch diejenige Region, die am wenigsten Dialektabbau zeigt. Der unmittelbar ans Zentrum angrenzende Wiltzer Raum (=Areal 4) dagegen ist den Einflüssen des Zentrums stärker ausgesetzt als der Nordösling.
5.12.2.3.2
Dialektaufnahme
Aufgrund der sehr spezifischen Kontextbedingung für VELA II finden sich im freien Gespräch nur relativ wenige Belege. In (12) sind alle Belege aus den Gesprächen aufgelistet, in denen VELA II erwartbar ist. Wie schon in der FB-Aufnahme weisen nur noch Nl, N2, und N4 velarisierte Varianten auf. N3 verwendet ausschließlich Z-Formen. (12)
Nl
N2
N4
- VELA Π
+ VELA Π
[ga'zikt] [zekt]
gesäit Säit
[fRegcbs]
freides
[tsakt] [lekt] [logde]
Zäit Leit lauter
'(er/sie) sieht' 'Seite' 'freitags' 'Zeit' 'Leute' 'lauterAdv'
[nik] [lekt]
net Leit
'nicht' 'Leute'
[ga'Jikt] [nik]
geschitt net
'geschehen' 'nicht'
[ga'ze'it] [ga'zit] [tsaituq] [peitBsdoum] [autoisn]
Autoen
'(er/sie) sieht' 'Zeitung' 'Petersdom' 'Autos'
[ge'tRaut] [ga'Reits]
neit getraut geräits
'neues' 'getraut' '(hin)gerätst'
[bit] [nat] [nait]
bidd net neit
[bRe:t]
bret weider
'(er/sie) bietet' 'nicht' 'neues' 'breit' 'weiterAdv' 'heute'
[na it]
[vaidß] [haut]
gesäit Zeitung Peitersdoum
haut
217 Für die Verbform gesäit '(er/sie) sieht' zeigt N1 Intrasprechervarianz zwischen der Dialektform, einer gekürzten Variante ohne Epenthese-^ und der Z-Form mit Diphthong ε'ι (13). (13)
+ VELA Π
-VELA Π
[ga'zikt]
[ga'ze'it] [ga'zit]
gesäit '(er/sie) sieht'
Diese Kovarianz kann als Hinweis auf den beginnenden Abbau oder zumindest auf die Variabilisierung von VELA II gewertet werden. Eine ähnliche Tendenz ist für N4 zu beobachten: Sie verwendet im freien Gespräch die Z-Form [haut] haut 'heute'; im FB (vgl. Tab. 5.12.2) hatte sie noch die Wiltzer Form [hokt] realisiert. Aus den Daten kann vorsichtig geschlossen werden, daß VELA II leicht zurückgeht und als Korrespondenzregel zur Entstehung von Lexikalisierungen beiträgt. Daß die Velarisierung nicht in Lehnwörtern oder jüngeren Lexemen auftritt, kann als Verlust der Produktivität der Regel interpretiert werden. Formen wie in (14) sind daher nicht akzeptabel. (14)
*[agdoan] *['pikters,doum] *['tsegdui)]
5.12.2.3.3
Autoen Piitersdoum Zeitung
'Autos' 'Petersdom' 'Zeitung'
Interdialektaufnahme
In der Interdialektaufnahme sind für die Infh keine Veränderungen festzustellen. Da es sich gerade bei VELA II um eines der populärsten innerluxemburgischen Dialektmerkmale handelt, wurde mit einem zweiten Fragebuch getestet, ob hier Schirmunskis (1930) Ansicht über das Verhalten von primären Merkmalen bestätigt werden kann. In der Interdialektsituation fragten sich die beiden Informantinnen gegenseitig einige Einzelsätze ab, die die potentiell velarisierbaren Formen aus Tab. 5.12.2 oben enthalten. Doch obwohl von Seiten der Informantin, die die deutschen Fragebuchsätze vorlas, angemerkt wurde, wie "komisch" die Aussprache der Infh aus dem Norden klinge, führte die hohe Kontrolliertheit der Situation dennoch nicht dazu, daß weniger velarisierte Belege realisiert wurden. N1 und N2 produzierten in dieser Aufnahme die gleichen Formen wie in der Dialektaufhahme (vgl. oben Tab. 5.12.2). Ein Einfluß der überregionalen Gesprächssituation auf das Verhalten von VELA II kann hier nicht bemerkt werden. Für die Variable VELA II kann im Vergleich zwischen Dialekt- und Interdialektaufnahme nur die Negationspartikel net 'nicht' quantitativ analysiert werden, da nur sie eine ausreichende Häufigkeit aufweist. Die regionale Variante [nik] gilt generell als Marker für die Wiltzer Gegend im südwestlichen Ösling (Areal 4). Inf N2 weist kategorisch in Dialekt- wie Interdialektsituation die lokale Variante [nik] auf, für N3 ist nur die Z-Form belegt. Bei N4 findet sich eine Mischung (Kovarianz) von alter Dialektform und Z-Form. Aus dieser Varianz kann abgeleitet werden, daß der Abbau der Dialektformen nicht über Zwischenstufen läuft, sondern als Wortersatz stattfindet. Möglich wäre es nämlich, daß in [nik] nur die Velarisierung abgebaut wird und sich eine Zwischenform [nit] herausbildet. 47 Doch statt dessen
47
Die Variante [nit] findet sich nach LSA 53 besonders im Westen Luxemburgs.
218 wird gleich die Z-Form [nat] übernommen. Dieses Verhalten deutet darauf hin, daß die phonetische Distanz zwischen der Dialekt- und der Z-Variante als besonders groß empfunden wird. Für die Mischung zwischen Dialekt- und Z-Form kann keine Bedingtheit durch pragmatische oder syntaktische Kriterien ermittelt werden: Beide Varianten kommen in den gleichen Äußerungstypen und den gleichen prosodischen Kategorien ((satz)betont und (satz)unbetont) vor, wie N4's Beispiele in (15) nahelegen. (15)
Z-Form (=net) nä, ech war och net sou gutt gelaunt ... hues de villaicht net matt kritt 't zielt net sou vill 't as net sou intressant
'Nee, ich war auch nicht so gut gelaunt' 'hast du vielleicht nicht mitbekommen' 'es zählt nicht so viel' 'es ist nicht so interessant'
Dialektform (=[nik]) Nä, iwerhaapt fmk] dar wees de meeschtens [nik] vun hannen gesin ech [nik] op d' Tafel
'Nee, überhaupt nicht' 'das weißt du meistens nicht' 'von hinten sehe nicht auf die Tafel'
Damit kann keine 'reallocation' (Trudgill 1986) beobachtet werden: Den konkurrierenden Varianten net bzw. [nik] werden keine neuen Funktionen (z.B. diaphasische) zugewiesen. Die Variabilisierung ist somit ein Effekt des Dialektausgleichs. Wie Tab. 5.12.3 verdeutlicht, dominiert im Dialekt die Variante [nik] mit 61,7%, in der Interdialektaufhahme geht die Häufigkeit auf 51,1% leicht zurück.
Dialekt
(N=47)
38,3%
nät
[nik] 61,7%
Interdialekt
(N=47)
48,9%
51,1%
Die Tatsache, daß nur eine 10%ige Abnahme der velarisierten Negationspartikeln im Interdialekt zu konstatieren ist, bestätigt den Eindruck, daß es sich um Kovarianz handelt, die in dieser quantitativen Verteilung Bestandteil des Repertoires der Sprecherin N4 ist. Aus dieser lediglich leichten Abnahme der Dialektform im Interdialekt kann kein Rückschluß auf einen Varietätenwechsel gezogen werden.
5.12.2.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
VELA II ist sicherlich innerhalb von Luxemburg das bekannteste primäre Dialektmerkmal und genügt den von Dressler/Wodak (1982: 348) aufgestellten Kriterien eines 'input-switches' (vgl. 3.2). Die Varianten sind phonetisch nicht graduell, und das Merkmal genießt kein hohes Prestige. Gerade solche Merkmale gelten als sprecherseitig kontrollierbar und sollten in formelleren Situationen unterdrückt werden können. In der Analyse konnte für VELA II dieses Verhalten nicht beobachtet werden. Der Beibehalt velarisierter Formen im Interdialekt kann durch die Auswirkungen eines 'verdeckten' Prestiges erklärt werden (vgl. Trudgill 1974), denn in allen Regionen wirkt eine starke Regionen- bzw- Ortsloyalität, durch die der
219 Erhalt dieser Formen unterstützt wird. Statt eines Varietätenwechsels finden sich Anzeichnen eines leichten, aber generellen Abbaus dieses Merkmals. Dieser Abbau verändert eine ursprüngliche (kategorische) phonologische Regel in eine Korrespondenzregel, d.h. das Vorkommen von VELA II wird nun zunehmend nicht mehr durch rein phonologische, sondern durch lexikalische Faktoren gesteuert. Daß es sich bei VELA II (in der ursprünglichen Form) tatsächlich um eine lexikalischphonologische Regel handelt, wird durch die morphologischen Alternationen in (16) deutlich. (16)
[dRo:t]
~
[ga'zin]
~ [ga'zikt]
[dRo:n]
~
[dRikt]
[dReian]
~
[dRikt]
[bauan]
~ [gs'bokt]
Drot gesin dron dreien bauen
[dRikt]
~ ~ ~ — ~
Dreit gesäit dreit dreit gebaut
'Draht' 'sehen Inf ' 'tragen,„ f ' 'drehen Inf '
'bauen'
'Drähte' '(er/sie) sieht' '(er/sie) trägt' '(er/sie) dreht' 'gebaut'
(17) Epentheseregel für VELA II σ
0
->
/k/
yA
/ VV
t
I [ + high]
Beispiel [hu : t]
[hu;kt]
Haut
'Haut'
Somit ist VELA II Bestandteil der lexikalischen Ebene. Doch die exakte Formulierung einer phonologischen Regel fur VELA II gestaltet sich schwierig. Zuerst muß geklärt werden, welcher Stammvokal als Input für die velarisierten Formen angesetzt werden muß. Da es sich um ein Merkmal handelt, dessen Hauptverbreitungsgebiet im Ripuarischen liegt, kann davon ausgegangen werden, daß in den velarisierten Formen noch geschlossene Langvokale [i:, u:] zugrunde liegen, da das Ripuarische die nhd. Diphthongierung nicht durchlaufen hat. Zur Ableitung von VELA II sind zwei Regeln notwendig, die nacheinander angewandt werden. Zunächst findet eine Epenthese des Plosivs statt (17). Durch diese Regel wird ein velarer Plosiv zwischen einen in der Silbencoda silbifizierten Hochvokal gefolgt von einem alveolaren Plosiv eingefügt. Unter Hochvokal kann sowohl der zweite Bestandteil eines Diphthongs (/, υ) oder eines Monophthongs verstanden werden; eine Spezifizierung als [ + high] wie in (17) ist damit ausreichend. Das Auftreten des stimmhaften velaren Plosivs [g] im Wortinneren ([bRugdaR] 'Bruder') kann durch eine zweite (phonetisch motivierte) phonologische Re gel beschrieben werden, die im Inlaut stimmhafte Silbenkontakte herstellt. Die Epentheseregel selbst besitzt nur wenig phonetische und phonologische Plausibilität, da der Bedingung nach 'Lokalität'48 nicht Genüge getan ist: Eine ^-Epenthese an sich wird nicht durch den unmittelbaren Kontext motiviert, sondern aus Beobachtungsdaten für diesen Kontext postuliert. Im Gegensatz zu anderen Epenthesen, die durch bestimmte Konsonantenkombinationen oder Silbenstrukturbedingungen ausgelöst werden, ist die fc-Epenthese im Luxemburgischen phonologisch nicht begründbar. Weiterhin erzeugt die Epentheseregel allein noch nicht die kor48
Vgl. Itö (1988).
220 rekte Oberflächenform, denn parallel dazu findet ja auch eine Vokalkürzung statt. Daher muß zusätzlich eine Kürzungsregel angenommen werden, durch die die Morenzahl der überschweren Silbe reduziert wird (18). (18)
Kürzungsregel μ μ μ
I I
I
V V > V / Beispiel [hu:kt] > [hukt]
kt Haut
'Haut'
Durch (18) werden zweimorige Vokale um eine More verkürzt, wenn sie vor der Konsonantenverbindung kt stehen. Damit die Regel nicht in Wörtern wie [aijt] Aascht 'Ast' angewendet werden kann, muß der erste Konsonant des Clusters ein Nicht-Kontinuant sein ([-cont]). Für einige Lexeme ist zusätzlich noch eine Senkungsregel notwendig, um die korrekte Vokalqualität zu erzeugen (mhd. wit 'weit' > [vikt] > [vekt]). Dieser komplexe Regelapparat ist notwendig, um die morphologischen Paradigmen einheitlich darstellen zu können. Aus der Sicht der Natürlichkeitstypologie handelt es sich bei VELA II um eine perzeptive Forderung des Silbenauslauts, der durch die Abfolge der Plosive -kt- deutlich hervorgehoben wird. Gleichzeitig bedeutet diese Forderung, daß sich der artikulatorische Aufwand zur Realisierung der Silbencoda erhöht. Erwartbar wären in dieser Situation Lenierungen, die die Plosivfolge reduzieren. Im Ripuarischen ist dies bereits geschehen, indem eine Totalassimilation des alveolaren an den velaren Plosiv stattfand (mhd. liute 'Leute' > [lykt] > [lyk]). In Luxemburg findet sich diese Assimilationsstrategie nicht.49 Statt dessen wird die komplexe Sequenz entweder beibehalten, oder es kommt zu Wortersatz zugunsten der Z-Variante. Die phonologische Diskussion zeigte bis jetzt, daß es sich bei VELA II in der ursprünglichen Form um eine, wenn auch komplexe, phonologische Regel handelt und nicht um Lexikalisierung, die nur einige Wörter betrifft. Für das Nordösling ist diese phonologische Regel noch vollkommen intakt. Hier wird der Erhalt durch die besonders hohe Anzahl von historischen Kontexten, in denen VELA II angewendet werden kann, zusätzlich noch begünstigt. Wie Abb. 5.12.2 (oben) zeigt, ist in dieser Region die diachrone Besetzung fur VELA II größer als im südlichen Ösling: Hier überlagern sich drei der vier Velarisierungsareale. Damit ist auch die Anzahl der Lexeme, die VELA II aufweisen können, bedeutend höher als im Südösling. Dort, insbesondere in der Wiltzer Gegend, sind bereits leichte Nivellierungserscheinungen feststellbar. Hier war auch die diachrone Besetzung für VELA II von vornherein geringer. Die neuen Formen sind sämtlich Z-Formen. Der Abbau ist damit auch eine echte Substitution, die nicht über Zwischenformen führt (vgl. oben die Diskussion über die Negationspartikel net) und impliziert damit auch keine phonetische Gradualität. Wenn die phonologische Regel bei N4, N7Z und N82 nicht mehr kategorisch, sondern variabel angewendet wird, so ist aus der ehemaligen phonologischen Regel nun eine Korrespondenzregel geworden. Für diese Infn bedeutet der Übergang eine Zunahme der Komplexität ihrer Varietäten. Für N3 schließlich gilt ausnahmslos das Z-System, und die Korrespondenzregel hat für sie 49
Als Ausnahme zeigt lediglich das hochfrequente und oft unbetonte [nik] 'nicht' die lenierende Totalassimilation.
221 keine Gültigkeit. Zusammenfassend verteilt sich die Variabilität für VELA II auf drei Prozeßtypen: • • •
Prozesse
Infn
Dialekterhalt Variabilisierung in Korrespondenzregel Dialektabbau
Nl, N2, N5Z, N6Z, N8Z N4, N72 N3
Phonologische Ebene Status
5.13
lexikalische Ebene primäres Merkmal
-«-Tilgung ('bewegliches ~n')50
5.13.1 Allgemeine linguistische Beschreibung Im Letzebuergeschen hat sich im externen Sandhi ein komplexes Tilgungsphänomen entwikkelt, daß es mit anderen aus dem Fränkischen hervorgegangenen Sprachen bzw. Dialekten (Limburgisch, Brabantisch, Südsiebenbürgisch) teilt. Die Forschungsliteratur bezeichnet das Phänomen etwas unglücklich als 'Eifler Regel' oder 'bewegliches -n' (Bruch 1954: 25, Capesius 1966). Der Terminus leitet sich von der Tatsache ab, daß ein auslautendes -n nur unter bestimmten Bedingungen phonetisch realisiert werden kann. Bruch (1954: 25) faßt das 'bewegliche -n' wie folgt. (1)
In den luxemburgischen Mundarten wird heutiges stamm- oder suffixauslautendes -n innerhalb einer Expirationseinheit (im Sandhi) oder in der Wortbildungsfuge vor allen Konsonanten außer h, d, t (und ts) assimiliert.
Durch das 'bewegliche -n' werden folgende Kontraste produziert (erhaltenes -n ist durch Fettdruck, getilgtes -n durch '_' gekennzeichnet). In (2a) ist -rt erhalten, in (2b) getilgt. (2a)
-/i-Erhalt en alen lesel den neien Auto an den Haisem en dommen Daag en trauregen Trouscht en zeriösen Zeien uewenop Bauerenham Quetschendiif Gromperenzopp
'ein alter Esel' 'das neue Auto' 'in den Häusern' 'ein dummer Tag' 'ein trauriger Trost' 'ein seriöser Zeuge' 'obenauf 'Bauernschinken' 'Zwetschgendieb' 'Kartoffelsuppe'
nicht:
(2b) -n-Tilguiig e_ bloe_ Meindeg maachen e_ schwaarze_ Schiet
50
'einen blauen Montag machen' 'ein schwarzer Schatten'
*en bloen Meindeg maachen *en schwaarzen Schiet
Die folgende Analyse ist ein Extrakt aus einer ausführlichen Darstellung des 'beweglichen -n' in Gilles (i.V.e); weiterführende phonologische Aspekte sind dort erläutert.
222 säi_ groe_ Kapp e_ laange_ Rick Noute_blieder ImmobilieJirma Ausseminister Vakanze_kaart Flache rechnung
'sein grauer Kopf' 'ein langer Rücken' 'Notenblätter' 'Immobilienfirma' 'Außenminister' ' Urlaubspostkarte' ' Flächenrechnung'
*säin groen Kapp *en laangen Rick *Noutenblieder * Immobilienfirma *Aussenminister *Vakanzenkaart *Flächenrechnung
Die Beispiele legen es nahe, das 'bewegliche -η' als eine Tilgungsregel zu interpretieren. Daher wird, um den mißverständlichen Begriff 'bewegliches -n' zu vermeiden, im folgenden immer von Erhalt und Tilgung von auslautendem -n gesprochen. Die Fälle in (2a, b) repräsentieren den häufigsten Fall des Phänomens: Dem Nasal geht ein Schwa voraus, das meist Bestandteil eines Suffixes ist (laang+en 'langer', Gromper+en 'Kartoffeln'). Aus den Belegen wird auch ersichtlich, daß neben der wortübergreifenden Anwendung (groe_ Kapp 'grauer Kopf') auch Tilgung innerhalb eines Kompositums möglich ist {Ausse minister). Die Wörter in (3) zeigen, daß von der Tilgung sogar Präfixe betroffen sein können. (3)
un +haten an+dele η un+ze+fanken an+ze+schaffen an +zeien
'anhatten' 'einteilen' 'anzufangen' 'einzuarbeiten' 'einziehen'
aber:
'Ansichten' 'einfallen' 'anfangen,,,,' 'einarbeiten,,,,' 'eingezogen'
U_+sichten a_+fallen u_+fanken a_+schaffen a_+gezunn
Aus (3) ist weiterhin ersichtlich, daß nicht immer ein Schwa vorausgehen muß. Auch in Wörtern mit Vollvokalen kann getilgt werden. Doch tritt die -n-Tilgung in dieser Kategorie nicht immer auf, vielmehr zeigen sich spezifische Blockierungen (von Bruch 1954: 26ff. als 'Sonderfalle' beschrieben). Geht -n ein langer Palatalvokal (e:, ei, ai) voraus, so trifft Regel (1) zu und auslautendes -n wird entsprechend dem Folgekontext getilgt bzw. bleibt erhalten. (4)
-«-Erhalt sain Auto steen nummen Lait op d' Been ze stellen
-n-Tilgung 'sein Auto' sai_ Jung 'stehen nur Leute' lo stee_ mer 'auf die Beine zu stellen' op d' Bee_ gestallt
'sein Junge/Sohn' 'da stehen wir' 'auf die Beine gestellt'
Andererseits ist die n-Tilgung nach langen Velarvokalen (o:, ou) blockiert, d.h. der Nasal wird in allen Kontexten, also auch in den Tilgungskontexten, phonetisch realisiert (5). (5)
nicht: weint Korruptioun verhaft an Direktioun Frartkräich Grenzregioun mam Zaire
'wegen Korrpution verhaftet' 'in Richtung Frankreich' 'Grenzregion zu Zaire'
* weint Korruptiou_ verhaft *an Direktiou_ Frartkräich *Grenzregiou_ mam Zaire
Bruch (1954: 26) sieht den Grund für die irreguläre Erhaltung des -n darin, daß es sich bei den Beispielen um Lehnwörter handelt, die noch nicht zum nativen Lexikon des Letzebuergeschen gehören. Diese Argumentation ist nicht stichhaltig, da es auch native Wörter auf -oun gibt, die die Tilgung verhindern, obwohl ein Tilgungskontext folgt (6). (6)
mam Spoun Feier maachen Loun kriien
'mit dem Span Feuer machen' 'Lohn bekommen'
223 Die Regel (1) ist ebenfalls in Wörtern blockiert, deren Silbenreim auf Kurzvokal + -n endet und die den Tonakzent 2 tragen; der Tonakzent bewirkt eine (nicht-kontrastive) Dehnung des -n zu n: (7). (7)
Ma[n:]firalles Si[n;J vun der Saach Ein:] Juli eng halefStu[n:] manner Autobufn:]firop Stroosbuerg
'Mann für alles' 'Sinn von der Sache' 'Ende Juli' 'eine halbe Stunde weniger' 'Autobahn (für) nach Straßburg'
In allen bislang vorgestellten Fällen ist die Anwendung bzw. Nicht-Anwendung der -n-Tilgung kategorisch: Wenn ein Tilgungskontext vorliegt, so wird obligatorisch getilgt; liegt ein Erhaltskontext vor, so bleibt der Nasal obligatorisch erhalten. Eine Abhängigkeit der Tilgung von der Sprechgeschwindigkeit ist nicht festzustellen. Es handelt sich damit um eine grammatische Eigenschaft des Letzebuergeschen, die nur sehr geringe diasystemare Varianz aufweist. Die Darstellung der Anwendungsbedingungen macht deutlich, daß es sich bei der Tilgung bzw. dem Erhalt von auslautendem -n nicht um ein bloßes postlexikalisches Phänomen handelt, daß durch lenierende Prozesse hervorgerufen wird. Die kategorische Anwendung läßt vielmehr den Schluß zu, daß die Regel weit in die Phonologie des Letzebuergeschen hineinreicht. Angesichts der hohen Zahl von auf -n auslautenden Silben ist das Phänomen darüber hinaus sehr häufig. In Anlehnung an Wetzeis' (1993) Analyse für einen südlimburgischen Ortsdialekt wurde in Gilles (i.V.α) im Rahmen der nicht-linearen Phonologie eine prosodische Kontaktbeschränkung aufgestellt, die die -«-Tilgung zwischen zwei prosodischen Wörtern regelt. Da «-Tilgung nur stattfindet, wenn überhaupt ein Folgekontext vorhanden ist, liegt es nahe, von einem Kontaktphänomen zwischen zwei Silben zu sprechen. Für das Südlimburgische hat Wetzeis (1993) eine negative Silbenstnikturbeschränkung vorgestellt, die einen Silbenauslaut, der aus Schwa und extrasilbischem -« besteht, als ungrammatisch deklariert. Die Tilgung bzw. der Erhalt des Nasals ergibt sich dann aus der Interaktion des Folgelautes mit der Silbenstnikturbeschränkung. Für das Letzebuergesche kann der Kontext noch weiter präzisiert werden. Wie die Belege in (8) zeigen, fällt der Silbenkontakt immer mit der Grenze zwischen zwei prosodischen Wörtern (ω) zusammen.51 (8)
i
[e_]J[schwaarszeJ,/[Schiet]J [Nouite_lä\blie%der]J $ [ Vaskanszejj[kaart]js
'ein schwarzer Schatten' ' Notenblätter' ' Urlaubskarte'
s
[iü»$[«cÄsie«]„s
'Ansichten'
s
[a_VlgeSW>V
'eingezogen'
s
Es handelt sich damit weniger um einen silbenstrukturellen Prozeß, wie es Wetzeis (1993) annimmt, sondern vielmehr um einen Kontaktprozeß zwischen zwei prosodischen Wörtern. Die Anwendungsdomäne ist die prosodische Phrase. Daß die «-Tilgung tatsächlich ein Kontaktphänomen ist, das nur zwischen zwei prosodischen Wörtern stattfinden kann, zeigt sich
51
Bestandteile von Komposita und Präfixe bilden jeweils eigene prosodische Wörter (vgl. Nespor/Vogel 1986).
224 daran, daß der Nasal immer erhalten bleibt, wenn eine Pause oder das Ende einer Intonationsphrase, also kein weiteres prosodisches Wort folgt (Moien! ## nicht: *Moie_! ## 'Morgen!'). Anders als im Südlimburgischen ist hier Tilgung nicht nur nach Schwa möglich, sondern auch nach Vollvokalen. Unterbunden wird die Tilgung lediglich vor langen und diphthongischen Velarvokalen (o:, ou). Eine Möglichkeit, Lexeme mit diesen Vokalen von der Tilgung auszuschließen, wäre, sie als Ausnahmen zu markieren. Eine elegantere Einschränkung kann erreicht werden, wenn diese Vokale in der Kontaktbeschränkung ausgeschlossen bleiben. Dazu genügt es, eine zweite, optionale V-Position einzufügen, die durch [-back] alle nicht-velaren Vokale charakterisiert. Die erste, obligatorische V-Position steht für den Kurzvokal (Schwa oder Vollvokal). Die endgültige Form der negativen Kontaktbeschränkung auf der Ebene der prosodischen Phrase bekommt für das Letzebuergesche das Format in (9). Sie erlaubt es, für alle möglichen Konstellationen aus auslautendem -n und beliebigem Folgelaut vorherzusagen, ob Tilgung stattfindet oder der Nasal erhalten bleibt. (9)
Negative K o n t a k t b e s c h r ä n k u n g auf der Ebene der prosodischen P h r a s e Ex * V
(V)
C ]„
4
I
[-back] [+nas oral cavity
I
C-place
I [+coronal] In Prosa: Ein prosodisches Wort ω, das auf (extraprosodischen) koronalen Nasal auslautet, dem ein Kurzvokal oder ein nicht-velarer Langvokal bzw. Diphthong vorausgeht, ist vor einem weiteren prosodischem Wort ω nicht zulässig. Durch die Kontaktbeschränkung kommt es zu folgenden phonologischen Interaktionen mit dem Folgekontext: Folgt ein Vokal, so kann der Nasal in den Onset der Folgesilbe integriert werden und bleibt erhalten.52 Der Nasal steht damit nicht mehr im Auslaut der Silbe, wo er als extrasilbisches Element auf der Ebene der phonetischen Realisierung getilgt werden würde. Folgt auf ein -n dagegen ein nicht-homorganer Konsonant (Schwaam_ Schiet), so kann der Nasal nicht in eine Silbe integriert werden. Der Onset der Folgesilbe ist ja bereits durch einen Konsonanten besetzt und eine Resilbifizierung des Nasals kann nicht stattfinden. Es würden dann nämlich ungrammatische Anlaute vom Typ *nb-, nf- entstehen (*en Blat 'ein Blatt', *schwaarzen Schiet 'schwarzer Schatten'). Im Auslaut der ersten Silbe ist -n ohnehin extrasilbisch und wird im Verlauf der phonologischen Ableitung per Konvention getilgt (stray erasure·, vgl. Itö 1988). Wenn dagegen ein homorganer Konsonant (t, d, ts\ abgekürzt durch T) folgt, so kann der Nasal erhal-
52
Diese Resilbifizierung ist möglich, da im Letzebuergeschen der Vokaleinsatz mittels eines Glottisverschlußlautes ? nicht vorkommt; die Onsetposition vor dem Vokal ist damit frei für den einrückenden Nasal.
225 ten bleiben, da es zur Entstehung einer 'partiellen Geminate' -nt-, -nd-, -nts- kommt (vgl. McCarthy 1988: 89). Auf diese geminierten Strukturen kann die Kontaktbeschränkung (9) nicht angewendet werden, da sie ja nur für nicht-geminierte Verbindungen definiert ist.53 Durch die Entstehung der partiellen Geminate verliert der Nasal seine Extrasilbizität und kann zusammen mit dem Folgelaut als ambisilbische, partielle Geminate silbifiziert werden. Die 'Inalterabilität'54 der Geminate verhindert somit die Tilgung des Nasals in Wortfolgen wie en Tonn 'ein Ton' oder en Dag 'ein Tag'.
5.13.2
Variabilität der -τι-Tilgung
Variabilität der «-Tilgung ist nur in drei Fällen festzustellen: • • •
in der maximalen Anwendungsdomäne in der Blockierung in Lexemen mit -n im sekundären Auslaut im Osten in der variablen Tilgung vor ζ
5.13.2.1
Variabilität in der maximalen Anwendungsdomäne
Als Domäne für die Anwendung der Regel gibt Bruch (1954: 25ff.) die 'Expirationseinheit' an, die wohl der 'Intonationsphrase' in neueren phonologischen Arbeiten (z.B. Nespor/Vogel 1986) entspricht. Die Korpusdaten offfenbaren hier eine beträchtliche Varianz, so daß nicht genau angegeben werden kann, welche syntaktische und/oder prosodische Grenze die maximale Anwendungsdomäne für die Tilgung markiert. In den Beispielen in (10a) kann über die Grenze einer Intonationsphrase getilgt werden; in (10b) wird -n trotz Tilgungskontext über die Intonationphrase hinweg erhalten. (10a) -n-Tilgung Uber eine Intonationsphrase hinaus 't as schei_, well dat kritt ee_ net... 'es ist schön, weil das bekommt man nicht' An den Daitsche_? Wou war dat dann? 'Und der Deutsche? Wo war der denn?' ... dat ze maae_, wat een sech ... '... daß zu machen, was man sich Oh, ech kucke_, kucke_, wei et geet. Oh, ich gucke, gucke, wie es geht.' Du huet he_ messte_ goe_, wees de. 'Da mußte er gehen, weißt du.' (10b) -τι-Erhalt über eine Intonationsphrase hinaus ... dii aneren, vun denen ... '... die anderen, von denen ... wäi se do setzen, wees de '... wie sie da sitzen, weißt du' ... dei am Heft stin. Mer hun en ... "... die im Heft stehen. Wir haben ein
Infolge dieser Varianz ist es nicht möglich, die größtmögliche Domäne zu bestimmen, innerhalb derer die Regel angewendet werden kann. Weiterhin wird die Domänenangabe durch die Überblendung mit Allegroprozessen erschwert, da Tilgungen an Wort- bzw. Äußerungsende nicht selten sind und nur schwer von den Auswirkungen des 'beweglichen -n' unter53
54
Diese Anwendungsbeschränkung ergibt sich aus dem linking constraint (Hayes 1986), demzufolge alle Assoziationslinien in Strukturbeschreibungen erschöpfend intertretiert werden müssen. geminate inalterability·, vgl. Hayes 1986.
226 schieden werden können. Eine prosodische Detailuntersuchung könnte hier Klärung verschaffen. Für die vorliegende Untersuchung wird die Analysedomäne aus Gründen der Durchführbarkeit auf die Intonationsphrase beschränkt.
5.13.2.2
Blockierung in Lexemen mit -n im sekundären Auslaut im Osten
Obwohl die -«-Tilgung im Osten mit der gleichen Kategorialität gilt wie in den übrigen Regionen, ist hier dennoch eine Ausnahme festzustellen. Wenn ein -«, das ursprünglich wortmedial stand, durch den Ausfall eines Folgelautes oder einer Folgesilbe in den Auslaut gerückt ist, so kann es nicht getilgt werden. In (11) sind Belege aus dem Korpus für diesen 'sekundären' Auslaut aufgelistet. (11)
ursprünglich zweisilbige Wörter mhd. Ο Ζ eine [e:n Jmo:] [εη ...] eine [e:n gajict] [εη ...] [e:n fRom: α ί ε χ ] [εη . . . ] eine [ke:n zae:u] [keq . . . ] keine mine [main guat] [πιεη ...] [ m a i n fRa:] [πιεη . . . ] mine
eng Schmo eng Geschickt eng fromm Affaire keng Sau meng Gued meng Fra
'eine Schmach' 'eine Geschichte' 'ein fromme Angelegenheit' 'keine Sau' 'meine Patentante' 'meine Frau'
Im Osten unterbleibt hier trotz Tilgungskontext die Tilgung. Die entsprechenden Formen im Zentrum sind gemäß VELA I (5.12.1) velarisiert ([εη, keq, met)]). Im Gegensatz zu den Beispielen in (11) unterliegen die Belege in (12), die auf ursprüngliche Einsilber zurückgehen, im Osten so wie in den übrigen Regionen regulär der Tilgung. (12)
ursprünglich einsilbige Wörter mhd. Ο, Z, S, Ν ein [e:_ kan:t] e Kand ein [e:_ fanaftel] e Fenneftel min [mai_ man:] mai Mann min [mai_ pap] mai Papp
'ein Kind' 'ein Fünftel' 'mein Mann' 'mein Vater'
Die Infn O l , 0 2 , 0 3 und 0 7 beachten in allen Aufhahmetypen diese komplexe Regularität. Abbautendenzen sind nicht feststellbar. 0 4 , 0 5 und 0 6 dagegen haben VELA I vollständig durchgeführt und somit die alte östliche Besonderheit der -«-Tilgung 'automatisch' mitaufgegeben. Sprachhistorisch stehen somit die beiden Prozesse in 'bleeding order' (Kiparsky 1968), da durch VELA I der -«-Tilgung die Kontexte entzogen werden.
5.13.2.3
Variable Tilgung vor ζ (stimmhafter, alveolarer Frikativ)
Wenn auf ein auf -n auslautendes Wort ein Wort folgt, daß mit ζ beginnt, so ist die -«-Tilgung nicht immer möglich (13).
227 (13)
setzen se waren se an sou weider
'sitzen sie' 'waren sie' 'und so weiter'
aber:
Eltre_ sin he_ seet vun de Socken
'Eltern sind' 'er sagt' 'von den Socken'
Dennoch kann das Variationsmuster nur bedingt als freie, postlexikalische Varianz beschrieben werden. Die variable Tilgung ist vielmehr durch lexikalische Faktoren gesteuert. Bei einer genaueren qualitativen Analyse ergibt sich, daß sich die Varianz vor mit ζ anlautenden Wörtern auf eine kleine Gruppe von Wörtern beschränkt. Der Nasal bleibt nur dann fakultativ erhalten, wenn die Pronomen si/se 'sie', selwer 'selbst', sech 'sich', singer 'seiner', sal· nen 'seinen' oder das Adverb sou 'so' folgen.55 Bei diesen Wörtern handelt es sich immer um Funktionswörter (im folgenden abgekürzt durch Z-FUNK). Dagegen wird vor 'echten' Lexemen mit z-Anlaut (setzen 'sitzen', siwen 'sieben' usw.) -n ausnahmslos getilgt. Für die fakultative Tilgung vor Z-FUNK sind zwei Faktoren verantwortlich. Erstens handelt es sich bei der kleinen Gruppe von Wörtern oft um klitisierte Einheiten, die an Verben angehängt sind (vgl. 13 oben). Dadurch ist es möglich, daß in der Sprecherphonologie die Einheiten aus Verb und Klitikum zu einer clitic group (vgl. Nespor/Vogel 1986) verschmelzen und damit der Nasal nicht mehr eindeutig als letzter Konsonant eines prosodischen Wortes interpretiert werden kann. In der Folge kann dann die Kontaktbeschränkung nicht bzw. nur variabel greifen. Der zweite Grund für die fakultative Tilgung von -n vor Z-FUNK liegt in der Homorganität mit z. Bereits für die Γ-Wörter (Wörter, die mit t, d, ts anlauten) wurde festgestellt, daß in der partiellen Identität von η mit Τ (partielle Geminate) die Ursache für den Erhalt des Nasals zu sehen ist. Im Hinblick auf den Artikulationsort unterscheidet sich ζ von η (und auch von 7) nur durch das Merkmal [continuant]. Alle übrigen Ortsmerkmale sind identisch. Häufig kann die Ähnlichkeit des Nexus -n-z noch durch den phonologischen Prozeß der Plosivepenthese erhöht werden (intrusive stop formation·, vgl. Clements 1987, Clements/Hume 1995: 272). Denn durch die progressive Assimilation von η kann vor ζ ein epenthetisches t/d entstehen. Es ist offensichtlich, daß die so entstehenden Verbindungen wie z.B. in ware[n"z]e 'waren sie' die partielle Geminate -nd- enthalten. Somit erklärt sich der η-Erhalt in diesen Fällen in der gleichen Weise wie vor Wörtern, die bereits in der lexikalischen Repräsentation mit Γ anlauten. Insgesamt fuhrt damit die Kombination von Homorganität und Klitisierung zu einer sprecherlnnenseitigen Unsicherheit, ob in diesen Fällen die Kontaktbeschränkung zutrifft oder nicht. Als Konsequenz ergibt sich daraus die variable Tilgung von finalem -n. Die quantitative Verteilung von «-Tilgung bzw. n-Erhalt vor Z-FUNK ist in Abb. 5.13.1 für Infn wiedergegeben, die mindenstens 10 Belege aufweisen. Im Sample lassen sich drei Sprecherinnengruppen unterscheiden: • • •
Infn, die vor ζ selten tilgen: eine Zwischengruppe: Infn die vor ζ häufig tilgen:
08 z , 09 2 , 0 2 , 0 7 , 010 z , N1 N2, Sl, S2, Z3, N4, S3 Z6, Z5, Z2, O l , 0 4 , ZI, Z6, S5
55
Bruch (1954: 28) und Capesius (1966) berichten, daß -n nur vor si/se 'sie' und seltener vor sech 'sich' erhalten bleibt. Im hier untersuchten Korpus kann dies nicht bestätigt werden, vielmehr ist die Gruppe der Wörter, die -«-Tilgung blockieren, größer.
228
Abb. 5.13.1 Häufigkeit der «-Tilgung vor Z-FUNK für 20 Infn (08 Z , 0 9 , , 010 Z : Infn der älteren Altersgruppe aus dem Zusatzkorpus); N = 3 1 6
Die Infn, die -n vor Z-FUNK nur selten tilgen, stammen entweder aus der älteren Generation (010 Z , 08 Z , 09 Z ) und/oder aus dem östlichen bzw. nördlichen Gebiet. Nl, 0 7 und 02, die auch für andere Merkmale hohe Dialektalität aufweisen, zeigen auch hier ihre deutliche Abweichung vom Z-System. Demgegenüber zeichnen sich die Sprecherinnen Z6 bis S5 links im Diagramm durch besonders hohe Tilgungsraten aus. Sprecher Z6 aus der jüngeren Generation tilgt sogar alle -n vor Z-FUNK. Diese Infn kommen überwiegend aus dem Zentrum. 0 4 zählt zu den Infn, die den östlichen Dialekt zugunsten der Z-Varietät weitgehend abgebaut hat. Ol muß dagegen als Ausreißer eingestuft werden, denn er weicht für alle übrigen Merkmale stark vom Zentrum ab. In der Zwischengruppe finden sich Infn aus allen Regionen. Das Häufigkeitsmuster in Abb. 5.13.1 läßt sich unter Sprachwandelgesichtspunkten interpretieren. Aus den Daten kann geschlossen werden, daß sich die -η-Tilgung vor ζ weiter ausbreitet. Es kann weiterhin angenommen werden, daß in einer früheren Sprachstufe nicht nur vor T, sondern auch vor ζ das finale -« erhalten werden konnte. Die Konsonanten, die die -«-Tilgung verhindern, waren damals also t, d, ts, h und z. Im Laufe der Entwicklung wurde der Η-Erhalt auf die Gruppe Z-FUNK eingeschränkt. Und diese Zusatzbedingung zur Kontaktbeschränkung (9) wird in den neuesten Tendenzen aufgelöst: Erhalt des -n ist nur vor Vokal, h und Τ möglich. Durch diese Dynamik wird eine Idiosynkrasie der -«-Tilgung, die zudem noch lexikalisch motiviert war (FunktionsWörter), aufgegeben. Die beobachtbare Tendenz hat zwei Auswirkungen: Es kommt erstens zu einer größeren strukturellen Homogenität, denn das Phänomen der -«-Tilgung bekommt weniger Ausnahmen und wird damit regelmäßiger. Zweitens führt die Entwicklung als Dialektausgleich zu regionaler Vereinheitlichung.
229 5.13.3 Dialektologische und phonologische Diskussion Das von der Forschungsliteratur bezeichnete 'bewegliche -ri ist in diesem Entwurf ein Kontaktphänomen zwischen dem End- und Anfangslaut zweier prosodischer Wörter. Das Auftreten des -n ergibt sich aus der jeweiligen Interaktion mit dem Folgelaut. Dieser Prozeß findet auf einer frühen Stufe der postlexikalischen Ebene statt. Es handelt sich um eine PI Rule (Kaisse 1985), die im Gegensatz zu P2 Rules auf grammatische Einheiten, wie z.B. Junkturen zwischen Wörtern, oder auf bestimmte Gruppen von Lexemen Bezug nehmen (vgl. die Blockierung der Tilgung in -o.n- und -own-Wörtern). Weiterhin können PI Rules zyklisch angewandt werden und teilen diese Eigenschaft mit Regeln, die auf der lexikalischen Ebene operieren. Immer wenn sich durch morphologische Prozesse die Silbenkontakte zwischen zwei prosodischen Wörtern verändert haben, prüft diese PI Rule, ob -n getilgt werden kann. (14)
un+ze+ßnken an +ze+schaffen αη+ζέίβη
'anzufangen' 'einzuarbeiten' 'einziehen,,/
aber:
u_+fanken a_+schaffen a_+gezunn
'anfangen,,/ 'einarbeiten,,/ 'eingezogen'
Natürlich-phonologisch betrachtet kann dieses Tilgungsphänomen am Wortende einer lenierenden Teleologie zugeordnet werden. Historisch ist es vermutlich aus der Sprechtätigkeit heraus entstanden. Von der beschriebenen Variation abgesehen wird die -n-Tilgung in ganz Luxemburg trotz ihrer Komplexität kategorisch beachtet. Lediglich in der Schriftsprache oder in Nachrichtensendungen kann es zu Verstößen kommen, doch läßt sich im alltäglichen Sprachgebrauch kein Abbau der -«-Tilgung feststellen. Das Phänomen ist in den moselfränkischen Dialekten auf bundesdeutscher Seite wohl teilweise noch vorhanden.56 Informelle Beobachtungen des Autors an seinem eigenen Dialekt und bei Bekannten deuten jedoch darauf hin, daß die ursprüngliche Regelmäßigkeit durch eine freie Varianz ersetzt wird. Für das Luxemburgische bedeutet dies, daß durch den Abbau der «-Tilgung in den Dialekten Deutschlands eine alte phonologische Regularität zu einem exklusiven Bestandteil der Nationalsprache 'Letzebuergesche' werden kann.
5.14
Varianz der Silbenzahl
Bei diesem prosodischen Merkmal handelt es sich um die Variation zwischen einer ein- bzw. zweisilbigen Realisierung eines Lexems (1). (1)
56
zweisilbig [go:an] [fRoiRan] [kloian] [le:an]
einsilbig [go:n] [fROiR] [klo:n] [le:n]
goen froen kloen leen
'gehen' 'fragen' 'klagen' 'legen'
Schriftliche Mitteilung von G. Bellmann. In einem in Vorbereitung befindlichen Band des MrhSA wird die -n-Tilgung kartiert werden.
230 5.14.1 Historische Entwicklung Das luxemburgische Sprachgebiet zeigt die generelle Tendenz zur Lenierung intervokalischer Obstruenten in ursprünglich zweisilbigen Lexemen, von denen das erste den Wortakzent trägt (Trochäus). Bruch (1954: 30ff.) spricht explizit von der 'Lockerung intervokalischer Verschlüsse und Engen', wodurch zweisilbige Lexeme einsilbig werden. Davon sind insbesondere intervokalische ahd. -g-, -h-, -x- (< kk) betroffen. Diese Reduktion der Silbenzahl verlief über mehrere Zwischenstufen. Zuerst wurde der Konsonant an den vorausgehenden Vokal assimiliert (Sonorisierung). Danach kam es zur Tilgung des Konsonanten, die durch die Dehnung des Vokals kompensiert wurde. So entstanden zweisilbige Formen mit einem Vokalzusammenstoß zwischen Stammvokal und dem Schwa der zweiten Silbe. In einem letzten Schritt wurde dann in einigen Lexemen der Hiat durch Schwatilgung abgebaut ('Silbenintegration'; vgl. Froitzheim 1984). In (2) sind die Zwischenstufen wiedergegeben. (2)
ahd.
Sonorisierung
[Regan] [nagal] [legan] [zagsn]
[Revsn] [Rejan] [ηαγβΐ] [najal] [leyan] [lejan] [zcnran] [zajen]
Tilgung + Ersatzdehnung [Re:an] [naial] > [no:al]57 [le:an] [za:an] > [zo:en]
Hiatabbau [Re:n] [no:l] [lern] [zo:n]
Ren Nol leert soen
'Regen' 'Nagel' 'legen' 'sagen'
Die Nomina Ren 'Regen' oder Nol 'Nagel' sind somit einsilbig geworden. Soweit Verbformen mit dem Suffix {-an} (Infinitiv, l.Sg./l.,3. PI.) betroffen sind, wurden ausschließlich die hochfrequenten (Hilfs-)Verben gin 'geben/werden' und hun 'haben' kategorisch einsilbig. Alle übrigen Verbformen variieren heute zwischen einer einsilbigen und einer zweisilbigen Realisierung. Von dieser Varianz sind auch die beiden mhd. Wurzelverben (mi-Verben) gän 'gehen' und stän 'stehen* erfaßt worden. Auch sie weisen heute zweisilbige Varianten auf. Die Entwicklung zur einsilbigen Form ist für die Nomina abgeschlossen, bei den Verben ist sie noch im Gange. In der offiziellen Orthographie des Luxemburger Wörterbuchs (1950ff.) wird für die Nomina mit ausgefallenem intervokalischen Konsonanten lediglich eine Schreibsilbe58 vorgeschrieben. Bei den entsprechenden Verbformen ist jedoch - abgesehen von gin 'geben; gehen' und hun 'haben' - immer eine Form mit zwei Schreibsilben vorgesehen. Das Verbalsuffix {-an} hat damit immer die explizite Form < -en>. Besonders deutlich wird die Zweisilbigkeit in Verben wie leen 'legen' oder streen 'streuen', wo zur Hervorhebung der Verbendung bzw. der Zweisilbigkeit das < e > der Endung mit einem Trema versehen wird, um sie vom < e > des Stammvokals abzuheben.
57 58
Langes a; wurde, wie in 5.8 gezeigt, regelmäßig zu o: gehoben. Zur Unterscheidung zwischen 'Schreibsilbe' und 'Sprechsilbe' vgl. Eisenberg 1989.
231 5.14.2 Dialektgeographischer Überblick In den vorhandenen Dialektbeschreibungen wird diese prosodische Varianz der Silbenzahl nicht thematisiert, da man sich auf die segmentelle Phonetik beschränkte. Ein genauer Nachweis, in welcher Region ein- bzw. zweisilbige Formen vorherrschten, wird damit schwierig. Auf der L5/4-Karte 'gehen, stehen, schlagen' werden für den Südwesten (Minett) zweisilbige Formen angegeben ([gouan], [Jtouan], [Jlousn]). Die Monographien für dieses Gebiet (Palgen 1948, Meyers 1930) notieren sowohl die ein- als auch die zweisilbige Form in freier Varianz (3). (3)
zweisilbig
einsilbig
[klo:sn] [dro:an] [jo:3n] [le:an] [go:an]
[klo:n] [dro:n] [jo:n] [Jlorn]
'legen' 'gehen'
'klagen' 'tragen' 'jagen' 'schlagen'
Die gleiche Kovarianz wird für das nördliche Dialektgebiet beschrieben (Bruch 1952, Palgen 1954). Die beiden Monographien für den Osten (Engelmann 1910a, Palgen 1931) geben ausschließlich einsilbige Varianten an (4). (4)
einsilbige Formen im Osten [zo:n]
'sagen'
[dRo:n]
'tragen'
[Jlo:n] [go:n]
'schlagen' 'gehen'
[fRo:n]
'fragen'
[Jdo:n]
'stehen'
Demnach sind in der ersten Jahrhunderthälfte beide Varianten vorhanden, die bisweilen im gleichen Ortspunkt bzw. der gleichen Region kovariieren. Für den Osten sind einsilbige Formen dominant, in den übrigen Regionen waren beide Varianten zu finden. Im Süden scheinen zwar die zweisilbigen Formen als die ursprünglicheren vorgeherrscht zu haben, doch geben die entsprechenden Dialektmonographien und der LSA widersprüchliche Informationen.
5.14.3
Kontrastierung mit den Korpusdaten
5.14.3.1
Fragebuchaufnahme
Im erhobenen Sprachmaterial sind ebenfalls beide Varianten zu finden. Die zweisilbige Variante zeichnet sich durch ein deutlich vorhandenes Schwa aus. Die Transkriptionen der älteren Dialektmonographien können damit bestätigt werden. Die Realisationen der Fragebuchaufnahme sind in Tab. 5.14.1 wiedergegeben.
232 Tab. 5.14.1 Varianz der Silbenzahl in (ehemaligen) Trochäen (Fragebuchaufnahme, zweisilbige Realisation = '2', einsilbige Realisation = Ί ' ) Z4 S3 ZI S6 N3 S2 S5 SI S4 Ol N 4 0 5 0 6 0 7 Z4 Z5 Z6 Z3 0 4 N 2 N1 Z2 0 2 froen leien
'fragen' 'liegen'
stoen
'stehen^'
schloen soen soen
'schlagen^/ '(ich) sage' 'sagen,,,,'
2 2 2 2 2
2 2 2 2 2
2 2 2 2 2
iK
2 2 2 2 2
2 2 2 2 2
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2j 1 1 1 1 1
2 2 2 2 1
2 2 2 2 1
2 2 2 2
2 2 2 1 2 2 2 2 1 1
2 2
2 2 2 2 2 1 2 2 2 L·2 JL1 L2 2 1 2 2 1 2 l T 2 2 1 1 22 J 1 1 1 1 1 1
1 1 1
Die Realisationen der Informanten bzw. die Lexeme sind implikativ angeordnet. Ganz links gruppieren sich die Infn, die ausschließlich zweisilbige Formen realisieren. Nach rechts nehmen die einsilbigen Realisationen zu. Die Übersicht zeigt, daß die zweisilbigen Formen überwiegen (65,9%). Die Verben froen 'fragen' und leien 'liegen' werden fast obligatorisch zweisilbig realisiert. Einsilbige Formen weist gehäuft das Verb soen 'sagen' auf. Die Infn des Südens verwenden überwiegend zweisilbige Formen. Für die Infn aus den übrigen Gebieten kann keine bestimmte Präferenz festgestellt werden. Die Infn zeigen hier ein unterschiedliches Verhalten, so daß keine weitere Regionenspezifik angegeben werden kann.
5.14.3.2
Dialektgespräch
Die Häufigkeiten der zweisilbigen Varianten im Dialektgespräch sind in Abb. 5.14.1 getrennt nach Regionen und mit einem Gesamtdurchschnitt (Lux) für das gesamte Sample aufgeführt. Als Vergleichswert ist die Häufigkeit aus der FB-Aufnahme (als Dreieck) beigefügt. Der Gesamtdurchschnitt der zweisilbigen Formen liegt um mehr als die Hälfte (65,9% > 28%) niedriger als in der Fragebuchaufhahme. Mit einem gesamtluxemburgischen Durchschnittswert von nur 28% zweisilbiger Formen dominieren in diesem Aufnahmetyp die Einsilber. Auch in den einzelnen Regionen ist die einsilbige Variante die häufigste. Osten, ZenFragebuch
60
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"03
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Ν
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20
0
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1• •
I I 1
Abb. 5.14.1 Häufigkeit der zweisilbigen Variante im Dialektgespräch (N=285)
233 100 80
S5 RTL S4
S3
06
N4
S2
S1
07 04 Z5 Z4 Sprecherinnen
Z6
Z1
03
N2
Z3
Z2
N1
02
01
Abb. 5.14.2 Häufigkeit der zweisilbigen Variante im Dialektgespräch der einzelnen Infn (N=285)
trum und Norden weisen ungefähr den gleichen Anteil einsilbiger Formen auf. Im Süden dagegen finden sich mit 42% deutlich mehr zweisilbige Formen. Die aus der LS/4-Karte 98 abelsbare Tendenz zum Zweisilber in dieser Region kann damit bestätigt werden. Der Rückgang der zweisilbigen Formen im Vergleich mit der Fragebuchaufhahme ist dem vermehrten Auftreten von Allegroprozessen (Schwatilgung) zuzuschreiben, die im spontanen Gesprächsstil häufiger auftreten als beim kontrollierten Artikulieren der Einzelsätze des Fragebuchs. Es handelt sich dabei um eine Lenierung. Der Eindruck, daß es sich bei der zweisilbigen Variante um ein Merkmal des Südens handelt, wird in der Darstellung der individuellen Häufigkeiten in Abb. 5.14.2 teilweise bestätigt.59 Bei S5, S4 und S3 dominieren Zweisilber mit Werten zwischen 58 und 75%. Doch für S1 und S2 sind wesentlich niedrigere Werte zu verzeichnen. Daß zweisilbige Formen nicht exklusiv im Süden vorkommen zeigt sich auch darin, daß die Nachrichtensprecherin RTL60 sowie 0 5 und N4 relativ viele Zweisilber verwenden. Am anderen Ende des Spektrums finden sich die Infn, die fast ausschließlich Einsilber verwenden. Sie stammen entweder aus dem Zentrum (Z2, Z3) oder dem Osten (Ol, 02). Einheitlichkeit der Variantenverwendung innerhalb der Region kann nicht festgestellt werden, vielmehr können idiolektale Präferenzen für die eine oder die andere Variante entdeckt werden.
5.14.4
Dialektologische und phonologische Diskussion
Aus der quantitativen Verteilung kann geschlossen werden, daß die ursprünglichen zweisilbigen Realisierungen sukzessive abgebaut werden. In diesem Lautwandelprozeß ist eine leichte Regionenspezifik zu erkennen: Im Süden finden sich die meisten zweisilbigen Formen. Hier-
59 60
Es wurden nur Infn mit mehr als 10 Belegen aufgenommen. Daß die Nachrichtensprecherin RTL tendenziell mehr Zweisilber realisiert, hängt auch mit ihrer deutlicheren Artikulation und dem Vorlesestil zusammen
234 bei handelt es sich damit um die ältere Sprachstufe. In den übrigen Regionen ist die Reduktion der Silbenzahl weiter fortgeschritten. Der Lautwandel hat eine natürliche Prozeßbasis (Back 1991). Die einsilbigen Formen entstehen durch einen Allegroprozeß, der den Hiat zwischen Stammvokal und folgendem Schwa beseitigt. Es handelt sich damit um ein postlexikalisches Phänomen mit lenierender Teleologie. Die heute zu beobachtende Variation ist aber darüber hinaus durch einen Natürlichkeitskonflikt zwischen Phonologie und Morphologie gekennzeichnet, in dem universelle Präferenzen der Silben- bzw. Wortstruktur mit Strukturen des morphologischen Systems widerstreiten. Die Morphologie verlangt eine eindeutige Markierung der Infinitivendimg bzw. der Personalendung für die l.Sg. und 1./3.P1. (morphologische Natürlichkeit). Die Verbalendung {-an} wird bei allen Verben mit stammfinalem Konsonanten ausnahmslos realisiert und wird auch in relativ schnellen Sprechtempi nur selten reduziert (5).61 (5)
[pa:kan] [viqkan] [/vornan]
paken winken schwammen
'packen' 'winken' 'schwimmen'
Die zweisilbigen Verben mit Hiat wie go on lassen ebenfalls diese morphologische Explizitheit erkennen. Doch aufgrund von universellen phonologischen Präferenzen gelten gerade diese Formen als 'schlechte' oder unnatürliche Wort- bzw. Silbenstrakturen. Der Vokalzusammenstoß von Stammvokal und Schwa der Endung wird hier nur durch eine geringe phonetisch-phonologische Distanz markiert und stellt keinen deutlichen phonologischen Kontrast dar. Nach Vennemanns (1988: 40ff.) Contact Law sind diejenigen Silbenkontakte universell präferiert, deren Silbengrenzen durch einen hohen Sonoritätsunterschied markiert sind. Dieses Sonoritätsgefalle ist z.B. zwischen stimmlosen Obstruenten und Vokalen gewährt. Umgekehrt sind Strukturen mit geringem Sonoritätsunterschied, z.B. zwischen Sonorant und Vokal oder Vokal und Vokal, dispräferiert und werden im Verlaufe des Sprachwandels oft durch Konsonanteneinschub oder Tilgung eines Vokals abgebaut. Übertragen auf die Varianz der Silbenzahl stehen sich somit phonologische und morphologische Natürlichkeit gegenüber (6). (6)
Morphologische Natürlichkeit σ σ !\ /| /...V/Van/
«-»
Phonologische Natürlichkeit σ /|\ • /...Vn/
Links steht die Form, die der morphologischen Explizitheit Rechnung trägt (=Zweisilber), rechts findet sich die Form, die universellen silben- und natürlich-phonologischen Präferenzen entspricht (=Einsilber). Wie die Durchschnittshäufigkeit von ca. 72% Einsilbern nahelegt, scheint sich im Konflikt der Sprachebenen die phonologische Natürlichkeit durchzuset-
61
Hier weicht das Letzebuergesche deutlich vom StD ab. Durch den tendenziell silbenzählenden Rhythmus kommt es nur selten zu Reduktionen und Assimilationen von unbetonten (Schwa-)Silben. Die im StD fast obligatorischen Assimilationen von auslautendem -n wie in [ζα^ή] sagen oder [ge:bip] geben lassen sich hier kaum feststellen.
235 zen (vgl. Lüdtke 1980). Ähnlich wie die Verben gin 'geben' und hun 'haben' infolge des Konsonantenausfalls zu (einsilbigen) Wurzelverben wurden, nähern sich die Formen der übrigen Verben, die diese Entwicklung aufweisen, ebenfalls der Struktur der Wurzelverben an. Der 'Preis' dieser Entwicklung ist eine Zunahme der Komplexität des morphologischen Systems, denn diese 'unregelmäßigen' Formen verlangen vom Sprecher/Hörer einen höheren Lern- bzw. Dekodierungsaufwand. Vollständiger Ausfall eines intervokalischen Konsonanten ist als die letzte Stufe eines Reduktionsprozesses anzusehen, der auf die von Bruch (1954) konstatierte generelle Instabilität intervokalischer Konsonanten zurückzuführen ist.62 Die Varianz der Silbenzahl kann daher in eine Reihe verwandter, sprachhistorischer Phänomene eingeordnet werden. Es lassen sich drei Kategorien unterscheiden: Assimilation von Konsonantenclustern, Lenierung von Einzelkonsonanten und Assimilation bzw. Ausfall eines intervokalischen Konsonanten. Die beiden ersten Phänomene befinden sich in ganz Luxemburg in einem stabilen Stadium, der letzte Prozeß zeigt postlexikalische Varianz. (7)
Assimilation von ahd. Cluster -ld-nd-nd-
Konsonantenclustern letzebuergesch [melan] meliert [blonan] blonnen [Ιεηυ] Länner
'melden' 'blonden' 'Länder'
In dieser Assimilation hat sich der Plosiv in der Artikulationsart an den vorausgehenden Sonoranten angeglichen. Im Gegensatz zur Varianz der Silbenzahl findet hier keine Veränderung statt: Sie bleibt unverändert. Die Gemeinsamkeit der Entwicklungen liegt in der tendenziellen Auflösung der Silbengrenze. Der historische Nexus aus 'Sonorant + Plosiv' markiert die Silbengrenze infolge des 'festen' Anschlusses besonders deutlich.63 Nach der Assimilation geht die deutliche Silbengrenze zugunsten von Ambisilbizität ('Silbengelenk' bei Vennemann 1982) verloren. Der Einzelkonsonant gehört nun sowohl in die Coda der ersten als auch in den Onset der zweiten Silbe. In (8) wird der Übergang der beiden Strukturen in der Notationsweise der non-linearen Phonologie skizziert. (8)
Übergang von 'festem' AnschluB zu Ambisilbizität σ σ > σ
σ
/ ι \ / ι \ c v c c v c
/ I \ / I \ c v c v c
I I I I I I
I I
I
I I
m e l d a n
mε
I
a η
Dies ist als der erste Schritt zur 'Silbenintegration' der zweiten Silbe anzusehen.64 62
63 64
Auf der Basis von umfangreichem dialektgeographischen Material zeigt Auer (Ms.), daß fast alle deutschen Dialekte Reduktionen der intervokalischen Position aufweisen. Vgl. Trubetzkoy 1939, Vennemann 1991. Die Phonologie der Assimilation des Konsonantenclusters wird beträchtlich komplexer, wenn die entsprechende Verbindung durch morphologische Prozesse in den Auslaut rückt. Teilweise kann dann nämlich der Plosiv wieder auftauchen. Zusätzlich kommt es auch noch zur Gemination des Sonoranten durch den TA2 (vgl. [Ιεηυ] 'Länder' vs. [ΙαηΛ] 'Land', [blonan] 'blonden' vs. [blon:2t] 'blond'). Das Phänomen ähnelt dem finnischen 'Stufenwechsel' (Konsonantengradation), wo abhän-
236 Bei der Lenienmg von Einzelkonsonanten werden ursprüngliche Plosive zu den homorganen Frikativen reduziert (9). Auch dieser Prozeß führt dazu, daß die Silbengrenze aufgelockert wird. (9)
Lenierung von Einzelkonsonanten ahd. Letzebuergesch -b-
dreiwen iwer bleiwen präiwen Uewen Deiwel
-f-
'treiben' 'über' 'bleiben' 'prüfen' Ofen' 'Teufel'
Weiterhin können postlexikalisch variabel intervokalische Einzelkonsonanten getilgt werden. Ahnlich wie bei der Varianz der Silbenzahl können dann zweisilbige Formen mit Hiat entstehen (10). (10) variable ahd. -VrV-VxV-
Tilgung von Konsonanten zweisilbig zweisilbig nicht reduziert reduziert
einsilbig reduziert
[visRan] [fu3R3n]
~ —
[vian] [fuan]
[vi'n]
[raaixan]
~
[ma:an]
[ma:n]
[fiin]
'wären' 'fahren' 'machen'
Diese parellelen Entwicklungen im luxemburgischen Sprachgebiet belegen, daß die Reduktion intervokalischer Laute in eine sprachinterne, historische Entwicklung eingebettet ist.
5.15
9-Koronalisierung
5.15.1 Entwicklung, Verbreitung und Dynamik der Koronalisierung Unter Koronalisierung sei mit Herrgen (1986) die im Mitteldeutschen weitverbreitete Erscheinung der Vorverlagerung der Artikulationsstelle des Frikativs ρ von einer palatalen zu einer mehr alveolar-palatalen, koronalen Konstriktionsposition e verstanden. Ein koronalisiertes ρ besitzt dann eine ähnliche Artikulationsstelle wie / teilt mit diesem aber nicht die Lippenrundung.65 Bei vielen Sprecherinnen z.B. aus dem Rheinland fallen die beiden Laute sogar zusammen ([gRi:Ji/a ga'/ijta] 'griechische Geschichte') oder es kommt zu Hyperkorrekturen ([fiq ist aux flaie] 'Fisch ist auch Fleisch'). Das Merkmal kann kaum kontrolliert werden ('sekundäres Merkmal'), ist somit sprecherlnnenseitig als relativ unbe-
65
gig von der Silben- bzw. Morenstruktur ein Konsonantencluster nach morphologischen Operationen assimiliert wird (vgl. [helziqki] Helsinki 'HelsinkiNom' vs. [helziq:is:e] Helsingissä 'in Helsinki'). Um die Ähnlichkeit von [c] mit [J] hervorzuheben verwendet Herrgen (1986) als Transkriptionssymbol U). Mit Heike (1964: 45) ist es "ein mehr oder weniger stark palatalisiertes [J] (individuell verschieden) und wird mit entrundeten Lippen artikuliert". Das Symbol [c] ist (J] jedoch vorzuziehen, da die vorverlagerte Qualität des Frikativs direkter, d.h. ohne Diakritikum, bezeichnet werden kann.
237 wußt einzustufen. Andererseits kann das Merkmal von nicht-koronalisierenden Sprecherinnen sehr leicht wahrgenommen werden und besitzt damit hörerlnnenseitig einen hohen Salienzgrad. Von der Koronalisierung betroffen sind die Reflexe von ahd. χ ( < verschobenem wgerm. k), ahd. g im In- und Auslaut, ahd. h (auch < J) vor (. Da der Laut an der ich-l adi-Laut-Allophonie teilnimmt, ist der notwendige Kontext ein vorausgehender Palatalvokal. In Luxemburg existiert in intervokalischer Stellung auch eine stimmhafte Variante des koronalisierten Lautes. Die akustische Ausprägung des e ist in den Sonagrammen in Abb. 5.15.1 den Frikativen / und ς gegenübergestellt. Es zeigt sich deutlich, daß e als 'Zwischenlaut' zwischen /und ς zu charakterisieren ist. Er teilt mit /die relativ hohe Intensität über ein weites Frequenzband. Doch setzt dieses Maximum an einem, relativ gesehen, höheren Wert ein. Weiterhin ist bei ς ein kleines, lokales Maximum im unteren Frequenzbereich nicht so deutlich ausgeprägt wie bei f . Der f-Laut seinerseits zeichnet sich durch ein weniger breites Frequenzband aus, auch fehlt ihm das lokale Maximum im unteren Bereich. Der Beginn des Hauptfrequenzbereiches liegt etwas höher als bei