Deutsches Jahrbuch für Volkskunde: Band 15, Teil 1 1969 [Reprint 2021 ed.] 9783112479063, 9783112479056


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Deutsches Jahrbuch für Volkskunde: Band 15, Teil 1 1969 [Reprint 2021 ed.]
 9783112479063, 9783112479056

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DEUTSCHES JAHRBUCH FÜR VOLKSKUNDE Fünfzehnter Band Jahrgang 1969 Teil I

Akademie-Verlag • Berlin

D e u t s c h e s J a h r b u c h für V o l k s k u n d e Herausgegeben vom Institut für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin durch Hermann Strobach Begründet von Wilhelm Fraenger und Wolfgang Steinitz

REDAKTION Dr. Ulrich Bentzien (Abhandlungen) — Dr. W o l f g a n g Jacobeit (Besprechungen) — Dr. Doris Stockmann (Mitteilungen und Berichte) — Dr. Hermann Strobach (Leitung, Abhandlungen) Herta Uhlrich (Bücherschau)

REDAKTIONS BEIRAT Dr. Karl Baumgarten, Rostock — Dr. Gisela Burde-Schneidewind, Berlin — Prof. Dr. Paul Nedo, Berlin — Dr. Reinhard Peesch, Berlin — Dr. Friedrich Sieber, Dresden — Dr. Erich Stockmann, Berlin — Dr. Günther V o i g t , Potsdam — Dr. Rudolf Weinhold, Dresden

INHALTSVERZEICHNIS

ABHANDLUNGEN ELEASAR MELETINSKIJ, Moskau: Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

i

SIEGRIED NEUMANN, Rostock: Volkserzähler unserer Tage in Mecklenburg .

.31

ERNA POMERANCEVA, Moskau: Der Wassermann in der russischen Volksdichtung 5 O GHIZELA SULITEANU, Bukarest: Kommandorufe bei der Forstarbeit RUDOLF QUIETZSCH, Berlin: flegels

66

Zur Verbreitung und Geschichte des Dresch84

Fortsetzung des Inhaltsverzeichnisses auf der 3. Umschlagseite

ABHANDLUNGEN

Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens* V o n ELEASAR MELETINSKIJ

Die 1928 erschienene Morphologie des Märchens von V. J. Propp 1 blieb jahrelang fast unbekannt und wurde zuweilen sogar als formalistisch abgetan. Vielleicht deshalb, weil sie in vielem ihrer Zeit voraus war. Der eigentliche Wert der wissenschaftlichen Entdeckung Propps zeigte sich erst später mit dem Eindringen der Methode der Strukturanalyse in die philologischen und ethnologischen Wissenschaften. Heute ist die Morphologie des Märchens eines der bekanntesten Werke in der gesamten Folkloristik. Sie ist 195 8 in englischer,2 1966 in italienischer Übersetzung erschienen.3 In den 2 0 e r Jahren war das Interesse an Problemen der künstlerischen Formen, darunter auch der des Märchens, stark ausgeprägt, doch nur Propp gelangte in seiner Formanalyse des Märchens bis zur Aufdeckung seiner Struktur. Für ihn war die Morphologie nicht Selbstzweck, er verfolgte keine Darstellung der poetischen Verfahren an sich. Er wollte vielmehr durch Analyse der Genrespezifik des Zaubermärchens eine historische Erklärung für dessen strukturelle Einheit finden. Sein Manuskript, das er damals der Redaktion der Reihe Fragen der Poetik (BonpocH noaTHKH. Hg. vom Staadichen Institut für Geschichte der Künste) vorlegte, umfaßte noch den Versuch einer solchen historischen Erklärung, der dann aber doch nicht in die Endfassung übernommen wurde. Später erweiterte Propp dieses Kapitel zu seinem 1946 erschienenen grundlegenden Werk Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens ( M c T O p m e C K i i e KOpHH BOJimeÖHOii C K a a K l l ) . 4 Bei seiner Analyse der Spezifik des Zaubermärchens ging Propp davon aus, daß einer diachronischen, d. h. historisch-genetischen Analyse eine exakte Synchronbeschreibung vorausgehen muß. Er wollte die konstanten Elemente, d. h. die Invarianten des Zaubermärchens untersuchen, die beim Übergang von einem Sujet zum * Nachwort zur überarbeiteten russischen Neuauflage der Morphologie des Märchens von V. J. Propp, die 1969 im Nauka-Verlag, Moskau, erscheint. 1 V. Ja. Propp, M0p0Ji0rHH CKa3Kii (Morphologie des Märchens). Leningrad 1928 ( = r o c y « a p c T B e H H b i ü HHCTHTyT HCTopHH HCKyccTB. Bonpocw noaTHKH 12) (Staatliches Institut für Geschichte der Künste. Fragen der Poetik). a Ders., Morphology of the Folktale. Edited with an Introduction by Svatava PirkovaJakobson, translated by Laurence Scott. Bloomington 1958 ( = Indiana University Research Center in Anthropology, Folklore and Linguistics 10; = International Journal of American Linguistics 24, 4; = Bibliographical and Special Series of the American Folklore Society 9). 3 Ders., Morfologia della fiaba. Con un intervento die Claude Lévi-Strauss e una replica dell'autore a cura di Gian Bravo. Turin 1966 ( = Nuova biblioteca scientifica Einaudi 13). 1 Ders., M c T o p n H e c K n e KopHH BOJiiueÖHOÄ CKa3KH (Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens). Leningrad 1946. 1

Volkskunde

2

Eleasar Meletinskij

anderen nicht aus dem Blickfeld des Forschers verschwinden. Propps Entdeckung sind eben diese Invarianten und ihre Wechselbeziehungen innerhalb der Märchenkomposition. Sie bilden die Struktur des Zaubermärchens. Vor Propp herrschte die sogenannte atomistische Konzeption. Sie betrachtete als elementare „Monade" der Erzählung entweder das Motiv oder das Sujet als Ganzes. A. N. Veselovskij, 6 den Propp in seinem Buch mit großer Verehrung zitiert, ging vom Motiv aus und betrachtete die Sujets als Motivkombinationen, ihre Wechselbeziehungen stellte er dabei rein zahlenmäßig dar. Den größten Teil wiederkehrender Motive erklärte er als Entlehnungen oder Wandermotive. Später haben Karl Spieß, 6 Friedrich von der Leyen7 u. a. über die Motive als wiederkehrende Märchenelemente gehandelt. Antti Aarne, der Verfasser des internationalen Katalogs der Märchensujets, und die gesamte finnische, d. h. historischgeographische Schule gingen vom Sujet als konstantem Element der Volksdichtung aus. Auch in R. M. Volkovs bekanntem Buch CKa3Ka. Pa3biCKaiiHH no CK)}KeT0CJi0HteHHK) HapoflHOH CK&3KH (Das Märchen. Untersuchungen zum Sujetaufbau des Volksmärchens) erscheint das Sujet als konstantes Element in der Erforschung des Märchens. 8 Auf den ersten Seiten seiner Morphologie des Märchens polemisiert Propp lebhaft mit seinen Vorläufern. Er weist einmal die Unfertigkeit von Motiv und Sujet nach und deutet andererseits auf das Fehlen eindeutiger Kriterien für die Abgrenzung des Sujets, d. h. für eine überzeugende Differenzierung von selbständigen Sujets und Sujetvarianten hin. Nach Propp bestimmen weder das Sujet noch das Motiv trotz ihrer Beständigkeit die spezifische strukturelle Einheit des Zaubermärchens. Es mag zunächst paradox klingen, daß es sich hier um variable Märchenelemente handelt. Man muß aber beachten, daß die Verbindung der Motive innerhalb des Sujets, d. h. genauer ihre bestimmte Anordnung und Verteilung innerhalb eines Sujets selbst von der für das Märchen spezifischen konstanten Kompositionsstruktur abhängen. Bereits Joseph Bedier hatte sich in seiner interessanten Fabeluntersuchung9 mit der Unterscheidung variabler und konstanter Märchenelemente befaßt, doch ist ihm nach Propps Worten keine exakte Differenzierung und Definition dieser Elemente gelungen. Fast gleichzeitig mit Propp hatte A. I. Nikiforov die Aufgaben der strukturell-morphologischen Forschung in einem äußerst instruktiven Aufsatz umrissen.10 6 A . N . Veselovskij, McTOpniecKan noaTHna (Historische Poetik). Red. V . M . Zirmunskij. 2. A u f l . Leningrad 1940; 1. A u f l . siehe A . N . Veselovskij, Coßpamie cohhhbhhü ( G e sammelte Werke) Bd. 2. Sankt-Petersburg 1913. 8 Karl Spieß, D a s deutsche Volksmärchen. Leipzig-Berlin 1924. 7 Friedrich v o n der Leyen, D a s Märchen. 3. A u f l . Leipzig 1925. ' R. M . V o l k o v , Cna3Ka. Pa3hiCKaHHH no eroweTocjiO/KeHHio Hapo^noii cKasKH (Das Märchen. Untersuchungen zum Sujetaufbau des Volksmärchens). Bd. 1. Ukrainischer Staatsverlag 1924.

Joseph Bedier, Les fabliaux. Paris 1893. A . I. N i k i f o r o v , K Bonpocy 0 M0p$0Ji0rHHecK0M H3yneHHH Hapo^HOit cnaaKH (Zur Frage einer morphologischen Erforschung des Volksmärchens). In: CSopuHK CTaTeß b iecTL aKa^eMBKa A . H . CoßoneBCKoro (Festschrift für A . I. Sobolevskij) (Leningrad 1928) 172-178. 9

10

3

Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

E r faßte seine interessanten Beobachtungen z u einigen morphologischen Gesetzen zusammen und unterschied: 1. das Gesetz der W i e d e r h o l u n g dynamischer Märchenelemente z u m der V e r z ö g e r u n g oder V e r z w e i g u n g seines allgemeinen Verlaufs,

Zwecke

2. das Gesetz des kompositionellen Mittelpunkts (Märchen k ö n n e n einen oder z w e i Helden aufweisen, die entweder gleichberechtigt oder nicht gleichberechtigt sind), 3. das Gesetz der kategorischen b z w . grammatischen Gestaltung der H a n d l u n g . E r schlägt v o r , die einzelnen Märchenhandlungen nach dem V o r b i l d der W o r t b i l d u n g z u analysieren. N a c h seinen Feststellungen lassen sich f o l g e n d e A k t i o n e n unterscheiden : 1. präfigierte (npe Empfänger Gegner Die Gestalt des Überbringers vereinigt in sich Propps Sender und Vater der Zarentochter, in die Gestalt des Helfers gehen der Übernatürliche Helfer und der Schenker ein. Im Märchen ist der Empfänger irgendwie mit dem Helden verknüpft, der gleichzeitig Subjekt ist. Objekt ist die Zarentochter. Helfer und Gegner zählt Greimas zu den sekundären Personen, die mit bestimmten Umständen verknüpft sind. Sie übertragen den Willen des Subjekts zur Handlung. Der Opposition Überbringer — Empfänger entspricht nach Greimas die Modalität des Verbs wissen, dem Paar Helfer — Gegner die Modalität des Verbs können und dem Gegensatz Subjekt — Objekt die Modalität des Verbs wollen. Der Wunsch des Helden nach dem Objekt wird auf der Ebene von Funktionen in der Kategorie der Nachforschungen (quest) verwirklicht. Was die syntagmatischen Funktionen betrifft, so reduziert Greimas sie von 31 auf 20 zugunsten einer paarweisen Verknüpfung. Hier stützt er sich auf Propps binäre Funktionen. Dabei hält er jedes Paar nicht allein durch die Implikation verknüpft, d. h., dadurch, daß eine Funktion die Entstehung einer anderen in der syntagmatischen Reihe nach sich zieht (s non s), sondern auch durch die Disjunktion (s vs non s) als eine gewisse paradigmatische Relation, die unabhängig ist vom Verlauf der Sujetentwicklung und von der linearen syntagmatischen Reihenfolge. Diese paarweisen Funktionen, durch Großbuchstaben gekennzeichnet, versucht Greimas wiederum als semantische Korrelation zweier Paare, eines negativen und eines positiven, darzustellen: s

§

V* - =

oder

S vs S

Die negative Serie dieser Doppelfunktionen verbindet Greimas syntagmatisch mit dem Anfang eines Märchens (Konzentration des Unglücks — Verlust), die positive dagegen mit dem Schlußteil (Beseitigung des Fehlelements — Belohnung des Helden). Der Beginn des Konflikts und seine Lösung, die am Anfang bzw. Ende dieser beiden Serien stehen, werden gewissermaßen als Verletzung eines Vertrages, was zu dem großen Unglück führt, bzw. als Restaurierung eines Vertrages aufgefaßt. Den Mittelteil eines Märchens bilden eine Reihe von Proben. Jede einzelne beginnt ihrerseits mit einem Vertragsabschluß für die bevorstehende Probe. Sie schließt ebenfalls den Kampf mit dem Gegner und die Folgen, die sich aus dem Sieg der Helden ergeben, ein. Greimas konstatiert eine gewisse Kongruenz zwischen der Struktur der Probe und dem Strukturmodell der handelnden Personen. Der

15

Z u r strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

Grundkommunikation Überbringer — Empfänger entspricht der „Vertrag", auf der Ebene Helfer — Gegner ist es der „Kampf", und gleichermaßen decken sich Erwerb des Wunschobjekts — Folge der Probe. In der ersten Probe (Qualifikation des Helden für die entscheidenden Proben) tritt der Überbringer als Gegner auf, in der zweiten, der Hauptprobe, und in der dritten, die den Sieg bringt, läßt sich eine völlige Kongruenz von Funktionen und Handlungsträgern feststellen. Auf die drei Ebenen (Übergabe von Nachricht, Kraft, Wunschobjekt) verteilen sich auch die restlichen Funktionen. Schließlich präzisiert Greimas das Schema der lokalen Verlagerung des Helden. Für Fortgang und Ankunft formuliert er An- bzw. A b wesenheit des Helden, wobei er davon ausgeht, daß der Begriff Abwesenheit einen bestimmten mythologischen Sinn hat. Entsprechend den hier angeführten Prinzipien formt Greimas Propps Schema folgendermaßen um: p A Ct C2 C3p (Aa + F3

non

At p (A2 -f- F2 + non c 2 ) d non p, (F x + cj + non c3) non pt d Fl c i)

pt

C 2 C3 A (non c3)

A =

Vertrag (Befehl-Annahme)

p =

Anwesenheit

F

=

Kampf (Angriff — Sieg)

d =

rasche Verlagerung

C

=

Mitteilung (Absendung — Erhalt)

Die Verletzung eines Vertrages (zu Beginn des Konflikts) A besteht aus der paarweisen Funktion Verbot — Verletzung eines Verbots (ö ys non d), die in Korrelation steht zu der Funktion Abschluß eines Vertrages A

(Befehl —

Annahme

a vs non a). Die Hochzeit löst endgültig den Konflikt und stellt den ursprünglichen Vertrag wieder her (der Überbringer gibt dem Empfänger, d. h. dem Subjekt, das Wunschobjekt). Die Symbole haben folgende Bedeutung: Ax

Tätigkeit eines Vermittlers — Einsetzen der Gegenhandlung

A2

erste Funktion des Schenkers — Reaktion des Helden

A3

dem Helden wird in der letzten Probe eine Aufgabe übertragen. Die negative Serie C 1 C 2 C 3 zu Beginn des Schemas hat folgende Bedeutung: Er-

kundung — Herausgabe, hinterlistige Falle — Mithilfe, Tätigkeit eines Schädlings — Fehlelement; sie verteilt sich auf die Koordinaten: N a c h r i c h t , d. h. Frage — Antwort (i), K r a f t (2, es handelt sich hier sozusagen um den Verlust der Heldenkraft) und W u n s c h o b j e k t (3, der Erwerb der Zarentochter bildet die Aufhebung des Fehlelements). Die positive Serie bilden die Glieder Clt C2, C3. Kennzeichnung — Erkennen stehen in Korrelation zu dem Paar Erkundung — Herausgabe als Form einer Mitteilung (C1 vs C^). Entlarvung — Transfiguration als Offenbarung der Kräfte des Helden stehen in Gegensatz zu hinterlistige Falle — Mithilfe (C2 es C 2 ). Außerdem steht der Erwerb des Zaubergegenstands in Gegensatz zu dem Verlust der Heldenkraft, ausgedrückt durch die Funktion Mithilfe (non c2 vs nonc 2 ). Der Tätigkeit eines Schädlings entspricht auf der positiven Seite Bestrafung eines Schädlings; das Fehlelement wird nicht nur durch direkte Liquidierung aufgehoben, sondern auch durch die Hochzeit, die den Helden entschädigt (C3 vs C3). Greimas berücksichtigt, daß alle Folgen der Proben (Erwerb des Zaubergegenstands non C 2 , Aufheben des Fehlelements non C3 und Identifizierung non C 2 )

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ELEASAR M E L E T I N S K I J

und damit diese Proben selbst auf die Überwindung der schadenbringenden Folgen einer „Entfremdung" abzielen. Hauptresultat der beschriebenen Reduzierung der Funktionen ist für Greimas die Konstatierung der paradigmatischen Struktur sowie einer möglichen Doppelanalyse nach Sememen und semantischer Bedeutung, die zu zwei Bedeutungsebenen führt. Darüber hinaus versucht er (mit Hilfe der Strukturanalyse syntagmatisch und paradigmatisch zugleich auf der Basis der Korrelationsmethode und Mediationstheorie von Lévi-Strauss) in das Wesen des Zaubermärchens insgesamt und in seine allgemeine Bedeutung einzudringen. Syntagmatisch steht die Anfangsserie A C in Korrelation zu der Schlußserie C A : In einer Welt ohne Gesetz und Vertrag = A sind die Werte C negativ, ihre positive Umwandlung öffnet den Weg zur Restaurierung des Gesetzes. Achronisch ist auch die Korrelation A : A ~ C :C möglich, sie bedeutet, daß Fehlen und Vorhandensein eines gesellschaftlichen Vertrages sich zueinander verhalten wie Fehlen und Vorhandensein der entsprechenden Werte. Nach Greimas drückt der rechte Teil der Formel die individuelle Sphäre des Austausches der Werte aus, d. h. Alternative des enteigneten Menschen und desjenigen, der über alle Werte verfügt; der linke Teil dagegen kennzeichnet nicht nur die gesetzliche Ordnung einer Gesellschaft, sondern postuliert auch die Existenz der persönlichen Freiheit, die sich in der Verletzung des Verbots widerspiegelt. Man kann also eine Doppelkorrelation zwischen Freiheit der Persönlichkeit und Einführung einer Ordnung feststellen. Die Restaurierung dieser Ordnung ist Voraussetzung für die Reintegration der Werte. Die Funktionen Probe — Kampf sind für Greimas nicht nur syntagmatische Bindeglieder zwischen A C und C A, sondern auch vermittelnde Faktoren, die die Struktur : ä c ~ — non a non c

, , umwandeln zu

a non a

~

c non c

Durch die Probe werden die negativen Glieder aufgehoben und durch die entsprechenden ersetzt. Sie ist funktionaler, dynamischer und anthropomorpher Ausdruck einer komplizierten Bedeutungsstruktur mit negativen und positiven Elementen. Der vermittelnde Charakter äußert sich auch im Fehlen eines entsprechenden Funktionspaares. Die Handlungen des Helden im Verlauf der Probe sind variabel, nicht vorbestimmt, sie schließen die Alternative zwischen zwei Wegen und deren Irreversibilität ein. Das sind Züge, die die historische Tätigkeit des Menschen bestimmen. Dementsprechend fehlt die Implikationsverbindung zwischen A und F, sie lassen sich nur durch das Resultat der Probe verbinden. So zeigt sich die vermittelnde Rolle des Märchens insgesamt. Es löst die Widersprüche zwischen Struktur und Handlungen, Kontinuität und Geschichte, Gesellschaft und Individuum. Anhand von Beispielen aus den Mythen der Bororo-Indianer, die er aus dem Buch Lévi-Strauss Le cruit et le cuit (1964) übernommen hat, versucht Greimas bei der Mythenanalyse durch seine Interpretation der Prinzipien für eine Märchenanalyse nach Propp nicht nur die Paradigmatik, sondern auch die Syntagmatik des Mythos aufzudecken. E r geht aus v o n dem obligatorischen Negativum der ersten Hälfte des Märchens und dem Positivum der zweiten (Dichotomie der zeitlichen Ausdehnung der Erzählung in die

Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

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Bereiche vor — nach). In der ersten Hälfte geht dem Hauptthema ein Einleitungsteil voran, in der zweiten steht der Schlußteil mit dem Hauptteil in Korrelation. Beide Teile bleiben aber außerhalb des Hauptthemas. Greimas unterscheidet drei Kategorien der Erzählfunktionen: vertragliche (contractuelle), aktive (performancielle; d. s. Proben), trennende (disjonctive; d. s. Auszug und Rückkehr). Außerdem schlägt er vor, zwei Erzählarten zu differenzieren, nämlich die betrügerische und die wahre. Nach Propps Vorbild vergleicht er die mehr oder minder selbständigen Fragmente der Erzählung mit Funktionen und der Verteilung der Rollen auf die einzelnen Personen innerhalb einer Episode. Dadurch kann er den Mechanismus des Rollenwechsels ein und derselben Person verfolgen, was für das Verständnis des allgemeinen Sinns eines Sujets sehr wesentlich ist. Zum Beispiel wird in dem analysierten Mythos der Bororo-Indianer der Sohn, der einen Inzest begangen und den Zorn des Vaters auf sich gezogen hat, am Schluß zu einem positiven Helden, und sein Racheakt gegen den Vater für die Verfolgungen ruft Mitgefühl hervor. Greimas behandelt diesen Prozeß als eine Umkehrung der Reihenfolge der vertraglichen Funktionen (Störung des Vertrages, Bruch, Existenz eines neuen Vertrages, d. h. einer neuen Phase des Spiels der Zu- und Absagen) und als Vertauschung der Rollen zwischen Vater und Sohn als Ergebnis einer Doppeltransformation: während der Vater vom Überbringer und Subjekt zum Empfänger und Schädling wird, durchläuft der Sohn die umgekehrte Entwicklung.

Die entscheidende theoretische Leistung Greimas' besteht in der Deutung dieser Wechselbeziehungen und der gegenseitigen Verflechtung der diskursiven und strukturellen Isotopien, d. h. Vergleich der zahlreichen diachronischen Elemente der Erzählung mit bestimmten Transformationen wesentlichen Inhalts. Zur Aufdeckung der wesentlichen Einheiten des Inhalts werden ein mythisches Wörterbuch und eine Reihe kulturell-ethnographischer Codes (auf die Natur, Nahrung oder das Geschlechtsleben bezogen) benutzt, zwischen denen sich wiederum komplizierte Korrelationen herstellen lassen. Dabei zeigen sich Übergangselemente in der Charakteristik der Helden entsprechend ihrer Vermittlerrolle zwischen mythologischen Gegensätzen, d. h. letztlich zwischen den Bereichen Tod — Leben (nach Lévi-Strauss). Auf diese Seite der Analyse bei Greimas kann hier nicht weiter eingegangen werden. Greimas' Untersuchungen sind sehr interessant. Begrüßenswert ist sein Bemühen, paradigmatische Beziehungen zwischen den syntagmatischen Funktionen herzustellen, gewisse Funktionstypen und -gruppen zu definieren und die Analyse der Syntagmatik konsequent mit der dynamischen Umverteilung der Rollen auf die konkreten Märchengestalten und der Entwicklung der Werte des Märchens zu verbinden. Ihm ist es gelungen, die Schlüsselposition der Proben im Märchen als Mittel zur Lösung des Konflikts durch Transformation einer negativen Situation in eine positive exakt zu bestimmen. Allerdings erreicht er seine logische „Vertiefung" der Theorie von Propp und die logische Konsequenz selbst auf Kosten einiger deutlicher Übertreibungen. Seine Theorie ist auch nicht frei von scholastischen Zügen. Das liegt größtenteils daran, daß er seine Untersuchungen losgelöst von konkretem Folklore-Material anstellt. Er operiert mit Propps Funktionen als Ausgangsfaktoren ohne Rücksicht auf den zu interpretierenden Stoff. Ist es z. B. möglich, den Erwerb des Zaubergegenstandes als ein entsprechendes Paar zu der Mithilfe des Helden für den Schädling anzusehen? Diese Mithilfe ist eine ganz natürliche Reaktion auf die hinterlistige Falle und entspricht den Verhaltensregeln des Helden, nicht aber den Handlungen zum Erwerb von „Werten" im Märchen. •1 Vo!fe)::fx(b)-fa-i(j/), die sie durch eine einfachere Parallel-Formel ersetzen: QS:QR::FS:FR, in der QS (Quasi-Lösung) und QR (Quasi-Resultat) die Ausgangssituation und ihre direkten Folgen bezeichnen, F S (endgültige Lösung) ist der Wendepunkt und mit der Tätigkeit eines Vermittlers verbunden, F R bezeichnet das endgültige Ergebnis. Köngäs und Maranda kamen zu dem Schluß, daß die Formel von Lévi-Strauss nicht nur auf Mythen, sondern auch auf andere ganz unterschiedliche Gattungen der Volksdichtung übertragbar sei. Doch sei ihr Anwendungsbereich andererseits insofern begrenzt, als nämlich der Vermittler manchmal ganz fehlen (Modell i) oder erfolglos bleiben kann (Modell 2); selbst im Falle seines Erfolges kann der Konflikt zu Beginn der Erzählung manchmal ganz einfach annulliert werden (Modell 3), ohne Umkehrung in sein Gegenteil, wie es die Formel von Lévi-Strauss verlangt (Modell 4). Köngäs und Maranda zeigen, daß sich die Modelle 3 und 4 von den beiden ersten grundsätzlich dadurch unterscheiden, daß hier eine dreidimensionale Struktur, die einen Vermittler verlangt, nicht nur die Korrelation der einzelnen Beziehungen, sondern auch die Korrelation der Korrelationen einschließt. Als Beispiel führen sie Mythen, Anekdoten, Legenden und sogar lyrische Lieder sowie Sprüche und Sprichwörter an, es fehlen leider nur die Zaubermärchen. Grundmethode zur Aufdeckung der Struktur ist für beide Wissenschaftler die Erforschung der primären Oppositionen und des endgültigen Ausgangs. Im Genre der Erzählung wird nach ihrer Auffassung der ursprüngliche Konflikt im Verlaufe der Erzählung von selbst gelöst, in den lyrischen Genres bleibt er offen und im Ritual wird er durch Mithilfe eines „Überbringers" und „Empfängers" entschieden. Der vermittelnde Faktor, der in den lyrischen Genres völlig fehlt, liegt in der Erzählung im Sujet selbst begründet, im Ritual dagegen wird er außerhalb des Sujets mit Hilfe der äußeren Handlung aufgedeckt. In weiteren Arbeiten haben Köngäs und Maranda36 die auffällige Verbreitung des Modells 4 in der europäischen Folklore und der Modelle 1, 2, 3 in archaischen Gesellschaftsformationen aufgezeigt. Das Ergebnis ist aufschlußreich, denn es deutet — obgleich diese Konsequenz vielleicht gar nicht in der Absicht der Verfasser lag — auf die historischen Grenzen des komplizierten Strukturmodells 4 hin, das der Formel von Lévi-Strauss entspricht. Eine sehr wichtige Untersuchung zur Strukturanalyse des Märchens selbst ist Alan Dundes' Buch The Morphology of North American Indiati Folktales.37 Bereits früher hatte er sich in seiner Dissertation und in mehreren Aufsätzen38 mit diesen Problemen befaßt. Während Köngäs und Maranda lediglich versuchten, die be36

E . Maranda, What does a myth tell about society. Cambridge ( U S A ) 1966; dies., T w o Tales of Orphans. Cambridge ( U S A ) 1966; P. Maranda, Computors in the Bush. Tools for the Automatic Analysis of Myths. In: Proceedings of the Annual Meetings of the American Ethnological Society (Philadalphia 1966). 37 Alan Dundes, The Morphology of North American Indian Folktales. F F C 195, Helsinki 1964. 34 Alan Dundes, The Binary Structure of „Unsuccessful Repetition" in Lithuanian Folktales. Western Folklore 21 (1962) 1 6 5 — 1 7 4 ; ders., From Etic to Emic Units in the Structural Study of Folktales. Journal of American Folklore 75 (1962) 95 — 105.

Z u r strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

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grenzte Anwendungsmöglichkeit der Formel von Lévi-Strauss aufzudecken, sie zu vereinfachen und zu präzisieren, nimmt Dundes in diesem Punkt eine sehr kritische Haltung ein. Er wirft Lévi-Strauss vor, daß er in die morphologische Struktur einerseits die Personen (z. B. Schelm und Vermittler, dasselbe kritisiert er an Maranda) und andererseits rein linguistische Elemente mit einzubeziehen suche. Dundes betont, daß ein Mythos durchaus von einer natürlichen Sprache in eine andere übersetzbar sei (darauf hatte bereits Fisher hingewiesen) und sich nicht nur durch Wortsprachen, sondern auch durch andere Sprachen, z. B. Malerei, Mimik usw., ausdrücken lasse. Es bestehe kein Grund, die Methoden der strukturalistischen Linguistik wortwörtlich auf die Folkloristik zu übertragen. Er spricht sich außerdem gegen eine Überbetonung verwandter Modelle sowie gegen Lévi-Strauss' Methode aus, nicht die Struktur konkreter Mythen, sondern der B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Varianten und Mythen zu analysieren. Dundes' ausgesprochen kritische Haltung gegen Lévi-Strauss ist nur teilweise berechtigt, denn sie zeigt trotz aller zweifellos sehr tiefgründigen und fruchtbringenden Grundideen eine gewisse Unexaktheit und Verschwommenheit in Fragen der paradigmatischen Analyse. Er scheint den Qualitätsunterschied zwischen Märchen und Mythos richtig zu erkennen (Gegensatz kollektiv — individuell; vgl. hierzu E. Meletinskij, np0HC30?K^enne repoHraecKoro snoca [Ursprung des Heldenepos]. Moskau 1963, 24). Denn gerade hierin und nicht in der Struktur selbst liegt der grundlegende Unterschied zwischen Mythos und Märchen (im Mythos handelt es sich um kosmische Fehlelemente). Dundes imponiert die überzeugende Klarheit und Richtigkeit der syntagmatischen Analyse bei Propp, und er tritt bewußt als direkter Nachfolger Propps auf. Er ergänzt ihn unwesentlich durch Pikes Auffassung vom sprachlichen und nichtsprachlichen Verhalten. Von Pike hat er praktisch auch die Terminologie übernommen: Gegenüberstellung des Etischen, d. h. der zu klassifizierenden Elemente, und des Emischen, d. h. der strukturellen Gliederung; 38 ® Verwendung des Terminus Motivem im Sinne einer emischen Einheit statt des Begriffes Funktion bei Propp. Theodore Sterne bezeichnet in seiner Rezension zu Dundes' Buch diesen als Epigonen Propps und kritisiert (im Sinne von Lévi-Strauss und Melville Jacobs) die Unterschätzung des kulturellen Kontextes, den abstrakten Charakter der Untersuchung und die mangelnde Berücksichtigung der handelnden Personen.39 Ebenso wie Propp sieht Dundes in den paarweisen Funktionen die Grundreihenfolge der Motiveme (d. h. Funktionen) : Fehlelement (Lack — L) — Aufheben des Fehlelements (Lack Liquidated — LL). Es gibt bei den amerikanischen Indianern Märchen, die sich im Gegensatz zu den europäischen auf diese einfache Struktur reduzieren lassen. Zwar treten auch hier zwischen diese beiden Grundfunktionen häufig andere, paarweise angeordnete Funktionen, die uns speziell aus Propps Buch bekannt sind, wie z. B. Verbot — Verletzung eines Verbots (Interdiction — Violation), Betrug — Mithilfe (Deceit — Deception) und Schwere Aufgabe — Lösung der schweren Aufgabe (Task — Task Accomplished). Dundes führt noch zwei 3sa Y g i j ) Stockmann, Elektronische Datenverarbeitung in der Ethnologie und den ihr nahestehenden Wissenschaften. D J b f V k 15 (1969) 1 5 7 f f . 39

American Anthropologist 68, 3 (1966) 7 8 1 — 7 8 2 .

24

ELEASAR MELETINSKIJ

weitere Funktionen ein: „Folgen der Verletzung des Verbots" (Consequence) und „Versuch, dem Unglück zu entrinnen" (Attempt to Escape). Diese beiden Funktionen sind nicht unbedingt nötig, denn man kann sie in den meisten Fällen als Fehlelement und Aufheben des Fehlelements interpretieren. Dundes definiert und analysiert einige typische Funktionsreihen und gruppiert die Märchen entsprechend. Er weist nach, daß die komplizierteren Märchen bei den Indianern Kombinationen einfacherer Reihen darstellen und führt z. B. folgende Serien an: L-LL, ViolConseq, L-T-TA-LL, L-Dec-Dcpn-LL, Int-Viol-L-LL, Int-Viol-Conseq-AE, L-LLInt-Viol-Conseq, L-T-TA-LL-Int-Viol-Conseq-AE usw. Die Motiveme T/TA, Int/Viol, Dec/Dcpn alternieren im Prinzip in Märchen und Mythen der nordamerikanischen Indianer. Int/Viol und T/A betrachtet Dundes als dem Helden vorgeschriebene Formen, die sich nach ihren Distributionsmerkmalen unterscheiden („schwere Aufgabe" steht immer zwischen dem Fehlelement und seiner Liquidierung, die Verletzung des Verbots geht entweder dem Fehlelement voraus oder folgt auf seine Beseitigung). Von gewissem Interesse ist der Vergleich von Märchen und Volksglauben, z. B. die Gegenüberstellung der Reihenfolge IntViol-Conseq-AE mit dem System: Bedingung — Resultat — Reaktion. Dundes stützt sich zwar auf dieselbe Methodik wie Propp, kommt aber zu anderen, viel einfacheren Schemata. Das ist augenscheinlich eine Folge des archaischen Charakters der Folklore der nordamerikanischen Indianer. Dundes beachtet ebensowenig die mannigfaltigen Spielarten des Zaubermärchens wie seinen Unterschied zum Mythos, was insbesondere wieder auf spezifische Merkmale seines Materials hinweist, nämlich dessen genremäßigen Synkretismus. Eine Gegenüberstellung des Schemas von Propp und Dundes ist daher sehr wertvoll für die Lösung der Aufgaben einer historischen Poetik. Auch aus Australien sind interessante Arbeiten zur Strukturanalyse von Mythen und Märchen bekannt, die sich eng an die amerikanische Forschung anlehnen. Von einigen Versuchen zur Paradigmatisierung des Sujets unter dem Aspekte der Kultur„modelle" abgesehen,40 verdient eine in der Zeitschrift Oceania veröffentlichte Artikelserie von E. Stanner unter dem Titel On Aboriginal Religion Beachtung. 41 Diese Untersuchung zur Semiotik der Kultur des australischen Volksstammes der Murinbata enthält eine präzise vergleichende Analyse der sujetmäßigen Paradigmatik von Mythen und Riten, d. h. der durch Wort, Pantomime und Malerei dargestellten Texte. Durch den überzeugenden Nachweis der prinzipiellen Strukturidentität von Mythen und Bräuchen einschließlich jener Mythen, die kein Äquivalent im Brauchtum haben und umgekehrt, gelingt es Stanner, einige wichtige paradigmatische Relationen in der Symbolsprache der Mythen der Murinbata aufzudecken. Einige seiner Schlußfolgerungen zeigen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Thesen aus Propps Buch Die 40 Catherine H. Berndt, T h e Ghost Husband and the Individual in N e w Guinea Myth. In: Anthropological Looks at Myth (Austin-London 1966) 2 4 4 — 2 7 7 . 41 W . E . H . Stanner, On Aboriginal Religion. Oceania 3 0 — 5 5 (1960 — 1 9 6 3 ) ; auch in: The Oceania Monographs 1 1 (1966); vgl. den Aufsatz von B. L . Ogibenin, K Bonpocy o SHANEHHH B H 3 H K e 11 HGKOTOPHX npyrHX Mo;jejinpy lomux CHGTCMSIX (Zur Frage der Bedeutung in der Sprache und einigen anderen modellierenden Systemen). In: TpyRbi no 3HaK0BMM CHCTeMaM (Arbeiten zu Zeichensystemen) 2 (Tartu 1965) 49 — 59.

Z u r strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

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historischen Wurzeln des Zaubermärchens, von dem er sicher keine Kenntnis hatte (thematische und strukturelle Verwandtschaft der Mythen mit den Initiationsbräuchen). Leider kann diese Frage hier nicht näher behandelt werden. In den letzten Jahren ist das Interesse an Propps Morphologie des Märchens auch in der Sowjetunion gestiegen. Im Jahre 1965 wurde diese Untersuchung auf einer wissenschaftlichen Konferenz anläßlich des 70. Geburtstages von V. Ja. Propp durch V. M. 2irmunskij und P. N. Berkov sehr gewürdigt. Auch der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes hielt einen Vortrag zu diesem Thema. Doch war das ständig wachsende Interesse an diesem Buch im In- und Ausland vor allem durch die Entwicklung der strukturalistischen Linguistik und Semiotik bedingt. Propps Name als Verfasser der Morphologie des Märchens und der Historischen Wurzeln des Zaubermärchens wurde häufig in Zusammenhang mit Lévi-Strauss auf Symposien zur Semiotik und in Untersuchungen zum sekundären Modellsystem erwähnt. Abgesehen von zahlreichen Arbeiten zur allgemeinen Semiotik auf dem Gebiet der Mythologie (V. V. Ivanov, V. N. Toporov, D. M. Segal, A. M. Pjatigorskij, Ju. M. Lotman, B. L. Ogibenin u. a.) und zur Sujetgestaltung in literarischen Werken (V. F. Egorov, Ju. K. Sceglov) sowie Strukturuntersuchungen anderer Genres der Folklore, die nicht zur Gattung des Märchens gehören (z. B. Arbeiten zum Volkstheater von P. G. Bogatyrev, zur Ballade von V. N. Toporov, zur Byline von S. Ju. Nekljudov, zum Zauberspruch von I. A. Öernov und M. V. Arapov, zum Sprichwort von G. L. Permjakov), ist die Zahl der Aufsätze und Veröffentlichungen unmittelbar zu diesem Thema noch sehr gering. Segais O I I H T C T p y K T y p H o r o o n n c a H H H MHH0Ä CTpyKTypott (Die Beziehung der Semantik eines Textes zu seiner formalen Struktur). In: Poetyka-Poetics (Warschau 1966) 1 5 — 4 4 . 43 V . V . Ivanov u. V . M . Toporov, K peKOHCTpyKijHH npacjiaBHHCKoro TencTa ( Z u r Rekonstruktion eines urslawischen Textes). In: y MeJKflyHapoRHHft cieajj cjiaBucTOB. CnaBHHCKoe H3biK03HaHHe. JJoKjiaAH coßeTCKoit jjejieraiiHH (5. Internationaler Slawistenkongreß. Slawische Sprachwissenschaft. Beiträge der sowjetischen Delegation) (Moskau 1963) 88 — 1 5 8 ; CjiaBHHCKHB natiKOBbie MOJtejinpyiomHe ceMiioTHMecKiie cncTeMH (Modellierende semiotische Systeme in slawischen Sprachen). Moskau 1965 und andere Arbeiten.

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E l e a s a r Meletinskij

Beide Autoren verbinden nach Propps Vorbild die Funktionsanalyse mit der Erforschung elementarer semantischer Oppositionen, die im Mythos eine große Rolle spielen und für deren Fixierung sie ebenfalls bestimmte Symbole vorschlagen. S . D . Serebrjanyj versucht in seinem Beitrag, 4 4 Propps Formel in einigen Punkten zu korrigieren, indem er, wie er meint, v o n einer exakteren Forminterpretation des Materials ausgeht. E r schlägt vor, die Funktion B als Kopula, die Funktion K als Motivierung, T als reines Begleitmoment der einzelnen Funktionen zu betrachten. E r glaubt, das ganze Märchen in drei Hauptmomente einteilen zu können: i. Wirken eines Schädlings zu Beginn, woraus das Märchen entsteht A , (,H, E - 3 , Up ® ) ; 2. entsprechende Reaktion der Helden ( r , P-II); 3. glücklicher Ausgang, Wiederherstellung der zeitweilig gestörten Ordnung der Dinge (JI, Cn, Y , 0 H , C), dazwischen gibt es gewisse Verschiebungen. Nach Serebrjanyjs Auffassung entsteht ein Märchen durch Ausbau dieses dreigliedrigen Schemas. Zum Schluß sollen hier kurz einige Gedanken zu einer eventuellen weiteren morphologischen Interpretation des Zaubermärchens auf der Grundlage der Prinzipien von Propp 4 5 berührt werden. Zusätzliche Verbindungen zwischen Propps Funktionen, ihr einheitlicher Charakter sowohl syntagmatisch als auch speziell semantisch zeigen sich bei der Analyse der abstrakteren E b e n e g r o ß e r s y n t a g m a t i s c h e r E i n h e i t e n . Solche Einheiten sind die verschiedenen Formen der P r o b e n und die als Ergebnis dieser Probe vom Helden e r w o r b e n e n M ä r c h e n w e r t e . Der Rhythmus von Verlust und Erwerb verbindet das Zaubermärchen mit dem Mythos und anderen Gattungen der Volkserzählung. Eine ähnliche Schlüsselstellung wie die Proben (nach ihrer Distribution) haben im Mythos die kosmogonischen und „kulturellen" Taten der Demiurgen, im Tiermärchen die Kunststücke der tricksters (Schelme), in den novellistischen Märchen die besonderen Formen der Proben, die zur Lösung des individuellen dramatisierten Konflikts führen. Für die klassische Form des Zaubermärchens ist die doppelte Opposition zwischen Vor- und Hauptproben spezifisch, und zwar 1. nach dem Ergebnis (im ersten Falle handelt es sich nur um den für die Hauptprobe nötigen Zaubergegenstand, im zweiten um die Erreichung des Hauptziels), 2. nach dem eigentlichen Charakter der Prüfung (Prüfstein für richtiges V e r h a l t e n und die Heldentat). In der archaischen synkretistischen Volksdichtung kann diese Opposition entweder fehlen oder irrelevant sein, im Zaubermärchen dagegen liegt sie in der semantischen Struktur selbst begründet und ist daher unvermeidbar. Neben der Vorprobe (e) und der Hauptprobe ( £ ) gibt es im Zaubermärchen häufig noch einige zusätz44 S. D. Serebrjanyj, MHTepnpeTaqiiH „(fiopMyjiu" B. fl. riponna (Deutung der „Formel" von V. Ja. Propp). In: Te3HCH ROKJiaAOB bo BTopoft jieTHiiit niKOJie no btophhhhm MoaejiHpywiHHM CHCT6M3LM (Vortragsthesen zur 2. Sommerschule zu den sekundären modellierenden Systemen) (Tartu 1966) 92. 45 E. M. Meletinskij, O CTpyKTypn0-M0p0Ji0rnwecK0M ananiwe CKasitii (Zur strukturellmorphologischen Analyse des Märchens). Ebda 37; E. M. Meletinskij, S. Ju. Nekljudov, E. S. Novik, D. M. Segal, K nocTpoeHHio MOReJiH BOJimeÖHOtt CKEi3KH (ZumBau eines Modells des Zaubermärchens). In: Te3HCHflOKJiaflOBb TpoTbeö jieTiieit uiKOJie no BTopimiruM Mo^enHpyiomHM CHCTeMaM (Vortragsthesen zur 3. Sommerschule zu den sekundären modellierenden Systemen) (Tartu 1968) 165—177.

Zur strukturell-typologischen Erforschung des Volksmärchens

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liehe Proben ( £ ' ) zur Identifizierung des Helden. Außerdem können die Aktionen des Gegners bzw. des Helden selbst (Verletzung eines Verbots, Locken in die Falle), die zum Unglück und Fehlelement führen, gewissermaßen als Proben mit umgekehrtem Vorzeichen klassifiziert werden ([E). Bezeichnet man analog den Verlust bzw. das Fehlelement mit l, den Zaubergegenstand, den der Held nach der Vorprüfung vom Schenker erhält (Zaubergegenstand, Helfer, Rat) mit X, die Liquidierung des Fehlelements als Folge der Hauptprobe mit l, dann gelangt man zu folgender Formel: El---EX---

El---

E' V ,

wobei E = f(X), aE' = f ( l ) . Damit repräsentiert sich das Zaubermärchen auf einer sehr abstrakten Sujetebene als eine bestimmte hierarchische Struktur binärer Blöcke, deren letzter Block bzw. paarweises Glied unbedingt ein positives Zeichen haben muß. Die labilere Struktur alter synkretistischer Märchen zeigt sich im Vergleich zum klassischen Zaubermärchen sozusagen als Metastruktur. Propps Funktionen lassen sich leicht auf die erwähnten binären Blöcke, d. h. großen syntagmatischen Einheiten, übertragen. Die nicht nur in distributiver Beziehung identischen Funktionen Kampf — Sieg und Aufgabe — Lösung der Aufgabe (als A1B1 und A2B2 bezeichnet) sind allomorphe, d. h. austauschbare Glieder der Hauptprobe (reckenhafte und reine Märchenvarianten); aber auch die übernatürliche räumliche Verlagerung zum Ziel (ab) und die magische Flucht (ab) unterscheiden sich distributiv streng (sie liegen v o r bzw. n a c h dem Kampf) und sind dynamische, d. h. verbindende Elemente der Hauptprobe. Dementsprechend bilden die unberechtigten Ansprüche des falschen Helden und die Identifizierung des wahren Helden bzw. ihre negative Entsprechung Flucht (Verkleidung) des Helden — Verfolgung des Schuldigen einen Komplex zusätzlicher Proben. Unter den angeführten Funktionen sind vieldeutige Relationen möglich (vgl. Propps Bemerkungen zum Synkretismus der Funktionen). So kann die Flucht des bescheidenen Helden, die zum System der zusätzlichen Proben zählt, gleichzeitig als Gegenvariante zur magischen Kindheit aufgefaßt werden. Oben wurde bereits auf den prinzipiellen Unterschied zwischen Vor- und Hauptproben eingegangen und die entsprechende Differenzierung von richtigen Handlungen und Heldentaten erwähnt. Der Schenker stellt das r i c h t i g e Verhalten des Helden auf die Probe (er prüft die guten Seiten seines Charakters, seine geistigen Fähigkeiten, seine guten Sitten oder meistens einfach die Kenntnis bestimmter Spielregeln); er stattet ihn mit dem Zaubergegenstand aus, der ihm das Bestehen der Hauptprobe garantiert. Zauberkräfte helfen ganz deutlich bei der Heldentat, machmal treten sie sogar für den Helden ein, doch zeigt sich im richtigen Verhalten stets der gute Wille des Helden bzw. die böse Absicht des falschen Helden. Diese Verhaltensregeln, d. h. die Struktur der Märchenhandlung, bilden ein komplettes semantisches System, in dem die Funktionen zusätzliche logische Relationen aufdecken, die unabhängig sind von den syntagmatischen Beziehungen. W i r können sagen, daß vorschriftsmäßiges Verhalten nicht nur zum erfolgreichen Bestehen der Vorprüfung, sondern auch zum Unglück führen kann, insofern als jeder Stimulus eine bestimmte Reaktion nach sich zieht: der Held muß eine Herausforde-

Eleasar Meletinskij

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rung annehmen, eine Frage beantworten, eine Bitte erfüllen, selbst wenn sie nicht nur von einem neutral-wohlgesinnten Schenker, sondern auch von einem feindlichen, arglistigen Gegner ausgehen. Der gewisse formale Charakter des Verhaltenssystems wird durch die unbedingt erforderliche Verletzung eines Verbots unterstrichen (konvertierbare Form der Nötigung zur Handlung). Die paarweisen Funktionen, die sich auf die Verhaltensregeln beziehen, bezeichnen wir mit den griechischen Buchstaben aß im Unterschied zu AB, ab, die für die Heldentaten verwendet werden. Ein Minuszeichen über einem Buchstaben deutet auf eine negative Form hin (z. B. nicht der Schenker, sondern der Gegner stellt den Helden auf die Probe). Die Indices m und i grenzen materielle Handlung und sprachliche Information voneinander ab. So erhalten wir folgendes Schema:

a i!®i m

a,/?!1

Vorschrift — Ausführung Frage — Antwort «2A 2 « 303

äß

/¡!m 6h fla SKajiyit Harny ceMbio. 34

Hier bringe ich dir, Großväterchen, ein Geschenk für den neuen Wohnort.

Liebe und beschütze unsere Familie!

Die Einzelheiten sind verschieden, aber das Wesen des Brauchs ist überall ein und dasselbe: Dem Wassermann wird ein Versöhnungsopfer dargebracht, dessen Ziel es ist, seinen Zorn abzuwenden, sich vor seiner Tücke zu schützen und seine Gunst und Gnade zu gewinnen, denn der Wassermann ist nach den Worten A . Kolcins Ebda. S . V . Maksimov, HemiCTan, neBeROMan m KpecmaH cnjia (Die unreine, die unbekannte und die christliche Macht). Petersburg 1909, 96. 34 I. P. Sacharov, a. a. O . 45, Anm. 20. 32

33

Der Wassermann in der russischen Folklore

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„nur zu jenen gut, die ihn verehren und ihm Lebewesen und Früchte zum Opfer bringen". 35 Auch in der Byline wird so die Notwendigkeit der Zahlung eines Tributs an den Meereskönig motiviert. Fast in allen Varianten der Byline wird davon als von etwas Selbstverständlichem gesprochen, das bei den Zuhörern weder Verwunderung noch Unverständnis auslösen kann. A ckojibko h

no Mopio

«a He

eajKHBaji, a BHflHO UapiO MOpCKOMy flaHH h He iuiaijHBaJi,

BHflHO, ITO HaHb C MeHH TpeöyeTCH.38

Und soviel ich auch schon über das Meer gefahren bin, habe ich dem Meereskönig doch keinen Tribut gezahlt, offensichtlich wird der Tribut nun von mir gefordert.

Oder: Mnje

KOJibKH no chhio

Mopio

He

xajKHBaji, h MOpCKOMy q a p i o j i a H H n o u i J i H H t i He njiai;HBaji. 3 7

Sooft ich auch über das blaue Meer gefahren bin, habe ich dem Meereskönig keinen Tribut gezahlt.

Oder: H flBeHa,n;i;aTb jieT n o Mopio x a w H B a j i a noanoHy i;apio iioiiiJiHHbi He njiaiHBaji.38

Zwölf Jahre bin ich zur See gefahren und habe dem Unterwasserkönig noch keinen Tribut gezahlt.

Oder: I I p o c H T MopcKoit i^apb HeJiOBeHecKyK) rojiOBy. 3 9

Es erbittet der Meereskönig ein Menschenhaupt.

Oder: T p e 6 y e T H3 H a c

bojjhhoü

ijapb

K a n y h h c Hac o h nonuiHHy.

ÜTBeMaeT BO.ua hm: „ I I p o c H T HejiOBeKa boahhoä

36

ijapb."40

Von uns fordert der Wasserkönig einen Tribut. Da antwortet ihnen das Wasser: „Einen Menschen erbittet der König des Wassers."

A . Kolöin, a. a. O. 25, A n m . 5. J u . M . Sokolov / V . I. Ciöerov, OHewcKMe ömjihhh (Onega-Bylinen). Moskau 1948, 403. 37 A . V . Markov, BejiOMopcKHe 6 m h h h i j (Bylinen vom Weißen Meer). Moskau 1 9 0 1 , 131. 38 I. V . Kireevskij, IlecHH (Lieder) Bd. 5, 40. 3 9 A . M . Astachova, E h j i h h h CeBepa (Bylinen des Nordens) Bd. 2, 638. 40 A . F . Gil'ferding, OHeJKCKHe 6 l i j i h h h (Onega-Bylinen) Bd. 1, Moskau-Leningrad 1949, 106. 36

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ERNA POMERANCEVA

Die Episode v o m Hinabsteigen eines Musikanten auf den Meeresgrund ist mit dem Motiv des Tan2ens des Meereskönigs zum Spiel des Musikanten verbunden. In einer Prosafassung der Byline, die A . M. Astachova aufgezeichnet hat, heißt es: MopcKoii ijapb h aanjiHcaJi B Mope. MHoro npaBe^HHX TOHCT B Mope. 41

Der Meereskönig tanzte im Meer. Viele Gerechte ertranken im Meer.

Der Tanz des Meereskönigs ruft immer Sturm hervor, ein Aufwallen der Meere und der Flüsse, den Untergang v o n Schiffen: nojwoHHHÄ i j a p t pacnoTemHJicH — Mope BCKC>JiH6aJi0CH. 42

CHHe

Der K ö n i g der Unterwelt ergötzte sich — das blaue Meer geriet in Wallung.

In einer v o n M. S. K r j u k o v a aufgezeichneten Byline wird der Tanz des Meereskönigs, seiner Nixen (pycaJiKH) und Possenreißer (cKOMopoxn) beschrieben. D i e Folge davon ist: Pa3iirpaJincb 6eJi0M0pcKHe noroflyiiiKH.43

D i e Unwetter des Weißen Meeres brachen los.

A u c h dieses Motiv v o n den Stürmen, die durch den Tanz des Meereskönigs oder des Wassermanns ausgelöst werden, ist dem Volksglauben vertraut. A . M. Afanas'ev beispielsweise bezeichnet es als allgemein verbreitet: „ E s ist bekannt, daß das A u f wallen der Flüsse und des Meeres in der russischen Volksüberlieferung durch den Tanz der Wassermänner erklärt wird." 4 4 E. G . Kagarov schreibt ebenfalls, daß der Wassermann „Stürme auslöst und Menschen und Schiffe untergehen läßt". 4 5 S. V . Maksimov erzählt in poetischer Form davon, wie „ d e r Wassermann einstmals in W u t geriet und zu toben begann". 4 6 Verbreitet sind Erzählungen v o n Trinkgelagen, Hochzeiten und mutwilligen Streichen des Wassermannes, die Stürme hervorrufen und die Menschen ins Verderben stürzen. Somit sind alle Motive, die in der Byline mit der Gestalt des Meereskönigs verbunden sind, auch den Glaubensvorstellungen des Volkes v o m Wassermann bekannt. D i e Erzählungen v o m Wassermann in Form von Memoraten und Fabulaten sprechen auch v o n seiner Frau (BO^HHHxa) und von den ihm untergebenen Nixen (pycaJiKH) und Dienern, und es werden seine Paläste im Unterwasserreich beschrieben.

A . M. Astachova, a. a. O . Bd. 2, 639, A n m . 39. A . F. Gil'ferding, a. a. O . Bd. 1, 174, A n m . 40. 43 EHJIHHBI M. C. KpiOKOBOit (Die Bylinen der Erzählerin M. S. Krjukova) Bd. 2, Nr. 78. 44 A . N . Afanas'ev, IIoaTHiecKHe B033peHHH cnaBHH Ha npnpo,ny (Poetische Naturbetrachtungen der Slawen) Bd. i , Moskau 1865, 328. 46 E . G . Kagarov, Pejrariisi flpeBHiix CJiaBHH (Die Religion der alten Slawen). Moskau 1918, 14. 48 S. V . Maksimov, a. a. O . 88, Anm. 33. 41

42

Der Wassermann in der russischen Folklore

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Doch worin unterscheidet sich die Bylinen-Gestalt des Meereskönigs von dem häßlichen, ganz mit Schlamm bedeckten, nackten alten Wassermann? Es ist schwer, diese Frage zu beantworten, weil in den Bylinen kein Bild des Meereskönigs gezeichnet wird. Die Erzähler beschränken sich darauf, bestenfalls von dem Erschrecken Sadkos beim Anblick des Meereskönigs zu berichten, häufiger aber stellen sie lediglich das Erscheinen des Meereskönigs fest: Wie wenn der Wasserkönig aus dem Meere steigt.

K a 6 u hb Mop« BOflHH i;apb no^HMaeTCH. 47

Oder: B^pyr

noHBHJiCH bojjhhoü b cboh najiaTH. 4 8

ijapi>,

3aTamnji

Plötzlich erschien der Meereskönig und zog ihn in seinen Palast hinab.

Oder: A l l KaK TyT BHUiejI Tenepb H3 03epa. 4 9

I^apb BOflHHOft

Doch ach, ganz unverhofft tauchte da der Wasserkönig aus dem See empor.

Wir sehen also, daß alle Motive der Byline — die plötzliche Begegnung (eines der am weitesten verbreiteten Motive in allen Sagen von dämonischen Wesen), das Hinabtauchen in das Unterwasserreich (sehr verbreitet sind Erzählungen von Müllern, die auf den Grund eines Sees hinabsteigen, um dort zu übernachten, sowie von Musikanten, die den Wasserteufeln aufspielen, u. a.), Motive der Beschenkung durch den Wasserkönig (guter Fischfang, Glück in der Bienenzucht usw.), der Tanz des Wasserkönigs, ja selbst die Beschreibung des Palastes und der Töchter des Wasserkönigs, Motive der Hochzeit des Helden im Unterwasserreich — keineswegs nur der Byline eigen sind, sondern auch in anderen erzählenden Genres vorkommen, vor allem in den Memoraten und den Fabulaten. Diese Motive waren zweifellos zum Zeitpunkt des Entstehens der Sadko-Byline im Novgoroder Seengebiet weit verbreitet und dienten ihr als Grundlage. Auf dem weiteren Entwicklungsweg der Byline wurde die Gestalt des Meereskönigs durch die Erzählung von dem Musikanten gestützt, der durch sein Spiel die Aufmerksamkeit des Meereskönigs erregt, und die Byline somit durch dieses aus dem Volksglauben stammende Motiv erweitert, wobei auch die Zaubermärchen mitwirkten, die sich der gleichen Elemente des Volksglaubens bedienten. Dies ist um so wahrscheinlicher, weil die Byline von Sadko ihrem Wesen, dem Charakter ihrer Beziehung zur Realität und dem System ihrer Gestalten nach eine der „märchenhaftesten" Bylinen innerhalb des russischen Epos ist. Die Gestalt des Wasserkönigs in den Z a u b e r m ä r c h e n hat große Ähnlichkeit mit der Gestalt des Unsterblichen Kascej oder des Alten, „der selbst nur so groß wie ein Fingernagel ist, während sein Bart eine Elle mißt", d. h. sie erscheint als 47 48 49

A . M. Astachova, a. a. O. Bd. i, 510, Nr. 94, Anm. 39. Ebda 5 1 3 . A . F. Gil'ferding, a. a. O. Bd. 1, Nr. 170, Anm. 40.

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£)RNA P O M E R A N C E V A

Verkörperung der dem positiven. Helden feindlich gesinnten bösen Kräfte der Märchenwelt. Wie in den Bylinen wird auch im Märchen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, kein Bild des Wasserkönigs, des „Wasser-Großväterchens", gegeben. Nur der Erzähler I. F. Kovalev aus Gor'ki zeichnet mit der ihm eigenen Ausführlichkeit im Märchen Das Meerungeheuer — das Waldtier (Hyso M o p c K o e — 3 B e p t j i e c H O Ä ) ein „schreckliches zottiges Ungeheuer, die Beine struppig, mit Hufen an den Füßen", 50 und in einem anderen Märchen sagt er, daß das „Wasser-Großväterchen" einen langen grauen Bart habe, während seine Nase von Eisen sei. 61 Dieses Bild ist wahrscheinlich nicht nur von den in der Heimat I. F. Kovalevs sehr verbreiteten Glaubensvorstellungen heraufbeschworen, sondern auch durch einen Holzschnitt beeinflußt, der auf Grund einer in den Petersburger Vedomosti 1739 veröffentlichten Notiz entstand; auf diesem Holzschnitt ist das „Meeresungeheuer" dargestellt, das angeblich von Fischern in der Nähe der „Hispanischen Inseln" gefangen worden ist: das „Wasser-Großväterchen" ( B O A H H O Ä fleflyiiiKa), ein „Wassermann" (BOAHOÖ M y j K i i K ) , ein „Monstrum", ein „abscheulicher Mensch, ganz mit Fell bewachsen". Dort findet sich auch die Darstellung eines mit einem Vogelschnabel ausgestatteten „Waldungeheuers, das im Frühling gefangen wurde". 52 (Vgl. Taf. 1.) Diese Gestalt des Wasserkönigs ist am häufigsten mit dem Typus „Wunderbare Flucht" (Aarne-Thompson, Nr. 313) verbunden. Seine Beziehung zum Element des Wassers wird in den russischen Märchen nicht besonders hervorgehoben. Sie zeigt sich nur dadurch, daß der Wassermann sein Opfer, den Zaren oder einen Kaufmann, in dem Augenblick ergreift, in dem dieser aus einer Quelle oder einem Brunnen trinkt, sowie dadurch, daß der Held die Tochter des Wasserkönigs beim Baden antrifft. Im Zaubermärchen erscheint der Wassermann in einer bestimmten Episode: Er begegnet dem Helden und fordert von ihm die ihm zustehende Dankbarkeit, ein Opfer, an dessen Rechtmäßigkeit weder der Held und seine Frau noch der Erzähler und seine Zuhörer zweifeln: Er schließt mit ihm einen Vertrag, demzufolge der Kaufmann oder der Zar ihm seinen Sohn geben muß. Außerdem ist der Wassermann der Vater eines schönen Mädchens, das der junge Held zu gewinnen sucht und das ihm, ähnlich wie Öernava oder die Tochter des Unterwasserkönigs in der Byline der Krjukova, zur Flucht aus dem Reich des Wasserkönigs und zur Rückkehr in seine Heimat verhilft. Das „Wasser-Großväterchen" stellt dem Helden unerfüllbare Aufgaben, verfolgt ihn und seine Tochter auf ihrer wunderbaren Flucht. Der Held des Märchens behält jedoch — ebenso wie der Held der Byline — stets die Oberhand. Dieser unbedingte Sieg des Menschen über die dämonischen Wesen unterscheiden das Märchen und die Byline vom Memorat und vom Fabulat mit ihrer Neigung zu einem tragischen Ausgang der Begegnung zwischen dem Menschen und der jenseitigen Welt.

50

CKa3KH H. KoBaneBa (Die Märchen I. F. Kovalevs). Moskau 1941, 1 1 1 . Ebda 80. 52 D . Rovinskij, PyccKHe napoAHfaie KapTHHKH (Russische volkstümliche Bilder) Bd. 2, Petersburg 1881, 56; Atlas Bd. 2, N r . 309. 51

Der Wassermann in der russischen Folklore

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Die Züge des Naturgeistes, an den man glaubt, sind im Märchen gänzlich verlorengegangen. In ihm ist der Wassermann — ebenso wie Kascej, die Hexe BabaJaga und der Einäugige Böse — eine Gestalt der Phantasie, deren Existenz für die phantastische Welt des Märchens ganz natürlich ist. Weder der Märchenerzähler noch seine Zuhörer räumen die Möglichkeit ein, dieses „Wasser-Großväterchen" des Märchens in ihrem Fluß zu sehen, unter Umständen sein Opfer zu werden oder mit ihm einen Vertrag zu schließen. Er ist schrecklich, doch die ureigenste Natur dieses Schrecklichen ist anders geartet als das Erschrecken, das durch das Memorat über eine tatsächliche Begegnung mit dem Wassermann oder dem Waldgeist ausgelöst wird. Außerdem stützt sich die recht schematisch gezeichnete Märchengestalt des „Wasser-Großväterchens" zweifellos auf die lebendige und allgemein bekannte Tradition der neben dem Märchen bestehenden Prosa und benötigt deshalb keine detaillierte Exposition. In ihrer Einstellung zu Phantasie oder Wahrheit sind die Byline und das Märchen in diesem Falle von gleicher Art oder zumindest vom gleichen Typus. Weder hier noch dort wird die Frage nach der Glaubwürdigkeit gestellt, sie ist hier unwesentlich. Der Meereskönig figuriert als wirkliche Person, deren Existenz in der Welt, in der der Held lebt, ebenso natürlich ist wie das Erscheinen des Nikola von Mozajsk auf dem Meeresgrund, wie die Hochzeit des Helden mit Öernava oder mit der Tochter des Wasserkönigs, die alle möglichen Zauberkunststücke, z. B. die wunderbaren Verwandlungen auf der Flucht, beherrscht. Die Byline von Sadko ist ein Bylinen-Märchen und lebt nach den Gesetzen der Märchenwelt. Die Gestalt tritt aus dem Volksglauben in das andere Bezugssystem dieser Erzählgenres und verändert sich demzufolge. Die Interpretation durch den Erzähler ändert sich ebenso wie die Aufnahme durch den Zuhörer, obwohl die Grundzüge der Gestalt und die einzelnen Erzählmotive übereinstimmen. Die Darstellung des Meeres- und des Waldungeheuers auf dem Holzschnitt steht in dieser Hinsicht dem Memorat und dem Fabulat näher als der Byline und dem Märchen, denn es handelt sich um die Darstellung eines angeblich tatsächlich gefangenen schrecklichen und sonderbaren Wesens, eines Monstrums, dessen Verbindung mit der jenseitigen Welt, an deren Existenz niemand zweifelt, nicht auszuschließen ist. Im Märchen und in der Byline ist die Gestalt des Wassermanns nur von zweitrangiger Bedeutung, er trägt nicht die Last des Hauptsujets der Fabel. Es sind Märchen von der Zarentochter Marfa, vom Kaufmannssohn Ivan, von der Schönen Nastas'ja, aber nicht vom Wassermann; es ist die Byline von Sadko, dem Guslispieler, oder von Sadko, dem Kaufmann aus Novgorod, nicht vom Meereskönig. Zum Unterschied hiervon ist in den M e m o r a t e n und den F a b u l a t e n der Wassermann die Hauptperson der Erzählung. Er erscheint vor allem deswegen interessant und schrecklich, weil er ein Bewohner der jenseitigen Welt ist. Zweck der Erzählung ist der Bericht über die Begegnung des Menschen mit jener Welt. Die Gestalt des Wassermanns in der nicht märchenhaften Prosa unterscheidet sich von der Gestalt im Märchen und in der Byline nicht dadurch, daß er weniger fein oder liebenswürdig ist, wie V. F. Miller angenommen hat, sondern dadurch, daß das Volk an ihn glaubt. Zum Unterschied von der Byline und vom Märchen sind Memorat und Fabulat

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ERNA POMERANCEVA

Erzählungen von einem tatsächlichen, dabei aber schrecklichen und unerklärlichen Geschehnis. Die Motive und die Gestalten des Memorats und des Fabulats sowie ihre Einstellung zur „Wahrheit" sind die gleichen. Der grundlegende Unterschied zwischen diesen beiden Genres besteht im Charakter der Information und der hierdurch bedingten Architektonik. Das Memorat erzählt von Erlebnissen, die der Erzählende selbst oder einer seiner Bekannten und Freunde hatte, das Fabulat aber von Vorgängen, die der Erzählende zwar für wahr hält, die aber bereits bis zu einem gewissen Grade verallgemeinert sind. Deshalb weisen sie auch eine, in gewissem Umfang unterschiedliche Auswahl der Sujets und der Motive auf. Das Memorat beschränkt sich gemeinhin auf die Mitteilung eines vom Erzählenden selbst erlebten schrecklichen Ereignisses: Er hat ein zottiges Wesen gesehen, das sich bei seiner Annäherung im Wasser versteckte; er stürzte ins Wasser, und der zottige Wassermann bemühte sich, ihn auf den Grund zu ziehen, und er konnte sich nur dadurch befreien, daß er ein Kreuz schlug; in der Nacht hörte er das Gelächter des Wassermanns usw. Daß wir im Memorat oftmals eine Wiedergabe dessen finden, was der Erzähler von seinem Vater, seiner Mutter oder einem Nachbarn gehört hat, ändert nichts an seinem Wesen. Es bleibt trotzdem ein Memorat bzw. ein „Quasi-Memorat". Das Fabulat ist dagegen eine verallgemeinerte Erzählung, die häufig sogar mehrere Episoden enthält; in den meisten Fällen spricht sie von Begegnungen mit der jenseitigen Welt, die jedoch nicht der Erzähler selbst oder ein guter Bekannter hatte, sondern ein „verallgemeinerter" Held: ein Junge, eine alte Frau usw. Die Palette der Sujets ist bei den Fabulaten reicher, vielseitiger als bei den Memoraten, die entweder lediglich die Existenz der Mächte der Finsternis feststellen oder mit kargen Worten von einer Begegnung mit einem ihrer Vertreter erzählen. Auch hinsichtlich der Komposition sind die Fabulate komplizierter; oft enthalten sie mehrere Episoden, die Personen sind plastischer, ausdrucksvoller gezeichnet als die verschwommenen, nebulosen Gestalten der Memorate. Die Grundtypen der Fabulate vom Wassermann sind folgende: Ein Müller fängt den Wassermann in Gestalt eines Fisches, der sich von ihm loskauft; ein Küster rettet sich vor dem Wassermann, indem er wie ein Hahn kräht; ein Musikant spielt den Wassermännern auf; der Wassermann findet Geld für einen Armen; ein Jäger tötet den Wassermann; ein Soldat verprügelt den Wassermann; Mädchen laden den Wassermann zu einem Fest; der Wassermann bittet um einen Schlitten, um seine Habe transportieren zu können; die Bauern helfen dem Wassermann bei der Vertreibung eines fremden Wassergeistes; eine Ertrunkene lebt mit einem Wassermann zusammen; ein Bursche gelangt beim Tauchen in die Paläste des Wassermannes; der Wassermann erteilt den Kindern des Dorfes einen Auftrag; mit dem Wassermann wird ein Vertrag geschlossen usw. Diese Aufzählung erschöpft bei weitem nicht die Typen der Fabulate, die vom Wassermann handeln. Sie sind hinsichtlich ihrer Sujets offensichtlich sehr verschiedenartig. Trotz aller Verschiedenartigkeit der konkreten Lösung lassen sie sich jedoch auf einige typische Situationen zurückführen, die ihnen und den Fabulaten vom Waldgeist gemeinsam sind: Der Held bekommt den Wassermann als Ergebnis einer Tat zu Gesicht, die dieses Zusammentreffen bewirkt hat, er bringt sich in

Der Wassermann in der russischen Folklore

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Gefahr, rettet sich aber schließlich mitunter dank seiner Schlauheit und Findigkeit. Der Held schließt mit dem Wassermann einen Vertrag, taucht auf den Grund, lebt eine Zeitlang im Unterwasserreich und kehrt wohlbehalten zurück. Alle diese Situationen treffen auch für die Episoden des Märchens und der Byline zu, die mit der Gestalt des Wassermanns verbunden sind. Das Memorat kennt hingegen nur die ersten drei Momente: die Begegnung, die Gefahr und die Rettung bzw. den Untergang. Der Vertrag mit den jenseitigen Mächten und der Aufenthalt in der außerirdischen Welt gehen schon über die Grenzen des , Memorats' hinaus, es sind Situationen, die dem Wesen eines Berichts über persönlich Erlebtes widersprechen. Wir sehen also, daß das Fabulat, das seinem Wesen nach dem Memorat sehr nahe steht, sich dennoch dem Märchen und der Byline annähert, sobald es die Eigenschaft eines Augenzeugenberichtes verliert. Es kann vom Erzähler selbst und seinen Zuhörern — zum Unterschied vom Memorat — als Kunstwerk aufgefaßt werden und nicht nur als Information. Seine Funktion kann zwischen einem Augenzeugenbericht und einer unterhaltsamen Erzählung schwanken. Seiner Funktion nach kann es der Byline und sogar dem Märchen näher stehen als dem Memorat. In der Gegenwart wird die Grenze zwischen Fabulat und Märchen immer mehr verwischt, weil der Volksglaube, auf den sich das Memorat stützte, ausgestorben ist. Der Volksglaube verschwindet — und die Erzählung wird zum reinen Phantasieprodukt, zum Märchen. Wir besitzen nur eine relativ geringe Zahl genauer Aufzeichnungen von Fabulaten über den Wassermann, hauptsächlich nur schematische Nacherzählungen; noch seltener festgehalten sind die Texte von Memoraten. Die Sammler begnügen sich größtenteils mit der Feststellung, daß man an diesem oder jenem Ort (in diesem oder jenem Dorf, Kreis, Gouvernement), annimmt (glaubt, meint, behauptet), daß . . . " usw., d. h. sie teilen meist nicht die Memorate selbst mit, sondern eine verallgemeinerte Glaubensvorstellung. Der Grund dafür liegt im Charakter des Memorats, das meistens nicht zu einem stabilen Text geformt ist oder dessen Form, wenn sie existiert, dem Erzähler und seinen Zuhörern gar nicht bewußt wird, selbst dann, wenn der Erzählende von seiner Begegnung mit den Mächten der Finsternis mehrmals genau mit denselben Worten berichtet. Daher rührt auch die Möglichkeit einer kollektiven Erzählung, von der die Sammler berichten: Jeder der Anwesenden steuert Einzelheiten bei, die auf Grund eigener Erfahrung oder nach dem, was er von anderen gehört hat, das Bild ergänzen. Am genauesten werden Memorate über den Wassermann in den Aufzeichnungen von P. G. Bogatyrev wiedergegeben. 53 Aber auch sie wurden vom Sammler offenbar nicht in ihrer tatsächlichen Erscheinungsform fixiert, sondern als Antworten auf seine Fragen aufgezeichnet: „Sie haben etwas vom Wassermann gehört?" — „Ja, ein alter Mann bei uns hat folgendes gesehen .. . , < 5 4 Bereits V. Dal' hat beobachtet, daß die Erzählungen von den Mächten der Finsternis vielen Genres zugehören. „Die poetischen Glaubensvorstellungen", schrieb er, P. G . Bogatyrev, BepoBaHHH BejiHKopyccoB UleHKypcKoro yeaj;a (Der Volksglaube der Russen im Kreis Senkursk). EtnografiCeskoe obozrenie 1916, Nr. 3/4, 53 — 55. 64 Ebda 53. 63

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E R N A POMERANCEVA

„geben unmittelbar in Fabeln, Parabeln und Allegorien ein; nichtsdestoweniger werden sie manchmal aus Unwissenheit wörtlich genommen, und viele glauben blind an das, was lediglich zur Unterhaltung hin2ugefügt worden ist." 66 Die historischen Beziehungen zwischen dem Volksglauben und den Erzählungen deutet Dal' jedoch falsch, wenn er davon spricht, die Ausschmückung sei „lediglich zur Unterhaltung" erfolgt. Entstanden als Information über eine Begegnung mit den Mächten der Finsternis, werden diese Erzählungen folklorisiert, werden zu Fabulaten, gehen in die Bylinendichtung ein und verlieren schließlich im Märchen völlig ihre ursprüngliche Funktion, indem sie zu wundersamen Episoden werden, wie sie für die Welt des Märchens typisch sind. Das Memorat legt erregt Zeugnis ab vom heutigen Tag, von einem vor kurzem eingetretenen Ereignis, einem konkreten Vorfall. Er ist streng lokalisiert, nennt Zeit, Ort und Personen. Zumeist ist es ein Bericht über einen Vorfall aus dem Leben des Erzählenden, seiner Verwandten oder Nachbarn. Es ist ein Erzählkern, der, verallgemeinert, zum Fabulat wird und, obgleich schwer von ihm zu unterscheiden, in neuer Form in der Byline und im Märchen erscheint. Das Fabulat erzählt von wundersamen Geschehnissen, die sich vor nicht allzu langer Zeit in der Nachbarschaft zugetragen haben und von zahlreichen Einwohnern der Gegend gehört wurden, Geschehnissen, die an einen konkreten Ort, einen See, eine Mühle, eine Ruine usw. gebunden sind. Man kann also mit gewissen Einschränkungen sagen, daß die Memorate trotz ihrer erzählenden Form lyrisch sind, während es sich beim Fabulat um eine rein epische Form handelt. Die Bylinen statten infolge ihrer Tendenz zur Historisierung sowohl die Beschreibungen der Umstände, der Ausrüstung und der Taten der Helden als auch die Gestalten ihrer Feinde mit Zügen der Wahrscheinlichkeit aus. Für sie sind die Siege Suchmans über die unzähligen Scharen der Tataren, die Gestalt des Räubers Nachtigall und die Umstände bei Svjatogors Tod ebensowenig verwunderlich wie die Einmischung in das Leben ihrer Helden durch den Meereskönig, Nikola von Mozajsk, die Pilger mit ihrem Zaubertrunk oder das Orakel, das den Tod Vasil Buslaevs prophezeit. All das ist „uralte Überlieferung", ein Bericht aus vergangenen Zeiten. Das Märchen stellt nicht die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Seine wundersamen Helden leben in einer eigenen Welt, die den Gesetzen des Märchens gehorcht. In dieser Märchenwelt treten der Meereskönig und das „Wasser-Großväterchen" ebenso selbstverständlich und ohne Verwunderung zu erregen auf wie Kasöej, die Hexe Baba-Jaga und der Einäugige Böse. Die Gestalten des Fabulats und des Memorats, die Gestalten des Volksglaubens, haben sich in voller Ursprünglichkeit in den Beschwörungsformeln mit ihrem Utilitaritätsstreben erhalten. Verallgemeinert bestimmen sie das Sprichwort, in dem der Volksglaube hinter die Allegorie zurücktritt. In der Byline treten sie als natürliche Attribute der Weltanschauung jener Epoche auf, in der das Epos entstand. In unserem Falle ist der Meereskönig zweifellos mit den Vorstellungen vom Wassermann verbunden, die im Novgoroder Gebiet lebendig und wirksam waren. 65

V. Dal', a. a. O. 121, Anm. 4.

Tafel i

Hyno

Mopciwe

HJIH T A K H A 3 B I B A E M 0 Ü

BOAHHOÜ

MYMIIK

(Das Meeres wunder oder der sogenannte Wassermann). A u s D . Rovinskij, PyccKHe napoaHbie KapTHHKH (Russische Volksillustration) B d . 2, N r . 309

Der Wassermann in der russischen Folklore

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Treten die Personen der Memorate ins Märchen ein, werden sie in ein qualitativ anderes System aufgenommen und hören auf, Gestalten des Volksglaubens, Gestalten der „realen Wirklichkeit", zu sein, sie werden Gestalten der Phantasie. Die Episoden, die in den verschiedenen folkloristischen Genres mit dem Wassermann verbunden sind, zeigen somit, wie sich das seiner Herkunft nach einheitliche Material, die einheitliche Gestalt, die sich vom Volksglauben zum Spiel der Phantasie des Volkes entwickelt, in Abhängigkeit von der funktionellen Beziehung der erzählenden Genres in ihrem Kern verändern. Dieser Prozeß wird in seiner Grundlage durch die Veränderung der Weltanschauung des Volkes bestimmt, durch den schwindenden Glauben an die Existenz einer jenseitigen Welt. Natürlich muß man im vorliegenden Falle berücksichtigen, daß „die Möglichkeit von Übergangsformen nicht ausgeschlossen ist", und R. R. Gelhardt zustimmen, daß „das Vorhandensein völlig klarer Grenzen, welche die einzelnen Werke der Folklore der verschiedenen erzählenden Genres stets voneinander trennen, höchst zweifelhaft erscheint". 56 Trotzdem besteht sicher ein grundsätzlicher Unterschied in der Aufnahme und Übertragung ein und derselben Gestalt und der mit ihr verbundenen Motive in die verschiedenen Genres: das Memorat und die Beschwörungsformel, das Fabulat und das Sprichwort, das Epos und das Märchen. 68

R. R. Gelhardt, H3ÖpaHHHe CTaTLH (Ausgewählte Abhandlungen). Kalinin 1967, 520.

Deutsch von

5

Volkskunde

Günter Jarosch

Kommandorufe bei der Forstarbeit Ihre Bedeutung für die musikethnologische Forschung V o n GHIZELA

SULITEANU

Durch das Erscheinen des Werkes Arbeit und Rhythmus von Karl Bücher im Jahre 1896 wurde ein bis dahin wenig berücksichtigter Aspekt der Volksmusik aufgedeckt, der einerseits die Einführung einer neuen Prämisse über den Ursprung der Musik zuließ und andererseits den sozial-kollektiven Charakter der Musik herausstellte. Wenn man Bücher beschuldigt, er habe die Ableitung aller Arbeitslieder aus dem Rhythmus der betreffenden Arbeit vorgenommen, so gehen seine Kritiker von einer ganz ähnlichen Position aus, 1 indem sie all diese Lieder einseitig einschätzen und nur eine einzige, undifferenzierte Kategorie annehmen. Es erfüllen ja nicht alle Lieder dieselbe Funktion bei den verschiedenen Arbeitsprozessen, und infolgedessen kommen naturgemäß große Unterschiede vor. Manche Lieder entsprechen der Arbeit genau. Sie werden durch die spezifische physische Anstrengung der betreffenden Arbeit bestimmt und stellen selbst eine psychophysische Stütze der verschiedenen Arbeitshandlungen dar. Andere Lieder aber, die sich auf andere Arbeiten beziehen, sind nichts als melopöische Beschwörungen, sie haben eher die Funktion einer psychischen Stütze zu erfüllen; wieder andere, ebenfalls mit einer magischen Funktion, beschreiben die Arbeit, die sie begleiten bzw. der sie vorausgehen. Wenn bei der ersten Kategorie die Bewegungen, die gleichzeitig selbst die Arbeitsanstrengung ausdrücken, im Bereich einer bestimmten Arbeit als allgemein menschlich angesehen werden dürfen, so können bei den anderen Kategorien nicht nur Unterschiede von Volk zu Volk bestehen, sondern auch von einem Kollektiv zum 1 I. Gruber bemerkt in seiner Geschichte der Musik (russ.) über K. Bücher, daß der Autor „bemüht ist, aufzuzeigen, daß die Musik aus den rhythmischen Bewegungen der kollektiven Arbeit entstanden sei, die durch Rufe oder Gesang im Rhythmus der Musik erleichtert wurde", daß diese Theorie jedoch einen mechanistischen und vulgarisierenden Charakter trage, obgleich sie auch einige positive Seiten aufzuweisen habe . . . Die Mehrheit der Lieder der am wenigsten entwickelten Völker, die Bücher zitiert, zeige eine Kompliziertheit im Rhythmus, die bei weitem die Einfachheit der Bewegungen im Arbeitsprozeß übersteige und außerdem oftmals durchaus nicht uniform sei. Gegen Bücher spreche auch die extreme Variabilität des Rhythmus in den die Arbeitsprozesse begleitenden Liedern. Viele mit dem Sammeln verbundene Arbeitsprozesse, auf der ersten Stufe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, entbehrten völlig des rhythmischen Charakters (Gewinnung von Honig, Sammeln von Schaltieren, Fischfang usw.). V g l . Istorija muzyki, Bd. 1, 29, Fußnote 1 in der rumänischen Übersetzung, Bucure§ti 1963. Wir lassen hier außer acht, daß es keine musikalische Ausführung ohne Rhythmus geben kann, möchten aber doch betonen, daß sich die soeben angeführten Bemerkungen auf einer ebenso einseitigen Position befinden wie die des kritisierten Autors.

Kommandorufe bei der Forstarbeit

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anderen, da sie v o n der Anstrengung 2 der momentanen Aktionen der betreffenden Arbeiten nicht bestimmt werden. In allen diesen Kategorien erscheinen uns die Arbeit, die Anstrengung, der Rhythmus und die Musik in einer vollständigen Symbiose, die indes auf den betreffenden Fall be2ogen werden muß. Lassen wir das Problem des Ursprungs der Musik beiseite. 3 Das Studium dieser Lieder, die wir hier als vokale, mit der Arbeit verbundene Manifestationen bezeichnen wollen, kann uns durch den Platz, den sie in den meisten Fällen an der Grenze zwischen Sprechen und Singen einnehmen, 4 und durch die morphologischen Kerne, die sie enthalten, wichtige Elemente f ü r die Analyse musikethnologischen Materials liefern. Innerhalb der rumänischen Musikfolklore können die vokalen Manifestationen, die unmittelbar mit der Arbeit verbunden sind, folgendermaßen eingeteilt werden: x. Vokale Manifestationen, die während der Arbeit ausgeführt werden: a) Rufe beim Austreiben der Schafe und beim Sammeln der Tiere im Pferch; b) kollektiv ausgeführte Kommandorufe bei der Arbeit (Forstarbeit oder Heben bestimmter Lasten); c) Signale beim Transport von Baumstämmen; d) Lieder mit magischem Charakter, die zur Feldarbeit gehören (beim Kohlanbau). 2. Zeremonielle vokale Manifestationen nach der Ausführung einer Arbeit: e) cununa (Herstellen v o n Girlanden), drägaica (Erntebräuche). 3. Zeremonielle vokale Manifestationen mit beschwörendem C h a r a k t e r f ) plugu§orül (Neujahrsumgang, bei dem ein kleiner geschmückter Pflug mitgeführt wird). E s scheint, daß alle diese Manifestationen teilweise jeweils einer bestimmten Etappe der Musikentwicklung entsprechen; sie präsentieren textlich-musikalische Merkmale, die von ihrer Funktion abhängig sind. Die Kommandorufe bei kollektiv ausgeführten Arbeiten befinden sich auf einer Zwischenstufe zwischen den Rufen mit Signalcharakter (z. B. der Hirten oder wie sie beim Transportieren von Baumstämmen in der Forstarbeit benutzt werden) und den Liedern anderer Kategorien, bei denen die melodische Linie nunmehr als fixiert zu gelten hat. Innerhalb der Folklore des rumänischen Volkes finden sie sich vor allem bei den Forstarbeitern (vgl. Notenbeispiele i , 2, 3). Auf der Grundlage des 2

Unter Arbeitsanstrengung verstehen wir hier die Anspannung der physischen Kräfte bei einer Aktion zur Überwindung einer Schwierigkeit. 3 Im übrigen hat die von K . Bücher vorgebrachte Hypothese über den Ursprung der Musik auch unter den Psychologen und Ästhetikern Anhänger gefunden, von denen wir hier die zutreffende Bemerkung von Tudor Vianu zitieren wollen: „Die Arbeit der Primitiven ist nicht allein verantwortlich für die Entstehung der Künste, aber ihr Beitrag dazu war jedenfalls beträchtlich". Estetica (Ästhetik). Bucureijti 1945, 219. 4 Ebenfalls zu diesem Grenzbereich zwischen Sprechen und Singen gehören die Rufe wandernder Handwerker, gewisse Wiegenlieder, manche Kinderlieder und Totenklagen, deren Untersuchung unter diesem Aspekt uns wichtige Daten für diese urtümliche Etappe der musikalischen Entwicklung, über die noch immer so wenig bekannt ist, geliefert hat. 6 Dazu kommen noch gewisse Colinden (Weihnachtslieder), alte und neue brauchtümliche Lieder, Totenklagen und Wiegenlieder, in denen wir Mitteilungen über verschiedene ältere, z. T . noch heute in Rumänien verbreitete Arbeitsformen finden. Diese Lieder stehen jedoch nur in einer indirekten Verbindung zur Arbeit.



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GHIZELA

SULITEANU

registrierten Materials 8 — das zum größten Teil während des Arbeitsprozesses aufgezeichnet wurde — möchten wir unter folgenden Gesichtspunkten Beobachtungen anstellen: i . hinsichtlich der Determinanten und der Funktion der Kommandorufe und 2* hinsichtlich der vokalen Manifestationen (textlich und musikalisch). i . Die Notwendigkeit der Synchronisierung von Bewegungen bei der Ausführung einer kollektiven Arbeit hat die Entstehung spezieller Rufe mit einer koordinierenden Rolle veranlaßt. Die Bewegung einer Last realisiert sich in Rufen, die spezielle Kommandos bedeuten, gleichzeitig jedoch auch die Anstrengung des Kollektivs zur Ausführung der Kommandos zum Ausdruck bringen. Muskeln und Sehnen werden aufs Äußerste angespannt, während das Stimmorgan einen Ruf formuliert. Es entsteht eine psychophysische Koordinierung zwischen der von der Anstrengung produzierten Bewegung und dem vokalen Stimulus. Auf Grund des Arbeitsprozesses entsteht eine Wechselbeziehung zwischen Ruf und Bewegung, und zwar so, daß die vokale Reaktion eine Art Entspannungsventil bildet, dessen Schluß sich mit dem Ende der Anstrengung verbindet und so zu einer Erleichterung der betreffenden Aktion führt. 7 Die neurophysiologischen Mechanismen dieses Prozesses umfassen eine ständige Korrespondenz zwischen dem kinästhetischen und dem stimmlichen Analysator unter Leitung des Kortex. Durch das Prinzip der Rückkopplung ist der Kortex ständig über die äußeren Erfordernisse informiert und bewirkt als Reaktion darauf von Fall zu Fall Prozesse der Erregung und Hemmung bei seinen verschiedenen Analysatoren: den visuellen, auditiven, kutanen, stimmlichen und kinästhetischen, unter denen der kinästhetische Analysator in Symbiose mit dem stimmlichen am intensivsten teilhat. Gleichzeitig wird ein Prozeß der Automatisierung bewirkt, der eine Synthetisierung der Arbeitsbewegungen zu einem Stereotyp voraussetzt, und eine funktionelle Verbindung zum verbalen Signalisator herstellt. In der Forstarbeit sind gewöhnlich Mannschaften von drei (seltener vier) Personen, die als fapinari bezeichnet werden, 8 beschäftigt, so viele, wie nötig sind, um einen 4—7 m langen Baumstamm zu bewegen. Von ihnen ruft nur ein einziger — der Leiter der Mannschaft, 9 der die Bewegung des Baumstammes dirigiert. 10 Die Tat• Phonographische Walzen Nr. 1 1 5 7 9 a , b (1950); 5565 (1935); 1 1 8 9 8 a , b ; 1 1 8 9 9 a (1950); 4489a, b ( 1 9 5 1 ) ; 1 4 4 5 9 a , b ( 1 9 5 1 ) und Tonbandaufnahmen Nr. 2 4 7 7 a , b, c (1962); 2 5 2 5 a (1963); 3 158a, r, o/weiß und 3 158a, b, c, i, j/rot (1966); 3 281a, b, c (1967). Es handelt sich insgesamt um 27 Beispiele, die in den verschiedenen forstwirtschaftlichen Zentren des Landes gesammelt wurden. ' Wir können auf diese Weise auch den Glauben der Primitiven an die wohltätige Kraft des Wortes im Arbeitsprozeß teilweise erklären, und zwar in dem Moment, w o das Wort eine organisierende Rolle bei den kollektiven Aktionen übernimmt (anfangs ausschließlich in Signalfunktion). 8 Nach ihrem Arbeitsgerät fapina. " Seltener ruft auch der zweite; obwohl er keine Führungsfunktion innehat, bringt auch er gelegentlich vokale Reaktionen hervor. A n Notenbeisp. 12, von zwei Personen gesungen, ist ein völliges Zusammenfließen im Verlauf der vokalen Reaktionen zu beobachten. 10 Das Problem der Kommunikation im Arbeitsprozeß ist von Tatiana Slama-Cazacu behandelt worden: Observa^ii asupra comunicärii prin limbaj in procesul muncii (Beobachtungen zur Kommunikation durch Sprechen im Arbeitsprozeß). Revista de Psihologie 7 (1962) 183 — 2 1 1 .

Kommandorufe bei der Forstarbeit

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sache, daß nur ein Mann aus der Gruppe ruft, mindert nicht im geringsten die Erleichterung, die durch die stimmliche Reaktion bei den anderen Mitgliedern erzeugt wird. Im Augenblick der Arbeitshandlung 11 muß die Gruppe so einheitlich reagieren, als ob es sich um ein einziges Arbeitsorgan handelt, ein einziges die Arbeit planendes Denkorgan, und entsprechend gehört die stimmliche Äußerung des einen allen an. 2. Die stimmlichen Manifestationen begleiten fast alle Operationen der Forstarbeit 12 und reflektieren durch (sprachlich-musikalische) morphologische Elemente die verschiedenen Arbeitsmomente. Die Analyse dieser Momente vermag uns noch deutlicher zu zeigen, wie jede einzelne stimmliche Reaktion und damit jedes einzelne Element vom Arbeitsprozeß abhängt und umgekehrt. Innerhalb der v e r b a l e n A u s d r u c k s w e i s e n dieser Rufe finden wir Interjektionen und Kommandos, beide mit einer psychophysischen Rolle und Struktur und im Augenblick der körperlichen Anstrengung produziert ; sie finden ihren Ausdruck in einer musikalischen oder quasi musikalischen (oft prämusikalischen) Diktion. Weiterhin kommen verschiedene verbale Andeutungen vor, die gesprochen werden und die der eigentlichen Arbeitsanstrengung vorausgehen. a) Die Interjektion erscheint von der Arbeitsanstrengung direkt determiniert. Wenn die verschiedenen Kommandos die Funktion einer Anleitung haben, so stellt sie einen psychophysischen Exponenten, eine direkte Stütze der bei der Aktion erforderlichen Anstrengung dar. Deshalb ist die Interjektion bei den Rufen der Forstarbeiter unentbehrlich, und sie hat stärksten Anteil an der Arbeits-Ökonomie. Es erscheinen Interjektionen wie: ie, e, eu, au, ia, iau, hei, ei, he, hep, hepa, pa, po, na, ma, mài, hip, heu, hop, houp, hiup, hau, haup, hai, iohu, u, ho, hu, ba, a hop, u s w .

Manchmal, in Abhängigkeit vom Moment der Aktion, erhält die Interjektion einen onomatopoetischen Gehalt, wie z. B. die Interjektionen hop oder zup, die wiederholt beim Rollen des Baumstamms gerufen werden (Notenbeispiel 8). b) Die verschiedenen Rufe, die Kommandos für bestimmte Aktionen darstellen, werden in einer Lautung gebracht, die fast schon für ganz Rumänien Geltung erlangt hat, da bei den Forstarbeitern eine große Fluktuation zu beobachten ist. K o m m a n d o s w i e : trage ( = zieht), sus ( = h o c h ) , marina, marinat, fine, fucs, volta,

fup, laut, drucä, marina runf, cutuc, pais, ce, geòi werden im Sinn einer bestimmten Arbeitshandlung benutzt, ohne daß jedoch alle im strengen Wortsinn verstanden würden. 13 Durch Elidierung von Lauten erscheinen diese Kommandos als Inter11 Bei den außerhalb des Arbeitsprozesses gemachten Aufnahmen hat sich gezeigt, daß sich die Sänger die Ausübung der Arbeit vorstellen mußten; von einigen wurden die betreffenden Bewegungen ausgeführt (z.B. mg. 3 i58a/rot, Gewährsmann Gh. Moraru, 41 Jahre). 12 Diese sind: Das Ergreifen des Holzes mit der fapinä (Hakenstange), Rollen des Stammes, Aufheben, Bewegen nach vorn oder hinten, damit er gestapelt werden kann. Bemerkt man Fehler am Stamm (Zweigreste, Knorren), so werden sie mit einem kleinen Beil entfernt. 13 Bisweilen findet man Wörter fremden Ursprungs, die von italienischen oder deutschen, vor etwa 100 Jahren als Spezialisten für die Forstarbeit ins Land gekommenen Arbeitern eingeführt wurden.

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GHIZELA

SULITEANU

j e k t i o n e n , s o z. B . : pais — pa, ba, pai o d e r par; trage — age; volta — olta o d e r vol

usw. c) Verbale Anweisungen 14 erscheinen besonders in den Pausen zwischen den einzelnen Operationen. 15 Ihnen sind die morphologischen Charakteristika der gesprochenen Sprache eigen, und bei der Analyse bieten sie uns den Vorteil, daß sie eine Anzahl von vergleichenden Elementen der Metrik und Rhythmik liefern, die auch die musikalischen Formeln des betreffenden Stücks prägen und den Arbeitsprozeß mitbestimmen. Die m u s i k a l i s c h e G e s t a l t u n g der bei der Forstarbeit verwendeten Rufe reicht von prämusikalischen Kernen und kleinen Zellen bis zu echten musikalischen Motiven von ganz besonderem künstlerischen Wert (Notenbeispiel 5). Jedes morphologische Element, jeder Aspekt der musikalischen Struktur wird aus der psychophysischen Notwendigkeit einer Erleichterung der Arbeitsanstrengung geboren. Der urtümliche Charakter dieser Elemente weist in ein Frühstadium der musikalischen Entwicklung. Manche gehören ihrer Natur nach vielleicht sogar in die Zeit vor der eigentlichen Sprachentwicklung. Aus der Analyse der Transkriptionen ergibt sich folgendes: 18 a) Obgleich das in einem Stück enthaltene Tonmaterial den Ambitus einer Oktave überschreiten kann, ist die Zahl der in organisierter Form verwendeten musikalischen Töne sehr beschränkt.17 Die Existenz solcher organisierten Töne äußert sich in einer Fixierung — durch Wiederholung — auf konstanten Intonationsstufen sowie durch Konturierung in unabhängigen musikalischen Kleinzellen. Eine Tabelle, die aus den verwendeten Tonvorräten gewonnen wurde und in der nur der Ambitus und die Haupttöne angegeben werden, zeigt uns verschiedene Beispiele mit solchen Kleinzellen von unterschiedlicher musikalischer Struktur, von einer bewußten Fixierung auf einem einzigen Hauptton (Notenbeispiel 1) bis zur Konturierung einer Pentachordleiter vom Dur-Typ (Notenbeispiel 11). 14

Bemerkt sei, daß auch in den rumänischen Wiegenliedern gesprochene Elemente erscheinen; überhaupt ist das Wiegenlied eine musikalische Gattung mit vielen urtümlichen morphologischen Elementen auf der Grenze zwischen Sprechen und Gesang, in den meisten Fällen in improvisierter Gestalt. 15 Da sie zwischen den einzelnen Operationen gesprochen wurden, speziell in den großen Pausen, sind sie nur experimentell (in der Transkription mg. 3 1 5 8 a/rot) festgehalten worden. Auf der während der Arbeit aufgenommenen Aufnahme fg. 1 4 4 5 9 finden wir gata (bereit), aplecat (gebückt I), Atenfiune pu(in cu picioarele (ein bißchen Achtung mit den Füßen), sä nu vä prindä piciorul (daß er euch nur nicht auf den Fuß fällt), ftft atenfi c-o trägem druga (paßt auf, wir ziehen gleich die Stange heraus), va fin clestele (ich halte euch die Zange) usw. 16 Bei der musikalischen Transkription haben sich große Schwierigkeiten ergeben, besonders bei der Fixierung des Glissando und des Sprechgesangs. Hier konnte nur eine mechanische Transkribierung Präzision garantieren. 17 Das stützt die von I. Gruber vertretene Meinung über die Musik des Stammes Kubu auf Sumatra, die durch Glissandi und weite Intervallsprünge sowie durch Verharren auf einigen Nebenstufen charakterisiert ist. Die ersten beiden Charakteristika bringt Gruber mit einem Entwicklungsstadium in Verbindung, in dem der Sinn für die musikalischen Möglichkeiten noch nicht gefestigt ist (a. a. O. 15 f.).

Kommandorufe bei der Forstarbeit

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Besonders bemerken wir die Häufigkeit des Bi- und Tritonus sowie die Herausbildung der Präpentatonik vom Dur-Typ:

lump-

Der Schlußton kann von jedem der benutzten Töne gebildet werden. b) Die beschränkten musikalischen Möglichkeiten werden jedoch schöpferisch ausgenutzt, abhängig von der künstlerischen Persönlichkeit des Ausführenden und von seinem psychophysischen Zustand im Moment der Aufnahme; besonders jedoch hängen sie von der Tatsache ab, ob die Ausführung während des Arbeitsprozesses stattfindet oder nicht. Zu bedenken ist, daß manche Arbeiter auch recht gute Volkssänger sind; dieser Umstand wirkt sich natürlich auch bei der Ausführung der Rufe aus. Trotz alledem besteht jedoch eine gewisse Begrenzung in der Realisierung, die sich aus der Funktionalität der Rufe während der Arbeit ergibt. c) Alle Beispiele weisen gewisse gemeinsame Merkmale auf, die diese Kategorie der Folklore plastisch zusammenfassen. So finden wir auf Grund der miteinander verwandten Klanggerüste auch gewisse gemeinsame musikalische Kleinzellen:

! d) In rhythmischer Hinsicht weisen die Rufe keine besonderen Merkmale auf; als wichtiges Element tritt der Akzent hervor, der durch die Arbeitsanstrengung seinen Impuls erhält. Die Synthese zwischen Arbeit und Ruf bedingt, daß die musikalische Kleinzelle zwei rhythmische Zeiten umfaßt, von denen die erste stark akzentuiert ist. Die erste Zeit, welche gewöhnlich auf den höchsten Ton der Zelle fällt, entspricht dem Arbeitsaufwand, der Kontraktion, denn dieser Moment erfordert eine besondere Betonung. Die zweite Zeit entspricht der Entspannung. Bisweilen wird der Ruf auf einem einzigen Ton, der akzentuiert wird, ausgeführt. In anderen Fällen befindet sich vor dem akzentuierten Ton ein anderer musikalischer

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GHIZELA

SULITEANU

Ton, der den Charakter eines Auftaktes mit der Rolle eines Anlaufs vor dem Kulminationspunkt der Arbeitsanstrengung erhält. Ein anderer, etwas abgeschwächter Aspekt des Rhythmus wird durch Zweierund Dreierfiguren geboten, die jeweils in einem ein2igen Ton oder in zwei bzw. drei Tönen erscheinen:

},i,u,ui,i),)i,

u, rn

Die Triole findet man besonders bei der Ausführung des Sprechgesangs. e) Die Metrik stellt sich als den gleichen Funktionen untergeordnet dar; allein beim Sprechgesang folgt sie den Intonationen und freien Akzenten der Rede. f) Die große Häufigkeit des Sprechgesangs ist eine Folge der Tatsache, daß sich die Kommandorufe auf der Grenze zwischen Sprechen und Singen befinden. Von besonderem Interesse ist der Umstand, daß die experimentellen Transkriptionen des Sprechgesangs einiger Beispiele — notiert im normalen Fünfliniensystem — eine Intonationskurve ergeben haben, die dem Höhenverlauf der musikalischen Formeln im entsprechenden Beispiel ähnlich waren 18 (fg. 14459a—b). Manche Rufe sind gemischt, gesungen und halb gesprochen:

J ,

j

t

f

hop '

f

sus

f

t

I

I

bö-ieti n /n

« W

J

hop n-di-cäm cu

L

J

'

H

toW >f\

g) Der Rhythmus der Arbeit schließt in die Einheit Rhythmus — Musik — Metrik auch die Pause ein. Letztere ist in den Komplex einer Arbeitshandlung 19 als konstante Dauer integriert. Die Pause erscheint so als physiologische Notwendigkeit eines Ruhemoments in der Abwicklung des Arbeitsprozesses80 (vgl. Notenbeispiel 8).

haup

hop hai

moi

haup

hop

hop

hop

hop hai

18 Die Notierung der nicht musikalisch intonierten (aber im Fünfliniensystem annähernd fixierten) Töne durch Kreuznoten entsprechender Zeitdauer führte uns zu einer generativen Annäherung zwischen Sprechen und Musik. 19 Alle Bewegungen, die an der Ausführung einer Aktion der betreffenden Arbeit teilhaben wie z. B. das Heranbringen und Aufladen von Baumstämmen. M Die konstante Präsenz der Pause im Rahmen einer Arbeitshandlung, die sich natürlich auch im Arbeitsruf, d. h. in der sprachlich-musikalischen Begleitung, in angenäherten Zeitdauern bzw. Werten ausdrückt, begegnet besonders in allen Aktionen, die kinästhetische Momente einschließen. Zwischen den einzelnen Operationen liegt in der Regel eine längere Pause.

Kommandorufe bei der Forstarbeit

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h) Einen speziellen Platz in der Ökonomie der Rufe nehmen die Glissandi und die reduzierten Verzierungsformeln ein. Das Glissando, das eine absinkende Spannung der Arbeitsanstrengung bezeichnet, hat folgende Aspekte: ein gleichmäßiges Gleiten zwischen zwei Tönen im Abstand einer Quarte, Quinte, Sexte oder O k t a v e ; das Verharren auf dem ersten T o n und anschließende Gleiten zu einer präzisen oder unscharfen T o n h ö h e ; das Verharren auf dem ersten T o n und auf dem letzten T o n . A l s ein Merkmal des Rufs finden wir die Ausführung des Glissando auf präzise intonierten Halbtönen bis zum Finalton, ein Phänomen, das auch in den Rufen ambulanter Handwerker begegnet: 2 1

Melismen werden zwischen zwei oder drei T ö n e n ausgeführt. Sie enthalten manchmal auch ein Glissando. Ebenso wie bei der Ausführung der Formel mit getrennten T ö n e n bezeichnen sie eine Bewegung, die auch den Akzent auf dem höchsten T o n mit einschließt. i) A l s Ergebnis der Arbeitshandlung erscheint häufig auch ein Staccato, mit dem fast alle akzentuierten T ö n e schließen. So begleitet z. B. das plastische M o t i v (aus Notenbeispiel 8)

zup

zup

zup

das Rollen eines Baumstammes zu Tal, der angekommen zu den Arbeitern weitergestoßen wird. j) Das T e m p o entwickelt sich — wenn man das Achtel als Einheit wählt — zwischen den Metronomwerten 208 und 220. k) Wegen der freien und etwas improvisatorischen Ausführung sind musikalische und rhythmische Variationen trotz des begrenzten Umfangs der T ö n e besonders zahlreich. Z u m Schluß dieser Beobachtungen sei auf die allgemeine bekannte Tatsache hingewiesen, daß der rasch vorausschreitende Prozeß der Mechanisierung, der auch die Forstarbeit erfaßt hat, zum Verschwinden dieser Rufe führen wird — in Rumänien wie anderswo. A l s selbständige Kategorie mit besonderen Eigentümlichkeiten haben sie die Musikfolklore bereichert; sie beweisen uns heute, daß gewisse, allen Rufen gemeinsame musikalische Formeln auch in späteren Entwicklungsstadien der Musikfolklore — in Liedern und Tänzen — direkt oder in morphologisch ähnlicher Ge81

Wie übrigens auch andere Merkmale der Arbeitsrufe und des Rufprozesses überhaupt.

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GHIZELA

SULITEANU

stalt noch vorkommen. Die musikalische Struktur dieser Rufe scheint ein bei weitem reicher entwickeltes Material zu enthalten als die Rufe der Primitiwölker, da die musikalische Konzeption selbst außerordentlich differenziert ist. Die urtümliche, psychophysiologische Natur der Arbeitsrufe impliziert jedoch in jedem Fall elementare musikalische Gestaltungsprozesse, die den entsprechenden Prozessen bei den Liedern primitiver Völker sehr ähnlich sind. Die genauere Untersuchung dieser archaischen Phänomene kann zur Interpretierung des Prozesses der musikalischen Frühentwicklung Wesentliches beitragen.

Notenbeispiele

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Arbeitsrufe der Waldarbeiter aus Jeud (Vi§eu-Maramure§), aufgez. in Bukarest 1950 von E . Dragnea; Phonogr.Nr. 1 1 5 7 9 b . Transkription dieser und aller folgenden Nr.: G . Suliteanu.

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75

Kommandorufe bei der Forstarbeit

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