198 59 27MB
German Pages 476 [480] Year 1995
Erich Straßner Deutsche Sprachkultur
Erich Straßner
Deutsche Sprachkultur Von der Barbarensprache zur Weltsprache
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Strassner, Erich: Deutsche Sprachkultur : von der Barbarensprache zur Weltsprache / Erich Strassner. Tübingen : Niemeyer, 1995 ISBN 3-484-73038-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen
Inhaltsverzeichnis
0.
VORWORT
1.
V O N O T F R I D VON W E I S S E N B U R G BIS K O N R A D VON W Ü R Z B U R G 8 . BIS 1 4 . JAHRHUNDERT
1.1 1.2 1.3
2.
3.
Kirchlich-religiöse Sprachkultur Weltliche Sprachkultur Fazit
1
1 15 26
V O N JOHANNES VON T E P L BIS J O H A N N FISCHART 1 5 . UND 1 6 . JAHRHUNDERT
33
2.1 2.2 2.3 2.4
33 43 56 59
Humanistisch orientierte Sprachkultur Reformerische Sprachkultur Nachreformerische Sprachkultur Fazit
V O N M A R T I N O P I T Z BIS G O T T F R I E D W I L H E L M L E I B N I Z 1 7 . JAHRHUNDERT
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
4.
VII
Grammatisch orientierte Sprachkultur Literarisch orientierte Sprachkultur Fachlich orientierte Sprachkultur Didaktisch orientierte Sprachkultur Puristisch orientierte Sprachkultur Fazit
65
65 77 89 96 99 110
V O N JOHANN C H R I S T O P H G O T T S C H E D BIS FRIEDRICH SCHILLER 1 8 . JAHRHUNDERT
121
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
121 136 176 181 186 192
Grammatisch orientierte Sprachkultur Literarisch orientierte Sprachkultur Fachlich orientierte Sprachkultur Didaktisch orientierte Sprachkultur Puristisch orientierte Sprachkultur Fazit
VI 5.
V O N DEN BRÜDERN SCHLEGEL UND GRIMM ZUM ALLGEMEINEN DEUTSCHEN SPRACHVEREIN
6.
1 9 . JAHRHUNDERT
203
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6
203 221 237 251 262 279
Grammatisch orientierte Sprachkultur Literarisch orientierte Sprachkultur Fachlich orientierte Sprachkultur Didaktisch orientierte Sprachkultur Puristisch orientierte Sprachkultur Fazit
V O N F R I T Z MAUTHNER BIS ZUR GEGENWART 2 0 . JAHRHUNDERT
289
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7
289 312 355 374 386 417 428
Linguistisch orientierte Sprachkultur Literarisch orientierte Sprachkultur Fachlich orientierte Sprachkultur Didaktisch orientierte Sprachkultur Puristisch orientierte Sprachkultur Ideologisch orientierte Sprachkultur Fazit
LITERATURVERZEICHNIS REGISTER
439
455
0. Vorwort
Als die deutsche Sprache um 870 von dem Mönch Otfrid im Kloster Weissenburg im Elsaß erstmals auf ihre Brauchbarkeit für die Wiedergabe des göttlichen Wortes überprüft wurde, zeigte der Autor Skepsis. Das Deutsche erschien ihm als unkultiviert, bäurisch und ungebildet. Es zählte ja nicht zu den >heiligen< Sprachen, wie das Hebräische, Griechische und Lateinische und war auch nicht von diesen ableitbar. Dennoch gilt das Bemühen der theologischen Dichter und Übersetzer das ganze Mittelalter hindurch, das Deutsche vom Lateinischen zu emanzipieren. Für die Autoren der laikalen Oberschicht wird das Französische beispielhaft. Sie lösen die Sprache der höfischen und nachhöfischen Dichtung von der volkstümlichen, mundartgebundenen und erheben sie in den Rang eines literarischen Kunstprodukts. Für den praktischen Bereich in Staat, Recht und Wissenschaft bedeutet zunehmende Volkssprachigkeit den Einbezug möglichst vieler in den Informationsfluß wie in den kommunikativen Austausch. 1424 kündet der Hildesheimer Augustinerchorherr Dietrich Engelhus vom hohen Ansehen der deutschen Sprache in einer Zeit, in der die Humanisten sich im lateinischen Stil, in der lateinischen Eloquenz und Rhetorik übten bzw. versuchten, eine am Lateinischen orientierte Literatursprache zu schaffen. In der Reformationszeit beginnen Lese- und Schreibmeister sowie frühneuhochdeutsche Grammatiker die theoretische Auseinandersetzung mit dem Deutschen. Luthers sprachliche und stilistische Mittel werden vorbildhaft und nachahmenswürdig selbst bei theologischen Gegnern. Seine Texte werden zur verbindlichen Autorität im Schulgebrauch. Die Meistersinger fordern von ihren Mitgliedern den Einsatz »der hohen deutschen Sprache«, außerdem einwandfreie Grammatik, sinnvollen Wortgebrauch und Verständlichkeit des Ausdrucks. In der Barockzeit nobilitiert der >ornatus< der deutschen Volkssprache diese gegenüber der Latinität. Das Deutsche wird aufgewertet zur Hauptsprache, bei Sigmund von Birken 1669 sogar zur »Welthauptsprache«, gilt als ursprünglich und unvermischt und ist deshalb anderen Sprachen vorzuziehen. Ansehen, Majestät, Kraft, Kürze, Wortreichtum, Wortbildungsfähigkeit, Eindeutigkeit und vor allem Geschicklichkeit zur Poeterei sind Attribute, die in der einschlägigen Literatur immer wieder herausgestellt werden. Andererseits wird der durch das Ala-mode-Wesen wie den Dreißigjährigen Krieg entstandene Sprachverfall beklagt, aber zugleich auch bekämpft. Das Kunstgebäude der deutschen Sprache soll ausgebaut werden zu einem Sprachpalast (Schottel). Beschworen wird die »Cultur der Sprache« (Christian Weise), in der Sprachrichtigkeit, Sprachreinheit und Sprachschönheit zusammenwirken.
VIII
Vorwort
Das Streben der Deutschen vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, ihre Sprache zu kultivieren, ihr Ringen um Sprachrichtigkeit, Sprachreinheit und Sprachschönheit versucht die vorliegende >Sprachkulturgeschichte< nachzuzeichnen. Sie geht dabei aus von Meta-Reflexionen zeitgenössischer Autoren, von Äußerungen über die eigene Sprache, die anderer Autoren, die der Zeitgenossen allgemein und die früherer Epochen. Gesammelt werden also die zeit- oder epochenüblichen Äußerungen und Ausprägungen über die Sprache, die positiven, die Vorbildhaftes herausstreichen, und die negativen, die ihnen Unangenehmes kritisieren. Zu finden sind auch die Ansichten und damit die geschichtstypischen Einstellungen zu anderen Sprachen bzw. anderen Sprachnationen, zur Rolle der Sprache in der Literatur, in der Ästhetik, in den Religionen, im menschlichen Erkenntnisprozeß, aber auch die subjektiven oder gerade gültigen Ansichten über Sprachmoden, den Fremdwortgebrauch, die Satzkomplexität usw. (vgl. Gardt, A. u.a. 1991). Nachvollzogen werden kann, daß die Deutschen einerseits stolz sind auf ihre Sprache, zum anderen aber auch traurig über Schäden, Nachlässigkeiten, Schludrigkeiten, möglicherweise aber auch über die fortschreitende Europäisierung bzw. Anglisierung. Heute gehört das Deutsche zu den international bedeutsamsten Sprachen (Ammon, U., 1991). Es zählt zu den Weltsprachen, selbst wenn im eigentlichen Sinne diese Bezeichnung nur das Englische verdiente. Da der Begriff >Kultur< zu einer Art »Zauberformel unserer Geistesgegenwart« (Berking, H., 1989) wurde, der die Gemüter zwischen Postmoderne und Moderne bewegt, scheint es gerechtfertigt, sich mit einem spezifischen Kulturbereich, dem der deutschen Sprache, intensiv zu beschäftigen. Die Intensität kennzeichnet auch das vorliegende Buch, dessen Manuskript ein Ergebnis langjährigen Sammeins, Verarbeitens, Formulierens und Umformulierens ist. Hilfreich bei der Verfertigung der >Pastete< oder des > wohlgewürzten Gerichts< im Sinne des Mottos, waren viele, bei denen ich mich besonders herzlich bedanken möchte. Tübingen, im Mai 1994
»Es ist nichts neues unter den Gelehrten, Daß einer vom andern entlehnt und auf seine Zeit, seinen Ort, seine Leute applicirt ... Das ist auch eine Kunst, wenn ein Koch einen kalten Braten nimmt, welchen die Gäste des vorigen Abends nicht haben essen wollen, und mach des Morgens kleine Pasteten oder ein wohlgewürztes Gericht daraus.« Schupp, J.B., Lehrreiche Schriften I, Frankfurt am Mayn 1719, 587
1.
Von Otfrid von Weissenburg bis Konrad von Würzburg 8. bis 14. Jahrhundert
1.1. Kirchlich-religiöse Sprachkultur Im Mittelalter erfüllt die lateinische Sprache die Funktionen, die Schriftlichkeit voraussetzt. Sie dominiert in der Verwaltung, im Recht und in der Politik. In Latein sind uns die germanischen Volksrechte (Leges barbarorum, 5 . 9. Jh.) überliefert. Auf gleiche Art korrespondieren die deutschen Könige mit den deutschen Fürsten, werden die Verträge formuliert, die Akten geführt, alle Aufzeichnungen des geistig-politischen Lebens getätigt. Zwar begegnet die deutsche Sprache in Urkunden seit 1221, in Reichsgesetzen seit 1235. Aber zwischen 1230 und 1299 sind uns mehr als eine halbe Million lateinischer Urkunden überliefert und nur etwa 2500 deutsche. Selbst der Handel benutzte für seine Geschäftsführung die lateinische Sprache. Latein ist die Sprache aller Wissenschaften, nicht nur der Theologie und Philosophie. Latein bestimmte das gesamte Unterrichtswesen. Man erwarb die Fähigkeit, sich schriftlich wie mündlich zu artikulieren, normalerweise in den Kloster-, Kathedral- und Stadtschulen. Die >Grammatik< vermittelte die Sprachlehre. Die >Rhetorik< formte den Stil der Heranwachsenden. Die >Dialektik< schulte ihr Denken. Hatte man die Disziplinen dieses >Triviums< durchlaufen, war man in der Lage, einen Gedankengang von einigem Niveau sprachlich, stilistisch und logisch einwandfrei zu entwickeln. Man konnte ihn aber auch anmutig kleiden und schmücken, ihn poetisch nach bewährten Mustern und Vorbildern gestalten. Lateinische Lektüre bot Anlaß zu grammatisch-rhetorischen Übungen in Prosa wie in Versen. Grammatisches und Metrisches, Stilistisches und Stoffliches aus dem antiken Traditionsgut ging in den dauernden geistigen Besitz der Gebildeten über. Deren intensive Beschäftigung mit den antiken Texten führte dazu, daß diese immer wieder abgeschrieben, kommentiert und zunehmend auch übersetzt wurden. 1 Deshalb ist die geschriebene deutsche Sprache in ihren Anfängen das Ergebnis von Übersetzertätigkeit. Aus der lateinischen Tradition ist auch das Reflektieren über die Funktion der Dichtung in der Volkssprache abgeleitet. Die lateinischen Poetiken werden benutzt, ihre Konzepte wie ihre Art der Argumentation übernommen.
Fechter, W. (1964), 9 - 1 4 . - Richter, M., Kommunikationsprobleme im lateinischen Mittelalter, Historische Zeitschrift 222, 1976, 4 3 - 8 0 ; Wühr, W„ Das abendländische Bildungswesen im Mittelalter, München 1950; Illmer, D., Formen der Erziehung und Wissensvermittlung im frühen Mittelalter, München 1971
2
8. bis 14.
Jahrhundert
Zwar entstand bereits im frühen Mittelalter eine deutsche Literatur, gespeist einmal aus der germanischen mündlichen Tradition, zum anderen, weil man auch die deutsche Sprache für fähig hielt, Literatursprache zu werden. »Das geschah in einem Prozeß der Verselbständigung, in dem sich die deutsche Dichtung mehr und mehr vom Lateinischen löste. Aber sie entfaltete sich in einem geistigen Raum, der seit Jahrhunderten von der lateinischen Sprache und Literatur beherrscht wurde. Hier hatte sich in lebendiger Verbindung mit der Antike eine literarische Tradition gebildet, ein nutzbarer Schatz an poetischer Technik, an Darstellungsformen, Redewendungen, Bildern und Vergleichen angesammelt, eine unverkennbare Eigenart der Beschreibung, Charakterisierung und Handlungsführung entwickelt.« 2 Latein war die offizielle Sprache der Kirche, ihrer Liturgie, ihrer Gebete und Gesänge. Die lateinische Schriftlichkeit beanspruchte kanonischen Geltungsanspruch, da in ihr die Orientierung an Bibel und Exegese authentisch vermittelt wurde. Das antik-christliche Kulturerbe war nur den klerikal Gebildeten zugänglich. Für seine Weitergabe an das Volk mußte eine althochdeutsche Kirchensprache geschaffen werden mit der Aufgabe, die Überlieferung nicht nur praktisch-didaktisch zu vermitteln. Wesentlicher war es, im Deutschen ein dem Latein ebenbürtiges Medium für das Wort Gottes und für die Weitergabe der theologisch-philosophischen Tradition zu finden, denn das Deutsche zählte nicht zu den >heiligen< Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Latein). 3 Wie schwer die ersten Versuche sind, die deutsche Sprache zu handhaben, wird deutlich aus Äußerungen des Mönchs O T F R I D , der um 870 im Kloster Weissenburg im Elsaß ein >Leben Jesu< dem Geschehen in den Evangelien nachdichtet. In einem Approbationsschreiben, der Bitte um Freigabe seines Textes an den Erzbischof Liutbert von Mainz, schildert Otfrid seine Probleme:
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3
Ebd. 21. - Sonderegger, S., Latein und Althochdeutsch. Grundsätzliche Überlegungen zu ihrem Verhältnis, In: Variorum munera florum. Latinität als prägende Kraft mittelalterlicher Kultur, hg. v. A. Reinle, Sigmaringen 1985, 5 9 - 7 2 Borst, A. (1957), 4 9 8 - 5 4 1 : Durch das Wort Gottes erschienen die alten Sprachen der Überlieferung geheiligt; das Hebräische vom Alten Testament her, das Griechische vom Neuen Testament und das Lateinische seit dem Erstarken der Kirche und ihrer lateinischen Erfüllung im Frühmittelalter. - Völlig isoliert ist im 12. Jahrhundert die Aussage HILDEGARDS VON BINGEN, die nur lateinisch schrieb, aber meinte, Adam und Eva hätten in der deutschen Sprache gesprochen (Adam et Eva Teutonica lingua loquebantur). Das Deutsche wird von ihr als die beste aller Sprachen bezeichnet und galt ihr als Muster- und Ursprungssprache. Sie wird sogar über das Hebräische gestellt; Schipperges, H., Ein unveröffentlichtes Hildegardfragment (Codex Berolin. Lat. Qu. 674), Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 40, 1956, 71; Morciniec, N., Theotiscus diutisk bei Otfried und Notker, In: wortes anst . verbi gratia, donum natalicum gilbert a.r. de smet, hg. v. h.l. cox; v.f. vanacker, e. verhofstadt, leuven 1986, 3 5 5 - 3 6 2 - Zur Einführung der deutschen Sprache im Kirchenbereich seit Karl dem Großen vgl. Feldbusch, E. (1985), 229ff.
Kirchlich-religiöse
Sprachkultur
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Wie nun allerdings diese unkultivierte Sprache (barbaries huius lingua) insgesamt bäurisch (inculta) ist und ungebildet (indisciplinabilis), nicht gewöhnt, sich dem lenkenden Zügel der Grammatik zu fügen, so ist auch bei vielen Wörtern die Schreibung schwierig, sei es wegen der Häufung von Buchstaben, sei es wegen ihrer ungewöhnlichen Lautung. Denn bisweilen fordert sie, wie mir scheint, drei u (die ersten zwei meines Erachtens konsonantisch lautend, während das dritte u den Vokalklang beibehält), bisweilen konnte ich weder den Vokal a, noch ein e, noch ein i und auch nicht ein u vorsehen: in solchen Fällen schien es mir richtig, y einzusetzen. Aber auch gegen diesen Buchstaben sträubt sich diese Sprache manchmal: sie geht überhaupt bei gewissen Lauten nur mühsam eine Verbindung mit einem bestimmten Schriftzeichen ein. Diese Sprache verwendet, abweichend vom Lateinischen, häufig k und z, Buchstaben, von denen die Grammatiker sagen, sie seien überflüssig. Zum Ausdruck des bisweilen vorkommenden dentalen Zischlautes wird, wie ich meine, in dieser Sprache das ζ verwendet, das k aber zum Ausdruck des Rachenlauts. Unsere Sprache gestattet auch die häufige (wenngleich nicht durchgängige) Anwendung einer Form des Metaplasmus, 4 die die gelehrten Grammatiker Synalöphe 5 nennen (und wenn dies die Leser nicht beachten, klingt der Rhythmus der Worte entstellt). Dabei bleiben die Buchstaben bisweilen im Schriftbild erhalten, bisweilen aber werden sie weggelassen ... Das bedeutet aber nicht, daß der Text dieses Werkes durch kunstvolle metrische Regeln gebunden wäre, vielmehr verlangt er durchgehend nach der Figur des Homoioteleutons. 6 Es fordern nämlich in dieser Dichtung die Wörter einen Endklang, der mit dem vorausgehenden (Endklang) korrespondiert und ihm ähnlich ist, und sie läßt das ganze Werk hindurch nicht nur zwischen zwei Vokalen, sondern auch zwischen anderen Buchstaben sehr häufig synalöphische Verschmelzung zu. Geschieht dies nicht, führt die wiederholte Buchstabenhäufung zu einem unangemessenen Klang der Sätze. Bei genauem Hinsehen können wir feststellen, daß wir auch in der Umgangssprache nicht selten ebenso verfahren. Die poetische Gestaltung der Sprache dieser Dichtung stellt demnach ihre Forderungen an den Leser: er muß auf leichte und gleitende synalöphische Verschleifung achten; andrerseits fordert sie vom Verfasser die Einhaltung des Homoioteleutons, das heißt der gleichklingenden Wortausgänge. Der Sinnzusammenhang muß in dieser Dichtung manchmal über zwei oder drei oder gar vier Verse hinausgreifen, damit den Lesern recht deutlich werde, was der Text sagen will. Nicht selten findet sich hier die Verbindung i mit ο (und analog die Verbindung von i mit einem der übrigen Vokale) und zwar so, daß das eine Mal die beiden Vokale auch in der Aussprache als selbständige Vokale erhalten bleiben, ein anderes Mal jedoch die zwei Vokale in der Aussprache verschmelzen, dann nämlich, wenn der erste Vokal konsonantisch wird. Auch eine doppelte Negation, die im Lateinischen die Aussage bekräftigt, bedeutet in unserem Sprachgebrauch praktisch immer eine Verneinung, und wenn ich dies bisweilen auch hätte vermeiden können, habe ich doch mit Rücksicht auf die Umgangssprache mich bemüht, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entsprechend zu schreiben. Die Eigenart dieser Sprache erlaubte mir auch nicht, in jedem Fall Numerus und Genus beizubehalten. Manchmal habe ich nämlich ein lateinisches Maskulinum in dieser Sprache als Femininum wiedergegeben, und auch die übrigen Geschlechter habe ich notgedrungen in ähnlicher Weise geändert; den Plural habe ich gegen den Singular und den Singular gegen
Lautveränderung aus Gründen des Wohlklangs (oder der Metrik): golden/gülden. Verschmelzung zweier Vokale, die im Auslaut und folgendem Anlaut zusammenstoßen Reim
4
8. bis 14. Jahrhundert den Plural ausgetauscht, und so konnte es nicht ausbleiben, daß ich mich ziemlich häufig eines Barbarismus 7 und Solözismus 8 schuldig machte. Deutsche Beispiele all dieser erwähnten Verstöße könnte ich aus meinem Buch hier aufführen; doch möchte ich den Spott der Leser vermeiden. Wenn nämlich die ungeschliffenen Worte einer bäurischen Sprache in die feine Glätte des Lateinischen eingestreut werden, ruft das bei den Lesern spöttisches Gelächter hervor. Diese unsere Sprache gilt in der Tat als bäurisch, weil sie von denen, die sie sprechen, zu keiner Zeit durch schriftliche Fixierung oder durch irgendeine Art grammatisch-rhetorischer Studien kultiviert wurde. Unsere Landsleute nämlich überliefern nicht, wie viele andere Völker, die Geschichte der eigenen Vorfahren der Nachwelt und sie verherrlichen auch nicht deren Taten und Leben in liebevoller Bewunderung ihres verdienten Ruhms. Wo dies, selten genug, doch einmal geschieht, wählen sie für ihre Darstellung lieber die Sprache fremder Völker, das heißt der Römer oder Griechen. Sie hüten sich vor Fehlern in den fremden Sprachen, in der eigenen scheuen sie sie nicht. Bei fremden Sprachen schrecken sie davor zurück, sich auch nur mit einem einzigen Buchstäblein gegen die Grammatik zu verfehlen, - und die eigene Sprache bringt beinahe mit jedem Wort einen Fehler hervor. Es ist erstaunlich, daß so bedeutende Männer, eifrige Anhänger der Wissenschaft, Männer von außerordentlichem Abwägungsvermögen und voller geistiger Beweglichkeit, groß durch Weisheit und hervorragend durch Frömmigkeit, alle diese Fähigkeiten zum Ruhm einer fremden Sprache einsetzen und im Schreiben der eigenen keine Übung haben. Und dennoch ziemt es sich, daß das Menschengeschlecht auf welche Art auch immer, sei es in einer fehlerhaften, sei es in einer höchst kultivierten Sprache, den Schöpfer aller Dinge lobt. Er nämlich hat ihnen das Instrument der Sprache gegeben, damit sie in ihr sein Lob erklingen lassen. Er erwartet von uns ja nicht die Schmeichelei glatter Worte, sondern die fromme Ausrichtung unseres Denkens und viele in frommem Eifer geschaffene Werke, nicht leeren Lippendienst. 9
Die Beschreibung Otfrids hat einen logischen Aufbau. Zuerst schildert er die Schwierigkeiten der Verschriftlichung und die sprachgegebenen Abweichungen des deutschen v o m lateinischen Lautsystem. Dann geht er ein auf die Unterschiede zwischen der lateinischen und der für seine Dichtung entwikkelten deutschen (fränkischen) Metrik, wobei er zur Beschreibung die Termin o l o g i e der lateinischen Grammatik benützt in Abhängigkeit v o m >Commentum Artis Donati < des Pompeius. Das Deutsche bzw. Fränkische ist also fähig, in einer Grammatik klassischer Art beschrieben zu werden. Er wagt dann den Blick von der Dichtersprache zur fränkischen Alltagssprache, stellt ihre Besonderheiten heraus. D i e s e Kontrastierung »bedeutet eine Emanzipation aus der lateinischen Sprachrealität, eine Emanzipation, die freilich nicht zu einem Gegeneinander, sondern am Schluß des Abschnittes zu einem Nebeneinander wird.« 1 0
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Verstoß gegen die korrekte lautliche Form Verstoß gegen die Regeln der Syntax Text in der Übersetzung von G. Vollmann-Profe (1976), 25-28. - Den Text bieten in modernen Übersetzungen auch A. Schwarz (1975), 247-249 und R. Patzlaff (1975), 5 - 7 . - Rädle, F., Otfrids Brief an Liutbert, In: Kritische Bewährung. Festschrift f. W. Schröder, hg. v. E.-J. Schmidt, Berlin 1974, 213-240 Schwarz, A. (1975), 250. - Vgl. Günther, H„ Probleme beim Verschriften der Muttersprache. Otfrid von Weissenburg und die lingua theotisca, Zeitschrift für Litera-
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Sprachkultur
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Otfrid weist den Weg zu einer kunstvollen deutschen bzw. fränkischen Sprache. Er fürchtet zwar den Spott, aber der Lobpreis Gottes ist wichtiger als alle glatten Worte. Im 1. Kapitel seiner deutschsprachigen Einleitung zum >Evangelienbuch< (Cur scriptor hunc librum theodisce dictaverit) meint Otfrid, die fränkische Sprache sei für die Dichtung nicht so geeignet und so den Regeln zu unterwerfen (Nist si so gesungan, mit regulu bithuungan) wie die anderer Völker, aber sie hat den geregelten Gang vollendeter Schönheit (si habet thoh thia rihti in sconeru slihti). Während die erste Reimzeile sich der Klage im Liutbert-Brief anschließt, wird die zweite auf ein höheres Regelwerk bezogen, das Stimmen aller Regeln, wenn man sich bemüht, nach Gottes Wort zu leben. Damit löst sich der beim naiven Lesen entstehende irritierende Widerspruch. 11 Wichtig ist dem Dichter, daß alle Widrigkeiten der Sprache nicht davon abbringen sollen, in fränkischer Sprache Gottes Lob zu verkünden (Wanana sculun Frankon einon thaz biwankon, ni sie in frenkisgon biginnen, si gotes lob singen?). Otfrids Schilderung des Sprachzustandes seiner Zeit, seine Klage über das Fehlen einer deutschen bzw. fränkischen Grammatik und einer für das Deutsche geeigneten Orthographie, der Verweis auf die Ungeschliffenheit der eigenen Sprache treten zurück gegenüber seinem Bekenntnis, daß Gott den Menschen die Fähigkeit zur Sprache gegeben, daß er ihnen Worte geschenkt hat, ihn in alle Ewigkeit zu lobpreisen, ihn zu erkennen und ihm zu dienen. Indem der Dichter über die ihm zur Verfügung stehenden Spachmittel reflektiert, sie in eine kleine Grammatik analog der lateinischen bringt, weist er der Vulgärsprache den Weg in die Zukunft, in eine eigene Sprach- und Schriftkultur, die gespeist wird aus lateinischer Bildungstradition und christlicher Mission. Otfrid reiht sich zwar mit seinem Vorwurf der >barbariesSchmerz< auf >Herz< folgen läßt. Otfrids Ausführungen sind singular w i e sein »Vorstoß zu einer deutschsprachigen Schriftkultur nicht traditionsbildend gewirkt« hat. 13 Er dichtete seine >Evangelienharmonievor der Schwierigkeit einer fremden Sprache zurückschrecken, hier in der eigenen Sprache die hochheiligen Worte verstehen< und >das Gesetz Gottes im Medium der eigenen Sprache< begreifen zu lehren. 1 4 Otfrids Werk zeigt, daß die deutsche der ausgebildeten lateinischen Sprache kein ebenbürtiges Ausdrucksmittel entgegensetzen konnte. »Ihrem Wortschatz fehlten die Abstrakta, die Möglichkeit, geistige Vorgänge wiederzugeben, ihre Phantasie beugte sich wenig dem Joche zwingender Logik. Sie stellten Satzglieder, wortgefügte Einheiten gleichberechtigt nebeneinander, bauten, indem sie Block an Block legten ohne Verbindung und Stütze. So rieb sich die Sprache wund an der Härte und steinernen Größe der festen lateinischen Fügungen, der sie gehorchen mußte; denn aus der Übersetzung leitet die deutsche Schriftsprache ihre Entstehung her. Sie entwickelt sich von der G l o s s e über das Wörterbuch und die Interlinearversion zum althochdeutschen Isidor, Tatian und der grandiosen Sprachleistung Notkers des Deutschen.« 1 5
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von calix, phater von pater, moter von mater, genez von genetium, welche griechisch lauten cylix, pater, meter und genetion; trotzdem für einige dieser Begriffe nicht bloß die Lateiner eigene Wörter haben wie genitor und genetrix, sondern auch die Deutschen, als atto und amma, todo und toda. Unmittelbar von den Griechen aber haben wir überkommen kyrica von kyrios und papo von papa, herero von heros, mano und manoth von men und noch viele andere. Also wird nun auch für das Gotteshaus, wie basilica, id est regia a rege, kyrica, id est dominica a domino benannt, quia domino dominantium et regi regum in illa servitur ...« (Migne, Patrologiae cursus completus, Series latina Bd. 114, Sp. 926 D). - Sonstige Autoren vgl.: Socin, A. (1888), 49f. - Ursprünglich war der Barbaries- oder RusticitasTopos auf vulgärromanische Sprachen gemünzt. Haug, W. (1985), 42 - Die Fortführung dieser Einstellung dokumentiert Tschirch, F. (1966), 145-150 Otfrid, Liutbert-Brief, Vollmann-Profe, G. (1976), 24. - Um 860 hatte schon der ehemalige fuldische Mönch GOTTSCHALK im westfränkischen Exil in einem Brief grammatische Beispiele der >barbara locutio< erläutert. Er stellt die >gens teudisca< in ihrer Sprache über die Römer und an die Seite der Griechen (Nolo haec deputentur flocci pendenda, quinimmo censeantur vehementer stupenda quippe com barbarae linguae sint divinitus naturaliter indita et generaliter insita, quae peritissimi Latinorum singulariter esse recondita mirantur vel potius admirantor in thesauris archivis Grae corum). Der grammatische Aufbau der altdeutschen Sprache, ihre Besonderheit gegenüber dem Lateinischen wird auf den göttlichen Willen zurückgeführt, - Rexroth, K.H. (1978), 290f. Newald, R. (1960), 60
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Dieser NOTKER III. L A B E O oder TEUTONICUS, aus thurgauischem Adel und Leiter der weitberühmten Klosterschule von St. Gallen, geht wesentlich weiter in seiner Sprachreflexion als Otfrid. Er faßt um 1020 das Klosterlatein als Repräsentanten eines christlichen Begriffssystems und stellt diesem das System der deutschen Vulgärsprache als ein vergleichbares gegenüber. Bei seinen Übersetzungen heidnisch-antiker Literatur (Aristoteles, Boethius, Vergil, Terenz u.a.) wie vor allem der Psalmen und des Buchs >Hiob< bemüht er sich, für bestimmte Stellen des Ausgangssystems deutsche Äquivalente zu finden, zugleich aber das Verhältnis von Wort und Begriff zu eruieren. »Die Klugheit seines Verfahrens zeigt sich darin, daß er nicht einfach für alles und jedes deutsche Äquivalente erfindet, sondern gegebenenfalls auch lateinische Begriffe als Fremdwörter übernimmt. In ihnen wird das >okkasionelle Mom e n t des Sprechens und Verstandenwerdens als historisch-individuelle Bedingung markiert. Notker ist nicht nur >deutscher WortschöpferFremdwortschöpferGottheit< für lat. divinitas. >Heit< war als selbständiges Wort von karolingischen Übersetzern für lat. persona verwendet worden. Notker erkennt, daß es als selbständiges Wort unbrauchbar ist, macht es zur Ableitungssilbe und damit fruchtbar für parallele Bildungen wie >Man-heitMennesch-heit< u.ä. Dagegen übernimmt er die Begriffe >persona< oder >substantiaRhetorik< deutlich, daß die für das Latein geltenden Regeln auch auf das Deutsche zu übertragen sind. Er gibt ein Beispiel für den hyperbolischen Stil:
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Bertau, K. (1972), I, 101. - Leimbach, F., Die Sprache Notkers und Willirams. Diss. Göttingen 1933; Sonderegger, S., Altdeutsch in St. Gallen, Sigmaringen 1970; Ders., Notker der Deutsche als Meister einer volkssprachlichen Stilistik, In: Althochdeutsch, hg. v. R. Bergmann u.a., Heidelberg 1987, Bd. 1, 839-871 Piper, P. (Hg.), Die Schriften Notkers und seiner Schule, Freiburg-Tübingen 1882/ 83, Bd. 2, 639f. Vgl. das Reflektieren des Systems der Trinitätsbegriffe in der anschaulichen Darstellung bei Bertau, K. (1972), I, 99-101 Hellgardt, E. (1979), 173; Henkel, N. (1988), 73-86. - Grubmüller, K „ Etymologie als Schlüssel zur Welt? Bemerkungen zur Sprachtheorie des Mittelalters, In: Verbum et signum, hg. v. H. Fromm u.a., München 1975, 209-230
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8. bis 14. Der heber gät in litun tr6git spir in situn. sin bäld έΐΐίη neläzet in uellin. Imo sint füoze füodermäze. imo sint bürste ebenhö forste, linde ζέηε sine, zuu61if61nige.
Jahrhundert
Am Berghang stapft der Eber, trägt einen Speer in der Flanke. Seine Riesenkräfte (Orig. Sg.) lassen ihn nicht wanken. Ihm sind die Füße weinfässerartig. Ihm sind die Borsten hoch tannenforsten, und seine Zähne zwölfellenhaftig. 20
Außerdem meint er, daß auch die Akzentsetzung übertragbar sei: »Alle deutschen Wörter, außer den Artikeln ... tragen auf dem Vokal einen Akzent, einen Akut (bei kurzem) oder einen Zirkumflex (bei langem Vokal) haben sie, und den sollte man auch schreiben. Ferner entdeckt Notker, daß die Laute b, d, g am Wort- oder Satzanfang als p, t, k gesprochen werden, wenn ihnen nicht ein klingender Konsonant (m, η, 1, r) oder Vokal vorausgeht. Und so schreibt er: unde der brüoder - aber: Tes prüoder hüs.« 21 Notkers Sprachreflexionen sind die eines Praktikers, dem es nicht um die Begründung oder Neubegründung einer deutschen Literatur geht, sondern darum, die Volkssprache zum besseren Verständnis lateinischer Texte, vor allem im Unterricht, zu nützen. Er sieht sich selbst auch nicht im Rahmen einer Übersetzungstradition, sondern betont das Neue seines Verfahrens. Sein bedeutendster Schüler, E K K E H A R T IV, der Autor der >Casus Sancti GalliHohenlied< (Cantica canticorum) schreibt. Williram interessiert sich nicht für Struktursysteme der Sprachen als Ganze, sondern für »sein eigenes Spezialistentum. Die Ziel- und Schlüsselbegriffe seiner Sätze sind lateinische theologisch-liturgische Floskeln - Fachjargon. Unverständlich scheint, daß gemeint werden konnte, es sei Williram darum gegangen, >durch Einbeziehung der
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Piper, P. (Hg.), Die Schriften Notkers und seiner Schule, Freiburg-Tübingen 1882/ 83, Bd. 1, 673f. Bertau, K. (1972), I. 98. Liber benedictionum Ekkeharts IV, hg. v. J. Egli, St. Gallen 1909, 230ff. - Andererseits überträgt Ekkehart das althochdeutsche Galluslied, das Ratpert zu Ehren des Kostergründers gedichtet hatte, in lateinische Verse, um statt des carmen barbaricum einen würdigen Text zur Melodie zu haben. Vgl. Ponert, D.J. (1975), 22f.
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Volkssprache auch den Kreisen der weniger Gebildeten das Wort der Schrift verständlich zu machenWort der Schrift< war hier nur die litteraliter-Übersetzung des Hohenliedes, bei dem sich weniger Gebildete allenfalls fragen mochten, was denn das mit dem Glauben zu tun hätte. Im Kommentar braucht man nur die lateinischen Versatzstücke wegzulassen, um zu sehen, daß der Zugang zur Erklärung Lateinunkundigen genau vermauert wurde. Dieser Text konnte Laien höchstens zeigen, wo ihr Verständnis aufhört und die Spezialistenwelt des Autors beginnt«. 23 Ein Beispiel verdeutlicht diese Funktion des lateinisch-deutschen Mischtextes: Mein Freund ist weiß und rot, ist auserwählt unter vielen Tausenden. - Ο sanctae animae,
ihr f r a g e t , w i e denn mein sponsus sei in humanitate, vernehmet nun d i e
Kunde, die ich euch von ihm sage, dann erkennet ihr ihn als speciosum forma prae filiis hominum. Er ist Candidus et rubicundus. Candidus ist er als der, den die Jungfrau gebar, und frei von allen Sünden .... 24
Williram bemüht sich um eine genaue Orthographie und setzt Akzente nach dem Vorbild Notkers. Seine Texte lassen erkennen, daß er nicht nur das Lateinische, sondern auch seine Muttersprache in höchst kultivierter Weise zu gebrauchen wußte. 25 Gerühmt wird in einer zeitgenössischen Quelle, der Vita des Bischofs Altmann von Passau, der Dichter von >Ezzos Gesang< (1065). Er habe als Schol a s t i k a und Mann, begabt mit jeglicher Weisheit und der Kunst der Rede, ein Lied von den Wundern Christi in heimischer Sprache trefflich verfaßt (cantilenam de miraculis Christi patria lingua nobiliter composuit). 26 Der geistliche Verfasser der >Altdeutschen ExodusDomine, labia mea aperiesAnegengePilatusDriu liet von der maget< seine Ansicht von der Volkssprache: »Schauen, schmecken, ergründen sollen es alle, Klerus, Laien, Frauen, was in diesen unerschöpflichen Texten verborgen liegt, damit sie vom Schlafe (der Sünde) erstehen, gelabt, genährt und wohl geführt den Kampf (mit dem Bösen) bestehen. Aus diesem Grund konnte Hieronymus (dem er als Quelle folgt) und kann er, der
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Haug, W. (1985), 49, Psalm 50, 17 Papp, E„ Die altdeutsche Exodus. Untersuchungen und kritischer Text, München 1968, 31. Neuschäfer, D., Das Anegenge. Textkritische Studien. Diplomatischer Abdruck, kritische Ausgabe, Anmerkungen zum Text, München 1966, V. 3 8 6 - 3 8 9 . »Ez hat ouch anderswä / michel bezeichenunge, die man in tiuscher zunge niht mag errechen.« Weinhold, K., Zu dem deutschen Pilatusgedicht. Text, Sprache und Heimat, Zeitschrift für deutsche Philologie 8, 1877, 2 5 3 - 2 8 8 . »Man sagit von dütscher zungen, / siu si unbetwungen, / ze vögene herte. / swer si dicke berte, / si wurde wol zehe, / als dem stale ir geschehe / der in mit sime gezowe / üf dem anehowe / berte, er wurde gebouge. / ... ih bin gebougit unde gebogen / baz dan ich were. / ih spien mich ze sere, / dö ih de sinne beschiet. / noh nentläzen ih mih niet, / ih wil an miner maze donen / unz ich gweichen unde gwonen / in dütscher zungen vorbaz; / si ist mir noh al ze laz.« - Ähnlich der Dichter des oberdeutschen >Servatius< ( 1 1 8 0 - 1 1 9 0 ) : » D e s leben (das Leben des Servatius) wolt ich twingen, möht ichz immer bringen zuo der tiuschen zungen«. Direkt anzuschließen ist auch eine Stelle im >Bihte buoch< (Oberlins Beichtbuch, 14. Jahrhundert), in dem allgemeiner über die geringeren Möglichkeiten geklagt wird, eine Sache genau zu bezeichnen: »tiuschiu zunge ist vil armer an dehein ding ze bescheidenne denne latine«, Oberlin, J.J. Bihtebuoch, Straßburg 1784, 36.
Kirchlich-religiöse
Sprachkultur
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Priester Wernher, es nicht verdagen, deshalb muß er es ins Deutsche übertragen. Das ist einer der schönsten kleineren Texte einer Theorie der Volkssprache ...« 3 3 Auf Distanz geht H E I N R I C H VON K R O L E W I T Z ÜZ Missen gegen Ende seiner langatmigen >VaterunserBuch der hundert Kapitel und der vierzig Statuten< als Manuskript niederschreibt, damit allerdings keinerlei Breitenwirkung erzielt. Er meint, die »schedlich sprach Latin« stamme nicht vom Turmbau zu Babel her, sondern aus der Mördergrube der Römer. Sie sei als künstliches Gebilde von dem Griechen Latinus im Auftrag der Deutschen nach griechischen Regeln konstruiert worden, damit sich die Knechte der Deutschen, Italiener, Franzosen und Spanier, überhaupt untereinander verständigen können. Aber alle Sprachen werden vertilgt werden, und alle Nationen werden schließlich die »heilige dudesche sprach« annehmen, denn die Sprache Adams, »das ist almantz sprach. Dorvmb die Tuschen heißen in Latin >AlmaniSpiegel der wahren Rhetoric< von 1493 die lange, verschränkte Satzperiode als Vorbild hin. 3 0 Ihm folgen zahlreiche andere Rhetoriken und Formelbücher, besonders die des 16. Jahrhunderts (Geßler 1511, Huge 1528, Meichßner 1537, Saur von Frankenberg um 1580). Auch in G E O R G H A U E R S >Instituendorum puerorum rationSpiegel der waren RhetoricNews gedieht von firwitz der welt< eines unbekannten Verfassers (um 1500) wieder: »Was newes nun vor handen vnd vor gewesen nye, was mlniklich mocht anden, das sey zu hören hye, in disem lied vernommen, wie es ietzung ergat, war ziS es nun sey komen: Daß volck hochtewtscher zungen praucht außlindisch parat, red, wesen, schfich vnd waht. All sachen z8 besinen, die anderstwa geschieht, sey wir auch zB begynen den merern tail gericht. Und waß wir hören vnd sechen, daß vns gedunckt ain zier, mfiß auch pey vns geschechen. All sprach thü wir verjechen; ob eß ist ain h a η t h i e r, wir nenens ain m a η i e r. Ein red gat auff vnd abe, die weder schadt noch nutzt: der ye vernewt sein habe, daß hayssen wir er ρ u t z. Wer berlin, silber, golde zfi zeiten fuhrer zuckt, sein klaidung das m e r wolde auch zyern, alß er solte, vnd k i m herfurgeruckt, das haist man yetz g e s c h m ü c k t . Der gleichen red außlendig Seinn wir vns pruchen hie, wir habenn auch beyhändig vil fester dan vor nie ain zehenjerig jungen; kumpt vber zwerch herein. radprecht sein payrisch zungen, a l l s w e r s y z w a b e n n e n t s p r u n g e n n, zu Francken oder am Rein; sy m o c h t n i t k r u m e r sein.
Reformerische
Sprachkultur
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Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn wache Geister der Zeit bereits sprachpflegerische Äußerungen tun: N I K L A S VON W Y L E schreibt in seiner >Geschrifft von gebürlichen Vberschrifften vnd titeln< (1478): Wie jhr yetz sechent die jungen gesellen diser zyt beklaydet geen vnd geschucht nach dryer odder vierer landen sitten, also findet man ouch selten mer ainch gedichte. Es syen dann darunder viererlay oder fünffer spräche vermischet: das ich nit riim noch seer schilt. Aber doch grösserm lobe gib, sich in gedieht guter lands teütsch zierlich zegebruchen, danne fremder spraachen wort zesuchen, die vnser fordern gebürlicher haben vermitten. 35
Sunst machen wir ρ a r 111; alls wa man Frowen letht, hies etwan ain h ο f e 11: nun haist es ain ρ a η k e t. Ains aigen gstalt verkeren das haist ein Μ u m e r y; wol leben nach den eren, gßt wirtschafft zö begeren, das haysen yetzund wir ain hfipsche ρ a 1 a s ζ i r. ... Als, das dem leib mag schaden vnd auch dem gfitt thfit we, des thu wir vns beladen fil fester nun dan Ee. Zfitrinken alß Westfale, Poln, Hessen vnd auch Sacks ist worden vberale; der essen one zalle z8 fil vnd vber maß, das haissen wir ain ρ r a β. ... Lang zipfel oder läppen auff mentel one nutz, hangen an welschen kappen; Das nennen wir k a ρ u t z. In aller red verloffen ainn fremdes wort geprockt! Mit sch&ch in schlich geschloffen, das haissen wir p a n t h o f f e n ; auff vngerisch gerockt, das haissen wir g e h a s o c k t
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Der vns disz liedes melde von ersten hat gethon, er riert die fuwitz weide mit jrn sitten an. Dan er hat z& geschechen so seltzams nie erlept als yetzmals wirt gesechen. Wer kan das als verjechen? So wunderlich fi leptt, on waß sich noch erheppt.« zit. Pietsch, P. ( 2 1915), 18-21 Zit. Schultz, H. (1888), 2
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15. und 16.
Jahrhundert
Und J O H A N N A G R I C O L A entrüstet sich in der Vorrede zu seiner Sprichwortsammlung (1529): Unsere Sprache achten wir Deutsche so gar für nichts, daß sie auch fast gefallen ist und niemand oder gar wenig Leut sind, die deutsch reden können. Alle Nationen haben ihre Zungen und Sprachen in Regeln gefasset, allein wir Deutschen haben solches vergessen, das unser gering geachtet. 36 SEBASTIAN FRANCK
verweist auf die Instabilität und Beliebigkeit der Sprach-
verwendung: Wer acht darauff hat / der findt das sich täglich auch vnser mütter sprach in Teüsgen landen endert / das man itzt anders redt / dann vor kurtzen iaren. Ja man fürwitzt vnd mutwilt also mit den Wörtern vnnd sprachen / das man bald hinlegt / das man ain weil gebraucht hat / vnnd daran verneügert. Ein ieder wil ein neües vnnd seltzams herfur bringen / damit er nit gesehen werde / anderen nachreden / so gar das die sondern Wortdichter / itzt ain sonder lob / künstlich ansehen haben. Vnd gehet zwar all ding auff erd also vnderainander / das itzt neu ist / würt bald alt / vnd dann wider neu / wie des iars lauff / also gehet das hertz / die reich / völcker / vnd sprach. 37 36
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Zit. Kluge, F. (1918), 52. - Die Verderbnis der Sprache durch Schreiber geiselt ein Nürnberger Scriptor: »Es ist zu wißen vnd zu mercken, daz die teutschen buch gar ser vnd gar vast gefelschet vnd geswecht werdent mit dem schreiben. Vnd daz ist die sache. Wann die teutsche sprach ist gar wandelber vnd gar manger ley. Vnd darvmb so schreibt sie ein itlicher nach seinem haubt vnd nach seinem dorff, als er kan. Dar zu wirt selten einer funden, der die selben spräche, darynnen er geborn vnd erzogen ist, recht schreiben künne, wie wol er sie vil leicht recht sprechen kan. So vindet man auch gar selten einen, der die teutschen buch recht verste. Vnd darvmb so künnen sie die auch nicht recht schreiben. Wann ein itlicher so er went, er wöll die spräche oder die synne oder die wort pessern, so pösert er sie. Vnd also werden die puch gefelschet vnd geswechet. Vnd davmb sol dez yederman gewarhaft vnd gewarnet sein. Wer der ist, der teutsche puch hat vnd nützen wil oder abschreiben wil (vil) laßen, der sol sehen und bewaren, daz sie wol corrigerit vnd gepessert sein, oder ob daz nicht ist, so soll er schicken, daz ez beschehe. Wann ez ist kein Schreiber als gut vnd also wol bewart, vnd ob er die spräche halt wol kan schreiben vnd auch sprechen vnd die puch wol verstet, dannoch übersieht er sich an dem schreiben. Also das er etwenn zu vil, etwenn zu wenig schreibt, et wenn wandelt vnd verkert, da ez weder not noch nütze ist. Ja vil mer ist ez schedlichen vnd irrig. Vnd also werden die teutschen puch oft gar vnredlich vnd gar vnmercklich vnd vnordenlich geschriben. Vnd darvmb sol man sie, wenn man diß oder ein anders abschreiben wil, gar wol laßen corrigiren, vnd auch pessern, daz man iht betrogen werd, wann die synne swer vnd tapfer vnd auch treffenlichen seint«. Einleitung zu einem »Leben Jesu« aus einem Nürnberger Nonnenkloster 1449, zitiert nach Stammler, W., Prosa der deutschen Gotik. Eine Stilgeschichte in Texten, Berlin 1933, 11 Franck, S„ Von dem Bam daß wißens Gütz vnd böß ..., (Ulm 1534), 155b. - In seiner Sammlung >Sprichwörter, Weise, Herrliche Clugreden ... (1541) schreibt Franck über die deutsche Sprache: »Sihe, wol reich seind wir teutschen für all zungen! Wann wir nun vnser eygen sprach koenden redten, schreiben vnd recht appliciren, so moecht kein zung so vil varietet vnd Formulas zu reden haben, vnd dauon ein groß Capittel geschriben werden; aber wir lernen eh Arabisch, dann vnser mutter zungen recht reden vnd schreiben, oder verkünstlents aber vil zu gscheid, das also gestummelt vnd vnser cantzley teutsch ietz also auffgienet vnd
Reformerische
Sprachkultur
V A L E N T I N ICKELSAMER
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mahnt in seiner >Teütschen Grammatica< (1534)
sondern ich sag vnd erman gar fleissig ain yeden / das er vmb rettung willen vnser gemainen Teütschten sprach / die so gar verwüstet vnd verderbet ist / gantz eigentlich wol auffmercken / wa er ainen yeden Buchstaben am rechtisten vnd subtilisten setzten vnd gebrauchen soll / vnd nitt also vnbesunnen ainen yeden überal gebrauchen / Bey den Lateinischen wirdt die Orthographia / das ist / recht buchstabisch schreiben / so eben vnd fleyssig gehalten / das ainer der gantzen lateinischen kunst vnwissend würdt geachtet / der nur ainen buchstaben vnrecht / oder ainen zBuil oder ζ wenig setzet / warumb soll es dann bey den Teütschen gleich gelten / man schreibt recht oder falsch? kündt man dich dise sprach so wol regulieren als die Hebräisch / Ghriechisch oder Lateinisch sein / Ja billich ist es allen Teütschen ain schand vnd spott / das sy anderer sprachen maister wollen sein / vnd haben jre aigne an geborne muter sprach noch nye gelernet oder verstanden. [Und:] Aber es ist so gar in vnbrauch / vnuerstand vnd vergeß kommen / das ich glaub / das nitt ain Nation sey / die jre worter vnnd sprach weniger verstand vnd vrsach wissen vnd geben künd / dann die Teütschen ... Sy solten sich auch nit schämen etwa fremmder worter bedeütung zö lernen vnnd zuerfaren / dieweil sy auch deren vil in der teütschen sprach eben so gemain als die teütschen worter selbst von allerlay dingen / gebrauchen ... Vmb solcher grosser nutzbarkait vnnd feiner lieblichait willen / solten ye die teütschen jre sprach bas verstehn lernen / vnd solt kain wort sein des vrsprung vnd bedeütung sy nit wisten / Dann wem steet es mehr vnd billicher zä die Lateinische / Ghriechische / vnd Hebräische sprachen recht zfiuerstehn / dann der sich ain Latiner / Ghriechen / vnd Hebreer berumet vnd nennen lest? Also wer sol billicher teütsch künden vnd verstehen dann die Teütschen? Vnnd so man schon solchen vleis ann die teütschen sprach leget / sol sy dannoch wol nymmer mer wider zfi recht kommen / vnd verstendlich werden / also gar ist sy verwüstet / verfelschet vnd verderbt / das wor freylich vnter hundert dingen nit ains nennen / mit seinem rechten namen / damit es vrsprüngklich genennet ist worden / Vnnd die man schon recht nennet / weis man dannicht sollicher Namen vnd worter grundt vnd bedeütung nit. 38 Der Schweizer A E G I D I U S Fremdwörterunwesen:
TSCHUDI
tadelt das von den Kanzleien eingeführte
Und so nun tütsche spraach zfi eigner gschrifft gebracht, ouch aller dingen Worten an iro selbst volkommen gnäg ist, so wollend yetz die tütschen Cantzler, ouch die Consistorischen schryber uns wider zfi latin bringen, könnend nit ein linien on latinische wort schryben, so sy doch der tütschen genfig hettend, machend, das men-
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halbirt geschriben wirt, das man offt kaum weyß, was also mit halbem mund geredt würt, noch auff alle sinn vnd weg mag gedeutet werden. Es solt aber bei vns Teütschen vor andern diß vnser eygen Sprichwort ganghafft im brauch sein, nemlich: >Es ist gut teutschGermaniae descriptio< des E N E A SILVIO DE PICCOLOMINI, die 1496 in Leipzig gedruckt wurde und in der die deutsche Sprache als ungepflegt und barbarisch bezeichnet wird, vgl. Paul, U. (1936), 57 Ickelsamer, V., Teutsche Grammatica, In: Müller, J. (1882/1969), 130f. u. 148f. Giesecke, M., Alphabetisierung als Kulturrevolution. Leben und Werk Valentin Ikkelsamers (ca. 1500 - ca. 1547), In: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1992, 209243; Rössing-Hager, M. (1992), 364-366
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15. und 16.
Jahrhundert
ger gemeiner man, so kein latin kan, nit wissen mag, was es bedüt, oder wie ers versten soll, wollend also unser tütsch, so ein erliche sprach ist, verachten, bruchind ouch wälsche wort, so doch all ander spraachen die unser nit ansehend; daruß kompt, das nach und nach man nit weiß, was tütsch ist. In den alten tütschen find man kein latin, sonders alles tütscher worten, allein die nüwen Cantzler sind so naswyß ... mischlend also latin und tütsch under einandren; were nützer gar latin oder gar tütsch. 39
Dagegen verteidigt JOHANN FRISIUS in seinem 1541 erschienenen lateinischdeutschen Wörterbuch die deutsche Sprache mit dem Hinweis, daß, wenn man mit emsiger Hingebung und Eifer seine Verdeutschungen in's Auge fasse und beurtheile, man leicht erkennen werde, welche Fülle, Pracht und Geschmeidigkeit in der deutschen Muttersprache liege. Er habe sich bei seiner Arbeit beflissen, für jedes lateinische Wort den treffendsten deutschen Ausdruck zu geben und dadurch zu zeigen, daß das Deutsche durchaus nicht so arm und unvollkommen sei, wie insgemein angenommen werde; vielmehr stehe es dem Lateinischen an Geschmeidigkeit, Pracht, Reichtum, Wortzusammensetzungen und Menge der Zeitwörter nicht im Mindesten nach. 40 Da die Zeit aber der geistigen Auseinandersetzung bedurfte, da Reformen fällig waren, erinnerten sich Gelehrte nicht nur der geeignetsten literarischen Form, Schwächen zu geißeln, sondern auch der dazu notwendigen Ausdrucksweise. Die Satire bot Sebastian Brant in seinem >Narrenschiff< (1494), Thomas Murner in seiner >Narrenbeschwörung< und >Schelmenzunft< (1512) oder Johann Geiler von Kaiserberg in seinen aggressiven Predigten in Straßburg Raum, einen volksnahen Ton zu treffen, wie er in den Predigten der Bettelmönche oder literarisch in den derben Schwänken längst üblich war. Reuchlin hatte schon gemahnt, das man sich schemmen sol, in tütschen reden und predigen vil latyns darunter zu müschen. 41
Die Sprache, die das Volk versteht, geht vor allem von Autoren aus, die wie Brant und Murner aus diesem kommen. Brant war der Sohn eines Gastwirts, Murner wuchs als armer Bauernjunge auf. 42 Die Abkehr vom Lateinischen läutet endgültig ein der schlesische Magister FABIAN FRANGK, der 1531 eine >Orthographia Deutsch< verfaßt und darin schreibt: Denn so wir ansehen den emsigen vleis / so die lateiner allein / jnn jrer zungen fürgewandt / vnd vnsern vnuleis / bey der vnsern / da gegen stellen / solten wir billich schamrot werden / das wir so gantz ablessig vnd seumig sein / Vnser edle sprach so vnwert vnd verächtlich halten .... 43
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Socin, A. (1888), 289f. Zit. Socin, A. (1888), 305f. Stammler, W. (1954), 30 Eggers, H. (1963-77), III, 155-158 Müller, J. (1881), 93; Götz, U., Die Anfänge der Grammatikschreibung des Deutschen in Formularbüchern des frühen 16. Jahrhunderts. Fabian Frangk - >Schryfft-
Reformerische
Sprachkultur
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Parallel dazu beginnen Lese- und Schreibmeister sowie frühneuhochdeutsche Grammatiker die theoretische Auseinandersetzung um die Volkssprache. Eines der frühesten Zeugnisse dafür ist eine Passage in dem >Teütschen Syllabierbüchlein< von S E B A S T I A N H E L B E R aus dem Jahr 1593: Viererlei Teütsche Sprachen weiß ich, in denen man Büecher druckt, die Cölnische oder Gülichische, die Sächsische, die Flämmisch oder Brabantische, vnd die Ober oder Hoch Teütsche. Vnsere Gemeine Hoch Teütsche wirdt auf drei weisen gedruckt: eine möchten wir nennen die Mitter Teütsche, die andere die Donawische, die dritte Höchst Reinische: (dan das Wort Oberland nicht meer breüchig ist.) Die Drucker so der Mittern Teütschen aussprach, als vil die Diphthongen ai, ei, au ezc. belangt, halten, verstee ich die von Meinz, Speier, Franckfurt, Würzburg, Heidelberg, Nürnberg, Straßburg, Leipsig, Erdfurt, vnd andere, denen auch die von Cölln volgen, wan sie das Ober Teutsch verfertigen. Donawische verstee ich alle in der Alt Baierischen vnd Schwebischen Landen, den Rein vnberührt ... Höchst Reinische lestlich die, so vor iezigen jaren gehalten haben im Drucken die Sprach der Eidgenossen oder Schweitzer, der Walliser, vnd etlicher beigesessener im Stifft Constantz, Chur, vnd Basel. 44 Helber geht also von drei unterschiedlichen Druckersprachen aus für den hochdeutschen Raum: Mitter Teütsch, Donawisch und Höchst Reinisch. Hier läßt sich M A R T I N L U T H E R anschließen, der in seinen Tischreden auf die Mundarten zu sprechen kommt: Deutschland hat mancherley Dialectos, Art zu reden, also, daß die Leute in 30 Meilen Weges einander nicht wol können verstehen, die Österreicher und Bayern verstehen die Thüringer und Sachsen nicht ... Die oberländische Sprache ist nicht die rechte deutsche Sprache, nimmt das Mund voll und weit und lautet hart. Aber die sächsische Sprache gehet fein leise und leicht ab 45
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Spiegel - Johann Elias Meichßner, Heidelberg 1992 - Zur Situation der deutschen Sprache äußert sich Frangk: »wiewol diese sprach an jr selbs recht fertig vnd klar, so ist sie doch in vil puncten vnd stücken auch bey den hochdeutschen nicht einhelich. Denn sie in keiner jegnit (Gegend) oder lande so gantz lauter vnd rein gefurt, noch gehalden wird, das nicht weilands etwa straff wirdigs oder misbreuchligs darin mitlieff vnd gespürt wurde.« Helber, S., Teutsches Syllabierbüchlein (1593), hg. v. G. Roethe, Freiburg - Tübingen 1882, 24. - Dazu N A T H A N C H Y T R Ä U S 1582: »Ein jeder Dialekt einer jeden Sprache hat seine eigenen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, seine besonderen Schmuckmittel, die derjenige genau zu beachten und zusammenzutragen haben würde, der es unternähme, für die deutsche Nation oder irgendeine andere eine Gemeinsprache zu schaffen, wie es sie in Griechenland gab und sie mit Wörtern, eigentümlichen, sowohl treffenden wie klaren, mit Redewendungen und sprachlichen Bildern, gleichsam als Schmucksteine und Blüten, zu zieren wünschte«, nach Burdach, K. (1925), 18 Luther, M., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, Bd. 5, Weimar 1912— 1921, Nr. 6146. - Zu Luthers Sprache zusammenfassend Wolf, H. (1980), 17-111, Gelhaus, H. (1989), 9-22 und Beutel, Α., In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 1991; Arndt, E.; Brandt, G., Luther und die deutsche Sprache. Wie redet der Deudsche man jnn solchem fall?, Leipzig 1983. In der Vorrede zur >Ordentlichen vnd Grundlichen beschreibung des grossen schiessen in der Stadt Zwickau< (1574) verteidigt sich Benedict Edlbeck, daß er »nicht nach der Meischnischn arth« spreche und schreibe, »in Ostereich ich teudsch glerndt wart«, zit. Pietsch, P. ( 2 1915), 29
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15. und 16.
Jahrhundert
Im Gegensatz zu Helber geht Luther von den gesprochenen Mundarten aus und besonders von deren lautlichen Verschiedenheiten. Diese kommen aber in der Schrift zum großen Teil nicht zum Ausdruck bzw. nur mit großer Zeitverzögerung. Deshalb kann sich Luther im Hinblick auf die Schreibsprachen anders äußern: Ich habe keine g e w i s s e , sonderliche, e i g e n e Sprache im Deutschen, sondern brauche der g e m e i n e n deutschen Sprache, daß mich beide, Ober- und Niederländer verstehen m ö g e n . Ich rede nach der sächsischen Canzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten und K ö n i g e in Deutschland; alle Reichsstädte, Fürsten-Höfe schreiben nach der sächsischen und unsers Fürsten Canzeley, darum ists auch die gemeinste deutsche Sprache. Kaiser Maximilian, und Kurfürst Friedrich, Herzog v o n Sachsen etc. haben i m römischen Reich die deutsche Sprache a l s o in eine g e w i s s e Sprache gezogen.46
Objektiv ist das falsch, denn keineswegs richten sich alle Schreibstätten in Deutschland nach der wettinischen Kanzlei. Aber diese war in Luthers Zeit der Schreibsprache der Reichskanzlei sehr nahegekommen. Kaiser Maximilian und Kurfürst Friedrich der Weise hatten auch nicht bewußt auf die Sprache eingewirkt. »Aber sie waren politisch die führenden Fürsten, und durch ihre Kanzleien taten sie ihren Willen kund. So konnte man den Herrschern zusprechen, was in ihren Schreibstätten in langen Zeiträumen entwickelt war.« 47 Wenn Luther sich auf die Kanzlei bezieht, dann sieht er in ihr >die am weitesten verbreitete von allen deutschen Schreibsprachen< 48 Und Luther nimmt das Kanzleivorbild auch wieder zurück in seiner Aussage, weder er selbst noch irgendein anderer, am allerwenigsten die fürstlichen Kanzleien hätten bisher die Kunst verstanden, deutsch zu schreiben (1523, Einleitung zu den Büchern Mosis). Er selbst verwendet das >gemeine Deutsche wie es Stainreuter und Ulrich von Pottenstein verstanden, nämlich als die allgemein verbreitete, schlichte und ungekünstelte Sprache des Volkes. Der Reformator, der >dem Volk aufs Maul schautec, lauschte diesem seine Sprachgestaltung ab, verwendete den gebräuchlichen Wortschatz, den schlichten Satzbau, schrieb also keine individualisierte und latinisierte Kunstprosa, wie das die Humanisten taten. Er verwendet dazu die am weitesten verbreiteten Schreibregeln, nämlich die der Kanzlei, und erleichtert damit den Adressaten das Verständnis. 46
Ebd. Bd. 1, Nr. 1040. - Andererseits distanziert sich Luther von den Kanzleischreibern: »Ich meynet auch ich were geleret / vnd w e y s mich auch gelerter denn aller hohen schulen sophisten von Gottis gnaden / Aber nu s e h e ich / das ich auch noch nicht meyn angeporne deutsche sprach kan / Ich hab auch noch bis her keyn buch noch brieff g e l e s e n / da rechte art deutscher sprach ynnen were / Es achtet auch niemant recht deutsch zu reden / sonderlich der herrn C a n c e l e y e n vnd die lumpen prediger / vnd puppen Schreiber / die sich lassen duncken / sie haben macht deutsche sprach zu endern / vnd tichten vns te lieh n e w e wörtter / Beherzigen / behendigen / ersprieslich / erschieslich vnd der g e l e y c h e n / ja lieber man / es ist wol bethöret vnd ernarret dazu«, Vorrede zu >Das Allte testament deutzsch, Wittenberg MDXXVSendbrief vom Dolmetschern ( 1 5 3 0 ) schreibt er dazu: Ich hab mich des geflissen ym dolmetzschen, das ich rein und klar teutsch geben möchte, Vnd ist vns wol offt begegnet, das wir viertzehen tage, drey, vier wochen haben ein eyniges wort gesucht und gefragt, habens dennoch zu weilen nicht funden ... Lieber, nu es verdeutsch vnd bereit ist, kans ein yeder lesen vnd meistern, Laufft einer ytzt mit den äugen durch drey, vier bletter vnd stost nicht ein mal an, wird aber nicht gewar, welche wacken und klotze da gelegen sind. 51 Als Beispiel gibt er dann an: Als wen Christus spricht: >Ex abundantia cordis loquiturAuß dem Vberflus des hertzen redet der mundWes das hertz vol ist, des gehet der mund vberper fidemallein durch den glauben< nach Ansicht seiner Gegner einen unerlaubten Zusatz anbringt. Luther antwortet ihnen: Man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern man mus die mutter jm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen vnd den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, vnd darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den vnd mercken, das man Deutsch mit jn redet. 53 49
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Luther, W., Werke. Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, Bd. 4, Nr. 4018: »Germanica autem lingua omnium est perfectissima«. Ebd. Β. 1, Nr. 524 Berger, A.E., Grundzüge evangelischer Lebensformung nach ausgewählten Schriften Martin Luthers, Leipzig 1930, 276. - Gardt, Α., Die Übersetzungstheorie Martin Luthers, Zeitschrift für deutsche Philologie 111, 1992, 87-111 Ebd. 277; Rössing-Hager, M. (1992), 366-369 Ebd. 277
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Jahrhundert
Er ist der erste, der im Lateinischen fehlende Modalwörter oder Würzwörter (ja, doch, denn, nun, nur, allein, sonst, schon etc.) in seinen Text aufnimmt, um damit seelische Akzente zu setzen, »dem gedruckten Text den warmen Hauch lebendigen Sprechens« zu geben. In ihrer Anwendung war Luther ein Meister, »der sich darin weit über die ... genannten Satiriker und Prediger erhebt. Das ergibt zusammen mit seinen ungekünstelten Wörtern und dem einfachen Satzbau die Volkstümlichkeit dieser Sprache, die von der Mühsal ihrer Gestaltung nicht mehr ahnen läßt.« 54 Luthers Streben geht aber über Gemeinverständlichkeit und Deutlichkeit hinaus. Vor allem zielt es auf poetische Klangschönheit. Der Wohllaut des Rhythmus wird dabei oft unterstützt durch den Gleichklang der Laute, z.B. durch stabreimenden Anlaut. Die Passage >Vnd fing an zu zittern vnd zu zagem (Markus 14, 33) hieß ursprünglich >Vnd fing an zu ertzittern vnd zu engsten < oder die Stelle >Wenn gleich das meer wütet vnd wallet< (Psalm 46, 4) hieß >Ob auch seyne wasser wueteten vnd zu haüff plumptenDie rechte weis / auffs kürtzist lesen zu lernen< (1527): »Lesen Können hat inn langer zeit nie so wol seinen nütz gefunden / als itzo / dweyls seer ein yeder darumb lernet / das er Gottes wort / vnd etlicher Gotgelerter menner außlegung / darüber selbs lesen / vnd desto bas darinn vrteylen möge«, Müller J. (1882/1969), 53 und Johann Kolroß folgt ihm in seinem >Enchiridionvnd verbriefungen< (Urkunden) empfiehlt, so Kaiser Maximiiianus Cantzeley vnd dieser zeit / D. Luthers schreiben / neben des Johan Schonsbergers von Augsburg druck. Allerdings fügt er hinzu, nur die Originalwerke der genannten Autoritäten seien brauchbar, die aus jren Cantzleyen odder wercksteten / Erstlich new ausgangen / Von andern vnuleissigen vnd vnuestendigen nicht anderweit vmbgeschrieben / odder nach gedruckt sein. (1531) 61
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diser letzten zyt also gefallen, die heylig gschrifft (sins göttlichen worts) dem einfaltigen leyen z& heyl unnd trost, ouch in verständiger vätterlicher spräch, durch den truck an das liecht zu kummen lassen, werdend nit wenig gereyzt, jre kynd, so zfi den ursprünglichen sprächen heyliger biblischer schrifft als Hebreisch und Kriechisch oder ouch Latinisch nit gantz touglich, in die tüdtsche schßl und leer ze schicken, ja ettlich der elltern selbs, ouch handtwercksgsellen und jungkfrowen (welche das wort Gottes behertzigt) tüdtsch schryben und läßen ze lernen sich bemuyend, die zyt usserthalb jrer arbeit in erlustigung heyliger gschrifftn ützlich zu vertryben«, Müller, J. (1882/1969), 65 Zit. Stammler, W. ( 2 1950), 317 Corpus Reformatoren, Vol. I, 1834, 692 zit. Wolf, H. (1980), 51 Luther: »das sie aus meinem dolmetschen und teutsch, lernen teutsch reden und schreiben, und Stelen mir also meine sprachen«, Werke. Kritische Gesamtausgabe Bd. 30, II, 633. - Bibelübersetzungen wie die von Dietenberger (1534) und Eck (1537) folgen eng dem Text Luthers. Das >Neue Testament< Emsers (1527) ist als Plagiat zu bezeichnen. Vgl. Sonderegger, S., Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen, In: Besch, W., Reichmann, O., Sonderegger, S. (1984), 140ff. Müller, J. (1881), 92ff. - Weitere Zeugnisse bei Josten, D. (1976), 103ff., Kolb, W. (1972) u. Bergmann, R., Der rechte Teutsche Cicero oder Varro. Luther als Vorbild in den Grammatiken des 16. bis 17. Jahrhunderts, Sprachwissenschaft 8, 1983, 265-276
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bezeichnet in seinem >Grundtlichen Bericht des Deudschen Meistergesangs< ( 1 5 7 1 ) die Frankfurter, Wittenberger und Nürnberger Bibeln als Muster der >hohen Deudschen spracht E R A S M U S A L B E R U S rühmt 1 5 5 6 Luther: A D A M PUSCHMANN
Er hat ... auch die Teutsche spräche reformiert, vnd ist kein Schreiber auff erden, der es jhm nachthun kan. 62 Und auch seine Feinde waren gezwungen, in das allgemeine Lob einzustimmen. Einer seiner heftigsten Gegner, G E O R G W I T Z E L , urteilt 1533: Es kitzelt fein, sein Deutsch, und hält den Leser. 63 [Und:] Er deudtschts nach dem Klange. 64 Seit J O H A N N E S C L A J U S >Grammatica Germanicae linguae ... ex bibliis Lutheri Germanicis et aliis eius libris collecta< (Leipzig 1578) gilt Luthers Sprache wegen >perfecta et absoluta linguae Germanicae cognitio< (der vollendeten und vollkommenen Kenntnis der Deutschen) als verbindliche Autorität im Unterrichtsgebrauch. 6 5 Damit wird Luthers Klage gefolgt, daß in den Schulen die deutsche Sprache verdorben worden sei und kein Schüler richtig deutsch schreiben und lesen gelernt habe. Endgültig tritt das Deutsche aber erst 1619 mit der Weimarer Schulordnung an den Beginn sprachlicher Unterweisung. Luther ist >der hochweisen lateinischen Zungen Überwinden, wie seine Zeitgenossen von ihm sagen. Er war das Sammelbecken aller lebendigen deutschen Sprachtradition. Gegen die Sprachautorität Luthers ist L A U R E N T I U S A L B E R T U S O O S T R O F R A N CUS eingestellt. In der Vorrede zu seiner >Teutsch Grammatik oder SprachKunst< schreibt er aber, daß der Ausbildung der deutschen Sprache die größte Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Fleiß gewidmet werde bei den gelehrten und belesenen Männern und an den Höfen und in den Familien der Höchstgestellten und Vornehmsten, in deren Archiven und Kanzleien man auf's Eifrigste be-
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Zit. Wolf. H. (1980), 72f. - Andere Lobreden: L. hat »clärer geschrieben dan nie keiner in 140 jähren gelebt«, Albrecht Dürer, 1521; L. habe einen »feinen und hochberedten« Sprach gebrauch, Paul Rebhun 1544; »Er hat die deutsche Sprache außerordentlich ausgeschmückt und bereichert und erhält in ihr deshalb das höchste Lob«, Johannes Sleidanus, 1555; Er hat »vnser Mutter spräche / sehr schon polirt vnd geschmückt«, Christoph Waither 1563; L. hat das Deutsche »erst recht geluppet, die Rhetoricam und alle zierligkeit darien gepflanzet und dermassen außgebutzet unnd paliert, daß sie zu unsern Zeiten jetzunder mit eloquentz, wolreden und Schönheit der wort, sententzen und clausulen anderen sprachen nicht viel mehr bevorgibt«, Basler Otfrid-Ausgabe von 1571; alle zitiert bei Wolf, H. (1980), 86 und weitere vgl. 87ff. Zit. Kluge, F. ( 2 1925), 324 Witzel, G., Annotationes ad sacras literas, 1536, Kap. 46 Die >Grammatica germanicae linguae< folgt den ebenfalls in lateinischer Sprache geschriebenen deutschen Grammatiken von Laurentius Albertus >Teutsch Grammatick oder Sprach-Kunst< (1573) und von Albert Ölinger >Vnderricht der Hoch Teutschen Spraach< (1573), Hildesheim 1975
Reformerische
Sprachkultur
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strebt sei, treffende, deutliche und gewichtige Ausdrücke zu finden, oder die von den Vorfahren gefundenen und gebildeten der Vergessenheit zu entreißen und zu einer neuen Anwendung geschickt und geeignet zu machen. So liegen die Pflege der Muttersprache solchen Männern am Herzen, welche, da sie selbst eine zierliche, angesehene und glänzende Lebensweise beobachten, die Vernachlässigung und Verkommenheit der Sprache nicht dulden ... Mit Unrecht werfen uns die Fremden Geringschätzigkeit und Nachlässigkeit in der Erforschung der Gesetze unserer Sprache vor. Allerdings schreiben sie dies der barbarischen Art der Sprache selbst zu, ein boshafter und schimpflicher Vorwurf gegen eine so leichte und alte Sprache, da es auf dem ganzen Erdboden außer der hebräischen kaum eine kürzere, gedrungenere und leichtere Sprache gibt, die zugleich selbstgewachsen ist, ex se nempe nata et per se ipsam constans, und die nach sicheren Eintheilungen und Regeln so zusammengefaßt, gelehrt und erlernt werden kann wie kaum irgend eine andere ... Daher rührt in der That der jämmerliche und beklagenswerthe Mißbrauch der altüberlieferten vaterländischen Sprache bei den Deutschen: nachdem nämlich so viele Mundarten sich unter uns eingenistet haben, ohne aber auf alle Fächer angewendet werden zu können, ist es gekommen, daß Deutschland davon einen doppelten Schaden genommen hat. Erstens betrifft derselbe den gegenseitigen Spott über die mundartlichen Ausdrücke, womit die Deutschen sich wunderlicher Weise selbst fangen, aufziehen und ausspotten ... Sodann hat sich, entgegen dem Brauche der Väter und den Vorschriften der Kirchenversammlungen, nach welchen die göttliche Offenbarung in keiner anderen Sprache als in der lateinischen behandelt und vorgetragen werden soll, eine Art vorwitziger Begierde eingeschlichen, daß alle Völker, auch die wildesten unter den wilden, die hl. Schrift und deren Erklärung in ihren Mundarten und Ausdrücken sollen lesen, erforschen, auslegen und verbreiten dürfen. Daraus entsteht aber eine unsägliche Verdunkelung der hl. Schrift und Uebermuth gegen das Wort Gottes. Denn wie sollen diese stammelnden Barbaren die hl. Schrift auslegen können, da sie nicht einmal einander selbst verstehen, auch wenn sie über alltägliche Dinge reden? Diese wagen es dann, uns reiner sprechende Deutsche über die Art und Eigenthümlichkeit unserer Sprache belehren zu wollen, sie, die selbst von deren richtigem Gebrauch und Ansprache am weitesten entfernt sind ... Im übrigen will ich nicht leugnen, daß Manche zierlich, erhaben und voll reden, immerhin nicht vollkommen deutsch. Was nämlich die Lateiner oft thun, daß sie sehr häufig Griechisches unter ihre Sprache mischen, da ist auch bei den Deutschen Brauch, daß sie die eigene Sprache so wenig ausbilden und vervollkommnen, daß sie sowohl in den alltäglichen als in Staatsgeschäften der griechischen, lateinischen, französischen und manch anderer Sprache auf keine Weise entrathen können ... Die Erfahrung lehrt, daß je mehr Einer lateinisch, griechisch oder hebräisch gelehrt ist, er desto schlechter deutsch spricht. 64
Dem Lob folgt also sofort der Tadel. Albertus, der in Würzburg lebt, preist Augsburg als Sitz des zierlichsten deutschen Sprachgebrauchs, wie überhaupt den Süden Deutschlands, in dem die >reineren Germanen< leben. Parallel mit Luther hatte auch T H O M A S M Ü N T Z E R das Deutsche als Sprache der Reformation propagiert: Es wird sich nicht lenger leiden, das man den Lateinischen worten wil eine kraft zuschreiben, wie die zaubrer thun, und das arme volgk vil ungelarter lassen aus der kirchen gehen dan hyneyn, so ye Got gesagt hat ..., das alle auserwelt von Got gelert werden sollen ... Drum hab ich zur besserung nach der Deutschen art und musterung, ydoch in unvorrugklicher geheym des heyligen geists vordolmatzscht die psalmen, mehr nach dem sinne dan nach worten. 67 66 67
Zit. Socin, A. (1888), 271-273 Müntzer, T., Deutsch Euangelisch Messze, Vorrede (1524), kritische Gesamtausga-
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Müntzer verbannt aber Fremdwörter nicht vollständig, beläßt sie, w o sie am richtigen Platz oder unentbehrlich geworden sind. In der Verwendung von Schlag- und Schimpfwörtern ist er noch radikaler als sein Gegner Luther.
2.3 Nachreformerische Sprachkultur A m deutlichsten folgen Luther und den fürstlichen Kanzleien die Meistersinger. Gedichtet und gesungen wird nach >der hohen deutschen Sprachen 6 8 A u ßerdem werden einwandfreie Grammatik, sinnvoller Wortgebrauch und Verständlichkeit des Ausdrucks gefordert. Sinnwidrige Wortwahl (blindes Wort), und unverständliche Formulierungen (blinde Meinung), Wortverkrüppelungen (halbes Wort, Klebsilben etc.) s o w i e >undeutliche undeutsche Wörter< gelten als >Lastergrammatikstudierter< Mann sein. Das Normhaft-Allgemeine steht vor dem Eigenschöpferisch-Individuellen. Wie der Meistersang und die religiöse Lyrik wurde auch das geistliche Drama in den Dienst der Reformation gestellt. Im Vorwort zu einer deutschen Bearbeitung von Thomas Naogeorgs (Kirchmair) berühmten Reformationsdrama >Pammachius< stellt der Dramatiker P A U L R E B H U H N die Notwendigkeit, die deutsche Sprache kunstfähig zu machen, heraus: Ihr lieben Deudschen / so ihr achten werd / Das auch eur sprach gezirt werd / und gemehrt / So last euch gfallen solcherley geticht / die neben anderm nutz / auch drauff gericht / Das deutsche sprach werd geschmückt / und reich gemacht. 70 S T Ö C K E L verweist im Prolog zu seiner >Susanna< Notwendigkeit der Verwendung deutscher Sprache: LEONHARD
(1559)
auf die
Wir müssen vns aber nach der Zeit / Richten, in welcher wenig leut / Lateinischer zungen kundig sein, / Darumb wir nu viel jar allein / In gemeiner sprach vns hören lan, / Damit man vns verstehen kan.
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be, hg. v. G. Franz, Gütersloh 1968, 162; Spillmann, H.O. (Hg.); Linguistische Beiträge zur Müntzer-Forschung. Studien zum Wortschatz in Thomas Müntzers deutschen Schriften und Briefen, Hildesheim 1991; - Peilicke, R.; Schildt, J. (Hg.): Thomas Müntzers deutsches Sprachschaffen. Referate der internationalen sprachwissenschaftlichen Konferenz Berlin, 23.-24. Oktober 1989, Berlin 1990; Schildt, J., Thomas Müntzer und die deutsche Sprache, Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 42, 1989, 491-498. Endermann, H., Thomas Müntzer und die sprachliche Situation in Deutschland zu Beginn des 16. Jahrhunderts, In: Fragen zur Geschichte der deutschen Sprache des 16. - 18. Jahrhunderts, Berlin (DDR) 1981, 24-45 Wagenseil, J.Ch., Von der Meister Singer holdseliger Kunst, In: De civitate Noribergensi, Altdorf 1697. - Nur die Stadt Steyr gestattet die Verwendung der gegebenen Mundarten: »ist zu wissen, daß alle deutschen Sprachen gemein und frei sind in dieser Kunst« (1562), Nagel, B. (1952), 37 Nagel, B., Meistersang, Stuttgart 1962, 54 Zit.v. Roloff, H.-G., Paul Rebhun. Ein geistlich Spiel von der Gotfurchtigen und keuschen Frauen Susannen (1536), Stuttgart 1967, 133
Nachreformerische
Sprachkultur
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Allerdings erscheint ihm die Latinität als das angemessenere Medium einer wirkungsvollen Rhetorik: Wir solten vns billich im Latein / Weil wir derselbe sprach Jünger sein / Vben mehr denn in deudscher sprach, / Vnd vns in reden richten darnach. / Zu brauchen gleiche Form vnd kunst. / Denn wo sol man solchs lernen sonst ? / Das vnser rede ein rechte gestalt / habe vnd etwa ein gewalt. / Aus zu richten bey Leuten was, / Das man sich vberreden las ... 71 Eindeutig ist der Redaktor des >EulenspiegelniedereEhren der uralten fur sich selbst bestandigen deutschen Sprachen Er ermahnt die Deutschen:
JOHANN FISCHART
dann wie sie ihr Sprach mit von andern haben also wollen sie auch nicht nach andern traben: eyn jede sprach hat jr sondere angeartete thonung, vnd soll auch bleiben bei derselben angewonung. 73 In der programmatischen Vorrede zu seinem >EhezuchtbüchleinHelvetio germani< schreibt NIKODEMUS FRISCHLIN einen deutschen Prolog, in dem er gegen lateinunkundige Menge polemisiert: »So höret uns denn günstig zu, und haltet / Den lieben Pöbel wie ihr könnt im Zaum. / Denn weil das Stück lateinisch wird verhandelt, / So murren, die die Sprache nicht verstehn, / Belfern die Weiber, lärmen Mägd< und Knechte, / Wurstmacher, Fleischer, Schmied< und andre Zünfte, / Und fordern laut in deutscher Sprach< ein Stück. / Da man dieß nicht gewährt, so ziehen sie / Seiltänzer, Gaukler, Taschenspieler und Der gleichen Volk uns unverholen vor.«, zit. Rupprich, H. (1973), 2. T., 372 Till Ulenspiegel, Das deutsche Volksbuch von 1515, hg. v. W. Lindow, München o.J., 5. Rusterholz, P., Till Eulenspiegel als Sprachkritiker, Wirkendes Wort 27, 1977 18-26. - Kurios ist etwa die Rückübertragung von Fischarts >Podagrammisch TrostbüchleinPodagraegraphia< wurde, vgl. Hess, G. (1971), 42f. Johann Fischart, Geschichtklitterung. Text der Ausgabe um 1590, hg. v. U. Nyssen, Düsseldorf 1963, 53. - Rathmann, T„ »... die Sprach will sich ändern.« Zur Vorgeschichte der Autonomie von Sprache und Dichtung, München 1991; Seitz, D. (1974)
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vnvermengten, reynen und für sich selbst beständigen Muttersprach [zu] excolieren, Seiteynmal keyn gröser zierd dem Vatterland mag widerfaren, dann so man seine Sprach übet, schmücket, herfür mutzet, auffnet vnd excoliret, unterstellt denen, die nicht vom Latein lassen wollen, daB sie in vermummung fremder sprach und Red, vor andern etwas mehr geachtet sein wollen, dieweil sie frei sprechen, was gemeyn wird schlechtlich, das werd gemeynlich veraechtlich, und wendet sich gegen jene Romischen Gottesdienst Rümling, so keyn Sprachwandelung der Heyl. Schrift zulassen forchtend, man mocht dieselbige viler Wunderthaten vnd Geheymnusreden halb nicht genug Heylig-, glaub- vnd ehrnwürdig halten ... Soll dan das gift mehr kraft haben, wann man es Teutsch, dan so man es Latinisch nennet? Soll eyn Latinischer Schulsack wider das vergiften mehr als eyn Teutscher vermögen? Er kontrastiert das deutsche >Stroen Hüttlin< den >Latinischen Pallasten< als ein unzeitgemäßes Gefalle, das nun zur >zierung des Vatterlandes< eingeebnet werden soll. 7 4 Mit seinen sprachlichen Eigenständigkeiten und Eigenwilligkeiten will er die Verderbnisse rückgängig machen, die im Verlaufe der Sprachentwicklung eintraten. Er will in Worten und Begriffen die ursprünglichen Inhalte zurückgewinnen. 7 5 Fischart war ein Sprachschöpfer v o n Rang. Seine Sprache ist sinnenhaft, wortgewandt und ausdrucksstark. Er faßte das umlaufende w i e literarisch gebundene Vokabular seiner Zeit und variierte es in immer neuen Kombinationen. Wie Luther orientiert er sich an der gesprochenen Sprache und gestaltet frei. Die Kanzleisprache prangert er als >Dintenteutsch< an. Angeregt durch Fischart faßt G E O R G R O L L E N H A G E N am Jahrhundertende in seinem >Froschmevseler< die Problematik der Zweisprachigkeit des Jahrhunderts zusammen: Wenn diß in vnser Deutschen sprachen / Vnser Frosch nicht so zierlich machen / So bitt ich habt mit ihn geduld / Es hat daran die landarth schuld. / Der Griech / vnd auch der Römisch Mann / Schawt daß er kunstlich reden kan / Sein angeborne Muttersprach. / Vnd helt das für ein grosse sach: / Der Deutsch aber lesset vor allen: / Was frembd ist / sich besser gefallen. / Lernt frembde sprachen / reden schreiben / Sein Muttersprach mus veracht bleiben. / Dorumb wird Euch kein Wunder sein / Das meine Frosch / in ihrem Reym / Ihr Muttersprach nicht außpoliert / Artig versetzet vnd maniert. / Sondern wie die Genß am rifier / Vnd die wei74
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Johann Fischarts Werke. Eine Auswahl, hg. v. A. Hauffen, Stuttgart o.J., Bd. III, LXV u. 118-123. Die Vorrede läßt Fischart von seinem Schwager und Verleger Bernhard Jobin dem Straßburger Bürger Joachim Herb dedizieren. Angespielt wird auf das Buch von Pietro Bembo, Prose della volgare lingua, 1525, vgl. Kleinschmidt, E. (1980), 132 Schänk, G. ( 2 1978), 75-86
Fazit
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ber beim Wein und Bier / Köddern / Koltzen / Kosen / Kallen / Kackeln / quackeln / klappern / lallen / Plappern pleteren / plerren / parlaren / Reden / rhunen / ruffen / rahren / Schwatzen / sprachen / spräcken / schnattern / Sagen seggen / schnacken / tattern. / Vernemlich weil sie quacken wollen / Was grosse Herren wissen sollen. 76
Fischart und Rollenhagen weisen voraus auf die barocke Sprachkultur, auf die >kunst< oder >Subteilichkeitornatus< der Volkssprache, der diese gegenüber der Latinität nobilitiert.
2.4 Fazit Die Entstehung des Humanismus seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ist Zeichen einer kulturellen Umorientierung der deutschen Intellektuellen von Frankreich nach Italien. Vor allem Juristen, zukünftige Träger des immer differenzierter werdenden Verwaltungs- und Fiskalwesens, studieren in Bologna oder Padua und lernen dort die ausgeprägte Stadtkultur kennen. »Die von Cicero beschriebene und verherrlichte römische res publica wird als Vorbild nicht-feudaler staatlicher Organisation begriffen und als Bedingung einer menschlichen Existenz, die ihre Wertorientierung nicht nur aus Waffenruhm und Religion, aus Heldentum und Heiligkeit bezieht.« 77 Trotz der Vorbildlichkeit mißlingt eine direkte Übertragung auf das deutsche Städtewesen. Der Humanismus wird mit den Verwaltungsbeamten in den Hofkanzleien etabliert, breitet sich, da viele Kanzlisten zugleich Funktionen an den neugegründeten Universitäten übernehmen, auf diese aus. In der Wissenschaft beginnt die Theologie zunehmend an Einfluß zu verlieren. Die antike Literatur, bisher allein unter dem Blickwinkel geistlicher Verwertbarkeit studiert, entfaltet inhaltlich ihren Eigenwert, wird im Rahmen der Übersetzungstätigkeit formal anstoßend. Die Grundfrage, ob eine Übertragung >Wort aus Wort< oder >Sinn aus Sinn< dem Vorbild wie der Auswertbarkeit mehr gerecht zu sein verspricht, erhitzt für einen längeren Zeitraum die Gemüter. Für den literarischen Bereich bleiben die Versuche einer Eindeutschung antiker Texte im wesentlichen folgenlos, da die städtische Bevölkerung sich als wenig aufgeschlossen erweist. Deshalb ziehen sich die Humanisten immer stärker in Zirkel, vorwiegend an universitären Zentren, wie etwa in Heidelberg, Tübingen, Ingolstadt, Erfurt, Köln, Wien, Basel, Straßburg zurück. Die Schwierigkeiten, in einer Stadt ohne Universität Fuß zu fassen, wird besonders deutlich in Nürnberg, im Gegensatz zu Augsburg, wo hu-
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Georg Rollenhagen, Froschmeuseler (1595), hg. v. K. Goedeke, Leipzig 1676, fol. A3 r bis A5 r . - Bernleithner, E., Humanismus und Reformation im Werk Georg Rollenhagens, Diss (masch.) Wien 1954 Cramer, Τ. (1990), 349. - Baumgart, P., Humanistische Bildungsreform an deutschen Universitäten des 16. Jahrhunderts, In: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts. Weinheim 1984, 171-197
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manistische Interessen früh gesellschaftsfähig werden. 78 Trotzdem begründet das Ergebnis der Übersetzertätigkeit bei den Humanisten ein erhebliches Selbstbewußtsein. Die Suche nach den Quellen angemessenen Sprachelementen scheint sinnvoller als die Wiederholung längst bewährter Phrasen. Das Kanzleiwesen der Höfe dokumentiert früh die Wichtigkeit schriftlicher Vertrags- und Verordnungstexte sowie der Korrespondenzen. In den Städten greift der schriftlich fixierte Text aber wesentlich weiter in das Leben ein. Ratserlasse, Polizei- und Handwerkerordnungen, Verfügungen und Vorschriften kanalisieren den öffentlichen, den geschäftlichen und den privaten Bereich: »Das geschriebene Wort wird so in einem Maße zum Regulativ der Existenz, wie es zuvor allenfalls - und nicht in solcher Differenziertheit - bei der Klosterregel der Fall war.« 79 Während die Handwerker und Kleinhändler mit Kerbhölzern oder Wachstafeln bei der Bewältigung ihrer Geschäfte auskamen, brauchten die Großkaufleute und Geldhändler eine schriftlich geregelte Organisation. Bald wurden Geld- und Warenbewegungen nur noch auf dem Papier vollzogen. Da im Rechnungswesen zunehmend Belege notwendig wurden, eroberte sich die Schrift immer weitere Bereiche der Erwerbstätigen. Die Lese- und Schreibfähgikeit wuchs, wenn sie auch nicht gleichzusetzen war mit Aufgeschlossenheit für literarische Texte. Die Tatsache aber, daß in Nürnberg im 16. Jahrhundert das öffentliche Singen der Meistersinger durch >SchulzettelZyklopädia Paracelsia< (1585): »wann er (der Schulentlassene) dann heim kompt, so kan er ein par verß schreiben, ein Lateinisch Missiven stellen, da ist er dann schon gelehrt, aber daneben konte er seinem Vatter, Bruder, Schwester, oder Freunden, inn seiner eygenen Teutschen Mutter sprach nicht ein Missiven, oder Bittschrift stellen, noch vielweniger vor der Oberkeit, oder vor einer gemeyn jr nohturfft mündtliche fürbringen, das heißt nun frembde sprachen lernen, ehe er sein Muttersprach wol kan.« Zit. Daube, A. (1939), 54
Fazit
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stabierbüchlein und Formularsammlungen erleichterten die Lehre ebenso wie Orthographieanweisungen. Erst Schulreformen, w i e die in Nürnberg von 1485 erlauben, daß in der obersten Klasse Texte gelesen werden, die >nicht allein nützlich sunder auch lustig vnd lieblich< sind. 81 Die zunehmende >Verschriftlichung< des Lebens erfordert den Einsatz von immer mehr Berufsschreibern. Vom 14. Jahrhundert an verfügen selbst kleinere Städte über einen Schreiber, der die anfallenden Geschäfte erledigt. Viele Schreiber verbessern ihr Einkommen durch das Abschreiben von Handschriften. D i e s e Aufgabe wird zunehmend professionalisiert. Es entstehen Schreibwerkstätten, in denen Schreibknaben nach Diktat Einzeltexte vervielfältigen, etwa chronikalische oder historische Werke. Die Nützlichkeit der Schrifthandhabung wird durch dieses Gedicht beschrieben: Auff der Cantzel und Kirchen gut / Die Schreiberey man brauchen thut. Bey Kayser /Konig/Fursten/Herren / Kan man des Schreibens nit entbern. In dem Weltlichen Regiment / Die Potentaten und Reichsstendt Mit der Federn haben zuthon / So wol als die Gaistlichen schon. Ain Fürsten Hof muß sein Cantzley / Haben / und stehte Schreiberey. Wie dann auch ain jedliche Stadt / Ir aigne Cantzelisten hat. Zu gmainem nutz auff dem Rathauß / Die Schreiberey vil gutß rieht auß. In Summa was man publiciert / Zuuor alles geschriben wiert. Der Medicus zu der Artzney / Muß auch brauchen die Schreiberey. Den Handwercken in ainer Summen / Die Schreiberey zu gut thut komen. Wie dann bey uns in Teutschen landen / Ain sollich Sprichwort ist entstanden. Diser sey nur ein halber Man / Der nit lesen und schreiben kan. 82
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Ebd. 245. - Lehrbücher werden nicht gerne akzeptiert, weil die Schulmeister in ihnen eine Beeinträchtigung ihres Gewerbes sehen. 1532 klagt H A N S F A B R I T I U S : »Aber es sindt yeezundt ettlich, so bald ein Kunstbuch ym druck ausgaet, so kauffen sye das auff, das das selbe buch nicht für die einfeltigen solde komen.«, zit. Jellinek, M.M. (1913), Bd. 1, 40 Holtzman, D., Warhafftige / und schone Beschreibung / der Uralten (von Gott gegebnen) loblichen Kunst der Schreiberey, Regenspurg (1581), 32f. Oder das folgende Schreiberlob aus dem Ambraser Liederbuch von 1582: »Die Schreiber mus man haben,/ sampt ihrem zeug und gunst:/ Nach jnen thut man traben,/ der Schreiber ist die kunst./ Vorn Schreiber mus sich biegen/ offt mancher stoltzer heldt,/ Und in ein winckel schmiegen,/ wiewol es jm nit gefeit. Das schreiben ist alleine/ der allerhöchste schätz,/ Ob mans gleich thut verkleinen,/ doch behelts allein den platz./ Den glauben thuts erhalten,/ macht guten fried im land,/ Das sich thet sunst zwispalten,/ all ander kunst sind tand.«; Ambraser Liederbuch, hg. v. J. Bergmann, Stuttgart 1845, 354f. - Allerdings gibt es auch verzweifelte Ausrufe über die Schreiber: »Ich weiß schier nicht, wie ich meine Schulers lehren soll der Ursachen halben, daß jetzunder, wo unser drei oder vier deutsche Schreibers zusamen koment, hat jeder einen sonderlichen Gebrauch. Wolte Gott, daß es darhin komen möchte, daß die Kunst des Schreibens einmal wider in ein rechten Prauch komen möcht - es muß doch zuletzt dahin komen«, Hans Fabritius, Ein nützlich Büchlein, etlicher gleichstymender Worther, Erfurt 1531 zit. Kluge, F. ("1904), 56f.
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Die Erfindung des Buchdrucks macht diese Tätigkeit überflüssig, wenn auch der Anlaß zu seiner Erfindung eher vom Bedürfnis ausging, den ästhetisch immer anspruchsloser werdenden Gebrauchshandschriften ein Vervielfältigungsverfahren gegenüberzustellen, das höchsten Ansprüchen im Schriftbild genügte. 83 Die Kirche hatte für die Verbreitung der religiösen Botschaft unter das Volk auf die Mündlichkeit gesetzt. Die Schriftlichkeit blieb Domäne der Geistlichen, die in diesem Bereich auch ihre religiösen Problem- und Streitfragen austrug. Wo für die Kirchenhierarchie die Kontrolle über das Publizierte endete, griff sie mit der Zensur ein, verbot die Textproduktion und belegte die Produzenten mit Sanktionen. 84 Trotz aller Repressalien war es aber nicht möglich, »den Wirkungsraum der geschriebenen Sprache in den kontrollierten Grenzen zu halten. Mit der allenthalben wachsenden Unzufriedenheit über das Auseinandertreten der ursprünglichen christlichen Glaubensinhalte und der feudalherrlichen Praxis der Kirche, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Reformation gipfelte, wurde der noch eng gesteckte Rahmen für den Gebrauch geschriebener deutscher Sprache zu religiösen Zwecken gesprengt ... Neben die religiöse Erbauungsliteratur für den Adel traten zu Beginn des 16. Jahrhunderts ... die Schriften und Predigten T H O M A S M Ü N T Z E R S , M A R T I N L U T H E R S , Z W I N G L I S und H U T T E N S sowie ungezählte Flugschriften in geschriebener deutscher Sprache; Messen wurden in deutscher Sprache abgehalten. Die geschriebenen Texte der Reformatoren schufen in ihrer scharfen Konzeptionierung durch Bekanntmachung z.B. in der ihrerzeit durchaus üblichen Form des Anschlags von Thesen und Verbreitung der Lehre im Volk die inhaltliche Basis für eine rigorose Trennung und eigene Behauptung gegenüber dem Allgemeingültigkeitsanspruch der katholischen Kirche. Die Durchsetzung der reformatorischen Lehre beruhte in hohem Maße und in vielfacher Hinsicht auf den Gegebenheiten, die in den vorangegangenen Jahrhunderten über die geschriebene Sprache geschaffen worden waren. Die Reformatoren fanden ein Volk vor, das auf der Basis jener Christianisierungsmaßnahmen, die unter den frühen Karolingern über die Schaffung geschriebener deutscher Texte eingeleitet worden waren, eine christlich geprägte Grundhaltung hatte und daher in der Lage war, die Lehre zu verstehen; sie trafen auf eine geschriebene Sprache, die in ihrer deutschen Ausprägung so weit entwickelt worden war, daß sie die Verbreitung, Archivierung und Nutz-
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Luthers Korrektor CHRISTOFFEL WALTHER klagt über die Drucker: »Wenn hundert Briefe und gleich mehr mit einerlei Wörter geschrieben Wörden, so wörde doch keiner mit dem Buchstaben übereinstimmen, daß einer mit Buchstaben geschrieben wörde wie der ander. Derhalb ist die Sprache auch so unverständlich, dunkel und verworren, ja ganz verdrießlich und unlustig zu lesen. Und sonderlich komet sie den fremden undeutschen Leuten sehr schwer und sauer an zu verstehen und unmüglich recht zu erlernen,« Bericht von Unterscheid der Biblien, Wittenberg 1563, zit. Kluge, F. ( 4 1904), 57. Zu anderen Klagen ebd. 63 Zum Verbot der Übersetzung kirchlicher und anderer wissenschaftlicher Schriften vgl. Gelhaus, H. (1989), 2 - 5
Fazit
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barmachung der Lehre über den gesamten Sprachraum gewährleisten konnte; und sie verfügten selbst in solchem Maße über die geschriebene Sprache, daß sie gegen jene verwendet werden konnten, die bisher allein ihre Verteilung kontrollierten. Vor allem die Bibel wurde in deutscher Sprache aufgeschrieben. Diese Tradition, die letztlich bis in die althochdeutsche Zeit zurückreicht, fand nun einen Höhepunkt in der geschriebensprachlichen Bibelübersetzung LUTHERS, die innerhalb kürzester Zeit einen bis dahin nicht gekannten Verbreitungsgrad erreichte ... Im Zusammenhang mit den zahlreichen anderen geschriebenen deutschen Texten stellte die Bibelübersetzung LUTHERS die geschriebene deutsche Sprache für den Bereich der Religion gleichberechtigt neben die geschriebene lateinische Sprache. Selbst ausgesprochene Gegner der Reformation wie E C K , E M S E R , M U R N E R und FABRI waren gezwungen, ihre Werke teilweise in geschriebener deutscher Sprache zu produzieren.« 85 Bei den Bauernunruhen und -aufständen wurden die Forderungen der von der Willkür der Grundherren Abhängigen mit großer Sorgfalt auf die Heilige Schrift zurückgeführt und aus ihr legitimiert. Die Bauern vernichteten Zinsbücher und Register, um die Feststellung ihrer Schuld unmöglich zu machen. Sie verlangten von den gefangenen Feudalherren Urkunden, in denen diese die Anliegen der Bauern anerkennen und besiegeln sollten. Sie begannen, ihre eigenen Probleme aufzuschreiben und publik zu machen. Eine Flut von Beschwerdebriefen (Gravamina) wendete sich an die Landesherren, Abhilfe erheischend. Aus ihnen ließen sich die Programme der Bauern ableiten. Mit der geschriebenen Sprache schufen sich die Bauern die Möglichkeit zu überregionaler Kommunikation untereinander. 86 Prediger, fahrende Händler und Landsknechte verbreiteten die Forderungskataloge. Vom Zierhold wurden die in den >Zwölf Artikeln< komprimierte Fassung den Bauernhaufen vorangetragen und in jedem passierten Ort öffentlich verlesen. Damit wurden sie Richtschnur für das bäuerliche Vorgehen. »Auch wenn die Bauern ihre Interessen im Bauernkrieg schließlich nicht durchsetzen konnten, und auch wenn sie der geschriebenen Sprache nur unzulänglich habhaft waren - in ihrer großen Mehrheit konnten sie weder lesen noch schreiben und blieben in ihrer Teilhabe an der geschriebenen Sprache auf die Vermittlung durch ihre schriftkundigen Worthalter beschränkt so hatte doch in den Bauernkriegen die geschriebene Sprache zum ersten Mal in großem Rahmen auch für die nicht an der Herrschaftsausübung beteiligten Bevölkerungsschichten und deren Verwendungszwecke ihre Bedeutung und ihre Möglichkeiten als differenziertes und weitreichendes Kommunikations- und Erkenntnisinstrument unter Beweis gestellt und zugleich die prinzipiellen Nachteile offenkundlich gemacht, die aus der Entbehrung dieses Instrumentes resultieren.« 87
85 86 87
Feldbusch, E. (1985), 337-340 Ebd. 345 Ebd. 346f. - Eine anonyme Schweizer Flugschrift verweist 1522 auf den Wert der Muttersprache für den Verfasser: »Ich mein, min Sprach, die mit mir ufgewachsen
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15. und 16.
Jahrhundert
Der rund tausend Jahre dauernde Prozeß der Loslösung vom Latein, der Herausbildung und Verbreitung einer sich immer mehr von den Dialekten lösenden, sich vereinheitlichenden Schriftsprache erfährt mit Luther und seinen Mitstreitern einen Zielpunkt, mit ihm eine Verfestigung und Verankerung im deutschen Sprachraum. Die neuhochdeutsche Schriftsprache, die sich schon während des 16. Jahrhunderts des niederdeutschen Nordens bemächtigt, 88 wird auf breiter Basis der Bevölkerung zugänglich. Der Einsatz der Sprache in Verwendungsbereichen von überregionaler Ausdehnung und Bedeutung erforderte die Einheitlichkeit zumindest in schriftlicher Ausführung. Wenn es auch bis zur Festlegung der Schreibkonvention noch ein langer Weg ist, so sichert die erreichte Vereinheitlichung doch den Einsatz der deutschen Sprache im Unterricht, in der Wissenschaft, in der Politik einerseits wie andererseits in der Literatur. Die Vielfalt des handhabbaren geschriebenen Sprachmaterials bildet, von Luther ausgehend, die Grundlage für die Beschreibung des deutschen Sprachsystems in Grammatiken und Wörterbüchern. Vor allem für den Unterricht werden die Beschreibungen Anweisung für die Verwendung der Sprache und fixieren die sprachliche Norm.
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ist, sy mir Wäger dann eine andere, dann die angeborne Sprach ist allwegen beherziger, zit. Kluge, F. (1888), 18 1 5 8 2 verteidigt der aus der Pfalz stammende und in Rostock lehrende N A T H A N C H Y TRAEUS in seinem >Nomenclator lationosaxonicusOrthographia Germanicac Was die Teutsche Schreibkunst belanget, machens die Gelehrten alle tag anders und anders. Dazu hat ein jedes Land sein eigen art vnd Spraach. Ist auch kein Regel so gewiß, es kan alzeit etwas außgenommen werden. Derohalben kan man in dieser Sachen nit jederman genug thun noch alles so gewiß haben vnd Schreiben, man werde ... getadelt. 1 Er konstatiert also beträchtliche Schwankungen im Sprachgebrauch, sowohl horizontal wie vertikal. R U D O L F SATTLER meint in seiner 1617 erschienenen, sehr angesehenen >Teutschen Orthographey und Phraseologeyrechte Teutsche Sprach< werde in der Kaiserlichen Kanzlei, am Reichskammergericht zu Speyer und in den fürstlichen und städtischen Kanzleien gebraucht. Er fordert, Dialektismen zu meiden und den gebräuchlichsten Vorbildern zu folgen, macht aber die Einschränkung es wirdt aber hierzu niemand verbunden: sondern es stehet zu eines jeden freyen willen, im reden vnd schreiben Teutscher Sprach zu folgen wem er will. 2 C A S P A R SCIOPPIUS
(Schoppe) folgt ihm, wenn er schreibt, die Gemeinsprache
lernt sich zu Speier und am kaiserlichen Hofe leicht, weil dahin aus allen Theilen Deutschlands viele Leute zusammenströmen, die sich sehr in Obacht nehmen, daß sie durch die Idiotismen ihre Heimathsprache, welche die Andern alle als fehlerhaft auspfeifen, nicht den Spott der Gesellschaft hervorrufen. 3
1
2
3
Caninius, H., Orthographia Germanica. Teutsche Schreibkunst. Das ist, wie man auß gewisser Kunst vnd nach gewissen Regeln ein Teutsch wort recht buchstaben und schreiben soll, Cölln 1604, zit Burdach, K. (1925), 25 Sattler, R., Teutsche Orthographey und Phraseologey, Basel 1617 / Hildesheim 1975, zit. Burdach, K. (1925), 26; vgl. Josten, D. (1976), 83 Scioppius, C„ Consultatio de prudentiae et eloquentiae parandae modis in adolescentis cuiusdam Germani usum, 1626 zit. Socin, Α., 1888/1970, 328. - Eine Übersicht über die Nennung einzelner Orte oder Regionen als vorbildlich für den Sprachgebrauch gibt Josten, D. (1976), 19-97
66
17.
Jahrhundert
D a ß man den D e u t s c h e n Uber die richtige Erlernung der deutschen Sprache Regeln gibt, wird Demjenigen nicht wunderlich erscheinen, der da weiß, wie groß die Mannigfaltigkeit der Dialekte in dieser Sprache ist. Von d i e s e n steht voran der meißnische, der bei den Deutschen den nämlichen Rang einnimmt wie bei den Griechen der attische, bei den Italienern der florentische, den Franzosen der von Orl6ans, den Spaniern der von Toledo. D a n n f o l g e n der r h e i n i s c h e Dialekt, der s c h w ä b i s c h e , der s c h w e i z e r i s c h e , der s ä c h s i s c h e u n d der b a i r i s c h e , w o b e i letzterer z u s a m m e n mit d e m österreichis c h e n g e t a d e l t wird: so Einer also kommt den Italienern, Franzosen und andern Leuten vor, als sei er im Lande der Ochsen und in der Stickluft aufgewachsen. 4 Bei
CHRISTIAN
GUEINTZ
f i n d e n w i r in >Deutscher Sprachlehre Entwurf< v o n
1 6 4 1 d e n H i n w e i s , daß d i e d e u t s c h e S p r a c h e d e n anderen v o r z u z i e h e n sei, w e i l s i e d i e s e an A l t e r übertreffe. D e s h a l b b e s i t z e s i e a u c h d i e M ö g l i c h k e i t , ihre U r s p r ü n g l i c h k e i t u n d U n v e r m i s c h t h e i t zu b e w a h r e n : Und ist dieses ein sonderbarer rühm der Deutschen spräche: Dan da die andere mit frembden Wörtern dermassen vermischet / das sie wegen derselben menge schwerlich zu lernen: Aber die Deutsche alleine kan sich als eine reine Jungfrau von fremdbden sprachen enthalten / und mag deswegen desto leichter gefasset werden. Derowegen höchlich zu beklagen ist / das die Deutschen nunmehr aus den andern sprachen so viel Wörter gebrauchen / als wen sie fast keine rede mehr führen könten / da nicht bald Frantzösisch / bald Italiänisch / bald Spanisch / bald Lateinisch mit untergemenget were. Er v e r w e i s t a l s o auf e i n e lange Tradition, d i e nun g e b r o c h e n w o r d e n
sei.
D e s h a l b fordert er d i e Rückkehr und v e r w e i s t auf ihre b e s o n d e r e n E i g e n schaften:
Ebd., 325f. - Gegen die Herabwürdigung der Mundarten wendet sich 1614 JOHANNES WANKEL, Professor in Wittenberg: »Der aber irrt, der die Mundarten der deutschen Sprachen zu den Barbarismen zählt. Bemerke dazu, was Fabius sagt: >Was in anderen Fällen falsch ist, ist indessen bei den Mundarten richtige Den Meissnischen Dialekt hat der selige Luther ausgebildet: Wie sehr auch der Schwabe, Baier, Franke, Sachse, Österreicher von Luthers Dialekt abweicht: des Barbarismus darf er nicht beschuldigt werden. Warum überhäufen wir überhaupt andere Dialekte mit Schmähreden?«, Hyperaspites Prisciani vapulantis ..., Leipzig 1614, zit. Ising, E. (1970), 31f. - Andererseits wird die Unterdrückung des Niederdeutschen beklagt, etwa von JOHANN MICRAELIUS in seiner Beschreibung des Pommerlandes: »Wir andere Sachsenleute haben nun auch eine Zeitlang an unserer Muttersprache einen solchen Ekel gehabt, daß unsere Kinder nicht ein Vaterunser, wo nicht in hochdeutscher Sprache, beten, und wir keine Pommerische Predigt fast mehr in ganz Pommern hören mögen, weil es Alles muß hochdeutsch gebetet, geprediget, gesungen, geschriben, geredet und verabscheidet werden, und unser männliches atticierendes Tau muß allenthalbden der sigmatisierenden Sprache weichen«, zit. Socin, A. (1888), 310
Grammatisch
orientierte
Sprachkultur
67
Die Völligkeit der Deutschen spräche ist so gros / daß auch fast nichts kan gefunden werden / welches man in dieser spräche nicht nennen könte: dan sie die wortreichste und in diesem die glückseligste / daß auch einer aus drey stammwörtern Uber die vier hundert gute / reine / bedienliche und stets etwas anders anzeigende Deutsche Wörter zusammen gebracht. Dahero sie dan anderer frembden Wörter nicht bedarf / und deswegen mit andern sprachen unverworren bleiben / und von denselben wol unterschieden werden kan. Und ob wol bisweilen etwas scheinet / als wan es nicht könte gegeben werden / so seind doch viel Wörter bey den alten / so nicht bräuchlich in unserer itzigen art / aber doch on einer andern / wie das vornemlich in den neiien auch gefunden wird: und sol ein ieder deswegen die Vermischung / so viel müglich / vermeiden: Doch wie gedacht / sind etliche halbgelehrte in allen künsten / die / als wan sie viel von frembden sprachen wüsten / sie mit einmengen ... 5 Wortreichtum und Wortbildungsfähigkeit gelten ihm als besondere Kennzeichen des Deutschen. Diese >Völligkeit< und die Herkunft aus der Bibel legitimieren es und seine Grammatik in besonderer W e i s e . 6 A u f den >Entwurf< von Gueintz antwortet JUSTUS GEORG SCHOTTEL mit seiner >Teutschen Sprachkunst< ( 1 6 4 1 ) . Schon sein Titel läßt den höheren Anspruch gegenüber den >Sprachlehren< seiner Vorgänger ahnen. Zugleich ist die >Sprachkunst< Vorläuferin der A u s f ü h r l i c h e n Arbeit von der Teutschen HaubtSprache< ( 1 6 6 3 ) , in die sie integriert wird. F ü r Schottel hat die B e schäftigung mit Grammatik und ihre Beschreibung Eigenwert, weil durch die >bewußte< Bearbeitung nach dem Vortritt der R ö m e r und Griechen der Wert übertragen wird, den diese der Sprache zuwiesen. Wie Gueintz setzt Schottel auf die Sprachtradition, da unsere jtzige Teutsche Sprache / ob sie schon durch mildesten Segen des Himmels / zu einer mehr prächtigen Zier und Volkomenheit gerathen ist. Der unveränderte Kernbestand kann einem Neuaufbau dienen: denn wie das Land / Teutschland bleibet / also müssen die Stammwörter / Teutsche Wörter bleiben / die denn jhre natürliche Eigenschaften ... so lange in sich / samt jhrer Deutung / gehabt haben / so lange sie in rerum natura gewesen ... Die Sprache bezeichnet er als >Kunstgebäunatürlich< von ihrem Ursprung her, sie sei >vernünftig< durch ihren gesetzmäßigen Aufbau, der zugleich eine >natürliche< Ordnung darstellt. Die >Sprachkunst< muß sich theoretisch und praktisch mit diesem >natürlichen< und >vernünftigen< Aufbau befassen, wobei die >Sprachkunst< als Vernunft gebrauchende Wissenschaft zu deuten ist. Der besondere Eigenwert der deutschen Sprache ergibt sich aus einem ausbalancierten Begründungsgleichgewicht zwischen Kunst und Natur. Die Natur der Sprache deckt sich nach Schottel mit der des menschlichen Verstandes, d.h. Natur und Vernunft entsprechen sich. Die Behauptung einiger Ausländer, die deutsche Sprache sei minderwertig, zeuge von fehlender Sachkenntnis, von >Unkündigkeitgelahrter Männer< gegenüber. 8 Der Gebrauch der Sprache richtet sich nach der Tradition, nach dem guten Vorbild der >MeisterGut< ist ein Gebrauch nur dann zu nennen, wenn er den Regeln der Sprachnatur, dem >Grund der Sprachen< nicht widerspricht. Ein Mißbrauch kann niemals gerechtfertigt werden. Guter Gebrauch der Sprache bedeutet Ursprünglichkeit, allgemeine Billigung, vor allem aber die der Sprache eigene >Ratiogelahrten Männern< durch die Erforschung der älteren, der ursprünglichen Sprachformen herausgearbeitet und kann - insofern sie jedermann über den Verstand zugänglich ist - allgemeine Zustimmung erfahren. Aus der Sprachnatur leitet Schottel Normprinzipien ab. Sie gelten für die >Hochteutsche Sprachen die er als >Lingua ipsa Germanica< bezeichnet. Hochdeutsch meint nicht den den Regionalsprachen übergeordneten Aspekt, sondern bezeichnet die >KunstspracheKunstrichtigkeit< und als >Guter Gebrauch< bei den >gelahrten Männern< zum Objekt der >Ars grammatica< werden kann. Das >meißnische Deutsch< stimmt mit der Grundrichtigkeit der hochdeutschen Sprache überein und darf somit als vorbildliches Beispiel gelten. Für die kulturpatriotische Erhöhung der deutschen Sprache werden Gründe gesucht und gefunden, die im Alter, in der Herkunft und in der Geschichte der Sprache wurzeln. Da für die Zeitge-
98; Lee, M.E., Justus Georg Schottel and Linguistic Theory, Los Angeles 1968. In seinem ersten poetischen Versuch, der >Lamentatio Germaniae expirantis. Der nunmehr hinsterbenden Nymphen Germaniae TodesklageallamosisierensRede über die Würde der >duytschen< Sprache< voransetzte. Darin pries er deren Vollkommenheit und führte als Beweis die Vielzahl einheimisch-eigenständiger einsilbiger Stamm- oder Wurzelwörter an, Beghinselen der Weeghconst 1585
Grammatisch orientierte
Sprachkultur
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nossen der Verfall der Sprache evident ist, soll der Rückgriff zeigen, daß der Verfall nicht das natürliche Wesen widerspiegelt, sondern daß die ursprüngliche, natürliche Größe eine besondere Auszeichnung darstellt: Und ob dieselbe (die alte Teutsche) anitzo schon in ausgeschmiikter Hochteutscher Mundart eine andere Gestalt und weit anderes Ansehen / als die vorjahrige hat / so ist sie dennoch solcher alten tapferen Mutter / beliebteste natürliche Tochter / in dero Schönheit und gleichsam zuwachsender Jugend und Herlichkeit man das einfeltige / unverwelkte und ehrliebende Alter erspüren / lieben / ehren und loben muß. 9 Einsilbige Stammwörter, Derivationen (Ableitung, z.B. Gabe von geben) und Kompositionen machen das Wesen des Deutschen aus. Was v o m Ursprung her sich bewahrt hat und vom Sprachwandel wie von den schlechten Einflüssen (außländische verderbende Lapp- und Flickwesen) 1 0 unberührt blieb, ist die >SprachnaturSprachkunst< ansetzen, will sie das Deutsche zu einer für Wissenschaften und Künste tauglichen Sprache machen. D i e Fremdsucht, die >FrömdgierigkeitDer Teutschen Sprache< Einleitung (Lüneburg 1643) läßt Schottel die Muttersprache selbst sagen: »Ich wil mich immer hin durchs Pöbel-Uhrteil dringen, Und Joch- und Bürdelos in einen Freistand schwingen, Da mich der Eselstanck und Sprachverderberei, Soll lassen, die ich bin, Rein, Edel, Teutsch und frei.« Ebd. 49 Ebd. 137 Schottel, J.G. Freudenspiel vom Friedens Sieg, (1648) hg. v. E. Koldewey, Halle
70
17.
Jahrhundert
D e r Kampf g e g e n die Sprachverderbnis wird hier sittlich, ethisch begründet, sonst mehr historisch unter Berufung auf die Würde der Nation. D e r Dreißigjährige Krieg wird als SUndenstrafe aufgefaßt,: weil Sprache und Sitten annoch bey uns unbeflekket waren / hatten wir Teutschen guten Frieden / weil man aber die Sprache und Sitten verfrömdet und verkehret / hat GOtt auch das Wolergehen des Teutschlandes rechtschaffen durchfrömdet und verkehret. 1 3 Schottel plädiert dafür, d e m >Kunstgebäu< Sprache durch die >Ars grammatica< zu helfen, der >Frömbdgierigkeit< mit der grammatischen Tugend der Puritas zu b e g e g n e n , d.h. mit grammatischer Korrektheit. In der >Ausführlichen Arbeit von der Teutschen HaubtSprache< ( 1 6 6 3 ) geht Schottel davon aus, daß j e d e m Volk seine Sprache von Natur aus zukomme. Die unbeweglichsten Haubt Gründe unserer Sprache ... befehlen uns also die Wörter zu bilden, und die Dinge außzudrücken: ist auch überdas ein Teutsches Gemüt so genaturet, daß es solche teutsche Wörter leichtlich vernehmen, und Kraft derer, die vielerley Verenderungen des irrdischen Wesens in seine Bildung gar vernehmlich bringen kan. 1 4 Zu j e d e m >Volksgemüt, d.h. Wesen, gehört e i n e zugeordnete Sprache, die es zu ehren und lieben gilt als seiner Natur und Art eigentümlich. Innere Gesetze, >gewisse GründeHaubtSpracheTeutsche HaubtSpracheviele Würtzelen, Wörter, Saft, Kraft und Geist< borgten, 1 9 so ist das Deutsche der Gegenwart von Fremdwörtern überwuchert, aber das ist nicht das ursprüngliche Erscheinungsbild. D i e >Reinligkeit< des Deutschen zu wahren, ist die aktuelle Forderung, zugleich ein Teilziel der >GrundrichtigkeitGrund-Sätzen Der Deutschen Sprachen im Reden und Schreiben< die Eigenständigkeit der deutschen Sprache durch ihre besondere Syntax zu behaupten. 21 Er meint, daß der Sprachgebrauch über Sprachrichtigkeit und reinheit entscheide. Die Gelehrten hätten Sprache nicht zu gestalten oder zu normieren, sondern ihren Gebrauch zu beschreiben. Als Vorbilder nennt er Luther, weiter Opitz, Fleming, Gryphius, Rist, Hofmannswaldau, Lohenstein, Harsdörffer, Schottel, Arndt, Geyer, Heinrich Müller, Erasmus Francisci, Scriver, Weise und Morhof. Schottel bedeutet in konzeptioneller Hinsicht einen Abschluß, indem er die Eigenständigkeit des Deutschen in den Stammwörtern und ihren Verbindungen sah. Die große Zahl der Lexikographen des 16. und 17. Jahrhunderts hatte die Aufgabe, die Vorzüge des Deutschen auf der Wortebene zu beschreiben. Herausgehoben ist es durch die Kraft (virilis sermo) und durch die Kürze. Der Reichtum an ursprünglichen, einsilbigen Wörtern verhilft dem Deutschen zur Brevitas wie zur Univozität (Eindeutigkeit). Durch beide Komponenten erhält es einen reichhaltigen Wortschatz. Wichtig ist die Kombinationsfähigkeit der Laute. Besonders durch Konsonanten und Diphthonge lassen sich Silben mit vielen Lauten bilden. Je größer aber eine solche Lautvielfalt ist, desto weiter ist die betreffende Sprache von den Tierlauten verschieden. Je differenziertere Aussprachemöglichkeiten zur Verfügung stehen, desto eher geht man der >Dunkelheit< aus dem Wege und befördert die >Klarheitbarbarischen< Zustand. Zugleich besteht die Gefahr, daß mit ihm ein politischer Machtverfall gekoppelt ist: Wer aber sich selbsten unehret / wer kan und will dem helfen? Vielmehr hat es das Ansehen / ob wolle so gar noch das Ubele ärger werden / nachdem man bey Fürstlichen Höfen Franzöische Trachten / Franzöische Gebehrden / Franzöische Diener siehet / und lieber Franzöisch / als Teutsch (die tapfere Rittersprache) reden höret. Wo es nur nicht ein Vorspuk des Franzöischen Joches seyn möchte! 24 Wörterbucharbeit wird wichtig für die Sprachpflege bei dem zitierten Kaspar Stieler (Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs / oder teutscher Sprachschatz, Anhang: Kurze Lehrschrift von der Hochteutschen Sprachkunst, 1691) und anderen. Sie wird aber zugleich zur Demonstration für die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen, stellt das notwendige Beweismaterial zur Verfügung. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Sprache ist besonders vonnöten, weil die deutschen Gelehrten ihre eigene Sprache meist nicht besser beherrschen als der >gemeine P ö f e l c Da prediget / lehret / vermanet und tröstet der Geistliche Teutsch: Der Statsmann traget die ihm anvertraute Geschäfte Teutsch vor / rahtschlaget / erörtert / ordnet und verrichtet alles / worzu ihn sein Amt verbindet / Teutsch: Der Arzt spricht Gesunden und Kranken auf Teutsch zu / und / obwol der Weltweysheitsergebener mehr an denen sinnlichen Wißenschaften / als wirklichen Künsten hanget; So ist er doch Um so vielmehr / wenn er anders sich verständlich machen wil / einer gründlichen Kunde der Teutschen Sprache bedürfig / üm wie viel seltener die darzu behufige Worte im gemeinen Leben bekant und durchgängig seyn: Da gehöret zu einer Kunstrede ein reicher Wortvorraht / eine kluge Wahl auserlesener / wolklingen23
24
Stieler, K., Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz, 1691, 3V - 4 r , zit. Huber, W„ (1984), 135 - Zeman, H„ Kaspar Stieler: Versuch einer Monographie, Diss (masch.) Wien 1965. - Vgl. auch J O H A N N M I C H A E L D I L H E R R , der über den Fremdwörtergebrauch in der deutschen Sprache so urteilt: »Solche Mengerei und Einführung von Fremdwörtern ist gemeiniglich ein Vorboth einer Mengerei und Veränderung des Regiments. Jetzunder muß es alles in den Kleidern und in den Reden französisch sein (...) da doch unsere Heroische und Wortreiche Muttersprache solcher bettlerischen Flickerei ganz und gar nicht bedarff: Gott gebe, daß mit den Französischen Kleidern und Wörtern nicht mehres in unser liebes Vaterland einschleiche ...« zit. bei Bischof, T., Georg Philipp Harsdörffer. Ein Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert, Nürnberg 1894, 195f. Ebd. 4 r
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Jahrhundert
den Redarten / eine ungezwungene / leichtfließende Deutlichkeit in Ausdrückung hoher Gedancken / samt einer mannigfaltigen Durchschießung geschicklicher Worte / und ist ie einem Gelehrten allerdings unverantwortlich und höchstnachteilig / wann er mit der Sprache / so ihm angeboren / beßer nicht / als der gemeine Pöfel / Umzugehen gelernet hat. Es haben ie / durch Anwendung unsäglichen Fleißes und scharfsinnigen Nachdenkens / underschiedliche fremde Völker ihre zum teil arme und übelklingende Sprachen zu einem so hohen Gipfel herrlichen Ansehens und verwunderlicher Zierde / erhoben / daß sie / nicht allein zu deren Erlernung weitentlegene Leute an sich gelocket / sondern auch dermaßen sinnreiche / und die menschliche Vernunft gleichsam übersteigende Lehren / heraus gebracht / welcher Erklär- und Beybringungen man in andern Sprachen vor allerdings unmüglich geachtet. 25 Das Deutsche ist zwar anderen Sprachen gleichrangig oder ihnen überlegen. Die Arbeit an der Sprache ist aber >noch kaum zur Mitte gefüretAusbutzenVerschönern< des Schotteischen >Kunstgebäudes< zu einem >Sprachpallastebensoviel und mehr Zeichen einer ursprünglichen Grundsprache, als selbst das Hebräische, darbietetSprachnatur< des Deutschen aufgesucht werden: Welche Construction in prosä nicht gelitten wird / die sol man auch in Versen darvon lassen. Das Fundament dieser Regel muß έ natura germanicae lingvae gesucht werden. Denn daß andere Sprachen / sonderlich die Lateinische mit den Worten etwas frey umgehen kan / solches kömt daher / weil sie auch in prosä dergleichen Freyheit zugebrauchen pflegen. Hingegen müssen wir uns in allen Reden so genau an die rechte Construction binden / daß wir leicht schliessen können / was vor ein grosses Stücke der Liebligkeit abgehen muß / wenn die Wort so eines hefftigen Zwanges gewohnen sollen. 61
Kümmern müsse man sich um die >Galanterie der Sprachen 6 2 Das Augenmerk soll dabei nicht mehr auf den Wörtern ruhen, sondern auf dem Satz als Redezusammenhang. Der Prosa und der täglichen Conversation habe sich die Poesie zu nähern. Die Rhetorik soll der Schwerpunkt der künftigen Ausbildung sein. Sprachpflege habe sich auf Rede und Stil zu konzentrieren. Weise, dem wir den Begriff >Cultur der Sprache< verdanken, wendet sich damit gegen den zu seiner Zeit noch vielbewunderten hochtrabenden Prunkstil des Barock. Aber seine propagierte Art von >Natürlichkeit< geht in Richtung auf Unüberlegtheit, auf Nachlässigkeit, auf Simplizität. Das ist verständlich im Hinblick auf seine Zeit. Er erregt aber in der ersten Generation der Aufklärer einhelligen Widerstand. Die Entwicklung zeigt, daß zunehmend gestalterische Möglichkeiten herausgearbeitet werden, die das neue Ausdrucksmittel der jungen Kunstdichtung, die deutsche Sprache bietet. Genannt werden Verse, Strophen, Reimarten, Klang, Wortbildung. Selbstgenügsame Sprachspielereien werden rasch als Schwulst kritisiert und andere Kategorien zur Norm erhoben, der Gebrauch und der Nutzen vor allem. Die Stellung der deutschen Sprache, die zuerst im Sinne des Kulturpatriotismus emporgehoben werden muß, wird zunehmend relativiert. Die Puritas, die Forderung nach dem reinen Deutsch, hat in den frühen Poetiken einen hohen Stellenwert, ebenso natürlich in den Grammatiken. Der Purismus bindet sich an das Wort (Stammwort, Wortbildung), nicht an die Redeeinheit (Satz). Die Kunstdichtung erzielt ihre Bewährung durch den Gebrauch der Kunstsprache. Dichten heißt, die Leistungsfähigkeit der Muttersprache zu demon60
61 62
Weise, Ch., Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen, 1692, In: Poetik des Barock, hg. v. M. Szyrocki, Reinbek b.H. I, 126 Ebd., I, 141f. Ebd. II, 56
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Jahrhundert
strieren, die in der Grammatik nur theoretisch und exemplarisch vorgeführt werden kann. Die angestrebte Puritas im Sinne der >Reinligkeit< wird als Tugend betrachtet. Als grammatische Korrektheit verstanden erlaubt sie unterschiedliche Einstellungen zu den Verfallserscheinungen, zur Überfremdung, zu den Fremdwörtern. In Parallele zur geforderten >Latinitas< in der lateinischen Grammatik wird für das Deutsche die >Deutschheit< (Gueintz) propagiert. Sie entspricht der grammatischen Generaltugend der Richtigkeit. Die Forderung nach der >Puritas< führt zur Aufgabe, die deutsche Sprache zu analysieren, zu objektivieren, zu verallgemeinern, zu normieren, zu potenzieren, zu idealisieren, sie zu verwissenschaftlichen. Neben der Sprachrichtigkeit und Sprachreinheit gilt das Streben auch der Sprachschönheit: Daß man sich zu solchem Ende der besten Aussprache im Reden / und der zierlichsten gebunden- und ungebundener Schreibarten befleissige. 6 3
Die >Teutsche Haupt- und Heldensprache< soll zu einer den höchsten ästhetischen Ansprüchen genügenden Literatur- und Kunstsprache ausgestaltet werden. Dabei werden ausländische Stiltheoretiker, wie der französische Dichter Ronsard (1524-1585) oder der niederländische Daniel Heinsius (1580-1655) als Vorbilder anerkannt. »Insoweit ist die Stilkunst der fremden Literatur Gegenstand der Belehrung auf dem Wege zur Ausbildung einer deutschen literarischen Kunstsprache. Sie gibt einerseits Anlaß zu theoretischer Auseinandersetzung, fordert aber in der Praxis der Übersetzung zugleich zur Erprobung der ausländischen Stilmuster auf. Sei es, daß man sie nachahmen konnte, sei es, daß sie wegen der andersartigen Strukturen der eigenen Sprache zu verwerfen waren. Weit darüber hinaus aber suchte man durch Übersetzungen, auch aus dem Spanischen, dem Italienischen, dem Englischen, die Weite der literarischen Welt zu erfassen und nationale Enge zu überwinden. Beide Ziele waren wichtig genug, um die Übersetzung fremder Literaturwerke als unerläßlich für die deutsche >Spracharbeit< zu erklären«. 64 Die Dichtkunst galt damals als lehrbar. Dichten bedeutete gelehrtes Tun. Damit wird auch die sprachliche Gestaltung von Texten zur bewußt geübten
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Harsdörffer, G.P., Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit, Nürnberg 2 1644, Tübingen 1968, 361f. - Eine Reihe von Autoren, Birken, Harsdörffer, Opitz, Schottel, Tscherning etc. untersagen die Verwendung bäurischer oder pöbelhafter Wörter in der Dichtung. Nur die satirischen Genres, einschließlich der Komödie, bilden eine Ausnahme. Abweichend ist auch A N S E L M Z I E G L E R U N D K L I P H A U S E N in seinem Roman >Asiatische B a n i s e c » D e s Styls und eingestreueten Barbarismi wegen werde ich verhoffentlich zu pardonnieren seyn, wenn ich sage; daß ich hierinnen den eigentlichen endzweck der Roman, die Teutsche spräche zu erheben, nicht so genau beachtet habe: weil ich mich viel zu wenig erachtet, unserer werthen Mutter-Sprache den wenigsten zierrath durch mich zu ertheilen«, Die Asiatische Banise/ Oder das blutig - doch muthige Pegu, Leipzig 1689, Vorrede Eggers, H. ( 1 9 6 3 - 7 7 ) , IV, 16
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Sprachkultur
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Kunst. Wichtigste Aufgabe ist es, ein Sprachwerk ansehnlich, >zierlichTeutschen Michel< (1673) lustig über die >zierlich redenden LiteratiZierlich< vgl. Sinemus, V. (1978), 75ff. Grimmelshausen, J.J.Ch.v., Deß Weltberufenen Simplicissimi Pralerey und Gepräng mit seinem teutschen Michel, Nürnberg 1673, hg. v. R. Tarot, Tübingen 1976, 43; Bierbüsse, G., Grimmelshausens >Teutscher MichelDeutschen Michel< taucht in Flugblatt-Liedern zuerst auf in Augsburg 1638, >Ein neu Klaglied, der Teutsche Michel genannt. Wider alle SprachverderberBuchstabensucht< die Sprache zu verderben droht, trägt sie noch etwas von der göttlichen Weihe der Ursprache in sich. Sie ist vor allem in der rohen Gestalt der Volkssprache heilbar und kann durch rechte Pflege ihres natürlichen Wesens wieder wahrhaftig werden. Aber erst G O T T F R I E D W I L H E L M L E I B N I Z hat diesen Gedanken, das Latein als Sprache der Wissenschaft durch die Muttersprache zu ersetzen, konsequent zu Ende gedacht. Er hält besonders die Naturwissenschaften für so nützlich und wichtig, daß ihre Erkenntnisse eine Ausbreitung über den Stand der Gelehrten hinaus notwendig machten. Deshalb fordert er nun auch eine deutsche Fachsprache für Wissenschaft und Technik. Sprache dient der Ordnung und Förderung der eigenen Gedanken (monologische Funktion) und der Mitteilung der Gedanken an andere (dialogische Funktion). Ziel der Mitteilung ist es, >im Geiste dessen, der mich hört, eine Idee, die der meinen ähnlich ist, zu
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Ising, E., Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik (1612-1630), Berlin (DDR) 1959, 21 Schupp, B., Der Teutsche Lehrmeister, Hamburg 1663, zit. Socin, A. (1884), 357. Lemper, E. H., Jakob Böhme. Leben und Werk, Berlin 1976, 178; Klein, W.P., Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992; Schäublin, P., Zur Sprache Jakob Boehmes, Winterthur 1963; Stewing, Ch., Böhmes Lehre vom >inneren< Wort in ihrer Beziehung zu Franckenbergs Anschauung und Wort, Diss. München 1953
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Sprachkultur
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erwecken. mit möglichster Leichtigkeit^ 2 zu gewährleisten. Beide Funktionen der Sprache, monologische und dialogische, dienen dem übergeordneten Ziel der Erkenntnisförderung. Leibniz weist der Sprache aber nicht nur diese rationale Zielsetzung zu. Seine Beschäftigung mit Sprache stand vielmehr unter zwei Gesichtspunkten, einem philosophischen und einem sozio-politischen. Ersterer führte auf die rationalen Funktionen von Sprache, letzterer auf die (politisch verwendbaren) sozialpsychologischen Wirkungen von Sprache. Einmal bemühte sich Leibniz um eine auf mathematischen Ableitungen basierende Zeichensprache, deren Zielpunkt die Konzipierung einer Universalsprache, einer Weltsprache mit möglichst wenigen Zeichen und möglichst vielen Kombinationsmöglichkeiten war. In späterer Zeit verfolgte Leibniz diesen Plan der >characteristica universalis< nicht mehr mit der Ausschließlichkeit, die seinen frühen Werken eignet. Stattdessen gewinnt ein anderer Aspekt an Bedeutung: die Beschäftigung mit der >VolksspracheUnvollkommenheitendurch Nachlässigkeit verschuldet sindSekten in der Philosophie und ReligionWörter früher als die Ideen, die zu ihnen gehörenaffektierten Dunkelheit der Worte, die häufig bei den >Sekten der Philosophen< anzutreffen sei. Den Sophisten diente diese >Dunkelheit< nach Leibniz' Meinung beispielsweise dazu, ihre Unwissenheit zu verschleiern. Die künstliche Rätselhaftigkeit dient also demselben Ziel wie die Verwendung von sinnleeren Worten. Besonders in den Bereichen Religion und Rechtswesen ist eine solche Dunkelheit verhängnisvoll, da diese beiden die >großen Richtmaße der menschlichen Handlungen< 84 sind und unbedingt klare Ideen verlangen. Leibniz will nun aber nicht jegliches Geheimnisvolle aus der Sprache verbannen: Eine gewisse Dunkelheit könnte erlaubt sein, doch muß sie etwas verbergen, was verdient erraten zu werden, und das Rätsel muß lösbar sein. 8 5
Der vierte von Leibniz angeführte >Mißbrauch< ist nicht eigentlich sprachlicher Art: der Erkenntnisirrtum. >Es wird etwas für wahr gehalten, was es nicht ist.die Leute mit denselben Ausdrücken verschiedene Begriffe verbinden^ 8 7 Als Letztes wird in den >Neuen Abhandlungen noch die schädliche Auswirkung des Mißbrauchs von rhetorischen Mitteln beschrieben: Die Menschen werden getäuscht. Geblendet durch den Glanz der Rhetorik, verfehlen sie den Weg zur Erkenntnis.
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Neben einer möglichst leichten dialogischen Verständigung ist die Förderung von Erkenntnis eine Hauptfunktion von Sprache bei Leibniz. Die von ihm aufgeführten Mißstände in der Sprachverwendung jedoch erschweren oder verhindern nicht nur die Verständigung, sondern auch die Erkenntnis. Würde man daher diese >Unvollkommenheiten< genau untersuchen und Abhilfe schaffen, so würde >der Weg der Erkenntnis und vielleicht des Friedens offener vor den Menschen daliegen< - der Weg des Friedens, weil bei einer Bereinigung der Mißverständnisse durch genaue Untersuchung ihres Zustandekommens >der größte Teil der Streitigkeiten von selbst wegfieleWelcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle?Gelehrsamkeit fortzupflantzen < , 89 Während er die Überlegenheit der französischen Gelehrsamkeit als Folge des Gebrauchs der Muttersprache sieht, kann er sich nicht entschließen, den Deutschen ihre Sprache ebenfalls zu empfehlen, weil er diese für unvollkom-
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Ebd. 388 Christian Thomasens Allerhand bißher publicirte Kleine Teutsche Schrifften, Halle 1701, 21. - Als Thomasius im gleichen Jahr (1687) an der Leipziger Universität eine Vorlesung in deutscher Sprache ankündigte, »was war da nicht für ein entsetzliches lamentiren! Denkt doch! ein teutsch Programma an das lateinisch schwartze Bret der löbl. Universität. Ein solcher Greuel ist nicht erhöret worden, weil die Universität gestanden. Ich muste damahls in Gefahr stehen, daß man nicht gar solenni processione das löbliche schwartze Bret mit Weyhwasser besprengte.«, zit. Langen, A. ( 2 1957), 1014. Es war die erste deutsche Vorlesung außerhalb der Realdisziplinen.
Fachlich orientierte Sprachkultur
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men hält. Aber ausschlaggebend ist für ihn, welche Sprache den meisten Nutzen für den jeweiligen Gebrauch erbringt: Man lasse diejenigen, die Lust dazu haben, und die vom Studieren Zeit ihres Lebens Profession machen wollen, Latein und Griechisch genug lernen, den andern aber, die man im gemeinen Leben brauchen will oder die nichts als Französisch und Deutsch gelernt haben und denen das Studieren wegen des Lateinischen sauer und verdrießlich wird, helfe man ohne Verdrießlichkeit mit dem, was sie gelernt haben, fort. 90
Anders als Leibniz, der das Deutsche zwar für die Wissenschaft fordert, sie selbst aber nicht verwendet, setzt Thomasius die Veröffentlichung seiner E i n l e i t u n g zu der Vernunfft-Lehre< (1691) in deutscher Sprache durch. In der Vorrede rechtfertigt er sich mit der Feststellung, daß er ein breites Publikum ansprechen wolle. Die Griechen hätten ihre Philosophie nicht in hebräischer Sprache aufgeschrieben, die Römer ihre nicht in der griechischen. Philosophie sei eine Sache, die alle angehe. Warum sollten deshalb die Deutschen, wenn sie es nicht ebenso hielten, sich bei anderen Nationen in Verdacht bringen, daß ihre Sprache zum Philosophieren ungeeignet sei. 91 Bei den Fachtermini plädiert er für einen Mittelweg. Man solle weder allzusehr affektierte ausländische Wörter in seine Sprache mischen, noch alle eingeführten Kunstwörter übersetzen. In dem >Gemischte(n) Discours bey Intimirung fünf neuer Collegiorum< (1691) 9 2 erklärt Thomasius, seine langjährige Lehrtätigkeit habe ihn erfahren lassen, daß die meisten seiner Hörer besser imstande seien, gutes Latein zu schreiben als gutes Deutsch. Er richtet deshalb in Halle ein >Collegium Styli< ein, einen praktischen Unterricht im Schreiben und Sprechen der Muttersprache. Und in einem Handbuch der Jurisprudenz empfiehlt er das Studium der Grammatik, Poesie und Rhetorik. Die Grammatik lehre, >wie man recht reden sollvöllig eingenommen vnd gleichsam verdewet< werden sollte. 9 5 Auf seine Anregung hin arbeiten die Professoren CHRISTOPH HELWIG und J O A CHIM JUNGE 1614 ein Gutachten aus, in dem sie den Nutzen des deutschen Unterrichts vor allem für die praktischen Lehrfächer hervorheben: Auch seind bißhero alle Sprachen / Künste vnd Wissenschaften an die Lateinische Sprach gebunden / also dz die Lateinische / gleichsam eine Tyrannin vber die andern Sprachen vnd Künste herrschet / der gestalt / daß niemand Hebreisch Griechisch / oder auch Weißheit vnd Künste lernen kan / ehe dan er sich in der Lateinischen Sprach wol abgearbeitet / da doch viel füglicher ein jeglicher Sprach stracks aus der Muttersprach gelehret / auch alle wissenschafften vnd Künste mit vortheil leichtlich vnd außführlich in der Deutschen Sprach Studiret / vnnd folgende in andern nützlichen Sprachen fast mit einer Mühe mögen getrieben werden ... Schließlich mus auch unsere Muttersprach die Teutsche nicht dahinden bleiben. Dann dieselbe nicht weniger als die andern / jre besondere Eigenschafft / Richtigkeit / Vollkommenheit / vnd Zierligkeit hat / welches wir Teutschen billich solten in acht nehmen / vnd die Schätze unserer angebornen Muttersprach nicht so lang vergraben seyn lassen. Aber wie die außlendische Wahre gemeiniglich von uns gar hoch geschetzt / vnser eigne einheimische aber verachtet wird / also machen wirs mit unserer eigenen Sprach auch. Vnnd darff wol vielen lecherlich vorkommen / das ein Deutscher die Deutsche Sprach recht vnd künstlich lernen müsse. 96 STEFAN RITTER rät 1616, für den Unterricht im Deutschen die Luthersche Bibel zu gebrauchen, da diese in einer so abgerundeten und klaren Sprache übersetzt sei, daß nicht nur Luthers Worte zum Ausdruck kämen, sondern auch die des ihm diktierenden Heiligen Geistes. 9 7 Auch Magister B A R T H O L O 95
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Zit. Ising, E., Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik (1612-1630), Berlin (DDR) 1 9 5 9 , 1 6 . - COMENIUS schließt sich mit fast gleichlautenden Worten der Ansicht Ratkes an, Comenius, J.A., Große Didaktik, München 1960, 193. Comenius hält auch das Deutsche für geeigneter als Weltsprache als alle anderen Sprachen. Er habe eigene Wurzelwörter, die besonders gut für Zusammensetzungen geeignet seien und mit dem bezeichneten Gegenstand korrekt übereinstimmen, Panglottia, 1657, zit. Geissler, H., Comenius und die Sprache, Heidelberg 1959, 154; Reber, J., Johann Arnos Comenius und seine Beziehungen zu den Sprachgesellschaften, Leipzig 1895. - Hampel, G., Die deutsche Sprache als Gegenstand und Aufgabe des Schulwesens vom Spätmittelalter bis ins 17. Jahrhundert, Gießen 1980; Klein, W.P., Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992 Ebd. 13f. - Michel, G., Wolfgang Ratke: Die Muttersprache in Schule, Staat und Wissenschaft, In: Stadt - Schule - Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, hg. v. A. Schöne, München 1976, 185-197; Grimm, G.E., Muttersprache und Realienunterricht. Der pädagogische Realismus als Motor einer Verschiebung im Wissenschaftssystem (Ratke-Andreae-Comenius), In: Respublica litteraria. Die Institution der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, hg. v. S. Neumeister u. C. Wiedemann, Wiesbaden 1987, 299-324 Ritter, S., Grammatica Germanica nova, Marburg 1616, zit. Socin, A. (1888/1970), 332
Didaktisch
orientierte
Sprachkultur
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erörtert in seiner >SprachschuleD. Luthers als eines Meisters der deutschen Sprache ... Dolmetschung der deutschen Bibel.Orthographie< (1629) ihre Vorlagen aus der Luther-Bibel." CHRISTIAN GUEINZ nimmt zu den Lutherschen Texten die der Reichstagsabschiede hinzu, weil diese in weltlichen Dingen die Hauptlehrer seien und die Sprache darin am besten beachtet werde. 100 GEORG PHILIPP HARSDÖRFFER plädiert in >Specimen philologiae Germanicae< (1646) dafür, den Schulunterricht in deutscher Sprache zu erteilen, wehrt sich aber zugleich gegen den Vorwurf, die Jugend vom Lateinstudium abzuhalten. Er fordert, an den Universitäten Lehrstühle für die deutsche Sprache zu errichten und sich mit den Schriften von Opitz, Fleming, Moscherosch und Dach über die Reinheit und Richtigkeit der deutschen Sprache zu beschäftigen. Insgesamt wendet er sich gegen die Sprachvermischer und -verächter. Bei JOHANN GIRBERT (1653), der die Arbeiten von Clajus, Gueinz und Schottel für die Schule auszuwerten versucht, gelten als Autoritäten neben Luther die Schriften, die das Deutsche Reich selbst in Abschieden, Kanzleien, Konsistorien und Druckereien herausgab. 101 JOHANN BELLIN dagegen preist in seiner >Syntaxis praepositionum Teutonicarum< (1661) die Schriften von Opitz an und versichert, daß dieser unter allen Deutschen, Luther ausgenommen, das sei, was Cicero und Vergil unter den lateinischen Scribenten gewesen. 102 JOHANN BALTHASAR SCHUPP nennt Luther in seinem >Deutschen Lehrmeister (1663) einen rechten deutschen Cicero. MÄUS SCHERÄUS
Und wer recht gut Deutsch lernen will, der lese fleißig die deutsche Bibel, die tomos Lutheri und die Reichsabschiede; ich sage, daß man aus der Bibel zierliche deutsche Phrases sammeln könne. 103 BALTHASAR KINDERMANN
lamentiert 1664:
Zubeklagen ist es / daß man die hochedle deutsche Sprache / bey so hellem und klaren Liechte / in den Schulen / so gar übel und bößlich unter die Banck stekket. 104 98 99 100
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Scheräus, B., Sprachenschule, Wittenberg 1619 Werner, Orthographie, Altenburg 1629 Gueinz, Ch., Deutscher Sprachlehre Entwurf, Kothen 1641 u. Die deutsche Rechtschreibung, Kothen 1645 Girbert, J., Die deutsche Grammatica oder Sprachkunst, Mühlhausen 1653. - Vgl. Dietel, R., Die Begründung der deutschsprachlichen Forderungen im 17. Jahrhundert mit Rücksicht auf Unterricht und Wissenschaft, Zeitschrift für den deutschen Unterricht 18, 1904, 30-55, 81-104 Bellin, J., Syntaxis praepositionum Teutonicarum, Lübekk 1661 Schupp, J.B., Der Teutsche Lehrmeister, Hamburg 1663. - Schaller, K., Johann Balthasar Schupp: Muttersprache und realistische Bildung: In: Stadt - Schule Universität - Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, hg. v. A. Schöne, München 1976, 198-209 Kindermann, B., Der deutsche Poet, Wittenberg 1664, 716
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CHRISTIAN GRYPHIUS, der Sohn des berühmteren Andreas Gryphius, beschäftigt sich in seinen den lateinischen Schulactus nachgestalteten deutschen Schulspielen seit 1690 mit dem Zustand der Sprache. Er hält die Gegenwartssprache, die sich stufenartig entwickelt und damit verbessert habe, bis zu >mercklichen Vollkommenheit gediehene für gefährdet. Sprachkünsteleien und Sprachmengerei haben ihre Schönheit verdorben, und der Einfluß fremder Sprachen bringt weitere Verwirrung. Es gilt, den Zustand reinster Sprache und Literatur zurückzugewinnen. Das kann nicht Sache einzelner Menschen sein, sondern erfordert kollektive Anstrengungen. Einmal ist der Ansatz der Sprachgesellschaften wichtig - hier rühmt er die Arbeit der f r u c h t bringenden Gesellschaft und vor allem die des Fürsten Ludwig von AnhaltKöthen - zum anderen der derjenigen Gelehrten, die ihre Arbeiten in deutscher Sprache veröffentlichen. Zur besseren Erkundung der Muttersprache schlägt er die Gründung einer Gesellschaft zur Erforschung der >Denckmahle des Alterthums< (der alt- und mittelhochdeutschen Literatur) vor, die Schaffung eines deutschen Wörterbuchs durch eine Gruppe von Wissenschaftlern, größere Pflege der Redekunst. Für die Schulen empfiehlt er einen intensiveren deutschen Sprachunterricht, der sich förderlich auf das Verhältnis von Bürgern, Volk und Staat auswirken werde. 105 J O H A N N JACOB LANGJAHR klagt in seiner >Kurtzgefaßten doch Gründlichen Anleitung Zu Leichter Erlernung der Teutschen Sprache< (1697):
Zwar Teutschland muß sich nun von jedem äffen lassen/ wenn Kleid und Worte nicht von Frankreichs Biesam riecht.
Er findet aber den Vorzug, daß die Teutsche Sprache unter allen andern/ die heutigen Tags in schwänge gehen/ die majestätische/ älteste und eine durchgehend Reichs Haupt-Sprache sey.
Allerdings dringt in seine formelhaften Anweisungen nichts von deren Geist. Am Ende des Jahrhunderts sind sich die Schulmeister aber darüber klar, daß Luthers Sprache veraltet ist, daß in seiner Bibel und in seinen religiösen Schriften viele ungebräuchliche Wörter stehen.
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Eggers, D., Die Bewertung deutscher Sprache und Literatur in den deutschen Schulactus von Christian Gryphius, Meisenheim am Glan 1967, 83-86. - Gryphius ist allerdings nicht konsequent. In der Vorrede zu den »Poetischen Wäldern< (1698) schreibt er: »Ich weiß wol/ daß viele unserer Landesleute den heutigen Welschen und Spaniern unzeitig nachäffen/ und sich mit ihren nicht selten mercklich abschissenden Farben ausputzen. Wenn aber die ehrlichen Leute ja nicht/ wie es doch wol seyn sollte/ bei den alten Griechen und Römern in die Schule gehen/ und von ihnen etwas lernen möchten/ so würde doch zum wenigsten gar wol gethan sein/ wenn sie die reine und zugleich hohe Schreibensart/ derer sich die Welschen im vergangenen Jahrhundert und noch izt die Frantzosen bedienen/ und vielmehr den rechten Verstand einer Sache/ als zwar köstlich laufende/ aber vielmal wenig oder nichts bedeutende Worte/ und den hieraus entspringenden Mischmasch ... beliebten«.
Puristisch orientierte
Sprachkultur
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3.5 Puristisch orientierte Sprachkultur Das Bemühen um eine reine deutsche Sprache erlebte in den letzten Jahren des Dreißigjährigen Krieges seinen Höhepunkt. Während JOHANN R I S T , später Gründer des >Elbschwanenordens< mit seiner >Rettung der Edlen / Teutschen Hauptsprache / Wider alle deroselben muthwilli= / ge Verderber und allamodesierende Auffschneider< ( 1 6 4 1 ) , 1 0 6 JOHANN M I C H A E L M O S C H E R O S C H , Mitglied der >Fruchtbringenden< wie der >Aufrichtigen TannenWunderlichen und wahrhaftigen Gesichten Philanders von Sittewaldc, 1 0 7 A N D R E A S GRYPHIUS in seinem Lustspiel >Horribilicribrifax Teutsch< ( 1 6 6 3 ) oder JOACHIM RACHEL in seinen >Teutschen satirischen Gedichten ( 1 6 6 6 ) das Alamode-Wesen satirisch geißelnVnartig deutschen Sprachverderber< ( 1 6 4 3 ) wesentlich direkter. 108 Schon in der Vorrede schildert er,
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Rist, J., Rettung der Edlen Teutschen Hauptsprache, In: Sämtliche Werke, hg. v. E. Mannack, Berlin-New York 1972, Bd. VII. - 1640 hatte Rist in seinem >Kriegs= und Friedensspiegel< fremde Begriffe angeprangert, selbst aber solche verwendet. Er rechtfertigt dies damit, daß noch keine Verdeutschungen vorhanden seien; Jansen, J„ Patriotismus und Nationalethos in den Flugschriften und Friedensspielen des Dreißigjährigen Krieges, Diss. Köln 1964 Im >Ersten Gesichte, A la Mode Kehrauß< der >Gesichte Philanders von Sittewald Das ist Straff=Schrifften Hanß=Michael Moscheroschen< (1643) faßt der Dichter seine Ansichten in Gedichtform zusammen: »Fast jeder Schneider will jetzund leyder Der Sprach erfahrn sein vnd redt Latein: Wälsch vnd Frantzösisch halb Japonesisch / Wan er ist doli vnd voll der grobe Knoll. Der Knecht Matthies spricht bonae dies / Wan er gut morgen sagt vnd grüst die Magd; Die wend den Kragen thut ihm danck sagen / Spricht Deo gratias Herr Hippocras. Ihr bösen Teutschen man solt euch peutschen, Das ihr die Muttersprach so wenig acht. Ihr liebe Herren das heist nicht mehren; Die Sprach verkehren vnd zerstören. Ihr tut alles mischen mit faulen fischen / Vnd macht ein misch gewäsch ein wüste wäsch / Ich muß es sagen mit vnmuth klagen / Ein faulen Haaffen käß ein setzams gfräß ...« Moscherosch, J.M., Visiones De Don Quevedo - Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewalt, Straßburg 1642, Hildesheim-New York 1974, T.2, 123. - Moschenroschs Briefwechsel mit Harsdörffer zeigt zudem, daß er »nicht auf die Rolle eines altfränkischen A-la-mode-Kritikers festzulegen« ist, wie dies in der älteren Literatur über ihn geschieht: Kiihlmann, W.; Schäfer, W.E., Frühbarocke Stadtkultur am Oberrhein. Studien zum literarischen Werdegang J.M. Moscheroschs (1601-1669), Berlin 1983, 125 >Der Vnartig Teutscher Sprach=Verderber< erschien anonym. Als sein Verfasser wurden Moscherosch und Schupp vermutet. In der erweiterten Fassung von 1644 »Teutscher vnartiger Sprach= Sitten= vnd Tugend=Verderber< gibt sich Schorer in den Initialen C.S. zu erkennen. Die >Newe außgeputzte Sprach=posaun / An die
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17. Jahrhundert Wie vnd daß den
schändlich / wie heßlich dieselbe (die deutsche Sprache) mit ausländischen frembden Wörtern besudelt / vermischet vnd verunreiniget werde / so gahr / man kaum drey oder vier Wörter ohne einmischung ausländischer Zungen rekan.
Als Sprachverderber gelten ihm >Kaufleut / vnd andere / welche inn / Frankreich / gegucketaccomodiern, approbiern, confirmiern, demonstriern, exequiern, fingiern, imaginiern, jubiliern, lamentiern, molestiern, ordiniem, praestiernSecretarius muß es ja heißenRechts=Gelehrte / Vorsprach vnd Anwäldda muß es heissen purgiern / praeserviern / praepariern / conserviern / anatomiern / cauterisiern< - , die >itzige Calenderschreiber< und als die letzte / welche vnter allen am allermeisten hervor leuchten / vnd keinen nichts nachgeben wollen / als da seyn die Zeitungsschreiber. Hier höret einer wunder über wunder / wie die Zeitungen mit allerhand frembden Wörtern angefüllet werden. Wie mancher einfältiger teutsche Mann / der etwa die Zeitungen ... liset / verstehet kaum das halbe Theil. Es wehre von nöthen bey dieser jetzigen zeit / daß / wann einer die Zeitungen lesen wil / er zween Männer bey sich stehen habe / auff der rechten Seiten einen Frantzosen / auff der Lincken / einen Lateiner / welche die frembde Wörter jhme auslegten. 109 Richteten sich die Satiren vor allem an die Gebildeten, so will Schorer den >gemeinen Manneinfältigen Bawren< gewinnen für eine verständliche Sprache. H A N S HEINRICH S C H I L L , wie Moscherosch Mitglied der >Aufrichtigen Tannengesellschaft< in Straßburg, schreibt, der >Sprachverderber< wäre seines Lobs würdig ... / wann der Autor desselben nicht allzu gemein gangen wäre / vnd nicht alles durch die Hächel gezogen. 110
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Vnartigen Teutscher Sprach=Verderber (1648) gilt als ungenehmigte Bearbeitung. Es ist möglich, daß die Fassung von 1643 durch Moscherosch angeregt wurde, da Übernahmen aus dessen >Alamode-Kehrauß< der >Gesichte Philanders von Sittewald Das ist Straff=Schrifften Hanß=Michael Moscheroschen< (1643) erfolgten. >Der Vnartig Teutscher Sprach=VerderberDer teutschen Sprache Ehren=Krantz< ( 1 6 4 4 ) klagt Schill dz vnsere sonst saubere / reine Teutsche Mutter=sprach heutiges tages voller Frantzosen / vnd mit anderen Völcker Seuchen sehr angesteckt vnd beflecket wird, [oder] Es kommen unsere nicht Teutsche sondern Teutschlinge vnd welsch=frantzösische teutsche Jünckerlein auffgezogen / vnd sagen / es stehe ja tausent mal zierlicher / wann man im parliren, discourriren, zum öfftern die Sprachen changirt, die discours mit Frantzösischen / Spanischen vnd Italiänischen auch Lateinischen Termini nettement ladire. 111 D i e deutsche Sprache sei unverständlich geworden. Zugleich gibt er aber eingedeutschten Ausdrücken eine Berechtigung. Schill ist nicht originell in seinen Ansichten, sondern stützt sich auf Harsdörffer, Moscherosch, Opitz, Schottel, Zeiller 1 1 2 und Zesen. C H R I S T I A N W E I S E fordert in den >Drey ärgsten Ertz-Narren< ( 1 6 7 3 ) : Das Hochteutsche muß auch verständlich seyn, und muß nicht wider die Natur der Sprache seyn als daß man sich einbildet, er sey ein Wort besser als ein ander? Ein Wort ist ein Wort, das ist ein bloßer Schall, der vor sich nichts heist, und nur zu einer Bedeutung gezogen wird, nach dem der Gebrauch und die Gewonheit solches bestätigen. Und also muß man den Gebrauch am meisten herrschen lassen ... Ich
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Ebd. 294f. - Johann Matthias Schneuber rühmt 1644 Schill »Solcherley Geyster seind hochlich zu preisen (deren du, Chorion, eyner auch bist) Welche die deutschheyt der alten recht weisen lauter, und wo sie mit fremdem vermischt, dasselbe fein scheyden; und weil sie bekleyden jhr' herrliche sprach mit krantzen der ehren, jhr' hoheyt zu mehren, so folget jhr wirdiges lob gewiß nach«, zit. Pietsch, P. ( 2 1915), 47. Er selbst schildert den traurigen Zustand der deutschen Sprache und des deutschen Selbstbewußtseins so: »Es ist uns eyne schand, wir müssen es gestehn, Dass man die deutsche sprach reyn in dem schwang will gehn Eyn mancher sich bemüht die riegel für zu schieben! Wie dass man doch so gar das fremde mehr will lieben Als das was heymisch ist? Warum gefällt uns doch Eyn bätler-mantel mehr und ein entlehntes joch Als eyn ganz neuer rock, als eygen krön und Wierde In deiner sprach erhaltst: doch dass wir uns so sehr An deine wort gewöhnt, dass deine rede mehr Fast lauter fliessen will, das soll ich billich schälten. Du undeütsch-deütsche sprach, war wird man dir vergälten Dass du das fremde brauchst und dass du selber dich Verächtlich unterwürfet? Wird nicht der fremde sich Hierdurch noch mehr erhöhn und dich zu boden trucken?« Zeiller, M., Episteln / 0= / der Sendschreiben, Ulm 1641-43, das im 3. Hundert ein Fremdwörterbuch enthält.
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frage auch, ist diB nicht der eintzige Zweck von allen Sprachen, daB man einander verstehen will? 1 1 3
Zwiespältig ist die Haltung von L E I B N I Z zur Überfremdung wie zu den Sprachgesellschaften. Er beklagt die sprachliche Dominanz des Französischen. Die Deutschen ahmen seiner Meinung nach die Franzosen unreflektiert nach: weil ... unser Reden, unser Schreiben, unser Leben, unser Vernünfteln in einer Nachäffung besteht, so ist leicht zu erachten, daß wir die Hülsen für den Kern bekommen. 1 1 4
Die Deutschen haben sich zu Epigonen der Franzosen degradiert, während diese und andere >Ausländer< von den Deutschen nichts annehmen. Epigonentum führt niemals zu gehaltvollen Ergebnissen, sondern immer zu Oberflächlichkeit, was im Falle der Nachahmung der französischen Kultur besonders stark zutage tritt, weil diese selbst oberflächlich ist. Schon jetzt ist Deutschland in eine Verstandessklaverei geraten, die sich bald zu einer politischen Unterjochung ausweiten kann. Leibniz sieht bereits deutliche Zeichen >der uns drohenden DienstbarkeitErmahnung< mit dem Ziel einer nationalen Handlungsmotivierung gewählt, also nicht wörtlich zu nehmen sind, zum anderen, weil Leibniz auch positive Elemente in fremden Kulturen sieht, deren produktive Aneignung lohnend erscheint: >Mit diesem Franzenzen und Fremdenzen< sei, so sagt er in den >Unvorgreiflichen Gedankenauch viel Gutes bei uns eingeführt wordene 1 1 7 Das deutsche Schrifttum befindet sich nach Leibniz insgesamt in einem erbarmungswürdigen Zustand, nicht nur sprachlich, sondern auch geistig: >es ist leider alles so irdisch und kriechende 1 1 8 Es gibt nur ganz wenige gute Bücher auf Deutsch - anders als im 16. Jh. - , die Deutschen sind offenbar (noch) nicht (wieder) in der Lage, Bücher zu schreiben, die >den rechten Schmack oder Saft habendarin weder Kraft noch Leben, deren ungeschicktes Wesen so oftmals mit der gesunden Vernunft streitetgemeiniglich nur mit solchen Gewächsen beholfen, welche zwar Blumen bringen, aber keine Früchte tragenHeldensprache< im Ausland kein großes Ansehen, >wenn sie nicht den nährenden Saft der unvergänglichen Wissenschaften in sich habendas Fehlen des rechten Willens und Vermögens zur Erkenntnis< und den spielerischen Charakter ihrer Beschäftigungen^ 1 2 6 sondern auch deren puristischen Eifer. Die >PerfektiekrankheitTeutschgesinnter Genossenschaft ausgebreitet. Auch die Mitglieder der italienischen >Crusca< und der Academie Francaise gingen nach Leibniz' Beobachtung zu puristisch vor. Ein solch puristisches Verfahren verfehlt nach Leibniz seinen Zweck, es führt zu einer >Scheinreinigkeitohne Unreinigkeit und ohne Kraft. < Sprachpurismus schafft seinen Verfechtern Feinde und bringt so das grundsätzlich positiv zu bewertende Anliegen der Sprachverbesserung unnötigerweise in Verruf. 127 Die >Herren Fruchtbringendem und andere erkannten zudem nicht, daß eine starre Normierung einer organisch sich entwickelnden Sprache nicht angemessen sein kann - so Leibniz in den >Unvorgreiflichen GedankenBildung für alle< bezeichnen kann. Allerdings können nur diejenigen potentielle Adressaten für Leibniz sein, die sich vom >gemeinen MannPrometheus< sie >aus edlerem Lehm gebildet hat. Der >gemeine Mann< gleicht seiner Natur und Lebensform nach eher einem gewöhnlichen Tier denn dem animal rationale, als das auch Leibniz den Menschen definiert. Das den Menschen Auszeichnende, die Vernunft, scheint dem gemeinen Mann fast gänzlich zu fehlen: Es scheint, diese Leute seien zwar aus der Adamischen Erde gemacht, allein der Geist des Lebens sei ihnen nicht eingeblasen worden.
Unterscheidungskriterium ist hier bei Leibniz zunächst die rationale Entwicklungsmöglichkeit eines Menschen, so daß der Unterschied zwischen dem Pöbel und den >EdIeren< sich als der zwischen bildungs- bzw. erkenntnisfähigen und bildungsunfähigen Menschen darstellt. Die nicht zum Typus des gemeinen Mannes Zählenden sind aber offensichtlich nach Leibniz auch moralisch vor dem Pöbel ausgezeichnet, denn sie sind >gemeiniglich eines weit edleren Gemützs und tugendhafteren LebensHof- und Weltleute, ja selbst und zuvorderst das FrauenzimmerUnvorgreiflichen Gedanken< schreibt er: Es ist demnach die Meinung nicht, daß man in der Sprache zum Puritaner werde und mit einer abergläubischen Furcht ein fremdes, aber bequemes Wort als eine Todsünde vermeide, dadurch aber sich selbst entkräfte und seiner Rede den Nachdruck nehme. 128 129
Leibniz, G.W., Ermahnung an die Teutsche, Stuttgart 1983, 59 Ebd. 57
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Das Verhältnis der puristischen Sprachreiniger, deren Tendenz dahin ging, möglichst weitgehend Fremdeinflüsse aus der deutschen Sprache auszumerzen, vergleicht Leibniz mit dem Vorgehen derjenigen, die als Schutz gegen die Gewalt des Wassers einen allzu festen Damm errichten, der wegen seiner Unnachgiebigkeit nur desto leichter bricht. Leibniz' eigene Generallinie ist dagegen die eines flexiblen Widerstandes gegen Fremdeinflüsse: Gleichwie nun gewissen gewaltsamen Wasserschüssen und Einbrüchen der Ströme nicht sowohl durch einen steifen Damm und Widerstand, als durch etwas, so anfangs nachgibt, hernach aber allmählich sich setzt und fest wird, zu steuern ist, also wäre es auch hierin vorzunehmen gewesen. 1 3 0
Die von Leibniz empfohlene Haltung Fremdeinflüssen gegenüber erlaubt es, sich fremde Ausdrücke zunutze zu machen ohne Gefahr der Überfremdung, entweder in produktiver Aneignung - wenn die Fremdwörter treffender oder inhaltsreicher als die deutschen sind oder indem wir sowohl den inneren Kern des alten ehrlichen Deutschen wieder hervorsuchen, als ihn mit dem neuen äußerlichen, von den Franzosen und anderen gleichsam erbeuteten Schmuck ausstaffieren. 1 3 1
Der so zu schmückende Kern des deutschen Wesens ist für Leibniz (und für viele seiner Zeitgenossen) besonders ursprünglich aufzuspüren in den deutschen Schriften des 16. Jahrhunderts, denn >im Jahrhundert der Reformation redete man ziemlich rein deutsch^ 132 Wie die Bücher des >Altertums< zur Bildung des Geistes in hohem Maße beitragen, so können die Werke von Hans Sachs oder Luther, aber auch Rechtsurkunden aus dem 16. Jh. zu Quellen der Sprachbildung werden. Gleich den Mitgliedern der deutschen Sprachgesellschaften war Leibniz vom drohenden Niedergang der deutschen Sprache überzeugt: Die >güldene Zeiteisernen Zeites scheint, daß jetzt ein s a e c u 1 u m (Zeitalter) sei, da man zu Sozietäten (Gesellschaften) Lust hat.deutschliebende G e n o s s e n s c h a f t erreichen durch gezielte Forschungen in den verschiedenen W i s s e n s g e b i e t e n und durch die Herausgabe von >Kernschriften
Experten< obliegen: Gelehrten und Kennern der verschiedensten G e b i e t e . Auch die Sprache läßt sich am wirkungsvollsten und besten durch g r u n d g e l e h r t e Kenner< bilden. D i e s ist allerdings nicht im Sinne einer Normierung der Sprache durch die K e n n e r zu verstehen, eher mit B l i c k auf die pädagogische Wirkung, die deren >Urteil, Ansehen und Beispiel· ausüben k a n n . 1 3 8 137 138
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Sprachkultur
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Bereits die Einrichtung der von Leibniz angestrebten Gesellschaft selbst kann sich, da sie eine Kommunikationsgemeinschaft von Kennern und Interessierten sein soll, fördernd auf Sprache und Verstand auswirken. Ohne den organisatorischen Rahmen einer solchen Gemeinschaft wäre die Wirkungsmöglichkeit von diesbezüglichen Bemühungen weit geringer. In seinen Entwürfen für eine solche Gesellschaft orientierte sich Leibniz - mit den bereits bekannten Einschränkungen - an den französischen und italienischen Akademien und an der fruchtbringenden Gesellschaft, deren >möglichem Exempel ... wo nicht in dem Absehen und der Verrichtung worin man etwas von ihnen abgehen muß - , doch aber in der Form und Anstalt zu folgen ist.Ermahnung< führt Leibniz aus, daß die >deutschgesinnte Gesells c h a f t sich darum bemühen müsse, >wie allerhand nachdenkliche, nützliche, auch annehmliche K e r n s c h r i f t e n in deutscher Sprache verfertigt werden möchten, damit der Lauf der Barbarei gehemmt< werde. 140 Diese Kernschriften sollten keine dichterischen Werke sein, sondern das, was mit einem modernen Terminus als (populär-)wissenschaftliche Prosa bezeichnet werden kann. Die Existenz und Verbreitung solcher Schriften in England, Frankreich und Italien ist nach Leibniz ein Grund dafür, daß die Sprach- und Verstandesentwicklung in diesen Ländern so viel weiter vorangeschritten ist als in Deutschland. Da die Sprache ein >Spiegel des Verstandes< ist, ist für gewiß zu halten, daß wo man insgemein wohl zu schreiben anfängt, daß allda auch der Verstand gleichsam wohlfeil und zu einer kurrenten Ware geworden. 141
Eine >deutschliebende Gesellschaft müßte als deutsche (Sprach-) Akademie sich an Leibniz' Sprachideal von Reichtum, Reinigkeit und Glanz orientieren und die Stärkung dieser drei Momente einer hochentwickelten Sprache wesentlich zu betreiben suchen. Zu seinen Lebzeiten blieb Leibniz' Wirkung auf die Entwicklung der deutschen Sprache und ihrer Förderung gering. Dies hat seinen Grund auch darin, daß viele seiner Schriften erst posthum erschienen. Die >Unvorgreiflichen Gedanken< beispielsweise wurden 1717 veröffentlicht, die >Ermahnung an die Deutschem wurde spät überhaupt entdeckt und infolgedessen erst 1846 (!) veröffentlicht. Leibniz wirkt deshalb im 18. Jahrhundert und später stärker als in seiner eigenen Zeit.
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Ebd. 45 Leibniz, G.W., Ermahnung an die Teutsche, Stuttgart 1983, 77 Ebd. 71
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17.
Jahrhunderl
3.6 Fazit Seit der Reformation hatte der Einfluß der französischen Sprache und des französischen Literaturgeschmacks auf die Deutschen wieder stark zugenommen. Frankreich galt vor allem dem Adel als Vorbild in allen Fragen der Kultur und der Bildung. Als während und nach den Hugenottenkriegen vertriebene Protestanten in Deutschland Zuflucht finden, wird die Kenntnis der französischen Sprache auch in bürgerlichen Kreisen üblich. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts setzt mit der Übernahme des höfisch-galanten Wesens die sog. Alamode-Zeit ein. Sprachlich werden Anreden wie Monsieur, Madame, Mademoiselle üblich. Französische Verwandtschaftsbezeichnungen ersetzen deutsche: Papa, Mama, Onkel, Tante, Cousin, Cousine. Gesellschaftliche Wertschätzung wird mit Wörtern wie galant, charmant, curiös, nobel, nett, interessant ausgedrückt. Man macht sich Complimente, treibt Plaisir, Coquetterie oder Conversation. Man amüsiert sich mit Karessieren, Parlieren, Maskieren und logiert im Palais, Hotel, Kabinett, Salon oder in der Etage, mit Möbeln, Sofa, Gobelin, Stuck, Galerie, Balkon, Terrasse usw. Diejenigen, die diese Modesprache nicht beherrschen, werden Parvenüs oder Pöbel benannt. Der >Alamodische BriefTeutschen Palmbaum< (1647) gibt ein satirisches Beispiel für solche Texte: Monsieur mon treshonore frere, hochgeehrter Patron. Seine hohe meriten/ dadurch er mich ä /'extreme im veroMigiret/ causiren mich/ denselben mit diesen Zeilen zu serviren. Mein Devoir hätte unlängsten mir adresse gegeben/ solches zu effectuiien\ aber aus manquement einiger occasion, habe ich bis Dato mein officium re ipsä nicht praestiren können. Lebe gleichwol der Hoffnung/ seine hochaestimirte humanitet, werd diese meine committirte faute zu perdoniten wissen. Die weitlautende Messagiers, falliren zuweilen; Ein renomirter Cavalier aber muß seine promesses realisiren. Meinen jetzigen es tat concernirend', so ist derselbe/refoui sie stantibus, entre deux. Muß derohalben der balance des verkehrenden Glüks mich submittiren; nicht zweifflende L'Esperance werde mir unterdessen auch favorisiten/ und zu rechter Zeit secundkcn. Jetzige Novellen concernirend, so passket nichts memorables: nur allein relata refero ob solte unsere jetzige zierliche wol installirte Teutsche Sprache/ von den Göttern cassiret, und darentgegen die alte Teutsche (welche von den Fruchtbringenden Gesellschaftern /ovi'ret wird) hinwider introducket und embrassket werden: Es gehet nach dem proverbio Altri tiempi altre eure: Aber was wollen doch diese Messieurs mit ihrem Germanismo in superlative gradu tentken oder novi'ren? Man wolle doch nur unsere perfecta Alamodische Scripta nach ihrer magnificentz unpartheyisch ponderken und consideriren; so wird man die Differentien gnugsam animadvertire.nl und das Beste daraus enuclken können. Dann wie gravitetisch durch compliemng fremder Wörter/ dieselbe/ mit unser höchsten reputation, incaminket worden/ solches ist Lippis & Tonsoribus bekant; und wird also inclavirt woll praevaliren. Solte aber/ über Verhoffen/ ihr inconsiderirtes propos fernem succes erhalten; so würde es uns Courtisanen, an der Reputation eine merkliche breche machen; auch die hochgebietende Dames von uns wegen Casjirung der vorigen Zierlichkeit abalieniren\ da wir sonsten deswegen von ihnen seynd caressket und entretenket worden. Patience par force. Es ist zwar eine considerable und importante Sache/ auch/ caeteris paribus, gar ein ander Ding. Es soll aber dieses propositum ihnen propostere gelingen. Wir Galanten, und bey den Dames hoch meritirte Courtisanen, wollen unser nobel dessein nicht locomovircnl und alles dasjenige/ was zu redresse und sta-
Fazit
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bilimng unsre Alamodischen Teutschen Sprache hochnöhtig/ in wolbedachtsamer Consideration meinteniren; und unsere beliebte intention usq; ad aras defendiien. Denn alle lmportante Sachen/ so wir jusques icy beschrieben/ parliret oder ediret; sind nur umbrages, unsern anderen hohen qualiteten, damit uns die Götter basilice fourniet haben: Ich versichere ihn/ mon frere, daß sich ungeachtet der neuen Gesellschaft/ so sich la Compagnie fructifiante nennet/ unser excolirte Sprache demnach von Tage zu Tage augiref, zu demonstrirung dessen/ ich dann demselben eines inamorirten Poeten Liebsgedicht praesentire, mit angehefter Bitt/ dieses praesent bey seiner und andern wol meritirten Maistressen cum oblatione officiorum gebührend zu offeriren/ und mich in derselben guten Souvenance und grace favorabiliter zu conserviren; auch sich in particularien zu assecuriren/ daß ich sterbe. Sein fidel diener Knecht und Esclave ä jamais Mirabolanius von Haashausen. Während des Jahrhunderts wächst der französische Einfluß weiter, zuerst durch den lang andauernden Krieg und seine Folgen, dann durch den Absolutismus, vor allem durch die Hofhaltung Ludwigs XIV. 1 4 2 »Jetzt lag die Gefahr für die deutsche Sprache nicht mehr nur in der >SprachmengereiHistorie der deutschen Sprache< (1716-1720), Ludwig XIV. habe der deutschen Sprache mehr geschadet als ehemals alle Mönche und Pfaffen, weil man jetzt nicht mehr an den Höfen allein, sondern auch anderwärts unter vornehmen und angesehenen Leuten in öffentlichen Zusammenkünften mehr französisch als deutsch rede, zit. Socin, A. (1884), 352 Polenz, P.v. ( 6 1968), 81; Dissel, K., Die sprachreinigenden Bestrebungen im siebzehnten Jahrhundert, Festschrift z. Einweihung des Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg am 21. Mai 1885, 99-113; Buhr, B., Zur Bekämpfung der Ausländerei im 17. Jahrhundert, Jahresbericht d. Görres-Gesellschaft 1917, Köln 1918. - Blunt, R.J., The Influence of the French Language on the German Vocabulary (16491735), Berlin-New York 1983; Jones, W.A., A lexicon of French borrowings in the German vocabulary (1575-1648), Berlin-New York 1976. In diesen Übersichten sind Barockromane etc. noch nicht erfaßt. In den Werken von Johann Beer z.B. ist der Fremdwortanteil so hoch, daß er das Verständnis heutiger Leser erheblich erschwert.
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die Träger der fruchtbringenden G e s e l l s c h a f t ist. D i e s e erste und wichtigste Sprachgesellschaft des 17. Jahrhunderts wurde 1617 unter dem Vorsitz Fürst L U D W I G S VON A N H A L T - K Ö T H E N nach dem Vorbild der >Academia della crusca< (Florenz) in Weimar gegründet. 1 4 4 Anregungen kamen auch von anderen Akademien in Italien und von den Rederijkerkamers 1 4 5 in den Niederlanden. Zielsetzung war nicht nur die Pflege und Erhaltung der Muttersprache: Fürs ander/ daß man die Hochdeutsche Sprache in jhren rechten wesen und standt/ ohne einmischung frembder auBländischer wort/ auffs möglichste und thunlichste erhalte/ und sich so wohl der besten außsprache im reden/ alß der reinesten art im schreiben und Reimen-dichten befleißigen (1622), sondern auch - angesichts des sittlich-moralischen Verfalls der Gesellschaft die Wiedererweckung alter deutscher Tugenden. Sprachpflege verband sich also mit ethischen Zielsetzungen. Den ausländischen Vorbildern entsprechend verlieh die Gesellschaft jedem Mitglied bei seiner Aufnahme einen Gesellschaftsnamen, ein Emblem oder >Gemählde< und einen Sinnspruch, der dieses erklären sollte. Harsdörffer z.B. führte den Namen >der S p i e l e n d e s hatte als Emblem ein Bild mit >welschen Böhnlein< und als Motto >Mit Nutzen erfreuenDeutsche< der Zeit wird kultiviert zu einer >Kunstsprachesowol in Reden / Schreiben als Gedichten / aufs allerzier- und deutlichste< (Satzung der f r u c h t b r i n g e n d e n Gesells c h a f t ) . Als Beispiel sei GEORG N E U M A R K , der >Erzschreinhalter< der f r u c h t bringenden Gesellschaft, zitiert: So ist doch unsere Sprache vor allen anderen kraft- und saftreich, sinn- und wortreich, geist- und lehrreich. Unsere Worte sind die goldenen Äpfel in silbernen Schalen, Milch und honigsüße Früchte unserer Lippen; ein Trostöl in Traurigkeit, ein Freudenwein in der Glückseligkeit; die Gefäße unserer Gedanken ... und im Ende zu sagen dienet in unserer Sprache alles zu Nutzen. 146
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Denk, V.M.O., Fürst Ludwig von Anhalt-Cöthen und der erste deutsche Sprachverein, Marburg 1917. Diese Gründung rief beim Adel auch Empörung hervor. Eine Verwandte des Fürsten Ludwig, die Gräfin von Bentheim, gründete noch 1617 >La noble Acad6mie des Loyales< oder >L'Ordre de la Palme d'or>Nobilitierung< des D e u t s c h e m 1 4 8 bezeichnet wurde. Vor allem auf die Höfe bezogen sind die philologischen Kultivierungsversuche als >anti-alamodisch< und als >anti-vulgär< anzusprechen. Für die Gelehrten ergab sich hier eine Möglichkeit, Beziehung zum Adel zu knüpfen, in dessen Gesellschaftskreise aufgenommen zu werden. 1 4 9 D i e vorgeschriebene
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»Wie unsre Deutsche sprach' helt ihren Heldenstand, Wen ihr der rechte thon reicht gleichsam seine hand. Es leßt das urtheil sich von beyden nicht schlecht feilen, Fahrt man nur obenhin, man wird sich uberschnellen: Wie unsre voller Pracht und in der hoheit steht, Auch mit der Zierligkeit im rechten schritte geht, So fleußt die andre fort, das sie oft uberschreitet Das maß', und ihre leut' im reden auch verleitet. Es kann nicht anders sein, geschwindigkeit die macht, Das man in solcher hast nicht alles wolbedacht. Auch die Verenderung ist bey ihr nicht zuloben, Die durch der fremden art noch keine sprach' erhoben, Sonst ist sie lieblich, fein, und hubscher reden voll. Spricht man sie nur recht aus, sie lautet trefflich wol.« zit. Pietsch, P. ( 2 1915), 51 Zit. Keller, R.E. (1986), 475 Kühlmann, W., Apologie und Kritik des Lateins im Schrifttum des deutschen Späthumanismus. Argumentationsmuster und sozialgeschichtliche Zusammenhänge, Daphnis 9, 1980, 50 Moscherosch fordert: »Fürsten und Herren, Stätt= und Schul Räthe solten da ihre Macht und Liebe gegen das werthe Vatterland sehen lassen, und demselben zu Eh-
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deutsche Sprache als >reineReinheit< war die neue Hochsprache nicht nur überregional, sondern vor allem auch überständisch. Die bürgerlichen Gelehrten leisteten mit ihren Grammatiken, Orthographien und Wörterbüchern bzw. mit ihren Vorschlägen dazu das Wesentlichste. Ihre wissenschaftliche Arbeit führte dazu, daß die Reinigung nicht mehr vom Gebrauch abhängig gemacht wurde, sondern zur Prinzipienfrage stilisiert wurde: Schottel nennt die Analogie (>Grundrichtigkeitkünstlichsinnvollen< Redeäußerungen mit dem Satz als kleinster Einheit, die Ausbildung einer deutschen Phraseologie. Die Schriftsprache dagegen ist ausgerichtet auf den Buchdruck, der die Sprache selbst in immer kleinere Elemente zerlegt und sie neu kombiniert (bei Verwendung der beweglichen Drucklettern). Er benötigt einen Leserkreis, der eine gemeinsame Sprache besitzen muß und wirkt deshalb durch seine einheitliche Gestaltung standardisierend. Der Buchdruck verdinglicht den Text und zugleich die Sprache zu einem Gegenstand. Text und Sprache werden zu objektiv erfahrbaren Dingen (Lettern, Buch). Dadurch können Text und Sprache zunächst von ihrem unmittelbaren Zweck und Nutzen gelöst, indem sie ein eigenständig verabsolutierbares oder idealisiertes Vorbild werden. Indem der Buchdruck die Sprache objektiviert, macht er sie dem wissenschaftlich-begrifflichen Zugriff durch Zerlegen der Begriffe zugänglich. Vom Grammatiker wie vom Dichter fordert der Buchdruck Vorleistungen, d.h. Standardisierung und Normierung. Er stellt ihnen gemeinsame Aufgaben. 152 Nach der Auffassung der Zeit gilt Sprache als Ausdruck der geistig-seelischen Beschaffenheit des Menschen: Sie ist >der Spiegel des Hertzens / die
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Schill, H.H., Der /Teutschen Sprach/ Ehren=Krantz. Darinen der bißhero getragene Bet= /tel Rock der Teutschen Sprach auß : Vnd / hergegen sie mit jhren eygenen Kleidern / Vnd Zierde angezogen / wird, Straßburg 1644, 139 Widmann, H., Buchdruck und Sprache, Mainz 1965. - Daß sich Autoren der Zeit auch scherzhaft auslassen Uber die Schreibung, beweist folgende Stelle in dem anonym veröffentlichten >ABC cum notis variorum, herausgegeben von einem dessen Namen im ABC stehtredliche Teutsche Gemühte durch frömde ausländische Ausrede gleichsam verunteutschen lasse.< 155 Die Sitten werden durch den >welschen< Geist verdorben. Hier droht eine Kultur, der man sich nicht gewachsen fühlt, die eigene zu verdrängen. Trotz ihres Kampfes gegen die Überfremdung Schotten die Mitglieder der Sprachgesellschaften und die anderen Sprachkulturkritiker die Deutschen nicht völlig ab vom Romanischen. In der Musik und vor allem in der Literatur eröffnen sie sogar Einflußschneisen, denn viele ihrer prominenten Mitglieder übertrugen französische oder italienische Romane ins Deutsche. Hier besitzen die Sprachgesellschaften sogar Anregerfunktion, was das einseitige Bild deutschtümelnder Vereine zurechtrückt. 156 Übertragen werden etwa das b e freite JerusalemRasende RolandDon Quichote de la ManchaDeutschgesinnte Genossenschaft Zesens und die >Aufrichtige Tannengesellschaft< richtet, gestatten diese einem, der um die Erlaubnis, Fremdwörter zu verwenden bittet, dies, wenn er dabei sage >mit GunstKunstsprache< im Sinne einer wissenschaftlich geordneten Sprache hinzielen, sondern eine, für die der Sprachgebrauch als Kriterium gelte: ... welche mehr auff den stylum politicum & civilem als auf den stylum scholasticum ihr Absehen richten. 1 5 9
Mit der Auflösung der fruchtbringenden Gesellschafts eigentlich schon mit dem Tode Ludwigs von Anhalt-Köthen, endet der Versuch, die Bestrebungen, der deutschen Sprache Würde zu geben und ihre Ebenbürtigkeit durchzusetzen, politisch zu stützen. Die Spannung zwischen territorialer und religiös gebundener Aktivität im norddeutschen Bereich und der untätigen Universalmacht (Kaiser) ist zu stark, als daß sich eine politische Veränderung durchsetzen ließe. So besteht die f r u c h t b r i n g e n d e Gesellschaft als >Kulturbund< und nicht als politischer. Ratkes Vorschlag von 1612, eine einheitliche Sprache, Religion und Regierung zu schaffen, 160 bleibt Utopie. Als die Höfe sich vollends der französischen Kultur zuwenden, weist K A S P A R S T I E L E R 1691 nochmals auf die Gefahr der Fremdherrschaft hin, die sich aus einem Sprach- und Machtzerfall ergebe. Damit zeigt sich erneut der Zusammenhang, den die Philologen des 17. Jahrhunderts zwischen einer Kultur der Sprache und der Politik sahen. Wichtig war ihnen der Hinweis auf die eigene großartige Vergangenheit, in der das ursprüngliche, natürliche, weitausgedehnte, grundrichtige, reine Deutsch die Sprache eines mächtigen und großen Reiches war. Zwar wirkten sich politische Ereignisse auf die Sprache
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Fürst Ludwig, Harsdörffer und Rist sind die wesentlichsten Kritiker aus der fruchtbringenden Gesellschaft Weise, C h „ Sämtliche Werke, hg. v. J.D. Lindberg, Berlin-New York 1976, Bd. 11,
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Weise, C h „ Curiöse Gedancken Von Deutschen Versen, 1692, II, 58f. Ratke, W., Memorial, In: Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik (1612-1630), hg. v. E. Ising, Berlin (DDR) 1959), I, 101-104
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Jahrhundert
aus. Der Dreißigjährige Krieg brachte die sprachliche Überfremdung. Der Verfall der Sitten wurde als ihre Folge gesehen. Mangelnde Sprachpflege führe zum Sprachverfall, dieser zum Machtverfall, was umgekehrt bedeutete, daß man mit der Pflege von Sprache, mit ihrer Kultivierung Machtstärkung und Machterhalt (>erhaltung deutscher hoheitgantze Teutschlandganze Deutschland< wird die Diskussion aus dem 16. Jahrhundert fortgeführt um die Frage, welche Landschaft vorbildlich sei. 163 Das >Meißnische Deutsch< bleibt besonders angesehen, im Hinblick auf Aussprache, als stilistisch angemessene Sprachform für die Dichtung sowie die der oberen sozialen Schichten. Vor allem im Bereich wie im Umfeld der fruchtbringenden Gesellschaft wird es mit dem Luther-Vorbild gekoppelt. Im niederdeutschen Sprachraum wird es dominant. Daneben überträgt sich zunehmend der Ruhm der schlesischen Dichtung (Opitz, Christoph Köler, Andreas Tscherning, Johann Peter Titz, 164 Andreas Scultetus, Johannes Scheffler, Christian Knorr von Rosenroth, Quirinus Kuhlmann, Andreas Gryphius, Friedrich von Logau, Daniel Casper von Lohenstein, Christian Hofmann von Hofmannswaldau 165 ) auf das Ansehen der 161 162
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Gueintz, Ch., Deutscher Sprachlehre Entwurf, Kothen 1641 / Hildesheim 1968 Schottel, J.G., Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache, hg. v. W. Hecht, Tübingen 1967, Bl. b2 r Eine Aufgliederung der Belege über die Vorbild-Funktion von Landschaften, Personen und Institutionen bietet Josten, D . ( 1 9 7 6 ) . - G E O R G R U D O L P H W E C K H E R L I N hatte 1619 etlichen Cantzley-Herren vorgeworfen: »Ihr mischet Teutsch, Welsch und Latein, (Doch keines rein) Ewern verstand nicht zulang zu verhälen: Vnd sagt mir zu witziger schmach, Das ich verdörb die Teutsche Sprach, Weil ich nicht mag frembde Worte (wie Ihr) quälen«, zit. Langen, A. ( 2 1957), 933. Weckherlin hoffte durch sein Dichten »unseren Sprachreichtumb und Schönheit khünlich zu vermehren« und möchte sich befleißigen, »unsere Muttersprach ... pur und zierlich zu reden und zu schreiben«, zit. Böckmann, P. (1949), 391. - Reichmann, O., Dialektale Verschiedenheit: zu ihrer Auffassung und Bewertung im 17. und 18. Jahrhundert, In: Mattheier, K.J. u.a. (1993), 289-314 Titz, P., Zwey Bucher Von der Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen, Danzig 1642 Mitten in der Betrachtung Uber die Herrlichkeit »des teutschen Parnasus« gerät B E N J A M I N N E U K I R C H in Zweifel: »Wir haben noch einen großen berg vor uns/ und werden noch lange klettern müssen/ ehe wir auff den gipffei kommen/ auff welchem von denen Griechen Homerus und Sophocles/ von denen Römern Horatius und Maro gesessen ... Wir leben über dieses in einem lande/ wo die künnste wegen vieler herrschafften zertheilet sind/ ... wo man auch mehr von einem glase wein als liedern hält. Wir leben auch zugleich zu einer zeit/ da die Deutschen fast nicht mehr Deutsche seyn; da die ausländichen sprachen den Vorzug haben/ und es eben-
Fazit
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schlesischen Mundart. Als Opitz-Sprache wird es Maßstab für eine korrekte und vorbildhafte Gebrauchsform. Opitz wird zum zweiten Höhepunkt der Sprachkultur nach Luther. Während im 16. Jahrhundert das Vorbild der Kanzleien nur selten angeführt wird, steigt deren Ansehen im 17. Jahrhundert. Vor allem dehnt sich die der Anerkennung über den süd- und westmitteldeutschen Raum hinaus auf alle deutschen Landschaften. Die kaiserliche Kanzlei in Wien strahlt am weitesten aus. Es folgen die Orte, in denen Reichstage abgehalten werden (Augsburg, Nürnberg, Mainz, Worms, Speyer) und Mainz zudem als Druckort der Reichsabschiede. Die niederen Kanzleien geraten zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Ihnen werden Alamode-Schreibung und Fehlerhaftigkeit vorgeworfen. 166 In den Jahren zwischen 1660 und 1670 erlebt die Barockliteratur und mit ihr das barocke Sprachideal ihren Höhepunkt. Unsere Zeiten haben einen Ekel an der einfältigen Schreibart/ und begehren/ daß dieselbe etwas ungebräuchliches und prächtiges mit sich führe/ dahero itzo fast keiner vor einen guten Redner gilt/ wer nicht durch Spitzfindigkeit die Worte zu drehen gelernet,
charakterisiert M I C H A E L R A D A U das Ideal. 167 Zugleich beginnt eine neue Denkweise bei der jüngeren Generation. Thomasius und Leibniz erkennen das französische Sprach- und Stilvorbild an, versuchen es für das Deutsche fruchtbar zu machen. Mit seiner berühmten Universitätsrede >Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen soll< vollzog Thomasius 1687 »die Umorientierung von der Vorherrschaft des italienischen und spanischen Stileinflusses zum französischen ... Bohse, Neumeister, Hunold und Mencke übertragen das neue Stilideal auf die Rhetorik, Poetik und Brieflehren. Was Thomasius nur im Grundriß entworfen hatte, wandten sie auf die engeren literarischen Fragen an. Die beste Zusammenfassung gelang Erdmann Neumeister in seiner Poetik, die um die Jahrhundertwende entstand. Sie wurde 1707 von Hunold unter dem Titel >Die allerneueste Art / Zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen< herausgegeben. Die Überschrift enthielt das Programm und den Anspruch, ein neues Stilideal zu verkünden. Die Poetik erschien bis 1742 in elf Auflagen, wiederholte also beinahe den Erfolg von Opitz< >PoetereyHistorie der Teutschen Sprachen Er stellt fest, daß Westfalen und Schwaben, Niedersachsen und Österreicher einander nicht verstünden. Niemand habe bisher die Geschichte der deutschen Sprache erforscht. Akademien und Gesellschaften sollten sich dieser Aufgabe annehmen. Das Ausland selbst gäbe das Beispiel dazu, wenn auch sonst seine Nachäffung und die daraus folgende Überfremdung der deutschen Sprache zu beklagen sei. 1 1724 veröffentlicht C H R I S T I A N E R N S T S T E I N B A C H eine lateinisch verfaßte >Kurtze und gründtliche Anweisung zur Deutschen Sprachen In der deutschen Vorrede nimmt der Verfasser Stellung zur Frage der Erlernung der Muttersprache: Wir Deutschen haben ein bekanntes Sprichwort: Es giebt sich alles wies Griechische, weil wir davorhalten, es wäre fast keine Sprache, welche durch richtigere Lehr-Sätze und Regeln könne erlernet werden, als diese: Nun kan man auch nicht leugnen, daß sie einem Anfänger, so sie erlernen will, sonderliches Vergnügen macht, und bey der Lust erhält, weil sich immer eine Regel auf die andere gründet, daher ein Anfänger die Lehr-Sätze nach und nach ohne grosse Mühe bey Untersuchung eines jeden Wortes Ursprung, Beschaffenheit, Veränderung und Herleitung gleichsam spielend in den Kopff bekommt. Ob aber dieses von der Griechischen Sprache allein kann gesagt werden, stehe ich noch sehr im Zweifel: ich glaube vielmehr, daß man auch dieses unserer Mutter-Sprache mit rechtem Grund beyle-
Egenolff, J.A., Historie der Teutschen Sprache, Leipzig 1720. - In seiner Übersetzung >Kayser Carls des Grossen Lebens-Beschreibung< von Einhard (Leipzig 1728), schreibt Egenolff: »Besagte grosse Beförderer der Wissenschaften ... können geschehen lassen, daß die Teutsche Sprache, welche doch unzehlige Vorzuge vor der Lateinischen hat, von Tag zu Tag mehr verschlimmert, als verbessert werde«, und: »wo Schrifften, die von allen gelesen werden, als da sind politische Zeitungen, und dergleichen in der aller erbärmlichsten Schreib Arth, die bey Anfangern billig scharff zu bestrafen ware, verfasset werden.« 5 u. 6
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18.
Jahrhundert
gen kan. Ich sehe zwar schon voraus, wie viele über diese Meinung den Kopff schütteln werden, die sich dieses nimmermehr einbilden können, sondern schreyen noch immer mit vollem Halse; O ! e s i s t n i c h t s s c h w e r e r e s a l s d i e d e u t s c h e S p r a c h e : Daß sie aber diese falsche und schimpffliche Auflage dieser edelen Sprache nur aus Unverstand aufgebürdet, weil sie niemahlen dieselbe recht untersucht haben, bezeuget die Wahrheit; denn obschon das Deutsche, als es noch nicht recht ausgearbeitet ward, einem Lehrlinge grosse Schwierigkeit gemacht, so hat es doch noch mit der Zeit können gefaßt werden; daher folgt noch nicht, daß sie die schwerste Sprach sey, es giebt ja andere mehr, auf welche man Tag und Nacht sinnet sie einem Anfänger leichter zu machen, die sich aber doch nicht geben wollen. Was macht denn das liebe Latein? Ruthe und Prügel müssen zuerst den Kopff mürbe machen, ehe es hinein will, man kan es doch nicht, wenn man auch 10. Jahr darüber liegt, recht fassen. Daß aber unsere Sprache so in Verachtung kommen, macht wohl meist, daß wir mehr andere zu lernen begierig sind, als unsere eigene recht zu untersuchen; daher wir auch wenige haben, die sich dazu die Mühe geben. 2 Für J O H A N N H I E R O N Y M U S LOCHNER, der 1 7 3 5 unter dem Pseudonym Chlorenus Germanus eine >Neu verbesserte Teutsche Orthographie< veröffentlichte, galten die von Gott eingesetzten Sprachen als vollkommen. Sie haben sich verändert zum Schlechteren, wie es denn auch die Beschaffenheit der Sache mit sich bringet, indem solche Veränderung nicht mit Vorsatz, sondern nach und nach ungefähr geschehen, auf welche Art denn ordentlich nicht was recht und Regelmäßig ist, sondern Fehler und Irrtümer zu entstehen pflegen. 3 Durch bewußte Tätigkeit werden die verderbten Sprachen >excolirtSprachkunst< entstand sowohl aus einem inneren Bedürfnis heraus wie auch aus einer objektiven Notwendigkeit. Die Vorstellung einer guten und ewig gültigen Grammatik schwebte Gottsched vor, wobei er auch beteuerte, seinem Vollkommenheitsstreben durch ständige Verbesserungen gerecht zu werden. Deutsch gehörte zu den europäischen Hauptsprachen, wurde jedoch überall in vielen Mundarten gesprochen. Dies war ein zusätzlicher Grund für das Aufstellen grammatischer Regeln, die sprachlichen Unterschieden ein Ende setzen sollten. Die Grammatik war für Landsleute bestimmt, insbesondere für die Jugend, für Menschen, die sich >der Schreiberei, dem Handel und Landleben< widmen, aber auch für das >junge Frauenzimmers für das es nicht unwürdig wäre, >seine Muttersprache etwas besser und richtiger zu lernen, als seine MägdeBeyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit 1732-1744. Ein Beitrag zur Würdigung seiner Verdienste um die Geschichte der deutschen Philologie, Diss (masch) Marburg 1947. - Vgl. auch Krause, K., Gottsched und Flottwell, die Gründer der Deutschen Gesellschaft in Königsberg, Leipzig 1893 Gottsched, J.Ch., Deutsche Sprachkunst, Leipzig 1748, 38. - Ein eifriger Verteidiger der obersächsischen Grundlage des Hochdeutschen wie deren Lobredner ist GEORG LITZEL (Megalissus) in >Der undeutsche Catholikdes vorigen und itzigen Jahrhunderts< an, wie es im Untertitel der >Deutschen Sprachkunst< zu lesen ist und zeugte von seinem Bekenntnis zu einer Grammatik der Gegenwartssprache: denn man solle ... alles nach dem heutigen, weit zärtern Geschmacke der Deutschen einrichten. Bei der Auflistung der Schriftsteller wird die zweite Schlesische Schule wegen ihres schwulstigen Stils ignoriert. Als Maßstab für die Bedeutung eines Schriftstellers setzte Gottsched die Schreibart und Sprache, durch die derselbe zu allgemeinem Ruhm gelangte. Die Schriftsteller mußten aber nicht aus demselben Sprachgebiet stammen, da sie durch Fleiß die Fehler ihrer ange-
im fingierten Brief eines Leipziger Mädchens ein Beispiel für die obersächsische Umgangssprache: »Werdeste Frau muMe, Mir han lange uf en Schraiben aus den lieben Halle kewart, mit kraussen schmerzen. Maine MAma Möchte käme wissen Ab se och Noch fain kesund sain se kummen Jo keen Eenzich mohl här, un Mir han Ihn doch nischt Übels getaan. Mir sind hieben noch Alle wolloff nur Der kleene Pruter ist en pissgen Mallate, sonst wirter schon Lange trübben kewesen sain. Mir laipzsche jumfern sind in kraußer kefahr, Weil der daud vaur etliche wochen so stharck unter se kummen, das ihr flucks zwee uff emahl gestorben eens is auch Braut Worden, und ich soll zur hochzich geyen, aber de maMa well Mer keene naie hadrichähne machen lassen, das hah ich wohl kesaht, hat se nich en wäsen drübber gehat, aber ich mache mir Nischt draus lipstes Frau müMgen Schraib se doch en baar zailen an de maMa, denne daß wird sie uf andre getancken bringen, Ich ha diesse nacht Nich waul keruht drimme tüt mir der kop wey und ich kan nischt mehr schraiben. Atge dausentmahl atge Meiner hauchgeerdesten Frau muMe kehaurschamste tienerin N.N.
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P.S. Es kummen klech pay ihn trübben solch Schriften raus die von waibsen Gemacht werden, Ich ha eens Gelesen aber es doocht mit alldem heele nischt. Die Menscher müssen keenen Spinn Rocken oder Stricke Nateln han, se han sich och emahl übersch putzen Muckiret, ich möcht Käme wissen ab se in halle im blaußen und schwarzen hehmte in de Kirche geyn. Was worden de Pursche nich schäkkern.« zit. Becker, H„ Sächsische Mundartenkunde, Dresden (1937), 126f. Ebd. 67f. - Rieck, W., Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin (DDR) 1972; Reichmann, O., Deutlichkeit in der Sprachtheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, In: VERBORUM AMOR. Studien zur Geschichte und Kunst der deutschen Sprache. Festschrift S. Sonderegger, hg. v. H. Burger u.a., Berlin-New York 1992, 448-480
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orientierte
Sprachkultur
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borenen Mundart meiden konnten. Neben Paul Fleming, Simon Dach, Johann Rist, Johann Besser, Friedrich Ludwig v. Canitz nennt Gottsched als für das Hochdeutsche beispielgebende Person Martin Opitz. In der >Lob- und Gedächnisrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, Martin Opitzens würdigte er ihn folgendermaßen: mitten unter dem Rasen der Waffen, vom 18. bis zum 39. Jahre des vorigen Jahrhunderts, hat unser unermüdeter Opitz dennoch die deutsche Sprache und Dichtkunst aus dem Staube gehoben und sie fast auf einmal sehr nahe an den Gipfel ihrer jetzigen Vollkommenheit erhöhet. Erhöhet hat er sie durch seine reine Schreibart, die er, soviel wie möglich, von aller Vermischung fremder Sprachen gesäubert hat. Erhöhet hat er sie durch sein fließendes Silbenmaß, welches er nach Art der alten Römer bei uns eingeführet, da die Franzosen bis auf diese Stunde nichts davon wissen. Erhöhet hat er sie durch seine natürliche und vernünftige Art zu denken, dadurch er uns allen ein Muster des guten Geschmacks nachgelassen hat. Erhöhet hat er sie endlich durch erhabene Gedanken, durch lebhafte Ausdrückungen, durch scharfsinnige Einfälle, durch artige Scherzreden, durch angenehme und nachdrückliche Gleichnisse, durch unzählige lehrreiche Sprüche, als so viele Schätze der Weisheit, und kurz durch alles, was einen Skribenten beliebt, erbaulich und edel machen kann. 7
Ausschlaggebend für die Qualität eines Scribenten sollte nicht zuletzt die Analogie seiner Sprache sein. Unter Analogie verstand Gottsched Ähnlichkeiten in den Abteilungen und Verwandlungen von Wörtern. Analogie wandte auch er bei der Aufstellung einer Regel an. Die zahlreichsten Übereinstimmungen von Exempeln machen die spätere Regel aus. Die davon abweichenden Redensarten bilden die Ausnahmen, die in jeder Sprache zu finden sind. Es muß sie auch geben, denn eine Sprache ist älter als ihre Regeln. Gottsched setzt Prioritäten in der lebendigen Sprache, die gegenüber dem Analogieprinzip den Vorrang hat. Nur dort, wo der Gebrauch schwankend ist, sollte man die Regel entscheiden lassen. Die Sprache verändert sich ständig, und so bleiben die Regeln einer Sprachkunst auch nicht unverändert. Er stellte bestimmte Forderungen an einen Sprachlehrer. Dieser sollte neben dem Hochdeutschen auch Mundarten verschiedener Provinzen kennen, dann die ältesten Schriften deutscher Literatur, um die sprachlichen Veränderungen mit zu verfolgen und verstehen zu lernen. Darüber hinaus sollten auch die anderen Sprachen, die zu derselben Sprachfamilie gehören, beherrscht werden, wie das Englische, Holländische, Schwedische und Dänische, die eine Bereicherung für die Kenntnis der deutschen Muttersprache darstellen. Eine Sprache, im Hinblick auf die Grammatik gelernt und gelehrt, ist eine beständigere und festere Sprache, die nicht der Gefahr unterliegt, >dem unbe-
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Gottsched, J.Ch., Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst, In: Schriften zu Theorie und Praxis aufklärender Literatur, hg. v. E. Grassi, Hamburg 1970, 143f. Hertel, V., Luther oder Opitz? Zum sprachlichen Vorbild im 17./18. Jahrhundert, In: Beiträge zur Sprachwirkung Martin Luthers im 17./ 18. Jahrhundert, hg. v. M. Lemmer, Halle/S. 1988, T. 2, 9 5 - 1 0 6
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ständigen Munde des Pöbels, und den Ausschweifungen wilder Schriftsteller überlassen zu werden. Für Gottsched war eine Sprache um so vollkommener, je logischer das System ihrer Grammatik aufgebaut war. Für ihn besaß jede Sprache einen gewissen Grad der Vollkommenheit. Drei Eigenschaften bestimmen diesen: ihr Reichtum, ihre Deutlichkeit und ihre Kürze. Mit einer wortreichen Sprache, zu der auch die deutsche Sprache zählt, kann man mehr Gedanken ausdrükken. Die Sprache ist ein Mittel, um Gedanken auf der Kommunikationsebene umzusetzen mit der Absicht, von dem Adressaten auch richtig aufgenommen zu werden. Hier zeigt sich, ob eine Sprache der Eigenschaft der Deutlichkeit gerecht wird, wie das nach Gottsched bei der deutschen Sprache der Fall war. Dies erfolgt nur dann, wenn beim Zusammenfügen der Wörter gewisse Regeln befolgt werden. Je weniger Regeln eine Sprache besitzt, das heißt je weniger Ausnahmen sie hat, desto größer ist der Grad ihrer Vollkommenheit. Um sich möglichst präzise ausdrücken zu können, sollte man den ganzen Wortschatz einer Sprache aktiv beherrschen. Gottsched kritisierte den Einfluß der Fremdsprachen auf das Deutsche, da manche >deutsche< Ausdrücke so unverständlich seien, daß man sie nur mit der Kenntnis der jeweiligen Fremdsprache verstehen könne. Er verneinte, daß sich die zeitgenössische deutsche Sprache im Laufe der Zeit verschlechtert habe. Innerhalb der letzten Jahrhunderte sei eine bereichernde Entwicklung nachzuweisen. Die Sprache seiner Zeit schien ihm einen ausreichenden Grad der Vollkommenheit erreicht zu haben. Es galt nur noch, die allgemeine Anerkennung und Vertiefung des Hochdeutschen durch eine gute Sprachlehre, die er zu bieten hoffte, durchzusetzen. Seine eigene in der >Sprachkunst< umfaßt nur die allgemeinsten Regeln und wichtigsten Ausnahmen. Sie besteht aus vier Teilen und beinhaltet die Orthographie, Etymologie, Syntax und Prosodie. Zu Gottscheds Lebzeiten erschienen fünf Ausgaben der >Deutschen SprachkunstDeutschen Sprachkunst< konnte Gottsched in seinem Werk ein gewisser Grad an Oberflächlichkeit nachgewiesen werden. Von seinen Zeitgenossen hatten schon P. Dornblüth in einem Abschnitt >Contradictiones Gottschedii< in den >ObservationesdaßDeutschen Sprachkunst< in erster Linie in der Einführung bestimmter allgemeiner Ideen sehen, weniger auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit. Gottsched wollte nicht nur mit seinen Schriften wirken, sondern er wurde auch vorstellig bei den Obrigkeiten. Im Jahre 1740 beklagte er sich beim sächsischen Staats- und Kabinettsminister Manteuffel: Daß Künste und Wissenschaften unter des Kronprinzen Hoheit viel Gutes zu hoffen haben sollen, ist eine vortreffliche Nachricht für die Musen und ihre Freude. Daß aber unsere Muttersprache ihre Rechnung dabei nicht finden soll, das ist ihr
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räum die tiefsinnigsten Weltweisen sich mit den bilderreichsten Poeten zur Verschönerung derselben vereinigten«, ähnlich wie in Griechenland und Rom, weshalb das Deutsche auf den gleichen Stand sei wie das Griechische und Römische, Beyträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Nationalliteratur, London 1777, T. 2, 46 Dornblüth, Α., Observationes oder Gründliche Anmerckungen über die Art und Weise eine gute Übersetzung besonders in die teutsch Sprach zu machen, Auspurg 1755. - Auf die Bedeutung der süddeutschen Regionen für die sprachliche Vereinheitlichung verweist auch Friedrich Peter Wund, Ueber die Vortheile der Sprachgeschichte, Mannheim 1787, vgl. Endermann, H. (1986) Heinze, J.M., Anmerkungen über des Herrn Professor Gottscheds Deutsche Sprachlehre, Göttingen-Leipzig 1759. - Gegen Gottsched wendet sich auch die bekannte Satire C H R I S T I A N L U D W I G L I S C O V S >Die Vortrefflichkeit und Nothwendigkeit der elenden Scribenten< von 1736
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gemeines Schicksal bei allen unsern Großen; und zeiget von der unmäßigen Liebe der Deutschen zu allem was ausländisch ist. Doch wer weiß, ob nicht noch eine Zeit kömnmt, da auch dieses Vorurtheil noch einen Stoß bekommen wird, und unsre Fürsten sich schämen werden, Affen ihrer Nachbarn zu sein, von denen sie zur Dankbarkeit nur für Dummköpfe gehalten werden. 11
Und im Jahre 1742 äußerte er sich gegenüber Hofrat A.v. Leyser: Doch leugne ich nicht, daß ich überhaupt dafür halte, die deutsche Sprache sei geschickt, zwo lateinische Zeilen in wenigem Silben und Worten auszudrücken, dahingegen die Lateinische und französische nicht fähig sind, alles, was zwo deutsche Zeilen sagen, in eben solcher Kürze geben. 1 2
Gottsched wollte mit seinem Gesamtwerk dem kulturpolitischen Wirrwarr seiner Zeit ein Zeichen setzen, indem er die von ihm erörterten Probleme nicht nur zu lösen versuchte, sondern darüber hinaus ein heilsames Rezept anbot. Er wollte nicht nur belehren, vielmehr zur Nachfolge und Nachahmung aufmuntern. Diese Absicht verfolgte er in seinen Schriften zur Sprache, wie auch in seiner Rhetorik. So beinhaltet die Ausführliche Redekunst< eine Abbildung und einen Teil seiner sprachlichen Forderungen. Sein theoretisches Werk, die >RedekunstFinsternis< und >wahre Feinde des Vaterlandesgegen ihre tägliche Mundart mistrauisch geworden* und die >ihre Muttersprache lieber recht, und regelmässig, als pöbelhaft und unrichtig reden wollen*, Vorschläge für einen richtigen Sprachgebrauch zu machen. 13 Er macht gleichzeitig auf viele Unrichtigkeiten aufmerksam, die bei fränkischen, schwäbischen, bayerischen und österreichischen Schriftsteller zu finden sind. 11
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Wolff, Ε., Gottscheds Stellung im deutschen Bildungswesen, Kiel u. Leipzig 1895, Bd. 1, 6 Ebd. 10 Gottsched, J.Ch., Beobachtungen über den Gebrauch und Mißbrauch vieler deutscher Wörter und Redensarten, 1758, hg. v. H.J. Slangen, Heerlen 1955, 41. - Die Beobachtungen* sind zugleich eine Kampfschrift gegen Dornblüth.
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Wem meine Vorschläge nicht gefallen, und wem meine Gründe nicht einleuchten, der behält seine alte Freyheit, auch ohne Regel und Ordnung zu reden, und zu schreiben. 14 Gottsched erinnert daran, daß viele Wörter >in den Gedanken eines ohne Wissenschaft und Einsicht redenden Volkes, oft sehr schwankende und ungew i s s e Bedeutungen< haben; >und werden daher sehr häufig gemisbrauchet. D i e s e m Misbrauche ist der Verfall aller Sprachen zuzuschreiben^ 1 5 Er möchte mit seinem >kleinen Werk< beitragen, >unsre Sprache reinlicher, richtiger und gelinder zu machen: damit sie nicht mehr den Vorwurf der Babarey leiden dörfe, den ihr ein so erleuchteter, als grosser Monarch noch vor kurzem, in seiner Ermahnung, sie zu putzen und gelinder zu machen, gegen mich gemachet hatdemokratisches< Sprachmodell. Bodmer 1 7 argumentiert, daß diese von Gottsched bezeichnete soziale Basis der Sprachverwaltung ungemein schmal sei, zumal sich Adel und Gelehrtenschaft in Deutschland gegenseitig mieden. Hingegen sei in der Schweiz die Vorbedingung für einen breiten und allgemein anerkannten Sprachgebrauch gegeben. ... in Frankreich ist die Sprache der Schriften keine andere als die Sprache der Standespersonen und der Gelehrten im gemeinen Umgang. Die Redensarten, die man in den Schriften braucht, sind aus dem Umgang genommen und werden alle Tage gehört: In Deutschland sind die Sprache des Umganges, und die Sprache der Schriften zwo gantz verschiedene Sachen. Man kan nicht sagen, daß die deutsche Sprache in Deutschland, oder nur in einigen Provintzen Deutschlandes allgemein sey, denn wie kan sie da allgemein seyn, wo unter den verschiedenen Ständen und Classen der Einwohner keine Gemeinschaft ist; wo der hohe Adel nichts mit dem geringem, der geringere nichts mit dem neuern, dieser nichts mit den Bürgern, die Bürger mit den Bauern nichts gemeinschaftliches haben, wo einer den andern ausschliesset, vermeidet, wo ieder einen Stand für sich ausmacht, und in seinem Kreise bleibt. Wie kan unter ihnen die Sprache cirkulieren, wie können die Wörter und Redensarten der einen zu den 14 15 16 17
Wechsler, G., Johann Christoph Gottscheds Rhetorik, Diss. Heidelberg 1933 Ebd. 43 Ebd. 45 Zwischen 1730 und 1735 läßt Bodmer, dem Gottsched im 85. Stück seiner Zeitschrift >Der Biedermann (II, 97) vorgeworfen hatte, »er verheirathet die Ausdrukkungen andrer Völker mit deutschen Silben und Worten ... er redet im Deutschen französisch und lateinisch, wie es ihm in den Sinn kommt und macht dadurch unsre Muttersprache ganz rauhe, unverständlich und barbarisch« seine Texte in Leipzig von Johann Christoph Clauder, cand.jur. und Hofmeister auf Abweichungen von der >Hochsprache< überprüfen.
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18. Jahrhundert andern überkommen, und von ihnen genutzet werden? Muß nicht die schweitzerische Sprache, wo die Freyheit alle Einwohner unter einander so genau verbindet, daß sie solche beynahe zu seines gleichen machet, dadurch allgemeiner, gleichmässiger werden? Muß sie nicht so viel weiter ausgebreitet, und für so viel mehrere Leute brauchbar werden, je mehrere Arten Leute daran arbeiten? 18
Damit wird zwar die Realität in der Schweiz des 18. Jahrhunderts nicht beschrieben, weil e s dort selbstverständlich Standesunterschiede gab. Außerdem fehlt eine für die Z w e c k e der Literatur, der Predigt, der Rede, der Presse usw. brauchbare Hochsprache. Bodmer rief deshalb auf, für die >Ausputzung und Erweiterung< einer zukünftigen Hochsprache zu arbeiten: ... Lasset uns derowegen alle Furcht für den Sachsen bei Seite setzen, und unsers Rechtes und Eigenthums uns mit der Freyheit und der Geschicklichkeit bedienen, daß unser Dialekt durch die Ausputzung und Erweiterung seines glücklichen und von Alter hergebrachten Schwunges zu einer für sich selbst bestehenden, und für sich zulänglichen Sprache werde! 19 In die Auseinandersetzung greifen nun auch die Bayern ein, vor allem die Beiträger der kulturellen Zeitschrift >Parnassus Boicus< ( 1 7 2 2 — 4 0 ) . Für G E L A SIUS H I E B E R
hat
die hochgelobte unsre Teutsche Mutter-Sprache umb die Mitte letzt verlittnen XVII Saeculi den höchsten Gipfel jhrer Vollkommenheit/ Zierde/ Mannhafftigkeit vnd Reinigkeit allerdings erreichet/ gleich dann nichts schöners in Teutscher Sprach wird zu finden seyn/ als was vnter der Glorwärdigen Regierung vnsres Durchleuchtigsten Chur- vnd Lands-Fürsten Maximiliani deß Ersten/ hochseeligsten Angedenckens/ in dero Cantzleyen verfasset worden.20 18
19
20
Bodmer, J.J.; Breitinger, J.J., Mahler der Sitten, Zürich 1746, Bd. II, 625f. und Bodmers Angriff auf Gottsched in dessen Zeitschrift >Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (V. 428ff.): Anmerkungen eines Ungenannten über die Unvollkommenheit der deutschen Sprache. - Schlosser, H.D., Sprachnorm und regionale Differenz im Rahmen der Kontroverse zwischen Gottsched und Bodmer/Breitinger, In: Mehrsprachigkeit in der Aufklärung, hg. v. D. Kimpel, Hamburg 1985, 52-68; Bender, W., Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, Stuttgart 1973. - Eher auf der Seite der Schweizer steht JOHANN J O A C H I M W I N C K E L M A N N , der mit seinen Schriften zur Ausbildung der Sprache des 18. Jahrhunderts maßgeblich beiträgt, auch wenn ihm der »Krieg der Eselhaften deutschen Professors, die sich dem Teufel ergeben über ein Wort mit oder ohne h« mißfällt, Koch, H., Johann Joachim Winckelmann. Sprache und Kunstwerk, Berlin (DDR) 1957, 31 Ebd. 628. - Unter Mitwirkung von J.G. Reichel verfaßt Freiherr C H . O . V O N S C H Ö N AICH eine Parodie >Die ganze Aesthetik in einer Nuß oder Neologisches Wörterbuch< (1754) auf die Sprachanschauung der Schweizer. Hieber, G„ Teutsche Haupt- und Mutter-Sprach, Parnassus Boicus 2, 1724/25, 193. - Birlo, H., Die Sprache des Parnassus Boicus, Augsburg 1919; Blackall, E.A., The Parnassus Boicus and the German Language, German Life and Letters N.S. 7, 1955, 98-108; Reiffenstein, I., Gottsched und die Bayern. Der Parnassus Boicus, die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die Pflege der deutschen Sprache im 18. Jahrhundert, In: Soziokulturelle Kontexte der Sprachentwicklung, hg. v. S. Heimann u. G. Lerchner, Stuttgart 1989, 177-184; Ders., Der >Parnassus Boicus< und das Hochdeutsche, Zum Ausklang des Frühneuhochdeutschen im 18. Jahrhun-
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Jetzt sei >Unfrömbe< eingerissen: Man kan wohl zuversichtlich sagen/ daß nit nur die Schaar der Ungelehrten nit wisse/ in weme eigentlich der Grund/ Zierde/ vnd Mannhafftigkeit vnserer Teutschen Helden-Sprach bestehe/ sondern man wird wohl auch auß jenen/ die sich vnter die siben Weisen der Welt zehlen wollen/ sehr wenige Kenner/ will geschweigen/ Besitzer von einem guten Kernhafften vnd mannlichen Hochteutschen finden. Nach Hieber besteht das wahre Hochteutsche in keiner eintzigen landläuffigen Sprach nit/ welche sie auch seyn möge/ dergestallten/ daß dermahlen weder in Bayern/ noch in Schwaben/ noch in Tyrol/ noch Oesterreich/ noch in Francken/ noch Sachsen/ noch Mayn- noch Rhein-Strohm das wahre Hochteutsche nicht wird geredet/ eben darumb/ weil jede landläuffige Sprach sowohl in Außsprechung der Vocalen/ als Consonanten jhre Unfrömbe/ ja auch jhre eigene bey jhnen allein geltende Terminos vnd Wort heget ... Bestehet demnach das wahre Hochteutsche ... in der Red- vnd Schreib-Art der Gelehrten/ welche Kenner/ Meister/ vnd Besitzer seyn diß-vnsrer mannhaffften/ körnig- vnd zierlich-klingenden Teutschen Mutter-Zungen ... Wann nun ein jeder sein Dialectum oder landliche Red-Art in das Hoch-Teutsche will einbringen/ behüte GOtt! welch eine Babylonische Verwirrung wurde in vnser Teutschen Mutter-Zungen entstehen/ ja wurde sie nit werden zu einem Apffel deß Zwytrachts/ da die erste Parthey jhr AJ die andere jhr E/ vnd die dritte jhr 1/ vnd also fort ein jeder seinen herrschenden Vocal, oder seine landläuffige Wort wolte in das Regiment setzen? an welchem Unformb es dem Luthero/ dem Lehr- vnd Sprachmeister der Protestanten niemand bevor gethan/ als welcher in seiner Teutschen Affter-Bibl/ wie leichtlich abzumercken/ keine andere Absicht gehabt/ als seiner Ober-Sächsischen Teutschen Sprach die universal Monarchie in dem HochTeutschen einzuräumen/ wie dann jhme seine Lands-Leuthe in solcher Meynung noch heut zu Tag nachahmen.21 Wie Hieber lehnt auch A G N E L L U S wickelte Hochsprache ab:
KANDLER
die auf mitteldeutscher Basis ent-
Denen Herrn Lutheranern hingegen, und fürnemlich denen Ober-Sachsen solle der durchgängige richtige Gebrauch zum Grund liegen/ und daß D.Luthers Ubersetzung der Bibel soll in zweiffelhafftigen Fällen den Ausschlag geben. Dises können und sollen sich jene Catholische Schreiber und Buchdrucker wohl zur Gedächtnuß nemmen/ welche blindhin alles nachmahlen und nachaffen, was sie in einem Sächsischen Buch lesen und aufklauben/ da doch solche Schreib-Art mehrmahlen kein andere Brunn-Quell/ als die Lutherische Bibel/ und keinen tiefferen Grund hat als des Luthers Willkuhr.22
21 22
dert, In: Studien zum Frühneuhochdeutsch, hg. v. P. Wiesinger, Göppingen 1988, 27—45 Ebd. 204 Ebd. 5, 1736, 74. - Vor allem wendeten sich die Oberdeutschen gegen das sog. protestantische e, das Endungs-e in Wörtern wie Siind, Beicht, Krön, Seel. Zur Anerkennung verhalf diesem Laut der Jesuit IGNAZ WEITENAUER in seiner Deutschen Sprachlehre: »Woher entspringt doch dieser unversöhnliche Haß wider das unglückliche e? Ist der Übelklang des armen Buchstaben oder ein unerbittliches altes Vorurteil oder wohl gar die Religion an seiner Verdammung schuld? Von der Religion erstlich zu reden, ist schwer zu begreifen, wie man sie in die Rechtschreibung eingemischt. Was hat die Glaubenslehre mit dem e zu tun? Welchen Artikel hat
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D a g e g e n gibt sich der bayerische Grammatiker und Schulmeister H E I N R I C H B R A U N liberaler. In seiner anonym erschienenen >Anleitung zur deutschen Sprachkunst< ( 1 7 6 5 ) schreibt er: Da man nun eine im ganzen Deutschlande durchaus gleichförmige Mundart niemals wird einführen können: so ist doch eine Gleichheit im Schreiben, und im Drucke allerdings zu hoffen: und es ist in diesem Stücke bereits schon sehr weit gekommen. Seitdem der berühmte Herr Professor Gottsched durch seine Sprachkunst den Fleis seiner Landesleute rege gemacht, fanden sich auch in andern Gegenden tüchtige Männer, welche an der Ausbesserung ihrer Muttersprache zum Nutzen ihres Vaterlandes sehr rümlich arbeiten: und selbst in unsrer Nachbarschaft erschienen verschiedene Anweisungen zur deutschen Schreib- und Sprachkunst: welche Zeugen sind, daß man sich auch in katholischen Ländern die deutsche Sprache in Flor zu bringen bemühet. 23 Allerdings arbeiteten die Jesuiten und die Zensur g e g e n diese Bemühungen. Mit der protestantischen Literatur bleibt auch die obersächsische Sprache bis w e i t ins 18. Jahrhundert hinein in den katholischen Territorien ausgeschlossen. G e g e n die Barbarei der herkömmlichen Schreibung wendet sich vor allem H E M M E R , der 1 7 7 6 den >Grundris einer dauerhaften Rechtschreibung< unter d e m P s e u d o n y m Jakob Domitor veröffentlichte. JAKOB
Wird es nicht bald Zeit sein, das Joch der Forurteile, dises unerträglich Joch, das unsere Forfaren und uns bisher so demütigend gedrüket hat, fon uns abzuschütteln? Sölten wir den in disem Jarhunderte, wo di aufgeklärte Fernunft ale schöne Künste und Wisenschaften in ein so herliches Licht sezet, sollten wir in disen unsere Zeiten, wo Deütschland seine Mutersprache mer libet, schäzet und bearbeitet, als jemals, solten wir da, sage ich, nicht auch so weit komen, das wir unsere
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dann derjenige abgeschworen, welcher hie und da ein Nennwort um eine Silbe verlängert?«, nach Kluge, F. ( 4 1919), 51f. Scheichl, S.P., Von den Klößen, vom lutherischen -e und vom Stiefel. Beobachtungen zur Sprache des Österreichers in der Literatur, Wirkendes Wort 40, 1990, 408-421. Vgl. auch Jahreiß, Α., Grammatiken und Orthographielehren aus dem Jesuitenorden. Eine Untersuchung zur Normierung der deutschen Schriftsprache in Unterrichts werken des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1990, 96-104 Braun, H., Anleitung zur deutschen Sprachkunst. Zum Gebrauche der Schulen in den Churlande zu Baiern, München 1765, 8f. - Matzel, K.; Penzl, H., Heinrich Braun und die deutsche Hochsprache in Bayern, Sprachwissenschaft 7, 1982, 120148; Wolfram, L., Heinrich Braun, geboren 1732, gestorben 1792. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärungsepoche in Bayern, München 1892 - Die >Kayserliche Deutsche Grammatick< des Wiener Hofrats JOHANN BALTHASAR VON ANTESPERG (1747) propagiert ein >reines Deutsch< für Kanzlei, Gelehrte und Literaten, das süddeutsch, vor allem aber auf >Papierdeutsch< hin orientiert war. Er klagt: »Dann es ist nicht wenig zu betauren: ... Daß die meisten vom Adel, auch lateinischgelehrte Männer in Deutschland auf fremde Sprachen so viel Zeit und Geld; hingegen aber auf die allerprächtigste hochdeutsche Grundsprache den allerwenigsten Fleiß anwenden. Daß sie sich um derselben Reinigkeit und Richtigkeit nicht bekümmern, sondern in solcher öfters mit groben Schnitzern nur nach Gutdünken daher lallen, und ohne Wissenschaft dahin sudlen, und vermeynen, es sey schon genug, wann man sie zu unseren Zeiten mit harter Mühe verstehet«, 8
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Rechtschreibung aus dem Dunkeln, aus irem alten roen Wesen heraus zögen, und ir eine anständige und zugleich dauerhafte Gestalt gäben? 24 N A S T und F R I E D R I C H K A R L F U L D A erkennen in ihrer Zeitschrift >Der teütsche Sprachforscher ( 1 7 7 7 / 7 8 ) an, daß man in Sachsen schon früh an einer >Verfeinerung der Sprache< habe arbeiten können. Der Süden sei zurückgeblieben, >archaisch< und >unabgeschliffenunhistorischwarum die Deutsche Sprache nicht recht emporkommen willMann aus der großen Weltvortreffliche Sprache< sprechen zu können. Bürgerliche Gelehrte seien dazu nicht imstande, weil sie die Welt nur aus Büchern kennen. Vorbild sind Bücher, die >für klassisch gehalten< werden, d.h. solche von Luther, Opitz, Lohenstein, Günther, Liscov, Hagedorn, Schlegel, Rabener 27 und Wolff. Für den aktuellen Sprachgebrauch gelten ihm Lessing, Ram24
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Domitor, J. (d.i. Hemmer, J.), Grundris einer dauerhaften Rechtschreibung, Manheim 1776, 5f. - Etwa gleichzeitig versucht JOHANN H. FABER in >Erste Grundsatze der Deutschen Sprachkunst, Maynz 1768< »unsere Sprache zur Vollkommenheit zu bringen, und sie von dem alten und neuen Wüste zu reinigen«, Vorrede Heynatz, J.F., Briefe die deutsche Sprache betreffend. Berlin 1774/75, 3. T., 6 Ebd. 3. T„ 8 GOTTLIEB W. R A B E N E R äußert sich selbst auch sprachkritisch: »Ich habe angemerkt,
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ler und Geliert schlechthin für vorbildlich. D i e Sprachlehrer haben die A u f gabe, >auf den Gebrauch guter Schriftsteller sorgfältig zu merkenIn seiner Muttersprache hingegen Fehler zu begehen, ist in meinen Augen eine desto grössere Schande.Versuch eines Deutschen/ Antibarbarus/ oder/ Verzeichnis solcher Wörter, deren man sich in der reinen Deutschen Schreibart/ entweder überhaupt/ oder doch in g e w i s s e n Bedeutungen/ enthalten muss/ nebst Bemerkung einiger,/ welche mit Unrecht getadelt werden< erscheinen. Er will mit ihm >den ganzen Vorrath der auf die Ehre des Schriftdeutsch Anspruch machenden Wörter ... würdigenAbhandlung von den Barbarismendie zu offenbar ihren fremden Ursprung verratene den ganz veralteten Wörtern und den neuen, >wenn sie nicht verständlich, unzweideutig und wohlklingend sinddie aber nicht alle barbarisch sind Neuen Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrthum und ScheinVersuch< ging voraus das »Lexikon Antibarbarum< von Johann A. Nohen, Hannover 1744, 2 Bde.
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Für J O H A N N CHRISTOPH A D E L U N G sollen die Glieder der Nation >zur Verbesserung und Verfeinerung der Sprache beytragensie nach dem Maße ihrer Kräfte die Verbreitung der Kenntniß und des wahren und richtigen Ges c h m a c k e s ^ 1 diese zu befördern suchen. Der Sprachwissenschaftler ehret den Sprachgebrauch in allen seinen Theilen, verwechselt ihn aber nicht mit Sprachfehlern, so gemein sie auch seyn mögen, besonders, wenn es zu vermuthen ist, daß die Nation bloß aus Unkunde, Mangel der Aufmerksamkeit oder Übereilung ihr eigenes Gesetz übertritt. 32 Das Hochdeutsche hat neben Vorzügen auch bedeutende Mängel. Es ist eine Mischsprache, ein Werk der Schriftsteller, die e s aus allen Mundarten zusammentrugen, und deshalb unregelmäßiger als das Oberdeutsche oder das Niederdeutsche. Es ist arm an Wörtern, arm an Bedeutungen der vorhandenen Wörter, arm an Wortfügungen, Beugungen und Verbindungen, einen Begriff nach allen seinen Schattierungen geschickt auszudrücken. 33 Der Geschmack, dessen Werk die Verfeinerung und Ausbildung einer Sprache ist, geht immer aus von einer einmal vorhandenen Schriftsprache, weil diese unter allen Mundarten die am meisten verfeinerte ist. Das Hochdeutsche seiner Zeit ist für Adelung das der höheren Klassen Obersachsens. Die höheren >Classen< verfeinern ihre Sprache deshalb stets, weil sie einen deutlichen Abstand herstellen wollen zu den unteren >ClassenVersuchs eines vollständigen grammatischkritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart mit verständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen< (17741786) vorgelegt 36 und damit seinen Ruhm als Sprachwissenschaftler begründet. Er erreichte eine große Breitenwirkung durch seine Lehrbücher; einer Sprachlehre für preußische Schulen (1781), einem Umständlichen Lehrgebäude der Deutschen Sprache, zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre für Schulen< (1782), >Ueber den Deutschen Styl< (1785) und Vollständige Anweisung zur Deutschen Orthographie< (1788), die alle mehrfache Auflagen erlebten. Zum Jahrhundertende nennt DANIEL JENISCH als Vorzug der deutschen Sprache die unerschöpfliche Quelle ihrer mannigfaltigen Dialekte< sowie ihren >extensiven Reichtum< an so >vortheilhafter grammatikalische(r) Bildlichkeit^ Die deutsche sei >eine der bildsamsten und vielleicht die bildsamste und reichste Sprache EuropasRündungIn Rücksicht des Reichthums und Nachdrucks< schließt sich die deutsche Sprache zusammen mit der englischen dem Griechischen an, das selbst alle wesentlichen Vorzüge einer Sprache besitzt. An Wohlklang steht das Deutsche dagegen hinter den antiken wie den germanischen Schwestersprachen zurück. Außerdem beschuldigt Jenisch es >eines schlüpfrigen Hanges zur Undeutlichkeit.die deutsche Sprache desto reinlicher und zierlichen 3 8 zu erhalten, wird 1708 durch JOHANN ERNST WEISE noch verschärft, indem dieser äußert:
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Sprach- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum 19. Jahrhundert, hg. v. B. Cherubim und K.J. Mattheier, Berlin-New York 1989, 7 3 - 9 1 Adelung, J.Ch., Deutsche Sprachlehre, Berlin 1781, 7, 14 Müller, M., Wortkritik und Sprachbereicherung in Adelungs Wörterbuch, Berlin 1903 Jenisch, D., Philosophisch-kritische Vergleichung und Würdigung von vierzehn älteren und neueren Sprachen Europas. Eine von der Königlich Preußischen Akademie gekrönte Preisschrift, Berlin 1796, 6 3 , 94, 259, 493 u. 4 9 4 Memmlingen, J.Ch., Europäischer Parnassus, Wittenberg 1685, 8
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Sprachkultur
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>Die Poesie soll ja der gefallenen teutschen Sprache wieder auff die Beine helffenKurtzen doch gründlichen Einleitung zu der rechten/reinen und galanten Teutschen P o e s i e c JOHANN SAMUEL W A H L
Ein teutscher Vers muß, soviel möglich, aus teutschen Worten bestehen. Dahero man billig alles Französische, wie auch Lateinische und aus andern Sprachen hergenommene Terminos oder Redens-Arten weglasset, desgleichen auch die unteutchen altfränkischen Worte ... Man bediene sich eines rein Hochteutschen Styli, wie er an denen vornehmsten Orten Teutschlands gewöhnlich. Zudem wird ein deutscher Satzbau und die Eigenständigkeit der deutschen Sprache gefordert. 4 1 1718 empfiehlt G O T T L I E B S T O L L E : Ein Teutscher poetisiere lieber in seiner als in einer andern Sprache, weil er viel ehe in jener als in dieser zur Vollkommenheit gelangen kan. Will er es aber auch in einer fremden wagen, so versuche er es eher in einer todten als lebenden, und vor allen anderen in der lateinischen, als welche unter den Gelehrten die hochgeachteste und allgemeinste ist. 42 Den Nutzen aus dem Poetisieren habe die Sprache, denn kein anderer als der Dichter vermag ihre i n n e r s t e n Geheimnisse< und die > verborgenen Reichtüm e r besser zu ergründen als hochzuheben, meint C . E W E I C H M A N N . Man sollte derhalben billig den Nutzen, dessen sich eine Sprache von ihnen zu erfreuen hat, besser erwegen, und ihre Schriften nicht so kaltsinnig oder wol gar verächtlich ansehen, wie man insgemein zu diesen Zeiten pflegt. 43 39 40
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Weise, J.E., Unvorgreiffliche Gedancken von Deutschen Versen, Ulm 1708, 4 Neumeister, E., Die Allerneueste Art zur Reinen und Galanten Poesie zu gelangen, Hamburg 1707 (ungedr. 1702) Vorr. Bl. D 3b. - Neumeister hält den Meißnischen Dialekt als besten und annehmlichsten. Gegen ihn wendet sich der Pegnitzschäfer MAGNUS D. OMEIS: »ES hat ja iedwedere Haupt-Sprach/ als die Griechische/ Lateinische und Teutsche sind/ ihre vielfältig und besondere dialectos oder Mund-Arten ... deren keine sich von der andern gerne neu-meistern(i) oder reformiren lässet ... Zu deme werden die Herren Schlesier und Meißner wol nicht verlangen/ daß alle andere hoch-Teutsche Mund-Arten sich nach ihrem Gehör alleine richten sollen.« Gründliche Anleitung zur Teutschen Accuraten Reim- und Dicht-Kunst, Nürnberg 1704, 1712, 53 Wahl, J.S., Kurtze doch gründliche Einleitung zu der rechten/reinen und galanten Teutschen Poesie, Chemnitz 1715, 8 u. 19 Stolle, G., Anleitung zur Historie der Gelahrheit, Jena 1718, 172 Weichmann, C.F. (Hg.), Poesie der Nieder-Sachsen, Hamburg 1725, Vorrede
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JOHANN G E O R G N E U K I R C H
rät dem Dichter:
Diese Hochteutsche Sprache zu excoliren muß er anfangs seine Zuflucht zu den besten Politicis, Gelehrten und Poeten nehmen: denn bey diesen ist die Richtigkeit der Sprache zu suchen/ indem sie allthalben und an keinen gewissen Ort von Teutschland gebunden ist: Massen an den meisten Orten, wo man das sauberste Hochteutsch redet/ ein rechter Kenner der hochdeutschen Sprache dennoch wohl einige Fehler finden kann. 44 Zahlreiche Poetiken rühmen das Deutsche, teils im Wissen um dessen Unzulänglichkeit, teils im Überschwang. Herauszustellen sind J.D. LONGOLIUS, der meint: Ist eine Sprache unter der Sonnen/ welche sich wortreich rühmen kann/ so ist es gewiß die Teutsche 45 oder
ANDREAS KÖHLER,
der feststellt, daß das Deutsche
doch am Überfluß und Reichthum der Wörter, wie auch an Zierlichkeit der Rede, keiner Sprache etwas nachgibt. 46 strebt in seinem >Grundriß zu einer Vernunftmäßigen Redekunst< (1729), im >Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen< ( 1 7 3 0 ) und in seiner >Deutschen Sprachkunst< (1748) nach einer Poesie, die durch einen natürlichen Sprachstil ausgezeichnet ist, der vor allem eindeutig und klar sein soll. Aber man dürfe nicht >einem wilden Vogel gleich werden, der da singet wie ihm der Schnabel gewachsen ist.< 47 J O H A N N CHRISTOPH G O T T S C H E D
Das Wichtigste, worauf es bei der Schreibart ankommt, ist für Gottsched die Gedankenwelt des Schreibenden. D i e s e findet ihre Quelle in der Vernunft, die auch für die Qualität des Stils verantwortlich ist: Denn so schwach oder stark dieselbe bey einem Scribenten ist, so schlecht oder gut pflegt auch seine Schreibart zu gerathen. 48 Gottsched führt zehn Gattungen einer schlechten Schreibart an und bereichert sie mit zahlreichen negativen Beispielen, um ihnen die guten Eigenschaften einer Schreibart entgegenzusetzen. Der Dunkelheit eines Stils, verursacht durch Anachronismen, Neologismen, Provinzialwörter, Fremdwörter, zweideutige Wörter, vielfältige Einschaltungen und Paranese stellte er die Forde-
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Neukirch, J.G., Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie, Halle 1725, 16 Longolius, J.D., Einleitung zur gründlichen Erkäntnis einer ieden, insbesonderheit aber der teutschen Sprache, Leipzig-Chemnitz 1715, 540 Köhler, Α., Deutliche und gründliche Einleitung zu der reinen deutschen Poesie, Halle 1734, 69 Gottsched, J.Ch., Deutsche Sprachkunst, Leipzig 1748, 3; Schäfer, G„ »Wohlklingende Schrift« und »rührende Bilder«. Soziologische Studien zur Ästhetik Gottscheds und der Schweizer, Frankfurt a.M. 1987 Gottsched, J.Ch., Ausführliche Redekunst (1736), In: Ausgewählte Werke, hg. v. P.M. Mitchell, Bd. 7, 359
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rung nach Deutlichkeit gegenüber. Die pedantische Schreibart, durchdrungen von griechischen, lateinischen Wörtern, voller Schnörkel, Zierlichkeiten und >frostigen Anspielungen soll durch den Stil der in der Muttersprache belesenen Leute, >die sich wohl in Gedanken und Worten, als in Kleidungen und Worten vom Pöbel unterscheiden^ ersetzt werden. Ungezwungenheit soll über der >gelehrt scheinendennachäffenden< und galanten Schreibart stehen. Den Ausschweifungen der Phantasie darf kein freier Lauf gelassen werden. Die Vernunft muß die Oberhand behalten. Gottsched wendete sich gegen den verhaßten Schwulst, indem er die Natürlichkeit forderte: Man setze sich auch im Denken kein ander Bild in den Kopf, als die Sache selbst, davon die Rede ist. Man zwinge sich zu keinen hochsteigenden Gleichnissen und Allegorien; w o sie nicht mit der Hauptsache auf das Genauste zusammenhängen, und ihr ganz eigen sind. 4 9
Als Gegensatz zu niederträchtigen Schreibart ist ein >edler< Ausdruck zu verwenden, der sich von der Sprache des Pöbels abhebt, nie zugleich aber den gekünstelten Stil falscher Erhabenheit annehmen darf. Zu einer guten Periodik tragen weitere Eigenschaften des guten Stils bei: >wohlgefaßt< und >ausführlichwohlverknüpft< und >wohlabgetheiletwohlgefaßt< und >ausführlich< versuchte Gottsched die Mitte zwischen weitschweifigem und knappem Stil zu finden. Ein logisch wohlverknüpft gegliederter Gedanke, unterstützt durch eine aufmerksame Interpunktion schließt das Grundgerüst der idealen Periodik ab. Mit Zeugnissen aus Andreas Gryphius, Joachim Rachel und Johann Lauremberg werden die Fremdwörter verworfen, denn >ein deutscher Poet bleibt bei seiner reinen Muttersprache und behängt seine Gedichte mit keinen gestohlenen Lumpen der Ausländen. Den fremden Sprachen nachgeahmte Redensarten werden als Barbarismen abgelehnt. Wer ohne Scheu wider die Natur unsrer Mundart alle Regeln der Sprachkunst aus den Augen setzt, der verdient ein Pol oder Wende genennet zu werden, der nicht einmal Deutsch kann, geschweige daß er ein Poet zu heißen verdienen sollte.
Veraltete Ausdrücke sind, außer in Knittelversen, bei denen ohnehin eine komische Wirkung beabsichtigt ist, zu vermeiden. Mit dem Hinweis auf die Pegnitzschäfer und Zesenianer wird die Sucht, neue Wörter zu bilden, scharf getadelt. Mit Maß und Verstand darf ein Poet aber ein >geschicktes Wort< wieder aus dem Staube der Vergessenheit hervorziehen, auch neue Wörter bilden, denn gewisse grammatische Verwegenheiten geraten manchem Dichter so gut, daß man eine besondere Schönheit darin finde. Der Poet habe insgesamt >gleichsam die Sprache der Götter< zu sprechen. Nach anfänglicher Übereinstimmung mit Gottsched empfanden J O H A N N J A KOB B O D M E R und JOHANN J A K O B BREITINGER ein Ungenügen an dessen Dichtkunsttheorie. Sie waren der Ansicht, das rationale Diktat der Vernunft raube 49
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der Dichtung spezifische Möglichkeiten, mache sie ausdrucksschwach und langweilig. Breitinger schrieb dazu: Der Dichter muß sich seiner eigenen Sprache bedienen, da die gewöhnliche seinen Erfordernissen nicht genügt. Sein ganzer Ausdruck muß darum gantz neu und wunderbar, d.i. viel sinnlicher, prächtiger und nachdrücklicher seyn. 5 0
Bei solcher Auffassung mußten sich Probleme mit dem Sinnlichen ergeben, das ja eigentlich unterdrückt und durch reine Vernünftigkeit abgelöst werden sollte. Bodmer und Breitinger waren jedoch der Ansicht, Sinnlichkeit habe ihre Berechtigung in der Kunst, indem sie geschickt als Instrument zur Verbreitung moralischer Wahrheiten eingesetzt werden könne. Gottsched kritisierte daran jedoch, daß Sinnlichkeit, wenn auch nur als bloßes Mittel, nicht statthaft sei, und die Poesie Vernünftigkeit in sich selbst haben müsse. Bodmer und Breitinger hielten dem wiederum entgegen, daß nur durch die sinnliche Vorgabe das gesamte Volk angesprochen werden könne, und daß mittels sinnlicher Phantasie Erkenntnisse und Vorstellungen erreicht werden könnten, die der nüchternen Rationalität verschlossen bleiben müßten. In diesem Zusammenhang bekam für die Schweizer >die Vorstellung des möglichen Wunderbarem mit Hilfe der Einbildungskraft besondere Bedeutung. Von der Darstellung des Wunderbaren versprachen sie sich die vereinigte Wirkung des movere, delectare, docere und prodesse, wie es schon Horaz von der Dichtkunst gefordert hatte. Innerhalb der Grenzen des reell Möglichen soll sich der Dichter als Schöpfer einer neuen idealischen Welt betätigen können und die beste aller möglichen Welten konstituieren. Bodmer schrieb: Ein guter Scribent bildet nicht allein die reichen Werke, welche ihm die Natur vor Augen leget, mit seiner Feder nach: Seinem stolzen Sinn ist auch der weite Umkreis zu enge: Er sucht sich neue Spuren ... Ein Scribent bauet sich selbst in seiner Phantasie neue Welten. 51 Die eigenthümliche Kunst des Poeten besteht ... darinnen, daß er die Sachen ... bis auf einen gewissen Grad künstlich entferne. Das Wahrscheinliche soll immer die Wahrheit, gleichwie das Wunderbare in der Poesie immer die Wahrscheinlichkeit zum Grunde haben. 52
Phantasie und Vernunft sollten vereinigt werden, die wirkliche Welt nur der Ausgangspunkt für die wunderbare Erdichtung sein. Einem Hinüberwechseln in eine mögliche Welt sollte nichts mehr entgegengestellt werden. Um nun das Wunderbare in der Dichtung zum Ausdruck zu bringen, gaben Bodmer und Breitinger poetologische Hinweise. Für besonders wertvoll wurden alle Wörter mit besonderem Nachdruck angepriesen. Breitinger nannte solche Wörter >Machtwörter< und meinte, sie würden den eigentlichen Reichtum und die Stärke einer Sprache bilden. 50 51 52
Breitinger, J.J., Critische Dichtkunst, Stuttgart 1967, Bd. II, 403 Bodmer, J.J., Anklagen des verderbten Geschmacks. Frankfurt-Leipzig 1728, 110 Breitinger, J.J., Critische Dichtkunst, Stuttgart 1967, Bd. I, 139
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Wörter, welche viele ausgemachte Begriffe enge zusammenschließen, und also viel gedencken lassen, machen eine Rede kräftig und beschäftigen das Gemüthe des Lesers mit vielem Nachdencken; hingegen muß eine Rede, die aus lauter Erklärungen und Umschreibungen zusammengesetzt ist, notwendig matt und kraftlos werden. 5 3
Anschauliche Präfixbildungen wurden von Breitinger ebenso geschätzt, wie die Partizipialkonstruktionen. Auch für den Gebrauch von Beiwörtern setzte sich Breitinger ein. Als charakteristischste Ausdrucksmöglichkeit des Wunderbaren wurde jedoch, vor allem gegen Gottsched, die Metapher hervorgehoben: Die >Bilder< der Dichtung geben den wohlvertrauten Erscheinungen ein ungewohntes Licht und Leben. Die Metapher verleiht wohlbekannten Dingen ein neues Aussehen. In ihr gipfelt alle figürliche Ausdrucksweise. Sie erweitert den Sinnbereich und die Verwendungsmöglichkeit der Wörter und gewinnt der Sprache neue, größere Ausdrucksmöglichkeiten. Wie der abstrakte und logische Gedanke das Medium der Philosophie, so war nach dieser Dichtungslehre das dichterische Bild das Mittel, durch das sich der Dichter an das Gefühl und die Phantasie des Lesers und Hörers wenden sollte. Bildlichkeit galt als das eigentliche dichterische Element. Das Ziel der Herzenserhebung kan nicht besser geschehen, als mittelst herrlicher und schöner Bilder, welche uns solche Umstände lebhaft vorstellen, wodurch das Gemüth kan gerühret und der Affect angeflammet werden. 54
Breitinger: Das Bekannte wird durch das Wunderbare, so durch die zusammengeordneten Metaphern entstehet, erhoben. 55
Neben das Kriterium des Wunderbaren trat nun auch das Kriterium des Neuen: Nur das >NeueUngewohnte< vermag es, die Menschen aus ihrer Alltäglichkeit wachzurütteln. Betäubende Gewohnheit versperrt den Zugang zum Gemüt. Das Neue erregt die Aufmerksamkeit, und die Metapher gilt als besonders geeignet, der Dichtersprache etwas Hohes und Ungewohntes beizugeben. Zur Orientierung für den Dichter gaben Bodmer und Breitinger an, der Dichter solle seine Bilder nach dem Maßstab der Natur und des allgemeinen Guten anordnen. Die Metapher soll Ausdruck innerer Harmonie in Entsprechung und Erkenntnis von Naturharmonie sein. Insgesamt schöpft Breitinger für die Sprachkultur seiner Zeit positive Bewertungen: Erst seit kurtzer Zeit ist die deutsche Sprache als eine Dollmetscherinn der Weisheit gebrauchet worden und in der selben weit mehr ausgebessert und bereichert, 53 54
55
Ebd. Bd. II, 58 Breitinger, J.J., Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauch der Gleichnisse, Stuttgart 1966, 67 Breitinger, J.J., Critische Dichtkunst, Stuttgart 1967, Bd. I, 166
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als seit Opitz in 100 Jahren geschehen war. Die gegenwärtige Verfassung der selben haben wir theils Leibnitz und Wolfen, theils der rühmlichen Vereinigung der gelehrten Gesellschaften zu danken. 56
Nach Bodmer ist die Wandlung in den Bestrebungen um eine Vervollkommnung der literatursprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten vor allem mit dem Schaffen G O T T H O L D E P H R A I M LESSINGS verbunden. Sein Sprachideal basiert auf dem Grundsatz der Angemessenheit, auf der auf Klarheit und Kürze basierenden Deutlichkeit. Er will die >gesuchte, kostbare und schwülstige Sprache·^ 7 überwinden und für die Literatur ein Ausdrucksmittel echter, wahrer und natürlicher Empfindungen finden. Dafür erkennt er in der Mundart, in der Sprache des einfachen Volkes eine bedeutende Grundlage. Zudem sucht er in der >alten, lautern und reichen Sprache der guten Dichter aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts< nach guten, brauchbaren Wörtern, stellt sie in einem Glossar zusammen für diejenigen Redner und Dichter, >welche Ansehen genug hätten, die besten derselben wieder einzuführen^ Diese Bereicherung sei weit mehr zu empfehlen als >die Prägung ganz neuer WörterHauptgutNachtgleiche< etc. Gegen Wieland polemisiert er: Denn alle Augenblicke läßt er seinen Leser über ein französisches Wort stolpern, der sich kaum besinnen kann, ob er einen itzigen Schriftsteller, oder einen aus dem galanten Zeitalter Christian Weisens lieset. Licenz, visiren, Education, Disciplin, Moderation, Eleganz, Aemulation, Jalousie, Corruption, Dexterität und noch hundert solche Worte, die alle nicht das geringste mehr sagen, als die deutschen, erwecken auch dem einen Ekel, der nichts weniger als ein Purist ist. 59
In den Übersetzungen guter Werke aus dem Griechischen, Lateinischen, Französischen und Englischen sieht Lessing Vorbilder, die der deutschen Literatur helfen können. Bei der Übertragung sei es wichtig, >Kompensation< zu erreichen, d.h. die Feinheiten der Ursprungssprache richtig auszudeuten. Lessing selbst orientiert sich am griechischen Vorbild, wenn er auch meint, dieses nicht oder nur mit großer Mühe nachahmen zu können. Es geht 56 57
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Breitinger, J.J., Fortsetzung der Critischen Dichtkunst, Zürich-Leipzig 1740, 101 Lessing, G.E., Hamburgische Dramaturgie 1767-1769, In: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Stuttgart 1886ff., Bd. 9, 31. - Lerchner, G., Zu Lessings Stellung in der sprachgeschichtlichen Entwicklung, Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 33, 1980, 345-352 Lessing, G.E., Zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, In: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Stuttgart 1886ff., Bd. 16, 13. - Droese, D., Lessing und die Sprache, Zürich 1968 Lessing, G.E., Briefe, die neueste Litteratur betreffend, In: Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, Stuttgart 1886ff„ Bd. 8, 31. - Matthias, T., Lessing auf den Bahnen des Sprachvereins, Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Wiss. Beihefte R. 4, 1902-1908, 11-29
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ihm darum, >den reichsten, triftigsten Sinn in die wenigsten, wohlklingendsten Worte zu legem. In der dramatischen Rede sei >nicht das edelste, sondern das nachdrücklichste WortVerlorenes Paradies< übersetzt hatte, ist F R I E D RICH GOTTLIEB KLOPSTOCK sehr beeindruckt. Er betont gegen Weise und Gottsched, daß ein großer Unterschied zwischen der Sprache der Dichtung und der schlichter Prosa zu machen sei. Die Dichtung solle nicht nur vielseitigere, schönere und erhabenere Gedanken als die Prosa haben. Sie müsse Wörter wählen, die die Gedanken ganz ausdrücken. Wünschenswert sind edle Wörter von ausgemachter Stärke, d.h. Ausdruckskraft. Der Poet soll und darf auch neue Wörter schaffen, denn die deutsche Sprache habe solche noch nötig. Ihr poetischer Wert hängt von der ungezwungenen Ableitung oder Zusammensetzung ab. Für die Syntax erkämpft Klopstock eine neue, von den Aufklärern bestrittene Freiheit, da er für eine notwendige Veränderung der eingeführten Wortfügung plädiert. Das Abweichen von der normalen Wortfolge ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar zur Pflicht. Das Grundprinzip des dichterischen Satzes sind Spannung und Leidenschaft. Zweck der freien Wortfolge ist die Verstärkung des Ausdrucks der Leidenschaft. Mit seiner Forderung, Satzende und Strophengrenze nicht unbedingt zusammenfallen zu lassen, kann Klopstock freirhythmische Gedichte (Hymnen) schaffen. Auf der anderen Seite steht Klopstocks Forderung nach Kürze. Sie ist für ihn ein Merkmal des erhabenen Stils und eine Beförderung der Deutlichkeit. Klopstock erreicht diese Knappheit der Dichtersprache durch die von ihm selbst genannte Sinnschwere des Einzelwortes und eine kunstvolle, der antiken Syntax nachgebaute Verschränkung des Satzbaus. Daneben mahnt Klopstock die Deutschen zum Sprachstolz. Er rühmt in der >Gelehrtenrepublik< (1774) wie seine barocken Vorgänger Alter, Reichtum und Reinheit der Muttersprache, die eine reichhaltige, vollblühende, fruchtschwere, tönende, gemesne, freye, bildsame ... männliche, edle und vortreffliche [sei], der es kaum die griechische, und keine der andern Europäersprachen bieten darf. 6 2 60 61
62
Ebd. 5 Ebd. 145. - Unter den von Lessing herausgegebenen >Vermischten Schriften< des CHRISTLOB MYLIUS (1754) befindet sich ein Beitrag mit dem Titel »Lob der Muttersprache«, mit dem sich Mylius von Gottsched freischreibt, Lessing, G.E., Christlob Mylius, Frankfurt a.M. 1971, 333-346 Klopstock, F.G., Die deutsche Gelehrtenrepublik, In: Werke und Briefe, hg. v. A.
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Wer sich nicht in der deutschen Sprache ausdrücke, solle des Landes verwiesen werden, bis er etwas in unsrer Sprache geschrieben hat ... Wer sich in einer ausländischen Sprache berauscht hat ... und laut schreyt, daß er diese Schrift allen deutschen Schriften vorziehe ... so stoße man ihn ... über die Gränzen hinaus. 63
Wer nur einzelne fremde Wörter gebraucht, soll milder bestraft werden. Die deutschen Akademien werden heftig attackiert, weil ihre Publikationen sich nicht der deutschen Sprache bedienen. Klopstock fordert die Schaffung eines deutschen Wörterbuchs. Er wendet sich gegen >übelklingende Worten, >Wörter aus den gemeinen Landessprachen^ >Modewörter< sowie gegen scholastische Kunstwörter. Gegen den Kanzleistil hat er eine besondere Aversion. Sein Vorbild ist Luther, dem er als Reformer der deutschen Sprache nacheifern möchte. Mit dem Kriterium des guten Geschmacks, geschult am Vorbild antiker Autoren und der Entscheidungsinstanz des Schriftstellers greift C H R I S T O P H M A R T I N W I E L A N D in den Sprachenstreit ein. Er wird für die theoretische Auseinandersetzung mit der Sprachkultur deshalb wichtig, weil er sich mit dem nach Gottsched wichtigsten Grammatiker, Adelung, anlegt. Je stärker dieser das Ziel einer einheitlichen deutschen Sprache durch den Subjektivismus und die Sprachwillkür der Stürmer-und-Dränger gefährdet sah, desto rigoroser verteidigte er seine Position. Er wollte seine Vorstellung vom richtigen Deutsch nicht nur für den grammatischen und lexikalischen Bereich gelten lassen, sondern übertrug diese auch auf die Literatur und machte Sprachrichtigkeit zu deren Maßstab. Die Schriftsteller sollten sich in ihrer Ausdrucksweise und ihrem Stil der Hofsprache Obersachsens unterordnen. Diesem starren Normierungsversuch widerspricht Wieland und widerlegt in seinem Aufsatz die Argumentation Adelungs. Der deutschen Sprache sei im 15. und 16. Jahrhundert statt einer Fortentwicklung ein deutlicher Rückschritt anzumerken: die süddeutsche Literatursprache, wie sie sich an den Höfen der Hohenstaufer entwickelt hatte, verfiel und löste sich auf. Deshalb komme der früheren Sprachstufe, der mittelhoch-
63
Beck, K.L. Schneider, H. Tiemann, Berlin-New York 1975, Bd. VII, 1, 88f.; Frühwald, W., Die Idee kultureller Nationbildung und die Entstehung der Literatursprache in Deutschland, In: Nationalismus in vorindustrieller Zeit, hg. v. O. Dann, München 1986, 129-141 Ebd. 24 u. 44. »Jedes Wort, das ihr von dem Fremden, Deutsche, nehmt, ist ein Glied in der Kette, mit welcher ihr, die stolz seyn dürfen, demüthig euch zu Sklaven fesseln laßt!« Und: »Wer mich verbrittet, ich haß' ihn!, mich gallicismet, ich haß' ihn«. Klopstock, Epigramme >Vergebliche Warnung< und >Unsere Sprache an Unsden Dichtern zuzuschreiben, welche sich ... zusammen fanden, und durch ihre Werke die goldne Epoke der Französischen Literatur hervorbrachten^ Nicht der Hof des Sonnenkönigs, nicht die ökonomische Situation Frankreichs waren es, die das Französische zu einer der vollkommensten, beliebtesten und allgemeinen Sprachen·: 66 Europas gemacht hatten, sondern der Einfluß von Schriftstellern wie Arnaud, Pascal, F6nelon, Molifere oder Racine hatte dies bewirkt; diese hatten durch Auswahl und Verfeinerung eine national einheitliche Sprache geschaffen und diese Literatursprache als nationale Norm etabliert. Ihre Leit- und Auswahlkriterien dabei waren gerade nicht vom Hof Ludwigs XIV. bestimmt, sondern oft im Gegensatz zu diesem von einem der ökonomischen Situation übergeordneten Wertsystem: dem Vorbild antiker Autoren. An diesen hatte sich der gute Geschmack der französi-
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wissenschaft und Kommunikationsforschung 44, 1991, 52-60; Richter, E., Wielands sprachliche Ansichten im >Teutschen Merkur... jede Schreibart hat darum ... ihre eigenen Befugnisse, die ihr niemand streitig macht. Sprach=DistrikteDistrikten< mehrere vollkommene Werke hervorgebracht hat, kann eine nationale Literatursprache als realisiert gelten. Nach Wielands Ansicht war dieses Ziel im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts noch nicht erreicht worden. Aber bis eine Nation eine beträchtliche Anzahl sehr vortrefflicher Werke in allen Arten des Stils und der Komposition aufzuweisen hat ... (ist) ihre Schriftsprache doch immer erst im Wachsen begriffen, sie ist noch unvollendet, sie kann noch neue Wörter und Redensarten aufnehmen, veraltete wieder ins Leben zurückrufen; der ganze Schatz der Sprache von mehreren Jahrhunderten her steht ihr offen; die Mundarten aller Provinzen gehören ihr zu, und sie kann daraus nehmen, ... was sie benötigt. 73 sah in den >oberen Classen< zwar die Schöpfer der hochdeutschen Sprache, in den Schriftstellern aber die Vorbilder für den Sprachgebrauch. An sie stellte er höchste Ansprüche, und zwar die gleichen, die die Antike einst an den vollkommenen Redner gestellt hatte. Der Schriftsteller soll nicht mehr und nicht weniger als ein vir bonus sein, er soll Kenntnisse der Sachen besitzen, die er vorträgt, er soll seine Sprache perfekt beherrschen und s i e wissenschaftlich studiert haben, und er soll schließlich genügend >Geschmack< besitzen, um >das Gedachte auf die edleste, beste und wohlanständigste Art< darzubieten. 7 4 Er bezeichnet einen Schriftsteller, der diesen idealen Forderungen entspricht, als >classischSuevismus< zu erwischen. 76 Und Adelung behielt recht mit seiner Einschätzung, alle deutschen Provinzen würden sich auf die obersächsische Norm als Hoch- und Schriftsprache einigen. War die Einstellung der zeitgenössischen Dichter zu Adelung zwiespältig, so profitierte dieser von deren Schriften. Am meisten beeinflußten ihn die Herders und dessen Art, Sprache zu betrachten. In JOHANN G O T T F R I E D H E R D E R S Sprachkonzeption zeigt sich ein >AnthropozentrismusVernunftFluchKultur< der Sprache, In: Herder-Kolloquium 1978, hg. v. W. Dietze, Weimar 1980, 392-398 Dobbek, W. (1969), 98
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Wichtig für Herder ist der Sinnzusammenhang des Ausgedrückten. Jeder Satz zum Beispiel drückt zunächst einen Sinn aus. Dieser ordnet sich aber im Zusammenhang mit anderen Sätzen einem Sinngefüge unter. Hierbei muß der Sinnzusammenhang begriffen werden. Der Zusammenhang formt dann quasi den Satz und in ihm die Wortstellung. Es erfolgt also keine bloße Zusammensetzung (Synthesis), sondern es erfolgt eine Verknüpfung des Ganzen mit dem Besonderen. Daraus ergeben sich für Herder Aufgaben und Ziele. So fordert er eine >Zucht der Sprache^ 80 die Erziehung zum sinnvollen und schönen Sprechen. Das Sprachgefühl jedes einzelnen muß geschärft werden: Wer über die Literatur eines Landes schreibt muß ihre Sprache auch nicht aus der Acht lassen ..., denn beide entwickelten sich gleichzeitig fort. 81
Er sieht dabei Poesie, Prosa und Philosophie als drei Entwicklungsstufen. Nach Herder steht die deutsche Sprache seiner Zeit im Zeitalter der Prosa und könnte deshalb eine Entwicklung zur Poesie oder zur Philosophie hin machen. Herder stellt sich daher die Frage: Soll sich die deutsche Sprache mehr zur dichterischen Sprache hinwenden, damit der Stil vielseitig, schön und lebhafter werde oder zur mehr philosophischen Sprache, damit der Stil einseitig, richtig und deutlich werde? Er kam zu der Ansicht, daß beides vereint werden soll, auch wenn - was ihm klar war - in keinem Bereich die höchste Stufe erreicht werden kann (>Wir werden in der Mitte schweben Die deutsche Literatur seiner Zeit krankt an dem Nachahmen von Formen, die dem nationalen (deutschen) Charakter der Sprache nicht gemäß sind. Er fordert, daß die Schriftsteller die Fülle des Charakteristischen in den alten Sprachen studieren sollen, um dabei das Charakteristische in der eigenen Sprache zu entdecken. Er freue sich schon auf den Tag, wo die deutsche Sprache >zur alten Deutschen Einfalt und Stärke< zurückkehre. Dem Vorwurf, er wolle mit seiner Begeisterung für die Volkspoesie die Literatur in die Primitivität zurückführen, setzt er sich mit dem Argument, daß er sich sehr wohl zur Gegenwart bekennt, zur Wehr. Herder stützt seine Begeisterung für das Volkslied auf theoretischen Folgerungen über die Volkspoesie, die er anhand von Beispielen herausarbeitet. In der Volkspoesie ist nichts abstrakt, gekünstelt, erschlichen oder verwirrend. Ein ganzer Gedanke wird durch ein Wort ausgedrückt. Alles ist plastisch, lebendig spontan, direkt, »voller Thätigkeit, Sicherheit und Vielseitigkeit^ 83 Bei seinem Wirken bis zur Klassik fand Herder für die Deutschen den Gedanken einer individuell nationalen Kultur. Durch ihn fielen auch die Schranken zwischen Dichtung und Volk. 80 81 82
83
Herder, J.G., Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Berlin Herder, J.G., Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Berlin Streller, S., Das Verhältnis von Nationalliteratur und Kolloquium 1978, hg. v. W. Dietze, Weimar 1980, 295 Herder, J.G., Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Berlin
1877, Bd. 2, 44f. 1877, Bd. 1, 147 Volksdichtung, In: Herder 1877, Bd. 2, 361
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Für das Problem der Sprachkultur wird Herder auch insofern wichtig, als er einen Ansatz entwickelt zur Gründung einer Sprachakademie. In seiner Schrift von 1787 >Idee zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands< betont er, daß die deutsche Sprache sich ihrem Bau und ihrem inneren Wesen nach unvermischt erhalten habe. Jetzt aber sei es notwendig, daß sie sich aufkläre, lautre und befestige, wie sich die Nation in ihrer Verfassung befestigt und aufklärt. Unglaublich viel trägt eine geläuterte Sprache zur Festigung der Denkart einer Nation bei. Herder hat grundsätzlich eine hohe Meinung von der deutschen Sprache. Für ihn gehen die Befestigung des Staatsgebäudes und die der Sprache in eins. >Es ist ein Zeichen, daß wir uns selbst gering achten, so lange wir uns gegen uns und gegen andere Nationen unserer Sprache schämen.< 8 4 Eine >geläuterte< und >befestigte< Sprache soll das Denken und Wissen der Deutschen fördern. Herder liegt viel daran, seine Nation von der durch Konventionen gebundenen französischen abzusetzen. Die >Barbarey< der Deutschen bedeutet ihm Natürlichkeit und Stärke. Dementsprechend werden sich die Mitglieder einer Sprachakademie nicht nur selbst bemühen, in ihren Schriften Muster der Einigkeit, Stärke und jener ungekünstelten Einfalt zu werden, die unsre Nation am besten kleidet. 85 Vor despotischen Sprachgesetzen wird sie sich mit größter Sorgfalt hüten; dagegen sich desdo mehr befleißigen, durch Beobachtungen, Vorschläge und kritische Regeln unserer Sprache die schöne Sicherheit zu verschaffen, an der es ihr im Vergleich anderer Sprachen noch sehr fehlt. Alles, was zur Geschichte der Sprache, zu ihrer Bildung in einzelnen Provinzen, zu ihrer Grammatik, ihrem Stil, ihren Wörterbüchern gehört, wird der Akademie werth sein; und kein Werk des deutschen Geistes und Fleißes es sei poetisch oder in Prosa, Übersetzung oder eigene Arbeit, wird, sofern es die Vollkommenheit unserer Sprache betrifft, ihrer Aufmerksamkeit unwerth erscheinen. 86
84 85
86
Ebd. Bd. 16, 604 Ebd. 607. - »Wenn sich nun, wie offenbar ist, durch diese thörichte Gallicomanie in Deutschland seit einem Jahrhundert her ganze Stände und Volksclassen von einander getrennt haben', mit wem man Deutsch sprach, der war Domestique (nur mit denen vom gleichen Stande sprach man Französisch und forderte von ihnen diesen jargon als Zeichen des Eintritts in die Gesellschaft von guter Erziehung, als ein Standes-, Ranges- und Ehrenzeichen); zur Dienerschaft sprach man wie man zu Knechten und Mägden sprechen muß, ein Knecht- und Mägdedeutsch, weil man ein edleres, ein besseres Deutsch nicht verstand und Uber sie in dieser Denkart dachte; ... So geschah, was geschehen ist; Adel und Französische Erziehung wurden Ein und Dasselbe; ... Der mächtigste, wohlhabendste, einflußreichste Theil der Nation war also für die thätige Bildung und Fortbildung der Nation verloren; ja, er hinderte diesen wie er sie etwa hindern konnte, schon durch sein Dasein.« Briefe zur Beförderung der Humanität, 9. Sammlung, In: Werke, hg. v. H. Güntzer, Berlin 1869-79, 13. Theil, 495f. - Violet, F., Herder über Sprachmengerei und Ausländerei, Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 1, 1886, 129-130; Schiewe, J., (1989) 110-130 Ebd. 607f.
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Herder möchte, daß die Akademie die Geschichte der deutschen Sprache betrachte und beleuchte. Er sieht sie nicht als Normgeber, will auch alle Dialekte sowie unterschiedliche Stile und Wörterbücher zulassen. Die Beschreibung Herders als einen revolutionären Neuerer trifft jedoch eher auf dessen Freund und Kritiker J O H A N N G E O R G HAMANN. Für diesen ist die Sprache der Menschen die Nachahmung der göttlichen Sprache, ist Teilhabe an der Sprachlichkeit Gottes, ein Weitersprechen des göttlichen Sprechens. Im Wort ist Offenbarung der Wirklichkeit als Ganzes. Es gibt keine Trennung zwischen Gottes- und Menschensprache, die ursprüngliche Einheit macht das Wesen der Sprache aus: ... es ist alles göttlich ..., alles Göttliche ist aber auch menschlich, weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur ..., diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unserer Erkenntnis und der ganzen sichtbaren Haushaltung. 87
Sprachfähigkeit und Sprachgebrauch des Menschen sind also von Gott geschaffen und damit göttlich; sie sind aber dem Menschen als eigene Fähigkeit und zu eigenem Gebrauch gegeben und somit menschlich. Das heißt im Grunde: Die Sprache ist ein Faktum, an dem, wie an der ganzen Schöpfung Gott und Mensch in der Weise teilhaben, daß Gott in ihrer Wirklichkeit dem Menschen begegnen will. Sprache ist Mittelraum zwischen Gott und Mensch. 8 8
Die Sprache muß - wie die Sprache der Schöpfung und Natur, wie auch die Sprache der Bibel - ursprünglich sinnenhaft, anschaulich und gleichnishaft gewesen sein: Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts. 8 9
Doch von diesem idealen Ursprung, von dieser Ursprache, ist in seiner Zeit nicht allzuviel mehr übrig; von einer Sprache der Leidenschaft und Empfindung entwickelte sie sich zu einer Sprache der leeren und abstrakten Begriffswörter, was für Hamann eine Verarmung des Menschen, auch seiner Vernunft, bedeutet, denn das hybride Bauen philosophischer Vernunfttürme gründet auf Sand, wenn ihm das Bewußtsein des transzendenten Bezugs verlorengegangen ist und es sich selbst verabsolutiert. Hamann ist aber kein Vernunftfeind, er ist nur Gegner der Rationalität, insofern sie der einzig gültige Maßstab sein will. Für ihn müssen Sinnlichkeit und Vernunft zusammenspielen. Leidenschaft ist für ihn die Triebfeder für das menschliche Denken.
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Hamann, J.G., Sämtliche Werke, hg. v. J. Nadler, Wien 1949-53, Bd. 4, 23. Schiewe, J. (1989), 131-139. - Weiß, H., Johann Georg Hamanns Ansichten zur Sprache. Versuch einer Rekonstruktion aus dem Frühwerk, Münster 1990 Seils, M., Wirklichkeit und Wort bei Johann Georg Hamann, Stuttgart 1961, 20 Hamann, J.G., Schriften zur Sprache, hg. v. J. Simon, Frankfurt a.M. 1967, 107
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Hamann will die Trennung zwischen abstrakt-logischem und sinnlich-leidenschaftlichem Reden und Verstehen überwinden, eine Trennung, die erst durch die Überhebung der Ratio zustandekam, die ihren abstrakten Teil als d i e Wahrheit ausgab. Doch Sprache ist ä s t h e t i s c h e s und logisches Vermögen Gebärmutter der B e g r i f f e n 9 2 Sie ist selbst nicht mehr ableitbar, deshalb müssen auch die Erklärungsversuche über den Sprachursprung alle versagen, denn sprechend kann man die Sprache nicht einholen, mit ihren eigenen Mitteln nicht ihre Voraussetzungen erklären. Hamann hat für diese Versuche nur spitze Ironie übrig. In ihnen zeigt sich für ihn die Selbstverfangenheit des menschlichen Geistes. Wenn Hamann selbst fast nur in Bildern redet, schafft er dadurch einen Gegenpol zu seinem rationalistischen Zeitalter. Seine Kritik an den Vertretern der Ratio als den einzigen Maßstab beginnt schon an seiner äußeren Form - seine sinnenhafte Sprache deckt die Nacktheit der abstrakten Rede auf. »Hamann zentriert die Wirklichkeit weder im Sein noch im Begriff, sondern im Wort. Sie ist Ereignis, sie ist Tat, sie ist Handlung, sie ist Geschichte, kurz: sie ist Sprache Gottes, Anrede an den Menschen«. 9 3 In der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner Gedichte 1 7 7 8 setzt sich mit der deutschen Sprache auseinander:
GOTT-
FRIED A U G U S T B Ü R G E R
1. Ist irgend in dem ganzen Gebiete der Wissenschaften etwas wert, daß Männer sich damit beschäftigen, so ist es die Muttersprache. Sie kann zu allem übrigen sagen: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Ja, sogar all euer gutes oder schlechtes Tun hängt von mir ab. Wer mich verachtet, der wird wieder verachtet von seinem Zeitalter, und schnell vergessen von der Nachwelt. Wer schlecht schreibt, und schriebe er auch noch so vortreffliche Sachen, ist ein geschmückter Tänzer mit Klumpfüßen, und fehlerhaft schreiben ist so viel, als zerrissene Schuhe tragen, woran die Löcher mit Kartenblättern ausgelegt sind. Ich könnte einem lieber jede andere gelehrte Sünde verzeihen, als eine Sprachsünde. Denn nichts steht der Ehre unserer Literatur mächtiger entgegen als Schlechtschreiberei, und es ist schändlich, himmelschreiend und, - oh, was weiß ich alles? - daß unsere größten und besten Gelehrten so überaus liederlich oft schreiben! 2. Liebe Brüder, wenn ihr eure Sprache lieb habt, so tretet dem Schlendrian auf den Kopf, und richtet euch nach den Regeln der Vernunft und einfachen Schönheit, nach welcher sich schon größtenteils die Minnesinger richteten. 94
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Hamann, J.G., Sämtliche Werke, hg. v. J. Nadler, Wien 1949-53, Bd. 7, 12 Metzke, E., Johann Georg Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Halle 1934, 246 Hamann, J.G., Sämtliche Werke, hg. v. J. Nadler, Wien 1949-53, Bd. 3, 31 Seils, M„ Wirklichkeit und Wort bei Johann Georg Hamann, Stuttgart 1961, 13 Bürger: Sämtliche Werke, hg. v. A.W. Bohtz, Göttingen 1835, S. 386a
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Die Akademie-Idee hatte ihren Anstoß durch Leibniz erhalten. Auf sein Betreiben hin hatte König Friedrich I. die >Societät der Wissenschaftern in Berlin gegründet. Seit 1710 bestand dort eine eigene Sektion für die deutsche Sprache. Gegen ihre Untätigkeit polemisiert 1 7 1 5 JOHANN T H E O D O R JABLONSKI in einer anonymen herausgebrachten Schrift >Versuch Zu einer ordentlichen und beständigen Richtigkeit Der Hochteutschen Sprache / Im Reden und Schreiben zu gelangen·«, die aber wenig originelle Gedanken enthält. In Wien hatte der kaiserliche Rat und Hofdichter GUSTAV H E R Ä U S dem Kaiser Karl VI. die Gründung einer Sprachakademie nach dem Muster der Acadimie Francaise vorgeschlagen. Wegen der notwendigen Einbeziehung der im protestantischen Mitteldeutschland schon erreichten Fortschritte für eine Einheitssprache wurde dieser Vorschlag aber nicht akzeptiert. Die Berliner Akademie litt unter Friedrich II., der das Französische liebte und massiv förderte. 1782 stellte die Berliner Akademie die Preisfrage, was das Französische zu einer europäischen Universalsprache gemacht habe und wodurch es diesen Vorrang verdiene. In der preisgekrönten Schrift des französischen Emigranten Antoine Rivarol >De l'universalitö de la lange francaise< steht bezeichnenderweise der berühmte Satz: >Was nicht klar ist, ist nicht französisch·«. Vorher hatte FRIEDRICH DER G R O S S E selbst in die Sprachenfrage eingegriffen mit einer Schrift >De la littirature allemande, ces defauts qu'on peut lui reprocher, qu'elles en sont les causes, et par quels moyens on peut les corriger< ( 1 7 8 0 ) , die unmittelbar darauf in deutscher Übersetzung erschien. In ihr empfahl er den Deutschen, die antiken und französischen Schriftsteller zu lesen und zu übersetzen, damit sie deren Künste erlernen und bald Ähnliches wie sie schaffen könnten. Wie fast alle seine Zeitgenossen war Friedrich davon überzeugt, daß die deutsche Sprache noch verbesserungswürdig sei. Ich bin überzeugt, daß kein Schriftsteller gut in einer Sprache schreiben könne, die noch nicht ausgebildet und verfeinert ist ... Und nun finde ich eine noch halb-barbarische Sprache, in der so viele verschiedene Dialekte vertheilt, als Deutschland Provinzen hat. Jeder Kreis hält sich überzeugt, seine Sprache sey die wahre ächte und deutsche. Wir besitzen noch keine von der ganzen Nation gebilligte Sammlung, in der man alle Worte und Redensarten fände, nach denen man die Reinigkeit der Sprache sicher beurtheilen könnte. Was man in Schwaben schreibt, ist in Hamburg kaum verständlich; und der österreichische Styl ist für die Sachsen dunkel.
Hieraus schließt er direkt: Es ist also physisch unmöglich, daß auch ein Schriftsteller von dem größten Geist, diese noch ungebildete Sprache vortrefflich behandeln könne.
Keine Folge, ohne daß die Voraussetzung erfüllt wäre: >ohne Werkzeug läßt sich kein Künstler denken !EnergieStärke< und >AnmuthDeutlichkeit< liegt Friedrich als feurigem Verfechter der Aufklärung besonders am Herzen. Sie allein könne sein Volk dem Dunkel der Vorurteile entreißen. Was Deutlichkeit anbelangt, hatten die französischen Aufklärer, nach den Antiken, neue Maßstäbe gesetzt. Die zweite Kritik Friedrichs an der deutschen Sprache gilt ihrem Klang: Ein Übermaß an Konsonanten >beleidigt< das Ohr, >weil sie schwer auszusprechen sind, und gar keinen Wohlklang habenharten Tönen< des Deutschen spricht, muß man einerseits an die diesbezügliche Debatte in Deutschland denken, andererseits aber auch an Voltaire und den enormen Einfluß, den dieser auf ihn ausübte. Friedrich macht einen halbschüchternen Vorschlag zum akademischen Sprachregularismus: Auch haben wir unter unsern Hülfs- und Zeitwörtern viele, deren letzte Silben fast gar nicht gehört werden, und dadurch sehr unangenehm sind, als sagen, geben, nehmen. Man darf diesen Worten nur noch am Ende ein a hinzusetzen, und sie in sagena, gebena, nehmena verwandeln, so werden sie unserm Ohre gefallen. Aber ich weiß sehr wohl, wenn auch der Kaiser selbst mit seinen acht Churfürsten auf einem feyerlichen Reichstage durch ein Gesetz diese Aussprache anbeföhle; so würden doch die eifrigen Verehrer des ächten alten Deutschen sich an diese Gesetze gar nicht gebunden halten, sondern allenthalben in schönem Latein ausruffen: Caesar non est super Grammaticos, und das Volk, das in allen Ländern über die Sprachen entscheidet, würde immer fortfahren, sagen und geben auszusprechen. 97
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Ebd. 120 Ebd. 60f.
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Ein interessanter Gedanke, über das >Volk, das in allen Ländern über die Sprachen entscheidet^ dem Friedrich hier Raum gewährt. Hier findet sich der Kern einer dem Sprachregularismus gänzlich entgegengesetzten Sprachauffassung, die von der bildenden und regulierenden Eigendynamik der gesprochenen Sprachen ausgeht. Auch wenn dieser Gedanke dem König nur wie unwillkürlich unter die Feder kommt, so hütet er sich doch vor Sprachdespotismus. Eine weitere Kritik gilt den >niedrige(n) und triviale(n) Vergleichungenaus der Sprache des Pöbels entlehnen^ Als Beispiel dient Friedrich eine Zueignungsschrift, in der er folgendes formuliert fand: >Schieß großer Gönner, schieß deine Strahlen Armdick auf deinen Knecht hernieder. falschen< Metaphern. Ganz im Sinne Gottscheds kommentiert er die Phrase Ihro Majestät glänzen, wie ein Karfunkel, am Finger der itzigen Zeit ... Kann man sich schlechter ausdrücken? Warum ist die Königin ein Karfunkel? Wer hat der Zeit einen Finger gegeben? Wenn die Künstler die Zeit vorstellen, so geben sie ihr Flügel, weil sie ohne Unterlaß davon fliegt; eine Wasseruhr, weil die Stunden die Zeit abtheilen; und sie bewaffnen ihren Arm mit einer Sichel, um anzudeuten, daß sie alles, was da ist wegmähet und zerstört."
Friedrich wirft den Deutschen vor, sie seien weitschweifig, verwendeten unnütze Parenthesen und Worte, sowie unpassende Metaphern. Sie seien undeutlich und dunkel. Hierbei wendet sich Friedrich genauso gegen den latinisierenden wie gegen den barocken Stil: Vielen von unsern Schriftstellern gefällt ein verworrner Styl; sie schließen eine Parenthese in die andere, und oft findet man erst am Ende einer Seite das Wort, von welchem der Sinn der ganzen Periode abhängt. Nichts verwirrt die Konstruktion mehr; anstatt reich zu seyn, ist man nachläßig, und es würde leicht seyn, das Räthsel des Sphynx aufzulösen, als ihre Gedanken. 100
Er geht mit den Theologen, >welche ganz unverständliche Materien auf eine sehr dunkle Art untersuchtenmit Fleiß< dunkel ausdrücken, >um für ein Orakel gehalten zu werdenBarbarey< stellt aber die Bildung einer Nationalsprache dar. Zum einen versucht er dieses Argument mit der allgemeinen Verständlichkeit zu unterlegen, zum anderen aber besteht für ihn ein enger Zusammenhang zwischen Nationalstolz und der Existenz einer nationalen Sprache. Was die Verknüpfung von Nationalbewußtsein, nationalem Interesse und Nationalsprache angeht, so hatte Richelieu mit der Schaffung der >Acad6mie fran9aise< ganz Europa ein glänzendes Beispiel an Effizienz gesetzt. Eine nationale Akademie urteilt nicht nur über einzelne Schriften, sondern sie erhebt die von ihr favorisierten Werke zu Manifestationen der nationalen Kultur. Solche Werke hatten dann in ganz Europa einen ganz anderen Prestigewert als die Schriften vereinzelter Schreiberlinge. Dieses Beispiel stand Friedrich natürlich vor Augen. Sprachpflege bedeutet für ihn die Schaffung einer nationalen Norm, und diese wiederum den entscheidenden Schritt zur kulturellen Anerkennung Preußens in Europa, die Vollendung seines Lebenswerks. Friedrich bewegt sich schon von Jugend auf in einem intellektuellen System, das Kultur und klassizistische Norm in eins setzt. Dies hat ihm den Blick verstellt, so daß er weder die direkte Bedeutung seines politischen Wirkens für die nationale Kultur der Deutschen, noch die Bedeutung seiner schreibenden Zeitgenossen erkennen konnte. Friedrich erntete mit seiner Schrift Entrüstung bei den deutschen Dichtern und Sprachgelehrten. Am deutlichsten setzt sich JUSTUS M Ö S E R in seiner Gegenschrift >Über die deutsche Sprache und Literatur< (1781) mit ihm auseinander. Möser anerkennt die großen Bemühungen des Königs um sein Land: Allein dieses scheint mir nicht in seinem Plane zuliegen, daß wir bey den Griechen, Lateinern und Franzosen zu Markte gehen und dasjenige von Fremden kaufen und borgen sollen, was wir selbst daheim haben können. 104
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Ebd. 111 Ebd. 175. - Hofmann, R., Justus Möser und die deutsche Sprache, Zeitschrift für den deutschen Unterricht 21, 1907, 145-232. Ders., Justus Möser, ein Vorkämpfer des deutschen Sprachvereins, Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 26, 1911, 365-375
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D e m A u f r u f zum B o r g e n und Leihen setzt er f o l g e n d e s entgegen: Ausserdem hat das Nachahmen fremder Nationen leicht den innerlichen Fehler aller K o p e y e n , die man um deswillen geringer als ihre Originale schätzt, weil der Kopiist natürlicherweise immer mehr oder weniger ausdrückt, als der rechte M e i ster empfunden hat; es macht uns unwahr ... 105
H i e r z e i g t sich schon der Nationalstolz, an den Friedrich noch gar nicht glauben w i l l . Sprache und Kunst sollen nun die e i g e n e >Natur< zum Ausdruck bringen. D a b e i schwingt aber noch i m m e r d i e I d e e mit, alles Deutsche sei grobschlächtig: M o s e r vergleicht d i e deutsche Kunst mit >dem besten Stücke Rindfleisch·«. 1 0 6 Es genügt aber, diesem eine f e i n e >Pariser Pastete< entgegenzusetzen oder eine >Ananas GötzVölksspracheConventionswohlstand< wie die Franzosen, der der emsigen Tätigkeit nationaler Sprachpfleger entwächst. Sie hatten nie den >Verfeinerten Geschmackguten TonWeg der M a n n i g f a l t i g k e i t nennt Moser solch eine Sprachkultur ohne Norm. Gepflegt wird nur das, was den eigenen Bedürfnissen entspricht. K A R L PHILIPP M O R I T Z
schließt an Lessing an, wenn er schreibt:
Was wirklich schön gesagt sein soll, muß auch vorher schön gedacht sein; sonst ist es leerer Bombast und Wortgeklingel, das uns täuscht. 111 Sprache soll nicht Floskeln, sondern Gedanken wiedergeben. Beim Sprechen und Schreiben soll die Individualität des Sprechenden oder Schreibenden er-
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Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd. 188 Moritz, K.Ph., Vorlesung Uber den Stil, In: Werke, hg. v. H. Günther, Frankfurt a.M. 1981, Bd. 3, 586. - Fricke, C., Karl Philipp Moritz als durchschnittlicher Sprachwissenschaftler zwischen Leibniz und Humboldt. Zur Stellung seines linguistischen Werks im geistigen Leben des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Diss. Jena 1988; Reisinger, L., Karl Philipp Moritz* Sprachtheorie unter besonderer Berücksichtigung der Sprachästhetik, Diss. Wien 1960; Müffelmann, F., Karl Philipp Moritz und die deutsche Sprache. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft im Zeitalter der Aufklärung, Diss. Greifswald 1930
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kennbar sein. Jeder solle seine eigentümliche Sprache beobachten, um ihre Originalität als solche zu erkennen und im positiven Sinne zu pflegen. Die Sprache der Dichter hat sowohl stilistisch wie in ihrer argumentativ-strukturalen Strategie absoluten Vorbildcharakter. In ihr gelangt Sprache zur schönsten und höchsten Völlendung. Deshalb fordert Moritz ein Tribunal, bestehend aus den besten deutschen Autoren, das eine sprachprüfende Tätigkeit ausüben soll >zur Kultur der vaterländischen Sprachen 1 1 2 In der Fremdwortfrage nimmt Moritz einen Mittelweg ein. Ideal wäre ein reines Deutsch, aber wo fremde Begriffe Bürgerrecht erhielten, solle man sie belassen, um der Sprache nicht Kraft und Nachdruck zu rauben. Mit Klopstock, Herder, Hamann und Moritz sind wir zeitlich bei der Epoche angelangt, die in den Literaturgeschichten als >Geniezeit< bezeichnet wird (ca. 1775-1780). Die jungen Genies entwickeln und bevorzugen eine ausgesprochen subjektive Sprache, einen persönlichen Schreibstil. Sie verachten den nüchternen Verstand und schwelgen in Gefühlen. Sie lassen sich kaum von der Verstandessprache Lessings oder dem geistreichen Intellektualismus Wielands beeinflussen. Sie sind gegen jede künstlich-traditionelle Norm der Schriftsprache, und ihre eigentliche Gebrauchs- wie poetische Sprache ist die gesprochene. Deshalb ist nächst der Lyrik das Drama die beliebteste poetische Ausdrucksform. Im epischen Bereich zählt fast nur der Brief, der sich dann wiederum in die Briefromane fortentwickelt, da er subjektive Äußerungen und hohe Emphase ermöglicht. Die Normen der Richtigkeit und Zierlichkeit der Sprache, wie sie die Grammatiker von Schottel bis Adelung immer wieder gefordert hatten, und Adelung ist unmittelbarer Zeitgenosse der jungen Genies, werden verächtlich beiseitegeschoben. Allerdings äußern Stürmer und Dränger wie F R I E D R I C H M A X I M I L I A N K L I N GER auch ihre Bedenken: Ich höre und lese, daß einige unsrer vorzüglichsten Schriftsteller der deutschen Sprache den Vorwurf machen, sie sei für ihren Geist und Genie ein zu hartes, schwer zu behandelndes und undankbares Werkzeug; sie möchten dieselbe gern mit einer andern vertauschen oder lieber in einer andern gedichtet und geschrieben haben. Ich gönne ihnen den Gewinn ihrer Äußerung. Wenn ich mich aber beklagen sollte, so würde ich nur darüber klagen, daß ich mehr in Tönen anderer Sprachen reden muß als in der vaterländischen. 113
Vieles an der Sprache der jungen Genies ist zeitbedingt und geht mit ihnen wieder unter. Im Verein mit den Großen ihrer Zeit gebührt ihnen aber das Verdienst, die deutsche Schriftsprache aus dem Prokrustesbett der aufkläreri-
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Moritz, K.Ph., Über die bisherigen Beschäftigungen der akademischen Deputation zur Kultur der vaterländischen Sprache, Deutsche Monatsschrift 12, 1792, 2 8 2 - 8 8 Klinger, F.M., Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur ( 1 8 0 3 - 1 8 0 5 ) , hg. v. R.V. Gottschall, Leipzig 1953, 148. Blackall, E.A., The Language of Sturm und Drang, In: Stil- und Formprobleme in der Literatur, hg. v. P. Böckmann, Heidelberg 1959, 2 7 2 - 2 8 3
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sehen Normen erlöst zu haben. Sie wirkten mit an der Schaffung einer frei beweglichen, ausdrucksstarken Literatursprache und damit an der Sprachkultur. Und auch Klassiker wie Goethe und Schiller haben die Phase der Geniezeit bewußt mitgestaltet. JOHANN W O L F G A N G VON G O E T H E (1749-1832), der gefeierte Nationaldichter jener Epoche, dessen spracherneuernde und sprachschöpferische Wirkung auf die Literatursprache ebenso hervorgehoben wird, wie der Vorbildcharakter und die normierende Wirkung seiner Werke als Musterdichtung, bleibt als Kind seiner Zeit von den verschiedenen sprachtheoretischen Strömungen nicht unbeeinflußt. Als einflußreicher Vertreter des Sturm und Drangs sieht seine Stellungnahme in der >Sprachdiskussion< anders aus als in den späteren Jahren, nach der Hinwendung zum Klassizismus. Wenngleich ihm selbst ausführliche sprachsystematische Abhandlungen fern liegen, lassen seine aphorismenartigen und über das Gesamtwerk verstreuten Aussagen sein ungebrochenes Interesse am Phänomen Sprache erkennen. Goethes Sprachauffassung ist vor allem durch ihren instrumentellen Charakter geprägt. Sprache steht den Menschen im Prozeß des ideellen Gedankenaustausches als Werkzeug zur Verfügung. Diese Auffassung impliziert eine Überordnung der geistigen Begriffe des menschlichen Denkens Uber das Phänomen der Sprache, dem nur Abbildcharakter zukommt. Gleichzeitig steht dahinter die Vorstellung, daß der Denkprozeß unabhängig von Sprache funktioniert. Der Sprachbenutzer besitzt also nach Goethe eine vollkommene Manipulationsgewalt über sein Werkzeug, wobei die Qualität des sprachlichen Produktes von der individuell verschieden ausgebildeten Fähigkeit des einzelnen abhängt. Voraussetzung für einen gelungenen Sprachgebrauch ist jedoch weniger die formale, >handwerkliche< Fähigkeit, sondern eine allgemeine geistige Integrität des Sprechers: Nicht die Sprache an und für sich ist richtig, tüchtig, zierlich, sondern der Geist ist es der sich darin verkörpert; und so kommt es nicht auf einen jeden an, ob er seinen Rechnungen, Reden oder Gedichten die wünschenswerthen Eigenschaften verleihen will: es ist die Frage, ob ihm die Natur hiezu die geistigen und sittlichen Eigenschaften verliehen hat. Die geistigen: das Vermögen der An- und Durchschauung; die sittlichen: daß er die bösen Dämonen ablehne, die ihn hindern könnten dem Wahren die Ehre zu geben. 1 1 4
Dieses Zitat aus dem Jahre 1829 betont einerseits die klassischen ästhetischsittlichen Prinzipien der An- und Durchschauung und der Wahrheit, andererseits ist von der Natur als ausschlaggebender Instanz die Rede, was als Renovation des jugendlichen Geniegedankens verstanden werden kann. Bei aller Zweckgebundenheit von Sprache und ihrer Unterordnung unter das Prinzip der Vernunft steht die Sprachskepsis im Vordergrund. Diese bezieht sich zunächst auf die Möglichkeit des Mißbrauchs von Sprache. Eine vom formalen
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Goethe, J.W., Über Naturwissenschaft im Allgemeinen, In: Werke, hg. i. A. d. Großherzogin Sophie v. Weimar, Weimar 1807ff„ Abt. II, Bd. 11, 138
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Gesichtspunkt her korrekte Sprachgestalt kann über die gedankliche Wertlosigkeit der Aussage hinwegtäuschen, womit Goethe die Gefahr der Verabsolutierung von Sprache als eigengesetzliches System, ohne Bezug zum ideellen Erkenntnisvermögen des Menschen nicht ausschließt: Der Sprache liegt zwar die Verstandes- und Vernunft-Fähigkeit des Menschen zu Grunde, aber sie setzt bei dem, der sich ihrer bedient nicht eben reinen Verstand, ausgebildete Vernunft, redlichen Willen voraus. Sie ist ein Werkzeug, zweckmäßig und willkürlich zu gebrauchen; man kann sie ebensogut zu einer spitzfindig-verwirrenden Dialektik wie zu einer verworren-verdüsternden Mystik verwenden; man mißbraucht sie bequem zu hohlen und nichtigen prosaischen und poetischen Phrasen, j a man versucht prosodisch untadelhafte und doch nonsensicalische Verse zu machen. 1 1 5
Goethes Sprachskepsis äußert sich in der Kritik an der Unzulänglichkeit von Sprache als Kommunikationsinstrument. Das Hauptproblem bildet dabei die mangelnde Identität von gedanklicher Begrifflichkeit und sprachlicher Realisation. Goethes sprachliche Interesse bewegt sich demzufolge vor allem im semantischen Bereich. Seine eigenen sprachlichen Bemühungen sind von dem Problembewußtsein geprägt, für alles Seiende einen adäquaten realitätsgerechten Ausdruck zu finden. Dabei stellt die Kluft zwischen der Sache und dem sprachlichen Zeichen zunächst eine unüberwindbare Schwierigkeit dar. Dies trifft besonders dann zu, wenn Goethe als Naturwissenschaftler spricht: Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerschein ausdrücke ... Jedoch wie schwer ist es, das Zeichen nicht an die Stelle der Sache zu setzen, das Wesen immer vor sich zu haben und es nicht durch das Wort zu tödten ,.. 116
Die Farbenlehre, mit der Goethe den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Newtons widersprach, stieß auf weltweite Ablehnung. Goethe führte diesen Mißerfolg allein auf sprachliche Schwierigkeiten zurück. Er kritisierte einerseits die überkommende wissenschaftliche Terminologie, die keine Entfaltung neuer geistiger Erkenntnisse zulasse, andererseits sieht er jedoch die Notwendigkeit einer exakt fixierten, überregional verständlichen Terminologie. Anders entwickelt sich Goethes Einstellung zum Symbolcharakter von Sprache in Bezug auf sein dichterisches Schaffen. Schon während der Zeit des Sturm und Drangs zeigt er sich von Herder beeinflußt, welcher die Polysemie als positives Phänomen beurteilt, das sich auf die Dichtersprache eher bereichernd als nachteilig auswirkt. Im Gesamtwerk Goethes läßt sich seine Arbeit mit synonymen Wortbedeutungen erkennen, womit das Ziel verfolgt wird, stilistisch unliebsame Wortwiederholungen zu vermeiden. Zu diesem Zweck weicht Goethe sogar
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Ebd. 97 Goethe, J.W., Farbenlehre, In: Werke, hg.i.A.d. Großherzogin Sophie v. Weimar, Weimar 1887ff„ Abt. II, Bd. 1, 302f.
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auf den Gebrauch von Fremdwörtern aus, was ihm Angriffe der sprachreinigenden Deutschen Gesellschaften einbringt. Goethe erkennt den Symbolcharakter und die daraus resultierende Vieldeutigkeit von Sprache als ambivalentes Phänomen und beurteilt es verschieden. Eine positive Wirkung spricht er der Symbolkraft zu, wenn sie dazu dient, die Komplexität des Gedankens und den Ideenreichtum zu verstärken. 117 Auf der anderen Seite betont er die negativen Auswirkungen von Sprache als >Surrogat< und verurteilt alle inhaltlosen Worthülsen, eine Gefahr, die er besonders im Journalismus ausgeprägt sieht. In diesem Zusammenhang vertritt Goethe die Auffassung, daß eine Sprache von einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung an erschöpft sei, >so daß nun jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann.< 118 Dem mäßigen Talent setzt Goethe das dichterische Genie entgegen, in dessen Aufgabenbereich die Erhaltung der Symbolkraft und Aussagefähigkeit der Sprache falle. Werturteile über die deutsche Sprache äußert Goethe meist im Vergleich mit anderen Sprachen. Die Kriterien hierfür bilden sich aus seinen Übersetzungstätigkeiten heraus und beziehen sich vorwiegend auf die Ausdruckskraft der Lexeme. In einem Brief an den Philologen Riemer, der Goethe zu sprachtheoretischen Überlegungen anregte, beleuchtet er das Problem vom Standpunkt eines neutralen Betrachters und bleibt völlig unparteiisch: Eine fremde Sprache ist hauptsächlich dann zu beneiden, wenn sie mit Einem Wort ausdrucken kann, was die andere umschreiben muß, und hierin steht jede Sprache im Vortheil und Nachtheil gegen die andere, wie man alsobald sehen kann, wenn man die gegenseitigen Wörterbücher durchläuft. 1 1 9
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, daß Goethe eine gegenseitige Bereicherung der verschiedenen Sprachen für wünschenswert hält, die er durch analoge Wortneubildungen unter Berücksichtigung etymologischer Tatbestände ermöglichen möchte. Weniger ausgewogen als diese Aussage aus dem Jahr 1813 ist Goethes Urteil über die deutsche Sprache im Jahrzehnt zwischen 1780 und 1790. In diesen Jahren kritisiert er seine Muttersprache vor allem unter dem Aspekt der mangelnden rhythmischen Qualität. Bei der Übertragung der ersten Iphigenie-Fassung in Versform, zu Beginn der italienischen Reise, orientiert er sich am griechischen Versmaß und stößt dabei auf technische Probleme bei der Silbeneinteilung. Anders als beim antiken Vorbild läßt sich in der deut117
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»Das geistreiche Zusammensein lebenslustiger Menschen zeichnet sich vor allem aus durch eine Sprach- und Gebärdensymbolik«, Goethe, J.W., Dichtung und Wahrheit, In: Werke, hg.i.A.d. Großherzogin Sophie v. Weimar, Weimar 1887ff., Abt. I, Bd. 29, 52 Goethe, Deutsche Sprache, In: Werke, hg.i.A.d. Großherzogin Sophie v. Weimar, Weimar 1887ff„ Abt. I, Bd. 41, 1, 16 Goethes Werke, hg.i.A.d. Großherzogin Sophie v. Weimar, Weimar 1887ff„ Abt. IV, Bd. 23, 375
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sehen Sprache die Silbenlänge und der Wortakzent nicht eindeutig festlegen. Um dieser Unsicherheit in der Metrik zu entgehen, hält sich Goethe an die Regeln, die Karl Philipp Moritz in seinem Werk >Versuch einer deutschen Prosodie< aufstellt, jedoch nicht ohne die >unmelodische< deutsche Sprache zu tadeln. Ebenfalls an rhythmischen Schwierigkeiten scheitert Goethes Absicht, eine Oper nach italienischem Muster, jedoch mit deutschem Text zu verfassen, was wiederum seinen Unwillen über die >barbarische< Muttersprache hervorruft. Später und besonders im Alter setzt Goethe jedoch andere Akzente; nun steht weniger die rhythmische als die begriffliche Qualität im Vordergrund. Bei der Beurteilung der deutschen Sprache betont er den geistesgeschichtlichen und kulturellen Einfluß der antiken Sprachen, die den deutschsprachigen Raum als Bildungs- und Gelehrtensprachen noch bis ins 17. Jahrhundert beherrschten. Die Offenheit und Aufnahmebereitschaft der deutschen Sprache anderen Sprachkulturen gegenüber bewertet Goethe, anders als die Sprachgesellschaften, als positive Eigenschaft und verspricht sich davon eine Erweiterung des Ideenkreises, die auch sprachlich faßbar wird. Außerdem lernt er die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der deutschen Sprache schätzen, die er darauf zurückführt, daß sie sich unter dem Einfluß der lateinischen Gelehrtensprache und der französischen Hofsprache entwickelte und dabei auch fremde Elemente in ihre eigene Systematik mit aufnahm. Diese Tatsache erweist sich besonders in der Übersetzungsproblematik als vorteilhaft: Die deutsche Sprache ist hiezu besonders geeignet; sie schließt sich an die Idiome sämtlich mit Leichtigkeit an, sie entsagt allem Eigensinn und fürchtet nicht, dass man ihr Ungewöhnliches, Unzulässiges verwerfe; sie weiß sich in Wort, Wortbildungen, Wortfügungen, Redewendungen und was alles zur Grammatik und Rhetorik gehören mag, so wohl zu finden, dass wenn man auch ihren Autoren bei selbsteigenen Productionen irgend eine seltsame Kühnheit vorwerfen möchte, man ihr doch vorgeben wird, sie dürfe sich bei Übersetzung dem Original in jedem Sinne nahe halten. Und es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Sprache dieses von sich rühmen darf ... 1 2 °
Diese und ähnliche Lobeshymnen auf die deutsche Sprache führen zu der Idee vom Deutschen als Weltliteratursprache. Die für die Übersetzung so hervorragend geeignete Sprache erübrigt die Übertragung der Originale der Weltliteratur in andere Fremdsprachen und bietet sich selbst als Vermittlungsorgan für andere Nationen an. Das Erlernen der deutschen Sprache würde demzufolge für die Orientierung auf dem literarischen Weltmarkt völlig ausreichen. Der Gedanke der Weltliteratursprache impliziert eine hohe Wertschätzung der deutschen Sprache und erweist Goethe mit seinem erwachenden nationalen Stolz als Kind seiner Zeit. In der Auseinandersetzung um den Fremdwortgebrauch nimmt Goethe keine Extremposition ein; seine Aussagen lassen im Gegenteil eine gewisse 120
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Ambivalenz spürbar werden. Dies rührt daher, daß seine Beteiligung an der Diskussion nicht von eigenem Interesse getrieben wird, sondern nur eine Reaktion auf Anregungen von außen darstellt. Eine eindeutige Stellungnahme gegen Fremdwortverdeutschung gibt Goethe ab, wenn er sich durch Angriffe auf seine eigenen Werke in seiner dichterischen Freiheit beschränkt sieht. Diese Angriffe erfolgen zum Beispiel von Seiten Heinrich Campes. In seinen >Beiträge(n) zur weiteren Ausbildung der deutschen Sprache< kritisiert dieser neben anderen literarischen Werken auch die >Iphigenie< unter grammatikalischem Gesichtspunkt. Als Reaktion darauf findet man unter den von Schiller und Goethe 1797 gemeinsam herausgegebenen zeitkritischen Xenien auch ein Distichon, das gegen Campe und seine Tätigkeit als Sprachreiniger gerichtet ist: Der Purist Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern; Nun sage doch, Freund, wie man Pedant uns verdeutscht? 121
Neun Jahre nach Schillers Tod bezeugt Goethe mit dem zahmen Xenion >Die Sprachreiniger< seine anhaltende Ablehnung gegenüber der radikalen Fremdwortverdeutschung um jeden Preis: Gott Dank! daß uns so wohl geschah, Der Tyrann sitzt auf Helena! doch ließ sich nur der eine bannen, Wir haben jetzo hundert Tyrannen. Die schmieden, uns gar unbequem, Ein neues Continentalsystem. Teutschland soll rein sich isolieren. Ein Pest-Cordon um die Gränze führen, Daß nicht ein schleich fort und fort Kopf, Körper und Schwanz vom fremden Wort. Wir sollen auf unseren Lorbeern ruhn, Nichts weiter denken als was wir thun. 122
Mit diesem Sinngedicht beschwört Goethe die Gefahr einer geistig-kulturellen Isolation, die er durch die Sprachreinigungsbestrebungen und die damit einhergehende >teutschtümelnde< Gesinnung für gegeben hält.
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Ebd. Abt. I, Bd. 5, 1, 227. - Campe antwortet darauf schlagfertig: »Gib, auf meine Gefahr, ihm deinen eigenen Namen, Trifft er nicht jegliche Art, eine trifft er gewiß« Und: »Spöttisch nennt ihr Puristen die, welche sorglich euch bürsten. Wißt ihr Herren denn auch, wie euch der Bürstende nennt? Weil ihr menget die Sprachen, besudelt das Deutsche durch Fremdes, Nennt er - zwar altdeutsch, doch rein - nennt er Alfanzer euch.« zit. Jöris, Goethes Stellung zum Fremdwort und Sprachreinigung, Preußische Jahrbücher 145, 1911, Bd. 3, 429 Ebd. 143. - Jöris, M., Goethes Stellung zu Fremdwort und Sprachreinigung, Preußische Jahrbücher 145, 1911, 4 2 2 ^ 6 7
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In anderen X e n i e n spricht sich Goethe j e d o c h auch gegen den G e b r a u c h von Fremdwörtern aus und zwar vor allem dann, wenn es sich um phrasenhafte und hohle Worthülsen handelt. E r kritisiert zum B e i s p i e l die Nachahmung des höfischen Französisch im S i n n e eines gezierten Modestils oder die latinisierende Gelehrtensprache, die nur der Manifestation eines Statussymbols dient: Pfarrer Cyllenius Still doch von deinen Pastoren und ihrem Zofenfranzösisch, Auch von den Zofen nichts mehr mit dem Pastorenlatein. 1 2 3
D a ß er dem befreundeten Philologen R i e m e r die Korrekturvollmacht
über
seine im D r u c k erscheinenden Werke übergibt und damit auch die Erlaubnis zur Fremdwortverdeutschung, ist ein weiteres Indiz dafür, daß G o e t h e nicht einseitig in die Reihen der >Puristengegner< eingeordnet werden kann. S o begegnet er zum B e i s p i e l in einem privaten B r i e f dem nationalistisch motivierten S p r a c h f o r s c h e r und -reiniger Johann G o t t l i e b R a d l o f ausgesprochen höflich und bestätigt ihm seine verdienstvollen B e m ü h u n g e n um die deutsche Sprache. D i e verschiedenen Stellungnahmen führen dazu, daß Goethe als Vertreter für und gegen die Sprachreinigung in Anspruch genommen wurde. W i e j e doch eine Untersuchung der Fremdworthäufigkeit in seinem eigenen Werk verdeutlicht, ist Goethes Einstellung dem Fremdwort gegenüber weitaus differenzierter. W ä h r e n d sich in den beiden >IphigenieWilhelm
Meisters
Lehrjahren< und in der i t a l i e n i s c h e n Reise< gehäuft auf. D i e Fremdwortüberarbeitung in den verschiedenen Fassungen des >Götz< lassen sich nicht eindeutig unter die Motivation der Fremdwortreduktion stellen, da sich neben einigen Verdeutschungen auch umgekehrte F ä l l e beobachten lassen. Ob G o e thes Einstellung gegenüber dem Fremdwort rein stilistisch bedingt ist, wie Arthur H ü b n e r 1 2 4 vermutet, und eine Differenzierung zwischen dramatischer Dichtung und Prosa vorgenommen werden kann, bleibt fraglich. S o
zeigt
zum B e i s p i e l das autobiographische Prosawerk >Dichtung und Wahrheit< die Tendenz zu vermindertem Fremdwortgebrauch. E i n e relativ eindeutige Stellungnahme veröffentlicht Goethe 1 8 1 7 in der Z e i t s c h r i f t >Kunst und Altertum< unter dem Titel >Deutsche S p r a c h e n Indem er sich der Argumentation des j u n g e n Philologen Karl Ruckstuhl anschließt, lehnt e r die radikalen puristischen B e s t r e b u n g e n seiner Zeit ab. G o e t h e betont besonders das Argument, daß manche Fremdwörter ohne den Verlust an Aussagekraft nicht durch ein adäquates deutsches Wort zu ersetzen seien und beharrt auf der Freiheit des Dichters gegenüber den Sprachgelehrten:
123 124
Ebd. 208 Hübner, Α., Goethe und die deutsche Sprache, Langensalza 1936, 6
Liierarisch
orientierte
Sprachkultur
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Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe; Reinigung ohne Bereicherung erweist sich öfters geistlos: denn es ist nichts bequemer, als von dem Inhalt absehen und auf den Ausdruck passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er besteht, der geistlose hat gut rein sprechen, da er nichts zu sagen hat. Wie soll er fühlen, welches kümmerliche Surrogat er an der Stelle eines bedeutenden Wortes gelten läßt, da ihm jenes Wort nie lebendig war, weil er nichts dabei dachte. Es gibt gar viele Arten von Reinigung und Bereicherung, die eigentlich alle zusammengreifen müssen, wenn die Sprache lebendig wachsen soll. Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen, aus denen dieses Leben hervordringt ... 125
Fragt man nach Goethes Relevanz im geschichtlichen Prozeß der Sprachkultur-Bestrebungen, müssen sowohl seine Stellung zu Lebzeiten, als auch seine Bedeutung für die Nachwelt beleuchtet werden. Wichtig für beide Aspekte ist nicht nur die Analyse seines Werkes, sondern auch die Herausarbeitung seiner sprachtheoretischen Auffassung. Aussagen in diese Richtung werden bei Goethe meist erst durch die Auseinandersetzung mit Zeitgenossen angeregt; sie stellen nur eine Reaktion auf aktuelle Debatten dar. Auch Goethe beteiligt sich an den zeittypischen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Dichtern und Sprachgelehrten, die um ihren Einfluß auf die deutsche Sprache ringen. Goethes Sympathie gehört dabei zweifellos dem produktiven Dichter. Obgleich seine stürmerische Auffassung von der intuitiven Schöpferkraft des Genies in späteren Jahren relativiert wird, beobachtet man bei ihm doch eine anhaltende Mißbilligung aller rein äußeren Gesetzmäßigkeiten, formbildender, grammatikalischer oder stilistischer Art und eine Betonung der inhaltlichen Aspekte. Bei seinen eigenen sprachlichen Bemühungen kommt es ihm vor allem auf eine lebendige, aussagekräftige und wirklichkeitsgerechte Wiedergabe der geistigen, noch unbegrifflichen Vorstellungen und Erkenntnisse an. Die Anforderung, die er als Dichter an die Sprache stellt, ist, das Seiende wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Wo er sich in dieser Intention durch die sprachreinigenden Bestrebungen gehindert sieht, setzt er sich entschieden zur Wehr. Er nimmt jedoch nicht so eindeutig negativ Partei gegen die Sprachgesellschaften wie zum Beispiel Klopstock, Wieland, Herder, Lessing und Schiller. Für F R I E D R I C H V O N S C H I L L E R ist Sprache Instrument der Erkenntnis und dient dazu, die eigenen Gedanken anderen mitzuteilen, um diese zur Erkenntnis zu führen, bzw. Gedanken anderer kennenzulernen, um die eigne Erkennt-
125
Goethe, Deutsche Sprache, In: Goethes Werke, hg.i.A.d. Großherzogin Sophie v. Weimar, Weimar 1887ff„ Abt. I, Bd. 41, 1, 116f. - RUCKSTUHL hatte 1816 einen Aufsatz veröffentlicht >Von der Ausbildung der deutschen Sprache in Beziehung auf dafür neue angestellte Bemühungen< (Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte 8, 1816, 337-386), in dem er Fremdwörter verteidigt, wenn sie nicht genau übersetzt werden können bzw. kein deutsches Wort für sie vorhanden ist, fremdartige Begriffe verteidigt, wenn sie von >großen Männern< erfunden wurden, z.B. >Humanität< durch Herder, fremde Begriffe als anregend bezeichnet und Dichtern alle sprachliche Freiheit einräumt.
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18.
Jahrhundert
nis zu erweitern. Sprache ist Spiegel des Denkens. Wörter sind Zeichen für gedankliche Inhalte und Sätze Bezeichnungen für Verbindungen gedanklicher Inhalte. Die Gesetze des Denkens sind durch die Logik definiert, Gesetze der Sprachverwendung durch die Grammatik. Logik und Grammatik sind also analog und müssen idealiter zusammenfallen. Für das Verständnis Schillers ist festzuhalten, daß Sprachprobleme bei dieser Grundauffassung immer auch philosophische Erkenntnisprobleme sind; es geht bei der Umsetzung von Gedanken und Empfindungen in Sprache nicht um mehr oder weniger treffende Kodierung von etwas Gemeintem, sondern um Vermittlung von Wahrheit im Sinne von wahrem Sein der Sprachinhalte. Sprachverwendung ist für Schiller ein grundsätzlich ethisches Problem. Er spricht von >Beschreibung< und >Darstellung< (Ausdruck), von >Zeichen< und >BezeichnetemKonvenienz< der Sprache u.a. Schillers Sprachauffassung war ontologisch, während wir gewöhnt sind, Sprache phänomenologisch zu betrachten, d.h. die erkenntnistheoretische Frage auszuklammern und uns auf die inneren (z.B. psychologischen) und äußeren (z.B. situativen, gesellschaftlichen, historischen, semantischen, lexikalischen etc.) Gegebenheiten der Sprache und ihr Funktionieren zu beschränken. Schillers Sprach- bzw. Stilideal entspricht seinem Bildungsideal der harmonisch ausgebildeten Individualität: Sprache ist Medium der Synthese, in der Subjektivität und Objektivität in Natur und Geschichte, Vernunft und Sinnlichkeit ausgewogen und organisch vermittelt sind. Was für die Einzelpersönlichkeit gilt, überträgt Schiller in den >Ästhetischen Briefen< auf die Menschheit: auch sie muß von der einseitigen Verstandesaufklärung zu gleichgewichtiger Ausbildung des Empfindungsvermögens fortschreiten. Man kann Schillers Bestrebungen auch als Versuch einer Synthese der in seiner Epoche diskutierten Auffassungen von Sprache interpretieren. In einem Brief an den Herzog von Augustenburg vom 5. April 1795 126 beklagt er, daß die deutsche Gelehrtensprache >der Leichtigkeit, Humanität und Lebendigkeit nicht fähig ist, die der Weltmann mit Recht verlangt^ während die >Sprache der schönen Welt und des Umgangs< der >scharfen, oft spitzfindigen Bestimmtheit des Philosophen ermangle. Sprachliche Mitteilung bedeutet Verlust an Realität. Schiller bezweifelt die Möglichkeit, individuelle Vorstellungs- und Empfindungsweisen< - Gedanken, Seele, Herz - , das Besondere und Einmalige von Phänomenen überhaupt adäquat in Sprache mitzuteilen. Schuld ist die eigentümliche Natur dieses Mediums, die es von anderen >Stoffenfreie Selbsthandlung der Natur in den Fesseln der SpracheÜber naive und sentimentalische Dichtung< (1795 entstanden) unterscheidet er deutlicher die >wirkliche Natur< von der >wahren Natur< und schreibt die Nachahmung der Wirklichkeit nur dem naiven Dichter zu. 128 In einem Brief an Goethe vom 24. August 1798 definiert er >poetische Person e n s d.h. seine Dramengestalten, als symbolische Wesenimmer das Allgemeine der Menschheit darzustellen und auszusprechen habenauch die Probe der Wahrheit muß in der Form mitenthalten seinpopuläre Erkenntnis< und »populären Unterricht< durch »Volksredner oder Volksschriftsteller (eine Benennung, unter der ich jeden befasse, der nicht ausschließlich an den Gelehrten sich wendet)< - man kann dafür heute den Begriff »seriöse Publizistik setzen - , ist die (äußere) »Form der Schönheit, die, unabhängig von allem Inhalt, sich schon durch sich selbst empfiehltschöne Schreibart besitzt S i n n l i c h k e i t im Ausdruck und Freiheit in der Bewegungglücklichen Verhältnis zwischen äußerer Freiheit und innerer Notwendigk e i t ist die >Zauberkraft der schönen Diktion< enthalten; sie vereinigt das Interesse des Verstandes an stringenter Gedankenführung und das Interesse der Einbildungskraft an sinnlicher Anschaulichkeit und phantasiegesteuerter Verknüpfung der Vorstellungen in vollkommener Weise. Weil sich nun die Phantasie an den Inhalt, der Verstand hingegen an jenen höhern Begriff hält, so macht die erstere eben da einen Sprung, wo der letztere die vollkommenste Stetigkeit wahrnimmt. Die Begriffe entwickeln sich nach dem Gesetz der Notwendigkeit, aber nach dem Gesetz der Freiheit gehen sie an der Einbildungskraft vorüber; der Gedanke bleibt derselbe, nur wechselt das Medium, das ihn darstellt. So erschafft sich der beredte Schriftsteller aus der Anarchie selbst die herrlichste Ordnung und errichtet auf einem immer wechselnden Grunde, auf dem Strome der Imagination, der immer fortfließt, ein festes Gebäude. Die zitierte Passage - sie faßt eine Kette antithetisch angelegter, das Phänomen umkreisender Erläuterungen zusammen - ist mit den prägnanten Gegensatzpaaren und dem paradoxen Schlußbild eine Illustration zu der Stilvorstellung, die Schiller entwickelt. Die Anwendung der drei Schreibarten ergibt sich aus den Voraussetzungen und Bedürfnissen der j e w e i l i g e n Zielgruppe. Die wissenschaftliche Darstellung ist dem Lehrbetrieb zuzuordnen, wenn es darum geht, in einem kontinuierlichen Lernprozess präzise Kenntnisse zu
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Ebd. 671 Ebd. 674
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Jahrhundert
erwerben. (>Nichts aber ist unser, als was dem Verstand übergeben wirdUnd doch ist schon die bloße Übung des Verstandes ein Hauptmoment bei dem Jugendunterricht, und an dem Denken selbst liegt in den meisten Fällen mehr als an dem GedachtenMan verschlingt eine solche Schrift, eine solche Unterhaltung mit Anteil, aber wird man um Resultate befragt, so ist man kaum imstande, davon Rechenschaft zu geben ... das Gemüt verhielt sich während der Lektüre viel mehr leidend als tätig, und der Geist besitzt nichts, als was er tutals reine Einheit zu dem harmonierenden Ganzen des Menschen, als Natur zur Natur< sprechen kann, muß >eine g e w i s s e Integrität und Ausbildung< der Persönlichkeit durch eigene Tätigkeit vorhanden sein. Wie sie zu erreichen ist, legt Schiller in der folgenden Passage dar, die man eine kurzgefaßte Didaktik der Spracherziehung durch aktives Sprachhandeln nennen kann: ein Konzept zur Entwicklung zumindest eines Teilbereichs der Sprachkultur, das ausführlich zitiert werden soll: Wenn es für die Gründlichkeit der Erkenntnis nachteilig befunden wurde, bei dem eigentlichen Lernen den Forderungen des Geschmacks Raum zu geben, so wird dadurch keineswegs behauptet, daß die Bildung dieses Vermögens bei dem Studierenden zu frühzeitig sei. Ganz im Gegenteil soll man ihn aufmuntern und veranlassen, Kenntnisse, die er sich auf dem Wege der Schule zu eigen machte, auf dem Wege der lebendigen Darstellung mitzuteilen. Sobald das erstere nur beobachtet worden ist, kann das zweite keine andere als nützliche Folgen haben. Gewiß muß man einer Wahrheit schon in hohem Grad mächtig sein, um ohne Gefahr die Form verlassen zu können, in der sie gefunden wurde; man muß einen großen Verstand besitzen, um selbst in dem freien Spiele der Imagination sein Objekt nicht zu verlieren. Wer mir seine Kenntnisse in schulgerechter Form überliefert, der überzeugt mich zwar, daß er sie richtig faßte und zu behaupten weiß; wer aber zugleich imstande ist, sie in einer schönen Form mitzuteilen, der beweist nicht nur, daß er dazu gemacht ist, sie zu erweitern, er beweist auch, daß er sie in seine Natur aufgenommen und seinen Handlungen darzustellen fähig ist. Es gibt für die Resultate des Denkens keinen andern Weg zu dem Willen und in das Leben, als durch die selbsttätige Bildungskraft. Nichts, als was in uns selbst schon lebendige Tat ist, kann es außer uns werden, und es ist mit Schöpfungen des Geistes wie mit organischen Bildungen; nur aus der Blüte geht die Frucht vor. Wenn man überlegt, wie viele Wahrheiten als innere Anschauungen längst schon lebendig wirkten, ehe die Philosophie sie demonstrierte, und wie kraftlos öfters die demonstriertesten Wahrheiten für das Gefühl und den Willen bleiben, so erkennt man, wie wichtig es für das praktische Leben ist, diesen Wink der Natur zu befolgen und die Erkenntnisse der Wissenschaft wieder in lebendige Anschauung umzuwandeln. 133 In dem Plan zum Gedicht >Deutsche Größe von 1797< ergeht sich Schiller hymnisch und national:
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Ebd. 674-682
Literarisch orientierte
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Sprachkultur
Das köstliche Gut der deutschen Sprache, die alles ausdrückt, das Tiefste und das Flüchtigste, den Geist, die Seele, die voller Sinn ist. Unsere Sprache wird die Welt beherrschen. Die Sprache ist der Spiegel einer Nation, wenn wir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treffliches Bild von uns selbst daraus entgegen. Wir lernen das jugendlich Griechische und das modern Ideelle ausdrücken. 134 »Die Sprache der Klassiker ist auf Deutlichkeit, Genauigkeit, Bestimmtheit ausgerichtet. Ihr kommt es darauf an, die Außen- und Innenwelt zunächst denkend und fühlend zu erfassen, hinter dem Individuellen, Einmaligen das Bleibende und Gültige zu erkennen und solche in geistigen Prozessen g e w o n nenen Erkenntnisse durch Sprache gestaltend darzustellen«. 1 3 5 1792
äußert sich
A D O L P H FREIHERR K N I G G E
so über die deutsche Sprache:
Unsere teutsche Sprache ist in der That noch nicht genug auf feste, allgemein angenommene Regeln gegründet. Diejenigen, welche Grammatiken schreiben, mischen eigenmächtig zu viel willkuhrliche Bestimmungen hinein, die dann von Andern wieder nach Gutdunken befolgt oder verworfen werden. Jeder glaubt sich berechtigt, die Sprache auf seine eigne Weise zu behandeln, sie durch neu geschaffne, oder aus alten teutschen Schriftstellern entlehnte, wieder hervorgesuchte Worter zu bereichern ... Der Sprachgebrauch und die Authoritat berühmter Schriftsteller sind mehrentheils unsre Leiter; Da beyde aber großen Wandelbarkeiten und Verschiedenheiten ausgesetzt sind, und der Eine diesem, der Andre jenem Vorganger folgt; so herrscht in Teutschland gar keine EinfSrmigkeit in Grammatik und Orthographie ... Liesse sich der mögliche Fall denken, daß Gelehrte mit einander über etwas Streitiges einig werden konnten; so sollte man wünschen, daß die vorzuglichsten teutschen Schriftsteller über solche Falle feste Verabredungen nehmen und endlich eine gleichförmige Schreibart einfuhren mogten. Jene Willkuhr verleitet Manchen, um etwas Neues an den Tag zu bringen, sich ganz sonderbare Umschaffungen mit der teutschen Sprache zu erlauben; und ein Solcher findet dann leider fast immer Nachahmer ... Man hat sehr Unrecht, wenn man über die Rauheit unsrer Sprache klagt. Versteht ein Schriftsteller, besonders ein Dichter die Kunst, solche Worter zu wählen, deren Klang dem Ausdrucke der Empfindung angemessen ist; verdrangen neuerungssuchtige Leute nicht solche Buchstaben, welche größere Mannigfaltigkeit in die Aussprache bringen; hat dann endlich Der, welcher liest, biegsame Organe, um den Unterschied unter dem vollklingenden y und scharfern i, unter einer, durch ein h aspirirten Sylbe und einer andern bemerklich zu machen u.s.f.; so fehlt es unsrer Sprache keineswegs an Harmonie ..., Es giebt vielleicht keine europaische Sprache, die so malerisch ware, wie die teutsche; ich verstehe darunter, daß die Wärter schon durch ihren Klang das fühlbar machen, was sie ausdrucken sollen. Man nehme zum Beyspiele nur folgende Worter: krachen, rieseln, helle ritzen, Donner, Lamm, stumpf, klingen, rauschen, milde, wallen, sprudeln, rollen, hohl, ode, trennen, hupfen, lechzen u.s.f. - Welch' ein Vortheil fur
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Schiller, F., Sämtliche Werke, München 1960, Bd. 1, 474f. Eggers, H. (1963-77), IV, 118. - Dazu die zeitgenössische Meinung von K.H.L. PÖLITZ in seinem Praktischen Handbuch zur statarischen und kursorischen Leetüre der teutschen Klassiker, 1804Universal-Sprache< aller Gelehrten in Europa behält Latein seinen privilegierten Platz. Allerdings wenden sich einige von ihnen gegen das Vorurteil, Lateinkenntnis an sich verbürge bereits den Besitz von Gelehrsamkeit. 1 3 8 1 7 1 8 bekräftigt G O T T L I E B S T O L L E unter Bezug auf Weise und Thomasius, daß das Deutsche für alle Disziplinen der Wissenschaft geeignet sei. 1 3 9 J O H A N N J U S T U S F A H S I U S schließt sich an. D a heutzutage >die meisten öffentlichen Affaires und handlungen in Teutschland< nicht mehr Lateinisch verhandelt werden, müssen sowohl Theologen als auch Politiker die deutsche Sprache beherrschen und einen >saubern und zierlichen teutschen Stylum< schreiben können. 1 4 0
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Knigge, A.v., Ueber Schriftsteller und Schriftstellerey, Hannover 1792, 163-182 Dazu der Freiherr VON K N I G G E : »Nichts kann abgeschmackter seyn, als wenn man jene Sitten [der großen Welt] halb und unvollständig copiert, wenn der ehrliche Landmann, der schlichte Bürger, der grade, teutsche Biedermann den französischen petit Maitre, den Hofmann, den Politiker spielen will, wenn Leute, die einer ausländischen Sprache nicht mächtig sind, alle Gelegenheit aufsuchen, mit fremden Zungen zu reden, oder wenn sie auch in ihrer Jugend an Höfen gelebt haben, nicht merken, daß die galante Sprache aus Ludwig des Vierzehnten Zeiten jetzt gar nicht mehr im Umlaufe ist, und eine Stutzer-Garderobe aus dem vorigen Jahrhundert im Jahre 1788 nur auf dem comischen Theater Würkung thut.«, Über den Umgang mit Menschen, Hannover 1788, 47f. Z.B. Walch, J.G., Entwurff der allgemeinen Gelehrsamkeit und Klugheit zu studiren, Leipzig 1718, 68f. Stolle, G., Anleitung zur Historie der Gelahrheit, Jena 1718, 114f. Fahsius, J.J., Atrium Eruditionis, 3 Tie., Goslar 1718-21, 292f. - Hierzu kritisch F R I E D R I C H M A X I M I L I A N K L I N G E R : »Die Politik, die es doch wahrhaftig mit klaren Dingen und bloß mit Dingen von dieser Welt zu thun hat, ist gleichwohl eben so voll leerer Worte, als die Metaphysik. Man nehme nur Völkerrecht, Staatengewicht
Fachlich orientierte
Sprachkultur
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H E R M A N N W A H N beruft sich in seiner >Teutschen Grammatica Oder Ordentlichen Grund-Legung der Teutschen Sprach-Lehre< ( 1 7 2 3 ) auf Schottel und Bödiker und tritt für die Deutschsprachigkeit der Wissenschaft ein. D i e Ausländer wären dann gezwungen, deutsch zu lernen, und dieses stünde den anderen zum Ruhm der Nation nicht nach.
Größten Einfluß auf die Durchsetzung des Deutschen hatte der Philosoph W O L F F , der seit 1 7 0 7 in Halle Vorlesungen in deutscher Sprache hielt und einen deutschsprachigen Zyklus mathematisch-naturwissenschaftlicher Lehrbücher und philosophischer Werke verfaßte. Wolff wollte für ein möglichst breites Publikum verständlich sein und meinte, daß >unsere Sprache zu Wissenschaften sich viel besser schickt als die Lateinische^ 1 4 1 Er führte deshalb neue deutsche Kunstwörter ein, die er nach vorhandenen Sprachmustern bildete. Außerdem versuchte er die Bedeutung der deutschen Kunstwörter auf Wortbedeutungen der Allgemeinsprache zu stützen: CHRISTIAN
daß ich die deutschen Wörter in ihrer ordentlichen Bedeutung nähme und darinnen den Grund der Benennung zu dem Kunstworte suchte. Denn auf solche Weise ist mein Kunst-Wort rein deutsch, weil ich deutsche Wörter in ihrer eigentlichen Bedeutung brauche und indem ich sie zu einem Kunst-Worte mache, auf Sachen ziehe, darinnen etwas anzutreffen so durch das Wort in seinem eigentlichen Verstände genommen und angedeutet wird ... Ferner ist zu merken, daß ich ... die deutschen Kunst-Wörter nicht aus dem Lateinischen übersetzt habe, sondern sie vielmehr so eingerichtet, wie ich es der deutschen Mund-Art gemäß gefunden, und wie ich würde verfahren haben, wenn auch gar kein lateinisches Kunst-Wort mir wäre bekannt gewesen. 142 Enge Anlehnung an das Lateinische bringt die Gefahr, lächerlich zu wirken wie etwa der Ersatz von Ontologie durch Dinger-Lehre, wofür Wolff GrundWissenschaft vorschlägt. Da ein Teil der neugeschaffenen Termini den deutschen Lesern Schwierigkeiten bereitete und diese mit Protest reagierten, fügte Wolff seinen Werken Register an, die die lateinischen Entsprechungen enthielten: Aufgabe: problema; Ausnahme: exceptio; Begriff: notio; Eigenschaft: attributum; Grund-Satz: axioma usw. 1 4 3
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etc.« Und »Unsre Philosophen schreiben mehr für den Katheder und für die Profession, gehen in ihrem System α priori ganz geharnischt einher, und ihre Sprache ist entweder so barbarisch scholastisch, oder so zugespitzt, daß der klügste Weltmann wie ein Dummkopf davor sitzt, und da er dieses doch nicht von sich denken kann noch mag, so müssen wir's ihm verzeihen, wenn er lieber den schwerfälligen Philosophen so betitelt.« In: Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Litteratur (1803-1805) Frankfurt/M. 1967, 23 Zit. Ricken, U., Leibniz, Wolff und einige sprachtheoretische Entwicklungen in der deutschen Aufklärung, Berlin 1989, 24 Wolff, Ch., Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, die er in deutscher Sprache herausgegeben, Frankfurt 1733, 31 u. 34f. Anhängern Wolffs, die in ihren Texten deutsche Kunst-Wörter durch eingeklammerte lateinische Termini erklären wollten, wirft C.G. LUDOVICI vor, den noch stammelnden Deutschen ihre eigene Muttersprache beibringen zu wollen, Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie, Leipzig 1737, 232
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18. J O H A N N H E I N R I C H G O T T L O B VON JUSTI
Jahrhundert
lobt die deutsche Sprache w e g e n ih-
rer Vollkommenheit, vornehmlich aber den großen Reichthum an Worten, und die Eigenschaft, durch neue Zusammensetzungen diesen Reichthum bestandig zu vermehren. Hierin ist sie der griechischen Sprache vollkommen gleich; ja sie ubertrifft sie sogar in mehreren Arten der Zusammensetzungen, und keine andre europaische Sprache ist ihr hierinnen gleich zu schätzen. Daher können wir auch alle Kunstworter der Künste und Wissenschaften auf eine vollkommene reine und verstindige Art in unsrer Sprache ausdrucken; dahingegen fast alle unsre Nachbarn solche aus dem Griechischen und Lateinischen entlehnen müssen. 144 Seit 1732 propagieren die von Gottsched und May herausgegebenen >Beyträge zur kritischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und B e r e d s a m k e i t die Durchsetzung des Deutschen als Sprache der Wissenschaft. C H R I S T O P H LICHTENBERG versteht unter Sprachkultur die Übung eines >individuellen< Stils >mit Sinn und Verstand^ nach Maßgabe des >MenschensinnsGemeinsinns< und der >VerständlichkeitWeisheit< der eigenen Sprache erkundet und indem man sich für das >NatürlicheVerständliche< entscheidet. Wer sich um Sprachkultur bemüht, muß sich auf den Reichtum der Muttersprache einlassen. 1 4 5 GEORG
1742
äußert sich der Göttinger Professor
JOHANN MATTHIAS
GESNER:
Die deutsche Sprache macht schnelle Fortschritte und in kurzem herrschte sie vor. Gegenwärtig vermögen selbst königliche Befehle nichts mehr gegen die Gewohnheit, in deutscher Sprache zu lehren. Es gibt nur eines was in deutscher Sprache noch sachgemäß vorgetragen werden kann: das sind jene öden Tüfteleien der Scholastiker, und dies gibt uns so wenig Grund, die deutsche Sprache im Munde angesehener Lehrer zu tadeln, daß es und dieselbe gerade um so teuerer und willkommener machen muß. 146 N I C O L A I richtet sein Urteil über die Wirkung des Sprechens und Schreibens aus an einer Genauigkeit, die bis in die Nuancen zu stimmen habe, an der Deutlichkeit und Allgemeinverständlichkeit. In den >Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland< ( 1 7 5 5 ) meint er, daß Aufklärung nur mit Hilfe dieser Postulate ins Werk zu setzen sei: FRIEDRICH
Die Worte sind Zeichen der Gedanken ... Eine der vornehmsten Eigenschaften einer Sprache, ist die Deutlichkeit; um diese zu erlangen, muß man reden wie andere Menschen. Man muß sich also den Gesetzen der Sprachkunst unterwerfen. 147 144
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Justi, J.H.G.v., Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart und allen in den Geschafften und Rechtssachen vorfallenden schriftlichen Ausarbeitungen, Leipzig 1755, 3f. Gockel, H., Individualisiertes Sprechen. Lichtenbergs Bemerkungen im Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Sprachkritik, Berlin-New York 1973; Jung, R., Studien zur Sprachauffassung Georg Christoph Lichtenbergs, Diss (masch.) Frankfurt a.M. 1968 Gesner, J.M., Institutiones rei scholasticae, Jena 1715 Nicolai, F., Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, hg. v. G. Ellinger, Berlin 1894, 110
Fachlich orientierte
Sprachkultur
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Es geht ihm um eine Erweiterung des Kommunikationsradius für die Menschen seiner Zeit. Das impliziert die Forderung nach weitgehendem Verzicht auf individuelle Spracheigentümlichkeiten zugunsten einer Zugänglichkeit zur Sprache und damit zur Öffentlichkeit. Weiter steuert es den Ausbau der deutschen Sprache als einer >ConversationsspracheKatholisch-Deutsch< gereinigt, das Lateinische und Französische zurückgedrängt werden. 1 5 0 N i c o lai hielt bis 1795 an seinen Prinzipien fest. Er übersah, daß die neuen philosophischen und literarischen Strömungen mit Hilfe der Sprache bereits andere Gehalte darstellten und vertraten. In den >Briefe, die Neueste Literatur betreffende die von 1759 bis 1765 bei Nicolai in Berlin erschienen, äußerten sich Thomas Abbt, Grillo, Kesing, Nicolai und auch M O S E S M E N D E L S S O H N zu Fragen der Sprachkultur. Mendelssohn rühmt die deutsche Sprache, während die übrigen eher tadeln: Zur Weltweisheit scheint die Deutsche Sprache mehr als irgend eine vor den lebendigen Sprachen ausgebildet zu sein. Sie ist bestimmt und reich genug, die feinsten Gedanken des Metaphysikers in ihrer nackten Schönheit vorzutragen, und von der andern Seite nachdrücklich und bildreich genug, die abgezogensten Lehren durch
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Nicolai, F., Leben Justus Mosers, In: Justus Mosers sämtliche Werke, hg. v. B.R. Abeken, Berlin 1843, Bd. 10, 63 Nicolai, F., Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, Berlin-Stettin 1783-96, Bd. 4, 889f Schach, Α., Nicolais Bemühungen um die deutsche Sprache, Darmstadt 1913. Feldmann, W., Die Mitarbeiter der »Allgemeinen Deutschen Bibliothek« als Sprachrichter und Sprachreiniger, Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, Wiss. Beihefte R. 4, 1902-1908, 120-128
180
18.
Jahrhundert
den Schmuck der Dichtkunst zu beleben. Jenes hat sie Wolfen, dieses Hallern zu verdanken. Zwey solche Schriftsteller sind genug einer Sprache von einer gewissen Seite die gehörigen Ausbildung zu geben. Die Nation hat ihnen auch so zu sagen, das Münzrecht zugestanden; denn die mit ihrem Stempel bezeichnete Ausdrücke, sind in dem Gebiete der Weltweisheit numehr gänge und gebe worden. 151 Für M. Lindemayr ist die Sprache der Prediger anstößig: Was fragt Jesus Christus darnach, ob die Gedanken fein, die Ausdrücke gottschedisch, die Mundart sächsisch, die Einrichtung französisch sey? ... Alles, was ich hiermit ... tadle, ist das Unverständliche in den concepten, das Pedantische in der Einrichtung, das Schwülstige und Hochtrabende in den Beweisen, das Affectirte oder Gezwungene in der Aussprache. Niemand missbilliget es; ja es scheint, im Gegentheile, vielmehr rathsam zu seyn, daß man im Schreiben derjenigen Mundart nachahme, welche in Deutschlande unstreitig die beste ist, nämlich die sächsische. Welche Vernunft aber will es gestatten, daß man vor dummen Leuten auch also reden wie man schreibt? 152 Der österreichische Historiker F R I E D R I C H W I L H E L M G E R L A C H >Deutsche Sprachlehre< und begründet sein Unterfangen so:
schreibt
eine
Die Liebe zu den Wissenschaften und dem Vaterlande hat mich bewogen, gegenwärtige deutsche Sprachlehre zu verfassen. Was die Muttersprachen für eine Macht haben, die Wissenschaften und der Völker Ehre und Nutzen zu befördern, das kann in einer Vorrede nicht beschrieben werden. Wenn wir nur die alten Griechen und Römer, die heutigen Wälschen und Franzosen, und andere Völkerschaften betrachten; können wir dieses schon erkennen. Wo nämlich die Muttersprache geachtet ist, da sind auch die Wissenschaften geachtet; und wo die Muttersprache verachtet ist, da sind auch die Wissenschaften verachtet. Dort blühen sie; hier sind sie tot; dort ist Ehre und Nutzen; hier Schande und Schaden. 153 Und C H R I S T I A N G O T T L O B ben der Zeitschriften:
KLEMM
verweist auf die sprachkultivierenden Aufga-
Die Reinigkeit der Sprache liegt uns besonders am Herzen, und von dieser Seite hat man uns allemal noch mit Recht Vorwürfe gemacht. In den höheren Wissenschaften können wir uns allen Ausländern entgegen setzen. Haben wir nicht große Gottesgelehrte, große Staatsmänner, große Rechtsgelehrte? ... Nur das Feld des Witzes, und der Sprache blieb unangebauet. Aber warum sollten wir in Österreich nicht ebenso gut deutsch schreiben können, als die Sachsen? Wir werden uns also darinnen nicht das geringste vergeben, sondern allemal eine harmonische Prose zu reden suchen. 154
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Briefe, die Neueste Litteratur betreffend, Bd. 4, 163. - Feldmann, W., Deutsche Sprachpflege in den »Litteraturbriefen«, Zeitschrift für deutsche Wortforschung 7, 1905/06, 152-160 Lindemeyer, M., Vorrede zu R. Grasers, Praktische Beredsamkeit der christlichen Kanzel, Augsburg 1769, XVIIf. Gerlach, F.W., Kurzgefaßte Deutsche Sprachlehre, Wien 1758, 1 Klemm, Ch.G., Vorrede zu >Die WeltLogica< darauf hin, daß er seine Lehre >in einem solchen Lande fruchtbar machen< möchte, >da man im gemeinen Bürgerlichen Leben/ nicht Lateinisch/ sondern Teutsch zu reden pflegetAllerneuesten Vorschlägen zur Verbesserung des deutschen SchulwesensSprachgleichförmigkeitGleichförmigkeit< der Sprache und >Sprachähnlichkeit< verstoßende Fremdkörper zu verdammen«. 1 6 8 Campe will eine G e s e l l s c h a f t von Sprachfreunden< gründen, die das Bürgerrecht nutzen soll, auf Mißstände im Staat hinzuweisen. Deren Abstellung soll dann Aufgabe des Staates sein. 1 6 9 Nach der Auffassung von C H R I S T I A N W I L H E L M S N E L L erfordert die in den Schulen gelehrte deutsche Schreibart >theils Reinigkeit, theils Richtigkeit^ >Die Sprachreinigkeit besteht darin, daß der Hochdeutschen Schriftsprache nichts Fremdartiges beigemischt seyals Latinismen, Galicismenunterdrückt< und >verzerrtSchwaben, Francken, Thüringen, Schlesier, Nieder-Sachsen< seien an National-Wörtern >noch überflüssig reichÜber die Einbildung etlicher NationenA11-Tyranney< könne nur gewonnen werden, wenn Frankreichs doppelsinnige Trug-Sprache in ihre vormaligen Landesgränzen zurückgebannt wirdLandes- und Reichssprache< eingeführt werde. 1 Jedes Volk müsse seine Sprache beschützen, die >der Spiegel unseres Geistes, das Abbild unseres Innern, das geheimnisvolle Seelenband der Völker, die Dolmetscherin der Menschheit seigenaue Angemessenheit zu dem zu erreichenden Zwecke< zu erzielen. Verlange es die Vernunft, so müßten vorhandene Wörter neu gebildet oder ersetzt werden, um Klarheit, Produktivität und Einheitlichkeit sicherzu-
Radlof, J.G., Frankreichs Sprach- und Geistestyranney über Europa seit dem Rastatter Frieden 1714, München 1814, zit. nach Jöris, Goethes Stellung zu Fremdwort und Sprachreinigung, Preußische Jahrbücher 145, 1911, Bd. 2, 435f. - Kirkness, A. (1975), Bd. 1, 2 1 2 - 2 2 2 . ;
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stellen. A l l e toten Formen seien auszuschließen. Fremde Begriffe sollten eingebürgert oder ersetzt werden. Alle germanischen Sprachen müßten von den Gelehrten gründlich untersucht werden, um neue passende Formen zu finden. 2 F R I E D R I C H G O T T L I E B W E L C K E R fürchtet den Einfluß der geistigen Gewalt Frankreichs. Er hofft, daß der Gebrauch der französischen Sprache im deutschen Leben bald eingeschränkt oder abgeschafft werde. Mit der Sprache wird sich dann zugleich verlieren der Geist, der in ihr wohnt, Lebensart und Manieren, welche daraus hervorgehn, die Empfindungsweise, die Anschauung der Natur und die Ansicht der Geisteswelt, die ihr eingeboren sind, von denen sie nur der Abdruck ist, die ganze Französische Natur mit ihrer Äusserlichkeit und Oberflächlichkeit im untrüglichsten Ebenbild ... Nur wenn die Französische Sprache weniger gekannt und geübt, die Französische Natur erst weniger verstanden wird, nur dann werden wir sicher seyn, daß diese Natur auch weniger verführen und irre machen wird in ihrem eignen Seyn; da die Sprache es ist, die für den gewöhnlichen Menschen dichtet und denkt, das Maß seiner Gefühle, Vorstellungen und Begriffe regelt, mehr als er sich je bewußt wird, so werden dann so viel weniger Menschen Französisch dichten und denken; und die, welche es zu thun aufgehört haben, werden aus ihrer Muttersprache, die sie dann besser zu lernen mehr Zeit und Antrieb gewinnen, die unerschöpfliche Anlage und hohe Bedeutung der Deutschen Bildung mit Erstaunen entnehmen. 3 Gleichzeitig mit Radlof hatte B E R N H A R D J O S E F D O C E N gegen das Vorherrschen französischer Sprache und Literatur in Deutschland protestiert. Er beschuldigt neben dem Adel vor allem die Gelehrten, diese Zustände gefördert zu haben. Von den Behörden erwartet er einen Eingriff, den allgemeinen Sprachgebrauch zu reglementieren, vor allem den Gebrauch der nichtteutschen Wörter zu beschränken, zugleich mit Angabe eines hier als Grundlage geltenden Hülfbuches ..., das in allen Zweifelsfällen zu Rathe gezogen und gleichmäßig befolgt würde. 4 Analog zu Radlof versucht auch C H R I S T I A N H E I N R I C H Regulativ für den Sprachgebrauch zu machen:
WOLKE
die Vernunft zum
Nur di Vernunft mit Verstand ist di Regelin unserer Sprache. Er will deshalb korrigieren und verbessern und im Alleingang ein musterhaftes Hochdeutsch entwickeln. Dieses verdiene seinen Namen erst dann,
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3
4
Radlof, J.G., Vernunft, Gesäzgebung der Sprache, München 1809, In: Teutschkundliche Forschungen und Erheiterungen für Gebildete, Berlin 1825-27, Bd. 2, 259. Schultheis, W., Radlofs Verdienste um den deutschen Wortschatz, Diss. Gießen 1935; Schoof, W„ Jacob Grimm und J.G. Radioff. Ein Beitrag zur deutschen Sprachgeschichte, Archiv für vergleichende Phonetik 5, 1941, 49-76 Welcker, F.G., Warum muß die Französische Sprache weichen und wo zunächst, Gießen 1814, 28f. Docen, B.J., Über die Selbständigkeit und Reinerhaltung unserer Literatur und Sprache. Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte, 2, 1814, 411. - Kirkness, A. (1975), Bd. 1, 215-217
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wen si alle mundartigen und andre Vernunft- begrif- zwek- und orwidrigen Feier berichtigt und entfernt. 5
Die Rechtschreibung und die Syntax seien zu ändern, Fremdwörter auszuscheiden. Ausländische Eigennamen und seit langem eingebürgerte Begriffe könnten beibehalten werden. Nach dem Jahre 1600 entlehnte Wörter seien tot wie ägyptische Mumien und nicht imstande, verständlich zu machen, was sie bedeuteten. Im besten Fall bleibe ihr Sinn unbestimmt oder obskur. Das Deutsche brauche keine Fremdwörter, da alle durch bereits existierende oder leicht neu zu bildende deutsche Worte ersetzt werden könnten. Besonders Begriffe der deutschen Grammatik seien auch deutsch zu bilden. Deshalb verwendet er etwa für die Zeiten folgende: Nunzeit, Danunzeit, Vorbeinunzeit, Komnunzeit, Fortzeit, Nunfortzeit, Eher- oder Früherfortzeit, Komfortzeit, Kunft- oder Komzeit, Nunkomzeit, Vorbeikomzeit, Kunftkomzeit. Mit seinem Versuch, die Entwicklung seit etwa 1600 rückläufig zu machen, mit seiner Auffassung der Wortbildung als einem mechanischen Prozeß, der willkürlichen Veränderung von Rechtschreibung und Syntax stößt Wolke auf erbitterten Widerstand. Vor allem Jakob Grimm greift ihn an wegen seiner Manipulierung der Sprache. 6 Weggenosse Wolkes ist K A R L C H R I S T I A N F R I E D R I C H K R A U S E , der 1 8 1 4 in Berlin mit diesem zusammen die >Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprac h e ^ gründete. Auch er will eine rationale Sprache schaffen. Das Deutsche habe sich widersinnig und durchsetzt von fremden Elementen gebildet, deshalb müsse es systematisch aus altdeutschen bzw. germanischen Formen entwickelt werden. Die formalen Ideale seien im Sanskrit am vollständigsten verwirklicht, und das Deutsche komme von allen europäischen Sprachen diesem am nächsten. Grammatiker und Schriftsteller seien dazu da, alle Fehler der gegenwärtigen Sprache und des gegenwärtigen Sprachgebrauchs nach den Gesetzen der Vernunft und der indogermanisch-germanischen Tradition zu korrigieren. Als Kodex für diese Verbesserung sei ein Verzeichnis deutscher Stammwörter zu schaffen: So lässt sich ein Urwortthum der deutschen Sprache darbilden, welches einst der vollgültige Beweis sein wird, dass sich die deutsche Sprache in Hinsicht ihres Wortvorrathes vorzüglich zu einer Wissenschaftssprache eigne und Einheit, Reinheit, Schönheit und Weiterbildsamkeit in hohem Grade habe und noch ferner angewinnen könne. Infolge dieser Arbeit wird dann alles Abheimische, lebenswidrig Beigemischte und, was eben so wichtig ist, auch alles einheimische Fremdartige, d.i. alle fehlgebildeten schönheitswidrigen Wörter und Rednisse, nach und nach
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Wolke, C.H., Anleit zur deutschen Volkssprache durch Erkennung und Berichtigung einiger tausend feierhaft gebildeten, oder meisnischmundartigen Wörter, Leipzig 1816, 210 u. 400. Kirkness, A. (1975), Bd. 1, 2 2 2 - 2 2 8 Vgl. Langen, A. ( 2 1957), 1203f. Schmidt, H., Die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache an der Schwelle der germanistischen Sprachwissenschaft, Zeitschrift für Germanistik 4, 1983, 2 7 8 289
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aus unsrer Muttersprache verschwinden und aus ihrer eignen, reinen Lebkraft und Wesenheit durch Reingutes ersetzt werden. 8
Wie das bei Krause verwirklicht wird, zeigt seine >Verdeutschung< der Sätze >Die Poesie ist in ihren freien Dichtungen über alle Moralität erhabene >Die Lebeinbildung ist in ihren freien Ewiglebdarbildungen über alle Eigenwesenlebgesetzlichkeit erhaben< und >Dieser Mensch ist Gottes Sohne >Dieses ordendliche Geistleibinvereinwesen ist durch Wesen als gleichwesentliches Nebenausserwesen miteigenlebverursachtThermometertote< Sprache. Die Volkssprache ausrotten zu wollen, sei ein ebenso törichtes und erfolgloses Bemühen als ihr besondere Pflege angedeihen zu lassen. Heyse greift die alte Frage auf, welche Region ausschlaggebend für die Hochform des Deutschen sei: Man hat viel gestritten und streitet fortwährend, in welcher Gegend Deutschlands oder in welcher deutschen Stadt das reinste Hochdeutsch gesprochen werde. Der Niedersachse, der Hannoveraner, der Berliner, der Leipziger oder der Meißner. Jeder schreibt sich die reinste Aussprache zu, da doch Keiner frei von fehlerhaften landschaftlichen Eigenheiten ist; während der Schwabe, der Baier, der Oesterreicher jene zuversichtliche Behauptung als eitle Anmaßung verlacht, die feinere Aussprache des Niederdeutschen affectiert findet und seiner derbkräftigen heimathlichen Mundart getreu bleibet, ohne sie deshalb für die einzig richtige auszugeben. Allerdings verdient jener Dünkel einzelner nieder- und mitteldeutscher Städte und Landschaften um so mehr Tadel, je mehr gerade dieses eitle Selbstgefühl der Berichtigung der Aussprache im Wege steht, denn in Wahrheit spricht das Volk oder auch die Mehrzahl der sogenannten Gebildeten, die freilich meist nur Halbgebildete sind, in keiner Stadt oder Gegend Deutschlands ein vollkommen fehlerfreies Hochdeutsch, welches vielmehr Jeder durch beabsichtigtes und bewußtes Vermeiden aller bloß mundartlichen Eigenheiten sich erst auszubilden hat." H E I N R I C H K A L T S C H M I D T nutzt das Vorwort zu seinem Vollständigen stamm- und sinnverwandten Gesammt-Wörterbuch der Deutschen Sprache< zu einem Lob auf diese. Sie enthalte
JAKOB
den großartigsten Worterbau, welchen je ein Volk dieser Erde in seiner Sprache geschaffen hat, den Worterbau der reichsten aller menschlichen Sprachen, [sei] die reichste Ursprache der Erde ... Wir Deutschen sind durch das in unserer Sprache wohnende Urlicht das erleuchtetste Volk in der Welt, wir müssen nur unsere alte Großmuttersprache erst verstehen lernen ... Das edle Gold unserer Ur-, Grund- und Kernsprache liegt theils zu Tage heraus uberall wo Deutsche wohnen ... dies sind die Deutschen Mundarten; theils liegt es in verlassenen Gruben tief unter Tage, und man kann es nur von den Bergleuten bekommen, die es zu Tage fordern; ... dieses Grubengold sind auch die Deutschen Mundarten, wie vor 5, 6, 8 und 10 Jahrhunderten in ihnen geschrieben worden ist. Der größte Reichtum der Deutschen ist ihre >urkraftige, unerschöpflich reiche und hochgebildete Sprachen 1 2 11
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Heyse, K.W.L., Ausführliches Lehrbuch der deutschen Sprache, Hannover 1835, Bd. I, 160, Anm. Kaltschmidt, J.H., Vollständiges stamm- und sinnverwandtschaftliches GesammtWörterbuch der Deutschen Sprache aus allen ihren Mundarten und mit allen Fremdwörtern. Ein Hausschatz der Muttersprache für alle Stände des Deutschen Volkes, Nördlingen 3 1851, III-VII
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Für J A C O B G R I M M ist die Liebe zu Deutschland, zur deutschen Kultur und zum deutschen Volkstum Ursache und Motivierung seiner Sprachforschung. Die Bedeutung der deutschen Sprache liege vor allem darin, die Deutschen in der Vergangenheit zusammengehalten, eine ungebrochene Tradition gewahrt zu haben, und Hoffnungsträger als einigende Macht zu sein. Der Umgang mit anderen Völkern und Sprachen sei unvermeidlich. Ihnen habe Deutschland viel zu verdanken. In alt- und mittelhochdeutscher Zeit seien viele Wörter aus dem Lateinischen übernommen worden, etwa der Wortschatz des Christentums. In neuerer Zeit sei es ein Zeichen von Kultur und Bildung geworden, sich fremde Begriffe anzueignen, wobei diese nicht mehr assimiliert, sondern als Fremdwörter gebraucht würden. Der Sprachforscher habe die Pflicht, dem unkontrollierten Einströmen unassimilierter Fremdwörter zu widerstehen. Jedoch müsse die Annahme oder Verwerfung fremder Elemente ebenso wie die Entwicklung neuer Formen der Sprache selbst überlassen bleiben: alle sprachen, so lange sie gesund sind, haben einen naturtrieb, das fremde von sich abzuhalten und wo sein eindrang erfolgte, es wieder auszustoszen, wenigstens mit den heimischen elementen auszugleichen ... Fällt von ungefähr ein fremdes wort in den brunnen einer spräche, so wird es solange darin umgetrieben, bis es ihre färbe annimmt und seiner fremden art zum trotze wie ein heimisches aussieht. 1 3
Eine >gesunde< Sprache sei fähig, fremde Elemente in sich aufzunehmen und sie ihrer eigenen Struktur anzupassen. Sollte der wahre Reichtum der deutschen Sprache von ihren Benutzern einmal anerkannt werden, würden diese jene Elemente, die nicht assimiliert wurden, abstoßen. Rückblickend verklärt er die alte Sprache, die alte Poesie und auch die Menschen früherer Zeiten: Die wachsende Cultur der Sprache sucht allmählig ihre Natur aufzuheben. Die alte Sprache ist leiblich, sinnlich, voll Unschuld; die neue arbeitet darauf hin, geistiger, abgezogener zu werden, sie sieht in den Worten Schein Zweideutigkeit, denen sie auf alle Weise ausweichen möchte. Jene hat großen Reichthum an Wörtern und drückt selbst bloße Wendungen mit andern Wurzeln aus, alle ihre Wurzeln haben Glieder und Gelenke, die der mannigfaltigsten Bewegung gehorchen; durch ihre Zusammensetzungen dringt noch der innere Sinn. Diese gibt eine Wurzel nach der andern hin, ihr Ausdruck wird schärfer, bewußter, bestimmter. Sie umschreibt und meint, mit dem unumwundenen Wort anzustoßen, gleich als schäme sie sich der Nacktheit. Ihre Mittel scheinen von Außen, die Ableitungen vermindern sich, die Zusammensetzungen nehmen zu, und wieder diejenigen Zusammensetzungen sterben immer mehr aus, in denen ein Glied nur die sinnliche Deutlichkeit des andern erhöht; dagegen diejenigen reißen immer mehr ein, in welchen ein Glied schon den ganzen abstracten Begriff der Eigenschaft und Art enthält. Der alten Sprache sind die Flexionen eben so wichtig wie die Wurzeln, auch die Flexionen lebten einst wirklich wie diese. In der neuen Sprache hingegen wird die Idee, folglich der Wurzel, entschiedenes Übergewicht gegeben und von der Flexion nur das Wesentlich-
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Grimm, J„ Kleinere Schriften, Berlin 1864-90, Bd. 8, 330f. Dieckmann, W. (1988), 121-128. - Diewerge, H., Jacob Grimm und das Fremdwort, Diss. Greifswald 1935
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ste gelassen, bis sie sich allmählich völlig abnützt. Die alte Syntax zeichnet sich aus durch natürliche Mannigfaltigkeit bei härteren Übergängen, die neue durch logische Bestimmtheit und reichere Füllung. Die Verstandesbegriffe der neuen Sprache werden zurückgehend klarer und deutlicher. Die geistigen Bedeutungen der Wörter erscheinen im Laufe der Geschichte erst und treten neben die sinnlichen hin oder verdrängen sie 14 ... Ferner: die alte Poesie ist ganz wie die alte Sprache einfach und nur in sich selber reich. In der alten Sprache sind lauter einfache Wörter, aber diese in sich selbst einer solchen Flexion und Biegung fähig, daß sie damit wahre Wunder thut. Die neue Sprache hat die Unschuld verloren, und ist äußerlich reicher geworden, aber durch Zusammensetzung und Zufall, und braucht daher manchmal große Zurüstung, um einen einfachen Satz auszudrücken. [Und:] Die alten Menschen sind größer, reiner und heiliger gewesen, als wir, es hat in ihnen und über sie noch der Schein des göttlichen Ausgangs geleuchtet. 15 In seinen grammatischen Studien wendet er sich gegen den Standpunkt anderer Grammatiker, die >die sinkende oder doch sich ändernde Sprache festhalt e n wollten, und die >weniger aus einer inneren Ergründung dieser selbst, als aus den für vollkommen gegebenen besten Schriftstellern gewisser Zeiten ein System< zusammensetzten, >von welchen abzuweichen ihr für fehlerhaft und bedenklich ist.< 16 Zur Sprachreinigungsbestrebung meint Grimm: Neuerdings seien verschiedene Bemühungen gemacht worden, und zwar auf höchst pedantische Weise, Fremdwörter in ihrer Originalform und ihrer entsprechenden Aussprache ins Deutsche aufzunehmen. Dazu gehören die Verben auf -ieren, deren Vorbild, das lateinische Verbum >scribere< bei der Übernahme völlig assimiliert worden sei: scriban - schreiben. D a g e g e n seien Verben wie beispielsweise conscribere und rescribere mit der Partikel -ieren ausgestattet und als die entsprechenden deutschen Wörter verwendet worden: >conscribieren< und >rescribierenBerlinische Gesellschaft für deutsche Sprache und Altertumskunden Er honorierte zwar ihre Bemühungen, teilte aber ihre Sprachauffassung nicht, ja er bezeichnete sie sogar oft als >Pendantenc Deutschland pflegt einen schwärm von puristen zu erzeugen, die sich gleich fliegen an den rand unsrer spräche setzen und mit dünnen fühlhörnern sie betasten, gienge es ihnen nach, die nichts von der spräche gelernt haben und am wenigsten die kraft und keuschheit ihrer alten ableitungen kennen, so würde unsre rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln. 17
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Ebd. 46 Brief an Achim v. Arnim, In: Steig, R., Achim von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm, Stuttgart 1904, 117. - Ehrismann, O., »Die alten Menschen sind größer, reiner und heiliger gewesen als wir«. Die Grimms, Schelling; vom Ursprung der Sprache und ihrem Verfall, Zeitschrift für Literaturwissen schaft und Linguistik 62, 1986, 29-57 Grimm, J., Deutsche Grammatik. Erster Teil, Göttingen 1919, 5 Grimm, J„ Kleinere Schriften, Berlin 1864-90, Bd. 1, 347
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Jacob Grimm vertrat die Auffassung, die Puristen könnten die Struktur der Sprache nur wenig beeinflussen, keineswegs so, wie die Schriftsteller und Dichter, die am meisten zur Entwicklung des Deutschen beigetragen hätten: die spräche hat mancherlei schaden erlitten und musz ihn tragen, die wahre, allein zuträgliche ausgleichung steht in der macht des unermüdlich schaffenden sprachgeistes, der wie ein nistender vogel wieder von neuem brütet, nachdem ihm die eier weggethan worden; sein unsichtbares walten vernehmen aber dichter und Schriftsteller in der begeisterung und bewegung durch ihr gefühl. 1 8
Die Grammatiker ihrerseits sollten die Rolle eines Beobachters einnehmen, der den von der Sprache verursachten Änderungen folgen und sie aufzeichnen sollte, ohne sich aber in diesen Prozeß einzumischen. Jacob Grimms Kritik an den Puristen liegt die Ansicht zugrunde, daß jedem Versuch zur Bereicherung und Bereinigung des Wortschatzes eine gründliche Kenntnis des Wesens und der historischen Entwicklung des Deutschen vorausgehen müsse. Diese Ansicht unterstreicht er durch seine sprachvergleichende Vorgehensweise und die etymologische Arbeitsmethode. Ein Fremdwort darf nur dann in seiner Originalform ins Deutsche aufgenommen werden, wenn das Deutsche kein entsprechendes Äquivalent anbieten kann. Eine Reinigung der Sprache sieht er in der Natur der Sprache selbst, die fähig sei, fremde Elemente in sich aufzunehmen oder sie zu verwerfen. Voraussetzung dafür ist eine >gesunde Sprachen deren Reichtum und Bedeutung in das Bewußtsein der jeweiligen Sprachgemeinschaft aufgenommen worden seien. Am deutlichsten wird Jacob Grimms Verhältnis zur deutschen Sprache am Ende der Vorrede zum >Deutschen WörterbuchAmplificationen, Collectionen, Constructionen, Publicationen und Manipulationen*, da ist die Rede von >Divergenz, Omnipotenz, Cohärenz, Tendenz und TendenzprozessenLocalisierungnobler Natur< und >prolifiquer Behandlungsocialen Conglom e r a t e s oder von >futilem Raisonnementdelicat< sein; wir werden nicht davon bewegt, sondern >afficiertstagniertheterogenDecennium< heißt. Das alles ist auf wenigen Blättern zu finden, und immer hat die Muttersprache das natürlichste, eindringlichste Wort. Und gar wenn Dürftigkeit des Geistes dahinter steckt! Die arme Seele borgt von den Philosophen ein paar technische Ausdrücke, sie spricht von >objectiven und subjectivenAbsolutenfür die Kultur einer Nation ... schlechterdings nichts so wichtig ist als ihre Sprachen 2 2 Im Verlauf seiner Studien kommt Humboldt zu einer Auffassung von Sprache als Wesen, als organischem Ganzen, indem Sprache, menschliche Erkenntnis und Handeln eine untrennbare Einheit bilden: Der Mensch denkt, fühlt und lebt allein in der Sprache, und muss erst durch sie gebildet werden, um auch die gar nicht durch Sprache wirkende Kunst zu verstehen. 2 3
Die Verschiedenheit der Sprachen ist nicht nur eine naturhistorische Erscheinung als notwendige Folge der Verschiedenheit und Absonderung der Völkerstämme, sondern eine >intellectuell-teleologische Erscheinung ... als Bildungsmittel der Nationen.< 24 Durch ihre Formvollendetheit kann Sprache dazu beitragen, die Vergeistigung der Welt voranzutreiben. Jede Sprache ist zwar vollständig, hat weder Lücken noch Mängel, aber Vollständigkeit ist nicht Vollkommenheit, und die Sprache unterscheidet sich durch Reichtum, Tiefe und Weite ihres Gehaltes. Sprachen unterscheiden sich vor allem durch den Grad, in dem sie von der geistigen Formalität durchdrungen sind. Die Entwicklung der indogermanischen Sprachen, die den Idealtypus verkörpern, stellt etwa in deren Abbau der äußeren Sprachformen nicht einen Zerfall oder Niedergang dar, sondern einen Fortschritt, da ja die grammatischen Formen nicht Selbstzweck, sondern nur Anregung und Mittel zum formalen Denken sind. Die Herrschaft der Formalität erscheint in der Sprache wie in der lebenden Natur als Schönheit, die deshalb kein Luxus ist, sondern die Annäherung einer Sprache an die Idee der reinen Form verrät: Die künstlerische Schönheit der Sprache wird ihr daher nicht als zufälliger Schmuck verliehen; sie ist, gerade im Gegenteil, eine in sich notwendige Folge ihres übrigen Wesens, ein untrüglicher Prüfstein ihrer inneren und allgemeinen Vollendung. Denn die innere Arbeit des Geistes hat sich erst dann auf die kühnste Höhe geschwungen, wenn das Schönheitsgefühl seine Klarheit darüber ausgiesst. 25
Für Humboldt ist die Vermischung von Völkern und Sprachen ein unaufhaltsamer und bereichernder Vorgang. Nicht durch das Einströmen fremder Wörter wächst die Gefahr der Degradierung der Nationalsprache zu einer veralteten, sondern durch das Verhindern des Erneuerns. Die nationalen Besonder-
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Humboldt, W.v., zit. Aarsleff, H., The Eighteenth Century including Leibniz, Current Trends in Linguistics, hg. v. Τ.A. Sebeok, The Hague-Paris, 1975, V. 13, 432 Humboldt, W.v., Über den Nationalcharakter der Sprachen, Werke, hg. ν. Α. Filtrier; Κ. Giel, Berlin 1960-64, Bd. 3, 77 Humboldt, W.v., Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, Werke, hg. v. A. Flitner; K. Giel, Berlin 1960-64, Bd. 3, 6 Steinthal, H. (Hg.), Die sprachphilosophischen Werke W.v. Humboldts, Berlin 1884, 371
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heiten der Sprache prägen vor allem ihre ästhetischen Eigenschaften. Gerade hierdurch erklärt sich, warum ... für den Gebildeten und Ungebildeten die vaterländische eine so viel größere Stärke und Innigkeit besitzt, als eine fremde. 26 In ihrer Entwicklung gewinnt die Sprache ständig an ästhetischer Ausdrucksfähigkeit: Durch den Gebrauch zum Ausdruck erweiterter und veredelter Ideen gewinnt die Deutlichkeit und Präzision der Sprache, die Anschaulichkeit läutert sich in einer auf höhere Stufe gestiegenen Phantasie, und der Wohllaut gewinnt vor dem Urtheile und den erhöheten Forderungen eines geübteren Ohres. 27 Am Ende der Entwicklung wird eine ästhetisch vollendete Sprache stehen. Gerät die Literatur, das >hohe< Sprechen aber zu >entarteter B e r e d s a m k e i t , so besteht die Gefahr eines Verfalls der Sprache und schließlich ihres Todes. Gegen die Verfallstheorie der deutschen Sprache, wie sie bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Bernhardt 28 , Jacob Grimm, Heyse, Mündt, Schopenhauer und eingeschränkt bei Humboldt zu finden ist, wendet sich K A R L F E R D I N A N D B E C K E R in seiner logisch-systematischen Sprachdenklehre: Sprachforscher, welche die Sprache nur von ihrer etymologischen Seite auffassen, haben darin, daß die deutsche Sprache früh Ableitungs- und Flexionsendungen verloren hat, die sich in den klassischen Sprachen erhalten haben, und daß sie die ihr mangelnden Flexionsformen durch Hülfsverben und Präpositionen ersetzt, schlechtweg einen V e r f a l l der Sprache finden wollen; und man hört oft die Behauptung, die deutsche Sprache sei in Folge dieses Verfalles zu einer schönen Darstellung der Gedanken weniger geeignet, als die klassischen Sprachen. Wenn man aber die eigenthümliche Entwickelung der deutschen Sprache näher betrachtet, und sie mit den klassischen Sprachen vergleicht; so wird man bald gewahr, daß der deutsche Stil zwar nothwendig von dem Stile der klassischen Sprachen verschieden ist, daß aber der Vortheil in Beziehung auf das Darstellungsvermögen auf der Seite der deutschen Sprache liegt. Was man einen V e r f a l l der deutschen Sprache nennt, ist zunächst eine natürliche Folge der Herrschaft, welche die Betonung in der deutschen Sprache ausübt; und diese hat ihren Grund darin, daß sich die deutsche Sprache vollkommener als andere Sprachen in der logischen Richtung entwickelt hat. Es ist schwer
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Humboldt, W.v., Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Berlin 18365, LXXIII Ebd. XXXVIf. - Trofimowa, R.P., Wilhelm von Humboldt und seine Lehre von der ästhetischen Wirkung der Sprache, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 20, 1972, 1044-1054 A U G U S T F . BERNHARDI zählt das Deutsche zusammen mit dem Griechischen, Lateinischen, Italienischen und Spanischen zu den poetischen Sprachen. Sie sind schwieriger zu erlernen als die philosophischen Sprachen, etwa die englische und französische, aber »sie sind weit mehr zu künstlichen Sylbenmaaßen, zu schönen Perioden gebildet; kurz alles dasjenige, was die Sprache als Musik charakterisiert, ist ein Eigenthum der letzteren«, Sprachlehre I, Berlin 1801, 346. - Kainz, F., A.F. Bernhardis Beitrag zur deutschen Stilistik, Zeitschrift für deutsche Philologie 63, 1938, 1-44
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zu sagen, durch welche Einwirkungen diese Richtung in der Entwickelung der Sprache zuerst vorherschend geworden; sie konnte aber in dieser Richtung freier fortschreiten, weil sie weniger als andere Sprachen in ihrer Entwickelung durch die Einwirkung fremder Sprachen gestört worden. So hat sich in ihr länger und vollkommner als in andern Sprachen ein lebendiges Verständniß der Wörter erhalten; und der Ton ist in ihr vollkommner als in den andern Sprachen zu einer lebendigen Erscheinung des Gedankens in dem Satze, und des Begriffes in dem Worte geworden. Je mehr aber in dem Laufe der Zeit das logische Element in der deutschen Sprache das vorherrschende wurde, desto mehr mußte das phonetische Element zurücktreten; und die Abschleifung der Endungen ist in ihr nicht, wie in den romanischen Sprachen, ein durch die Einwirkung fremder Sprachen herbeigeführter Verfall der Sprache, sondern eine natürliche Folge der entschiedenen Herrschaft, welche der Ton über die Lautverhältnisse der Wörter ausübt ... Nach allem dem hat die deutsche Sprache in Beziehung auf die Fähigkeit einer schönen Darstellung vor den klassischen Sprachen entschiedene Vorzüge; und wenn sie lange Zeit in der Schönheit der Darstellung gegen diese Sprachen zurückgestanden hat, so liegt der Grund nicht in einem Verfalle der Sprache, sondern nur darin, daß man es nicht verstand, von den Mitteln, die sie darbietet, den gehörigen Gebrauch zu machen. Die ganze Art und Gestaltung der deutschen Sprache ist in Folge der logischen Richtung, die in ihrer Entwickelung vorherrschend ist, eine ganz eigenthümliche geworden; und sie ist zu einem Reichthume von Mitteln der Darstellung gelangt, die ihr eigenthümlich sind. Die deutschen Stilistiker haben aber, weil sie ihr Augenmerk immer auf die fremden Sprachen richteten, diese Eigenthümlichkeit ihrer Muttersprache viel zu wenig erkannt und beachtet. Man hat es wol anerkannt, daß die deutsche Sprache vielfältig die Begriffe und die besondern Arten ihrer Beziehungen, und auch die logischen Verhältnisse der Gedanken genauer und bestimmter unterscheidet, als die neuern Sprachen, und darum auch im Stande ist, den I n h a l t der Gedanken und ihre l o g i s c h e n Verhältnisse vollkommner darzustellen: aber ein entschiedener Vorzug vor den neuen und alten Sprachen liegt besonders darin, daß sie die l o g i s c h e Form der Begriffe und Gedanken in ihrem mannigfaltigen Wechsel und in ihren zartesten Nuancen auf eine lebendigere Weise darstellt; und dieser Vorzug ist zu wenig erkannt und beachtet worden. Die d e u t s c h e Stilistik soll darum ein besonderes Augenmerk darauf richten, daß diejenigen Formen der Darstellung, welche der deutschen Sprache e i g e n t h ü m l i c h sind, hervorgehoben und in ein helles Licht gestellt werden. Die romanischen Sprachen haben eine besondere >Vergeistigung< erlebt als Folge einer durch Vermischung gestörten Entwicklung. Im Deutschen ist die >Vergeistigung< auf diejenigen Klassen beschränkt, welche sich durch eine mehr entwickelte geistige Bildung von dem übrigen Volke scheiden, oder doch nach dem Scheine einer größeren Geistesbildung streben. Sie herrscht daher vorzüglich in der Sprache der gebildeten Stände, und gehört gewissermaßen zum guten Tone der vornehmen Gesellschaft, indeß die Volkssprache ihr beharrlich widerstrebt. Sie unterscheidet sich von der organischen Entwickelung insbesondere durch die Aufnahme fremder Wörter und Ausdrucksformen, durch einen häufigem Gebrauch der Abstrakten, durch Wortbildungen, die von den Gesetzen der Ableitung abweichen und durch stereotypische Phrasen von konventioneller Bedeutung. Schon Leibnitz bewundert in der deutschen Volkssprache ihren großen Reichthum an schöngebildeten und leichtverständlichen Benennungen für diejenigen Gegenstände, welche dem Ackerbau, dem Bergbau, der Jagd, der Schifffahrt und den Handwerken angehören; dürftig, mißgebildet und an sich unverständlich sind dagegen großenteils die Wörter, welche sich der Verkehr der Wissenschaft und der künstlich gebildeten Gesellschaft geschaffen hat.
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D i e >Vergeistigung< im Bereich der deutschen Sprache setzte ein bei den Scholastikern, die eine Menge fremder Wörter einführten. Die Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts schufen sich eine vergeistigte Sprache durch einen kühnen Gebrauch zum Theile neugebildeter Abstrakten ... Eine Vergeistigung anderer Art ging aus der Barbarei des siebenzehnten Jahrhunderts und aus der mit ihr eintretenden Verarmung der deutschen Sprache hervor. Während in den Stuben der Gelehrten die lateinische Sprache herrschte, wurde die französische immer mehr die Sprache der vornehmen Gesellschaft, und man fing an, sich der deutschen Sprache, weil sie die Sprache des geistig und leiblich verarmten Volkes war, zu schämen. Mit den ausländischen Sitten und Vorstellungsweisen wurden nun auch fremde Wörter und Ausdrucksformen von meistens konventioneller Bedeutung aufgenommen; und neben einer bejammernswürdigen Verkümmerung des geistigen Lebens trat die jämmerliche Vergeistigung der Sprache hervor, von der wir uns nach vieljährigem Kampfe noch nicht ganz frei machen konnten. Eine Vergeistigung der Sprache ist jedoch unzertrennlich mit den Fortschritten der Wissenschaft und mit einem höheren Aufschwünge der intellektuellen Entwikkelung verbunden. Man kann es daher nicht tadeln, wenn die Sprache der Wissenschaft Begriffe, die nur der Wissenchaft angehören, durch fremde oder neugebildete Wörter bezeichnet, wenn sie einen freiem Gebrauch von Abstrakten und von Satzverbindungen macht, die der Volkssprache fremd, oder doch nicht geläufig sind, und so den geistigeren Gedanken auch einen geistigeren Ausdruck gibt. Die Schönheit der Darstellung besteht aber vorzüglich darin, daß der geistige Gedanke in s i n n l i c h e Anschaulichkeit dargestellt werde; und je geistiger die Gedanken sind, desto mehr soll der Schriftsteller, wenn es nicht seine Absicht ist, wissenschaftliche Begriffe und ihre Verhältnisse nur mit scharfer Bestimmtheit, wie durch algebraische Formeln, zu bezeichnen, darauf bedacht sein, dem geistigen Gedanken in der Darstellung einen sinnlichen Leib zu geben. Die Philosophen haben zu allen Zeiten für neue Ideen neue Ausdrücke geschaffen; und man darf ihnen das, wenn die Ausdrücke denen, für die sie schreiben, verständlich sind, nicht zum Vorwurfe machen: aber unsere modernen Philosophen überbieten Alles, was in dieser Art je vorgekommen ist. 29 Während Becker die >Vergeistigung< im wissenschaftlichen Bereich anerkennt, lehnt er sie in der Literatur ab, weil sich hinter der Form oft ein we-
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Becker, K.F., Der deutsche Stil, Frankfurt a.M. 1848. - Haselbach, G., Grammatik und Sprachstruktur. Karl Ferdinand Beckers Beitrag zur Allgemeinen Sprachwissenschaft in historischer und systematischer Sicht, Berlin 1966. - Die >Verfallstheorie< kommentiert auch GEORG CURTIUS: »Bei manchen Sprachforschern ist es Sitte geworden nur für die volltänenden und breit entfalteten Formen der frühesten Sprachperioden Bewunderung zu haben, die abgeschlifferen, aber zu sinnigem Gebrauch verwendeten der nachfolgenden Zeiten mit einer gewissen Geringschätzung zu behandeln, ja sogar schon den Verfall der Sprache von dem Zeitpunkte an zu datiren, da die ursprüngliche Formenfülle abzunehmen begann, aber nur um einer lebendigeren geistigen Anwendung zu weichen. Es ist und bleibt aber eine Einseitigkeit die Sprache des U 1 ρ h i 1 a s für vollkommener zu halten als Goethe's Hochdeutsch. Das ist gerade das Große und Anziehende an der Geschichte der Sprache, daß der äußere Verfall neues Leben gebiert, daß der Geist die Abschwächung der Materie zu seinen Zwecken benutzt und erst dann seine Schwingen am freiesten entfaltet, wenn der lautliche Gehalt der Wörter sich schon zu einem gemeineren Gespinnst verflüchtigt hat.« Curtius, G., Philologie und Sprachwissenschaft (1862), zit. Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, hg. v. H.H. Christmann, Darmstadt 1977, 80f.
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nig geistvoller Inhalt verbirgt. Während Jean Paul für die Ausbildung eines geistreichen Stils gelobt wird, werden die Werke der >Jungdeutschen< verdammt, weil sie der M o d e der Schöngeisterei huldigen. A U G U S T SCHLEICHER ist Anhänger der Verfallstheorie der Sprache: es sind unsere jetzigen europäischen Kultursprachen in ihren Lauten und Formen gealterten Pflanzen vergleichbar, die abgeblüht haben ... Je reicher und gewaltiger die Geschichte, desto rascher der Sprachverfall; je ärmer, je langsamer und träger verlaufend jene, desto treuer erhält sich die Sprache. Von allen deutschen Sprachen ist die englische diejenige, welche in Laut und Form die stärksten Einbußen erlitten hat, von allen deutschen Sprachen ist die isländische diejenige, welche die alten Laute und Formen am treuesten bewahrt ... Gerade unsere deutsche Muttersprache können wir durch eine recht lange Reihe von Veränderungen hindurch verfolgen, gerade hier sind die späteren Formen der Art, daß sie ohne Anschauung der älteren gar nicht verstanden werden können. Die >großen organischen Mängel und Gebrechen< der neuhochdeutschen Sprache führt Schleicher darauf zurück, daß diese >auf dem Papier< entstand, durch den schriftlichen Gebrauch. Diese ihren papierenen Ursprung deutlich an der Stirne tragende Sprache, gewaltig durch den officiellen Gebrauch und durch Luthers reformatorischen Geist, verdrängte nach und nach die oberdeutschen (Schweizer) Mundarten, ja sogar das Plattdeutsche aus dem Gebrauche als Bücher- und Schriftsprache, und immer weiter und weiter drang sie ein in Kirche, Schule und Gerichtsstube, wo sich namentlich das Niederdeutsche lange hielt, und die süddeutschen, leichter mit der ebenfalls hochdeutschen Schriftsprache zu mischenden Mundarten zum Theile noch nicht von letzterer verdrängt sind. Sie verbreitete sich allein gültig in die höhere Gesellschaft und ins Haus, und hier erweitert sich ihr Gebiet von Tag zu Tag so gewaltig, daß vor ihr die Dialekte in den Städten bereits zu schwinden beginnen, und nunmehr nur nicht bei den geringen Manne, namentlich aber bei der ländlichen Bevölkerung die Mundarten in ihrer ungetrübten Reinheit zu finden sind ... Der neuhochdeutschen Schriftsprache wie den Mundarten ist jener Mangel an Sprachgefühl, der sich in den späteren Stadien des Sprachlebens in steigendem Maße einstellt, in hohem Grade eigen ... Der Mangel an Sprachgefühl zeigt sich vor allem im Vergessen der Abstammung und Zusammensetzung vieler - denkt man an die freilich schon weit früher vergessene Funktion der Beziehungssilben, so könnte man sagen aller - Worte. Die Stumpfheit unseres sprachlichen Gefühles geht jedoch so weit, daß wir die in früheren Epochen aus fremden Sprachen aufgenommenen Worte meist gar nicht mehr als fremde empfinden; diese älteren fremden Bestandteile nennen wir Lehnworte, im Gegensatz zu den neuen, noch nicht acclimatisirten, von Jedem als fremd empfundenen Fremdworten. Dagegen tritt eine gewisse Kraft des Einheimischen, eine Art von Bethätigung sprachlicher Lebenskraft, die auch das Fremde sich gerecht zu machen und es in eigenes Fleisch und Blut zu wandeln im Stande ist, zu Tage in den besonders beim Volke beliebten Umdeutschen von Fremdworten. 30 HEINRICH RÜCKERT
preist zuerst die deutsche Sprache:
Selbst das vorurtheilsloseste, bloß auf wissenschaftliche und sachliche Motive gegründete Urtheil gibt übereinstimmend zu, daß sich keine andere der lebenden und 30
Schleicher, Α., Die deutsche Sprache, Stuttgart 1860, 9, 34-37, 105, 107-108, 114
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todten Sprachen im Ganzen und Großen genommen mit der unsrigen dieser Gegenwart vergleichen darf. Keiner ist ein so reiches und bildsames Organ des Geistes und der Seele, des ganzen höheren menschlichen Daseyns wie sie. Gegen ihre Unermeßlichkeit gehalten, erscheinen die sonst als die reichsten gepriesenen, wie griechisch und arabisch, dürftig und beschränkt, von ihrer Tiefe und Fülle der Innerlichkeit ist anderwärts nicht einmal eine Ahnung vorhanden. Er sieht aber auch die vorhandenen Schwächen und benennt sie: Aber gerade hier liegen auch die Gebrechen unserer Sprache. Ihr überschwenglicher Reichthum erfordert eigentlich stets die Hand eines Meisters; für das Mittelmaß derer, die sich ihrer bedienen, ist er entweder nicht vorhanden oder eher ein Hinderniß als eine Förderung. Es ist schon darum viel leichter, gut französisch, spanisch oder italienisch zu schreiben, als gut deutsch. Auch ist es nicht zu läugnen, daß sich ihr Reichthum nicht gleichmäßig nach allen Seiten hin entfaltet hat. Neben der erdrückenden Fülle des Wortschatzes steht doch eine gewisse Dürftigkeit der Hülfsmittel, wodurch modificirte Begriffe aus ursprünglicheren gebildet werden. Das Gebiet der Wortableitung, das im Griechischen, in den slavischen Sprachen, ja selbst in den romanischen als Erbtheil ihrer klassischen Mutter schön und vielseitig entwickelt ist, ist im Deutschen unserer Gegenwart sehr ärmlich bestellt, und was davon vorhanden ist, großentheils mit einer gewissen Schwerfälligkeit behaftet. Man denke nur an die überall sich aufdrängenden Substantivbildungen mit -ung, heit oder -keit, -schaft und -thum. Der Ersatz für die hier fehlende Beweglichkeit ist auch ein nicht durchweg unbedenklicher. Er besteht in der bis zum Extrem getriebenen Wortzusammensetzung, die keine andere alte oder neue Sprache in dieser Ausdehnung kennt, vielleicht das einzige Sanskrit abgerechnet, dessen einzelne Wortelemente aber unendlich geschmeidiger sind. Dadurch entstehen jene Wortungeheuer von 10, 12, 15, 20 Sylben, denen man in unsern Büchern überall begegnet. Sie sind ebenso unästhetisch, durch unerträgliche Qualen, die sie dem Munde und Ohre anthun, wie sehr häufig schwer verständlich, indem in der Masse der zusammengelötheten Begriffe das Verständnis für die Gliederung derselben versteckt wird. Allerdings kann keine andere Sprache es der deutschen hierin gleich thun; es fragt sich aber, ob es irgend eine andere thun würde, selbst wenn sie könnte. Geschrieben und gedruckt sind diese Wortriesen allenfalls noch erträglich, aber gesprochen dürfen sie nicht werden. Sie hätten auch nicht in die Sprache kommen können, wenn sie nicht eine Büchersprache mehr als irgend eine andere lebende wäre, die das Correktiv des lebendigen Wortes nahezu entbehrt oder nicht darauf reflektirt. Und doch ist die Sprache eigentlich nur da, um gesprochen zu werden und schreiben ist immer nur ein trauriges Surrogat dafür. Es kann wunderlich scheinen, daß man diesen selbstverständlichen Satz noch besonders betont, aber in unsern gegenwärtigen Sprachzuständen ist er, was noch wunderlicher erscheinen möchte, wenn man nicht die Ursachen davon kennte, in Vergessenheit gerathen. Aus dem allem stammt ein anderer Charakterzug unserer Sprache, dessen Unschönheit allgemein anerkannt wird. Wir meinen ihre Ueberfüllung mit Fremdwörtern. Die Sache ist freilich nicht so schlimm, wie sie aussieht, wenn man fast in jeder literarischen Anzeige Fremdwörterbücher als dringendstes Bedürfniß jedes Zeitungslesers, überhaupt jedes Gebildeten oder gar jedes Menschen angekündigt findet. Das eine soll 20,000, das andere gar 50,000 der >gangbarsten< Fremdwörter enthalten. Die Frage liegt nahe, wie viel weniger >gangbare< außerdem in unsere Sprache eingedrungen seyn möchten, wenn die gangbaren schon den Wortschatz einer andern selbstständigen Sprache erreichen. So wenig aber einem pedantischen Purismus das Wort zu reden ist, wie er sich schon seit Zesens Zeit immer wieder unter Literaten und Sprachtheoretikern breit gemacht hat und selbst dem Spotte der Gegenwart nicht ganz weichen will, so wenig kann man die Thatsache selbst durchweg in der Ordnung finden. Unsere Sprache hat von Anfang an die Neigung
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und die Fähigkeit gehabt, fremde Elemente in sich aufzunehmen. Sie ist darin auch in ihren naivsten Zeiten viel weniger spröde gewesen als andere, etwa das Griechische oder unter den modernen Sprachen das Slavische in verschiedenen seiner Zweige. Schon das Gothische zeigt nicht bloß etwa auf kirchlich-christlichem Gebiete, wo man die Erscheinung zuerst vermuthet, viele lateinische und sogar slavische Eindringlinge. So ist es während des ganzen Mittelalters immerzu gehalten worden. Latein und die romanischen Sprachen sind die Quellen gewesen, aus denen die unsrige ohne Arg schöpfte. Wörter, wie Natur, Pflanze, Frucht wird niemand mehr aus der Sprache herauswerfen; sie sind so gut deutsch wie Himmel, Erde, Wasser, wenn gleich der Sprachkundige ihre klassischen Originale sofort nachweisen kann. Die Gegenwart hat durch das massenhafte Einströmen neuer technische Erfindungen, das Bekanntwerden unzähliger neuer Stoffe und die Einzelausarbeitung der Naturkenntnisse geradezu die Notwendigkeit, diese Menge fremdartiger Gegenstände auch mit den fremden Namen zu bezeichnen. Es würde eine heillose Confusion entstehen, wollte man sie ohne weiteres verdeutschen, etwa so wie Oken die Terminologie der Naturgeschichte zu verdeutschen gesucht hat. Aber man bleibt dabei nicht stehen; man greift auch auf dem Gebiete des Gedankens, der Empfindung und des Gefühls nach Fremdworten, theils weil dem Schreibenden die Herrschaft über die eigene Sprache versagt, theils weil diese in ihrer schon erwähnten Ungelenkheit es zu schwer oder zu bedenklich macht, ihre Mittel zu gebrauchen, theils endlich auch nur einer leidigen Sucht nach etwas Besonderem zu Liebe, das an der Stelle einer wirklichen schriftstellerischen Individualität als Reiz der Neuheit wirken soll. Diese Einschleppung überflüssiger Fremdwörter wirkt aber ihrerseits wieder ungünstig zurück auf jene schon berührten Schäden unserer Sprache, denen sie zum Theil ihren Ursprung verdankt. Es ist auch hier ein CIRCULUS VITIOSUS, aus welchem das Ganze nur schwer, der Einzelne nur durch systematische Zusammenfassung hinausgeräth. Das buntscheckige Aeußere unseres heutigen deutschen Styles möchte noch die geringste üble Folge davon seyn, obgleich auch diese immerhin Beachtung verdient, da unsere Sprache ihre äußerlichste Formgebung ohnehin so wenig unter dem Einfluß eines durchgreifenden Schönheitssinnes ausgebildet hat. Bedenklicher ist es, daß die Masse der Leser, die doch überwiegend nur die Kenntniß ihrer Muttersprache mitbringen, zu einem gewissen halben und dreiviertels Verständniß veranlaßt wird. Man weiß ungefähr, was das Fremdwort bedeuten soll, oder man weiß es auch nicht, läßt es sich aber doch gefallen, und wendet es vielleicht nächstens, nur um groß zu thun, selbst mündlich oder schriftlich auf die verkehrteste Weise an. Gewöhnt man sich aber einmal, auf eine so duselige Weise mit der Sprache zu hantiren, so verliert diese ihre Hauptaufgabe, eine treue und scharfe Darstellerin von Begriffen und Anschauungen zu seyn, ganz aus dem Gesichte. So sind denn auch die namentlich von Franzosen unserer Sprache gemachten Vorwürfe der Unbestimmtheit und Undeutlichkeit nicht unbegründet. Die Fremdwörter tragen das ihrige dazu bei, sie wahr zu machen. Noch mehr freilich der ebenso schlottrige wie unbehülfliche Satzbau, an welchem wir leiden. Auch dieß ist in seiner nächsten Ursache ein Produkt fremder Einflüsse. Das Lateinische, das nach ganz andern Principien seine Sätze bauen konnte, hat seit dem sechzehnten Jahrhundert bewußt oder unbewußt als Model unserer Literatur zunächst im Gebiete der Satzfügung gedient. Seine wohlgefügten Perioden mußten auch mnit den dazu gar nicht geeigneten Hülfsmitteln unserer Sprache reproducirt werden. Seit Lessing hat man freilich sich von dieser Abhängigkeit zu emancipiren gesucht, aber es ist doch nur einzelnen Talenten, nicht der Sprache selbst gelungen. Es hätte ihr gelingen müssen, wenn sie nicht so überwiegend eine bloße Büchersprache, zum stillen Lesen bestimmt geworden wäre. In einer solchen mag man sich eingeschachtelte und verschraubte Sätze, wie wir sie nun einmal nicht anders aus der Feder bringen, gefallen lassen; die Rede kann diese Knäuel und Labyrinthe nicht brauchen. Daß sie sich aber doch auch in sie da eingedrängt haben,
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wo sie Anspruch auf oratorische Durchbildung macht, in unsern Predigt-, Gerichtsund Feststyl, läßt sich nur daraus erklären, daß bei uns die Schrift gerade das umgekehrte Verhältniß zum Worte eingenommen hat, als es ihr zukommt. Sie ist nicht sein Supplement, sondern seine despotische Beherrscherin. Wie soll sich aber unsere Sprache von diesen und andern Gebrechen befreien, wenn sie immer energischer es durchsetzt, bloße Schriftsprache zu werden, wenn alle Individualisirung des Ausdruckes vor dem kanonischen Ansehen ihrer abstraktkühlen Allgemeinheit immer mehr verschwindet? Jedes Menschenalter wird es statt besser schlimmer werden sehen, und wenn auch nach wie vor hervorragende Talente sich über diese Mängel erheben, so wird der Zustand im Ganzen dadurch nicht gebessert. 31 An Rückert knüpft FRIEDRICH K L U G E an, der 1894 den Zusammenhang zwischen Kultur und Sprache reflektiert: Und die Grundbedingungen der Kultur sind auch die der Sprache, jede Sprachstufe spiegelt eine Kulturstufe wieder. Das ganze Volk arbeitet an seiner Kultur und zugleich an seiner Sprache, und jeder Fortschritt der Gesellschaft bedeutet einen Fortschritt der Sprache, die Geschichte eines Volkes ist zugleich die Geschichte einer Sprache und umgekehrt. Jedes Volk stehe in einem Wettbewerb mit dem Geistesleben des Auslands, weshalb die Auseinandersetzung stets zu einem neuen A u f s c h w u n g im Denken und speziell in der Sprache führe. Diese verdanke >die Biegsamkeit ihres Satzbaus und die Vielseitigkeit ihres Wortschatzes< zum großen Teil fremden Einflüssen. Glücklich deshalb das Volk, dessen Land an bedeutsame Kulturvölker grenzt - dreimal glücklich, wenn es offene Thore hat für den Verkehr mit Nachbarvölkern, die durch glückliche Kulturbedingungen früher groß geworden sind! Es sei notwendig, >trübe Bilder von unserer Sprache Verrottung und Versumpfung< zu ignorieren, sondern die >Urkraft und die Bildsamkeit unserer Sprache im glänzendsten Lichte< zu sehen. Die deutsche Sprachgeschichte beweise, daß die Freunde der Sprachreinigung an der Sprache selbst die mächtigsten Bundesgenossen hätten. Durch glückliche Bedingungen vor jener Zerstörung behütet, die dem Englischen fast bis zur Verleugnung seiner angeborenen Sprachart widerfahren, hat sich unsere Muttersprache niemals ihrer selbständigen Erbeigentümlichkeiten entäußert. Unser Sprachgefühl ist zu allen Zeiten so sehr deutsch gewesen, daß die zeitweise Mode es nicht hat zerstören können; die angestammten Grundfarben und Töne haben sich nie so grell und abstoßend geändert, wie es mit dem Englischen der Fall gewesen. Falsch sei es, in der Tagespresse und im Tagesschriftstellertum Deutsches zu meiden, um es für die Dichtung aufzuheben ... Wo höhere und weitere Wirkungen beabsichtigt werden, da entfaltet sich die Sprachreinheit in der Sprache der Litteratur wie 31
RUckert, H„ Die deutsche Schriftsprache der Gegenwart und die Dialekte, Deutsche Vierteljahrs-Schrift 27, 1864, 90-137. - Dieckmann, W. (1989), 271-305
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19. Jahrhundert im Sprachleben selbst ... Dem Dichter liefert die Sprache selbst die neuen Formeln, er findet sie, und der Sprachrexniger sucht sie. Das Recht, die Sprache bereichern zu wollen, hat der eine wie der andere.
Es sei notwendig und Pflicht vor allem der Sprachgesellschaften, durch die Losung der Sprachreinheit Freunde und Feinde einer guten Sache aufgerüttelt und geweckt zu haben. Die Sprache habe historisch aber alle >Fährlichkeiten ... glücklich überstanden^ Aus der e w i g e n Jugendfrische literarischer, vor allem klassischer Werke werde das Volk sprachlich seine >Kraft und Nahrung< finden, und mit der Sprache werde auch die Literatur und das deutsche Volk gesunden. Die deutsche Sprache habe >an der Gründung unseres deutschen Reiches einen so wesentlichen Anteil·. 3 2 Und H E Y M A N N S T E I N T H A L reflektiert die Gefühlswerte, die der Mensch der eigenen und den fremden Sprachen gegenüber entwickelt. An der Muttersprache hängen die glücklichsten, die ins Innerste unseres Gemüts reichenden Erinnerungen, vor allem die aus den paradiesischen Lebensalter, der Kindheit ... Unsere Gefühlsmacht knüpft sich vor allem an die Ideale der dichtenden Schönheit, aber auch sogar an alle allgemeinen Erkenntnisse. Das Gefühl ... bleibt am Laute des Wortes haften. Darum wirkt kein fremder Dichter, auch der größte nicht, so mächtig auf uns wie unsere Klassiker, darum gewinnt jener auch für den, der ihn im Original lesen kann, in der deutschen Uebersetzung an Macht, und würde Göthe in der vollkommensten Uebersetzung in eine fremde Sprache für uns verlieren. In all diesen Fällen könnte immerhin für den tüchtigen Kenner der fremden Sprache die gestaltende Tätigkeit der Phantasie beim Lesen oder Hören gleich bestimmt und leicht, also der rein poetische Eindruck derselbe sein; sein Gemüt, das doch beim vollen Genuss der Dichtung nicht schweigen darf, wird dennoch nur dem Gedicht in der Muttersprache den vollen Widerhall gewähren. - So liest man noch mehr eine streng wissenschaftliche Abhandlung gleich gut deutsch, lateinisch oder französisch u.s.w.; und dennoch wird die deutsch geschriebene Arbeit über die letzten Gründe unserer Erkenntnis, die tiefsten Grundlagen der Sittlichkeit Anklänge leisester Art erwecken, die auch solchen Betrachtungen nicht fehlen dürfen. Alles, was die Sprache überhaupt dem Geiste leistet und nach der Organisation des menschlichen Geistes leisten soll: das gewährt nur die Muttersprache. In ihr haben wir zu denken und zu fühlen, Gott und die Eltern kennen gelernt, in ihr und durch die sie wichtigsten Kenntnisse erhalten. Mit ihr ist unser Geist zur Einheit verwachsen; und darum ist uns zu Mute, als wäre an ihren Laut alles Schöne, Ware und Gute geknüpft. Denn nur in ihr d e n k e n wir nicht bloß die Gesetze der Sittlichkeit, die letzten Gedanken über Gott, Welt und Mensch, sondern f ü h l e n auch den Wert, die Erhabenheit dieser Gedanken; in ihr stellen wir uns nicht bloß schöne Bilder des menschlichen Lebens phantasievoll vor, sondern fühlen auch die Macht, die das Schöne auf das Gute und Ware übt, und fühlen die volle Genugtuung, welche das Wissen und das sittliche Handeln dem menschlichen Gemüte gewährt. Die fremde Sprache, die wir mehr oder weniger mühsam erlernen, sitzt an unserm Geiste, wie ein Zweig, der an einen fremden Stamm gebunden wird; es ist 32
Kluge, F., Sprachreinheit und Sprachreinigung geschichtlich betrachtet, Zeitschrift des Allgemeinen deutschen Sprachvereins 9, 1894, 201-211; Ders. Der Kampf um die deutsche Sprache, Weimar 1887
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höchstens ein Schmuck, der nicht durch uns lebt und für uns nicht fruchtbar ist. Unsere Muttersprache ist freilich auch nicht aus jedem von uns hervorgewachsen; aber sie ist unserm Geiste wie eingepfropft, so daß die Lebenssäfte aus dem Stamme in den Zweig und aus diesem zurück in jenen fließen. Die fremde Sprache ist ganz ein Spiel des Verstandes oder rein intellectuellen Tätigkeit; ihre Laute sind mit Begriffen und Anschauungen verbunden, aber nicht mit unserm Gemüt. Daher ist sie für uns kalt. 33
5.2 Literarisch orientierte Sprachkultur Für die Dichter der romantischen Zeit ist die Sprache das höchste Gut. Sprache ist Erkenntnis, ist schöpferische Kraft. Im Sprechen erschafft sich der Mensch die Welt. Allerdings ist die Sprache der Zeit, d.h. des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts weit von der höchsten Idee eines Idealmediums für die Poesie entfernt. Sie ist in Konvention und Formelhaftigkeit erstarrt. Deshalb gilt es für den Dichter, die >Sprache der SprachenBriefen über Poesie, Silbenmaß und Sprachedie wunderbarste Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens, gleichsam das große, nie vollendete Gedicht, worin die menschliche Natur sich selbst darstellt^ in ihrer steigenden Rationalisierung zum >toten Buchstaben< abgesunken sei. ... in den gebildeten Sprachen, hauptsächlich in der Gestalt, wie sie zum Vortrage der deutlichen Einsicht, der Wissenschaft gebraucht werden, wittern wir kaum noch einige verlorene Spuren ihres Ursprunges, von welchen sie so unermeßlich weit entfernt sind; wir können sie fast nicht anders als wie eine Sammlung durch Übereinkunft festgesetzter Zeichen betrachten. 34
Die Dichtersprache müsse die logische Bestimmtheit aufgeben und sich der Musik annähern, die noch am reinsten das Sinnbild für die ehemalige Einheit der Welt verkörpert. Der Dichter muß mit dem von ihm gewählten Wort, dem >ZauberwortFarbe< der Vokale entdeckt. Schlegel stellt in seinen Betrachtungen über die Metrik< eine >Vokalfarbenleiter< auf: Α ist rot oder lichthell. Sein Ausdruck: Jugend, Freude, Glanz. Ο ist purpurn, >es hat viel Adel und Würdeder Vokal der Innigkeit und LiebeDer Wettstreit der Sprac h e n bezweifelt er Klopstocks These, die deutsche Sprache übertreffe die anderen europäischen und sei der griechischen gleich. Er gesteht dem Deutschen >Bildsamkeit< zu. Später tadelt er den Mangel an Vokalen, das Überwiegen breiter Diphthonge und des tonlosen e, die gehäuften Konsonanten. Dagegen hebt er die >rhythmische Anlagehöchst lächerliche Behauptung, die natürliche - und darum beste - deutsche Mundart sei die der Markgrafschaft Meißen oder des Sächs. ChurkreisesDurch landschaftliche Vorurteile, worin sich Leute abzuhärten pflegen, die niemals ihre Geburtsstadt verlassene Sein Standpunkt sei der: Keine der vielen deutschen Mundarten könne einen ursprünglichen Vorrang vor den anderen behaupten. Erst seit Erfindung der Buchdruckerkunst sei die allgemeine Schrift- oder Büchersprache aufgekommen, nicht durch politischen Zwang, sondern aus dem Bedürfnis der Gedankenvermittlung. Das Oberdeutsche habe darin den Vorrang vor dem Niederdeutschen, das wegen der Abschleifung der grammatischen Formen zurückstehen müsse, und den östlichen Stämmen, die stark slawisch durchsetzt seien. Das echteste und reinste Deutsch sei überall zu Hause. Es lebe in Mundart und in der Schrift der Gebildeten und Gelehrten. Der Fehler der Bemühung um das Ausländische entspreche kosmopolitischem Sinne. Nachäffung des Fremden sei eine uralte Krankheit der Deutschen. FRIEDRICH SCHLEGEL glaubt an das Deutsche, soweit es >durch die Gewalt des Geistes< gesteuert wird. Er kann sich vorstellen,
daß unsre deutsche Sprache, ehe noch ein halbes Jahrhundert vergeht, die allgemeine wissenschaftliche Sprache f ü r ganz Europa seyn wird, so wie die französische es für die Gesellschaft und Staatsgeschäfte, die italiänische für den Gesang geworden sind. 35
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Schlegel, A.W., Betrachtungen über die Metrik, In: Kritische Schriften und Briefe, hg. v. E. Lohner, Stuttgart 1962, Bd. I, 199 Schlegel, A.W., Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, T.l: Die Kunstlehre, Heilbronn 1884, 109 Ebd. 279f.
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Im Alltag wie in der Dichtung herrsche jedoch eine >furchtbare Sprachverwilderungihren guten und vollen Anteil< haben. ... was ist jetzt überhaupt seltener als eine deutsche Rede, die wirklich Deutsch wäre, wie es doch seyn sollte, nach alter Art, so wie es ehedem war und wie es auch jetzt noch jederzeit seyn könnte? Das Ding oder Wesen ..., was viele unserer Schriftsteller schreiben, ich meyne auch solche die ich selbst an Geist und Gehalt zu den Bessern und Besten zähle; das kann ich wenigstens für Deutsch gar nicht erkennen. Ein unnatürliches Zwitterwesen ist es, ein widerartiger Mischling, aus dem Abfall aller andern Sprachen, besonders der französischen, durch einander gerührt. Andere haben wohl den guten Willen, rein Deutsch zu reden und zu schreiben. Aber jene schon in der Geburt verunglückten Wortungeheuer, welche sie zu Tage fördern, will ich auch nicht in Schutz nehmen ... Auf den Periodenbau und die Anordnung der Worte und selbst der Gedanken wendet fast niemand einige Sorgfalt. Oder man stolpert in ellenlangen unermeßlich verwickelten Wortverflechtungen den Griechischen Rednerkünsten und Künsteleyen nach, halb unverständlich und doch vergeblich ... Von allen denen welche das Büchermachen als ein ehrsames und redliches Handwerk betreiben, will ich gar nicht einmal reden. Was aus der edlen Gottesgabe der Sprache unter solchen Händen werden muß, bedarf keiner Erinnerung. Die Zahl solcher Werke ist verhältnismäßig groß in Deutschland, und kann nicht ohne die nachtheiligsten Folgen auf das Ganze bleiben. Selbst die Dichter sind nicht frey von Tadel. Oder soll ich sie erst erinnern an die starrsinnigen Vorurtheile, an die gewaltsamen Sprachverrenkungen einiger alten Meister, an die schnöden Spielereyen unserer dichtenden Jugend? An die mit und ohne Absicht gehäuften Nachlässigkeiten, denen sich andre im wohlbestätigten Gefühl ihrer hohen altgewohnten Vortrefflichkeit allzu liebenswürdig überlassen? An so viele Irrungen und Verwirrungen auch in der Sprache und Sprachform, in Grundsätzen wie in der Ausführung ... Am allgemeinsten und entscheidensten für das Ganze würde vielleicht wirken, wenn man einmal alle Kräfte und Aufmerksamkeit auf die Sprache richtete, ihre Verbesserung oder Erhaltung und Wiederherstellung. Aber was kann hier Einer allein ausrichten? - Oeffentliche Anstalten sind dazu nöthig, und durchgehenden Eingreifen in die Erziehung, große Unternehmungen und Allgemeinwerke. Der einzelne Schriftsteller vermag nichts als höchstens, daß er sich selbst einigermaßen rein und frey erhält von dem allgemeinen Verderben. 38 (Friedrich Richter) betont an vielen Stellen seines Werkes den Zusammenhang zwischen Kunst, Sprache und der gesamten Kultur. Für ihn ist die deutsche Sprache reich an Wörtern und Bildungsformen. Dadurch bietet sie vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten, erschwert aber auch den Sprachschülern wie den Wissenschaftlern den Überblick. Zahlreich sind die Synonyme, die Doppel Wörter, die er gerne behalten möchte, ebenso wie die > sinnlichen Wurzel-Zeitwörterein unscheinbares GrubenkleidUeber die deutsche LitteraturJungen D e u t s c h l a n d s sah einen direkten Zusammenhang zwischen dem Wirken der Literatur und der von ihm angestrebten Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung. Schriftsteller hätten die Aufgabe, das Sprachrohr und Forum einer breiten ö f fentlichen Meinungsbildung und -äußerung zu sein. Deshalb müssen sie sich an Äußerlichkeiten, an der Schönheit der Sprache oder an kunstvollen Stilmitteln auszurichten: LUDWIG BÖRNE
Die schlechte Schreibart, die man bey vielen deutschen Schriftstellern findet, hat etwas sehr Verderbliches. In Büchern ist der Schaden, den ein vernachlässigter Styl verursacht, geringer und verzeihlicher; denn Werke größeren Umfangs werden mehr von solchen gelesen, die eine umschlossene oder gesicherte Bildung haben, und der sittliche und wissenschaftliche Werth dieser Werke kann ihre Kunstmängel vergüten. Zeitschriften aber, aus welchen allein ein großer Theil des Volks seine Bildung, wenigstens seine Fortbildung schöpft, schaden ungemein, wenn sie in einem schlechten Style geschrieben sind. Die wenigsten deutschen Zeitschriften verdienen in Beziehung auf die Sprache gelobt zu werden. Es ist aber leicht, an ihnen zu gewahren, daß die Fehlerhaftigkeit des Styls von solcher Art ist, daß sie hätte vermieden werden können, wenn deren Herausgeber und Mitarbeiter mit derjenigen Achtsamkeit geschrieben hätte, die zu befolgen Pflicht ist, sobald man vor dreißig Millionen Menschen spricht. Wenn man schreibe, müsse man zunächst einmal zwischen der Darstellung und dem Dargestellten, sowie zwischen Schönheit und dem Charakteristischen des Stils trennen, denn: Man kann schön schreiben, ohne einen Styl zu haben, und einen Styl haben, ohne schön zu schreiben.
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Müller, Α., Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland. Gehalten zu Wien im Frühlinge 1812, hg. v. W. Jens, Frankfurt a.M. 1967. - Wiedtemann, H., Adam Müller und sein Beitrag zur romantischen Ästhetik und Literaturkritik, Diss, (masch.) Freiburg i.B. 1951
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Als Kriterium, den Stil zu beurteilen, legt Börne fest: Vielleicht hängt der Styl eines Schriftstellers mehr vom Charakter als vom Geiste, mehr von seiner sittlichen, als von seiner philosophischen oder Kunstanschauung des Lebens ab.
Börne war der Auffassung, daß ein guter eindrucksvoller Stil nicht mehr von intelektuellen, ästhetischen Eigenschaften geprägt werde, sondern vielmehr von ethischen und politischen. Für ihn mußte ein guter Schriftsteller nicht unbedingt auch neue Gedanken haben, denn: Zu neuen Gedanken gelangt man selten. Der geistreiche Schriftsteller unterscheidet sich von dem geistarmen nur darin, daß er mit größerer Empfänglichkeit begabt, schon vorhandene Ideen, deren Dasein jener gar nicht bemerkt, aufzufassen und sich anzueignen versteht; aber neue schafft er nicht.
Der Schriftsteller erscheint hier als der >Pflegevater< der Sprache. Seinen Schriftsteller- und Journalistenkollegen empfahl Börne konsequente Stilübungen, denn: gibt es ein Talent, das durch Fleiß ausgebildet werden kann, so ist es das des Styls.
Sie sollten, um mit den Reichtümern der deutschen Sprache besser vertraut zu werden, Übersetzungen der antiken Autoren anfertigen. Für diejenigen aber, die ihren Stil gar nicht verbessern wollten, sei es aus Bequemlichkeit oder Feigheit, hatte er nur den beißendsten Spott, wenn er drei Jahre, nachdem die Zensurgesetze bereits verlängert waren (1827!) schrieb: Die deutschen Journalisten müssen sich aber eilen. Sie sollen nicht vergessen, daß am 20. September 1824, abends mit dem Glockenschlage zwölf, die Zensur in Deutschland aufhört. Wenn sie also bis dahin ihren Stil nicht verbessert, werden sie mit ihrem schlechten Stile in die Ewigkeit wandern. 50
Die Aufforderung, originelle Formulierungen zu gebrauchen, war keine Aufforderung zur ausdruckslosen Weitschweifigkeit, sondern Schloß vielmehr genaue Aufmerksamkeit - schon allein wegen möglicher >Stilblüten< - und Exaktheit mit ein. Allgemein meint Börne: Nicht an Geist, an Charakter mangelt es den meisten Schriftstellern, um besser zu sein, als sie sind.
Weiter vertrat er die Ansicht, daß ein jeder innerhalb weniger Tage zum >guten Originalschriftsteller< werden könne, sofern er nur bereit sei, >ohne Falsch und Heuchelei alles niederzuschreiben, was bewegtSprache und Stil< angesprochenen Frage nach der Originalität meinte Börne: ... wer den Mut hat, lehrend zu verbreiten, was das Herz ihn gelehrt, der ist immer originell. 51 In diesem Zusammenhang ist auch die Kritik Börnes an übermäßigem Fremdwörtergebrauch zu sehen. Zwar war Börne kein Sprachreiniger, der lediglich auf saubere >deutsche< Formen abhob. Er stellte aber auch hier den Gebrauch von Fremdwörtern in Zusammenhang mit seinem Ideal des >wahrhaftig Schreibensc Wenn der Herr Fürst, um das was er fühlt und denkt, auszusprechen, sich eines fremden Idioms bedienen muB, so beweist das, daß seine Gefühle und Gedanken auf einem fremden Boden gewachsen sind, und nicht in seinem eigenen Geiste und seinem eigenen Herzen. 52 L U D O L F W I E N B A R G , wie Börne führender Vertreter der >Jungdeutschenmiserabeln bürgerlichen und gesellschaftlichen Zustände der Deutschen< zurück. Grundsätzlich sei die deutsche Sprache w e g e n ihrer Ursprünglichkeit anderen, abgeleiteten Sprachen überlegen.
Freilich an äußerem Reiz ist manche ihr überlegen, heitrer, anmuthiger, gesellschaftlicher ist die französische, grandioser die spanische, sangreicher die italienische, allein seelenvoller und herzinniger, gestaltreicher und gedankendurchsichtiger, als alle, ist und bleibt die deutsche. Die französische und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder sind rhetorischer, die deutsche und alle ursprünglichen Sprache mehr poetischer Natur. In jener hat sich die Sprache abgelöst vom sprachschaffenden, sprachbildenden Genius, vom Herzen, vom Bewußtsein der Nation, sie ist ein Aeußeres und Fremdes geworden, und wer sich ihrer bedient, nimmt sie nicht aus sich, sondern aus dem Vorrath conventioneller Formeln und Redensarten, die für alle Zeiten gestempelt sind. In dieser, der ursprünglichen, ist Sprache und Seele eins, wer Deutsch spricht, spricht es aus seinem eignen Innern heraus und bedient sich der Sprache nicht wie eine bloße Convention, sondern als eines Naturprodukts, das in seinem eignen Lebensblute Wurzel faßt und seinen Geist vielastig mit Blüthen und Früchten durchwächst. Goethe vergleicht daher sehr richtig die französische Sprache mit ausgeprägter Scheidemünze, die Jeder in der Tasche bei sich trägt und der er sich auf das Schnellste im Handel und Wandel bedienen kann, die deutsche aber mit einer Goldbarre, die sich ein Jeder erst münzen und prägen muß, woher es auch ein gewöhnlicher Fall, daß der gemeinste Franzose rasch und fließend spricht, da er seine Wörter ungezählt nur so ausgibt, der Deutsche aber.
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Börne, L., Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden, In: Sämtliche Schriften, hg. v. I. und P. Rippmann, Düsseldorf 1964, Bd. 1, 740-743 Börne, L., Menzel der Franzosenfresser und andere Schriften, hg. v. W. Hinderer, Frankfurt 1969, 108
Literarisch
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selbst der gebildete, sich nur selten so rund und voll auszudrücken vermag, als er wohl wünscht. Die Deutschen verdanken ihren Ruhm zwar ihren Dichtern, aber selbst von den bekanntesten könne man kaum einen der Jugend sprachlich als reines Muster empfehlen: Fichte's Periodengeflechte sind mehr dornig als blumig, Schleiermacher spinnt fast unsichtbare Gewebe und in dem Werk, was man für das Meisterstück seines Sprachskeletts ausgibt, in den Monologen, schreibt er Jamben, statt Prosa; Schiller Uberbietet sich in einer glänzenden, aber nur zu oft undeutschen und hohlklingenden Paradesprache, und Goethe, der weit entfernt von diesem Fehler ist, hat in seinen Prosaromanen eine solche Menge glatter, höfischer Wendungen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie man mit ihm daran ist. Der Stil ist der Mensch selber, sagt Büffon; und Jean Paul: wie jedes Volk sich in seiner Sprache, so malt jeder Autor sich in seinem Stil. Kräftigen, reinen und schönen Stil wird kein Schriftsteller in unkräftiger, unreiner und unschöner Zeit erwerben, füge ich hinzu, denn der Schriftsteller ist im höhern Grad als ein Anderer, oder vielleicht nur sichtbarer, ein Kind seiner Zeit. 53 THEODOR M Ü N D T
schließt an seine jungdeutschen Kollegen an:
Die Deutschen sind eine schreibende Nation genannt worden, und doch war bei keinem andern Volk die schöne Kunst zu schreiben von so zäher Barbarei so lange zurückgehalten. Eine Sprache, die viel g e h ö r t wird, gelangt jedoch weit eher dazu, auch gut g e s c h r i e b e n zu werden, und eine bloß geschriebene, wie die deutsche, welche sich ganz dem Ohr entzieht und der freieren öffentlichen Gelegenheiten entbehrt, fällt von selbst dem Studierstubencharakter, dem Kanzleiund Predigerstil, dem altfränkischen Menuettschritt steifverschlungener Sätze anheim. Der Deutsche schreibt nicht, um zu sprechen, sondern man sieht immer, daß er sich eigens dazu an den Tisch setzt, um zu schreiben, wie ein Drechsler an die Hobelbank; man sieht ihn an seinen Sätzen zimmern im Schweiß seines Angesichts, alles mögliche Bauholz herbeischleppen und ein Perioden-Magazin aufführen, in dem viele Ideen hausen können, das aber selber keine gestaltete Idee ist und wird. Am schlimmsten steht es jedoch mit der Schreibsprache des gemeinen Mannes in Deutschland, dem gänzlich eine öffentliche Norm guter Rede, woran er den Ausdruck seiner Bedürfnisse erheben und veredeln könnte, abgeht, mit Ausnahme etwa der Eindrücke, die er aus der Kirche und von der Kanzel empfängt. 54 Wichtig ist Mündt die Bindung der Sprache an die Nation und an die Heimat: Die tieffsten Bedürfnisse eines innern Menschen kann man doch nur in seiner Heimathsprache, die mit den eigensten Anschauungen zugleich aufgewachsen, ganz und gar ausklingen ... Man kann in einer Sprache nicht dieselben Gedancken haben und ausdrücken, wie in einer andern, und allen antipatriotischen Anwandlungen zum Trotz, macht das tägliche deutsche Gedanckenbedürfnis Jeden wieder zum deutschen Menschen ... Der deutsche Gedanke wird mit dem Heimweh nach dem deutschen Wort geboren, und durch alle von den Umständen irgendwie gegebene Nöthigungen in ein fremdes Kleid bricht ... die Sehnsucht danach aus ihm her-
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Wienbarg, L., Aesthetische Feldzüge, Hamburg 1834, 223-229 Mündt, T., Die Kunst der deutschen Prosa, Aesthetisch, literaturgeschichtlich, gesellschaftlich, Berlin 1837, 49f. Ebd. 11 f.
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A U E R B A C H , einer der erfolgreichsten Autoren in der Mitte des 19. Jahrhunderts, meint, daß die volkstümliche Sprache an die Demokratie gebunden ist: BERTHOLD
Die volksthümliche Sprache in umfassenderer Bedeutung erwächst nur in freien Volksversammlungen. Hier ist es gegeben, das was der denkende einsame Geist aus sich auferbaut und in wissenschaftlichen Gebäuden fest gegründet hat, zur wohnlichen Stätte für den Volksgeist einzurichten; hier allein ist es gegeben, daß der Volksgeist das ihm nach Form und Inhalt Aufgedrungene abstoße ... Das Volk liest laut oder auch leise mit dem Munde, und nicht bloß mit den Augen. Weder die aus dem Lateinischen herübergenommene, in einander gefugte Satzbildung, weder der sogenannte wissenschaftliche Periodenbau, der alle Seitentaschen mit Unter- und Nebenbegriffen vollgestopft hat, noch die kurze, hastig abgekappte Satzbildung, die das Zeitungswesen neuerdings aufgebracht hat, ist hier am Orte. Unseren jetzigen Verhältnissen gemäß ist der Begriff einer volksthümlichen Sprache nicht allgemein festzustellen; die Bildung der Zeit und des Landes setzen allerdings gewisse äußere Grenzen, das Individuelle bleibt auch hier maßgebend ... Es kommt jetzt nur darauf an, in wie weit der Schriftsteller mit der Empfindungsund Ausdrucksweise des Volkes eins ist. Zur Sprachreinigungsbewegung verhält sich Auerbach vorsichtig: Vielfach geltend ist auch die Ansicht, daß die erste Bedingung einer volksthümlichen Sprache ihre Reinigung von Fremdwörtern und Kunstausdrücken sei. Gewiß muß das Bestreben dahin gehen, rein deutsch zu schreiben, aber wir können nur nach und nach dahin gelangen. Wie die Sachen heute stehen, ist durch das Staatsleben mit seinem fremden Rechte und schriftlich geheimen Verfahren, durch das Militärwesen, durch Schule und Kirche, eine solche Fluth von Fremdwörtern und Kunstausdrücken in den Strom der Alltagssprache gelenkt worden, daß wir mit heimischen Ausdrucke geziert, unverständlich und willkürlich werden. Die theoretische Sprachreinigung ging namentlich darin zu weit, daß sie alle Schattierungen eines Begriffes oder Merkmale eines Gegenstandes mit in den bezeichnenden Ausdruck aufnehmen wollte; dadurch entstand jene lächerliche Häufung, die den Gegnern leichte Waffe zur Verspottung in die Hand gab. Die Reichhaltigkeit unserer Sprache, die für jede Schattirung eines Begriffes u.s.w. ein eigenes Wort hat, sowie die Fortbildungsfähigkeit des vorhandenen Sprachschatzes, gerade diese Vorzüge erschweren uns die feste Gestaltung einer volksthümlichen Sprache. Es ist aber nicht nöthig, daß in einem Worte alle Nebenbegriffe mit ausgedrückt seien, laßt es nur gäng und gäbe werden, es wird sich sein Gebiet schon behaupten. 56 In der zweiten Jahrhunderthälfte wächst zunehmend die Meinung, die leitende Funktion der Dichtersprache sei überholt, zumal man den zeitgenössischen Dichtern eine solche Rolle nicht mehr zusprechen wollte. >Statt des Schriftstellers regiert in Deutschland der Schreiben, meint O T T O S C H R O E D E R , 5 7 und GUSTAV W U S T M A N N erklärt kategorisch: Daß noch einmal große Schriftsteller durch ihre Werke bildend auf die Sprache des ganzen Volkes einwirkten, wie zur Zeit unserer Klassiker, ist völlig ausgeschlos-
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Auerbach, B., Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel's, Leipzig 1846, 205-211 Schroeder, O., Vom papierenen Stil, Berlin 1889, 23
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Sprachkultur
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sen. Und wenn ein Engel vom Himmel käme und schriebe das beste Buch für das deutsche Volk in der besten Sprache, ein Buch, das in vielen hunderten von Auflagen gekauft und gelesen würde, der erdrückenden Übermacht der Tagespresse gegenüber würde seine Macht verschwinden wie ein Tropfen im Meere, die Tagespresse macht alle Bücher tot. 58 FRIEDRICH ENGELS
kritisiert die deutsche Literatur so:
Die Ungeschicklichkeit der deutschen Sprache für den Handgebrauch bei enormer Leichtigkeit in Behandlung der schwierigsten Themata ist mit Ursache - oder Symptom? - der Tatsache, daß die Deutschen in den meisten Fächern die größten Männer haben, daneben aber die Massenproduktion ungewöhnlich schlechter Schund ist. Literatur: Die zahlreichen soliden Dichter 2. Rangs in England, die brillante Mittelmäßigkeit, die fast die ganze französische Literatur erfüllt, fehlen fast ganz in Deutschland. Unsre Dichter 2. Rangs nach einer Generation kaum noch lesbar. Dito Philosophie: neben Kant und Hegel die Herbart, Krug, Fries und schließlich Schopenhauer und Hartmann. Die Genialität der Großen findet ihre Ergänzung in der Gedankenlosigkeit der gebildeten Masse, daher kein Name falscher ist als der des Denkervo/fcr. Dito Millionen Literaten. Nur in Dingen, die von der Sprache mehr oder weniger unabhängig, ist das anders und auch Leute 2. Rangs bedeutend in Deutschland: Naturwissenschaft und namentlich Musik. Unsre Geschichtsschreibung unlesbar. 59 Und A L E X A N D E R E M I L DE B O I S - R E Y M O N D , der ständige Sekretär der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, holt aus zum Rundumschlag: Jede Bemühung, die deutsche Sprache und ihre Rechtschreibung festzustellen, blieb bisher vergeblich. JACOB GRIMM'S Rechtschreibung war wohl ein zu radicaler Reformversuch, und lässt zuviel Einwände zu. Sie wird von einem getreuen Häuflein Sprachkundiger in- und ausserhalb dieser Akademie befolgt, die grosse Menge kennt nicht einmal ihr Dasein, und staunt, wenn sie eine Probe davon sieht. Nach wie vor haben wir zwei Schriften, für die gangbarsten Wörter zwei Schreibweisen, für viele Zeitwörter zwei Arten der Beugung ohne allgemein anerkannte Regel für deren Gebrauch. Die mangelhafte Synonymik erlaubt denselben Gedanken ohne bestimmte Nüancirung nach Belieben auf mehrere Arten auszudrücken. Die daraus entspringende Leichtigkeit verführt zu der Nachlässigkeit, welche uns den Vorwurf zuzieht: Les Allemands n'ont pas le mot propre. Wir sind schon zufrieden, wenn der Ausdruck den Gedanken nur ungefähr deckt, und auf einen kleinen Denkfehler kommt es uns nicht an. Mit seltenen Ausnahmen spricht jeder Deutsche, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Nicht bloss jede Landschaft besteht in Aussprache, Wortbildung und Wortfügung auf ihren Eigenheiten, sondern jeder Einzelne hat dergleichen von Aeltern, Pflegerinnen, Lehrern überkommen, oder selber sich ausgedacht. Wie nach BOILEAU jeder Protestant mit der Bibel in der Hand Papst ist, so dünkt sich, aber auch ohne ADELUNG, HEYSE und GRIMM, j e d e r D e u t s c h e e i n e A k a d e m i e . 58 59
Wustmann, G., Allerhand Sprachdummheiten, Leipzig 1891, 30 Engels, F., Materialien zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands (etwa 1874), In: Karl Marx - Friedrich Engels, Über Sprache, Stil und Übersetzung, hg. v. H. R u s c h i n s k i ; B . R e t z l a f f - K r e s s , Berlin ( D D R ) 1974, 4 0 1 f . - WILHELM LIEBKNECHT,
der Begründer der deutschen Sozialdemokratie, kritisiert ebenfalls: »Daß die Sprache unserer sogenannten Nationalliteratur ... der Masse der Nation nicht verständlich ist, das wird ziemlich allgemein zugegeben. Indes mehr oder weniger gilt das gleiche von sämtlichen Kulturvölkern.« Wissen ist Macht - Macht ist Wissen, In: Kleine politische Schriften, hg. v. W. Schröder, Frankfurt a.M. 1976, 135
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19.
Jahrhundert
Ein grosser Theil der musikalischsten Nation der Welt kann die Consonanten mit und ohne Stimme, und die einander näher stehenden Vocale und Diphthongen nicht unterscheiden. Viele unserer schönsten Gedichte sind deshalb durch unvollkommene Reime entstellt. Sogar von der Bühne herab verfolgt das feinere Ohr der unleidliche Missklang schlechter Vocalisirung. Um so merkwürdiger erscheint dies, als, wie wir jetzt wissen, die Vocale durch bestimmte, in ihnen vorklingende Obertöne gekennzeichnet sind, die Fähigkeit, sie zu unterscheiden, mit der musikalischen Begabung also gleichen Schritt halten sollte. Der Mehrzahl auch der literarisch und wissenschaftlich gebildeten Deutschen ist dies Alles vollkommen gleichgültig, wenn sie es überhaupt wissen. Oder sie ziehen sogar die aus der Gesetzlosigkeit entspringende Ungebundenheit dem doch heilsamen Zwange eines geregelten Zustandes vor. Denn durch j e festere Regeln das sonst Willkürliche bestimmt ist, mit um so grösserer Sicherheit bewegt sich, wer sie einmal erfasst hat, und kann nun sein Augenmerk wichtigeren Dingen zuwenden. Die auffallende Fehlerhaftigkeit des deutschen Druckes im Vergleich zum englischen und französischen beruht, wie Sachverständige versichern, zum Theil darauf, dass der deutsche Setzer nicht bloss die deutsche Rechtschreibung im Kopf haben, sondern auch die seines jedesmaligen Autors beachten muss. Viel eher als Englisch und Französisch bedürfte das Deutsche einer gewissen formalen Beaufsichtigung, wegen der Leichtigkeit, mit der es neue Wortbildungen zulässt, und der Unfähigkeit, lateinische und griechische Wörter sich wahrhaft zu verähnlichen. Aus letzterer entsteht die, Engländern und Franzosen unbekannte, schon oft vergeblich bekämpfte, nie ganz auszurottende Plage der Fremdwörter, der aber doch unter gleichen Verhältnissen die Holländer viel erfolgreicher begegnen als wir. Sehr nöthig wäre uns gerade jetzt etwas von der französischen und englischen Sprachpolizei, wo das öffentliche Leben, die überall tagenden Versammlungen, die Zeitungen zahlreiche neue Redensarten aufbringen, von denen wenige als Bereicherung des Sprachschatzes erscheinen. Dazu kommt, die Verwirrung zu steigern, das Dasein jenes zweiten grossen Mittelpunktes deutscher Bildung im Südosten. Spät von der deutschen literarischen Bewegung ergriffen, unter dem Einfluss eines babylonischen Zungengemisches, liess der österreichische Stamm in seiner Sprechweise eine Menge Eigenheiten sich einwurzeln, welche ebenso schwer zu beseitigen, wie vom classischen Standpunkte zu dulden sind. Hand in Hand mit der Gleichgültigkeit gegen die formale Seite der Sprache geht bei den Deutschen die Vernachlässigung des Stils. Wenn ich hier von Stil rede, meine ich nur dessen grundlegende Eigenschaften, die bei einem gewissen Maass von Begabung Jeder durch Schulung sich aneignen kann. Es ist nicht von Jedem zu verlangen, dass er geistreich, fein, schwunghaft schreibe, dass er mit sinnvollen Wendungen den Leser gewinne, mit treffenden Gleichnissen ihn erfreue, durch Leidenschaft ihn fortreisse. Dagegen ist von Jedem zu verlangen, dass er in gutem Deutsch seine Meinung bündig, kurz und klar mittheile. Um bei den deutschen Naturforschern stehen zu bleiben, wie viel unter ihnen giebt es denn, welchen der Gedanke, dass man auf die Darstellung Fleiss verwenden müsse, und dass eine wissenschaftliche Abhandlung ein Kunstwerk sein könne wie eine Novelle, nicht als wunderliche Grille erscheint? Weil sie die grundlegenden von den verschönernden Eigenschaften des Stiles nicht trennen, meinen sie, gutes Deutsch sei ein Geschenk des Himmels, um das, wer es nicht besitze, umsonst sich bemühe, und welches überdies nicht werth sei, dass man seinetwegen sich plage. Unbekümmert um die äussere Erscheinung treten sie im Schlafrock vor die Oeffentlichkeit, und, was kaum minder schlimm ist, die Oeffentlichkeit ist es zufrieden. Ja sie suchen etwas darin, äusserer Hülfsmittel sich zu entschlagen, als ob die Wahrheit unter gefälliger Form litte, und als ob nicht formale Durchbildung eines Gedankengefüges der sicherste Weg wäre, übersehene Lücken und Fehler aufzudecken. Je hastiger gegenwärtig die wissenschaftliche Production, um so
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grösser die stilistische Verwilderung. Lehrreich ist zu beobachten, dass sie weniger bei den Forschern um sich greift, deren Gegenstand strenges Denken erheischt, bei den Physikern, mehr bei denen, die am anderen Ende der Reihe stehen, den Medicinern. Namentlich treiben diese einen nicht genug zu tadelnden Missbrauch mit Fremdwörtern. Es wäre schwer, hier nicht A L E X A N D E R ' S VON H U M B O L D T mit einer gewissen Wehmuth zu gedenken. Er hatte in der Jugend das aesthetisch erregte Deutschland der Jenenser Zeit verlassen. Nach seiner Reise hatte er ein Vierteljahrhundert im Institut, dem Mittelpunkte französischer literarischer Bewegung, verlebt. Nach Deutschland zurückgekehrt, wo schon die Reaction gegen den Idealismus sich vorbereitete, in der wir uns beinden, sah er in seinen stilistischen Bestrebungen sich schmerzlich vereinsamt. Um so tiefer empfand er dies, je mehr in Frankreich sein Formtalent bewundert worden und ein je mächtigerer Hebel es ihm dort gewesen war. Für mich ist kein Zweifel, dass vornehmlich diese Empfindung ihn zu V A R N HAGEN hinzog. Wie ist es möglich, dass seit so langer Zeit die deutsche Jugend die kostbarste Zeit des Lebens auf den Schulbänken mit dem Studium der antiken Muster verbringt, aber nicht sie zum Vorbilde nimmt? Lateinisch zwar lernte sie schreiben, aber sie lernte nicht schreiben, wie die Lateiner. Höchstens die Verwicklung des Satzbaues entlehnten wir den Römern, ohne gleich ihnen den Ariadnefaden starker Beugungen durch das Labyrinth der Rede zu besitzen. Dagegen Franzosen und Engländer, über deren humanistische Studien unsere Gymnasial-Directoren und Oberlehrer die Achsel zucken, stets bemüht waren, die stilistischen Vollkommenheiten der Alten so viel wie möglich in ihren Sprachen wieder aufleben zu lassen. Bekanntlich ist auch die Zahl derer, die im späteren Leben zum Vergnügen einen Classiker aufschlagen, verhältnissmässig kleiner bei uns als in England. Es liegt nahe, diese Widersprüche davon herzuleiten, dass unser classischer Unterricht auf die formale Ergründung der alten Sprachen, als auf ein Bildungsmittel an sich, zu viel Gewicht legt. Ueber dem Betrachten der Einzelnheiten geht der Gesammteindruck verloren; vor lauter Bäumen sieht der Schüler den Wald nicht. Schade nur, dass auch von der so angelernten >Akribie< nichts der Muttersprache zu Gute kommt. Vielleicht ist die bei uns, im Vergleich zumal mit den Franzosen, ausgedehntere Beschäftigung mit dem Griechischen zum Theil Schuld daran, dass wir aus dem Studium der Alten für unseren Stil geringeren Vortheil zogen. Die griechische Sprache besitzt eine Fülle von Beugungsformen des Zeitwortes und von Partikeln, denen im Deutschen nichts entspricht. Wir mögen es dahin bringen, diese Formen im einzelnen Fall aus grammatischen Regeln zu rechtfertigen. Aber meist ist die Regel den Beispielen entnommen, und dann bleibt solche Erklärung ein Zirkelschluss. Wahre Einsicht in die Nothwendigkeit einer bestimmten Form an einer bestimmten Stelle gewährt die Regel meist so wenig, wie eine empirische Formel die Umstände kennen lehrt, die den danach interpolirten Werth der Variablen bedingen. Es mag jederzeit in Europa ein paar Graecologen geben, die durch unaufhörliches Sichversenken in die Texte zu solchem Sprachgefühl gelangen, dass die verschiedenen Aoriste, und andere Dinge der Art, ihnen wahrhaft lebendig werden. Seiner Natur nach ist solches Gefühl nicht übertragbar, und so verharrt die ungeheure Mehrzahl der Griechisch Lernenden auf einer Stufe, wo sie bei Vielem sich nichts Rechtes zu denken wissen. Die unaussprechbaren Accente gewöhnen sie vollends daran, Bedeutungsloses gelten zu lassen. Wenn sie nun eine Seite Griechisch, auf der sie von Vielem keine deutliche Rechenschaft sich geben können, als unerreichbares Muster des Stiles rühmen hören, wie sollen sie mit der obersten Wahrheit der Stilistik sich durchdringen, dass der Stil die Minimumaufgabe zu lösen hat, durch möglichst wenig Zeichen eine gegebene Gedankenreihe zu erwecken, dass also ohne zureichenden Grund kein Zeichen dastehen darf? Ferne sei mir, dem das Hellenenthum als Quell aller wahren Bildung erscheint, deshalb das Studium des Griechischen einschränken zu wollen. Ich wünschte nur, dass, wenn der Jugend die
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griechische Diction zum Vorbilde gegeben wird, dieser Umstand nicht unberücksichtigt bliebe. Die geringere Fertigkeit der Deutschen im Gebrauch der Muttersprache wird sodann, wenn nicht entschuldigt, doch zum Theil erklärt durch die sprachliche Vielseitigkeit, die in ihrer umfassenderen Weltanschauung, ihrem Weltbürgerthum, wie man es nennen kann, wurzelt. Von den geistig beschäftigten Deutschen haben viele den löblichen Ehrgeiz, neben Deutsch auch noch Französisch, Englisch und womöglich Italiänisch leidlich fehlerfrei zu sprechen und zu schreiben. Kein Wunder, dass sie in der Muttersprache es nicht zur Meisterschaft des Franzosen oder Engländers bringen, für den es meist nur Eine Sprache in der Welt giebt. Auch die Beschäftigung mit der speculativen Philosophie und der grosse Platz, den diese im deutschen Geistesleben lange einnahm, ist zu den Umständen zu zählen, die unserer sprachlichen Entwickelung geschadet haben. Sie hat die Deutschen daran gewöhnt, ungenau Gedachtes, locker Geschlossenes, mitunter Sinnloses, unter dem Schutz orakelhafter Dunkelheit und einer sinnverwirrenden Kunstsprache, als tiefe Weisheit sich bieten zu lassen. Sie hat sie in dem Fehler bestärkt, zu dem sie ohnehin neigen, ihre Gedanken nicht zu voller Schärfe auszuarbeiten, und bei deren Ausdruck gleichsam mit einer ersten Annäherung sich zu begnügen. Leider muss hinzugefügt werden, dass auch die kritische Philosophie durch die rauhe Härte und ungefüge Verwickelung ihrer Schreibart der deutschen Sprache nicht zum Heile gereichen konnte. Endlich ist hier noch ein schweres Bekenntnis abzulegen. Unser grösster Dichter hat auf den deutschen Stil lange keinen guten Einfluss geübt. Auch da er die Iphigenie >Zeile für Zeile, Periode für Periode regelmässig erklingen liessflache Unbedeutenheit< erinnern, mit der Mephisto Faust bedroht. Er hätte vielleicht weniger begonnen, mehr vollendet; weniger gespielt, mehr geleistet; vielleicht mehr Achtung vor der Lesewelt bewahrt, und nicht so leichthin mit dem Gastmahl den Abhub in den Kauf gegeben. Die gesellschaftlichen Zustände solcher Stadt hätten für Roman und Komoedie mehr Stoff geboten, als das kleinbürgerliche Deutschland des vorigen Jahrhunderts. Im Treiben dieser Stadt hätte möglicherweise die deutsche Anrede etwas von der Unbeholfenheit verloren, die J A C O B G R I M M so bitter tadelt. Auch sonst wäre dort wohl mancher allzueckige Kiesel unserer granitenen Sprache, wie die Engländer sie genannt haben, zu einem glatteren Geschiebe abgeschliffen worden. Endlich bei dem literarischen Leben in einer erst KLOPSTOCK und L E S S I N G , dann W I E L A N D , H E R DER, G O E T H E , SCHILLER und JOHANN HEINRICH Voss, dann wieder T I E C K und die S C H L E G E L , zuletzt R Ü C K E R T , PLATEN und H E I N E , dazu jederzeit eine Schaar von Sprachkundigen, Geschichtschreibern, Kritikern und Tagesschriftstellern in sich schliessenden Metropole, wäre eine sich Bahn brechende Festsetzung der Sprache leichter vor sich gegangen. Dem unbestrittenen Ansehen, in welchem diese Stadt als Sitz des Talents und Geschmackes überall gestanden hätte, würde gern oder ungern, über kurz oder lang, die Nation sich gefügt haben. Die nun eingewurzelten Schäden, welche die sonst unermesslichen Vorzüge unserer Sprache verdunkeln, wären als Jugendfehler beizeiten getilgt worden. Hundert Jahre nachdem der junge GOETHE, wie der leuchtende Gott der Dichtung, unter uns trat, brauchten wir nicht vor dem Ausland uns sprachlicher Zustände zu schämen, die eines grossen Culturvolkes unwürdig sind, und uns auch wirklichen Nachtheil bringen. Denn sie tragen wesentlich dazu bei, den Fremden das Erlernen unserer Sprache zu verleiden, und ihr den Wettstreit als Weltsprache mit Englisch und Französisch unmöglich zu machen. 60
5.3 Fachlich orientierte Sprachkultur G O T T L I E B F I C H T E ist der Meinung, daß sich die Sprache v o m Sinnlichen zum Übersinnlichen entwickeln müsse, was nur durch eine sinnbildliche Übertragung des Sinnlichen auf abstrakte oder übersinnliche Begriffe geschehen dürfe:
JOHANN
Dieser übersinnliche Theil ist in einer immerfort lebendig gebliebenen Sprache sinnbildlich, zusammenfassend bei jedem Schritte das Ganze des sinnlichen und 60
du Bois-Reymond, E„ Über eine Akademie der deutschen Sprache, Berlin 1874, 20-26
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19. Jahrhundert geistigen in der Sprache niedergelegten Lebens der Nation in vollendeter Einheit, um einen ebenfalls nicht willkürlichen, sondern aus dem ganzen bisherigen Leben der Nation nothwendig hervorgehenden Begriff zu bezeichnen, aus welchem und seiner Bezeichnung ein scharfes Auge die ganze Bildungsgeschichte der Nation rückwärtsschreitend wieder müßte herstellen können. In einer todten Sprache aber, in der dieser Theil, als sie noch lebte, dasselbe war, wird er durch die Ertödtung zu einer zerrissenen Sammlung willkürlicher und durchaus nicht weiter zu erklärender Zeichen ebenso willkürlicher Begriffe, wo mit beiden sich nichts weiter anfangen läßt, als das man sie eben lerne. 61
Diese Entwicklung sei bedingt durch die Bedürfnisse, Fähigkeiten und die Kenntnisse jener, die das abstrakte Wort und den ihm zugrundeliegenden Inhalt verstünden. Sobald das Wort allgemein bekannt und verständlich werde, stelle es >eine wirklich erlebte Anschauung dieses Volkes< 6 2 dar. Wenn über ein unverständliches oder ausländisches Wort der Inhalt Teil des einheimischen Denkens und Lebens geworden sei, würde sich auch ein deutsches Wort dafür entwickeln. Deshalb bleibe die Sprache lebendig, schöpferisch und zugleich fähig, fremde Einflüsse zu absorbieren und einzubürgern. Das Volk werde durch die Sprache gebildet. FRIEDRICH S C H L E G E L setzt vor allem auf die Wissenschaftssprache, während er an der Vorbildhaftigkeit der dichterischen zweifelt:
Die Philosophen glaubten noch vor kurzem gar nicht anders reden und ihre Weisheit von sich geben zu können, als in einer eigenthümlichen Art von Roth- und Kauderwelsch, welches man in tiefster Ehrfurcht Terminologie nannte. Einige der Bessern und Ersten haben diesen buntscheckichten, aus den Lappen aller andern Wissenschaften zusammengeflickten Philosophen-Mantel nun endlich bey Seite gelegt. Sie haben ein ruhmvolles und nachahmungswürdiges Beyspiel gegeben, wie man klar und kraftvoll in deutscher Sprache von den Gegenständen der innern Welt und von der Natur, von Gott und vom Menschen schreiben kann. Im Ganzen aber fruchtet das wenig oder nichts; unzählige andere fallen immer wieder in die alte Gewohnheit zurück und wollen sich dieses ihnen einmal beliebte philosophischen Zigeunerdeutsch durchaus nicht nehmen zu lassen, welches sie als den wahren Stempel ächter Wissenschaft und Weisheit betrachten. Für die Zukunft hofft Schlegel auf weitere Einsicht: Es ist leicht möglich, daß unsre deutsche Sprache, ehe noch ein halbes Jahrhundert vergeht, die allgemeine wissenschaftliche Sprache für ganz Europa seyn wird, sowie die französische es für die Gesellschaft und Staatsgeschäfte, die italiänische für den Gesang geworden ist. Ich halte dies sogar für sehr wahrscheinlich. Wenn es aber geschieht, so wird es bloß durch die Gewalt des Geistes bewirkt seyn. Wenigstens thun wir von Seiten der Sprache alles nur Ersinnliche, um es zu verhindern oder gar unmöglich zu machen. 63
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Fichte, J.G., Reden an die deutsche Nation, In: Sämtliche Werke, hg. v. J.H. Fichte, Berlin 1844-46, Bd. 8, 325. - Dieckmann, W. (1988), 42-55 Ebd. 319; - Jergius, H., Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik, Bemerkungen zu Fichtes Wissenschaftslehren, Freiburg 1975 Schlegel, F., Deutsches Museum 1, 1812, Bd. 2, 260-283
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W I L H E L M FRIEDRICH H E G E L rühmt vor allem der deutschen Sprache nach, daß in ihr >ein spekulativer Geist nicht zu verkennen* sei, indem sie neben anderen Vorzügen auch über >einen Reichtum an logischen Ausdrükken, nämlich eigenthümlichen und abgesonderten, für die Denkbestimmungen selbst besitzt. Wesen statt Essenzdie ätherische Seelein dem unaufhörlichen Tropfenfall gleicher Wendungen und gleicher W o r t e n seinem Ohr einpräge: Da er meistens Stunden zu dieser Leserei benutzt, in denen sein ermüdeter Geist ohnehin zu Widerstehen nicht aufgelegt ist, so wird allmählich sein Sprachgehör in diesem Alltags-Deutsch heimisch und vermißt seine Abwesenheit nötigenfalls mit Schmerz.
Nietzsche tadelte an der Zeitungssprache die ausdrucksschwache Gleichförmigkeit verbrauchter Alltagswendungen; ebenso verurteilte er die entgegengesetzte Erscheinung: den Hang zu sprachlicher Willkür, zu >frechen Korruptionen an der Sprachen zu Übertreibung und Effekthascherei, durch die der Zeitungsschreiber der Monotonie zu entgehen suche. 8 0 Nietzsche betrachtete die Zeitung als Inbegriff all jener Tendenzen, derentwegen er die kulturelle Entwicklung seiner Epoche verachtete. Sein Zorn richtete sich besonders gegen den Einfluß der Presse auf das zeitgenössische Bildungswesen. Er behauptete, durch eine Beteiligung der Massen am Bildungsstreben werde die Bildung derart an Wert geschwächt, daß sie >gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr Verleihern könne: >Die allerallgemeinste Bildung ist eben die Barbareiauf die Breite gegründete Volksbildung und Volksaufklärung< habe die E m a n z i pation der Massen von der Herrschaft der großen einzelnen< zum Ziel und wolle das umstürzen, was er als die >heiligste Ordnung im Reiche des Intellektes< ansah: >die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ihren Instinkt der Treue unter dem Zepter des Genius. das ist das und dasdadurch gleichsam in Besitze Er geht soweit zu behaupten, diese >Machtäußerung der H e r r s c h e n d e n sei ihr >Herrenrechtin die bald dies, bald jenes, bald mehreres auf einmal gesteckt worden istder Blitz Ieuchtet< trennt die Sprache den Blitz von seinem Leuchten und bezeichnet letzteres als ein Tun, als die Wirkung eines Subjekts, das >Blitz< heißt. Die Sprache schafft dieses Subjekt aber erst, während, so Nietzsche, in Wirklichkeit das Tun alles ist, der Täter zum Tun bloß hinzugedichtet ist. Genau so verhält es sich mit den Paaren >Ich sein< >Wille - wollenVolkstribunen< hetzt, die nur >berauschen wollenSprechen zum Pöbel< nur als die >Reizung grober Intellecte< 91 sehen kann, bewirkt seine elitäre Denkweise gefährlich verquere Ergebnisse. So spottet er gegen ein öffentliches Bildungswesen: >Die allergemeinste Bildung ist eben die BarbareiSprachverderbden kolossalsten und überwiegendsten Sprachverbrauch an sich gerissen< habe. Durch Einwirkung der Presse sei die Sprache >um und um revolutionierte Der Journalismus dringe >wie der Sauerstoff in der Luft, zerstörend, zersetzend, auflösend und freilich auch neubildend auf das feste Gebilde der Büchersprache einin ganzen Redensarten< Neuerungen von einem Ausmaß durch, das der gesamten Buchliteratur versagt sei. Das Ergebnis solcher Neuerungssucht schien für Kürnberger überwiegend im Verlust bewährter sprachlicher Regeln und Elemente zu bestehen; so beklagte
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Ebd. 1005 Brandes, G., Aristokratischer Radikalismus, Deutsche Rundschau 63, 1890, 52-89 Nietzsche, F., Werke, hg. v. K. Schlechta, München 6 1969, Bd. II, 593, 713 Nietzsche, F., Werke, Leipzig 1901-1919, Bd. XVIII, 202 Nietzsche, F., Werke, hg. v. K. Schlechta, München 6 1969, Bd. II, 146 Ebd. Bd. III, 192
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er, ihm selbst sei >ein Teil seiner Schul- und Jugendsprache bereits abhanden gekommene 9 4 Dennoch hielt Kiirnberger, der trotz seiner skeptischen Distanz zum zeitgenössischen Journalismus die Zeitung als unentbehrliches Lebensmöbel< 95 ansah, auch eine Wendung zum Guten für möglich. Die Notwendigkeit eines eigenständigen, aber wesentlich verbesserten Zeitungsstils voraussetzend, machte er deutlich, daß der weiterhin wachsende Einfluß der Zeitungen auf die Sprache sich bei entsprechender Eignung und Mühe grundsätzlich auch vorteilhaft auswirken könne: Die Zeitung kann beides: sie kann unsere Sprache ausbilden und kann sie mißbilden. Ja, eines von beiden muß sie sogar, denn nichts ist gewisser, als daß sie die Sprache nicht lassen kann, so wie sie ist. Journale müssen nun einmal anders sprechen als Bücher, und unaufhaltsam ist der moderne Massen-Bildungsgang vom Buch zum Journal.
Dabei konstatierte Kürnberger den von anderen Kritikern so heftig beklagten journalistischen Einfluß auf Dichtung und Wissenschaft ohne wertenden Kommentar. Seine Prognose lautet auf Grund solcher Einsichten: Schriftsprache wird mehr und mehr heißen: Journalsprache.
Angesichts dieser Entwicklung wollte Kürnberger mit seiner Kritik vor allem die Journalisten selbst ansprechen und sie zu größerem sprachlichem Verantwortungsbewußtsein anhalten, wobei er sie sogar auf die >Mission< verpflichtete, >Hüter der Sprache< zu sein bzw. zu werden. Indem er sie aufforderte, dem Leser den Genuß ihrer neuen Ideen nicht durch neue sprachliche >Barbarismen< zu verleiden, schrieb er der Zeitung über die Nachrichtenvermittlung hinaus auch entscheidende geistige und politische Aufgaben zu. Auch Kürnberger legte den Journalisten eine Verpflichtung gegenüber klassischen Traditionen nahe, bei deren Nichtbeachtung >das Deutsch Lessings und Goethes< aufhöre, >eine lebende Sprache zu seinKlassische< auch nicht als stringente, normsetzende Instanz hin, die sämtliche Regeln der Schriftsprache dauerhaft festlegen könnte. Er selbst versuchte, anhand der
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Kürnberger, F., Feuilletons, hg. v. K. Riha, Frankfurt a.M. 1967, 142f; Fischer, D. (1983), 531 f. - Ederer, H. (1979), 160-175 Ebd. 156 Ebd. 153f.
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Presse seiner Zeit bestimmte journalistische Stilhaltungen und phraseologische Grundmuster zu unterscheiden, die er teilweise auch für sinnvoll und entwicklungsfähig hielt. GUSTAV W U S T M A N N , philologisch-historischer Schriftsteller aus Leipzig, Mitherausgeber der Zeitschrift >Die GrenzbotenAllerhand Sprachdummheiten< eine >Kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häßlichen< Diese Schrift war gedacht als >Hilfsbuch für alle, die sich öffentlich der deutschen Sprache bedien e n und da sie mit dieser Zielsetzung einem allgemeinen Bedürfnis entgegenkam, war ihr ein langanhaltender Erfolg (mit mehrfach erweiterten Auflagen) beschieden. Maßgeblich war dabei die Forderung, an den traditionellen Normen festzuhalten; neuere, aber durch den allgemeinen Sprachgebrauch bereits sanktionierte Erscheinungen wurden zumeist mit Verspätung und nur unter Widerstreben anerkannt. Die erste Auflage dieses Büchleins enthielt eine Einleitung, in der Wustmann sprachtheoretische und -geschichtliche Überlegungen zum Hintergrund der von ihm behaupteten >Verwilderung< des Deutschen anstellte. Als >der eigentliche Herd und die Brutstätte< der Verwilderung waren nach Wustmanns Urteil die Zeitungen anzusehen. 97 Er legte dar, wie deren unheilvoller Einfluß sich in besonders fataler Weise auf die als denkfaul geschilderte Masse auswirke, die das Zeitungsdeutsch als vermeintlichen >Inbegriff einer gebildeten Sprache< nachahme. Den von Eggers im historischen Rückblick als >Demokratisierung< gewürdigten Beitrag, den die Tagespresse im 19. Jahrhundert zur Verbreitung der Schriftsprache geleistet hat, sah Wustmann allein als Schaden an, als Zersetzung der Umgangssprache durch ein minderwertiges >Papierdeutschwie ein Buch< spreche, längst durch jene Zeitgenossen überholt worden, von denen sich sagen ließe: >... sie reden wie eine Zeitung.< 98 Wustmann meinte, der Einfluß der Zeitungssprache mache auch vor den Gebildeten nicht Halt und dringe in die höchsten Bereiche der Schriftsprache ein. Er hielt es für undenkbar, daß jemals wieder ein bedeutender Schriftsteller die allgemeine Sprachentwicklung günstig beeinflussen könne. >... der erdrückenden Macht der Tagespresse gegenüber würde seine Macht verschwinden wie ein Tropfen im Meere, die Tagespresse macht alle Bücher tot.Versuch einer Geschichte der deutschen Sprache als Geschichte des deutschen Geistes< heraus, daß sich Sprachkultur in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entwickelte.
Aber die Völker bedürfen, scheint es, der Entzündung am Fremden, um über die Schwelle der primitiven Gemeinschaftskultur hinauszukommen und wieder darüber hinweggehoben zu werden, wenn sie darauf zurückgesunken sind, sonst verkümmern sie kulturell. Und wir haben nur deshalb eine so unendlich reiche und bewegte Geistes- und Sprachgeschichte, weil unsere direkten und indirekten Berührungen mit dem Fremden so ungemein mannigfach waren. Man wird auch die Fremdwortfrage von hier aus zu lösen suchen. Der Philologe weiß, daß das fremde Gut in einer Sprache der Bildungsgradmesser der Sprachträger sein kann. Wer historischen Sinn hat, wird das fremde Gut sogar mit einer gewissen Pietät betrachten, denn es spiegelt sich nun einmal das Erwachen der deutschen Kultur darin. Aber es kann natürlich zu Zeiten und für gewisse Stile ein Ausdruck der Bildung werden, ihm entgegen zu treten. Gerade der Humanismus, der uns die moderne Bildung gab, übermittelte uns auch das von Stil zu Stil notwendig verschiedene Empfinden für Sprachreinheit und in einer übertrieben einst dem französischen Fremdwort huldigenden >alamodischen< Zeit verdienen die zu Unrecht verlästerten humanistis c h e n Kreise der Sprachgesellschaften das höchste Lob. Das läßt sich also nicht leugnen, daß alle sogenannte höhere Kultur durch die Berührung mit Fremden entstanden ist. Aber darin zeigt sich dann das schöpferische Volkstum, daß es eben nicht bei der Phrase bleibt, daß das Fremde dem eigenen Wesen organisch eingefügt wird. So haben die Deutschen es mit Christentum und Antike, ritterlicher Kultur, Gotik und Mystik getan. Ulfilas, Notker, Gottfried, Wolfram, Luther, Melanchthon, Opitz, Goethe, Schiller, Humboldt: sie werden erst zu dem, was sie sind, durch das Fremde, gewaltig es rezipierend, und sie zugleich sind die gewaltigen Meister des deutschen Geistes und der deutschen Sprache. Es ist, wie gesagt, heute modern geworden, Renaissance und Humanismus anzugreifen und ihren Einbruch in das deutsche Geistesleben als ein Verhängnis zu bedauern. Man fordert ein Zurückziehen auf sich selbst, eine völkische Erziehung, Bildung und Sprache. Von unserm hier vertretenen Standpunkt aus kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß dies, so ideal es gemeint ist, Zersetzungssymptome sind, die nicht ohne Ursache zeitlich zusammenfallen mit den Gemeinschaftsbestrebungen auf dem Gebiete der Politik, der Arbeit, des Besitzes, mit den primitiv-phantastischen, irrational-assoziativen Tendenzen der Kunst, der Ethik, der Religion. 12 Der Romanist K A R L V O S S L E R meint, die Deutschen hätten von den Italienern und Franzosen >viel, sehr viel gelernt, was die P f l e g e unserer Sprache als eines nationalen Gutes betrifftSprachmenschenSachmenschenseinen Sinn zu erfassen suchenfördern, vorausgesetzt, daß dieses Förderung verdiente 1 8 Richtige Sprachpflege vollziehe sich vor allem im Zusammenspiel des Gesichtspunktes der Struktur- oder Systemgemäßheit mit einem geschärften Sprachempfinden ... Beide Komponenten sind nötig, die objektive wie die subjektive. Die Strukturgemäßheit allein ist ein theoretisches, virtuelles Merkmal, das erst durch das Sprachempfinden aktualisiert wird. 19 kommt bei seinem Überblick über >Die deutsche Sprache unserer Zeit< 1956 zu der Erkenntnis, daß der Nationalsozialismus in der Sprachentwicklung wie eine Brücke wirkte: LUTZ MACKENSEN
an keiner Stelle erfinderisch, nutzte er die Ansätze, die ihm gemäß schienen, und erst die Auswahl, die er aus den Möglichkeiten der Zeit traf, und der Nachdruck, mit dem er sie formte und ausbreitete, machte seinen Einfluß auf die Sprache verhängnisvoll ... Einstweilen geistern die von ihm bevorzugten Wendungen und Redeformen nicht nur in unserer Wirtschaft, sondern auch in der Sprachübung der Parteien und anderer politischer Kreise. 20 Die Besatzungszeit habe nicht nur viele Fremdwörter in die deutsche Sprache einfließen lassen, sie habe zudem die Neigung der Öffentlichkeit gesteigert, Fremdwörter besonders aus der englischen oder amerikanischen Sprache anzunehmen, auch dort, w o keine strukturelle Notwendigkeit, wie etwa bei Funk, Fernsehen oder Musik bestehe. Besorgt zeigt sich Mackensen über die drohende Ausgliederung der Zone aus dem Sprachablauf ... In entscheidenden Fragen formte schon heute verschiedene Sprachdeutung verschiedene Weltbilder. 21 Es komme alles darauf an, daß unsere Sprache die Aufgaben in sich bewältigt, die ihr die Zeit gestellt hat. Sie kamen zu dicht und zu schnell, und es gab zu viele 17
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Moser, H., Entwicklungstendenzen des heutigen Deutsch, Der Deutschunterricht 6, 1954, H.2, 87-107; Ders. Deutsche Sprachgeschichte, Stuttgart 1950, 42ff. Moser, H„ Sprache - Freiheit oder Lenkung? Zum Verhältnis von Sprachnorm, Sprachwandel, Sprachpflege, Mannheim 1967, 38 Ebd. 45 Mackensen, L., Die deutsche Sprache unserer Zeit. Zur Sprachgeschichte des 20. Jahrhunderts, Heidelberg 1956, 175f. Ebd. 177f. - Vgl. auch Mackensen, L., Gespaltenes Deutschland - gespaltene Sprache ?, UNIVERSITAS 15, 1960, 817-831
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Störungen, als daß ein halbes Jahrhundert ihr dazu hätte hinreichen können. Sie ist in Gefahr, sich mechanisch anzureichern, was der Tag von ihr verlangt und was er ihr bietet. Es hilft ihr nichts, wenn ihr Wege angeboten werden, die in die Vergangenheit zurückführen. Sie kann ihre Ordnung nur in sich selber finden. Sich darauf zu besinnen, was das grundsätzlich und in jedem Einzelfall bedeutet, scheint mir die einzige Möglichkeit von Sprachpflege zu sein, die den Tatsachen gerecht wird und in die Zukunft weist, ohne die Vergangenheit zu leugnen. 22 In der Auflage von 1971 wendet sich Mackensen gegen die Sprachpfleger, vor allem gegen diejenigen, die gern von einer >Verfremdwortung< und einer >Verwissenschaftlichung< unserer Redeweise sprechen, die >nicht zu überhörende Teilerscheinungen in ungehöriger Weise zu Kennzeichen des Ganzen stempelnd Den vermehrten Fremdwortgebrauch begründet er mit dem Zusammenrücken der Völker und ihrer Kulturen, vor allem aber damit, daß er >aus dem Bereich der Sittlichkeit in den der Ratio, allenfalls des Geschmacks getreten< sei. 2 3 Einflußschleusen für Fremdworte seien die Technik, vor allem die Computer· und Kommunikationstechnik, die Wirtschaft, die Mode, Jazz und Beat, Popart, Reklame, oder allgemeiner, alles, was für den neuen Bürgerstandard, den das Wirtschaftswunder ermöglicht, maßgeblich ist. Die deutsche Sprache sei vielgestaltiger geworden und drängt sich in vielen Erscheinungen zu größerer Einfachheit: in langen, reichgegliederten Sätzen gebändigte Wortfülle vermag nur der Kenner, der Liebhaber der Worte nicht zu genießen. Je mehr Wörter wir nötig haben, um so willfähriger werden wir, ihnen im einzelnen zu mißtrauen und sie vorsichtiger, sparsamer in unsere kurzgewordenen Sätze zu stellen. Je mehr wir es verlernen, etymologisch zu denken, um so gewandter gehen wir mit den Phonemen, diesen Atomen der Sprache um, und um so emsiger versuchen wir, neue Bildungsweisen zu finden und zu erproben. Je mehr wir die Fassaden unserer Sprechweisen abbauen und es der tagtäglichen Sprache verstatten, sich auch unter Girlanden und bei Kerzenlicht hören zu lassen, um so eher überwinden wir das unheilvolle Erbe einer Zeit, der die Illusionen wichtiger waren als die Wirklichkeiten. Da wächst manches neu und manches anders als bisher; es ist nicht verwunderlich, daß dem Sprecher da und dort der Boden unter den Füßen schwankt. Aber er war nie so fest, wie Grammatiker und Schulmeister uns glauben machen wollen. Er wird uns auch heute ins Morgen hinübertragen. 24 Wie Mackensen sieht Hugo Moser die Gefahr, daß die eingeleitete sprachliche Auseinanderentwicklung zu einer weiteren Sonderung innerhalb der deutschen Hochsprache führen kann; seit der Errichtung der Mauer am 13. August 1961 hat sich diese Gefahr erheblich verstärkt. 25
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Ebd. 179 Ebd. 2 1971, 246f. - Vgl. auch Mackensen, L„ Traktat über Fremdwörter, Heidelberg 1972 Ebd. 268f. Moser, H., Sprachliche Folgen der politischen Teilung Deutschlands, Düsseldorf 1962, 48
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In der Deutschen Demokratischen Republik würden die traditionellen Sprachund Stilmittel zur bewußten Ausbildung einer Sprachform benützt, die im Dienst einer bestimmten exklusiven Ideologie steht. Hier ist die Wirkung gesellschaftlicher, politischer Veränderungen auf die Sprache so deutlich zu erkennen wie im Dritten Reich, zumal hier wie dort die Sprache diesen zielbewußt und weithin konsequent angepaßt wird. 2 6
Moser registrierte Neuerungen im Bereich des Wortschatzes, wobei die Fülle von Neuprägungen im Osten Deutschlands wesentlich größer sei: Wo Denkformen sich entscheidend ändern, wird auch die Sprache betroffen. 2 7
Neuwörter fremder Herkunft spiegeln den Einfluß der Besatzungs- bzw. Schutzmächte wie dem der neuen Lebensform. Unterhaltung und Vergnügen, Mode, Fernsehen, Jazz, Luftfahrt, Kernphysik, Kybernetik und Wehrwesen sind die Hauptgebiete angelsächsischer Entlehnungen. Das Russische hat im Osten vor allem auf die Parteisprache abgefärbt. Im Wortbildungsbereich nehmen Zusammensetzungen und Zusammenrückungen in beiden Teilen sehr stark zu. Die Abkürzungswörter werden so zahlreich, daß eigene Lexika dafür entstehen. Bedeutend sind die Unterschiede, die den Grad der Häufigkeit der Wortverwendung betreffen. Viele im Westen benutzte Wörter sind im Osten im Schwinden, darunter zahlreiche Fremdwörter. Es sind einmal Begriffe, die im Kapitalismus eine Rolle spielen, weiter solche, die durch das Dritte Reich geprägt waren. Umgekehrt erscheinen die zur marxistisch-leninistischen Ideologie gehörigen Begriffe im Osten gehäuft, während Idiologeme im Westen zurücktreten. Entscheidend ist nach Moser aber der differenzierte Gebrauch gleicher Begriffe wie Demokratie, Eigentum, Erziehung, Frieden, Gesellschaft, Klasse, Kultur, Moral, Ordnung, Sittlichkeit, Treue. Verschiebungen treten ein in Wortfeldern wie dem der Anrede, der Zusammenkünfte zur Arbeit (Konferenz, Kongreß, Plenum) wie zur Geselligkeit (Fest, Lager, Treffen, Klub). Am deutlichsten sind die Unterschiede auf stilistischer Ebene, wo für die DDR ein Kollektivstil, ein sozialistischer Stil< konstatiert wird. Er ist formelhaft, voll von Wiederholungen, ähnlich superlativ-übersteigert wie im Westen die Reklame und vor allem kämpferisch. 2 8 1973 nennt H A N S E G G E R S das Deutsche eine hochentwickelte, reiche Sprache in allen ihren gesprochenen und geschriebenen Ausdrucksformen, ihren vielfältigen Sprechschichten und Textsorten, mit den politisch-geographischen Besonderheiten des weiten Sprachgebietes, ganz zu schweigen von den mannigfachen Mundarten. 29 [Sie sei] unerhört geschmeidig und wen-
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Ebd. 41 Ebd. 8 Vgl. auch Moser, H. (Hg.), Das Aueler Protokoll, Deutsche Sprache im Spannungsfeld zwischen West und Ost, Düsseldorf 1964 Eggers, H., Deutsche Sprache im 20. Jahrhundert, München 1973, 7
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dig geworden ..., ausdrucksfähig für die differenziertesten Sachverhalte, entsprechend den Anforderungen einer sehr differenziert erfahrenen Welt. [Die Sprache sei] ein sehr feines Instrument geworden. Aber man weiß ja: Je feiner und je komplizierter ein Werkzeug ist, desto schwieriger ist es, damit umzugehen. Nur der Meister kann es in rechter Weise handhaben. Es mag daher schon sein, daß nicht allzu viele Sprachteilhaber dieses feingeschliffene Instrument beherrschen, daß sie stümperhaft damit umgehen. So kann es dann zu Schwierigkeiten kommen, die man landläufig als Krise der Sprache bezeichnet, die aber in Wirklichkeit Krisen des Sprachgebrauchs sind, also des Menschen, der sich der Sprache in unzulänglicher Weise bedient. 30 Für PETER VON P O L E N Z ist die Entwicklungstendenz des deutschen Satzbaus als eine sprachliche Verarmung zu betrachten. Die stark zunehmende N o m i nalisierung, die Armut an satzsemantischen Verknüpfungen in Texten, vor allem aber die sich im Extrem fortsetzenden verblosen Nominalgruppen in Titeln, Schlagzeilen, Schildern, Formularen und Computertexten erschweren die Textverständlichkeit. Er sieht die Gefahr, daß beim naiven Umgang mit Wortzusammensetzungen, mit Nominalisierungen, mit Subjektschüben, insgesamt mit einem überkomprimierten Stil eine Gewöhnung eintritt, daß man die entsprechenden expliziten Ausdrucksalternativen gar nicht mehr kennt und die komprimierenden Sprachformen als Leerformeln benutzt oder, wie sie der große Sprachkritiker Fritz Mauthner schon um die Jahrhundertwende warnend gebrandmarkt hat als >WortfetischeGesundheitSprachkultur< in Mannheim. Neben ihm interpretieren die DDR-Linguisten D I E T E R N E R I U S und W O L F D I E T R I C H H Ä R T U N G die vom Prager Linguistenkreis ausgehenden Forschungen zur >Sprachkultur< im gesamten Ostblock und speziell in der D D R . 3 4 Das IdS versucht sich vorbereitend in einer Festlegung des für die Tagung zentralen Begriffs: Die deutsche Sprachkultur 1984, das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Handlungen in diesem Jahr, die Gesamtheit der produzierten (gesprochenen und geschriebenen) Texte, die Gesamtheit auch der Hör- und Lesehandlungen, kurz der Zustand der Sprachlichkeit im deutschsprachigen Raum. Sprachkultur ist zugleich die Summe des Nachdenkens über Sprache, über den gegenwärtigen Zustand der Sprachlichkeit in unserer Gesellschaft. Unsere Sprache ist nicht nur ein natürlich gewachsenes Gebilde, geformt durch die Beiträge der Sprachteilhaber, sondern ebenso geprägt von Einflüssen, die gesellschaftliche Instanzen mit unterschiedlichen Interessen, Instanzen der Wissenschaft, der Politik und der Kultur, die öffentliche und veröffentlichte Meinung, auf sie ausüben. Sprachkultur ist die Manifestation dieser Einflüsse in der Sprache und zugleich die Reflexion über die Wertvorstellungen, Interessen und Absichten, die den Einflußnahmen zugrundeliegen. Sprachkultur ist daher auch die Auseinandersetzung mit den Instanzen, die auf die Sprachentwicklung einwirken, mit Schule, mit den Medien, mit den ernannten oder selbstberufenen Sprachpflegern ... Sprachkultur ist die Kunst, andere zu verstehen und sich anderen verständlich zu machen ... Als Teil der Kultur eines Volkes 33
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Juhäsz, J., Versuch einer konstruktiven Kritik von Sprachpflege. Prinzpien und Probleme, In: Festschrift für Siegfried Grosse zum 60. Geburtstag, hg. v. W. Besch u.a., Göppingen 1984, 84f.; Ders., Der Stellenwert der Sprachkultur in der modernen Gesellschaft. Ökologische Aufgaben der Linguistik, In: Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache, hg. v. R. Wimmer, Düsseldorf 1985, 3354 Vgl. S. 303ff.
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drückt Sprachkultur die Fähigkeit ebenso wie die Bereitschaft der Bürger aus, sich miteinander über die individuellen und gemeinsamen Interessen zu verständigen. 3 5
Nach R A I N E R W I M M E R deckt der Sprachkulturbegriff >zum Teil den Begriff der Sprachpflege abvielerorts an die Stelle von Sprachpflegen Es gibt sprachpflegerische Auffassungen, die deutlich mehr in die Richtung einer Sicherung eines Sprachkulturbestandes tendieren (Sicherung der >StandardspracheÜberbetonung von Normensicherung und Normenkonformität bei der Bestimmung dessen, was Sprachkultur sein sollte und sein kannsprachkulturellen Leistungen, die von fachsprachlichen, gruppensprachlichen, arealen u.a. Varietäten der Gesamtsprache ausgehen< und stellt diese auch gegen die der Standardsprache, die >als Trägerin der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung < gesehen wird. 3 6 Er wendet sich gegen eine n o r m a t i v e Sprachkritik von oben< und plädiert für eine verstärkte Förderung >der Möglichkeiten des Einzelnen, seine Sprache angemessen zu gebrauchen und sprachlich erfolgreich zu handelndeutlich die Förderung der Kommunikationskultur gegenüber der Stützung und Propagierung bestimmter normierter Standardsvon oben< stellt er eine normenkritische, varietätenbezogene, sprecherbezogene, innovationsbewußte, individualisierende und kommunikative Sprachkultivierung durch Sprachkritik. 37 Weitere Beiträge bereiten dann auf die Tagung selbst vor, 38 in deren Zentrum neben dem Blick auf den Forschungsstand im Ostblock die Bereiche Sprachkultur und Institutionen sowie Sprachkultur und politische Kultur< stehen. 3 9
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Teubert, W.; Wimmer, R., Vorwort zu Aspekte der Sprachkultur, Mitteilungen 10, Institut für deutsche Sprache Mannheim, 1984, 4f. So am Schluß des Vorwortes des >Deutschen Universalwörterbuchs< des DUDENVerlags, Mannheim 1983 Wimmer, R., Sprachkultivierung durch Sprachkritik: Ein Plädoyer für reflektierten Sprachgebrauch, Mitteilungen 10, Institut für deutsche Sprache Mannheim, 1984, 7 - 2 8 ; Ders., Neue Ziele und Aufgaben der Sprachkritik, In: Sprachnormen; lösbare und unlösbare Probleme, hg. v. P. v. Polenz u.a., Tübingen 1985, 146-158 Stickel, G., Zur Kultur der Rechtssprache; Zifonun, G., Politische Sprachkultur und Sprachkritik; Strauß, G., Politische Sprachkultivierung im Wörterbuch, Mitteilungen 10, Institut für deutsche Sprache Mannheim 1984 Wimmer, R. (Hg.), Sprachkultur, Düsseldorf 1985. - Als Bericht über die Tagung
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H A R A L D W E I N R I C H stellt 1 9 8 5 fest, >die deutsche Sprache hat keine gesicherte Zukunft ohne deutsche Sprachkultur^ 4 0 Er erkennt an, daß im Deutschen eine Entwicklung v o m synthetischen zum analytischen Sprachbau im Gange sei, etwa beim Genitiv. Weiter würden immer mehr Sachverhalte nominal ausgedrückt, wodurch der gesamte Nominalbereich stark funktional belastet werde.
Wenn diese Belastung nun anhält und vielleicht in Zukunft noch zunimmt, so ist gut vorstellbar, daß die Sprache auf der anderen Seite für eine gewisse funktionale Entlastung des Nominalbereichs sorgt. Daher also die Korrolartendenz, die Möglichkeit der Apposition auszubauen und auf diese Weise dem unreflektierten Adjektiv die Möglichkeit zu eröffnen, zur Determination eines Nomens in ähnlicher, jedoch semantisch verstärkender Weise beizutragen wie die vorangestellten flektierten Adjektive. 41 Geschwächt sei das Tempus >FuturPräsens< mit futurischen Adverbien überzugehen. Weinrich appelliert an die Sprachwissenschaftler w i e an die Sprachbewußten im Volk, die Sprache der Gegenwart auf den Horizont der Zukunft zu projezieren. Denn die Sprache von morgen wird in der Sprachkultur von heute mitbestimmt. 42 Seit 1986 häufen sich die Versicherungen bundesrepublikanischer Sprachwissenschaftler, daß es mit dem vielbeschworenen Sprachverfall nicht so schlimm sei. H O R S T D I E T E R S C H L O S S E R macht deutlich, daß er die pauschale Angst nicht teile, die deutsche Sprache stehe mangels allgemein-autorisierter Sprachpflegeinstanzen bereits kurz vor dem Abgrund. Manches, was sich uns heute als extreme Gefährdung unserer Sprachkultur darstellt, verliert wenigstens teilweise seinen Schrekken, wenn man es in den Kontext einer inzwischen 1200-jährigen Sprachgeschichte stellt. Auch hat es noch in keiner Epoche dieser Sprachgeschichte irgendeine Entwicklungstendenz ohne gegenläufige Veränderung gegeben, was insgesamt der Grund für das erstaunlich stabile System unserer Sprache ist. 43 Trotzdem fordert er mehr Sensibilität der Sprachbenutzer:
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Roth, N., Deutsche Sprachkultur in der Gegenwart, Mitteilungen 11, Institut für deutsche Sprache, Mannheim 1985 Weinrich, H., Die Zukunft der deutschen Sprache, In: Ders., Wege der Sprachkultur, Stuttgart 1985, 340 Ebd. 352. Er verweist dabei auf Beispiele wie »ein die modische Schönheit der Pension bildendes, sehr blondes, schlankes, junges Mannequin« (nach Canetti) Ebd. 361 Schlosser, H.D., Gegenwartsdeutsch. Gefährdungen und Möglichkeiten einer unbehüteten Sprache, In: Petri, Η. (1986), 90 - Ähnlich Schaeder, B., Verderben die Computer unsere Sprache, Ebd. 186-223 u. Gauger, H.-M., Brauchen wir Sprachkritik?, Marburg 1985
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Eine höhere Sprachkultur wäre dann die Folge einer ethisch verbesserten sozialen und politischen Kultur. Die Vorgeschichte einer Sprache ist immer auch die Geschichte sprachlich gefaßter Inhalte. 4 4 WOLFGANG
KLEIN
nennt die R e d e w e i s e v o n >Sprachverfall< e i n e n Wahn, d e n
b e s o n d e r s krass S a m u e l J o h n s o n i m Vorwort zu s e i n e m berühmten Wörterb u c h v o n 1 7 7 5 ausdrückte: >Languages, like g o v e r n m e n t s , h a v e an natural t e n d e n c y to d e g e n e r a t i o n ^ 4 5 S e i n ö s t e r r e i c h i s c h e r K o l l e g e
ALOIS
BRANDSTET-
TER hält d e n G e s i c h t s p u n k t d e s r i g o r o s e n K o n s e r v i e r e n s für s i n n l o s . 4 6 H i e r f o l g t ihm
GOTTFRIED
KOLDE
i m F r a n z ö s i s c h d o m i n i e r t e n G e n f , der
a u c h d e n Versuch z u r ü c k w e i s t , alle Freiheiten wegzunormieren, alle Ausdruckvarianten zu >semantisieren< oder zu bewerten, und zwar unter alleinigem Verweis auf eigene Intuition. [Kolde weist] jegliche puristische Wertungen, wie sie auch heute noch vorkommen [zurück, ebenso die als] Sprachkritik verkleidete >Kulturkritik und Sozialpädagogik, die die Menschen durch die Sprache lenken, führen, bessern möchte< (nach Betz), Sprachpflege mit dem Anspruch, den Menschen beizubringen, mit sprachlichen Mitteln f o l g e r i c h t i g , d.h. denkrichtig< umzugehen (nach Nüssler), ... schließlich die Behauptung von > Sprach verfall Sittenverfall< zu >beweisenSprachverfallIch würde meinem, >Wenn man so will< oder >Ich gehe davon aus, daß ...NachrüstungEntsorgungsparks< und »Sozialpartnerschaft sprechen. Fachleute überfluten die Allgemeinheit mit Fachausdrücken und ihrem Jargon. Sie ignorieren ihre Pflicht, sich auch dem Laien verständlich zu machen ... Die Medien sichern nicht den uns vertrauten Bestand an Namen ... Reporter, Moderatoren und Showmaster wetteifern miteinander, ihr - zudem meist miserables - Schul- und Touristenenglisch unter Beweis zu stellen, versuchen, mit englischen Brocken ihre Sendungen herauszuputzen ... Es ist fast unglaublich, daß es in den Rundfunk- und Fernsehanstalten keine Instanz gibt, die Verantwortung für die deutsche Sprache trägt, die darauf achtet, daß die der Sprachgemeinschaft vertrauten Namen nicht aufgegeben werden und Nachrichtensendungen für die Allgemeinheit verständlich sind. Wann werden die Verantwortlichen endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Mediensprache heute für die meisten Menschen Vorbildcharakter hat. Wann werden sie nicht nur über den Informations- und Unterhaltungswert von Sendungen nachdenken, sondern auch 44 45
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Ebd. 91 Klein, W., Der Wahn vom Sprachverfall und andere Mythen, Zeitschrift f. Literaturwissenschaft und Linguistik 62, 1986, 13 Brandstetter, Α., Betrifft: Verfall der Sprache, ebd. 109 Kolde, G., Sprachkritik, Sprachpflege und Sprachwissenschaft. Einige Bemerkungen zu einem alten Thema, Muttersprache 96, 1986, 184f.; Ders., Sprachpflege als angewandte Sprachwissenschaft, Deutscher Sprachdienst 24, 1980, 9 7 - 1 0 7
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über den Wert der Sprache, in der Informationen und Unterhaltung vermittelt werden? ... Noch immer verzichten Lehrer darauf, bei den Schülern das Verständnis für die Funktionen der Hochsprache zu wecken und sprachliche Normen zu vermitteln, sie möchten Sprachrichtigkeit durch Beliebigkeit ersetzen. Diese Pädagogen wollen nicht wahrhaben, daß der Weg zur Sprachbeherrschung, zur mündigen und schöpferischen Sprachhaltung nur über die Erkennung und Kenntnis der Normen geht, daß die sprachlichen Fähigkeiten verkümmern, wenn die Schüler nicht mehr lesend und schreibend mit der Hochsprache umzugehen lernen ... Immer mehr Wissenschaftler geben in unseren Tagen ihre Loyalität gegegenüber der deutschen Sprache auf, obwohl die deutsche Sprache eine voll ausgebildete Kultursprache ist, allen Anforderungen gerecht wird, auch die Aufgaben erfüllt, die ihr Wissenschaft und technischer Fortschritt stellen. Nicht nur Chemiker und andere Naturwissenschaftler, sondern auch Geisteswissenschaftler wandern meist aus Imponiergehabe oder um höhere Zitierquoten zu erreichen - in großen Scharen ins Englische aus - Sie publizieren in Englisch, halten ihre Vorträge in englischer Sprache, sie machen die Ergebnisse ihres Forschens unserer Gesellschaft nicht mehr in Deutsch zugänglich ... Etwas mehr Stolz auf die Sprache und mehr Sprachbewußtheit - wie sie bei unseren französischen Nachbarn selbstverständlich sind - das wünsche ich mir auch bei uns. 48 sammelt 1 9 8 9 die Verfallsmetaphern: die Sprache verfällt, das Ausdrucksvermögen nimmt ab, Abkehr von der Schriftkultur, Niedergang bzw. Rückgang der Schriftkultur, drohende Sprachverarmung, drohende Sprachlosigkeit, unsere Sprache verdirbt u.ä. Einmal geht es um ein mühsam errichtetes >Gebäude< Sprache, das vom Einsturz bedroht ist. Zum anderen geht es um die Sprache als etwas organisch Gewachsenem, das vergeht, wenn es nicht gehegt und gepflegt wird. Zum dritten wird ein Verlust beschworen, dem ein mühsames Erwerben voranging. Um etwas Errichtetes, Gewordenes bzw. Erworbenes zu erhalten, müssen Pfleger, meist selbsternannte, aktiv werden. Ist ein Aufbau, ein Gereiftes, ein Erworbenes abgeschlossen, zur höchsten Blüte oder Spitze gebracht, so ist nur noch Abbruch, Verfall oder Abstieg möglich. Eine Weiterentwicklung wird nicht vorgesehen. So wie die Sprache ist die gesamte Kultur bedroht. Es geht im wesentlichen darum, die zerstörenden Kräfte aufzufinden und ihnen entgegenzutreten. 4 9 STEFAN KOLB
50 H O R S T SITTA nennt Begriffe wie Sprachverfall >AltherrentopoiÄltere-Damen-TopoiDie d e u t s c h e S p r a c h e n die
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Deutsche Demokratische Republik den neuesten Forschungsstand zusammenfaßt, fehlt das S t i c h w o r t >SprachkulturSprachpflege< wird b e f ü r c h tet, daß mit ihr der Maßstab einer bereits vergangenen Stufe der Sprachentwicklung beibehalten und ... Gewohntes zum schlechthin Gültigen erklärt wird. Sicherlich ist es aber besser, die zustande gekommenen Normen, die auf der Sprachgestaltung anerkannter Werke unserer Nationalliteratur fußen, nur zögernd preiszugeben, als jedem Wildwuchs mit dem Hinweis auf die Unaufhaltsamkeit des Sprachwandels nachzugeben. Im einzelnen muß die rechte Linie zwischen Tradition und Fortschritt immer von neuem gesucht werden. Dabei ist wichtig, daß Gesichtspunkte der Stilkritik, sofern sie Teil der Literaturkritik ist, nicht ohne weiteres an die Alltagssprache herangetragen werden. Neuerungen im Wortschatz fallen auf, rufen meist sofort Kritik hervor und erlauben eine gewisse Kontrolle der Wortwahl. Wandlungen in den Fügungs- und Satzbauweisen vollziehen sich unmerklich, und der einzelne merkt nur schwer und spät, wieweit er daran teilhat. Dem Sprecher/Schreiber bewußt zu machen, daß seine individuelle Sprachgebarung dem Zeitstil verpflichtet ist, ist ein wichtiger Schritt gesellschaftsbezogener Sprachpflege. 5 2 D a s S i g n a l für die i n t e n s i v e A u s e i n a n d e r s e t z u n g der S p r a c h w i s s e n s c h a f t l e r in der D D R mit d e m B e g r i f f >Sprachkultur< und d e s s e n inhaltlicher F ü l l u n g löst Kurt H a g e r auf der 6. T a g u n g d e s Z e n t r a l k o m i t e e s der S E D am 6 . / 7 . Juli 1 9 7 2 aus, die F r a g e n der Kulturpolitik und der E n t w i c k l u n g der Kultur der s o z i a l i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t g e w i d m e t ist. 5 3 E i n e erste Z u s a m m e n f a s s u n g d i e -
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Hoberg, R., Sprachverfall? Wie steht es um die sprachlichen Fähigkeiten der Deutschen? Muttersprache 100, 1990, 240. - Vgl. auch Stickel, G„ Werft das »Fremdwort« zum alten Eisen, Sprachreport 0/85, 1985, 6 bzw. der Neuvorschlag >InternationalismusSprachkult u r c »Die positive Einstellung und Loyalität der Gesellschaft ihrer Sprache gegenüber (Sprachloyalität) äußert sich auch in der bewußten Pflege und Kodifizierung der Sprache, in individuellen und staatlichen Maßnahmen, die der Sprachpflege und Sprachkultur gelten.« (S. 417) Hager, K., Zu Fragen der Kulturpolitik der SED. Referat auf der 6. Tagung des ZK der SED 6./7. Juli 1972, Berlin 1972. - Mötsch, W., Gedanken zu einigen Fragen der Sprachkultur, Sprachpflege, 1972, 129-137; Kirchgässer, W„ Der Einfluß der Nationalkultur auf den Sprachwandel, Sprachpflege 1973/5, 9 7 - 9 9 ; Faulseit, D., Sozialistische Sprachkultur, Ebd. 9 9 - 1 0 0 ; Ising, E., Kriterien der Sprachkultur in der sozialistischen Gesellschaft, Ebd. 1974/10, 197-200. Dies., Sprachkultur als Aufgabe, Die Weltbühne, H. 34, 1975, 1079-1082; Dies., Aufgaben, Wege und Ziele der Sprachkultur, In: Sprachkultur warum, wozu? Aufgaben der Sprachkultur
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ser Diskussion gibt der Sammelband >Theoretische Probleme der Sprachwiss e n s c h a f t 1976: 1. Sprachkultur bezeichnet das Niveau eines angemessenen, normgerechten und schöpferischen Sprachgebrauchs in bestimmten Situationen, gegenüber bestimmten Partnern und unter Berücksichtigung des Gegenstandes der Kommunikation. 2. Sprachkultur bezeichnet die bewußte Einflußnahme der Gesellschaft auf die Entwicklung der Sprache als System, um ihre Ausdrucksfähigkeit in allen Funktionen zu gewährleisten. 3. Sprachkultur ist der Grad der Beherrschung einer Sprache durch den einzelnen Sprecher. Durch den ersten Aspekt wird das bewußte, sprachgerechte und schöpferische sprachlich-kommunikative Verhalten der Sprachträger erfaßt. Die Vielfalt der Tätigkeiten, die die Mitglieder einer Gesellschaft im Prozeß der Produktion und Reproduktion ihres gemeinsamen Lebens ausführen, schließt ein, daß sie sich über bestimmte Ziele, über die konkreten Mittel und Wege ihrer Realisierung miteinander verständigen, daß dabei den Menschen bestimmte Aufgaben und Funktionen zugeordnet werden und daß sie sich über den Verlauf der verschiedenen Handlungen, über Erfolge und Fehlschläge gegenseitig informieren. Die kommunikativen Beziehungen, die sich dabei auf den verschiedenen Ebenen der Gesellschaftsstruktur zwischen Klassen, Schichten, Gruppen und Individuen innerhalb verschiedener Aufgabenbereiche herausbilden, stellen eine wichtige Komponente der gesellschaftlichen Beziehungen dar. Durch diese kommunikativen Beziehungen wird die Ausbildung bestimmter sprachlicher Mittel für spezifische gesellschaftliche Bedürfnisse gewährleistet. Dabei erfordert die Kooperation der Individuen in der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion eine sachgerechte, klare, zugleich aber auch ausdrucksstarke Sprache, die ein schöpferisches Verhalten bei der Verwendung des Wortschatzes, stilistischer Mittel und bei der syntaktischen Gestaltung von Texten voraussetzt. Der zweite Aspekt hebt die Gesamtheit von Maßnahmen heraus, die in der Gesellschaft und mit Unterstützung der Linguistik zum Zweck einer zielgerichteten Einwirkung auf die Entwicklung der Sprache ausgearbeitet und durchgesetzt werden. Diese Maßnahmen dienen dem Ziel, die Ausdruckfähigkeit der Sprache den sich ständig verändernden Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen, um ihre Funktionen in der sprachlichen Kommunikation voll zu gewährleisten. Dabei zeichnen sich zwei Hauptaufgaben ab: Erstens die Erfassung und Beschreibung dessen, was im Sprachgebrauch ist, d.h. der Gesetzmäßigkeiten, Abhängigkeiten, Normen, Regeln, Formen, Existenzweisen des Sprachsystems (einschließlich der Erfassung von Veränderungen im System) und zweitens die Festlegung dessen, was im Sprachsystem weiterhin Geltung haben soll, d.h. die Bewertung der festgestellten Formen und Normen als geltend, angemessen, zweckentsprechend normgerecht (einschließlich des Versuchs, die Entwicklung der Sprache für die Zukunft einzuschätzen). Damit verbunden ist die Einflußnahme auf Sprache und Sprachträger,
in der DDR, hg. v. E. Ising, Leipzig 1977, 7-48; Dies., Zu einigen Fragen des Verhältnisses von Sprachkultur, Gesellschaft und Kommunikation in der sozialistischen Gesellschaft, In: Theoretische und empirische Probleme bei der Untersuchung der sprachlichen Kommunikation, hg. v. K.E. Heidolph u.a., Linguistische Studien R.A., Arbeitsbericht 9, 1974, 66-84; Fleischer, W., Einige Bemerkungen über Ziele und Aufgaben der Sprachpflege, Ebd. 38-55 und die Aufsätze von Spiewok, W.; Schmidt, W.; Langner, H.; Feudel, G.; Techtmeier, B.; Michel, G.; Lerchner, G.; Heinemann, W.; Haftka, B.; Sommerfeldt, K.-E.; Porsch, P.; Siebert, H.-J. in Sozialistische Sprachkultur in der DDR - Begriff und Aufgaben, Wiss. Zeitschrift Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, XXV, 1976/4.
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um die Entwicklung in der als notwendig erkannten Richtung zu unterstützen und eine optimale Ausnutzung der in einem jeweiligen Zeitpunkt gegebenen sprachlichen Mittel mit dem Ziel ihrer multifunktionalen Nutzung zu sichern. Da im Sinne dieser zweiten Bedeutung >Sprachkultur< als die Praxis des bewußten Eingriffs in die sprachliche Entwicklung verstanden wird, schließt der Begriff zugleich Sprachpflege und Sprachplanung ein. In den Komplex der Beziehungen zwischen Gesellschaft und Sprache ist das Problem der individuellen kommunikativen Fähigkeiten und des Grades der Sprachbeherrschung eingelagert, der in sprachlich-kulturellen Formen des persönlichen Verhaltens zum Ausdruck kommt. Diese Komponente in der Bedeutung des Begriffes Sprachkultur ist durch den dritten Aspekt angedeutet. Die entwickelte sozialistische Gesellschaft bedarf zur Gestaltung ihrer produktiven und geistig-kulturellen Aufgaben allseitig gebildeter Persönlichkeiten, deren Tätigkeit und Leistungsvermögen durch den Grad der von ihnen erreichten sprachlichen und kommunikativen Befähigung mitgeformt werden. Die Befähigung möglichst vieler Menschen zu einem bewußten Sprachgebrauch, der den jeweiligen Aufgaben angemessen ist, setzt ein hohes Maß an sprachlicher Bildung in Wort und Schrift voraus. Auf der gegenwärtig erreichten Entwicklungsstufe der sozialistischen Kultur schließen die gesellschaftlichen Bedürfnisse objektiv eine weitere Optimierung des Sprachverhaltens, die bewußte Entwicklung der Sprache als Mittel der Kommunikation und die Förderung der individuellen sprachlichen Fähigkeiten ein. Mit der Herausbildung neuer gesellschaftlicher Bedürfnisse, die von einer Intensivierung und Erweiterung der kommunikativen Tätigkeit begleitet sind, wird die Förderung und Entwicklung der Sprachkultur gegenwärtig selbst zu einem Bedürfnis der Gesellschaft und zu einer Aufgabe der marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft. Die Möglichkeiten und Formen der Lösung von praktischen Aufgaben auf dem Gebiet der Sprachkultur werden dabei wesentlich von den theoretischen Überlegungen abhängen, die mit dem Begriff S p r a c h k u l t u r in der sozialistischen G e s e l l s c h a f t verbunden werden. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach der Entwicklung der Sprachkultur stellt die Wissenschaft vor die Frage nach den Bewertungsmaßstäben, die für das Sprachverhalten und die funktionale Differenzierung des Sprachsystems unter den gegenwärtigen sozialistischen Kommunikationsbedingungen Geltung besitzen. Es gilt, Kriterien zu finden, die den realen sprachlich-kommunikativen Gegebenheiten entsprechen, und Maßstäbe zu setzen, die von der sprachlichen Situation in der DDR ausgehen, die zugleich aber auch die weitere sprachliche Entwicklung im Interesse der Arbeiterklasse gewährleisten. Eine umfassende Festlegung linguistischer Kriterien der Sprachkultur würde eine sehr viel detailliertere Einsicht in die Formen und Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache in der DDR voraussetzen, als sie heute möglich ist. Sicher ist, daß die sprachlichen Verhältnisse und die Formen des sprachlichen Systems aus der Weite des marxistisch-leninistischen Kulturbegriffes eine neue Bewerung erfahren müssen. Die bisher noch zu einseitige Orientierung des Sprachverhaltens an den Normen der geschriebenen Variante der Literatursprache kann gegenwärtig nicht mehr das alleinige Ziel der Arbeit auf dem Gebiet der Sprachkultur sein, denn sie verschließt den Zugang zur realen Sprachsituation in der DDR. Voraussetzung für die Gewinnung neuer Maßstäbe ist die kritische Sichtung der heute offiziell gültigen Normen, die im wesentlich in einem Zeitraum kodifiziert wurden, der vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht. Die damals gültigen Maßstäbe und Vorbilder f ü r einen guten Sprachgebrauch wurden an den Mustern der lateinischen und französischen Sprache gewonnen oder in der Sprache einzelner Landschaften bzw. Sprechergruppen gesucht. Als vorbildlich galt bis ins 18. Jahrhundert das Obersächsisch-Meißnische und der Sprachgebrauch der Kanzleien, Gelehrten und Fürstenhöfe. Dadurch wurde die Literatursprache, vor allem ihre geschriebene Variante, zu einer idealen Sprachform überhöht, die sich von der Sprache des g e meinen Pöbels< nicht nur weit unterschied, sondern auch unterscheiden sollte. Die Bemühungen um die deutsche Sprache waren in der Vergangenheit häufig an wirk-
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lichkeitsfremden Idealen und sprachlichen Mustern orientiert, die der Klassenposition des Bürgertums und der Aristokratie entsprachen, die aber von der Mehrzahl der Bevölkerung nicht erreicht werden konnten. Die deutsche Sprache hat sich im wesentlichen in der Form einer geschriebenen Sprache zur Literatursprache entwickelt. Der Geltungsbereich und Ausdrucksreichtum der Sprache ist jedoch nicht auf die geschriebene Variante beschränkt, sondern umfaßt ebenso die treffenden und ausdrucksstarken sprachlichen Mittel der gesprochenen Sprache, die in weiten Bereichen der Kommunikation über den Funktionsbereich der geschriebenen Sprache hinaus verwendet wird. Wenn man von der Unterschiedlichkeit des Anteils und der kommunikativen Funktionen von geschriebener und gesprochener Sprache in der gesellschaftlichen Kommunikation ausgeht, muß man heute die Frage stellen: In welchem Maße muß die gesprochene Sprache stärker als bisher zum Gegenstand von Bemühungen um die Bereicherung und Entwicklung der Sprachkultur gemacht werden? Zweifellos darf man zwischen Kultiviertheit und Schriftsprachlichkeit kein Gleichheitszeichen setzen, wie es in der Sprachwissenschaft lange Zeit üblich war, die die Regel setzte: >Sprich, wie du schreibst!·^ Die Grenze zwischen Kultiviertheit und Unkultiviertheit geht quer durch die Bereich der geschriebenen und gesprochenen Sprache hindurch. Die Anforderungen, die auf beiden Ebenen an ein kulturvolles Sprachverhalten gestellt werden, sind vor allem eine lebendige, wirklichkeitsnahe, einprägsame und parteiliche Ausdrucksweise, die der jeweiligen Situation entspricht. In spezifischen Bereichen der Kommunikation, insbesondere bei der Lösung fachbezogener Aufgaben, treten weitere Anforderungen wie Eindeutigkeit, Unverwechselbarkeit, begriffliche Schärfe und Vollständigkeit der Aussage hinzu. Ein wesentliches Kriterium der Sprachkultur besteht daher in der kommunikativen Zweckmäßigkeit der Äußerung. Der Begriff kommunikative Zweckmäßigkeit scheint geeignet zu sein, die neuen, den Klasseninteressen der Arbeiterklasse in Sprache und Kommunikation entsprechenden Inhalte von einer realistischen Ausgangsposition her zum Ausdruck zu bringen und idealistische wie nationalistische Tendenzen auszuschließen. Er bietet Bewertungsmaßstäbe für die Sprachkultur, die von der Situations- und Partnerbezogenheit einer Äußerung, einer dem Kommunikationsgegenstand angemessenen stilistischen Ausdrucksweise, aber auch von der normgerechten und schöpferischen Beherrschung der verwendeten sprachlichen Mittel ausgeht. Wir verstehen kommunikative Zweckmäßigkeit in einem weiten Sinn, der keineswegs nur eine reine Zweckmäßigkeit impliziert, sondern im Aspekt des Schöpferischen auch Gesichtspunkte wie Schönheit, Gepflegtheit (Kultiviertheit) und Expressivität des Sprachgebrauchs einschließt. Als Kriterium der Sprachkultur umfaßt der Begriff kommunikative Zweckmäßigkeit mindestens vier Bedingungen, die sowohl auf der kommunikativen Ebene als auch auf der Systemebene liegen: die kommunikative Angemessenheit, die Normgerechtheit, die schöpferische Verwendung und die optimale Wirkung. Als zweckmäßig bei Berücksichtigung der Sprachkultur bezeichnen wir eine Äußerung, wenn sie den Kommunikationsbedingungen angemessen ist, d.h. der Sprechsituation, den persönlichen Eigenschaften des Empfängers und dem Gegenstand oder Thema so entspricht, daß das vom Sprecher angestrebte Ziel der Kommunikation erreicht werden kann. Das setzt voraus, daß die Sprache als System sprachlicher Zeichen, normgerecht verwendet wird. Die Forderung nach Einhaltung der für das jeweilige Zeichensystem geltenden Verwendungsnormen stellt dabei keine enge Begrenzung der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten dar, sondern schließt die Verwendung sprachlicher Varianten und usueller Bildungen ein. Kommunikative Zweckmäßigkeit umfaßt immer auch eine schöpferische Durchdringung der Aussage. Die Möglichkeit der schöpferischen Leistung des Sprechers hängt in starkem Maße von der zu lösenden kommunikativen Aufgabe und der konkreten Zielstellung ab. Eine politische Rede, die Rezitation eines literarischen Textes oder Kommunikation zum Zweck der Wissensvermittlung und Überzeugung erfordert ein sehr viel höheres Maß an verbaler, syntaktischer oder intonatorischer Gestal-
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tung als die Weitergabe einer Anordnung oder ein Alltagsgespräch. Die schöpferische Verwendung sprachlicher Mittel darf nicht nur im Hinblick auf Lexik und Stilistik gesehen werden, sie schließt in gleicher Weise die syntaktisch und akustischintonatorische Leistung bei der Produktion einer Äußerung ein. Kommunikative Zweckmäßigkeit heißt schließlich, daß eine Äußerung eine Wirkung hervorruft. Eine Äußerung, die nicht gehört oder beachtet wird, ist nicht zweckmäßig im Sinne der Kommunikation. Der Grad einer Wirkung kann außerordentlich unterschiedlich sein und trägt meist komplexen Charakter. Er kann vom Verstehen einer Äußerung über die sprachlich formulierte Antwort bis hin zu praktisch-gegenständlichen Tätigkeiten, Bildungsergebnissen oder Verhaltens- und Einstellungsänderungen reichen. In allen diesen Fällen können wir von einer - gradweise unterschiedenen - optimalen Wirkung sprechen. Die vier genannten Kriterien stehen untereinander in bestimmten Beziehungen, die durch kommunikative Normen festgelegt werden. In dieser Weite scheint uns der Begriff kommunikative Zweckmäßigkeit auch grundlegende Voraussetzungen für die theoretische und praktische Arbeit an Aufgaben der Sprachkultur zu enthalten. Fragen der Sprachkultur sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die weitere Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft. Sie gewinnen gegenwärtig in relativer Abhängigkeit von den fortschreitenden Entwicklungstendenzen der ökonomischen Basis und den spezifischen Veränderungsprozessen des geistig-kulturellen Lebens einen qualitativ neuen Inhalt. Es muß jedoch damit gerechnet werden, daß das Ziel, höhere Stufen der Sprachkultur zu erlangen, nur in einem langfristigen Prozeß im Rahmen der Gesamtentwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR erreicht werden kann. 54 1984
veröffentlichen die Sprachwissenschaftler
WOLFDIETRICH
HARTUNO,
KA I S I N G , G Ü N T H E R K E M P C K E , K L A U S - D I E T E R L U D W I G , W O L F G A N G M Ö T S C H ,
ERIBÄR-
D I E T E R V I E H W E G E R UND W O L F G A N G U L R I C H W U R Z E L >Thesen zur Sprachkultur^ 5 5 die wiederum Anlaß werden für eine Konferenz >TheoreBEL T E C H T M E I E R ,
54
55
Theoretische Probleme der Sprachwissenschaft, hg. v. Autorenkollektiv u. Leitung v. W. Neumann, Berlin 1976, Bd. 2, 709-715 (auf der Basis von Ising 1974). Vorher heißt es in dem Handbuch >Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft hg. v. einem Autorenkollektiv u.d. Leitung v. W. Härtung, Berlin (DDR) 1974, S. 26f.: »In der sozialistischen Gesellschaft ändern sich auch Inhalt und Funktion der Bemühungen um die Sprachkultur. In der Vergangenheit waren solche Bemühungen häufig an wirklichkeitsfremden Idealen orientiert oder an sprachlichen Mustern, die von der Mehrzahl der Bevölkerung nicht erreicht werden konnten, so daß Sprachkultur und Sprachpflege oft einen exklusiven, elitären oder schulmeisterhaften Zug erhielten. Bei uns ändert sich mit der neuen Stellung des Menschen in der Gesellschaft auch seine Stellung innerhalb der Kommunikation und damit sein Verhältnis zur Sprache. Überkommene Normen ändern sich und folglich auch die Vorstellungen über Zweckmäßigkeit und Schönheit der Sprache. Die Schönheit der Sprache ist nichts Abstraktes, sie bildet sich in der gesellschaftlichen Praxis, in der die Sprache verwendet wird. Das Problem der Sprachkultur ist also in erster Linie ein Problem der kommunikativen Praxis, ein Problem der sprachlichen Normen und ihrer gesellschaftlichen Funktion. Ohne hinreichende Kenntnis dieser Grundlagen wird es nicht gelingen, unsere Aufgaben auf dem Gebiet der Sprachkultur zu meistern.« Techtmeier, B. u.a. Thesen zur Sprachkultur, Zeitschrift für Germanistik 5, 1984, 389-400. - Vgl. auch Braun, P., Sprachkultur im deutsch-deutschen Vergleich, Der Deutschunterricht 37, 1985, 21-33. - Aus der Sprachkulturtheorie versucht A. GREULE eine neue Theorie der Sprachpflege abzuleiten. Zweck der Sprachpflege wird »die Fähigkeit der erwachsenen Sprecher, in den unterschiedlichen Kommuni-
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tische und praktische Fragen der Sprachkultur^ 1986 in Berlin (DDR). 5 6 In den >Thesen< legen sie fest, daß die Geschichte der Sprachkultur im Grunde die Geschichte der Entwicklung des Sprachbewußtseins einer Sprachund/oder Kommunikationsgemeinschaft [sei.] Diese Geschichte ist ihrerseits Bestandteil der Ideologie- und Kulturgeschichte der jeweiligen Gesellschaft. Jede Darstellung der Geschichte der Sprachkultur, die diesem Faktum nicht Rechnung trägt, diese beispielsweise nur als einen reinen Streit um Sprachenfragen begreift (z.B. als einen Streit zwischen Befürwortern und Gegnern von Neuerungen in Fremdwörtern), muß zwangsläufig in die Irre gehen. 57 Wichtig ist den Autoren die Begriffsklärung: Mit dem Terminus >Sprachkultur< werden u.a. erfaßt: das Sprachverhalten einer Gesellschaft oder bestimmter Sprechergruppen, individuelle sprachliche Fähigkeiten und Äußerungen einzelner Persönlichkeiten, die Sprache in ihrer Gesamtheit, d.h. als System von sprachlichen Zeichen und Texten, ein Aufgabengebiet/Tätigkeitsbereich der Sprachwissenschaft, Pädagogik und bestimmter Einrichtungen der gesellschaftlichen Praxis bei der Pflege der Sprache und ihres Gebrauchs, ein bestimmter Grad der Sprachbeherrschung und ein bestimmter qualitativer Aspekt des Sprachgebrauchs, das Niveau eines angemessenen, normgerechten und schöpferischen Sprachgebrauchs in bestimmten Situationen, gegenüber bestimmten Partnern und unter Berücksichtigung des Gegenstandes der Kommunikation, ein Moment der Kultur einer Gesellschaft, das aktive Eingreifen zum Nutzen des Standards, seiner Vervollkommnung und Entwicklung, jede Bemühung, den schriftlichen oder mündlichen Ausdruck in bezug auf Wortwahl, Wortform und Satzbau so zu verbessern, daß er beim Sprachpartner die erwünschte Begriffsvorstellung unmittelbar auslöst, ohne die vorgegebene Sprachstruktur zu verletzen oder den Informationsgehalt zu verändern, die Anleitung der Sprachteilhaber, die in der Sprache angelegten, sich wandelnden Möglichkeiten situationsgerecht und gut zu nutzen. All diese Umschreibungen enthalten wichtige Aspekte dieser Erscheinung, zugleich machen sie aber auch die Unschärfe des Begriffs deutlich. Eine Klärung ist deshalb notwendig ... Zu unterscheiden ist vor allem zwischen der Sprachkultur als einem noch näher zu bestimmenden Niveau des Sprachverhaltens einzelner Sprecher bzw. Sprechergruppen einerseits und den A k t i v i t ä t e n von Institu-
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kationskonstellationen, in denen sie kommunizieren, sprachlich adäquat zu agieren und auch zu reagieren« bzw. »Im Mittelpunkt der Sprachpflege steht ... die kommunikative Adäquatheit des öffentlichen Sprachgebrauchs«. Greule, Α., Theorie und Praxis der germanistischen Sprachpflege, Muttersprache 92, 1981, 290 u. 189; Ders. u. E. Ahlvers-Liebel, Germanistische Sprachpflege. Geschichte, Praxis und Zielsetzung, Darmstadt 1986; Dies., Sprachpflege als Wissenschaft. Abschied von Gefühl und Phantasie, Der Sprachdienst 30, 1986, 129-141 Techtmeier, B. (Hg.), Theoretische und praktische Fragen der Sprachkultur, Berlin (DDR) 1987 mit Beiträgen von Bahner, W.; Techtmeier, B.; Lerchner, G.; Fix, U.; Mötsch, W.; Kertzscher, G.; Nerius, D.; Richter, G.; Wurzel, W.U.; Fräbel, R.; Fleicher, W.; Agricola, E.; Kramer, G.; Friedrich, D.; Petroviö, I.; Ising, E. u.a. Techtmeier, B. u.a., Thesen zur Sprachkultur, Zeitschrift für Germanistik 1984, H. 4, 389-396
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tionen und Einzelpersonen, die zu einer möglichst großen Annäherung an das durch >Sprachkultur< repräsentierte Niveau führen soll ... Da der ältere Terminus >Sprachpflege< nicht unbelastet ist (verursacht vor allem durch puristische Haltungen der Sprachpfleger· in der Vergangenheit), bezeichnen wir solche Handlungen als >sprachkulturelle Aktivitäten< ... >Sprachkultur< bezeichnet dann ausschließlich ein b e s t i m m t e s Niveau des S p r a c h v e r h a l t e n s . Dieses Niveau kann nicht abstrakt bestimmt werden, sondern nur im Rahmen einer gegebenen historischen und sprachlich-kommunikativen Konstellation. Diese hat eine objektive Seite in den Erfordernissen, denen jeweils für eine optimale Verständigung zwischen den Menschen entsprochen werden muß, und eine subjektive Seite, die das Sprachbewußtsein einer gegebenen Sprach- und/oder Kommunikationsgemeinschaft reflektiert ... Die objektive Seite erfaßt das Niveau der Respektierung geltender sprachlich-kommunikativer Normen ... 58 D i e s u b j e k t i v e K o m p o n e n t e ist das S p r a c h b e w u ß t s e i n . S i e ist >von e r h e b l i c h e r B e d e u t u n g für das S p r a c h v e r h a l t e n in der Gesellschaft.< S p r a c h b e w u ß t s e i n wird w i e d e r u m definiert als die mehr oder weniger entwickelte Fähigkeit, über Sprache reflektieren zu können (z.B. über Gegebenheiten der sprachlichen Kommunikation, über einzelne sprachliche Erscheinungen, über die Entwicklung und Bewertung von Sprachen), sprachliche Ausdrucksmittel bewußt einzusetzen und zu bewerten ... Sprachbewußtsein ist also vor allem bewußt gemachte Sprachfähigkeit, reflektierte Sprachfähigkeit. W i e s o l l e n nun sprachkulturelle A k t i v i t ä t e n a u s s e h e n , d i e e i n e m ö g l i c h s t g r o ße Zahl v o n M e n s c h e n an das g e f o r d e r t e S p r a c h n i v e a u heranführen? D a b e i sei zu b e r ü c k s i c h t i g e n , daß in der s o z i a l i s t i s c h e n G e s e l l s c h a f t die e i n z e l n e n M i t g l i e d e r vor s p r a c h l i c h - k o m m u n i k a t i v außerordentlich k o m p l e x e n A u f g a b e n g e s t e l l t seien, deren B e w ä l t i g u n g
aber durch das W e g f a l l e n der
Bil-
d u n g s s c h r a n k e n prinzipiell m ö g l i c h ist. Ihnen sind zu v e r m i t t e l n a) K e n n t n i s se über die g r a m m a t i s c h e n und k o m m u n i k a t i v e n , die s c h r i f t l i c h e n und m ü n d l i c h e n N o r m e n , b) die B e d i n g u n g e n e m p f ä n g e r g r u p p e n s p e z i f i s c h e n
Gestal-
t e n s sprachlicher Ä u ß e r u n g e n , über G e n a u i g k e i t , A n s c h a u l i c h k e i t , Kreativität usw., c ) das W i s s e n über a l l g e m e i n e Charakteristika der s p r a c h l i c h e n K o m munikation, d) die E n t w i c k l u n g der Fähigkeit zur k o m p l e x e n Situationsanalyse, d i e d e n S p r e c h e r n e i n e n s c h ö p f e r i s c h e n U m g a n g mit g e l t e n d e n N o r m s y stemen ermöglicht. W e i t e r sind zu stärken >die W i r k s a m k e i t einer s a c h k u n d i g e n Sprachkritik in der Ö f f e n t l i c h k e i t ^ >die Vermittlung v o n E i n s i c h t e n in das h i s t o r i s c h e G e w o r d e n s e i n der natürlichen S p r a c h e n d i e E n t w i c k l u n g d e s B e w u ß t s e i n s , daß die Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern auch Kulturgut einer historisch gewordenen Gemeinschaft darstellt. Es ist deshalb das Bewußtsein zu fördern, daß Sprache insbesondere ihre semantische Komponente - die Kultur 58
Vgl. auch Ludwig, K.-D., Zur Problematik des Verhältnisses von Sprachkultur, kommunikativer Adäquatheit und sprachlich kommunikativen Normen, Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung 33, 1980, 5 6 - 6 2 u. Härtung, W., Eine hohe Sprachkultur - Aufgabe in der sozialistischen Gesellschaft der DDR. Gedanken zu einer Zwischenbilanz, Der Deutschunterricht 34, Leipzig 1981, 2 9 2 - 3 0 3
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20.
Jahrhundert
einer gegebenen Gesellschaft sowie früherer Gesellschaften auf eine spezifische Weise materialisiert, d.h. daß sie eine spezifische Art der Vergegenständlichung kultureller Werte darstellt. Das schließt das Verständnis für Veränderungen in sich ein, die sich in Kultur und Sprache auch gegenwärtig vollziehen. So kann das Verantwortungsbewußtsein im Umgang mit der Sprache erhöht werden, ohne konservativen Haltungen gegenüber Sprachveränderungen Vorschub zu leisten. Sprachkulturelle A k t i v i t ä t e n s o l l t e n konzentriert e i n g e s e t z t w e r d e n in
den
w e s e n t l i c h e n B e r e i c h e n der Sprach- u n d / o d e r K o m m u n i k a t i o n s g e m e i n s c h a f t , d.h. in der ö f f e n t l i c h e n K o m m u n i k a t i o n und s p e z i e l l in der M e d i e n k o m m u n i kation. Zu v e r m i t t e l n s e i der Standard, >eine durch k o l l e k t i v e Verbindlichkeit, ü b e r r e g i o n a l e Verbreitung, N o r m i e r t h e i t und f u n k t i o n a l e D i f f e r e n z i e r t heit g e k e n n z e i c h n e t e Sprachform... e i n
be-
s t i m m t e s N i v e a u d e s Sprachverhaltens< als elitär und i l l u s i o n ä r a n g e g r i f f e n , 6 0 zum
anderen
seien
Mindestvoraussetzungen
und Z u s a t z b e d i n g u n g e n
nicht
e i n d e u t i g b e s c h r i e b e n worden. A k z e p t i e r t wird d i e Z u s a t z f o r d e r u n g n a c h Einb e z i e h u n g d e s ä s t h e t i s c h e n A s p e k t s , d e s subjektiv R e i z v o l l e n , das zur R e z e p t i o n v o n T e x t e n ermuntere und d i e s e z u g l e i c h a n g e n e h m gestalte.
59
60
Betont
Vgl. auch Möller, G., Sprachkultur der Allgemeinheit, Zeitschrift für Germanistik 1, 1987, 5 7 3 - 5 7 6 ; Ders., Ein Begriff zur freien Verfügung: Sprachkultur, Sprachpflege 1988/2, 19-21; Fix, U„ Zusatzbedingungen für Sprachkultur - der ästhetische Anteil, Zeitschrift für Germanistik 2, 1986, 2 0 1 - 2 0 8 ; Dies., Die Kategorien >Kommunikativ adäquat< und stilistisch adäquateine angemessene sprachliche Normierungimmer eine Einheit von Erhaltung und Veränderung sein< müsse. Die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorhandenen Normunsicherheiten und Abweichungen von geltenden Normen seien Anlaß für angemessene Neuorientierungen oder normative Festlegungen überhaupt im Sinne von Sprachkultur und Sprachpflege. Wir sehen die praktischen Aufgaben der nächsten Zeit auf dem Gebiet von Sprachkultur und Sprachpflege - neben der >intern< linguistischen Diskussion vor allem im Bereich der weiteren Entwicklung eines öffentlichen Sprachbewußtseins sowie der Bewältigung der vielfältig anstehenden Normprobleme ... Darüber hinaus gibt es eine Reihe essentieller Fragen, die in einem engen Zusammenhang mit Sprachkultur und Sprachpflege stehen. Hier ist vor allem an die Rolle der Sprache im politisch-weltanschaulichen Kontext zu denken, insbesondere im Rahmen einer publizistischen SprachkritikFrieden und und Dialog der Vernunft* beziehen sollte. 61
Und 1990 schreibt JÜRGEN S C H A R N H O R S T vom mangelnden Bewußtsein um den Wert der Sprache in der Gesellschaft, die in die neunziger Jahre eintritt. Er setzt vor allem auf Erziehung und Bildung, auf den Fremdsprachenunterricht, der ein bewußtes Verhältnis zur Muttersprache fördere. An den Universitäten sollten Vorlesungen und Seminare in die Probleme der Sprachkultur einführen. Die Forschung in diesem Bereich sei zu fördern. 62 Auf einer Tagung zum Thema Sprachwissenschaft und Sprachkultur* in Neubrandenburg im Mai 1990 reflektierten vor allem Autoren aus der ehemaligen DDR ihre früheren Positionen und versuchten sich in einer Neubestimmung der Frage nach einer >Kultur des Umgangs mit der Sprache*. Kritisiert wird, daß der erzieherische Aspekt etwas zu einseitig in den Vordergrund gestellt wurde, daß man sich mit den >Hypotheken< der Sprachpflege (Allgemeiner Deutscher Sprachverein und NS-Zeit) nicht genügend auseinandersetzte und daß echte Kommunikationsprobleme in der sozialistischen Gesellschaft nicht diskutiert und erforscht wurden. 63 Verwiesen wird nicht auf die Wissenschaft als weiteren Träger der Auseinandersetzung, sondern vor allem auf den >Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands*, der 1990 in Güstrow wiedergegründet wurde. SOMMERFELD, der Initiator der Tagung, sieht ihn als Koordinator für alle Bemühungen in den neuen Bundesländern, als Bindeglied vor allem zu den Lehrern und Bildungseinrichtungen. 64 Zentraler Begriff ist für die Wissenschaftler der ehemaligen DDR nicht mehr der
61 62
63
64
Ebd. 433 Scharnhorst, J., Sprachkultur. Geschichte und Perspektiven, Der Deutschunterricht 43, Leipzig 1990, 2 2 3 - 2 3 1 Härtung, W., Sprachpflege und ihre Begründungsprobleme. Eine kritische Betrachtung zum Verhältnis von Nationalismus, Konservatismus und dem Konzept kultureller Bildung, In: Sprachwissenschaft und Sprachkultur, hg. v. K.-E. Sommerfeldt, Frankfurt a.M.-Bern 1990, 3 Sommerfeld, K.-E., Demokratische Erneuerung und Sprachkultur, ebd. 2 1 - 2 7
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der >SprachkuIturKommunikationskulturSprachkriseSprachskepsisSprachzerstörungSprachverfremdung< oder auch >Sprachspielerei< belegt. Offenbar wurde diese Haltung im >Chandos-Brief< H U G O V O N H O F M A N N S T H A L S im Jahre 1902. Hofmannsthal, der in seinen Jugenddichtungen eine flimmernd reiche sprachliche Bilderwelt geschaffen hatte, der sich in einem Sprachrausch befand, Sprachmagie betrieb und d e m schönen Klang huldigte (>Das Wort, das Andern Scheidemünze ist.
65 66
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Langner, H., Sprachkultur und Entwicklungstendenzen, ebd. 47 Vgl. dagegen Kristensson, G., Angloamerikanische Einflüsse in DDR-Zeitungstexten unter Berücksichtigung semantischer, pragmatischer, gesellschaftlich-ideologischer, entlehnungsprozessualer und quantitativer Aspekte, Stockholm 1977 Autorenkollektiv u.d. Leitung v. W. Schmidt, Geschichte der deutschen Sprache, Berlin (DDR) 3 1980, 154-158; Schildt, J„ Abriß der Geschichte der deutschen Sprache. Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Sprachgeschicht, Berlin (DDR) 1976, 194-212. - Außerdem Fleischer, W., Entwicklungstendenzen im Deutschen der DDR - Der Wortschatz, In: Theoretische und praktische Fragen der Sprachkultur, hg. v. B. Techtmeier, Berlin (DDR) 1987, 171-190. - Zur Gesamtentwicklung der Sprache in der DDR von 1947 bis 1989 vgl. Schlosser, H.D., Die deutsche Sprache in der DDR zwischen Stalinismus und Demokratie. Historische, politische und kommunikative Bedingungen, Köln 1990; Drosdowski, G., Deutsch-Sprache in einem geteilten Land. Beobachtungen zum Sprachgebrauch in Ost und West in der Zeit von 1945 bis 1990, Mannheim 1990
Literarisch
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Mir ists der Bilderquell der flimmernd reiche< 68 ), hatte sich bereits Ende der neunziger Jahre skeptisch geäußert: ... und die Worte haben sich vor die Dinge gestellt; sie spinnen alles Leben vom Menschen ab [und] wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit. 69
Hofmannsthal empfand zunehmend die Unmöglichkeit, die erfahrene Welt in Worten wiederzugeben. Die mystische Einheit war aufgebrochen. Philosophisch gesprochen ist dies der Moment des Übergangs zur Existenz, der Moment der Einfügung in soziale Bezüge. Die traumhafte Beherrschung der Sprache wird bei diesem Übergang aufgegeben. Im Brief des fiktiven Lord Chandos aus dem Elizabethanischen England an seinen Freund Francis Bacon versucht dieser sein nunmehr zweijähriges Stillschweigen zu erklären. Im Rückblick auf seine Dichtungen, die er als >unter dem Prunk ihrer Worte hintaumelnde Schäferspiele< bezeichnet, erkennt er die >Krankheit seines Geistesüber irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen^ >jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegenGeistSeele< oder >Körperdie Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilzeüberkam mich ... das Gefühl furchtbarer Einsamkeit.< Die Begriffe blieben ihm fremd, >mir war zumut wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freievon deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werdeChandos-Brief< soll eine Auseinandersetzung mit Stefan George gewesen sein, wobei Bacon als Codewort für diesen gilt.
s e n s c h a f t u n d G e i s t e s g e s c h i c h t e 35, 1961, 6 9 - 9 5 ; Sasse, G. ( 1 9 7 7 ) , 6 2 - 7 0
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Fast zwanzig Jahre nach dem >Chandos-Brief< griff Hofmannsthal in dem Lustspiel >Der Schwierige< diese Thematik nochmals auf. Hans Karl Bühl, der >Schwierige... wenn uns vor etwas auf der Welt grausen muß, so davor: daß es etwas gibt wie Konversation: Worte, die alles Wirkliche verflachen und im Geschwätz beruhigenLetzte, das Unaussprechliche< an, >das Reden basiert auf einer indezenten Selbstüberschätzung«:. 71 Sprachkrise und Existenzkrise werden bei Hofmannsthal begleitet von der Krise der Österreich-Ungarischen Monarchie und der Weltbilder, die die Monarchien damals verkörperten. Hofmannsthal fand die Nation >einzig in den hohen Sprachdenkmälern und in den Volksdialekten. Die einen und die anderen stehen im Wechselbezug; in beiden zusammen ist die Nationhohen Sprachdenkmäler« sammelt er, speziell in dem Band mit dem bezeichnenden Titel >Wert und Ehre der deutschen Sprache< (1927). Da die gegenwärtige Verkehrssprache nicht geeignet sei, aus ihr das >Gesicht der Nation< erkennbar werden zu lassen, da sie ein Konglomerat von Individualsprachen< sei, das von philosophischen Begriffen, von >falschen TitanismenSchwächen, die sich für Stärken ausgeben möchtenUnsere höchsten Dichter allein, möchte man sagen, gebrauchen unsere Sprache sprachgemäßmittleren Sprachen wie sie etwa die Franzosen besitzen, die allein die nationale Einheit, die Geschichte stiftet, >die Gemeinschaft des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen«. >Die Sprache ist ein großes Totenreich, unauslotbar tief; darum empfangen wir aus ihr das höchste Leben. Es ist unser zeitloses Schicksal in ihr, und die Übergewalt der Volksgemeinschaft über alles Einzelne.« 73 Hofmannsthal hat Novalis als Anreger seiner Sprachskepsis genannt. 74 In der Literatur wird aber stärker auf F R I T Z M A U T H N E R verwiesen, dessen dreibändiges Werk >Beiträge zu einer Kritik der Sprache« 1901/02 erschienen war. Es gilt als das wichtigste und umfassendste Dokument der literarischen Sprachkrise. In der Einleitung steht eine Parabel, in der Mauthner das Ergebnis seiner Überlegung andeutet. 71
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Hofmannsthal, H.v., Der Schwierige, Frankfurt a.M. 1958, 48, 73. - Doppler, Α., Das Konversationsstück bei Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal, In: Sprachthematik in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. v. Insitut für Österreichkunde, Wien 1974, 6 9 - 8 2 Hofmannsthal, H.v. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. H. Steiner, Prosa IV, Stockholm-Frankfurt a.M. 1955, 435f. - Auch die Sammlung >Deutsche Erzähler«, 1912, dient den konservierenden Bemühungen Hofmannsthal um die Sprache. Ebd. 439. - Vgl. auch die Essays zu >Unsere Fremdwörter«, Prosa III, 195-203, >Schöne Sprache«, Prosa IV, 50-55 und die Rede >Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«, Prosa IV, 390-413, in denen zu Sprachproblemen Stellung genommen wird. Kühn, J., Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin 1975, 27. - Zum Thema vgl. auch das Kapitel »Sprachskepsis und Mystik« bei Liede, Α.,
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Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen. Es war einmal ein Pope, der war Pope genug, um Wanzen in seinem Bette zu haben, und Freigeist genug, um seine Wanzen als etwas Häßliches oder doch Fremdes zu empfinden. Umsonst wandte er nacheinander hundert Mittel an, seine Wanzen zu vernichten. Eines Tages aber brachte er aus der großen Stadt, wo die Universität ist, ein Pulver mit, welches ihn untrüglich befreien sollte. Er streute es aus und legte sich hin. Am andern Morgen waren alle Wanzen tot, aber auch der Pope war tot. Was die Wanzen tötet, tötet auch den Popen. 75 Die Wanzen stehen für die Sprache, die dem Sprachkritiker, dem Popen, nicht mehr taugt, die ihn stört, der er sich aber dennoch bedienen muß, um auszudrücken, daß er sie nicht mehr haben will. Und gleich zu Anfang, mit dem Seitenhieb auf die Universität, erhält der Leser auch eine Ahnung von Mauthners Verhältnis zur etablierten Wissenschaft. Zwei weitere Zitate verdeutlichen dieses Verhältnis: So ist Philosophie als Selbsterkenntnis des Menschengeistes ewig unfruchtbar ... Die Kritik der Sprache ist darum eine Kritik des Rationalismus, eine Kritik des Aberglaubens an den absoluten Wert des diskursiven Denkens ,.. 76 Was ihn trotz erbittertem Kampf mit eben jener verhaßten Wissenschaft verbindet, ist die typische scheinbare Bescheidenheit wissenschaftlicher Arbeiten (Versuch einer Untersuchung etc.), mit der er bei allem Absolutheitsanspruch seiner Überlegungen und Schlußfolgerungen zu Anfang seine Intention verkündet: Am Ende wird aber auch diese Kritik nur wollen, was alle Sprachwissenschaft von jeher wollte: die Erscheinung der Sprache erklären. Mauthner geht also zunächst auf das Wesen der Sprache ein und schränkt auch gleich ein: >Die Sprache< gibt es nicht. Er stellt die bisher vorherrschende Auffassung von Sprache der seinen gegenüber: Was nicht allein Pfaffe und Pöbel von der Sprache behauptet, was fast alle Sprachforscher - einer dem andern - nachschreiben, daß nämlich die Sprache ein Werkzeug unseres Denkens sei (ein bewunderungswürdiges Werkzeug noch dazu), das erscheint mir als eine Mythologie. Nach dieser Vorstellung, welche heute noch von allen Köpfen geteilt wird, sitzt irgendwo am Strombett der Sprache eine Gottheit, Mannsbild oder Frauenzimmer, das sogenannte Denken, und herrscht unter den
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Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin 1963, Bd. 1, 248-354 Mauthner, F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1, 2. Gustafsson, L., Sprache und Lüge. Drei sprachphilosophische Extremisten Friedrich Nietzsche, Alexander Bryan Johnson, Fritz Mauthner, München 1980 Mauthner zit. nach Eschenbacher, W., Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, Frankfurt a.M. 1977, 44
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Einflüsterungen einer ähnlichen Gottheit, der Logik, über die menschliche Sprache mit Hilfe einer dritten dienenden Gottheit, der Grammatik... 77 Wäre die Sprache ein Werkzeug, so würde auch die Sprache verschlechtert und verbraucht werden. Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs, sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch... Gebrauchsgegenstände bleiben unverändert, wenn weder menschlicher Gebrauch noch ihr ungewollter Verbrauch durch die Naturkräfte sie verzehrt. Die Sprache dagegen, weil sie kein Gebrauchsgegenstand, sondern selbst Gebrauch ist, stirbt ohne Gebrauch. 78 Mauthner will nun also endgültig mit der überkommenen Ansicht aufräumen, Sprache sei ein Werkzeug des Denkens. Sie ist kein Werkzeug, kein Gegenstand, der sich durch Gebrauch abnützt, sondern sie entsteht und lebt erst durch den Gebrauch und gewinnt durch seine Ausbreitung an Wert. Für Mauthner ist die Sprache ein weltumspannendes Gesellschaftsspiel, und als solches ist sie ohne Beziehung zur Wirklichkeit, ein geordnetes Regelsystem, das nur im Gebrauch Bedeutung gewinnt: 7 9 Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch umso zwingender wird, j e mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber die Wirklichkeit weder ändern noch begreifen will. 80 Mit seinen Gedanken zum Sprachgebrauch und dem Vergleich der Sprache mit einer Spielregel lieferte Mauthner wichtige Anregungen für Ludwig Wittgenstein, der den Regelgedanken zu dem für seine Sprachphilosophie zentralen Begriff des Sprachspiels ausführte. 81 D i e fehlende Beziehung von Sprache zur Wirklichkeit erklärt Mauthner in anschaulichen Bildern: Die Sprache kann niemals zur Photographie der Welt werden, weil das Gehirn des Menschen keine ehrliche Camera obscura ist, weil im Gehirn des Menschen Zwekke wohnen und die Sprache nach Nützlichkeitsgründen geformt haben. 82 Auch eine eindeutige Verständigung unter den Menschen scheint Mauthner unmöglich zu sein, da zwar alle Spieler sich an die gleichen Spielregeln halten, aber unterschiedliche Spielmarken, d.h. Wortinhalte, benutzen. D i e Wortinhalte schwanken, weil Worte nichts anderes als der Erinnerungsschatz der
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Mauthner, F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1, lOf. Von Mauthner beeinflußt ist OSWALD W I E N E R , der 1 9 6 9 einen >RomanGeben Sie mir Leberwurst!< Der Stumme zeigt mit den Fingern auf die Leberwurst mit dem gleichen Erfolg. Der Hund schnappt nach der Leberwurst mit noch größerem Erfolg. Die Sprache auf ihrer höchsten Stufe ist Kunstmittel. Goethe setzt Wort an Wort, wie Rafael Farbe an Farbe. Die Sprache im geselligen Verkehr nähert sich wie im Wirtshaus, im Handel, im Krieg und im Liebeskampf der Leberwursteinfachheit. Sie nähert sich in der feinsten Salonkonversation hervorragender, geschätzter Leute dem Kunstwerk. In der Mitte liegt Geschnatter, das gedankenlose Geschnatter, das tausend Millionen Menschen täglich stundenlang vollführen. Abseits vom Geschnatter hat sich einige Wissenschaft die Worte dienstbar gemacht, um sie wie algebraische Zeichen formelhaft zu verwenden. Ein neuer Gedanke kann dabei gar nicht herauskommen, so wenig wie durch millionenfache Kombinationen und Permutationen der zehn Zifferzeichen der Wert der Welt um ein Atom vermehrt werden kann. 88 Diese verschiedenen Funktionen von Sprache unterliegen also Hierarchie: 1. Sprache zur Mitteilung im täglichen Leben 2. Sprache des Dichters 3. Sprache als Werkzeug der Erkenntnis
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Mauthner, und Werk, Mauthner, Mauthner, Ebd., 102 Ebd. 92 Ebd. 47
folgender
zit. nach Kühn, J., Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben Berlin 1975, 54 F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1902, Bd. 3, 459 F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1, 42
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Mauthner klammert die unterste Ebene, die Sprache zur Mitteilung im täglichen Leben, ausdrücklich von seiner Betrachtung aus, da der alltägliche Gebrauch der Sprache ihm zu gemein, zu niedrig erscheint: >Die Herdensprache ist s o wenig Gegenstand der Kritik wie das Zwitschern der Vögel. Gefängnis der Sprachewahre< Kritik des Wortes angelegt. Mauthner verfolgte diesen Gedanken vor allem in seinem >Wörterbuch der Philosophie^ wo er eine etymologische Analyse essentieller philosophischer Termini versuchte. Vor allem Theologie und Philosophie arbeiten mit >leeren Begriffene um einen Erkenntnisgewinn vorzutäuschen, der - durch Mauthners Sprachdefinition explizit ausgeschlossen - innerhalb des sprachlichen Systems eigentlich gar nicht geleistet werden könnte. Durch die Entlarvung dieser Scheinbegriffe soll nicht zuletzt der gesamten Philosophie und Theologie des Abendlands, mit Ausnahme bestimmter Formen der Mystik, der entscheidende Stoß versetzt werden: Nach Mauthner basiert jeglich philosophische und theologische (Schein-)Erkenntnis der Wirklichkeit auf einer Täuschung, die durch die Unzulänglichkeit der Sprache erst möglich wird. So versteht Mauthner seine Sprachkritik auch als einen »Kampf gegen jede Form des Aberglaubens und Dogmatismus, der mich immer wieder in die Nachbarschaft der Aufklärer bringt.< 113 Durch diese >sprachkritische Selbstreflexion< 114 strebt Mauthner über die Revision sämtlicher Begriffe eine Reform des tatsächlichen Sprachgebrauchs an. Ziel ist dabei die Neukonstitution brauchbarerer Denk- und Sprechformen und die Schaffung einer neuen >sprachkritischen Erkenntnistheorie·!: Die Sprache wird zur Selbstkritik der Philosophie. Diese selbstkritische Philosophie wird durch ihre Resignation nicht geringer als die alten selbstgerechten Philosophien. Denn von der Sprache gilt, wie von jedem anderen Märtyrer der Philosophie das tapfere Wort: Qui potest mori, non potest cogi. Auch die Sprache muß sterben können, wenn sie noch einmal lebendig werden will. 1 1 5
Mauthner plädiert damit für einen steten Wandel, für die notwendige Anpassung der Sprache an neue Gegebenheiten. Den Kampf gegen alte >Sprachgespenster< versteht Mauthner als >Kampf für den Fortschritt; er soll Sprachfesseln lockern und durch genaue Beobachtung der Wirklichkeit neue Wahrnehmung, die den alten Denk- oder Sprachgewohnheiten einen Stoß versetzt, ermöglichen^ 1 1 6 Denn für Mauthner findet jeglicher Fortschritt seinen Anstoß außerhalb der Sprache und schlägt sich dann als Erweiterung der Sprache nieder. Fortschritt hängt somit von der stets zu verbessernden Wahrneh-
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Mauthner, F., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, München 1910, Bd. 1, XII Eschenbacher, W., Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, Frankfurt a.M. 1977, 119 Mauthner, F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1, 656f. Kühn, J., Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin-New York 1975, 80 Mauthner, F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1, 680
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mungsfähigkeit ab: >Die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts besteht in der Verbesserung ihrer natürlichen und künstlichen Sinnesorgane.< 117 Fortschritt, das ist für Mauthner der fortwährende Kampf gegen die konservative Macht der Sprache und die immer neue Zerstörung von Denkzwängen, welche die Beobachtung der Wirklichkeit verhindern. 118
So wird Mauthners praktische Sprachkritik zugleich zu einem Politikum; denn sie wendet sich entschieden gegen die >sprachpflegerischen< Bestrebungen staatlicher Institutionen wie Schule oder Universität. Ich leugne nicht die Nützlichkeit, in Anbetracht der armseligen Menschennatur nicht die Notwendigkeit des Staates ... Unerträglich ist es aber, wenn der Staat auf dem Gebiete des Denkens, das ihn nichts angeht, konservieren will, wenn er alternde Begriffe künstlich am Leben erhalten will. Da sollte man wirklich stoßen, was fällt. Und die Bildung, die in unseren staatlichen Gelehrtenschulen, in unseren >Konservatorien< mitgeteilt wird, ist ein ewiges Bemühen, alternde Begriffe zu retten. 119
Zweck dieser Konservierung ist die Unterdrückung des Volkes. Die Schulen dienen zur Aufrechterhaltung der Klassenunterschiede. Durch den bewußten Gebrauch der künstlichen Sprache der Oberschicht soll den Unterschichten ein erfolgreicher Schulbesuch unmöglich gemacht werden. 120 Sprache wird somit auch zum Herrschaftsmittel! Als Abhilfe schlägt Mauthner vor, Volkshochschulen zu schaffen, die >nicht ein Ableger der Universität, >nicht ein Almosen für das Volk< sein dürfen, sondern als >Gegenuniversität< konzipiert sein müßten und als Ziel >eine Revision der Grundlagen aller Wissenschaften anstreben müßten. Erste Schritte einer Schulreform sah Mauthner im Abbau des Unterrichts der >alten< Sprachen, in der Bevorzugung des Realunterrichts und in einer philosophischen Unterweisung im Sinne seiner Sprachkritik. 121 Mauthners irrationaler Sprachhaß< 122 ist biographisch wie sozial- und bildungspolitisch zu erklären. Er wuchs, ähnlich wie Franz Kafka in Prag in einer defekten Sprachsituation auf. Er trug >die Leichen dreier Sprachen< mit sich herum, 1 2 3 einmal das Amts- und Bildungsdeutsch, ein >papierenes Deutsche das ihm sein Vater, ein großbürgerlich-deutsch assimilierter Fabrikant, >mit unzureichenden Mitteln als eine reine, übertriebene puristische< Sprache 124 beizubringen suchte. Außerdem verwendete er ein verachtetes Un-
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Kühn, J., Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin-New York 1975, 80 Mauthner, F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1 64 Mauthner, F., Die Sprache, Frankfurt a.M. 1907, 104f. Mauthner zit. nach Kühn, J., Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin-New York 1975, 88 Ebd. 89 Ebd. 56 Mauthner, F., Prager Jugendjahre Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1969, 48 Ebd. 30
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terschicht-Tschechisch und Reste des Hebräischen und Jiddischen (Mauscheldeutsch): und dies alles mit sprachlichen >MinderwertsbewußtseinWorttyrannei< und den >Wortfetischismus< der Festredner, Wissenschaftler und Zunftgenossen. Von den Dichtern war ihm besonders Schiller wegen seiner >schönen Sprache< und seinem >Wortaberglaubenklassisch< kanonisierte Dichtungsstil gestattete es nicht mehr, Emotionen, Sprachhandlungen und Sprechersichtweisen spontan und damit überzeugend auszudrücken. Auch die neuromantischen Poesiekonzeptionen Hofmannsthals lehnt er als Pose ohne das >Gefühl über die Sprache hinausArtistenlyrik< und verwendete für deren Wirkung ein abgewandeltes Zitat Lichtenbergs: >Wenn die Köpfe eines Dichters und eines Lesers zusammenstoßen, und klingt hohl, muß es immer der Leser gewesen sein?Kitsch< betitelten Essay. Er äußerte die sprachkritische Befürchtung des Dichters, Triviales zu produzieren:
Ich kann kein Wort mehr sprechen und keinem Gefühle mehr mich hingeben, das ihr nicht zu einer Lüge verhunzt und zum Kitsch gemacht habt! 129
Das vor allem dem Dichter notwendige Wort wird unbrauchbar. Sacks Kritik gilt der Emanzipation der Worte von ihrem >ewig gleichen und unzerstörbaren, weil ewig menschlichen, Inhalte 1 3 0 Das emanzipierte Sprachgut schafft sich einen Pseudoinhalt, eine scheinhafte Nebenwelt des Kitsches, während die eigentlichen, >ewigen< Inhalte ihr sprachliches Äquivalent verlieren und namenlos werden. Den Ausweg, in die Wörter neue Inhalte zu gießen, ver125 126 127 128
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Ebd. 32 Ebd. 204 u. 207 Mauthner, F., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Stuttgart 1901, Bd. 1, 118 Mauthner, zit. nach Kühn, J., Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, Berlin-New York 1975, 61. - Vgl. auch Landauer G., Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1903, Nachdr. Münster-Wetzlar 1978 Sack, zit. nach Schulte-Sasse, J., (1971), 139. - Vgl. auch die sprachskeptischen Ausführungen etwa bei Oswald Pander, Revolution der Sprache, Das junge Deutschland, 1, 1918, 147f.; Friedrich Wolf, Vom Untergang der Sprache, Die neue Schaubühne, 1, 1919, Η. 1; Iwan Göll, Die drei guten Geister Frankreichs, Berlin 1919; Carlo Mierendorf, Erneuerung der Sprache, Feuer. Illustrierte Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur 1, 1919/20, Februarheft 1920 Sack, G., Gesammelte Werke, hg. v. P. Sack, Berlin 1920, Bd. II, 281
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wirft Sack. Es bleibt nur, die >verhunzte< Sprache aufzugeben. D i e >niemals alternden Inhalte< haben sich endgültig der Sprache entzogen. Damit ist aller Dichtung, die diese Inhalte unmittelbar zur Sprache zu bringen versucht, ein Ende gesetzt. 1 3 1 Schuldig am Sprachverderb sind die Literaten und die Journalisten. Sie zerstören ihre Ausdrucksmittel. D i e >ganz Erfolgreichen unter ihnen< haben sich einen eigenen Stil gebildet, in dem sie auf einen ordentlichen Satzbau Verzicht leisten und dafür mit kokett hintereinander gereihten Worten, Ausrufen, knappen Andeutungen und verdrehten Zitaten und affektierten Extraktsätzen ... jonglieren. 132 Der Dichter hat sich dem Haus der Sprache, in dem Literaten und Journalisten herrschen, zu entziehen. Auch H U G O B A L L begründet die >Erfindung< seiner Lautgedichte mit der Flucht aus der durch den Journalismus verdorbenen und unmöglich gewordenen Sprache. Man zieht sich in die innerste Alchemie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligen Bezirk. Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe. Man wolle den poetischen Effekt nicht länger durch Maßnahmen erzielen, die schließlich nichts weiter seien als reflektierte Eingebungen oder Arrangements verstohlen angebotener Geist-, neu Bildreichigkeiten. 133 Mit Ball zusammen erstrebten die Dadaisten, die Sprache von ihrer Tradition zu befreien. »Nach Auflösung der Syntax unternahmen sie die Zertrümmerung des Worts in seine Splitter von Laut und Sinn, den Vorstoß in das sprachliche Nichts«. 1 3 4 131 132
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Eibl, K., Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, 15 Sack, zit. nach Eibl, K., Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, 16, Anm. 8. - Im gleichen Jahr äußert sich M A X D A U T H E N D E Y : »Es ist das Recht jedes wirklichen Dichters, seine Muttersprache zu bereichern, und es ist seine Pflicht, Fremdworte auszumerzen und an ihre Stelle Worte mit heimatlichem Klang der Heimatsprache zu erschaffen.« Gedankengut aus meinen Wanderjahren, München 1913, Bd. 1, 182 Ball, H., Die Flucht aus der Zeit, München-Leipzig 1927, 105. - Rechner-Zimmermann, C., Die Flucht in die Sprache. Hugo Balls »Phantastenroman« im kulturgeschichtlichen Kontext zwischen 1914 und 1920, Marburg 1992 Muschg, W., Von Trakl zu Brecht. Dichter des Expressionismus, München 2 1961, 7 7 . - Wie naiv die Sicht dagegen etwa bei P A U L H E Y S E ist, soll sein Gedicht d e u t sche Sprache< zeigen (1906): »Die deutsche Sprache soll sich genau Betragen wie eine deutsche Frau, Die selbst im Haus mit Kind und Gesind' Nicht Worte braucht, die niedrig sind, Doch wohl, wenn's ihr am Herzen lag, Der Mundart sich bedienen mag. Nicht aber soll sie auf Markt und Gassen Im Schlafrock sich betreffen lassen,
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Skeptisch ist auch ISOLDE KURZ, die eine zunehmende Verrohung des sprachlichen Ausdrucks in allen Ländern sieht, während sich die Sitte verfeinert. Unsere Kultursprachen sind alle keine vollwertige Münze mehr. Kein Wort hat für unser Ohr den ursprünglichen Klang, der gleich das frische Bild vor die Augen zaubert; es ist schon viel zuviel damit gelogen, geheuchelt, geflunkert worden. Alle, die zur Feder als ihrem Handwerkszeug greifen, sollten zuvor ein Ordensgelübde auf Reinheit und Treue der Sprache ablegen müssen, bei dessen Verletzung sie des Rechtes zu schreiben verlustig gingen. Wenn unsere Schriftsteller, Zeitungsschreiber, Redner noch eine Weile so fortfahren wie bisher, wo werden die späteren Geschlechter den Stoff, aus dem sie ihre geistige Welt aufbauen sollen, gänzlich entwertet vorfinden, und sie werden vielleicht zur Schande ihrer Vorfahren, die ihr edelstes Erbgut verschleudert haben, zu einer fremden Sprache greifen müssen, um klare und tiefe Gedanken auszudrücken. 135 HANS HENNY JAHNN fordert: Eine neue Symbolkraft muß unserer Sprache beigegeben werden, wenn nicht unsere Kultur und die Wirkung unseres Tuns zerfallen sollen. Die Worte, die wir in
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Sondern sich stets mit Anstand kleiden, Wohl aber üppig Gepränge meiden, Die Brust nicht in ein Schnürleib zwängen, Mit fremdem Flitter sich nicht behängen, Daß ihres Wandels jedermann Ohn' Anstoß sich erfreuen kann. Doch wenn, wie oft zu klagen ist, Sie aller strengen Zucht vergißt, Zu aufrecht festem Schritt zu träg, Nachlässig schlendernd ihren Weg, Mit jeder Mundart bunten Flicken Ihr einfach Kleid sich liebt zu sticken, Daß wie im Harlekinsgewand Sie dreist sich zeigt im deutschen Land Und Worte spricht, wie sie verwegen Der Großstadt freche Mäuler prägen, Dann ist's für ihre treuen Söhne Geschehn um ihre Kraft und Schöne, Und jedem Frevler scheint's erlaubt, Daß er den keuschen Kranz ihr raubt.« Velhagen und Klasings Monatshefte 20, 1906, 282 Kurz, I., Gesammelte Werke, München 1925, Bd. 4, 441f. - CHRISTIAN M O R G E N S T E R N belustigt sich über diejenigen, die die eigene Sprache und damit die eigene Kultur nicht erkennen: »Es gibt nichts Lohnenderes, als der Schwachheit des Menschen durch ein schönes Wort zu Hilfe zu kommen. Verordne einem »Patienten« dreimal täglich Manulavanz, und er wird sich über alle erhaben fühlen, die sich bloß die Hände waschen ... Übersetze das Unglück maßvoll ins Arabische, Griechische, Lateinische, und du wirst ein wahrer Wohltäter der Menschen werden. Du gibst ihrem Geist dadurch Anregung, du verschaffst ihnen eine kleine Distanz zu ihren Leiden oder Lastern. Wie fremdartig ist es, Angina zu haben, wie beinahe ehrenvoll, die Krisis eintreten zu fühlen. Du knüpfst damit das Individuum, das nichts mehr fürchtet als das Alleinsein, das Alleingelassenwerden, an ferne, fremde Zeiten und Kulturen.« Stufen, München 1918, 176f.
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dieser Zeit gebrauchen, sind zu allermeist ausgekleidet und zerfetzt. 136 VON R A D E C K I sieht die Sprache von der Phrase beherrscht, was >Sprachunzucht< oder >Sprachmord< bedeute. D i e Phrase
SIGISMUND
stammt aus der Buchdruckerkunst, deren Wesen darin besteht, daß in ihr der Automat sich des Wortes bemächtigte. [Sie] entsteht durch Gewalt oder Impotenz, durch jene Umarmung der Gleichgültigkeit, die die allergrößte Sprachschändung bedeutet. Aus der Sprache der Sachlichkeit wird Pedanterie, aus jener der Leidenschaft Rhetorik, aus jener der Dichtung Verschmocktheit. Diese Sprache ist recht eigentlich namenlos, wiewohl sie nur noch Mitteilung sein soll ... Am Worte schmarotzend macht die Phrase jede seiner Bewegungen getreulich nach. Wortzeugung wird Wortunzucht, Sprachopfer - Sprachmord; Name - Namensraub, Mitteilung - Lüge. Wurde Wort zur Tat, so wird Phrase zur Untat ... Im Schicksal des Wortes erfüllt sich das Schicksal der Welt. 137 Nach
ROBERT MUSIL
ist die Sprache
doppelt so umständlich und lang geworden, als sie es vor einigen Jahrhunderten war, ohne dementsprechend an Ausdrucksfähigkeit zu gewinnen. Wir lassen die Artikel weg, wir lassen Zeitworte weg, wir lassen die Bedeutung weg; wir treten ihr vorne auf den Kopf und hinten auf den Schwanz, aber es nutzt nichts mehr, sie wird immer länger. Wir fühlen deutlich, daß sie immer häßlicher wird, ohne es ändern zu können ... Wenn irgend etwas ein Hundeleben heißen darf, so ist es das der Sprache! 138 ELISABETH LANGGÄSSER
sieht die rationale Sprache, die Verständigungssprache
im Zerfall begriffen. Die Sprache ist tatsächlich in einem kaum vorstellbaren Umfang verarmt; sie gleicht einem Flußbett, das immer mehr vertrocknet und versandet; ja, dessen Borde überhaupt nicht mehr wissen, welche Wasser sie einst überdrungen, welche Götter sich aus dem Flußbett gehoben, und zu welchen Spielen der Fülle und Anmut diese Kräfte einst fähig waren. [Verloren gegangen sei] die Kenntnis der Syntax, das Wissen um den Reichtum der Sprache, ihre Möglichkeit, uraltes Wörtergut durch Ginbeziehung in ihren lebensfähigen Strom von neuem glänzen zu machen, ihre Fähigkeit, Sinn durch Doppelsinn und Wechsel durch Anreiz der Allitteration, durch Komposita Einfalt und Einfachheit und durch die Wahl der Vokale den thematischen Anschlag und die Beschwörung ganzer Welten hervorzubringen. Vor allem aber ist die Architektonik, der grammatische Aufbau der Satzgefüge unserem heutigen Sprachverständnis vollkommen abhandengekommen. Das Vergnügen, dem Reiz einer Satzperiode, ihrem Auf- und Abschwellen nachzugehen, ihren Rhythmus mit dem inneren Ohr des Geistes nachzutönen, ist ebensosehr verloren gegangen, wie das Wissen um sprachliche Gliederung durch Komma, Semikolon und Punkt. Um diese Kenntnis zurückzugewinnen, genügt nicht mehr die Schule allein; es braucht Bauhütten, Freimaurerorden von Eingeweihten; es braucht den Untergang und Bankrott der Zeitschriften- und der Zeitungsschwemme mit ihren Parteipro-
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Jahnn, H.H., Aufgabe des Dichters in dieser Zeit, In: Eine Auswahl aus seinem Werk, Olten-Freiburg i.Br. 1959, 555 Radecki, S.v., Wort und Wunder, Köln-Olten 1958, 31-36 Musil, R., Gesammelte Werke, Bd. 2: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, Hamburg 1955, 846
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grammen und an ihrer Stelle die Hauspostille, die Lesefibel, das Schatzkästlein und die Kalendergeschichte. 139
Daneben versuchen deutsche Dichter immer erneut, Wert und Ehre der deutschen Sprache zu bestimmen. P A U L E R N S T beginnt 1916: Wir Deutschen haben von den heutigen großen Völkern nächst den Russen die wandlungsfähigste und ausdruckreichste Sprache. Vieles, was wir als schwere Unart empfinden, hängt mit diesen Vorzügen - sei es der Sprache, sei es des mit ihr in Wechselwirkung stehenden Nationalcharakters - zusammen, so die häufige Verlotterung und die Fremdwörterei. Jede lottrige Wendung drückt doch etwas Neues aus, jedes Fremdwort sagt doch etwas Anderes als das eigene Wort: wir sollten suchen, den Mißbrauch zu verhüten, vor allem indem wir die wirklichen Freiheiten unserer Sprache besser untersuchten und indem wir ihre große Fähigkeit, Neuworte zu bilden, besser ausnützen; aber wir sollten uns immer freuen, daß die Möglichkeit der Unarten doch vorhanden ist, denn sie beweist unsere Stärke. Selbst der heutige Schwulst wird doch einmal irgendwie zur Bereicherung beitragen, wie es der Schwulst des 18. Jahrhunderts getan hat. Die Schicksale der Völker sind uns ja unverständlich. Wir wissen nicht, weshalb die Griechen haben sterben müssen, und weshalb die Inder dem geistlichen Tod verfallen sind, um die zwei bedeutendsten Völker zu nennen, welche bis nun gelebt haben. Alle Erklärungen langen nicht zu, denn ein Volk stirbt nicht durch gesellschaftliche oder politische Ursachen; es stirbt nur, wenn es nicht mehr leben kann. Eines wissen wir aber sicher: daß dieses Sterben immer irgendwie mit Veränderungen der Sprache zusammenhängt. Das Unheilvollste scheint zu sein, wenn die Sprache des täglichen Lebens nicht mehr die Sprache des höheren Geistes ist, wenn die Dichter die Sprache der Vorfahren sprechen. Wir sehen Beispiel und Gegenbeispiel in den romanischen Ländern Europas: der Verfall währt so lange, als die höhere Sprache das Lateinische ist; sobald die Dichter in der Sprache des täglichen Lebens dichten, beginnt wieder neues Leben. Wir Deutschen haben das ungeheure Glück, daß trotz des künstlichen Ursprungs unserer höheren Sprache in solches Auseinanderfallen bei uns unmöglich ist; der glücklichste Zustand scheint zu sein, wenn eine Mundart gesprochen wird, neben der die allgemeine Schriftsprache herrscht, wie heute noch in der deutschen Schweiz: hier erfüllen die Dichter ihre Aufgabe besonders gut infolge des Unterschieds zwischen Umgangssprache und Schriftausdruck, der so gering ist, daß die Sprache doch immer dieselbe bleibt, aber doch so groß, daß die Schriftworte immer frisch gefühlt werden. 140
Ihm folgt
R I C H A R D VON S C H A U K A L :
Die deutsche Sprache ist reicher, vielfältiger als jede andre der europäischen Sprachgemeinschaft, buchstäblich grenzenlos. Aber ihre unabsehbare Wachstumsfähigkeit, ihre - wenn auch schwerfällige - Regsamkeit birgt Gefahren, vor denen andre, vollendete Sprachen, in erster Reihe die geradezu abgeschlossene französische, bewahrt sind. Da niemand daran gehindert ist, die Willfährige zu behandeln, da sich die Ungeschützte mißhandeln lassen muß, wird die Wehrlose nachgerade auf eine Art verunstaltet, daß sie um sich selbst, um ihren Körper zu kommen be-
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Langgässer, E., Muß Dichtung schwer sein? In: Geist in den Sinnen behaust, Mainz 1951 Ernst, P., Sprache und Dichtung, In: Tagebuch eines Dichters, München 1934, 63f. - Köhler, K.-H. (1977); Wachler, M., Paul Ernst über die deutsche Sprache, Muttersprache 51, 1936, 11-14
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droht ist. Den romanischen Sprachen verbieten ihre festgestellten Gesetze auf Schritt und Tritt Ausweichungen und Abwege. Sie sind um so ärmer an Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch der Willkür unzugänglich. Sie wirken herkömmlich, oft schal, trotz dem scharfen Umriß, der ihre Eigentümlichkeit bedingt. Was ihrem Gesetz widerspricht, springt sofort als Fehler, Mangel, Makel in die Augen. Sie bieten dem Schriftsteller geringe Gelegenheit, sich zu vereinzeln. Als um so klassischer freilich muß ihre Beherrschung gelten. Ihrem Meister huldigen sie durch unbedingte Hingebung. In ihrer Sprödigkeit liegt ihr Reiz. Sie versagen sich tausendmal, um sich einmal ganz zu schenken ... Die deutsche Sprache ist unendlich. Sie gestattet ihren Meistern ... eine solche Überfülle von Tönen, daß jeder von ihnen, und daneben eine stattliche Reihe von vortrefflichen Kleineren, nicht Geringen, seine eigene, dem genießenden Kenner schon nach dem ersten Anschlag deutliche Harmonie sich hat schaffen können. Es ist geradezu das Kennzeichen des bedeutenden deutschen Schriftstellers, daß er seine, von jeder andern unterscheidbare Weise hat. Es gibt keinen Kanon, keine Akademie des Deutschen. Dennoch würde der sehr irren, der daraus schlösse, daß ihr das Gesetz fehle, daß jeder ihrer Teilherrscher ihr Tyrann sei. Es ist mit nichten so. Nur eine Sprachverwüstung, wie sie sonst ohne Beispiel ist, hat dieses betrübende Mißverständnis ihrer Vielseitigkeit, ihrer lebendigen Schmiegsamkeit sich hervortun lassen, es am Leben erhalten können. 141 JAKOB W A S S E R M A N N
äußert sich so:
wer sprachliches Gefühl und ein aufmerksames Ohr besitzt, wird wissen oder unbewußt schon früh empfunden haben, daß die vorzüglichste Schönheit unserer Sprache in ihrem Vermögen liegt, eine organisch gegliederte, gleichsam lebende Periode zu bilden. Der Gedanke, die Vorstellung entsteht und kommt zur Erscheinung durch Hauptwort und Zeitwort; das Beiwort tritt heran, um zu verdeutlichen oder zu schmücken, eine zweite Vorstellung oder Handlung will die erste begründen und weiterführen, und der Nebensatz ist geboren, an dem sich dieselben Erscheinungen vollziehen wie im Hauptsatz, nur abgetönt, verkleinert, gemildert. Darin liegt der Rhythmus der Prosa: das An- und Abschwellen des Tones und der Betonung, die gegenseitige Beziehung von Sätzen und Satzteilen untereinander, die freie und eigenbewegliche Anpassung, die Fülle des Ausdrucks bei größter Sparsamkeit mit dem Wort. Die eigentümlichste Kraft der deutschen Sprache ruht im Zeitwort; dieses auszubilden, zu formen, gewissermaßen zu isolieren, kennzeichnet den guten Prosaisten, während der mittelmäßige sich mehr auf das schmückende Beiwort verlegt - ganz natürlich. Prüfe doch den Stil unserer guten Erzähler auf diesen Umstand hin: wie das flutet und in majestätischer Ruhe hinflißt, immer bewegt und immer gegen ein erreichenswertes Ziel bewegt. Das Beiwort wirkt erstarrend und ist nur mit Vorsicht zu gebrauchen, und nur die anschauende Phantasie kann es an den rechten Platz stellen; das Verbum belebt und ist das eigentlich motorische Element im Satzbau. Es ist stets interessant, den guten Erzählerstil lediglich auf seinen sprachmelodischen Gehalt hin zu prüfen, sich zu überzeugen, wie die Periode der Atmung entspricht, wie sinnvoll gegliedert Satz und Nebensatz auftreten, und wie der Gesang abläuft, wenn der Absatz zu Ende ist. Eigentlich müßte man ein gutes Prosabuch schon an der typographischen Anordnung erkennen, die sozusagen seine Fassade vorstellt. Dazu kommt nun beim epischen Künstler das geistige Erlebnis des Bildes und die seltsame Empfindung für die plastische Nähe des Wortes, die ihn vor Verflachung seines Ausdrucks bewahrt. Denn wie könnte sonst eine Schriftsprache jahrhundertelang gesund und triebfähig bleiben? Die Auserlesenheit der Wendungen tut es nicht, Geschmack und Formensinn allein sind ebenfalls nicht zeugungskräftig, nur das Mitleben mit dem Wort als einem Or141
Schaukai, R.v., Zeitgemäße deutsche Betrachtungen, München 1916, 65-67
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ganismus bewahrt die Sprache der Epik vor dem Verwelken und Absterben. Das begreiflich zu machen ist schwer, wenn du es nicht fühlst. 142 HEINRICH FEDERER
meint:
Die große deutsche Orgel. So nenne ich unsere schöne, tiefe, heilige Muttersprache. Französisch klingt wie ein elegantes Streichorchester, Italienisch hat mehr Cello dabei und sonores Blech. Aber die deutsche Sprache ist Orgelspiel. Nicht daß sie süßer singt als der gallische oder voller und melodiöser als der römische Mund. Sie hat weniger vom Einen, aber mehr von Allem, sie ist reicher an Tönen, an Wandlungen und vor allem an Kompositionsmöglichkeiten. Französisch ist ein edler Park, Italienisch ein großer, heller, bunter Wald. Aber Deutsch ist beinahe noch wie ein Urwald, so dicht und geheimnisvoll, so ohne großen Durchgang und doch tausendpfadig. Im Park kann man sich nicht verirren, in der italienischen Waldhelle nicht so leicht und gefährlich; aber im Deutsch kann einer in vier, fünf Minuten im Dickicht verschwinden. Darum, weil der Weg so schwierig scheint, suchen die meisten möglichst geradlinig hindurchzumarschieren, was eigentlich gegen die Natur dieser Sprache ist. Sie will gewiß eine Hauptrichtung, aber ladet durch hundert Pfade und Pfädchen nach links oder rechts bald aus ihr heraus, bald wieder in sie hinein. Nun sollte man meinen, weil das Deutsche viel komplizierter als unsere Nachbarsprachen ist, werde es auch mit ebensoviel mehr Fleiß gelehrt und gelernt. Aber darin ist sich leider die ganze Welt einig, daß gerade das Gegenteil geschieht. Die deutsche Sprache war und ist heute noch das Aschenbrödel der Schule. Das Geigenspiel lehrt dich ein Geiger, das Klavier ein Pianist, und je mehr du aus dem Stümpern zu einem ernsten Musiker erwachsen willst, um so vollkommener muß dein Meister sein. Willst du gar das Instrument beherrschen, so mußt du einen Herrscher zum Lehrer haben. Aber für das mächtigste und schwierigste Instrument, das Orgelspiel der deutschen Sprache, soll das nicht gelten. Nicht die großen Dichter und die Könige der Prosa lehren uns Deutsch, nicht einmal ihre Jünger und Jüngersjünger, selten solche, die mit besonderer Anlage und Ergriffenheit an diesem Instrument studieren, sondern jeder Beliebige, wenn er nur die schwarzen und weißen Tasten und daraus die Tonleiter kennt, hält sich berufen, sitzt auf der Orgelbank und schändet mit seinem armseligen Fingerschlag dieses Wunder von Musik, fälscht und macht Fälscher, verdirbt und macht Verderber. 143 beklagt 1928 den übernationalen Charakter der Epoche und fordert die Rückwendung zur Muttersprache: H A N S JOHST
Welches Jauchzen erfüllt das deutsch geschriebene Wort! Welche Verbrüderung über Kaste und Zunft, über Visier und Bundschuh erbringt schließlich der Schöpfertaumel dieser neugewonnenen, eigenen Muttersprache! Das Wort ist eben kein lebloses Gebilde, kein erdachter, erklügelter Begriff, intellektuelles Produkt, kein Lebewesen von der reinen Vernunft Gnaden, sondern das Wort ist ein Urlaut, ein Hauch der Seele. Wir haben alle in dieser Zeit und besonders auch durch die technische Raserei der Zeitungen zu viel sprechen gelernt, wir haben den Respekt vor dem Wort, vor der Muttersprache verlernt. Wir können heute alle ohne Seele sprechen. Wir sind tönend Erz geworden und nicht schwingende Seele geblieben. Hier dünkt mich die Stelle, von der aus wir Deutschland neu gewinnen müssen. Wir bedürfen einer neuen Liebe zur Sprache. Wir müssen uns erneut befleißigen, gut zu
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Wassermann, J., Lebensdienst. Gesammelte Studien, Erfahrungen und Reden aus drei Jahrzehnten, Leipzig-Zürich 1928, 560-562 Federer, H., Aus jungen Tagen, Berlin 1928, 188f.
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sprechen. Wir müssen die Einheit von Wort und Seele, von Wort und Gesinnung, von Bekenntniswort und -tat neu erleben! 144 KURT TUCHOLSKY
kritisiert viele seiner Schriftstellerkollegen wegen ihres >Li-
teratenj argons Dichter und sein V o l k e
Indem wir >deutsche Sprache< sagen, umfassen wir alles, was das geistige Leben des deutschen Volkes ausmacht; denn Gedanken ohne Sprache gibt es so wenig wie Sprache ohne Gedanken ... Wenn Sprache, so betrachtet, der Blutkreislauf ist, aus dem ein Volk geistig lebt: so muß wohl der Dichter ihr roter Blutkörper sein; denn die andern bedienen sich der Sprache, er aber dient ihr. Zunächst scheint es ja so, als ob gerade er sie nur als sein Material benutze ... Daß dieses Material trotzdem für den Dichter mehr sein muß, liegt darin, daß es die Sprache seines Volkes, nicht nur dessen Verständigungsmittel, sondern - wie wir sahen - der Träger seines geistigen Lebens ist. Mit jedem Gedanken, jedem Gefühl steht der Dichter außer in der Verantwortung seiner Kunst noch in einer direkten Verantwortung der Sprache, die nicht wie der Stein, die Farbe, die Töne sein besonderes Material, sondern zugleich der allgemeine Lebensgrund seines Volkes ist. Indem er sich ihrer bedient, wird er selber von ihr in Dienst genommen: seine Verantwortung gegen das Volkstum ist dadurch verdoppelt ... Nun sehen wir recht, wie groß die doppelte Verantwortung des Dichters ist, die ihm sein Dienst an der Sprache auferlegt. Wenn diese Sprache durch sein Versäumnis unklar und trübe, ausschweifend und zuchtlos würde, wäre das Volkstum, dessen geprägte Form in seiner Sprache lebend entwickelt wird, ebenso. Es müßte die Aufgaben der Menschheit eher verwirren als erfüllen:
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Johst, H., Ich glaube! Bekenntnisse, München 1928, 48f. - Vgl. auch Johst, H„ Die Heiligkeit des Wortes, In: Standpunkt und Fortschritt, Oldenburg i.O. 1933, 15-32. - Über die Verstrickung von Johst und anderen aufgeführten Autoren in den Nationalsozialismus vgl. Wulf, J., Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963 Tucholsky, K„ Der neudeutsche Stil, In: Mit 5 PS, (Berlin 1927), Nachdr. 1984, 167 - Eine Kritik feuilletonistischen Schreibens findet sich bei Walter Sturm, Das kleine Einmaleins des Schreibens, Das Wort 4, Moskau 1938, abgedruckt bei Böttcher, W. (1961), Bd. 3, 244-253. Böttcher wird wiederum wegen seiner fehlerhaften Sprache kritisiert von F.C. Weiskopf in Bemerkungen über die Verrottung von Sprache und Stil, In: Verteidigung der deutschen Sprache. Versuche. Berlin (DDR) 1955 Tucholsky, Ein Lesebuch für unsere Zeit, hg. v. W. Victor, Weimar 1952, 85
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ein Vorwurf, der gegen uns Deutsche als das romantische Volk unter den Völkern mit Hartnäckigkeit erhoben wird. Wir wissen es selber, unsere Sprache ist gegen die klare, aber auch karge Bestimmtheit der romanischen Sprachen ein Urwald, das Dickicht unserer Gedanken und das Schlinggewächs unserer Gefühle sind ebenso undurchdringlich. Wir finden uns (gestehen wir es nur) manchmal selber nicht mehr in unserm verzwickten Dasein zurecht. Was also kann der Dichter da tun, der, doppelt verhaftet, am tiefsten in seinem Volkstum verwurzelt ist und am meisten an seinen Unzulänglichkeiten leidet? Klar denken und echt fühlen! würde die nächstliegende Antwort lauten; und es wird manchen unter Ihnen sonderbar klingen, wenn ich nun sage, daß beides nicht die Berufung des Dichters ist, obwohl es gut wäre, wenn er dieser Eigenschaften nicht allzusehr ermangelte. Klar denken und echt fühlen ist die Lebensluft des Schriftstellers, also des Mannes, der seinem Volk die Schrift stellt und sein geistiges Leben in Bewegung hält, als kluger Mann wohl wissend, daß Gedanken wie Gefühle ihre Unzulänglichkeiten haben. Gedanken können vermeintlich erklären; sie können mit logischen Klammern ein Gerüst der Welt aufbauen und die Prospekte des Lebens hineinhängen: aber das Leben selber ist nicht darin. Das Leben selber, das in jedem einzelnen Ich die Augen gegen die Welt aufschlägt, muß durch die Gedanken erst recht die Bedrohung fühlen, mit der alles Du um seine Einsamkeit steht, weil die Gedanken in ihrer unbarmherzigen Logik neutral, unpersönlich, unmenschlich sind. Eben weil die Gedanken so sind, darum wehrt sich das Leben mit seinen Gefühlen gegen ihre Bedrohung. Es wirft sich gegen sie auf in Furcht und Vertrauen, Jubel und Klage, Liebe und Haß: das Ich will sich dem Du nicht beugen und entfesselt seinen Lebenswillen gegen den Tod der Erkenntnis. 147 ERNST
GUIDO
KOLBENHEYER
untersucht
1933
die Sprache als Mittel dichteri-
scher Wirkung: Die Sprache, das ureigenste und artgetreueste Volksgut, besitzt in der Dichtkunst die Möglichkeit, schöpferisch zu wirken, das heißt in dem Aufnehmenden nur durch das Sprachmittel selbst unmittelbar, lebensmächtig und lebenführend Gefühlserlebnisse zu zeugen ... So auch wird die Dichtkunst als Lebensmacht gewertet. Nicht umsonst suchen in diesen Drangzeiten unseres Volkes alle Teile des kulturpolitischen, selbst des politischen Lebens Hand auf die Literatur zu legen. Es mag als bezeichnend gelten für den Verrohungszustand der gegenwärtigen Kulturlage: man schleift auf die Gasse der Kulturpolitik und in die Gosse der überalterten Parteipolitik, was frühere Kulturlagen als eine geheiligte Gottesgnade verehrt haben. 148 Im gleichen Jahr preist
HERBERT E U L E N B E R G
die deutsche Sprache:
Wie preis' ich dich, du unsere Sprache, die du langsam geworden und gewachsen bist, wie alles hierzulande! Aus Fremd- und Flickworten hast du dich mit Mühe herausgeschält. Und du bist wie Stahl geworden, fest und geschmeidig zugleich. Wie viele Geister haben an dir gearbeitet ein Leben lang! Haben dich gestreckt und gereckt und gehärtet und gebogen. Schwer noch und schleppend in dem Mund unserer Vorväter und mit falschem geliehenem Flitter verunziert, bist du flüssig geworden und fast behend, also daß man heute in dir plaudern kann und plauschen im edelsten wie im kleinsten Sinne. Die besten Deutschen haben sich um dich ge-
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Schäfer, W„ Deutsche Reden, München 1933, 187-197 Kolbenheyer, E.G., Lebenswert und Lebenswirkung der Dichtkunst, In: Kindermann, H., (1933), 98; Vgl. auch Kolbenheyer, Stimme, Eine Sammlung von Aufsätzen, München 1931
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müht und dir gedient. Nicht nur deine vielen Dichter allein, die deine Worte und Silben zu mischen wußten wie ein Tongemälde, daß du nicht minder schön und wohltuend erklingst als deine südlichen und westlichen Nachbarn. Nein, auch die Gelehrten und Staatsmänner, die Künstler, die Krieger und Werkmeister haben dich geformt und geschliffen. In Briefen und Büchern und Reden und Ansprachen. Bis du der Edelstein geworden bist, du unsere Sprache, als den wir dich heute mit Stolz tragen vor aller Welt. Selbst in deinem Alltagsgewand, ungeschmückt und ungehoben, kannst du dich heute sehen lassen. Brüste dich nur nicht weniger als die andern und verstumme nicht, noch laß dich hemmen oder in die Ecke drücken! Fürchte nicht, daß man dich abnütze mit der Zeit! Noch genießt und verwendet man dich kaum in deiner ganzen Fülle und Geschmeidigkeit. Denn wie wenige noch sprechen dich und schöpfen dich aus, du in den letzten zwei Jahrhunderten erst voll ausgewachsene deutsche Sprache! Wer wühlt mit Wonne in deinem unermeßlichen Sprachschatz oder ergeht sich in dir oder taucht in deine Tiefe unter? Die Vielen werfen sich nur Brocken von dir zu und begnügen sich mit den abgegriffensten Redensarten. Du wirst einem jeden Deutschen bei seiner Geburt ans Herz gelegt, daß er dich pflege und veredle und sich in und mit dir höher züchte. Jeder wächst mit dir auf. Und je mehr er dich beherrscht, desto heller wird die Gedankenwelt, die seine Stirn durchzieht, und desto durchsichtiger und verständlicher sein Gemütsleben. Du, unsere Sprache, bist der Faden, der uns hinausführt aus dem Irrgewinde des Daseins. Bist der Spiegel, darin wir uns sehen. Bis das höchste Gut, das uns verliehen ward, den Reichen wie den Armen, daß wir uns darin erheben über die Zufälligkeiten und die Schicksale, die uns bedrohen. Einige du uns mehr und mehr, du Bestes, was wir haben, unsere Sprache! Nicht nur mit uns, sondern auch mit allen Menschen. Denn je reiner und klarer eine Sprache geworden ist, desto besser eignet sie sich zur Verständigung auf Erden. Wir aber schwören dir Gefolgschaft und Anhänglichkeit und Dienst bis ans Ende. Flattre weiter über uns als unsere glänzende Fahne, unser unverlierbares Eigentum. Führe uns immer tiefer ins Reich der Bildung, bis wir, ganz in dir erwacht, auf einmal im hellsten Lichte stehen im Frieden mit der Welt! 149 Und der Lobpreis auf die deutsche Sprache kumuliert in >Hymnus auf die deutsche Sprachec
JOSEF
WEINHEBERS
Ο wie raunt, lebt, atmet in deinem Laut der tiefe Gott, dein Herr; unsre Seel, die da ist das Schicksal der Welt. Du des Erhabenen starres Antlitz, mildes Auge des Traumes, eherne Schwertfaust! Eine helle Mutter, eine dunkle Geliebte, stärker, fruchtbarer, süßer als all deine Schwestern; bittern Kampfes, jeglichen Opfers wert: Du gibst dem Herrn die Kraft des Befehls und Demut dem Sklaven. Du gibst dem Dunklen Dunkles und dem Lichte das Licht. Du nennst die Erde und den Himmel: deutsch! Du unverbraucht wie dein Volk! Du tief wie dein Volk! Du schwer und spröd wie dein Volk! Du wie dein Volk niemals beendet!
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Eulenberg, H., Lob unserer Sprache, Muttersprache 48, 1933, lf.
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20. Jahrhundert Im fernen Land furchtbar allein, das Dach nicht über dem Haupte und unter den Füßen die Erde nicht: Du einzig seine Heimat, süße Heimat dem Sohn des Volks. Du Zuflucht in das Herz hinab, du über Gräbern Siegel des Kommenden, teures Gefäß ewigen Leides! Vaterland uns Einsamen, die es nicht kennt, unzerstörbar Scholle dem Schollenlosen, unsrer Nacktheit ein weiches Kleid, unserem Blut eine letzte Lust, unserer Angst eine tiefe Ruhe: Sprache unser! Die wir dich sprechen in Gnaden, dunkle Geliebte! Die wir dich schweigen in Ehrfurcht, heilige Mutter! 150
Hier wird die »Sprachmystik zur Mystik des Volkes, der Heimat, des Kollektivs«. 1 5 1 Die deutsche Sprache wird als mystisches Obdach und Vaterland angebetet. Sie besitzt allein Schöpferkraft, Tiefe und Würde. 1 5 2 Anzuschließen sind die Sätze Weinhebers aus der Betrachtung >Wesen und Wert der Sprachec Volk ist eine vitale Wirklichkeit, die ihm angehörende Sprache seine geistige Natur. In der Sprache liegen Schicksal, Vergangenheit und jeglicher geistige Besitz eines Volkes aufbewahrt und beschlossen. Ein Volk verliert seine Würde nicht durch verlorene Kriege, sondern durch den Verfall seiner Sprache, und der eigentliche Hochverräter ist der Sprachverderber. 153 Ein Jahr später spürt I N A S E I D E L der Frage nach, wie die Sprache den Charakter eines bedeutsamen volkhaften Wertes erhalten kann: Aber nicht nur die Elemente der Blutsverbundenheit und der gemeinsamen Bedingtheit des äußeren Lebens sind es, durch die der Dichter dem Volk seiner Herkunft verhaftet ist: zauberischer und mächtiger waltet ein anderes, das er mit dem ärmsten Bruder von der Landstraße wie mit den Gewaltigen der Nation teilt gleich der Lebensluft und dem Lebensraum: die Sprache ist es - die Mutter Sprache! Und ich bitte Sie, dies so zu verstehen, wie ich es meine, nämlich, daß die Sprache Mutter ist - die uralte Mutter aller Kultur eines Volkes! Haben wir es jemals schon ganz erfaßt, daß wir mit unserer unendlich vielfältig abgestuften und gegliederten Sprache, deren Urlaute wir mühelos und naturhaft wie die ersten Schritte erlernen, in vorläufig noch unerschlossenen Formeln den gesamten Erfahrungs= und Vorstel-
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Weinheber, J„ Sämtliche Werke, Salzburg 1954, Bd. 2, 92f. Heselhaus, C., Josef Weinhebers virtuose Magie, In: Deutsche Lyrik der Moderne, Düsseldorf 2 1962, 402; Lützeler, H., Josef Weinhebers >Hymnus auf die deutsche Sprachen Dichtung und Volkstum 37, 1936, 418-430 Atkinson, J.L., Josef Weinheber: Sänger des Austrofaschismus?, In: Leid der Worte. Panorama des literarischen Nationalsozialismus, hg. v. J. Thunecke, Bonn 1987, 405 Weinheber, J„ Sämtliche Werke, Salzburg 1954, Bd. 4, 229. Die Grundidee wird ausgebaut 1944 in den >Vorlesungen über künstlerische Sprache und Sprachpflege*, ebd. 216-296
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lungsschatz unserer Vorväter bis in die grauen Zeiten des Mythos zurück übernehmen? Ist uns dies wohl bewußt, daß jedes Wort, das wir achtlos aussprechen, prall von Erinnerung ist, wie eine Frucht von den Säften der unzähligen Bäume, die zu ihrem Zustandekommen gekreuzt wurden? Wenn wir Vater und Mutter sagen, und Milch und Brot und Wein, und Berg und Meer, und Gott und Tod, so könnte das unter Umständen hinreichen, uns auf das Angesicht stürzen zu lassen, als hätten wir unvorsichtig eine Starkstromleitung berührt, als hätten unsere Lippen einen Trank gekostet, der unverdünnt tödlich wirken muß, als hätten wir ahnungslos eine Beschwörung ausgesprochen und Götter gerufen, deren Anblick zu ertragen wir nicht imstande sind ... Und wie alle Wandlungen, die die Kultur und der Gottesbegriff eines Volkes durchlaufen haben, wie sein edelstes Streben, seine Treue gegen sich selbst, sein Heldentum, seine Frömmigkeit, sein Glaube und seine Liebe in der Reinheit seiner Sprache ihr geistiges Denkmal haben, so weist doch auch kein anderes Ausdrucksmittel so erschütternd die Male der Schande und der Erniedrigung, der Not und des Untergangs auf, wie die Sprache: jahrhundertelang leuchten die Narben und Striemen an ihrem Leibe, an den Krücken der Fremdworte schleppen sich die Sätze daher, weil eine Lähmung in einem frühen Entwicklungszustand hemmend auf die Bildung eigener Worte für die aus fremden Kulturen übernommenen Begriffe war. Dennoch ist eine Sprache weder jung noch alt, solange sie noch gesprochen wird und dem Leben dient. Immer im Fließen, immer wandlungsfähig, bereit, sich anzuschmiegen, wo neues Erleben zu neuem Ausdruck drängt, immer auch in der Gefahr, zu versanden, blaß, matt, schwach zu werden, gleichsam zu erkranken, wenn sie nicht fortwährend aus den innersten Zellen des völkischen Lebens gespeist wird, ist die Sprache von der Erscheinung dieses Lebens selber kaum zu trennen und zu unterscheiden. Wie sie die ursprünglichsten Beziehungen innerhalb des Volkes trägt und vermittelt, so breitet sich jeder Kulturantrieb nur durch sie aus, so ist die Kultur in jeder ihrer Formen für ihre Entwicklung angewiesen auf den Ausdruck des schöpferischen Geistes, auf die Mitteilung, auf das Wort. Wo aber die Sprache eines Volkes sich gleichsam ihrer selbst bewußt werden, wo sie aufhören will, Mittel zu sein und zum Selbstzweck drängt, wo sie kristallisieren, zum Gebild zusammenschießen, zum Gedicht werden will: da wächst ihr aus der Masse des Volkes der Mensch zu, in dem sie Gewalt werden kann. Anders wird kein Dichter, als daß sein Volk in ihm sich seiner Sprache, und in ihr seiner tiefsten, heiligsten Besitztümer, seiner höchsten, gottnächsten Wünsche und Ziele bewußt wird. Und hierin, meine Zuhörer, liegt für mein Gefühl die letzte und gültigste Bindung zwischen einem Volke und seinen Dichtern. 154 S T O R Z wendet sich gegen diejenigen, die das Deutsche gegenüber anderen Sprachen herausstellen. Er fordert den Vergleich zwischen den Sprachen, hält ihn für fruchtbarer. Er nennt aber das Deutsche GERHARD
füglich die Sprache des schöpferischen Uebersetzens: Ihm war nicht nur die wesensverwandte Sprache Shakespeares möglich - wieviel leichter folgt es dem schöpferischen Fluß Homers, der luftigen Anmut Sapphos, dem Stürmen Pindars, wieviel leichter als dies romanischen Sprachen möglich ist! Und hat nicht eben die romanische Verskunst in unserer Sprache alles Fremde verloren: So wenig man, trotz der Dramen, auf Shakespeares Sonette verzichten wird, so groß wäre der Verlust, wollte man aus Goethes Lyrik alles, von der Form aus gesehen >Fremde< herausreißen. Sein Werk, das Lied Mörikes, Rilkes Gedichte, die Strophen Georges und in jüngster Zeit die Versbände Weinhebers machen es offenbar, daß unserer Sprache jede, auch die anspruchsvollste Form gefügig ist. Dies wäre nicht so, wäre
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Seidel, I., Dichter, Volkstum und Sprache, Stuttgart 1934, 17f.
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Jahrhundert
das Deutsche eine unsinnliche Sprache, entbehrte sie des Klanges und Schwunges. 155 PAUL ALVERDES
schließt sich hier an:
Um wievieles ehrwürdiger und teurer muß uns dann erst recht die Sprache sein, denn sie ist ja viel mehr noch und etwas ganz anderes als ein irdisches Ding, durch den Gebrauch und Besitz eines Lebendigen zu höherem Rang erst erhoben! Sie ist selber höheren und höchsten Ranges, ein Unverwesliches, wie aus dem unsterblichen Stoff des Weltgeistes selber gewoben. Sie führt uns nicht nur ein Stück unseres Weges in den Schoß der Geschichte zurück: wie überliefertes Gesetz, überlieferter Brauch und Gesittung und überlieferte Religion. Von diesen wissen wir zuverlässig, dann und dann sind sie entstanden, erfunden, angenommen, zum Gesetz erhoben und dann und dann haben sie, als Übereinkunft unter Sterblichen und als Menschenwerk, wieder vergehen und verfallen müssen, nach dem Gesetz alles Menschenwerkes. Die Sprache aber, sie führt uns, da sie weder für unsere Erfahrung noch auch nur für unser Vorstellungsvermögen jemals gemacht und angenommen und zum allgemeinen Gesetz erhoben wurde, wie jenes andere Erbe insgemein, bis zu jenem unausforschlichen, tief ehrwürdigen Ort in der Weltgeschichte zurück, an welchem mit ihr zugleich unser Volk seine Augen zum ersten Male als deutsches Volk aufgeschlagen haben muß. 156 W A L T E R VON M O L O
sieht:
Unsere Sprache hat alle Tiefen und Weiten der Unendlichkeit, sie ist tragfähig für alles, was Menschenfreude und Schmerz, was Erkenntnis und Erfahrung und Wissen all unserer Vorfahren, die in der Sprache ewiges Leben haben, aus unserer Seele klingen, singen und donnern lassen ... Die verschiedenen Nationen verständigen sich schwer, aber wenn auf beiden Seiten Menschentum spricht, verstehen und begreifen sie sich doch. Ebenso ist es unter uns. Wir meinen alle, unsere Sprache zu reden, jeder von uns redet sie mit verschiedener Zunge und schreibt anders, wir verstehen uns vielfach nicht, aber wir verstehen uns sogleich, wenn Brüderlichkeit uns reden, schreiben und aufnehmen läßt, wenn wir wahrhaft sind, dann einigt uns dieser gemeinsame Besitz, gibt uns der Geist, auszusprechen, was unser Wesen ist. 157 RUDOLF
G.
BINDING
folgt ihm:
Aller Sprachen wunderbarste und verwunderlichste ist unsere: die deutsche Sprache. Nicht wegen ihrer Vollkommenheit, denn manche Sprache tut es ihr hierin voraus; nicht wegen ihres Wohlklangs, denn so manche anderer Herkunft rührt das Ohr melodischer an; nicht wegen ihrer Einfachheit, denn sie wird mit Recht die eigenwilligste unter allen genannt; nicht wegen ihrer Reinheit, denn ihr großer Strom reißt fremde Bestandteile ohne Bedenken und wie es alle großen Sprachen tun - ohne Gefahr in sich hinein; nicht wegen ihrer Verständlichkeit und ihres Herrschergelüstes, sondern um des Ausdrucks eines Unvergleichlichen willen, das 155
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Storz, G., Laienbrevier über den Umgang mit der Sprache, Frankfurt a.M. 1937, 117f. Alverdes, P., Dank und Dienst, Reden und Aufsätze, München 1939, 42f.; Vgl. auch Alverdes, Die Sprache als Aussdruck der Nation (1937), In: Gudelius, G. (1937), 14-18 Molo, W.v., Zwischen Tag und Traum. Gesammelte Reden und Äußerungen, Berlin 1930, 185f.
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keiner anderen Sprache der Welt zugänglich ist und kein anderes Volk der Welt in sich trägt, - dieses fürchterlichen und gesegneten Schicksals, das wir deutsche Seele nennen dürfen ... Die Sprache ist wie ein Heiligtum das sich selber heiligt, selber reinigt, selber erneut, wenn die Zeit da ist. Tausende läßt sie an sich sündigen und wehrt ihnen nicht. Jahrhunderte nutzen sie ab und Millionen von Zungen scheinen sie zu zerreden und zu verschleißen im Getriebe des Tags, in Handel und Wandel, achtlos und unfromm. Bis eines Tages in einem Sprachgewaltigen, einem Inbrünstigen sonderlicher Art - in einem Luther, einem Goethe, einem Gegenwärtigen oder Kommenden - sie neu aufsteht und sich dem Volke, dessen Seele sie dient reiner, stärker, gewaltiger, tiefer, jünger als je in die Brust senkt ... Dann wird klar daß die Sprache ein Ganzes ist. Wenn sie auch unaufhörlich an sich arbeitet, wie sie sich unaufhörlich abschleift, so ersteht sie doch zu ihrer Erneuerung zum Ausdruck ihres Volkes als ein Ganzes, als eine Schöpfung, als eine neue Geburt. 158 Daß der Laut den Sinn entscheidet, das Ohr diesen Sinn sucht, die Seele aber das ihr genehme, ihr gemäße Wort verlangt, das möchte hier an einem einzigen Wort für unser Gefühl unwiderleglich dargetan werden. Denn niemand wird leugnen, daß das deutsche Wort Wahrheit, obwohl es dasselbe ist wie das französische veritd, dennoch etwas ganz anderes, Tieferes, Deutscheres aussagt. Die deutsche Sprache hat aus der Wahrheit, indem sie dieses Wort bildete, einen Born gemacht, einen klaren, tiefen, wundersamen See, eine Tiefe, eine Reinheit, eine Unerschöpflichkeit - durch nichts anderes als durch den Sinn eines Lauts: den Sinn des vollausatmenden A, dieses Vokals, der aus voller geweiteter Brust kommt. Wogegen in dem französischen virit6 nichts für unser Ohr enthalten ist als eine Feststellung, ein ebenes Bereich, ein weites Gebiet, ein gefestigter Boden. Ein solches Beispiel darf für viele stehen. Ist es nicht wunderbar, daß die Kraft der deutschen Sprache so weit reicht, die Seele eines ganzen Volkes in seinem Wort für Wahrheit auszudrücken? Freilich müßte - um den Umfang der Erscheinung darzutun - der Sinn aller Laute, der Sinn jeglichen Lauts, den wir gebrauchen, in gleicher Weise nachgeahnt werden können; und die volle Tiefe solcher Ahnung möchte uns Lebenden abgehen ... In ihrer scharfen Lautbestimmung, man möchte sagen: in der Ehrlichkeit ihrer Laute, ist die deutsche Sprache zwar gegenüber der Klangschönheit anderer Idiome in Nachteil geraten; aber sie hat - besonders in ihren kurzen starken Stammworten - den Vorteil gewonnen, mit dem Wort den Inbegriff wahrhaft lautlich, sinnlich, charakterlich zu decken, dem das Wort als Ausdruck dient. 159 Und
FRANZ TUMLER
schreibt:
Wir möchten unsrer Empfindung glauben, daß unter den europäischen Sprachen, ausgenommen die nordischen und slawischen, die aber nicht oder noch nicht in die Welt getreten sind, allein die deutsche heute im Angesichte ihres Ursprunges gesprochen wird. Daß es das Angesicht ist und nicht ein dumpfes Ahnen davon, hat sie seit Beginn der Neuzeit ihren Dichtern zu danken, den reinigenden und schöpferischen Geistern, die mit schmerzlich vollen Zügen an den ersten Brunnen immer wieder eingesaugt haben, was später als Überfluß aus dem Sprachgebrauch uns erquickt. Daß es der Ursprung ist, liegt an dem unwillkürlichen Wesen selber, als das sich die Sprache wie das Volk ununterbrochen von Eltern zu Kindern zäh am gleichlautenden oder sich nur langsam wie die Wassertrift abwandelnden Leben erhalten hat. Sie ist von außen nicht durch gewisse Renaissanceschriftsteller, denen sie für ihr Jahrhundert artig geworden war, nicht durch die Nachfahren der Roman158 159
Binding, R.G., Vom Wunder der Sprache, zit. Daniels, K. (1966), 122 Binding, R.G., Von der Kraft deutschen Worts als Ausdruck der Nation, Mainz 1936, o.S. - Gading, W., Rudolf G. Binding und die deutsche Sprache, Jahrbuch für deutsche Sprache 1, 1941, 136-143
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tik, die sie zwar in einem Sinne glatt fortstreichend gemacht, im andern aber mit neuem seelischem Gehalt wieder gebunden hatten, nicht durch die allgemeine Bildung um ihren echten, ungebärdigen Ursprung gebracht worden. Es rauscht durch sie, wie sie heute gesprochen werden kann, unvermindert der Ahnenstrom, kaum ein früher Name vom Aufgang unseres Volkes ist verloren gegangen, und die alten Quellen haben sich entgegen allen Gefahren Abgezogenwerdens und drohender Verschüttung in ihr kräftig treibend erhalten. Freilich gibt es auch in der Gegenwart Schriftsteller, die die Wörter, in denen sie sich ausdrücken, nicht von der eingebornen Stammesmundart empfangen, sondern von der Schriftsprache und da nicht von der deutschen Hochsprache, die auf den ältesten Mund weist, sondern von einem Urbanen und losgelösten Bildungsdialekt, diese Erscheinungen aber machen sich am Rande voll wie aus toten Armen an Ufern und werden wieder leer neben der unaufhörlich aus einem Schwall strömenden Breite. Das kann man von der französischen Sprache nicht sagen, an deren Beginn ist ein ganz fremder Sprachkörper und noch dazu ein später in tausend Jahren alt gewordener von ganz fremden Zungen aufgenommen und, weil der Traumgrund ihm längst erstarrt war, mit einseitigen Verstandeskräften noch einmal ausgebildet worden. Man kann es auch nicht sagen von der englischen Sprache, in die sind die romanischen Wörter so früh eingedrungen, daß sie vielleicht die Hälfte der ursprünglichen Wortstämme beseitigt, dazu fast alle kräftigen Beugungsendungen erstickt und eine Art Fremdwörtersprache erzeugt haben, von ihr können wir heute nicht mehr erwarten, daß das in ihr eingekapselt unberührte Gut sich noch einmal zu ausgreifender Regung erfrischen wird. Gegen alle diese Sprachen - im Italienischen und Spanischen scheinen uns die Dinge ähnlich zu liegen wie im Französischen - ist die deutsche allein von Anfang da. Das ist ihr Vorrecht und ihre immer unendliche Möglichkeit. Nur wer sie so hat, aus Ältestem kommend und von keinem Tag müde, hat sie wahrhaftig und ganz. Und ein Schriftsteller begibt sich des edlen Vorzuges, sie eigentlich zu sprechen, wenn sie sich ihm ohne diese erste Herkunft gibt. 160 stellt sich 1 9 3 9 im N e w Yorker Exil die Frage, wie man sich als deutscher Schriftsteller in einem fremdsprachigen Land verwirklichen könne. Er sieht die deutsche Sprache gefährdet durch Schwulst, Klischees, Verlust an das Englische, durch Manipulation und Herausreißen der Sprache aus dem Lebensbezug. Mit dem Sprachverfall gehe einher der Kulturverfall: ERNST BLOCH
Wo Sprache verludert oder verlorengeht, wo sie zum Klischee wird oder zum Dietrich des Betruges, aber auch wo sie aus dem alten Leben herausgerissen wird, aus dem großen Strom ihrer bisherigen Welt und ein eingekapseltes oder verfremdetes Dasein führen muß: überall dort besteht die Möglichkeit, im Fall der Verluderung die Gewißheit, daß ein Mensch, ein Volk sich verfälschen und ihre Welt verlieren. 161 Im Aufsatz >Der Nazi und das Unsägliche< konstatiert er, daß man dem Naziverbrechen sprachlich nicht nahe- und nachkommen könne. D i e Ohnmächtig-
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Turnier, F., Über Eigenart, Vorrecht und Möglichkeit der deutschen Sprache, Das Innere Reich, Zeitschrift für Dichtung, Kunst und deutsches Leben 6, 1939, Η. 1, 115f. Bloch, E., Zerstörte Sprache - Zerstörte Kultur, In: Gesamtausgabe, Frankfurt/M. 1970, Bd. 11: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz, 292; Witschel, G„ Ernst Bloch. Literatur und Sprache: Theorie und Leistung, Bonn 1978, 105-110
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keit der Schriftsteller, der Journalisten und Künstler, den Nazis zu begegnen, wird zurückgeführt allgemein auf den Sprach- und Kulturzerfall. 1 6 2 O T T O H E U S C H E L E hält 1 9 4 0 die Alltagssprache für verbraucht, abgenützt wie eine Münze, die lange von Hand zu Hand geht. Die so verbrauchte und abgenützte Sprache zu erneuern: das ist das Amt des Dichters ... In der Muttersprache sammeln sich wie in einem unversieglichen Brunnen, für den einzelnen wie für die Völker, Erinnerungen, die nie in unser waches Bewußtsein eintreten, durch die wir aber mit Seele und Geist dem Vater- und Mutterland, dem Volke und dem Boden der Heimat verbunden sind. Das Geheimnis, das der Dichter in die Welt bringt, ist in seiner Sprache verschlossen und wir in ihr und durch sie offenbar. Denn in der Sprache offenbart sich der Dichter rückhaltloser als jeder andere Sterbliche. Nur dadurch, daß es einem Menschen gegeben ist, über die Sprache so zu gebieten, daß neues Leben in sie einströmt und durch sie wieder in das Leben der Menschengemeinschaft zurückflutet, verdient er den Namen eines Dichters. 163 S C H R E Y V O G E L setzt auf das >neue Deutschlands auf die >Deutsche WeltrevolutionSprachverfall< ebd. 132-137 und Weg und Ziel. Essays, Reden und Aufsätze, Heidenheim 1958, 62-73 Schreyvogel, F., Vom Glück der deutschen Sprache, Leipzig 1933, 101 u. 95
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Zartheit deutscher Sprache, welche Heimatlichkeit eines Reichs über Bürgerpapiere und Politismen hinaus, welche Realität der Eintracht, Permanenz eines ungeheuchelten Friedens, Besitzergreifung hinüber und herüber, Austausch der höchsten Güter! Fängt nicht die Tragik dort an, wo der Mensch das Attribut seiner Königlichkeit, die Sprache, von sich wirft und zu Mitteln der Gewalt greift? Fängt nicht ebenda auch seine Unwürde, ja sein Ende an? Im kristallenen Ozean des Sprachgewordenen steigt das Unvergängliche unseres Wesens; besseren Beitrag hat keiner zu geben, wahrhaft geben kann nur das Geschenk, und Geschenk ist das, daß das Eigene, Unverwechselbare, in seinem Wesen Ganze gegeben wird. 165 M A X FRISCH
geht auf das Verhältnis von Hochsprache und Mundart ein:
Es war irgendwo am Mittelmeer. Er traf auf schweizerische Landsleute, und seit soundsovielen Monaten war es das erstemal, daß er wieder sein Schweizerdeutsch mundhabte. Seine deutschen Begleiter waren etwas verletzt, sobald er sich dieser Geheimsprache bediente, und wehrten sich einfach, indem sie feststellten, daß es eine häßliche Sprache wäre. Kurzum: man saß auf dem Dampfer, und als er seinen Landsleuten die Reize dieses Küstenlandes entfalten wollte, schien ihm selber seine Mundart plötzlich ungenügend, sodaß er sich kurz faßte und diese Südlandschaft, die er übrigens in einem kleinen Büchlein umschrieben hatte, mit einem einzigen Fluchwort pries, das er mit ergriffener Stimme seiner Schweigsamkeit abrang, die sich immer mit dem Umschalten auf Mundart einstellte, und im weiteren auf sein hochdeutsch geschriebenes Büchlein verwies. Es dünkte ihn, als könnte man auf Schweizerdeutsch bloß Alltagszeug sagen: Wein bestellen oder so. Wenn man aber ans Unendliche streifte, wurde es gleich komisch, und während man auf Hochdeutsch eher den Mund vollnehmen konnte, so merkte man es in der Mundart sogleich, ob etwas dahinter steckte. Da gab es nämlich keine übernehmbare Wendung des Tiefsinns, weil es weniger Dichter gegeben hatte, die so ungeschäftlich gewesen wären und Mundartwerke geschaffen hätten; sondern die Großzahl der Dichter, die uns bestimmen, redeten hochdeutsch und schufen eine Sprache, die für uns dichtet und denkt, sodaß man sich in ihrer Benützung schon ein Dichter dünkt, während man sein Unschöpferisches einsehen müßte vor dem mundartlichen Rohstoff, wo wir nur Dreckklumpen finden. Und noch keine fertigen Töpfe aller Größen, sodaß man bloß aussuchen kann und sein Gefühl hineintröpfeln muß. 166 Nationalsozialistisch eingefärbt sind die Äußerungen
LUDWIG FINCKHS:
Der Blutstropfen ist ein unwiderleglicher Zeuge. Die Mathematik des Blutes ist nicht abzuleugnen: die Ahnentafel des Volksdeutschen ist dieselbe wie die unsere im Reich. Und es ist Glück und Stolz und Ruhm für alle, dieser großen deutschen Familie angehören zu dürfen. Und da klingt nun auch das deutsche Wort auf, das uns als unmündigen Kindern auf die Zunge gelegt wurde von unserer Mutter, die deutsche Sprache. Sie ist nichts als unser Blutserbe gesprochen. Sie springt aus dem Munde des Volks jung und unverbogen, wie ein neugeborenes Lämmlein oder Füllen, und sie wird gezügelt und gezogen, gemeißelt, gehämmert, und der Dichter
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Zollinger, Α., Sprache und Wesen (1941), Gesammelte Werke, Zürich 1961, Bd. 1, 429f. - Vgl. Matt, B.v., Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit ihrer Literatursprache. Die Hochsprache als Kunstsprache, In: Das Deutsch der Schweizer. Zur Sprach- und Literatursituation der Schweiz, hg. v. H. Löffler, Aarau 1986, 61-75 Frisch, M., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge (1934), Frankfurt a.M. 1976, Bd. 1, 69
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nimmt sie auf in sein Herz und bildet sie weiter in hohe heilige Formen, in nie gehörte Klänge und Rhythmen, in Verse und Lieder. Der Dichter ist Schöpfer am deutschen Wort, Glockengießer, Bildhauer am Erz der Sprache, und darum ist ihm die Sorge über die Sprache auferlegt, daß sie uns hell und klar erhalten bleibe und weiter blühe und wachse aus der Wurzel heraus: ewig jung ist der Baum der deutschen Sprache! Der Dichter hat diese Sorge mehr als irgendein anderer im deutschen Volk, er ist der berufene Wächter der Sprache. Von ihm wird Rechenschaft gefordert werden durch die Enkel, wenn unsere edle Sprache entstellt, verflacht, entwürdigt würde. Er haftet für sie mit seinem Blute! 167 Negative Stimmen sind selten: So äußert sich
JOSEF P O N T E N
1926:
Das Gesetz der Sprache ist vielleicht ein >Urphänomenheute gilt, was gestern hat gegolten·;, etwas das in allen Punkten heilig zu halten ist, was nicht einmal von kanonisierter alter französischer, geschweige von blühender junger deutscher Sprache gilt ... So habe ich denn für mich unter Beobachtung der gewissen Hauptregeln (denn eine Sprache darf nicht Chaos werden) für das Bereich der Freiheit und der Wahlmöglichkeiten den Satz aufgestellt (und ich glaube, daß ein Unvoreingenommener und der Sprache Ergebener ihn sich zu eigen machen kann): >Wahr (und erlaubt) ist in der Sprache was sie reich, - falsch (und verboten) was sie arm macht.< Die Neigung der Zeit geht dahin, die Sprache zu verarmen (warum nicht dieses für gewöhnlich intransitive Zeitwort auch transitiv gebrauchen? Wieviel schlechter als >verarmen< klingt das >arm machenich backte< statt: >ich bukmelkte< statt: >molkverwendete< statt: >verwandte