Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 Strafprozessordnung: Die prozessuale Überholung der Haftbeschwerde im Konflikt mit dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Recht auf effektiven Rechtsschutz [1 ed.] 9783428582082, 9783428182084

Das Werk behandelt ein wissenschaftlich weitestgehend unerforschtes Gebiet der StPO. Nach der Rechtsprechung der Oberlan

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German Pages 352 Year 2021

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Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 Strafprozessordnung: Die prozessuale Überholung der Haftbeschwerde im Konflikt mit dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Recht auf effektiven Rechtsschutz [1 ed.]
 9783428582082, 9783428182084

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Schriften zum Strafrecht Band 371

Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 der Strafprozessordnung Die prozessuale Überholung der Haftbeschwerde im Konflikt mit dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Recht auf effektiven Rechtsschutz

Von

Alessa Trunk

Duncker & Humblot · Berlin

ALESSA TRUNK

Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 der Strafprozessordnung

Schriften zum Strafrecht Band 371

Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 der Strafprozessordnung Die prozessuale Überholung der Haftbeschwerde im Konflikt mit dem Beschleunigungsgrundsatz und dem Recht auf effektiven Rechtsschutz

Von

Alessa Trunk

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-18208-4 (Print) ISBN 978-3-428-58208-2 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meinen Vater

Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Juli 2019 abgeschlossen; das Rigorosum fand am 29. Juli 2020 statt. Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Klaus Bernsmann, für die Anregung des Themas sowie die jederzeit engagierte Betreuung. Herrn Professor Dr. Gereon Wolters danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Die Unterstützung und das Verständnis meines Freundes Florian Vater waren unverzichtbare Bausteine für das Gelingen dieser Arbeit. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern, Andrea und Dr. Stefan Trunk, für die Unterstützung und den Rückhalt während der Anfertigung dieser Arbeit, meiner gesamten Ausbildung und darüber hinaus. Düsseldorf, im Februar 2021

Alessa Trunk

Inhaltsübersicht

Einleitung in die Untersuchung 

21

1. Teil

Grundlagen zur Untersuchungshaft 

27

A. Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 . . . . . . . . 35 C. Legitimation und Grenzen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Teil

Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls 

72

A. Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 B. Materielle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 C. Ende und Folgen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Teil

Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft  

105

A. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . 105 B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§ 117 ff. StPO . . . . . . . . . . . 113 C. Haftbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 D. Auswahlkriterien zwischen den verschiedenen Rechtsmitteln . . . . . . . . . . . . . 136 4. Teil

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen  

142

A. Bedeutung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 B. Gesetzliche Grundlagen des Beschleunigungsgrundsatzes (in Haftsachen) . . . 143 C. Dogmatische Einordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

10 Inhaltsübersicht F. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5. Teil

Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO 

191

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 . . . . . . . . . . . 191 C. Das Vorgehen der Rechtsprechung abstrahiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 D. Die Begründung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6. Teil

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts 

249

A. Exkurs: § 162 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 7. Teil

Bewertung der Rechtsprechung 

285

A. Rezeption in der juristischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 B. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 8. Teil

Eigene Lösung 

308

A. Reichweite der eigenen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 B. Verfassungs- und konventionskonforme Auslegung: Prozessuale Zurechnungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 C. Legislativer Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 D. Praktische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

Zusammenfassung 

334

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Inhaltsverzeichnis

Einleitung in die Untersuchung 

21

I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 III. Der Untersuchungsgegenstand in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Teil

Grundlagen zur Untersuchungshaft 

27

A. Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Häufigkeit der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Dauer der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Bestrafung nach Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Dauer der Bescheidung von Rechtsbehelfen gegen die Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 28 30

B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 . . . . . . . . I. Die Reichsstrafprozessordnung von 1877 als Ausgangslage . . . . . . . . . . 1. Maßgebliche Vorschriften der Reichsstrafprozessordnung (1877) . . . a) Regelung der Haftrichterzuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonstige relevante Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Motive des Gesetzgebers der Reichsstrafprozessordnung (1877) . . . . 3. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Änderung der Strafprozessordnung im Jahr 1926 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Relevante Gesetzesänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesetzgebungsverfahren und Motive der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erster Entwurf vom 18. Juli 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zweiter Entwurf vom 27. Juli 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Lesung im Plenum des Reichstags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhandlungen im Rechtspflegeausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verabschiedung der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenbruch der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35 36 36 39 40 42 44 44 45 46 46 47 49 50 53 53 54 57

31 32

12 Inhaltsverzeichnis V. Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vereinheitlichungsgesetz aus dem Jahr 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reformversuch des dritten Bundestags im Jahr 1960 . . . . . . . . . . . . . 3. Reform durch den vierten Bundestag im Jahr 1965 . . . . . . . . . . . . . . a) Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines zu den Änderungen des Untersuchungshaftrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zu den Änderungen der Haftrichterzuständigkeit . . . . . . . . . . c) Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassende Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 59 59 59 60

C. Legitimation und Grenzen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zweck der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grenzen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 68 70

60 61 63 65 65

2. Teil

Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls 

72

A. Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 I. Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Grundsätzliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2. Sonderfall: Anderweitige Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Weiteres Verfahren nach einer vorläufigen Festnahme . . . . . . . . . 82 II. Antragserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 III. Formerfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 1. Gesetzlich notwendiger Inhalt eines Haftbefehls, § 114 Abs. 2 StPO . 85 2. Verkündung und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3. Fehlerfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 IV. Exkurs: Begründungstiefe von Haftentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Materielle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dringender Tatverdacht, § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Haftgrund, § 112 Abs. 2 und 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Flucht, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Haftgrund der Tatschwere, § 112 Abs. 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wiederholungsgefahr, § 112a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Apokryphe Haftgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 91 92 93 94 95 95 96 97

Inhaltsverzeichnis13 7. Einschränkung nach § 113 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 III. Verhältnismäßigkeit, § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 IV. Haftprüfungsverfahren nach § 121 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 C. Ende und Folgen der Untersuchungshaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Teil

Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft  105

A. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . I. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Akte öffentlicher Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtsschutzbedürfnis und prozessuale Überholung . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105 105 108 109 112

B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§ 117 ff. StPO . . . . . . . . . . . I. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitere formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Mündliche Haftprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schriftliche Haftprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Prüfungsumfang und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Antrag auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 113 114 115 118 119 120

C. Haftbeschwerde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuständiges Ausgangsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zuständiges Beschwerdegericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitere formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschwer, Rechtsschutzbedürfnis und Prozessuale Überholung . . . . . 3. Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prüfungsumfang und Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Sonderfall: Weitere Beschwerde nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO . . . . . . .

121 122 122 123 125 125 126 127 128 131 133 134

D. Auswahlkriterien zwischen den verschiedenen Rechtsmitteln . . . . . . . . . . . . . 136 I. Besonderheiten der Haftprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 II. Besonderheiten der Haftbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 III. Besonderheiten des Antrags auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung . 140

14 Inhaltsverzeichnis 4. Teil

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen  142

A. Bedeutung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 B. Gesetzliche Grundlagendes Beschleunigungsgrundsatzes (in Haftsachen) . . . 143 I. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 C. Dogmatische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Maßgeblicher Zeitraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeiner Beschleunigungsgrundsatz, Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . 2. Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, Art. 5 Abs. 3 EMRK . . . . . III. Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung des maßgeblichen Zeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfung der Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsfolgen eines Verstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Durch den EGMR festgestellter Konventionsverstoß . . . . . . . . . . . . . 2. Weitergehende nationale Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148 148 150 151 152

E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung des maßgeblichen Zeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfung der Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vollstreckungsmodell vs. Strafzumessungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafzumessungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vollstreckungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beispiele aus der nationalen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

154 154 154 156 156 158 161

166 166 168 171 171 172 172 175 178

F. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5. Teil

Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO 

191

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 . . . . . . . . . . . 191

Inhaltsverzeichnis15 I.

Grundkonstellation: Anklageerhebung zum Landgericht . . . . . . . . . . . . . 191 1. Rechtsprechung vor Inkrafttreten des § 126 StPO im Jahr 1965 auf Grundlage des § 125 StPO (1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Ausgangsentscheidung auf Grundlage des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO . 194 3. Abweichende Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt . . . . . . 196 4. Weitere Entwicklung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 II. Sonderkonstellation 1: Anklageerhebung zum Strafrichter . . . . . . . . . . . 201 III. Sonderkonstellation 2: Umdeutung in Aufhebungsantrag . . . . . . . . . . . . 204 1. Als Überhaft notierter Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Außer Vollzug gesetzter Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 IV. Sonderkonstellation 3: Anklageerhebung zu der Beschwerdekammer . . . 207 1. Keine Umdeutung bei Haftentscheidung desselben Spruchkörpers kurz vor Anklageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 2. Grundsätzliche Umdeutung bei Beschwerdeentscheidung desselben Spruchkörpers kurz vor Anklageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 V. Sonderkonstellation 4: Berufungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 1. Berufungseinlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Zurückverweisung an das zuständige Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 VI. Sonderkonstellation 5: Revisionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 VII. Sonderkonstellation 6: Keine Umdeutung bei erkennbar entgegenstehendem Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 C. Das Vorgehen der Rechtsprechung abstrahiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wirkung des Zuständigkeitswechsels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maßgeblicher Zeitpunkt bei der Berufung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßgeblicher Zeitpunkt bei der Revision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erfordernis der Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231 231 233 234 235

D. Die Begründung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangsproblem  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Doppelzuständigkeit und Instanzenvermischung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Keine Entscheidungskompetenz des Tatgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Problemlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prozessuale Überholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umdeutung der Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag . . . . . . 3. Ursprung der oberlandesgerichtlichen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

236 236 236 238 238 238 240 242

E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 6. Teil

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts 

249

A. Exkurs: § 162 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Grundlegendes zu § 162 StPO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

16 Inhaltsverzeichnis II. Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 162 StPO . . . . . . . . . . . . . 252 B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 I. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Bestimmung des zuständigen Rechtsmittelgerichts . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Sonderfall: Haftkontrolle nach Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft (§ 142a StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 a) Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 3. Sonderfall: Zuständigkeit für gerichtliche Untersuchungshandlungen nach Abgabe (§ 142a StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 a) Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4. Sonderfall: Haftkontrolle nach Anklageerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . 269 a) Bundesgerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2. Keine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beschluss vom 25. Juni 2018 (2 BvR 631/18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beschluss vom 4. Mai 2004 (2 BvR 490/04) und vom 14. Dezember 2004 (2 BvR 1541/04) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beschluss vom 4. Mai 2004 (2 BvR 490/04) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschluss vom 14. Dezember 2004 (2 BvR 1541/04) . . . . . . . . . . . .

275 275 277 278 282

D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 7. Teil

Bewertung der Rechtsprechung 

285

A. Rezeption in der juristischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aktuelle Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ältere Kommentarliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dünnebier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Müller/Sax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285 285 288 289 292 293

B. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zusammenfassende Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konflikt mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen . . . . . . . . . . III. Konflikt mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294 294 297 301 307

Inhaltsverzeichnis17 8. Teil

Eigene Lösung 

308

A. Reichweite der eigenen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 I. Exkurs: Anwendung der Rechtsprechung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf Beschwerden gegen haftbeschränkende Maßnahmen und Entscheidungen nach § 119 Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 1. Ausgangsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Parallele zu der Rechtsprechung bezüglich der Haftbeschwerden . . . 310 II. Zusammenfassung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 B. Verfassungs- und konventionskonforme Auslegung: Prozessuale Zurechnungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlegende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auswirkungen auf die Beschwerdeeinlegung vor einem Zuständigkeitswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Auswirkungen auf die Beschwerdeeinlegung nach einem Zuständigkeitswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Legislativer Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Notwendigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gesetzgebungsvorschlag: Kodifizierte Zurechnungslösung . . . . . . . . . . . 1. Gesetzgebungsentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesetzestext nach Implementierung des Entwurfs . . . . . . . . . . . . . . . III. Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klarstellung der Zuständigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonstige Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

316 317 320 323 324 325 325 326 326 328 330 330 331 332

D. Praktische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

Zusammenfassung 

334

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht a. a. O. am angegebenen Ort Abb. Abbildung Abs. Absatz Abschn. Abschnitt a. E. am Ende a. F. alte Fassung allg. allgemein Anm. Anmerkung AnwBl. Anwaltsblatt arg. ex. argumentum e contrario Art. Artikel BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht Bd. Band BeckRS Beck online Rechtsprechung Begr. Begründer BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof bspw. beispielsweise BT-Drs. Drucksache des Deutschen Bundestages BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz vom 12. März 1951 bzw. beziehungsweise CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CSU Christlich-Soziale Union in Bayern DAV Deutscher Anwaltverein Die Justiz Die Justiz: Amtsblatt des Justizministerium Baden-Württemberg DJZ Deutsche Juristen-Zeitung EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGStPO Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 Einl. Einleitung

Abkürzungsverzeichnis19 EMRK

Konvention des Europarats zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950

Erl. Erläuterung EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

f./ff. folgende/fortfolgende FDP

Freie Demokratische Partei

Fn. Fußnote Gerichtshof

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

GG

Grundgesetz vom 23. Mai 1949

ggf. gegebenenfalls GVG

Gerichtsverfassungsgesetz vom 12. September 1950

GVG (1877)

Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. Februar 1877

Hess. LVerf.

Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946

Hrsg./hrsg. Herausgeber/herausgegeben IPBPR

Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966

i. S.e.

im Sinne eine/r/s

i. V. m.

in Verbindung mit

JA

Juristische Arbeitsblätter

JGG

Jugendgerichtsgesetz in der Fassung vom 4. August 1953

JMBl. NW

Justizministerialblatt des Landes Nordrhein-Westfalen

JW

Juristische Wochenschrift

KG Kammergericht MDR

Monatsschrift für Deutsches Recht

m. N.

mit Nachweisen

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr. Nummer NStE

Neue Entscheidungssammlung für Strafrecht

NStZ

Neue Zeitschrift für Strafrecht

NStZ-RR

Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NVwZ-RR

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht RechtsprechungsReport

OLG Oberlandesgericht Reichsstrafprozess- Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 ordnung/RStPO (1877) RGBl. Reichsgesetzblatt

20 Abkürzungsverzeichnis RiStBV

Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren vom 1. Januar 1977 Rn. Randnummer S. Seite SchlHA Schleswig-Holsteinische Anzeigen s. o. siehe oben SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StGB Strafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 StPO Strafprozeßordnung vom 12. November 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), die zuletzt durch Gesetz vom 19. Juni 2019 (BGBl. I S. 840) geändert worden ist. StPO (1926) Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Dezember 1926 (RGBl. I S. 529–531) StPO (1926) Strafprozeßordnung vom 29. Dezember in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Dezember 1926 (RGBl. I Nr. 70 vom 30. Dezember 1926) StPO (1950) Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. September 1950 (BGBl. I Nr. 40 S. 479–501) StPO (1950) Strafprozeßordnung vom 12. November 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. September (BGBl. I Nr. 40 vom 20. September 1950) StraFo Strafverteidiger Forum StrEG Gesetz über die Entschädigung von Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8. März 1971 St. Rspr. Ständige Rechtsprechung StV Strafverteidiger s. u. siehe unten Tab. Tabelle u. und vgl. vergleiche Vor/Vor. Vorbemerkungen VRS Verkehrsrechtssammlung wistra wistra – Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht z. B. zum Beispiel Ziff. Ziffer ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik

„Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel […] nicht ineffektiv machen und für den [Beschwerdeführer] ‚leer laufen‘ lassen.“1

Einleitung in die Untersuchung Es dürfte unumstritten sein, dass die Untersuchungshaft auf Grund ihrer hohen grundrechtlichen Relevanz die schärfste Strafverfolgungsmaßnahme der Strafprozessordnung ist.2 Aus diesem Grund ist die vollumfänglich effektive Ausgestaltung der dem Betroffenen3 zustehenden Rechtsmittel von elementarer Bedeutung. Die Strafprozessordnung stellt dem Betroffenen sowohl den Rechtsbehelf der (weiteren) Haftbeschwerde (§§ 304, 310 StPO) als auch den der Haftprüfung (§ 117 StPO) zur Seite.4 Zudem ist stets von Amts wegen zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls5 noch vorliegen, § 120 StPO. Dauert der Vollzug der Untersuchungshaft vor Beginn der Hauptverhandlung mehr als sechs Monate an, erfolgt eine Haftprüfung durch das Oberlandesgericht nach den strengen Voraussetzungen der §§ 121, 122 StPO. Erforderlich ist jedoch nicht nur die Existenz normierter Rechtsbehelfe und weiterer Kontrollmechanismen, um die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft zu gewährleisten. Erforderlich ist auch deren konsequente Umsetzung durch die zuständigen Stellen – insbesondere durch die Gerichte – in 1  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; jeweils m. w. N. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NVwZ 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164. 2  Vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 1; Seebode, Untersuchungshaft, S. 2. 3  Sofern im Folgenden lediglich die männliche Form verwendet wird, sind hiermit im Interesse der besseren Lesbarkeit alle Geschlechter gemeint. Der Begriff „Betroffener“ wird zudem ebenfalls im Interesse der besseren Lesbarkeit im Folgenden für alle in § 157 StPO genannten Verfahrensstadien verwendet. 4  Siehe zu dem Haftprüfungsantrag und der Haftbeschwerde ab S. 105. 5  Siehe zu den Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls ab S. 72.

22

Einleitung in die Untersuchung

der Rechtswirklichkeit. Der Betroffenen muss die ihm seitens des Gesetzgebers zur Verfügung gestellten Rechtsmittel jederzeit mit ihrer vollen Wirkung nutzen können. In diesem Kontext ist die Rechtsmittelautonomie, also die freie Wahl des Betroffenen zwischen der Haftbeschwerde und dem Haftprüfungsantrag, auf Grund der aufzuzeigenden existierenden Unterschiede6 der beiden Rechtsbehelfe von zentraler Bedeutung. Eine effektive gesetzgeberische Ausgestaltung sowie praktische Handhabung der gesetzlichen Kontrolle der Untersuchungshaft erfordert auch der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, welcher aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgt. Danach hat ein Untersuchungsgefangener einen Anspruch auf ein Urteil in angemessener Frist, anderenfalls auf die Freilassung während des laufenden Verfahrens.7

I. Problemaufriss Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit dem Umstand, dass keine ausdrückliche Regelung hinsichtlich der Frage besteht, welches Gericht für die Entscheidung über eine Beschwerde gegen den vor Anklageerhebung erlassenen Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht nach § 125 Abs. 1 StPO zuständig ist, sobald Anklage zum Tatgericht erhoben wird. Klar geregelt ist in § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO lediglich, dass mit Anklage­ erhebung das mit der Sache befasste Gericht für die weiteren gerichtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft, die Aussetzung ihres Vollzugs (§ 116 StPO), ihre Vollstreckung (§ 116b StPO) sowie auf Anträge nach § 119a StPO beziehen, zuständig wird. Diese Zuständigkeitsregelung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO gibt auf den ersten Blick keinen Aufschluss über das Zuständigkeitsverhältnis des nach Anklageerhebung erstinstanzlich zuständigen Tatgerichts zu dem vor Anklagerhebung bereits seitens des Haftrichters erlassenen Haftbefehl. Diese Unsicherheit wird zu einem Problem, wenn der Haftbefehl mit der Beschwerde nach § 304 StPO oder der weiteren Beschwerde nach § 310 StPO angegriffen wird, bevor das mit der Sache durch die Anklageerhebung befasste Tatgericht eine eigene Haftentscheidung getroffen hat. Die Oberlandesgerichte vertreten die Auffassung, eine Haftentscheidung des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht sei mit Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO überhaupt nicht mehr mit der (weiteren) Beschwerde anfechtbar. In der Konsequenz sei die Haftbeschwerde, aber auch die weitere Haftbeschwerde, die bereits dem Oberlandesgericht vorliegt, mit 6  Siehe 7  Siehe

dazu ab S. 136. zum Beschleunigungsgrundsatz ab S. 142.



Einleitung in die Untersuchung23

dem Zeitpunkt der Anklageerhebung nach der im Einzelnen darzustellenden einheitlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte in einen Haftprüfungsantrag nach § 117 StPO umzudeuten. Über diesen habe das durch den Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig gewordene Tatgericht zu entscheiden. Diese Auffassung vertritt die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung auch in sämtlichen anderen Fällen eines Zuständigkeitswechsels, wie etwa bei der Aktenzuleitung im Rahmen des Berufungsverfahrens nach § 321 Satz 2 StPO.8 Die praktischen Folgen einer entsprechenden Umdeutung sind prekär, was sich besonders zeigt, wenn bereits der gesamte Beschwerderechtsweg ausgeschöpft wurde und die weitere Beschwerde beim Oberlandesgericht anhängig ist, dort aber noch nicht beschieden wurde, und die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Nach dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen ist die Staatsanwaltschaft gerade verpflichtet, schnellstmöglich Anklage zu erheben, sodass im Stadium des Verfahrens der weiteren Beschwerde eigentlich jederzeit die Anklageerhebung „droht“. In einem solchen Fall „verliert“ der Betroffene die bereits erstrittenen Entscheidungen. Obwohl er in einem zeitaufwändigen Verfahren bereits eine negative Entscheidung des Beschwerdegerichts kassiert und sich somit eigentlich den Weg für die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht (und anschließender Verfassungsbeschwerde) „erkämpft“ hat, werden seine Bemühungen und insbesondere die investierte Zeit durch die Anklageerhebung, auf deren Zeitpunkt er keinerlei Einfluss hat, obsolet. Die Haftbeschwerde gegen die Haftentscheidung des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht kann er nach der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung nun überhaupt nicht mehr einlegen, da diese durch die Anklageerhebung prozessual überholt sein soll. Erst wenn das Tatgericht eine eigene Haftentscheidung treffe, sei die Beschwerde gegen diese wieder statthaft. Unterlässt das Tatgericht dies beispielsweise sogar bis zu der Haftfortdauerentscheidung im Rahmen eines etwaigen Eröffnungsbeschlusses9, muss sich der Betroffene nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zunächst selbst eine anfechtbare Haftentscheidung des Tatgerichts „erstreiten“, indem er eine Haftprüfung nach § 117 StPO beantragt. Als eine Art Trostpflaster muss der Betroffene die Haftprüfung nicht selbst beantragen, da seine anhängige Haftbeschwerde in einen entsprechenden Antrag umgedeutet wird.

8  Siehe zu der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ab S. 191. 9  Im Rahmen der Eröffnung des Hauptverfahrens hat das Tatgericht nach § 207 Abs. 4 StPO von Amts wegen über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden.

24

Einleitung in die Untersuchung

Ein skurriles Ergebnis, wenn man bedenkt, dass gegenwärtig die Untersuchungshaft gegen den Betroffenen ja nur auf Grund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht in der Welt ist und ggf. auch vollzogen wird. Während das Vorgehen der Oberlandesgerichte für einen Juristen auf den ersten Blick lediglich nach einem schwer vertretbaren Vorgehen anmutet, dürfen die Auswirkungen auf den Betroffenen aus einer rein tatsächlichen Perspektive nicht übersehen werden. So hat sich der Betroffene höchstwahrscheinlich in Absprache mit seinem Verteidiger wohl überlegt für die Einlegung einer Haftbeschwerde und gegen den Haftprüfungsantrag entschieden, sämtliche zu seinen Gunsten streitenden tatsächlichen und rechtlichen Aspekte gemeinsam mit diesem in dem (weiteren) Beschwerdeschriftsatz zusammengefasst und zuletzt seine Hoffnung auf eine zeitnahe Freilassung in die Bescheidung der (weiteren) Beschwerde investiert. Auf Grund der Anklageerhebung wird seinen Hoffnungen und Erwartungen mit einem umgedeuteten Haftprüfungsantrag begegnet. Der Betroffene muss den gesamten Beschwerderechtszug erneut bestreiten, um die erstrebte oberlandesgerichtliche Haftentscheidung zu erhalten, nachdem der Haftprüfungsantrag seitens des Tatgerichts zu seinen Ungunsten beschieden wurde.

II. Gang der Untersuchung Im Rahmen dieser Arbeit wird untersucht, ob die unklare gesetzliche Regelung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO unter Berücksichtigung ihrer im Einzelnen zu erörternden Anwendung durch die Rechtsprechung im Falle der Haftbeschwerde mit den Anforderungen an den effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG sowie dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK, Art. 2 Abs. 2 GG im Einklang steht. Hierbei wird nach Herausarbeitung der der gesetzgeberischen Intention auch der Diskussionsstand der juristischen Literatur einbezogen und ausgewertet. Um ein abschließendes Gesamtbild zu erhalten und auch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts untersuchen zu können, wird in verschiedenen Exkursen auch auf die Parallelnorm zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO – § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO – sowie die Auswirkungen des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf die Beschwerdefähigkeit von ermittlungsrichterlichen haftbeschränkenden Entscheidungen und Maßnahmen nach § 119 StPO eingegangen. Die Arbeit wird aufzeigen, dass diese unklare gesetzliche Regelung und insbesondere ihre praktische Anwendung durch die Oberlandesgerichte mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und dem Recht auf effektiven



Einleitung in die Untersuchung25

Rechtsschutz in einem schwierig aufzulösenden verfassungsrechtlichen Konflikt steht und entsprechende Lösungsvorschläge unterbreiten.

III. Der Untersuchungsgegenstand in der Wissenschaft Die Verfassungsmäßigkeit des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO war – soweit ersichtlich – seit dessen Einführung weder in der Diskussion des Gesetzgebers, noch gibt es vergleichbare wissenschaftliche Untersuchungen. So berührte beispielsweise der veröffentlichte Reformvorschlag des Arbeitskreises Strafprozeßreform10 (veröffentlicht im Jahr 1983) die Regelung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO inhaltlich nicht. Auch die Begründung des Reformvorschlags äußert sich nicht zu der Verfassungsmäßigkeit dieser Norm.11 Auch die veröffentlichten Überlegungen des Deutschen Anwaltvereins für eine Reform des Ermittlungsverfahrens vom 11. Oktober 1985 befassen sich ausgiebig mit (teilweise zwischenzeitlich seitens des Gesetzgebers behobenen) Schwächen des Ermittlungsverfahrens.12 Hierbei wurden auch die Dauer der Untersuchungshaft13 und die Rechtsbehelfe während des Ermittlungsverfahrens14 diskutiert. Etwaige Schwächen der Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO fanden hierbei allerdings keine Berücksichtigung. Die Ergebnisses des Fachausschusses I „Strafrecht und Strafvollzug“ des Bundeszusammenschlusses für Straffälligenhilfe, welcher sich zwar vorrangig mit der Ausgestaltung des Untersuchungshaftvollzugs beschäftigte15, in diesem Zusammenhang aber auch auf die in Deutschland verhältnismäßig langen Untersuchungshaftdauer einging16, befassen sich nicht mit eventuellen Verzögerungen durch § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO im Zusammenhang mit der Haftbeschwerde. Die Durchsicht aktueller teils ausführlicher Untersuchungen des Untersuchungshaftrechts ergab ebenfalls keine kritische Auseinandersetzung mit § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO bzw. den Haftrichterzuständigkeiten im Allgemei-

10  Arbeitskreis

Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft, Strafprozeßreform, Die Untersuchungshaft, 12  DAV, AnwBl. 1986, 49 ff. 13  DAV, AnwBl. 1986, 49, 55, 61. 14  DAV, AnwBl. 1986, 49, 66 ff. 15  Bundeszusammenschluss für Straffälligenhilfe, Reform S. 9. 16  Bundeszusammenschluss für Straffälligenhilfe, Reform S.  15 f., 84 ff. 11  Arbeitskreis

S. 125 f. S. 126.

der Untersuchungshaft, der Untersuchungshaft,

26

Einleitung in die Untersuchung

nen.17 Ein Grund dafür, weshalb § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht in den Fokus der juristischen und gesetzgeberischen Diskussion geraten ist, dürfte indes sicherlich die ausgesprochene Einigkeit der obergerichtlichen Rechtsprechung bezüglich seiner Auslegung sein.18 An dieser Stelle soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass es in der aktuellen19 sowie älteren20 Kommentarliteratur, aber auch in juristischen Aufsätzen21 und Urteilsanmerkungen22 vereinzelt Kritik23 an der Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Oberlandesgerichte geübt wird, die auf Grund ihres begrenzten Umfangs jedoch nicht mit dieser Untersuchung vergleichbar ist. Auch das Rechtsmittel der Beschwerde ist in der juristischen Wissenschaft noch recht unerforscht. Die vorhandenen Untersuchungen24 befassen sich jedenfalls nicht mit den Auswirkungen des Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf die Beschwerde. Auch in Untersuchungen, die sich im Speziellen mit dem Begriff der prozessualen Überholung befassen, wurde der Fall der prozessualen Überholung der Haftbeschwerde im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht berücksichtigt.25

17  Beispielsweise befasst sich die durchaus kritische und umfassende Untersuchung von Morgenstern, Die Untersuchungshaft, ebenfalls nicht mit den im Rahmen dieser Arbeit gegenständlichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Dagegen befasst sich Wankel, Zuständigkeitsfragen im Haftrecht, explizit mit den Haftrichterzuständigkeiten. Die Darstellung des im Rahmen dieser Untersuchung gegenständliche Problem von S. 103 bis S. 115 bleibt jedoch knapp und nach hiesiger Auffassung unvollständig, da nicht alle Fallgruppen der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung Berücksichtigung finden. 18  Siehe zu der Rechtsprechung ausführlich S. 191 ff. 19  Vgl. z. B. Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7a, § 126 Rn. 5. Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 22; siehe dazu ab S. 285. 20  Vgl. z. B. Dünnebier, in: L-R I 1971, § 114 Anm. 17, § 125 Anm. 1, § 126 Anm. 1, 2; Dünnebier, in: L-R II 1978, § 114 Rn. 71, § 125 Rn. 6; siehe dazu ab S. 289. 21  Rostek, in: StV 2002, 225. 22  Kirchner, StV 2006, 318. 23  Vgl. ferner Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 108  f.; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851. 24  Zu nennen sind hier beispielsweise: Bornmann, Die Struktur der strafprozessualen Beschwerde; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß; Graßmann, Rechtsbehelfe gegen Unterlassen im Strafverfahren; Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer; Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionellen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses. 25  So etwa Budach, Die prozessuale Überholung; Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer.

1. Teil

Grundlagen zur Untersuchungshaft A. Statistiken I. Häufigkeit der Untersuchungshaft Die Möglichkeit der Verhängung von Untersuchungshaft ist ein wesentliches Mittel zur effizienten Strafverfolgung. Die Rechtspflegestatistiken, die das Statistische Bundesamt jährlich veröffentlicht, geben Aufschluss über die Häufigkeit der Untersuchungshaft: Im Jahr 20021 war noch gegen 3,9 % der Abgeurteilten zuvor Untersuchungshaft verhängt worden, nämlich gegen 34.510 von insgesamt 893.005 Abgeurteilten. Im Jahr 2003 belief sich die Quote der Untersuchungsgefangenen im Verhältnis zu den Abgeurteilten auf 3,8 %. Die Zahl der Untersuchungsgefangenen sank sodann bis in das Jahr 2006 kontinuierlich sowohl absolut als auch relativ im Verhältnis zu der Zahl der Abgeurteilten auf 24.352 bzw. 2,6 %.2 Von 2007 bis 2008 stieg die Zahl der Untersuchungsgefangenen über 26.793 (im Jahr 2007) wieder auf 29.532 Betroffene im Jahr 2008 an. Dies entspricht unter Berücksichtigung der Aburteilungszahlen im Jahr 2007 von 930.029 einer Quote von 2,9 % und im Jahr 2008 von 911.424 einer Quote von 3,2 %. Sodann bewegte sich das Verhältnis zwischen Untersuchungshaft und Aburteilung bis in das Jahr 2013 zwischen 2,6 % und 2,8 %.3 1  Die hier genannten Zahlen beziehen sich erst ab dem Jahr 2007 auf das vollständige Bundesgebiet; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 3, 7. 2  Zahlen entnommen und berechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2002, Tab. 1.1 und 6.1.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2003, S. 12, 332; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2004, S. 16, 336; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2005, S. 16, 340; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2006, S. 16, 340. 3  Zahlen entnommen und berechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2007, S. 16, 362; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2008, S. 16, 366; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2009, S. 16, 364; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2010, S. 16, 360; Statistisches Bundesamt, Fach­ serie 10 Reihe 3 2011, S. 16, 352; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2012, S. 16, 368; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2013, S. 16, 370.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

Seit 2014 ist wieder eine starke relative Zunahme der Untersuchungshaft erkennbar. Besonders bemerkenswert ist, dass die Zahl der Aburteilungen seit dem Jahr 2009 von 1.056.809 kontinuierlich auf 875.194 im Jahr 2017 gesunken ist, die Untersuchungshaft relativ betrachtet aber weitaus häufiger verhängt wurde. Die Untersuchungshaft wurde im Jahr 2017 in 29.548 Fällen verhängt und es wurden insgesamt 875.194 Personen abgeurteilt. Somit wurde gegen 3,4 % der im Jahr 2017 Abgeurteilten zuvor Untersuchungshaft verhängt. Relativ betrachtet wurde die Untersuchungshaft im Jahr 2017 seit dem Jahr 2003 somit am häufigsten verhängt.4

II. Dauer der Untersuchungshaft Erwähnenswert ist auch die durchschnittliche Dauer der Untersuchungshaft und deren Entwicklung. Den folgenden Statistiken voranzustellen ist allerdings, dass die amtlichen Rechtspflegestatistiken und – soweit ersichtlich – auch keine anderen Statistik Aufschluss darüber geben, wie lange Untersuchungshaftbefehle vollzogen werden und ob, bzw. wann eine Außervollzugsetzung nach § 116 StPO angeordnet wurde. Im Jahr 2017 wurden lediglich 21.708 (73,47 %) der insgesamt 29.548 Untersuchungshaftbefehle vor der Sechsmonatsgrenze der §§ 121, 122 StPO aufgehoben. Demnach dauerte die Untersuchungshaft für über ein Viertel aller Untersuchungsgefangenen (26,53 %) über sechs Monate an. Gegen 1.898 somit 6,4 % der Betroffenen war über ein Jahr ein Untersuchungshafthaftbefehl verhängt.5 Die Zahl der über sechs Monate andauernden Untersuchungshaft ist in einer Langzeitbetrachtung seit 1976 von damals 14,9 %6 auf 26,53 % signifikant gestiegen. Die Fälle der über ein Jahr andauernden Untersuchungshaft lag 1976 bei nur 3,6 %7 und verdoppelte sich somit bis in das Jahr 2017. 4  Zahlen entnommen und berechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2014, S. 16, 368; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2015, S. 16, 372; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2016, S. 16, 374; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 16, 380. Bereits Hassemer, StV 1984, 38, 39 stellte (damals) fest, dass der Untersuchungshaftquotient im Verhältnis zu den Aburteilungen gestiegen ist. 5  Zahlen entnommen und berechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 380 f. Diese Zahlen dürften allerdings wenig aussagekräftig sein, da sich ihnen nicht entnehmen lässt, in welchem Verfahrensstadium die Untersuchungshaft verhängt wurde. Zudem ist die Haftdauer in sehr lange Zeiträume unterteilt; vgl. Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S 33. 6  Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S 35; Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S. 66 f. 7  Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S.  66 f.



A. Statistiken29

Eine genauere Betrachtung der vergangenen Jahre zurück bis in das Jahr 2002 verdeutlicht, dass die Untersuchungshaftdauer im Jahr 2017 keinen statistischen Ausreißer darstellt. Während die Untersuchungshaft im Jahr 2002 noch in 19,3 % der Fälle über sechs Monate andauerte, stieg dieser Wert im Jahr 2004 auf 21,0 %. Von 2005 bis 2016 bewegte sich der Prozentsatz der über sechs Monate andauernden Untersuchungshaft durchweg zwischen 22,3 % und 24,6 %. Im Jahr 2016 lag er bei 23,9 %.8 Die Statistiken zeigen, dass gesetzgeberische Maßnahmen wie beispielsweise die Einführung der oberlandesgerichtlichen Haftprüfung von Amts wegen im Jahr 1965, die zu einer Verkürzung der Untersuchungshaft führen sollte, ihren beabsichtigten Erfolg in einer Langzeitbetrachtung verfehlt haben.9 Gleiches ist auch für das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 200910 zu statuieren, durch welches die notwendige Verteidigung ab Vollzug der Untersuchungshaft gemäß §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 5 StPO eingeführt wurde. Zuvor war ein Pflichtverteidiger nach § 117 Abs. 4 StPO a. F. nur auf Antrag und er erst nach drei Monate andauernder Untersuchungshaftvollstreckung zu bestellen.11 Ausweislich der Gesetzesbegründung12 geht die Einführung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO auf eine Empfehlung des Europarats zurück, in der die Bedeutung eines Rechts8  Zahlen entnommen und berechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2002, Tab. 6.1.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2003, S.  332 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2004, S. 336 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2005, S. 340 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2006, S. 340 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2007, S.  362 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2008, S. 366 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2009, S. 364 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2010, S. 360 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2011, S.  352 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2012, S. 368 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2013, S. 370 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2014, S. 368 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2015, S.  372 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2016, S. 374 f.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 380 f. 9  Seebode, StV 1989, 118, 120 ff. Siehe zu der Einführung der oberlandesgerichtlichen Haftprüfungsverfahrens von Amts wegen ab S. 60 und zu den Grundlagen zu dem oberlandesgerichtlichen Haftprüfungsverfahren von Amts wegen selbst ab S. 99. 10  BGBl. I Nr. 48 vom 31. Juli 2009, S. 2224 bis 2279. 11  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 34 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 18. 12  BT-Drs. 16/13097 S. 18 f. Zu berücksichtigen ist, dass die notwendige Verteidigung ab Vollstreckung der Untersuchungshaft erst nach Beratung des Rechtsausschusses in den Gesetzesentwurf aufgenommen wurde. Der ursprüngliche Gesetzesentwurf der Bundesregierung sah dies noch nicht vor, vgl. BT-Drs. 16/11644.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

beistands während der Untersuchungshaft zur Vorbereitung einer angemessenen Verteidigung betont wird.13 Zuzugeben ist insoweit, dass sich der Wille des Gesetzgebers, durch diese Regelung auch eine Verkürzung der Untersuchungshaft zu erreichen, nicht unmittelbar aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt. Da die Rechtspflegestatistiken nicht zwischen vollstreckten und außervollzuggesetzten Haftbefehlen differenzieren und hinsichtlich der Dauer der Untersuchungshaftvollstreckung nach den Recherchen der Verfasserin auch keine anderen empirischen Untersuchungen existieren, kann nicht bewertet werden, ob die vorgenannten Reformen wenigstens zu einer Zunahme der Haftverschonungen nach § 116 StPO führten.14

III. Bestrafung nach Untersuchungshaft Im Jahr 2017 wurden insgesamt 875.194 Personen abgeurteilt.15 In 716.044 Fällen wurde eine Strafe nach dem Strafgesetzbuch bzw. Jugendstrafrecht verhängt.16 Die Verurteilungsquote betrug im Jahr 2017 damit 81,8 %.17 Anders als die allgemeine Verurteilungsquote stellt sich jedoch das Verhältnis zwischen Verhängung der Untersuchungshaft und der tatsächlichen Verurteilung, insbesondere zu einer Freiheitsstrafe, dar: Im Jahr 2017 wurde gegen insgesamt 29.548 Personen ein Untersuchungshaftbefehl verhängt.18 Für das Jahr 2017 bestand bei Untersuchungsgefangenen tatsächlich eine Aburteilungsquote von 99,6 %, welche sich aus der Aburteilung von 29.429 der insgesamt 29.548 Untersuchungsgefangenen ergibt.19 Diese Statistik bedarf jedoch einer genauen Aufschlüsselung, bevor sie sachlicher Kritik zugänglich ist: Am häufigsten werden die Haftgründe der Flucht oder Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO herangezogen.20 Von den Untersuchungsgefangenen wurden 22.426 erwachsene Straftäter zu einer Freiheitsstrafe nach 13  Vgl.

Empfehlung Rec(2006)13 d, S. 8 f. Schoellers Erhebungen sind nicht aufschlussreich, da dieser in seiner Untersuchung lediglich die Dauer des Gerichtsverfahrens bei inhaftierten Untersuchungsgefangenen in den Jahren 2005, 2009 und 2010 untersucht hat; vgl. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 968, Abb. 56. 15  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 16. 16  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 16. 17  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 17. 18  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 380. 19  Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 414 f. 20  Nämlich in 27.836 Fällen, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 380; dort wird allerdings nicht zwischen den beiden Haftgründen differen14  Auch



A. Statistiken31

dem Strafgesetzbuch und 2.269 jugendliche bzw. heranwachsende Täter zu einer Jugendstrafe, addiert also 24.695 Personen, verurteilt. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Strafe von 8.788 nach dem Strafgesetzbuch zu einer Freiheitsstrafe verurteilten erwachsenen Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt wurde.21 In Fällen der zu einer Jugendstrafe Verurteilten belief sich die Zahl der Strafaussetzung zur Bewährung auf 886 Fälle. Demnach wurde gegen 13.638 Erwachsenen und 1.383 Jugendlichen bzw. Heranwachsenden, insgesamt also gegen 15.021 Verurteilte, gegen die zuvor Untersuchungshaft angeordnet war, unmittelbar eine Freiheitsstrafe bzw. Jugendstrafe vollzogen. Das bedeutet, dass 2017 lediglich 51 % der verurteilten Untersuchungsgefangenen nach ihrer Verurteilung in den Strafvollzug übertraten22.23

IV. Dauer der Bescheidung von Rechtsbehelfen gegen die Untersuchungshaft Empirisch belegte aktuelle Statistiken darüber, wie viel Zeit die Bescheidung eines Haftprüfungsantrags oder eine Beschwerde in Anspruch nimmt, liegen nicht vor. Insbesondere geben die amtlichen Rechtspflegestatistiken hierüber keine Auskunft. Die jüngsten, belastbaren Erhebungen Gebauers24 veranschlagen für die Bescheidung einer Haftbeschwerde durchschnittlich acht Tage (Median: sechs Tage) und für die Bescheidung eines Haftprüfungsantrags 13 Tage (Median: zwölf Tage). Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese in den 1980er Jahren erhobenen Werte auf Grund der aktuellen Gesetzeslage nicht mehr zutreffen. Insbeziert. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass ein Untersuchungshaftbefehl auf mehrere Haftgründe gestützt werden kann. 21  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 414. 22  Der Klarstellung halber sei erwähnt, dass erneut nicht zwischen vollzogenem und außer Vollzug gesetztem Untersuchungshaftbefehl unterschieden werden kann, da die amtlichen Statistiken insoweit keine Differenzierung vornehmen. Ferner kann den Statistiken nicht entnommen werden, ob der Haftbefehl vor Antritt der Freiheitsstrafe (etwa mit Urteilserlass) aufgehoben wurde. 23  Im Jahr 2016 wurden nur 48,33 % der Untersuchungsgefangenen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2016, S. 408. Im Jahr 1985 wurden 56 % der Untersuchungsgefangenen zu einer vollstreckbaren Freiheitsstrafe verurteilt; vgl. Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S. 69. Die Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe nach Untersuchungshaft lag seit 1976 immer bei etwa 50 %; vgl. Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S. 41. Vgl. hinsichtlich der Entwicklung der nach Untersuchungshaft verhängten Sanktion bis 2006 insg. Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S. 39 f. 24  Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S. 284.

32

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

sondere kann vermutet werden, dass sich die Verteidigungspraxis im frühen Stadium der Untersuchungshaft auf Grund der Einführung der notwendigen Verteidigung ab Vollzug der Untersuchungshaft in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO im Jahr 201025 geändert hat. Zuvor waren in Gebauers Stichprobe aus den 1980er Jahren lediglich in etwa 70 % der Haftverfahren überhaupt ein Verteidiger beteiligt. Der Großteil der Verteidiger, nämlich insgesamt 47 %, waren zunächst als Wahlverteidiger beauftragt worden. Davon wurden 18 % später zum Pflichtverteidiger bestellt, als nach alter Rechtslage ein Fall der notwendigen Verteidigung eintrat. In 24 % der Fälle lag von Vornherein eine Pflichtverteidigung vor, wobei zu bemerken ist, dass der Pflichtverteidiger auf Grund der alten Rechtslage durchschnittlich erst 97 Tage nach Beginn des Vollzugs der Untersuchungshaft bestellt wurde.26 Nach der jüngeren empirischen Untersuchung Schoellers, der jedenfalls insoweit nicht zwischen Wahl- und Pflichtverteidigung unterschied27, wurden die Betroffenen im Jahr 2005 durchschnittlich 14 Tage, im Jahr 2009 durchschnittlich 16 Tage und im Jahr 2010 durchschnittlich 7 Tage nach Beginn der Haftvollstreckung verteidigt.28 Im Jahr 2010 waren sogar mehr als die Hälfte der Betroffenen bereits vor der Haftvollstreckung, die den Tatbestand der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO erfüllt, verteidigt.29

Die Feststellung, dass die Bescheidung eines Rechtsbehelfs gegen die Untersuchungshaft überhaupt Zeit in Anspruch nimmt und somit zu einer Verfahrensverzögerung führt, liegt jedoch auch ohne aktuellen empirischen Nachweis über die genaue Dauer der Bescheidung auf der Hand. Immerhin ist ein Richter mit der Prüfung des Rechtsbehelfs befasst und es ist ein Haftprüfungstermin anzuberaumen oder jedenfalls in der Regel die Staatsanwaltschaft – wie noch auszuführen sein wird30 – vor der Entscheidung anzuhören.

V. Schlussfolgerung Festzuhalten ist, dass sich eine Erklärung für die stetige relative Steigerung der Untersuchungshaftzahlen in den vergangenen Jahren in Anbetracht der sinkenden Aburteilungszahlen jedenfalls nicht aufdrängt. Auch eine 25  Siehe

oben ab S. 29. Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S.  313 f. 27  In der Studie Schoellers fanden nur Verfahren Berücksichtigung, in denen ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben war. Zwingend war jedoch nicht, dass auch ein Pflichtverteidiger beigeordnet war, vgl. Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 64 f. 28  Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 354 f., Abb. 47. 29  Schoeller, Die Praxis der Beiordnung von Pflichtverteidigern, S. 353 f., Abb. 46. 30  Siehe dazu unten ab S. 113. 26  Gebauer,



A. Statistiken33

stichprobenartige Auswertung der Verteilung der in den vergangenen Jahren abgeurteilten Delikte gibt keinen Aufschluss über die steigende Statistik. Beispielsweise lagen (vollendete) Straftaten wider das Leben nach den § 211 bis § 222 StGB der Untersuchungshaft in den Jahren 2015, 2016 und 2017 mit nur knapp über 1.100 Fällen verhältnismäßig selten zugrunde. Im Jahr 2008 war dies bei fast 1.500 Haftbefehlen der Fall.31 Auch nimmt die Dauer der Untersuchungshaft kontinuierlich zu. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass in den amtlichen Statistiken, die den hier angegebenen Zahlen zu Grunde liegen, nicht zwischen dem vollzogenen und dem außervollzuggesetzten Haftbefehl unterschieden wird. Des Weiteren ist überraschend, dass ein Tatverdächtiger, der vor seiner Verurteilung in Genuss der Unschuldsvermutung als Untersuchungshaftgefangener seiner Freiheit beraubt wird, später nur zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe oder gar nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Der Gedanke, dass die Untersuchungshaft in wenigstens einigen dieser Fälle nicht zwingend notwendig war, liegt auf Grund dieser Zahlen nahe.32 Je geringer die Intensität der drohenden Strafe, desto geringer dürfte auch die Wahrscheinlichkeit sein, dass der Betroffene die ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens beispielsweise durch Flucht oder Beweismittelver­ eitelung behindern wird. Droht zu knapp 50 % nur eine Bewährungs- oder Geldstrafe, so dürfte der Anreiz, dass Strafverfahren zu vereiteln bei lebensnaher Betrachtung gering sein. Wie noch auszuführen sein wird33, dient die Untersuchungshaft einzig34 dem Zweck, die ordnungsgemäße Durchführung des Strafverfahrens und anschließende Strafvollstreckung zu sichern. Sie hat (jedenfalls in der gesetz31  Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2002, Tab. 6.1.; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2003, S. 332; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2004, S. 336; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2005, S. 340; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2006, S. 340; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2007, S. 362; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2008, S. 366; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2009, S. 364; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2010, S. 360; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2011, S. 352; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2012, S. 368; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2013, S. 370; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2014, S. 368; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2015, S. 372; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2016, S. 374; Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 380. 32  Einen ähnlichen Gedanken formulieren die Autoren in Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 7, (diesem liegen die – ähnlichen – Statistiken aus dem Jahr 2013 zu Grunde) sowie Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S 41 ff. (diesem liegen die – ähnlichen – Statistiken bis zum Jahr 2006 zu Grunde). 33  Siehe dazu ab S. 67. 34  Mit Ausnahme des Haftgrundes des § 112a StPO; siehe dazu ab S. 96.

34

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

geberischen Konzeption35) keinen Strafcharakter. Aus diesem Grund ist auch das in der Praxis immer wieder hervorgebrachte Argument, die etwaig verbüßte Untersuchungshaft werde bei der Ermittlung der tat- und schuldangemessenen Strafe berücksichtigt und im Regelfall nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB angerechnet, systematisch jedenfalls dann verfehlt, wenn mit diesem Argument die gesamten nach Untersuchungshaft ausgesprochenen zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen (von knapp 32,87 %36) gerechtfertigt werden sollen. Gleiches gilt für das immer wieder auftauchende Phänomen, dass die eine Bewährungsstrafe erst ermöglichende positive Sozialprognose i. S. d. § 56 StGb gerade aus dem Eindruck entsteht, den die vollzogene Untersuchungshaft auf den Verurteilten gehabt hatte. In diesem Fall wird nach der Systematik der Strafprozessordnung durch die Untersuchungshaft ein Unschuldiger bestraft. Die verhängte Untersuchungshaft findet sodann zwar im Rahmen der Ermittlung der angemessenen Strafe nach § 46 StGB strafmildernd Berücksichtigung und wird im Regelfall auf eine etwaige Strafe gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB angerechnet. Auf diese Weise manifestiert sich im konkreten Einzelfall jedoch ihr Strafcharakter, der die Strafprozessordnung ihr gerade nicht zubilligt. Insofern bleibt festzuhalten, dass die Untersuchungshaft systemwidrig in zahlreichen Fällen tatsächlich eine Strafe für einen Unschuldigen darstellt.37 Die vorgenannten Statistiken zeigen, dass die Untersuchungshaft als strafprozessuale Maßnahme kein Schattendasein fristet, sondern in den vergangenen Jahren relativ betrachtet sogar vermehrt und länger verhängt wurde. Zugleich greift im Hinblick auf die Verurteilung die schlichte Berücksich­ tigung der Verurteilungsquote von Untersuchungsgefangenen zu kurz. Obgleich der Untersuchungshaft statistisch tatsächlich nur in Ausnahmefällen ein Freispruch folgt, nämlich im Jahr 2017 in 1,6 % der Fälle38, wiederfahren Untersuchungsgefangenen unterschiedliche Verurteilungen, die in Anbetracht der Eingriffsintensität der Untersuchungshaft teilweise überraschen. Die Entwicklung in den letzten Jahren belegt, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht zurückhaltender bei dem Erlass von Haftbefehlen geworden sind. Umso wichtiger ist, dass die dem Betroffenen zur Seite gestellten 35  Nach Seebode, Untersuchungshaft, S. 4, kommt der Untersuchungshaft bei tatsächlicher Betrachtung ein größerer Strafcharakter zu als der Freiheitsstrafe. 36  Zahlen entnommen und berechnet aus: Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S. 415. 37  Vgl. Hassemer, StV 1984, 38, 40; Seebode, StV 1989, 118. 38  Berechnet aus den Angaben in Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3 2017, S 414 f.; In den Vorjahren bewegte sich diese Zahl zwischen 1,2 % und 1,6 %, vgl. Kinzig/Stelly, StV 2017, 610, 614 [Schaubild 11: 2011 (1,2 %), 2012 und 2013 (1,4 %), 2014 (1,5 %) sowie 2015 (1,6 %)].



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 35

Rechtsbehelfe zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft in jeder Verfahrenslage geeignet sind, seine Rechte angemessen zu wahren. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass die Einlegung der Rechtsbehelfe nicht zu vermeidbaren Verfahrensverzögerung führt. Gefordert sind somit die Strafverfolgungsbehörden sowie die Gerichte, stetig im Einklang mit § 120 Abs. 1 StPO zu überprüfen, ob die verhängte Untersuchungshaft (noch) rechtmäßig ist. Auch den Gesetzgeber trifft die Pflicht, darüber zu wachen, ob die geltende Gesetzeslage dazu geeignet ist, den Erfordernissen der Rechtswirklichkeit Rechnung zu tragen und ggf. Abhilfe zu schaffen.39

B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 I. Die Reichsstrafprozessordnung von 1877 als Ausgangslage Da die Entwicklung der verschiedenen Strafprozessrechtsregime in den einzelnen Partikularstaaten bis zu der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 in ihrer Gesamtheit kaum nachvollzogen werden kann40, beginnt die hiesige Untersuchung der geschichtlichen Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit mit der Reichsstrafprozessordnung aus dem Jahr 1877. Diese vereinheitlichte durch ihre umfassende Geltung das Strafverfahren im gesamten Deutschen Reich.41 Zudem ist die Reichsstrafprozessordnung auch deshalb für den Beginn der geschichtlichen Untersuchung sinnvoll, weil sie gerade nicht aus den Quellen des deutschen Partikularrechts entsprungen ist, sondern aus einem eigenständigen Entwurf einer Reichsstrafprozessordnung.42

39  Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 – 2 BvR 2883/10 – 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295, 299 m. w. N.; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn.  17 f.; Seebode, StV 1989, 118, 118 ff. 40  Rüping/Jerouschek, Grundriss der Strafrechtsgeschichte, Rn. 248. 41  Entsprechende Bestrebungen der Vereinheitlichung des Strafprozessrechts existierten bereits zuvor seit 1868 im norddeutschen Bund; vgl. Motive zum Entwurf einer Strafprozeßordnung 29. Oktober 1874, S. 4, abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, S. 71; Schubert/Regge, Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877, S.  4 ff. 42  Vgl. Motive zum Entwurf einer Strafprozeßordnung 29. Oktober 1874, S. 4 f., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, S. 71. Auf eine ausführliche Darstellung der Entstehung der Reichsstrafprozeßordnung im Ganzen wird im Rahmen dieser Untersuchung verzichtet; vgl. hierzu: Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 304; Schubert/Regge, Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877, S. 1 ff.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

1. Maßgebliche Vorschriften der Reichsstrafprozessordnung (1877) a) Regelung der Haftrichterzuständigkeit In der Reichsstrafprozessordnung vom 1. Februar 1877, in Kraft getreten am 1. Oktober 1879, war die Zuständigkeit für den Erlass von Haftbefehlen in §§ 124, 125 RStPO geregelt. Hierbei regelte § 124 RStPO die Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls nach Anklageerhebung und § 125 StPO RStPO die Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls vor Anklageerhebung. §§ 124, 125 RStPO lauteten auszugsweise43: § 124 RStPO Abs. 1: „Die auf die Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen werden von dem zuständigen Gericht erlassen.“ Abs. 2: „In der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter zur Erlassung des Haftbefehls und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auch zur Aufhebung eines solchen sowie zur Freilassung des Angeschuldigten gegen Sicherheitsleistung befugt.“ […] § 125 RStPO Abs. 1: „Auch vor Erhebung der öffentlichen Klage kann, wenn ein zur Erlassung eines Haftbefehls berechtigender Grund vorhanden ist, vom Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder, bei Gefahr im Verzuge, von Amtswegen ein Haftbefehl erlassen werden.“ 43  Die vollständige Fassung der §§ 125,  § 124 RStPO: Abs. 1: „Die auf die Untersuchungshaft,

125 StPO RStPO (1877) lautete:

einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen werden von dem zuständigen Gericht erlassen.“ Abs. 2: „In der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter zur Erlassung des Haftbefehls und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auch zur Aufhebung eines solchen sowie zur Freilassung des Angeschuldigten gegen Sicherheitsleistung befugt. Versagt die Staatsanwaltschaft diese Zustimmung, so hat der Untersuchungsrichter, wenn er die beanstandete Maßregel anordnen will, unverzüglich, spätestens binnen vierundzwanzig Stunden, die Entscheidung des Gerichts nachzusuchen.“ Abs. 3: „Die gleiche Befugniß hat nach Eröffnung des Hauptverfahrens in dringenden Fällen der Vorsitzende des erkennenden Gerichts.“  § 125 RStPO: Abs. 1: „Auch vor Erhebung der öffentlichen Klage kann, wenn ein zur Erlassung eines Haftbefehls berechtigender Grund vorhanden ist, vom Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder, bei Gefahr im Verzuge, von Amtswegen ein Haftbefehl erlassen werden.“ Abs. 2: „Zur Erlassung dieses Haftbefehls und der auf die Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen ist jeder Amtsrichter befugt, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet ist oder der zu Verhaftende betroffen wird.“ Abs. 3: „Die Bestimmungen der §§ 114–123 finden entsprechende Anwendung.“



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 37 Abs. 2: „Zur Erlassung dieses Haftbefehls und der auf die Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen ist jeder Amtsrichter befugt, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet ist oder der zu Verhaftende betroffen wird.“ […]

Im Unterschied zu der aktuellen Gesetzeslage konnte die Anklageerhebung nach § 168 Abs. 1 RStPO allerdings entweder durch die Beantragung der Durchführung einer gerichtlichen Voruntersuchung oder durch die Einreichung einer Anklageschrift geschehen. Die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters nach § 124 Abs. 2 RStPO bestand während der gerichtlichen Voruntersuchungen der §§ 176 ff. RStPO44. Somit hatten nach der Reichsstrafprozessordnung in Fällen, in den eine gerichtliche Voruntersuchung vorgenommen wurde, nacheinander gemäß §§ 125, 125 RStPO drei verschiedene Richter die Haftkontrolle inne: Während des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens war zunächst der Amtsrichter, während einer etwaigen gerichtlichen Voruntersuchung sodann der Untersuchungsrichter und während des Hauptverfahrens zuletzt das Tatgericht für Entscheidungen bezüglich der Untersuchungshaft zuständig.45 Nach § 176 Abs. 1 RStPO war eine gerichtliche Voruntersuchung in allen Strafsachen obligatorisch, die in die (erstinstanzliche) Zuständigkeit des Reichsgerichts gemäß § 136 Abs. 1 Nr. 1 GVG (1877)46 oder des (damaligen) Schwurgerichts nach § 80 GVG (1877)47 fielen. Zudem konnten die Staatsanwaltschaft sowie der 44  § 176 RStPO lautete vollständig:  Abs.  1 „Die Voruntersuchung findet

in denjenigen Strafsachen statt, welche zur Zuständigkeit des Reichsgerichts oder der Schwurgerichte gehören.“ Abs. 2: „In denjenigen Strafsachen, welche zur Zuständigkeit der Landgerichte gehören, findet die Voruntersuchung statt: 1.  wenn die Staatsanwaltschaft dieselbe beantragt; 2.  wenn der Angeschuldigte dieselbe in Gemäßheit des § 199 beantragt und erhebliche Gründe geltend macht, aus denen eine Voruntersuchung zur Vorbereitung seiner Vertheidigung erforderlich erscheint.“ Abs. 3: „In den zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Sachen ist, außer dem Falle der Verbindung in Folge eines Zusammenhanges (§ 5), die Voruntersuchung unzulässig.“ 45  Vgl. Bennecke/von Beling, Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafprozessrechts, S.  180 f. 46  § 136 Abs. 1 Nr. 1 GVG (1877) lautete: Abs. 1: „In Strafsachen ist das Reichsgericht zuständig: 1.  für die Untersuchung und Entscheidung in erster und letzter Instanz in den Fällen des Hochverraths und des Landesverraths, insofern diese Verbrechen gegen den Kaiser oder das Reich gerichtet sind;“ 47  § 80 GVG (1877) lautete: „Die Schwurgerichte sind zuständig für die Verbrechen, welche nicht zur Zuständigkeit der Strafkammern oder des Reichsgerichts gehören.“

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

Beschuldigte die Durchführung einer gerichtlichen Voruntersuchung auch in Strafsachen, die in die Zuständigkeit der Landgerichte fielen, beantragen, vgl. § 176 Abs. 2 RStPO. In allen übrigen Strafsachen war die Durchführung einer gericht­ lichen Voruntersuchung gemäß § 176 Abs. 3 RStPO unzulässig. Die gerichtliche Voruntersuchung diente demselben Zweck wie das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren.48 Nach dem Gesetzgeber war das gerichtliche Vorverfahren wenigstens in bestimmten Fällen erforderlich, um die Staatsanwaltschaft zu entlasten und das Hauptverfahren vorzubereiten. Zudem ging der Gesetzgeber davon aus, dass ein Beschuldigter einem Staatsanwalt nicht das gleiche Vertrauen entgegenbringen werde, wie einem unabhängigen Richter.49 Im Laufe der Zeit verdrängte das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren die gerichtliche Voruntersuchung zunehmend und erwies sich als rechtsstaatlich nicht geboten und verfahrensverzögernd50, sodass diese durch das erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9. Dezember 197451 in Gänze abgeschafft wurde.

§ 126 RStPO52 enthielt zu diesem Zeitpunkt noch keine Zuständigkeitsregelungen, stand aber dennoch in einem engen Zusammenhang mit den Regelungen der §§ 124, 125 RStPO. Nach § 126 RStPO war die Dauer der Untersuchungshaft grundsätzlich auf eine Woche begrenzt, sofern diese vor Erhebung der öffentlichen Klage vollstreckt wurde und nicht binnen einer Woche Anklage erhoben wurde. Die Fortdauer der Untersuchungshaft über eine Woche hinaus war darüber hinaus nur zulässig, wenn diese durch den durch die Anklageerhebung zuständige gewordenen Richter angeordnet wurde und der Haftrichter beim Amtsgericht von dieser Anordnung Kenntnis erlangt

Demnach waren die Schwurgerichte insbesondere zuständig für Kapitalverbrechen, vgl. im Übrigen §§ 27, 73 ff., 136 GVG (1877). 48  von Hippel, Der deutsche Strafprozess, S. 486; Krattinger, Strafverteidigung im Vorverfahren, S.  70 f. 49  Motive des Entwurfs einer Strafprozeßordnung vom 29. Oktober 1874, S. 100, abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 58, 158. 50  Vgl. BT-Drs. 6/3478, S. 42; BT-Drs. 7/551, 2. 38, vgl. zu der Kritik an der gerichtlichen Voruntersuchung: von Hippel, Der deutsche Strafprozess, S. 495 ff. m. w. N. 51  BGBl. I Nr. 132 vom 11. Dezember 1974 S. 3393 bis S. 3415. 52  § 126 RStPO lautete: Abs. 1: „Der vor Erhebung der öffentlichen Klage erlassene Haftbefehl ist aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es beantragt, oder wenn nicht binnen einer Woche nach Vollstreckung des Haftbefehls die öffentliche Klage erhoben und die Fortdauer der Haft von dem zuständigen Richter angeordnet, auch diese Anordnung zur Kenntniß des Amtsrichters gelangt ist.“ Abs. 2: „Wenn zur Vorbereitung und Erhebung der öffentlichen Klage die Frist von einer Woche nicht genügt, so kann dieselbe auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Amtsrichter um eine Woche und, wenn es sich um ein Verbrechen oder Vergehen handelt, auf erneuten Antrag der Staatsanwaltschaft um fernere zwei Wochen verlängert werden.“



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 39

hatte. Anderenfalls war der Haftbefehl durch den nach § 125 Abs. 1 RStPO zuständigen Haftrichter beim Amtsgericht aufzuheben. Demnach war gesetzlich eine Untersuchungshaft, die ohne Anklageerhebung über eine Woche andauerte, grundsätzlich ausgeschlossen. Eine Verlängerung der Frist war auf (mehrfachen) Antrag der Staatsanwaltschaft auf maximal vier Wochen möglich, vgl. § 126 Abs. 2 RStPO. b) Sonstige relevante Regelungen Bereits die Reichsstrafprozessordnung sah grundsätzlich die Beschwerdemöglichkeit gegen amtsrichterliche Verfügungen vor, § 346 Abs. 1 RStPO53. Somit war insbesondere die Haftbeschwerde bereits in dem System der Reichsstrafprozessordnung zulässig. Zudem gestattete § 352 Abs. 1 RStPO54 dem Betroffenen die Einlegung der weiteren Beschwerde gegen Beschwerdeentscheidungen, sofern diese Verhaftungen betrafen. § 114 Abs. 1 RStPO55 regelte, dass der Betroffenen, der auf Grund eines Haftbefehls festgenommen wird, grundsätzlich bei der Verhaftung und spätestens am Tage nach seiner Einlieferung in das Gefängnis, über die Mög53  § 346 RStPO lautete: Abs. 1 „Die Beschwerde

ist gegen alle von den Gerichten in erster Instanz oder in der Berufungsinstanz erlassenen Beschlüsse und gegen die Verfügungen des Vorsitzenden, des Untersuchungsrichters, des Amtsrichters und eines beauftragten oder ersuchten Richters zulässig, soweit das Gesetz dieselben nicht ausdrücklich einer Anfechtung entzieht.“ Abs. 2: „Auch Zeugen, Sachverständige und andere Personen können gegen Beschlüsse und Verfügungen, durch welche sie betroffen werden, Beschwerde erheben.“ Abs. 3: „Gegen Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte und des Reichsgerichts findet eine Beschwerde nicht statt.“ 54  § 352 RStPO lautete: Abs. 1: „Beschlüsse, welche von dem Landgericht in der Beschwerdeinstanz erlassen sind, können, insofern sie Verhaftungen betreffen, durch weitere Beschwerde angefochten werden.“ Abs. 2: „Im Uebrigen findet eine weitere Anfechtung der in der Beschwerdeinstanz ergangenen Entscheidungen nicht statt.“ 55  § 114 RStPO lautete: Abs. 1: „Die Verhaftung erfolgt auf Grund eines schriftlichen Haftbefehls des Richters.“ Abs. 2: „In dem Haftbefehl ist der Angeschuldigte genau zu bezeichnen und die ihm zur Last gelegte strafbare Handlung sowie der Grund der Verhaftung anzugeben.“ Abs. 3: „Dem Angeschuldigten ist der Haftbefehl bei der Verhaftung und, wenn dies nicht thunlich ist, spätestens am Tage nach seiner Einlieferung in das Gefängniß, nach Vorschrift des § 35 bekannt zu machen und zu eröffnen, daß ihm das Rechtsmittel der Beschwerde zustehe.“

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

lichkeit zu unterrichten sei, gegen den Haftbefehl Beschwerde einlegen zu können. Ein Haftprüfungsverfahren kannte die Reichsstrafprozessordnung nicht. 2. Motive des Gesetzgebers der Reichsstrafprozessordnung (1877) Aus den Gesetzgebungsmaterialien zu der Reichsstrafprozessordnung wird deutlich, dass es dem Gesetzgeber im Wesentlichen darauf ankam, überhaupt richterliche Zuständigkeiten und klar definierte Voraussetzungen für die Untersuchungshaft zu regeln.56 Dieses Bedürfnis war offenbar noch ein Relikt der Inquisitionsprozesse, in denen dem Freiheitsrecht des verhafteten Betroffenen kein besonderes Gewicht beigemessen wurde.57 Indes kann den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber sich auch explizit mit den Auswirkungen der unterschied­ lichen Haftrichterzuständigkeiten auf die Beschwerdefähigkeit eines Haftbefehls auseinandergesetzt hat. Im ersten Entwurf der Reichsstrafprozessordnung vom 29. Oktober 187458 wurde noch begrifflich zwischen der Untersuchungshaft und der Verwahrungshaft (§§ 114, 115 des ersten Entwurfs) unterschieden. Nur letztere war nach § 115 Abs. 1 und 2 des ersten Entwurfs – zeitlich befristet auf zwei bis maximal sechs Wochen – vor der Erhebung der öffentlichen Anklage möglich. Aus den Gesetzgebungsmaterialien geht hervor, dass die Untersuchungshaft vor Erhebung der öffentlichen Anklage bislang in den Staaten des deutschen Reichs nicht vorgesehen war.59 56  Vgl. z.  B. Motive des Entwurfs einer Strafprozeßordnung vom 29. Oktober 1874, S. 68 f., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 58, 129 f.; sowie die Diskussionen im Reichstag, z. B. Protokolle der Kommission, Erste Lesung, Protokoll der 45. Sitzung vom 22. Juni 1875, 127, 130 ff., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 653, 657 ff. 57  Vgl. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 299; Seebode, Untersuchungshaft, S. 26 f.  58  Abgedruckt nebst Motiven und deren Anlagen in: Hahn, Gesamte Materialien I, S. 3 ff.; Motive des Entwurfs einer Strafprozeßordnung vom 29. Oktober 1874, S. 76 f., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 71, 137. 59  Protokolle der Kommission, Erste Lesung, Protokoll der 47. Sitzung vom 24. Juni 1875, 163, 165 ff., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 683, 685 ff.; Auch die seitens des Bundesrats eingesetzte StPO-Kommission beschäftigte sich im Rahmen der Verabschiedung des ersten Entwurfs der Strafprozeßordnung aus Januar 1873 (abgedruckt in Schubert/Regge, Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877, S. 113 ff.) mit der Frage, ob die Untersuchungshaft vor Anklageerhebung überhaupt zulässig sein soll; vgl. Protokolle der StPO-Kommission, 10. Sitzung vom 1. Mai 1873, abgedruckt in Schubert/Regge, Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877, S. 181 f.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 41

Die Untersuchungshaft sollte daher nach den Gesetzgebungsmaterialien insgesamt, aber insbesondere vor Erhebung der öffentlichen Anklage, die Ausnahme sein.60 Grund für die besonders restriktive Handhabung der Untersuchungshaft vor Anklageerhebung war nach den Gesetzgebungsmaterialien, dass in diesem Stadium noch kein Richter hinreichend mit der Sache befasst sei, um über eine dauerhafte Freiheitsentziehung entscheiden zu können.61 Mit der Verabschiedung der Reichsstrafprozeßordnung einigte man sich auf die gleichlautende Bezeichnung der Untersuchungshaft62, obgleich ihre Verhängung vor Anklageerhebung nur zeitlich befristet auf eine bis maximal vier Wochen63 möglich sein sollte, vgl. § 126 RStPO64. Allerdings führte § 168 Abs. 1 RStPO, wonach die Anklageerhebung entweder durch die Beantragung der Durchführung einer gerichtlichen Voruntersuchung oder durch die Einreichung einer Anklageschrift geschehen konnte, zu folgendem Ergebnis: Die Frist des § 126 RStPO konnte auch durch einen Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung der gerichtlichen Voruntersuchung nach § 176 RStPO eingehalten werden, sofern der Untersuchungsrichter innerhalb der Frist auch die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hatte und der Amtsrichter, der den Haftbefehl während des Ermittlungsverfahrens erlassen hatte, von dieser Anordnung Kenntnis erlangt hatte. In diesem Fall übernahm der Untersuchungsrichter die Haftkontrolle, § 124 Abs. 2 RStPO. Eine zeit­ liche Begrenzung für die gerichtliche Voruntersuchung gab es auch in Haftsachen jedoch nicht. In diesem Umstand sah im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens nur der Abgeordnete von Puttkamer ein Problem und beantragte aus Gründen der Beschleunigung der gerichtlichen Voruntersuchung insgesamt, auch die zulässige Dauer der gerichtlichen Voruntersuchung gegen verhaftete Betroffene durch die Einfügung eines weiteren Paragraphen auf vier Wochen zu begrenzen. Danach sollte die Strafkammer nach Vorlage der Akten im Abstand von jeweils zwei Wochen über die Fortdauer bzw. Aufhebung der UntersuchungsDünnebier, Das neue Recht der Untersuchungshaft, Vor §§ 112 ff. Anm. 1. der Kommission, Erste Lesung, Protokoll der 47. Sitzung vom 24. Juni 1875, 163, 165 ff., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 683, 685 ff. 62  Siehe bzgl. der Diskussion der Kommission über die Bezeichnung der Untersuchungshaft vor Anklageerhebung Fn. 59, S. 40; Bericht der Kommission vom 28. Oktober 1876, S. 27, abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien II, 1509, 1529. 63  Siehe bzgl. der Diskussion über die Länge der Frist: Protokolle der Kommission, Erste Lesung, Protokoll der 47. Sitzung vom 24. Juni 1875, 163, 165 ff., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 683, 685 ff.; Protokolle der Kommission, Zweite Lesung, Protokoll der 146. Sitzung vom 9. Juni 1876, 861, 868 ff., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien II, 1260, 1266 ff. 64  Siehe Fn. 52, S. 38. 60  Vgl.

61  Protokolle

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

haft entscheiden. Nach den Ausführungen des Abgeordneten von Puttkamer genügt die Möglichkeit der Haftbeschwerde gerade nicht, um die Rechte des Betroffenen angemessen zu wahren. Er sei regelmäßig nicht hinreichend über die Untersuchungen informiert, um zum richtigen Zeitpunkt (ggf. wiederholt) die Haftbeschwerde einzulegen.65 Hiergegen argumentiere der Abgeordnete von Schwarze, dass eine solche Frist einen unnützen Zwang auslöse. Zudem könne der Untersuchungsrichter aus der Verpflichtung der Vorlage der Akten an die Strafkammer dazu gezwungen werden, die Durchführung wichtiger Ermittlungen zu unterbrechen. Die Vorlage würde somit zu einer Verfahrensverzögerung führen, die jedenfalls dann vermeidbar sei, wenn die Haftfortdauer angeordnet werden würde. Die Möglichkeit, jederzeit gegen die Untersuchungshaft Beschwerde einlegen zu können, wahre die Rechte des Betroffenen ausreichend. Der Antrag des Abgeordneten von Puttkamer wurde ohne weitere Diskussion abgelehnt.66 Zudem wurde im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bezüglich der Reichsstrafprozessordnung über die Ausgestaltung der Vorrausetzungen der Untersuchungshaft debattiert. Insbesondere die genaue Formulierung des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr des § 112 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 RStPO, der auch schon in dem Entwurf der Reichsstrafprozessordnung vom 29. Oktober 187467 (dort § 101 Abs. 1) dem Grunde nach angelegt war, wurde ausgiebig zwischen den Abgeordneten diskutiert.68 Während der Entwurfstext die Annahme, der Betroffene werde die Tat verdunkeln, genügen ließ, entschied sich der Gesetzgeber dafür, für den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr in § 112 Abs. 1 Satz 1 Var. 2 RStPO nur zuzulassen, wenn dieser aus vorliegenden Tatsachen zu schließen sei.

3. Schlussfolgerung Obgleich die Auswirkungen des Zuständigkeitswechsels auf die Beschwerdefähigkeit zuvor erlassener Haftbefehle seitens des Gesetzgebers keine Aufmerksamkeit erfahren haben, dürfte dieses Problem auf Grund der Wochenfrist des § 126 Abs. 1 RStPO sowie der nur vereinzelt durchzuführenden 65  Protokolle der Kommission, Zweite Lesung, Protokoll der 146. Sitzung vom 9. Juni 1876, 861, 866 f., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien II, 1260, 1264 f. 66  Protokolle der Kommission, Zweite Lesung, Protokoll der 146. Sitzung vom 9. Juni 1876, 861, 866 f., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien II, 1260, 1265. 67  Abgedruckt nebst Motiven und deren Anlagen in: Hahn, Gesamte Materialien I, S.  3 ff. 68  Die Abgeordneten waren bestrebt, die Anforderungen an die Annahme des Haftgrund der Verdunkelungsgefahr klar und gleichzeitig hoch zu definieren, um den richterlichen Ermessensspielraum weitest möglich zu reduzieren; vgl. Protokolle der Kommission, Erste Lesung, Protokoll der 45. Sitzung vom 22. Juni 1875, 127, 127 ff., abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 653, 653 ff.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 43

gerichtlichen Voruntersuchung nach § 176 RStPO in der Praxis seltener vorgekommen sein, als nach der heute geltenden Gesetzeslage. Wie bereits erläutert, musste ein Haftbefehl, der während des Ermittlungsverfahrens auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch den gemäß § 126 RStPO zuständigen Amtsrichter erlassen wurde, nach einer bzw. maximal vier Wochen von Amts wegen aufgehoben werden, sofern nicht zwischenzeitlich die öffentliche Klage erhoben worden war, der nunmehr zuständige Richter die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hatte und diese Anordnung zur Kenntnis des Amtsrichters gelangt war. Somit war die Dauer der Untersuchungshaft während des Ermittlungsverfahrens grundsätzlich auf eine Woche beschränkt. In der Praxis dürften die wenigsten Betroffenen vor diesem Hintergrund die Einlegung einer Haftbeschwerde erwogen haben. Schließlich war eine weitere Entscheidung über die Untersuchungshaft durch ein anderes Gericht zeitnah jedenfalls dann zu erwarten, wenn keine gerichtliche Voruntersuchung durchgeführt wurde. Anders gestaltete sich die Situation aber gerade immer dann, wenn eine gerichtliche Voruntersuchung nach § 176 RStPO vorgenommen wurde. Die gerichtliche Voruntersuchung und auch die Dauer einer etwaigen Unter­ suchungshaft während der gerichtlichen Voruntersuchung war zeitlich nicht befristet. Ein entsprechender Antrag des Abgeordneten von Puttkamer wurde seitens der Kommission des Reichstags nicht angenommen.69 Endete die zeitlich nicht befristete gerichtliche Voruntersuchung in der Einreichung einer Anklageschrift beim Tatgericht seitens der Staatsanwaltschaft, ging die Haftkontrolle nach § 124 Abs. 1 RStPO auf das Tatgericht über. Die Situation der Einreichung der Anklageschrift nach durchgeführter gerichtlicher Voruntersuchung glich somit in Haftsachen dem heutzutage normierten Zuständigkeitswechsel mit Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Die Reichsstrafprozessordnung enthält genau wie die aktuelle Strafprozessordnung keine eindeutige Regelung dazu, wie in solchen Fällen nach Einreichung der Anklageschrift und der Übernahme der Zuständigkeit durch das Tatgericht nach § 124 Abs. 1 RStPO mit einer Beschwerde gegen den Haftbefehl bzw. eine Haftfortdauerentscheidung des Untersuchungsrichters umzugehen ist. Das gleiche galt für den Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung und die damit einhergehende Übernahme der Haftkontrolle des Untersuchungsrichters nach § 124 Abs. 2 RStPO. Nach den Regelungen der Reichsstrafprozessordnung – wenn auch über den Umweg der gerichtlichen Voruntersuchung – war der Betroffene der 69  Siehe zu einem entsprechenden Antrag auf eine Befristung der zulässigen Dauer der Untersuchungshaft des Abgeordneten von Puttkamer oben ab S. 41.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

gleichen Situation ausgesetzt, wie heutzutage zum Zeitpunkt Anklageerhebung. Den Gesetzesmaterialien ist nicht zu entnehmen, wie der Gesetzgeber diese Situationen behandelt wissen wollte. Denkbar ist durchaus, dass der Gesetzgeber diese Konstellation versehentlich nicht bedacht hat. Vor dem Hintergrund, dass in der Kommission des Reichstags im Rahmen des Vorschlags des Abgeordneten von Puttkamer70 sowohl die Problematik der unbefristeten gerichtlichen Voruntersuchung als auch die Haftbeschwerde thematisiert wurde, liegt diese Annahme sogar nahe. Auch der Kommentierung des Reichstagskommissionsmitglieds von Schwarze lassen sich keine entsprechenden Anhaltspunkte entnehmen. Vielmehr weist dieser an verschiedenen Stellen im Rahmen der Erläuterungen der Zuständigkeitsregelungen (§§ 124, 125 RStPO) darauf hin, dass dem Betroffenen stets die Beschwerde gegen den Haftbefehl zustehe, ohne auf die Folgen eines Zuständigkeitswechsels einzugehen.71

II. Änderung der Strafprozessordnung im Jahr 1926 Die Strafprozessreform im Jahr 192672 diente dem Zweck, den Betroffenen einen größeren Schutz vor Verhaftungen zu gewährleisten.73 1. Hintergrund der Reform Den Reichstagsprotokollen lässt sich entnehmen, dass die Reform der Untersuchungshaft in den 1920er Jahren durch verschiedene Ereignisse angestoßen wurde. Insbesondere der Tod des Reichsministers a. D. und ehemaligen Abgeordneten Anton Höfle in der Untersuchungshaft, die im Zusammenhang mit dem sogenannten Barmat-Skandal verhängt wurde, brachte die Untersuchungshaft 70  Siehe

oben ab S. 41. Schwarze, Commentar zu der Deutschen Strafprozeßordnung, RStPO, § 125 Bem. 3; § 126 Bem. 4. Auch andere Werke, wie etwa von Bennecke/von Beling, Lehrbuch des Deutschen Reichs-Strafprozessrechts lassen nicht erkennen, dass die Problematik auf Grundlage der RStPO bereits bekannt war. So werden dort ab S. 180 zwar die verschiedenen – durch die jeweilige Verfahrenslage bedingte – Haftrichterzuständigkeiten der §§ 124 f. RStPO erörtert und im Anschluss darauf hingewiesen, dass „auf die Haft bezüglichen Entscheidungen“ (S. 182) mit der Beschwerde anfechtbar seien. Weitere Erörterungen hinsichtlich der Auswirkungen eines Wechsels zwischen den verschiedenen Zuständigkeiten folgen jedoch nicht. 72  RGBl. I Nr. 70 vom 30. Dezember 1926, S. 530 bis 531. 73  Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 348. 71  von



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 45

in den Fokus des Gesetzgebers und stieß die Reformbestrebungen an.74 Daher wurde das Reformgesetz im Volksmund auch „Lex Höfle“ genannt.75 Zudem wurden in den Sitzungen des Reichsrats im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer Reform des Untersuchungshaftrechts auch Fälle thematisiert, in denen nach Auffassung der Abgeordneten Polizeibeamte während der vorläufigen Festnahme unlautere Ermittlungs- bzw. Vernehmungsmethoden (z. B. durch die stundenlange Vernehmungen des übermüdeten Betroffenen) angewendet hatten oder der Untersuchungshaftbefehl auf einer unzureichenden Verdachtsgrundlage basiert hatte.76 2. Relevante Gesetzesänderungen Die in §§ 124, 125 StPO (1926) geregelte Haftrichterzuständigkeit selbst erfuhr durch die Änderung der Strafprozessordnung während der Weimarer Republik im Jahr 1926 keine nennenswerten Änderungen.77 Allerdings wurde die Wochenfrist des § 126 RStPO aufgegeben und die Aufhebung des Haftbefehls vor Anklageerhebung nur noch von einem Antrag der Staatsanwaltschaft – wie in dem heutigen § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO – abhängig gemacht.78 § 126 StPO (1926) lautete somit: „Ist die öffentliche Klage noch nicht erhoben, so ist der Haftbefehl aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es beantragt. Gleichzeitig mit dem Antrag kann sie anordnen, daß der Beschuldigte freigelassen werde.“

Zudem wurde durch die Änderung der Strafprozessordnung im Jahr 1926 durch die §§ 114d ff. StPO (1926) das Haftprüfungsverfahren auf Antrag [§ 114d StPO (1926)] sowie von Amts wegen binnen bestimmter Fristen [§ 115a StPO (1926)] eingeführt.79 74  Deutsches

Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 389 1924, S. 5612. 109. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 30. November 1926 (S. 4), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 94 ff.; woraus sich ergibt, dass nach Auffassung der Ausschussmitglieder insb. im Volksmund die Bezeichnung „Lex Höfle“ geläufig war. 76  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 384 1924, S. 987 f. Vgl. zu der Kritik an den Regelungen der Untersuchungshaft der RStPO im Überblick: Alsberg, JW 1925, 1433 ff. 77  RGBl. I Nr. 70 vom 30. Dezember 1926, S. 530. 78  RGBl. I Nr. 70 vom 30. Dezember 1926, S. 531. 79  RGBl. I Nr. 70 vom 30. Dezember 1926, S. 530. Aus diesem Grund wurde § 124 StPO (1926) um folgenden Abs. 4 ergänzt: „Auch die mündliche Verhandlung über den Haftbefehl (§§ 114d, 115a) findet vor dem zuständigen Gericht statt. In der Voruntersuchung entscheidet im Falle des § 114d der Untersuchungsrichter, ohne an die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft gebunden zu sein; in den Fällen des § 115a entscheidet nicht der Untersuchungsrichter, sondern das Gericht.“ 75  Vgl.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

Nach § 115a Abs. 2 StPO (1926) war die Haftprüfung von Amts wegen erstmals vorzunehmen, wenn der Untersuchungshaftbefehl zwei Monate vollstreckt wurde. Danach war sie innerhalb einer seitens des zuständigen Gerichts zu bestimmenden Frist zwischen drei Wochen und drei Monaten bis zu der Eröffnung des Hauptverfahrens zu wiederholen, §§ 115a Abs. 3, 115b StPO (1926). 3. Gesetzgebungsverfahren und Motive der Reform a) Erster Entwurf vom 18. Juli 1925 Ein erster Entwurf80 wurde am 18. Juli 1925 von den Abgeordneten Schulte, Spahn, Emminger und Genossen in den Reichstag eingebracht (Reichstagsdrucksache Nr. 1219). Dieser enthielt keine Begründung. Dass Gesetzesentwürfe ohne entsprechende Begründung in den Reichstag eingebracht wurden, stellte nach den Recherchen der Verfasserin jedenfalls in der Mitte der 1920er Jahren keine Seltenheit, sondern vielmehr die Regel dar. Mit diesem Entwurf sollte das gesamt Untersuchungshaftrecht, also der neunte Abschnitt des ersten Buchs der Reichsstrafprozessordnung („Verhaftung und vorläufige Festnahme“), vollständig umgestaltet werden. Der Entwurf enthielt hinsichtlich der Haftrichterzuständigkeiten lediglich sprachliche Änderungen. So bestimmte § 19 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs81 bereits, dass nach Erhebung der öffentlichen Klage (für den Haftbefehl betreffenden Entscheidungen) das Gericht zuständig sei, das mit der Sache befasst ist. Somit war § 19 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs des Entwurfs beinahe wortgleich mit dem aktuellen § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Welche Motive sich die Initiatoren des Entwurfs mit dem Vorschlag dieser Formulierung im Einzelnen versprachen, bleibt mangels entsprechender Begründung des Gesetzgebungsentwurfs und Erörterung im Plenum ein Geheimnis. Zudem sah der Entwurf vom 18. Juli 1925 bereits ein Haftprüfungsverfahren (nur) von Amts wegen vor, § 21 des Entwurfs82. § 20 des Entwurfs83 regelte die Aufhebung des Haftbefehls vor Anklageerhebung und sollte § 126 RStPO ersetzen. Nach § 20 Abs. 1 des Entwurfs 80  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 403 1924, Anlage Nr. 1219. 81  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 403 1924, Anlage Nr. 1219,

S. 4.

82  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 403 1924, Anlage Nr. 1219,

S. 4.

83  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 403 1924, Anlage Nr. 1219,

S. 4.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 47

sollte der Amtsrichter vor Anklageerhebung weiterhin an einen Aufhebungsantrag der Staatsanwaltschaft gebunden sein.84 Zudem war der Haftbefehl nach § 20 Abs. 2 des Entwurfs ebenfalls aufzuheben, wenn nicht binnen vier (in bestimmten Übertretungsfällen binnen zwei) Wochen Anklage erhoben wurde und der Amtsrichter hiervon Kenntnis erlangt hatte. So hielt der erste Entwurf vom 18. Juli 1925 jedenfalls dem Grunde nach noch an dem Fristerfordernis des § 126 RStPO fest. Von dem Erfordernis des § 126 Abs. 1 RStPO, wonach das durch die Anklageerhebung zuständige Gericht zudem fristgemäß die Haftfortdauer beschließen müsse und der Amtsrichter hiervon Kenntnis haben musste, nahm der Entwurf vom 18. Juli 1925 allerdings Abstand. Möglichkeiten für eine Verlängerung der Frist über zwei bzw. vier Wochen hinaus sah § 20 Abs. 2 des Entwurfs – im Ergebnis wie § 126 Abs. 2 RStPO – jedoch nicht vor. Regelung über den konkreten Umgang mit Haftbeschwerden gegen den amtsrichterlichen Haftbefehl im Zusammenhang mit der Anklageerhebung enthält der erste Änderungsentwurf wie auch die Reichsstrafprozessordnung nicht. Hinsichtlich der weiteren Reformvorschläge des ersten Entwurfs vom 18. Juli 1925 wird auf diesen85 verwiesen, da sie für die hiesige Untersuchung nicht von Relevanz sind. b) Zweiter Entwurf vom 27. Juli 1925 Noch bevor über den ersten Entwurf zur Reform des Untersuchungshaftrechts vom 18. Juli 1925 im Plenum beraten werden konnte, brachten die Abgeordneten Landsberg, Rosenfeld, Müller und Genossen am 27. Juli 1925 einen zweiten Entwurf86 über eine entsprechende Reform in den Reichstag ein (Reichstagsdrucksache Nr. 1283). Auch dieser Entwurf enthielt keine Begründung und sollte den ganzen neunten Abschnitt des ersten Buchs der Reichsstrafprozessordnung („Verhaftung und vorläufige Festnahme“) ersetzen. Die Regelungen des zweiten Entwurfs vom 27. Juli 1925 ähnelten jedenfalls hinsichtlich Haftrichterzuständigkeit, der Frist des § 126 RStPO sowie der Haftprüfung denen des ersten Entwurfs vom 18. Juli 1925 erheblich.87

84  So bereits zuvor nach § 126 Abs. 1 RStPO und heute nach § 120 StPO Abs. 3 Satz 1 StPO. 85  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 403 1924, Anlage Nr. 1219. 86  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283. 87  Siehe oben ab S. 46.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

So änderten die Regelung der §§ 113, 123 des zweiten Entwurfs88 die Haftrichterzuständigkeiten der Reichsstrafprozessordnung ebenfalls nur sprachlich ab. § 123 Satz 2 Var. 1 des zweiten Entwurfs89 griff ebenfalls beinahe wortgleich die Formulierung des heutigen § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf. Zudem sah der zweite Entwurf neben der Haftprüfung von Amts wegen binnen bestimmter Fristen in § 12290 in § 115 Abs. 4 auch ein mündliches Haftprüfungsverfahren vor. Die Durchführung des mündlichen Haftprüfungsverfahrens konnte der Betroffene beantragen, wenn er neue Einwendungen („Tatsachen oder Beweismittel“) gegen den Haftbefehl bzw. seine Inhaftierung geltend machen konnte.91 § 121 Abs. 192 des zweiten Entwurfs sollte § 126 RStPO ersetzen. Bemerkenswert ist, dass nach dem zweiten Entwurf die Untersuchungshaft vor Erhebung der öffentlichen Anklage generell nur in bestimmten Fällen befristet sein sollte. Danach sollte sie bei Vergehen, die mit keiner schwereren Strafe als Freiheitsstrafe von bis zu drei Monaten oder Geldstrafe von RM 5.000,00, allein oder in Verbindung mit anderen Strafen bedroht sind, maximal vier (in bestimmten Übertretungsfällen zwei) Wochen zulässig sein. Wurde die Anklage innerhalb dieser Frist nicht erhoben bzw. hatte der Amtsrichter, der den Haftbefehl erlassen hat, über die Anklageerhebung keine Kenntnis, sollte dieser den Haftbefehl nach dem zweiten Entwurf aufzuheben haben. Auch in dem zweiten Entwurf wurde auf das Erfordernis des Haftfort­ dauerbeschlusses durch das durch die Anklageerhebung zuständig gewordene Gericht und die entsprechende Kenntnis des Amtsrichters – wie § 126 RStPO erforderte – verzichtet. Eine Verlängerung der Frist des § 121 Abs. 1 des zweiten Entwurfs war nach dem Entwurf ebenfalls nicht mehr möglich. Bei Straftaten, die mit einer schwereren Strafe bedroht waren, sollte die Untersuchungshaft auch vor Anklageerhebung jedoch an überhaupt keine Frist mehr gebunden sein. Weshalb die Begrenzung der Untersuchungshaft vor Anklageerhebung nach § 121 Abs. 1 des zweiten Entwurfs nur für bestimmte Delikte gelten

88  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283, S. 1, 3. 89  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283, S. 3. 90  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283, S. 3. 91  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283, S. 2. 92  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283, S. 3.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 49

sollte, kann mangels entsprechender Begründung nicht mehr nachvollzogen werden. § 121 Abs. 2 des Entwurfs93 begrenzte dem reinen Wortlaut nach die zulässige Dauer der Untersuchungshaft, die auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gestützt ist, auf zwei Monate. Ob die Initiatoren des Entwurfs hiermit lediglich unter systematischer Berücksichtigung des § 121 Abs. 1 des zweiten Entwurfs die Zeit vor der Anklageerhebung erfassen wollten oder die zulässige Dauer der Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr insgesamt unabhängig von dem jeweiligen Verfahrensstadium begrenzen wollte, ist mangels Begründung nicht (mehr) aufklärbar. Wie bereits der erste Entwurf enthält auch der zweite Entwurf keine Regelungen über den konkreten Umgang mit Haftbeschwerden gegen den amtsrichterlichen Haftbefehl im Zusammenhang mit der Anklageerhebung. Dies ist hinsichtlich des zweiten Entwurfs besonders hervorzuheben, da dieser die Befristung der Untersuchungshaft hinsichtlich einiger Straftaten gänzlich aufhebt. Im Gegensatz zu der Ausgangslage nach § 126 Abs. 1 RStPO, wonach die Untersuchungshaft vor Anklageerhebung grundsätzlich nur für die Dauer von einer bis vier Wochen zulässig war, hätten insbesondere diejenigen Betroffenen, deren Untersuchungshaft auf Grund Strafandrohung der dieser zugrundeliegenden Straftat überhaupt nicht befristet gewesen wäre, unter den Regelungen des zweiten Entwurfs vor Anklageerhebung ein erhebliches Interesse daran gehabt, eine Haftbeschwerde einzulegen. Wäre zu diesem Zeitpunkt Anklage erhoben worden, hätte sich bezüglich der Zuständigkeit für die Bescheidung der Beschwerde die gleiche Frage gestellt, wie nach dem heute geltenden § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Hinsichtlich der weiteren Reformvorschläge des zweiten Entwurfs vom 27. Juli 1925 wird auf diesen94 verwiesen, da sie für die hiesige Untersuchung nicht von Relevanz sind. c) Erste Lesung im Plenum des Reichstags Im Rahmen der ersten Lesung beider vorgenannten Entwürfe am 17. Februar 1926 in der 163. Sitzung des Reichstags wurden diese dem Rechtsausschuss überwiesen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Entwürfen fand in diesem Zusammenhang im Plenum des Reichstags nicht statt.95

93  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283,

S. 3.

94  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 404 1924, Anlage Nr. 1283. 95  Deutsches

Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 389 1924, S. 5648, 5674.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

d) Verhandlungen im Rechtspflegeausschuss Auf Grund hoher Arbeitsbelastung kam die Reform der Strafprozeßordnung erstmals in der 82. Ausschusssitzung am 7. Mai 1926 im Rahmen des Tagesordnungspunkts „Besprechung der Geschäftslage des Ausschusses“ ins Gespräch. Diese Ausschusssitzung diente der Priorisierung der offenen Themen. Die Reform der Untersuchungshaft wurde hierbei als „größere wichtigere Sache, die demnächst erledigt werden kann“ eingeordnet.96 Erstmals wurde über die Abänderung der Strafprozessordnung sodann als zweiter Tagesordnungspunkt in der 85. Ausschusssitzung am 8. Juni 1926 verhandelt – also etwa ein Jahr, nachdem die Entwürfe97 in den Reichstag eingebracht worden waren. Die Ausschussmitglieder kamen überein, dass das Kernstück beider vorgenannten Entwürfe die Einführung eines mündlichen Haftprüfungsverfahrens sei. Durch das Haftprüfungsverfahren sollte die Schutzlosigkeit der Betroffenen beseitigt werden. Der Staatssekretär des Reichsjustizministerium Joël stellte ein vollkommen neues Strafgesetzbuch in Aussicht, welches auch Änderungen der Strafprozessordnung zur Folge haben sollte. Dennoch entschieden sich die Ausschussmitglieder, die Reform jedenfalls im Hinblick auf die Einführung des mündlichen Haftprüfungsverfahrens zeitnah umzusetzen. Die Ausschussmitglieder stellten daher die beiden vorgenannten Entwürfe zurück, um ein neues Reformgesetz zu entwickeln, welches im Wesentlichen die Einführung des mündlichen Haftprüfungsverfahrens zum Gegenstand hatte. Die übrigen reformbedürftigen Punkte der Strafprozessordnung und auch des Untersuchungshaftrechts sollten zunächst zurückgestellt werden. Das Reichsjustizministerium wurde ersucht, eine entsprechende juristische Formulierung vorzubereiten. Zudem wurde ein Unterausschuss bezüglich der Strafprozessreform eingesetzt.98 Die Arbeiten in dem Unterausschuss liefen schleppend. Mehrere in die Tagesordnung aufgenommenen Berichte wurden nicht erstattet99 oder erschöpften sich in der Information, dass die Arbeit des Unterausschusses noch

96  82. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 7. Mai 1926 (S. 1), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S. 226 f. 97  Siehe Fn. 80, S. 46 und Fn. 86, S. 47. 98  85. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 8. Juni 1926 (S. 3 ff.), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S. 257 f. 99  So etwa in der 86. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 11. Juni 1926 (S. 1, 5), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S. 268, 270.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 51

nicht aufgenommen wurde100, der Referentenentwurf des Reichsjustizministeriums aber vorliege und die Arbeit nunmehr beginnen könne101. Im Ergebnis wurde die Reform bis zum Herbst 1926 nicht vorangebracht. Stattdessen brachten die Abgeordneten Stoecker, Höllein und Rosenberg sogar einen weiteren – wesentlich kürzeren – Gesetzesentwurf zu Reform der Untersuchungshaft in den Rechtsausschuss ein. Auch dieser enthielt keine Begründung. Nach diesem Entwurf (§ 112a Abs. 2) sollten die Schöffengerichte (nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung) für den Erlass eines Haftbefehls zuständig sein. Im Übrigen waren die Haftrichterzuständigkeiten der §§ 124, 125 RStPO sowie die Haftfrist des § 126 Abs. 2 RStPO von den Änderungen dieses Entwurfs nicht betroffen. Zudem wurden die Informationspflichten gegenüber dem Betroffenen erweitert (z. B. §§ 112c Abs. 3, 112d des Entwurfs). Ein Haftprüfungsverfahren bzw. eine sonstige weitere mündliche Verhandlung über den Haftbefehl auf Antrag oder von Amts wegen sah dieser Entwurf – im Unterschied zu den vorgenannten Entwürfen – jedoch nicht vor.102 Aus dem Bericht des Unterausschusses in der 96. Sitzung des Rechts­ pflegeausschusses am 21. Oktober 1926 geht hervor, dass im Unterausschuss diskutiert wurde, die Haftfristen des § 126 RStPO zu Gunsten der Einführung einer periodisch von Amts wegen durchzuführenden mündlichen Verhandlung über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu ersetzen. Dieser und wenige andere Punkte waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend geklärt, sodass der Unterausschuss weiter beriet.103 Der Unterausschuss beriet am 13. November 1926104 zum fünften und letzten Mal über die Strafprozessreform und legte dem Rechtspflegeaus-

100  So etwa in der 92. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 1. Juli 1926, abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S. 330. 101  So etwa in der 93. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 18. Oktober 1926, abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S. 342. 102  Nr. 274 der Ausschussdrucksachen (13. Ausschuss, III. Wahlperiode 1924/26), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S.  372 f. 103  96. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 21. Oktober 1926 (S. 1), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S. 380. Vgl. auch Protokolle der Sitzungen des Unterausschusses am. 18., 19. und 21. Oktober (1. bis 4. Sitzung), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 31 ff. 104  Protokoll der 5. Sitzung des Unterausschusses am 13. November 1926, abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 43.

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schuss am 20. November 1926 sodann einen eigenen Gesetzesentwurf105 vor, der bereits im Wesentlichen der sodann beschlossenen Reform entsprach. Insbesondere sah der Entwurf in § 115a das periodische Haftprüfungsverfahren und die Streichung der Frist des § 126 Abs. 2 RStPO vor. Die zunächst für den 26. November 1926106 anberaumte Abstimmung über den Gesetzesentwurf des Unterausschusses im Plenum des Rechtspflegeausschusses wurde sodann in der 109. Sitzung am 30. November 1926107 durchgeführt. Die offenen Gesetzesentwürfe Drucksachen Nr. 1219108, Nr. 1283109 sowie Nr. 274110 sollten durch den Gesetzesentwurf Nr. 343 des Rechtsausschusses aber nicht als zurückgenommen, sondern als vorläufig zurückgestellt gelten. In dem Bericht des Abgeordneten Wunderlich hieß es, die Haftfristen des § 126 Abs. 2 StPO seien durch die Einführung des Haftprüfungsverfahrens von Amts wegen in § 115a des Entwurfs des Unterausschusses gestrichen worden. Die Bestimmung des § 126 Abs. 2 RStPO habe „zur Folge, daß die Voruntersuchungen oft in der dritten und vierten Woche [nach Haftbefehlserlass vor Anklageerhebung] noch beantragt werden mußte und die Sache dann sehr verzögert“111 werde. In der der Abstimmung vorgelagerten Aussprache wurde kritisiert, dass die Änderungen der vorgenannten beiden Gesetzesentwürfe Drucksachen Nr. 1219112 und Nr. 1283113, die im Sommer 1925 in den Reichstag einge105  Nr. 343 der Ausschussdrucksachen (13. Ausschuss, III. Wahlperiode 1924/26), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S.  45 ff. 106  108. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 26. November 1926 (S. 9), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 75, 83. 107  109. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 30. November 1926 (S. 1 ff.), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 93 ff. 108  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd.  403 1924, Anlage Nr. 1219. 109  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd.  404 1924, Anlage Nr. 1283. 110  Nr. 274 der Ausschussdrucksachen (13. Ausschuss, III. Wahlperiode 1924/26), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 4 1926, S.  372 f. 111  109. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 30. November 1926 (S. 1), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 93. 112  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd.  403 1924, Anlage Nr. 1219. 113  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd.  404 1924, Anlage Nr. 1283.



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bracht wurden, nicht vollständig berücksichtigt wurden.114 Die Streichung der Haftfristen sowie die Haftrichterzuständigkeiten wurden im Rechtspflegeausschuss im Übrigen nicht mehr diskutiert. Deutlich wird jedoch, dass die Abgeordneten trotz der geäußerten Kritik hinsichtlich der übrigen Punkte der Entwürfe aus dem Sommer 1925 sich durch die Einführung des Haftprüfungsverfahrens eine deutliche Besserstellung des Betroffenen erhofften.115 Der Entwurf des Unterausschusses wurde sodann mit geringfügigen Änderungen durch den Rechtsausschuss angenommen.116 Die beschlossenen Änderungen wurden als Ausschussdrucksachen Nr. 354 bis 358 ebenfalls am 30. November 1926 niedergelegt.117 e) Verabschiedung der Reform Der Entwurf des Rechtsausschusses wurde dem Reichstag umgehend in einem Bericht vom 30. November 1926 vorgelegt.118 Er wurde unverändert ohne Wortmeldung in zusammengefasster zweiter und dritter Beratung im Plenum beschlossen.119 Nach Zustimmung durch den Reichsrat wurde die Reform des Untersuchungshaftrechts sodann in der seitens des Rechtsausschusses des Reichstags entwickelten Fassung bekanntgemacht.120 4. Schlussfolgerung Festzuhalten ist, dass auf Grund der Einführung des Haftprüfungsverfahrens auf Antrag sowie von Amts wegen durch die Strafprozessreform im Jahr 1926 die Rechte des Betroffenen, die gegen ihn verhängte Untersuchungshaft einer weiteren richterlichen Kontrolle zu unterziehen, grundsätzlich erweitert 114  109. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 30. November 1926 (S. 2 ff), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 93 ff. 115  Vgl. etwa 109. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 30. November 1926 (S. 4), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 94 f. 116  109. Sitzung des 13. Ausschusses (Rechtspflege) der III. Wahlperiode am 30. November 1926 (S. 9 f.), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 97 f. 117  Nr. 354 bis 358 der Ausschussdrucksachen (13. Ausschuss, III. Wahlperiode 1924/26), abgedruckt in Reichstag, Verhandlungen des Rechtspflegeausschusses, Bd. 5 1926, S. 98 f. 118  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd.  411 1924, Anlage Nr. 2779. 119  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 391 1924, S. 8652. 120  RGBl. I Nr. 70 vom 30. Dezember 1926, S. 530.

54

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

wurden. Nunmehr stand dem Betroffenen nicht nur die Haftbeschwerde zur Verfügung, die bereits die Reichsstrafprozessordnung kannte. Den Gesetzgebungsmaterialien ist jedoch erneut nicht zu entnehmen, wie der Gesetzgeber die Beschwerde gegen einen während des Ermittlungsverfahrens erlassenen Haftbefehl mit dem Übergang der Haftzuständigkeit durch die Erhebung der öffentlichen Klage – durch Einreichung der Klageschrift oder den Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung – behandelt wissen wollte. Die Streichung der Haftfristen des § 126 Abs. 2 RStPO wurden explizit damit begründet, dass diese die Staatsanwaltschaft häufig zu der Beantragung einer verfahrensverzögernden gerichtlichen Voruntersuchung zwangen und die Fristen durch die Einführung des Haftprüfungsverfahrens ohnehin obsolet seien121. Es ist davon auszugehen, dass der Weimarer Gesetzgeber die Problematik der Beschwerde gegen ermittlungsrichterliche Haftentscheidungen im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel ebenfalls übersehen hat. Auch sonstige Quellen, wie beispielsweise Kommentare und Lehrbücher aus der Zeit kurz nach der Reform aus dem Jahr 1926 geben keinen Aufschluss darüber, wie mit Haftbeschwerden im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel verfahren werden sollte.122 In Hippels123 Lehrbuch aus dem Jahr 1941 findet Erwähnung, dass der Zweck der Reform, den Schutz vor Verhaftung zu erhöhen, auf Grund der Abschaffung der Befristung des § 126 RStPO in das Gegenteil verkehrt worden sei, weil die Dauer der Untersuchungshaft (insbesondere während des Ermittlungsverfahrens) auf Grund dieser Streichung gestiegen sei. Dünnebier124 führte aus, dass jedenfalls die periodisch zu wiederholende Haftprüfung, die auch gegen den Willen des Betroffenen durchzuführen war, das Verfahren zu verzögern geeignet war. Vor einer entsprechenden Verzögerung warnte auch Noetzel125 kurz nach Inkrafttreten der Reform.

III. Zusammenbruch der Weimarer Republik Bis zum Ende der Weimarer Republik gab es weitere Bestrebungen, insbesondere das materielle Strafrecht, aber auch das Strafprozessrecht einer Totalreform zuzuführen. Die parlamentarische Arbeit an einer umfassenden Reform des materiellen Strafrechts begann im Juni 1927, drohte auf Grund 121  So

jedenfalls L-R 1928, § 126 Rn. 2. Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S. 500. 123  Hippel, Der deutsche Strafprozess, S. 56 (dort auch Fn. 6), S. 447. 124  Dünnebier, Das neue Recht der Untersuchungshaft, Vor § 112 Anm. 4. 125  Noetzel, DJZ 1927, 288, 289.

122  von



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 55

der Auflösung des III. Reichstags am 31. März 1928 zu enden. Dem Abgeordneten Kahl gelang es, das Gesetzgebungsverfahren durch ein verfassungsänderndes Gesetz in den IV. Reichstag überzuleiten.126 Am 20. Mai 1930 wurde dem Reichstag auch ein Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz127 zugeleitet. Dieser Entwurf enthielt auch Änderungen der Strafprozessordnung und insbesondere Änderungen des Untersuchungshaftsowie Beschwerderechts.128 Da der Entwurf eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz129 nie verabschiedet wurde, ist an dieser Stelle lediglich zu erwähnen, dass der Entwurf die grundsätzlichen Haftrichterzuständigkeiten der Strafprozessordnung aus dem Jahr 1926 nicht grundlegend reformieren sollte. So regelte beispielsweise § 113 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs bereits, dass die Haftkontrolle während des Revisionsverfahrens bei dem Gericht verbleibt, dessen Entscheidung angefochten wurde. § 113 Abs. 113 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs regelte demgegenüber, dass nach Abschluss der Voruntersuchung der Untersuchungsrichter so lange die Haftkontrolle behalte, bis die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift beim Tatgericht vorlegt.130 Nach der Begründung des Entwurfs handelt es sich bei diesen Reformvorschlägen nicht um eine grundlegende Änderung der Haftrichterzuständigkeit, sondern um eine Klarstellung.131 Auch § 124 des Entwurfs sollte die Zuständigkeit für weitere gerichtliche Entscheidungen über die Untersuchungshaft im Verhältnis zu dem geltenden Recht ausweislich der Begründung nicht grundlegend ändern. Nach § 124 Satz 2 des Entwurfs sollte beispielsweise 126  Schmidt,

Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 339. Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Anlage

127  Deutsches

Nr. 2070. 128  Art. 70 Ziff. 63 ff. (S. 19 ff.), Ziff. 159 ff. (S. 36 ff.) des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930, abgedruckt in Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Anlage Nr. 2070. 129  Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd.  442 1928, Anlage Nr. 2070. 130  Art. 70 Ziff. 64 (S. 20) des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930, abgedruckt in Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Anlage Nr. 2070. 131  Begründung zu Art. 70 Ziff. 64, 65 (S. 62 f.) des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930, abgedruckt in Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Zu Anlage Nr. 2070 Begründung.

56

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Übertragung der Haftrichterzuständigkeit während des Ermittlungsverfahrens – wie nach dem aktuellen § 126 Abs. 1 Satz 3 Alt. 1 StPO132 – möglich sein, wenn das Ermittlungsverfahren an einem anderen Ort geführt wird.133 Aus der Begründung geht hervor, dass mit dieser Regelung alleine den Bedürfnissen der Praxis Rechnung getragen werden sollte. Durch die Möglichkeit der Zuständigkeitsübertragung konnte die verfahrensverzögernde Aktenversendung und Einarbeitung des Haftrichters vermieden werden, der den Haftbefehl zwar erlassen hat, aber auf Grund der Tatsache, dass das Ermittlungsverfahren an einem anderen Ort geführt wurde, regelmäßig keine genaueren Kenntnisse über das Verfahren hatte.134 Den Gesetzgebungsmaterialien ist jedoch nicht zu entnehmen, dass bei den Änderungen der Strafprozessordnung die Auswirkungen eines Zuständigkeitswechsels auf die Beschwerdefähigkeit eines ermittlungsrichterlichen Haftbefehls im Fokus des Gesetzgebers stand.135 Auch der Begründung der Änderungen des Beschwerderechts ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen. Nach der Begründung handelte es sich lediglich um Anpassungen und Än­ derungen redaktioneller Natur, die für die hiesige Untersuchung nicht von ­Belang sind.136 Das Gesetzgebungsverfahren endete mit der Auflösung des IV. Reichstags im Juli 1930. Eine weitere Überleitung des Reformvorhabens in die neue Legislaturperiode erfolgte nicht. In den V. Reichstag wurde sodann erneut der Entwurf einer Reform des Strafgesetzbuchs eingebracht.137 Weitere Entwürfe hinsichtlich einer Reform der Strafprozessordnung wurden dem Weimarer Reichstag nach den Recherchen der Verfasserin nicht mehr zugeleitet. 132  Im Unterschied zu § 125 des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930 ist nach § 126 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 StPO eine Übertragung der Haftrichterzuständigkeit auf Antrag der Staatsanwaltschaft auch dann möglich, wenn die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollzogen wird; siehe dazu auch S. 75. 133  Art. 70 Ziff. 75 (S. 21) des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930, abgedruckt in Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Anlage Nr. 2070. 134  Begründung zu Art. 70 Ziff. 75 (S. 64.) des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930, abgedruckt in Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Zu Anlage Nr. 2070 Begründung. 135  Siehe Fn. 131, S. 55 und S. 134, S. 56. 136  Begründung zu Art. 70 Ziff. 159 ff. (S. 91.) des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930, abgedruckt in Deutsches Reich, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 442 1928, Zu Anlage Nr. 2070 Begründung. 137  Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 339.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 57

IV. Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegszeit Durch die ideologiegetriebene Gesetzgebung und die zahlreichen Notstandsverordnungen des Dritten Reichs verloren die Strafprozessordnung und die Rechtspflege insgesamt an Rechtsstaatlichkeit.138 So wurde im Jahr 1934 das erst durch die Reform Endes des Jahres 1926 eingeführte Haftprüfungsverfahren wieder vollständig gestrichen.139 Im Zuge der Aufhebung des Analogieverbots140 sogar im materiellen Strafrecht wurde im Jahr 1935 die Möglichkeit, Untersuchungshaft zu verhängen, noch einmal erweitert. Nunmehr war es möglich, einen Beschuldigten in Untersuchungshaft zu nehmen, wenn es durch „die Schwere der Tat und die durch sie hervorgerufene Erregung der Öffentlichkeit nicht erträglich wäre, [ihn] in Freiheit zu lassen“141. In der Richtline Nr. 72 des Reichsjustizministers wurde bezüglich dieses neuen Haftgrundes konkretisiert, dass dieser erfordere, dass es dem gesunden Volksbewusstsein widersprechen müsse, den Beschuldigten in Freiheit zu belassen.142 Dennoch blieben die vorgenannten Fassungen der §§ 124, 125, 126 StPO (1926) in diesem Zeitraum ihrem wesentlichen Inhalt nach unverändert. Es wurden lediglich die § 124 Abs. 3 und Abs. 4 StPO (1926) gestrichen. Dies war notwendige Folge der Abschaffung des Haftprüfungsverfahrens sowie des Verzichts auf den Eröffnungsbeschluss während des Dritten Reichs.143

V. Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland 1. Vereinheitlichungsgesetz aus dem Jahr 1950 Nach dem Ende des Nationalsozialismus, dem zweiten Weltkrieg und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurde die Strafprozessordnung durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts144 – kurz „Vereinheitlichungsgesetz“ genannt – aus 138  Siehe zu der Entwicklung des Strafverfahrensrechts während des Dritten Reichs Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 359. 139  RGBl. I Nr. 47 vom 24. April 1934, S. 341 ff. 140  RGBl. I Nr. 70 vom 5. Juli 1935, S. 844. 141  RGBl. I Nr. 70 vom 5. Juli 1935, S. 847; vgl. von Hippel, Der deutsche Strafprozess, S. 444. 142  Vgl. von Hippel, Der deutsche Strafprozess, S. 445. 143  BT-Drs. 1/530, Anlage Ia, S. 39. 144  Verkündet am 12. September 1950, vgl. BGBl. I Nr. 40 vom 20. September 1950 S. 479 bis S. 501 für die Änderungen durch das Gesetz zur Wiederherstellung

58

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

dem Jahr 1950 vollständig reformiert. Der vorrangige Zweck des Vereinheitlichungsgesetzes war, kurzfristig wieder eine rechtsstaatliche und bundesweit vereinheitlichte Grundlage für die deutsche Rechtspflege zu schaffen.145 Die Strafprozessordnung trat durch das Vereinheitlichungsgesetz im Wesentlichen wieder so in Kraft, wie sie vor der Zeit des Nationalsozialismus galt. Zeit für die Entwicklung einer vollständig reformierten Strafprozessordnung gab es nicht.146 Die §§ 124, 125, 126 StPO (1950) wurden durch das Vereinheitlichungsgesetz wieder vollständig auf den Stand der Strafprozessordnung aus dem Jahr 1926 gebracht.147 Somit wurde das erst 1926 eingeführte Haftprüfungsverfahren auf Antrag sowie von Amts wegen wieder eingeführt.148

der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts. Anlage 3 des BGBl. I Nr. 40 vom 20. September 1950 (S. 629 bis 675) enthält die gesamte Fassung der durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts modifizierten Fassung der Strafprozessordnung. 145  Vgl. BT-Drs. 1/530, Anlage Ia, S. 3, 33. 146  Vgl. BT-Drs. 1/530, Anlage Ia, S. 3, 33. 147  §§ 124, 125, 126 StPO (1950) lauteten vollständig: § 124 StPO (1950) Abs. 1: „Die auf die Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen werden von dem zuständigen Gericht erlassen.“ Abs. 2: „In der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter zur Erlassung des Haftbefehls und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auch zur Aufhebung eines solchen sowie zur Freilassung des Angeschuldigten gegen Sicherheitsleistung befugt. Versagt die Staatsanwaltschaft diese Zustimmung, so hat der Untersuchungsrichter, wenn er die beanstandete Maßregel anordnen will, unverzüglich, spätestens binnen vierundzwanzig Stunden, die Entscheidung des Gerichts nachzusuchen.“ Abs. 3: „Die gleiche Befugnis hat nach Eröffnung des Hauptverfahrens in dringenden Fällen der Vorsitzende des erkennenden Gerichts.“Abs. 4: „Auch die mündliche Verhandlung über den Haftbefehl (114d, 115a) findet vor dem zuständigen Gericht statt. In der Voruntersuchung entscheidet im Falle des § 114d der Untersuchungsrichter, ohne an die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft gebunden zu sein; in den Fällen des § 115a entscheidet nicht der Untersuchungsrichter, sondern das Gericht.“ § 125 StPO (1950) Abs. 1: „Auch vor Erhebung der öffentlichen Klage kann, wenn ein zum Erlaß eines Haftbefehls berechtigender Grund vorhanden ist, vom Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder bei Gefahr im Verzug von Amtswegen ein Haftbefehl erlassen werden.“ Abs. 2: „Zum Erlaß dieses Haftbefehls und der auf die Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen ist jeder Amtsrichter befugt, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet ist oder der zu Verhaftende betroffen wird.“ Abs. 3: „Die Bestimmungen der §§ 114 bis 123 finden entsprechende Anwendung.“



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 59

2. Reformversuch des dritten Bundestags im Jahr 1960 Am 17. August 1960 brachte die Bundesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes zur Reform der Strafprozessordnung und insbesondere des Untersuchungshaftrechts in den Bundestag ein.149 Der Entwurf beinhaltete auch die Einführung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in seiner noch heute aktuellen Fassung.150 Das durch die Bundesregierung initiierte Gesetzgebungsverfahren wurde allerdings nicht beendet, bevor die Legislaturperiode am 17. September 1961 durch die Wahl des vierten Bundestags endete. 3. Reform durch den vierten Bundestag im Jahr 1965 a) Hintergrund Am 6. Dezember 1961 brachten die Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP in den Bundestag erneut einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes ein. Der Entwurf enthielt keine Begründung und entsprach inhaltlich im Wesentlichen dem Entwurf der Bundesregierung vom 17. August 1960.151 Über diesen Antrag wurde nicht entschieden. Vielmehr verabschiedete der Bundestag den am 7. Februar 1962 von der Bundesregierung in den Bundestag eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes nach einigen Änderungen im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens. Der Entwurf nebst Begründung entsprachen im Wesentlichen ebenfalls dem bereits 1960 seitens der Bundesregierung initiierten Gesetzgebungsentwurf.152

§ 126 StPO (1950)  „Ist die öffentliche

Klage noch nicht erhoben, so ist der Haftbefehl aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es beantragt. Gleichzeitig mit dem Antrag kann sie anordnen, daß der Beschuldigte freigelassen werde.“ 148  BGBl. I Nr. 40 vom 20. September 1950 S. 483; vgl. BT-Drs. 1/530, Anlage I, S. 38 f., Anlage Ia, S. 34, 38. 149  BT-Drs. 3/2037. 150  BT-Drs. 3/2037, S. 6. 151  BT-Drs. 4/63. 152  BT-Drs. 4/178, S. 15.

60

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

b) Begründung aa) Allgemeines zu den Änderungen des Untersuchungshaftrechts Der Gesetzesbegründung ist zu entnehmen, dass Zweck der umfassenden Reform und Neufassung des Untersuchungshaftrechts insbesondere war, diese durch die Zusammenwirkung der geänderten Normen der Länge nach auf das kriminalapolitisch unbedingt notwendige Maß zu beschränken.153 So sah § 120 Abs. 1 des Entwurfs vor, dass die Verhältnismäßigkeit nicht nur bei Erlass des Haftbefehls, sondern auch während seiner Existenz stets vorliegen müsse.154 Durch das Gesetz sollte außerdem erstmals unter näher bestimmten Voraussetzungen155 die Haftprüfung von Amts wegen nach einer Untersuchungshaft von sechs Monaten durch das Oberlandesgericht eingeführt werden. Auch dieses Verfahren sollte dem allgemein erstrebten Zweck dienen, die Untersuchungshaft möglichst zu verkürzen.156 Der Gesetzesentwurf nimmt, wie auch bereits der Entwurf aus dem Jahr 1960157, bereits auf Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK158 Bezug.159 Nach Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK hat jeder vor seiner Verurteilung festgenommene Mensch das Recht, in einer angemessenen Frist abgeurteilt zu werden oder jedenfalls während des laufenden Verfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Insbesondere die Einführung der Haftprüfung von Amts wegen durch das Oberlandesgericht sollte in ihrer Zusammenwirkung mit den übrigen Änderungen des Entwurfs dazu dienen, die vorgenannten Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention einzuhalten.160 Somit ist festzuhalten, dass schon in den frühen 1960er Jahren dem Grundrecht auf körperliche Freiheit und dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen 153  BT-Drs.

4/178, S. 16 f. 4/178, S. 16. 155  Siehe zu dem besonderen Haftprüfungsverfahren der §§ 121, 122 StPO ab S. 99. 156  BT-Drs. 4/178, S. 5, 16, 25. 157  BT-Drs. 3/2037, S. 15. 158  Art. 5 Abs. 3 EMRK lautete damals: „Jede (…) festgenommene oder in Haft gehaltene Person muß unverzüglich einem Richter oder einem anderen, gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden. Er hat Anspruch auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftent­ lassung während des Verfahrens. (…)“; vgl. BGBl II Nr. 14 vom 22. August 1952, S. 688. Art. 5 Abs. 3 EMRK wurde in der Zwischenzeit lediglich redaktionellen Änderungen unterzogen. 159  BT-Drs. 4/178, S. 17. 160  BT-Drs. 4/178, S. 16 f. 154  BT-Drs.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 61

sowie den diesbezüglichen Bestimmungen der Menschenrechtskonvention erhebliche Aufmerksamkeit durch den Gesetzgeber zuteil wurde. bb) Zu den Änderungen der Haftrichterzuständigkeit Durch den Entwurf der Bundesregierung und dem später beschlossenen Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes wurde die Haftrichterzuständigkeit in den §§ 125, 126 StPO neu und umfassender geregelt. Nunmehr unterschieden die zwei Normen nicht mehr zwischen dem Erlass des Haftbefehls vor und nach der Anklageerhebung, sondern zwischen der Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls als solchen in § 125 des Entwurfs und der Zuständigkeit für weitere gerichtliche Entscheidungen und Maßnahmen, die den bereits erlassenen Haftbefehl betreffen, in § 126 des Entwurfs. Eine entsprechende Differenzierung vor und nach Anklage­ erhebung fand sich in den jeweiligen Normen. Die Entwurfsfassungen der §§ 125161, 126162 entsprachen damit im Wesentlichen den noch heute aktuel161  Die Abs. 1:

vollständige Fassung des § 125 StPO des Entwurfs lautete: „Vor Erhebung der öffentlichen Klage erläßt der Amtsrichter, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist oder der Beschuldigte sich aufhält, auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder bei Gefahr im Verzug von Amts wegen den Haftbefehl.“ Abs. 2: „Nach Erhebung der öffentlichen Klage erläßt den Haftbefehl das Gericht, das mit der Sache befaßt ist, und, wenn Revision eingelegt ist, das Gericht, dessen Urteil angefochten ist. In dringenden Fällen kann auch der Vorsitzende den Haftbefehl erlassen.“ Abs. 3: „In der Voruntersuchung erläßt der Untersuchungsrichter den Haftbefehl. Er bleibt auch nach dem Schluß der Voruntersuchungen zuständig, bis die Staatsanwaltschaft die Akten mit ihrem Antrag dem Gericht vorlegt.“ Vgl. BT-Drs. 4/178, S. 6. 162  Die vollständige Fassung des § 126 StPO des Entwurfs lautete: Abs. 1: „Vor Erhebung der öffentlichen Klage ist für die weiteren richterlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft oder auf die Aussetzung des Haftvollzugs (§ 116) beziehen, der Amtsrichter zuständig, der den Haftbefehl erlassen hat. Hat das Beschwerdegericht den Haftbefehl erlassen, so ist der Amtsrichter zuständig, der die vorangegangene Entscheidung erlassen hat. Wird das vorbereitende Verfahren an einem anderen Ort geführt oder die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollzogen, so kann der Richter, sofern die Staatsanwaltschaft es beantragt, die Zuständigkeit dem Amtsrichter dieses Ortes übertragen. Ist der Ort in mehrere Gerichtsbezirke geteilt, so bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung das zuständige Amtsgericht. Die Landesregierung kann diese Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltung übertragen.“ Abs. 2: „Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht zuständig, das mit der Sache befaßt ist. Nach Einlegung der Revision ist das Gericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist. Einzelne Maßnahmen, insbesondere nach § 119, ordnet der Vorsitzende an. In dringenden Fällen kann er auch den Haftbefehl aufheben oder den

62

1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

len Fassungen. Spätere Änderungen waren im Wesentlichen sprachlicher Natur oder sind auf die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung163 Anfang des Jahres 1975 zurückzuführen. Die Gesetzesbegründung der Bundesregierung enthält für den Entwurf der § 125, 126 StPO keine ausführliche Begründung. Die Begründung erschöpft sich weitestgehend in einer ausführlichen Wiedergabe des Wortlautes beider Normen.164 Hinsichtlich der Möglichkeit der Zuständigkeitsübertragung von einen Ermittlungsrichter auf einen anderen auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 126 Abs. 1 Satz 3 des Entwurfs165 enthält die Begründung die Erklärung, dass durch die Möglichkeit der Zuständigkeitsübertragung während des Ermittlungsverfahrens „nicht unwesentliche Verzögerungen des Verfahrens“166 durch Aktenversendungen und Verschubung der Untersuchungsgefangenen vermieden werden sollen.167 Daraus lässt sich folgern, dass der Gesetzgeber durch die Neufassung des § 126 StPO im Einklang mit dem allgemeinen Zweck des Reformentwurfs grundsätzlich keine Verfahrensverzögerung verursachen wollte. Konkrete Hinweise auf den Willen des Gesetzgebers zu dem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs enthält die Begründung nicht. Insbesondere zu dem Schicksal eines Beschwerdeverfahrens im Zusammenhang mit der Anklageerhebung und dem Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs verhält sich der Gesetzesentwurf nebst Begründung nicht.168

Vollzug aussetzen (§ 116), wenn die Staatsanwaltschaft zustimmt, anderenfalls ist unverzüglich die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen.“ Abs. 3: „Das Revisionsgericht kann den Haftbefehl aufheben, wenn es das angefochtene Urteil aufhebt und sich bei dieser Entscheidung ohne weiteres ergibt, daß die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 vorliegen.“ Abs. 4: „In der Voruntersuchung ist der Untersuchungsrichter zuständig. § 125 Abs. 3 Satz 2 gilt entsprechend.“ Abs. 5: „Die §§ 121 und 122 bleiben unberührt.“ Vgl. BT-Drs. 4/178, S. 6. 163  Siehe oben S. 37. 164  BT-Drs. 4/178, S. 26 f. 165  Siehe Fn. 162, S. 61. 166  BT-Drs. 4/178, S. 27. 167  Diesen Gedanken hatten bereits die Initiatoren des Entwurfs eines Einführungsgesetzes zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz vom 20. Mai 1930; siehe oben ab S. 54. 168  BT-Drs. 4/178, S. 27.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 63

c) Gesetzgebungsverfahren In seiner Stellungnahme kritisierte der Bundesrat die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für die Haftprüfung von Amts wegen nach sechs Monaten und schlug vor, auch die Haftprüfung von Amts wegen durch das (erst­ instanzlich) zuständige Gericht, welches den Haftbefehl erlassen hat, vornehmen zu lassen.169 Er führte zur Begründung an, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts führe zu unvertretbaren Verzögerungen des Verfahrens.170 Hierauf entgegnete die Bundesregierung, die in Einzelfällen durch die Haftprüfung von Amts wegen durch das Oberlandesgericht auftretende Verfahrensverzögerung sei hinzunehmen, da durch Haftprüfungsverfahren von Amts wegen insgesamt eine Verkürzung der Untersuchungshaft zu erwarten sei.171 Die Bundesregierung sah eine Parallele zu Fällen, in denen der Beschuldigte selbst eine Verzögerung durch eine (weitere) Beschwerde zum Oberlandesgericht herbeiführt.172 Am 1. März 1963 bzw. 7. März 1963 folgte der schriftliche Bericht des Rechtsausschusses über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes.173 Der ebenfalls eingebrachte Entwurf der Fraktionen174 sollte durch Beschluss für erledigt erklärt werden. § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO des Entwurfs wurde von dem Bericht des Rechtsausschusses nicht tangiert. Der Ausschuss reagierte auf die Diskussion über drohenden Verfahrensverzögerungen gerade im Zusammenhang mit dem Haftprüfungsverfahren vor dem Oberlandesgericht nach §§ 121, 122 des Entwurfs mit dem Vorschlag, Zweitschriften der Akten zu fertigen und beließ die Zuständigkeit für die Haftprüfung von Amts wegen nach sechs Monate andauernder Untersuchungshaft entgegen dem Vorschlag des Bundesrats beim Oberlandesgericht.175 Nach der zweiten Beratung des Bundestags wurden die Änderungen des Rechtsausschusses ohne Änderungen an der allgemeinen Haftrichterzuständigkeit bzw. Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für die Haftprüfung von 169  BT-Drs. 4/178, S. 49; wobei der Änderungsvorschlag unverständlich erscheint, da der Entwurf ohnehin in § 117 des Entwurfs eine monatliche Haftprüfung von Amts wegen durch den zuständigen Haftrichter vorsah (BT-Drs. 4/178, S. 4) und die Stellungnahme des Bundesrates sich dazu nicht verhält. 170  BT-Drs. 4/178, S. 49. 171  BT-Drs. 4/178, S. 51. 172  BT-Drs. 4/178, S. 51. 173  BT-Drs. 4/1020, Bericht zu BT-Drs. 4/1020. 174  Siehe S. 59. 175  Bericht zu BT-Drs. 4/1020, S. 3.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

Amts wegen nach sechsmonatiger Untersuchungshaft übernommen.176 Auch die auf die zweite Beratung des Bundestages folgenden Beschlüsse des Rechtsausschusses vom 16. Juni 1964 nebst Bericht vom 22. Juni 1964 enthielten diesbezüglich keine weiteren Änderungen.177 Ebenso verhält es sich mit dem Bericht des Vermittlungsausschusses vom 5. November 1964.178 §§ 125, 126 StPO in der Fassung des Entwurfs waren somit nicht mehr Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens, sodass sie in der Fassung des ersten Entwurfs im Rahmen des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes am 1. April 1965 in Kraft traten.179 Seither blieb § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO unverändert. Zudem geriet die Problematik des Zuständigkeitswechsels nicht mehr explizit in den Blick des Gesetzgebers. An dieser Stelle sollte jedoch nicht verschwiegen werden, dass die Vorschrift des § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO im Jahre 2009 einer umfassenden Reform unterzogen wurde und seither mit § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO eng verbunden ist. Im Zuge der Reform des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009180 wurde der § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO dem § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO wortgleich nachempfunden. Den Gesetzgebungsmaterialien ist die Bezugnahme auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs181 zu entnehmen.182 Auf diesen wird später noch einzugehen sein. Die Bundesregierung begründete ihren ersten Entwurf des § 162 StPO, der am 1. Januar 2010 auch in dieser ersten Fassung in Kraft getreten ist, wie folgt: „§ 162 Abs. 1 StPO bestimmt seinem Wortlaut nach die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht für die Anordnung gerichtlicher Untersuchungshandlungen, ohne nach den unterschiedlichen Stadien des Strafverfahrens zu differenzieren. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGHSt 27, 253)183 endet die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters nach § 162 Abs. 1 StPO dagegen mit der Anklageerhebung und geht auf das jeweils mit der Sache befasste Gericht über. Der Entwurf trägt dem Rechnung und regelt in § 162 Abs. 1 StPO-E die Zuständigkeit für richterliche Ermittlungshandlungen vor Anklageerhebung und in Absatz 3 die 176  BT-Drs.

4/1171. 4/2378, Bericht zu BT-Drs. 4/2378. 178  BT-Drs. 4/2699. 179  BGBl I Nr. 63 vom 31. Dezember 1964, S. 1067 bis 1080. 180  BGBl I Nr. 48 vom 31. Juli 2009, S. 2274 bis 2279. Durch dieses Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009 wurde auch die notwendige Verteidigung in Untersuchungshaftfällen reformiert; siehe dazu oben S. 29. 181  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – 1 StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 182  BT-Drs. 16/11644, S. 14, 35. 183  Gemeint ist BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – 1 StE 2/77 – StB 196/ 77, NJW 1977, 2175. 177  BT-Drs.



B. Geschichtliche Entwicklung der Haftrichterzuständigkeit seit 1877 65 Zuständigkeit für die Zeit nach der Anklageerhebung entsprechend der genannten Rechtsprechung.“184

4. Schlussfolgerung Es bleibt festzuhalten, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens entsprechend des Zwecks des Gesetzesentwurfs, die Untersuchungshaft auf das kriminalpolitisch notwendige Maß zu begrenzen185, etwaig mögliche Verzögerungen diskutiert wurden. Entsprechende Diskussionen rankten sich insbesondere um die Zuständigkeit der Haftprüfung von Amts wegen nach sechsmonatigem Vollzug der Untersuchungshaft vor Erlass eines erstinstanzlichen Urteils (§§ 121, 122 StPO). In diesem Rahmen gestand die Bundesregierung ein, eine etwaige Verzögerung durch das oberlandesgerichtliche Haftprüfungsverfahren sei – genau wie durch die Einlegung der (weiteren) Beschwerde gegen den Haftbefehl – in Kauf zu nehmen, um die Untersuchungshaft insgesamt zu verkürzen.186 Mögliche Verzögerungen durch die neue Zuständigkeitsregelung des § 126 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs wurden jedoch weder diskutiert, noch entsprechend der möglichen Verzögerung durch die Ausschöpfung des Beschwerderechtszugs eingestanden. Auf Grund dessen ist anzunehmen, dass etwaige Verzögerungen durch § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht als Problem erkannt wurden.

VI. Zusammenfassende Stellungnahme Aus der Untersuchung der Gesetzgebungshistorie ergibt sich, dass die schon in §§ 124, 125 RStPO grundsätzlich angelegte Haftrichterzuständigkeit bis heute fort gilt. Auch der Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ergab sich – obwohl die diesen klarstellende Norm erst im Jahr 1965 eingeführt wurde – systematisch bereits vor dessen Einführung aus der Haftrichterzuständigkeit der bis in das Jahr 1965 geltenden Fassungen. In jeder dargestellten Fassung der Strafprozessordnung war die Anklageerhebung die Zäsur, welche eine neue Haftzuständigkeit begründete.187 Es hat 184  BT-Drs.

16/11644, S. 14. 4/178, S. 15. 186  BT-Drs. 4/178, S. 51. 187  Vgl. bzgl. der Haftrichterzuständigkeit nach dem Vereinheitlichungsgesetz im Jahr 1950: OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe dazu ab S. 192); ferner: Tillmann, in: L-R I 1958, § 124 Anm. 6; § 125 Anm. 5; Schwarz, StPO 1956, § 125 Rn. 1; Erbs, Handkommentar zur StPO, § 124 Anm. I, § 125 Anm. III; Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, § 124 Erl. 4, 7; KMR 1954, § 124 Anm. 1 b); Hartung, Untersuchungshaft, § 125 Anm. 4c. 185  BT-Drs.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

lediglich die konkrete „Zuständigkeitsübertragungsnorm“ des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO gefehlt. Die Einführung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO dürfte daher – auch wenn die Gesetzgebungsmaterialien hierzu schweigen – insbesondere klarstellenden Zwecken gedient haben. Wie dargestellt, hat § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO seit 1965 keine Änderungen mehr erfahren. Auch im Übrigen hat die in den §§ 125, 126 StPO geregelte Haftrichterzuständigkeit keine bedeutenden inhaltlichen Änderungen erfahren. Insbesondere bildet die Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft die maßgebliche Zäsur bezüglich des Zuständigkeitswechsels vom Ermittlungsrichter zum Tatgericht, ohne dass das Schicksal zu diesem Zeitpunkt anhängiger Rechtsbehelfe gegen den haftrichterlichen Haftbefehl gesetzlich geregelt ist. Es dürfte wohl nicht mehr mit letzter Sicherheit aufklärbar sein, ob der historische Gesetzgeber diese Problematik schlichtweg übersehen hat oder dessen Lösung bewusst der Praxis überlassen hat. Entsprechende Motive sind den Gesetzgebungsmaterialien zu der Entwicklung der Reichsstrafprozessordnung, zu den späteren Änderungen der Strafprozessordnung im Jahr 1926 sowie zuletzt zu der Einführung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO soweit ersichtlich jedenfalls nicht zu entnehmen. Da aber jeweils entweder die Stärkung der Rechte des Betroffenen oder die Verkürzung der Untersuchungshaft Hauptzweck der dargestellten Reformen waren, die Problematik aber nie Eingang in die seitens der Verfasserin aufgefundenen Materialien gefunden hat, sprechen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die Problematik dem Gesetzgeber nicht bewusst war und vermutlich auch bis heute nicht in ihrer ganzen Tiefe bewusst ist. Für diese Annahme spricht auch, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO, der wortgleich mit § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ist, lediglich darauf verwies, die Praxis der Rechtsprechung normieren zu wollen. Eine Auseinandersetzung mit der Parallelnorm des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und deren Anwendung in der Praxis hat offenbar auch in diesem Rahmen nicht stattgefunden. Auch im Rahmen der aktuellen Reformbestrebungen, denen erneut die Verfahrensbeschleunigung als primäres Ziel zu Grunde liegt, steht eine Reform des Haftbeschwerdeverfahrens im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel bzw. der Haftrichterzuständigkeiten soweit ersichtlich nicht in der Diskussion.188

188  Vgl. RefE: Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens (8. August 2019), S.  17 f.



C. Legitimation und Grenzen der Untersuchungshaft 67

C. Legitimation und Grenzen der Untersuchungshaft I. Zweck der Untersuchungshaft Die Untersuchungshaft ist die eingriffsintensivste strafprozessuale Maßnahme. Ihr Zweck ist „die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen“189. Sie dient somit einer funktionsfähigen Strafrechtspflege. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet den Staat zu der Gewährleistung eines funktionierenden Strafrechtspflegesystems. Die verschiedenen Haftgründe der §§ 112 ff. StPO und übrigen gesetz­ lichen Voraussetzungen190 der Untersuchungshaft sollen sicherstellen, dass dieser Zweck erfüllt wird.191 Ist die Entziehung der Freiheit des Betroffenen durch diesen Zweck nicht mehr gerechtfertigt, ist die Untersuchungshaft aufzuheben.192 189  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243, 244; BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1971 – 2 BvR 233/71, BeckRS 1971, 103621; BVerfG, Beschluss vom 29. Juni 1995 – 2 BvR 2537/94, BeckRS 1995, 22777; BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2000 – 2 BvR 1706/00, NJW 2001, 1341; BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; BGH, Urteil vom 28. April 1987 – 5 StR 666/86, NJW 1987, 2525, 2526; BGH, Urteil vom 14. Oktober 1992 – 2 BGs 389/92, StV 1993, 32 (nur bzgl. der Sicherung der ordnungsgemäßen Verfahrensdurchführung); BGH, Urteil vom 29. April 2009 – 1 StR 701/08, NJW 2009, 2463, 2466; OLG München, Beschluss vom 21. Oktober 1980 – 2 Ws 1077/80, StV 1981, 183; OLG Hamm, ­Beschluss vom 23. März 1990 – 2 Ws 100/90, BeckRS 2015, 04671; OLG Hamm, Beschluss vom 15. Juli 2008 – 1 Ws 469, 472/08, BeckRS 2008, 23825; OLG Dresden, Beschluss vom 03. März 2009 – 2 Ws 84/09, BeckRS 2009, 10684; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 112 Rn. 4; Graf, in: KK 2019, Vor § 112 Rn. 11, § 112 Rn. 1a; Wankel, in: KMR II 2019, Vor § 112 Rn. 5; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 2; Herrmann, in: SSW 2018, Vor §§ 112a Rn. 7; Seebode, Untersuchungshaft, S. 7; a. A. Paeffgen, in: SK II 2016, Vor §§ 112 ff. Rn. 5 ff, 11 f., der das Ziel, auch die spätere Strafvollstreckung zu sichern, als einen mit der Unschuldsvermutung unvereinbaren Zweck der Untersuchungshaft ansieht. 190  Siehe zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft im Einzelnen ab S. 72. 191  Vgl. (st. Rspr.): BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243, 244 ff.; BVerfG, Beschluss vom 30. Mai 1973 – 2 BvL 4/73, NJW 1973, 1363, 1364 f.; BVerfG, Beschluss vom 19. Juni 1979 – 2 BvR 1060/78, NJW 1979, 2349; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 16; Di Fabio, in: Maunz/Dürig I, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 51. 192  Vgl. insb. die Entscheidungen des BVerfG in Fn. 189, S. 67; ferner MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 112 Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 120 Rn. 2; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 2 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, Vor §§ 112 ff. Rn. 9; Herrmann, in: SSW 2018, Vor §§ 112a Rn. 7; Lorenz, in: BK II,

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

Die Rechtsprechung bezeichnet die Untersuchungshaft jedenfalls in den Fällen, in denen keine Verurteilung erfolgt und auch sonst keine Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen geschuldet ist193, als Sonderopfer.194

II. Grenzen der Untersuchungshaft Trotz der vorgenannten Legitimation der Untersuchungshaft steht sie im Spannungsverhältnis zu Grundrechten und verfassungsrechtlichen Grundsätzen, da ein Unschuldiger seiner Freiheit entzogen wird. Sie steht somit im Konflikt mit der Unschuldsvermutung. Nach dieser gilt auch ein Straftäter vor dem Gesetz so lange als unschuldig, bis er rechtskräftig verurteilt wurde. Die Unschuldsvermutung ist in Art. 6 Abs. 2 EMRK normiert und folgt zudem als elementarer Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG.195 Die Untersuchungshaft stellt zudem einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte körperliche Freiheit des Betroffenen nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dar.196 Nur so lange die im Folgenden noch Art. 2 Rn. 839; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 2 Abs. 2 Rn. 109 f.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig I, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 53. 193  Eine Entschädigung ist nach § 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG ausgeschlossen, wenn der Betroffene die Untersuchungshaft selbst vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Des Weiteren ist sie nach § 5 Abs. 3 Satz 1 StrEG ausgeschlossen, wenn der Betroffene die Untersuchungshaft schuldhaft verursacht hat, indem er einer ordnungsgemäßen Ladung vor den Richter nicht Folge geleistet oder einer Anweisung nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, Abs. 3 StPO zuwidergehandelt hat, vgl. § 5 Abs. 3 StrEG. 194  BGH, Urteil vom 22. Februar 1973 – III ZR 162/70, NJW 1973, 1322; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 28. In der Literatur wird die von der Rechtsprechung praktizierte Differenzierung trotz Verweis auf das vorgenannte Urteil des BGH teilweise nicht vorgenommen und die Untersuchungshaft grundsätzlich als Sonderopfer bezeichnet: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 112 Rn. 3; Hermann, in: SSW 2018, Vor § 112 Rn. 3; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 1; Seebode, Untersuchungshaft, S. 13; Hassemer, StV 1984, 38, 40; a. A. außer im Falle der rechtswidrigen Untersuchungshaft Paeffgen, Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts, S. 211 ff., 237 f.; 255 ff. und in: SK II 2016, Vor §§ 112 ff. Rn. 32, nach dem die Untersuchungshaft eine (Anscheins-)Störerinanspruchnahme darstellt. 195  BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17, BeckRS 2017, 136740; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 112 Rn. 1; Graf, in: KK 2019, Vor § 112 Rn. 8; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 4; vgl. Seebode, Untersuchungshaft, S. 2. Teilweise wird die Unschuldsvermutung auch aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet und ist in einigen Landesverfassungen sogar gesetzlich geregelt, z. B. in Art. 20 Abs. 2 Hess. LVerf., vgl. Paeffgen, in: SK II 2016, Vor §§  112 ff. Rn.  21 m. w. N. 196  Statt vieler: BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17, BeckRS 2017, 136740; BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18,



C. Legitimation und Grenzen der Untersuchungshaft 69

darzustellenden gesetzlichen Voraussetzungen197 der Untersuchungshaft vorliegen, ist die Untersuchungshaft als Grundrechtseingriff gerechtfertigt. Auf Ebene der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft nach § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO und § 120 Abs. 1 StPO ist stets auch das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu berücksichtigen.198 Hierauf wird im vierten Teil dieser Untersuchung199 gesondert einzugehen sein. Die vorgenannten Statistiken200 sprechen dafür, dass die Untersuchungshaft in vielen Fällen derart strafmindernd Berücksichtigung findet, dass der Betroffene auch in Folge der Anrechnung der Untersuchungshaft gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB überhaupt nicht mehr zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt wird. Somit hat die Untersuchungshaft in der Rechtswirklichkeit häufig den Charakter einer (vorweggenommenen) Ersatzstrafe.201 Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass die Untersuchungshaft kein geeignetes Strafmittel ist.202 Die Freiheitsstrafe hat zumindest auch resozialisierenden Charakter, der spezialpräventiven Strafzwecken dient.203 Eine Resozialisierung in der Untersuchungshaft ist nicht vorgesehen und auf Grund ihrer rein verfahrens- und vollstreckungssichernden Zweckbestimmung auch nicht notwendig. Damit die Untersuchungshaft aber nicht gar etwa durch überlange Dauer entsozialisierende Wirkung204 entfaltet, ist es

BeckRS 2018, 14020; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 16; Graf, in: KK 2019, Vor § 112 Rn. 6; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 3; Paeffgen, in: SK II 2016, Vor §§ 112 ff. Rn. 9. 197  Siehe dazu ab S. 72. 198  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 63; § 120 Rn. 16 ff.; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 120 Rn. 3 ff., Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 46 ff., § 120 Rn. 6; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 18 ff.; § 120 Rn. 3; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 5 f.; Böhm: in: MüKo I 2014, § 120 Rn. 15 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, Vor §§ 112 ff. Rn. 29 ff., § 112 Rn. 13a; §120 Rn. 7b ff. 199  Siehe dazu ab S. 142. 200  Siehe oben ab S. 30. 201  Lorenz, in: BK II, Art. 2 Rn. 883; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 415; Seebode, Untersuchungshaft, S.  36 f.; Seebode, StV 1989, 118. 202  BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243, 244; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 112 Rn. 4a; Graf, in: KK 2019, Vor § 112 Rn. 12; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 2; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 781. 203  Joecks, in: MüKo-StGB I 2017, Einl. Rn. 75 ff.; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 3; Lorenz, in: BK II, Art. 2 Rn. 785, 801; Di Fabio, in: Maunz/Dürig III, Art. 2 Abs. 1 Rn. 216 ff.; Leyendecker, (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht, S. 65 ff., 193 f. 204  Vgl. Seebode, Untersuchungshaft, S. 8 m. w. N.

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1. Teil: Grundlagen zur Untersuchungshaft

unbedingt notwendig, das Vorliegen ihrer Voraussetzungen stets zu überprüfen.205 Zudem muss die Untersuchungshaft stets verhältnismäßig sein, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO206. Somit muss die Untersuchungshaft und die Art ihres Vollzugs während ihrer gesamten Dauer geeignet, erforderlich und angemessen sein, um den staatlichen Sicherungszweck zu erreichen.207 Kommen gegenüber dem Vollzug der Untersuchungshaft mildere Mittel in Betracht, um ihren Zweck der Sicherung der Verfahrensdurchführung und Strafvollstreckung zu sichern, sind vorrangig diese zu verhängen. Ist der Vollzug der Untersuchungshaft nicht mehr gerechtfertigt, ist beispielsweise zu prüfen, ob eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nach § 116 StPO in Betracht kommt. Anderenfalls ist der Untersuchungshaftbefehl aufzuheben.208

III. Schlussfolgerung Auf Grund des erheblichen Spannungsverhältnisses zwischen den grundrechtlich geschützten Interessen des Betroffenen und den ebenfalls gewichtigen staatlichen Interessen, dessen Auflösung der Gesetzgeber den Gerichten in Form der Normierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in beachtlichem Umfang überlassen hat209, trifft den Gesetzgeber im besonderen Maß die Pflicht, die Praxis sorgfältig zu beobachten und ggf. gesetzgeberisch tätig zu werden, sofern es der Praxis nicht gelingt, die verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen.210 Dies gilt auch für die Rechtsmittel, die der Gesetzgeber dem Betroffenen gegen die Untersuchungshaft zur Verfügung gestellt hat.

205  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; Hassemer, StV 1984, 38, 41; Seebode, StV 1989, 118. 206  Siehe z. B. § 112 Abs. 1 Satz 2, § 112a Abs. 1 Satz 1 a. E., 116, 119 Abs. 1, 121 f. 207  Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 29; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 11. 208  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 32, § 112 Rn. 64; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 9 f.; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 52; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 3, 32; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 12; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 106, 109; Hassemer, StV 1984, 38, 41. 209  Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 29 f. 210  Vgl., Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 17 f.; Seebode, StV 1989, 118, 118 ff.



C. Legitimation und Grenzen der Untersuchungshaft 71

Insoweit haben die Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers211 im Haftrecht eine herausragende Bedeutung.212 Diese Pflichten folgen aus Art. 20 Abs. 3 GG, welcher dem Gesetzgeber auferlegt, die Gesetzgebung an der verfassungsmäßigen Ordnung auszurichten.213

211  Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 – 2 BvR 2883/10 – 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295, 299 m. w. N.; Hömig, in: MSKB II, § 95 Rn. 73. 212  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 17 ff. 213  Robbers, in: BK VII, Art. 20 Abs. 3 Rn. 3244 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 81 ff.; Grzeszick, in: Maunz/Dürig III, Art. 20 Rn. 45 ff.

2. Teil

Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls sind zu Recht hoch. Denn in jedem Stadium der Strafverfolgung – vom Anfangsverdacht bis zur Verfahrensbeendigung durch rechtskräftige Verurteilung, Freispruch oder Einstellung – muss jede staatliche Maßnahme und das damit verbundene Strafverfolgungsinteresse mit den genannten Rechten des Betroffenen in Einklang gebracht werden.

A. Formelle Voraussetzungen I. Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls Der Haftbefehl unterliegt nach § 114 Abs. 1 StPO einem strengen Richtervorbehalt. Unter keinen Umständen kann die Untersuchungshaft durch die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen angeordnet werden.1 Für den Untersuchungshaftbefehl gilt ein verfassungsrechtlich garantierter Richtervorbehalt, Art. 104 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 GG.2 Grundsätzlich gilt, dass nur ein zuständiges Gericht den Haftbefehl erlassen darf. Anderenfalls liegt ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor.3 Der Antrag auf Erlass eines Haftbefehls bei einem unzuständigen Gericht ist abzuweisen, da anderenfalls das Recht der Staatsanwaltschaft auf die Entscheidung zwischen mehreren

1  So dürfen beispielsweise die Durchsuchung beim Verdächtigen (§§ 201, 105 Abs. 1 Satz 1 StPO) die Staatsanwaltschaft oder ihre Ermittlungspersonen anordnen, sofern Gefahr im Verzug besteht. Die Blutabnahme nach § 81a StPO dürfen die Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft anordnen, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass (u. a.) eine Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB begangen worden ist, § 81a Abs. 2 Satz 2 StPO. 2  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 1; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 11; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 1; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 3. 3  Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 23.



A. Formelle Voraussetzungen73

zuständigen Gerichten unterlaufen wird.4 Ein durch ein unzuständiges Gericht erlassener Haftbefehl ist rechtswidrig und daher auf die Beschwerde durch das Beschwerdegericht ohne Sachentscheidung aufzuheben, soweit es nicht auch dem zuständigen Gericht übergeordnet ist.5 Daraus folgt, dass der durch einen unzuständigen Richter erlassene Haftbefehl rechtswidrig und damit anfechtbar, aber dennoch bis zu seiner Aufhebung wirksam und vollziehbar ist, sofern der entscheidende Richter seine Zuständigkeit nicht willkürlich entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angenommen hat.6 1. Grundsätzliche Zuständigkeit Die Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls richtet sich auch nach dem jeweiligen Verfahrensstadium, in dem der Haftbefehl erlassen werden soll. Hier bildet nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO die Anklageerhebung, also der Übergang vom staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren in das gerichtliche Zwischenverfahren nach §§ 199 ff. StPO, die Zäsur. Die öffentliche Klage ist erhoben, wenn diese entsprechende den Anforderungen des § 200 StPO bei Gericht eingeht. Mit diesem Zeitpunkt endet der Anwendungsbereich des §§ 125 Abs. 1, 126 Abs. 1 StPO und das Tatgericht wird nach §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig.7 Im Einzelnen: Nach § 125 Abs. 1 Satz 1 StPO ist vor Anklageerhebung und damit im Ermittlungsverfahren für den Erlass des Untersuchungshaftbefehls grundsätzlich der Richter bei dem Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist oder der Betroffene sich aufhält. Ergänzend kann 4  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 16 Rn. 5; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 1; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 23; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 101; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 272; a.  A. Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 20 wonach der Antrag auf Haftbefehlserlass bei einem unzuständigen Richter durch diesen auch an einen zuständigen Richter abgegeben werden kann und nicht zwingend abzulehnen ist. 5  Vgl. KG Berlin, Beschluss vom 3. Dezember 1997 – 1 AR 1480/97 – 4 Ws 257/97, 1 AR 1480/97, 4 Ws 257/97, BeckRS 1997, 14893; KG, Beschluss vom 21. November 2017 – 2 Ws 174/17 – 121 AR 233/17, BeckRS 2017, 136789; Schult­ heis, in: KK 2019, § 125 Rn. 1; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 16; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 23; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 272. 6  Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 24; Wankel, in: KMR Band 2018, § 126 Rn. 9; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 7; Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 140 ff. 7  Vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2008 – 3 StR 545/07, NStZ 2009, 205, 207; BayObLG, Beschluss vom 16. Dezember 1970 – 2 Ws (B) 131/70, NJW 1971, 854; Beulke, in: L-R V 2008, § 151 Rn. 9; Mitsch, in: MüKo-StGB II 2016, § 78c Rn. 14; Fischer, StGB 2019, § 78c Rn. 16; Lackner/Kühl, StGB 2018, § 78c Rn. 8; Schmid, in: LK III 2008, § 78c Rn. 30; Bosch, in: Sch/Sch 2019, § 78c Rn. 14.

74

2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

die Staatsanwaltschaft den Haftbefehl auch bei dem Gericht an dem Ort beantragen, an dem sie ihren Sitz hat, § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO.8 Dies gilt jedoch nur, wenn „daneben“ – also gleichzeitig – auch eine weitere gerichtliche Untersuchungshandlung i. S. d. § 162 StPO beantragt wird.9 Der Gerichtsstand bezeichnet die örtliche Zuständigkeit nach den §§ 7 ff. StPO. Unter Umständen können mehrere Ermittlungsrichter10 nebeneinander dafür zuständig sein, erstmalig einen Haftbefehl gegen den Betroffenen zu erlassen, da nach den §§ 7 ff. StPO häufig verschiedene örtliche Zuständigkeiten nebeneinander begründet sind.11 Diese Parallelzuständigkeit besteht aber nur so lange, bis einer der zuständigen Richter den Haftbefehl erlässt. Denn § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO stellt klar, dass auch für weitere die Untersuchungshaft betreffenden Entscheidungen und Maßnahmen12 vor Anklage­ erhebung der Richter13 zuständig ist, der den Haftbefehl erlassen hat. Die 8  Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 2019, § 125 Rn. 1; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 1; Wankel, in: KMR II 2019, § 125 Rn. 1 f.; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 10; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 2; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 2. 9  BT-Drs. 16/5846, S. 84; Erb, in: L-R XII 2014, Nachtr. § 162 Rn. 4; MeyerGoßner/Schmitt StPO 2019, § 125 Rn. 1; § 162 Rn. 10; Zöller, in: HK 2012, § 162 Rn. 6; Kölbel: in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 13; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 162 Rn. 21. Nach der Ansicht von Ziegler, in: SSW 2018, § 162 Rn. 16, der sich Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 52 angeschlossen hat, ist es nach dem gesetzgeberischen Zweck der Norm, die ermittlungsrichterliche Zuständigkeit auf einen Ermittlungsrichter konzentrieren zu können, ausreichend, wenn vor Beantragung des Untersuchungshaftbefehls eine gerichtliche Maßnahme bei dem nach § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO zuständigen Gericht beantragt wurde. 10  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 125 Rn. 3 ff.; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 2; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 2; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 4. 11  So ist z. B. nach § 7 StPO in dem Gerichtsbezirk ein Gerichtsstand begründet, in dem die Straftat begangen wurde. Gleichzeitig ist nach herrschender Meinung gemäß § 9 StPO an dem Ort ein Gerichtsstand begründet, in dessen Bezirk der Betroffene ergriffen wurde („Ergreifungsort“), sofern in Folge der Ergreifung ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, vgl. BGH, Beschluss vom 20. Januar 1999 – 2 ARs 518/98, NJW 1999, 1412; Erb, in: L-R I 2016, § 9 Rn. 4 ff.; Stöckel, in: KMR I 2019, § 9 Rn. 4; Weßlau/Weißer, in: SK I 2018; § 9 Rn. 2; Börner, in: SSW, § 9 Rn. 1. Nach teilweise weiterhin vertretener Auffassung muss für die Begründung eines Gerichtsstandes nach § 9 StPO in Folge der Ergreifung auch tatsächlich ein Haftbefehl ergehen, vgl. MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 9 Rn. 2, Ellbogen, in: MüKo I 2014, § 9 Rn. 3 ff. 12  Als Beispiele für Maßnahmen und Entscheidungen nach § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO nennt das Gesetz die Untersuchungshaft selbst, die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls (§ 116 StPO) und die Vollstreckung des Haftbefehls (§ 116b StPO) betreffende sowie Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf Anträge nach § 119a StPO beziehen. 13  Ist dieser Richter unerreichbar (z. B. durch krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit, Urlaub oder in Eildienstfällen) ist dessen geschäftsplanmäßiger Vertreter zustän-



A. Formelle Voraussetzungen75

übrigen – zu Anfang grundsätzlich auch zuständigen – Amtsrichter sind zu Haftentscheidungen nicht mehr befugt. Wenn das Ermittlungsverfahren an einem anderen Ort durchgeführt oder die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollzogen wird, kann die Zuständigkeit auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch Beschluss des (noch) zuständigen Ermittlungsrichters an ein anderes Amtsgericht übertragen werden, § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO.14 Nach §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ist nach Anklageerhebung für den Erlass des Untersuchungshaftbefehls für weitere die Untersuchungshaft betreffenden Entscheidungen und Maßnahmen grundsätzlich das mit der ­Sache befasste Gericht zuständig. Das ist das in der Hauptsache zuständige Gericht, zu dem die Staatsanwaltschaft die Anklage erhoben hat. Obwohl die Gesetzesbegründung hierzu schweigt15, wird allgemein die Auffassung vertreten, dass dieser Norm der Gedanke zu Grunde liegt, dass das mit der Sache befasste Gericht gerade durch seine Befassung die sachnächste Entscheidung treffen kann.16 Lehnt das zuständige angerufene Gericht den Erlass eines Haftbefehls ab und legt die insoweit beschwerte Staatsanwaltschaft hiergegen Beschwerde nach § 304 StPO ein, geht die Zuständigkeit für den Erlass des Haftbefehls (auch im Falle der weiteren Beschwerde) auf das jeweilige Beschwerde­ gericht über, § 309 Abs. 2 StPO.17 Wird durch das Beschwerdegericht ein Haftbefehl erlassen, gilt dieser als Haftbefehl des erstinstanzlich zuständigen Gerichts, vgl. § 126 Abs. 1 Satz 2 StPO.18 dig, sodass u. U. ein Richter entscheidungsbefugt ist, der keine Sachverhaltskenntnisse und in der Praxis häufig nicht einmal Zugriff auf die Akten hat. Kritisch hierzu am Beispiel der Vorführung und Haftbefehlsverkündung nach § 115 StPO: Schramm/ Bernsmann, StV 2006, 442. 14  Hilger, in: L-R IV 2007, § 126 Rn. 8 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 3; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 3 ff.; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 5 f.; Böhm/Werner: in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 6; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 3; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 105; Kritisch: Herrmann, in: SSW 2018, § 126 Rn. 6. 15  BT-Drs. 4/178, S. 26 f.; siehe oben S. 62. 16  OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris; KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 14; Krauß, in: Graf-StPO 2018, § 117 Rn. 11; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 40, 45; Herrmann, in: SSW 2018, § 126 Rn. 5. 17  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 125 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 14; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 16. 18  OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1974 – 1 Ws 329, 345/74, MDR 1974, 861; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 5; Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 2.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

2. Sonderfall: Anderweitige Zuständigkeit In Ausnahmefällen obliegt die Zuständigkeit zum Erlass des Haftbefehls im Ermittlungsverfahren nicht gemäß § 125 Abs. 1 StPO dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht. Unter bestimmten Voraussetzungen obliegen auch19 dem Ermittlungsrichter des Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs nach § 169 Abs. 1 StPO die Aufgaben des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht im Ermittlungsverfahren, sodass auch dieser für den Erlass des Haftbefehls zuständig ist.20 Diese Zuständigkeit umfasst die Zuständigkeit zum Erlass eines Haftbefehls gemäß § 125 Abs. 1 StPO, zum Erlass haftbeschränkender Maßnahmen gemäß § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO sowie sonstiger gerichtlichen Untersuchungshandlungen gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO.21 Der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof ist nur dann neben dem amtsgerichtlichen Ermittlungsrichter zuständig, wenn der Generalbundes­ anwalt die Ermittlungen nach § 142a GVG führt, vgl. § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO.22 Dies ist insbesondere bei der Verfolgung von Staatsschutzsachen der Fall, welche nach §§ 120 Abs. 1 und 2, 120b GVG in die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte fallen. Zur Verfolgung der in § 120 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 GVG aufgeführten Delikte, ist der Generalbundesanwalt gemäß § 142a Abs. 1 Satz 1 GVG originär zuständig. Daher liegt die Zuständigkeit für Haftentscheidungen während der 19  Die Zuständigkeiten des Ermittlungsrichters des Oberlandesgerichts bzw. des Bundesgerichtshofs und dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht bestehen alternativ nebeneinander, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 6; Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 1, 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 1, 4; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 8; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 1; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 13; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 169 Rn. 4; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 8. Diese alternative Zuständigkeit besteht nur, bis einer der zuständigen Richter den Haftbefehl erlassen hat. Dieser ist dann auch für weitere Entscheidungen und Maßnahmen bezüglich der Untersuchungshaft nach § 126 Abs. 1 StPO zuständig (siehe S. 74). 20  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 6; Erb, in: L-R V-2 2018, § 169 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 10; § 169 Rn. 1; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 125 Rn. 2; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 169 Rn. 1; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 2; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 5. 21  Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 4; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 1; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 169 Rn. 1; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 2. 22  Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 2; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 2; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 2; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 169 Rn. 2; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 6.



A. Formelle Voraussetzungen77

Ermittlungen hinsichtlich der Begehung einer Straftat nach § 120 Abs. 1 GVG grundsätzlich auch beim Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof.23 Die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und somit auch die des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs ist ferner nach §§ 74a Abs. 2, 120 Abs. 2, 142a Abs. 1 Satz 1 GVG i. V. m. § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO gegeben, wenn der Generalbundesanwalt die Strafverfolgung wegen der besonderen Bedeutung des Falles übernommen hat (Evokationsrecht24).25 Liegen hinsichtlich der Delikte in § 120 Abs. 1 GVG, für deren Verfolgung der Generalbundesanwalt originär zuständig ist, die Voraussetzungen des § 142a Abs. 2 GVG vor, hat der Generalbundesanwalt die Sache an die Landesstaatsanwaltschaft abzugeben.26 Hinsichtlich der Verfolgung von Delikten, die der Generalbundesanwalt zunächst nach §§ 120 Abs. 2, 74a Abs. 1 und 2 GVG wegen der besonderen Bedeutung des Falles übernommen hat, ist eine Rückgabe der Sachen an die Landesstaatsanwaltschaft nach § 142a Abs. 4 GVG erforderlich, wenn die besondere Bedeutung des Falles nicht mehr vorliegt.27 In beiden Fällen verliert auch der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof mit der Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft seine Zustän23  Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 2; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 2; Wohlers, in: SK IX 2016, GVG, § 142a Rn. 4; Sing, in: SSW 2018, § 169 Rn. 2. 24  Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 120 Rn. 9; Wohlers, in: SK IX 2016, GVG, § 142a Rn. 5; Quentin, in: SSW 2018, § 120 GVG Rn. 3. 25  Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 2; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3; Wohlers, in: SK IX 2016, GVG, § 142a Rn. 5. 26  Diese Voraussetzungen liegen vor Einreichung der Anklageschrift (oder einer Antragsschrift nach § 435 StPO) vor, wenn die Sache von minderer Bedeutung ist (§ 142a Abs. 2 Nr. 2 GVG) oder das Verfahren eine in § 142a Abs. 2 Nr. 1 enumerativ aufgezählte Straftat zum Gegenstand hat. Trotz Vorliegen dieser Voraussetzungen hat eine Abgabe an die Landesstaatsanwaltschaft zu unterbleiben, wenn die Tat die Interessen des Bundes dennoch in besonderem Maße berührt (§ 142a Abs. 3 Nr. 1 GVG) oder die weitere Verfolgung der Tat durch den Generalbundesanwalt im Interesse der Rechtseinheit geboten ist. Vgl. Franke, in: L-R X 2010, § 142a Rn. 7 ff.; Wohlers, in: SK IX 2016, GVG, § 142a Rn. 12 ff. Insoweit besteht eine Abgabepflicht, hinsichtlich deren Beurteilung dem Generalbundesanwalt ein Beurteilungsspielraum zukommt; Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 142a Rn. 9 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 142a Rn. 3; Mayer, in: KK 2019, GVG, § 142a Rn. 8; Brocke, in: MüKo III-2 2018, GVG, § 142a Rn. 10; Wohlers, in: SK IX 2016, GVG, § 142a Rn. 15. 27  Auch hier besteht eine Abgabepflicht mit Beurteilungsspielraum: Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 142a Rn. 17; Brocke, in: MüKo III-2 2018, GVG, § 142a Rn. 11; Wohlers, in: SK IX 2016, GVG, § 142a Rn. 20. A. A. („Abgaberecht“) wohl Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 142a Rn. 5; und („kann“) Mayer, in: KK 2019, GVG, § 142a Rn. 9.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

digkeit. Dies gilt auch für den dieses als Beschwerdegericht (§ 135 Abs. 2 GVG) zugeordneten Bundesgerichtshof.28 Trotz der Abgabe bleiben Anordnungen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof bis zu ihrer Aufhebung durch das zuständige Gericht wirksam.29 Zudem bleibt dem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs30 weiterhin die Möglichkeit, die Zuständigkeit durch Beschluss entsprechend § 126 Abs. 1 Satz 3 zu übertragen.31 Überdies verliert der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs sowie der diesem zugeordnete Instanzenzug die Zuständigkeit, wenn der Generalbundesanwalt Anklage erhebt.32 Daneben ist in Jugendsachen vor Anklageerhebung der Jugendrichter nach § 34 Abs. 1 des JGG für den Erlass des Haftbefehls zuständig.33

28  Vgl. für Beschwerden gegen haftbeschränkende Maßnahmen: BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/22, NJW 1973, 477, 478. Auch die Entscheidung BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 27/72; NJW 1973, 475, 476 behandelt unmittelbar die Beschwerde gegen eine haftbeschränkende Maßnahme. Dort heißt es allerdings explizit nur, mit Abgabe der Sache verliere der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof insgesamt die Zuständigkeit für die Haftkontrolle. Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 44; § 126 Rn. 9; Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5, 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 7; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3, 9; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 7; Kölbel, in: MüKo I 2014, § 169 Rn. 5; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7, 11. Zuvor entschied der BGH, Beschluss vom 12. September 1955 – 2 BJs 202/55 – StB 39/55 – unveröffentlicht, bereits auf eine Beschwerde des Generalstaatsanwalts des (ehemaligen) Bayerischen Obersten Landgerichts, der Ermittlungsrichter beim BGH verliere die (Haft-)zuständigkeit mit der Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft. 29  Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 169 Rn. 2. 30  BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 27/72; NJW 1973, 475, 476. 31  Hilger, in: L-R IV 2007, § 126 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 2; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 7; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 8; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 6; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7. 32  Vgl. bezüglich einer Beschlagnahmeanordnung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof: BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – 1 StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. Ferner: Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 44; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 7; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 9; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 7; Kölbel, in: MüKo I 2014, § 169 Rn. 5; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 6. 33  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 125 Rn. 2; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 3; Wankel, in: KMR II 2019, § 125 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125



A. Formelle Voraussetzungen79

3. Die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO Der Vollständigkeit halber sei hier auch die vorläufige Festnahme nach § 127 StPO erwähnt. Diese erlaubt eine Festnahme von Personen auch ohne einen entsprechenden Haftbefehl gegen diese durch Jedermann (§ 127 Abs. 1 StPO) oder den Beamten der Staatsanwaltschaft und des Polizeidienstes (§ 127 Abs. 2 StPO). a) Voraussetzungen Nach § 127 Abs. 1 StPO ist es Jedermann erlaubt, einen auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten festzunehmen, wenn dieser der Flucht verdächtigt ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann. Es genügt, wenn lediglich ein strafbarer Versuch vorliegt.34 Ob für das Vorliegen einer „Tat“ i. S. d. § 127 Abs. 1 StPO der (dringende) Verdacht der Begehung einer Straftat aus der Perspektive des Festnehmenden genügt35 oder tatsächlich eine Straftat begangen worden sein muss36, ist im Einzelnen umstritten. Die Verdächtige ist „auf frischer Tat betroffen“, wenn der Festnehmende den Verdächtigen während oder umgehend im Anschluss an die Tatausführung antrifft.37 Auf frischer Tat verfolgt ist der Verdächtige, wenn er zwar nicht unmittelbar bei oder kurz nach der Tatausführung angetroffen wird, Rn. 12; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 3b; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 6. 34  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2016, § 127 Rn. 6; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 13; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 20. 35  „Prozessuale Theorie“ z. B.: BGH, Urteil vom 18. November1980 – VI ZR 151/78, NJW 1981, 745; BayObLG, Urteil vom 30. Mai 1986 – RReg. 5 St 43/86, BayObLGSt 1986, 52, 53 f.; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 13. März 1981 – 1 Ss 35/80. NJW 1981, 2016; OLG Hamm, Beschluss vom 8. Januar 1998 – 2 Ss 1526/97, NStZ 1998, 370; Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 9 ff.; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 9; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 2, Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 8 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 6a, 10 ff; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 19; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 450; Rengier, Strafrecht AT, § 22 Rn. 10; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 128; Ausweislich dieser Fundstellen ist jedoch selbst innerhalb der prozessualen Theorie umstritten, welcher Verdachtsgrad im Einzelnen vorliegen muss. 36  „Materiell-rechtliche Theorie“ z. B.: OLG Hamm, Urteil vom 1. August 1972 – 3 Ss 224/72, NJW 1972, 1826, 1827; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 4; Kühl, Strafrecht AT, § 9 Rn. 85 f.; Günther, FS-Kühl, 885, 885 ff. 37  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 2019, § 127 Rn. 5; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 12; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 14.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

aber die Gesamtumstände den sicheren Schluss darauf zulassen, dass er der Täter ist und der Festnehmende sodann – soweit notwendig – zur Verfolgung ansetzt.38 Der Festnehmende muss zu dem Zweck handeln, den Verdächtigen den Strafverfolgungsbehörden zuzuführen.39 Zudem muss der Verdächtige der Flucht verdächtig oder seine Identität unbekannt und nicht sofort feststellbar sein („Festnahmegrund“). Bezüglich des Fluchtverdachts ist nach allgemeiner Auffassung darauf abzustellen, ob aus Sicht des Festnehmenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vernünftigerweise davon auszugehen ist, der Verdächtige werde die Flucht antreten und sich seiner strafrechtlichen Verantwortung entziehen, sofern keine umgehende Festnahme erfolgt.40 Für die Festnahme zur Identitätsfeststellung genügt es, wenn der Verdächtige sich weigert, Angaben zu seiner Person zu machen oder sich nicht ausweisen kann und so eine unmittelbare Feststellung seiner Identität unmöglich ist.41 Liegen die vorgenannten Voraussetzungen vor, ist die Festnahme des Verdächtigen Jedermann erlaubt. Die Festnahmehandlung ist reiner Realakt. § 127 StPO regelt nicht, wie und ggf. unter Anwendung welcher Mittel die Festnahme zu erfolgen hat. Dies – insbesondere das Maß an zulässiger Gewaltanwendung – ist im Einzelnen höchst umstritten.42 In jedem Verhältnis muss die Festnahmehandlung gegenüber dem Zweck der Festnahme verhältnismäßig sein.43 Somit ist in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Festnahmehandlung insbesondere die Schwere der Straftat einzubeziehen.44 38  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 15 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 6; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 12 ff.; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 13; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 14a: Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 21. 39  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 8; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 7; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 22. 40  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 18, 21; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 10; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 16; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 4; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 14; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 15a; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 24. Nach teilweise vertretener Auffassung entspricht der Fluchtverdacht des § 127 Abs. 1 StPO der Fluchtgefahr des § 112 Abs. 1 StPO (siehe dazu unten ab S. 94), vgl. Wendisch, in: L-R II 1989, § 127 Rn. 20 f. 41  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 28; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 11; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 17; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 5; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 15; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 16; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 25. 42  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 28 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 12 ff.; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 27; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 19 ff.; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 27 ff.; jeweils m. w. N. 43  BGH, Urteil vom 18. November 1980 – VI ZR 151/78, NJW 1981, 745; BGH, Beschluss vom 11. September 1997 – 4 StR 296/97, NStZ-RR 1998, 50; BGH, Urteil



A. Formelle Voraussetzungen81

Über § 127 Abs. 1 StPO hinaus sind Beamte der Staatsanwaltschaft45 sowie der Polizei nach § 127 Abs. 2 StPO bei Gefahr im Verzug zu einer vorläufigen Festnahme berechtigt, wenn (objektiv46) die Voraussetzungen eines Haft- oder Unterbringungsbefehls vorliegen. Demnach ist die Festnahme auf Grundlage des § 127 Abs. 2 StPO jedenfalls dann unzulässig, wenn ein Richter einen beantragten Haftbefehl (oder Unterbringungsbefehl) zuvor abgelehnt hat und die Sachlage sich nicht derart geändert hat, dass die Gründe für die Ablehnung des Antrags nicht mehr vorliegen.47 Der Verdächtige muss gerade nicht auf frischer Tat betroffen oder verfolgt sein. Vielmehr ist eine Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO ohne zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der Straftat zulässig. Gefahr im Verzug liegt vor, wenn unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände zu befürchten ist, dass eine Festnahme nicht mehr möglich ist, wenn zunächst der Erlass eines richterlichen Haftbefehls abgewartet werden würde.48 Im Übrigen gelten die zu § 127 Abs. 1 StPO dargestellten Grundsätze und Einschränkungen. Auch die Grenzen der zulässigen Festnahmehandlung durch Beamte der Staatsanwaltschaft und Polizei sind im Einzelnen umstritten.49 vom 10. Februar 2000 – 4 StR 558/99, NStZ 2000, 603; Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 16; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 6; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 16 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 17 ff., 20 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 456. 44  BGH, Urteil vom 3. Juli 2007 – 5 StR 37/07, NStZ-RR 2007, 303, 303 f.; Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 14; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 28 f.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 17; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 21; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 456. 45  „Staatsanwaltschaft“ erfasst alle in § 142 GVG genannten Personen: Staatsanwälte, aber auch Amtsanwälte (§ 142 Abs. 1 Nr. 3 GVG) und Rechtsreferendare (§ 142 Abs. 3 StPO) soweit die Tat in ihre Zuständigkeit fällt, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 40; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 38; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 29; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 25; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 38. 46  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 37 ff.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 21; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 26. 47  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 19; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 37; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 28; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 45. 48  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 35; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 19; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 35; Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 26; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn. 41 f. 49  Nach herrschender Meinung haben Polizeibeamte jedenfalls im Rahmen der für sie geltenden landes- oder bundesrechtlichen Polizeigesetze zu handeln, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 43; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 127 Rn. 20; Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 40; Wankel, in: KMR II 2019, § 127 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 30; Herrmann, in: SSW 2018, § 127 Rn.  44. A. A. Paeffgen, in: SK II 2016, § 127 Rn. 30 f., der die Regelungen der StPO

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

Nach § 127 Abs. 4 StPO gelten für eine Festnahme nach § 127 StPO durch die Staatsanwaltschaft oder Polizei die §§ 114a bis 114c StPO entsprechend. Demnach sind auch einem vorläufig Festgenommenen umgehend im engen Zusammenhang mit der Festnahme jedenfalls mündlich die Gründe der Festnahme mitzuteilen (§ 114a StPO), er ist entsprechend § 114b StPO zu belehren und muss im Rahmen des § 114c StPO die Gelegenheit erhalten, seine Angehörigen zu benachrichtigen. Machen Beamte der Staatsanwaltschaft oder der Polizei von dem Festnahmerecht nach § 127 Abs. 1 StPO zum Zwecke der Identitätsfeststellung gebrauch, ist zudem § 163b Abs. 1 StPO zu berücksichtigen, § 127 Abs. 1 Satz 2 StPO. Nach § 127 Abs. 3 StPO ist unter den Voraussetzungen des § 127 Abs. 1 und 2 StPO eine Festnahme auch bei absoluten Antragsdelikten zulässig, wenn noch kein Strafantrag vorliegt. Anderenfalls wäre das Festnahmerecht des § 127 StPO stark eingeschränkt, da es insbesondere Privatpersonen nicht möglich ist, das Vorliegen oder überhaupt das Erfordernis eines Strafantrags zu prüfen. Auch Beamte der Staatsanwaltschaft und der Polizei dürfte hierzu in der konkreten Situation regelmäßig kaum Zeit bleiben.50 b) Weiteres Verfahren nach einer vorläufigen Festnahme Die vorläufige Festnahme darf nur in engen zeitlichen Grenzen ohne richterlichen Haftbefehl aufrechterhalten werden. Wird der Festgenommene nicht wieder frei gelassen, ist er unverzüglich, spätestens aber am Tag nach der Festnahme, einem zuständigen Haftrichter vorzuführen, § 128 Abs. 1 Satz 1 StPO, Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG. Neben dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht des Bezirks, in dem die Festnahme erfolgt ist, sind auch alle anderen Ermittlungsrichter zuständig, in deren Bezirk ein Gerichtsstand i. S. d. § 125 Abs. 1 StPO51 begründet ist.52 Nach der Vorführung vernimmt der Richter den Betroffenen gemäß §§ 128 Abs. 1 Satz 1, 115 Abs. 3 StPO unverzüglich. Während der Vernehmung sind dem Betroffenen sämtliche belastenden und entlastenden Umstände zu eröffnen. Sodann erlässt der Ermittlungsrichter nach entsprechender Sachprüfung für abschließend hält und den Rückgriff jedenfalls auf Landesgesetze für unzulässig hält (Art. 70, 72, 74 GG, § 6 EGStPO). 50  Vgl. Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 44; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 127 Rn. 31. 51  Siehe S. 73. 52  Hilger, in: L-R IV 2007, § 128 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 128 Rn. 5; Schultheis, in: KK 2019, § 128 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 128 Rn. 6; Paeffgen, in: SK II 2016, § 128 Rn. 4 f.



A. Formelle Voraussetzungen83

entweder auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl oder ordnet die Freilassung des Festgenommenen an, § 128 Abs. 2 Satz 1 und 2 StPO. Die richterliche Entscheidung muss ebenfalls innerhalb der Frist der § 128 Abs. 1 Satz 1 StPO, also am Tag nach der Festnahme, ergehen. Eine längere Freiheitsentziehung ohne entsprechende richterliche Anordnung ist mit Art. 104 Abs. 3 Satz 1 GG unvereinbar.53 Trotz des insofern irreführenden Wortlauts des § 128 Abs. 2 Satz 1 Var. 1 StPO („Hält der Richter die Festnahme nicht für gerechtfertigt …“) erstreckt sich die richterliche Prüfung nicht auf die Rechtmäßigkeit der Festnahme nach § 127 StPO.54 Ein in Folge einer vorläufigen Festnahme ergehender Haftbefehl hat im Übrigen den nachfolgenden formellen und materiellen gesetzlichen Anforderungen zu genügen. Erfolgt eine vorläufige Festnahme durch Beamte der Staatsanwaltschaft oder der Polizei zum Zwecke der Identitätsfeststellung (§ 127 Abs. 1 Satz 2 StPO), darf die Dauer der Festnahme auch auf Grund einer richterlich angeordneten Freiheitsentziehung zwölf Stunden nicht überschreiten, § 163c Abs. 2 StPO.55

II. Antragserfordernis Der Erlass eines Untersuchungshaftbefehls bedarf im Ermittlungsverfahren grundsätzlich eines Antrags der Staatsanwaltschaft. Dies ist für den vorge53  Nach ganz h. M. haben Vorführung, Vernehmung und die richterliche Entscheidung innerhalb der Frist des § 118 Abs. 1 Satz 1 StPO zu erfolgen. Dies ist aber umstritten, da § 128 StPO keine eindeutige entsprechende Anordnungsfrist (wie § 129 StPO) enthält und bezüglich der Vernehmung nur auf § 115 Abs. 3, nicht aber Abs. 2, StPO verweist; vgl. zu der h. M.: Hilger, in: L-R IV 2007, § 128 Rn. 11; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 128 Rn. 13; Schultheis, in: KK 2019, § 128 Rn. 7; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 128 Rn. 15, 21; Paeffgen, in: SK II 2016, § 128 Rn. 6, 12; Herrmann, in: SSW 2018, § 128 Rn. 29. A. A. wonach die Vernehmung innerhalb der Vorführungsfrist begonnen, aber nicht abgeschlossen werden müsse und demnach auch noch keine richterliche Entscheidung ergehen müsse. Die äußerste Grenze der Vernehmung liege in diesem Fall analog § 115 Abs. 2 StPO am Tag nach der Vorführung. Vgl. Wankel, in: KMR II 2019, § 128 Rn. 4. Ferner OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Februar 2000 – 3 Ws 144/00, NJW 2000, 2037, welches in der Addition der Vorführungs- und Vernehmungsfrist jedenfalls keine willkürlich falsche Rechtsanwendung sieht. 54  Hilger, in: L-R IV 2007, § 127 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 128 Rn. 12; Schultheis, in: KK 2019, § 128 Rn. 9; Paeffgen, in: SK II 2016, § 128 Rn. 7; Herrmann, in: SSW 2018, § 128 Rn. 27. 55  Erb, in: L-R V-2 2018, § 163c Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 163c Rn. 15; vgl. Schultheis, in: KK 2019, § 127 Rn. 23; Plöd, in: KMR III 2019, § 153c Rn. 2; Kölbel, in: MüKo I 2014, § 163c Rn. 4; Wolter, in: SK III 2016, § 163c Rn. 4; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 458.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

nannten Fall, dass der Betroffene nach § 127 StPO vorläufig festgenommen wurde, in § 128 Abs. 3 StPO explizit geregelt. Im Übrigen ergibt sich dieses Erfordernis aus der Stellung der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens.56 Dementsprechend ist der Untersuchungshaftbefehl nach § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO auch zwingend aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft dies vor Anklageerhebung beantragt. Umstritten ist demgegenüber, ob das Gericht während des Ermittlungsverfahrens auch an einen Antrag auf Haftverschonung gemäß § 116 StPO der Staatsanwaltschaft gebunden ist, da § 120 Abs. 3 StPO dem Wortlaut nach nur den Aufhebungsantrag erfasst. Nach der Auffassung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs57, die auch in der Literatur58 vertreten wird, ist das Gericht vor Anklage­ erhebung auch an einen Haftverschonungsantrag der Staatsanwaltschaft gebunden. Die folge aus einem „Erst-Recht-Schluss“ zu § 120 Abs. 3 StPO: Wenn die Staatsanwaltschaft als Herrin des Vorverfahrens begründungslose die Aufhebung des Haftbefehls beanspruchen kann, so obliege ihr im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erst recht die Entscheidung darüber, ob der Haftbefehl vollzogen werden solle.59 Nach der gegenteiligen Auffassung ist eine entsprechende Bindungswirkung abzulehnen, weil die Aufnahme allein des Aufhebungsantrags in § 120 Abs. 3 StPO eine klare gesetzgeberische Entscheidung dokumentiere. Andere Anträge – wie eben einen Haftverschonungsantrag nach § 116 StPO – sollen dem gesetzgeberischen Willen nach gerade keine Bindungswirkung entfalten.60

Ist die Staatsanwaltschaft nicht erreichbar und Gefahr in Verzug, darf der zuständige Ermittlungsrichter von Amts wegen ohne Antrag der Staatsanwaltschaft einen Untersuchungshaftbefehl erlassen, § 165 StPO und § 128 Abs. 2 Satz 2 StPO.61

56  Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 125 Rn. 8; § 128 Rn. 9; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 6; Wankel, in: KMR II 2019, § 125 Rn. 4; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 11; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 14, § 125 Rn. 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 13; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn.  88; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 274. 57  BGH, Beschluss vom 30. November 1999 – 2 BGs 335/99, NJW 2000, 967. 58  Paeffgen, in: SK II 2016, § 116 Rn. 19; § 120 Rn. 13; Herrmann, in: SSW 2018, § 120 Rn. 25; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 847. 59  Vgl. für eine Begründung anhand der Entstehungsgeschichte der §§ 116, 120 StPO: Rinio, NStZ 2000, 547, 547 ff. 60  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27. September 2000 – 2 Ws 237/00, NStZ-RR 2001, 122, 122 f.; Hilger, in: L-R IV 2007, § 120 Rn. 40; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 120 Rn. 13; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 23; Wankel, in: KMR II 2019, § 120 Rn. 7; Böhm, in: MüKo I 2014, § 116 Rn. 41, § 120 Rn. 29; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 358; Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 97 f.; Meyer-Goßner, FS-Hamm, 443, 450 f. 61  Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 125 Rn. 9; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 125



A. Formelle Voraussetzungen85

Nach Anklageerhebung und dem Übergang vom Ermittlungsverfahren in das Zwischenverfahren entfällt die Position der Staatsanwaltschaft als Herrin des (Vor-)Verfahrens, sodass der Erlass eines Untersuchungshaftbefehls nicht mehr von ihrem Antrag abhängig ist. Sie ist jedoch fortan nach § 33 StPO anzuhören, wenn das Gericht den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls beabsichtigt.62

III. Formerfordernisse 1. Gesetzlich notwendiger Inhalt eines Haftbefehls, § 114 Abs. 2 StPO § 114 Abs. 2 StPO normiert einen umfangreich über § 34 StPO hinausgehenden Begründungszwang für Untersuchungshaftbefehle. Dieser dient der Unterrichtung des Betroffenen, aber auch der Selbstkontrolle des Gerichts, das den Haftbefehl erlässt, sowie der Überprüfbarkeit durch das Beschwerdegericht.63 Hinsichtlich der Begründung ist eine Bezugnahme auf die Akten oder andere Urkunden, die dem Haftbefehl selbst nicht als Anlage beigefügt sind, unzulässig.64 Der Haftbefehl muss nach § 114 Abs. 2 Nr. 1 StPO die Personalien des Betroffenen so genau angeben, dass eine Verwechslung ausgeschlossen ist. Hierzu gehören üblicherweise – soweit bekannt – der vollständige Name (ggf. auch Alias-Namen), Geburtstag und -ort, die aktuelle bzw. letzte bekannte Wohnanschrift, der Beruf und jedenfalls bei Ausländern die Staatsangehörigkeit.65 Rn. 4; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 17; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 88. 62  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 23; ferner: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 125 Rn. 10; Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 8; Wankel, in: KMR II 2019, § 125 Rn. 7; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 14; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 14; Herrmann, in: SSW 2018, § 125 Rn. 20. Bei Gefahr im Verzug kann die Anhörung nachgeholt werden, wenn die Staatsanwaltschaft unerreichbar ist, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 24; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 14a. 63  St. Rspr.: OLG Hamm, Beschluss vom 5. August 2002 – 2 Ws 335/02, NStZRR 2002, 335; Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 4; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 4; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 8; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 14 f.; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 279. 64  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 6; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 1; vgl. Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 25; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 20, 26; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 5. 65  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 5; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 5; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 17;

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

Nach § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO sind die Tat selbst, deren Begehung der Betroffene dringend verdächtig ist, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften im Haftbefehl anzugeben. Die dem Betroffenen vorgeworfene Tat muss aus sich heraus verständlich in dem Haftbefehl selbst angegeben werden. Obwohl die notwendige Konkretisierung der Tat im Einzelnen durchaus umstritten ist (vgl. z. B. Tatzeit beim Einbruchsdiebstahl während Urlaubsabwesenheit der Wohnungseigentümer oder konkrete Tatbegehung bei einem „Mord ohne Leiche“), dürfte ein Haftbefehl, der weder jedenfalls eine zeitliche noch eine örtliche Eingrenzung der Tat enthält, nicht rechtmäßig sein.66 Erforderlich ist zudem, dass der Haftbefehl einen Lebensvorgang beschreibt, durch den die Verwirklichung der einzelnen Tatbestandsmerkmale des dem Betroffenen vorgeworfenen Straftatbestands erkennbar wird.67 Nicht erforderlich ist jedoch, dass der Haftbefehl sich auf alle Taten erstreckt, die dem Betroffenen zu diesem Zeitpunkt bereits vorgeworfen werden, sofern bereits ein Tatvorwurf den Erlass des Haftbefehls trägt.68 Ebenfalls der Haftgrund ist im Haftbefehl anzugeben, § 114 Abs. 2 Nr. 3 StPO.69 Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 4, 12, 26; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 90; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 275. 66  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 7; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 7; § 114 Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 3; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 6; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn.  15 f.; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 91; Schlothauer/Weider/ Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 275. A. A. wohl Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 24, wonach es jedenfalls bei gleichartigen Serientaten ausreichen soll, wenn der Haftbefehl Angaben enthalte, aus denen sich schließen lasse, dass die vorgeworfenen Taten nicht verjährt seien. 67  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 7; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 6 ff.; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 20; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 16; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 91. 68  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 9. Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 9; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn.  26; a. A. Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 7 insb. mit der Begründung, dies könne die Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen einschränken. 69  Es ist umstritten, ob bei einem Nebeneinander mehrerer Haftgründe alle in dem Haftbefehl anzugeben sind. In Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 278 (m. w. N.) sprechen sich die Autoren für die Angabe aller Haftgründe aus, da anderenfalls das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör umgangen werden würde und seine Verteidigung erschwert werden könnte. So auch Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 12; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 31; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 8; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 22. A. A.: BGH, Urteil vom 14. Oktober 1992 – 2 BGs 389/92, StV 1993, 32; OLG Hamm, Beschluss vom 5. November



A. Formelle Voraussetzungen87

Zuletzt sind nach § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO all diejenigen Tatsachen im Haftbefehl zu nennen, aus denen sich die Annahme des dringenden Tatverdachts sowie der Haftgrund ergeben.70 Der Sache nach handelt es sich um eine Begründung der verhängten Untersuchungshaft, die dem Betroffenen die Überprüfung dieser ermöglicht, um sich ggf. verteidigen zu können.71 Nach § 114 Abs. 3 StPO muss zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO Stellung genommen werden, sofern die Anwendung dessen naheliegt oder sich der Betroffene auf diesen beruft.72 Eine Studie von Volk aus dem Jahr 1990 hat ergeben, dass Haftbefehle in einer Vielzahl von Fällen hinter den Begründungserfordernissen des § 114 StPO zurückbleiben und insbesondere formelhafte sich wiederholende oder gar inhaltslose Begründungen enthalten.73 2. Verkündung und Form Die Untersuchungshaft darf nur schriftlich durch einen Richter angeordnet werden, vgl. § 114 Abs. 1 StPO.74 Wird der Haftbefehl in Anwesenheit des Betroffenen erlassen, ist er diesem nach § 35 Abs. 1 Satz 1 StPO im vollen Wortlaut in einer ihm verständlichen Sprache (also ggf. mit Hilfe eines Dol1996 – 3 Ws 514/96, StV 1998, 35, 36; Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 13; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 5; grds. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 14 einschränkend jedoch dahingehend, dass bei dem Zusammentreffen von Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr beide Haftgründe zu nennen sind, damit der Betroffene sein Verhalten darauf einstellen und einschätzen kann, ob eine Haftverschonung nach § 116 StPO (oder gar Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 StPO) in Betracht kommt. 70  Dies gilt nicht, sofern durch diese Angabe die Staatssicherheit gefährdet werden würde (§ 114 Abs. 2 Nr. 4 a. E. StPO), vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 12; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 15; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 37; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 10; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 25. 71  Vgl. Fn. 65, S. 85. 72  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 19 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn. 17; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 16; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 7; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 39; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 30; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 94. Wohl a. A. Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 11. 73  Volk, Haftbefehle und ihre Begründungen, S. 104 ff. mit Beispielen für „Scheinbegründungen“ aus den untersuchten Akten. 74  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114 Rn.  1 f.; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 1; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 11, 14; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114a Rn. 3; Herrmann, in: SSW 2018, § 114 Rn. 3; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 426; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 86.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

metschers) zu verkünden.75 Erging die Entscheidung in Abwesenheit des Betroffenen, genügt eine formlose Bekanntgabe, z. B. durch Übergabe des Haftbefehls bei der Verhaftung.76 Dem Betroffenen bei der Verhaftung auf Grund eines Haftbefehls beziehungsweise unverzüglich danach eine (für ihn verständliche) Abschrift des Haftbefehls auszuhändigen, soweit dies nicht bereits erfolgt ist, vgl. § 114a Satz 1 StPO.77 Ist dies nicht möglich, sind ihm nach § 114a Satz 2 StPO jedenfalls in einer ihm verständlichen Sprache die Gründe für seine Verhaftung und der Tatvorwurf mitzuteilen. Die Aushändigung einer Abschrift des Haftbefehls sowie einer etwaigen Übersetzung dessen ist in diesem Fall unverzüglich nachzuholen, § 114a Satz 3 StPO.78 Eine Vorführung und eine Vernehmung nach § 115 StPO haben in jedem Fall zu erfolgen.79 Im Rahmen der Vernehmung müssen dem Betroffenen alle ihn belastenden Umstände dargelegt werden, um ihm rechtliches Gehör i. S. d. Art. 103 Abs. 1 GG zu verschaffen. Das gilt auch, wenn ein bereits bestehender Haftbefehl neugefasst bzw. abgeändert wird.80 Der Staatsanwaltschaft sowie dem Verteidiger81 des Betroffenen ist die Teilnahme an der Vernehmung gestattet, § 168c Abs. 1 Satz 1 StPO. Nach der Vernehmung hat der Richter das Vorliegen sämtlicher Haftbefehlsvoraussetzungen zu prüfen 75  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114a Rn. 2, 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114a Rn. 3; Graf, in: KK 2019, § 114a Rn. 4, 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 114a Rn. 7; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114a Rn. 4; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114a Rn. 3b; Herrmann, in: SSW 2018, § 114a Rn. 3 f., 6; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 283. 76  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114a Rn. 3, 5, 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114a Rn. 3; Graf, in: KK 2019, § 114a Rn. 4; § 114a Rn. 3; Wankel, in: KMR II 2019, § 114a Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114a Rn. 4; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114a Rn. 3b, 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 114a Rn. 4, 6. 77  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114a Rn. 5, 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114a Rn. 4; Graf, in: KK 2019, § 114a Rn. 6, 7; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114a Rn. 6; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 3; Herrmann, in: SSW 2018, § 114a Rn.  7 ff.; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 283. 78  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114a Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 114a Rn. 5; Graf, in: KK 2019, § 114a Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn.  4 ff.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 114a Rn. 8 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 4. 79  Zu dem Verfahren der Vorführung und Vernehmung in Folge einer vorläufigen Festnahme nach §§ 127, 128 StPO siehe im Einzelnen oben ab S. 82. 80  BVerfG, Beschluss vom 20. September 2001 – 2 BvR 1144/01, NStZ 2002, 157, 158 m. w. N.; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 25 ff.; § 114a Rn. 49; § 115 Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 115 Rn. 7 ff., 12; Graf, in: KK 2019, § 115 Rn. 7, 15; Wankel, in: KMR II 2019, § 115 Rn. 9 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 115 Rn. 9 ff. 81  Soweit ein Verteidiger bereits vorhanden ist, da der Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO erst mit Vollzug des Haftbefehls eintritt.



A. Formelle Voraussetzungen89

und zu entscheiden, ob der Haftbefehl erlassen bzw. aufrechterhalten, aufgehoben (§ 120 Abs. 1 StPO) oder außer Vollzug (§ 116 Abs. 1 StPO) gesetzt werden soll, vgl. § 115 Abs. 4 StPO.82 Dementsprechend ist der Haftbefehl ggf. förmlich nach § 35 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verkünden. 3. Fehlerfolgen Ein unter Verstoß gegen die Formvorschriften der §§ 114 ff. StPO erlassener Haftbefehl ist wirksam und vollziehbar, aber rechtswidrig. Umstritten ist jedoch, in welchem Ausmaß Begründungsmängel mittels Ergänzung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht „geheilt“ werden können.83 Nach wohl herrschender Auffassung in der Rechtsprechung können in der Beschwerdeinstanz auf Antrag der Staatsanwaltschaft jedenfalls geringfügige Formfehler durch eine Entscheidung des Beschwerdegerichts nach § 309 Abs. 2 StPO korrigiert werden.84

IV. Exkurs: Begründungstiefe von Haftentscheidungen Das Bundesverfassungsgericht stellt auch an die Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen, also Entscheidungen, die nach dem Erlass des eigentlichen Haftbefehls beispielsweise auf einen Haftprüfungsantrag des Betroffenen hin ergehen, besonders hohe Anforderungen. Die mangelnde Begründungstiefe folgt zumeist aus der unzureichenden Berücksichtigung einzelner Belange, die nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts Berücksichtigung hätten finden müssen. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG erfordert eine umfassende Abwägung der Interessen des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse. Geht ein entsprechender Abwägungsvorgang aus der 82  Hilger, in: L-R IV 2007, § 115 Rn. 20; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 115 Rn. 10; Graf, in: KK 2019, § 115 Rn. 14; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 115 Rn. 42; Paeffgen, in: SK II 2016, § 115 Rn. 11. 83  Teilweise wird von einer umfassenden Korrekturmöglichkeit ausgegangen: Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 21; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 11; Graf, in: KK 2019, § 114 Rn. 10; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 4; Böhm/ Werner: in: MüKo I 2014, § 114 Rn. 50 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 114 Rn. 34 dagegen scheint jedwede Korrektur durch das Beschwerdegericht abzulehnen. 84  BVerfG, Beschluss vom 20. September 2001 – 2 BvR 1144/01, NStZ 2002, 157, 158 (eine unterbliebene Haftbefehlsverkündung ist nicht heilbar); OLG Brandenburg, Beschluss vom 12. September 1996 – 2 Ws 170/96, NStZ-RR 1997, 107, 108; OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 2006 – 1 Ws 87/06, 1 Ws 88/06, BeckRS 2006, 137105; OLG Celle, Beschluss vom 06. Januar 2009 – 1 Ws 629/08, BeckRS 2009, 6748. Vgl. Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 15; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 826.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

Entscheidung nicht hervor, liegt ein Abwägungsfehler vor, der zu einer Feststellung einer Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG führt.85 Ein solcher Abwägungsfehler kann sich wie folgt darstellen86: – Abwägungsausfall (es wurde gar keine Interessenabwägung vorgenommen), – Abwägungsdefizit (es wurde nicht in die Interessenabwägung eingestellt, was einzustellen gewesen wäre), – Abwägungsdisproportionalität (einzelne Belange wurden im Rahmen der Interessenabwägung fehlgewichtet). Eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch mangelnde Begründungstiefe kann nur verhindert werden, indem jeder Haftfortdauerbeschluss dokumentiert, dass sich das erkennende Gericht mit allen Haftvoraussetzungen auseinandergesetzt hat und insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeit alle aktuellen widerstreitenden Interessen gegeneinander abgewogen hat. Je länger die Untersuchungshaft bereits andauert, desto höhere Anforderungen stellt das Bundesverfassungsgericht an die geforderte Begründungs­ tiefe.87 Auf den im Rahmen dieser Untersuchung besonders relevanten Belang der angemessenen Verfahrensbeschleunigung wird im Folgenden noch einzugehen sein.88 Zunächst hatte das Bundesverfassungsgericht die besonderen Begründungserfordernisse insbesondere an oberlandesgerichtliche Beschlüsse nach § 122 Abs. 3 Satz 1 StPO gestellt, da die Oberlandesgerichte im Rahmen der Haftprüfung von Amts wegen zugleich erst- und letztinstanzlich entscheiden.89 Mittlerweile fordert das Bundesverfassungsgericht allerdings eine entsprechende Begründungstiefe auch bei Beschwerdeentscheidungen.90 Insbeson85  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/09, BeckRS 1999, 20022, OLG Bremen, Beschluss vom 3. Januar 2018 – 1 Ws 143/17, 1 Ws 144/17, 1 Ws 145/17, BeckRS 2018, 00006 m. w. N.; vgl. Wankel, in: KMR II 2019, § 122 Rn. 16; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn.  800 f. 86  Vgl. Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325, 326. 87  Hilger, in: L-R II 2007, § 121 Rn. 34a; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 28a; § 122 Rn. 16; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 27; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 9b, § 122 Rn. 16; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 8, 34; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 8; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 803; Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325, 327. 88  Siehe dazu ab S. 168 und S. 178. 89  BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/09, BeckRS 1999, 20022; Paeffgen, in: SK II 2016, § 122 Rn. 9. Vgl. auch Nachweise in Fn. 87, S. 90. 90  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2



B. Materielle Voraussetzungen91

dere den jüngeren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch nicht mehr91 zu entnehmen, dass die erhöhten Begründungsanforderungen nur bei letztinstanzliche Entscheidungen zu berücksichtigen sind.92 In der Praxis sollten sich daher alle Haftentscheidungen an den Begründungserfordernissen des Bundesverfassungsgerichts orientieren.93

B. Materielle Voraussetzungen I. Dringender Tatverdacht, § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO Für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO muss ein dringender Tatverdacht vorliegen, ein höherer Verdachtsgrad als der im Übrigen für die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen regelmäßig94 ausreichende Anfangsverdacht95. Eine Legaldefinition für den dringenden Tatverdacht enthält die Strafprozessordnung – wie auch bezüglich aller anderen BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3486. 91  So noch in BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/09, BeckRS 1999, 20022. 92  So stellte das BVerfG in einem Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020 fest, dass auch die (einfache) Beschwerdeentscheidung des LG (und nicht nur die darauffolgende weitere Beschwerdeentscheidung des OLG) den Begründungsanforderungen nicht genüge. 93  OLG Bremen, Beschluss vom 3. Januar 2018 – 1 Ws 143/17, 1 Ws 144/17, 1 Ws 145/17, BeckRS 2018, 00006; Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325, 327, 329 f.; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 839.Vgl. bzgl. Haftprüfungsentscheidungen: Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 28; Wankel, in: KMR II 2019, § 118a Rn. 12. 94  Der Anfangsverdacht genügt nicht für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO, die ebenfalls den dringenden Verdacht für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB verlangt. Ein solcher dringender Verdacht dürfte regelmäßig dann anzunehmen sein, wenn der Betroffene dringend verdächtigt ist, eine Katalogtat des § 69 Abs. 2 StGB begangen zu haben. Teilweise werden die Verdachtsgrade noch schärfer voneinander abgegrenzt. So wird in der Literatur zum Teil angenommen, dass der z. B. gemäß § 100e Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO für Maßnahmen nach §§ 100a bis 100c StPO erforderliche Tatverdacht (dort heißt es: „bestimmte Tatsachen, die den Verdacht begründen“) einen eigenständigen Verdachtsgrad darstellt. Vgl. zu den einzelnen Verdachtsgraden: Bernsmann/Jansen, StV 1998, 217, 219. 95  Ein Anfangsverdacht liegt vor, wenn auf Grundlage des bisherigen Ermittlungsstands konkrete Tatsachen unter Berücksichtigung kriminalistischer Erfahrungswerte den Verdacht begründen, dass eine Straftat begangen wurde; vgl. Beulke, in: L-R V 2008, § 152 Rn. 21 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 152 Rn. 4; Kulhanek, in: KMR III 2019, § 152 Rn. 18 ff.; Peters, in: MüKo II 2016, § 152 Rn. 35; Weßlau/ Deiters, in: SK III 2016, § 152 Rn. 12 f.; Schnabl, in: SSW 2018, § 152 Rn. 6.

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

Verdachtsgrade – nicht. Neben der Bedeutung des Wortes „dringend“ lässt sich auch aus der Systematik der Strafprozessordnung und der Bedeutung der Untersuchungshaft entnehmen, dass hiermit auch ein stärkerer Verdachtsgrad erforderlich ist, als der für die Eröffnung des gerichtlichen Hauptverfahrens notwendige hinreichende Tatverdacht96 nach § 203 StPO.97 Im Übrigen hat der Gesetzgeber98 die Ausarbeitung der Einzelheiten des dringenden Tatverdachts der Rechtsprechung und Literatur überlassen. Danach wird im Allgemeinen das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts angenommen, wenn auf Grundlage des bisherigen Ermittlungsstands die „erhebliche“, „große“ oder „hohe“ Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Verdächtige wegen der Begehung einer Straftat als Täter oder Teilnehmer verurteilt wird.99

II. Haftgrund, § 112 Abs. 2 und 3 StPO Die Untersuchungshaft ist nur rechtmäßig, wenn ein Haftgrund vorliegt. Die gesetzlichen Haftgründe sind abschließend in den §§ 112 ff. StPO normiert. Dazu gehören die Flucht, die Fluchtgefahr und die Verdunkelungsgefahr des § 112 Abs. 2 StPO, die Wiederholungsgefahr des § 112a StPO und 96  Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn auf Grundlage des bisherigen Ermittlungsstandes eine Verurteilung am Ende eines gedachten Hauptverfahrens wahrscheinlicher ist als ein Freispruch; vgl. Stuckenberg, in: L-R V-2 2018, § 203 Rn.  6 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 203 Rn. 2; Seidl, in: KMR III 2019, § 203, Rn. 14; Wenske, in: MüKo II 2016, § 203 Rn. 13; Rosenau, in: SSW 2018, § 203 Rn. 3. 97  Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 17, 19; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 6; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 9; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 415. 98  Bereits § 112 Abs. 1 RStPO verlangte „dringende Verdachtsgründe“, während § 101 des ersten Entwurfs der Reichsstrafprozessordnung vom 29. Oktober 1874 (Hahn, Gesamte Materialien I, S. 3 ff.) lediglich „hinreichende Verdachtsgründe“ verlangte. Soweit ersichtlich wurden die Voraussetzungen der Annahme eines dringenden in Abgrenzung zu einem hinreichenden Verdacht während des Gesetzgebungsverfahrens nicht thematisiert. Bereits im Rahmen der ersten Lesung der Kommission wurde positiv über das Erfordernis der „dringenden Verdachtsgründe“ abgestimmt. In diesem Zusammenhang bemerkte der Abgeordnete Herz, der Begriff „hinreichend“ sei ein „zu unbestimmter, nebelhafter Begriff“ (Protokolle der Kommission, Erste Lesung, Protokoll der 45. Sitzung vom 22. Juni 1875, 127, 134, abgedruckt in: Hahn, Gesamte Materialien I, 653, 660). 99  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. September 1995 – 2 BvR 2475/94, NJW 1996, 1049, 1050; Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 5; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 3, 6; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 24; Paeffgen, in: SK II 2016, §  112 ff. Rn.  4 ff.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 7; König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 2; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 117; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 416.



B. Materielle Voraussetzungen93

die Schwerstkriminalität des § 112 Abs. 3 StPO. § 113 StPO enthält Einschränkungen für leichtere Taten. 1. Flucht, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO Der Haftgrund der Flucht ist anzunehmen, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen festgestellt wird, dass der Betroffene flüchtig ist oder sich verborgen hält, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO. Der Betroffene ist flüchtig, wenn der Betroffene seinen räumlichen Lebensmittelpunkt aufgibt bzw. diesen verlässt, um sich den Ermittlungen auf Dauer oder jedenfalls für längere Zeit zu entziehen, indem er sich beispielsweise in das Ausland absetzt.100 Der Betroffene hält sich verborgen, wenn er Maßnahmen ergreift, um von den Strafverfolgungsbehörden nicht aufgefunden zu werden. Entsprechende Maßnahmen können z. B. in einem Wohnsitzwechsel ohne Ummeldung oder unter Ummeldung unter falschem Namen geschehen.101 Zur Abgrenzbarkeit der beiden Varianten wird für die Annahme einer Flucht teilweise ein Auslandsbezug verlangt.102 Eine Abgrenzung ist indes nicht notwendig, da nach allgemeiner Auffassung beide Varianten des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO gleichzeitig verwirklicht sein können.103 Notwendig sowohl für die Annahme der Flucht als auch des Verborgenseins ist zudem der sich aus den Gesamtumständen ergebende subjektive Wille des Betroffenen dahingehend, sich durch seine Abwesenheit bzw. Unerreichbarkeit dem Strafverfahren entziehen zu wollen.104 100  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 29; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 13; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 10 f.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 36; soweit wohl auch zustimmend: Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 22a; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 26, 32 ff. jeweils m.w.N und Beispielen. 101  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 30; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 14; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 13; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 39; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 22c f.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 27; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 156. 102  Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 36; a. A. vgl. Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 13; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 26. 103  Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 30; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 12; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 35; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 22; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 28. 104  Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 28; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 13; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014,

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2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

2. Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist nach dem Bundesgerichtshof anzunehmen, wenn unter Würdigung der bekannten Gesamtumstände des Falles wahrscheinlicher ist, dass der Betroffene sich dem Strafverfahren entzieht, als dass er sich diesem stellt.105 Nach dem Gesetzestext muss sich der Verdacht der Fluchtgefahr auf Grund bestimmter Tatsachen bei Würdigung aller Gesamtumstände ergeben.106 In die Gesamtumstände ist beispielsweise einzubeziehen, ob der Betroffene sozial und berufliche Bindungen oder einen festen Wohnsitz in Deutschland hat. Auch eventuelle Auslandskontakte sind zu berücksichtigen. Grundsätzlich kann auch die Höhe der drohenden Straferwartung als eine die Fluchtgefahr indizierende Tatsache in die Würdigung der Gesamtumstände einbezogen werden.107 Sie darf die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr jedoch nicht alleine rechtfertigen.108 Lediglich bei einer besonders hohen Straferwartung soll die Annahme der Fluchtgefahr nach teilweise vertretener Auffassung widerlegbar vermutet werden können.109 § 112 Rn. 36, 39; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 29; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 417; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 153. 105  BGH, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 1 StR 726/13, NJW 2014, 2372, 2373; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 17; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn.  32 ff. (hohe Wahrscheinlichkeit); Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 16 (höhere Wahrscheinlichkeit); Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 41 (höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit); Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 24 (größere Wahrscheinlichkeit); Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 418 (dringende Wahrscheinlichkeit); Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 157 (hohe Wahrscheinlichkeit); Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 517 (hohe Wahrscheinlichkeit). 106  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 19; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 9, 16; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 6 f.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 41; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 24; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 38. 107  Vgl. für zu berücksichtigende Gesamtumstände: Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn.  34 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 20 f.; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 22; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 50 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, §  112 ff. Rn.  25 ff.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 35 ff.; Münchhalffen/ Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 158 ff., 188. 108  Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 24; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 19; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 8; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 51; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 25; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 63 ff. 109  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 25; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 19; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 52. A. A. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 39; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 25a; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 189; die das alleinige Abstellen auf die Straferwartung ohne weitergehende Prüfung der Einzelfallumstände insb. mangels empirischer Belege hin-



B. Materielle Voraussetzungen95

3. Verdunkelungsgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO Der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr ist in § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO legaldefiniert. Danach liegt Verdunkelungsgefahr vor, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen das Verhalten des Betroffenen den dringenden Verdacht begründet, er werde •• Beweismittel vernichten, verändern, beiseiteschaffen, unterdrücken oder fälschen (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StPO) oder •• auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 lit. b StPO) oder •• andere zu solchem Verhalten veranlassen (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 lit. c StPO) und deshalb die Gefahr droht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde. Verdunklungsgefahr liegt damit vereinfacht gesprochen vor, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der sich in Freiheit befindliche Betroffene in irgendeiner Weise auf persönliche oder sachliche Beweismittel in unlauterer oder prozessordnungswidriger Weise einwirken werde, wodurch die Wahrheitsfindung im Rahmen des Strafverfahrens erschwert ist.110 Erforderlich für die Annahme von Verdunkelungsgefahr ist auch, dass eine Beweisvereitelung in Anbetracht des Ermittlungsstands überhaupt noch möglich ist.111 4. Haftgrund der Tatschwere, § 112 Abs. 3 StPO Nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO darf gegen einen Betroffenen, der einer Straftat nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 oder § 13 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2 StGB, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 StGB, oder nach den §§ 211, 212, 226, 306b oder 306c StGB oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden sichtlich der Kausalität zwischen Straferwartung und Flucht ablehnen; im Ergebnis zustimmend: Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 51. 110  Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 41 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 26 ff.; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 25 ff.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 63 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 34 ff.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 74 f. Kritisch zu dem Haftgrund der Verdunkelungsgefahr: Kühne, Strafprozessrecht, Rn.  419 ff. m. w. N. 111  BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020; Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 50; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 35; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 39; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 13; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 84; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 33.

96

2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 StGB dringend verdächtig ist, die Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen eines Haftgrundes nach § 112 Abs. 2 StPO angeordnet werden. Dem Wortlaut nach stellt dies jedoch einen eklatanten Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO und der rechtsstaatlich anerkannten und in Art. 6 Abs. 2 EMRK normierten Unschuldsvermutung dar und wurde somit vom Bundesverfassungsgericht112 für verfassungswidrig erklärt.113 Daher muss für die Annahme der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO in verfassungskonformer Auslegung zumindest die Möglichkeit bestehen, dass der Betroffene einen normierten Haftgrund der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr erfüllt oder die Tat wiederholt.114. Diesen Voraussetzungen wird in der Praxis Rechnung getragen, indem das Vorliegen eines Haftgrundes widerlegbar vermutet wird, nach den Umständen nicht ausgeschlossen ist oder die Begründungsanforderung an den Haftbefehl herabgesetzt werden.115 5. Wiederholungsgefahr, § 112a StPO Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr hat keinen verfahrenssichernden, sondern präventiv-polizeilichen Charakter.116 Er ist anzunehmen, wenn der 112  BVerfG,

243 f.

Beschluss vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243,

113  Vgl. auch Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 53; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 37; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 42; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 90; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 41a; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 94. 114  BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 1965 – 1 BvR 513/65, NJW 1966, 243; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 25; § 112 Rn. 53; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 37; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 42; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 90, 95; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 ff. Rn. 42b; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 97; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 223. 115  Vgl. BGH, Beschluss vom 23. Dezember 2009 – 1 BJs 26/77-5 – StB 51/09, NStZ 2010, 445,448 f.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 11. März 2010 – 1 Ws 115, BeckRS 2010, 6441; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 35, § 112 Rn. 53; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 38; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 42; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 22; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 95; Paeff­ gen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 41c; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 94 ff; Lorenz, in: BK II, Art. 2 Rn. 836; jeweils m. w. N. Dennoch stößt der Haftgrund der Tatschwere immer wieder auf Kritik; vgl. Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 43 ff. 116  Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 8; § 112a Rn. 9 f.; Lind, in: L-R XII 2014, Nachtr. § 112a Rn. 2 („Schutz der Allgemeinheit“); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112a Rn. 1; Graf, in: KK 2019, § 112a Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 112a Rn. 2; Böhm, in: MüKo I 2014, § 112a Rn. 1; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112a Rn. 3; Herrmann, in: SSW 2018, § 112a Rn. 2.



B. Materielle Voraussetzungen97

Betroffene der Begehung einer Katalogtat nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 StPO begangen zu haben und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, er werde vor rechtskräftiger Aburteilung dieser Tat weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat fortsetzen. Zudem muss die Haft zur Abwendung der drohenden Wiederholungsgefahr erforderlich und in den Fällen des dringenden Verdachts der Begehung einer Katalogtat nach § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO muss eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten sein, § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO. Zudem ist die Dauer der Untersuchungshaft auf Grundlage des § 112a StPO durch § 122a StPO absolut auf eine Höchstdauer von einem Jahr begrenzt. Eine solche absolute Grenze besteht bei den übrigen Haftgründen nicht.117 Auch deshalb nimmt der Haftgrund der Wiederholungsgefahr neben seinem präventiv-polizeilichen Charakter innerhalb der Strafprozessordnung eine Sonderstellung ein. 6. Apokryphe Haftgründe Nur am Rande kann im Rahmen der hiesigen Untersuchung erwähnt werden, dass in der Praxis wohl auch Untersuchungshaft ohne Vorliegen einer der vorgenannten gesetzlichen Haftgründe verhängt wird. In diesen Fällen wird ein normierter Haftgrund der § 112 f StPO lediglich formal zur Begründung des Haftbefehls vorgeschoben, um den eigentlich ungesetzlichen – sog. apokryphen – Haftgrund zu verschleiern. Indes lässt sich die Häufigkeit apokrypher Haftgründe auf Grund der ihr innewohnenden Eigenart, gerade nicht als Grund für die Verhängung der Untersuchungshaft angegeben zu werden, und der damit einhergehenden problematischen Nachweisbarkeit empirisch kaum belegen.118 7. Einschränkung nach § 113 StPO § 113 StPO schränkt die Anwendbarkeit der Haftgründe der Verdunkelungsgefahr und der Fluchtgefahr bei Straftaten mit geringer Strafandrohung 117  Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 1b; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 1; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 1; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 1; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 441; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 519; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 887, 997; Knauer, StraFo 2007, 309, 310. 118  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 54; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn.  21 ff.; jeweils m. w. N.; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 248; Nordhues, Untersuchungshaft im Spannungsverhältnis von Recht und Praxis, S. 45; Schlothauter/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 680; Theile, wistra 2005, 327, 328 f. Vgl. zu „apokryphen Verlängerungsgründen“ im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens nach §§ 121, 122 StPO: Paeffgen, in: NJW 1990, 537, 537 ff.

98

2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

von bis zu einhundertachtzig Tagessätzen oder Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten ein. In diesen Fällen darf die Untersuchungshaft nach § 113 Abs. 1 StPO überhaupt nicht auf den Haftgrund der Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO gestützt werden. Die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist nach § 113 Abs. 2 StPO nur möglich, wenn der Betroffene sich dem Verfahren bereits entzogen hat oder Anstalten zur Flucht getroffen hat (Nr. 1), keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt in Deutschland hat (Nr. 2) oder sich nicht ausweisen kann (Nr. 3). § 113 StPO stellt damit eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach dar, der neben der allgemeinen Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft gemäß § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO zu berücksichtigen ist.119 Verfahren, in denen ein Haftbefehl wegen Vorliegens der Voraussetzungen nach § 113 StPO ergangen ist, sind überdies auf Grund der geringen Bedeutung der begangenen Tat mit besonderer Beschleunigung zu betreiben.120

III. Verhältnismäßigkeit, § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO Die Untersuchungshaft muss gemäß § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO während ihrer gesamten Dauer verhältnismäßig sein.121 Das ist nicht der Fall, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO. Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit als allgemeines verfassungsrechtliches Prinzip ist trotz der negativen Formulierung des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO eine Haftvoraussetzung, die positiv festgestellt werden muss.122 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip statuiert, dass die Untersuchungshaft nach Abwägung aller beteiligten Interessen nur als ultima ratio wegen über119  Hilger, in: L-R IV 2007, § 113 Rn. 1; Graf, in: KK 2019, § 113 Rn. 1; Böhm/ Werner, in: MüKo I 2014, § 113 Rn. 1; Paeffgen, in: SK II 2016, § 113 Rn. 7; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 108. A. A. offenbar Meyer-Goßner/Schmitt, der in StPO 2018, § 113 Rn. 1 explizit auf die Verhältnismäßigkeit des § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO hinweist. 120  Hilger, in: L-R IV 2007, § 113 Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 113 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 113 Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 113 Rn. 6; Böhm, in: MüKo I 2014, § 113 Rn. 10; Hermann, in: SSW 2018, § 113 Rn. 10. 121  Vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217; Böhm, in: MüKo I 2014, § 120 Rn. 11; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 10 ff.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 108. 122  BT-Drs. 4/178, S. 16; Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 61; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 10; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 107; a. A. Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 46; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 15.



B. Materielle Voraussetzungen99

wiegender Allgemeinwohlinteressen verhängt und vollzogen werden darf.123 Insbesondere die Unschuldsvermutung und die Freiheitsgrundrechte des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG müssen mit dem Strafverfolgungsinteresse des Staates in Einklang gebracht werden.124 Bevor die Untersuchungshaft verhängt wird und bei jeder Haftfortdauerentscheidung sowie jederzeit von Amts wegen nach § 120 Abs. 1 StPO, muss der Richter unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls prüfen, ob dem Strafverfolgungsinteresse und damit insbesondere der Sicherung des Strafverfahrens im Einzelfall (noch) der Vorzug gegenüber der Freiheit des Betroffenen zu gewähren ist.125 Hierbei sind alle erkennbaren Umstände zu berücksichtigen, wie beispielsweise die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen, aber auch die bisherige Dauer der Untersuchungshaft.126 Während des laufenden Verfahrens ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Zeit der Untersuchungshaft einer verhängten Freiheitsstrafe nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Regel angerechnet wird. Auch der potenzielle Zeitpunkt der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57 StGB und die Möglichkeit, die Strafe von Vornherein nach § 56 StGB zur Bewährung auszusetzen, müssen im Rahmen der Abwägung Berücksichtigung finden.127

IV. Haftprüfungsverfahren nach § 121 Abs. 1 StPO Mit Ausnahme der Untersuchungshaft auf Grundlage des § 112a StPO, die gemäß § 122a StPO absolut auf eine Höchstdauer von einem Jahr begrenzt 123  Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 55; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 9; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 52; Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 12; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 106, 109. 124  Vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 31; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 112 Rn. 11; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 45; vgl. Paeffgen, in: SK II 2016, § 112 Rn. 11; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 32; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 106. 125  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 57  ff.; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn.  46 ff.; Böhm, in: MüKo I 2014, § 120 Rn. 11 f.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 108. 126  Vgl. mit weiteren Beispielen für Kriterien, die ggf. in die Abwägung einzubeziehen sind: Hilger, in: L-R IV 2007, § 112 Rn. 57 ff.; Wankel, in: KMR II 2019, § 112 Rn. 18 ff.; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 112 ff. 127  Vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 – StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255; Hilger, in: L-R IV 2007, § 120 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 120 Rn. 4; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 6; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 33; Paeffgen, in: SK II 2016, § 120 Rn. 4b, 7; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 351; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn.  783 f.

100 2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

ist, besteht eine gesetzlich definierte zulässige Höchstdauer der Untersuchungshaft nicht.128 Wird die Untersuchungshaft aber wegen derselben Tat129 mehr als sechs Monate vollzogen, hat das jeweils zuständige Oberlandesgericht eine Haftprüfung von Amts wegen nach den Voraussetzungen der §§ 121, 122 StPO vorzunehmen. Die Fristberechnung richtet sich nach den § 43 StPO130 und beginnt an dem Tag, an dem der Betroffene auf Grund eines Haftbefehls inhaftiert ist. Der erste Tag der Untersuchungshaft bleibt nach § 43 Abs. 1 StPO bei der Fristberechnung unberücksichtigt. Zeiten, in denen der Betroffene nur auf Grund einer vorläufigen Festnahme inhaftiert ist, werden ebenfalls nicht mitgezählt.131

128  Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 1b; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 1; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 1; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 1; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 441; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 887, 997; Knauer, StraFo 2007, 309, 310. 129  Nach h. M. gehören zu „derselben Tat“ i. S. d. § 121 Abs. 1 StPO alle Taten ab dem Zeitpunkt, ab dem der Haftbefehl auf diese wegen des Bestehens eines dringenden Tatverdachts hätte ausgedehnt werden können auch dann, wenn ein entsprechender erweiterter Haftbefehl nicht erlassen wurde. Anderenfalls könnten die §§ 121 ff. StPO umgangen werden, indem der Erlass eines erweiterten Haftbefehls wegen neu bekannt gewordener Taten bis kurz vor Ablauf der sechsmonatigen Frist des § 121 Abs. 1 StPO zurückgehalten wird, um die Frist kurz vor Ablauf durch Erlass des ­erweiterten Haftbefehls neu in Gang zu setzen. Sog. „erweiterter Tatbegriff“; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn.  11 ff.; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 10 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn.  7 ff.; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 478; Schlothauer/Weider/ Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 937 ff.; wohl auch Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 7; im Ergebnis auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 444 u. Fn. 83. Weitergehend: OLG Jena, Beschluss vom 16. November 2010 – 1 Ws 446/10, BeckRS 2011, 15235, wonach es auf den Zeitpunkt ankommt, an dem der dringende Tatverdacht bei Einhaltung der gebotenen Beschleunigung hätte bekannt sein muss. A. A. ferner Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 30.Kritisch: Schwarz, NStZ 2018, 187, 190 ff., der eine Streichung des Begriffs „derselben Tat“ vorschlägt. 130  Vgl. zu der Anwendbarkeit des § 43 StPO: OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. September 2014 – 1 HEs 89/14, BeckRS 2014, 19303; OLG Hamm, Beschluss vom 28. August 2018 – 4 Ws 145/18, BeckRS 2018, 23868 mangels vorrangiger Spezialregelungen. 131  OLG Hamm, Beschluss vom 8. August 2007 – 3 OBL 73/07, BeckRS 2007, 15322; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 3; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 17; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 43. Im Ergebnis auch Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 4, der sich aber wohl von der Anwendbarkeit des § 43 Abs. 1 StPO distanziert. Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 13; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 4a (dort auch Fn. 54); Schlothauer/ Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 930 halten es für sachgerechter, auch die Zeit der vorläufigen Festnahme zu berücksichtigen.



B. Materielle Voraussetzungen101

Eine Unterbrechung des Vollzugs der Untersuchungshaft gleich aus welchem Grund ist unschädlich, vollzogene Untersuchungshaftzeiten werden addiert.132 Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die sechsmonatige Frist nach § 121 Abs. 3 Satz 2 StPO ruht, wenn die Hauptverhandlung begonnen hat. Zudem erfolgt eine oberlandesgerichtliche Haftprüfung von Amts wegen nur bei vollzogenen Haftbefehlen und nur bis ein (erstes) erstinstanzliches Urteil ergangen ist.133 Ist das Oberlandesgericht erstinstanzlich zuständig, ist für die Haftprüfung von Amts wegen nach §§ 121 Abs. 4 Satz 2, 122 Abs. 7 der Bundesgerichtshof zuständig.134 Nach § 121 Abs. 1 StPO darf die Vollziehung der Untersuchungshaft ab einer Dauer von sechs Monaten nur durch einen oberlandesgerichtlichen Beschluss aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen, vgl. § 121 Abs. 1 u. 2 StPO. Anderenfalls setzt das Oberlandesgericht den Haftbefehl außer Vollzug (§ 116 StPO) oder hebt ihn gänzlich auf, §§ 121 Abs. 2, 122 Abs. 5 StPO. Im Rahmen der Haftprüfung von Amts wegen findet die drohende Straferwartung keine Berücksichtigung. Die Haftfortdauer darf allein aus den vorgenannten Gründen angeordnet werden.135 Ergeht auf die Haftprüfung von Amts wegen gemäß § 121 Abs. 2 StPO ein Haftfortdauerbeschluss, hat das Oberlandesgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO nach jeweils drei weiteren Monaten zu 132  Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 4 f.; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 6; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 3; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 4; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 932. 133  Der Fristlauf beginnt allerdings mit Aufhebung des Urteils durch das Rechtsmittelgericht weder neu, noch wird er fortgesetzt, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn.  19 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 8 f., 31; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 5 f.; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 4 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 4, 6, 22; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 15, 18; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 4; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 919 f. 134  Hilger, in: L-R IV 2007, § 122 Rn. 45; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 33; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 32; Wankel, in: KMR II 2019, § 122 Rn. 6; Böhm, in: MüKo I 2014, § 122 Rn. 33; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 28. 135  BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007 – 2 BvR 489/07, NStZ-RR 2008, 18, 20; Hilger, in: L-R II 2007, § 121 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 20; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 15; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 13; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 44; Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 380.

102 2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

überprüfen, wenn der Untersuchungshaftbefehl weiterhin vollzogen wird, § 122 Abs. 4 StPO. Nach erstmaliger Durchführung des Haftprüfungsverfahrens von Amts wegen ist das Oberlandesgericht gemäß § 122 Abs. 3 Satz 2 StPO auch für die Haftprüfung nach § 117 Abs. 1 StPO zuständig. Es kann diese Befugnis allerdings für maximal jeweils drei Monate an das nach § 126 StPO zuständige Gericht delegieren, § 122 Abs. 3 Satz 4 StPO.136 Das Bundesverfassungsgericht setzt hohe Maßstäbe an einen Haftfortdauerbeschluss nach § 121 Abs. 2 StPO. Nach § 121 Abs. 1 StPO soll der Vollzug einer Untersuchungshaft von über sechs Monaten die Ausnahme sein, sodass die Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist.137 Insbesondere fordert das Bundesverfassungsgericht an Haftfortdauerbeschlüsse gemäß §  122 Abs. 3 Satz 1 i. V.m § 114 Abs. 2 Nr. 4 StPO eine erhöhte Begründungs­ tiefe138. So muss jeder Haftfortdauerbeschluss nach § 122 Abs. 3 StPO erkennen lassen, dass das Oberlandesgericht sich mit allen aktuellen Umständen, die die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen, aber auch gegen diese sprechen, auseinandergesetzt hat. Dies dient der Eigenkontrolle des entscheidenden Gerichts, aber auch dem Betroffenen, damit dieser seine Verteidigung angemessen planen kann, sowie dem Bundesverfassungsgericht selbst, damit dieses den Haftfortdauerbeschluss im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde überprüfen kann.139 Ordentliche Rechtsmittel gegen einen Haftfortdauerbeschluss nach § 122 Abs. 3 StPO existieren nicht.140

136  Hilger, in: L-R VI 2007, § 122 Rn. 49; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 122 Rn. 22; Schultheis, in: KK 2019, § 122 Rn. 12; Wankel, in: KMR II 2019, § 122 Rn. 15c; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 26; Paeffgen, in: SK II 2016, § 122 Rn. 12. Von dieser Möglichkeit wird nach Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 975 in der Praxis üblicherweise Gebrauch gemacht. 137  BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 1, 18; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 13; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 1; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 37; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 13; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 57; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 950. 138  Dazu abstrakt oben S. 89. 139  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020; BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18, BeckRS 2018, 17596; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 978 f.; Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325, 326. Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 122 Rn. 34; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 28a; Paeffgen, in: SK II 2016, § 122 Rn. 9; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 8. 140  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 122; Rn. 17; Wankel, in: KMR II 2019, § 122 Rn. 18; Böhm, in: MüKo I 2014, § 122 Rn. 35; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 837, 978.



C. Ende und Folgen der Untersuchungshaft103

Das Haftprüfungsverfahren ist eine gesetzliche Konkretisierung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen.141 Die besonderen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an die Fortdauer der Untersuchungshaft im Lichte des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen stellt, werden daher im 4. Teil ab den Seiten 164 ff. dargestellt.

C. Ende und Folgen der Untersuchungshaft Die Untersuchungshaft endet grundsätzlich mit der Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls nach § 120 Abs. 1 StPO. Im Rahmen einer Verurteilung ist nach § 268b StPO ebenfalls über den Haftbefehl zu entscheiden. Wird der Betroffene zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und wird nach § 268b StPO Haftfortdauer beschlossen, wird der ­Untersuchungshaftbefehl nach ganz h. M. gegenstandslos142. Zwischen den Vertretern der herrschenden Auffassung ist allerdings umstritten, ob sich die Untersuchungshaft durch die rechtskräftige Verurteilung unmittelbar in ­Strafhaft wandelt oder zunächst sog. „Vollstreckungshaft“ oder „Organisa­ tionshaft“ eintritt, die die förmliche Einleitung der Strafvollstreckung nach den § 449 ff. StPO ermöglicht. Jedenfalls bedarf es keiner Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls, obgleich eine solche unschädlich und nach teilweise vertretener Auffassung143 aus Gründen der Rechtsklarheit wünschenswert ist.144 141  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 1; Böhm, in: MüKo I 2014, § 121 Rn. 1; Paeffgen, in: SK II 2016, § 121 Rn. 1; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 8. 142  Die Wirksamkeit des Haftbefehls lebt durch eine Rechtskraftdurchbrechung (z. B. durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 44 StPO) nach § 46 Abs. 3 StPO wieder auf. Dies war vor Einführung dieser Norm im Jahr 2006 (BGBl. I Nr. 66 vom 30. Dezember 2006, S. 3423) nach dem BVerfG nicht möglich, BVerfG, Beschluss vom 18. August 2005 – 2 BvR 1357/05, NJW 2005, 3131. Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 62a. 143  So etwa Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 59, 62; a. A. Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 22. 144  OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. August 1978 – 4 Ws 142/78, NJW 1979, 665; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 61; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 120 Rn. 15; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 22.; Wankel, in: KMR II 2016, § 120 Rn. 10; Böhm, in: MüKo I 2014, § 120 Rn. 31 (teilweise innerhalb der h. M. nicht differenzierend). A. A. Paeffgen, in: SK II 2016, § 120 Rn. 20, der die Inhaftierung nach Rechtskraft des Urteils vor förmlicher Einleitung der Strafvollstreckung mangels Rechtsgrundlage als rechtswidrig erachtet; vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 8. Februar 2000 – 2 Ws 337/99, NStZ 2000, 500, 501; jeweils m. w. N. A. A. ferner: Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 1012, wonach der Untersuchungshaftbefehl mit Rechtskraft nicht gegenstandslos werde, sondern zum Zweck der Sicherung der Strafvollstreckung aufrechterhalten werden könne, sofern dies (bei

104 2. Teil: Voraussetzungen für den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls

Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB ist die Untersuchungshaft, die der Betroffene aus Anlass der Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist, auf eine etwaige Strafe angerechnet. Die Anrechnung kann auf Anordnung des Gerichts gemäß § 51 Abs. 1 Satz 2 ganz oder teilweise unterbleiben, wenn diese im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist.145

Flucht und Fluchtgefahr) erforderlich sei. Die Vollstreckungsbehörden seien in diesem Fall verpflichtet, unverzüglich die förmliche Strafvollstreckung einzuleiten. Das Aufrechterhalten der Untersuchungshaft zu anderen Zwecken als der Sicherung der Strafvollstreckung sei rechtswidrig, sodass der Haftbefehl aufzuheben und der Betroffene zu entlassen sei. 145  Vgl. zu den Problemfeldern um die (Nicht-)Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 1314 ff. und die dortigen Nachweise.

3. Teil

Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft Die Strafprozessordnung bietet dem Betroffenen verschiedene Rechtbehelfe, um die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftierung einer richterlichen Überprüfung unterziehen zu lassen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Haftprüfung nach §§ 117 ff. StPO sowie die Haftbeschwerde nach §§ 304 ff. StPO. Zudem ist auch ganz generell der schlichte Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls oder anderer Haftentscheidungen anerkannt. An dieser Stelle zu erwähnen, aber im Folgenden nicht weiter zu vertiefen ist, dass die zuständige Staatsanwaltschaft und der zuständige Haftrichter die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls von Amts wegen stets zu überprüfen haben, § 120 Abs. 1 StPO. Beim Wegfall der Voraussetzungen ist der Haftbefehl von Amts wegen aufzuheben.1

A. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG I. Grundsätzliches Art. 19 Abs. 4 GG enthält das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz (Justizgewährungsanspruch).2 Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, der üblicherweise stellvertretend für den Justizgewährungsanspruch zitiert wird, lautet: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“

Der Justizgewährungsanspruch des Art. 19 Abs. 4 GG ist eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs, der sich nach wohl herrschender Auffassung aus dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten ergibt. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch erfasst neben dem Anwen1  Hilger, in: L-R IV 2007, § 120 Rn. 5; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 1; Paeffgen, in: SK II 2016, § 120 Rn. 2. 2  Statt vieler: BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.). NJW 1997, 2163, 2164; BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 – 1 BvR 385/90, NJW 2000, 1175, 1176; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Rn. 7; Schroe­ der, JA 2010, 167.

106

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

dungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG auch die Justizgewährung für privatrechtliche Streitigkeiten.3 Die folgenden Ausführungen beziehen sich nur auf die spezielle Ausprägung des Justizgewährungsanspruchs gegen Akte der öffentlichen Gewalt nach Art. 19 Abs. 4 GG. Art. 19 Abs. 4 GG enthält eine Rechtsweggarantie. Diese erfasst, dass gegen Akte öffentlicher Gewalt überhaupt ein Rechtsweg gegeben ist und auf diesem wirksamer Rechtsschutz erlangt werden kann.4 Art. 19 Abs. 4 GG hat jedoch nicht nur eine individualrechtliche (Grundrechts-)Komponente5. Mit der Aufnahme der Rechtsweggarantie in den Grundrechtskanon hat der Gesetzgeber zugleich eine objektive Werteentscheidung für die grundsätz­ liche Kontrolle der öffentlichen Gewalt durch die Gerichte getroffen. In objektiver Hinsicht ist Art. 19 Abs. 4 GG somit Ausdruck der dem Grundgesetz zu Grunde liegenden Systematik der Gewaltenteilung.6 Zugleich schafft Art. 19 Abs. 4 GG die institutionelle Garantie des Bestehens einer Gerichtsbarkeit, durch die wirksamer Rechtsschutz erlangt werden kann.7 Die konkrete Ausgestaltung des Justizgewährungsanspruch ist dem Gesetzgeber überlassen, wobei dieser die Werteentscheidung des Art. 19 Abs. 4 GG nicht unterlaufen darf.8 Sachlich gerechtfertigte Einschränkung der Rechtsweggarantie sind grundsätzlich möglich.9 Zulässig ist beispielsweise, den Rechtsweg an die Einhaltung normierter prozessualer Fristen zu koppeln.10 3  Vgl. Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 58; Schulze-Fielitz, in: Dreier GGKommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 36, Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn.  212 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 16. 4  Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 28; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 6; Schroeder, JA 2010, 167, 169. 5  Zu Art.  19 Abs. 4 GG als das Grundrecht auf Individualrechtsschutz, vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 39 ff; Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 30, 34 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 7 ff. 6  Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 26  f., 52; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 35; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 10. 7  Vgl. Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 39 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 42; kritisch dazu Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 14 mit der Begründung, die institutionelle Rechtsschutzgarantie ergebe sich bereits aus Art. 92, 97, 101 Abs. 1 Satz 2 und 103 Abs. 1 GG. 8  Statt vieler: BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 – 2 BvR 630/73, NJW 1976, 141; BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember. 2012 – 1 BvL 18/11, NJW 2013, 1418, 1422; jeweils m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 79, 90 ff.; Jahn u. a., Die Verfassungsbeschwerde, Rn. 480. 9  Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 152; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 14; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn.  480 f. 10  Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 182 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GGKommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 101 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III,



A. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG 107

Der Rechtsweg darf aber weder ausgeschlossen werden, noch darf die Erlangung gerichtlichen Rechtsschutzes in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise unzumutbar erschwert werden.11 So darf der Gesetzgeber den Justizgewährungsanspruch nicht vereiteln, indem er den Rechtsschutzsuchenden beispielsweise unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse auferlegt.12 Art. 19 Abs. 4 GG zwingt den Gesetzgeber nicht zu der Einrichtung eines Instanzenzugs.13 Besteht ein solcher, erstreckt sich das Recht auf effektiven Rechtsschutz jedoch auf alle Instanzen.14 Daraus folgt, dass sich das Recht auf effektiven Rechtsschutz bei mehreren zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln – wie etwa der Haftprüfung oder der Haftbeschwerde – auch darauf bezieht, dass jeweils der seitens des Betroffenen gewählte Rechtsschutz zu gewähren ist.15

Art. 19 Abs. 4 Rn. 235. Es muss allerdings die Möglichkeit bleiben, unter bestimmten Voraussetzungen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten, vgl. Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 103; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 236. 11  BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 – 2 BvR 630/73, NJW 1976, 141; BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NJW 1988, 718, 719; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 481. 12  Statt vieler: BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember. 2012 – 1 BvL 18/11, NJW 2013, 1418, 1422 jeweils m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 92; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 381. 13  BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 – 2 BvR 630/73, NJW 1976, 141; BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NJW 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember. 2012 – 1 BvL 18/11, NJW 2013, 1418, 1422; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2017 – 2 BvR 77/16; NStZ-RR 2017, 379 jeweils m. w. N.; Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 102; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 94. 14  BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 – 2 BvR 630/73, NJW 1976, 141; BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NJW 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2017 – 2 BvR 77/16; NStZ-RR 2017, 379 jeweils m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 215; Bethge, in: MSKB II, § 90 Rn. 266; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 480. 15  „Rechtsmittelautonomie“; vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851; Rostek, in: StV 2002, 225; Kirchner, StV 2006, 318. Vgl. ferner SchulzeFielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 95 f.

108

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

II. Akte öffentlicher Gewalt Zu den Akten öffentlicher Gewalt i. S. d. Art. 19 Abs. 4 GG gehören – wie das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2003 als Plenarentscheidung16 auf Vorlage des ersten Senats klargestellt hat – nicht nur die Akte der Exekutive im engeren Sinne. Insofern ist die häufig anzutreffende Formulierung, Art. 19 Abs. 4 GG biete Schutz durch, aber nicht gegen den Richter17, jedenfalls nunmehr irreführend. Vielmehr garantiert Art. 19 Abs. 4 GG auch Rechtsschutz gegen unabhängige richterliche Entscheidungen, die Richter außerhalb ihrer spruchrichterlichen unparteiischen Tätigkeit innerhalb eines Verfahrens auf Antrag und zumeist auf Grund eines Richtervorbehalts treffen. Nach dem Bundesverfassungsgericht ist diese richterliche Tätigkeit funktional eher der vollziehenden Gewalt zuzuordnen und nur auf Grund eines besonderen Schutzbedürfnisses des Betroffenen dem Richter vorbehalten.18 Folglich ist die Aussage, Art. 19 Abs. 4 GG verpflichte den Gesetzgeber nicht zu der Einrichtung eines Instanzenzugs19 jedenfalls nunmehr einschränkend dahin zu verstehen, dass richterliche Entscheidungen, die nach dem Vorgesagten den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG ausfüllen, durch eine weitere In­ stanz überprüfbar sein müssen; der Gesetzgeber mithin entsprechende Maßnahmen treffen muss.20 Im Ergebnis sind auch das Haftprüfungsverfahren

16  BVerfG,

Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924. Formulierung geht zurück auf Günter Dürig (Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 96) und wurde sodann vom BVerG übernommen; statt vieler: BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 1963 – 2 BvR 21/60, NJW 1963, 803. 18  BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924, 1925; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 53; SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 100; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 31. Die früher vertretene Auffassung des BVerfG war bereits früh Kritik ausgesetzt, vgl. Amelung, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Grundrechtseingriffe, S. 22 f., 55; Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer, S. 145 ff.; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, S. 241 ff.; vgl. ferner SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 96 ff.; vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 76 f.; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 55; Voßkuhle, NJW 2003, 2193; jeweils m. w. N. Nunmehr kritisch: Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 387 f. insb. mit der Begründung, ein Richter verliere durch den Normvollzug nicht seine Neutralität. 19  Vgl. Fn. 13, S. 107. 20  Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig III, Art. 20 Rn. 141 m. w. N. bzgl. einer vergleichbaren Differenzierung bzgl. der Notwendigkeit eines Rechtsbehelfs gegen die Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG. Vgl. ferner bereits vor der Klarstellung durch das BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924, 1925: Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, S. 246. 17  Diese



A. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG 109

sowie die Haftbeschwerde Rechtsbehelfe, die den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG ausfüllen und dessen Voraussetzungen erfüllen müssen.21 Hinsichtlich der Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich fordert, dass das „Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein [müssen], dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht“22.

III. Rechtsschutzbedürfnis und prozessuale Überholung Trotz Art. 19 Abs. 4 GG gilt das allgemeine Prinzip, dass Rechtsschutz nur bei fortbestehendem Rechtsschutzbedürfnis zu gewähren ist.23 Im Allgemeinen entfällt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn von der angegriffenen staat­ lichen Maßnahme gegenwärtig keinerlei Wirkung mehr ausgeht, sodass auch ihre Aufhebung keinerlei Auswirkungen hat.24 Dies ist denkbar, wenn die angegriffene Maßnahme bereits vollständig vollzogen wurde und aus recht­ lichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr reversibel ist.25 Ist eine solche Erledigung bei mit der Beschwerde nach §§ 304 ff. StPO angefochtenen Maßnahmen eingetreten, wird dies häufig als prozessuale Überholung bezeichnet. Der Begriff der prozessualen Überholung wurde in der Vergangenheit insbesondere von Kries unter Hinweis auf dessen Lehrbuch26 aus dem Jahr 1892 zugeschrieben.27 21  Vgl. zu der Beschwerde: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 100. 22  Statt vieler jeweils m. w. N.: BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1337; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 23; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181. 23  BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1982 – 1 BvL 34/80, 1 BvL 55/80, NJW 1983, 559; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 190; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 244. 24  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; Vgl. Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 197; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 146; vgl. ferner zu der strafprozessualen Beschwerde: Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 53. 25  Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 68; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 17; Hoch, in: SSW 2018, Vor §§ 296 ff. Rn. 24 ff. 26  von Kries, Lehrbuch des deutschen Strafprozeßrechts, S. 459, 698 f. 27  So etwa: Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, S. 345; von Löbbecke, Begriff und Wesen der Beschwer, S. 54.

110

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

Budach28 hat jedoch herausgearbeitet, dass der Begriff schon vorher verwendet wurde.29

Bis zum Jahr 1997 vertrat das Bundesverfassungsgericht die Auffassung, erledigte Maßnahmen – also beispielweise aufgehobene Haftbefehle – seien prozessual überholt und grundsätzlich nicht mit der Beschwerde anfechtbar, da dem Beschwerdeführer das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehle.30 Zur Begründung führte das Bundesverfassungsgericht an, dies resultiere aus der Grundstruktur des strafprozessualen Rechtsmittelsystems. Demnach sei die Beschwerde auf die Beseitigung einer gegenwärtigen und fortdauernden Beschwer gerichtet und diene dem Zweck, dem Betroffenen die Möglichkeit zu verschaffen, die richterliche Überprüfung einer Maßnahme mit dem Ziel ihrer Aufhebung zu verlangen.31 Eine reine Feststellungsentscheidung dahingehend, eine endgültig vollzogene oder bereits aufgehobene Maßnahme sei rechtmäßig oder rechtswidrig, sei der Strafprozessordnung dagegen fremd.32 Zwar erkannte das Bundesverfassungsgericht schon damals an, dass in Ausnahmefällen ein Rechtschutzbedürfnis für eine solche nachträgliche gerichtliche Entscheidung bestehen könne. Welche Ausnahmefälle das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses begründen könnten, konkretisierte das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht. Es nahm es jedoch Bezug auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs33, in der dieser als obiter dictum offenließ, 28  Budach,

Die prozessuale Überholung, S. 26 m. w. N. Bornmann, Die Struktur der strafprozessualen Beschwerde, S.  162, Fn. 504; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 56 ff., 139 f., Fn. 112; Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer, S. 64. 30  BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154; vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 68. 31  Diese Rechtsprechung ist vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass von Schwarze als Mitglied der Reichstagskommission, die mit der Ausarbeitung der Reichsstrafprozessordnung (1877) betraut war, und der somit als einer der „Väter“ der RStPO angesehen werden kann, unter Hinweis auf §§ 179, 183 RStPO die gegenteilige Auffassung vertrat. Danach sei eine Beschwerde nicht deshalb ausgeschlossen, weil die angefochtene Maßnahme nicht mehr rückgängig gemacht werden könne; vgl. von Schwarze, Commentar zu der deutschen Strafprozeßordnung, RStPO, § 346 Bem. 3. Nach § 179 RStPO war der Betroffene mit seinen (weiteren) Einwänden (mit Ausnahme der Unzuständigkeit des eröffnenden Gerichts) bezüglich der Eröffnung der Voruntersuchung gegen ihn nach der Eröffnung präkludiert, sofern er vorher entsprechend angehört wurde; vgl. von Schwarze, Commentar zu der deutschen Strafprozeßordnung, RStPO, § 179 Bem. 3. 32  BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154; kritisch hierzu und mit Lösungsansätzen vor der Rechtsprechungsänderung z. B.: Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 58 f., 140 ff.; Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer, S. 93, S. 141 ff. 33  BGH, Beschluss vom 13. Juni 1978 – 1 BJs 93/77, StB 51/78, NJW 1978, 1815. 29  Vgl.



A. Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 Abs. 4 GG 111

ob eine nachträgliche Feststellung im Falle der schlüssigen Behauptung richterlicher Willkür ausnahmsweise zulässig sei.34 In der Literatur stieß die Auffassung des Bundesgerichtshofs auf Kritik, da diese nicht erkennen ließ, in welchen Ausnahmefällen trotz Erledigung der Maßnahme von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse ausgegangen werden könne.35 Mit einer Entscheidung aus dem Jahr 1997 begann das Bundesverfassungsgericht zu konkretisieren, in welchen Ausnahmefällen das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses auch nach Erledigung der Anordnung vorliegen könne.36 Danach besteht das Rechtschutzbedürfnis auch in Erledigungsfällen unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 GG bei Wiederholungsgefahr, Rehabilitierungsinteresse oder besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffen37 regelmäßig fort. Ein schwerwiegender Grundrechtseingriff erfolge durch Maßnahmen, die – wie die Freiheitsentziehung durch Art. 104 Abs. 2 und Abs. 3 GG – einem Richter vorbehalten sei. Überdies zählen zu der Fallgruppe des fortwährenden Rechtsschutzbedürfnisses auch Maßnahmen, die sich typischerweise erledigen, bevor es dem Betroffenen möglich sei, Rechtsschutz zu ersuchen.38 Somit rückte das Bundesverfassungsgericht von seiner noch in der Ausgangsentscheidung39 vertretenen Auffassung, eine Anfechtung erledigter Maßnahmen sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses grundsätzlich unzulässig, ab. Vielmehr arbeitete es konkrete Fallgruppen heraus, in denen eine Anfechtung trotz Erledigung bzw. prozessualer Überholung der 34  BVerfG,

154 f.

Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154,

35  Amelung, 36  BVerfG,

NJW 1979, 1867, 1891 f.; Sommermeyer, NStZ 1991, 257, 259. Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997,

2163. 37  Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 55b kritisiert mit Recht die Eingrenzung auf „schwerwiegende“ Grundrechtsverletzungen, da Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur gegenüber solchen Rechtsschutz bietet. Ausreichen sollten daher schon „nicht ganz unerhebliche“ Grundrechtseingriffe“. 38  St. Rspr. seit BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; Vgl. ferner: BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2002 – 2 BvR 1660/02, NJW 2003, 1514, 1515; BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020; Lorenz, in: BK II, Art. 2 Rn. 775 ff.; Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 199 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 245; Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 70 ff., § 304 Rn. 53 f. m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 18a; Paul, in: KK 2019, Vor § 296 Rn. 7; Plöd, in: KMR V 2019, Vor § 296 Rn. 12; Frisch, in: SK VI 2016, §  304 Rn.  55 m. w. N.; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 311 ff., 496; Schroth, StV 1999, 117, 118; vgl. Bornmann, Die Struktur der strafprozessualen Beschwerde, S.  162 f. 39  BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154.

112

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

Maßnahme nicht mehr mangels fortbestehenden Rechtschutzinteresses unzulässig ist.

IV. Zusammenfassung Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG auch auf richterliche Haftentscheidungen bezieht. Zudem obliegt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes den Instanzgerichten, bestehendes Prozessrecht im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG anzuwenden. So darf ein „Rechtsmittelgericht […] ein von der jeweiligen Prozessordnung eröffnetes Rechtsmittel […] nicht ineffektiv machen und für den [Beschwerdeführer] ‚leerlaufen‘ lassen“40. Dieser Grundsatz ist insbesondere auch bei der Beantwortung der Frage zu berücksichtigen, ob der Beschwerdeführer in Erledigungsfällen noch das notwendige Rechtsschutzinteresse nach den vorgenannten Voraussetzungen hat.41 Wird der Rechtsschutz in Erledigungsfällen trotz Bestehen eines Rechtsschutzinteresses versagt, wird das sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebende Recht auf effektiven Rechtsschutz durch die Gerichte nicht gewährleistet.42 Gleichzeitig ist die Legislative nach Art. 20 Abs. 3 GG43 angehalten, die erlassenen Gesetze und deren Anwendung durch die Praxis stets dahingehend zu beobachten, ob die Grundrechte – im hiesigen Zusammenhang insbesondere Art. 19 Abs. 4 GG – gewahrt bleiben oder ein Vollzugsdefizit vorliegt, welches geeignet ist, Grundrechtspositionen zu gefährden. Insoweit greifen die Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers. Wird in 40  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; jeweils m. w. N. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NVwZ 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; vgl. Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 481. 41  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2017 – 2 BvR 77/16; NStZ-RR 2017, 379 jeweils m. w. N. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NVwZ 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 496. 42  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NVwZ 1988, 718, 719; Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 73. 43  Art. 20 Abs. 3 GG verpflichtet die Legislative, die Gesetze an der verfassungsmäßigen Ordnung auszurichten; vgl. Robbers, in: BK VII, Art. 20 Abs. 3 Rn. 3244 ff.; Grzeszick, in: Maunz/Dürig III, Art. 20 Rn. 45 ff.



B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§ 117 ff. StPO 113

diesem Rahmen festgestellt, dass die Praxis auf Grundlage der Gesetze droht, Grundrechte zu verletzen, ist der Gesetzgeber angehalten, die Gesetz im Hinblick auf einen wirksamen Grundrechtsschutz zu ändern. Tritt der Gesetzgeber solchen Entwicklungen in der Rechtspraxis nicht mit entsprechenden Maßnahmen entgegen, tritt ein verfassungswidriger Zustand ein.44

B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§  117 ff. StPO Der Antrag auf Durchführung eines förmlichen Haftprüfungsverfahrens ist kein ordentliches Rechtsmittel, sondern ein Rechtsbehelf eigener Art.45 Er hat weder Devolutiv-, noch Suspensiveffekt. Das Haftprüfungsverfahren kann schriftlich oder auf Antrag bzw. nach gerichtlichem Ermessen von Amts wegen auch mündlich durchgeführt werden, sog. „mündliche Haftprüfung“ nach § 118 Abs. 1 StPO.

I. Zuständigkeit Der Haftprüfungsantrag ist vor Anklagerhebung bei dem Richter zu stellen, der den Haftbefehl erlassen hat (§§ 125 Abs. 1, 126 Abs. 1 StPO).46 Wird die Zuständigkeit vor Anklageerhebung auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch gerichtlichen Beschluss nach § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO auf ein anderes Amtsgericht übertragen, weil das Ermittlungsverfahren an einem anderen Ort durchgeführt oder die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollstreckt wird, ist dieses für die Bescheidung des Haftprüfungsantrags zuständig.47 Nach Anklageerhebung ist das mit der Sache befasste Gericht zuständig, § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO.48

44  Vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 – 2 BvR 2883/10 – 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295, 299 m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 84; Hömig, MSKB II, § 95 Rn. 73. 45  Dies ergibt sich aus der systematischen Stellung der Haftprüfung außerhalb des dritten Buchs der StPO „Rechtsmittel“. 46  Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 15. 47  BGH, Beschluss vom 25. März 1960 – 2 ARs 30/60, NJW 1960, 1069, 1070; vgl. Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 3; Herrmann, in: SSW 2018, § 126 Rn. 6. 48  Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 15.

114

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

II. Weitere formelle Voraussetzungen Besondere Form- oder Fristerfordernisse statuiert die Strafprozessordnung für den Haftprüfungsantrag nicht.49 Auch besondere Begründungserfordernisse bestehen nicht, obgleich eine (schriftliche) Begründung regelmäßig dem Erfolg des Antrags dienlich sein dürfte. Berechtigt zur Beantragung einer Haftprüfung ist nur der Betroffene (sowie dessen gesetzlicher Vertreter) bzw. sein Verteidiger, §§ 118b, 297, 298 StPO.50 Der Haftprüfungsantrag kann mit dem Ziel, den Haftbefehl vollständig aufzuheben (§ 120 StPO) oder ihn außer Vollzug zu setzen (§ 116 StPO), gestellt werden. Auch eine Kombination beider Begehren, primär der Aufhebung und hilfsweise der Aussetzung, ist möglich.51 Indes ist die Formulierung eines konkreten Antrags nicht notwendig.52 Dies folgt daraus, dass der Richter im Rahmen des Haftprüfungsantrags selbstständig das Vorliegen sämtlicher Untersuchungshaft­ voraussetzungen unter Berücksichtigung des neuen Vorbringens prüfen muss.53 Die Haftprüfung kann grundsätzlich nur gegen einen vollzogenen Untersuchungshaftbefehl beantragt werden. Ist der Verdächtigte von der Untersuchungshaft auf Grund der Außervollzugsetzung des Untersuchungshaftbefehls nach § 116 StPO verschont oder ist er in anderer Sache in Straf- oder Untersuchungshaft und der Untersuchungshaftbefehl daher lediglich als Überhaft notiert, ist die Beantragung eines Haftprüfungsantrags nicht zulässig. Ein dennoch gestellter Haftprüfungsantrag ist in eine Haftbeschwerde umzudeuten.54 49  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 117 Rn. 5; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 5; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 10; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 16. 50  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 58; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 4. 51  Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 6; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 770. 52  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 15; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 6; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 771. 53  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 26; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 8; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 10; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 801. Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn.  21 f. 54  OLG Koblenz, Beschluss vom 19. November 2018 – 2 Ws 670/18, BeckRS 2018, 29771; Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 7 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 4; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 2; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 3, 6 a. E.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 3, 12; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 5b; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 758; Hohmann, NJW 1990, 1649, 1649 f. (Umdeutung jedenfalls bei unverteidigten Betroffenen); Matt, JA 1991, 85, 90.



B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§ 117 ff. StPO 115

Erlässt das Oberlandesgerichte nach beantragter Haftprüfung eine Haftprüfungsentscheidung nach §§ 121, 122 StPO, wird die beantragte Haftprüfung gegenstandslos.55

III. Mündliche Haftprüfung Nach § 118 Abs. 1 StPO kann der Betroffene die Durchführung eines mündlichen Haftprüfungstermins beanspruchen. Überdies kann das Gericht nach Ermessen von Amts wegen einen Haftprüfungstermin anberaumen.56 Die mündliche Haftprüfung ist während der Hauptverhandlung und nach Ergehen eines erstinstanzlichen Urteils, welches auf eine Freiheitsstrafe oder eine freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung57 erkennt, nicht zulässig, § 118 Abs. 4 StPO.58 Nach erfolgloser Durchführung eines Haftprüfungsverfahrens kann eine weitere mündliche Haftprüfung nach § 118 Abs. 3 StPO nur beantragt werden, wenn die Untersuchungshaft bereits drei Monate andauert und seit dem letzten mündlichen Haftprüfungstermin zwei Monate vergangen sind.59 Ist der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Haftprüfung nach den genannten Voraussetzungen zulässig, ist die mündliche Verhandlung binnen zwei Wochen nach Eingang des Haftprüfungsantrags durchzuführen, vgl. Ein Haftprüfungsantrag soll ausnahmsweise zulässig sein, wenn die Untersuchungshaft wegen vollzogener Straftat als Überhaft notiert ist, das Ende der Strafhaft kurz bevorsteht und damit unmittelbar der Vollzug des Untersuchungshaftbefehls droht: OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1974 – 1 Ws 329, 345/74, MDR 1974, 861; OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris; vgl. ferner die vorgenannten Nachweise. 55  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 122 Rn. 18; Schultheis, in: KK 2019, § 122 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 18a; Paeffgen, in: SK II 2016, § 122 Rn. 10; Schnarr, MDR 1990, 89, 94. 56  Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 118 Rn. 1; Graf, in: KK 2019, § 118 Rn. 1, 3; Wankel, in: KMR II 2019, § 118 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 118 Rn. 3 ff. 57  Dazu gehören Maßregeln der Besserung und Sicherung nach den §§ 63  ff. StPO, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 118 Rn. 3; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118 Rn. 5. 58  Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 8 ff.; 12 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 118 Rn. 3; Graf, in: KK 2019, § 118 Rn. 5; Wankel, in: KMR II 2019, § 118 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 118 Rn. 13, 15; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 118 Rn. 14 ff.; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 858, 869 (dort Fn. 294). 59  Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 5 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 118 Rn. 2; Graf, in: KK 2019, § 118 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 118 Rn. 10; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118 Rn. 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 118 Rn. 7.

116

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

§ 118 Abs. 5 StPO. Eine spätere Terminierung ist nur mit Zustimmung des Betroffenen möglich.60 In der mündlichen Verhandlung über den Haftprüfungsantrag wird der wesentliche Stand der Ermittlungen zwischen den Beteiligten erörtert.61 Wurde dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger noch keine vollständige Akteneinsicht gewährt, müssen ihm im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens die Tatsachen und Beweismittel eröffnet werden, auf Grundlage derer das Gericht seine Entscheidung beabsichtigt zu treffen. Nur so kann der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG62 und das Gebot des fairen Verfahrens63 gewahrt werden, vgl. § 147 Abs. 2 Satz 2 ­StPO.64 60  Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 16, 18; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 118 Rn. 4; Graf, in: KK 2019, § 118 Rn. 6; Wankel, in: KMR II 2019, § 118 Rn. 5; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 118 Rn. 18 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118 Rn. 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 118 Rn. 18, 21. 61  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 24; Graf, in: KK 2019, § 118a Rn. 5; Wankel, in: KMR II 2019, § 118a Rn. 4; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118a Rn. 4, 6; Herrmann, in: SSW 2018, § 118 Rn. 7. 62  BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2004 – 2 BvR 1012/02, NJW 2004, 2443, 2444; BVerfG, Beschluss vom 19. Januar 2006 – 2 BvR 1075/05, NJW 2006, 1048, 1049. Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit auch gegen das Gebot eines fairen Verfahrens hat nach der Rechtsprechung des BVerfG zur Folge, dass die Akteninhalte, die der Betroffene nicht kannte, unverwertbar für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft sind; vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994, 3219, 3220; Schlothauer/ Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 439; Park, StV 2009, 276, 277. 63  Dieses findet nach dem EGMR auch für vor der Hauptverhandlung liegende Verfahrensabschnitte Anwendung. Im Falle der Untersuchungshaft liegt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 5 Abs. 4 EMRK vor, wenn dem Betroffenen in einem Verfahren, in dem die Rechtmäßigkeit des Haftbefehls überprüft wird, nicht sämtliche wesentlichen Tatsachen und Beweismittel dargelegt werden. Die Freiheitsentziehung ist dann nicht rechtmäßig im Sinne des Art. 5 EMRK; vgl. EGMR, Urteil vom 13. Februar 2001 – 23541/94 (Alva/Deutschland), NJW 2002, 2018, 2019; EGMR, Urteil vom 13. Februar 2001 – 24479/94 (Lietzow/Deutschland), NJW 2002, 2013, 2015. Eine Haftentscheidung darf nicht auf Tatsachen gestützt werden, die dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger unbekannt sind. Insoweit besteht ein „verfassungsrechtliches Verwertungsverbot“; vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 1994 – 2 BvR 777/94, NJW 1994, 3219, 3220; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 341; Paeffgen, in: SK II 2016, Vor § 112 Rn. 37p ff. (kritisch bzgl. der Praxis zu § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO); Park, StV 2009, 276, 277 f. 64  Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR (siehe Fn. 62, S. 116 und Fn. 63, S. 116) genügt eine nur mündliche Mitteilung nicht, vgl. Park, StV 2009, 276, 279 m. w. N. Vgl. ferner Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 5; Zabeck, in: KK 2019, § 308 Rn. 8; Wankel, in: KMR II 2019, Vor § 112 Rn. 5; § 118a Rn. 4; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 435 f.; Beulke/Witzigmann, NStZ 2011, 254, 255 f.



B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§ 117 ff. StPO 117

Da der Haftbefehl bereits angeordnet wurde, sind die Einschränkungen des § 33 Abs. 4 StPO nicht anwendbar.65 Nach § 33 Abs. 4 StPO kann von einer Anhörung des Betroffenen gemäß § 33 Abs. 3 StPO bezüglich der Verwertung von Tatsachen oder Beweisergebnissen vor Erlass des Untersuchungshaftbefehls abgesehen werden, wenn dadurch der Zweck der Untersuchungshaft gefährdet werden würde. Der Betroffene und die sonstigen Beteiligten sind anzuhören, § 118a Abs. 3 Satz 1 StPO. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, neue Beweismittel anzuführen, § 118a Abs. 3 Satz 2 StPO. Der Betroffene bzw. sein Verteidiger können sogar die gerichtliche Ladung von Zeugen anregen. Der Umfang der Beweiserhebung und damit auch der Ladung sowie Vernehmung von Zeugen bestimmt jedoch das Gericht nach § 118a Abs. 3 Satz 2 StPO nach Art und Umfang. Es besteht also kein Anspruch auf eine erschöpfende Beweiserhebung. Auch die in der Hauptverhandlung geltenden Regelungen des Strengbeweisverfahrens nach §§ 244 ff. StPO finden im Termin zur mündlichen Haftprüfung keine Anwendung. Vielmehr erhebt das Gericht Beweise nach pflichtgemäßem Ermessen im Freibeweisverfahren.66 Hierbei hat es – sofern die Beweisanträge in dem mündlichen Haftprüfungstermin gestellt werden – jedoch § 166 StPO Rechnung zu tragen. Nach § 166 StPO Abs. 1 StPO hat der Richter, der einen Betroffenen vernimmt, auf Antrag Entlastungsbeweise zu erheben, soweit er diese für erheblich erachtet und der Verlust des Beweismittels zu besorgen ist oder die Freilassung des Betroffenen begründen können. Dadurch kann das richterliche Ermessen hinsichtlich der Beweiserhebung im Rahmen des mündlichen Haftprüfungsverfahrens auf null reduziert sein, sodass die Beweiserhebung erzwungen werden kann.67 Das gilt jedenfalls dann, wenn es um die Berücksichtigung präsenter Entlastungsbe65  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 24; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 6; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118a Rn. 6; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 806 (vgl. ferner die Rechtsprechungsnachweise in Fn. 62, S. 116 und Fn. 63, S. 116). Jedenfalls ist die Erörterungspflicht eingeschränkt, wenn dem Verteidiger zuvor bereits nach § 147 StPO Akteneinsicht gewährt wurde und er so umfassend Kenntnis von dem Ermittlungsstand hat, vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 770. 66  BGH, Beschluss vom 24. August 1978 – 2 ARs 245/78, NJW 1979, 115; Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 25; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 118a Rn. 4; Graf, in: KK 2019, § 118a Rn. 5 f.; Wankel, in: KMR II 2019, § 118a Rn. 5; Böhm/ Werner, in: MüKo I 2014, § 118a Rn. 15; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118a Rn. 6; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 796. 67  Hilger, in: L-R IV 2007, § 118 Rn. 25; Graf, in: KK 2019, § 118a Rn. 5a; Wankel, in: KMR II 2019, § 118a Rn. 6a; Paeffgen, in: SK II 2016, § 118a Rn. 6; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 29; § 118a Rn. 7; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 796; a. A. jedenfalls während des Ermittlungsverfahrens, da die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft obliegen: Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 118a Rn. 16. Auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 118a Rn. 4, § 166 Rn. 3

118

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

weismittel geht, also beispielsweise um die Vernehmung anwesender Zeugen oder Verlesung präsenter Urkunden.68

IV. Schriftliche Haftprüfung Hat der Betroffene auf Grund der genannten Einschränkungen keinen Anspruch auf die Durchführung einer mündlichen Haftprüfung, kann er dennoch jederzeit die Durchführung eines schriftlichen Haftprüfungsverfahrens beantragen. Auch im Rahmen dieses muss das Recht auf rechtliches Gehör der Verfahrensbeteiligten nach § 33 Abs. 2, Abs. 3 StPO gewahrt werden.69 Über entscheidungserhebliche belastende neue Beweismittel oder Tatsachen ist der Betroffene daher auch im schriftlichen Verfahren zu unterrichten.70 Das Gericht kann Beweis erheben, sodass auch Beweisanträge sinnvoll sein können. Allerdings liegt die Beweiserhebung auch im Rahmen der schriftlichen Haftprüfung im Ermessen des Gerichts.71 Da die schriftliche

verweist darauf, dass die „Leitungsbefugnis“ der Staatsanwaltschaft nicht unterlaufen werden dürfe. 68  Anzumerken ist, dass mit Ausnahme von Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 166 Rn. 3; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 118a Rn. 16 (Siehe Fn. 67, S. 117) in der Kommentarliteratur nicht darauf eingegangen wird, dass bzw. ob das Beweiserhebungsermessen des Richters während eines Haftprüfungsverfahrens im Ermittlungsverfahren durch die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft eingeschränkt ist. Eine entsprechende Einschränkung ist für das Beschwerdeverfahren während des Ermittlungsverfahrens allgemeine Ansicht (vgl. dazu Fn. 132, S. 132). Es ist davon auszugehen, dass für das Haftprüfungsverfahren die gleichen Grundsätze gelten. 69  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 23; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 117 Rn. 6; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 10; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 9; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 13, 14; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 18; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 806 f. Da der Haftbefehl bereits angeordnet wurde, sind die Einschränkungen des § 33 Abs. 4 StPO auch im schriftlichen Haftprüfungsverfahren nicht anwendbar, siehe oben S. 116, vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 25 sowie Paeffgen a. a. O. 70  Vgl. oben S. 116 und die dortigen Nachweise in Fn. 62, S. 116, S. 63, S. 116, S. 64, S. 116. 71  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 27 f.; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 16. Die Kommentarliteratur schweigt bzgl. des schriftlichen Haftprüfungsverfahrens (vgl. bzgl. des mündlichen Haftprüfungsverfahrens Fn. 68, S. 118) gänzlich dazu, dass bzw. ob das Beweiserhebungsermessen des Richters während eines schriftlichen Haftprüfungsverfahrens im Ermittlungsverfahren durch die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft eingeschränkt ist. Eine entsprechende Einschränkung ist für das Beschwerdeverfahren während des Ermittlungsverfahrens allgemeine Ansicht (vgl. dazu Fn. 132, S. 132). Es ist davon auszugehen, dass für das schriftliche Haftprüfungsverfahren die gleichen Grundsätze gelten.



B. Förmliches Haftprüfungsverfahren auf Antrag, §§ 117 ff. StPO 119

Haftprüfung keine richterliche Vernehmung im Sinne des § 166 Abs. 1 StPO darstellt, besteht auch keine entsprechende Beweiserhebungspflicht.72 Eine gesetzliche Frist zur Bescheidung des schriftlichen Haftprüfungsantrags existiert nicht. Um den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen Rechnung zu tragen, ist der Richter jedoch zu einer unverzüglichen Entscheidung angehalten.73

V. Prüfungsumfang und Entscheidung Im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens prüft das Gericht, ob sämtliche Voraussetzungen zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft74 zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch vorliegen.75 So kann es neben der Aufhebung des Haftbefehls oder der Haftfortdauer – auch ohne entsprechenden ausdrücklichen Antrag des Verdächtigen – beschließen, dass der Haftbefehl zwar bestehen bleibt, aber inhaltlich geändert oder angepasst oder nach § 116 StPO außer Vollzug gesetzt wird.76 Die Entscheidung über den Haftprüfungsantrag ergeht durch einen begründeten Beschluss, vgl. § 34 StPO.77 Hierbei ist die seitens des Bundesverfassungsgerichts geforderte Begründungstiefe78 bei Haftfortdauerentscheidungen zu berücksichtigen. Der Beschluss muss also aktuelle Ausführungen zu dem Fortbestehen aller Haftvoraussetzungen erkennen lassen. Demnach ist die Bezugnahme auf vorangegangene Haftentscheidungen allenfalls zulässig, wenn sich die Sachlage im Verhältnis zu dieser vorangegangenen Haft­ entscheidungen nicht geändert.79 Ausführungen zu der Verhältnismäßigkeit 72  Siehe

oben S. 117. in: KK 2019, § 117 Rn. 10; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 9; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 23; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 808. 74  Siehe oben S. 91. 75  Siehe Fn. 53, S. 114. 76  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 117 Rn. 10 f.; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 8; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 10; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 22. Vgl. Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 22. 77  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 7, § 118a Rn. 6; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 8; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 17 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 10; 78  Dazu abstrakt oben S. 89 und die dortigen Nachweise. 79  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 28; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 7; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 11; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 20; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 10; kritisch: Herrmann, in: SSW 2018, 73  Graf,

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3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

sind indes bei jeder Haftfortdauerentscheidung erforderlich sein, da die Sachlage insoweit allein auf Grund des weiteren Zeitablaufs nie identisch mit der einer vorangegangenen Haftentscheidung sein wird.80 Wurden im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens Ermittlungen nach § 117 Abs. 3 StPO durchgeführt, ist auf deren Ergebnis in der Begründung des Beschlusses einzugehen. Wird ein Haftbefehl durch die Entscheidung über einen Haftprüfungsantrag aufgehoben, ist der Verdächtige unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen.81 Bei fortwährender Beschwer kann der Verdächtige – wie im Folgenden dargelegt wird – die negative Haftprüfungsentscheidung mit der Beschwerde nach § 304 Abs. 1, 305 Satz 2 StPO angreifen.82

VI. Antrag auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung In der Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass der Betroffene jederzeit einen einfachen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 StPO oder Haftverschonung nach § 116 StPO stellen kann, wenn im Übrigen weder die Haftprüfung noch die Haftbeschwerde zulässig ist.83 Analog dazu ist auch ein Antrag auf Aufhebung haftbeschränkender Entscheidungen nach § 119 StPO anerkannt.84 In welchen Verfahrensstadien die Rechtsprechung grundsätzlich auf diesen ungeschriebenen Antrag zurückgreifen muss, wird im Rahmen dieser Untersuchung noch im Einzelnen dargestellt.85 § 117 Rn. 24, weil die Entscheidung für den Betroffenen bei reiner Bezugnahme auf eine vorangegangene Entscheidung häufig wenig nachvollziehbar sein dürfte. 80  Vgl. Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325, 328, 329. 81  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 809, 1006. 82  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 31 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 117 Rn. 7; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 118a Rn. 13; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 50; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 10, 18. 83  Für den Fall des nur als Überhaft notierten und somit nicht vollzogenen Haftbefehls in entsprechender Anwendung des § 117 StPO: OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris. Zum außer Vollzug gesetzten Haftbefehl: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145; OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302. Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 12; Wankel, in: KMR II 2019, Vor § 112 Rn. 17. 84  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365; OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZRR 2014, 217; siehe dazu im Einzelnen auch unten ab S. 308. 85  Siehe dazu S.  204  ff. sowie S. 310  ff. Jedenfalls ist der Antrag nach der Rechtsprechung nicht, wie König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 203 wohl meint, nicht erst nach Beginn der Hauptverhandlung zulässig.



C. Haftbeschwerde 121

Die Zuständigkeit für solche Anträge richtet sich je nach Verfahrens­ stadium nach § 126 StPO. Vor Anklageerhebung ist danach der Ermittlungsrichter zuständig, der den Haftbefehl erlassen hat, vgl. § 126 Abs. 1 StPO. Mit Anklageerhebung ist das Tatgericht nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig.86 Der Antrag ist – soweit ersichtlich – an keine besonderen Voraussetzungen gebunden. Er hat weder Suspensiv-, noch Devolutiveffekt.87 Besondere Verfahrensregelungen existieren nicht. Die auf den Antrag ergangene Entscheidung kann unter den Voraussetzungen der §§ 304 ff. StPO mit der Beschwerde angegriffen werden.88

C. Haftbeschwerde Die Beschwerde ist statthaft gegen alle erstinstanzlichen die Verhaftung betreffenden richterlichen Entscheidungen, §§ 304 Abs. 1, 305 Satz 2 StPO. Die Haftbeschwerde kann sich unmittelbar gegen den Haftbefehl selbst oder jede andere Haftfortdauerentscheidung richten.89 Eine Beschwerde ist auch gegen sonstige Haftentscheidungen, wie z. B. – vorbehaltlich § 119 Abs. 5 StPO90 – gegen haftbeschränkende Maßnahmen nach § 119 StPO oder Auflagen nach § 116 StPO zulässig.91 Die Einlegung der Beschwerde gegen die 86  Siehe

Fn. 83, S. 120 und Fn. 84, S. 120. Jesse, in: L-R 7-1 2014, Vor § 296 Rn. 78. Dies ergibt sich aber auch daraus, dass der Aufhebungsantrag nach der Rechtsprechung einem Haftprüfungsantrag nach § 117 StPO entspricht, vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris. 88  Der Aufhebungsantrag kommt nach zutreffender Ansicht von Wiesneth, Untersuchungshaft, Rn. 130 und Matt, JA 1991, 85, 91 der in der Kommentarliteratur dargestellten „Gegenvorstellung“ am nächsten; vgl. dazu Jesse, in: L-R VII-1 2014, Vor § 296 Rn. 78 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 23 ff.; Plöd, in: KMR V 2019, Vor § 296 Rn. 4; Allgayer, in: MüKo II 2016, § 296 Rn. 6 ff.; Frisch, in: SK VI 2016, Vor §§ 926 ff. Rn. 32 ff. 89  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 31; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 115 Rn. 18; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 16; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 33; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 812. 90  Nach § 304 Abs. 4 StPO ist gegen haftbeschränkende Maßnahmen nach § 119 StPO des BGH oder des (erstinstanzlich zuständigen) OLG die Beschwerde nicht zulässig. In solchen Fällen kann die haftbeschränkende Maßnahme durch einen Antrag nach § 119 Abs. 5 StPO an das gemäß § 126 StPO zuständige Gericht erreicht werden, vgl. Gärtner, in: L-R XII 2014, Nachtr. § 119 Rn. 73 ff.; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 119 Rn. 37; Schultheis, in: KK 2019, § 119 Rn. 76; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 16; Paeffgen, in: SK II 2016, § 119 Rn. 66. 91  Hilger, in: L-R IV 2007, § 119 Rn. 155; Gärtner, in: L-R XII 2014, Nachtr. § 119 Rn. 79; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 119 Rn. 36; Graf, in: KK 2019, § 115 Rn. 25; Schultheis, in: KK 2019, § 119 Rn. 73; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 16; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 33. 87  Vgl.

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3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

vorbenannten Entscheidungen entfaltet jedenfalls nach der Nichtabhilfeentscheidung des Ausgangsgerichts Devolutiveffekt, aber keinen Suspensiv­ effekt, §§ 306 Abs. 2, 307 Abs. 1 StPO.92 Nach § 307 Abs. 2 StPO kann sowohl der Richter, dessen Entscheidung angefochten wird, als auch das Beschwerdegericht, die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Entscheidung anordnen.

I. Zuständigkeit 1. Zuständiges Ausgangsgericht Die Beschwerde ist grundsätzlich beim iudex a quo einzulegen, also dem Richter, der die angegriffene Entscheidung getroffen hat, § 306 Abs. 1 ­StPO.93 Unter Berücksichtigung der besonderen Zuständigkeitsregelungen im Rahmen der Untersuchungshaft ergeben sich jedoch Besonderheiten und Unklarheiten: Die Beschwerde gegen ermittlungsrichterliche Entscheidungen ist vor Anklageerhebung bei dem Ermittlungsrichter einzulegen, der den Haftbefehl erlassen hat, § 125 Abs. 1, 126 Abs. 1 StPO. Wurde die richterliche Zuständigkeit auf Antrag der Staatsanwaltschaft nach § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO durch Gerichtsbeschluss auf ein anderes Amtsgericht übertragen, ist der nach der Übertragung zuständige Ermittlungsrichter und der diesem zugeordnete Instanzenzug für die Entscheidung über eine solche Beschwerde zuständig, sodass diese vor Anklageerhebung bei diesem einzulegen ist. Der übernehmende Ermittlungsrichter sowie der diesem zugeordneten Instanzenzug muss sich die durch den zuvor zuständigen Ermittlungsrichter erlassenen Haftentscheidung zurechnen lassen. Dies gilt auch, wenn die Beschwerde vor der Zuständigkeitsübertragung eingelegt wurde.94 92  Vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 306 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 306 Rn. 11, § 307 Rn. 1; Paul, in: KK 2019, Vor § 296 Rn. 2; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 17; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 46. 93  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 13; Zabeck, in: KK 2019, § 306 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019; § 306 Rn. 2; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 1; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 36. 94  BGH, Beschluss vom 25. März 1960 – 2 ARs 30/60, NJW 1960, 1069, 1070; OLG München, Beschluss vom 22. Dezember 1955 – Ws 851/55, NJW 1956, 760; OLG Hamburg, Beschluss vom 30. Dezember 1965 – 2b Ws 144/65, NJW 1966, 606 = MDR 1966, 256 (wobei das OLG Hamburg hier offengelassen hat, wie der durch den Beschluss nach § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO zuständig gewordene Ermittlungsrichter mit der Beschwerde zu verfahren habe); vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 43, § 126 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 3; Schult-



C. Haftbeschwerde 123

Ab Anklageerhebung ist die Beschwerde gegen Haftentscheidungen des Tatgerichts gemäß §§ 125 Abs. 2 Satz 1, 126 Abs. 2 Satz 1 StPO grundsätzlich bei dem mit der Sache befassten (Tat-)Gericht einzulegen. Wie oben95 bereits dargestellt wurde, hat der Gesetzgeber klar die Haftzuständigkeit vor und nach der Anklageerhebung in §§ 125 f. StPO geregelt. Gesetzlich nicht geregelt ist jedoch die dieser Arbeit zu Grunde liegende zentrale Frage, welches Gericht nach Anklageerhebung für die Bescheidung einer Beschwerde gegen eine ermittlungsrichterliche Haftentscheidung zuständig ist. Wie diese Fälle im Einzelnen von der Rechtsprechung behandelt werden, wird im 5. Teil96 dieser Arbeit untersucht. 2. Zuständiges Beschwerdegericht Hilft das zuständige Gericht der Beschwerde nicht ab, hat es die Akten binnen drei Tagen dem zuständigen Beschwerdegericht vorzulegen, § 306 Abs. 2 StPO.97 Mit dem Zeitpunkt des Eingangs der Akten beim Beschwerdegericht ist dies zur Entscheidung über die Beschwerde zuständig, § 309 Abs. 2 StPO.98 heis, in: KK 2019, § 126 Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 6; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 7; Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 126 Rn. 6; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 105. 95  Siehe oben ab S. 61. 96  Siehe dazu ab S. 191. 97  Wobei es sich hierbei lediglich um eine „Sollvorschrift“ handelt, vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 306 Rn. 23; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 306 Rn. 11; Zabeck, in: KK 2019, § 306 Rn. 18; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 306 Rn. 18; Frisch, in: SK VI 2016, § 306 Rn. 28; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 46. Kritisch im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz: Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 14; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 12; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 17. Nach zustimmungswürdiger Ansicht von Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 825 handelt es sich bei § 306 Abs. 2 StPO nicht um eine bloße Ordnungsvorschrift, da aus einer Fristüberschreitung ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz resultieren kann; vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2006 – 2 Ws 2/06, BeckRS 2006, 01960. 98  Dass das Beschwerdegericht für die Bescheidung des Beschwerdegegenstands zuständig wird, wird offenbar vorausgesetzt, folgt aber z. B. aus: BGH, Beschluss vom 24. Juni 1992 – 1 StE 11/88 – StB 8/92, NJW 1992, 2775 [„das BeschwGer. (hat die Sache nach) § 309 II StPO grundsätzlich (…) anstelle des Erstgerichts selbst zu entscheiden“]; OLG Bamberg, Beschluss vom 12. März 2013 – 2 Ws 19/13, NStZRR 2013, 326 [das Beschwerdegericht tritt „rechtlich voll an die Stelle des an sich zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers“]; Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 7 [„das Beschwerdegericht (soll) grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheiden“]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 309 Rn. 4 [„das Beschwerdegericht (muss) eigene Sachentscheidung anstelle des 1. Richters treffen“]; Plöd, in: KMR V 2019, § 309 Rn. 7 [„das Beschwerdegericht (hat) die Entscheidung aufzuheben und in

124

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

Zuständig ist nach § 73 Abs. 1 GVG die Große Strafkammer beim Landgericht, sofern eine amtsrichterliche Entscheidung angefochten wurde. War das Landgericht wegen Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO bereits zuständig, hat es die Beschwerde nach Nichtabhilfe ebenfalls binnen drei Tagen (§ 306 Abs. 2 StPO) beim Oberlandesgericht vorzulegen, vgl. § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG.99 Ist ausnahmsweise das Oberlandesgericht zuständig, ist der Bundesgerichtshof das zuständige Beschwerdegericht für die einfache Haftbeschwerde nach § 304 StPO, vgl. § 135 Abs. 2 GVG. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nach § 304 Abs. 4 StPO nur die dort enumerativ aufgezählten Beschlüsse und Verfügungen des Oberlandesgerichts überhaupt mit der Beschwerde anfechtbar sind.100 Nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Var. 1 StPO ist somit jedenfalls die Beschwerde gegen eine Verhaftung – mithin also die klassische Haftbeschwerde – durch das Oberlandesgericht statthaft.101 Auch wenn im Ermittlungsverfahren nach § 169 Abs. 1 StPO der Ermittlungsrichter beim Oberlandesgericht oder Bundesgerichtshof zuständig ist, ist nach § 135 Abs. 2 GVG der Bundesgerichthof das für die Beschwerde der Sache, die Beschwerdegegenstand ist, selbst zu entscheiden“]; Frisch, in: SK VI 2016, § 309 Rn. 29 [„Ändert das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung (…), so ist für das weitere Verfahren diese Entscheidung maßgebend.“]; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 9 f. [„eine neue (…) Entscheidung anstelle des Erstgerichts“]; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 192 (danach hat das Beschwerdegericht nach Nichtabhilfe durch das Ausgangsgericht zunächst seine eigene örtliche und sachliche Zuständigkeit festzustellen). 99  Vgl. Fn. 97, S. 123. 100  Mit der Beschwerde anfechtbar sind gemäß § 304 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 5 StPO nur Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte, welche die Verhaftung, einstweilige Unterbringung, Unterbringung zur Beobachtung, Beschlagnahme, Durchsuchung oder die in § 101 Abs. 1 StPO oder § 101a Abs. 1 StPO bezeichneten Maßnahmen betreffen, die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnen oder das Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses einstellen, die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten (§ 231a StPO) anordnen oder die Verweisung an ein Gericht niederer Ordnung aussprechen, die Akteneinsicht betreffen oder den Widerruf der Strafaussetzung, den Widerruf des Straferlasses und die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe (§ 453 Abs. 2 Satz 3 StPO), die Anordnung vorläufiger Maßnahmen zur Sicherung des Widerrufs (§ 453c StPO), die Aussetzung des Strafrestes und deren Widerruf (§ 454 Abs. 3 und 4 StPO), die Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 372 Satz 1 StPO) oder die Einziehung oder die Unbrauchbarmachung nach den §§ 435, 436 Abs. 2 StPO i. V. m. § 434 Abs. 2 StPO und § 439 StPO betreffen. Vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 71 ff.; Zabeck, in: KK 2019, § 304 Rn. 6 ff.; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 12 ff.; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 304 Rn. 64 ff.; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 59 ff. 101  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 304 Rn. 11 ff.; Zabeck, in: KK 2019, § 304 Rn. 7; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 13; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 61.



C. Haftbeschwerde 125

nach § 304 StPO zuständige Gericht. Auch in diesem Fall ist die Beschwerde nach § 304 Abs. 5 StPO nur zulässig, wenn sie die Verhaftung, einstweilige Unterbringung, Beschlagnahme, Durchsuchung oder die in § 101 Abs. 1 StPO bezeichneten Maßnahmen betreffen.102

II. Weitere formelle Voraussetzungen 1. Grundsätzliches Die Beschwerde ist nach § 306 Abs. 1 StPO schriftlich103 oder zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts einzulegen.104 Ihre Einlegung ist an keine Frist gebunden.105 Die Beschwerde des Betroffenen muss keine Begründung und keinen konkreten Antrag enthalten, obgleich eine Begründung den Erfolg der Beschwerde unter Umständen erhöhen kann.106 Berechtigt zur Einlegung einer Hafteschwerde ist nicht nur der Betroffene 102  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 304 Rn. 13; Zabeck, in: KK 2019, § 304 Rn. 19; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 19; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 304 Rn. 64 ff.; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn.  76 f. 103  Wobei grundsätzlich die Übertragung eines unterschriebenen Schriftstücks per Telefax genügt, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Einl. 139a m. w. N., § 306 Rn. 3; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 5; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 306 Rn. 5. 104  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 306 Rn. 3; Zabeck, in: KK 2019, § 306 Rn. 4, 6; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 3; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 306 Rn. 5; Frisch, in: SK VI 2016, Vor § 304 Rn. 13; Hoch, in: SSW 2018, Vor §§ 304 ff. Rn. 7. 105  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 306 Rn. 4; Zabeck, in: KK 2019, § 306 Rn. 2; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 306 Rn. 4; Frisch, in: SK VI 2016, Vor § 304 Rn. 13; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 36; Hoch, in: SSW 2018, Vor §§ 304 ff. Rn. 7; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 818. Fristgebunden sind nach § 311 StPO nur die sofortigen Beschwerden. Die Frist beträgt eine Woche nach Bekanntmachung der Entscheidung, §§ 311 Abs. 1, 35 StPO. Der sofortigen Beschwerde kann der iudex a quo nicht selbst abhelfen, soweit die angegriffene Entscheidung nicht auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs beruht (§ 311 Abs. 3 StPO). Ist eine Entscheidung nur mit der sofortigen Beschwerde angreifbar, ist dies in der StPO explizit erwähnt: §§ 81 Abs. 4 Satz 1, 138d Abs. 6 Satz 1, 210 Abs. 2 StPO (eine umfangreiche Aufzählung findet sich beispielsweise in Frisch, in: SK VI 2016, § 311 Rn. 8). 106  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 306 Rn. 5; Zabeck, in: KK 2019, § 306 Rn. 10; Plöd, in: KMR V 2019, § 306 Rn. 6; Frisch, in: SK VI 2016, Vor § 304 Rn. 21; Hoch, in: SSW 2018, § 306 Rn. 9; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 403; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 824. Vgl. Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 306 Rn. 10.

126

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

(bzw. sein Verteidiger), sondern insbesondere auch die Staatsanwaltschaft107, § 296 Abs. 1 StPO.108 § 296 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass mit Ausnahme der Staatsanwaltschaft nur derjenige zur Einlegung eines Rechtsmittels berechtigt ist, der durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist (Beschwer).109 Bezüglich Entscheidungen, die den Bestand der Untersuchungshaft betreffen, liegt eine Beschwer des betroffenen Beschwerdeführers grundsätzlich vor, wenn der Haftbefehl durch die angegriffene Entscheidung nicht vollständig aufgehoben wurde. Die Feststellung eines gesonderten Rechtsschutzbedürfnisses ist bei Vorliegen einer Beschwer nicht notwendig.110 2. Beschwer, Rechtsschutzbedürfnis und Prozessuale Überholung Nach den vorgenannten Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichtes111 zu der Frage, wann auch hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung erledigter Maßnahmen, von denen keine gegenwärtige Beeinträchtigung im Sinne einer Beschwer mehr ausgeht und die somit eigentlich prozessualer überholt sind, ein fortwährendes Rechtsschutzinteresse besteht, gilt für Haftbeschwerden Folgendes: Bei freiheitsentziehenden Maßnahmen besteht nach dem Bundesverfassungsgericht ein berechtigtes Interesse auf Grund des schwerwiegenden nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 GG dem Richter vorbehaltenen tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch nach deren Aufhebung, sodass eine Beschwerde gegen bereits aufgehobene Haftbefehle regelmäßig zulässig ist.112 107  Für

das Ermittlungsverfahren gilt jedoch § 120 Abs. 3 StPO. sind zudem je nach Einzelfall neben den in § 304 Abs. 2 StPO genannten Personen beispielsweise auch die Erziehungsberechtigten oder der Privatkläger (§ 390 Abs. 1 StPO) sowie der Nebenkläger (§§ 400 f. StPO); vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 46; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 296 Rn. 8; Paul, in: KK 2019, § 296 Rn. 6; Zabeck, in: KK 2019, § 304 Rn. 26; Plöd, in: KMR V 2019, Vor § 296 Rn. 17 f.; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 40. Die entsprechenden Voraussetzungen liegen bei einer Haftbeschwerde allerdings regelmäßig nicht vor, vgl. Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 19. 109  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 41 ff., 48; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 8 ff., § 304 Rn. 6; Paul, in: KK 2019, § 296 Rn. 5 f.; Zabeck, in: KK, § 304 Rn. 31; Plöd, in: KMR V 2019, Vor § 295 Rn. 12; Allgayer, in: MüKo II 2016, § 296 Rn. 27, 39 ff., 48; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 41; § 304 Rn. 6; Hoch, in: SSW 2018, § 304 Rn. 11, Vor § 296 Rn. 16 ff. 110  Vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 41; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 8; a. A. Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 61 f. 111  Siehe oben ab S. 109. 112  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 1999 – 2 BvR 804/97, NJW 1999, 3773; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 108  Beschwerdeberechtigt



C. Haftbeschwerde 127

Daneben stellt die Rechtsprechung in einigen Entscheidungen auch darauf ab, dass einer Inhaftierung grundsätzlich diskriminierender Charakter innewohne, welcher ebenfalls das Bestehen von Rehabilitationsinteresse indiziere. Haftbefehle sind daher grundsätzlich auch nach ihrer Aufhebung noch mit der Beschwerde anfechtbar.113 Auf Grund der Intensität des Grundrechts­ eingriffs ist das fortbestehende Rechtsschutzbedürfnis indiziert, obwohl keine Beschwer im Sinne des § 296 StPO im klassischen Sinne einer gegenwärtigen unmittelbaren Beeinträchtigung vorliegt. Die Beschwerde ist somit zulässig und der Betroffene kann auch im Nachhinein gerichtlich feststellen lassen, ob der gegen ihn erlassene Haftbefehl bis zu seiner Aufhebung oder Erledigung auf sonstige Weise rechtmäßig gewesen ist.114 3. Verwirkung In Ausnahmefällen kann das Beschwerderecht verwirkt sein. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Fall, wenn der Betroffene bereits längere Zeit Kenntnis von der Rechtslage hatte bzw. hätte haben können und er trotz entsprechender Möglichkeit keinen gerichtlichen Rechtsschutz ersucht hat. In solchen Fällen könne das öffent­ liche Interesse der Rechtssicherheit gegenüber den Individualinteresse des Beschwerdeführers überwiegen, sodass die Beschwerde wegen Verwirkung unzulässig sei.115 31131; Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 72, § 304 Rn. 54; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 18a; Paul, in: KK 2019, Vor § 296 Rn. 7; Zabeck, in: KK 2019, § 304 Rn. 31; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 18a; Allgayer, in: MüKo II 2016, § 296 Rn. 50; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 55; Paul, in: KK 2019, Vor § 296 Rn. 7, Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 497. 113  BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2000 – 2 BvR 453/99, NJW 2000, 1401; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456, 2457; BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2017 – 2 BvR 77/16, NStZ-RR 2017, 379, 380; vgl. ferner die Nachweise in Fn. 113, S. 127. A. A. (allerdings vor der konkreten Klarstellung durch das BVerfG): KG, Beschluss vom 20. Januar.1999 – 1 AR 27/99 – 5 Ws 34/99, 1 AR 27/99, 5 Ws 34/99, BeckRS 1999, 16088 mit der Begründung, dass die damals neue Rechtsprechung des BVerfG zu erledigten Durchsuchungsanordnungen [Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164 (siehe Fn. 38, S. 111)] nicht auf die Untersuchungshaft anwendbar sei. Vgl. auch Nachweise in Fn. 112, S. 126. 114  Siehe dazu und insbesondere auch zu der früher seitens des BVerfG vertretenen Auffassung oben ab S. 109. 115  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 1972 – 2 BrR 255/67, NJW 1972, 675, 667 f.; BVerfG, Beschluss vom 4. März 2008 – 2 BvR 2111, 2112/07, NStZ 2009, 166, 167; LG Potsdam, Beschluss vom 20. Oktober 2003 – 21 Qs 95/03 u. 21 Qs

128

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

In einem Fall einer Beschwerde gegen eine erledigte Durchsuchungsmaßnahme, hat das Bundesverfassungsgericht zwar das Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses i. S. e. eines Rehabilitierungsinteresses angenommen, jedoch im Übrigen entschieden, dass das Rechtsschutzbedürfnis durch Zeitablauf und unter Berücksichtigung der Gesamtumstände entfallen sei. In dem konkreten Fall sei nach Ablauf von beinahe zwei Jahren zwischen Vollzug der Durchsuchungsanordnung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände (hier insbesondere der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO) nach Treu und Glaube nicht mehr damit zu rechnen gewesen, dass sich der Betroffene gegen die Maßnahme wehren werde.116 Eine vergleichbare Konstellation ist in Haftsachen auf Grund der Intensität des Grundrechteingriffs durch die Freiheitsentziehung jedoch kaum vorstellbar. Zwar untersteht die Durchsuchung ebenfalls einem Richtervorbehalt (§ 105 Abs. 1 StPO), die Eingriffsintensität der Untersuchungshaft ist dennoch bedeutend höher. Dies ergibt sich bereits systematisch daraus, dass die Untersuchungshaft unter keinen Umständen – wie demgegenüber die Durchsuchung nach § 105 Abs. 1 StPO – von der Staatsanwaltschaft oder ihren Ermittlungspersonen angeordnet werden darf. Die Eingriffsintensität der Untersuchungshaft verbietet es den Gerichten daher in wohl allen denkbaren Konstellationen auf Grund des Zeitmoments und Umstandsmomente eine Verwirkung anzunehmen, wenn Beschwerde gegen einen erledigten Haftbefehl eingelegt wurde. 4. Weitere Besonderheiten Mit der Beschwerde kann nur die letzte den gleichen Gegenstand betreffende Haftentscheidung angefochten werden.117 Zur Begründung wird ausge172/03, NJW 2004, 696, 697; Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 75; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 6; Zabeck, in: KK 2019, § 304 Rn. 31; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 304 Rn. 3; Frisch, in: SK VI 2016, Vor § 296 Rn. 189; Hoch, in: SSW 2018, Vor §§ 296 ff. Rn. 31; Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 117 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig III, Art. 19 Abs. 4 Rn. 234. 116  BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2002 – 2 BvR 1660/02, NJW 2003, 1514, 1515. 117  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 33; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 5; Böhm, in: MüKo I 2014, § 116 Rn. 43; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 51. Nach überwiegend vertretener Auffassung soll eine Ausnahme gelten, wenn der Haftbefehl zwischenzeitlich außer Vollzug gesetzt wurde und danach nur noch über Auflagen entschieden wurde: BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402; OLG Hamburg, Beschluss vom 22. Februar 1994 – 1 Ws 40/94, StV 1994, 323 (Ziff. 2 der Leitsätze); Hilger, in: L-R IV 2007, § 116 Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 116



C. Haftbeschwerde 129

führt, die Grundlage und damit Begründung älterer Haftentscheidungen könne durch neue Ermittlungsergebnisse bereits überholt sein. Zudem käme es nur auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde an.118 In Ausnahmefällen kann die frühere Haftentscheidung entgegen dieses Grundsatzes anfechtbar sein, wenn die Haft­ voraussetzungen im Rahmen der früheren Entscheidung umfassend erörtert wurden und die darauf folgende letzte Haftentscheidung auf unveränderter Tatsachengrundlage getroffen wurde.119 Im Gegensatz zum Haftprüfungsantrag kommt es bei der Beschwerde gegen den Haftbefehl nicht darauf an, ob die Untersuchungshaft vollzogen wird, sodass die Haftbeschwerde auch gegen einen außer Vollzug gesetzten oder lediglich als Überhaft notierten Haftbefehl zulässig ist.120 Der Haftprüfungsantrag und die Haftbeschwerde sind grundsätzlich nebeneinander zulässig. Wird jedoch die Haftprüfung beantragt, kann daneben nicht auch Haftbeschwerde eingelegt werden, die auf Aufhebung (§ 120 StPO) oder Außervollzugsetzung (§ 116 StPO) des Haftbefehls gerichtet ist, § 117 Abs. 2 Satz 1 StPO.121 Dies folgt daraus, dass der Haftprüfungsantrag auf eine neue Haftentscheidung gerichtet ist und die Beschwerde gegen eine Rn. 25; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 5a m. w. N.; a. A.: Böhm, in: MüKo I 2014, § 116 Rn. 43. 118  OLG Hamm, Beschluss vom 27. Juni 1977 – 1 Ws 142/77, JMBl. NW 1977, 249, 250 = BeckRS 1977, 01758; OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juli 1987 – 1 Ws 436/87, BeckRS 1987, 07013; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. September 1992 – 1 Ws 888/92, StV 1993, 592; KG, Beschluss vom 16. September 1999 – 1 AR 1069/99 – 4 Ws 235/99, 1 AR 1069/99, BeckRS 1999, 16012; OLG Koblenz, Beschluss vom 23. Dezember 2015 – 2 Ws 664/15, BeckRS 2016, 8796; KG, Beschluss vom 28. Oktober 2016 – 4 Ws 180/16, 121 AR 115/16, BeckRS 2016, 129708; Böhm/ Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 51; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 812. 119  OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010 – 2 Ws 149/10, BeckRS 2010, 19469; KG, Beschluss vom 15. August 2016 – 5 Ws 124/16, 121 AR 32/16, BeckRS 2016, 119935. 120  Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 8; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 19; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 24; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 16; Schlothauer/Weider/ Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 813. 121  Vgl. für ein Beispiel, bei dem nach dem BGH Haftbeschwerde und das Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO nebeneinander zulässig waren, weil mit der Haftbeschwerde die Abänderung des Haftbefehls zu Gunsten der Beschwerdeführer erstrebt worden war und dies im Rahmen eines Haftprüfungsverfahrens gerade nicht erreicht werden kann: BGH, Beschluss vom 14. Juni 2012 – AK 18/12, NStZ-RR 2012, 285, 286. Vgl. auch Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 16; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 122 Rn. 18; Schultheis, in: KK 2019, § 122 Rn. 22; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 18; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 49; Paeffgen, in: SK II, § 117 Rn. 6.

130

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

ältere Haftentscheidung mit Erlass dieser nach dem Vorgesagten ohnehin im Regelfall nicht mehr zulässig wäre. Eine bereits eingelegte Beschwerde wird unzulässig, wenn vor ihrer Bescheidung die Haftprüfung beantragt wird. Auch mit der Rücknahme des Haftprüfungsantrags wird die Haftbeschwerde nicht wieder zulässig. Auf die Reihenfolge der Einlegung der Rechtsmittel kommt es also nicht an.122 Auch mit einer Entscheidung des Oberlandes­ gerichts im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens von Amts wegen gemäß §§ 121 f. StPO wird eine bereits eingelegte Beschwerde gegenstandslos.123 Eine wiederholte Beschwerdeeinlegung gegen dieselbe Haftentscheidung ist nicht möglich.124 Der Beschwerderechtsweg bezüglich dieser Haftentscheidung ist dann erschöpft. Allenfalls ist die weitere Beschwerde gegen die auf die Beschwerde ergangene Entscheidung nach § 310 Abs. 1 StPO statthaft.125 Die wiederholte Beschwerde gegen eine letztinstanzliche Beschwerde­ Ein nur eventuell für den Fall der Erfolglosigkeit der Haftbeschwerde gestellter Haftprüfungsantrag soll dagegen nach wohl h. M. nicht nach § 117 Abs. 2 Satz 1 StPO zu der Unzulässigkeit der unbedingten Haftbeschwerde haben, vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1974 – 1 Ws 329, 345/74, MDR 1974, 861; Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 20; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 14; Böhm/ Werner, MüKo I 2014, § 117 Rn. 47; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 814 (dort auch Fn. 148); Matt, JA 1991, 85, 85; a. A. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. März 1982 – 2 Ws 22/82; JurBüro 1982, 1857; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 8; jeweils m. w. N. 122  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 18, 20; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 14; Graf, in: KK 2019, § 117 Rn. 6, 9; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 17; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 45 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 38; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 814 f.; Matt, JA 1991, 85, 86. 123  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12. November 1991 – 1 Ws 912, 1014, 1016/91, VRS Bd. 82/92, 189, 193; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 122 Rn. 18; Schultheis, in: KK 2019, § 122 Rn. 11; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 18a; Böhm, in: MüKo I 2014, § 122 Rn. 24; Paeffgen, in: SK II 2016, § 122 Rn. 10; ­Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft, Rn. 272; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 516; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 814; Schnarr, MDR 1990, 89, 94. Das Haftbeschwerdeverfahren bleibt ausnahmsweise zulässig, wenn mit diesem ein Ziel verfolgt wird, welches im Rahmen der oberlandesgerichtlichen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO nicht erreicht werden kann, vgl. Fn. 121, S. 129. 124  „Beschränkte materielle Rechtskraft“ der letztinstanzlichen Beschwerdeentscheidung: Frisch, in: SK VI 2016, § 310 Rn. 4. Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Mai 1973 – 1 Ws 156, 157/73, Die Justiz 1973, 253, 254. 125  Siehe dazu ab S. 134. Selbstverständlich ist gegen die letztinstanzliche Haftbeschwerdeentscheidung grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, eine Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG einzulegen, vgl. Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 20; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 412 ff.; Schlothauer/ Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 838 ff.



C. Haftbeschwerde 131

entscheidung wird in einen Haftprüfungsantrag umgedeutet.126 Ebenso steht es dem Betroffenen selbstverständlich frei, selbst eine neue Haftentscheidung durch Einlegung eines Haftprüfungsantrags nach § 117 StPO herbeizuführen, welche dann wiederum mit der Beschwerde nach § 304 StPO angegriffen werden kann, vgl. § 117 Abs. 2 Satz 2 StPO.127 Eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag ist nach Ansicht des Kammergerichts auch möglich, wenn gegen einen mit der Beschwerde unanfechtbaren Beschluss des Oberlandesgerichts nach § 122 Abs. 3 Satz 1 StPO Beschwerde eingelegt wird.128

III. Verfahren Hilft das Ausgangsgericht der Beschwerde nicht ab und werden die Akten gemäß § 306 Abs. 2 StPO an das Beschwerdegericht weitergeleitet, ist das eigentliche Beschwerdeverfahren gesetzlich als schriftliches Verfahren vorgesehen, arg. ex. §§ 118 Abs. 2, 309 Abs. 1 StPO. Von der gesetzlich in § 118 Abs. 2 StPO ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit, auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen eine mündliche Verhandlung durchzuführen, wird in der Praxis nur selten Gebrauch gemacht.129 In geeigneten Fällen hat das Beschwerdegericht vor seiner Entscheidung nach § 309 Abs. 1 StPO als Modifikation des § 33 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft beim Beschwerdegericht anzuhören.130 Die Anhörung der Staats126  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Mai 1973 – 1 Ws 156, 157/73, Die Justiz 1973, 253, 254; Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 41; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 8; Graf, in: KK 2019, § 115 Rn. 24, § 117 Rn. 5; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 16, 18; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 12, 63; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 37; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 818; Paeffgen, NStZ 1989, 417, 420. 127  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Mai 1973 – 1 Ws 156, 157/73, Die Justiz 1973, 253, 254; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 14. 128  KG, Beschluss vom 15. August 2016 – 5 Ws 124/16, 121 AR 32/16, BeckRS 2016, 119935, wobei hier mangels Vollzugs des Haftbefehls eine Umdeutung in einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls (siehe oben ab S. 120) vorgenommen wurde. 129  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 820. 130  Vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 3; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 309 Rn. 5 und Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 3 mit dem Hinweis darauf, dass die gezielte Anhörung der Staatsanwaltschaft in der Praxis kaum von Bedeutung ist, da die Akten über die Staatsanwaltschaft zum Beschwerdegericht gelangen und so rein tatsächlich stets eine Beteiligung der Staatsanwaltschaft vorliegt, die die Akten regelmäßig mit einer Gegenerklärung oder Ankündigung einer solche an das Beschwerdegericht übersendet. Ein geeigneter Fall i. S. d. § 309 Abs. 1 StPO liegt nicht vor, wenn der Beschwerde der Staatsanwaltschaft vollständig stattgegeben wird, siehe Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 309 Rn. 2; Zabeck, in: KK 2019, § 309 Rn. 2;

132

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

anwaltschaft bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird, ist unabhängig von der Anhörung der Staatsanwaltschaft beim Beschwerdegericht nach § 308 Abs. 1 StPO erforderlich, wenn die angefochtene Entscheidung zu ihrem Nachteil abgeändert werden soll.131 Ist die Sache aus Sicht des Beschwerdegerichts nach dem aktuellen Ermittlungsstand noch nicht entscheidungsreif, kann es nach § 308 Abs. 2 StPO alle zu der Herbeiführung der Entscheidungsreife notwendigen Ermittlungen selbst vornehmen. Hierbei kann es auch im Freibeweisverfahren Beweise erheben. Auf Ermittlungen und Beweiserhebungen durch das Beschwerdegericht hat der Beschwerdeführer jedoch keinen Anspruch. Vielmehr bestimmt das Beschwerdegericht die Notwendigkeit und den Umfang eventueller weiterer Ermittlungen und Beweiserhebungen.132 Über neue Ermittlungsergebnisse sind diejenigen Verfahrensbeteiligten (dazu gehören jedenfalls die Staatsanwaltschaft und der Beschwerdeführer) nach § 33 Abs. 3 StPO zu unterrichten, zu deren Nachteil das Beschwerde­ gericht ihre Verwertung beabsichtigt.133 Wurde dem Betroffenen bzw. seinem Verteidiger noch keine vollständige Akteneinsicht gewährt, müssen ihm im Rahmen des Beschwerdeverfahrens die Tatsachen und Beweismittel eröffnet werden, auf Grundlage derer das Beschwerdegericht seine Entscheidung beabsichtigt zu treffen, um dessen

Plöd, in: KMR V 2019, § 309 Rn. 2; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 309 Rn. 4; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 4. Ein geeigneter Fall liegt nach Frisch, in: SK VI 2016, § 309 Rn. 4 auch vor, wenn neue Tatsachen eine abweichende Entscheidungsgrundlage bilden oder das Beschwerdegericht eine abweichende Rechtsauffassung vertritt. 131  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 308 Rn. 3, 6; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 308 Rn. 3; Zabeck, in: KK 2019, § 308 Rn. 3; Plöd, in: KMR V 2019, § 308 Rn. 2 f.; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 308 Rn. 3 ff.; Frisch, in: SK VI 2016, § 308 Rn. 13 ff.; § 309 Rn. 3; Hoch, in: SSW 2018, § 308 Rn. 2 ff. 132  Allerdings sind die Ermittlungsbefugnisse des Gerichts während des Ermittlungsverfahrens eingeschränkt. In diesem Verfahrensstadium kann es ohne Antrag der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens lediglich ergänzende Ermittlungen vornehmen, aber keine vollständig neue Beweiserhebung anordnen, vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 308 Rn. 19 f., § 309 Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 308 Rn. 6; Zabeck, in: KK 2019, § 308 Rn. 17 f.; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 309 Rn. 8 ff., 11; Frisch, in: SK VI 2016, § 308 Rn. 28 ff., 33. Vgl. auch Plöd, in: KMR V 2019, § 308 Rn. 5 und Hoch, in: SSW 2018, § 308 Rn. 15 f. allerdings ohne Hinweis auf die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft während des Ermittlungsverfahrens. 133  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 308 Rn. 4; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 309 Rn. 13; Frisch, in: SK VI 2016, § 308 Rn. 4 ff.; Hoch, in: SSW 2018, § 308 Rn. 16.



C. Haftbeschwerde 133

Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG134 und das Gebot des fairen Verfahrens135 zu wahren, § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO.136

IV. Prüfungsumfang und Entscheidung Nach § 309 Abs. 2 StPO hat das Beschwerdegericht über die Beschwerde selbst zu entscheiden.137 Es hat grundsätzlich eine umfassende Prüfungs- und Entscheidungskompetenz und ist somit verpflichtet, die angegriffene Entscheidung selbst zu überprüfen und eine eigene Entscheidung in der Sache zu treffen.138 Genau wie im Rahmen der Entscheidung über den Haftprüfungsantrag139 hat das Beschwerdegericht also zu prüfen, ob zum Zeitpunkt der Entscheidung noch sämtliche Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vorliegen.140 Allerdings sind während der Hauptverhandlung getroffene Haftentscheidungen durch das Beschwerdegericht nur eingeschränkt – auf Rechtsfehler sowie Vertretbarkeit bzw. Schlüssigkeit – überprüfbar. Dies ist nach der Rechtsprechung dem Umstand geschuldet, dass das Tatgericht die Beweise unmittelbar erhebt und würdigt. Eine nachträgliche Beweiswürdigung durch das Beschwerdegericht ist nicht möglich. Außerdem kann eine während der 134  Siehe

Fn. 62, S. 116. Fn. 63, S. 116. 136  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 5; Zabeck, in: KK 2019, § 308 Rn. 8; Plöd, in: KMR V 2019, § 309 Rn. 1; Frisch, in: SK VI 2016, § 308 Rn. 8; Beulke/Witzigmann, NStZ 2011, 254, 255 f. Sowohl nach der Rechtsprechung des BVerfG (siehe Fn. 62, S. 116), als auch nach der Rechtsprechung des EGMR (siehe Fn. 63, S. 116) genügt eine nur mündliche Mitteilung nicht, vgl. Park, StV 2009, 276, 279 m. w. N. 137  Nach der h. M. verpflichtet § 309 Abs. 2 StPO das Beschwerdegericht zu einer eigenen Entscheidung. Eine Zurückverweisung sei danach nur in Ausnahmenfällen zulässig, vgl. m. w. N.: Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 7 ff.; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 309 Rn. 7; Zabeck, in: KK 2019, § 309 Rn. 7; Plöd, in: KMR V 2019, § 309 Rn. 9; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 309 Rn. 29 ff.; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 20 ff. A. A. Frisch, in: SK VI 2016, § 308 Rn. 11 ff., 14 ff. m. w. N. 138  Zu berücksichtigen sind die gesetzlichen Beschränkungen der Überprüfung in §§ 59 Abs. 2 Satz 2, 305a, 453 Abs. 2 Satz 2 StPO, die jedoch bei der Haftbeschwerde keine Bedeutung haben; vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 12; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 309 Rn. 4; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 9. 139  Siehe S. 119. 140  Dies gilt indes nur, wenn sich die Beschwerde gegen den Bestand des Haftbefehls richtet und Beschwerdeziel somit dessen Aufhebung (§ 120 StPO) oder Außervollzugsetzung (§ 116 StPO) ist. Hat der Beschwerdeführer ein bestimmtes Antragsbegehren formuliert, begrenzt dieses ggf. den Beschwerdegegenstand und somit den Prüfungsumfang; vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 11; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 309 Rn. 8. 135  Siehe

134

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

Hauptverhandlung getroffene Haftfortdauerentscheidung regelmäßig keine abgeschlossene, sondern allenfalls eine vorläufige Beweiswürdigung enthalten. Die Haftfortdauerentscheidung muss aber jedenfalls so umfassend begründet sein, dass dem Beschwerdegericht eine entsprechende Rechtsfehlerund Schlüssigkeitsprüfung möglich ist.141 Die Entscheidung über die Haftbeschwerde ergeht durch begründeten Beschluss (§ 34 StPO).142 Für die Beschwerdeentscheidung gelten die üblichen Anforderungen der besonderen Begründungstiefe143 für Haftfortdauerentscheidungen.144

V. Sonderfall: Weitere Beschwerde nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO Nach § 310 Abs. 2 StPO ist eine Beschwerdeentscheidung grundsätzlich nicht mit einer weiteren Beschwerde anfechtbar. Die restriktiv auszulegenden Ausnahmen145 sind abschließend in § 310 Abs. 1 StPO geregelt. Nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO kann gegen einen Beschluss des Landgerichts als Beschwerdegericht nach § 73 Abs. 1 GVG, der auf eine Beschwerde hin ergangen ist und die die Verhaftung betrifft, die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht eingelegt werden. Teilweise wird vertreten, dass die weitere Beschwerde nur dem Betroffenen selbst, nicht aber der Staatsanwaltschaft zu dessen Ungunsten zusteht.146 141  St. Rspr.: BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2012 – StB 12/12, NJW 2013, 247, 248; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2006 – 2 Ws 2/06, BeckRS 2006, 01960; vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 12, § 304 Rn. 33; § 309 Rn. 19; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 11a; Graf, in: KK 2019, § 112 Rn. 7a, Zabeck, in: KK 2019, § 305 Rn. 10; Wankel, in: KMR II 2019, § 114 Rn. 114. § 117 Rn. 15b; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 29 f. 142  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 4 ff.; Plöd, in: KMR V 2019, § 309 Rn. 1; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 37; Frisch, in: SK VI 2016, § 309 Rn. 6; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 1, 5; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 828. 143  Dazu abstrakt oben S. 89. 144  Mayer/Hunsmann, NStZ 2015, 325, 329. 145  BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 1978 – 2 BvL 2/78, NJW 1978, 1911, 1912 f.; Matt, in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 310 Rn. 4 (explizit zu der restriktiven Auslegung des § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO); Zabeck, in: KK 2019, § 310 Rn. 1; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 310 Rn. 7; Frisch, in: SK VI 2016, § 310 Rn. 16. Kritisch: Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 35. 146  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 18 ff., 29, 31; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 98 f.; die h. M. bejaht dagegen unter Bezugnahme auf den uneingeschränkten Wortlaut des § 310 Abs. 1 StPO auch ein weiteres Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Betroffenen; vgl. BGH, Beschluss vom 4. April 1990 – 4 BJs 136/89 – 3 StB 5/90, NJW 1990, 1799; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO



C. Haftbeschwerde 135

Gegen Beschwerdeentscheidungen des Oberlandesgerichts über mit der Beschwerde angegriffene Beschlüsse ist die weitere Beschwerde selbst gegen Entscheidungen, die eine Verhaftung zum Gegenstand hat, nur statthaft, wenn es sich zusätzlich um eine Staatsschutzsache i. S. d. § 120 Abs. 3 GVG handelt.147 In diesem Fall ist das zuständige weitere Beschwerdegericht der Bundesgerichtshof, § 135 Abs. 2 GVG. § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO erfasst auf Grund der notwendigen restriktiven Auslegung148 dieser Ausnahmevorschrift nur den Bestand des Haftbefehls als solchen. Auch die weitere Beschwerde gegen einen gemäß § 116 StPO oder wegen Überhaft nicht vollzogenen Haftbefehl ist nach ganz herrschender Auffassung zulässig.149 Nach der jedenfalls in der Rechtsprechung herrschenden Auffassung ist eine weitere Beschwerde unzulässig, die sich nur gegen eine Auflage nach § 116 StPO richtet.150 Jedenfalls sind (Beschwerde-) Entscheidungen über Haftbeschränkungen oder Auflagen nach § 119 StPO nicht der weiteren Beschwerde zugänglich.151

2019, § 310 Rn. 8; Zabeck, in: KK 2019, § 310 Rn. 10; Plöd, in: KMR V 2019, § 310 Rn. 6; Frisch, in: SK VI 2016, § 310 Rn. 22. 147  Matt, in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 310 Rn. 10; Hoch, in: SSW 2018, § 310 Rn. 24 f. 148  Siehe Fn. 145, S. 134. 149  St. Rspr.: BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402; OLG Koblenz, Beschluss vom 18.10.1989 – 1 Ws 533/89, NStZ 1990, 102; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 56, § 116 Rn. 34 ff.; Matt, in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 32, 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 310 Rn. 7; Zabeck, in: KK 2019, § 310 Rn. 10; Plöd, in: KMR V 2019, § 310 Rn. 5; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 35; Frisch, in: SK VI 2016, § 310 Rn. 21; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 832; Matt, JA 1991, 85, 89. 150  BGH, Beschluss vom 25. Januar 1973 – 7 BJs 316/70, StB 76/72, NJW 1973, 664 (Leitsatz); BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402; OLG Hamburg, Beschluss vom 22. Februar 1994 – 1 Ws 40/94, StV 1994, 323 (Ziff. 3 der Leitsätze); OLG Celle, Beschluss vom 15. März 2006 – 1 Ws 131/06, NStZ-RR 2006, 222 (Leitsatz); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 310 Rn. 7; Zabeck, in: KK 2019, § 310 Rn. 10; Wankel, in: KMR II 2019, § 117 Rn. 22; Plöd, in: KMR V 2019, § 310 Rn. 5; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 310 Rn. 10; Frisch, in: SK VI 2016, § 310 Rn. 20; a. A. Hilger, in: L-R IV 2007, § 116 Rn. 42; Paeffgen, in: SK II 2016, § 116 Rn. 24; Matt, JA 1991, 85, 89; Matt diskutiert in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 36, ob überhaupt eine isolierte Anfechtung von Auflagen möglich ist. 151  KG, Beschluss vom 29. November 2000 – 1 AR 1358/00 – 4 Ws 219/00, BeckRS 2014, 9339; OLG Köln, Beschluss vom 12. Januar 2011 – 2 Ws 32/11, BeckRS 2011, 13531 (Leitsatz); Matt, in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 37; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 310 Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 119 Rn. 58; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 310 Rn. 10; Frisch, in: SK VI 2016, § 310 Rn. 18; Wiesneth, Untersuchungshaft, Rn. 124.

136

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

Hinsichtlich des Verfahrens gelten die allgemeinen Vorschriften zu der Beschwerde nach den §§ 304 ff. StPO. Die weitere Beschwerde ist daher ebenfalls beim iudex a quo – also Regelfall dem Landgericht – einzulegen, § 306 Abs. 1 StPO. Hilft das Landgericht der Beschwerde nicht ab, sind die Akten gemäß § 306 Abs. 2 StPO i. V. m. § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG dem Oberlandesgericht als (weiteres) Beschwerdegericht vorzulegen.152 Mit der Entscheidung über die weitere Beschwerde ist der Beschwerderechtsweg gegen diese Haftentscheidung erschöpft.153 Weitere ordentliche Rechtsbehelfe stehen dem Betroffenen gegen seine Untersuchungshaft nicht zu.154

D. Auswahlkriterien zwischen den verschiedenen Rechtsmitteln Nachdem die beiden klassischen Rechtsmittel gegen die Untersuchungshaft – der Haftprüfungsantrag und die Haftbeschwerde – erörtert wurden, stellt sich die Frage, welches der beiden Rechtsmittel vorzugswürdig ist. Hierbei verkennt die Verfasserin nicht, dass das Nebeneinander insbesondere der Haftbeschwerde und der Haftprüfung teilweise Kritik ausgesetzt ist. Obgleich es nicht Aufgabe dieser Untersuchung ist, die Existenzberechtigung der beiden Rechtsbehelfe zu rechtfertigen, ist jedenfalls anzumerken, dass das häufig hervorgebracht Argument, die Parallelität der Rechtsbehelfe könne den Betroffenen verwirren155, mit der Normierung des Untersuchungshaftvollzugs als Fall der notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO) an Durchschlagskraft verloren hat.156

Tatsächlich besteht statistisch betrachtet die größere Wahrscheinlichkeit, dass der Haftbefehl im Rahmen eines Haftprüfungstermins aufgehoben bzw. 152  Vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 310 Rn. 5, 29; Zabeck, in: KK 2019, § 310 Rn. 15; Plöd, in: KMR V 2019, § 310 Rn. 9; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 310 Rn. 18; Hoch, in: SSW 2018, § 310 Rn. 27 ff. 153  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn.  837, siehe auch oben S. 130 und die dortigen Nachweise. 154  Selbstverständlich ist gegen die letztinstanzliche Haftbeschwerdeentscheidung grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, eine Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG einzulegen, vgl. Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 20; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 838 ff. 155  Hilger, in: L-R IV 2007, § 117 Rn. 3; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 2; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30 Rn. 65. 156  Vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 36, der sich gerade auf Grund der unterschiedlichen Besonderheiten für die Doppelung der Rechtsbehelfe ausspricht; vgl. auch Matt, JA 1991, 85, 93 f.



D. Auswahlkriterien zwischen den verschiedenen Rechtsmitteln 137

außer Vollzug gesetzt wird.157 Nach der Untersuchung Gebauers158 legte 1985 der von einem Wahlverteidiger verteidigte Betroffene am frühzeitigsten und erfolgreichsten ein Rechtsmittel gegen den Haftbefehl ein. Da auf Grund der Reform der Untersuchungshaft durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 22. Juli 2009159 seit dem 1. Januar 2010 nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 141 Abs. 3 Satz 5 StPO vollzogene Untersuchungshaft einen Fall der notwendigen Verteidigung darstellt, erscheint zweifelhaft, ob die Studien aus den Jahren 1981 bis 1985 (Gebauer160) sowie 1997 bis 2001 (Busse161) heutzutage für die Rechtslage seit 2010 noch aussagekräftig sind.162 Obwohl sich König „in dubio pro Haftprüfung“163 ausspricht, ist eine derartige Pauschalisierung, die König selbst in der Sache durch die folgende Abwägung der Besonderheiten der einzelnen Rechtbehelfe nicht stringent vornimmt, nur schwer vertretbar. Vielmehr haben die verschiedenen Rechtsbehelfe unterschiedliche Vorteile für sich. Es ist daher stets im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung des Verfahrens- und Ermittlungsstands sowie der gewählten Verteidigungsstrategie zu überprüfen und zu entscheiden, welcher Rechtsbehelf am erfolgversprechendsten ist.164

157  Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft, S. 237, 239 (Abb. 35), 240 (Abb. 36), 245 f. (Tab. 51), 249 f. (Tab. 54); Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S. 286 (Tab. 68); Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 537; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 823. 158  Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland, S. 284 f. (Tab. 67), 290 (Tab. 71). 159  BGBl. I Nr. 48 vom 31. Juli 2009 S. 2227. 160  Gebauer, Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland. 161  Busse, Frühe Strafverteidigung und Untersuchungshaft. 162  Zwar sind Gegenstand dieser Studien gerade (auch) die Auswirkungen der frühen Verteidigung auf die Untersuchungshaft, die zum Zeitpunkt der jeweiligen Erhebungen noch nicht von Beginn des Vollzugs an ein Fall der notwendigen Verteidigung war; siehe oben S. 29. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich das Verhalten von Verteidiger, Staatsanwaltschaft und Gerichten auf Grundlage der seit 2010 geltenden notwendigen Verteidigung geändert hat; vgl. z. B. Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 538. 163  König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 196. 164  Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 36; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 405.

138

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

I. Besonderheiten der Haftprüfung Der Haftprüfungs- bzw. Aufhebungsantrag hat keinen Devolutiveffekt. Nur im Rahmen des Haftprüfungsantrags kann unter den Voraussetzungen des § 118 Abs. 3 und 4 StPO eine mündliche Verhandlung erzwungen werden. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens steht demgegenüber alleine im Ermessen des Gerichts. Der mündliche Haftprüfungstermin muss überdies innerhalb der Zweiwochenfrist des § 118 Abs. 5 StPO stattfinden, sodass das Haftprüfungsverfahren zeitlich begrenzt ist.165 Zu berücksichtigen ist hier, dass dem Betroffenen auch innerhalb dieser zwei Wochen alle haftrelevanten Akteninhalte eröffnet werden müssen, sofern diese noch nicht bekannt wird.166 So kann über die mündliche Haftprüfung innerhalb von längstens zwei Woche entsprechende Aktenkenntnis erzwungen werden.167 Wird ein mündliches Haftprüfungsverfahren durchgeführt, haben Richter und Staatsanwalt die Möglichkeit, sich einen (weiteren) persönlichen Eindruck von dem Betroffenen zu verschaffen.168 Selbst wenn er sich nicht zum Tatvorwurf einlässt, aber jedenfalls über seine persönlichen Verhältnisse berichtet, kann dies erheblichen Einfluss auf die Entscheidung über die Untersuchungshaft haben.169 Durch die Erörterungspflichten im Rahmen der mündlichen Haftprüfung besteht für den Verteidiger die Möglichkeit, auch vor dem unbeschränkten Akteneinsichtsrecht nach Abschluss der Ermittlungen (§ 147 Abs. 2 Satz 1 StPO) genauere Kenntnisse über den Verfahrensstand zu erlangen.170 Auf Grund der Möglichkeit, Entlastungsbeweise anzubieten und deren Erhebung unter den vorgenannten Voraussetzungen171 nach § 166 Abs. 1 StPO erzwingen zu können172, eignet sich die mündliche Haftprüfung insbesondere bei Unklarheiten in tatsächlicher Hinsicht.173 Da nur in bestimmten Zeitabständen174 (§ 118 Abs. 3 StPO) die Durchführung einer König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 196. oben S. 115. 167  Wiesneth, Untersuchungshaft, Rn. 111. 168  Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 28; König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 197; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 819; Deckers, NJW 1994, 2261, 2266; Matt, JA 1991, 85, 92; ebendies kann in Einzelfällen natürlich auch gerade unerwünscht sein; vgl. Wiesneth, Untersuchungshaft, Rn. 105; Rückel, StV 1985, 36, 39. 169  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 795. 170  König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 198. 171  Siehe oben S. 117. 172  Vgl. König; in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 199. 173  Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 28; Matt, JA 1991, 85, 92. 174  Siehe oben S. 115. 165  Vgl.

166  Siehe



D. Auswahlkriterien zwischen den verschiedenen Rechtsmitteln 139

mündlichen Haftprüfung verlangt werden kann, sollte ihre Beantragung bzw. der jeweilige Zeitpunkt dennoch wohl überlegt sein.175 Die schriftliche Haftprüfung hat gegenüber dem Beschwerdeverfahren kaum nennenswerten Vorteile. Sie kann jedoch mehrmals und ohne bestimmte Zeitabstände gegen den selben Haftbefehl eingelegt werden, während die Entscheidung über eine Haftbeschwerde nach Durchlaufen des Rechtsmittelzugs in beschränkte Rechtskraft erwächst und grundsätzlich nicht erneut eingelegt werden kann.176 Ist aus irgendeinem Grund zu erwarten, dass der erstinstanzliche Haftrichter von seiner Entscheidung abweicht und eine Befassung des Beschwerdegerichts noch nicht erwünscht, kann daher auch die Beantragung der schriftlichen Haftprüfung177 ohne Devolutiveffekt vorzugswürdig sein.178

II. Besonderheiten der Haftbeschwerde Die Haftbeschwerde hat – jedenfalls bei Nichtabhilfe durch den iudex a quo – Devolutiveffekt. Ein Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung besteht nicht, § 118 Abs. 2 StPO. Die Entscheidungsgewalt des Ausgangsgerichts ist auf eine Abhilfe- oder Nichtabhilfeentscheidung beschränkt. Danach ist unmittelbar das diesem übergeordnete Beschwerdegericht für die Entscheidung über die Beschwerde zuständig. Die Einlegung der Haftbeschwerde bietet sich daher häufig an, wenn die Tatsachen im Wesentlichen unstreitig sind und nur abweichende Rechtsauffassungen vorliegen oder aus irgendeinem Grund keine anderweitige Haftentscheidung des erstinstanzlichen Haftrichters erwartet werden kann. Zu berücksichtigen ist jedoch immer, dass von der Entscheidung über die Haftfrage eines höherrangigen Gerichts für das Tatgericht faktisch eine präjudizielle Wirkung ausgehen kann.179

175  Matt,

JA 1991, 85, 93. oben S. 130. 177  Nach Matt, JA 1991, 85, 92, reicht ein schriftliches Haftprüfungsverfahren grds. auch dann aus, wenn lediglich Rechtsfragen zu erörtern sind. 178  So kann es beispielsweise bei einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO oder § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO denkbar sein, dass der neue Haftrichter, der nun für Haftentscheidungen zuständig ist (siehe oben S. 75), den Tatvorwurf abweichend bewertet und den Haftbefehl auch auf Grund eines schriftlichen Haftprüfungsverfahrens aufhebt oder außer Vollzug setzt. 179  Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 28; König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 200, 203; Wiesneth, Untersuchungshaft, Rn. 105; Schlothauer/Weider/ Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 853; Deckers, NJW 1994, 2261, 2266; Rückel, StV 1985, 36, 39; Matt, JA 1991, 85, 91; a. A. jedenfalls insoweit, als dass eine schrift­ 176  Siehe

140

3. Teil: Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft

Zu berücksichtigen ist, dass diese präjudizielle Wirkung nicht nur Einfluss auf die Entscheidung des späteren Tatgerichts, sondern auch die der Staatsanwaltschaft nehmen kann. Zur Veranschaulichung soll folgendes Beispiel, angelehnt an einen Fall aus der Praxis180, dienen: Der Haftrichter hatte gegen den Betroffenen bereits einen Haftbefehl wegen Betrugs und Fluchtgefahr erlassen. Der Haftbefehl wurde vollzogen. Während der weitergehenden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft traten weitere Beweismittel zutage, die den Verdacht der Begehung eines Mordes nach § 211 StGB begründeten. Obgleich das wohl wichtigste Beweismittel zur Annahme eines Mordes – nämlich die Leiche – noch fehlte, beantragte die Staatsanwaltschaft die Erweiterung des Haftbefehls auf den dringenden Tatverdacht des Mordes. Es war nämlich zu befürchten, dass der Tatvorwurf des Betrugs die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nicht länger rechtfertigen würde, § 120 Abs. 1 StPO. Der erweiterte neue Haftbefehl wurde antragsgemäß erlassen. Die Leiche konnte immer noch nicht aufgefunden werden. Der Betroffene legte hiergegen Beschwerde ein. Die Haftbeschwerde wurde verworfen, der Haftbefehl aufrechterhalten. Obwohl die Staatsanwaltschaft keine Spur von der Leiche hatte, genügte dem Beschwerdegericht ausweislich der verworfenen Haftbeschwerde die Indizienkette für die Annahme eines dringenden Tatverdachts wegen Mordes. Somit war die Staatanwaltschaft praktisch dazu gezwungen, über kurz oder lang – auch ohne Leiche – einen hinreichenden Tatverdacht gemäß §§ 170, 203 StPO anzunehmen und Anklage zu erheben. Anderenfalls wäre das Absehen von der Anklageerhebung und somit die Fortdauer des Ermittlungsverfahrens vor dem Hintergrund der Bestätigung des dringenden Tatverdachts durch das Beschwerdegericht kaum mehr zu rechtfertigen gewesen. Der Betroffene wurde im Rahmen des Hauptverfahrens für verhandlungsunfähig erklärt und nicht verurteilt. Das vermeintliche Opfer wurde bis heute weder tot noch lebendig aufgefunden und wurde laut Medienberichten nach dem Verschollenheitsgesetz für tot erklärt.

III. Besonderheiten des Antrags auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung Der einfache Antrag auf Aufhebung bzw. Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist ein Pendant zu dem Antrag auf Haftprüfung.181 Ist diese zulässig, ist sie dem Antrag auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung vorzuziehen. Als ernsthafte Alternative zur Haftbeschwerde kommt der Antrag auf Aufhebung liche Haftprüfung regelmäßig auch ausreiche, wenn nur Rechtsfragen zu erörtern seien: Matt, JA 1991, 85, 92. 180  515/612 Js 1237/93 Staatsanwaltschaft Düsseldorf. 181  A. A.: König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 203, der den Antrag auf ­Aufhebung oder Außervollzugsetzung ohne nähere Begründung nur in der Zeit nach Beginn der Hauptverhandlung für zulässig hält.



D. Auswahlkriterien zwischen den verschiedenen Rechtsmitteln 141

oder Außervollzugsetzung dann in Betracht, wenn die Haftprüfung unzulässig182 ist. In diesem Fall gelten für den Antrag auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung im Verhältnis zu der Haftbeschwerde alle Vor- und Nachteile, die auch für das Haftprüfungsverfahren auf Antrag183 gelten. So kann durch den Antrag auf Aufhebung oder Außervollzugsetzung mangels Devolutiveffekt die präjudizielle Wirkung einer etwaigen obergerichtlichen Entscheidung über die Haftbeschwerde vermieden werden.184

182  Dies ist beispielsweise der Fall, wenn diese nicht vollzogen wird, vgl. zu den Voraussetzungen eines Haftprüfungsantrags oben S. 113 ff. 183  Siehe oben S. 138. 184  König, in: MAH Strafverteidigung, § 4 Rn. 203.

4. Teil

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen A. Bedeutung der EMRK Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde am 4. November 1950 in Rom durch die Mitglieder des Europarats als multilateraler völkerrecht­ licher Vertrag unterzeichnet.1 Deutschland ist seit dem 2. Mai 1951 Vollmitglied des Europarats und gehörte somit zu den zehn Mitgliedsstaaten, in denen die Europäische Menschenrechtskonvention nach entsprechender Ratifizierung nach Art. 59 Abs. 2 GG durch das entsprechende Zustimmungsgesetz2 vom 7. August 1952 am 3. September 1953 in Kraft trat.3 Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen wurde, obgleich er dem Grunde nach schon immer Ausdruck in der Strafprozessordnung gefunden hat4, erstmals mit dem Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention am 3. September 1953 konkret gesetzlich normiert. Art. 1 EMRK bestimmt, dass alle Vertragsstaaten allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I (Art. 2 bis 18 EMRK) bestimmten Rechte und Freiheiten zusichern. Auf welche Art und Weise die Vertragsstaaten diese Pflicht erfüllen, ist weder in Art. 1 EMRK, noch an einer anderen Stelle in der Europäischen Menschenrechtskonvention geregelt.5 Nach Art. 52 EMRK haben die Vertragsstaaten dem Generalsekretär des Europarates auf Anfrage mitzuteilen haben, auf welche Weise diese die Einhaltung der Rechte und Pflichten der Europäischen Menschenrechtskonvention in ihrem Staat garantieren. Dies unterstreicht, dass die Vertragsstaaten in der Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention frei sind.6 1  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Einf. Rn. 42; Meyer, in: SK X 2016, Einl. Rn. 19. 2  BGBl. II Nr. 14 vom 22. August 1952, S. 685–700; BGBl. II Nr. 17 vom 2. Oktober 1952 S. 953 (Berichtigung). 3  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Einf. Rn. 42 (dort auch Fn. 88), Rn. 45; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 2, 6; Meyer, in: SK X 2016, Einl. Rn. 19; Vorb. EMRK Rn. 1. 4  So beispielsweise bereits in § 126 RStPO; siehe dazu oben ab S. 38. 5  Hoffmann, Der Grundsatz der Subsidiarität, S. 46; vgl. Meyer, in: SK X 2016, Art. 1 Rn. 5. 6  Hoffmann, Der Grundsatz der Subsidiarität, S. 46 f.



B. Gesetzliche Grundlagen143

Nach Art. 19 EMRK ist es Aufgabe des Gerichtshofs sicherzustellen, dass die Vertragsstaaten die Verpflichtungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Protokolle einhalten.7 Zu diesen Rechten, zu deren Einhaltung die Mitgliedsstaaten für die ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen nach Art. 1 EMRK verpflichtet sind, gehören der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK. Seit Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention hat der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen im deutsche Rechtssystem und in der deutschen Rechtsprechung erheblich an Bedeutung gewonnen und war mitunter Auslöser von Gesetzesänderungen8. Soweit notwendig, wird im Folgenden zwischen dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem nationalen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen unterschieden. Zudem ist der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz (Art. 6 Abs. 1 EMRK) zwar nicht primär Gegenstand dieser Untersuchung. Dennoch sind einige grundsätzliche Ausführungen zu diesem unerlässlich, um die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts im Folgenden nachvollziehen zu können.

B. Gesetzliche Grundlagen des Beschleunigungsgrundsatzes (in Haftsachen) I. Europäische Menschenrechtskonvention Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK normiert den allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz, wonach jede Person ein Recht darauf hat, dass über eine gegen sie erhobene Anklage innerhalb einer angemessenen Frist verhandelt wird.9

7  Meyer, in: SK X 2016, Verfahrensrecht Rn. 2; Hoffmann, Der Grundsatz der Subsidiarität, S. 47. 8  So beispielsweise für die Einführung des Haftprüfungsverfahrens von Amts wegen gemäß den §§ 121, 122 StPO; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 36; § 121 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 1; Paeffgen, in: SK 2016, Rn. 1; Herrmann, in: SSW 2018, § 121 Rn. 8. Siehe auch oben ab S. 60. 9  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 6 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 7 ff.; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 26 ff.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 6 Rn. 361 ff.; Meyer, in: SK X 2016, Art. 6 Rn. 272. 

144

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

In Haftsachen wird dieser allgemeine Grundsatz – der auch als eine Prozessmaxime des deutschen Strafprozessrechts verstanden wird10 – durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK weiter verschärft. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK ordnet an, dass jeder ohne eine Verurteilung Inhaftierte das Recht auf Ab­ urteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder anderenfalls Haftentlassung hat. Haftsachen sind daher stets mit besonderer Eile zu erledigen. Exakte Fristen, die noch „angemessen“ i. S. d. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK sowie Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK sind, normiert die Europäische Menschenrechtskonvention nicht.11

II. Nationales Recht Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen ist nicht explizit in der Strafprozessordnung geregelt.12 Dennoch findet er in einigen einfach-gesetzlichen Normen der Strafprozessordnung Niederschlag. So ist der auf Grund eines Haftbefehls Ergriffene nach § 115 Abs. 1 StPO unverzüglich dem zuständigen Richter vorzuführen.13 Um den Anforderungen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen Rechnung zu tragen, hat der deutsche Gesetzgeber neben den dargestellten Rechtsbehelfen14 beispielsweise das Haftprüfungsverfahren von Amts wegen durch die Oberlandesgerichte nach §§ 121, 122 StPO15 eingeführt. Die Europäische Menschenrechtskonvention selbst hat in Deutschland durch das entsprechende nationale Zustimmungsgesetz16 gemäß Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Die völkerrechtsfreundliche Ausrichtung des Grundgesetzes verlangt jedoch trotz dieses Rangs, dass die übrigen Bundesgesetze und auch die Verfassung im Einklang mit den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der

10  Kühne, in: L-R I 2018, Einl. Abschn. I Rn. 67; Kudlich, in: MüKo I 2014, Einl. Rn. 150. 11  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 6 Rn. 313, Art. 5 Rn. 239; MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Art. 5 Rn. 11, Art. 6 EMRK Rn. 7a; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 30; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 6 Rn. 372; Meyer, in: SK X 2019, Art. 6 Rn. 274; Herrmann, in: SSW 2018, § 112 Rn. 132. Vgl. auch § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG. 12  Fischer, in: KK 2019, Einl. Rn. 29. 13  Fischer, in: KK 2019, Einl. Rn. 29 mit weiteren Beispielen; Paeffgen, in: SK II 2016, § 115 Rn. 2. 14  Siehe oben ab S. 113. 15  Vgl. Fn. 8, S. 143. Siehe zu §§ 121,122 StPO allg. oben S. 99. 16  BGBl. II Nr. 14 vom 22. August 1952, S. 685 – 700; BGBl. II Nr. 17 vom 2. Oktober 1952 S. 953 (Berichtigung).



B. Gesetzliche Grundlagen145

Judikatur des Gerichtshofs ausgelegt werden.17 Das Bundesverfassungsgericht sieht die Grenze der völkerrechtsfreundlichen Auslegung von Verfassungsrecht und einfachem Recht aber begrenzt durch die tragenden Grundsätze der Verfassung.18 Auf die Verpflichtung zur Beachtung der europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Judikatur des Gerichtshofs wird im Folgenden noch näher einzugehen sein.19 Doch auch ohne die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf die europäische Menschenrechtskonvention hat der Beschleunigungsgrundsatz (in Haftsachen) verfassungsrechtliche Bedeutung: Er wird insbesondere als Ausfluss des Rechts auf körperliche Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 GG sowie der Unschuldsvermutung, die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie Art. 6 Abs. 2 EMRK folgt, verstanden.20 Im Rahmen des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes kommen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG zum Tragen.21 17  St. Rspr: BVerfG, Beschluss vom 26. März 1987 – 2 BvR 589/79 (u. a.), NJW 1987, 2427; BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3408; BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1934 m. w. N.; Esser, in: L-R XI 2012, Einf. Rn.  85 f. m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Vorb. Rn. 3 f.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 7; Meyer, in: SK X 2019, Einl. Rn. 114, 122, Verfahrensrecht Rn. 358; Deutscher Bundestag, Bedeutung der EMRK, S. 3. 18  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407. 19  Siehe dazu ab S. 158, S. 184. 20  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3486; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672; BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1337; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948; BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020; BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18, BeckRS 2018, 17596; wobei die Rspr. zumeist lediglich Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG benennt; vgl. ferner Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 35; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Art. 5 Rn. 1; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 92; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 1a; Kudlich, in: MüKo I 2014, Einl. Rn. 156; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 5; Di Fabio, in: Maunz/Dürig I, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Rn. 53; Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 373 f.; vgl. Knauer, StraFo 2007, 309, 309; Roxin, StV 2010, 437, 438; Liebhart, NStZ 2017, 254. 21  Vgl. Roxin, StV 2010, 437, 438. Literatur und Rechtsprechung verweisen im Übrigen häufig auf nicht auf alle hier dargestellten verfassungsrechtliche Ursprünge des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes. So nehmen beispielsweise die Entscheidungen BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW

146

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

C. Dogmatische Einordnung Das allgemeine Beschleunigungsgebot sowie das Beschleunigungsgebot in Haftsachen haben eine ambivalente Wirkung: Einerseits bezwecken sie primär den Schutz des Betroffenen.22 So dienen die Beschleunigungsgebote dem Interesse des Betroffenen, zeitnah Gewissheit darüber zu erlangen, ob er schuldig gesprochen wird. Er soll den Belastungen eines Strafverfahrens nicht länger als notwendig ausgesetzt sein.23 Dem allgemeinen Beschleunigungsgebot nach Art. 6 Abs. 1 EMRK liegt der Gedanke zu Grunde, dass ein anhängiges Strafverfahren grundsätzlich erheblich dazu geeignet ist, sich negativ auf den Betroffenen auszuwirken.24 Noch einschneidendere Konsequenzen hat regelmäßig der Vollzug der Untersuchungshaft. So wird der Betroffene nicht, wie bei der anstehenden Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, in einer Weise zum Vollzug der Untersuchungshaft geladen, die es ihm ermöglicht, seine privaten und beruflichen Angelegenheiten zu klären. Vielmehr wird er regelmäßig plötzlich aus seinem gewohnten Umfeld herausgerissen. Häufig geht mit der Untersuchungshaft der Verlust sozialen Ansehens, möglicherweise auch des Arbeitsplatzes oder von Arbeitsaufträgen einher, sodass der Betroffene um seine Existenzgrundlage bangen muss.25 Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass 2005, 3485, 3486; BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvR 750, 752 und 761/06, NStZ 2006, 680, 681 und Fischer, in: KK 2019, Einl. Rn. 39, nur Bezug auf das Rechtsstaatsprinzip. Rogall, in: SK II 2016, Vor § 133 Rn. 118; Liebhart, NStZ 2017, 254 verweisen demgegenüber auch auf die Freiheitsgrundrechte unter besonderer Hervorhebung des Art. 2 Abs. 1 GG. In BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2003 – 2 BvR 153/03, NJW 2003, 2897; BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2004 – 2 BvR 1471/03, BeckRS 2004, 20975 wurde in der Verletzung des (allgemeinen) Beschleunigungsgrundsatzes auch eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gesehen, obwohl Untersuchungshaft in diesen Fällen gerade nicht verfahrensgegenständlich war. In BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2003 – 2 BvR 153/03, NStZ 2004, 335, 337 stellte das Bundesverfassungsgericht neben der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. 22  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Einl. Rn. 160; Fischer, in: KK 2019, Einl. Rn. 29; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 26; Rogall, in: SK II 2016, Vor § 133 Rn. 119; Meyer, in: SK X 2019, Art. 6 Rn. 235, 273; Roxin, StV 2010, 437, 438.Vgl. ferner „Anspruch des Beschuldigten“: Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 6 Rn. 309, Art. 5 Rn. 234. 23  Vgl. Roxin, StV 2010, 437, 438; Liebhart, NStZ 2017, 254, 255. 24  So bringt nach Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 6 Rn. 309 jedes gerichtliche Verfahren „psychische und psychische, nicht selten finanziell-existenzielle Belastungen“ mit sich. Jedenfalls bei einem Strafverfahren dürfte dies regelmäßig der Fall sein. 25  Vgl. Meyer, in: SK X 2019, Art. 6 Rn. 272; Seebode, Untersuchungshaft, S.  37 ff.; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 1 ff.



C. Dogmatische Einordnung 147

die Suizidrate in den Jahren 2000 bis 2010 in Untersuchungshaft fünfmal höher war als in Strafhaft.26 Gleichzeitig liegt die Einhaltung des Beschleunigungsgebots auch im öffentlichen Interesse.27 So hat die zügige Durchführung des Verfahrens auch eine „wahrheitssichernde Funktion“28. Denn mit Zeitablauf geht typischerweise das Risiko einher, dass Beweismittel verlustig gehen.29 Die zügige Durchführung des Verfahrens ist der Ermittlung der materiellen Wahrheit regelmäßig zuträglich.30 Auch die verschiedenen Strafzwecke werden mit einer schnellen Aburteilung des Täters besser erfüllt. Frei nach der Redensart die Strafe folgt auf dem Fuße dürfte die spezialpräventive Wirkung der Strafe auf den Täter eindrucksvoller wirken, wenn die Tat erst kürzlich begangen wurde. Auch der generalpräventive Strafzweck ist besser erfüllt, wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, da die abschreckende Wirkung durch die Erinnerung an die Tat (beispielsweise durch Medienberichte) noch präsenter sein dürfte. Auch um das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafrechtspflege zu festigen und den Rechtsfrieden wiederherzustellen, ist es erforderlich, dass die Bevölkerung die Bestrafung noch mit der Tat selbst in Verbindung bringen kann.31 Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt zudem, dass der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen auch dazu dienen soll, den zügigen Beginn der Strafhaft zu gewährleisten, damit die dortigen Resozialisierungsmaßnahmen ihre größtmögliche Wirkung entfalten können. Gilt eine etwaige Freiheitsstrafe auf Grund einer überlangen Untersuchungshaftdauer zu großen Teilen oder gar vollständig als verbüßt entsprechend § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB32, sind die strafhaftbegleitenden Resozialisierungsmöglichkeit33 aus rein zeitlicher Perspektive stark eingeschränkt.34 26  Bennefeld-Kersten, Suizide von Gefangenen in Deutschland 2000 bis 2010, S. 2. Vgl. auch Seebode, Untersuchungshaft, S. 39 m. w. N., wonach die Suizidquote von Untersuchungsgefangenen schon im 20 Jahrhundert weit höher war als die der Strafgefangenen. 27  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Einl. Rn. 160. 28  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1981 – 2 BvR 215/81, NJW 1981, 1719, 1723; BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07, NJW 2009, 1469, 1474 m. w. N. 29  Man denke hier beispielsweise daran, dass die Erinnerung eines Tatzeugen durch Zeitablauf naturgemäß schwindet. 30  Vgl. Fischer, in: KK 2019, Einl. Rn. 29; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 26; Rogall, in: SK II 2016, Vor § 133 Rn. 119; Liebhart, NStZ 2017, 254, 255. 31  Vgl. Rogall, in: SK II 2016, Vor § 133 Rn. 119; Roxin, StV 2010, 437, 438; Liebhart, NStZ 2017, 254, 255. 32  Zu dem sog. Vollstreckungsmodell unten ab S. 175. 33  Vgl. zu dem Resozialisierungszweck der Strafe: Joecks, in: MüKo-StGB I 2017, Einl. Rn. 75 ff.; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 3; Lorenz, in: BK II, Art. 2

148

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick I. Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK Konventionsverstöße können mit der Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK beim Gerichtshof geltend gemacht werden. Bedeutsam ist, dass die Individualbeschwerde nach Art. 35 Abs. 1 EMRK nur zulässig ist, wenn der innerstaatlich gegen die beanstandete Handlung bestehende Rechtsweg vollumfänglich ausgeschöpft wurde. Hintergrund ist, dass der Gerichtshof gegenüber den staatlichen Kontrollmechanismen nur subsidiär Rechtsschutz gewährt.35 In Deutschland muss auch Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht eingelegt worden sein, um den Rechtsweg i. S. d. Art. 35 Abs. 1 EMRK zu erschöpfen.36 Die Subsidiarität bedeutet aber nicht, dass das gesamte Verfahren, im Rahmen dessen der Beschwerdeführer einen Konventionsverstoß rügt, rechtswegerschöpfend abgeschlossen sein muss. Dies wäre insbesondere bei Verstößen gegen die Beschleunigungsgrundsätze der Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK nicht zielführend, da zunächst das (überlange) Verfahren abgewartet werden müsste. Die Rechtswegerschöpfung ist also im Hinblick auf den konkreten Beschwerdegegenstand darauf zu prüfen, ob alle speziell gegen diese Beschwer bestehenden nationalen Rechtsbehelfe ausgeschöpft wurden.37 Im Falle eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK genügt es demnach im Regelfall, den Beschwerdeweg der §§ 304 ff. StPO zu erschöpfen und gegen die letzte unanfechtbare HaftfortRn. 785, 801; Di Fabio, in: Maunz/Dürig III, Art. 2 Abs. 1 Rn. 216 ff.; Leyendecker, (Re-)Sozialisierung und Verfassungsrecht, S. 65 ff., 193 f. 34  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 26; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 7. 35  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 149 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Art. 35 Rn. 2; Meyer-Ladewig/Peters, in: HK-EMRK, Art. 35 Rn. 10 ff.; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 11, 31, 88 ff.; Kadelbach, in: EMRK/GG, Kap. 30 Rn. 52. 36  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 153; Meyer-Ladewig/Peters, in: HK- EMRK, Art. 35 Rn. 12 ff.; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 106. Es müssen jedoch für die Rechtswegerschöpfung grundsätzlich keine ineffektiven Rechtsbehelfe eingelegt werden. So kann auf die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde verzichtet werden, wenn eine Verfassungsbeschwerde bzgl. eines parallel gelagerten Sachverhalts erfolglos war; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 159; Meyer-Ladewig/Peters, in: HK-EMRK, Art. 35 Rn. 12 ff.; Kadelbach, in: EMRK/GG, Kap. 30 Rn. 59; vgl. Hoffmann, Der Grundsatz der Subsidiarität, S. 88 ff. 37  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 157. Vgl. Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 95.



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick149

dauerentscheidung38 Verfassungsbeschwerde einzulegen, um den Rechtsweg i. S. d. Art. 35 Abs. 1 EMRK zu erschöpfen. Zudem muss die Individualbeschwerde binnen sechs Monaten39 nach der letzten, das heißt rechtswegerschöpfenden, staatlichen Entscheidung eingelegt werden, Art. 35 Abs. 1 EMRK.40 Zur Fristwahrung genügt es, dass der Beschwerdeführer dem Gerichtshof den Beschwerdegegenstand vollständig und verständlich schriftlich41 absendet.42 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK trotz eines Konventionsverstoßes mangels gegenwärtiger Betroffenheit unzulässig, wenn die angegriffene staatliche Maßnahme ihn nicht mehr beschwert. In diesem Fall fehlt die Opfereigenschaft des Beschwerdeführers von Anfang an oder ist nachträglich weggefallen.43 Ein solcher nachträglicher Wegfall der Opfereigenschaft kann beispielsweise eintreten, wenn die Konventionsverletzung als solche nicht mehr reparabel ist, der Staat ihn aber dennoch ausreichend kompensiert hat. Voraussetzung für eine solche ausreichende Kompensation ist, dass der Staat den Verstoß ausdrücklich oder der Sache nach anerkannt und damit oder – soweit erforderlich – durch weitere Maßnahmen hinreichend wieder gut gemacht hat.44 Dies folgt aus dem subsidiären Charakter des seitens des Gerichtshofs 38  Eine solche liegt beispielsweise auch in der Entscheidung des Oberlandesgerichts nach §§ 121, 122 StPO, arg. ex. § 304 Abs. 1, 4 StPO; vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 73 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 122 Rn. 9. 39  Mit Inkrafttreten des 15. Zusatzprotokolls wird die Frist auf vier Monate verkürzt, vgl. Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 30. 40  Grundsätzlich: Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 186 f.; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 22. Siehe bezüglich der Einzelheiten zu dem Fristbeginn hinsichtlich der einzelnen denkbaren staatlichen Entscheidungen und insb. bei andauernden Konventionsverstößen: Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 188 ff.; Meyer-Ladewig/Peters, in: HK-EMRK, Art. 35 Rn. 29. 41  Für die Fristwahrung genügt auch die Beschwerdeeinlegung per Telefax. Der EGMR verlangt aber, dass eine nur per Telefax übersendete Beschwerde schriftlich bestätigt wird; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 176 m. w. N.; Kadelbach, in: EMRK/GG, Kap. 30 Rn. 70 f.; A. A. (ohne Nachweise): Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 29. 42  Maßgeblich ist das Datum der Beschwerdeschrift, soweit dies nicht mehr als einen Tag von dem des Poststempels abweicht. Bei einer solchen Abweichung gilt regelmäßig das Datum des Posttempels, vgl. Kadelbach, in: EMRK/GG, Kap. 30 Rn. 68. Für die Fristwahrung muss nicht zwingend das Beschwerdeformular des EGMR verwendet werden; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 192 m. w. N.; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 29; Kadelbach, in: EMRK/GG, Kap. 30 Rn. 70. 43  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 138, 141; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn.  566 ff., 73 ff.; Kadelbach, in: EMRK/GG, Kap. 30 Rn. 30 ff. 44  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 142; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 73.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

gebotenen Rechtsschutzes.45 Für eine Anerkennung des Verstoßes ohne konkrete Feststellung genügt nach dem Gerichtshof auch die Bezugnahme auf ein anderes Verfahren, in dem der Gerichtshof einen entsprechenden Konventionsverstoß festgestellt hat. Eine hinreichende Wiedergutmachung kann nach dem Gerichtshof beispielsweise in der messbaren mindernden Berücksichtigung des Verstoßes bei der Strafzumessung liegen.46 Wie nach der nationalen Gesetzeslage und Judikatur auf einen festgestellten Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK zu reagieren ist, um diesen wieder gut zu machen, wird im Folgenden47 im Einzelnen dargestellt.

II. Maßgeblicher Zeitraum Das allgemeine Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und das Beschleunigungsgebot in Haftsachen des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht deckungsgleich und werden in den jeweiligen Entscheidungen auch dogmatisch streng unterschieden. Während das allgemeine Beschleunigungsgebot auf die Angemessenheit der Länge des Gesamtverfahrens abzielt, betrifft der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen einzig die Angemessenheit der Dauer einer Inhaftierung ohne entsprechende Verurteilung, namentlich insbesondere der (vollzogenen) Untersuchungshaft.48 Daher sind die jeweils maßgeblichen Zeiträume hinsichtlich der Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK unterschiedlich zu bemessen. Nach der Bestimmung des jeweils maßgeblichen Zeitraums, prüft der Gerichtshof die Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß Art. 6 Abs. 1 EGMR und die Angemessenheit der Dauer der Inhaftierung i. S. d. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EGMR separat voneinander.49 45  Hoffmann,

Der Grundsatz der Subsidiarität, S. 66 f. Entscheidung vom 22. Mai 2012 – 17603/07 (Batuzov/Deutschland), BeckRS 2013, 13478 m. w. N.; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 146; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 76. 47  Siehe dazu ab S. 171. 48  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 239; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Art. 5 Rn. 10; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 80; vgl. auch die Nachweise zu der Rspr. des EGMR in den nachfolgenden Fn. 49  Vgl. für den Prüfungsaufbau bezüglich der (getrennten) Prüfung von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK: EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694; EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – 49746/99 (Cevizovic/Deutschland), NJW 2005, 3125. 46  EGMR,



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick151

1. Allgemeiner Beschleunigungsgrundsatz, Art. 6 Abs. 1 EMRK Das Verfahren im Sinne des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes beginnt, wenn der Betroffene von dem gegen ihn geführten Ermittlungsver­ fahren durch die Vornahme einer offizielle Strafverfolgungsmaßnahmen Kenntnis erhält, z. B. durch die Durchführung einer verantwortlichen Beschuldigtenvernehmung oder einer anderen Ermittlungsmaßnahme. Zu diesem Zeitpunkt ist der Betroffene dem psychischen Druck eines anhängigen Ermittlungsverfahrens ausgesetzt. Sind schon vorher geheime bzw. verdeckte Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt worden, beginnt das Verfahren auch ohne Kenntnis des Betroffenen und entsprechenden psychische Auswirkungen auf diesen zum Zeitpunkt der Vornahme dieser Maßnahmen nur, wenn diese objektiv geeignet waren, sich nachteilig auf die Stellung des Betroffenen auszuwirken. Das Verfahren endet, wenn eine gerichtliche Entscheidung darüber rechtskräftig wird oder es durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht eingestellt wird. Demnach sind auch Berufungs- und Revisionsverfahren einzubeziehen.50 Nach dem Gerichtshof können auch solche Zeiträume zu berücksichtigen sein, in denen ein Verfahren vor dem jeweiligen nationalen Verfassungsgericht anhängig ist. Voraussetzung ist einzig, dass das Verfahren für das Ausgangsverfahren vor den ordentlichen Gerichten entscheidend sein kann. Dies ist im Falle einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht grundsätzlich der Fall.51 Hat die sogenannte Urteilsverfassungsbeschwerde Erfolg, hebt das Bundesverfassungsgericht das angegriffen Urteil im Regelfall auf und weist es an die ordentlichen Gerichte zurück, §§ 95 Abs. 2, 90 50  EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694, 2697; EGMR, Urteil vom 31. Mai 2001 – 37591/97 (Metzger/Deutschland), NJW 2002, 2856, 2856 f.; EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – 49746/99 (Cevizovic/ Deutschland), NJW 2005, 3125, 3127; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 6 Rn.  336 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 8; Meyer-Ladewig/ Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 6 Rn. 196 f.; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Vorb. Rn. 26; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 6 Rn. 56 ff., 369; Meyer, in: SK X 2019, Art. 6 Rn. 281; Liebhart, NStZ 2017, 254, 256; Gerson, NStZ 2018, 379, 382. 51  EGMR, Urteil vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211; EGMR, Urteil vom 31. Mai 2001 – 37591/97 (Metzger/Deutschland), NJW 2002, 2856, 2857 f.; EGMR, Entscheidung vom 22. Mai 2012 – 17603/07 (Batuzov/Deutschland), BeckRS 2013, 13478. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1. Art. 6 Rn. 340; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 6 Rn. 197; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 6 Rn. 370; Meyer, in: SK X 2019, Art. 6 Rn. 283. Kritisch, da das BVerfG weder Rechtsmittelgericht ist, noch strafrechtliche Entscheidungen trifft: Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 351 mit Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2006 – 2 BvR 750, 752 und 761/06, NStZ 2006, 680, 681, wonach das BVerfG selbst die Einbeziehung eines Verfahrens vor dem BVerfG für fernliegend hält.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Richtet sich die zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz, ist dieses im Regelfall für verfassungswidrig zu erklären, sodass die Wiederaufnahme des Ausgangsverfahrens zulässig ist (§§ 95 Abs. 3, 79 Abs. 1 BVerfGG). Allerdings stellt der Gerichtshof ebenfalls klar, dass an ein Verfassungsgericht auf Grund dessen Rolle als Hüter der Verfassung nicht die Anforderung gestellt werden kann, die Verfahren streng chronologisch zu bearbeiten. So könne ein Verfassungsgericht bei der Reihenfolge der zu bearbeitenden Sachen auch die „Art der Sache und ihre politische und soziale Bedeutung“52 berücksichtigen.53 Der für den Beschleunigungsgrundsatz nach Art. 6 Abs. 1 EMRK maßgebliche Zeitraum umfasst also das gesamte Strafverfahren vom Ermittlungsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss eines etwaigen Rechtsbehelfsverfahrens oder der Verfahrenseinstellung.54 2. Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, Art. 5 Abs. 3 EMRK Der für den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen maßgebliche Zeitraum beginnt mit der Festnahme55 und endet mit der endgültigen Freilassung aus der Untersuchungshaft bzw. mit ihrer Beendigung. Nicht hinzugezählt wird die Zeit, in der ein Haftbefehl zwar in der Welt ist, aber außer Vollzug gesetzt wurde. Wird der Betroffene aber auf Grund derselben Sache erneut in Untersuchungshaft genommen, ist der Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 EMRK wiedereröffnet.56 Zu berücksichtigen ist außerdem, dass Rechtsmittelverfahren nach einer erstinstanzlichen Verurteilung nicht berücksichtigt werden, da insoweit eine 52  EGMR, 53  Esser,

Urteil vom 25. Februar 2000 – 29357/95, NJW 2001, 211, 212. in: L-R XI 2012, Teil 1. Art. 6 Rn. 340; Meyer, in: SK X 2019, Art. 6

Rn. 283. 54  St. Rspr.: EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – 49746/99 (Cevizovic/Deutschland), NJW 2005, 3125, 3127; EGMR, Urteil vom 13. November 2008 – 10597/03 (O/Deutschland), BeckRS 2009, 70929; vgl. Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 6 Rn. 26; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 6 Rn. 370; Knauer, StraFo 2007, 309; Siehe auch Fn. 50, S. 151. 55  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1. Art. 5 Rn. 214; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 59. 56  EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694, 2696; EGMR, Urteil vom 6. November 2014 – 67522/09 (Ereren/Deutschland), NJW 2015, 3773, 3774; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1. Art. 5 Rn. 243; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 84; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 82; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 226; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 59.



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick153

Verurteilung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK vorliegt und der Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 3 i. V. m. Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK nicht eröffnet ist. Wird das Urteil i. S. d. Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK jedoch durch das Rechtsmittelgericht aufgehoben und erfolgt eine erneute Hauptverhandlung, beginnt der für die Berechnung des für Art. 5 Abs. 3 EMRK maßgebliche Zeitraum wieder zu laufen, sofern der Betroffen sich noch immer in Unter­ suchungshaft befindet.57 Demnach können bei der Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 EMRK im Rahmen einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK verschiedene Haftzeiten zu berücksichtigen und zu addieren sein, sofern der Haftbefehl zeitweise aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt wurde, sukzessive mehrere Haftbefehle vollstreckt wurden und/oder ein erstinstanzliches Urteil durch ein Rechtsmittelgericht aufgehoben wurde.58 Voraussetzung ist nach neuerer Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch, dass jede Haftperiode innerhalb der Sechsmonatsfrist des Art. 35 Abs. 1 EMRK ordnungsgemäß angefochten wurde. Ist dies nicht der Fall, können vorangegangene Haftperioden dennoch im Rahmen der Angemessenheit der Dauer der angefochtenen Haftperiode berücksichtigt werden.59 In Zeiten, in denen der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht einschlägig ist (z. B. mangels Vollzugs oder auf Grund eines erstinstanzlichen Urteils), unterliegt das Verfahren selbstverständlich weiterhin dem Beschleunigungsgrundsatz nach Art.  6 Abs. 1 EMRK.60 Daraus folgt, dass die Angemessenheit der Untersuchungshaftdauer denklogisch weit kürzer zu bemessen sein kann, als die zulässige Gesamtverfahrensdauer.61 Demnach liegt nicht in jeder Verletzung des Beschleunigungs57  EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694, 2696; EGMR, Urteil vom 26. April 2005 – 49929/99, Rn. 51 (Chodecki/Polen); EGMR, Urteil vom 6. November 2014 – 67522/09 (Ereren/Deutschland), NJW 2015, 3773, 3774; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 245, 247; Meyer-Ladewig/ Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 84; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 226; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 59; Gerson, NStZ 2018, 379, 381 f. 58  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 243, 247; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 82; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 226. 59  EGMR, Urteil vom 22. Mai 2012 – 5826/03 (Idalov/Russland); Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 247; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 59; a. A. (Addition aller grds. von Art. 5 Abs. 3 EMRK erfassten Haftperioden, sofern die letzte fristgemäß angefochten wurde) Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 84. 60  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 239; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 58. 61  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 239; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Art. 6 EMRK Rn. 7a; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 58; Gerson, NStZ 2018, 379, 382.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

gebots in Haftsachen per se auch eine Verletzung des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes.62

III. Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des EGMR Ob ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen vorliegt, wird nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs streng zweistufig geprüft.63 1. Bestimmung des maßgeblichen Zeitraums Zunächst ist nach den vorgenannten Kriterien der maßgebliche Prüfungszeitraum zu bestimmen. Im Falle der Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen werden also alle nach den vorgenannten Kriterien relevanten Untersuchungshaftperioden ohne Vorliegen einer erstinstanzlichen Verurteilung addiert und bilden den maßgeblichen Prüfungszeitraum.64 2. Prüfung der Angemessenheit In einem weiteren Schritt ist sodann die Angemessenheit der Dauer der Untersuchungshaft zu prüfen. Nach dem Gerichtshof bestimmt sich die Angemessenheit der Haftdauer i. S. d. Art. 5 Abs. 3 EMRK nach den besonderen Umständen des Einzelfalls. Die Untersuchungshaft kann nur angemessen sein, wenn nach Abwägung ebendieser Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der seitens des Gerichtshofs entwickelten Kriterien das öffentliche Interesse an der Fortdauer der Untersuchungshaft der Freiheit des Betroffenen vorgeht. Folglich kann keine absolute Obergrenze für die angemessene Dauer der Untersuchungshaft festgelegt werden.65

62  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 240; Miebach/Maier, in: MüKoStGB II 2016, § 46 Rn. 333; Gerson, a. a. O. 63  Liebhart, NStZ 2017, 254, 256; vgl. zum Prüfungsaufbau auch die Nachweise in Fn. 49, S. 150. 64  Siehe oben ab S. 152. 65  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 248, 251; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 1b; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 83; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 5 Rn. 34; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 227.



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick155

Nach den Kriterien des Gerichtshofs muss der Betroffene der Tatbegehung jedenfalls hinreichend verdächtig sein, Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK. Je länger die Untersuchungshaft ohne (erstinstanzliche) Verurteilung andauere, desto weniger genüge das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts alleine zur Rechtfertigung der Untersuchungshaft. In einem solchen Fall müssen stichhaltige und ausreichende weitere Gründe vorliegen, die geeignet sind, die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zu rechtfertigen.66 Im Rahmen der Prüfung, ob für die Fortdauer der Untersuchungshaft stichhaltige und ausreichende Gründe vorliegen, können etwa folgende Aspekte Berücksichtigung finden: Flucht-/Fluchtgefahr67, Wiederholungsgefahr68, Verdunkelungsgefahr69, die Schwere der Tat/Schuld70 und die Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung im Falle einer Freilassung des Betroffenen71. Auf einer zweiten Stufe prüft der Gerichtshof, sofern stichhaltige und ausreichende Gründe vorliegen, die die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen, ob der Staat das Verfahren im Sinne des Beschleunigungsgebots in Haftsachen ordnungsgemäß geführt hat, d. h. besonders sorgfältig vorgegangen ist und ggf. besondere Beschleunigungsmaßnahmen vorgenommen hat, damit die Untersuchungshaft im Einzelfall als noch angemessen erachtet werden kann.72 Verzögerungen, die der Betroffene selbst durch Ausnutzung 66  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 249; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 5 Rn. 34; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 43 ff.; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 230 ff.; Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 177; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 61. 67  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 253, 267 ff.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 86, 89 ff.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 47; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 235; Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S.  177 ff.; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 62. 68  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 253, 277 ff.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 86 f.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 49; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 237; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 63. 69  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 253, 275 f.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 86, 88; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 48; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 236; Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 177, 179 f.; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 63. 70  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 266. 71  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 253, 280; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: HK-EMRK, Art. 5 Rn. 86 f.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 50; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 283; Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 177, 184 ff.; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 64. 72  EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694, 2696 f.; EGMR, Urteil vom 5. Juli 2001 38321/97 (Erdem/Deutschland), NJW 2003, 1439; EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – 49746/99 (Cevizovic/Deutschland),

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

seiner prozessualen Rechte verursacht, wie z. B. dem Stellen von Beweisanträgen, können den Staat grundsätzlich nicht entlasten, weil es gerade den staatlichen Strafverfolgungsbehörden obliegt, den gesamten Sachverhalt zu ermitteln.73 Im Rahmen der Prüfung der ordnungsgemäßen und beschleunigten Verfahrensdurchführung können etwa folgende Kriterien Berücksichtigung finden: Komplexität des Falles und die etwaig damit einhergehenden aufwendigen Ermittlungsmaßnahmen74, die Anzahl der Betroffenen75, ein etwaiger Auslandsbezug76 und insbesondere die Gerichtsorganisation77. Kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass sowohl stichhaltige und ausreichende Gründe sowie die Verfahrensführung die Fortdauert der Haft rechtfertigen, nimmt dieser eine abschließende Abwägung aller ermittelten Umstände mit dem individuellen Freiheitsinteresse des Betroffenen vor.78

IV. Rechtsfolgen eines Verstoßes 1. Durch den EGMR festgestellter Konventionsverstoß Stellt der Gerichtshof im Rahmen einer Individualbeschwerde nach Art. 35 EMRK eine Konventionsverletzung fest, ist der beteiligte Staat nach Art. 46 EMRK dazu verpflichtet, die Verletzung zu beenden, Wiederholungsfälle auszuschließen und Wiedergutmachung zu leisten79. Dies gilt für jede festgestellte Konventionsverletzung.80 Es handelt sich um ein reines Feststellungsurteil.81 NJW 2005, 3125, 3126 f.; EGMR, Urteil vom 6. November 2014 – 67522/09 (Ereren/ Deutschland), NJW 2015, 3773, 3774 f.; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn.  250, 281 ff.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 5 Rn. 51; Meyer, in: SK X 2019, Art. 5 Rn. 245 ff.; Morgenstern, Die Untersuchungshaft, S. 190 ff.; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 65. 73  EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – 49746/99 (Cevizovic/Deutschland), NJW 2005, 3125, 3127; vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 289 ff. 74  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 281, 283, 296 ff. 75  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 281. 76  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 281. 77  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 286 ff. 78  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 251, 301; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 323 ff. 327. Vgl. zu der gesamten Angemessenheitsprüfung des EGMR: Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Art. 5 Rn. 34. 79  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 219, 239; vgl. Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 9. 80  Somit ist auch in Verfahren, in denen Art. 6 Abs. 1 EMRK (allgemeines Beschleunigungsgebot) und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK (Beschleunigungsgebot in Haft-



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick157

Auf welche Weise der Staat diesen Verpflichtungen nachkommt, ist diesem grundsätzlich selbst überlassen. Nach dem Bundesverfassungsgericht haben die deutschen Behörden und Gerichte bei der Erfüllung der Pflichten nach Art. 46 EMRK jedoch die vorangegangene Entscheidung des Gerichtshofs zu berücksichtigen.82 Sofern möglich, hat der Staat den vor der Konventionsverletzung bestehenden Zustand wiederherzustellen. Ist dies nicht möglich, hat eine Kompensation der Konventionsverletzung auf andere Weise zu erfolgen.83 Zu einer solchen Kompensation gehört auch, dass der Staat die Konventionsverletzung im Nachhinein ausdrücklich anerkennt.84 Die Verpflichtung zur Wiedergutmachung des Konventionsverstoßes kann unter Umständen aber auch so weit reichen, dass eine innerstaatliche konventionskonforme Rechtsprechungsänderung oder gar eine Gesetzes- oder Verfassungsänderung erforderlich ist. Dies ist regelmäßig angezeigt, wenn eine konventionskonforme Auslegung nationaler Gesetze zur Wiedergutmachung des Verstoßes unmöglich ist und somit nur eine Gesetzesänderung die Erfüllung der Pflichten aus Art. 46 EMRK ermöglicht.85 Eine Gesetzesänderung kann des Weiteren erforderlich sein, wenn der Gerichtshof den Konventionsverstoß im Rahmen eines sogenannte Pilotversachen) Gegenstand ist, jede Verletzung separat festzustellen und ggf. wiedergutzumachen. Aus der Rechtsprechung des EGMR geht jedoch nicht eindeutig hervor, ob die Art und Weise der Wiedergutmachung der beiden Verletzung explizit separat zu erfolgen hat. Die Entscheidung EGMR, Urteil vom 10. November 2005 – 65745/01 (Dzelili/Deutschland), NVwZ-RR 2006, 513, 516 erweckt den Anschein, als müsse für jede einzelne Konventionsverletzung eine separate spürbare messbare Wiedergutmachung erfolgen. Dieses Verständnis teilt BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 864 f. In EGMR, Entscheidung vom 22. Mai 2012 – 17603/07 (Batuzov/Deutschland), BeckRS 2013, 13478 wurde später ein einmalige Herabsetzung der Strafe als ausreichende Wiedergutmachung für eine Verletzung der Art. 5 Abs. 4 Satz 1 und Art 6 Abs. 1 EMRK angesehen, obwohl im Rahmen der Herabsetzung der Strafe seitens des Bundesverfassungsgerichts alleine auf die Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK abgestellt wurde. 81  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 238; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 9; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 324; Kadelbach, in: EMRK/ GG, Kap. 30 Rn. 15; Cremer, in: EMRK/GG, Kap. 32 Rn. 44. 82  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3411 ff.; BVerfG, Beschluss vom 10. Juni 2005 – 1 BvR 2790/04; NJW 2005, 2685, 2688; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 241; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 690 ff.; Gusy, JA 2009, 406, 408 f. 83  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 241 ff.; vgl. Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 332; Cremer, in: EMRK/GG, Kap. 32 Rn. 77. 84  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 242. 85  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3410; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 244; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 357.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

fahrens86 auf innerstaatliche strukturelle Mängel zurückführt und den Staat zu einer generellen Lösung dieses Strukturproblems auffordert.87 Auf Antrag kann der Gerichtshof dem Betroffenen nach Art. 41 EMRK nach billigem Ermessen eine gerechte Entschädigung der durch die Vertragsverletzung entstandenen materiellen und immateriellen Schäden zusprechen. Voraussetzung ist auf Grund des subsidiären Rechtsschutzes durch den Gerichtshof allerdings, dass die Wiedergutmachung der Konventionsverletzung nach dem Recht des beteiligten Staats nicht oder nicht hinreichend möglich ist.88 Für eine Entschädigung immaterieller Schäden nach Art. 41 EMRK kann je nach den Umständen des Einzelfalles auch die ausdrücklichen Anerkennung des Verstoßes durch den Gerichtshof genügen.89 Wird eine Pflicht zur Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK ausgesprochen, ergeht auf die Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK neben dem feststellenden Teil nach Art. 46 EMRK insoweit auch ein Leistungsurteil.90 Ein stattgebendes Urteil des Gerichtshofs ist nach § 359 Nr. 6 StPO ein Grund für die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens, sofern das Urteil auf der festgestellten Konventionsverletzung beruht.91 2. Weitergehende nationale Wirkung Zu der weitergehenden Wirkung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Judikatur des Gerichtshofs hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere im Fall Görgülü92 ausführlich Stellung bezogen: Danach er86  Zu der Verurteilung Deutschlands im Rahmen eines solchen Pilotverfahrens durch EGMR, Urteil vom 9. September 2010 – 46344/06 (Rumpf/Deutschland), NJW 2010, 3355 unten ab S. 171. 87  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 326 ff.; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn.  339 ff. 88  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 220 ff., 248 m. w. N.; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 298; vgl. Hoffmann, Der Grundsatz der Subsidiarität, S.  172 f. 89  EGMR, Urteil vom 25. März 1999 – 31195/96 (Nicolova/Bulgarien), NJW 2000, 2883, 2886; EGMR, Urteil vom 13. Februar 2001 – 24479/94 (Lietzow/ Deutschland), NJW 2002, 2013, 2015; Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 226; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 305. 90  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 238; Cremer, in: EMRK/GG, Kap. 32 Rn. 47. 91  Walter, in: EMRK/GG, Kap. 31 Rn. 54 ff. 92  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407. In dem Fall Görgülü hat der leibliche Vater Kazim Görgülü über neun Jahre (mit Erfolg) den Versuch unternommen, das Sorgerecht für und wenigstens das Umgangs-



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick159

zeugt der Tenor eines Urteils des Gerichtshofs im Rahmen einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK einzig Wirkung inter pares.93 Eine darüberhinausgehende Verpflichtung kann allerdings aus Art.  1 EMRK hergeleitet werden. Nach Art. 1 EMRK sind die Konventionsstaaten dazu verpflichtet sicherzustellen, dass die Vorschriften der Konvention in ihrem Hoheitsgebiet gewahrt werden, deren Inhalt durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs konkretisiert wird.94 Daraus folgt zunächst der bereits eingangs erwähnte Grundsatz, dass die europäische Menschenrechtskonvention nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat, aber stets im Einklang mit den Bestimmungen der Konvention auszulegen und anzuwenden ist.95 Im Rahmen der Auslegung ist zu berücksichtigen, dass der lex posterior Grundsatz, wonach neuere Gesetze älteren gleichrangigen vorgehen, nicht gilt, soweit dies eine Konventionsverletzung nach sich ziehen würde. Auf Grund der völkerrechtsfreundlichen Ausrichtung des Grundgesetzes sind auch solche Gesetze konventionsfreundlich auszulegen, die nach Einführung der Menschenrechtskonvention als Bundesrecht durch das entsprechende Zustimmungsgesetz96 in Kraft getreten sind. Etwas anderes kann nur gelten, wenn der Gesetzgeber eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, von den Regelungen den Menschenrechtskonvention abweichen zu wollen.97 In dem Fall Görgülü hat das Bundesverfassungsgericht weitergehend klargestellt, dass alle hoheitlichen Stellen gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nach dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Vorrang des Gesetzes dazu verpflichtet sind, die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen.98 In einer weiteren Entscheidung recht mit seinem nichtehelichen Sohn zu erstreiten. vgl. ausführlich zum Verfahrensablauf und zu näheren Hintergründen des Falls Görgülü: Klein, Der Fall Görgülü, S.  43 ff. 93  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3409, 3411; KG, Urteil vom 29. Oktober 2004 – 9 W 128/04, NJW 2005, 605, 606; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 237; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 9; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 323; Cremer, in: EMRK/ GG, Kap. 32 Rn. 69 ff.; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 690; Gusy, JA 2009, 406, 409 f. 94  Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 254, 257; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 345; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 692. 95  Siehe Fn. 17, S. 145. 96  BGBl. II Nr. 14 vom 22. August 1952, S. 685 – 700; BGBl. II Nr. 17 vom 2. Oktober 1952 S. 953 (Berichtigung). 97  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 26. März 1987 – 2 BvR 589/79 (u. a.), NJW 1987, 2427; Lohse/Jakobs, in: KK, EMRK, Vorb. Rn. 24; Giegerich, in: EMRK/GG, Kap. 2 Rn. 47, 49; Walter, in: EMRK/GG, Kap. 31 Rn. 11. 98  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3411; BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2006 – 2 BvR 1317/05, NJW 2007, 204, 205; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 257; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Vorb.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

formulierte das Bundesverfassungsgericht deutlich, dass den Entscheidungen des Gerichtshofs „ jedenfalls [faktisch] Orientierungs- und Leitfunktion“99 zukomme.100 Obwohl die Europäische Menschenrechtskonvention den Rang eines einfachen Bundesgesetzes hat, kann aus staatlichem Handeln unter Nichtbeachtung Europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs je nach Einzelfall somit eine Grundrechtsverletzung in Verbindung mit einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG liegen. In diesem Fall ist das entsprechende staatliche Handeln nach dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar.101 Indes hat das Bundesverfassungsgericht die entsprechende Verpflichtung zur Berücksichtigung der europäischen Menschenrechtskonvention und der Judikatur des Gerichtshof durch tragende Verfassungsprinzipien begrenzt (sog. „Verfassungsvorbehalt“), sodass eine konventionskonforme Gesetzesanwendung, -auslegung oder -änderung nicht vorzunehmen ist, wenn darin (etwa in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen) selbst ein Verfassungsverstoß liegen würde.102 In einem solchen Fall muss die staatliche Stelle, die von der Befolgung eines Urteils des Gerichtshofs auf Grund des Verfassungsvorbehalts absieht, die entsprechenden Gründe substantiiert darlegen.103 Ob dieser Verfassungsvorbehalt in der Praxis je Anwendung finden wird, bleibt abzuwarten.104 Indes wäre die Nichtanwendung der Regelungen der Rn. 20; Meyer, in: SK X 2019, Verfahrensrecht Rn. 347; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 692, 698. 99  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1935. 100  Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Vorb. Rn. 20; Meyer, in: SK X 2019, Einl. Rn. 127; Giegerich, in: EMRK/GG, Kap. 2 Rn. 73; Walter, in: EMRK/GG, Kap. 31 Rn. 10. 101  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3411; Cremer, EuGRZ 2004, 683, 698; vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 257; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 10; Meyer, in: SK X 2019, Einl. Rn. 133; Cremer, in: EMRK/GG, Kap. 32 Rn. 108, 134; Walter, in: EMRK/GG, Kap. 31 Rn. 14. 102  Vgl. insbesondere für die Judikative: BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3411; ferner: Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 259 ff.; Lohse/Jakobs, in: KK 2019, EMRK, Vorb. Rn. 20 f.; Gaede, in: MüKo III-2 2018, EMRK, Art. 1 Rn. 8; Meyer, in: SK X 2019, Einl. Rn. 129; Giegerich, in: EMRK/GG, Kap. 2 Rn. 74. 103  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3410; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 260. 104  Kritisch zu dem Verfassungsvorbehalt auf Grund mangelnder Rechtssicherheit: Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 261.



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick161

Menschenrechtskonvention in einem solchen Fall auf Grund des Günstigkeitsprinzips des Art. 53 EMRK ihrerseits wiederum konventionskonform.105

V. Beispiele aus der Rechtsprechung des EGMR In Anwendung der vorgenannten Grundsätze auf den Einzelfall hat der Gerichtshof folgende erwähnenswerte Entscheidungen getroffen: Kudla ./. Polen106 In diesem Fall, über den der Gerichtshof im Jahr 2000 entschied, wurde dem Betroffenen Betrug und Urkundenfälschung vorgeworfen. Der nach dem Gerichtshof maßgebliche Zeitraum i. S. d. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK betrug zwei Jahren und vier Monate. Zwar ging der Gerichtshof weiterhin von dem Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c EMRK sowie Fluchtgefahr aus. Diese Umstände allein konnten die fortdauernde Freiheitsentziehung in Anbetracht des bereits verstrichenen Zeitraums jedoch nicht mehr rechtfertigen. Darüber hinaus lagen nämlich nach dem Gerichtshof keine weiteren stichhaltigen und ausreichenden Gründe vor, um die Fortdauer der Untersuchungshaft zu rechtfertigen. In diesem Fall berücksichtigte der Gerichtshof zudem als besonderen Umstand des Einzelfalls, dass gegen den Betroffenen bereits zuvor wegen derselben Sache ein Jahr Untersuchungshaft vollstreckt wurde, bevor Polen die Individualbeschwerde der Europäische Menschenrechtskonvention anerkannt hatte und diese somit auf diesen Sachverhalt anwendbar war. Polen hat die Individualbeschwerde nach Art. 25 EMRK a. F. erst mit Wirkung zum 1. Mai 1993 anerkannt.107 Bis zum 11. Protokoll vom 11. Mai 1994 war die Anerkennung der Individualbeschwerde und die Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des EGMR für die Vertragsstaaten fakultativ.108

Im Ergebnis stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 (sowie Art. 6 Abs. 1 und 13) EMRK fest.

105  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1936. Wobei im Einklang mit Art. 53 EMRK in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen der Menschenrechtsschutz keiner der Beteiligten unter die Schwelle der EMRK sinken darf, vgl. Giegerich, in: EMRK/GG, Kap. 2 Rn. 74. 106  EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694, 2694 ff. 107  EGMR, Urteil vom 26. Oktober 2000 – 30210/96 (Kudla/Polen), NJW 2001, 2694, 2696. 108  Vgl. Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Einf. Rn. 45, 57.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

Erdem ./. Deutschland109 Dieser Fall lag dem Gerichtshof im Jahr 2001 zur Entscheidung vor. Der Betroffene befand sich während eines (für Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK maßgeblichen) Zeitraums von fünf Jahren und elf Monaten in Untersuchungshaft. Ihm wurde insbesondere die Mitgliedschaft in einer terroristischen Verei­ nigung vorgeworfen. Gegenstand des Verfahrens, welches gegen insgesamt 18 Angeklagte geführt wurde, waren auch mehrere Morde. Auf diese Vorwürfe wurde der Haftbefehl gegen den Betroffenen aber gerade nicht gestützt. Das Verfahren war äußerst umfangreich und medienrelevant. Es wurden 154 Ablehnungsgesuche und 174 Beweisanträge gestellt. Die Korrespondenz mit den Angeklagten erwies sich als kompliziert, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren und somit stets Dolmetscher zugegen sein mussten. Der Gerichtshof entschied, dass in diesem Fall keine ausreichenden und stichhaltigen Gründe vorgelegen hätten, um die Untersuchungshaft über den Zeitraum von fünf Jahren und elf Monaten zu rechtfertigen. Auch die nach Auffassung des Gerichtshofs hinzutretende Fluchtgefahr sowie die Komplexität des Falles seien alleine nicht geeignet gewesen, die Untersuchungshaft über diese Dauer zu rechtfertigen. Vielmehr hätte es weitere Umstände bedurft, die die Fortdauer der Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Solche seien aber nicht ersichtlich gewesen. Cevizovic ./. Deutschland110 Über diese Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK entschied der Gerichtshof im Jahr 2004. Dem Betroffenen wurde unter anderem Raub und versuchter Mord vorgeworfen. Er befand sich auf Grund des Verfahrens über einen nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK zu berücksichtigenden Zeitraum von vier Jahren, neun Monaten und drei Tagen in Untersuchungshaft. Nach dem Gerichtshof habe in diesem Fall ein hinreichender Tatverdacht gegen den Betroffenen vorgelegen, der sich durch die im Laufe des Verfahrens weiteren gewonnen Beweismittel noch intensiviert habe. Zudem habe auch erhebliche Fluchtgefahr bestanden und der Tatverdacht habe sich auf schwere Straftaten bezogen, insbesondere einen versuchten Mord. Damit lagen für den Gerichtshof auch stichhaltige und ausreichende Gründe vor, die die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft über diesen Zeitraum haben rechtfertigen können. 109  EGMR,

1439.

Urteil vom 5. Juli 2001 38321/97 (Erdem/Deutschland), NJW 2003,

110  EGMR, Urteil vom 29. Juli 2004 – 49746/99 (Cevizovic/Deutschland), NJW 2005, 3125; ähnlich: EGMR, Urteil vom 10. November 2005 – 65745/01 (Dzelili/ Deutschland), NVwZ-RR 2006, 513.



D. Rechtsprechung des EGMR im Überblick163

Indes betrieb Deutschland das Verfahren nicht mit der darüber hinaus gebotenen Sorgfalt. Zunächst musste das Verfahren wegen der Erkrankung einer Schöffin und Ersatzschöffin unterbrochen werden. Nach Neubeginn der Hauptverhandlung wurde lediglich zwar an vier Tagen pro Woche, durchschnittlich aber weniger als zweieinhalb Stunden verhandelt. Damit habe der Staat das Verfahren aus Sicht des Gerichtshofs nicht mit der im Einzelfall gebotenen Sorgfalt gefördert. Zum einen hätte die Ernennung eines weiteren Ersatzschöffen die Verfahrensverzögerung vermieden. Jedenfalls hätte die Hauptverhandlung nach deren Neubeginn straffer terminiert werden müssen. Im Ergebnis stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 (sowie Art. 6 Abs. 1) EMRK fest. Zudem beanspruchte der Betroffene den Ausgleich seines durch die Konventionsverletzung entstanden Nichtvermögens- sowie Vermögensschaden gemäß Art. 41 EMRK. Der Gerichtshof stellte fest, dass der Betroffene keine ausreichenden Angaben dazu gemacht hätte, inwiefern der geltend gemachte Vermögensschaden kausal auf die Konventionsverletzung zurückzuführen sei. Über die Feststellung des Konventionsverstoßes hinaus sei zudem keine weitere Entschädigung notwendig, um den durch diesen erlittenen Nichtvermögensschaden des Betroffenen zu kompensieren. Batuzov ./. Deutschland111 In einem weiteren Fall stimmte der Gerichtshof dem Bundesverfassungsgericht – wenngleich ohne eigene tiefgehende Prüfung und Darlegung besonderer Umstände des Einzelfalls – darin zu, dass eine Untersuchungshaftdauer (innerhalb des für Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK maßgeblichen Zeitraums) von vier Jahren, vier Monaten und 16 Tagen eine Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK darstelle. In diesem Fall war die Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK dennoch unzulässig, da der Betroffene die für eine solche erforderliche Opfereigenschaft verloren hatte. Dies sei nach dem Gerichtshof geschehen, indem das Bundesverfassungsgericht den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK in der Sache – nämlich durch Bezugnahme auf ein Urteil des Gerichtshofs, durch das ein entsprechender Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen festgestellt worden war112 – anerkannt und somit festgestellt habe. Zudem sei die Strafe hinreichend wieder gut gemacht worden, indem der Bundesgerichtshof den Verstoß bereits vor der Entscheidung des Bundes111  EGMR, Entscheidung vom 22. Mai 2012 – 17603/07 (Batuzov/Deutschland), BeckRS 2013, 13478. 112  EGMR, Urteil vom 5. Juli 2001 38321/97 (Erdem/Deutschland), NJW 2003, 1439; siehe oben ab S. 162.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

verfassungsgerichts messbar durch eine Herabsetzung der Strafe um vier Monate ausreichend berücksichtigt habe. Ereren ./. Deutschland113 Dieser Fall lag dem Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2014 zur Entscheidung vorlag. Dieser erkannte, die Untersuchungshaft von einem (für Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK maßgeblichen) Zeitraum von fünf Jahren und acht Monaten sei beträchtlich, stelle aber auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalles keinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen dar. Dem Betroffenen wurde die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland vorgeworfen. Nach Überzeugung des Gerichtshofs habe während der gesamten Dauer der Untersuchungshaft nicht nur der notwendige hinreichende Tatverdacht bestanden, sondern dieser habe sich auch auf eine schwere Straftat bezogen und sich im Laufe des Verfahrens intensiviert. Zudem habe auch erhebliche Fluchtgefahr vorgelegen, da der Betroffene keinen festen Wohnsitz in Deutschland hatte. Diese Gründe hätten die Fortdauer der Untersuchungshaft grundsätzlich gerechtfertigt. Zudem hätten die deutschen Gerichte auch die zur Wahrung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt. Insbesondere hatte die Tat erheblichem Auslandsbezug. Auf Grund dessen waren für die Aufklärung der Tat einige Rechtshilfeersuchen notwendig, deren Ergebnisse für das Vorantreiben des Verfahrens jeweils abzuwarten waren. Insgesamt seien nach dem Gerichtshof keine Zeiträume erkennbar, in denen die deutsche Justiz das Verfahren nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten gefördert habe.

E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in welchen dieses über einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen zu entscheiden hat, haben zumeist Verfassungsbeschwerden gegen letztinstanz­ liche Entscheidungen über eine (weitere) Haftbeschwerde oder einen Haftfortdauerbeschluss nach §§ 121, 122 StPO zum Gegenstand. Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz ist zu berücksichtigen, dass eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen und des allgemeine Beschleunigungsgrundsatzes auf Grund ihrer unterschiedlichen Schutzrichtungen dogmatisch voneinander zu unterschei-

113  EGMR, Urteil vom 6. November 2014 – 67522/09 (Ereren/Deutschland), NJW 2015, 3773.



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 165

den und somit auch getrennt zu prüfen sind.114 Aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts geht jedoch hervor, dass dieses eine mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vergleichbare strenge dogmatische Unterscheidung zwischen dem allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz und dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nicht vornimmt. So formuliert das Bundesverfassungsgericht wiederholt, das Beschleunigungsgebot erfasse unabhängig von der speziellen Betroffenheit des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG im Sinne von verhängter Untersuchungshaft das gesamte Strafverfahren. Gemeint ist hier wohl das allgemeine Beschleunigungsgebot. Obwohl bei einer Verletzung des Beschleunigungsgebot in Haftsachen eine Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Betracht kommt, spricht das Bundesverfassungsgericht zudem auch bei der Prüfung einer Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG regelmäßig nur von dem Beschleunigungsgebot.115 Das Bundesverfassungsgericht prüft einen etwaigen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen auch nicht nach einem mit dem des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vergleichbar strengen zweitstufigen Prüfungsaufbau. Im Ergebnis legt das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen jedoch grundsätzlich dieselben Maßstäbe wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und teilweise sogar noch strengere zu Grunde. Entsprechend der vorgenannten grundrechtlichen Anknüpfungspunkte führt ein Verstoß gegen das allgemeine Beschleunigungsgebot zu einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG und der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG.116 Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen führt demgegenüber auch zu einer Verletzung des Freiheitsgrundrechts nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.117

114  Vgl. Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 333; siehe auch oben S. 145. 115  Statt vieler: BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3486; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 673. 116  Siehe oben Fn. 21, S. 145. 117  Siehe oben Fn. 20, S. 145.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

I. Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des BVerfG 1. Bestimmung des maßgeblichen Zeitraums Obwohl das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Entscheidungen wenig detailliert den für einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen maßgeblichen Zeitraum prüft, legt es im Grundsatz die Rechtsprechung des Gerichtshofs für dessen Bemessung zu Grunde. Teilweise geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen sogar von einem Zeitraum aus, der den des nach den vorgenannten Grundsätzen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Grunde zu legenden noch übersteigt: Der maßgebliche Zeitraum beginnt mit der Festnahme des Betroffenen. Es genügt grundsätzlich eine Inhaftierung auf Grund einer vorläufigen Festnahme nach § 127 StPO, da schon ab diesem Zeitpunkt in die körperliche Freiheit des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG eingegriffen wird.118 In Entscheidungen119, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen und damit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG prüft, bezieht es teilweise unter Verweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Metzger/Deutschland120) die Zeit des Revisionsverfahrens in den für eine Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen zu berücksichtigenden Zeitraum mit ein.121 Dem Bundesverfassungsgericht zufolge war die Einbezie118  Auf den Beginn des Schutzes des nationales Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen wird weder in der Literatur, noch in der Rechtsprechung explizit eingegangen, vgl. aber Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 370 f. Es ist auf Grund des tatsächlichen Eingriffs in die körperliche Freiheit des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch eine vorläufige Festnahme angezeigt, dem daraus folgenden Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen bereits ab dem Beginn des Eingriffs Wirkung zuzusprechen. Indes dürfte der genaue Beginn der Wirkung des nationalen Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen auf Grund der Frist des Art. 104 Abs. 3 Satz 2 GG in der Praxis kaum Bedeutung zukommen. Die Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnt dagegen nach h. M. nicht schon mit der vorläufigen Festnahme, sondern erst, wenn ein Haftbefehl vollzogen wird; siehe dazu oben ab S. 99. 119  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3487; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672; jeweils m. w. N. 120  EGMR, Urteil vom 31. Mai 2001 – 37591/97 (Metzger/Deutschland), NJW 2002, 2856; siehe oben S. 151. 121  Allerdings sind nach dem BGH bei der Beurteilung der angemessenen Beschleunigung während des Revisionsverfahrens die „spezifischen Bedingungen des



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 167

hung in diesen Fällen teilweise notwendig, weil die Revisionsverfahren jeweils der „Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient“122 haben. Tatsächlich entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Entscheidung Metzger/Deutschland aber über einen gerügten Verstoß gegen den allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz nach Art. 6 Abs. 1 EMRK. Untersuchungshaft war nicht Gegenstand dieses Verfahrens vor dem Gerichtshof.123 Zudem gilt der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist.124 In einer weiteren Entscheidung betonte das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit den Anforderungen an das für die Wahrung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG maßgebliche Beschleunigungsgebot in Haftsachen dessen Geltung auch dann, wenn der Untersuchungshaftbefehl auf Grund Straf- oder Untersuchungshaft in anderer Sache lediglich als Überhaft notiert sei.125 In weiteren Entscheidungen postuliert das Bundesverfassungsgericht ohne Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und ohne die Eingrenzung auf offensichtlich der Justiz anzulastende Verfahrensfehler im ZusamRevisionsverfahrens“ zu beachten, vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2018 – 1 StR 36/17, NJW 2018, 1984, 1984 ff. 122  BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3487; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 673; jeweils m. w. N.; In BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2003 – 2 BvR 153/03, NJW 2003, 2897, 2898; BVerfG, Beschluss vom 25. Juli 2003 – 2 BvR 153/03, NStZ 2004, 335, 336 und BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2004 – 2 BvR 1471/03, BeckRS 2004, 20975 fand die Dauer des Revisionsverfahrens entgegen der Rechtsprechung des EGMR (siehe oben S. 151) jeweils keine verfahrensverzögernde Berücksichtigung, da diese nicht der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers dienten; Untersuchungshaft war in diesen Entscheidungen wie in EGMR, Urteil vom 31. Mai 2001 – 37591/97 (Metzger/Deutschland), NJW 2002, 2856 (siehe oben S. 151) jedoch nicht Verfahrensgegenstand, sodass lediglich der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz zu prüfen war. Vgl. auch Liebhart, NStZ 2017, 254, 258. 123  EGMR, Urteil vom 31. Mai 2001 – 37591/97 (Metzger/Deutschland), NJW 2002, 2856 (siehe oben S. 151). 124  BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 669; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 6; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 497; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 896. 125  BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; Esser, in: L-R XI 2012, Teil 1, Art. 5 Rn. 239 m. w. N.; Liebhart, NStZ 2017, 254, 258; vgl. Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 6; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 17a; Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 376; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 498.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

menhang mit der Prüfung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und damit der Einhaltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen, dieser sei grundsätzlich auch nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils zu beachten126 oder erfasse gar das gesamte Strafverfahren, sofern ein Haftbefehl in der Welt sei127. Das Vorgesagte verdeutlicht, dass der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG folgende nationale Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nicht deckungsgleich mit dem Beschleunigungsgrundsatz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK ist.128 Zusammenfassend ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der gesamte Zeitraum von der Inhaftierung auf Grund des Untersuchungshaftbefehls bis hin zu der rechtskräftigten Verurteilung im Rahmen des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG resultierenden nationalen Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu berücksichtigen, sofern der Haftbefehl während des gesamten Verfahrens in der Welt war.129 2. Prüfung der Angemessenheit „Das verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verfahrensverzögerungen verursacht ist.“130 126  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595. 127  BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1337; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Leitsatz Ziff. 2b; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 5. 128  Vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 894 ff. 129  Vgl. Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 371; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 892; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 799. 130  St. Rspr: BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris Rn. 21; ähnlich z. B. BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672 ff.; BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336; 1337; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12,



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 169

Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, verlangt das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, dass bei jeder Haftfortdauerentscheidung die Freiheitsgrundrechte des Betroffenen gegen das öffentliche Strafverfolgungsinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des spezifischen Einzelfalls abzuwägen sind. Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Betroffenen vergrößere sich hierbei mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Zudem müssen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen treffen, um vermeidbaren Verzögerungen entgegenzuwirken. Im Rahmen der Abwägung sei regelmäßig eine gründliche Analyse des Verfahrensgangs erforderlich.131 Korrespondierend zu dem mit Fortdauer der Untersuchungshaft steigenden Gewicht des Freiheitsanspruchs des Betroffenen, können kleinere Verfahrensverzögerungen die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft rechtfertigen, je höher das Gewicht der zu ahnenden Freiheitsstrafe wiegt. Selbst bei einer drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe ist jedoch eine umfassende ­Interessenabwägung erforderlich.132 Wurde der Betroffene bereits erstinstanzlich verurteilt, erhöht diese Verurteilung demgegenüber das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs.133 Verzögerungen gerichtsorganisatorischer Natur können im Rahmen der Abwägung nur unbeachtlich sein, wenn sie von kurzfristiger Dauer und trotz Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Mittel unvermeidbar waBeckRS 2012, 60181; BVerfG, Beschluss vom 01. August 2018 – 2 BvR 1258/18, BeckRS 2018, 17596. 131  St. Rspr: BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98, BeckRS 1999, 20022; BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2000 – 2 BvR 453/99, NJW 2000, 1401; BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336; 1338; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 21 f.; Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18, BeckRS 2018, 17596; BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 35; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 8; Böhm, in: MüKo II 2014, § 120 Rn. 25; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 68 f.; Münchhalffen/ Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 351 f.; Knauer, StraFo 2007, 309, 310 ff. 132  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3487 (zu § 211 StGB). 133  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 27; BGH, Beschluss vom 24. Januar 2018 – 1 StR 36/17, NJW 2018, 1984; jeweils m. w. N.; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 8; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 787.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

ren.134 Im Rahmen der Gesamtabwägung aller Umstände können auch für sich genommen kleinere unbeachtliche Verzögerung in der Summe dazu führen, dass insgesamt von einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auszugehen ist.135 Zudem können einzelne Verfahrensverzögerungen nicht durch eine besonders Beschleunigung in anderen Verfahrensstadien kompensiert werden, da das Beschleunigungsgebot das gesamte Strafverfahren erfasst.136 Im Rahmen der Abwägung ist auch zu berücksichtigen, dass die Zeit der Untersuchungshaft einer verhängten Freiheitsstrafe nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB in der Regel angerechnet wird. Auch der potenzielle Zeitpunkt der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57 StGB sowie die Möglichkeit, die Strafe von Vornherein nach § 56 StGB zur Bewährung auszusetzen, sind in die Abwägung einzustellen.137

134  BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361; BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17, BeckRS 2017, 136740; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948, 2948 f.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. Januar 2019 – 1 Ws 203/18, BeckRS 2019, 00123. 135  BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1339; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; vgl. Böhm, in: MüKo II 2014, § 120 Rn. 15. 136  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 675; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2006 – 2 Ws 2/06, BeckRS 2006, 01960; Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 32; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 18; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 903 ff. a. A. KG, Beschluss vom 10. August 2016 – (5) 121 HEs 8/16 (14/16), BeckRS 2016, 119932; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 26; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 22a; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 9d; Böhm, in: MüKo II 2014, § 121 Rn. 51; Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft, Rn 260; jeweils m. w. N. 137  Vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 – StB 12/18, NStZ-RR 2018, 255; Hilger, in: L-R IV 2007, § 120 Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 120 Rn. 4; Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 6; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 33; Paeffgen, in: SK II 2016, § 120 Rn. 4b, 7; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 351; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn.  783 f.



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 171

II. Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach der Rechtsprechung des BGH 1. Grundlegendes Stellt das Gericht nach den vorgenannten Kriterien einen Verstoß gegen das allgemeine Beschleunigungsgebot oder das Beschleunigungsgebot in Haftsachen fest, liegt eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vor.138 Die Folgen einer festgestellten rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sind gesetzlich nicht geregelt139 und werden durch die Rechtsprechung durch Anwendung des sog. „Vollstreckungsmodells“ kompensiert. Allerdings wurde durch die Einführung der §§ 198 bis 203 GVG durch Gesetz vom 24. November 2011, in Kraft getreten am 3. Dezember 2012, ein Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren und strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeführt.140 Nach den Voraussetzungen der § 198 GVG kann die Entschädigung für durch die überlange Verfahrensdauer erlittene materielle und immaterielle Schäden beansprucht werden.141 Vor Einführung dieses Rechtsbehelfs hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Fehlen eines solchen Rechtsbehelfs in Deutschlands seit 2006 mehrfach142 kritisiert und Deutschland zur Abhilfe aufgefordert. Zuletzt hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 2. September 2010 in Anwendung eines Pilotverfahrens konstatiert, dass angesichts der Anzahl der Fälle, bezüglich derer der Gerichtshof wegen überlanger Verfahrensdauer vor deutschen Gerichten eine Konventionsverletzung festgestellt hatte, die Verfahrensdauer in Deutschland ein über den Einzelfall hinausgehendes strukturelles oder systematisches Problem darstelle und die Einführung eines Rechtsbehelfs gegen überlange Gerichtsverfahren daher von besonderer Wichtigkeit sei. Der Europäische Gerichtshof hatte Deutschland in diesem Zusammenhang eine Frist von

138  Eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ist von dem Umstand, dass die Tat im Einzelfall lange zurück liegt, das Verfahren aber gemäß dem Beschleunigungsgrundsatz geführt wurde, und von dem Umstand, dass das Verfahren zwar lange, aber noch nicht in einer den Beschleunigungsgrundsatz verletzenden Weise, andauerte, zu unterscheiden. Diese Umstände bilden jedoch selbstständige Strafzumessungsfaktoren, vgl. Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 317, 319 ff., 324 ff.; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 61 ff, 132. 139  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 861; Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 317, 393. 140  BGBl. I Nr. 60 vom 2. Dezember 2011, S. 2302 ff. 141  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 317, 336 ff. 142  EGMR, Urteil vom 8. Juni 2006 – 75529/01, NJW 2006, 2389, 2392 (Sürmeli/ Deutschland); EGMR, Entscheidung vom 22. Januar 2009 – 45749, 51115/06, BeckRS 2009, 70595 (Kaemena & Thönebohn/Deutschland); EGMR, Urteil vom 21. Januar 2010 – 42402, 42423/05, BeckRS 2010, 25709 (Wildgruber/Deutschland); jeweils m. w. N.

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

einem Jahr ab Rechtskraft der Entscheidung gesetzt, um einen entsprechenden Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer einzuführen.143

2. Vollstreckungsmodell vs. Strafzumessungsmodell Mit seiner Entscheidung vom 17. Januar 2008144 hat sich der Große Senat für Strafsachen auf Vorlage des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs145 gemäß § 132 Abs. 4 GVG von der bis zu diesem Zeitpunkt in der Rechtsprechung einheitlich vertretenen Strafzumessungs- bzw. Strafabschlagslösung146 abgekehrt und wendet nunmehr das sogenannte Vollstreckungsmodell an.147 a) Strafzumessungslösung Nach der früher vertretenen Strafzumessungslösung war der Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen gem. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK konkret auch im Hinblick auf Art und Ausmaß der Verzögerung im Urteil festzustellen. Genügte diese Feststellung nicht, um die Konventionsverletzung zu kompensieren, war diese zudem im Rahmen der Strafzumessung als eigenständiger (mildernder) Strafzumessungsgesichtspunkt nach § 46 Abs. 2 Satz 1 StGB zu berücksichtigen. Das Ausmaß der Kompensation durch die Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung auf Ebene der Strafzumessung musste aus dem Urteil deutlich hervorgehen. So war die eigentlich verwirkte Strafe (bzw. ggf. die Einzelstrafen jeweils) der durch die Verzögerung reduzierten Strafe in dem Urteil gegenüberzustellen. In den Urteilstenor war lediglich die geminderte und letztlich verwirkte Strafe aufzunehmen.148 143  EGMR, Urteil vom 9. September 2010 – 46344/06 (Rumpf/Deutschland), NJW 2010, 3355, 3357 ff. 144  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860. 145  BGH, Vorlagebeschluss vom 23. August 2007 – 3 StR 50/07, NJW 2007, 3294. 146  Bis dahin st. Rspr. aller Instanzen: BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 1994 – 2 BvR 1072/94, NJW 1995, 1277, 1278; BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 29/03, NJW 2003, 2228; BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2003 – 1 StR 445/03, wistra 2004, 140, 141; BayObLG, Urteil vom 12. Dezember 2002 – 5 St RR 301/02, NStZ-RR 2003, 119, 120; jeweils m. w. N. 147  Siehe Fn. 144, S. 172; Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 394; Lackner/Kühl, StGB 2018, § 46 Rn. 44a; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e; Horn/Wolters, in: SK-StGB II 2016, § 46 Rn. 175. 148  BVerfG, Beschluss vom 7. März 1997 – 2 BvR 2173/96, NStZ 1997, 591. Aus Gründen der Klarheit empfiehlt der Große Senat in BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 862 die Gesamtkompensation auch bei der Bildung der Gesamtstrafe deutlich auszuweisen. Vgl. zu der Entwicklung der Strafzumessungslösung ferner auch BGH, Vorlagebeschluss vom 23. August 2007 – 3 StR



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 173

Im Rahmen prozessualer Möglichkeiten kam ebenfalls eine Verfahrens­ einstellung nach §§ 153, 153a StPO in Betracht, wenn in Ausnahmefällen eine Kompensation der Konventionsverletzung anders nicht möglich war und der Betroffene sich nur eines Vergehens schuldig gemacht hatte. Auch eine Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder das Absehen von Strafe (§ 60 StGB) waren im Einklang mit den Regelungen zu der Strafzumessung nach den §§ 46 ff. StGB in Ausnahmefällen denkbar, um den Konventionsverstoß zu kompensieren.149 Die Annahme eines Verfahrenshindernisses, welches zu der Einstellung des Verfahrens führen musste, kam nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht.150 So konnte das erkennende Gericht dem Konventionsverstoß in äußersten Fällen mit einer Verfahrenseinstellung und im Regelfall mit der (ausschöpfenden) Anwendung der Strafzumessungsregelungen des Strafgesetzbuchs kompensieren. Hiermit war es möglich, eine Vielzahl der Konventionsverletzungen hinreichend i. S. d. Art. 34 EMRK wieder gut zu machen.151 In einigen Fallkonstellationen war es in Einklang mit den §§ 46 ff. StGB nach der Strafzumessungslösung jedoch nicht möglich, die Strafe auf ein Maß zu mindern, welches für die Kompensation des Konventionsverstoßes erforderlich gewesen wäre. Eine solche Konstellation lag dann vor, wenn nach Auffassung des erkennenden Gerichts der gesetzliche Mindeststrafrahmen des verwirklichten Straftatbestands hätte unterschritten werden müssen, der Straftatbestand aber weder die Annahme eines minder schweren Falles noch eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorsah. Die Annahme eines minder schweren Falles ist z. B. bei den Delikten der §§ 94, 211152, 251, 50/07, NJW 2007, 3294, 3295 m. w. N.; Theune, in: LK II 2006, § 46 Rn. 244; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e. 149  Vgl. bzgl. eines Verstoßes gegen den allgemeinen Beschleunigungsgrundsatz: BVerfG, Beschluss vom 21. Januar 2004 – 2 BvR 1471/03, BeckRS 2004, 20975; Theune, in: LK II 2006, § 46 Rn. 252 (zu § 153 StPO); Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e. 150  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 862 f.; BGH, Vorlagebeschluss vom 23. August 2007 – 3 StR 50/07, NJW 2007, 3294, 3294 f.; Theune, in: LK II 2006, § 46 Rn. 251; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e. 151  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 863. 152  Hinzuweisen ist hier auf BGH, Urteil vom 7. Februar 2006 – 3 StR 460/98, NJW 2006, 1529, 1535; Theune, in: LK II 2006, § 46 Rn. 244; Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 418 wonach nach dem BGH von der gesetzlich zwingend gebotenen lebenslangen Freiheitsstrafe des § 211 StGB im Regelfall nicht abgewichen werden kann, um einen Konventionsverstoß gegen das Beschleunigungsgebot zu kompensieren. Allerdings hat der BGH in dieser Entscheidung offengelassen, ob eine anderweitige Bewertung in extremen Ausnahmefällen und bei Hinzutreten besonderer weiterer Umstände angezeigt sein kann, da ein solcher Fall nicht vorlag. Diese Argumente haben mit Einführung des Vollstreckungsmodells an Durchschlags-

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

306b StGB gesetzlich nicht vorgesehen. Treten keine Umstände153 hinzu, die eine Unterschreitung des gesetzlichen Mindeststrafe nach § 49 Abs. 1 StGB ermöglichen, ist eine entsprechende Unterschreitung im Einklang mit den Rechtsfolgenvorschriften des Strafgesetzbuches unvereinbar.154 Eine solche Konstellation – nämlich eine Verurteilung (auch) nach § 306b Abs. 2 StGB – lag auch dem Revisionsverfahren zu Grunde, welches den dritten Strafsenat dazu veranlasste, dem Großen Senat die Frage vorzulegen, ob von nun an die Vollstreckungslösung die Strafzumessungslösung ersetzen solle.155 In diesem Fall hatte das Landgericht, dessen Urteil durch die Revision seitens der Staatsanwaltschaft angefochten wurde, eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festgestellt. Ohne diese sei nach dem Landgericht für die begangene Brandstiftung eine Strafe in Höhe des gesetzlichen Mindeststrafrahmens des § 306b Abs. 2 StGB von fünf Jahren Freiheitsstrafe auszusprechen. Um die gebotene Strafmilderung dennoch – ohne die Möglichkeit des Rückgriffs auf einen minder schweren Fall oder § 49 Abs. 1 StGB – vornehmen zu können, wendete das Landgericht § 49 Abs. 1 StGB analog an, um eine Reduktion des Mindeststrafrahmens erreichen zu können. Somit reduzierte das Landgericht die nach § 306b Abs. 2 StGB an sich verwirkte Freiheitstrafe von fünf Jahren durch eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB um ein Jahr und zwei Monate auf insgesamt drei Jahre und zehn Monate. Die analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB war nach zutreffender Ansicht des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs rechtlich jedoch nicht möglich. Zwar habe auf Grund der analogen Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB zugunsten des Täters kein Verstoß gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG vorgelegen. Dennoch stünde

kraft verloren, da danach weiterhin in der Urteilsformel eine lebenslange Freiheitsstrafe ausgesprochen wird und daneben ein Teil der Strafe für vollstreckt erklärt werden kann (siehe dazu ab S. 175); Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 419; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 134. Horn/Wolters, in: SK-StGB II 2016, § 46 Rn. 177 sind weiterhin der Auffassung, eine faktische Herabsetzung der Strafe scheitere bei einer verwirkten lebenslangen Freiheitsstrafe auch in Anwendung der Vollstreckungslösung an der absoluten Strafandrohung. 153  Eine analoge Anwendung des § 49 Abs. 1 StGB hat der Große Senat des BGH etwa bei einem Heimtückemord beim Hinzutreten „außergewöhnlicher Umstände“ für zulässig und erforderlich erklärt; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 1981 – GSSt 1/81, NJW 1981, 1965, 1968. 154  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 863; BGH, Vorlagebeschluss vom 23. August 2007 – 3 StR 50/07, NJW 2007, 3294, 3296. 155  BGH, Vorlagebeschluss vom 23. August 2007 – 3 StR 50/07, NJW 2007, 3294.



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 175 „es dem Rechtsanwender nicht frei […], den gesetzlichen Katalog der Vorschriften, die eine Milderung nach § 49 Abs. 1 StGB vorschreiben oder zulassen, nach seinen Vorstellungen durch Festlegung eines ungeschriebenen obligatorischen oder fakultativen Milderungsgrundes zu erweitern. Dementsprechend habe auch in der bisherigen Rechtsprechung kein Senat des Bundesverfassungsgerichts die analoge Anwendung von § 49 Abs. 1 StGB je als zulässigen Weg zur Kompensation rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen in Erwägung gezogen“156.

b) Vollstreckungsmodell Nach dem Vollstreckungsmodell stellt sich diese Problematik nicht mehr. Hiernach ist die Verfahrensverzögerung in einem ersten Schritt weiterhin nach Art und Ausmaß in dem Urteil festzustellen.157 In einem weiteren Schritt ist nach den Grundsätzen des Strafzumessungsrecht ohne Rücksicht auf die etwaige Notwendigkeit einer Kompensation wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung eine angemessene Strafe zu ermitteln, § 46 StGB. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Tat schon längere Zeit zurückliegt oder das Verfahren lange gedauert hat. Hierin liegen reine Strafzumessungsfaktoren i. S. d. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO, die in die Urteilsgründe aufzunehmen sind.158 Sodann folgt – soweit im konkreten Fall erforderlich – die Bildung einer Gesamtstrafe nach den üblichen Kriterien. Ist die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung durch diese Maßnahmen nicht hinreichend i. S. d. des Art. 34 EMRK kompensiert, ist in einem letzten Schritt ausgehend von der Gesamtstrafe zu ermitteln, in welcher Höhe die Strafe in entsprechender Anwendung des § 51 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 StGB auf Grund der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung als voll-

156  BGH,

3295.

Vorlagebeschluss vom 23. August 2007 – 3 StR 50/07, NJW 2007,

157  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 399 405 f., wobei hiernach eine Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zur Kompensation dieser grundsätzlich nicht ausreichen soll, sofern der Betroffene inhaftiert war und somit Art. 5 Abs 3 Satz 1 EMRK Anwendung findet; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 128; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e; Horn/Wolters, in: SK-StGB II 2016, § 46 Rn. 176; Liebhart, NStZ 2017, 254, 260 f. 158  Siehe Fn.  138, S. 171. Ferner: BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 865; Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 395, 399; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 61 ff, 132; Lackner/Kühl, StGB 2018, § 46 Rn. 44a; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e; Horn/Wolters, in: SK-StGB II 2016, § 46 Rn. 176, 178; Vgl. Rogall, in: SK II 2016, Vor § 133 Rn. 120; Liebhart, NStZ 2017, 254, 261,

176

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

streckt gilt.159 Diese Anordnung ist – neben der verwirkten (Gesamt-)Strafe ausdrücklich in die Urteilsformel aufzunehmen.160 Das Maß des für vollstreckt zu erklärenden Teils ist – ihrem Charakter als Kompensation der individuellen konventionswidrigen Verfahrensverzögerung – unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu bestimmen. Hierbei sind insbesondere die konkrete Überlänge des Verfahrens sowie deren Auswirkungen auf den Betroffenen zu berücksichtigen.161 Die Strafzumessung und eine etwaige Kompensation durch die Anordnung, das ein Teil der im Wege der Strafzumessung gefundenen (Gesamt-)Strafe als vollstreckt gilt, sind also vollkommen getrennt voneinander zu betrachten.162 Auch bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB ist diese Anordnung wegen des Verschlechterungsverbots nach § 55 Abs. 2 StGB im vollen Maße zu berücksichtigen. Der für vollstreckt erklärte Teil der Strafe kann durch die nachträgliche Gesamtstrafenbildung zu erhöhen sein, wenn weitere Strafen einbezogen werden, denen ein rechtsstaatswidrig verzögertes Verfahren zu Grunde liegt und eine Wiedergutmachung i.  S.  d. Art. 34 EMRK auf andere Weise nicht ausreicht.163 Eine Verfahrenseinstellung nach §§ 153, 153a StPO kommt nach dem Vollstreckungsmodell genau wie nach der Strafzumessungslösung nur in Ausnahmefällen in Betracht, wenn die konkret festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auf andere Weise nicht kompensiert werden kann. In diesen Fällen ist auch nach dem Vollstreckungsmodell weiterhin im Einklang 159  Die grundlegende Notwendigkeit und das Maß der Kompensation für die vollständige Wiedergutmachung der Konventionsverletzung ist einzelfallabhängig und kann daher stets unterschiedlich ausfallen, vgl. Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 400; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 132 f. 160  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 402 f.; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 132, 135; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57 f. Miebach/Maier schlagen dort (Rn. 402) beispielsweise folgenden Tenor vor: „Der Angeklagte wird wegen … sowie wegen … zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und zwei Monaten verurteilt. Fünf Monate dieser Freiheitsstrafe gelten als vollstreckt.“; Liebhart, NStZ 2017, 254, 261. 161  BGH, Urteil vom 6. März 2008 – 3 StR 514/07, NStZ 2008, 478; BGH, Beschluss vom 29. Oktober 2008 – 2 StR 467/07, NStZ 2009, 287; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 133; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57f; Horn/Wolters, in: SK-StGB II 2016, § 46 Rn. 177; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57 f.; Paeffgen, in: SK II 2016, Vor. § 112 ff. Rn. 30f. 162  Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 345; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 132; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57e. 163  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 867; Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 403; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 138.



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 177

mit den Strafzumessungsregelungen des Strafgesetzbuchs die Anwendung der §§ 59, 60 StGB möglich. Nur in Ausnahmefällen kommt die Annahme eines Verfahrenshindernisses von Verfassungs wegen in Betracht.164 Das Vollstreckungsmodell hat gegenüber der Strafzumessungslösung noch weitere systematische Konsequenzen: Nach § 46 StGB ist im Wege der Strafzumessung eine tat- und schuldangemessene Strafe zu eruieren. Hierbei sollen nach § 46 Abs. 2 StGB die für und gegen den Täter sprechenden Umstände abgewogen werden. Die Berücksichtigung einer konventionswidrigen Verfahrensdauer als reiner Strafmilderungsgrund (wie nach der Strafzumessungslösung) hat jedoch alleine entschädigenden Charakter und ist dem System der Strafzumessung somit fremd. Zudem wird die entschädigungshalber geminderte Strafe allein in die Urteilsformel aufgenommen und wird systemwidrig Grundlage für etwaige weitere Entscheidungen, wie beispielsweise über die Strafaussetzung zur Bewährung (§ 56 StGB), die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder das Absehen von Strafe (§ 60 StGB).165 Außerdem bringt die systemgetreue Anwendung des Vollstreckungsmodells nach dem Großen Strafsenat auch Vorteile für den Betroffenen mit sich. So ist bei einer Freiheitsstrafe unter Anrechnung eines Teils der Strafe als vollstreckt die Halbstrafe und der Zwei-Drittel-Zeitpunkt regelmäßig schneller erreicht, als es in Anwendung der Strafzumessungslösung der Fall gewesen sei. Somit besteht regelmäßig früher die Möglichkeit, den Strafrest nach § 57 Abs. 1, 2 und 4 StGB zur Bewährung auszusetzen.166 In dem Vollstreckungsmodell in Kombination mit den §§ 198 ff. GVG sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strafsachen grundsätzlich ein angemessenes Mittel, um die durch eine Verfahrensverzögerung erlittenen Nachteile des Betroffenen gemäß Art. 46 EMRK wiedergutzumachen.167 Durch eine solche Wiedergutmachung eines Konventionsverstoßes 164  Grundlegend: BGH, Urteil vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, NStZ 2001, 270, 272 m. w. N.; BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 866; Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 407 ff.; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 130 („Verfahrenslösung“), Rn. 139; Liebhart, NStZ 2017, 254, 262. Bsp. für die ausnahmsweise Annahme eines Verfahrenshindernisses in Form eines „Zurückverweisungsverbots“: BGH, Urteil vom 9. Dezember1987 – 3 StR 104/87, NJW 1988, 2188, 2189. 165  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 865, mit weiteren Beispielen; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 561. 166  BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, NJW 2008, 860, 866. 167  EGMR, Entscheidung vom 22. Januar 2009 – 45749, 51115/06, BeckRS 2009, 70595 (Kaemena & Thönebohn/Deutschland); wobei zu berücksichtigen ist, dass die §§ 198 ff. GVG zu diesem Zeitpunkt noch nicht In Kraft getreten waren und somit nicht im Einzelnen Prüfungsgegenstand des vorgenannten Verfahrens waren. In

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4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

entfällt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Opfereigenschaft, die für die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK erforderlich ist.168 Zu der Verfassungsmäßigkeit der Vollstreckungslösung hat sich das Bundesverfassungsgericht noch nicht explizit geäußert. Dennoch lässt sich aus einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 folgern, dass das Bundesverfassungsgericht das Vollstreckungsmodell grundsätzlich – genau wie die zuvor praktizierte Strafzumessungslösung – als verfassungskonform ansieht.169 Das Vollstreckungsmodell wird in der Rechtsprechung der Instanzgerichte – soweit ersichtlich – ohne Beanstandungen angewendet.170 Ihre Verfassungsmäßigkeit ist in der Literatur nur teileise anerkannt.171

III. Beispiele aus der nationalen Rechtsprechung Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen ist auf Grund der geforderten umfassenden Abwägung stark einzelfallabhängig. Darüber hinaus gestaltet sich das Herausarbeiten von Umständen, die zwingend einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen zur Folge haben, als unmöglich, weil für eine Feststellung einer Verletzung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 EGMR, Urteil vom 29. Mai 2012 – 53126/07, NVwZ 2013, 47, 48 f. (Taron/Deutschland) hat der EGMR sodann festgestellt, dass der Rechtsbehelf nach §§ 198 ff. GVG eingelegt worden sein muss, damit eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK wegen Rechtswegerschöpfung nach Art. 35 Abs. 1 EMRK zulässig ist. Speziell in familienrechtlichen Umgangssachen bietet der Rechtsbehelf nach §§ 198 ff. GVG nach Auffassung des EGMR jedoch keine hinreichende Wiedergutmachung, vgl. EGMR, Urteil vom 15. Januar 2015 – 62198/11, NJW 2015, 1433, 1437, (Kuppinger/ Deutschland); Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2015, 1437, 1438. 168  Siehe oben S. 148. 169  BVerfG, Beschluss vom 10. März 2009 – 2 BvR 49/09, BeckRS 2009, 33023 = wistra 2009, 307, 308. 170  St. Rspr.: OLG Rostock, Beschluss vom 23. August 2012 – I Ws 155/12, BeckRS 2012, 18331; OLG Braunschweig, Urteil vom 18. März 2015 – 1 Ss 84/14, BeckRS 2015, 7238. 171  So etwa Miebach/Maier, in: MüKo-StGB II 2016, § 46 Rn. 398; Fischer, StGB 2019, § 46 Rn. 142; Rogall, in: SK II 2016, Vor § 133 Rn. 121; kritisch aber Paeffgen, in: SK 2016, Vor § 112 ff. Rn. 30f m. w. N., der eine „Staatshaftungs-Lösung“ fordert; Kinzig, in: Sch/Sch 2019, § 46 Rn. 57g äußert Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit und hält die Anforderungen, die das Vollstreckungsmodell auch an die Strafzumessung stellt, für „wenig praktikabel“ (m. w. N.); ferner: Ziegert, StraFo 2008, 321, 225 f. zieht insb. aus systematischen Erwägungen eine Analogie zu § 49 Abs. 1 StPO gegenüber der zu § 51 Abs. 1 Satz 1 StPO vor; Roxin, FS-Volk, 617, 629 f. mit der Begründung, das Vollstreckungsmodell lasse spezial-präventive Gesichtspunkte bei der Strafzumessung außer Acht; Möller, Der Wechsel vom Strafabschlagsmodell hin zur Vollstreckungslösung, sieht in dem Vollstreckungsmodell einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG.



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 179

GG und somit für die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung bereits die Feststellung genügt, dass die erforderliche umfassende Interessenabwägung nicht vollständig durchgeführt wurde oder nicht nachvollziehbar ist.172 Ein solcher Abwägungsfehler liegt vor, wenn die notwendige Interessenabwägung überhaupt nicht vorgenommen wird (Abwägungsausfall), wenn maßgebliche Umstände des Einzelfalles im Rahmen der notwendigen Interessenabwägung überhaupt nicht (Abwägungsdefizit) berücksichtigt oder falsch gewichtet (Abwägungsdisproportionalität) wurden.173 Häufig ist es dem Bundesverfassungsgericht gerade auf Grund der festgestellten Abwägungsfehler, die für sich alleine genommen eine Aufhebung der Entscheidung rechtfertigen, überhaupt nicht möglich, abschließend zu prüfen, ob darüber hinaus ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen vorliegt. So hob das Bundesverfassungsgericht Haftfortdauerbeschlüsse nach § 122 Abs. 3 Satz 1 StPO auf, weil sich diesen überhaupt keine Abwägung des Freiheitsanspruchs mit dem öffentlichen Interesse sowie Ausführungen zu der Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO) entnehmen ließ.174 Auch die reine Bezugnahme auf vorausgegangene Haftfortdauerentscheidungen genügt insbesondere im Rahmen der Entscheidung über die besondere Haftprüfung nach §§ 121 f. StPO grundsätzlich nicht. Vielmehr hat das zuständige Oberlandesgericht eine vollständige eigene Sachprüfung vorzunehmen.175 In anderen Fällen wurde zwar eine Interessenabwägung vorgenommen, diese erfasste aber nicht alle aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts für die Haftfortdauer relevanten Umstände und war somit ebenfalls fehlerhaft, weil das Gericht ausweislich der mangelhaften Begründung Bedeutung und Tragweite des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verkannt hatte.176 Insbesondere das Argument, es handele sich um ein besonders umfangreiches und komplexes Verfahren mit schwierigen tatsächlichen und rechtlichen Fragestellungen, dürfe nach dem Bundesverfassungsgericht nicht als Blankettbegründung vorgeschoben werden. Entsprechende Umstände, die die VerfahJahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 800. Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1338 f.; siehe oben S. 89. 174  BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98, BeckRS 1999, 20022. 175  BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2000 – 2 BvR 453/99, NJW 2000, 1401; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 24 ff.; BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020; Paeffgen, in: SK 2016, § 122 Rn. 9. 176  BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 670 sowie Nachweise in Fn. 177, S. 180. 172  Vgl.

173  BVerfG,

180

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

rensdauer und Fortdauer der Untersuchungshaft auf Grund der Komplexität und des Umfangs des Verfahrens oder aus sonstigen Gründen rechtfertigen, müssten daher aus dem Haftfortdauerbeschluss hervorgehen.177 Dennoch lassen sich den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einige Aspekte entnehmen, die – soweit der konkrete Einzelfall diese hergibt – im Rahmen der Interessenabwägung bei der Prüfung eines Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und somit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 StPO regelmäßig Beachtung finden sollten: – Der Betroffene darf seine prozessualen Rechte ausschöpfen. Er hat nicht aktiv an seiner Überführung mitzuwirken. Führt die Wahrnehmung prozessualer Rechte zu einer Verzögerung des Verfahrens, ist die Fortdauer der Untersuchungshaft regelmäßig unzulässig, wenn die eingetreten Verzögerung durch gebotene organisatorische Maßnahmen von staatlicher Seite – wie etwa durch die Anlage von Mehrfachakten – hätte verhindert werden können oder die Verzögerungen auf Grund der Wahrheitserforschungspflicht der Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte ohnehin eingetreten wäre.178 Demgegenüber kann der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen in Ausnahmefällen auch zu einer Beschneidung prozessualer Rechte des Betroffenen führen, wenn die Angemessenheit der Dauer der Inhaftierung auf andere Weise nicht gewahrt werden kann. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen ist nach der Rechtsprechung auch für den Betroffenen selbst nicht disponibel.179

177  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 1315/05, NJW 2005, 3485, 3487. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1338; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020; vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 978 f. 178  BVerfG, Beschluss vom 10. Dezember 1998 – 2 BvR 1998/98, BeckRS 1999, 20022; BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 1473/02, BeckRS 2003, 30304976; vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 34, 38; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 23; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 17. 179  Vgl. bzgl. der Beschränkung des Beweisantragsrechts BGH, Beschluss vom 9. Mai 2007 – 1 StR 32/07, NJW 2007, 2501, 2504; bzgl. der Beschränkung der grds. freien Wahl des Pflichtverteidigers, BVerfG, Beschluss vom 2. März 2006 – 2 BvQ 10/06, NStZ 2006, 460, 461, Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 15a, 17c; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 798; kritisch: Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 917; bzgl. der sog. Rügeverkümmerung: BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2009 – 2 BvR 2044/07, NJW 2009, 1469, 1474; BGH, Beschluss vom 23. April



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 181

– Wird ein Akteneinsichtsgesuch eines Verteidigers nach Abschluss der Ermittlungen grundlos zwei Wochen nicht beschieden und kann die Akteneinsicht deshalb erst einen Monat nach dem Eingang des Gesuchs gewährt werden, kann dies für eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen sprechen.180 – Führt eine willkürlich rechtswidrige Verweisung der Sache an ein unzuständiges Gericht zu einer Verfahrensverzögerung, kann dies der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen. Gleiches gilt für die Anklage zu einem unzuständigen Gericht. Wird dennoch die Haftfortdauer angeordnet, müssen Umstände erkennbar sein, die diese trotz der Verfahrensverzögerung rechtfertigen.181 – Zeiten der absoluten Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte (z. B. bereits vor der Anklageerhebung182 oder zwischen Anklageerhebung und Eröffnung des Hauptverfahrens oder des Hauptverhandlungsbeginns) bedürfen regelmäßig jedenfalls eines dargelegten nachvollziehbaren Grundes. Erforderliche Gutachten sind ggf. nachzureichen, die Ausfertigung der Anklage und der Beginn der Hauptverhandlung haben dennoch zu erfolgen.183 In diesem Zusammenhang beansprucht das Beschleunigungsgebot in Haftsachen auch im Zwischenverfahren nach § 199 ff. StPO Wirkung.184 Insbesondere ist das Hauptverfahren zu eröffnen, wenn entsprechende Entscheidungsreife vorliegt und keine nachvollziehbaren Gründe gegen die Verfahrenseröffnung sprechen.185 2007 – GSSt 1/06, NJW 2007, 2419,2422. Kritisch zu allen Beispielen: Roxin, StV 2010, 437, 437 ff. 180  BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181. 181  BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2000 – 2 BvR 453/99, NJW 2000, 1401; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 24; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 16b; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 909. 182  KG, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 4 Ws 32 u. 42/14, BeckRS 2015, 00976; vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 24 m. w. N. 183  OLG Naumburg, Beschluss vom 12. April 2012 – 1 Ws 142/12, BeckRS 2013, 03884. 184  BVerfG, Beschluss vom 04. Mai 2011 – 2 BvR 2781/10, BeckRS 2011, 50361. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948, 2949. 185  BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18, BeckRS 2018, 17596; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2009 – 3 Ws 362/09, BeckRS 2010, 01171; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. August 2011 – III-1 Ws 260/11, BeckRS 2012, 14553; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 25; Schlothauer/ Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 906; Liebhart, NStZ 2017, 254, 258. Vgl. Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 7.

182

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

– Liegen zwischen Anklageerhebung und dem ersten Hauptverhandlungstermin ohne nachvollziehbaren Grund fünf Monate oder mehr, kann dies für die Annahme einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung sprechen.186 Der Untersuchungshaftvollzug von über einem Jahr vor Hauptverhandlungsbeginn oder Erlass eines Urteils kann nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein.187 – Liegen zwischen Eröffnungsbeschluss und Beginn der Hauptverhandlung mehr als drei Monate, kann dies ebenfalls einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen begründen.188 – Die Hauptverhandlung muss zügig durchgeführt werden. Sind mehrere Hauptverhandlungstermine notwendig, ist der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen in umfangreichen Verfahren regelmäßig gewahrt, wenn an zwei bis vier Tagen pro Woche für mehrere Stunden verhandelt wird.189 Dies ist durch eine vorrausschauende190 und organisierte Terminierung der 186  BVerfG, Beschluss vom 4. Februar 2000 – 2 BvR 453/99, NJW 2000, 1401, 1402; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 674; vgl. bzgl. eines Berufungsverfahrens: BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948, 2949; vgl. ferner Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 25; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 7. 187  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 674 m. w. N.; OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. Januar 2019 – 1 Ws 203/18, BeckRS 2019, 00123; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 17d; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 7; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 786. 188  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 674 f.; BVerfG, Beschluss vom 20. Dezember 2017 – 2 BvR 2552/17, BeckRS 2017, 136740; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948, 2949; BVerfG, Beschluss vom 1. August 2018 – 2 BvR 1258/18, BeckRS 2018, 17596; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2009 – 3 Ws 362/09, BeckRS 2010, 01171; OLG Naumburg, Beschluss vom 12. April 2012 – 1 Ws 142/12, BeckRS 2013, 03884; KG, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 4 Ws 32 u. 42/14, BeckRS 2015, 00976; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 35; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 121 Rn. 25 (wobei die Autoren hier einen Zeitraum von sechs Monaten zwischen Eröffnungsbeschluss und Hauptverhandlungsbeginn zu Grunde legen); Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 353; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 907; Liebhart, NStZ 2017, 254, 258. 189  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 676; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 29; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2018 – 2 BvR 819/18, NJW 2018, 2948, 2950; OLG Hamm, Beschluss vom 5. Januar 2006 – 2 Ws 2/06, BeckRS 2006, 01960; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. August 2011 – III-1 Ws 260/11, BeckRS 2012, 14553; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 15c; Schlot­ hauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 912. 190  Da die Terminplanung mit dem Verteidiger des Betroffenen abgestimmt werden muss, vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 3. Januar 2018 – 1 Ws 143/17, 1 Ws



E. Rechtsprechung der nationalen Gerichte im Überblick 183

Hauptverhandlungstage sicherzustellen. Bei der Terminierung haben Haftsachen grundsätzlich Vorrang gegenüber Verfahren ohne Untersuchungshaft. Ggf. sind sogar bereits terminierte Verhandlungen in „Nicht-Haftsachen“ zugunsten von Haftsachen zurückzustellen.191 – Das Bestreben seitens der Strafgerichte, das Verfahren (teilweise) durch eine Verständigung zu erledigen, kann in der Regel nicht rechtfertigen, dass das Verfahren parallel nicht weiterbetrieben wird.192 – Auch nach dem Abschluss der Hauptverhandlung wahrt eine Ausreizung der Höchstfrist des § 275 StPO für die Urteilsabsetzung den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen regelmäßig nur, wenn hierfür zwingende nachvollziehbare Gründe vorliegen. Die Urteilsgründe müssen umgehend ausgefertigt und zugestellt werden.193 Auch das Protokoll der Hauptverhandlung muss angesichts des § 237 Abs. 4 StPO zügig fertig gestellt werden. Wenn das Urteil nur mangels ausgefertigten Protokolls nicht zugestellt werden kann, ist dies bei der Prüfung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung besonders zu berücksichtigen.194 Insgesamt müssen Zustellungen als reine Routinearbeiten im Lichte des Beschleunigungsgebots in Haftsachen mit besonderer Eile erledigt werden.195 – Nimmt die Zustellung der Revisionsbegründungsschrift als Routinearbeit mehrere Wochen (in einem konkret vom Bundesverfassungsgericht ent144/17, 1 Ws 145/17, BeckRS 2018, 00006; Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 38; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20; Paeffgen, in: SK II 2016, Vor § 112 ff. Rn. 30a. 191  BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 675; Hilger, in: L-R IV 2007, § 121 Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 120 Rn. 3a, § 121 Rn. 25; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20; Paeffgen, in: SK 2016, § 121 Rn. 17b; vgl. Böhm, in: MüKo II 2014, § 120 Rn. 16, 20. Allerdings stehen auch Nicht-Haftsachen unter dem Schutz des allgemeinen Beschleunigungsgebots, sodass diese nicht schematisch zu Gunsten jeder Haftsache zurückgestellt werden dürfen, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Oktober 2016 – 3 Ws 684/16, BeckRS 2016, 19896; KG, Beschluss vom 12. November 2018 – (4) 121 HEs 48/18 (40/18), BeckRS 2018, 30536; jeweils Jugendsachen. 192  BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181; KG, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 4 Ws 32 u. 42/14, BeckRS 2015, 00976; Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20. 193  OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. Januar 2019 – 1 Ws 203/18, BeckRS 2019, 123; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 894; vgl. Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 8; Böhm, in: MüKo II 2014, § 120 Rn. 23. 194  BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, NJW 2006, 677, 679, 680; OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. Januar 2019 – 1 Ws 203/18, BeckRS 2019, 123. 195  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1339; OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. Januar 2019 – 1 Ws 203/18, BeckRS 2019, 00123; vgl. Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 985, 987.

184

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

schiedenen Fall196 sogar bis zu 2,5 Monaten) in Anspruch, kann dies eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bedeuten. Gleiches gilt, wenn der Generalbundesanwalt für die Bearbeitung seiner 15 Seiten umfassenden Stellungnahme zwei Monate benötigt, da schon auf Grund der Kürze der Stellungnahme nicht von einem besonders komplexen Fall auszugehen ist.197 Diese Beispiele zeigen, dass es kaum möglich ist, aus der stark einzelfallorientierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klare Leitlinien für die Praxis herauszuarbeiten. Grundsätzlich gilt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sowie die Justizverwaltung alle erforderlichen Maßnahmen organisatorischer und personeller Natur treffen müssen, um vermeidbare Verfahrensverzögerungen zu verhindern und das Verfahren in gebotener Schnelligkeit abzuschließen.198

F. Schlussfolgerung Saldierend ist festzuhalten, dass dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht nur auf Grund der völkerrechtlichen Verpflichtung des Art. 1 i. V. m. Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK eine besondere Bedeutung zukommt. Das Beschleunigungsgebot entspringt unmittelbar aus dem Verfassungsrecht, namentlich insbesondere dem Schutz der körperlichen Freiheit des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, in die ein Eingriff nur unter besonderer Berücksichtigung (auch) des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen gerechtfertigt werden kann. Dennoch hat die Europäische Menschenrechtskonvention und auch die Judikatur des Gerichtshofs, mit gutem Grund erheblichen Einfluss auf die nationale Rechtsprechung und Gesetzgebung genommen. 196  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599. 197  BVerfG, Beschluss vom 22. Februar 2005 – 2 BvR 109/05, BeckRS 2005, 24599; vgl. Schultheis, in: KK 2019, § 120 Rn. 8; Böhm, in: MüKo II 2014, § 120 Rn. 24; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 988. Vgl. bzgl. Verzögerungen während des Revisionsverfahrens auch OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. Januar 2019 – 1 Ws 203/18, BeckRS 2019, 00123. 198  St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 671; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 675; BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, NJW 2006, 677; jeweils m. w. N.; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 35, § 121 Rn. 30 ff.; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 1a; Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 376; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 69; Knauer, StraFo 2007, 309, 310 f. Vgl. ferner für im Rahmen der Abwägung relevante Umstände: Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20 f.



F. Schlussfolgerung185

Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass nationale Stellen die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Erfüllung ihrer Pflichten des Art. 1 EMRK zu beachten haben. Dies ergebe sich unmittelbar aus Art. 1 Abs. 2, 20 Abs. 3 GG. Somit hat das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung der Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention mittelbar zu verfassungsrechtlichen Pflichten aller staatlichen Stellen und sich selbst zum „Hüter der Konvention“199 erhoben.200 Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht zu Recht vorbehalten, jede unter Beachtung der Menschenrechtskonvention sowie der Judikatur des Gerichtshofs durchzuführende Maßnahme letzten Endes an deutschem Verfassungsrecht zu messen. Das Recht bzw. sogar die verfassungsrechtliche Pflicht, eine Maßnahme nicht unter oder ohne vollständige Beachtung der europäischen Menschenrechtskonvention und der entsprechenden Rechtsprechung durchzuführen oder gar gänzlich zu unterlassen, besteht aber nur, wenn diese gegen verfassungsrechtliche Grundprinzipien verstoßen würde. Zudem müssen die staatlichen Stellen die Gründe für die Nichtbeachtung der Konvention bzw. der Rechtsprechung des Gerichtshofs substantiiert darlegen. Somit hat sich das Bundesverfassungsgericht – treffender formuliert – zum „Hüter der Menschenrechtskonvention innerhalb verfassungsgemäßer Grenzen“ erhoben.201 Jedenfalls in Hinblick auf den Schutz der körperlichen Freiheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und damit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen dürfte der Verfassungsvorbehalt des Bundesverfassungsgerichts angesichts der ausgeführten Kriterien des Europäischen Gerichtshofs kaum greifen. Es ist kein Sachverhalt denkbar, in denen der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK annimmt, die Einhaltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen nach den Maßstäben des Gerichtshofs in dem konkreten Einzelfall aber mit verfassungsrechtlichen Grundgedanken im Widerspruch steht. Hierzu wird man sich noch einmal vergegenwärtigen müssen, dass der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen sowie der nach erster Verurteilung weiterhin anwendbare allgemeine Beschleunigungsgrundsatz der Menschenrechtskonvention primär zu der Ergreifung aller erforderlichen Maßnahmen verpflichtet, um eine zügige Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten. Angesichts des Umstandes, dass es den Vertragsstaaten freisteht, auf welche Art und Weise sie die Pflichten der Art. 1 EMRK und (im Falle eines durch Urteil festgestellten Konventionsverstoßes) Art. 46 Abs. 1 EMRK um199  Gusy,

JA 2009, 406, 407. Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407,

200  BVerfG,

3411.

201  Vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1932; Gusy, JA 2009, 406, 407.

186

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

setzen, ist kein Verfassungsprinzip denkbar, das mit der konsequenten Einhaltung der Beschleunigungsgebote in Widerspruch geraten könnte.202 Soweit der Deutsche Bundestag in seiner Ausarbeitung über die Bedeutung der Menschenrechtskonvention unter Bezugnahme auf den Fall Görgülü203 und Frau204 ausführt: „Zur Bedeutung der Urteile des EGMR hat sich das Bundesverfassungsgericht in der Görgülü-Entscheidung ebenfalls geäußert. Danach hat der Gesetzgeber die Aussagen der [Menschenrechtskonvention] in ihrer Interpretation durch den [Gerichtshof] zu berücksichtigen. Das vom Gesetzgeber – vor allem auch als Auslegungshilfe der Grundrechte – zu beachtende Recht der [Menschenrechtskonvention] ist somit dynamisch an die Rechtsprechung und die Auslegung der [Menschenrechtskonvention] durch den [Gerichtshof] anzupassen. Stellt der [Gerichtshof] eine Verletzung der [Menschenrechtskonvention] durch ein deutsches Gesetz fest, bedeutet dies jedoch nicht, dass das deutsche Gesetz damit unwirksam wäre. War die Bundesrepublik Deutschland Partei in dem Verfahren, in dem die Verletzung der [Menschenrechtskonvention] festgestellt wurde, ist [die] Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, die festgestellte Konventionsverletzung abzustellen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Diese völkerrechtliche Verpflichtung erstreckt sich auf alle Träger hoheitlicher Gewalt und damit auch auf den Gesetzgeber. Daraus folgt nach dem Bundesverfassungsgericht aber ‚nur‘, dass der Gesetzgeber die Regeln der [Menschenrechtskonvention] und die Entscheidungen des [Gerichtshofs] zur Kenntnis nehmen und in seine Willensbildung einfließen lassen muss. Er ist nicht dazu verpflichtet, konventionswidrige Gesetze aufzuheben bzw. zu korrigieren. Das Bundesverfassungsgericht spricht insoweit ausdrücklich nur von der ‚Möglichkeit‘ des Gesetzgebers, die mit der Konvention unvereinbare deutsche Vorschrift zu ändern.“205

erscheint dies jedenfalls unvollständig. In dem Abschnitt des Urteils des Bundesgerichtshofs zum Fall Görgülü, auf den sowohl der Deutsche Bundestag als auch Frau206 verweisen, heißt es wörtlich: „Hat der Gerichtshof eine innerstaatliche Vorschrift für konventionswidrig erklärt, so kann diese Vorschrift entweder in der Rechtsanwendungspraxis völkerrechtskon202  Vgl. Giegerich, in: EMRK/GG, Kap. 2 Rn. 49 dazu, dass bereits auf Grund der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG hohe Anforderungen an die Annahme zu stellen sind, der deutsche Gesetzgeber wolle von den Regelungen der EMRK abweichen. 203  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407. 204  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3410; Frau, Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht und völkerrechtlichem Vertrag, S.  59 f. 205  Deutscher Bundestag, Bedeutung der EMRK, S. 5. 206  Frau, Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht und völkerrechtlichem Vertrag, S. 59.



F. Schlussfolgerung187 form ausgelegt werden, oder der Gesetzgeber hat die Möglichkeit, diese mit der Konvention unvereinbare innerstaatliche Vorschrift zu ändern.“207

Aus der vollständigen Formulierung lässt sich unter Berücksichtigung des Verfassungsvorbehalts, den das Bundesverfassungsgericht ebenfalls im Fall Görgülü entwickelt hat, nur Folgendes herleiten: Verstößt eine staatliche Maßnahme, die nach Art. 20 Abs. 3 GG grundsätzlich auf einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruht, gegen die europäische Menschenrechtskonvention, kann dies gegen Grundrechte i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen. Ist dies der Fall, ist der Verstoß entweder durch eine konventions- und verfassungskonforme Auslegung abzuhelfen oder der Gesetzgeber ist gehalten, eine konventions- und verfassungsmäßige Gesetzesänderung vorzunehmen. In jedem Fall ist eine geeignete Maßnahme von staatlicher Seite vorzunehmen, um den verfassungs- und konventionswidrigen Zustand abzustellen.208 In der Konsequenz ist der Gesetzgeber nach Art. 1 EMRK auf Grund der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention nach Art. 59 Abs. 2 GG i. V.m Art. 1 Abs. 2 GG also (völkervertragsrechtlich) dazu verpflichtet, die geltende nationale Rechtslage auch ohne die konkrete Feststellung der Konventionswidrigkeit durch den Gerichtshof im Rahmen einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK dynamisch und innerhalb der Grenzen der Verfassung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Judikatur des Gerichtshofs in Einklang zu bringen, sofern eine konventionskonforme Auslegung der entsprechenden Normen durch die Judikative und Exekutive nicht möglich ist.209 Aus dem Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht der europäischen Menschenrechtskonvention und der Judikatur des Gerichtshofs über Art. 20 Abs. 3 i. V. m. den übrigen Grundrechten mittelbar Verfassungsrang zugesprochen hat, ist zudem folgender weiterer Schluss zu ziehen: Das Bundesverfassungsgericht muss mit der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle210 beanstandete Gesetze auch auf ihre Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Judikatur des Gerichtshofs hin prüfen. Dies ist eine konsequente Folge daraus, dass das 207  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3410; Hervorhebung durch die Verfasserin. 208  Eine andere Auffassung würde auch vor dem Hintergrund, dass sich das BVerfG vorbehalten hat, staatliches Handeln auf Konventionsverstöße zu überprüfen, keinen Sinn ergeben, vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3411. 209  BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04; NJW 2004, 3407, 3410. 210  Vgl. Lohse/Jakobs, in: KK, EMRK, Vorb. Rn. 25; nur bzgl. Landesrecht als Vorlagegegenstand: Walter, in: EMRK/GG, Kap. 31 Rn. 16.

188

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

Bundesverfassungsgericht selbst konventionswidrige staatliche Maßnahmen unter Berufung auf das maßgebliche Grundgesetz in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG für mit der Verfassungsbeschwerde für angreifbar erklärt. Kommt das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der materiellen Prüfung einer entsprechenden Verfassungsbeschwerde zu der Verfassungswidrigkeit der staatlichen Maßnahme nicht zu dem Ergebnis, dass dieser nur auf einem reinen Gesetzesanwendungsfehler basiert, der durch eine verfassungs- und konventionskonforme Auslegung hätte verhindert werden können, wird es das der staatlichen Maßnahme zu Grunde liegende Gesetz für verfassungswidrig erklären müssen und den Gesetzgeber dazu auffordern, Abhilfe zu schaffen.211 Indes wird kaum ein Fall denkbar sein, in dem eine deutsche Norm weder konventionskonform ausgelegt und angewendet werden kann, ohne dass diese nicht gleichfalls mit verfassungsrechtlichen Vorgaben kollidiert und schon auf Grund ihrer (reinen) Verfassungswidrigkeit für nichtig zu erklären wäre. So verstießen die alten Regelungen bzgl. der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach dem Gerichtshof gegen Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 Satz 1 EMRK212 und nach dem Bundesverfassungsgericht gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG213. Das Bundesverfassungsgericht bezog im Rahmen seiner Entscheidung die Wertung der Menschenrechtskonvention und insbesondere die vorangegangene Entscheidung des Gerichtshofs in die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ein und betonte ausdrücklich das zu berücksichtigende „Gewicht der Menschen­ rechtskonvention“.214 Eine verfassungskonforme und konventionskonforme Auslegung der Regelungen war nicht möglich.215 Somit erklärte das Bundesverfassungsgericht sämtliche216 Regelungen bzgl. der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig und gab dem Gesetzgeber auf, binnen einer bestimmten Frist eine verfassungskonforme Neuregelung zu erlassen. Eine unmittelbare Nichtigerklärung der Regelungen gemäß §§ 95 Abs. 3 Satz 1, 78 Satz 1 BVerfGG hätte der „verfassungs-

211  So geschehen bezüglich der alten Regelungen bzgl. der nachträglichen Sicherungsverwahrung: BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931. 212  EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 19359/04 (M./Deutschland), NJW 2010, 2495, 2496 f., 2498 f. 213  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1945. 214  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1941 ff. und Ziff. 4 der Leitsätze. 215  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1944 f.; wobei das BVerfG von einer verfassungskonformen Auslegung, zu der die Menschenrechtskonvention und die Judikatur des Gerichtshofs als „Auslegungshilfe“ heranzuziehen ist, spricht. 216  Vgl. § 78 Satz 2 BVerfGG.



F. Schlussfolgerung189 mäßigen Ordnung noch weniger [entsprochen]“217, da damit alle Sicherungsverwahrten umgehend hätten freigelassen werden müssen, was bereits organisatorisch nicht zu bewerkstelligen gewesen wäre. Das Bundesverfassungsgericht stellte jedoch konkrete Maßgaben zu der Anwendung der Regelungen bezüglich der für Sicherungsverwahrung während der Übergangsfrist auf.218 Ebenso wurden die Regelungen zu der Verhandlung über die Berufung in Abwesenheit des Angeklagten in § 329 StPO im Jahr 2015 umfassend neu geregelt.219 Nach zuvor geltendem Recht war die Berufung des Betroffenen im Regelfall ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen, wenn dieser ohne genügende Entschuldigung nicht selbst, sondern nur sein Verteidiger zu der Verhandlung erschienen war. Eine Vertretung durch den Verteidiger war nur in Ausnahmefällen zulässig.220 Diese Regelung hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2006 für verfassungs- und konventionskonform (insb. mit Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c EMRK) erklärt.221 Der Betroffene, dessen Verfassungsbeschwerde durch die vorgenannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen worden war222, legte gegen die Verwerfung seiner Berufung auf Grund seiner Abwesenheit Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK zum Gerichtshof ein. Dieser entschied im Jahr 2012, die Regelung des § 329 StPO a. F. verstoße gegen die Rechte des Betroffenen auf angemessene Verteidigung nach Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c ­EMRK.223 Der Instanzrechtsprechung gelang es nicht, § 329 StPO a. F. im Einklang mit dieser Entscheidung des Gerichtshofs auszulegen und anzuwenden.224

217  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1945 (m. w. N. bzgl. anderer Fälle, in denen das BVerfG eine solche Übergangsfrist angeordnet hatte). 218  BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1945 ff. 219  BGBl. I Nr. 31 vom 24. Juli 2015; nebst Berichtigung BGBl. I Nr. 44 vom 11. November 2015. 220  Vgl. zu der bis 2015 geltenden Regelung: Gössel, in: L-R VII-2 2013, § 329 Rn. 1 ff. (vgl. zu den Fällen der zulässigen Vertretung Rn. 46 ff.); Frisch, in: SK VI 2013, § 329 Rn. 1 ff. (vgl. zu den Fällen der zulässige Vertretung Rn. 12 ff.). 221  BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2006 – 2 BvR 1872/03, BeckRS 2012, 54108; vgl. ferner allerdings mit Verweis auf die notwendige restriktive Auslegung auf Grund der widerstreitenden beteiligten Interessen: Gössel, in: L-R VII-2 2013, § 329 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2015, § 329 Rn. 2; Paul, in: KK 2013, § 329 Rn. 1; Frisch, in: SK VI 2013, § 329 Rn. 4; jeweils m. w. N. Kritisch bereits vor der Entscheidung des EGMR im Hinblick auf die Vereinbarkeit des § 329 StPO a. F. mit Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c EMRK: Paeffgen, in: SK X 2012, Art. 6 Rn. 138a. 222  BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2006 – 2 BvR 1872/03, BeckRS 2012, 54108. 223  EGMR, Urteil vom 8. November 2012 – 30804/07 (Neziraj/Deutschland), BeckRS 2013, 6875. Kritisch: Frisch, FS-Paeffgen, 590, 596 ff. 224  Statt vieler: OLG Celle, Beschluss vom 19. März 2013 – 32 Ss 29/13, NStZ 2013, 615, 616; KG, Beschluss vom 7. Februar 2014 – (4) 161 Ss 5/14 (14/14), BeckRS 2014, 6969; Böse, FS-Paeffgen, 567, 579 ff.; Wohlers, FS-Paeffgen, 621, 626 ff.

190

4. Teil: Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

Infolgedessen wurde der Gesetzgeber aktiv und passte § 329 StPO an die Anforderungen des Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. c EMRK und die diesbezügliche Entscheidung des Gerichtshofs225 an.226 Dieses Beispiel zeigt, dass der Gesetzgeber in der Vergangenheit bereits auf Grund einer Entscheidung des Gerichtshofs aktiv wurde, ohne dass das Bundesverfassungsgericht (wie in dem vorgenannten Beispiel der nachträglichen Sicherungsverwahrung) das entsprechende nationale Gesetz zwischenzeitlich für verfassungswidrig erklärt hatte.

Aus alledem folgt, dass der Gesetzgeber dazu verpflichtet ist, eine Norm, die gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (und somit gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verstößt und keiner verfassungs- und konventionskonformen Auslegung zugänglich ist, aufzuheben und in Einklang mit der Verfassung, der europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Judikatur des Gerichtshofs abzuändern. Dies gilt auch, wenn die Norm durch die nationalen Gerichte trotz entsprechender Möglichkeit nicht verfassungs- und konventionskonform angewendet wird.227 Gleichsam wird das Bundesverfassungsgericht eine verfassungs- und konventionswidrige Norm im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde oder eines Normenkontrollverfahrens für nichtig erklären müssen.228

225  EGMR, Urteil vom 8. November 2012 – 30804/07 (Neziraj/Deutschland), BeckRS 2013, 6875. 226  BT-Drs. 18/3562; Frisch, NStZ 2015, 69, 69 ff. 227  BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 – 2 BvR 2883/10 – 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295, 299 m. w. N.; Hömig, MSKB II, § 95 Rn. 73. 228  Zu diesem Schluss kommen im Ergebnis auch: Esser, in: L-R XI 2012, Teil 2, Rn. 261; Lohse/Jakobs, in: KK, EMRK, Vorb. Rn. 25; Meyer, in: SK X 2019, Einl. Rn. 131, Verfahrensrecht Rn. 347, 357.

5. Teil

Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO A. Einführung Im Rahmen dieser Untersuchung ist im Folgenden zu hinterfragen, ob die obergerichtliche Rechtsprechung zu den Folgen des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf das Haftbeschwerdeverfahren den vorgenannten Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Erfordernisses eines effektiven ­ Rechtsschutzes1 und dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen2 gerecht wird. Zunächst wird die Entwicklung der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte seit 1956 zu den Auswirkungen eines Zuständigkeitswechsels auf Beschwerden gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl an Hand wesent­ licher veröffentlichter Beschlüsse der Oberlandesgerichte dargestellt. Nach der Darstellung wird die Praxis der Rechtsprechung zusammenfassend ab­ strahiert und die sich seit den 1950er Jahren wiederholende Begründung der Rechtsprechung dargestellt.

B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 I. Grundkonstellation: Anklageerhebung zum Landgericht Der folgende Abschnitt behandelt die seitens der Oberlandesgerichte entwickelte Rechtsprechung zu Fällen, in denen die Betroffenen bereits vor oder erst nach Anklageerhebung zum Landgericht Beschwerde gegen die seitens des Ermittlungsrichters getroffene Haftentscheidung eingelegen. Fallbeispiel 1 Ausgangssachverhalt: Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert. Der Haftbefehl wurde vor Anklageerhebung zum Landgericht 1  Siehe 2  Siehe

oben ab S. 105. oben ab S. 142.

192

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

durch den zuständigen Ermittlungsrichter E erlassen. U legt gegen den Haftbefehl Beschwerde ein. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig, wenn a) die Beschwerde vor Anklageerhebung eingelegt wurde? b) die Beschwerde nach Anklageerhebung eingelegt wurde? Abwandlung (weitere Beschwerde): Unterstellen Sie, dass das Landgericht die Haftbeschwerde bereits negativ beschieden hat und U weitere Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl des E zum Oberlandesgericht eingelegt hat. Welches Gericht ist zur Bescheidung der weiteren Beschwerde zuständig, wenn a) die weitere Beschwerde vor Anklageerhebung eingelegt wurde? b) die weitere Beschwerde nach Anklageerhebung eingelegt wurde?

1. Rechtsprechung vor Inkrafttreten des § 126 StPO im Jahr 1965 auf Grundlage des § 125 StPO (1950) Bereits vor Inkrafttreten des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in seiner heutigen Fassung hatte das Oberlandesgericht Oldenburg im Jahr 1956 über das Schicksal einer weiteren Beschwerde nach Anklageerhebung zu entscheiden.3 Das Beschwerdeverfahren gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht, der vor Anklageerhebung erlassen wurde, war bereits durch Einlegung einer weiteren Beschwerde beim Oberlandesgericht Oldenburg anhängig, als die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht erhob und das Oberlandesgericht Oldenburg seine Entscheidung traf. Schon zum Zeitpunkt dieses Beschlusses vor Inkrafttreten des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in seiner heutigen Fassung am 1. April 1965 vertrat das Oberlandesgericht Oldenburg die Auffassung, das für weitere Entscheidungen und Maßnahmen für gemäß § 125 Abs. 1 StPO (1950)4 erlassene Haftbefehle 3  OLG

233.

Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957,

4  § 125 StPO (1950) Abs. 1: Auch vor Erhebung

der öffentlichen Klage kann, wenn ein zum Erlaß eines Haftbefehls berechtigender Grund vorhanden ist, vom Amtsrichter auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder bei Gefahr im Verzug von Amts wegen ein Haftbefehl erlassen werden. Abs. 2: Zum Erlaß dieses Haftbefehls und der auf die Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen ist jeder Amtsrichter befugt, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand für die Sache begründet ist oder der zu Verhaftende betroffen wird. Abs. 3: (…).



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 193

durch den Ermittlungsrichter zuständige Gericht sei nach Anklageerhebung nach § 124 Abs. 1 StPO (1950)5 dasjenige, bei welchem die Anklageschrift eingereicht worden sei.6 Gegen den vom Ermittlungsrichter erlassenen Untersuchungshaftbefehl können Rechtsmittel ab dem Zeitpunkt der Anklageerhebung aber nicht mehr weiterverfolgt werden. Denn mit der Anklageerhebung verliere der Ermittlungsrichter die Zuständigkeit für Haftentscheidungen und diese gehe auf das mit der Sache befasste Tatgericht über.7 Das beträfe auch die dem Amtsrichter zugeordneten Rechtsmittelinstanzen.8 Verlöre der Haftrichter nebst den diesem zugeordneten Rechtsmittelinstanzen nicht die Zuständigkeit, führe dies zur einer doppelten Zuständigkeit von Haftrichter und Tatgericht. Da die Anklage den Antrag an das Tatgericht enthalte, über die Haftfortdauer zu beschließen, wäre trotz der Anklageerhebung neben dem Tatgericht weiterhin der Amtsrichter und ggf. das diesem zugeordnete Rechtsmittelgericht dafür zuständig, über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls zu entscheiden. Dies berge die Gefahr widersprechender Entscheidungen und Verfahrensverzögerungen. Überdies formulierte das Oberlandesgericht Oldenburg deutlich, der Betroffene habe in der Sache ohnehin kein begründetes Bedürfnis, den Rechtsweg zu erschöpfen. Das jeweilig zuständige Gericht sei ohnehin von Amts wegen dazu angehalten, die Rechtmäßigkeit eines Haftbefehls stets auch ohne entsprechenden Antrag des Betroffenen zu überprüfen.9 Ohne eine nähere Begründung in den Beschlussgründen heißt es im Leitsatz der Entscheidung, dass ein Rechtsmittel gegen einen Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht mit der Anklageerhebung in einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls umzudeuten sei. Für die Bescheidung dieses Antrags ist nach den vorstehenden Ausführungen des Oberlandesgerichts Oldenburg das mit der Sache befasste Gericht zuständig.10 5  § 124 Abs. 1 StPO  Abs. 1: „Die auf die

(1950) Untersuchungshaft, einschließlich der Sicherheitsleistung, bezüglichen Entscheidungen werden von dem zuständigen Gericht erlassen.“ 6  Die Beschlussgründe verweisen auf Erbs, Handkommentar zur StPO, § 124; KMR 1954, § 124 Anm. 1 b); Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, § 124 Erl. 7; Tillmann, in: L-R I 1958, § 124 Anm. 6 b); Peters, Strafprozess 1952, § 47 S. 331. 7  Die Gründe verweisen u. a. auf Schmidt, Lehrkommentar zur StPO 1957, § 125 Erl. 11; Tillmann, in: L-R 1958, § 125 Anm. 5. 8  Die die entgegenstehende Ansicht des OLG Celle, auf die die Gründe Bezug nehmen, konnte seitens der Verfasserin mangels näherer Angaben über den entsprechenden Beschluss nicht aufgefunden werden. 9  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233. 10  Dies besagt der Beschluss nicht eindeutig, die Zuständigkeit des mit der Sache befassten Gerichts folgt aber zwingend aus den Ausführungen zu dem Wechsel der

194

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

2. Ausgangsentscheidung auf Grundlage des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO Die erste – soweit ersichtlich – zu der Thematik des Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO im Zusammenhang mit einer Haftbeschwerde veröffentliche Entscheidung traf das Oberlandesgericht Karlsruhe am 11. April 1972.11 Der Verteidiger des Betroffenen hatte am 22. März 1972 beim Ermittlungsrichter Beschwerde gegen dessen Haftbefehl vom 7. November 1971 eingelegt, nachdem seitens der Staatsanwaltschaft bereits am 10. März 1972 Anklage zum Landgericht erhoben worden war. Der Ermittlungsrichter half der Beschwerde nicht ab und legte sie gemäß § 306 Abs. 2 StPO dem Landgericht als Beschwerdegericht vor, wo diese am 27. März 1972 einging. Ausweislich eines gerichtlichen Aktenvermerks hatte der Verteidiger des Betroffenen erklärt, er erstrebe eine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft. Das Landgericht vertrat offenbar die Auffassung, dass nunmehr das Oberlandesgericht Karlsruhe zu einer Entscheidung berufen sei und legte diesem die Beschwerde zur Entscheidung vor. Bereits in den Leitsätzen des Beschlusses des Oberlandesgerichts Karlsruhe heißt es, dem Betroffenen stünde eine Beschwerde gegen Haftbefehle des Ermittlungsrichters nach Anklagerhebung nicht mehr zu. Vielmehr habe das Landgericht eine Umdeutung der Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag vorzunehmen, über welchen es selbst als das mit der Sache erstinstanzlich befasste Tatgericht zu entscheiden habe.12 Insbesondere habe die Anklageerhebung nicht – wie Dünnebier13 vertrat – zur Folge, dass der Haftbefehl des Haftrichters beim Amtsgericht als Haftbefehl des Landgerichts gelte und damit das Oberlandesgericht Karlsruhe das nach § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG zuständige Beschwerdegericht sei.14 Auch sei Zuständigkeit, vgl. OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233. 11  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723. 12  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723. 13  Diese Auffassung vertritt Dünnebier, in: L-R I 1971, § 125 Anm. 1, letzter Absatz. In MDR, 1968, 185, 186 hatte Dünnebier zuvor noch verlangt, dass nach Zuständigkeitswechsel durch Anklageerhebung zum Landgericht nach § 126 Abs. 2 S. 1 StPO das mit der Beschwerde eigentlich angerufene und nun auch erstinstanzlich als Tatgericht zuständige Landgericht zunächst eine den Haftbefehl bestätigende Entscheidung treffen müsse und der Beschwerdeführer sodann entscheiden könne, ob er die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht einlegt. 14  Eine Begründung für die Ablehnung der Auffassung Dünnebiers enthält der Beschluss des OLG Karlsruhe nicht.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 195

das Landgericht nicht – so aber damals Müller/Sax15 – so lange selbst als Beschwerdegericht zur Entscheidung über die Beschwerde befugt, bis es eine eigene Entscheidung über die Untersuchungshaft treffe. Letztere Auffassung würde zu einer dem Prozessrecht fremden Instanzenvermischung führen. Vielmehr stünde dem Betroffenen nach Anklageerhebung kein Rechtsmittel mehr gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl zu.16 Dennoch sei die eingelegte Beschwerde nicht als unstatthaft zu verwerfen, sondern müsse in einen Haftprüfungsantrag umgedeutet werden, über den das erstinstanzlich zuständige Gericht – hier das Landgericht – zu entscheiden habe.17 Dem stehe auch nicht entgegen, dass der Verteidiger erklärt habe, er erstrebe eine Entscheidung des Oberlandesgerichts.18 Denn der gesetzlich normierte Instanzenzug sei einzuhalten. Gegen die nach der vorzunehmenden Umdeutung ergehende Haftprüfungsentscheidung des Landgerichts könne der Betroffene Beschwerde zum Oberlandesgericht einlegen. Die getroffene Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts könne nicht als Haftprüfungsentscheidung gewertet werden, da sie von Vornherein nicht als solche gefasst worden war und auch nicht als beschwerdefähige Entscheidung ordnungsgemäß bekannt gemacht worden war.19

15  KMR

I 1966, § 125 Rn. 5. OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 17  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723. 18  Später lehnte das OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 eine Umdeutung auf Grund einer solch eindeutigen Erklärung des Verteidigers ab; siehe dazu S. 229. 19  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723. Vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692; OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213; a. A. OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe dazu S. 221). Im Jahr 1973 entschied das OLG Karlsruhe zudem (Beschluss vom 21. Mai 1973 – 1 Ws 155/73, Die Justiz 1973, 253), auch eine nicht begründete Haftfortdauerentscheidung im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses nach § 204 Abs. 4 StPO könne nicht als Haftfortdauerentscheidung auf einen (umgedeuteten) Haftprüfungsantrag verstanden werden. A. A. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791 hiernach müsse die Haftfortdauerentscheidung nach § 207 Abs. 4 StPO dem Betroffenen – soweit noch nicht geschehen – lediglich noch ordnungsgemäß bekannt gemacht werden, damit diese mit der Beschwerde angegriffen werden könne. 16  Vgl.

196

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

3. Abweichende Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt Noch im selben Jahr wurde auch das Oberlandesgericht Frankfurt zu einer entsprechenden Entscheidung angerufen.20 Nachdem der Haftrichter die Haft durch Beschluss vom 25. September 1972 bestätigt hatte, erhob die Staatsanwaltschaft am 5. Oktober 1972 Anklage zur Großen Strafkammer. Am 10. Oktober 1972 ging die Beschwerde des Verteidigers des Betroffenen gegen die Haftentscheidung des Amtsrichters beim Landgericht ein.21 Das Landgericht traf eine Nichtabhilfeentscheidung und legte die Beschwerde gemäß § 306 Abs. 2 StPO zur Entscheidung dem Oberlandesgericht Frankfurt vor. Das Oberlandesgericht Frankfurt erkannte unter Bezugnahme auf den vorgenannten Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe22, diese Rechtsprechung habe zur Folge, dass das dem Betroffenen nach der Strafprozessordnung zustehende Rechtsmittel der Beschwerde gegen die haftrichterliche Entscheidung genommen werden. Unter Bezugnahme auf Dünnebier23 führt das Oberlandesgericht Frankfurt aus, eine gesetzliche Grundlage für eine solche prozessuale Überholung der Beschwerdemöglichkeit eines fortwirkenden und den Betroffenen beschwerenden Haftbefehls bestehe nicht. Dies widerspräche insbesondere der Konzeption der Rechtsbehelfe gegen die Untersuchungshaft. Aus §§ 117 Abs. 2, 304, 305 StPO folge zwingend, dass eine Haftentscheidung jederzeit mit der Beschwerde anfechtbar sein müsse.24 Dies habe zur Folge, dass weiterhin bis zur ersten Haftentscheidung des erstinstanzlich zuständigen Landgerichts über die Beschwerde gegen die Haftentscheidung des Amtsrichters zu entscheiden sei. Jedoch sei hierfür nicht das Landgericht als Beschwerdegericht zuständig25, da dies nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Anklageerhebung erstinstanzlich für Haftent20  OLG

478.

Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973,

21  Ob die Beschwerde vor oder nach Anklageerhebung eingelegt wurde, ergibt sich aus dem veröffentlichten Beschluss nicht unmittelbar. 22  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 23  Vgl. Dünnebier, MDR 1968, 185. 24  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478. 25  So aber Müller/Sax, in: KMR I 1966, § 125 Rn. 5 wonach das als Tatgericht zuständige Landgericht auch nach Anklageerhebung noch bis zu einer ersten eigenen (erstinstanzlichen) Haftentscheidung weiter als Beschwerdegericht über Beschwerden gegen ermittlungsrichterliche Entscheidungen fungieren könne.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 197

scheidung zuständig geworden sei und nicht gleichzeitig die Funktion des Beschwerdegerichts wahrnehmen könne. Es könne nicht gleichzeitig erstund zweitinstanzlich zuständig sein, da dies zu einer systemfremden Instanzenvermischung und Doppelzuständigkeit führe, die die Regelungen der §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 StPO gerade vermeiden sollen. Vielmehr sei das Oberlandesgericht für die Entscheidung über die nach Anklageerhebung eingelegte Beschwerde gegen die Haftentscheidung des Haftrichters beim Amtsgericht nach § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG zuständig, sofern das nunmehr hierfür zuständige Landgericht dieser – wie vorliegend – nicht anstelle des Ermittlungsrichters abgeholfen hat.26 4. Weitere Entwicklung der Rechtsprechung Später rückte das Oberlandesgericht Frankfurt mit einer Entscheidung vom 21. Februar 198527 hinsichtlich einer ähnlichen Fallkonstellation28 unter Verweis auf die zu diesem Zeitpunkt herrschende Meinung in Literatur29 und Rechtsprechung30, aber ohne eigene Stellungnahme, von der vorge26  Dünnebier, in: L-R I 1971, § 125 Anm. 1, letzter Absatz; Dünnebier, MDR 1968, 185, 186. 27  OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233. 28  Im Unterschied zu der abweichenden Entscheidung des OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196) ergibt sich aus dem Beschluss des OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 eindeutig, dass die Beschwerde bereits vor Anklage­ erhebung eingelegt wurde, vgl. Fallfrage aa) zum Ausgangssachverhalt des ersten Fallbeispiels. 29  Die Gründe verweisen auf Meyer, StPO 1983, § 126 Rn. 2; Boujong, in: KK 1982, § 126 Rn. 8; Kleinknecht/Janischowsky, Das Recht der Untersuchungshaft, Rn. 153. Tatsächlich hält der in den Gründen ebenfalls im Rahmen der „einhelligen Auffassung in Lehre und Rechtsprechung“ zitierte Dünnebier, in: L-R II 1978, § 126 Rn. 16, 125 Rn. 6, § 114 Rn. 71 nebst Fn. 12 jedoch dort an seiner auch schon in den Vorauflagen (siehe oben Fn. 23, S. 196) vertretenen Auffassung fest, dass keine Umdeutung vorzunehmen sei (auf diese Vorgehensweise wird lediglich a. a. O., § 114 Fn. 12 als a. A. verwiesen), weil die Entscheidungen des Ermittlungsrichters durch die Anklageerhebung als solche des Tatgerichts gelten. Daher habe das dem Tatgericht übergeordnete Beschwerdegericht nach dessen Nichtabhilfe über die Beschwerde zu entscheiden. (Die ebenfalls in dem Beschluss zitierte Fundstelle Müller, in: KMR 1981, § 126 Rn. 8, § 125 Rn. 6 konnte seitens der Verfasserin nicht nachvollzogen werden, da die Loseblattsammlung des KMR auf dem Stand von 1981 nicht aufzufinden war.). 30  Die Gründe verweisen auf OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Hamm, Beschluss vom 27. Juni 1977 – 1 Ws 142/77, JMBl. NW 1977, 249 = BeckRS 1977, 01758; OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris; wobei letztge-

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

nannten Entscheidung31 ab. In dieser Entscheidung wird klar, dass es für das Erfordernis der Umdeutung nicht auf den Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung ankommen solle.32 Allein die Anklageerhebung verhindere die Anfechtbarkeit ermittlungsrichterlicher Haftentscheidungen. Zudem sei die Umdeutung bei einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auch bei weiteren Beschwerde nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO gegen ermittlungsrichterliche Haftbefehle und Haftfortdauerentscheidungen anwendbar.33 „Eine Haftbeschwerdezuständigkeit des OLG ist im vorliegenden Fall weder nach § 304 I StPO noch nach § 310 I StPO gegeben. Wird – wie hier – die Anklage zum [Landgericht] erhoben, so ist eine Haftbeschwerde gegen eine amtsrichterliche Haftentscheidung in einen Haftprüfungsantrag (§ 117 I StPO9) umzudeuten […]. Nach der Entscheidung im Haftprüfungsverfahren ist diese Grundlage der Untersuchungshaft. Erst gegen die Haftprüfungsentscheidung des nunmehr mit der Sachen befaßten [Landgerichts] (§ 126 II 1 StPO) ist Beschwerde zum OLG zulässig.“34

Der vorgenannte Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe aus dem Jahr 197235 wurde hinsichtlich des Erfordernisses der Umdeutung der Beschwerde (in einen Haftprüfungsantrag), die nach Anklageerhebung eingelegt wird, auch von den übrigen Oberlandesgerichten weitestgehend unreflektiert übernommen.36 Die Entscheidung ist nach der Rechtsprechung seither nicht nur auf Fälle der Beschwerdeeinlegung37 und der Einlegung der weiteren nannte Entscheidung eine der im Folgenden dargestellten Sonderkonstellationen betrifft. 31  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478. 32  So auch OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213. 33  So auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. 34  OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233. 35  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 36  Umdeutung von Beschwerden, die nach Anklageerhebung eingelegt wurden: OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213 m. w. N. In KG, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 AR 297/99 – 5 Ws 160/99, BeckRS 2014, 2252 entschied das KG zudem, eine Umdeutung einer Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag habe auch zu erfolgen, wenn das Gericht das Hauptverfahren nach § 209 Abs. 1 StPO vor einem Gericht niedrigerer Ordnung eröffnet und zugleich Haftfortdauer nach § 207 Abs. 4 StPO beschlossen hatte und der Betroffene hiergegen Haftbeschwerde einlegte. Zuständig für die Bescheidung des umgedeuteten Haftprüfungsantrag sei das Gericht, vor dem das Hauptverfahren eröffnet wurde. 37  Umdeutung von Beschwerden, die vor Anklageerhebung eingelegt wurden: OLG Hamm, Beschluss vom 27. Juni 1977 – 1 Ws 142/77, JMBl. NW 1977, 249, 249 f. = BeckRS 1977, 01758; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. September 1982 – 2 Ws 651/82, MDR 1983, 152, 153 (wobei sich aus diesem Beschluss nicht



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 199

Beschwerde38 vor und nach Anklageerhebung, sondern auch auf weitere im Folgenden darzustellenden Sonderkonstellationen angewandt worden. Der Beschluss dürfte damit als Grundsatzentscheidung hinsichtlich dieses Umdeutungserfordernisses nach dem seit 1965 geltenden § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zu bezeichnen sein. An dieser Stelle ist nur am Rande zu bemerken, dass eine Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG auf Grund der zunächst abweichenden Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurts39 rechtlich nicht notwendig und somit auch nicht möglich gewesen wäre. § 121 Abs. 2 StPO sah bis zu einer Gesetzesänderung im Jahr 2010 in Beschwerdeverfahren überhaupt keine Vorlagepflicht vor. Seither sind Divergenzvorlagen nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG nur bei abweichenden Rechtsauffassungen hinsichtlich der Entscheidungen über Maßnahmen nach den §§ 63, 66 ff. StGB sowie §§ 7 Abs. 2 bis 4, 106 Abs. 3 bis 7 JGG gesetzlich vorgesehen.40 Im Übrigen lösen abweichende Rechtsauffassungen bezüglich Beschwerdeentscheidungen keine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG aus.41 Auf die Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG wird an späterer Stelle nach der Darstellung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch ausführlicher einzugehen sein.42

Das Umdeutungserfordernis wendete das Kammergericht auch auf den im Folgenden nicht weiter zu vertiefenden Fall an, in dem die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Aufhebung eines Haftbefehls eingelegt hatte und erst danach (im konkreten Fall auf Grund der Berufungseinlegung) ein Zuständigkeitswechsel eintrat.43

mit letzter Sicherheit ergibt, ob die Beschwerde vor Anklageerhebung eingelegt wurde); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS Bd. 83/92, 195. 38  Umdeutung von weiteren Beschwerden: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791; OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juli 1987 – 1 Ws 436/87, BeckRS 1987, 07013, wobei in diesem Fall im Ergebnis keine Umdeutung vorgenommen wurde, weil zuvor eine neue Haftentscheidung ergangen war, und somit nur noch diese mit der Beschwerde anfechtbar war (siehe oben S. 128); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 1 Ws 154/99, BeckRS 1999, 03060; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265; OLG Hamm, Beschluss vom 6. August 2013 – 5 Ws 286/13, BeckRS 2013, 14667 (Jugendsache). 39  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 40  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 121 Rn. 5a. 41  Vgl. Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 121 Rn. 31, 36; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG § 121 Rn. 5 f.; Frister, in: SK IX 2016, GVG, § 121 Rn. 17. 42  Siehe dazu ab S. 274 und die dortigen Nachweise. 43  KG, Beschluss vom 21. November 2017 – 2 Ws 174/17 – 121 AR 233/17, BeckRS 2017, 136789.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Lösung des ersten Fallbeispiels nach der Rechtsprechung Alle Fallfragen zu dem ersten Fallbeispiel sowie dessen Abwandlung lassen sich nach der vorgenannten Rechtsprechung kurz beantworten: Es gibt kein Gericht, das für die Bescheidung der Haftbeschwerde zuständig ist. Die (weitere) Haftbeschwerde des U ist nach der Rechtsprechung „prozessual überholt“44, der Haftbefehl bzw. die Haftfortdauerentscheidung des E kann der U infolge der Anklageerhebung nicht mehr mit der Beschwerde anfechten.45 Da dem U kein anderes Rechtsmittel zusteht46, welches er unmittelbar gegen den Haftbefehl des E einlegen kann, ist dieser vielmehr überhaupt nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln anfechtbar. Der Haftbefehl beschwert den U zwar noch, weil er die rechtliche Grundlage für seine Inhaftierung schafft, ist aber als Beschluss nicht mehr mit den Mitteln des deutschen Rechtssystems angreifbar. Ganz gleich wie lange der U nun schon auf die Bescheidung seiner (weiteren) Haftbeschwerde wartet, er ist gezwungen, zunächst durch eine Haftprüfung nach § 117 StPO eine Entscheidung des nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO mit der Sache befassten Gerichts abzuwarten. Erst dann kann er die Haftbeschwerde nach § 304 Abs. 1 StPO einlegen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Praxis der Rechtsprechung im Widerspruch zu dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, das Rechtsmittelverfahren für den Untersuchungsgefangenen ohne gesetzliche Not verzögert. Indes dürften die praktischen und insbesondere zeitlichen Nachteile für U nur dann verhältnismäßig gering sein, wenn der U die Beschwerde nach Anklageerhebung (entgegen § 306 Abs. 1 StPO47) unmittelbar bei dem ursprünglichen Beschwerdegericht einlegt und dies auch das zuständige Tatgericht ist. So wird die Beschwerde bei dem Gericht eingelegt, das nunmehr das mit der Sache befasste Gericht gemäß § 126 Abs. 1 Satz 2 StPO ist. Entscheidet dieses umgehend über den umgedeuteten Haftprüfungsantrag, kann U diese Entscheidung ggf. sofort erneut mit der Beschwerde anfechten. In allen anderen Fallkonstellationen liegt eine Verzögerung durch die Umdeutung der Beschwerde auf der Hand. 44  So bezeichnete erstmals das OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574; die Beschwerde als „verfahrensrechtliche überholt“. Diese oder ähnliche Formulierungen wurden daraufhin häufig verwendet; statt vieler: OLG Hamm, Beschluss vom 27. Juni 1977 – 1 Ws 142/77, JMBl. NW 1977, 249 = BeckRS 1977, 01758; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791; KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310). 45  So bereits das OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723. 46  Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der dem Betroffenen nach der Rechtsprechung noch zustehende Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO rein dogmatisch kein Rechtsmittel gegen den Haftbefehl selbst darstellt; siehe dazu oben ab S. 113. 47  Allerdings ist die früher vorgesehene Möglichkeit, die Beschwerde auch bei dem Beschwerdegericht einzulegen, abgeschafft, vgl. BGBl. I Nr. 31 vom 11. Juni 1986, S. 982; Matt, in: L-R VII-1 2014, § 306 Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 306 Rn. 1/2.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 201 Im schlimmsten Fall der Abwandlung verliert U sogar eine bereits erstrittene Beschwerdeentscheidung, wenn Anklage erhoben wird während die weitere Beschwerde nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO anhängig ist. Er muss den Instanzenzug sodann erneut beschreiten, nachdem er eine anfechtbare Haftentscheidung des Tatgerichts erstritten hat. Der Film des Verfahrens wird quasi „zurückgespult“.

II. Sonderkonstellation 1: Anklageerhebung zum Strafrichter Fallbeispiel 2 Ausgangssachverhalt: Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert. Der Haftbefehl wurde von dem zuständigen Ermittlungsrichter E beim Amtsgericht A erlassen. U legt gegen den Haftbefehl Beschwerde ein. E hilft dieser nicht ab und legte sie zur Entscheidung dem Landgericht vor. Bevor das Landgericht die Beschwerde bescheidet, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage zum Strafrichter beim Amtsgericht A. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig? Abwandlung (Anklageerhebung während des Beschwerdeverfahrens): Unterstellen Sie, dass das Landgericht die Haftbeschwerde bereits negativ beschieden hat und U weitere Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl des E zum Oberlandesgericht eingelegt hat. Bevor das Oberlandesgericht die weitere Haftbeschwerde bescheidet, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage zum Strafrichter beim Amtsgericht A. Welches Gericht ist zur Bescheidung der weiteren Beschwerde zuständig?

Bereits im Jahr 1977 erklärte das Oberlandesgericht Karlsruhe48 in einem obiter dictum, dass das Umdeutungserfordernis auch bei der Anklageerhebung zum Strafrichter gelte.49 Ebenso entschied im Jahr 1997 das Oberlandesgericht Naumburg auf eine etwas untypische Beschwerde der Staatsanwaltschaft, der eine Haftbeschwerde des Betroffenen voraus gegangen ist.50 Der auf Grund des Haftbefehls vom 19. Oktober 1996 in Untersuchungshaft befindliche Betroffene 48  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Juli 1977 – 1 Ws 248/77, Die Justiz 1977, 433; wobei eine Umdeutung nach dem OLG Karlsruhe nicht veranlasst sein soll, wenn Anklage gerade zu dem Strafrichter erhoben wird, der zuvor auch als Haftrichter zuständig war; dazu im Folgenden. 49  Vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341 bzgl. der Auswirkungen der Klageerhebung zum Strafrichter auf die zuvor eingelegte Beschwerde gegen eine vorläufige Entziehung der Fahr­ erlaubnis. Vgl. zu Zuständigkeitswechseln im Zusammenhang mit Beschwerden gegen Maßnahmen i. S. d. § 162 StPO insgesamt unten ab S. 249. 50  OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

hatte gegen die Haftfortdauerentscheidung des Amtsgerichts vom 6. November 1996 am 11. November 1996 Beschwerde eingelegt. Am 14. November 1996 half der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht dieser nicht ab und legte die Beschwerde dem Landgericht zur weiteren Entscheidung vor. Am 21. November 1996 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Strafrichter beim Amtsgericht. Mit Beschluss vom 2. Dezember 1996 erklärte sich das Landgericht für unzuständig zur Bescheidung der Haftbeschwerde mit der Begründung, diese sei auf Grund der zwischenzeitlichen Anklageerhebung nunmehr in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten, welcher der nun mit der Sache erstinstanzlich befasste Strafrichter zu bescheiden habe. Hiergegen legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein. Zur Begründung führte sie an, dass eine entsprechende Umdeutung nur bei einer Anklageerhebung zum Schöffengericht oder zum Landgericht möglich sei, da anderenfalls theoretisch eine Personenidentität zwischen Haftrichter und Strafrichter möglich sei und in diesem Fall abweichende Entscheidungen nicht zu erwarten seien. Das Oberlandesgericht Naumburg entschied, das Landgericht habe sich zu Recht für unzuständig erklärt. Das Landgericht verliere durch die Anklageerhebung auch dann die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Beschwerde, wenn zwischenzeitlich Anklage zum Strafrichter erhoben worden sei. Denn dann entfiele nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht nur die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters, sondern auch die des diesem zugeordneten Instanzenzugs.51 Auch im Falle der Anklageerhebung zum Strafrichter sei daher die Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten und dem erstinstanzlich zuständigen Strafrichter vorzulegen. Es gäbe keinen sachlichen Grund für eine Differenzierung zwischen Landgericht, Schöffengericht und Strafrichter. Eine solch klare Differenzierung sei auch der juristischen Literatur nicht deutlich zu entnehmen. Soweit in der juristischen Literatur konkret Bezug auf die Umdeutung nach Anklageerhebung zum Landgericht und Schöffengericht genommen worden sei52, sei damit die Umdeutung nach einer Anklage zum Strafrichter rein sprachlich nicht deutlich ausgeschlossen. Eine solche Differenzierung sei mangels gesetzlicher Grundlage oder jedenfalls sachlichen Grundes nicht angezeigt.53

51  Die Entscheidung verweist hier auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195, 196; Boujong, in: KK 1993, § 125 Rn. 8; Wendisch, in: L-R II 1989, § 125 Rn. 6. 52  So z. B. Boujong, in: KK 1993, § 126 Rn. 8; Meyer-Goßner, in: StPO 1995, § 117 Rn 12. 53  OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250, 251.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 203

Auch bei einer Anklageerhebung zum Schöffengericht sei denkbar, dass der Vorsitzende des Schöffengerichts, der außerhalb der Hauptverhandlung alleine Haftentscheidungen treffen könne, personenidentisch mit dem Haftrichter sei.54 Jedenfalls habe eine Umdeutung mit der Folge der Unzuständigkeit des Landgerichts zu erfolgen, da anderenfalls in der gleichen Haft­sache zwei Gerichte, nämlich der Strafrichter nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und fortwährend das Landgericht als Beschwerdegericht, zuständig wären und so eine Doppelzuständigkeit mit der Gefahr divergierender Entscheidungen bestünde.55 Lösung des zweiten Fallbeispiels Auch die Fallfragen zum zweiten Fallbeispiel lassen sich auf Grundlage der Rechtsprechung kurz beantworten: In dieser Konstellation ist ebenfalls kein Gericht für die Bescheidung der (weiteren) Haftbeschwerde gegen den haftrichterlichen Haftbefehl zuständig. Auch in dieser Konstellation ist der den U weiterhin belastende Haftbefehl nicht mehr unmittelbar angreifbar. Hinsichtlich der Einlegung der Beschwerde zum Landgericht ergibt sich dies unmittelbar aus der vorgenannten Entscheidung des Oberlandesgericht Naumburg.56 Unter Berücksichtigung der Argumentation des Oberlandesgerichts Naumburg kann allerdings nichts anderes gelten, wenn die Anklage während Anhängigkeit einer weiteren Beschwerde nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO erhoben wird. Würde keine Umdeutung vorgenommen, greift auch in dieser Konstellation die Argumentation des Oberlandesgerichts Naumburg hinsichtlich der doppelten Zuständigkeit und der daraus resultierenden Gefahr divergierender Entscheidungen. In beiden Konstellationen des zweiten Falleispiels ist die (weitere) Haftbeschwerde des U „prozessual überholt“57. Er ist gezwungen, zunächst eine erneute Haftentscheidung des mit der Sache befassten Strafrichters beim Amtsgericht A i. S. d. § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO abzuwarten, um sodann gegen diese im Wege der Beschwerde vorgehen zu können. Der Instanzenzug gegen die ursprüngliche Haftentscheidung des E kann er nicht mehr ausschöpfen. Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte wird dem inhaftierten U auch im zweiten Fallbeispiel erheblich Zeit kosten.

54  Diese Erwägung bewog auch die Generalstaatsanwaltschaft unter anderem dazu, im Rahmen ihrer Stellungnahme zu beantragen, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. 55  Auch diese Erwägung teilte die Generalstaatsanwaltschaft, vgl. OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250. 56  OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250. 57  Siehe dazu S. 238.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

III. Sonderkonstellation 2: Umdeutung in Aufhebungsantrag Fallbeispiel 3 Gegen den Untersuchungsgefangenen U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO ein Haftbefehl erlassen worden. Der Haftbefehl wird jedoch nicht vollstreckt58. Der Haftbefehl wurde vor Anklageerhebung durch den zuständigen Ermittlungsrichter E erlassen. U legt gegen den Haftbefehl Beschwerde ein. Bevor die Beschwerde beschieden wird, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig?

1. Als Überhaft notierter Haftbefehl Mit der Konstellation des dritten Fallbeispiels beschäftige sich das Oberlandesgericht Stuttgart Ende des Jahres 1976.59 Nachdem der Betroffene in Untersuchungshaft genommen worden war, wurde die Untersuchungshaft am 24. Oktober 1975 zur Vollstreckung mehrerer Freiheitsstrafen bis voraussichtlich zum 15. November 1978 unterbrochen und entsprechend als Überhaft notiert. Am 25. Mai 1975 wurde gegen den Betroffenen wegen der Vorwürfe, derentwegen der Untersuchungshaftbefehl erlassen wurde, Anklage zum Landgericht erhoben. Der Betroffene hatte wiederholt beim Landgericht die Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls beantragt und auch eine entsprechende Beschwerde eingelegt. Zur Begründung führte er unter anderem aus, die schlichte Existenz des als Überhaft notierten Untersuchungshaftbefehls wirke sich auf den Vollzug seiner Strafhaft hinsichtlich der Urlaubsgewährung und anderen Vollzugs­ lockerungen sowie einer etwaigen Entscheidung über eine vorzeitige bedingte Haftentlassung aus. Das Landgericht vertrat die Ansicht, die Ein­gaben seien jeweils in einen Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO umzudeuten. Ein solcher sei jedoch nur während der Vollstreckung des Haftbefehls60 oder wenn diese unmittelbar bevorstehe zulässig.61 Da die Untersuchungshaft gegen den Betroffenen nicht vollstreckt wurde und die Vollstreckung auch nicht unmittelbar bevorstand, verwarf das Landgericht die in einen Haftprüfungsantrag umgedeuteten Eingaben des Betroffenen jeweils als unzulässig.

58  Für dieses Fallbeispiel ist unerheblich, aus welchem Grund der Haftbefehl nicht vollstreckt wird. 59  OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris. 60  Dünnebier, in: L-R I 1971, § 117 Anm. 2b. 61  OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1974 – 1 Ws 329, 345/74, MDR 1974, 861 (siehe oben S. 114); vgl. Kleinknecht, StPO 1977, § 117 Anm. 1.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 205

Gegen eine dieser Entscheidungen legte der Betroffene Beschwerde zum Oberlandesgericht ein. Das Oberlandesgericht Stuttgart hob den Untersuchungshaftbefehl nicht auf, sondern hielt sich nicht zu einer Entscheidung in der Sache befugt. Es stimmte dem Landgericht nach Auseinandersetzung mit den Beschlüssen des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 11. April 197262 und des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 26. Oktober 197263 sowie unter Berücksichtigung der Literatur64 auch insoweit zu, dass die Entscheidung über die Beschwerde gegen den Haftbefehl des Haftrichters auf Grund des durch die Anklageerhebung eingetretenen Zuständigkeitswechsels nicht mehr beschieden werden könne und eine Umdeutung vorzunehmen sei. Dass die Zuständigkeit des Haftrichters entfalle, sei auch sachgemäß, da das Tatgericht gerade auf Grund seiner Befassung die sachnächste Entscheidung treffen könne.65 Gegen die Auffassung des OLG Frankfurts66 führt das OLG Stuttgart aus, die fortbestehende Beschwerdemöglichkeit gegen die ermittlungsrichterliche Haftentscheidung führe zu einer Doppelzuständigkeit, da in diesem Fall auch der Ermittlungsrichter selbst noch eine für den Betroffenen positive Abhilfeentscheidung treffen können.67

62  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723; siehe oben S. 194. 63  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478; siehe oben S. 196. 64  Hier nehmen die Gründe Bezug auf Kleinknecht, StPO 1977, § 117 Anm. 2 [sic! Gemeint ist wohl § 125 Anm. 2]; auch auf die damaligen Gegenansichten in der Literatur von Dünnebier und Müller/Sax (siehe oben Fn. 23, S. 196, Fn. 25, S. 196, Fn. 26, S. 197) wird hingewiesen. Hinsichtlich der Auffassung Dünnebiers, der Haftbefehl gelte mit Anklageerhebung als solcher des Tatgerichts, führte das OLG Stuttgart aus, es handele sich um eine reine Fiktion, dem Tatgericht die Haftentscheidung des Ermittlungsrichters zuzurechnen, obwohl dieses regelmäßig erst nach § 207 Abs. 4 StPO mit der Eröffnungsentscheidung eine Haftentscheidung träfe. Die Ansicht von Müller/Sax führe demgegenüber zu einer Doppelzuständigkeit, die die Zuständigkeitsregel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO gerade vermeiden solle. 65  So auch KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310). In Übereinstimmung mit der Praxis stellte das OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris jedoch ebenfalls fest, dass das Tatgericht nach Anklageerhebung regelmäßig erst im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses nach § 207 Abs. 4 StPO über die Haftfortdauer entscheidet und zwischen Anklageerhebung und diesem Haftfortdauerbeschluss ein erheblicher Zeitraum liegen kann. 66  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196). 67  OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Weiter könne bei nicht vollzogener Untersuchungshaft tatsächlich keine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag vorgenommen werden.68 Dennoch müsse dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, sich gegen den Untersuchungshaftbefehl zur Wehr zu setzen. Aus diesem Grund sei eine Umdeutung in einen einfachen Antrag auf Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls69 in entsprechender Anwendung des § 117 Abs. 1 StPO angezeigt. Insoweit habe der Haftbefehl „Vollzugswirkung“, weil er trotz seiner Außervollzugsetzung Einfluss auf die Ausgestaltung der Strafhaft habe. Über diesen Antrag habe grundsätzlich ebenfalls das erstinstanzlich mit der Sache befasste Gericht zu entscheiden. In dem konkreten Fall entschied das Oberlandesgericht Stuttgart als Beschwerdegericht nach § 309 StPO bemerkenswerterweise zur Verfahrensbeschleunigung in der Sache selbst. Das Oberlandesgericht Stuttgart erkannte also die mit der Umdeutungspraxis einhergehende Verzögerung, sah sich hierdurch in der Sache allerdings nicht zu einer von der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Karlsruhe70 abweichenden Entscheidung veranlasst.71 2. Außer Vollzug gesetzter Haftbefehl Unter Bezugnahme auf die vorgenannte Entscheidung beschlossen auch das Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 198672 und das Oberlandesgericht Frankfurt im Jahr 199673, die Beschwerde sei durch einen Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in entsprechender Anwendung des § 117 StPO in einen Antrag auf Aufhebung des Untersuchungshaftbefehls umzudeuten, wenn der Haftbefehl nicht vollstreckt werde und ein Haftprüfungsantrag daher unzulässig sei.74 In beiden Fälle war jedoch bereits Berufung eingelegt und die Akten waren dem Berufungsgericht bereits nach § 321 Satz 2 StPO zugeleitet worden, sodass die Zuständigkeit auf dieses übergegangen war. Auf die Auswirkungen der Berufungseinlegung auf anhängige Haftbeschwerden wird in eine folgenden Sonderkonstellation noch im Einzelnen einzugehen sein.75 68  Siehe

oben S. 114. oben S. 120. 70  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 71  OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris. 72  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145. 73  OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302. 74  Siehe oben S. 114. 75  Siehe dazu S. 220 ff. 69  Siehe



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 207

Zu der Bescheidung des umgedeuteten Antrags sei nach den erkennenden Oberlandesgerichten Karlsruhe und Frankfurt in den konkreten Fällen die durch die Berufungseinlegung zuständige Berufungskammer zuständig.76 Erst gegen die auf diesen Antrag getroffene Entscheidung könne Beschwerde zum Oberlandesgericht eingelegt werden.77 Lösung des dritten Fallbeispiels In Anwendung der Rechtsprechung ist auch in der zweiten Sonderkonstellation die Beschwerde gegen einen nicht vollzogenen Haftbefehl des Ermittlungsrichters E überhaupt nicht zulässig, sobald die Zuständigkeit durch die Anklageerhebung78 gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf das mit der Sache befasste Gericht übergeht. Somit ist auch kein Gericht für die Bescheidung der Beschwerde zuständig; die Beschwerde ist gegenstandslos. Da jedoch eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag nach § 117 StPO mangels Vollzugs der Untersuchungshaft nicht möglich ist, erfolgt eine Umdeutung in einen einfachen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls. In der Sache ändert dies nichts: U ist erneut darauf verwiesen, eine Haftentscheidung des nun gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO mit der Sache befassten Gerichts abzuwarten, bevor er mit der Beschwerde gegen die Untersuchungshaft vorgehen kann. Während die dadurch entstehende Verzögerung mangels Vollzugs des Haftbefehls für den U praktisch weniger einschneidend sein dürfte, als in den übrigen Konstellationen, ist die Verzögerung dennoch beachtlich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt der Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen auch, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird.79

IV. Sonderkonstellation 3: Anklageerhebung zu der Beschwerdekammer Fallbeispiel 4 Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert. Der Haftbefehl wurde vor Anklageerhebung zum Landgericht durch den zuständigen Ermittlungsrichter E erlassen. U legt gegen den Haftbefehl 76  Das OLG Frankfurt verweist in seinem Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302 auf die Nachweise in Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 1995, § 117 Rn. 12 sowie Boujong, in: KK 1993, § 126 Rn. 8. 77  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145; OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302. 78  Oder die Zuleitung der Akten an das Berufungsgericht in Folge der Berufungseinlegung nach § 321 Satz 2 StPO; siehe zu der Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Rechtsprechung im Berufungsverfahren im Einzelnen ab S. 220. 79  BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 669; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 112 Rn. 6; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 497; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 896; vgl. ferner oben S. 167.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Beschwerde ein. Die Beschwerdekammer bescheidet die Beschwerde negativ. U legt weitere Beschwerde gegen den Haftbefehl zum Oberlandesgericht ein. Bevor das Oberlandesgericht die Beschwerde bescheidet, erhebt die Staatsanwaltschaft zwei Wochen nach der Entscheidung des Landgerichts über die Beschwerde Anklage zu derselben Kammer, die nach dem internen Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts zuvor auch die Beschwerde des U beschieden hat. Zwischen der Bescheidung der Beschwerde durch das Landgericht und der Anklageerhebung traten keine neuen Ermittlungsergebnisse zu Tage. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig?

Zwischen den Oberlandesgerichten besteht grundsätzliche Einigkeit auch insoweit, dass eine anhängige Beschwerde in Folge der Anklageerhebung und dem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten sei, wenn derselbe Spruchkörper zuvor als Beschwerdekammer eine Haftentscheidung getroffen hatte. Uneinigkeit in der Rechtsprechung besteht jedoch dann, wenn derselbe Spruchkörper die mit der Beschwerde angefochtene Haftentscheidung erst kurz vor der Anklagerhebung getroffen hat:80 1. Keine Umdeutung bei Haftentscheidung desselben Spruchkörpers kurz vor Anklageerhebung Einige Oberlandesgerichte vertreten übereinstimmend die Auffassung, dass eine Umdeutung einer (weiteren) Beschwerde nicht erforderlich ist, wenn derselbe Spruchkörper, der durch die Anklageerhebung als Tatgericht zuständig geworden ist kurz zuvor eine begründete Beschwerdeentscheidung getroffen hat. Eine Umdeutung sei in diesen Fällen nicht vorzunehmen und die (weitere) Beschwerde daher als solche zu bescheiden. Begründet wird diese Ausnahme damit, dass nicht davon ausgegangen werden könne, die Sachlage habe sich binnen kurzer Zeit so verändert, dass eine abweichende Haftentscheidung desselben Spruchkörpers erwartet werden könne. Damit würde die Umdeutung und damit die erneute Entscheidung desselben Spruchkörpers eine reine nicht gebotene Förmelei darstellen, die das Verfahren ohne sachlichen Grund verzögere.81 80  Siehe

zu den einzelnen Entscheidungen die nachfolgenden Verweise. Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692; KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184; KG, Beschluss vom 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189; KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290; OLG Köln, Beschluss vom 21. Januar 2003 – 2 Ws 21/03, BeckRS 2003, 18085; OLG Köln, Beschluss vom 11. November 2003 – 2 Ws 599/03, BeckRS 2003, 18091; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402; OLG Hamm, Beschluss 81  OLG



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 209

Zwischen den verschiedenen Oberlandesgerichten, die diese Ausnahme vertreten, ist jedoch nicht abschließend geklärt, wann zwischen zwei Beschwerdeentscheidungen so viel Zeit vergangen ist, dass in solchen Fällen dennoch eine Umdeutung vorzunehmen ist. In einem vom Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 1977 entschiedenen Fall82, legte der Betroffene vor Anklageerhebung Beschwerde gegen den Haftbefehl ein. Die Beschwerde verwarf die zuständige 5. Strafkammer am 22. Juli 1977. Am 3. August 1977 legte der Betroffene weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht ein. Die Staatsanwaltschaft erhob am 5. August 1977 Anklage zur 5. Strafkammer, die zuvor die Beschwerde negativ beschieden hatte. Zwischen der Beschwerdeentscheidung und der Anklageerhebung lagen 14 Tage. Die Strafkammer half der weiteren Beschwerde nicht ab und legte sie zur weiteren Entscheidung dem Oberlandesgericht vor. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Auffassung, es habe eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag zu erfolgen, über den die nun als Tatgericht zuständige 5. Strafkammer zu entscheiden habe.83 Unter Bezugnahme auf seine Grundsatzentscheidung84 erklärt das Oberlandesgericht Karlsruhe nunmehr, eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag sei infolge der Anklageerhebung in einem solchen Fall nicht vorzunehmen, da eine weitere Haftentscheidung derselben Kammer binnen kurzer Zeit nicht erforderlich sei. Im vorliegenden Fall habe derselbe Spruchkörper erst kurz vor der Anklageerhebung eine ausreichend begründete Beschwerdeentscheidung getroffen. Eine Umdeutung und damit das Erfordernis einer weiteren Entscheidung führe „lediglich zu einer sachlich nicht gebotenen kurzfristig erneuten Entscheidung desselben Spruchkörpers“85, die „die erstrebte Anrufung des Beschwerdegerichts ohne sachlich zwingende Gründe verzögern würde“86.

vom 4. Juni 2013 – III-5 Ws 200/13, BeckRS 2013, 10994; OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022. Vgl. auch Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 45 f.; Krauß, in: Graf-StPO 2018, § 126 Rn. 6; Böhm/ Werner, in: MüKo 2014, § 126 Rn. 27. 82  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433. 83  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433. 84  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 85  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433. 86  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Dementsprechend hat auch das Oberlandesgericht Köln diese Ausnahme später in Fällen anerkannt, bei denen zwischen der begründeten Beschwerdeentscheidung und Anklageerhebung zu derselben Kammer nach Einlegung der weiteren Beschwerde lediglich fünf87 bzw. 18 Tage88 lagen. Mit der gleichen Begründung entscheidet das Kammergericht Berlin ebenfalls regelmäßig89, dass bei einem kurzen Zeitablauf – in einem konkreten Fall aus dem Jahr 1999 bei einem Zeitablauf von 15 Tagen90 – zwischen begründeter Beschwerdeentscheidung und Anklageerhebung zu der Kammer beim Landgericht, die kurz zuvor als Beschwerdekammer fungierte, ausnahmsweise keine Umdeutung vorzunehmen sei, sondern die zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bereits anhängige weitere Beschwerde zu bescheiden sei. Von dieser Ausnahme wird jedoch nach dem Dafürhalten des Kammergerichts91 eine Rückausnahme gemacht und doch eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag vorgenommen, wenn das Tatgericht die Hauptverhandlung zeitnah terminiert hat: „[Das Tatgericht] hat somit in der Hauptverhandlung die Möglichkeit, sich einen unmittelbaren Eindruck von dem Angeklagten und den Zeugen zu verschaffen, so daß es bei dem in § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgesehenen Grundsatz verbleiben muß, daß die Haftentscheidung zunächst von dem angesichts größerer Sachnähe und besserer Vertrautheit mit den tatsächlichen Umständen eher geeigneten erst­ instanzlichen Gericht getroffen wird“92.

In einem weiteren Fall, in dem zwischen der mit der weiteren Beschwerde angefochtenen Beschwerdeentscheidung und Anklageerhebung über sieben Wochen lagen, entschied das Kammergericht93, eine Umdeutung der Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag nach § 117 StPO sei angezeigt. Zum einen handele es sich bei einem Zeitraum von über sieben Wochen nicht 87  OLG Köln, Beschluss vom 11. November 2003 – 2 Ws 599/03, BeckRS 2003, 18091. 88  OLG Köln, Beschluss vom 21. Januar 2003 – 2 Ws 21/03, BeckRS 2003, 18085. 89  Als obiter dictum beispielsweise erwähnt in: KG, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 AR 297/99 – 5 Ws 160/99, BeckRS 2014, 2252; KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 WS 2/00; NStZ 2000, 444. 90  KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99; BeckRS 2014, 09290; m.W.N. 91  KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184. 92  KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184. 93  KG, Beschluss vom 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 211

mehr um einen so kurzen Zeitraum, dass davon gesprochen werden könnte, die Beschwerdeentscheidung sei „kurz zuvor“ getroffen worden. Zudem seien in der Zwischenzeit erfolgreich weitere Ermittlungen mit belastenden Ergebnissen vorgenommen worden. Auf Grundlage dieser hatte die Staatsanwaltschaft bereits den Erlass eines neuen (eine weitere Tat einschließenden) Haftbefehls bei dem mit der Sache nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO befassten Gericht beantragt. Auch weil dieses auf Grund des Antrags der Staatsanwaltschaft ohnehin eine neue Haftentscheidung treffen müsste und diese mit dem umgedeuteten Haftprüfungsantrag verbunden werden könne, sei die Umdeutung und die weitere Haftentscheidung des Tatgerichts keine bloße Förmelei.94 Bemerkenswerterweise wendet das Kammergericht den letztgenannten Aspekt nicht konsequent auf alle Fälle mit vergleichbarem Sachverhalt an. Auch in dem erstgenannten Beschluss des Kammergerichts95 war nach Anklageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft bei dem nun nach § 126 Abs. 2 Satz 1 befassten Gericht auf Grundlage weiterer Ermittlungsergebnisse ein neuer (eine weitere Tat einschließenden) Haftbefehl beantragt worden. Die Differenzierung beider Fälle durch das Kammergericht erscheint auf Grundlage des veröffentlichten Inhalts der vorliegenden Beschlüsse nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Zuletzt entschied das Oberlandesgericht München im Jahr 201896, dass eine Umdeutung in einem Fall nicht angezeigt sei, in dem die durch die Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig gewordene Kammer am 13. Februar 2018 sieben Tage vor der Anklageerhebung am 20. Fe­ bruar 2018 und zehn Tage vor Einlegung der weiteren Beschwerde am 23. Februar 2018 eine Haftbeschwerde des Betroffenen als unbegründet verworfen hatte. Der Senat führte hierzu aus, dass eine Umdeutung einen reinen Formalismus darstellen würde, „da ohnehin nicht mit einer anders lautenden Entscheidung zu rechnen wäre und [die Umdeutung] zudem nur zu einer Verzögerung der Entscheidung über die Haftbeschwerde führen“97 würde. Somit verwarf das Oberlandesgericht die weitere Beschwerde trotz zwischenzeitlicher Anklageerhebung als unbegründet.

94  KG, Beschluss vom 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189. 95  KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290. 96  OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022. 97  OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Der Betroffene legte gegen den ursprünglichen Haftbefehl des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht aus Dezember 2017, sowie gegen die ablehnenden Beschwerdeentscheidungen des Landgerichts sowie des Oberlandesgerichts München Verfassungsbeschwerde ein. Auf die diesbezügliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird an späterer Stelle98 noch einzugehen sein. Das Oberlandesgericht Koblenz dagegen deutete in einer Entscheidung aus dem Jahr 201399 zwar an, dass eine Umdeutung einer anhängigen weitere Beschwerde ggf. nicht vorzunehmen sei, wenn die als Tatgericht zuständige Kammer beim Landgericht bereits kurz vor der Anklageerhebung eine begründete Haftentscheidung als Beschwerdekammer getroffen habe. In dem konkreten Fall lag die begründete negative Beschwerdeentscheidung des Landgerichts zum Zeitpunkt der Anklageerhebung 16 Tage zurück. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist jedoch, dass das Oberlandesgericht Koblenz nicht, wie die Oberlandesgerichte in den übrigen in diesem Abschnitt dargestellten Beschlüssen, auf die Zeitspanne zwischen Beschwerdeentscheidung (26. Februar 2013) und Anklageerhebung (14. März 2013) abstellt, sondern ausdrücklich auf den Zeitraum zwischen der Beschwerdeentscheidung und der Entscheidung des Senats selbst (25. März 2013). Hierbei handelt es sich um einen Zeitraum von 27 Tagen. Die weitere Beschwerde des Betroffenen war am 1. März 2013 bei dem Landgericht eingegangen und wurde dem Senat am 14. März 2013 vorgelegt. Nach den Ausführungen des Oberlandesgerichts Koblenz100 gebe es bei einer solchen Zeitspanne (von 27 Tagen) keine Anhaltspunkte dafür, dass eine weitere Entscheidung derselben Kammer eine bloße Förmelei darstelle. Eine Änderung der haftrelevanten Umstände sei nicht ausgeschlossen. Dies sei allenfalls anzunehmen, wenn die Beschwerdeentscheidung der Beschwerdekammer erst wenige Tage zuvor ergangen war.101 Demnach führe die Anklageerhebung trotz der Identität zwischen Beschwerdekammer und der als Tatgericht zuständigen Kammer dazu, dass der Haftrichter nebst des ihm zugeordneten Instanzenzugs seine Zuständigkeit vollständig verliere.102 Da98  Siehe 99  OLG

dazu ab S. 275. Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014,

03402. 100  OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402. 101  Hier verweist das OLG Koblenz auf einen anderen Beschluss des OLG Ko­ blenz vom 5. Mai 2009 (2 Ws 185/09), welchen die Verfasserin trotz Anfrage bei dem OLG Koblenz nicht erhalten und somit nicht nachvollziehen konnte. 102  Die Gründe des Beschlusses verweisen hier auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195; Schultheis, in: KK 2008,



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 213

her sei die weitere Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten und dem erstinstanzlich zuständigen Landgericht vorzulegen.103 Zuvor hatte das Oberlandesgericht Karlsruhe in einer Entscheidung aus dem Jahr 1994104 konkretisiert, dass jedenfalls ein Zeitraum von drei Monaten zu lange sei, um von einer Umdeutung absehen zu können. Diesem Fall lag jedoch eine andere prozessuale Situation zu Grunde: Hier hatte der Betroffene vor Anklageerhebung Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl beim Haftrichter beim Amtsgericht eingelegt. Dieser half der Beschwerde noch vor Anklageerhebung nicht ab und auch das Landgericht beschied sie am 14. April 1994 negativ. Eine weitere Beschwerde legte der Betroffen nicht ein. Sodann erhob die Staatsanwaltschaft am 21. April 1994 Anklage zu derselben Kammer, die zuvor über die Beschwerde entschieden hatte. Bevor das Landgericht eine eigene Haftentscheidung als das mit der Sache gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO befasste Gericht getroffen hatte, legte der Betroffene nach Anklageerhebung erneut Haftbeschwerde ein. Das Landgericht half der Beschwerde unter Verweis auf seine vorangegangene Beschwerdeentscheidung nicht ab.105 Das Oberlandesgericht Karlsruhe stellte unter Verweis auf seine Entscheidung aus dem Jahr 1977106 klar, dass die Umdeutung einer Haftbeschwerde in einen erstinstanzlichen Haftprüfungsantrag jedenfalls dann vorzunehmen sei, wenn der gleiche Spruchkörper des angerufenen Gerichts über dieselbe Haftsache einige Zeit (in diesem Fall über drei Monate) zuvor bereits als Beschwerdegericht entschieden hatte.107 Eine zwischenzeitliche Änderung der Sachlage könne bei einer Zeitspanne von drei Monaten nicht ausgeschlossen werden, sodass die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Tatgerichts bestehe. Die Nichtabhilfe der Beschwerde und Vorlage an das Oberlandesgericht nebst Verweis auf die vorangegangene eigene Entscheidung sei daher nicht zulässig. Insbesondere sei die Nichtabhilfeentscheidung auch

§ 125 Rn. 8; Hilger, in: L-R 2007, § 125 Rn. 9; Meyer-Goßner, StPO 2012, § 117 Rn. 12. 103  Die Gründe des Beschlusses verweisen hier auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195; Meyer-Goßner, StPO 2012, § 117 Rn. 12. 104  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692. 105  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692. 106  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Juli 1977 – 1 Ws 248/77, Die Justiz 1977, 433. 107  Die Gründe verweisen hier auf Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 1993, § 117 Rn. 12; Boujong, in: KK 1993, § 126 Rn. 8.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

nicht als Haftprüfungsentscheidung anzusehen, weil sie dem Betroffenen im konkreten Fall nicht bekannt gemacht worden war.108 Entgegen der Entscheidung des Oberlandesgericht Koblenz109 ist richtigerweise und im Einklang mit den übrigen dargestellten Entscheidungen der Oberlandesgerichte der maßgebliche Zeitraum also der, der zwischen zwei (potenziellen) Beschwerdeentscheidungen liegt: War die weitere Beschwerde zum Zeitpunkt der Anklageerhebung bereits rechtshängig, sodass diese nach der Rechtsprechung eigentlich in einen Haftprüfungsantrag hätte umgedeutet werden müssen, ist der Zeitpunkt der Anklageerhebung maßgeblich. Anderenfalls käme es – wie die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz110 zeigt – zur Bestimmung des maßgeb­ lichen Zeitraums vor allem darauf an, wann der zuständige Senat des jeweiligen Oberlandesgerichts Kapazitäten hat111, um die weitere Beschwerde zu bescheiden. Die Frage der Zulässigkeit einer weiteren Beschwerde darf aber nicht von dem unkalkulierbaren Zeitplan des jeweiligen Senats abhängen. Es muss daher aus Gründen der Rechtssicherheit auf den Zeitpunkt der Anklageerhebung ankommen, der die Rechtsfolgen des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auslöst. Wird die Beschwerde oder weitere Beschwerde jedoch erst nach der Anklageerhebung eingelegt, kommt es auf den Zeitraum zwischen der ersten Beschwerdeentscheidung und der nächsten Beschwerdeeinlegung an. Denn zum Zeitpunkt der Anklageerhebung war keine Beschwerde anhängig, auf die sich der Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nach den Regeln der Rechtsprechung unmittelbar hätte auswirken können. Insofern ist hinsichtlich des dargestellten Beschlusses des Oberlandesgerichts München112 zu ergän108  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692; OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (in diesem Fall war eine Zustellung nach dem OLG Hamm aber noch möglich; siehe oben S. 221); OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213. 109  OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 110  OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 111  Die Verfasserin verkennt nicht, dass der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen auch für Beschwerdeentscheidungen der Senate umfänglich Geltung beansprucht. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass in Einzelfällen die Senate zeitgleich mit mehreren umfangreichen Haftsachen, seien es erstinstanzliche Hauptverhandlungen, Revisionsverfahren oder Beschwerdesachen, befasst sind und so trotz beschleunigter Bearbeitung der Haftsachen kapazitätsbedingte Verzögerungen eintreten können. 112  OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022 (siehe oben S. 211).



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 215

zen, dass der maßgebliche Zeitraum in diesem Fall, in dem die weitere Beschwerde erst nach Anklageerhebung eingelegt wurde, sieben Tage betrug. 2. Grundsätzliche Umdeutung bei Beschwerdeentscheidung desselben Spruchkörpers kurz vor Anklageerhebung Demgegenüber nehmen einige Oberlandesgerichte auch dann strikt eine Umdeutung vor, wenn derselbe Spruchkörper, zu dem nun Anklage erhoben wird und der über den umgedeuteten Haftprüfungsantrag zu entscheiden hat, erst kurz zuvor eine negative Beschwerdeentscheidung getroffen hat.113 In einem vom Oberlandesgericht Hamm im Jahr 1991 zu entscheidenden Fall114 verwarf die Beschwerdekammer die gegen den Haftbefehl erhobene Beschwerde am 25. September 1991. Nachdem der Betroffene gegen diese Entscheidung am 1. Oktober 1991 weitere Beschwerde eingelegt hatte, erhob die Staatsanwaltschaft am 14. Oktober 1991 Anklage zum Landgericht. Zwischen der Verwerfung der Beschwerde am 25. September 1991 und der Anklageerhebung am 14. Oktober 1991 lagen 19 Tage. Nach dem internen Geschäftsverteilungsplan des Landgerichts war die als Tatgericht zuständige Kammer identisch mit der Beschwerdekammer, die die Beschwerde zuvor verworfen hatte. Diese traf die Nichtabhilfeentscheidung hinsichtlich der weiteren Beschwerde am 16. Oktober 1991 und leitete die Akten an das Oberlandesgericht weiter. Das Oberlandesgericht Hamm stellte knapp fest, es entspreche einhelliger Auffassung, dass eine Beschwerde durch den Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten sei, über den das nun zuständige Tatgericht zu entscheiden habe.115 Aus diesem Grund sei das Oberlandesgericht selbst zu einer Entscheidung nicht mehr befugt.

113  OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482; OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570; Thüringisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. September 2005 – 1 Ws 336/05 –, juris. Vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 12; Posthoff, in: HK 2012, § 117 Rn. 15, § 126 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo 2014, § 117 Rn. 39; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21 (nur bzgl. Beschwerdeeinlegung vor Anklageerhebung); wohl auch Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 39. 114  OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990. 115  Das OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 verweist hier auf Kleinknecht/Meyer, StPO 1991, § 117 Rn. 12 und die dort angegebenen weiteren Nachweise.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Die Identität zwischen der Beschwerdekammer und der als Tatgericht zuständigen Kammer rechtfertige keine Ausnahme.116 Diese Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm aus dem Jahr 1991117 vertrat auch das Oberlandesgericht Düsseldorf im Jahr 1992.118 In diesem Fall war gegen den Betroffenen erst nach erstinstanzlicher Verurteilung am 8. Mai 1992 Haftbefehl erlassen worden. Das Urteil griff der Betroffene mit der Berufung an, den Haftbefehl mit der Haftbeschwerde, welche die zweite Kammer als Beschwerdekammer am 23. Juni 1992 verwarf. Der Betroffene legte gegen diese Entscheidung weitere Beschwerde ein. Die Berufungsakten wurden der zweiten Kammer als Berufungskammer erst danach – am 7. Juli 1992 – nach § 321 Satz 2 StPO119 zugeleitet, sodass der Zuständigkeitswechsel eintrat.120 Zwischen der Beschwerdeentscheidung und dem Eintritt des Zuständigkeitswechsels lagen 14 Tage.121 Ohne auf die Dauer dieses Zeitraums einzugehen, erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf jedoch, dass die Berufungskammer nicht notwendigerweise identisch mit der Beschwerdekammer sei und die Zulässigkeit der weiteren Beschwerde nicht von dem individuellen internen Geschäftsverteilungsplan des jeweiligen Landgerichts abhängig sein könne. Demnach sei die weitere Beschwerde unabhängig von der Identität der Beschwerdekammer und der Berufungskammer in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten, über den nunmehr das zuständige Berufungsgericht zu entscheiden habe.122 In einer weiteren Entscheidung – ebenfalls aus dem Jahr 1992 – erklärte das Oberlandesgericht Düsseldorf in der gleichen Fallkonstellation ergänzend, die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts könne sich nicht danach richten, 116  OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990. 117  OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215). 118  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482. Vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO. 119  Zu der Fallkonstellation der Berufung im Einzelnen unten ab S. 220. 120  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe ab S. 221); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110 (siehe oben S. 223); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); Gössel, in: L-R VII-2 2013, § 321 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 321 Rn. 2; Paul, in: KK 2019, § 321 Rn. 4; Brunner, in: KMR V § 321 Rn. 4; Quentin, in: MüKo II 2016, § 321 Rn. 3; Frisch, in: SK 2016 VI, § 321 Rn. 6; Münchhalffen/ Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 101, 112; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 869. 121  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482. 122  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 217

wann die Beschwerdeentscheidung getroffen worden sei und welche Qualität ihrer Begründung beizumessen sei.123 Nach dem Oberlandesgericht Düsseldorf kommt es demnach alleine auf den Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels an. In einem Fall, den erneut das Oberlandesgericht Hamm im Jahr 1996124 zu entscheiden hatte, wurde die weitere Beschwerde gegen die Haftentscheidung der Beschwerdekammer vom 31. Mai 1996 erst nach der Anklageerhebung (ebenfalls am 31. Mai 1996) zum Landgericht – nämlich am 14. Juni 1996 – erhoben. Auch hier war nach dem internen Geschäftsverteilungsplan zur Entscheidung in der Hauptsache die Kammer berufen, die zuvor die negative Beschwerdeentscheidung erlassen hatte.125 Auch in diesem Fall – in der in Abweichung zu den vorgenannten Fällen die weitere Beschwerde erst nach der Anklageerhebung eingelegt wurde – entschied das Oberlandesgericht Hamm, die Voraussetzungen für eine eigene Entscheidung seien durch den Verlust der Zuständigkeit durch die Anklageerhebung nicht gegeben.126 Wegen der Anklageerhebung sei die ­ weitere Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten, über den das nunmehr nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständige Gericht zu entscheiden habe.127 Daran ändere auch die Identität zwischen Beschwerdekammer und zuständiger Strafkammer nichts, wenn kurz zuvor eine begründete Entscheidung über die Haftbeschwerde des Betroffenen getroffen worden sei.128 Es sei unverständlich, weshalb dies dazu führen solle, dass das Oberlandesge123  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO. 124  OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570. 125  OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570. 126  Die Gründe verweisen hier auf OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 127  Hier nehmen die Gründe Bezug auf die vorgenannte Entscheidung OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215) sowie Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 1995, § 117 Rn. 12 und die dortigen weiteren Nachweise. 128  Eine andere Auffassung vertrat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm in einem ähnlich gelagerten Fall in dem Beschluss vom 16. November 1993 – 3 Ws 596/93 – unveröffentlicht. In diesem kurzen Beschluss (auf dessen separate Darstellung an dieser Stelle verzichtet wird), wurde auf die Umdeutung der Haftbeschwerde verzichtet, weil die Strafkammer erst „kurz zuvor“ eine begründete Haftentscheidung getroffen hatte. Eine nähere Begründung, aus der sich insbesondere der maßgebliche Zeitraum ergibt, Nachweise oder überhaupt eine Auseinandersetzung mit der vorangegangenen Entscheidung des OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215) enthält der Beschluss jedoch nicht.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

richt die einmal verlorene Zuständigkeit wiedererlange. Überdies sei in Fällen wie dem vorliegenden, in dem noch keine Nichtabhilfeentscheidung getroffen worden war, nicht feststellbar, welches Gericht diese hätte treffen müssen.129 In einer neueren Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm aus dem Jahr 2013 erklärte ein anderer Senat ohne Bezugnahme auf die vorgenannten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Hamm130, dass eine Umdeutung nicht zu erfolgen habe, wenn dieselbe Kammer kurz zuvor eine begründete Haftentscheidung getroffen habe. Allerdings war dies in dem konkreten Fall nicht entscheidungserheblich, da die Anklage in diesem Fall gerade nicht zu derselben Kammer erhoben wurde, die zuvor über die Haftbeschwerde entschieden hatte.131 Ob die Senate des Oberlandesgerichts Hamm bezüglich dieser Frage divergierende Auffassungen vertreten132 oder das Oberlandesgericht Hamm seine Rechtsprechung einheitlich geändert hat, vermag die Verfasserin mangels weiterer aktueller veröffentlichter Entscheidungen zu dieser Frage nicht zu beurteilen.

129  OLG

5570.

Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996,

130  OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215); OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570 (siehe oben S. 217). 131  OLG Hamm, Beschluss vom 4. Juni 2013 – III-5 Ws 200/13, BeckRS 2013, 10994. 132  Dies wäre rechtlich selbst dann zulässig, wenn letztinstanzliche Haftbeschwerdeentscheidungen nach § 121 Abs. 2 GVG vorlagepflichtig wären, was allerdings nicht der Fall ist, vgl. dazu ausführlich ab S. 274. § 121 Abs. 2 GVG akzeptiert die sog. „Innendivergenz“ zwischen zwei Senaten desselben Oberlandesgerichts nach h. M., vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 121 Rn. 9; Feilcke, in: KK 2019, GVG, § 121 Rn. 21 f.; Kotz/Oğlakcıoğlu, in: MüKo III-2 2018, GVG § 121 Rn. 25; Frister, in: SK IX 2016, § 121 Rn. 15; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 121 Rn. 14; a. A. Franke, in: L-R X 2010, § 121 Rn. 43 ff.; Lilie, Divergenzausgleich, S. 42 ff. Als aktuelles Beispiel für eine Innendivergenz lässt sich das Beispiel des sog. „Punktehandelns in Flensburg“ anführen. In diesen Fällen gibt der tatsächliche Täter einer Verkehrsordnungswidrigkeit eine fremde (existierende) Person als Fahrer an, der für den tatsächlichen Fahrer gegen Zahlung einer Geldsumme die „Punkte in Flensburg“ übernimmt. Der zweite Strafsenat des OLG Stuttgart, Urteil vom 23. Juli 2015 – 2 Ss 94/15, NStZ 2016, 155, 155 ff. vertritt die Auffassung, dieses Verhalten sei für den tatsächlichen Täter nach § 164 Abs. 2, 25 Abs. 2 StPO StGB und für diejenige Person, die die Punkte übernimmt, nach § 164 Abs. 2, 27 Abs. 1 StGB strafbar. Der erste Strafsenat verneint die Strafbarkeit aller Beteiligten, vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 7. April 2017 – 1 Ws 42/17, NJW 2017, 1971, 1971 ff. Erst, wenn ein anderes Oberlandesgericht über denselben Sachverhalt letztinstanzlich zu entscheiden hat und (gezwungenermaßen) von der Auffassung einer der beiden Senate des OLG Stuttgarts abweichen will, entsteht eine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG; vgl. Hecker, NJW 2017, 1973, 1974.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 219 Das sich ebenfalls gegen die Ausnahme aussprechende Thüringische Oberlandesgericht133 gibt in einem Beschluss aus dem Jahr 2005 im Hinblick auf die Gegenauffassung zu Bedenken, dass das Kriterium einer Beschwerdeentscheidung „kurz vorher“ nicht hinreichend genau zu bestimmen sei und dies bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts zu Abgrenzungsschwierigkeiten führe. Auch an dieser Stelle ist nur am Rande zu bemerken, dass eine Divergenzvorlage nach § 121 Abs. 2 GVG auf Grund der abweichenden Auffassungen der Oberlandesgerichte bezüglich dieser Sonderkonstellation rechtlich nicht notwendig und somit auch nicht möglich ist. § 121 Abs. 2 StPO sah bis zu einer Gesetzesänderung im Jahr 2010 in Beschwerdeverfahren überhaupt keine Vorlagepflicht vor. Seither sind Divergenzvorlagen nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG nur bei abweichenden Rechtsauffassungen hinsichtlich der Entscheidungen über Maßnahmen nach den §§ 63, 66 ff. StGB sowie §§ 7 Abs. 2 bis 4, 106 Abs. 3 bis 7 JGG gesetzlich vorgesehen.134 Im Übrigen lösen abweichende Rechtsauffassungen bezüglich Beschwerdeentscheidungen keine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG aus.135 Auf die Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG wird an späterer Stelle nach der Darstellung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch ausführlicher einzugehen sein.136 Lösung des vierten Fallbeispiels Die Fallfrage des vierten Fallbeispiels betrifft die einzige Konstellation im Hinblick auf die Auswirkungen des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf die Anfechtbarkeit des ermittlungsrichterlichen Untersuchungshaftbefehls, in der zwischen den verschiedenen Oberlandesgerichten keine Einigkeit herrscht. Nach einem Teil der Rechtsprechung hat U „Glück“. Nämlich dann, wenn seine Beschwerde bei einem der Oberlandesgerichte anhängig ist, die eine Umdeutung ablehnen, wenn dieselbe Kammer, die durch die Anklageerhebung auch das nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO mit der Sache befasste Gericht ist, kurz zuvor als Beschwerdekammer über die Untersuchungshaft des U entschieden hat und der Fall keine sonstigen Besonderheiten (zeitnah terminierte Hauptverhandlung, zwischenzeitlich neue Ermittlungsergebnisse) aufweist. Daher wird das Beschwerdeverfahren ohne Umdeutung durchgeführt. Trotz der Anklageerhebung bleibt es U möglich, den Haftbefehl des E anzugreifen und das bereits eingelegte Rechtsmittel der Beschwerde über alle Instanzen auszuschöpfen.

133  Thüringisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. September 2005 – 1 Ws 336/05 –, juris. 134  Die Änderung durch das vierte Gesetz zur Änderung des GVG vom 17. Juli 2010 (BGBl. I Nr. 39 vom 29. Juli 2010 S. 976) ist auf die Entscheidung des EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 19359/04 (M./Deutschland), NJW 2010, 2495 (bzgl. nachträglicher Verlängerung von Sicherungsverwahrung) zurückzuführen und sollte sicherstellen, dass die Oberlandesgerichte die Maßgaben des EGMR einheitlich erfüllen. Vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1932; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 121 Rn. 5a; Frister, in: SK IX 2016, § 121 Rn. 11. 135  Vgl. Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 121 Rn. 31, 36; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, 5 f.; Frister, in: SK IX 2016, GVG, § 121 Rn. 17. 136  Siehe dazu ab S. 274 und die dortigen Nachweise.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Im konkreten Fall bleibt die weitere Haftbeschwerde zulässig und das Oberlandesgericht hat diese zu bescheiden. Zur Begründung führen die Oberlandesgerichte insbesondere an, eine Umdeutung sei nicht geboten, da eine weitere Entscheidung desselben Spruchkörpers innerhalb kurzer Zeit nicht erforderlich sei. Es sei regelmäßig nach kurzem Zeitablauf nicht davon auszugehen, dass sich die Sachlage so geändert habe, dass das Gericht zu einem anderen Ergebnis komme, als bei der kurz zuvor gefassten Beschwerdeentscheidung. Eine solche Fallkonstellationen sei nach den die Umdeutung in solchen Fällen ablehnenden Oberlandesgerichten jedenfalls dann gegeben, wenn zwischen zwei potenziellen Beschwerdeentscheidungen137 etwa zwei Wochen lägen, keine neue Ermittlungsergebnisse eine abweichende Beurteilung der Tat rechtfertigten und die Hauptverhandlung auch nicht zeitnah terminiert sei. Aus diesem Grund würde eine erneute weitere Haftentscheidung desselben Spruchkörpers lediglich zu einer sachlich nicht gebotenen Verfahrensverzögerung führen.138 Nach der gegenteiligen Auffassung der Oberlandesgerichte ist eine Umdeutung der weiteren Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag auch im vierten Fallbeispiel vorzunehmen. Nach dieser Auffassung ist ebenfalls kein Gericht für die Bescheidung der weiteren Haftbeschwerde zuständig. Der Haftbefehl des E ist durch die Anklageerhebung nicht mehr mit der (weiteren) Beschwerde anfechtbar und somit prozessual überholt. Teilweise erfolgt die Umdeutung ohne jede Begründung, teilweise wird argumentiert, dass ein nicht näher bestimmter Zeitraum nicht dazu führen könne, dass eine einmal verlorene Zuständigkeit wiedererlangt werde.139

V. Sonderkonstellation 4: Berufungsverfahren Fallbeispiel 5 Ausgangssachverhalt: Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert. Der Haftbefehl wurde während des erstinstanzlichen Verfahrens von dem zuständigen Strafrichter S beim Amtsgericht erlassen. Gegen das Urteil des S, in dem dieser auch Haftfortdauer nach § 268b StPO beschlossen hatte, 137  Siehe

zu der Berechnung des maßgeblichen Zeitraums ab S. 214. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433 (siehe oben S. 209); KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 21. Januar 2003 – 2 Ws 21/03, BeckRS 2003, 18085 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 11. November 2003 – 2 Ws 599/03, BeckRS 2003, 18091 (siehe oben S. 210); OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 139  Siehe oben ab S. 215 und die dortigen Nachweise. 138  Vgl.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 221 legt U Berufung ein. Gleichzeitig wendet er sich mit der Haftbeschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss. S hilft dieser nicht ab und legt sie der zuständigen Beschwerdekammer zur Entscheidung vor. Erst danach – aber noch vor einer Entscheidung über die Beschwerde – werden die Berufungsakten der zuständigen Berufungskammer beim Landgericht nach § 321 Satz 2 StPO zugeleitet. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig? Abwandlung: Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert und wurde erstinstanzlich verurteilt. Er hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht weist die Sache durch Beschluss nach § 328 Abs. 2 StPO an das Amtsgericht zurück. Gleichzeitig beschließt es Haftfortdauer. U legt gegen den Haftfortdauerbeschluss Haftbeschwerde ein. Welches Gericht ist für die Bescheidung der Beschwerde zuständig?

1. Berufungseinlegung Bereits im Jahr 1974 entschied das Oberlandesgericht Hamm über das Umdeutungserfordernis in Folge der Berufungseinlegung.140 Der Betroffene wurde erstinstanzlich vom Amtsgericht verurteilt. Er legte gegen das Urteil am 8. Mai 1974 Berufung und am selben Tag Beschwerde gegen den die Haftfortdauerentscheidung des Amtsgerichts nach § 268b StPO ein. Die Berufungsakten gingen der zuständigen Berufungskammer am 16. Mai 1974 nach § 321 Satz 2 StPO zu. Die Beschwerde wurde nachgesandt. Am 28. Mai 1974 half die nach dem Geschäftsverteilungsplan auch für die Beschwerde zuständige Berufungskammer dieser nicht ab und legte sie dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor. Die Berufungskammer folgte offenbar der Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dem Jahr 1972, wonach das Oberlandesgericht nach einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO über eine vor diesem eingelegte Beschwerde zu entscheiden habe.141 Das Oberlandesgericht Hamm dagegen schloss sich der Auffassung des Oberlandesgericht Karlsruhe142 an und erklärte sich für unzuständig für die Entscheidung über die Beschwerde. Bereits das Landgericht hätte nicht über die Nichtabhilfe der Beschwerde entscheiden dürfen. Da die Haftkontrolle gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Aktenzuleitung nach § 321 Satz 2 140  OLG

Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574. Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196). 142  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 141  OLG

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

StPO143 auf das Landgericht als Berufungsgericht übergegangen sei, sei die Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten. Die ursprünglich eingelegte Beschwerde sei prozessual überholt worden.144 Im Wesentlichen argumentierte das Oberlandesgericht Hamm mit einer Auslegung des Wortlauts des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Demnach sei „für weitere erstinstanzliche Haftentscheidungen das jeweils mit der (Haupt-) Sache befasste Gericht zuständig“.145 Auch die Regelung des § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO, wonach im Rahmen einer anhängigen Revision das Gericht, dessen Urteil angefochten wird, die Haftkontrolle behält, spreche dafür, dass „nach dem Willen des Gesetzgebers das Revisionsgericht als Beschwerdegericht für weitere erstinstanzliche Haftentscheidungen erhalten bleiben“ solle. Dennoch erkennt das Oberlandesgericht Hamm in Abweichung zu der Grundsatzentscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe146 und den anderen hier dargestellten Entscheidungen die Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts im Ergebnis als Haftprüfungsentscheidung an, welche noch ordnungsgemäß zugestellt werden müsse.147 Durch dieses Vorgehen konnte jedenfalls eine gewisse Beschleunigung erreicht werden, da das Tatgericht keine vollkommen neue Haftentscheidung treffen musste. Stattdessen musste die bereits getroffene Nichtabhilfeentscheidung lediglich ordnungsgemäß als Haftprüfungsentscheidung zugestellt werden. Diese konnte sodann umgehend von dem Betroffenen angefochten werden. Den veröffentlichten Beschlussgründen lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass das Oberlandesgericht Hamm diese Entscheidung bewusst aus Beschleunigungsgründen getroffen hat. Vielmehr führte es hierzu aus, die Berufungskammer habe „sich mit dem Beschluß v. 28.5.1974 […] für dich Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entschieden [und] damit zum Ausdruck gebracht, daß sie nach Lage der Sache weder eine Aufhebung des Haftbefehls noch eine Aussetzung der Untersuchungshaft für geboten erachtet“148. 143  Bei der in den Beschlussgründen der Entscheidung des OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 zitierten Norm § 221 StPO im Zusammenhang mit der „Übergabe der Akten“ handelt es sich offenbar um ein redaktionelles Versehen. Gemeint sein dürfte § 321 Satz 2 StPO. 144  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574. 145  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575. 146  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 147  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574; so auch OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791 bezüglich einer Haftfortdauerentscheidung nach § 207 Abs. 4 StPO. 148  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 223

Dies sei im Ergebnis als Entscheidung über den (umgedeuteten) Haftprüfungsantrag zu werten, welche noch zugestellt werden müsse. Ebenso entschied das Oberlandesgericht Schleswig im Jahr 1982.149 Auch hier war der Betroffene bereits erstinstanzlich durch das Schöffengericht verurteilt worden und legte gegen dieses Urteil Berufung sowie gegen den Haftfortdauerbeschluss nach § 268b StPO Haftbeschwerde ein. Die Beschwerdekammer des Landgerichts verwarf die Beschwerde. Sodann legte der Betroffene am 1. April 1982 weitere Haftbeschwerde zum Oberlandesgericht ein. Bevor diese beschieden wurde, gingen die Berufungsakten nach § 321 Satz 2 StPO am 14. April 1982 bei der zuständigen Großen Strafkammer150 als Berufungskammer ein. Das Oberlandesgericht Schleswig entschied, dass die weitere Beschwerde auf Grund des durch die Aktenzuleitung nach § 321 Satz 2 StPO eingetretenen Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht mehr zu bescheiden sei, sondern in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten sei, über den die nun mit der Sache befasste Berufungskammer zu entscheiden habe. Zur Begründung führte das Oberlandesgericht Schleswig an, das mit der Sache befasste Gericht habe ab dem Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO, der im Falle der Berufungseinlegung mit der Aktenzuleitung nach § 321 Satz 2 StPO eintrete, die volle erstinstanzliche Zuständigkeit über die Untersuchungshaft, sobald ein Antrag zur Bescheidung der Haftfortdauer bei dieser eingegangen sei.151 Tatsächlich ist diese Formulierung widersprüchlich. Einerseits sieht das Oberlandesgericht Schleswig den für den Zuständigkeitswechsel maßgeblichen Zeitpunkt in dem der Aktenzuleitung nach § 321 Satz 2 StPO, andererseits spricht es der Berufungskammer „das Recht der vollen erstinstanzlichen Entscheidung über die

149  OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110, 110 f. 150  Im Jahr 1982 waren gegen Urteile des Schöffengerichts noch Berufungen zu der Großen Strafkammer möglich. Aus diesem Grund ist auch – obwohl sich dies aus dem Beschluss nicht unmittelbar ergibt – davon auszugehen, dass der Betroffene erst­ instanzlich vom Schöffengericht verurteilt wurde. Seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahr 1993 (Rechtspflegeentlastungsgesetz, BGBl. I Nr. 2 vom 15. Januar 1993 S. 50 bis 57) ist die kleine Strafkammer grundsätzlich für Berufungen zuständig, § 76 Abs. 1 Satz 1 GVG. Vgl. Siolek, in: L-R X 2010, GVG, § 74 Rn. 18, § 76 Rn. 23; Degener, in: SK IX 2016, § 74 Rn. 20, § 76 Rn. 19. 151  Die Beschlussgründe verweisen hier auch auf einige Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte hinsichtlich der Grundkonstellation, z. B. auf OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 (siehe oben S. 221).

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Haftfortdauer [erst] zu, sobald ihr ein entsprechender Antrag eingegangen ist“152. Zudem stellt das Oberlandesgericht Schleswig fest, dass „die Rechtsstellung des Angekl. im übrigen [sic] durch diese Verfahrensweise nicht geschmälert [werde], weil es ihm unbenommen [sei], gegen einen für ihn ungünstigen Beschluß der StrfK Beschwerde einzulegen“153 Auf eine etwaige Verzögerung durch diese Verfahrensweise geht das Oberlandesgericht Schleswig jedoch nicht ein. Ebenfalls während einer anhängigen Berufung hatte das Oberlandesgericht Düsseldorf im Jahr 1992 über eine Haftbeschwerde gegen eine Haftfortdauerentscheidung nach § 268b StPO zu entscheiden.154 Nachdem der Betroffene am 8. Mai 1992 vom Amtsgericht erstinstanzlich verurteilt worden war und gegen diese Urteil Berufung eingelegt hatte, über die zum Zeitpunkt des Beschlusses noch nicht entschieden worden war, erließ das Amtsgericht am 20. Mai 1992 gegen diesen einen Haftbefehl. Gegen diesen wehrte sich der Betroffene mit der Beschwerde, welcher das Amtsgericht nicht abhalf. Die Zweite Strafkammer beim Landgericht beschied die Beschwerde als Beschwerdekammer am 23. Juni 1992 durch Beschluss. Diesen griff der Betroffene mit der weiteren Beschwerde zum Oberlandesgericht an. Am 7. Juli 1992 wurden der Zweiten Strafkammer sodann die ­Verfahrensakten als Berufungskammer155 zugeleitet. Das Oberlandesgericht beschied die weitere Beschwerde nicht, sondern deutete sie in einen erst­ instanzlichen Haftprüfungsantrag um, über welchen nach Aktenzuleitung nunmehr das zuständige Berufungsgericht zu entscheiden habe.156 In diesem Beschluss vertrat das Oberlandesgericht Düsseldorf die Auffassung, auch nach Berufungseinlegung übernehme das Berufungsgericht nach § 126 Abs. 2. Satz 1 StPO die Haftkontrolle, sobald diesem die Akten nach § 321 Satz 2 StPO zugeleitet worden seien.157 Die Aktenzuleitung habe die152  OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110, 110 f. 153  OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110, 111. 154  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482. 155  Aus dem Beschluss ergibt sich nicht zweifelsfrei, ob die kleine oder große Berufungskammer für die Berufung zuständig war und ob der Betroffene zuvor erstinstanzliche vom Strafrichter oder vom Schöffengericht verurteilt worden war. Generell war im Jahr 1992 noch die Große Strafkammer für Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts zuständig. Vgl. Fn. 150, S. 223. 156  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482. 157  So auch OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 (siehe oben S. 221).



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 225

selbe Konsequenz wie die Anklageerhebung in erster Instanz. Demzufolge verliere das zuvor für Haftfragen zuständige erstinstanzliche Gericht seine Zuständigkeit. Dieser Verlust der Zuständigkeit beträfe auch die ihm zugeordnete Rechtsmittelinstanz, sodass eine entsprechende Umdeutung in einen erstinstanzlichen Haftprüfungsantrag zu erfolgen habe. Zuständig zur Bescheidung des Haftprüfungsantrags sei das Berufungsgericht.158 Dass die Berufungskammer in konkreten Fall identisch mit der Beschwerdekammer war, sei unerheblich. Die Zulässigkeit einer Beschwerde könne nicht von dem internen Geschäftsverteilungsplan des jeweiligen Landgerichts und damit von Zufälligkeiten abhängen.159 Die Auffassung, die Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag sei auch im Falle des Zuständigkeitswechsels in Folge Berufungseinlegung mit dem Eingang der Akten beim Berufungsgericht nach § 321 Satz 2 StPO erforderlich, vertraten auch das Oberlandesgericht Karlsruhe bereits im Jahr 1986160 das Oberlandesgericht Frankfurt im Jahr 1996161 – jeweils mit entsprechenden Verweisen162. In beiden Fällen war eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag mangels Vollzugs des Haftbefehls nicht möglich, sodass die Oberlandesgerichte (entsprechend der dargestellten obergerichtlichen Rechtsprechung zu der Konstellation eines nicht vollzogenen Haftbefehls163) eine Umdeutung in einen einfachen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls vornahmen.

158  Das Oberlandesgericht verweist hier u. a. auf OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 (siehe oben S. 221) sowie den KMR § 117 Rn. 10. 159  Aus diesem Grund wurde die Entscheidung bereits oben auf S. 216 im Rahmen der 3. Sonderkonstellation vorgestellt. 160  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145 (siehe dazu bereits oben S. 206). 161  OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302 (siehe dazu bereits oben S. 206). 162  Das Oberlandesgericht Karlsruhe nimmt insbesondere Bezug auf die Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte sowie auf: Wendisch, in: L-R II 1989, § 117 Rn. 21; Kleinknecht/Meyer, StPO 1985, § 126 Rn. 2 (sic! gemeint ist wohl § 117 Rn. 2, da nur hier explizit auf den Zuständigkeitswechsel in Folge der Berufungseinlegung eingegangen wird). Das Oberlandesgericht Frankfurt verweist auf MeyerGoßner, in: StPO 1995, § 117 Rn. 12; Boujong, in: KK 1993, § 126 Rn. 8. 163  Siehe oben S. 206.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

2. Zurückverweisung an das zuständige Gericht Nach dem Oberlandesgericht Karlsruhe greift das Umdeutungserfordernis auch in dem Fall, in dem das Berufungsgericht die Sache ausnahmsweise nach § 328 Abs. 2 StPO an das zuständige Amtsgericht zurückverweist.164 Der erstinstanzlich verurteilte Betroffene befand sich in Untersuchungshaft und legte gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung ein. Das Berufungsgericht sah sich dazu veranlasst, das Urteil gemäß § 328 Abs. 2 StPO aufzu­ heben und die Sache an das zuständige Amtsgericht zurückzuverweisen. Gleichzeitig beschloss das Berufungsgericht die Haftfortdauer. Gegen diesen Beschluss legte der Betroffene Haftbeschwerde ein. Das Oberlandesgericht Karlsruhe entschied, Beschwerden gegen Haftentscheidungen des Berufungsgerichts seien in Folge der Zurückverweisung der Sache ebenfalls in einem Haftprüfungsantrag umzudeuten. Über diesen habe das nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in Folge der Zurückverweisung mit der Sache befasste Gericht zu entscheiden. Ergänzend führte das Oberlandesgericht Karlsruhe aus, eine entsprechende Umdeutung sei bei einem Zuständigkeitswechsel grundsätzlich vorzunehmen, damit eine Haftentscheidung des nunmehr zuständigen Gerichts herbeigeführt werden können.165 Lösung des fünften Fallbeispiels Erneut sind beide Fallfragen des Ausgangssachverhalts sowie der Abwandlung zu dem fünften Fallbeispiel nach der vorgenannten Rechtsprechung wie folgt zu beantworten: Kein Gericht ist für die Bescheidung der Haftbeschwerde zuständig. Auch in den beiden denkbaren Berufungskonstellationen ist der Haftbefehl nicht mehr anfechtbar, sobald der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO eintritt und das nun mit der Sache befasste Gericht noch keine Haftentscheidung getroffen hat. Erneut führt die Praxis der Rechtsprechung zu erheblichen Verfahrensverzögerungen, da der Betroffene sein Beschwerderecht zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels verliert und zunächst eine neue Haftentscheidung erstreiten muss, um gegen diese mit der Beschwerde vorgehen zu können. Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO tritt im Falle der Berufungseinlegung mit der Aktenzuleitung an das Berufungsgericht nach § 321 Satz 2 StPO ein. Im Falle der ausnahmsweisen Zurückverweisung nach § 328 Abs. 2 StPO tritt der Zuständigkeitswechsel wie im Parallelfall des verweisenden Revisionsbeschlusses nach § 354 Abs. 2 StPO166 mit Erlass des Verweisungsbeschlusses ein.

164  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Dezember 1985 – 1 Ws 275/85, Die Justiz 1986, 144. 165  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Dezember 1985 – 1 Ws 275/85, Die Justiz 1986, 144.



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 227

VI. Sonderkonstellation 5: Revisionsverfahren Fallbeispiel 6 Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert. U ist bereits durch das Landgericht verurteilt, die Revision ist noch anhängig. Während des Revisionsverfahrens legt U Haftbeschwerde ein. Bevor diese beschieden wird, verweist das Revisionsgericht die Sache durch Beschluss gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an das Landgericht. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig?

Das Kammergericht hatte über eine Haftbeschwerde nach der Zurückverweisung der Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zur erneuen Verhandlung und Entscheidung durch das Kammergericht selbst als Revi­ sionsgericht gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu entscheiden.167 Der Betroffene befand sich bereits seit über einem Jahr in Untersuchungshaft, als das Kammergericht seine Revision am 20. Dezember 1999 an das Landgericht zurückverwies. Zuvor – nämlich am 10. und 14. Dezember 1999 – hatte der Betroffene Haftbeschwerde eingelegt. Grundsätzlich gehe die Haftkontrolle nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nach dem Kammergericht durch den Zurückverweisungsbeschluss des Revisionsgerichts auf das Gericht über, an das das die Sache durch diesen verwiesen wird.168 Das Kammergericht wandte den Grundsatz des Umdeutungserfordernisses auch auf diesen Zuständigkeitswechsel in Folge der Zurückverweisung an. Da die Haftkontrolle bei einer anhängigen Revision nach § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO bei dem Gericht verbleibt, dessen Urteil angefochten wird, gehe sie in Folge der Revisionsentscheidung auf das Gericht über, an das die Sache zu166  Vgl. zu dem Zuständigkeitswechsel nach Erlass eines verweisenden Revisionsbeschlusses: BT-Drs. 16/11644, S. 33. Vgl. ferner BGH, Beschluss vom 21. Mai 1996 – 1 StR 51/96, NJW 1996, 2665; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 9. Oktober 1986 – 2 Ws 71/86, NStE Nr. 1 zu § 126 StPO; KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 15, § 126 Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 6; Boujong, in: KK 1999, § 125 Rn. 10, Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 10, § 126 Rn. 23; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 5; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 114; Schlothauer/Weider/ Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 877; a. A. (Zeitpunkt der Aktenzuleitung, allerdings vor der Klarstellung durch den Gesetzgeber im Jahr 2009) Franke, in: L-R VII-2 2013, § 354 Rn. 61. 167  KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444. 168  Die Beschlussgründe verweisen hier auf: BGH, Beschluss vom 21. Mai 1996 – 1 StR 51/96, NJW 1996, 2665; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 9. Oktober 1986 – 2 Ws 71/86, NStE Nr. 1 zu § 126 StPO; Boujong, in: KK 1999, § 125 Rn. 10.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

rückverwiesen werde. Ab diesem Zeitpunkt sei eine anhängige Haftbeschwerde nach dem Kammergericht in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten. Über diesen habe das Gericht zu entscheiden, an das das Revisionsgericht die Sache verwiesen hat. Zur Begründung führt das Kammergericht im Wesentlichen an, eine Fortführung des Beschwerdeverfahren führe dazu, dass das nun mit der Sache befasste Landgericht allenfalls eine formlosen verfahrensinternen Nichtabhilfeentscheidung erlassen könne, was sachlich nicht gerechtfertigt wäre. Auf diese Weise würden die Verfahrensbeteiligten auch nicht die Gründe erfahren, die die nunmehr zuständige Strafkammer zu der Aufrechterhaltung des Haftbefehls veranlasst haben.169 Im Jahr 2010 entschied das Kammergericht zudem, dass mit dem Zuständigkeitswechsel des Übergangs des Rechtsmittels der Berufung zum Rechtsmittel der Sprungrevision seitens des Betroffenen ebenfalls eine (ggf. weitere) Umdeutung vorzunehmen ist, sofern das Berufungsgericht vor dem Wechsel des Rechtsmittels eine Haftentscheidung getroffen habe und der Betroffene hiergehen Haftbeschwerde einlege. Durch den Übergang zum Rechtsmittel der Revision gehe die Zuständigkeit gemäß § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO wieder zurück auf das Ausgangsgericht, dessen Entscheidung (nunmehr) mit der Revision angefochten werden.170 Lösung des sechsten Fallbeispiels Auch die Lösung des sechsten Fallbeispiels lautet: Durch den Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in Folge des Erlasses des Zurückweisungsbeschlusses nach § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO, ist kein Gericht für die Bescheidung der Beschwerde zuständig. Vielmehr erfolgt auch hier eine Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag bei dem nach der Zurückverweisung zuständigen Gericht. U muss erneut zunächst eine Haftentscheidung des zuständig gewordenen Gerichts erstreiten, um gegen diese vorzugehen und eine Überprüfung der Voraussetzungen seiner Untersuchungshaft durch das Oberlandesgericht erreichen zu können. U wird somit durch die Umdeutungspraxis der Rechtsprechung wieder an den Anfang des Instanzenzugs gedrängt und muss darüber hinaus zunächst eine anfechtbare Haftentscheidung erstreiten. Auch in dieser Konstellation sind die drohenden Verzögerungen offensichtlich. Der Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO an das Gericht, an das die Sache verwiesen wurde, tritt im Falle der Zurückweisung im Rahmen der Revisionsentscheidung bereits mit deren Erlass ein.171

169  KG,

Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444. Beschluss vom 6. September 2010 – 1 AR 1215/10, BeckRS 2010, 29765. 171  Vgl. Fn. 166, S. 227. 170  KG,



B. Die wesentlichen Beschlüsse der Oberlandesgerichte seit 1956 229

VII. Sonderkonstellation 6: Keine Umdeutung bei erkennbar entgegenstehendem Willen Fallbeispiel 7 Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO inhaftiert. Der Haftbefehl wurde vor Anklageerhebung zum Landgericht durch den zuständigen Ermittlungsrichter E erlassen. U legt gegen den Haftbefehl Beschwerde ein. Das Landgericht verwirft die Beschwerde nach Nichtabhilfe des E. U legt weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht ein. Noch bevor diese beschieden wird, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht. Der Verteidiger des E erklärt ausdrücklich, er strebe eine Entscheidung des Oberlandesgerichts an. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig?

Der Betroffene hatte in einem seitens des Oberlandesgerichts Stuttgart im Jahr 2003 zu entscheidenden Fall Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters eingelegt.172 Das Landgericht verwarf die Beschwerde am 30. Juli 2003 als unbegründet. Am 29. August erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht. Unter dem 18. September 2003 legte der Verteidiger des Betroffenen „Haftbeschwerde“ beim Landgericht ein, bevor dieses eine Haftentscheidung getroffen hatte. Das Landgericht half der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vor. Dieses deutete die Beschwerde auf Grund der Anklageerhebung in einem Haftprüfungsantrag um, über den das erstinstanzlich zuständige Landgericht zu entscheiden habe und gab die Sache an das Landgericht zurück. Daraufhin erklärte der Verteidiger des Betroffenen gegenüber dem Landgericht, er begehre weder eine Haftprüfungsentscheidung des Landgerichts, noch eine (weitere) Haftbeschwerdeentscheidung über den Beschluss des Landgerichts vom 30. Juli 2003 [sic!]173, sondern eine Entscheidung des Oberlandesgerichts. Das Landgericht legte das Rechtsmittel dem Oberlandesgericht daraufhin erneut vor.174

172  OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687. 173  Tatsächlich erschließen sich die in den Beschlussgründen wiedergegebenen Ausführungen des Verteidigers der Verfasserin nicht unmittelbar, vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687. Im Ergebnis dürfte festzuhalten sein, dass der Verteidiger auf welche Weise auch immer unmittelbar ohne weitere zeitliche Verzögerung eine Haftentscheidung des Oberlandesgerichts erreichen wollte. 174  OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Dieses entschied, für den Betroffenen bestehe keine Möglichkeit, eine Entscheidung des Oberlandesgerichts zu erzwingen.175 Vielmehr müsse er vorher durch die Beantragung eines Haftprüfungsverfahrens beim dem erstinstanzlich zuständigen Landgericht eine neue Haftentscheidung erlangen, die dann mit der Beschwerde zum Oberlandesgericht angefochten werden könne. Eigentlich sei die Eingabe daher in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten. Dennoch nahm das Oberlandesgericht auf Grund der eindeutigen Erklärung des Verteidigers, keinen Haftprüfungsantrag stellen zu wollen, auf Grund seines erkennbar entgegenstehenden Willens176 keine (erneute) Umdeutung vor, sondern verwarf die Beschwerde mangels Zuständigkeit des Oberlandesgerichts als unzulässig.177 Hervorzuheben ist weiter, dass das Oberlandesgericht die hierdurch mög­ licherweise entstehende Verfahrensverzögerung erkennt: „Es liegt jedoch in der Hand des Angeschuldigten, zur Vermeidung größerer Verzögerung entweder die anlässlich der Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß § 207 Abs. 4 StPO ohnehin zu treffende Haftentscheidung der Strafkammer abwarten oder im Wege der Haftprüfung nach § 117 Abs. 1 StPO Antrag auf Aufhebung bzw. Außervollzugsetzung des Haftbefehls zu stellen und dann gegen eine mögliche negative Entscheidung der Strafkammer Beschwerde einzulegen, anstatt die sofortige Entscheidung des Oberlandesgerichts, das unter Einhaltung des Instanzenzugs erst gegen die Entscheidung der Strafkammer angerufen werden kann, zu verlangen.“178

Diese Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart macht deutlich, dass die Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte nicht nur zu Verzögerungen führt, sondern den Betroffenen auch gegen seinen Willen und ohne gesetz­ liche Grundlage an den Anfang des Instanzenzugs drängt. 175  Hierbei führt das OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 auch abweichenden Ansichten an, und verweist auf OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478; Dünnebier, MDR 1968, 185, 186; siehe oben S. 196. 176  Nach der Rechtsprechung des BGH ist die Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in ein zulässiges Rechtsmittel, mit welchem das gleiche Ziel erreicht werden kann, in entsprechender Anwendung des § 140 BGB nur möglich, wenn dies dem mutmaßlichen Willen des Rechtsmittelführers entspricht, vgl. statt vieler: BGH, Beschluss vom 21. Juni 2000 – XII ZB 93/00, BeckRS 2000, 6186; BGH, Urteil vom 6. Dezember 2000 – XII ZR 219/98, BeckRS 2001, 212. 177  Zwar nahm das OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72. NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194) in seiner Grundsatzentscheidung trotz des erklärten entgegenstehenden Willens des Betroffenen eine Umdeutung vor. Dies dürfte aber dem Umstand geschuldet sein, dass eine gefestigte Rechtsprechung des BGH (siehe Fn. 176, S. 230) hinsichtlich der Umdeutungsmöglichkeiten zu diesem Zeitpunkt noch nicht existierte. 178  OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687.



C. Das Vorgehen der Rechtsprechung abstrahiert 231 Lösung des siebten Fallbeispiels Auch in dieser siebten Fallkonstellation ist kein Gericht für die Bescheidung der Beschwerde zuständig. Das Oberlandesgericht Stuttgart vertritt im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs179 die Auffassung, eine Umdeutung könne auf Grund dieses entgegenstehenden Willens nicht vorgenommen werden. Aus diesem Grund wäre die Haftbeschwerde des U als unzulässig zu verwerfen. In dieser Konstellation muss U demnach sogar selbst einen Haftprüfungsantrag beim nunmehr zuständigen Landgericht einlegen, da eine Umdeutung gerade nicht vorgenommen wird.

C. Das Vorgehen der Rechtsprechung abstrahiert Für die weitere Untersuchung bietet es sich an, aus dem Flickenteppich obergerichtlicher Rechtsprechung einige abstrakte Grundsätze herauszuarbeiten.

I. Wirkung des Zuständigkeitswechsels Die Rechtsprechung geht davon aus, dass ein Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO eine Zäsur für die Bestimmung der Zuständigkeit des gesamten Instanzenzugs zur Bescheidung einer Haftbeschwerde darstellt. Mit Anklageerhebung entfalle auf Grund der Zuständigkeitsnorm des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht nur die Zuständigkeit des ursprünglich gemäß §§ 125 Abs. 1, 126 Abs. 1 StPO zuständigen Ermittlungsrichters. Die Anklageerhebung bewirke auch, dass die Zuständigkeit des diesem zugeordneten Instanzenzugs entfällt.180 Dies habe zur Folge, dass der ermittlungsrichterli179  Siehe

oben Fn. 176, S. 230. Rspr.: OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791 (siehe oben Fn. 19, S. 195); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195, 196; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (zur Berufung; siehe oben S. 216 und S. 224); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570 (siehe oben S. 217); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 1 Ws 154/99, BeckRS 1999, 03060; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, 180  St.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

che Haftbefehl nicht mehr mit der Beschwerde anfechtbar sei. In einigen Entscheidungen wird hierzu ausgeführt, dass die Haftbeschwerde durch den Zuständigkeitswechsel prozessual überholt sei.181 Der Haftbefehl wird gegenwärtig gegen den Betroffenen vollstreckt oder ist im Falle der Außervollzugsetzung jedenfalls noch in einer den Betroffenen erheblich belastenden Weise in der Welt, ist nach der Rechtsprechung aber nicht mehr beschwerdefähig. Nach der Judikatur stellt aber nicht nur die Anklageerhebung i. S. d. § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO eine Zäsur dar, die zur Folge hat, dass das vorher zuständige Gericht nebst dessen Instanzenzugs seine Zuständigkeit verliert und dessen Haftentscheidungen nicht mehr mit der Beschwerde anfechtbar sind. Neben der Einlegung der Rechtsmittel der Berufung und der Revision begründet auch die Eröffnung des Hautverfahrens vor einem Gericht niedrigerer Ordnung (§ 209 Abs. 1 StPO) einen (weiteren) Zuständigkeitswechsel. Zunächst eröffnet das Gericht, zu dem Anklage erhoben wurde, das Verfahren gemäß § 209 Abs. 1 StPO vor einem Gericht niedrigerer Ordnung und beNStZ-RR 2001, 145, 146 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III – 2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265; OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212); vgl. ferner Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 45; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 20. 181  Vgl. statt vieler: OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221); OLG Hamm, Beschluss vom 27. Juni 1977 – 1 Ws 142/77, JMBl. NW 1977, 249 = BeckRS 1977, 01758; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO, siehe dazu unten S. 249); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III – 2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265; KG, Beschluss vom 6. September 2010 – 1 AR 1215/10, BeckRS 2010, 29765 (siehe oben S. 228); LG Arnsberg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 6 Qs 65/14, BeckRS 2014, 15303 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO).



C. Das Vorgehen der Rechtsprechung abstrahiert 233

schließt gleichzeitig nach § 207 Abs. 4 StPO die Haftfortdauer. Infolge des Beschlusses ist die Sache mit Eingang der Akten bei dem Gericht niedrigerer Ordnung anhängig. Nach einem Beschluss des Kammergerichts hat dieser Zuständigkeitswechsel ebenfalls zur Folge, dass das vorher zuständige Gericht nebst dessen Instanzenzugs die Zuständigkeit verliert und dessen (erst im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses getroffene) Haftentscheidung überhaupt nicht mehr anfechtbar ist.182 1. Maßgeblicher Zeitpunkt bei der Berufung Im erstinstanzlichen Urteil entscheidet das Gericht nach § 268b StPO von Amts wegen über die Haftfortdauer. Legt der Betroffen gegen das Urteil Berufung ein, ist dieser Haftfortdauerbeschluss der ersten Instanz nach der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung wegen prozessualer Überholung nicht mehr mit der Beschwerde anfechtbar, wenn die Akten dem Berufungsgericht nach § 321 Satz 2 StPO zugeleitet wurden. Ab diesem Zeitpunkt ist die Sache bei dem Berufungsgericht anhängig183, sodass § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nach der Rechtsprechung auch entsprechend auf diesen Fall anzuwenden ist.184 Im Falle der ausnahmsweisen verweisenden Berufungsentscheidung nach § 328 Abs. 2 StPO geht die Zuständigkeit im Einklang mit dem gesetzgeberischen Willen zu dem Verweisungsbeschluss im Rahmen des 182  KG, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 AR 297/99 – 5 Ws 160/99, BeckRS 2014, 2252 (siehe auch Fn. 38, S. 199). 183  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe ab S. 221); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110 (siehe oben S. 223); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); Gössel, in: L-R VII-2 2013, § 321 Rn. 4; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 321 Rn. 2; Paul, in: KK 2019, § 321 Rn. 4; Brunner, in: KMR V § 321 Rn. 4; Quentin, in: MüKo II 2016, § 321 Rn. 3; Frisch, in: SK 2016 VI, § 321 Rn. 6; Münchhalffen/ Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 101, 112; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 869. 184  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 (siehe oben S. 221); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110 (siehe oben S. 223); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145 (siehe oben S. 206 und S. 225); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302 (siehe oben S. 206 und S. 225); OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Februar 2002 – 4 Ws 38/02, BeckRS 2002, 3019 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 46; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 12, § 321 Rn. 2; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 42; § 125 Rn. 23; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Revisionsverfahrens185 nach §§ 354 Abs. 2, 355 StPO bereits mit Erlass des Verweisungsbeschlusses auf das Gericht über, an das die Sache verwiesen wurde. Ab diesem Zeitpunkt sind Beschwerden gegen zuvor getroffene Haftentscheidungen in Haftprüfungsanträge an das durch die Verweisung zuständig gewordene Gericht umzudeuten.186 2. Maßgeblicher Zeitpunkt bei der Revision Ist die Revision anhängig, verbleibt die Haftkontrolle zunächst nach § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO bei dem Gericht, dessen Entscheidung angefochten wird. Wird die Sache jedoch nach § 354 Abs. 2 StPO ganz oder in Teilen durch Beschluss an ein anderes Gericht zu erneuter Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, geht die Haftkontrolle nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO mit Erlass des Beschlusse an das Gericht über, an das die Sache verwiesen wird.187 Somit ist nach den Grundsätzen der Rechtsprechung mit diesem Zeitpunkt die Haftentscheidungen des Ausgangsgerichts wegen prozessualer 185  BT-Drs. 16/11644, S. 33; vgl. auch die Nachweise in Fn. 187, S. 234. Nach Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 877, soll es deshalb auf den Zeitpunkt des Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschluss ankommen, weil die Zuleitung der Akten an das neue Tatgericht mit erheblichen Verzögerungen verbunden sei, da sämtliche an dem Revisionsverfahren beteiligten Stellen (wie etwa die Generalstaatsanwaltschaft und die Mitglieder des Spruchkörpers, deren Urteil aufgehoben wurde) von der Revisionsentscheidung in Kenntnis gesetzt werden müssen. Nur am Rande kann hier erwähnt werden, dass unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes (in Haftsachen) (siehe oben ab S. 142) die Anfertigung von Mehrfachakten zur unmittelbaren Übersendung eines Aktensatzes an das „neue“ Tatgericht unerlässlich ist. Die übrigen beteiligten Stellen müssen auf andere Weise als die Übersendung der (einzigen) Originalakten von den Gründen der Urteilsaufhebung in Kenntnis gesetzt werden. In Betracht kommt auch die Vervielfältigung der wesentlichen Akteninhalte, um die beteiligten Stellen beschleunigt und gleichzeitig informieren zu können. Jedenfalls muss das „neue“ Tatgericht schnellstmöglich in die Position versetzt werden, den vollständigen Akteninhalt erfassen zu können, um die Haftkon­ trolle in tatsächlicher Hinsicht überhaupt ausüben zu können. 186  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Dezember 1985 – 1 Ws 275/85, Die Justiz 1986, 144. 187  BT-Drs. 16/11644, S. 33 (redaktionelle Klarstellung durch den Gesetzgeber); BGH, Beschluss vom 21. Mai 1996 – 1 StR 51/96, NJW 1996, 2665; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 9. Oktober 1986 – 2 Ws 71/86, NStE Nr. 1 zu § 126 StPO; KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 15, § 126 Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 6; Boujong, in: KK 1999, § 125 Rn. 10, Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 10, § 126 Rn. 23; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 5; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 877; a. A. (Zeitpunkt der Aktenzuleitung, allerdings vor der Klarstellung durch den Gesetzgeber im Jahr 2009) Franke, in: L-R VII-2 2013, § 354 Rn. 61.



C. Das Vorgehen der Rechtsprechung abstrahiert 235

Überholung nicht mehr mit der Beschwerde anfechtbar, sodass eine Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten ist.188

II. Erfordernis der Umdeutung Praktisch als „Ausgleich“ für den Umstand, dass die Haftentscheidung in Folge des Zuständigkeitswechsels nicht mehr mit der Beschwerde anfechtbar ist, wird die anhängige Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag umgedeutet.189 Wird der Haftbefehl nicht vollzogen, nimmt die Rechtsprechung eine Umdeutung in einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls vor.190 Indes soll keine Umdeutung stattfinden, wenn der Betroffene trotz eines entsprechenden Hinweises ausdrücklich die Beschwerde aufrechterhält. Die Beschwerde wird in diesem Fall als unzulässig verworfen.191 Die Haftbeschwerde soll auch dann wegen der prozessualen Überholung nicht wieder zulässig werden, wenn der Betroffen den umgedeuteten Haftprüfungsantrag ausdrücklich zurücknimmt.192 Zuständig für die Bescheidung des umgedeuteten Antrags ist das durch den Zuständigkeitswechsel mit der Sache befasste Gericht. Erst die auf den Haftprüfungs- bzw. Aufhebungsantrag ergangene Entscheidung kann – im Falle fortwährender Beschwer – mit der Beschwerde angriffen werden. Das führt zu der skurril anmutenden Situation, dass der Betroffene, gegen den Haftbefehl, der zwar in der Welt ist und unter Umständen auch vollstreckt 188  KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 46. 189  Vgl. in der Ausdrücklichkeit: OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195, 196; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); Posthoff, in: HK 2012, § 117 Rn. 15; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21. 190  OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302 (siehe oben S. 206 und S. 225). 191  OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229); Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 8; a. A. zuvor noch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 192  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO.

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

wird, wegen prozessualer Überholung keine Beschwerde einlegen kann. Somit muss der Betroffene zunächst eine Entscheidung des nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig gewordenen Gerichts beantragen, um gegen diese mit der Beschwerde anfechten zu können.193 Er muss sich den Beschwerde­ gegenstand somit erst selbst schaffen.

D. Die Begründung der Rechtsprechung In ihrer Begründung ist die Rechtsprechung konsistent. Sofern die Beschlüsse nicht nur auf die allgemeine oder herrschende Ansicht verweisen, werden seit 1956 im Wesentlichen dieselben Argumente dafür herangezogen, eine anhängige Haftbeschwerde im Falle eines Zuständigkeitswechsels in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten.

I. Ausgangsproblem 1. Doppelzuständigkeit und Instanzenvermischung Bereits der erste diese Thematik betreffenden Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg aus dem Jahr 1956 begründete das Entfallen der Zuständigkeit des Ermittlungsrichters und des ihm zugeordneten Instanzenzugs mit der 193  Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110 (siehe oben S. 223); OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 (siehe oben S. 197); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145 (siehe oben S. 206 und S. 225); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juli 1987 – 1 Ws 436/87, BeckRS 1987, 07013; OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570 (siehe oben S. 217); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); KG, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 AR 297/99 – 5 Ws 160/99, BeckRS 2014, 2252 (siehe oben Fn. 38, S. 199); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Thüringen, Beschluss vom 29. Mai 2009 – 1 Ws 204/09, wistra 2010, 80 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); LG Arnsberg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 6 Qs 65/14, BeckRS 2014, 15303 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO; siehe dazu unten S. 252).



D. Die Begründung der Rechtsprechung 237

anderenfalls entstehenden doppelten Zuständigkeit seitens des Ermittlungsrichters bzw. dessen Beschwerdegerichts und des mit der Sache befassten Gerichts nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO.194 Dieses Argument wurde von beinahe allen nachfolgenden zuvor dargestellten oberlandesgerichtlichen Entscheidungen für die Umdeutung der Haftbeschwere in einen Haftprüfungsantrag herangezogen. Denn ohne Umdeutung bestünde die Gefahr divergierender Haftentscheidungen der beiden Gerichte. Nach § 207 Abs. 4 StPO hat das Tatgericht im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses von Amts wegen über die Haftfortdauer zu entscheiden. Bliebe die Haftkontrolle daneben ebenfalls bei dem Haftrichter und dessen Instanzenzug, könnten dessen Entscheidungen der des seitens des Tatgerichts im Eröffnungsbeschluss getroffenen Haftentscheidung widersprechen.195 Ist in einer solchen gedachten Konstellation das Tatgericht dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht – das Landgericht – übergeordnet, bewirkt die fortbestehende Zuständigkeit des Ermittlungsrichters und dessen Instanzenzug auch eine Instanzenvermischung. Denn dann wäre das Landgericht gleichzeitig Beschwerdegericht nach § 73 Abs. 1 GVG und hätte gleichzeitig als Tatgericht die Haftkontrolle nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO inne.196 194  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 195  Vgl.: OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221); OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juli 1987 – 1 Ws 436/87, BeckRS 1987, 07013; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692 (siehe oben S. 213); OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570 (siehe oben S. 217); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250, 251 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 1 Ws 154/99, BeckRS 1999, 03060; OLG Frankfurt, Beschluss vom 1. Dezember 2005 – 3 Ws 972/05 u. 1021/05, NStZ-RR 2006, 44, 46 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265; OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 196  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196).

238

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

2. Keine Entscheidungskompetenz des Tatgerichts Die Oberlandesgerichte lehnen ihre Zuständigkeit als (weiteres) Beschwerdegericht auch deshalb ab, weil die Entscheidungsgewalt des Tatgerichts anderenfalls auf eine bloße Nichtabhilfeentscheidung nach § 306 Abs. 2 StPO beschränkt werden würde. Dies werde der Rolle als zuständigem Tatgericht sachlich nicht gerecht. Denn die Nichtabhilfeentscheidung sei eine rein verfahrensinterne Entscheidung, die dem Betroffenen nicht einmal bekannt gemacht werden müsse. Sofern der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht schon eine Abhilfeentscheidung getroffen hat, sei dem Tatgericht sogar jede Entscheidungsbefugnis genommen, wenn die Beschwerde sodann direkt dem Oberlandesgericht vorgelegt werde, um eine Doppelzuständigkeit zu vermeiden. Dies widerspreche gerade der Zuständigkeitsregel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und insbesondere deren Grundgedanke, dass das Tatgericht auf Grund seiner Befassung die sachnächste Entscheidung treffen könne.197

II. Problemlösung 1. Prozessuale Überholung Erstmals stellte das Oberlandesgericht Frankfurt in seiner abweichenden Entscheidung aus dem Jahr 1972198 fest, die nunmehr gefestigte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte führe dazu, dass ein Rechtbehelf gegen eine fortwirkende Maßnahme – den Haftbefehl – durch diese Rechtsprechung „überholt“ werde. Zwar wurde der Begriff der prozessualen oder verfahrensrechtlichen „Überholung“ in den frühen Entscheidungen (inklusive der des Oberlandgerichts Frankfurt) nicht genannt, doch schon das Oberlandesgericht Karlsruhe führt 1972 aus, dass „dem Angeschuldigten im jetzigen Verfahrensstadium [des Zwischenverfahrens] die Beschwerde gegen den Haftbefehl [des Ermittlungsrichters] überhaupt nicht mehr zusteh[e]“199 197  Vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 8485/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229); OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 313). 198  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196).



D. Die Begründung der Rechtsprechung 239

Die Figur der prozessualen Überholung wurde offenbar herangezogen, um das vorgenannte Problem der Doppelzuständigkeit und Instanzenvermischung zu lösen. Von den hier dargestellten Entscheidungen bezeichnete als erstes das Oberlandesgericht Hamm die Beschwerde gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl ab dem Zeitpunkt der Anklageerhebung im Jahr 1974 als „verfahrensrechtlich überholt“200. Das Oberlandesgericht Hamm führt hier auch ein systematisches Argument für die prozessuale Überholung an: Da § 126 Abs. 2 Satz 2 StPO bestimme, dass die Haftkontrolle nach Revisionsein­ legung bei dem Gericht verbleibe, sei der Wille des Gesetzgebers, dass das „Revisionsgericht als Beschwerdegericht für weitere erstinstanzliche Entscheidungen erhalten bleibe“201. Einer Begründung dafür, inwiefern diese gesetzlich geregelte Sonderzuständigkeit nun auf den nicht geregelten Fall der Anfechtbarkeit haftrichterlichen Entscheidungen nach Anklageerhebung zu übertragen ist, bleibt das Oberlandesgericht Hamm jedoch schuldig. Ohne dass dies in einer der Entscheidungen im Einzelnen dargelegt wurde, folgt die prozessuale Überholung nach dem Verständnis der Oberlandes­ gerichte wohl aus dem Wechsel der Verfahrensstadien. Tritt das Verfahren durch die Anklageerhebung nach § 170 Abs. 1 StPO vom staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren in das gerichtliche Zwischenverfahren nach §§ 199 ff. 199  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 21. Mai 1973 – 1 Ws 155/73, Die Justiz 1973, 253 (siehe Fn. 41, S. 149). 200  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221); diese oder ähnliche Formulierungen (insb. „prozessuale Überholung“) wurde daraufhin häufig verwendet; statt vieler: OLG Hamm, Beschluss vom 27. Juni 1977 – 1 Ws 142/77, JMBl. NW 1977, 249 = BeckRS 1977, 01758; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO; siehe dazu unten S. 249); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III – 2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265; KG, Beschluss vom 6. September 2010 – 1 AR 1215/10, BeckRS 2010, 29765 (siehe oben S. 228); LG Arnsberg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 6 Qs 65/14, BeckRS 2014, 15303 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO). 201  Vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221).

240

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

StPO ein, bewirke dies die „prozessuale Überholung“. Daher könne ein im Ermittlungsverfahren erlassener Haftbefehl schon allein auf Grund des Wechsels des Verfahrensstadiums nicht mehr mit der Beschwerde angegriffen werden.202 Die prozessuale Überholung sei der Grund, weshalb nicht nur der Ermittlungsrichter, sondern auch der ihm zugeordnete Instanzenzug seine Zuständigkeit vollständig verliere.203 Den Grundgedanken der prozessualen Überholung wendet die Rechtsprechung auf alle weiteren Wechsel der Verfahrensstadien an.204 2. Umdeutung der Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag Die Umdeutung in einen Haftprüfungsantrag205 erfolgt nach der Rechtsprechung, um dem Betroffenen dennoch eine Möglichkeit zu geben, eine gerichtliche Überprüfung des Haftbefehls beanspruchen zu können.206 Neben der Figur der prozessualen Überholung ist die Rechtsprechung also dazu gezwungen, ein weiteres Mal „kreativ“ zu werden und das eindeutig als Haftbeschwerde bezeichnete Rechtsmittel des Betroffenen in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten. Gegen diesen hat sich der Betroffene zumeist bewusst entschieden, sodass dessen Rechtsmittelautonomie erheblich eingeschränkt wird.207 Durch die Umdeutung wird auch das zweite Ausgangspro202  Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145 (siehe oben S. 206 und S. 225); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO. 203  Vgl. Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 45. 204  Vgl. die vorgenannten Sonderkonstellationen ab S.  201 und die dortigen Nachweise. Vgl. Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 20; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7 f. 205  Bzw. in einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls, sofern dieser nicht vollzogen wird, vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302 (siehe oben S. 206 und S. 225); KG, Beschluss vom 21. November 2017 – 2 Ws 174/17 – 121 AR 233/17, BeckRS 2017, 136789. 206  Vgl. in der Ausdrücklichkeit: OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195, 196; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); Posthoff, in: HK 2012, § 117 Rn. 15; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21. 207  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851; Rostek, in: StV 2002, 225; zustimmend: Kirchner, StV 2006, 318; ferner nur für die Beschwerdeeinlegung nach dem Zuständigkeitswechsel: Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 22.



D. Die Begründung der Rechtsprechung 241

blem der Rechtsprechung gelöst. Zuständig für den umgedeuteten neuen Haftprüfungsantrag nach § 117 Abs. 1 StPO ist nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO unzweifelhaft das Tatgericht. Damit besteht keine Gefahr, dass dessen Entscheidungsbefugnis auf eine reine Abhilfeentscheidung nach § 306 Abs. 2 StPO beschränkt ist. Teilweise führen die Oberlandesgerichte aus, der Betroffene könne eine Entscheidung des Oberlandesgerichts beanspruchen, wenn er die auf den umgedeuteten Haftprüfungsantrag ergangene Entscheidung anfechte, ohne auf die hiermit verbundene Verfahrensverzögerung einzugehen.208 In zahlreichen Entscheidungen findet sich (teilweise unter Hinweis auf § 117 Abs. 2 Satz 1 StPO) im Rahmen der Begründung des Umdeutungserfordernisses auch die jedenfalls in diesem Zusammenhang wenig aufschlussreiche – wenn auch zutreffende – Bemerkung, die Haftbeschwerde sei gegenüber der Haftprüfung ohnehin subsidiär.209 208  Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 110 (siehe oben S. 223); OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 (siehe oben S. 197); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145 (siehe oben S. 206 und S. 225); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. Juli 1987 – 1 Ws 436/87, BeckRS 1987, 07013; OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570 (siehe oben S. 217); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); KG, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 AR 297/99 – 5 Ws 160/99, BeckRS 2014, 2252 (siehe oben Fn. 38, S. 199); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Thüringen, Beschluss vom 29. Mai 2009 – 1 Ws 204/09, wistra 2010, 80 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); LG Arnsberg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 6 Qs 65/14, BeckRS 2014, 15303 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO; siehe dazu unten S. 252). 209  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221); OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791 (siehe oben Fn. 19, S. 195); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. September 1982 – 2 Ws 651/82, MDR 1983, 152, 153; OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 (siehe oben S. 197); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Dezember 1985 – 1 Ws 275/85, Die Justiz 1986, 144 (siehe oben S. 226); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. Januar 1986 – 3 Ws 2/86, Die Justiz 1986, 144, 145 (siehe oben S. 206 und S. 225); KG, Beschluss vom 23. März 1999 – 1 AR 297/99 – 5 Ws 160/99, BeckRS 2014, 2252;

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5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Teilweise erkennen die Oberlandesgerichte die durch die Umdeutung potenziell denkbare Verfahrensverzögerung. Das Oberlandesgericht Stuttgart wälzt die Verantwortung für die Vermeidung von Verfahrensverzögerungen jedoch auf den Betroffenen ab: Dieser könne zunächst die Haftentscheidung im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses nach § 207 Abs. 4 StPO abwarten oder jedenfalls direkt nach Anklageerhebung beim nunmehr zuständigen Tatgericht einen Haftprüfungsantrag stellen, um Verzögerungen zu vermeiden. Zur Überprüfung dieser Entscheidung könne sodann Beschwerde eingelegt werden. Darauf, dass allein dieses Vorgehen für sich genommen schon geeignet ist, Verzögerungen zu verursachen, geht das Oberlandesgericht Stuttgart indes nicht ein.210 Das Oberlandesgericht Frankfurt stellt nur knapp fest, dass etwaige Verzögerungen Zuständigkeitsmängel nicht ausräumen könnten.211 3. Ursprung der oberlandesgerichtlichen Lösung Nachdem bereits festgestellt wurde, dass der Gesetzgeber die Problematik der Auswirkungen eines Zuständigkeitswechsels auf die Beschwerdefähigkeit vorangegangener Haftbefehle mit hoher Wahrscheinlichkeit übersehen hat212, ist noch offen, ob die Umdeutungspraxis der Rechtsprechung auf die juristische Literatur zurückgeht. Bereits vor der ersten im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Entscheidung des Oberlandesgerichts Oldenburg im Jahr 1956213 wurde das Schicksal ermittlungsrichterlicher Haftbefehle durch die Anklageerhebung bzw. einen sonstigen Zuständigkeitswechsel vereinzelt in juristischen Veröffentlichungen thematisiert. Einige Autoren vertraten bereits vor Einführung der Norm des § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO die Auffassung, dass die Haftzuständigkeit bei Haftbefehlen, die vor Anklageerhebung erlassen wurden, mit Anklageerhebung auf das Tatgericht übergehe und der Ermittlungsrichter seine Zuständigkeit verOLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213. Siehe oben S. 129 und die dortigen Nachweise. Vgl. auch Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 111, 115; Rostek, in: StV 2002, 225, 226, nach deren Auffassung dieses Argument in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht verfängt. 210  Vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687. 211  OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. 212  Siehe oben ab S. 35. 213  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192).



D. Die Begründung der Rechtsprechung 243

liere.214 Von Beling vertrat ergänzend die Auffassung, der nach § 124 Abs. 1 StPO (1926) mit Anklageerhebung zuständig gewordene Richter rücke an die Stelle des zuvor zuständigen Ermittlungsrichters.215 In der Literatur von vor 1956 konnte jedoch gerade nicht die explizite Aussage gefunden werden, dass auch der dem Ermittlungsrichter zugeordnete Instanzenzug seine Zuständigkeit verliere.216

214  Hartung, in: L-R 1934, § 125 Anm. 3 b); Tillmann, in: L-R I 1958, § 124 Anm. 6; § 125 Anm. 5; Schwarz, StPO 1956, § 125 Rn. 1; Erbs, Handkommentar zur StPO, § 124 Anm. I, § 125 Anm. III; Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, § 124 Erl. 4, 7; KMR 1954, § 124 Anm. 1 b); Hartung, Untersuchungshaft, § 125 Anm. 4c; Lobe/ Alsberg, Untersuchungshaft, § 125 Anm. II. 3. 215  Aus diesem Grund könne auch das nunmehr zuständige Gericht den zuvor ergangenen Haftbefehl aufheben, vgl. von Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S. 501, Fn. 4. A. A. Erbs, Handkommentar zur StPO, § 125 Anm. V wonach ausschließlich das Gericht den Haftbefehl aufheben dürfe, der diesen erlassen habe. Die Aufhebung sei aber nach der Anklageerhebung nur formeller Natur, da nach § 207 Abs. 2 StPO (1926/1950) spätestens mit Verfahrenseröffnung eine Haftentscheidung des Tatgerichts zu treffen sei, die ab diesem Zeitpunkt allein die Grundlage der Untersuchungshaftvollstreckung bilde. 216  Diese Auffassung vertrat soweit ersichtlich erstmals das OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); nachfolgend: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791 (siehe oben Fn. 19, S. 195); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. März 1992 – 1 Ws 175/92, VRS. Bd. 83/92, 195, 196; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (zur Berufung; siehe oben S. 216 und S. 224); KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 1996 – 2 Ws 286/96, BeckRS 1996, 5570 (siehe oben S. 217); OLG Naumburg, Beschluss vom 28. Januar 1997 – 1 Ws 334/96, StraFo 1997, 250 (siehe oben S. 201); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 1 Ws 154/99, BeckRS 1999, 03060; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, NStZ-RR 2001, 145, 146 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III – 2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Untersuchungshandlung nach § 162 StPO); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265; OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212); vgl. ferner Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 45; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 20.

244

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

Nach bereits damals verbreiteter Auffassung blieben die ermittlungsrichterlichen Haftentscheidungen trotz der Anklageerhebung bis zu einer neuen Haftentscheidung des nunmehr zuständigen Gerichts wirksam, auch wenn diese entgegen § 207 Abs. 2 StPO (1926/1950) versehentlich unterblieb.217 Die Autoren der 3. Auflage des KMR-Kommentars führten hierzu aus, es bestehe kein „genügender Anlaß, [den Haftbefehl] als durch den Fortgang des Verfahrens überholt anzusehen“218. Zudem wurde vertreten, eine Haftbeschwerde werde dann gegenstandslos, wenn ein Zuständigkeitswechsel eingetreten sei und das dadurch mit der Sache befasste Gericht eine neue Haftentscheidung getroffen habe.219 Überdies sei eine nicht erledigte Haftbeschwerde dann in einen Antrag auf eine mündliche Haftprüfung umzudeuten, wenn das Beschwerdegericht durch einen Zuständigkeitswechsel die erstinstanzliche Haftzuständigkeit erlangt habe, bevor es über die Beschwerde entschieden habe.220 Soweit ersichtlich wurden weitere Konstellationen nach den Untersuchungen der Verfasserin bis zu der Etablierung der oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis nicht diskutiert. Das Vorgesagte lässt somit noch einige Fragen offen. So hatte sich vor der Etablierung der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung soweit ersichtlich 217  Tillmann, in: L-R I 1958, § 125 Anm. 5; KMR 1954, § 125 Anm. 7; Schwarz, StPO 1956, § 125 Rn. 1; Schmidt, Lehrkommentar zur StPO, § 125 Erl. 11; Erbs, Handkommentar zur StPO, § 125 Anm. V; Lobe/Alsberg, Untersuchungshaft, § 125 Anm.  III.; a. A. Hartung, Untersuchungshaft, § 125 Anm. 4 c) (im Jahr 1927) nach dem der Haftbefehl „erlösche“, wenn nicht jedenfalls mit Eröffnung des Hauptverfahrens über die Haftfortdauer entschieden wurde. Der Streit dürfte von geringer Bedeutung gewesen sei, da nach § 207 Abs. 2 (1926/1950) entsprechend des aktuellen § 207 Abs. 4 StPO mit Verfahrenseröffnung von Amts wegen über die Haftfortdauer zu entscheiden war. Einige Jahre später führte Hartung, in L-R 1934, § 125 Rn. 3 b) aus, der Haftbefehl und sonstige Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters würden erst gegenstandslos werden, wenn das Tatgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses ablehne. 218  KMR 1954, § 125 Anm. 7. 219  Lobe/Alsberg, Untersuchungshaft, § 124 Anm. IV; Hartung, in: L-R 1934, § 124 Anm. 5 a. E., § 125 Anm. 3 b); Tillmann, in: L-R I 1958, § 124 Anm. 6 a. E.; § 125 Anm. 5; Erbs, Handkommentar zur StPO, § 125 Anm. V. Zwar lassen die vorgenannten Fundstellen eine genaue Begründung vermissen, verweisen aber großteils auf eine Entscheidung des OLG Dresden, JW 1931, 2859. In dieser Entscheidung hat ein Amtsgericht den Haftbefehl eines anderen Amtsgerichts bestätigt, weshalb der ursprüngliche Haftbefehl nicht mehr angefochten werden konnte. Dies entspricht im Ergebnis auch der heute herrschenden Auffassung bzgl. § 117 Abs. 2 Satz 1 StPO, wonach eine Haftbeschwerde nur gegen die letzte Haftentscheidung zulässig ist (siehe oben S. 128). 220  Hartung, in: L-R 1934, § 124 Anm. 5 a. E.; Tillmann, in: L-R I 1958, § 124 Anm.  6 a. E.: Lobe/Alsberg, Untersuchungshaft, § 124 Anm. IV.



D. Die Begründung der Rechtsprechung 245

niemand mit der Frage befasst, was mit einer anhängigen Beschwerde nach einem Zuständigkeitswechsel geschehen solle, wenn das zuständige Gericht noch keine eigene Haftentscheidung getroffen hatte und die Anklage auch nicht zu dem Beschwerdegericht erhoben wurde. Es wurde einzig – soweit ersichtlich als erstes von Lobe/Alsberg221 – vorgeschlagen, die anhängige Haftbeschwerde dann in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten, wenn die erstinstanzliche Zuständigkeit durch den Zuständigkeitswechsel auf das Beschwerdegericht selbst übergegangen war.222 Diesbezüglich ist zu konstatieren, dass dieser Vorschlag mit bedeutend weniger Verzögerungen verbunden ist, als es in den meisten dargestellten Konstellationen der Fall ist, in denen die Oberlandesgerichte heutzutage eine Umdeutung vornehmen. Denn in diesem Fall verbleiben die Akten bei demselben Gericht und der Betroffene erhält wenigstens eine Haftentscheidung des Gerichts, dass er diesbezüglich angerufen hat.223 Der wohl krasseste Fall der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung, der Umdeutung einer weiteren Haftbeschwerde auf Grund eines Zuständigkeitswechsels, führt dagegen dazu, dass der Betroffene all die erstrittenen Entscheidungen verliert und den Instanzenzug von Vorne beginnen muss. Insgesamt konnten in der Zeit vor der Etablierung der oberlandesgericht­ lichen Rechtsprechung keine Vorschläge für die Behandlung weiterer Beschwerden während eines Zuständigkeitswechsels gefunden werden. Ebenso wenig konnten im Rahmen der Untersuchung Stimmen gefunden werden, die sich bereits vor der Entwicklung der oberlandesgerichtlichen Praxis für eine generelle Umdeutung der (weiteren) Haftbeschwerde im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel aussprachen. Nach den Erhebungen der Verfasserin hatte sich die juristische Wissenschaft noch nicht abschließend mit den Problemen befasst, die ein Zuständigkeitswechsel auf die Beschwerde gegen ermittlungsrichterliche Haftentscheidungen hat, bevor die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung sich zum Ende der 1950er Jahren begann zu etablieren. Es ist daher davon auszugehen, dass die Umdeutungspraxis im Wesent­ lichen ein Produkt der praktischen Rechtsanwendung ist und jedenfalls nicht unmittelbar auf Stimmen in der juristischen Literatur zurückgeführt werden kann. Dieser Verdacht wird dadurch bestärkt, dass insbesondere die ersten Beschlüsse bezüglich der vorgenommenen Umdeutung keine entsprechenden Nachweise enthalten. 221  Lobe/Alsberg,

Untersuchungshaft, § 124 Anm. IV. Hartung, in: L-R 1934, § 124 Anm. 5 a. E.; Tillmann, in: L-R I 1958, § 124 Anm. 6 a. E. 223  Vgl. insoweit Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 106 f. 222  Zustimmend:

246

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

E. Zwischenergebnis Den Oberlandesgerichten ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, dass sich aus § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht unmittelbar ergibt, wie mit Haftbeschwerden im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel umzugehen ist. Nach der Auffassung der Rechtsprechung greift der in § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO normierte Zuständigkeitswechsel in jedem Fall mit dem Zeitpunkt der Anklageerhebung ungeachtet etwaig gegen den Haftbefehl anhängiger Rechtsmittel. § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO hat nach der Rechtsprechung aber keine Auswirkungen auf vor Anklageerhebung getroffene Haftentscheidungen. Somit ist jedenfalls folgerichtig, dass nach der Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO der Oberlandesgerichte ohne die Annahme der prozes­ sualen Überholung eine Doppelzuständigkeit droht. Würde das Beschwerdeverfahren dennoch durchgeführt werden, wären nach dem Verständnis der Rechtsprechung sowohl das Tatgericht nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO, als auch das Beschwerdegericht weiterhin nach (im Regelfall) § 73 Abs. 1 GVG zuständig, um über die Haftfrage zu entscheiden. Es drängt sich allerdings nicht ohne Weiteres auf, weshalb mit Ausnahme des Oberlandesgerichts Frankfurt im Jahr 1972224 keines der Oberlandesgerichte die Umdeutungspraxis in Frage gestellt und den Versuch unternommen hat, § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO anderweitig auszulegen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Oberlandesgerichte mit der Problemlösung anfänglich weitestgehend auf sich alleine gestellt waren. Nach den Ergebnissen dieser Untersuchung hat der Gesetzgeber das Problem nicht erkannt. Auch die juristische Wissenschaft hatte die Folgen des Zuständigkeitswechsels auf ermittlungsrichterliche Haftbefehle soweit ersichtlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig erfasst. Zwar hat offensichtlich keines der Oberlandesgerichte jemals die Verfassungskonformität der Umdeutungspraxis in Frage gestellt. Dennoch drängt sich vor dem Hintergrund, dass einige Oberlandesgerichte jedenfalls erkannt haben, dass die Umdeutungspraxis zu Verzögerungen führt225 und auch auf 224  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 225  So etwa: OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. Außerdem räumen diejenigen Oberlandesgerichte, die eine Umdeutung ablehnen, wenn das nunmehr zuständige Tatgericht kurz zuvor eine begründete Haftentscheidung getroffen hat (siehe oben ab S. 208), ein, dass die Umdeutungspraxis zu Verzögerungen führt, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433 (siehe oben S. 209); KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom



E. Zwischenergebnis247

Grund der später vereinzelt in der Wissenschaft geübten Kritik, auf die an späterer Stelle noch einzugehen sein wird226, nach hiesiger Auffassung jedenfalls der Versuch einer alternativen Auslegung auf. Außerdem wäre eine selbstständige kritische Überprüfung der etablierten Judikatur der Oberlandesgerichte angezeigt gewesen, nachdem das Bundesverfassungsgericht der Rechtsfigur der prozessualen Überholung im Jahr 1997227 bei erledigten eingriffsintensiven Maßnahmen eine Absage erteilt hatte.228 Bemerkenswert ist nach dem Vorgesagten ebenfalls die Uneinigkeit in der Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, ob eine Umdeutung auch vorzunehmen ist, wenn die nunmehr als Tatgericht zuständige Kammer „kurz zuvor“229 eine hinreichend begründete Haftentscheidung getroffen hat.230 Diejenigen Oberlandesgerichte, die eine Umdeutung generell ablehnen, wenn die nunmehr als Tatgericht zuständige Kammer kurz zuvor als Beschwerdekammer eine hinreichend begründete Haftentscheidung getroffen hat, begründen dies generell damit, dass die erneute Entscheidung desselben Spruchkörpers eine reine nicht gebotene Förmelei darstellen, die das Verfahren ohne sachlichen Grund verzögere. Bedauerlicherweise hat sich auch in diesem Zusammenhang keines der Oberlandesgerichte dazu verhalten, aus welchen gesetzlichen Gründen in dieser Sonderkonstellation keine Gefahr divergierender Entscheidungen bestehe.231 Zudem ist nicht nachvollziehbar, weshalb die nunmehr als Tatgericht agierende Kammer in diesen Fällen gar 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 21. Januar 2003 – 2 Ws 21/03, BeckRS 2003, 18085 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 11. November 2003 – 2 Ws 599/03, BeckRS 2003, 18091 (siehe oben S. 210); OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 226  Siehe dazu ab S. 285. 227  BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163. 228  Siehe oben S. 109. 229  Gemeint ist der Zeitraum zwischen zwei potenziellen Beschwerdeentscheidungen, siehe zu der Bestimmung des maßgeblichen Zeitraums oben S. 214. 230  Siehe zu dieser Sonderkonstellation der Anklageerhebung zu der Beschwerdekammer oben ab S. 207. 231  Vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433 (siehe oben S. 209); KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 21. Januar 2003 – 2 Ws 21/03, BeckRS 2003, 18085 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 11. November 2003 – 2 Ws 599/03, BeckRS

248

5. Teil: Die Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO

keine Haftentscheidung mehr treffen soll. Dies ist von Bedeutung, da für die Umdeutungspraxis insbesondere angeführt wird, dass das Tatgericht bei Fortführung des Beschwerdeinstanzenzugs beim Oberlandesgericht in einigen Fällen auf eine reine verfahrensinterne Nichtabhilfeentscheidung nach § 306 Abs. 2 StPO verwiesen werde, was dessen Rollen als „sachnahes Tatgericht“ nicht gerecht werde.232 Eine gesetzliche Grundlage für diese Differenzierung vermag die Verfasserin jedenfalls nicht zu erkennen. Die Gegenauffassung, die generell eine Umdeutung vornimmt, kritisiert teilweise explizit die mit der Nichtvornahme der Umdeutung einhergehenden Rechtsunsicherheiten und Zufälligkeiten bzgl. der Zuständigkeitsbestimmung.233 Festzuhalten bleibt, dass das Vorgehen der Rechtsprechung und die entsprechenden Begründungen in sich weitestgehend schlüssig und einheitlich sind. Die lediglich hinsichtlich der Sonderkonstellation 3234 in der Rechtsprechung bestehende Uneinigkeit offenbart jedoch bereits auf den ersten Blick Mängel an der gesetzlichen Rechtfertigung der Umdeutungspraxis. Nach alledem drängt sich nach hiesiger Auffassung auf zu prüfen, ob die prozessuale Überholung im Falle von Haftbeschwerden gegen einen gegenwärtig belastenden Haftbefehl weiterhin herangezogen werden kann.

2003, 18091 (siehe oben S. 210); OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 232  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 310); KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229). 233  Vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 5. November 1991 – 2 Ws 413/91, BeckRS 1991, 07990 (siehe oben S. 215); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Januar 1992 – 3 Ws 45/92, NStE Nr. 2 zu § 125 StPO; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Juli 1992 – 3 Ws 449/92, StV 1993, 482 (siehe oben S. 216 und S. 224); Thüringisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. September 2005 – 1 Ws 336/05 –, juris (siehe oben S. 219). Vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 12; Posthoff, in: HK 2012, § 117 Rn. 15, § 126 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo 2014, § 117 Rn. 39; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21 (nur bzgl. Beschwerdeeinlegung vor Anklageerhebung); Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 112 f., 115. 234  Siehe zu der Sonderkonstellation der Anklageerhebung zu der Beschwerdekammer oben ab S. 207.

6. Teil

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts Im Normalfall, nämlich dann, wenn es sich nicht um eine Strafsache handelt, die erstinstanzlich in der Zuständigkeit des Bundes oder der Oberlandesgerichte liegt, endet der Instanzenzug im Beschwerdeverfahren bei den Oberlandesgerichten.1 Dennoch existieren einige Beschlüsse der Bundesgerichte, die sich auch mit dem Schicksal einer Beschwerde im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel befassen. Diese werden im Folgenden untersucht, um ggf. Rückschlüsse für die oberlandesgerichtliche Praxis herleiten zu können.

A. Exkurs: § 162 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 StPO Um diese Untersuchung einem vollständigen und nachvollziehbaren Ergebnis zuführen zu können, ist in gebotener Kürze auch die Rechtsprechung bezüglich der weiteren in § 162 Abs. 3 StPO gesetzlich geregelten Zuständigkeitswechsel vorzustellen. Wie bereits dargestellt, wurde § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO dem § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Reform im Jahre 2010 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beinahe wortgleich nachempfunden.2 Ein großer Teil der seitens der Bundesgerichte existierenden Entscheidungen beziehen sich auf einen Zuständigkeitswechsel nach § 162 Abs. 3 StPO. Es erscheint in Anbetracht der wenigen verfügbaren bundesgerichtlichen Beschlüsse daher angezeigt, die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch bezüglich der Entscheidungen zu § 162 Abs. 3 StPO dahingehend zu untersuchen, wie diese sich zu dem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und der oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis verhält.

1  Siehe 2  Siehe

oben ab S. 122 und S. 134. oben S. 64.

250

6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

I. Grundlegendes zu § 162 StPO § 162 Abs. 1 StPO behandelt die Zuständigkeit für weitere gerichtliche Untersuchungshandlungen während des Ermittlungsverfahrens. Gemeint sind gerichtliche Untersuchungshandlungen, die zur Aufklärung der vermeintlich begangenen Tat beitragen sollen, wie beispielsweise die Unterbringung des Betroffenen zur Vorbereitung eines Gutachtens nach § 81 StPO, die körper­ liche Untersuchung des Betroffenen nach § 81a StPO, die Untersuchung anderer Personen nach § 81c StPO, die monekulargenetischer Untersuchungen nach § 81f StPO, die DNA-Reihenuntersuchung nach § 81h StPO, die Beschlagnahme nach § 98 StPO, die Durchsuchung nach § 105 StPO, die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO, die Anordnung der Beschlagnahme (gemäß § 111b StPO) und des Vermögensarrestes (gemäß § 111e StPO) nach § 111j StPO sowie die Anordnung eines vorläufigen Berufsverbots nach §  132a StPO.3 Erfasst sind auch richterliche Unter­ suchungshandlungen wie z.  B. richterliche Vernehmungen4 i. S. d. §  168c 5 ­StPO. Teilweise wird § 162 StPO jedoch durch Sonderregelungen verdrängt.6 Beantragt die Staatsanwaltschaft bei dem nach § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO zuständigen Gericht eine gerichtliche Untersuchungshandlung, kann sie da-

3  Vgl. Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 9 (dort auch Fn. 35); Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 4, § 111a Rn. 7, § 111j Rn. 1 i. V. m. § 98 Rn. 4; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 4; Kölbel: in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 3 (dort auch Fn. 9 und Fn. 10); Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 162 Rn. 2 f.; Ziegler, in: SSW 2018, § 162 Rn. 1, § 111a Rn. 13. 4  Wobei § 162 Abs. 1 Satz 3 StPO für Vernehmungen und Inaugenscheinnahmen eine weitere alternative Zuständigkeit des Amtsgerichts normiert, in dessen Bezirk diese Untersuchungshandlungen vorzunehmen sind, wenn die Staatsanwaltschaft solche zur Beschleunigung des Verfahrens oder zur Vermeidung von Belastungen Betroffener (gemeint sind in diesem Zusammenhang die von der Vernehmung oder Inaugenscheinnahme Betroffenen) bei diesem beantragt; vgl. Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 28; Plöd, in: KMR III 2019, § 162 Rn. 10; Kölbel: in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 14 f.; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 162 Rn. 22; a.A wohl MeyerGoßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 11; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 9, wonach § 162 Abs. 1 Satz 3 StPO die Zuständigkeitskonzentration des § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO verdrängt. 5  Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 6 f., 28, 40 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 4, 11; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 4; Plöd, in: KMR III 2019, § 162 Rn. 2; Kölbel: in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 7; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 162 Rn. 6; Ziegler, in: SSW 2018, § 162 Rn. 1. 6  BT-Drs. 16/5846 S. 65. So etwa bei § 81 Abs. 3 StPO, vgl. mit weiteren Beispielen: Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 12; Plöd, in: KMR III 2019, § 162 Rn. 11; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 13; Ziegler, in: SSW 2018, § 162 Rn. 2.



A. Exkurs: § 162 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 StPO 251

neben dort unbeschadet der §§ 125, 126a StPO auch den Erlass eines Untersuchungshaftbefehls beantragen, § 162 Abs. 1 Satz 2 StPO.7 Bei § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO handelt sich um die wortgleiche Parallelnorm zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Danach ist für gerichtliche Untersuchung nach Erhebung der öffentlichen Klage das Gericht zuständig, das mit der Sache befasst ist. § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO erfasst die Zeit nach dem rechtskräftigen Verfahrensabschluss. Danach ist in dieser Zeit wieder der Ermittlungsrichter nach § 162 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO zuständig.8 Da zu diesem Zeitpunkt in der Praxis regelmäßig keine Untersuchungshandlung mehr erforderlich sind, dürfte die Zuständigkeit nach Rechtskraft des Urteils nur noch die Bescheidung der Anfechtung der bereits getroffenen Maßnahmen bzw. der Beantragung deren Aufhebung bzw. der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit (bei fortbestehendem Rechtsschutzbedürfnis)9 betreffen.10 Die Zuständigkeit gemäß § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO geht nach Berufungseinlegung mit der Aktenzuleitung nach § 321 Satz 2 StPO ebenfalls auf das Berufungsgericht über.11 Während des Revisionsverfahrens gilt §  162 Abs. 3 Satz 2 StPO, wonach die Zuständigkeit bei dem Gericht verbleibt, dessen Entscheidung angefochten wird.12

7  Diesem Gericht obliegt dann die Haftkontrolle auch für weitere Maßnahmen nach §§ 116, 120, 126a Abs. 2 Satz 1 StPO, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 4; Plöd, in: KMR III 2019, Kölbel: in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 13; § 162 Rn. 9; Ziegler, in: SSW 2018, § 162 Rn. 1. Siehe auch oben S. 73. 8  OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51, 52 f.; Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 49; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 17; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 14; Plöd, in: KMR III 2019, § 162 Rn. 12; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 18; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 162 Rn. 9; Ziegler, in: SSW 2018, § 162 Rn. 119. Dies galt nach der überwiegenden Auffassung der Rechtsprechung auch schon vor der Einführung des § 162 Abs. 3 StPO in seiner heutigen Fassung, vgl. OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, NStZ-RR 2001, 145, 146; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III – 2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349, 349 f. 9  Siehe zu der Frage des Rechtsschutzbedürfnisses bei erledigten Maßnahmen oben ab S. 109. 10  Vgl. Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 53. 11  Vgl. Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 49; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 321 Rn. 2; Brunner, in: SSW 2018, § 321 Rn. 4. 12  Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 49; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 17; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 14; Plöd, in: KMR III 2019, § 162 Rn. 12; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 18; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 162 Rn. 9.

252

6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

II. Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu § 162 StPO Fallbeispiel 8 Gegen den Tatverdächtigen T wird ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Begehung einer Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) eingeleitet. Der zuständige Ermittlungsrichter E beim Amtsgericht A ordnet die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des T gemäß § 111a StPO an. Gegen diese Anordnung legt T Beschwerde ein. Am gleichen Tag klagt die zuständige Staatsanwaltschaft den T wegen einer Straßenverkehrsgefährdung (§ 315c StGB) beim Strafrichter des Amtsgerichts A an. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig?

Nach Inkrafttreten des § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO in seiner heute geltenden Fassung am 1. Januar 201013 hatte das Landgericht Arnsberg14 im Jahr 2013 einen ähnlichen Fall wie den des achten Fallbeispiels zu entscheiden. Dem veröffentlichten Beschluss ist der genaue Tatvorwurf nicht zu entnehmen. Zudem hat die Staatsanwaltschaft keine Anklage zum Strafrichter beim Amtsgericht erhoben, sondern den Erlass eines Strafbefehls beantragt. Der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls steht jedoch der Anklageerhebung gleich, vgl. § 407 Abs. 1 Satz 4 StPO.15 Das Landgericht Arnsberg entschied, auch die Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sei durch den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls – also dem Zeitpunkt, der dem der Anklageerhebung nach § 407 Abs. 1 Satz 4 StPO entspricht – prozessual überholt. Der für die Anordnung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 163 Abs. 1 Satz 1 StPO während des Ermittlungsverfahrens zuständige Ermittlungsrichter habe seine Zuständigkeit durch den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls verloren.16 Aus diesem Grund sei die Beschwerde in einen Antrag auf Aufhebung der Entziehungsanordnung nach § 111a StPO umzudeuten. Über diesen Antrag habe das durch den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls mit 13  Siehe 14  LG

oben S. 64. Arnsberg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 6 Qs 65/14, BeckRS 2014,

15303. 15  LG Arnsberg, Beschluss vom 24. Juli 2014 – 6 Qs 65/14, BeckRS 2014, 15303; Gössel, in: L-R VIII 2009, § 407 Rn. 42; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 407 Rn. 5; Maur, in: KK 2019, § 407 Rn. 3; Metzger, in: KMR VI 2019, § 407 Rn. 36; Eckstein, in: MüKo III-1 2019, § 407 Rn. 65; Paeffgen, in: SK VIII 2013, § 407 Rn. 3. 16  Die Beschlussgründe nehmen an dieser Stelle Bezug auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341; Meyer-Goßner, StPO 2013, § 162 Rn. 19. Denkbar ist, dass die nachfolgende im Laufe des Jahres 2014 erschienene 57. Auflage gemeint ist, dessen § 162 Rn. 9 inhaltsgleich ist.



A. Exkurs: § 162 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 StPO 253

der Sache befasste Gericht zu entscheiden. Erst diese Entscheidung sei beschwerdefähig.17 Das Landgericht Arnsberg teilte im Rahmen dieses Beschlusses eine Auffassung, die verschiedene Oberlandesgerichte bereits vor Inkrafttreten des § 162 Abs. 3 StPO in seiner aktuellen Fassung vertraten.18 Seit dem 1. Januar 2010 und damit dem Inkrafttreten des § 162 Abs. 3 StPO wurde eine abweichende Ansicht in der Rechtsprechung soweit ersichtlich nicht mehr vertreten.19 Die Umdeutungspraxis wendeten die Oberlandesgerichte – teilweise ebenfalls vor Inkrafttreten des § 162 Abs. 3 StPO – auch auf andere gerichtliche Untersuchungshandlungen nach § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO an. So entschied das Oberlandesgericht Karlsruhe20 bereits im Jahr 1997, dass auch eine Beschwerde gegen eine Beschlagnahmeanordnung nach §§ 94, 98 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3, 162 StPO zum Zeitpunkt der Anklageerhebung in 17  Das Landgericht Arnsberg verweist hier auf Meyer-Goßner, StPO 2013, § 111a Rn. 19; StPO 2014, § 111a Rn. 19 (siehe Fn. 16, S. 252). 18  So etwa OLG Hamm, Beschluss vom 8. Juli 1968 – 4 Ws 145/68, NJW 1969, 149, 150; OLG Celle, Beschluss vom 10. Mai 2000 – 3 Ars 9/00, StraFo 2001, 134, 134 f.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 23. Mai 2000 – 1 Ws 324/00, BeckRS 2000, 30113341; OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Februar 2002 – 4 Ws 38/02, BeckRS 2002, 3019. 19  Eine abweichende Auffassung hatte zuvor etwa das OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Oktober 1973 – 2 Ws 204/73, MDR 1974, 159 ohne Begründung zu dem Verhältnis zu der bereits damals seitens anderer Oberlandesgerichte praktizierten Umdeutung (vgl. Fn. 18, S. 253) von Beschwerden im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel vertreten. Das OLG Karlsruhe beschied die Beschwerde nach Nichtabhilfe durch das mit der Sache befasste Gericht ohne eine vorangegangene Umdeutung in einen Aufhebungsantrag. Demgegenüber lehnte das OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. November 1989 – 6 Ws 220/89, NStZ 1990, 141 die Bescheidung einer Beschwerde gegen eine Maßnahme des Amtsrichters (aus dem Beschluss geht nicht hervor, ob das Amtsgericht als Ermittlungsrichter oder Tatgericht tätig war) nach § 111a StPO nach Zuleitung der Berufungsakten an die Strafkammer wegen Unzulässigkeit ab. Zur Begründung führte es an, eine Parallelnorm zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO existiere bzgl. amtsrichterlicher Maßnahmen nach § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO (in der 1989 geltenden Fassung der StPO) nicht, sodass die Zuständigkeit bzgl. solcher auch nicht auf das Tatgericht übergehen könne. Identisches gelte für die Berufungseinlegung. Somit seien Beschwerden gegen amtsrichterliche Maßnahmen im Falle eines Zuständigkeitswechsels nicht – wie im Rahmen der schon zu diesem Zeitpunkt herrschenden Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO – in einen Aufhebungsantrag umzudeuten. Im Ergebnis stelle eine Beschwerde gegen die ermittlungsrichterliche bzw. amtsgerichtliche Maßnahme zum Oberlandesgericht eine (nach § 310 Abs. 2 StPO) unzulässige Beschwerde dar. Jedenfalls der vierte Senat des Oberlandesgerichts hat diese Auffassung bereits vor der Reform des § 162 StPO nicht vertreten (vgl. Fn. 18, S. 253). 20  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 20. November 1997 – 2 Ws 174/97, BeckRS 1997, 8628 m. w. N.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

einen Antrag auf Aufhebung der Beschlagnahmeanordnung umzudeuten sei und über diesen das mit der Sache befasste Gericht zu entscheiden habe. Diese grundsätzliche Auffassung wurde in der Rechtsprechung auch bezüglich Beschwerden gegen die Anordnung monekulargenetischer Untersuchungen nach § 81g StPO21 und gegen Observationsmaßnahmen nach § 163f StPO22 ebenfalls vor der Einführung der aktuellen Fassung des § 162 Abs. 3 StPO vertreten. Identisches gilt für Beschwerden gegen eine ermittlungsrichterliche Beschlagnahme- (gemäß § 111b StPO) und Arrestanordnungen (gemäß § 111e StPO) nach § 111j StPO (dort insbesondere Abs. 2 Satz 4, der bezüglich der Zuständigkeit § 162 für anwendbar erklärt).23 Die obergerichtliche Rechtsprechung zu § 162 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 StPO entspricht damit derjenigen zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO.24 Einige der vorgenannten Beschlüsse nehmen Bezug auf Entscheidungen des Bundesgerichtshofs; einschließlich der noch darzustellenden Entscheidung25, 21  OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III-2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349 und bezüglich des Zuständigkeitswechsels mit Eintritt der Rechtskraft der Verurteilung: OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, NStZRR 2001, 145. 22  In diesem Fall handelte es sich um eine Beschwerde gegen eine erledigte Observationsmaßnahme. Die auf die Feststellung deren Rechtswidrigkeit gerichtete und nach Anklageerhebung eingelegte Beschwerde war nach dem OLG Frankfurt auf Grund der Anklageerhebung in einen entsprechenden Antrag an das Tatgericht umzudeuten; vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 1. Dezember 2005 – 3 Ws 972/05 u. 1021/05, NStZ-RR 2006, 44, 45. 23  Vgl. vor Einführung des § 162 Abs. 3 StPO OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Januar 2003 – 1 Ws 9/03, wistra 2003, 238, 239 m. w. N. und OLG Thüringen, Beschluss vom 29. Mai 2009 – 1 Ws 204/09, wistra 2010, 80; Erb, in: L-R V 2008, § 162 Rn. 52. Vgl. hinsichtlich des Zuständigkeitswechsels durch den Eintritt der Rechtskraft nach § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. September 2013 – III-2 Ws 434/13, BeckRS 2013, 18075. Der Streit hinsichtlich der bis zu der Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung (BGBl. I Nr. 22 vom 21. April 2017 S. 872 bis S. 894, BGBl. I Nr. 24 vom 12. Juli 2018 S. 1094) geltenden Zuständigkeitsregeln der §§ 111i Abs. 5, 111f Abs. 5 StPO (vgl. zu diesem die divergierenden Entscheidungen des OLG Celle, Beschluss vom 1. Juni 2016 – 1 AR 19/16, NStZ-RR 2017, 17 und des OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51 m. w. N.) dürfte durch dessen Streichung und Einführung der Zuständigkeitsnorm des § 111j Abs. 2 Satz 4 StPO im Rahmen dieser Reform durch deren Inkrafttreten am 1. Juli 2017 obsolet geworden sein. 24  Vgl. Erb, in: L-R V-2 2018, § 162 Rn. 54; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 162 Rn. 19; Griesbaum, in: KK 2019, § 162 Rn. 20; Plöd, in: KMR III 2019, § 162 Rn. 20; Kölbel, in: MüKo II 2016, § 162 Rn. 34; Frisch, in: SK VI 2016, § 308 Rn. 5. 25  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – 1 StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175.



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972255

auf die auch die Gesetzesbegründung zu § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO26 Bezug nimmt. Lösung des achten Fallbeispiels Kein Gericht ist zu der Bescheidung der Beschwerde des T gegen die vorläufige Entziehung seiner Fahrerlaubnis zuständig. Seine Beschwerde wird in einen Antrag auf Aufhebung der Entziehung umgedeutet. Über diesen hat der durch die Anklageerhebung mit der Sache befasste nach § 163 Abs. 3 Satz 1 StPO zuständig gewordene Strafrichter am Amtsgericht A zu entscheiden. Eine Entscheidung des Landgerichts kann T erst erreichen, wenn er gegen die auf den umgedeuteten Aufhebungsantrag ergehende Entscheidung des Strafrichters beim Amtsgerichts A Beschwerde einlegt und dieser nicht abgeholfen wird.

B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972 Auf den ersten Blick verwundert, dass die vorgenannten Beschlüsse der Oberlandesgerichte kaum Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nehmen. Tatsächlich existieren durchaus Beschlüsse des Bundesgerichtshofs, die die Folgen eines Zuständigkeitswechsels zum Gegenstand haben. Umgekehrt setzt sich – wie im Folgenden darzulegen sein wird – auch der Bundesgerichtshof in diesen Beschlüssen inhaltlich nicht mit der gefestigten Rechtsprechung der Oberlandesgerichte insbesondere hinsichtlich der Beschwerdefähigkeit ermittlungsrichterlicher Maßnahmen mit Eintritt eines zuständigkeitsändernden Ereignisses auseinander.

I. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 1. Bestimmung des zuständigen Rechtsmittelgerichts Grundsätzlich ist nach dem Bundesgerichtshof das zuständige Rechtsmittelgericht danach zu bestimmen, welches Gericht die angefochtene Entscheidung tatsächlich getroffen hat. Eine sich nach Erlass der angefochtenen ­Entscheidung ändernde Verfahrenslage soll gerade keinen Einfluss auf die Bestimmung des zuständigen Rechtsmittelgerichts haben. Dies folge aus dem Gerichtsverfassungsgesetz, welches zur Bestimmung des zuständigen Rechtsmittelgerichts allein in tatsächlicher Hinsicht darauf abstellt, welches Gericht die angefochtene Entscheidung getroffen hat.27 Das Gerichtsverfas26  BT-Drs.

16/11644, S. 14; siehe auch oben S. 64. Beschluss vom 30. Januar 1968 – 1 StR 319/67, NJW 1968, 952. In diesem der Entscheidung des BGH zu Grunde liegendem Fall wurden gemeinschaftlich mehrere Angeklagte vom Jugendrichter verurteilt, wobei nur einer der Angeklagten 27  BGH,

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

sungsgesetz stelle im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung alleine darauf ab, welches Gericht die angefochtene Maßnahme getroffen habe. Diese gerichtsverfassungsrechtlichen Bestimmungen seien unabänderlich. Somit ­ komme es nicht einmal darauf an, ob dieses Gericht zum Zeitpunkt seiner Entscheidung überhaupt zuständig gewesen sei.28 2. Sonderfall: Haftkontrolle nach Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft (§ 142a StPO) a) Bundesgerichtshof Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 197229 soll der vorgenannte Grundsatz aber gerade nicht ausschließlich gelten, wenn ausnahmsweise die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts gemäß § 142a GVG und somit des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof nach § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO gegeben sei.30 In diesem Fall hatte der Generalbundesanwalt die Sache nach § 120 Abs. 2 GVG an sich gezogen. Der genaue Tatvorwurf ist dem veröffentlichten Beschluss nicht zu entnehmen. Der Betroffene befand sich auf Grund des Verfahrens in Untersuchungshaft. Diesbezüglich hatte der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof (nach damals geltender Rechtslage31) eine Anordnung des Leiters der Justizvollzugsanstalt, wonach es dem Betroffenen nur noch erlaubt war Anstaltskleidung zu tragen, durch Beschluss vom 19. Juli 1972 bestätigt. Gegen diesen Beschluss legte der Betroffene am 18. Juli 1972

zum Tatzeitpunkt tatsächlich jugendlich war. Nur einer der erwachsenen Verurteilten legte gegen das Urteil Berufung ein, welche die Jugendkammer verwarf. Gegen diese Entscheidung legte der erwachsene Verurteilte Revision ein und erhob insbesondere die Verfahrensrüge dahingehend, dass statt der Jugendkammer die Strafkammer die Berufung hätte bescheiden müssen. Das OLG Stuttgart legte dem BGH in diesem Zusammenhang die Frage vor, ob die Strafkammer oder die Jugendkammer für die Bescheidung der Revision zuständig gewesen ist. Dieser entschied daraufhin, dass es für die Anwendung des § 41 Abs. 2 JGG und somit der Zuständigkeit der Jugendkammer alleine darauf ankäme, ob das angefochtene Urteil von dem Jugendrichter bzw. Jugendschöffengericht erlassen worden sei. 28  BGH, Beschluss vom 30. Januar 1968 – 1 StR 319/67, NJW 1968, 952, 953. Vgl. Kissel/Mayer, GVG, § 74 Rn. 25; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 19; Schuster, in: MüKo III-2 2018, GVG, § 74 Rn. 8. 29  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477. 30  Siehe zu den Voraussetzungen der Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und des Ermittlungsrichters beim BGH oben ab S. 76. 31  Die übrigen folgenden Normen wurden an die aktuelle Rechtslage angepasst.



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972257

[sic!]32 Beschwerde ein. Dieser half der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof jedoch nicht ab. Bevor die Beschwerde dem Bundesgerichtshof als Beschwerdegericht zugeleitet worden war, gab er die Sache am 28. Juli 1972 nach § 142a Abs. 4 GVG an die Landesstaatsanwaltschaft ab. Die Beschwerde wurde sodann dem Landgericht Frankfurt vorgelegt. Dies vertrat die Auffassung, der Bundesgerichtshof bliebe auch nach Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft das zuständige Beschwerdegericht für Beschwerden gegen Beschlüsse des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof und hielt sich somit für unzuständig.33 Der Bundesgerichtshof teilte diese Auffassung nicht. Zunächst sei die Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs als Beschwerdegericht an die Voraussetzungen des § 135 Abs. 2 GVG gebunden. Es müsse sich um ein Verfahren des Bundes handeln, hinsichtlich dessen der Generalbundesanwalt die Ermittlungen nach § 142a GVG führe. Zudem müsse eine Beschwerde des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs angefochten worden sein. Die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof hänge nach den §§ 142a, 120 GVG maßgeblich mit der Bedeutung der Sache, den Bundesinteressen und der Rechtseinheit zusammen.34 Lägen nicht mehr alle den Generalbundesanwalt zu den Ermittlungen ermächtigenden gesetzlichen Voraussetzungen der §§ 142a, 120 GVG vor, habe dieser die Sache nach § 142a Abs. 2 oder Abs. 4 GVG an die Landesstaatsanwaltschaft abzugeben. Mit der Abgabe erlösche die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof35 und des diesem als Beschwerdeinstanz zugeordneten Bundesgerichtshofs.36 Der Grundsatz37, dass 32  Eigentlich müsste die Beschwerde dem bestätigenden Beschluss (vom 19. Juli 1972) nachfolgend eingelegt worden sein und nicht einen Tag zuvor, wie in der Entscheidung angegeben. Die Verfasserin konnte nicht mehr aufklären, ob es sich hierbei lediglich um einen Druckfehler handelt. 33  Das Landgericht Frankfurt wies in diesem Zusammenhang auf Kleinknecht, StPO 1971, § 168a Anm. 8 hin. 34  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478. 35  Der BGH verweist hier auf BGH, Beschluss vom 12. September 1955 – 2 BJs 202/55 – StB 39/55 – unveröffentlicht. Hier wurde ebenfalls entschieden, der Ermittlungsrichter beim BGH verliere die (Haft-)Zuständigkeit mit Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft. Vgl. auch BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 27/72, NJW 1973, 475, 476. 36  Vgl. nunmehr Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 44; § 126 Rn. 9; Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5, 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 7; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3, 9; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 7; Kölbel, in: MüKo I 2014, § 169 Rn. 5; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7, 11. 37  BGH, Beschluss vom 30. Januar 1968 – 1 StR 319/67, NJW 1968, 952 (siehe oben S. 255).

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

sich das zuständige Rechtsmittelgericht nach dem Gericht bestimme, welches tatsächlich die Ausgangsentscheidung getroffen habe, sei mit der restriktiven Bundeszuständigkeit unvereinbar.38 Zudem müsse die Beschwerdezuständigkeit des Bundesgerichtshofs ent­ fallen, weil durch die Abgabe nach § 169 Abs. 1 Satz 1 StPO nunmehr der Ermittlungsrichter beim Oberlandesgericht zuständig sei. Bestünde daneben weiterhin die Beschwerdezuständigkeit des Bundesgerichtshofs, wären zwei Gerichte zuständig. Die Folgen einer solche Doppelzuständigkeit seien am Beispiel der Haftbeschwerde besonders deutlich: Einerseits könne der Bundesgerichtshof den Haftbefehl im Rahmen seiner Beschwerdeentscheidung aufheben, andererseits obliege die eigentliche Haftkontrolle durch die Abgabe nach § 142a StPO aber dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht oder ggf. Oberlandesgericht. Dieser sei nach § 120 StPO zur fortlaufenden Überprüfung der Haftvoraussetzungen und beim Wegfall der Haftvoraussetzungen zu der Aufhebung des Haftbefehls von Amts wegen zuständig. Treffe der Ermittlungsrichter (beim Amtsgericht oder Oberlandesgericht) weitere Haftentscheidungen, wäre zur Bescheidung von Beschwerden gegen diese auch nicht der Bundesgerichtshof, sondern in jedem Fall ein Landesgericht zuständig. Eine solche Doppelzuständigkeit berge die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen in der gleichen Sache. Dies könne der Gesetzgeber nicht gewollt haben.39 Eine andere Beurteilung sei auch nicht angezeigt, weil die Beschwerde vor der Abgabe eingelegt worden sei und der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof dieser auch vor der Abgabe nicht abgeholfen hatte. „Nach alledem [sei nach dem Bundesgerichtshof] das Landgericht für die Entscheidung über das Rechtsmittel zuständig.“40

Kurz darauf ergänzte der Bundesgerichtshof diese Entscheidung in einem weiteren Beschluss Ende des Jahres 1972.41 Auch in diesem Fall hatte der Generalbundesanwalt die Sache nach § 142a GVG an die Landesstaatsanwaltschaft abgegeben. Der Betroffene befand sich ebenfalls in Untersuchungshaft. Das Amtsgericht in dem Bezirk dieser Landesstaatsanwaltschaft hielt sich für unzuständig, einen Antrag dieser auf den Erlass haftbeschränkender Maßnahmen (insb. der Beschränkung des Besuchs- und Postverkehrs) 38  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 477, 478. 39  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 477, 478. 40  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 477, 478; Hervorhebung durch die Verfasserin. 41  BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 475.

37/72, NJW 1973, 37/72, NJW 1973, 37/72, NJW 1973, 27/72, NJW 1973,



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972259

zu bescheiden und legte die Sache dem Bundesgerichtshof zu der Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 14 StPO vor. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass gesetzlich nicht geregelt sei, welches Gericht nach der Abgabe einer Sache an die Landesstaatsanwaltschaft nach § 142a GVG zuständig sei. Die § 125 f. StPO enthielten keine entsprechende Regelung. Zwar ermögliche § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO unter bestimmten Voraussetzungen42 die Zuständigkeitsübertragung im Ermittlungsverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Diese Norm regele aber gerade nicht den speziellen Fall des Wechsels von der Bundes- zu der Landeszuständigkeit. Dennoch stelle § 126 Abs. 1 StPO klar, dass stets ein Gericht für die Haftkontrolle zuständig sein müsse. In entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO sei es dem Ermittlungsrichter auf Antrag des Generalbundesanwalts daher auch nach Abgabe der Sache nach § 142a GVG möglich, die Haftzuständigkeit des § 126 Abs. 1 StPO auf ein Landesgericht zu übertragen, welches nach den Grundsätzen des § 125 Abs. 1 StPO zum Erlass des Haftbefehls zuständig gewesen wäre.43 Erforderlich sei eine solche Zuständigkeitsübertragung wohl aber nur, sofern kein Landesgericht, welches grundsätzlich nach § 125 Abs. 1 StPO zuständig sein könnte, die Haftkontrolle übernehme.44 In den anderen seitens des Bundesgerichtshofs entschiedenen Fällen45 habe ein Übernahme der Haftkontrolle durch ein Landesgericht aber stets erfolgt. Ausweislich der Recherchen der Verfasserin ist die verbleibende Zuständigkeit des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof zur Übertragung der 42  Siehe

oben S. 75. Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 27/72, NJW 1973, 475, 476; vgl. nunmehr Hilger, in: L-R IV 2007, § 126 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 2; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 4; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 7; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 2; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 8; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 6; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7. 44  BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 27/72, NJW 1973, 475, 476; Hilger, in: L-R IV 2007, § 126 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 4; Griesbaum, in: KK 2019, § 125 Rn. 4; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 8; Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 6; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7. 45  Der BGH führt in BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72 – AK 27/72, NJW 1973, 475, 476 knapp aus, in BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478 sei die grundsätzliche Haftkontrolle nach Abgabe gemäß § 142a StPO durch ein Amtsgericht übernommen worden. In BGH, Beschluss vom 12. September 1955 – 2 BJs 202/55 – StB 39/55 – unveröffentlicht, sei eine Beschwerde des Generalstaatsanwalts dem Ermittlungsrichter beim BGH nach Abgabe gemäß § 142a StPO zur Entscheidung vorgelegt worden, der sich hierfür (nach dem BGH zutreffend) für unzuständig hielt. 43  BGH,

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

Zuständigkeit nach Abgabe der Sache durch den Generalbundesanwalt nach § 142a GVG entsprechend § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO in der Praxis nicht von Relevanz. b) Stellungnahme Die beiden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs wurden kurz hintereinander – am 16. Oktober 197246 und am 6. Dezember 197247 getroffen und lesen sich durch die deutliche Bezugnahme aufeinander beinahe wie eine einzige Entscheidung. Nichts lässt darauf schließen, dass die Beschwerde wie nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte durch einen Zuständigkeitswechsel in einen Aufhebungsantrag umgedeutet werden müsse. Vielmehr formuliert der Bundesgerichtshof unzweideutig, dass das durch die Abgabe nach § 142a GVG zuständig gewordene Landgericht über das eingelegte Rechtsmittel der Beschwerde (ohne Umdeutung) zu entscheiden habe.48 Der Bundesgerichtshof setzt sich aber auch nicht mit der obergerichtlichen Rechtsprechung auseinander. Eine naheliegende Erklärung, weshalb der Bundesgerichtshof in beiden Beschlüssen nicht auf die kurz zuvor am 11. April 1972 getroffene Ausgangsentscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe49 eingeht, könnte sein, dass dieser in den analogen 1970er Jahren noch gar keine Kenntnis von diesem Beschluss hatte. Die dieser Untersuchung zu Grunde liegende Fundstelle NJW 1972, 1723 wurde erst mit der Herausgabe des 38. Hefts der Neuen Juristischen Wochenschrift im Jahr 1972 am 19. September 1972 – also etwa einen Monat vor dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 16. Oktober 197250 – veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Oberlandesgericht Frankfurt seinen von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe51 abweichenden Beschluss vom 26. Oktober 197252 noch gar nicht erlassen. In zeitlicher Hinsicht realistisch wäre wohl 46  BGH,

477.

Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973,

47  BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72 – AK 27/72, NJW 1973, 475. 48  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478. 49  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 50  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477. 51  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 52  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196).



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972261

allenfalls eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Oberlandesgericht Oldenburg aus dem Jahr 1956 gewesen, im Rahmen derer auch schon eine Umdeutung in einen Aufhebungsantrag vorgenommen wurde.53 Überdies wiesen die Beschlüsse des Bundesgerichtshofs und die vorgenannten oberlandesgerichtlichen Beschlüsse54 bedeutende Unterschiede hinsichtlich der zu entscheidenden Fallkonstellationen auf. Tatsächlich wendete der Bundesgerichtshof nicht einmal – wie die Oberlandesgerichte Oldenburg55, Karlsruhe56 und Frankfurt57 – die Norm des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO an. Das hat einen nachvollziehbaren Grund: Der Bundesgerichtshof entschied über den Zuständigkeitswechsel durch Abgabe der Sache an die Landesstaatsanwaltschaft nach § 142a GVG, während die Oberlandesgerichte über den konkreten Fall der Erhebung der öffentlichen Klage zu entscheiden hatte. Tatsächlich ist nur die Anklageerhebung wörtlich in § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO aufgeführt. Auf die übrigen einen Zuständigkeitswechsel begründenden Umstände, wie etwa im Zusammenhang mit der Berufungseinlegung nach § 321 Satz 2 StPO und dem Erlass eines Zurückweisungsbeschlusses nach § 328 Abs. 2 StPO58 oder § 354 Abs. 2 StPO59, wurde § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO im Rahmen der Entwicklung der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung über die Jahre angewendet. Dies ergibt sich allerdings nicht unmittelbar aus der Strafprozessordnung. Die Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und damit auch die zu der Anklageerhebung entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung liegt bei Zuständigkeitswechseln zwischen den Instanzen auf Grund der Einlegung oder Bescheidung eines Rechtsmittels so nahe, das keines der Oberlandesgerichte

53  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 54  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 55  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 56  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 57  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 58  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 27. Dezember 1985 – 1 Ws 275/85, Die Justiz 1986, 144 (siehe oben S. 226). 59  KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227).

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

indes jemals ernsthaft die Anwendbarkeit des § 126 Abs. 3 Satz 1 StPO auf diese Fälle in Frage stellte.60 Derart vergleichbar mit der Anklageerhebung ist die Abgabe der Sache nach § 142a GVG aber nicht. Selbst für den Fall, dass der Bundesgerichtshof die Entscheidungen der Oberlandesgerichte kannte, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits existierten, ist es durchaus verständlich ist, dass der Bundesgerichtshof die Fälle nicht für vergleichbar hielt. Bis heute wurden nach den Recherchen der Verfasserin keine vergleichbare Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu einer Abgabe nach § 142a GVG veröffentlicht, in der § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO (entsprechend) angewendet wird. Doch auch ohne Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO hat der Bundesgerichtshof aus der Abgabe einen Zuständigkeitswechsel und daraus mit einem bedeutenden Unterschied auch die gleichen Rechtsfolgen wie die Oberlandesgerichte hergeleitet: Der bis zu der Abgabe zuständige Ermittlungsrichter und der diesem zugeordnete Instanzenzug verliert seine Zuständigkeit durch die Abgabe nach § 142a GVG. Zuständig ist je nach Fallgestaltung ab der Abgabe nach § 142a GVG der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht oder Oberlandesgericht. Ein Ermittlungsrichter beim Landgericht existiert nach der Konzeption der Strafprozessordnung nicht. In dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 26. Oktober 197261 wurde die Sache an die Landesstaatsanwaltschaft beim Landgericht abgegeben, sodass in diesem Fall mit der Abgabe nach § 142a GVG allein der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht nach § 162 StPO zuständig geworden sein kann. Nach dem Bundesgerichtshof hatte dies aber nicht zur Folge, dass die Beschwerde in einen Aufhebungsantrag umgedeutet werden müsse, über den der mit der Abgabe zuständig gewordene Ermittlungsrichter beim Amtsge-

60  So führte das OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221) explizit aus: „Es bedarf keiner Erörterung, daß auch im hier gegebenen Fall des Übergangs durch das Rechtsmittel der Berufung das LG für erstinstanzliche Haftentscheidungen zuständig wird, da insoweit auch für diesen Fall des Übergangs § 126 Abs. 2 StPO anwendbar ist. Mit der nach § 221 StPO [sic! gemeint ist sicher § 321 Satz 2 StPO] bewirkten Übergabe der Akten an den Vorsitzenden des Berufungsgerichts ist dieses als „mit der Sache befaßt“ im Sinne von § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO anzusehen.“ 61  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477.



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972263

richt entscheiden müsse. Nach dem Bundesgerichtshof sei vielmehr „das [Landgericht] für die Entscheidung über das Rechtsmittel zuständig“62. Daraus folgt, dass sich der Ermittlungsrichter beim Amtsgericht die Nichtabhilfeentscheidung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof hat zurechnen lassen müssen. Denn in dieser Fallkonstellation kann das Land­gericht allein das zuständig Beschwerdegericht sein. Dass der zuständige Ermittlungsrichter beim Amtsgericht hierdurch übergangen wird, thematisiert der Bundesgerichtshof nicht. Zuzugeben ist allerdings, dass im Falle der Abgabe nach § 142a GVG im Unterschied zu den seitens der Oberlandesgerichte entschiedenen Fällen eben noch keine Anklage erhoben wurde. Dies ist zu betonen, da sich die Oberlandesgerichte sich einstimmig gegen die Zurechnung einer (Nichtabhilfe-)Entscheidung des zuvor zuständigen Gerichts an das nach dem Zuständigkeitswechsel mit der Sache befasste Gericht aussprechen.63 Ein Unterschied besteht insoweit darin, dass in den oberlandesgerichtlichen Fällen das Tatgericht übergangen wird, welches nach allgemeiner Auffassung die sachnächste Entscheidung64 treffen kann. Die gleiche Sachkompetenz wird dem Ermittlungsrichter im Vorverfahren tatsächlich kaum zuzuschreiben sein. Festzuhalten ist, dass der Bundesgerichtshof in beiden vorgenannten Fällen65 aus der Abgabe nach § 142a GVG einen Zuständigkeitswechsel folgert, ohne hierbei § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zu benennen. Das eingelegte Rechtsmittel der Beschwerde verliert allerdings durch den Zuständigkeitswechsel nicht seine Eigenschaft als Beschwerde. Lediglich die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts ist vom Bundesgerichtshof auf das Landgericht übergegangen. Dem Betroffenen geht keine Instanz und damit auch weniger Zeit verloren. Seine Rechtsmittelautonomie bleibt erhalten, da die Beschwerde nicht in einen Aufhebungs- oder Haftprüfungsantrag umgedeutet wird.

62  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478. 63  Siehe oben S. 238. 64  Siehe oben S. 75. 65  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477; BGH, Beschluss vom 6. Dezember 1972 – 1 BJs 41/72/AK 27/72, NJW 1973, 475.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

3. Sonderfall: Zuständigkeit für gerichtliche Untersuchungshandlungen nach Abgabe (§ 142a StPO) a) Bundesgerichtshof Bereits im Jahr 1977 erließ der Bundesgerichtshof den Beschluss66, der später Ausgangspunkt der „höchstrichterlichen Rechtsprechung“67 für die Einführung des § 163 Abs. 3 StPO am 1. Januar 2010 war. In diesem Fall hatte der Generalbundesanwalt die Ermittlungen geführt, sodass zunächst auch nach § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO der Ermittlungsrichter beim BGH zuständig für gerichtliche Untersuchungshandlungen nach § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO war. Durch Beschluss vom 21. Juli 1977 beschloss dieser unter anderem die Beschlagnahme eines seitens des Betroffenen verfassten Briefes. Gegen diesen Beschluss legte der Betroffene Beschwerde ein. Aus den Beschlussgründen geht nicht deutlich hervor, ob dies geschah, bevor oder nachdem der Generalbundesanwalt am 26. Juli 1977 Anklage zum Kammergericht erhob.68 Jedenfalls half das Kammergericht der Beschwerde am 29. August 1977 nicht ab und legte sie dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vor. Der Bundesgerichtshof entschied zunächst, dass die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters nach § 162 Abs. 1 StPO grundsätzlich mit der Anklageerhebung entfalle. Auch die ermittlungsrichterliche Zuständigkeit gehe mit der Anklageerhebung auf das mit der Sache befasste Gericht über.69 Zudem stellt der Bundesgerichtshof fest, dass die Rechtsprechung wiederholt mit der Frage, welche Folgen ein solcher Zuständigkeitswechsel für ein anhängiges Beschwerdeverfahren habe, konfrontiert worden sei. In diesem Zusammenhang verwies der Bundesgerichthof einerseits auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dem Jahr 197270 sowie andererseits auf die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Oldenburg aus dem Jahr 195671, des

66  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 67  BT-Drs. 16/11644, S. 14, 35. (siehe oben S. 64). 68  Der hinsichtlich der Anklageerhebung gewählte Tempus im Verhältnis zu der Vorlage der Beschwerde an das Kammergericht lässt allerdings darauf schließen, dass die Beschwerde vor der Anklageerhebung eingelegt wurde. 69  Der BGH verweist hier auf Kleinknecht, StPO 1977, § 162 Rn. 19. 70  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 71  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192).



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972265

Oberlandesgerichts Karlsruhe aus dem Jahr 197272 und des Oberlandesgerichts Hamm aus 197473. Inhaltlich setzte sich der Bundesgerichtshof jedoch nicht mit diesen Beschlüssen auseinander.74 Unter Bezugnahme auf die vorgenannte Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 197275 entschied der Bundesgerichtshof, dass in diesem Fall – also hinsichtlich der Zuständigkeit für Beschwerden gegen richterliche Untersuchungshandlungen ab der Anklageerhebung – nichts andere gelten könne. Auch in diesem Fall verliere nicht nur der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof seine Zuständigkeit nach § 169 Abs. 1 Satz 2 StPO mit Anklageerhebung, sondern auch der Bundesgerichtshof als das diesem zugeordnete Beschwerdegericht.76 Anderenfalls bestünde auch hinsichtlich der Anordnung richterlicher Untersuchungshandlungen eine Doppelzuständigkeit, die vom Gesetzgeber nicht gewollt gewesen sein könne. Eine solche doppelte Zuständigkeit berge die Gefahr divergierender Entscheidungen, da sowohl der Bundesgerichtshof als Beschwerdegericht als auch das mit der Sache befasste Gericht zeitgleich mit derselben Frage beschäftigt sein könnten.77 Weiter führt der Bundesgerichtshof aus, das Kammergericht habe am 29. August 1977 durch die „Nichtabhilfe“ eine eigene Entscheidung über den angefochtenen Beschluss des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof getroffen.78 Damit habe es den Beschluss der Sache nach bestätigt. Diese die Beschlagnahme bestätigende Entscheidung des Kammergerichts sei mit der Beschwerde nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO anfechtbar. Obwohl die Eingabe des Betroffenen erst zu der Bestätigung durch das Kammergericht führte, erklärte der Bundesgerichtshof weiter, die Beschwerde (zum Bundes-

72  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 73  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 (siehe oben S. 221). 74  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 75  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477 (siehe oben S. 256). 76  Vgl. nunmehr Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 44; § 126 Rn. 9; Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5, 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 7; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3, 9; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 7; Kölbel, in: MüKo I 2014, § 169 Rn. 5; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7, 11. 77  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 78  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

gerichtshof gemäß § 135 Abs. 2 GVG) gegen diese bestätigende Entscheidung des Kammergerichts sei auch ordnungsgemäß erhoben worden: „Der [Betroffene] hat sein Rechtsmittel ausdrücklich zwar nur gegen den Beschluss des Ermittlungsrichters des BGH eingelegt. Ersichtlich erstrebt er jedoch eine Überprüfung des die Beschlagnahme bestätigenden Beschlusses [des Kammergerichts vom 29. August 1977] durch den BGH.“79

Infolgedessen entschied der Bundesgerichtshof selbst als nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 StPO i. V. m. § 135 Abs. 2 GVG zuständiges Beschwerdegericht über die umgedeutete Beschwerde gegen den die Beschlagnahme bestätigenden Beschluss des Kammergerichts vom 29. August 1977.80 b) Stellungnahme Im Rahmen dieses Beschlusses hat der Bundesgerichtshof auf die (divergierenden) Entscheidungen des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dem Jahr 197281, des Oberlandesgerichts Oldenburg aus dem Jahr 195682, des Oberlandesgerichts Karlsruhe aus dem Jahr 197283 und des Oberlandesgerichts Hamm aus 197484 Bezug genommen, sich inhaltlich mit diesen jedoch nicht auseinandergesetzt. Dies verwundert insbesondere auf Grund des die Bezugnahme begleitenden Hinweises des Bundesgerichtshofs, die Rechtsprechung sei bereits wiederholt mit der Frage befasst worden, welche Folgen ein Wegfall der Zuständigkeit des Ermittlungsrichters für ein unerledigtes Beschwerdeverfahren habe. Erneut ist weder eine Anklageerhebung noch der Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO Gegenstand des Beschlusses, obwohl die in den §§ 125 f. StPO geregelten Haftzuständigkeiten jedenfalls im Vorverfahren ein Spezialfall ermittlungsrichterlicher Zuständigkeiten darstellen. Demgegenüber behandeln die oberlandesgerichtlichen Beschlüsse die Folgen des Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Zu berücksichtigen 79  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 80  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 81  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 82  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 83  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72, NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 84  OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574 (siehe oben S. 221).



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972267

ist, dass § 163 Abs. 3 StPO zum Zeitpunkt des Beschlusses noch nicht existierte. Interessant könnte jedoch sein, dass – soweit ersichtlich – bis zu diesem Zeitpunkt noch kein oberlandesgerichtlicher Beschluss veröffentlicht war, der sich mit der Frage der Auswirkungen der Anklageerhebung auf die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters für Maßnahmen beschäftigt, die keine Untersuchungshaft, sondern Ermittlungsmaßnahmen nach § 162 Abs. 1 StPO zum Gegenstand haben. Der Bundesgerichtshof entschied jedenfalls im Ergebnis anders als die in Bezug genommenen Oberlandesgerichte und damit auch abweichend von der sich später ohne Rücksicht auf diesen Beschluss des Bundesgerichtshof entwickelnden und nunmehr gefestigten Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu dem Wegfall der ermittlungsrichterlichen Zuständigkeit nach § 162 Abs. 3 Satz 1 StPO durch Erhebung der öffentlichen Klage85. Der Bundesgerichtshof deutete die Beschwerde gegen die ermittlungsrichterliche Entscheidung gerade nicht in einen Aufhebungsantrag an das mit der Sache befasste Gericht um.86 Vielmehr nahm der Bundesgerichtshof mehrere Umdeutungen in mehreren Schritten vor: Zunächst wurde die Nichtabhilfeentscheidung des Kammer­ gerichts als ein die Beschlagnahme bestätigender Beschluss verstanden. Sodann wurde die vor diesem Beschluss eingelegte Beschwerde gegen die Beschlagnahmeanordnung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof in eine Beschwerde gegen den die Beschlagnahme bestätigenden Beschluss des Kammergerichts umgedeutet. Eine einzige Eingabe des Betroffenen führte damit zu der gerichtlichen Entscheidung zweier Instanzen über die Beschlagnahmeanordnung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof.87 Bei genauer Betrachtung des Falles wird deutlich, dass die Entscheidung eher von praktischen Erwägungen in Bezug auf den konkreten Einzelfall, als von systematischen Erwägungen geleitet worden sein dürfte. Die Problematik der Doppelzuständigkeit umgeht der Bundesgerichtshof durch die doppelte Umdeutung des Rechtsmittels des Betroffenen. Dies war ohne die ernsthafte Gefahr divergierender Entscheidungen vor allem möglich, weil das Kammergericht selbst davon ausging, die Zuständigkeit hinsichtlich der angegriffenen Maßnahmen durch die vermeintliche Nichtabhilfe und Vorlage 85  Siehe zu der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung zu einem Zuständigkeitswechsel nach § 162 Abs. 3 StPO oben ab S. 252. 86  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175. 87  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

der Beschwerde an den Bundesgerichtshof gemäß § 306 Abs. 2 StPO verloren zu haben. Durch die Vorlage einer Beschwerde an das Beschwerdegericht geht die Zuständigkeit auf dieses über, vgl. § 309 Abs. 2 StPO.88 Es ist also davon auszugehen, dass das Kammergericht keine Entscheidung hinsichtlich der angegriffenen Beschlagnahme getroffenen hätte. Zwar hat sich das Verfahren durch die doppelte Umdeutung nicht verzögert. Die doppelte Umdeutung lässt jedoch an Rechtssicherheit vermissen. Es kann nur spekuliert werden, wie der Bundesgerichtshof entschieden hätte, wenn die Beschwerde irrtümlich beim Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs eingelegt worden wäre. Denn nicht dieser, sondern das Kammergericht wäre nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zuständig gewesen. Festzuhalten bleibt dennoch, dass sich in dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs jedenfalls auch die Umdeutung in einen Aufhebungsantrag an das mit der Sache befasste Kammergericht verbirgt. Da der Bundesgerichtshof jedoch zugleich eine weitere Umdeutung vornimmt, entstehen keine Verfahrensverzögerungen wie in der oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis.

88  Dass das Beschwerdegericht für die Bescheidung des Beschwerdegegenstands zuständig wird, wird offenbar vorausgesetzt, folgt aber z. B. aus: BGH, Beschluss vom 24. Juni 1992 – 1 StE 11/88 – StB 8/92, NJW 1992, 2775 [„das BeschwGer. (hat die Sache nach) § 309 II StPO grundsätzlich (…) anstelle des Erstgerichts selbst zu entscheiden“]; OLG Bamberg, Beschluss vom 12. März 2013 – 2 Ws 19/13, NStZRR 2013, 326 [das Beschwerdegericht tritt „rechtlich voll an die Stelle des an sich zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers“]; Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 7 [„das Beschwerdegericht (soll) grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheiden“]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 309 Rn. 4 [„das Beschwerdegericht (muss) eigene Sachentscheidung anstelle des 1. Richters treffen“]; Plöd, in: KMR V 2019, § 309 Rn. 7 [„das Beschwerdegericht (hat) die Entscheidung aufzuheben und in der Sache, die Beschwerdegegenstand ist, selbst zu entscheiden“]; Frisch, in: SK VI 2016, § 309 Rn. 29 [„Ändert das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung (…), so ist für das weitere Verfahren diese Entscheidung maßgebend.“]; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 9 f. [„eine neue (…) Entscheidung anstelle des Erstgerichts“]; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 192 (danach hat das Beschwerdegericht nach Nichtabhilfe durch das Ausgangsgericht zunächst seine eigene örtliche und sachliche Zuständigkeit festzustellen).



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972269

4. Sonderfall: Haftkontrolle nach Anklageerhebung a) Bundesgerichtshof Zuletzt entschied der Bundesgerichtshof im Jahr 1980 über die das Schicksal anhängiger Beschwerden gegen eine Haftentscheidung mit Anklageerhebung.89 Der Betroffene war dringend verdächtig, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, § 129a StGB. Er befand sich in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl wurde durch den Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof gegen Auflagen nach § 116 StPO außer Vollzug gesetzt. Sodann ergänzte der Ermittlungsrichter beim Oberlandesgericht den Haftbefehl um den dringenden Tatverdacht, dass der Betroffene sich auch wegen der Verabredung zu einer Brandstiftung gemäß §§ 30 Abs. 2, 308 StGB strafbar gemacht habe. Der Betroffene blieb weiterhin von dem Vollzug der Untersuchungshaft verschont. Nach Anklageerhebung eröffnete das Oberlandesgericht Schleswig das Verfahren nur wegen des Vorwurfs nach §§ 30 Abs. 2, 308 StGB vor dem Landgericht Lübeck und lehnte die Verfahrenseröffnung im Übrigen ab.90 In diesem Rahmen änderte es auch den Haftbefehl entsprechend ab. Der Betroffene wendete sich mit der Beschwerde gegen diesen abgeänderten, aber weiterhin außer Vollzug gesetzten, Haftbefehl des Oberlandesgerichts. Die Beschwerde wurde dem Bundesgerichtshof vorgelegt.91 89  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401. 90  Die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für das Hauptverfahren gemäß § 120 Abs. 1 Nr. 6 GVG war auf Grund des Wegfalls des dringenden Tatverdachts und Ablehnung des Hauptverfahrens wegen der Tat nach § 129a StGB nicht mehr gegeben, sodass das Hauptverfahren nach § 209 Abs. 1 StPO vor einem Gericht niedrigerer Ordnung eröffnet wurde. Die Zuständigkeit des Landgerichts dürfte sich aus der Straferwartung ergeben haben, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Jahr 1980 bis Inkrafttreten des Rechtspflegeentlastungsgesetzes (BGBl. I Nr. 2 vom 15. Januar 1993 S. 50 bis 57) noch eine Straferwartung von drei Jahren genügte, um die Zuständigkeit des Landgerichts nach § Abs. 1 Satz 2 GVG zu begründen. Die Faktoren, die die Zuständigkeit des Landgerichts begründet haben, ergeben sich aus dem Beschluss nicht unmittelbar. 91  Die Beschwerde war zunächst entgegen der damaligen Auffassung des Generalbundesanwalts zulässig, da auch eine Entscheidung eines Oberlandesgerichts über einen außer Vollzug gesetzten Haftbefehl nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein Beschluss über eine Verhaftung nach § 304 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 StPO darstellt, vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401 f. Dies ist heute allgemein anerkannt, vgl. Matt, in: L-R VII-1 2014, § 304 Rn. 74; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 304 Rn. 13 i. V. m. § 310 Rn. 7; Zabeck, in: KK, § 304 Rn. 7; Neuheuser, in: MüKo II 2016, § 304 Rn. 49; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 61.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

Der Bundesgerichtshof entschied ohne tiefergehende Begründung und insbesondere ohne Bezugnahme auf die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung, dass der Bundesgerichtshof nicht das zuständige Beschwerdegericht sei. Dieser Fall sei genau so zu behandeln, wie die Auswirkungen der Anklageerhebungen im vorgenannten Fall hinsichtlich der Anfechtbarkeit ermittlungsrichterlicher Entscheidungen.92 Mit der Anklageerhebung durch den Generalbundesanwalt oder die Landesstaatsanwaltschaft entfalle die Zuständigkeit des jeweiligen Ermittlungsrichters und damit auch des Bundesgerichtshofs als das diesem übergeordneten Beschwerdegericht.93 Die Haftzuständigkeit liege alleine beim Landgericht Lübeck. Dies gelte auch, obwohl dieser nicht eigens durch das Landgericht Lübeck bestätigt wurde.94 Demnach sei die Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten, über das das mit der Sache befasste Landgericht Lübeck zu entscheiden habe.95 b) Stellungnahme Dieser Beschluss des Bundesgerichtshofs zeigt, dass eine doppelte Umdeutung nicht in jeder Konstellation zielführend und überhaupt möglich ist. Hier wurde die Beschwerde bei dem nach dem Bundesgerichtshof eigentlich zuständigen Beschwerdegericht, dem Oberlandesgericht Schleswig96, eingelegt. Nachdem die Beschwerde dem Bundesgerichtshof zugeleitet wurde, hätte keine denkbare Umdeutung eine irgendwie geartete Entscheidung des mit der Sache befassten Landgerichts Lübeck hervorbringen können, die dann (wiederum durch eine Umdeutung) als angefochten hätte gelten kön92  Der BGH verweist in den Beschlussgründen auf BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264). 93  Vgl. nunmehr Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 44; § 126 Rn. 9; Erb, in: L-R V-2 2018, § 169, Rn. 5, 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 169 Rn. 7; Griesbaum, in: KK 2019, § 169 Rn. 3, 9; Plöd, in: KMR III 2019, § 169 Rn. 7; Kölbel, in: MüKo I 2014, § 169 Rn. 5; Wohlers/Albrecht, in: SK III 2016, § 169 Rn. 7, 11. 94  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. Durch den Verweis auf OLG Hamburg, MDR 1978, 861 (sic! Gemeint ist wohl: OLG Hamburg, Beschluss vom 5. Juli 1974 – 1 Ws 329, 345/74, MDR 1974, 861) wird deutlich, dass der BGH der Auffassung ist, dass sich ein Gericht niederer Ordnung die Haftentscheidung eines übergeordneten Gerichts durch die Eröffnung nach § 209 Abs. 1 StPO zunächst zurechnen lassen müsse. Dies war damals wie heute in § 126 Abs. 1 Satz 2 StPO gesetzlich geregelt. 95  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 96  Dies ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus den veröffentlichten Beschlussgründen, eine andere Konstellation als die Beschwerdeeinlegung bei dem Oberlandesgericht Schleswig, welches die Untersuchungshaft im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses nach §§ 207 Abs. 4, 209 Abs. 1 StPO bestätigt hatte, ist aber kaum vorstellbar.



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972271

nen, sodass das Oberlandesgericht als Beschwerdegericht hätte entscheiden können. Diese Lösung vertrat der Bundesgerichtshof noch in dem zuvor dargestellten Beschluss aus dem Jahr 197797, der das Oberlandesgericht Schleswig aber offensichtlich nicht folgte. Anzumerken ist allerdings, dass die doppelte Umdeutung in diesem Fall mit Verzögerungen einhergegangen wäre, was im Rahmen des Beschlusses aus dem Jahr 197798 durch diese gerade vermieden werden konnte. Der Bundesgerichtshof hätte die Beschwerde nämlich zunächst an das Oberlandesgericht Schleswig zurückgeben müssen, welches dann irgendwie eine (Nichtabhilfe-)Entscheidung des Landgerichts Lübecks hätte erlangen müssen, welche dann doppelt zu einer beschwerdefähigen und angefochtenen Entscheidung hätte umgedeutet werden müssen. Erst dann wäre das Oberlandesgericht Schleswig in Anwendung der doppelten Umdeutung überhaupt als Beschwerdegericht entscheidungsbefugt gewesen und der Betroffene hätte irgendeine Haftentscheidung erhalten. Dieses Vorgehen hätte das Verfahren also – anders als in dem Beschluss aus dem Jahr 197799 – wohlmöglich verzögert und hätte zudem an Rechtssicherheit vermissen lassen.

Obwohl der Bundesgerichtshof auf seinen Beschluss aus dem Jahr 1977100, Bezug nimmt, bezieht er allerdings überhaupt keine Stellung dazu, weshalb im konkreten Fall keine entsprechenden Umdeutungen erfolgen sollen.101 Der Bundesgerichtshof führte lediglich Folgendes aus: „Bei der gegebenen Sachlage wird das [Landgericht Lübeck] die an den [Bundesgerichtshof] gerichtete Beschwerde als Antrag, den Haftbefehl aufzuheben, zu behandeln haben“102. Der Bundesgerichtshof nimmt Bezug auf den Beschluss aus dem Jahr 1977103 nur soweit es um den Wegfall der Zuständigkeit des Bundesgerichtshofs als Beschwerdegericht geht. Hinsichtlich des Verhältnisses der verschiedenen Rechtsfolgen (doppelte Umdeutung zum Beschwerdegericht bzw. Umdeutung in einem Haftprüfungsantrag an das mit der Sache befasste Gericht) der beiden Beschlüsse äußert sich der Bundesgerichtshof jedoch 97  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 98  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 99  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 100  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 101  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264). 102  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 103  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264).

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

nicht. Damit bleibt es das Geheimnis des Bundesgerichtshofs, ob er – soweit möglich – in Einzelfällen weiterhin eine doppelte Umdeutung zum Beschwerdegericht wie in dem Beschluss aus dem Jahr 1977104 vornimmt oder von dieser Rechtsprechung durch diesen Beschluss aus dem Jahr 1980105 konkludent Abstand genommen hat. Weitere vergleichbare Fallkonstellationen betreffende Beschlüsse des Bundesgerichtshofs, die über diese Frage Aufschluss geben könnte, existieren nach den Recherchen der Verfasserin nicht. Festzuhalten ist auch, dass der Bundesgerichtshof sich nicht explizit auf die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung bezog. Dies verwundert, da dieser die Haftbeschwerde im Rahmen dieses Beschlusses erstmals im Einklang mit der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung in einem Haftprüfungsantrag umgedeutet hat.

II. Zwischenergebnis Die dargestellten Beschlüsse des Bundesgerichtshofs stimmen jedenfalls im Grundsatz mit der Auffassung der Oberlandesgerichte überein. Durch einen Zuständigkeitswechsel gleich welcher Art geht unmittelbar die komplette Zuständigkeit ohne Rücksicht auf ein etwaig anhängiges Beschwerdeverfahren auf den nunmehr zuständigen Richter über. Der bisher zuständige Richter und der diesem zugeordneten Instanzenzug verlieren ihre Zuständigkeit. 1. Divergenz In der Rechtsfolge ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber höchst uneinheitlich. In einem Fall stellt der Bundesgerichtshof fest, dass das nunmehr zuständige Gericht über das Rechtsmittel (der Beschwerde) zu entscheiden habe.106 In einem weiteren Fall nahm der Bundesgerichtshof eine doppelte Umdeutung vor und konnte dadurch selbst über die Beschwerde entscheiden.107

104  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264). 105  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402. 106  BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478 (siehe oben S. 256). 107  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264).



B. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit 1972273

Im letzten Fall, der sich erstmalig mit der Anklageerhebung befasste, erklärte sich der Bundesgerichtshof für unzuständig und entschied ohne nähere Begründung, dass das Landgericht die Beschwerde als Haftprüfungsantrag zu bescheiden habe.108 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist somit bereits in sich nicht einheitlich. Den Entscheidungen lässt sich keine klare argumentative Linie entnehmen. Auch das Argument der Sachnähe, welches die Oberlandesgerichte heranziehen um zu begründen, weshalb zunächst eine Haftentscheidung des Tatgerichts erforderlich ist, die nicht nur eine bloße verfahrens­ interne Nichtabhilfeentscheidung nach § 306 Abs. 2 StPO sein darf, scheint für den Bundesgerichtshof jedenfalls nicht allein entscheidungsleitend gewesen zu sein. Anderenfalls lässt sich nicht erklären, weshalb er der nach der Entscheidung aus dem Jahr 1977109 irrtümlich getroffene Nichtabhilfeentscheidung des Kammergerichts die Bedeutung einer den Haftbefehl bestätigenden Haftentscheidung beigemessen hat. Bemerkenswert ist weiter, dass jedenfalls der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 163 Abs. 3 StPO im Jahr 2010 allein auf diesen Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1977110 Bezug nahm.111 Da hier durch die doppelte Umdeutung seitens des Bundesgerichtshofs gerade keine Verzögerung eingetreten war, kann zumindest vermutet werden, dass der Gesetzgeber jedenfalls durch die Einführung des § 163 Abs. 3 StPO keine Verzögerung des Beschwerdeverfahrens auslösen wollte. Erstaunlich ist weiter, dass nur einer der dargestellten Beschlüsse des ­Bundesgerichtshofs112 auf die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung Bezug nimmt, sich mit diesen aber in keiner Weise auseinandersetzt. Somit besteht sowohl zwischen den verschiedenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs als auch zwischen den Entscheidungen der Oberlandesgerichte und denen des Bundesgerichtshofs weitestgehend Divergenz. Nur im letztgenannten Fall aus dem Jahr 1980113 hat der Bundesgerichtshof im Einklang mit der oberlandesgerichtlichen Praxis, aber gänzlich ohne Bezug108  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402 (siehe oben S. 269). 109  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264). 110  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben ab S. 264). 111  Siehe zu der Gesetzesbegründung oben S. 64. 112  BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben ab S. 264). 113  BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401 (siehe oben ab S. 269).

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

nahme auf diese entschieden, die Haftbeschwerde sei in einen Antrag an das Tatgericht umzudeuten. 2. Keine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG Allerdings ist die nur im Ansatz übereinstimmende Rechtsprechung der Oberlandesgerichte im Verhältnis zu der des Bundesgerichtshofs von Gesetzes wegen nicht zu beanstanden. Es besteht keine Pflicht und auch kein Recht für Oberlandesgerichte, bei beabsichtigten (von Entscheidungen des Bundesgerichtshofs oder anderer Oberlandesgerichte) abweichenden Entscheidungen über Beschwerden gegen strafrichterliche Entscheidungen eine Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG zu verfügen. Eine entsprechende Vorlagepflicht besteht nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG nur bei abweichenden Rechtsauffassungen hinsichtlich der Entscheidungen über Maßnahmen nach den §§ 63, 66 ff. StGB sowie §§ 7 Abs. 2 bis 4, 106 Abs. 3 bis 7 JGG.114 Im Übrigen lösen abweichende Rechtsauffassungen bezüglich Beschwerdeentscheidungen keine Vorlagepflicht nach § 121 Abs. 2 GVG aus.115 Diese Einschränkung der Vorlagepflicht ist zwar umstritten116, dient aber jedenfalls heute dem Zweck, die Senate des Bundesgerichtshofs nicht zu überlasten. Zudem bringt eine Vorlage nach § 121 Abs. 2 GVG generell ebenfalls Verzögerungen mit sich.117 Solche gilt es nach den Ausführungen im 4. Teil118 dieser Arbeit gerade in Haftsachen aber zu vermeiden. 114  Die genannte begrenzte Möglichkeit, im Rahmen von Beschwerdeverfahren nach § 121 Abs. 2 StPO eine Vorlage zu verfügen, besteht erst seit dem vierten Gesetz zur Änderung des GVG vom 17. Juli 2010 (BGBl. I Nr. 39 vom 29. Juli 2010 S. 976.). Die Gesetzesänderung war auf die Entscheidung des EGMR, Urteil vom 17. Dezember 2009 – 19359/04 (M./Deutschland), NJW 2010, 2495 (bzgl. nachträglicher Verlängerung von Sicherungsverwahrung) zurückzuführen und sollte sicherstellen, dass die Oberlandesgerichte die Maßgaben des EGMR einheitlich erfüllen. Vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09, 740/10, 2333/08, 1152/10, 571/10, NJW 2011, 1931, 1932; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 121 Rn. 5a; Frister, in: SK IX 2016, § 121 Rn. 11. 115  Vgl. Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 121 Rn. 31, 36; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, GVG, § 121 Rn. 5 f.; Feilcke, in: KK 2019, GVG, §121 Rn. 15 (wobei hier die Neufassung des § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG nicht berücksichtigt ist); Frister, in: SK IX 2016, GVG, § 121 Rn. 17; Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, § 121 Rn. 9. 116  Gegen eine Erweiterung des § 121 Abs. 2 GVG: BGH, Beschluss vom 12. Januar 1982 – 2 StR 754/80 – unveröffentlicht (vgl. zu der restriktiven Auslegung des § 121 Abs. 2 GVG durch den BGH: Lilie, Divergenzausgleich, S. 66 ff.); Kissel/ Mayer, GVG, § 121 Rn. 13; Feilcke, in: KK 2019, GVG, § 121 Rn. 14. Für eine Erweiterung des § 121 Abs. 2 GVG: Schäfer, in: L-R V 1979, GVG, § 121 Rn. 43, Rn. 88. Lilie, Divergenzausgleich, S. 239 ff., 257, Doller, ZRP 1976, 34, 35. 117  Franke, in: L-R X 2010, GVG, § 121 Rn. 88. 118  Siehe oben ab S. 142.



C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 275

Der Gesetzgeber hat eine abweichende Judikatur betreffend letztinstanz­ licher Beschwerdeentscheidungen zwischen den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof mit Ausnahme des § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG somit bewusst in Kauf genommen.119

C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht musste sich bislang noch nicht in entscheidungserheblicher Weise mit der gängigen Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte beschäftigen. Überhaupt konnten nur zwei Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden gefunden werden, in denen ein Zuständigkeitswechsel – wobei es sich nur in einem Fall um einen Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und in dem anderen um einen Zuständigkeitswechsel nach § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO handelt – gegenständlich ist.

I. Beschluss vom 25. Juni 2018 (2 BvR 631/18) Wie oben im Rahmen der Darstellung der oberlandesgerichtlichen Praxis bereits erwähnt, wurde gegen eine der dargestellten Entscheidungen Verfassungsbeschwerde120 eingelegt. Hierbei handelt es sich um das Verfahren, welches durch den die weitere Beschwerde verwerfenden Beschluss des Oberlandesgerichts München am 9. März 2018121 abgeschlossen wurde und im Rahmen der Sonderkonstellation 3 vorgestellt wurde. Ausgerechnet in dem dieser Verfassungsbeschwerde zu Grunde liegenden Fall hatte die Kammer beim Landgericht München, bei der die weitere Beschwerde am 23. Februar 2018 eingelegt worden war und zu der die Staatsanwaltschaft am 20. Februar 2018 Anklage erhob, erst kurz zuvor – nämlich am 13. Februar 2018 – die einfache Beschwerde des Betroffenen als unbegründet verworfen. In diesem Fall nahm das Landgericht unter Hinweis auf die gängige Umdeutungspraxis der Landgerichte im Falle der zwischenzeitlichen Anklageerhebung aber gerade keine Umdeutung vor. Eine Umdeutung hätte nach Auffassung des Oberlandesgerichts, welches das Vorgehen des Landgerichts befürwortete, in diesem Fall reinen Formalismus dargestellt, da ohnehin nicht mit einer von der kurz zuvor am 13. Februar 2018 ergangenen Beschwerdeentscheidung abweichenden Entscheidung zu rechnen gewesen wäre. Somit hätte die Umdeutung somit die begehrte oberlandesgerichtliche 119  Franke,

in: L-R X 2010, GVG, § 121 Rn. 31; Lilie, Divergenzausgleich, S. 45 f. Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020. 121  OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022 (siehe oben S. 211). 120  BVerfG,

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

Endentscheidung nur verzögert.122 Aus diesem Grund half das Landgericht der weiteren Beschwerde ohne Umdeutung nicht ab und legte sie dem Oberlandesgericht München vor. Dies wiederum verwarf die weitere Beschwerde als unbegründet. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen den ursprünglichen Haftbefehl sowie die Beschwerdeentscheidungen des Landgerichts Augsburg und des Oberlandgerichts München.123 Die im Rahmen dieser Untersuchung in Rede stehende Verfassungskonformität der oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis war somit ausgerechnet nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht. Somit hatte das Bundesverfassungsgericht keinen Anlass, die Verfassungsmäßigkeit der oberlandesgerichtlichen Praxis zu prüfen Das Bundesverfassungsgericht berücksichtigte die unterbliebene Umdeutung dennoch insoweit, dass es in die Beschlussgründe aufnahm, dass die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 27. Februar 2018 die Ansicht vertrat, die weitere Beschwerde vom 23. Februar 2018 hätte auf Grund der Anklageerhebung vom 20. Februar 2018 in einen Haftprüfungsantrag umgedeutet werden müssen. Eine weitere Begründung enthielt die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft nicht.124 Den weiteren Beschlussgründen und insbesondere den rechtlichen Ausführungen enthalten keine weiteren Ausführungen zu der Umdeutungspraxis, was im konkreten Fall mangels Entscheidungserheblichkeit indes nicht verwundert. Demzufolge lässt die einzige bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung, der ein Sachverhalt mit einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO während des Haftbeschwerderechtszug zu Grunde liegt, keinerlei Rückschlüsse auf die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zu der Verfassungsmäßigkeit der Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte zu. Dennoch war die Verfassungsbeschwerde im Umfang ihrer Annahme nach § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG125 begründet, da insbesondere die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts sowie die weitere Beschwerdeentscheidung

122  OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022 (siehe oben S. 211). Vgl. im Übrigen zu dieser in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung oben ab S. 208. 123  BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020. 124  BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020. 125  Aus den veröffentlichen Beschlussgründen erschließt sich nicht unmittelbar, inwieweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Offenbar sind nach den explizit angegriffenen Haftentscheidungen noch weitere Haftentscheidungen ergangen. Auf diese hatte der Betroffene die Verfassungsbeschwerde offenbar aber nicht erstreckt, vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020.



C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 277

des Oberlandesgerichts nicht die für Haftentscheidungen erforderlich Begründungstiefe126 aufwiesen.127

II. Beschluss vom 4. Mai 2004 (2 BvR 490/04) und vom 14. Dezember 2004 (2 BvR 1541/04) Auch zwei weitere denselben Sachverhalt betreffende Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 dürfen in dieser Untersuchung nicht verschwiegen werden, nachdem das Oberlandesgericht Hamburg in einem Beschluss vom 11. Januar 2012128 folgendes konstatierte, nachdem es eine gegen eine Arrestanordnung gerichtete (sofortige) Beschwerde in Folge eines Zuständigkeitswechsels nach § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO in einen Antrag auf Aufhebung der Arrestanordnung umdeutete: „Der Wechsel der richterlichen Zuständigkeit zum Erlass der Anordnungen führt darüber hinaus auch zum Wechsel der zugeordneten Rechtsmittelinstanzen. Dies ist für haftrichterliche Maßnahmen, für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO sowie für die Beschlagnahme und Anträge auf richterliche Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren anerkannt.“129

und weiter ausführte: „Ein Grund, die Zuständigkeitsfrage hier anders als bei sonstigen Ermittlungshandlungen zu entscheiden, ist nicht ersichtlich (vgl. […], für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt durch [BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2004. 2 BvR 1451/04, NJW 2005, 1855]; […]130).“131

126  Siehe

oben S. 89. Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020. 128  OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51. 129  Wörtlich zitiert aus OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51, 52 unter Auslassung der Verweise auf: BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – 1 StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264); BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401 (siehe oben S. 269); Meyer-Goßner, StPO 2010, § 117 Rn 12. 130  Das OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51, 52 verweist hier auf u. a.: OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, NStZ-RR 2001, 145; OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Januar 2003 – 1 Ws 9/03, wistra 2003, 238; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III – 2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349 und Nack, in: KK 2008, § 98 Rn. 31. In sämtlichen dieser Fundstellen wird hinsichtlich der Zuständigkeitsfrage zwar die Auffassung des Oberlandesgerichts Hamburg (a. a. O.) geteilt. In keiner dieser Fundstellen wird jedoch klar zu der Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens Stellung bezogen. 131  Wörtlich zitiert aus OLG Hamburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 189/10, NStZ 2012, 51, 52. 127  BVerfG,

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

Obgleich sowohl die Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg, als auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine ermittlungsrichterliche Untersuchungshandlung im Sinne des § 162 StPO, die nur am Rande Gegenstand dieser Untersuchung sind132, und gerade keinen Haftbefehl zum Gegenstand haben, ist die zitierte Entscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts dennoch hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf die reine Haftbeschwerde bzw. die obergerichtliche Rechtsprechung zu § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO kritisch zu hinterfragen. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vor Einführung des aktuellen § 163 Abs. 3 StPO am 1. Januar 2010 getroffen wurde.133 1. Beschluss vom 4. Mai 2004 (2 BvR 490/04) Dem ersten zu diesem Sachverhalt seitens des Bundesverfassungsgerichts im Mai 2004 zu entscheidenden Fall134 liegt folgende Vorgeschichte zu Grunde: In dem Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen wurden verschiedene gerichtliche Untersuchungshandlungen vorgenommen (z. B. Durchsuchung, Telefonüberwachung). Im Rahmen der folgenden Hauptverhandlung vor dem Landgericht Hamburg wies dieses am 11. September 2003 eine isolierte Überprüfung abgeschlossener Ermittlungsmaßnahmen wegen Unzulässigkeit (wohl nach § 305 StPO) ab. Kurz darauf – am 17. September 2003 erhob der Betroffene gegen diese Entscheidung Beschwerde. Am 10. Oktober 2003 wurde das Urteil gegen den Betroffenen durch Rechtsmittelverzicht rechtskräftig. Erst durch Beschluss vom 3. Februar 2004135 erklärte sich das Oberlandesgericht Hamburg für die Bescheidung der Beschwerde vom 17. September 2003 für unzuständig und erklärte hierzu, dass nach Rechtskraft des Strafurteils wieder der Ermittlungsrichter zuständig für vorangegangene gerichtliche Untersuchungshandlungen sei, § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO. Somit sei auch die Zuständigkeit durch den rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens wieder auf den Ermittlungsrichter beim Amtsgericht übergegangen.136 132  Siehe

zu dem Exkurs zu § 162 StPO oben ab S. 249. I Nr. 48 vom 31. Juli 2009, S. 2274 bis 2279; siehe auch oben S. 64. 134  Die hier dargestellte Entscheidung BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2004 – 2 BvR 490/04 ist unveröffentlicht. Der hier verkürzt dargestellte Sachverhalt folgt aber Großteils auch aus der Folgeentscheidung BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1451/04, NJW 2005, 1855. 135  Wann das LG Hamburg der Beschwerde nicht abgeholfen hat, lässt sich den vorliegenden Beschlüssen nicht entnehmen. 136  Vgl. den erst am 1. Januar 2010 in Kraft getretenen § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO; siehe oben S. 64. 133  BGBl



C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 279

Das Oberlandesgericht Hamburg deutete die Beschwerde jedoch nicht – entsprechend der dargestellten obergerichtlichen Rechtsprechung – um und legte sie nicht dem zuständigen Ermittlungsrichter beim Amtsgericht vor, sondern verwarf die Beschwerde. Dennoch wies es den Betroffenen darauf hin, dass dieser den entsprechenden Antrag bei dem nunmehr zuständigen Amtsgericht stellen könne und traf somit in der Sache jedenfalls die gleiche Entscheidung137. Gegen diese Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamburg erhob der Betroffene Verfassungsbeschwerde. Mit der Verfassungsbeschwerde rügte er die Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG sowie die Verletzung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG.138 Das Bundesverfassungsgericht nahm die Verfassungsbeschwerde mangels Vorliegens der Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung an. Es verwies den Betroffenen darauf, seine Anträge – entsprechend den Ausführungen des Oberlandesgerichts Hamburg – beim zuständigen Ermittlungsrichter beim Amtsgericht zu stellen.139 Zur Begründung führte es aus, dass auf Grundlage des Vortrags des Betroffenen140 weder eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG noch von Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden könne. Die kurze141 unveröffentlichte Begründung lautet auszugsweise: „2. […] a) Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers ergibt sich nicht, dass auf der Grundlage der Auffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts – nach dem Zeitpunkt der Anklageerhebung oder der späteren Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens – ein wirksamer Rechtsschutz gegen die angegriffenen strafprozessualen Maßnahmen ausgeschlossen wäre. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat in entscheidungserheblicher Weise lediglich die Ansicht vertreten, dass zum Zeitpunkt seiner Befassung mit der Beschwerde – nach Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens – wieder die bereits vor dem Zeitpunkt der Anklageerhebung für die Überprüfung der Maßnahmen zuständigen Gerichte zuständig geworden seien […]. Der Beschwerdeführer trägt nicht vor, weswegen es bei dem mit der Anklageerhebung 137  BVerfG,

licht.

Beschluss vom 4. Dezember 2004 – 2 BvR 490/04 – unveröffent-

138  BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2004 – 2 BvR 490/04 – unveröffentlicht. Der hier verkürzt dargestellte Sachverhalt folgt aber Großteils auch aus der Folgeentscheidung BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1451/04, NJW 2005, 1855. 139  BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2004 – 2 BvR 490/04 – unveröffentlicht. 140  Der Vortrag liegt der Verfasserin nicht vor. 141  Ein Nichtannahmebeschluss bedarf überhaupt keiner Begründung, vgl. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

eingetretenen Zuständigkeitswechsel aus verfassungsrechtlichen Gründen sein Bewenden haben muss. Die maßgeblichen Gründe für den Zuständigkeitswechsel nach Anklageerhebung – das Vermeiden eines Nebeneinanders von Zuständigkeiten für die Entscheidung derselben Sache und die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen […] – sind jedenfalls mit der Rechtskraft des Hauptsacheverfahrens in Wegfall geraten. b) Der Beschwerdeführer hat die Rechtsauffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts, wonach […] eine Beschwerde gegen Beschlüsse des Amtsgerichts ausscheidet, mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffen. Ihm steht es offen, den begehrten Rechtsschutz in der vom Hanseatischen Oberlandesgericht aufgezeigten Weise zu erlangen. c) Soweit der Beschwerdeführer im Übrigen die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG rügt, ergibt sich aus der Verfassungsbeschwerde nicht, welches konkrete Vorbringen im fachgerichtlichen Verfahren vom Hanseatischen Ober­ landesgericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen wurden.“142

Offenbar sah sich das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage der seitens des Betroffenen vorgebrachten Rügen außer Stande, eine Grundrechtsverletzung festzustellen. Obwohl die Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht vorliegt, ist auf Grund der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, dass der Betroffene hinsichtlich der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG lediglich vorgebracht hat, dass ihm überhaupt kein Rechtsschutz gegen die Ermittlungsmaßnahmen mehr zustehe und ihm dementsprechend auch kein rechtliches Gehör gewährt worden sei. Vor diesem Hintergrund verfängt auch die Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG. Eine solche Begründung rechtfertigt jedenfalls die vorgenannten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts. Denn grundsätzlich besteht auch nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamburg Rechtsschutz gegen die Ermittlungsmaßnahmen. Dieses führte hierzu lediglich aus, nicht zuständig für den begehrten Rechtsschutz zu sein und verwies die Betroffene zugleich an das nach Auffassung des Oberlandesgerichts München zuständige Amtsgericht. Somit hat das Oberlandesgericht Hamburg den Vortrag des Betroffenen berücksichtigt und ihm rechtliches Gehör i. S. d. Art. 103 Abs. 1 GG gewährt. Offenbar hat der Betroffene aber nicht vorgetragen, dass gerade die Versagung der oberlandesgerichtlichen und damit zweitinstanzlichen Beschwerde142  Wörtlich zitiert aus BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2004 – 2 BvR 490/04 – unveröffentlicht (Hervorhebung durch die Verfasserin); unter Auslassung der Verweise u. a. auf: BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – 1 StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264) sowie OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, NStZ-RR 2001, 145, 146.



C. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 281

entscheidung ihn in seinen Grundrechten verletzt. Dies folgt aus der vor­ zitierten Ziff. 2 lit. b der Entscheidungsgründe, nach der der Betroffene die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts München hinsichtlich dessen Unzuständigkeit nicht gerügt hatte. Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet den Gesetzgeber zwar nicht zur Einrichtung eines Instanzenzugs, räumt die anwendbare Prozessordnung einen solchen aber ein, erstreckt sich das Gebot des effektiven Rechtsschutzes auf den kompletten Instanzenzug.143 In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde dazu gehalten ist, den angegriffenen öffentlichen Akt umfassend144 auf seine Vereinbarkeit mit dem „ spezifische[n] Verfassungsrecht “145 zu prüfen.146 Somit

143  BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 – 2 BvR 630/73, NJW 1976, 141; BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NJW 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2017 – 2 BvR 77/16; NStZ-RR 2017, 379 jeweils m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 215; Bethge, in: MSKB II, § 90 Rn. 266; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 480; siehe auch oben S. 105. 144  Die Auffassungen der Senate des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Prüfungsumfangs im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde divergieren. Der Zweite Senat prüft den angegriffenen Akt unabhängig von den Rügen des Beschwerdeführers umfassend auf seine Vereinbarkeit mit den Rechten des Beschwerdeführers des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. September 2005 – 2 BvR 2441/04, BeckRS 2005, 31132 (Rüge einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG; festgestellt wurde ein Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleitete Willkürverbot; die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg). Der Erste Senat hingegen prüft den angegriffenen Akt nur auf die Vereinbarkeit mit form- und fristgerecht gerügtem Verfassungsrecht i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, vgl. BVerfG, Urteil vom 3. April 1990 – 1 BvR 1186/89, NJW 1990, 1593, 1593 ff. (Rüge einer Verletzung der Art. 6 Abs. 1, 14 Abs. 1, 20 Abs. 30 GG; festgestellt wurde ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; die Verfassungsbeschwerde hatte mangels entsprechender Rüge keinen Erfolg). Vgl. zum Ganzen ausführlich: Görisch/Hartmann, NVwZ 2007, 1007, 1007  ff. m. w. N. Diese „Ungereimtheit“ ist für die hiesige Untersuchung allerdings nicht von Belang, da die dargestellte Entscheidung der (rügeunabhängig umfassend prüfende) zweite Senat erlassen hat und der Beschwerdeführer ausweislich des Nichtannahmebeschlusses eine Verletzung seines Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG gerügt haben dürfte. 145  BVerfG, Beschluss vom 18. September 1952 – 1 BvR 612/52, NJW 1953, 177. 146  St. Rspr. des zweiten Senats (vgl. Fn. 144, S. 281): BVerfG, Beschluss vom 4. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83, BeckRS 1985, 898; BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2000 – 2 BvR 1500/97, NJW 2001, 429; Bethge, in: MSKB II, § 90 Rn. 423.

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6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

hätte eine solche Rüge eigentlich zu einer weitergehenden Prüfung des Art. 19 Abs. 4 GG durch das Bundesverfassungsgericht führen müssen.147 Im konkreten Fall hatte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde aber gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG überhaupt nicht zur Prüfung angenommen, sodass dieser Prüfungsmaßstab noch keine Geltung beansprucht hat. Die genauen Gründe der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde lassen sich dem Beschluss nicht unmittelbar entnehmen und sind für die Verfasserin daher nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden aufzeigen148, dass die Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte verfassungswidrig ist, sodass nach hiesiger Auffassung die Annahme einer entsprechend substantiierten Verfassungsbeschwerde gegen die Nichtbescheidung der Beschwerde auf Grund der Anklageerhebung oder eines sonstigen Zuständigkeitswechsels sowohl von grundsätzlicher verfassungsrecht­ licher Bedeutung i. S. d. § 93a Abs. 2 lit. a BVerfGG149 und zur Durchsetzung der Grundrechte des Betroffenen i. S. d. § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG150 angezeigt ist.

2. Beschluss vom 14. Dezember 2004 (2 BvR 1541/04) Sodann beantragte der Betroffene beim entsprechend der Rechtauffassung des Oberlandesgerichts München zuständigen Amtsgericht am 6. März 2004 die Feststellung der Rechtswidrigkeit der abgeschlossenen Ermittlungsmaßnahmen. Das Amtsgericht wies den Antrag mangels Rechtsschutzinteresses des Betroffenen zurück. Auch das Landgericht Hamburg wies die hiergegen gerichtete Beschwerde mangels Rechtsschutzinteresses des Betroffenen zurück. Zur Begründung führte es an, der Betroffene könne die Maßnahmen durch den Rechtsmittelverzicht hinsichtlich des ergangenen Urteils selbst nicht erneut zum Gegenstand gerichtlicher Überprüfung machen. Zudem habe er das Recht auf Überprüfung der Maßnahmen durch Zeitablauf verwirkt.151

147  An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Große Senat des Bundesverfassungsgerichts erst kurz vor dieser Entscheidung klargestellt hatte, dass auch Akte richterlicher Gewalt unter bestimmten Umständen überhaupt von Art. 19 Abs. 4 GG erfasst sind, vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2003 – 1 PBvU 1/02, NJW 2003, 1924. Siehe auch oben ab S. 108. 148  Siehe dazu ab S. 294. 149  Sog. „Grundsatzannahme“: Graßhof, in: MSKB II, § 93a Rn. 81 ff.; vgl. Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn.  48 ff.; jeweils m. w. N. 150  Sog. „Durchsetzungsannahme“: Graßhof, in: MSKB II, § 93a Rn. 101 ff.; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn.  55 ff.; jeweils m. w. N. 151  BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1451/04, NJW 2005, 1855; siehe zu der Verwirkung des Beschwerderechts oben ab S. 127).



D. Zusammenfassung283

Gegen diesen Beschluss legte der Betroffene erneut Verfassungsbeschwerde152 wegen Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG ein. Die Verfassungsbeschwerde wurde (nur) hinsichtlich der angegriffenen Durchsuchungsmaßnahme zur Entscheidung angenommen und hatte insoweit auch Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass es rechtsfehlerhaft gewesen sei, dass das Amtsgericht und sodann auch das Landgericht Hamburg die beiden Beschwerdeverfahren, die jeweils auch in die beiden Verfassungsbeschwerden mündeten, nicht differenziert betrachtet hätten. In diesem Zusammenhang führte es aus, die Rechtsauffassung des Landgerichts Hamburg im ersten Rechtszug dahingehend, dass durch die Rechtskraft ein Zuständigkeitswechsel eingetreten sei, sei „von Verfassungs wegen nicht zu bean­ standen“153. Weitergehende Ausführungen zu dem Zuständigkeitswechsel und zu dem Vorgehen des Oberlandesgerichts München im ersten Beschwerdeverfahren enthalten die Beschlussgründe nicht. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass § 162 Abs. 3 Satz 3 StPO erst im Jahr 2010 in Kraft trat154 und der Zuständigkeitswechsel nach Eintritt der Rechtskraft zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesetzlich normiert, aber bereits gängige Rechtsprechung war.155 Damit hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der zweiten Verfassungsbeschwerde des Betroffenen den heute normierten § 163 Abs. 3 Satz 3 StPO und die damalige Praxis der Rechtsprechung (ohne gesetzliche Grundlage) dem Grunde nach für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt. Damit hat das Bundesverfassungsgericht aber nicht gleichzeitig die oberlandesgerichtliche Umdeutungspraxis für verfassungskonform erklärt. Ebenso wenig lassen sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts Anhaltspunkte zu dessen Ansicht über die Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte bezüglich Haftentscheidungen entnehmen.

D. Zusammenfassung Nach der Untersuchung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, die sich auch nur peripher mit (irgend-)ei152  BVerfG,

1855.

Beschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1451/04, NJW 2005,

153  BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1451/04, NJW 2005, 1855, 1857. 154  Siehe oben S. 64. 155  OLG Celle, Beschluss vom 21. November 2000 – 2 Ws 221/00, NStZ-RR 2001, 145; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. September 2003 – III-2 Ws 176/03, NStZ 2004, 349.

284

6. Teil: Rechtsprechung des BGH und des BVerfG

nem Zuständigkeitswechsel und dessen Auswirkungen auf das Beschwerdeverfahren befasst haben, lässt sich festhalten, dass keines der Gerichte erkennbar jemals die Verfassungsmäßigkeit der oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis bezüglich Haftbeschwerden geprüft hat. Selbst das Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ war – nachdem sich die oberlandesgerichtliche Umdeutungspraxis bereits seit Jahrzehnten etabliert hatte – noch nicht explizit mit der Verfassungsmäßigkeit dieser Praxis bzw. dieser Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO konfrontiert. In dem einzigen Fall, der in einer Verfassungsbeschwerde156 mündete, wurde im Rahmen der von einigen Gerichten anerkannten Ausnahme (Sonderkonstellation 3157) gerade keine Umdeutung vorgenommen.158 Im Übrigen ist weiterhin festzuhalten, dass die Rechtsprechung der Landes- und Bundesgerichte kaum aufeinander Bezug nehmen und weitestgehend isoliert nebeneinanderstehen. Selbst der einzigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die explizit die Haftbeschwerde im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel betrifft und in der dieser die Haftbeschwerde im Einklang mit der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung in einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls159 an das Tatgericht umgedeutet hat, ist keinerlei Auseinandersetzung mit der oder auch nur Bezugnahme auf die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu entnehmen. Nach hiesiger Auffassung lassen sich den (ohnehin nur mit einer knappen Begründung veröffentlichten) Beschlüssen auch keine Hinweise entnehmen, wie und insbesondere mit welcher gesetzlichen Rechtfertigung der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO im Zusammenhang mit dem Rechtsmittel der Beschwerde auslegen würden. Allerdings besteht jedenfalls zwischen dem Bundesgerichtshof und den Oberlandesgerichten insoweit Einigkeit, als dass die Zuständigkeit des Gerichts nebst des diesem zugeordneten Instanzenzugs durch einen Zuständigkeitswechsel entfällt.

156  BVerfG, Beschluss vom 25. Juni 2018 – 2 BvR 631/18, BeckRS 2018, 14020 (siehe oben S. 275). 157  Siehe oben ab S. 208. 158  OLG München, Beschluss vom 9. März 2018 – 3 Ws 215/18, BeckRS 2018, 14022 (siehe oben S. 211). 159  Ein Haftprüfungsantrag nach § 117 StPO wäre unzulässig gewesen, da der Haftbefehl nach § 116 StPO außer Vollzug gesetzt war, vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401 (siehe oben S. 269).

7. Teil

Bewertung der Rechtsprechung A. Rezeption in der juristischen Literatur I. Aktuelle Literatur In der aktuellen juristischen Kommentarliteratur sowie sonstigen Publikationen wird die Problematik der prozessualen Überholung der Beschwerde­ fähigkeit von Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters kaum thematisiert. Dies ist in Anbetracht der Stringenz der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung auch kaum verwunderlich. Soweit die Umdeutungspraxis überhaupt Erwähnung findet, wird die Praxis der Rechtsprechung1 zumeist praxisnah und häufig sehr knapp dargestellt.2 Nur vereinzelt wird Kritik geübt: Paeffgen3 kritisiert die Umdeutung insbesondere von Beschwerden, die vor Anklageerhebung eingelegt wurden. Seiner Auffassung nach greife die Zuständigkeitsregel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO allenfalls für nach Anklageerhebung eingelegte Beschwerden. Dennoch räumt er ein, eine klare gesetzliche Grundlage für die unterschiedliche Behandlung der Beschwerdeeinlegung vor und nach Anklageerhebung existiere nicht. Die Argumentation der Rechtsprechung, wonach die Umdeutung zur Vermeidung von Doppelzuständigkeiten und damit divergierenden Entscheidungen vorgenommen werde, sei aber auf Grundlage der vorhandenen gesetzlichen Regelung des § 126 Abs. 1 Satz 2 StPO ebenfalls nur „dürr“4 begründbar. Dass der in den Händen der Staatsanwaltschaft liegenden Zeitpunkt der Anklageerhebung 1  Siehe

oben ab S. 191. in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 45 f.; Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor. 304 Rn. 50; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 117 Rn. 12; Krauß, in: Graf-StPO 2018, § 117 Rn. 11, § 126 Rn. 6; Posthoff, in: HK 2012, § 117 Rn. 15, § 126 Rn. 10; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 20; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 38 ff., § 126 Rn. 26 ff.; Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7, § 126 Rn. 5; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 40 ff., § 126 Rn. 19 (nur bzgl. der Beschwerdeeinlegung vor Anklageerhebung). 3  Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7 f. 4  Paeffgen, in: SK II 2016, § 117 Rn. 7a. 2  Hilger,

286

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Auswirkungen auf bereits eingelegte Rechtsbehelfe des Betroffenen habe, bedürfe jedenfalls einer stärkeren Argumentation.5 Hinsichtlich der Rechtsprechung, nach der eine Umdeutung gerade nicht erfolgt, wenn dieselbe Kammer kurz zuvor eine begründete Beschwerde­ entscheidung erlassen hat6, kritisiert Paeffgen7, diese Argumentation sei mit § 117 Abs. 1 Satz 1 StPO unvereinbar, wonach jederzeit die Haftprüfung beantragt werden könnte.8 Wankel9 differenziert nach dem Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung, betrachtet hierbei aber nicht sämtliche denkbaren Fallkonstellationen. Wurde die Beschwerde vor oder gleichzeitig mit Anklageerhebung eingelegt, befürwortet er das Vorgehen der Rechtsprechung. Entgegen der herrschenden Auffassung bestehe jedoch kein Bedürfnis, die Haftbeschwerde gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl umzudeuten, wenn diese nach Anklage­ erhebung eingelegt worden sei. In diesem Fall verfange das nach Wankel im Übrigen durchgreifende Argument der Rechtsprechung der Doppelzuständigkeit und Instanzenvermischung nicht, sodass die Umdeutung nicht gerechtfertigt werden könne.10 Eine Umdeutung schränke die Verteidigungsfreiheit des Betroffenen daher unzulässig in erheblicher Weise ein. Des Weiteren könne die Umdeutung zu Verfahrensverzögerungen führen. Hinsichtlich der Beschwerdeeinlegung vor oder gleichzeitig mit Anklageerhebung sei insbesondere auf Grund der im Übrigen entstehenden Doppelzuständigkeit und Instanzenvermischung eine Umdeutung vorzunehmen. Der Zuständigkeitswechsel führe dazu, dass der Instanzenzug beendet sei und die Zuständigkeiten neu zu bestimmen seien.11 Hierdurch sei zwar die Rechtsmittelautonomie des Betroffenen eingeschränkt, dies sei aber aus Gründen der „Verfahrensklarheit und Eindeutigkeit“12 hinzunehmen. Hierzu führt Wankel aus, die Umdeutung einer einfachen Beschwerde stelle jedenfalls bei Anklageerhebung zum Landgericht keinen Eingriff in die Rechtsmittelautonomie des Betroffenen dar, da er dennoch eine Haftentscheidung des übergeordneten Gerichts erhalte. Dies ist, wie bereits dargestellt13, für diese spezielle Fallkonstellation zutreffend. Auf Fallkonstellationen, auf die die Umferner Paeffgen, NStZ 1999, 71, 75; dort auch Fn. 9. oben ab S. 208. 7  Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 5. 8  Posthoff, in: HK 2012, § 126 Rn. 10. 9  Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21 f.; Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 104 ff. 10  Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 22; Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 105, 114 f. 11  Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 115. 12  Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 115. 13  Siehe oben S. 200. 5  Vgl.

6  Siehe



A. Rezeption in der juristischen Literatur287

deutung besonders verzögernd wirkt, wie etwa der Fall des Zuständigkeitswechsels während einer anhängigen weiteren Beschwerde geht Wankel allerdings nicht ein. Gerade diese Fallkonstellation zeigt, dass auch die Umdeutung der vor Anklageerhebung eingelegten (weiteren) Beschwerden zu erheblichen Verzögerungen führen kann, da der Betroffene die bereits erstrittenen Entscheidungen verliert und den Instanzenzug von vorne bestreiten muss. Offen bleibt, weshalb das Tatgericht die Zuständigkeit für die Bescheidung der Beschwerde über den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl auch in diesen Fällen nicht einfach übernehmen kann, wie Wankel es für die Fälle der Beschwerdeeinlegung nach Anklageerhebung vorschlägt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Tatgericht sich die vorangegangenen Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters auch nach Wankel zurechnen lassen müsse14 und eine prozessuale Überholung einer Haftentscheidung durch einen Zuständigkeitswechsel ausscheide15. Vor diesem Hintergrund überzeugt die Differenzierung Wankels insgesamt nicht. Herrmann16 erklärt, das Umdeutungserfordernis sei entwickelt worden, um eine Doppelzuständigkeit und divergierende Entscheidungen zu verhindern. Er weist dennoch daraufhin, dass die Umdeutung die Rechtsmittelautonomie des Betroffenen einschränke. Zudem gebe es Fallgestaltungen, bei denen individuelle Einzelfalllösungen angezeigt seien.17 Herrmann bezieht sich ausdrücklich aber nur auf Beschwerden, die vor einem Zuständigkeitswechsel eingelegt, aber noch nicht beschieden wurden. Zu der Fallkonstellation der Beschwerdeeinlegung nach einem Zuständigkeitswechsel, aber bevor das nunmehr zuständige Gericht eine eigene Haftentscheidung getroffen hat, verhält Herrmann sich nicht. Auch Rostek und Schlothauer/Weider/Nobis sprechen sich gegen die Praxis der Oberlandesgerichte aus. Sie kritisieren insbesondere die mit der Umdeutung einhergehende Verzögerung, die in Untersuchungshaftsachen nicht zu rechtfertigen ist, und den Eingriff in die Rechtsmittelautonomie des Betroffenen.18 Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 111, 115. Zuständigkeitsfragen, S. 110. 16  Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 43, § 126 Rn. 19. 17  Wobei die Verweise Herrmanns, in: SSW 2018, § 117 Rn. 43 auf OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28. September 1992 – 1 Ws 888/92, StV 1993, 592 und OLG Hamm, Beschluss vom 29. Juni 2010 – 2 Ws 149/10, BeckRS 2010, 19469 an dieser Stelle verwundern, da diese Beschlüsse das Umdeutungserfordernis nicht zum Gegenstand haben. Gegenstand ist vielmehr die grundsätzliche Beschwerdefähigkeit nur der letzten Haftentscheidung (siehe oben S. 128). 18  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851; Rostek, in: StV 2002, 225; zustimmend: Kirchner, StV 2006, 318. 14  Vgl.

15  Wankel,

288

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Rostek führt an, die Vorschriften, auf die sich die Oberlandesgerichte berufen (§§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2, 207 Abs. 4 117 Abs. 2 StPO), könnten die Umdeutung nicht rechtfertigen. Jedenfalls folge aus der Formulierung der §§ 125 Abs. 2, 126 Abs. 2 StPO nicht, dass auch die Bescheidung einer ­bereits eingelegten Haftbeschwerde eine weitere Entscheidung i. S. d. § 126 Abs. 2 StPO darstelle. Rostek vertritt die Auffassung, die Gefahr einer Doppelzuständigkeit bestünde nicht, da die Zuständigkeit im Falle der Beschwerde bereits auf das Beschwerdegericht übergegangen sei. Er schlägt daher vor, vor dem Zuständigkeitswechsel eingelegte Beschwerdeverfahren ohne Umdeutung fortzuführen. Zu der Behandlung von Beschwerden, die erst nach dem Zuständigkeitswechsel eingelegt werden, äußert sich Rostek nach hiesigem Verständnis jedoch nicht eindeutig.19 Münchhalffen/Gatzweiler kritisieren, dass das Vorgehen der Rechtsprechung „insbesondere in Umfangsverfahren zu einer in Untersuchungshaft­ sachen unangemessenen Verfahrensverzögerung“20 führe. Zur Begründung wird angeführt, dass das Tatgericht mit Anklageerhebung regelmäßig erstmals mit der Sache befasst ist oder zuvor allenfalls als Beschwerdegericht involviert war. Vor diesem Hintergrund könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich das Gericht in den seitens der Staatsanwaltschaft ausermittelten und angeklagten Sachverhalt sofort einarbeiten könne, um den umgedeuteten Haftprüfungsantrag schnell zu bescheiden.21

II. Ältere Kommentarliteratur Wie bereits dargestellt22 konnte die Rechtsprechung im Rahmen der Entwicklung des generellen Umdeutungserfordernisses nicht auf die Literatur zurückgreifen, da diese sich noch nicht vollumfänglich mit der Problematik befasst hatte. Während der Entwicklung der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung übernahm ein Großteil der älteren Kommentarliteratur diese Umdeutungs­ praxis umgehend kritiklos. Diesbezüglich wird auf die Nachweise in den jeweiligen Urteilen verwiesen, die im Rahmen ihrer Darstellung jeweils in den Fußnoten aufgeführt wurden.23 Aber auch die kritischen Reaktionen auf die Entwicklung der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung hielten sich in Grenzen. 19  Rostek,

in: StV 2002, 225, 226. Untersuchungshaft, Rn. 108. 21  Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 109. 22  Siehe oben ab S. 242. 23  Siehe oben ab S. 191 und die dortigen Nachweise. 20  Münchhalffen/Gatzweiler,



A. Rezeption in der juristischen Literatur289

1. Dünnebier Allen voran Dünnebier24 forderte schon kurz nach Inkrafttreten des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO eine Gleichbehandlung mit den Fällen, in denen die ermittlungsrichterliche Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren nach §  126 Abs. 1 Satz 3 StPO auf einen anderen Ermittlungsrichter übertragen wird. Wie bereits ausgeführt25, kann die Haftzuständigkeit im Ermittlungsverfahren unter den Voraussetzungen des § 126 Abs 1 Satz 3 StPO durch Beschluss auf einen anderen Ermittlungsrichter übertragen werden. In diesem Fall muss sich der durch den Übertragungsbeschluss zuständig gewordene Richter sowie dessen Instanzenzug die vorangegangenen Haftentscheidungen des übertragenden Richters vollumfänglich zurechnen lassen. Dieses Vorgehen entspricht bis heute der einhelligen Auffassung26 und wurde durch den Bundesgerichtshof27 bereits vor Inkrafttreten des § 125 Abs. 1 Satz 3 StPO durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes am 1. April 196528 klargestellt. Die entsprechende Zuständigkeitsübertragung im Ermittlungsverfahren wurde in der Praxis bereits zu diesem Zeitpunkt durchgeführt.29 Dünnebier vertrat die Auffassung, ein Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 3 Satz 1 StPO müsse die gleichen Folgen nach sich ziehen. Demnach müsse sich das Tatgericht die Haftentscheidung des Ermittlungsrichters zurechnen lassen. Das gleiche gelte, wenn bereit ein Beschwerdeverfahren gegen diese Entscheidung anhängig sei. Zuständig für die Bescheidung der Haftbeschwerde sei im Falle der Nichtabhilfe das dem durch § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO übergeordnete Beschwerdegericht. In Fällen, in denen durch die Anklageerhebung etwa zum Landgericht durch § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ein Wechsel der sachlichen Zuständigkeit einhergehe, müsse jedoch Berücksichtigung finden, dass der Betroffene mit seiner Beschwerdeeinlegung eigentlich eine Entscheidung des Landgerichts erstrebt habe. In diesen Fällen sei daher 24  Dünnebier, in: L-R I 1971, § 114 Anm. 17, § 125 Anm. 1, § 126 Anm. 1, 2; Dünnebier, in: L-R II 1978, § 114 Rn. 71, § 125 Rn. 6; Dünnebier, MDR 1968, 185. 25  Siehe oben S. 75. 26  Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn. 43, § 126 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 3; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 7; Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 6; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 7; Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 4; Herrmann, in: SSW 2018, § 126 Rn. 6; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 105. 27  BGH, Beschluss vom 25. März 1960 – 2 ARs 30/60, NJW 1960, 1069, 1070. 28  Durch dieses Gesetz ist auch § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in seiner aktuellen Fassung in Kraft getreten; siehe oben ab S. 59. 29  Vgl. Fn. 27, S. 289, ferner OLG München, Beschluss vom 22. Dezember 1955 – Ws 851/55, NJW 1956, 760.

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7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

unabdingbar, dass das nunmehr nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständige Landgericht zunächst nach § 306 Abs. 2 StPO eine eigene Haftentscheidung bzw. (Nicht-)Abhilfeentscheidung treffe30. Erst danach könne die Abgabe der Sache an das diesem als Beschwerdegericht übergeordnete Oberlandesgericht erfolgen.31 Dünnebier nimmt Bezug auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts Oldenburg aus dem Jahr 195632, in der noch vor Einführung des aktuellen § 126 Abs. 2 Satz 1 im Jahr 1965 erstmals entschieden wurde, dass eine zum Zeitpunkt der Anklageerhebung anhängige Haftbeschwerde in einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls umzudeuten sei. Hauptargument Dünnebiers gegen dieses Vorgehen war, dass ein Rechtssatz, wonach „sich ein Rechtsmittel gegen einen fortwirkenden Haftbefehl durch ‚Überholung‘ dann erledige, wenn das Verfahren in ein neues Stadium eintrete“33, nicht bestehe. Das Oberlandesgericht Frankfurt hatte sich in seiner abweichenden Entscheidung aus dem Jahr 1972 der Auffassung Dünnebiers angeschlossen und in seiner Entscheidung insbesondere dieses Argument herausgegriffen und weiter ausgeführt, aus „den §§ 117 Abs. 2, 304, 305 StPO [ergebe] sich zwingend, daß der Beschuldigte zu jeder Zeit und in jedem Stadium des Ver­ fahrens das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den Haftbefehl und eine Haftfortdauerentscheidung“34 habe. In den im Rahmen dieser Untersuchung dargestellten Beschlüssen der Oberlandesgerichte wird gegen Dünnebier allenfalls – d. h., sofern überhaupt auf dessen Ansicht eingegangen wurde – lediglich das Argument hervorgebracht, durch ein seinem Vorschlag entsprechendes Vorgehen sei das mit der Sache befasste Tatgericht auf eine reine verfahrensinterne (Nicht-)Abhilfeentscheidung beschränkt. Dies werde der klaren Zuständigkeitsregel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht gerecht, da dieser zu Grunde liege, das Tatgericht könne die sachnächste Entscheidung treffen. Zudem handele es sich um eine reine gesetzlich nicht vorgesehen Fiktion, dem Tatgericht die Haftentscheidung des Ermittlungsrichters zuzurechnen.35 30  Dünnebier verlangt in MDR 1968, 185, 186 über die Nichtabhilfe hinaus, dass das Landgericht den Haftbefehl „bestätige“, bevor es die Beschwerde an das Oberlandesgericht weiterleite. Demgegenüber lässt er in: L-R II 1978, § 114 Rn. 71 eine Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts nach § 306 Abs. 2 StPO genügen, damit dieses die Sache an das Oberlandesgericht abgeben kann. 31  Dünnebier, in: L-R II 1978, § 114 Rn. 71; Dünnebier, MDR 1968, 185. 32  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben ab S. 192). 33  Dünnebier, MDR 1968, 185. 34  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben ab S. 196).



A. Rezeption in der juristischen Literatur291 In der (21.) Vorauflage der Kommentierung aus dem Jahr 1963 hatte Dünnebier noch ohne Kritik und Begründung lediglich unter Verweis auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg36 auf dessen Umdeutungspraxis Bezug genommen.37 Zu berücksichtigen ist, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine weiteren entsprechenden Entscheidungen veröffentlicht worden waren. Zudem hatte die Zuständigkeitsregelung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO sowie die Möglichkeit der Zuständigkeitsübertragung im Vorverfahren nach § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO noch nicht existiert. Nach alledem ist davon auszugehen, dass Dünnebier seine Auffassung insbesondere durch die Neufassung des § 126 StPO und auf Grundlage der Entscheidung des Bundesgerichtshofs38 zu § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO, die wie dargestellt bereits vor dessen Einführung ergangen war, entwickelte. Dünnebiers Nachfolger als Bearbeiter der umfangreichen Kommentierung über die Untersuchungshaft Wendisch führte Dünnebiers Auffassung in der 24. Auflage des Werks zunächst teilweise39 fort.

Dessen Nachfolger Hilger ist ohne jegliche Begründung oder gar Hinweise auf Dünnebiers entgegenstehende Auffassung dazu übergegangen, die Kommentierung auf die gängige Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte zu beschränken.40 Auch Matt nimmt an anderer Stelle derselben Kommentierung ohne Verweis auf die abweichende Ansicht Dünnebiers lediglich Bezug auf die Praxis der Rechtsprechung.41

35  OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229). 36  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 37  Dünnebier, in: L-R I 1963, § 114 Anm. 7 ee). Gleiches gilt für die Sonderauflage des Löwe-Rosenberg aus dem Jahr 1966, die anlässlich des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes aus dem Jahr 1965 (siehe oben ab S. 59) im Jahr 1966 erschienen ist, vgl. Dünnebier, Das neue Recht der Untersuchungshaft, § 114 Anm. 16, § 125 Anm. 1 a. E. 38  BGH, Beschluss vom 25. März 1960 – 2 ARs 30/60, NJW 1960, 1069, 1070. 39  Wendisch, in: L-R II 1989, § 114 Rn. 56. Dagegen gibt Wendisch, in: L-R II 1989, § 117 Rn. 21 lediglich die etablierte Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte wieder. Nach hiesigem Verständnis unterscheiden sich die den beiden Fundstellen zu Grunde liegenden Sachverhalte nicht. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass § 114 Rn. 56 lediglich irrtümlich nicht an die Praxis der Rechtsprechung angepasst und nur deshalb noch auf Dünnebiers Auffassung verwiesen wurde. 40  Hilger, in: L-R II 1999, § 114 Rn. 43 ff; Hilger, in: L-R IV 2007, § 114 Rn.  43 ff. 41  Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 21, 50.

292

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

2. Müller/Sax Eine weitere von der nunmehr gefestigten Rechtsprechung abweichende Auffassung vertraten Müller/Sax42 nach Einführung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in seiner heute noch aktuellen Fassung. Nach deren Auffassung sollte der Ermittlungsrichter, der den Haftbefehl nach § 125 Abs. 1 StPO erlassen hat, auch nach Anklageerhebung zuständig bleiben, bis das Tatgericht eine eigene Entscheidung getroffen hat. Im Falle einer anhängigen Beschwerde sei demnach auch das Beschwerdegericht bis zu diesem Zeitpunkt noch befugt, eine Beschwerdeentscheidung zu treffen.43 Soweit in der Rechtsprechung überhaupt auf diese abweichende Auffassung eingegangen wurde, wurde dieser zumeist entgegengehalten, dass diese bedingt durch den normierten Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zu einer Doppelzuständigkeit des Ermittlungsrichters und des Tatgerichts für Haftentscheidungen bis zu dem Zeitpunkt führe, in dem das Tatgericht die erste eigene Haftentscheidung getroffen habe. Dies solle § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO aber gerade vermeiden. Zudem sei das Tatgericht nach dieser Auffassung jedenfalls dann gleichzeitig erstinstanzlich und als Beschwerdegericht zuständig, wenn zu diesem Anklage erhoben wurde, gleichzeitig ein Beschwerdeverfahren anhängig ist und das Tatgericht ebenfalls zuständiges Beschwerdegericht ist. Dies führe zu einer der Strafprozessordnung fremden Instanzenvermischung.44 Im Folgenden schränkte Müller45 diese Auffassung insoweit ein, dass dies nicht gelten solle, wenn die Anklage zu dem Landgericht erhoben wurde, das dem Haftrichter, der den Haftbefehl nach § 125 Abs. 1 StPO erlassen hat, als Beschwerdegericht übergeordnet ist, und erst nach Anklageerhebung Beschwerde eingelegt wurde. In diesem Fall sei die anhängige Beschwerde in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten.46 Somit wurde der Anwendungsbereich der ursprünglichen Auffassung auf die Fälle beschränkt, in dem die Anklage zum Amtsgericht oder einem dem jeweiligen Haftrichter nicht als Beschwerdegericht übergeordneten Landgericht erhoben wurde. Mit dieser Einschränkung ist Müller dem Vorwurf der prozessfremden Instanzenvermischung ausgewichen. Dennoch besteht weiterhin in dem gerin42  Müller/Sax,

KMR I 1966, § 125 Rn. 5. KMR I 1966, § 125 Rn. 5. 44  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72. NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204). 45  Müller, in: KMR 1989; § 125 Rn. 6. 46  Müller, in: KMR 1989; § 125 Rn. 6. 43  Müller/Sax,



A. Rezeption in der juristischen Literatur293

gen verbleibenden Anwendungsbereich dieser Auffassung die Problematik der Doppelzuständigkeit. Ist gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl Beschwerde eingelegt worden, die Anklage aber bei einem dem Ermittlungsrichter nicht übergeordneten Landgericht oder einem anderen Amtsgericht eingelegt worden, bestehen auch nach der Einschränkung Müllers weiterhin die Zuständigkeiten im Rahmen des Beschwerdeverfahrens47 sowie die Zuständigkeit des Tatgerichts nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO. Somit besteht weiterhin die Gefahr divergierender Sachentscheidungen. Dennoch pflichtet Paeffgen48 Müllers Auffassung in Ermangelung eines gesetzlich geregelten Zuständigkeitsübergangs bei. Die Auffassung Müllers wurde soweit ersichtlich nicht weiter aufrechterhalten und im Übrigen auch nicht mehr in Literatur und Rechtsprechung rezipiert.49

III. Zusammenfassung Wie bereits in der Einleitung dargestellt, stand die hier untersuchte Problematik der Auswirkungen des Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf die Beschwerdefähigkeit ermittlungsrichterlicher Haftentscheidungen bislang wenig in der wissenschaftlichen Diskussion. Mit Ausnahme der Auffassungen und auch Lösungsvorschlägen von Dünnebier, Müller/Sax, Rostek und Wankel50, die sich in der Praxis nicht durchsetzen konnten und auch in der Wissenschaft weitestgehend unberücksichtigt blieben, gab es in der Vergangenheit keine weiteren Vorschläge zur Lösung des Problems der prozessualen Überholung der Haftbeschwerde. In diesem Zusammenhang ist erneut darauf hinzuweisen, dass die Praxis nicht auf Vorschläge aus der älteren juristischen Literatur zurückzuführen ist. 47  Die sich danach richten, in welchem Stadium das Beschwerdeverfahren ist. Namentlich danach, ob der Ermittlungsrichter die Beschwerde bereits nicht abgeholfen hat, vgl. § 306 Abs. 2 StPO. Nach Eingang der Akten beim Beschwerdegericht, geht die Zuständigkeit auf dieses über. Siehe dazu oben S. 123. 48  Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 5 (dort auch Fn. 20). 49  Siehe zu der von Wankel als aktueller Bearbeiter dieses Abschnitts des KMR vertretenen Auffassung oben S. 286. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass der KMR seit der 7. Auflage als Loseblattsammlung geführt wurde und es der Verfasserin nicht möglich war, alle Bearbeitungsstände auf eine etwaige Fortführung oder bewusste Aufgabe dieser Auffassung zu überprüfen. Jedenfalls die aktuelle Auflage des KMR lässt keine Rückschlüsse mehr auf diese Auffassung zu, vgl. Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21 f. 50  Wobei Wankel lediglich die Umdeutung für nach dem Zuständigkeitswechsel eingelegte Beschwerden ablehnt und insoweit die Fortführung des Beschwerdeverfahrens empfiehlt, vgl. Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 115.

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7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Auch, als sich die oberlandesgerichtliche Umdeutungspraxis in den 1950er Jahren mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Oldenburg aus dem Jahr 195651 zu etablieren begann, hat sich soweit ersichtlich niemand in der juristischen Wissenschaft ausdrücklich für diese Umdeutungspraxis ausgesprochen.52

B. Eigene Bewertung I. Zusammenfassende Vorüberlegungen Durch die Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte läuft die Rechtsmittelautonomie des Betroffenen leer, der sich zumeist bewusst für eine Haftbeschwerde und gegen einen Haftprüfungsantrag entschieden hat.53 Dies dürfte insbesondere den Interessen desjenigen Betroffenen zuwiderlaufen, der zeitnah eine letztinstanzliche Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts erstrebt.54 Eine gesetzliche Grundlage für diese Umdeutung existiert nicht.55 Andersherum formuliert besteht auch keine gesetzliche Regelung, nach der richterliche Entscheidungen nach Eintritt eines Zuständigkeitswechsel der Anfechtbarkeit nach § 304 StPO entzogen sind.56 Insofern ist der einzigen abweichenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt zuzustimmen, dass die Strafprozessordnung Haftentscheidungen zu jedem Zeitpunkt unabhängig von dem Verfahrensstadium als mit der Beschwerde für angreifbar erklärt.57 Gegenteiliges kann sich insbesondere aus den §§ 117 Abs. 2, 304, 305 StPO nicht ergeben.58 Überhaupt kann nach den Ergebnissen dieser Untersuchung nicht davon ausgegangen werden, dass 51  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192). 52  Siehe zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen vor der Etablierung der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung oben ab S. 242. 53  Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851; Rostek, in: StV 2002, 225; zustimmend Kirchner, StV 2006, 318. 54  In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass eine letztinstanz­ liche Beschwerdeentscheidung und damit die Rechtswegerschöpfung Zulässigkeits­ voraussetzung für eine Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) und im Anschluss ggf. eine Individualbeschwerde nach Art. 34, 35 Abs. 1 EMRK (siehe oben S. 148) ist. 55  Rostek, in: StV 2002, 225, 226. 56  Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); Dünnebier, MDR 1968, 185. 57  Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196). 58  Rostek, in: StV 2002, 225, 226.



B. Eigene Bewertung 295

die Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte jemals dem gesetzgeberischen Willen entsprach.59 Zudem kann aus der Zuständigkeitsnorm des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht zugleich geschlossen werden, dass ein Gericht, welches bereits für die Bescheidung einer bereits eingelegten Beschwerde nach § 73 Abs. 1 GVG zuständig war, seine einmal begründete Zuständigkeit mit Anklageerhebung verliert. Hier wird zutreffend diskutiert, ob die Norm des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO überhaupt eine bereits anhängige Beschwerde tangieren kann.60 Zweifelhaft erscheint insofern, ob es sich bei einer Beschwerdeentscheidung über eine bereits existente Haftentscheidung überhaupt um eine „weitere gerichtliche Entscheidung“ im Sinne dieser Zuständigkeitsnorm handeln kann. Die Beschwerde dient in diesen Fällen der Überprüfung und ggf. Korrektur einer bereits vor Anklageerhebung getroffenen Entscheidung. Dem Wortsinn nach erscheint fernliegend, die Beschwerdeentscheidung ohne Weiteres als eine „weitere gerichtliche Entscheidung“ zu verstehen. Diese Argumentation gilt auch für nach Anklageerhebung eingelegte Beschwerden, die sich mangels Haftentscheidung des Tatgerichts noch gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl wenden. Auch auf diese Beschwerde wird weniger eine weitere gerichtliche Entscheidung erlassen, sondern vielmehr die gerichtliche Überprüfung und ggf. Korrektur einer bereits existenten gerichtlichen Maßnahme durchgeführt. Es liegt auf der Hand, dass jede durch die Umdeutung notwendige weitere gerichtliche Entscheidung grundsätzlich dazu geeignet ist, das Verfahren erheblich zu verzögern.61 Dass die oberlandesgerichtliche Praxis verfahrensverzögernd wirkt, räumen die Oberlandesgerichte teilweise sogar selbst ein.62

59  Siehe

oben ab S. 35. in: StV 2002, 225, 226. 61  Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn.  108; Schlothauer/Weider/ Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851; Rostek, in: StV 2002, 225. 62  So etwa: OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687; OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. Sowie teilweise jedenfalls in den Fällen, in denen dieselbe Kammer kurz zuvor eine hinreichend begründete Beschwerdeentscheidung getroffen hat und gerade deshalb auf eine Umdeutung verzichtet wird, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433 (siehe oben S. 209); KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); siehe dazu insg. oben ab S. 208. 60  Rostek,

296

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Bemerkenswert ist, dass der Betroffene selbst weder Einfluss auf den Zeitpunkt der Anklageerhebung noch auch auf den der Entscheidung des Beschwerdegerichts hat. So dürfte es in der Praxis regelmäßig dem Zufall überlassen sein, ob eine (weitere) Beschwerde gerade noch vor der Anklageerhebung beschieden wird oder durch die Anklageerhebung eine prozessuale Überholung eintritt. Vielmehr hat allein das (weitere) Beschwerdegericht Einfluss darauf, wie zügig es über die eingelegte Beschwerde entscheidet. Durch schlichtes Zuwarten kann es seine Unzuständigkeit herbeiführen, wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Zu einer zügigen Anklage­ erhebung ist diese auf Grund des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen gerade gehalten. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die Akten im Rahmen des Beschwerdeverfahrens im Regelfall über die Staatsanwaltschaft übersendet werden. Angesichts der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung dürfte es daher nicht fern liegen, dass die Staatsanwaltschaften sich dies (berechtigterweise) zu Nutze machen und umgehend Anklage erheben, sobald ihnen eine Beschwerde zur Weiterleitung vorgelegt wird.63 Der Rechtsprechung ist dennoch in einem zentralen Punkt zuzustimmen: Sofern man mit der Rechtsprechung davon ausgeht, die Haftkontrolle gehe auch bei einer anhängigen Haftbeschwerde mit Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf das Tatgericht über, wären zwei Gerichte mit der Haftkontrolle betraut, sodass es zu der bereits dargestellten Doppelzuständigkeit oder – bei einer beim Landgericht anhängigen Beschwerde und Anklage zu eben diesem Landgericht – auch zu einer Instanzenvermischung kommen würde.64 Die Regelung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zeigt, dass der Gesetzgeber gerade eine Trennung der Zuständigkeiten gewollt habe.65 Insoweit ist den Oberlandesgerichten zuzustimmen, dass die von Müller/ Sax66 zunächst vertretene Auffassung abzulehnen ist, nach der das Tatgericht trotz Anklageerhebung im Falle der Beschwerdeeinlegung gegen den ermittRostek, in: StV 2002, 225. Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72. NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); siehe auch oben ab S. 236. 65  OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204); OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15. August 1994 – 2 Ws 172/94, BeckRS 1994, 08692 (siehe oben S. 213); OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. 66  Müller/Sax, KMR I 1966, § 125 Rn. 5; siehe oben ab S. 292. 63  Vgl.

64  OLG Oldenburg,



B. Eigene Bewertung 297

lungsrichterlichen Haftbefehl so lange als Beschwerdegericht zuständig bleibe, bis es eine erstinstanzliche Haftentscheidung treffe. Diese Auffassung führt im Ergebnis tatsächlich zu einer prozessfremden Instanzenvermischung.67 Zudem führt diese Auffassung, wonach der Ermittlungsrichter die Haftkontrolle trotz der Anklageerhebung behält, bis das Tatgericht eine eigene Haftentscheidung getroffen hat,68 in Fällen der Anklageerhebung zum Amtsgericht oder einem dem Ermittlungsrichter nicht übergeordneten Landgericht auch unter Berücksichtigung der Einschränkung Müllers69, zu einer Doppelzuständigkeit, die die §§ 125 f. StPO gerade vermeiden sollen. Müller/ Sax’ Lösungsansatz ist somit auch unter Berücksichtigung der Einschränkung Müllers insgesamt nicht mit der Systematik der Haftrichterzuständigkeiten vereinbar. Im Folgenden ist zu untersuchen, ob die Auslegung der Rechtsprechung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben steht. Hierbei wird das Vorgehen der Rechtsprechung insbesondere am Maßstab des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen (Art. 2 Abs. 2 GG, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK) sowie des Gebots des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gemessen. Nach abschließender Bewertung der oberlandesgerichtlichen Praxis ist zu erörtern, ob eine verfassungs- sowie konventionskonforme Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO rechtssicher möglich ist oder nur eine Gesetzesänderung in Betracht kommt.

II. Konflikt mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen folgt unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 GG, da die Untersuchungshaft einen Eingriff in die körperliche Freiheit darstellt.70 Der Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) verpflichtet die Exekutive und die Judikative dazu, im Rahmen der geltenden Gesetze zu handeln und ihr Handeln hierbei jeweils im Einklang mit den höherrangigen (Verfassungs-)Recht zu bringen.71 67  So auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72. NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194); OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 (siehe oben S. 196); OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204). 68  Müller/Sax, KMR I 1966, § 125 Rn. 5; siehe oben ab S. 292. 69  Müller, in: KMR 1989; § 125 Rn. 6. 70  Siehe oben ab S. 144. 71  Robbers, in: BK VII, Art. 20 Abs. 3 Rn. 3314 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 81 ff.; 92 ff.; Grzeszick, in: Maunz/Dürig III, Art. 20 Rn. 46.

298

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen folgt des Weiteren auch aus Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK. Nach Art. 1 EMRK sind alle Vertragsstaaten dazu verpflichtet, allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Art. 2 bis 18 EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten zuzusichern.72 Trotz der stark einzelfallgeprägten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts ist festzuhalten, dass ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen regelmäßig angenommen wurde, wenn eine vermeidbare Verzögerung vorliegt, die allein der staatlichen Sphäre zuzuordnen ist. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haft­ sachen erfordert, dass die staatlichen Stellen alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um eine Verfahrensverzögerung zu vermeiden.73 Dazu gehört folglich auch, dass auslegungsbedürftige Normen im Sinne des Beschleunigungsgrundsatzes verfassungskonform so auszulegen sind, dass aus ihrer Anwendung keine vermeidbare Verzögerung resultiert. Die Umdeutung einer anhängigen Haftbeschwerde in Folge eines Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO hat – wie in dieser Untersuchung bereits mehrfach festgestellt wurde – Verfahrensverzögerungen zur Folge. Dies gilt umso mehr, wenn der Betroffene bereits eine ablehnende Entscheidung des Beschwerdegerichts auf die einfache Beschwerde nach § 304 StPO erhalten hat und hiergegen die weitere Beschwerde nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO eingelegt hat. Eigentlich steht eine letztinstanzliche Haftentscheidung des Oberlandesgerichts an. Erhebt die Staatsanwaltschaft aber noch vor Bescheidung der weiteren Beschwerde die Anklage, gilt die Haftbeschwerde nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte als prozessual überholt. Der Betroffene wird nun darauf verwiesen, bei dem nunmehr zuständigen Gericht eine (erstinstanzliche) Haftentscheidung zu beantragen, um diese wiederum mit der Beschwerde anfechten zu können. Er muss nunmehr den Instanzenzug erneut beginnen: Wurde die Anklage zum Amtsgericht erhoben, muss er erneut die einfache Beschwerde einlegen, um gegen eine weitere ablehnende Entscheidung des Landgerichts erneut die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht einlegen zu können. Erst dann erhält er die schon zum Zeitpunkt der Einlegung der 72  Siehe

oben ab S. 142. St. Rspr.: BVerfG, Beschluss vom 13. September 2002 – 2 BvR 1375/02, BeckRS 2002, 12450 = StV 2003, 30; BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005 – 2 BvR 1737/05, NJW 2006, 668, 671; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – 2 BvR 1964/05, NJW 2006, 672, 675; BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, NJW 2006, 677; jeweils m. w. N.; Hilger, in: L-R IV 2007, Vor § 112 Rn. 35, § 121 Rn. 30 ff.; Wankel, in: KMR II 2019, § 121 Rn. 1a; Baumanns, Der Beschleunigungsgrundsatz im Strafverfahren, S. 376; Dörr, in: EMRK/GG, Kap. 13 Rn. 69; Knauer, StraFo 2007, 309, 310 f. Vgl. ferner für im Rahmen der Abwägung relevante Umstände: Schultheis, in: KK 2019, § 121 Rn. 20 f. 73 



B. Eigene Bewertung 299

ersten Beschwerde gewünschte letztinstanzliche Haftentscheidung des Oberlandesgerichts. In der Zwischenzeit sind mehrere Tage – wenn nicht sogar Wochen – vergangen. Selbst, wenn alle beteiligten Gerichte bereits ab Einlegung der ersten Beschwerde höchste Beschleunigung an den Tag legen, kann eine gewisse und in der Summe sicherlich nicht geringfügige Verzögerung nicht vermieden werden. Immerhin müssen mehrere Gerichte den Sachverhalt gewissenhaft prüfen, die Beteiligten anhören und eine Entscheidung treffen, die ggf. zuzustellen ist. Zudem müssen die Akten – regelmäßig über die Staatsanwaltschaft – den verschiedenen beteiligten Gerichten zugeleitet werden. Aus praktischer Sicht darf der Umstand nicht vernachlässigt werden, dass es sich insbesondere bei Haftsachen aus den Bereichen der organisierten Kriminalität oder der Wirtschaftskriminalität häufig um komplexe Sachverhalte mit umfangreichen Akten und Beweismittelbänden handelt, in die sich das jeweils zuständige Gericht häufig zeitaufwendig einarbeiten muss, um eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können. Da die Umdeutung auf § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO gestützt wird, handelt es sich um eine gesetzesbedingte Verzögerung, für die eine Rechtfertigung nicht erkennbar ist. Es ist somit naheliegend, dass das Bundesverfassungsgericht und auch der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommen würden, dass die Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Oberlandesgerichte zu einer ungerechtfertigten Verzögerung des Haftbeschwerdeverfahrens führt. Die Rechtsstaatswidrigkeit der Verzögerung folgt nicht nur daraus, dass diese nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch strukturbedingt ist. Die Verzögerung beruht auf der einheitlichen Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Oberlandesgerichte. Somit tritt sie in allen Fällen der Einlegung einer Haftbeschwerde im Zusammenhang mit der Anklageerhebung bzw. einem anderweitigen Zuständigkeitswechsel auf. Die aus der Umdeutung resultierende Verzögerung haben die Oberlandesgerichte in ihren Beschlüssen nur in Ausnahmefällen thematisiert.74 Hierzu 74  OLG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2003 – 1 Ws 281/03, BeckRS 2003, 09687 (siehe oben S. 229); OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. Außerdem räumen diejenigen Oberlandesgerichte, die eine Umdeutung ablehnen, wenn das nunmehr zuständige Tatgericht kurz zuvor eine begründete Haftentscheidung getroffen hat (siehe oben ab S. 208), ein, dass die Umdeutungspraxis zu Verzögerungen führt, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433 (siehe oben S. 209); KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 7. Juli 1998 – 1 AR 718/98 – 5 Ws 405/98, 1 AR 718/98, BeckRS 1998, 15189 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 21. Januar 2003 –

300

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

führte das Oberlandesgericht Frankfurt aus, „dass die Handhabung auf der Basis der einhelligen Rechtsprechung zu Verzögerungen bei der erstrebten Überprüfung der Haftentscheidung durch die Beschwerdeinstanz führen kann. Auch dieser Gesichtspunkt vermag jedoch den dargelegten Zuständigkeitsmangel75 nicht zu beseitigen“76. Hierbei hat das Oberlandesgericht möglicherweise die Bedeutung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen verkannt. Anderenfalls hätte es wohl auf Art. 20 Abs. 3 GG eingehen müssen, wonach die Gesetze im Einklang mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und somit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG anzuwenden sind.77 Der Beschluss enthält mit Ausnahme des Hinweises auf den Zuständigkeitsmangel aber gerade keinen Hinweis darauf, weshalb keine andere Auslegung der Norm in Betracht kommt, die mit dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen und den existierenden Zuständigkeitsregelungen im Einklang steht. Hätte das Oberlandesgericht den Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen erkannt, aber keine verfassungskonforme Auslegungsmöglichkeit gefunden, hätte es § 126 Abs. 2 Satz 1 im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen müssen. Dies erfordert jedoch nicht nur, dass die Norm entscheidungserheblich ist78, was in allen Fällen offensichtlich ist, in denen sich die Oberlandesgerichte auf Grund der aus § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO vermeintlich resultierenden prozessualen Überholung für unzuständig erklärt haben. Vielmehr ist weitere Zulässigkeitsvoraussetzung, dass das vorlegende Gericht selbst von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt ist.79 Zu dieser Erkenntnis ist bislang offenbar keines der Oberlandesgerichte – einschließlich des Oberlandesgerichts Frankfurt – gekommen. Auch die Oberlandesgerichte, die eine Umdeutung in der Sonderkonstellation ablehnen, in der das Landgericht kurz zuvor eine hinreichend begründete Haftentscheidung getroffen hat, begründen dies damit, dass eine Umdeutung 2 Ws 21/03, BeckRS 2003, 18085 (siehe oben S. 210); OLG Köln, Beschluss vom 11. November 2003 – 2 Ws 599/03, BeckRS 2003, 18091 (siehe oben S. 210); OLG Koblenz, Beschluss vom 25. März 2013 – 2 Ws 134/13, BeckRS 2014, 03402 (siehe oben S. 212). 75  Gemeint ist die drohende doppelte Zuständigkeit und damit die Gefahr divergierender Entscheidungen; vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. 76  OLG Frankfurt, Beschluss vom 5. Oktober 2009 – 1 Ws 107/09, StV 2009, 33 = BeckRS 2010, 00265. 77  Vgl. Fn. 71, S. 297. 78  Stern, in: BK XVIII, Art. 100, Rn. 151 ff.; Wieland, in: Dreier GG-Kommentar III, Art. 100 Rn. 26 ff.; Dederer, in: Maunz/Dürig VI, Art. 100 Rn. 139 ff. 79  Stern, in: BK XVIII, Art. 100, Rn. 168 f.; Wieland, in: Dreier GG-Kommentar III, Art. 100 Rn. 23 ff.; Dederer, in: Maunz/Dürig VI, Art. 100 Rn. 128 ff.



B. Eigene Bewertung 301

zu einer sachlich nicht gebotenen erneuten Haftentscheidung desselben Spruchkörpers führen würde und dies das Verfahren ohne sachlich zwingende Gründe verzögern würde.80

III. Konflikt mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Ebenso konfliktreich ist das Verhältnis der oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis zu dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG.81 Zwar verpflichtet Art. 19 Abs. 4 GG den Gesetzgeber gerade nicht zu der Einrichtung eines Instanzenzugs, ist ein solcher aber von der jeweilig einschlägigen Prozessordnung vorgesehen, muss die Effektivität des Rechtsschutzes in dem gesamten Rechtszug gewährleistet sein.82 Die Oberlandesgerichte versagen den (Beschwerde-)Rechtsschutz und Rechtszug gegen ermittlungsrichterliche Haftentscheidungen mit der Begründung, die Haftentscheidung sei durch die Anklageerhebung prozessual überholt. Die prozessuale Überholung folge aus dem Wechsel des Verfahrens­ stadiums, der auch den Zuständigkeitswechsel nach § 125 Abs. 2 Satz 1 StPO (oder etwa auch § 321 Satz 2 StPO) bedingt.83 Tatsächlich handelt es sich bei dem Begriff der prozessualen Überholung allerdings nicht um einen in diesem Sinne anerkannten Rechtsbegriff.84 Der 80  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. August 1977 – 1 Ws 326/77, Die Justiz 1977, 433 (siehe oben S. 209); KG, Beschluss vom 11. Juni 1998 – 1 AR 614/98 – 4 Ws 122/98, 1 AR 614/98, BeckRS 1998, 15184 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 11. Februar 1999 – 1 AR 112/99 – 4 Ws 34/99, BeckRS 2014, 09290 (siehe oben S. 210); KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); siehe dazu insg. oben ab S. 208. 81  Siehe grundlegend zu Art. 19 Abs. 4 GG oben ab S. 105. 82  BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1975 – 2 BvR 630/73, NJW 1976, 141; BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NJW 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164; BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; BVerfG, Beschluss vom 19. Dezember. 2012 – 1 BvL 18/11, NJW 2013, 1418, 1422; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2017 – 2 BvR 77/16; NStZ-RR 2017, 379 jeweils m. w. N.; Schenke, in: BK VI, Art. 19 Abs. 4 Rn. 102; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 Abs. 4 Rn. 94; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 215; Bethge, in: MSKB II, § 90 Rn. 266; Jahn u. a., Verfassungsbeschwerde, Rn. 480. 83  Vgl. Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 110. Zu der Argumentation der Rechtsprechung (m. N.) siehe oben S. 238. 84  Dies lässt jedenfalls die Darstellung des Begriffs durch das Bundesverfassungsgericht, etwa in Klammern und mit dem Zusatz „sogenannte“ prozessuale Über-

302

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Begriff wird im Übrigen in Rechtsprechung und Literatur insbesondere in Fällen verwendet, in denen von der angefochtenen Maßnahme durch Erledigung (z. B. Vollziehung, Aufhebung) oder prozessualen Gründen (z. B. dem Erlass einer neuen die vorangehende funktional ersetzenden Entscheidung) keinerlei Wirkung mehr ausgeht.85 So wird beispielsweise in zahlreichen Kommentaren abseits der unter A. I. des hiesigen 6. Teils86 dieser Untersuchung einzig auf die prozessuale Überholung in dem vorgenannten Zusammenhang mit erledigten Maßnahmen hingewiesen. Es wird kein Bezug auf die prozessuale Überholung von Haftbeschwerden im Zusammenhang mit einem Zuständigkeitswechsel genommen.87 Auch in den dargestellten Rechtsfolgen wird die Umdeutung eines Rechtsmittels gegen prozessual überholte Maßnahmen nicht thematisiert.88 Dies lässt sich wie folgt erklären: Unter den Begriff prozessuale Überholung fasste das Bundesverfassungsgericht vor der bereits dargestellten Rechtsprechungsänderung im Jahr

holung (BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154, Leitsatz) vermuten, vgl. Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer, S. 110. Vgl. zu weiterer Kritik an dem Begriff der prozessualen Überholung im Allgemeinen (insb. dessen Austauschbarkeit): Budach, Die prozessuale Überholung, S.  258 ff.; Güniker, Prozessuale Überholung und materielle Beschwer, S. 116 ff. 85  Siehe auch oben ab S. 109 und S. 126. 86  Siehe oben S. 285. 87  An dieser Stelle darf nicht verschwiegen werden, dass kontrovers diskutiert wird, dass die Instanzgerichte die Figur der prozessualen Überholung mangels fortbestehenden Rechtsschutzinteresses teilweise auch heranziehen, wenn eine (Untersuchungs-)Haftbeschwerde während des Übergangs von Untersuchungshaft in Strafhaft anhängig ist oder die Beschwerde erst nach Eintritt der Rechtskraft eingelegt wird, z. B.: OLG Hamm, Beschluss vom 12. Februar 2008 – 3 Ws 29/08, NStZ 2008, 582, 583; OLG Hamm, Beschluss vom 2. April 2009 – 3 Ws 104/09, NStZ 2009, 655, 656; OLG Celle, Beschluss vom 8. November 2011 – 2 Ws 311/11, BeckRS 2012, 937. Zustimmend: Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 75; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 17. Kritisch: Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 55c, Park/Schlothauer, FS-Widmaier, 387, 394 f. 88  Vgl. z. B. folgende Kommentarstellen, in denen der Begriff der „prozessualen Überholung“ in dem zeitlichen Zusammenhang der Erledigung erwähnt wird: Matt, in: L-R VII-1 2014, Vor § 304 Rn. 68 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, Vor § 296 Rn. 17 ff.; Plöd, in: KMR V 2019, Vor § 296 Rn. 12; Allgayer, in: MüKo II 2016, § 296 Rn. 49 ff.; Frisch, in: SK VI 2016, § 304 Rn. 53 ff.; Bethge, in: MSKB II, § 90 Rn. 370. Überdies bezeichnen Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 117 Rn. 51 die Folgen des § 117 Abs. 2 StPO, wonach stets nur die letzte Haftentscheidung anfechtbar sei (siehe dazu oben S. 128), als prozessuale Überholung. Zabeck, in: KK, § 304 Rn. 31 geht allerdings unmittelbar in Folge der prozessualen Überholung wegen Erledigung auf die im Rahmen dieser Untersuchung gegenständliche prozessuale Überholung durch einen Zuständigkeitswechsel ein.



B. Eigene Bewertung 303

199789 insbesondere die Fälle, in denen es ein Rechtsmittel gegen erledigte, aber irreversible Maßnahmen mangels Rechtsschutzbedürfnisses wegen prozessualer Überholung grundsätzlich für unzulässig erklärte. In dem Leitsatz seiner bis 1997 geltenden Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1978 hieß es hingegen noch: „Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, daß die Zulässigkeit einer strafprozessualen Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung mangels Rechtsschutzbedürfnisses grundsätzlich dann verneint wird, wenn die Durchsuchung bereits abgeschlossen ist (sogenannte prozessuale Überholung).“90

Als das Bundesverfassungsgericht jedoch mit der weiteren Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 199791 von dieser grundsätzlichen Ansicht abrückte, formulierte es in Ziff. 1 und 2. b) der Leitsätze: „1. Eröffnet das Prozeßrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 IV GG in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. 2. […] b) Die Beschwerde gegen eine richterliche Durchsuchungsanordnung darf somit nicht allein deswegen, weil sie vollzogen ist und die Maßnahme sich deshalb erledigt hat, unter dem Gesichtspunkt prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden. (Abweichung von BVerfGE 49, 329 = NJW 1979, 154)“92

Die Figur der prozessualen Überholung setzte für das Bundesverfassungsgericht also voraus, dass von der konkret angefochtenen Maßnahme tatsächlich keine gegenwärtige Beschwer mehr ausgeht.93 Mit seiner Entscheidung aus dem Jahr 1997 stellte es dann allerdings klar, dass auch eine aufgehobene, vollzogene oder aus sonstigen Gründen aktuell nicht mehr gegenwärtige Maßnahme in bestimmten Fällen beschwerend fortwirken kann, sodass das ein fortwährendes Rechtsschutzbedürfnis bezüglich der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme besteht. Zu diesem Fällen gehören insbesondere besonders grundrechtsrelevante Maßnahmen, wie z. B. die Freiheitsentziehung.94

89  BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154 (siehe oben S. 110). 90  BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154 (siehe oben S. 110); Hervorhebung durch die Verfasserin. 91  BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163 (siehe oben S. 111). 92  BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163 (siehe oben S. 111). 93  Siehe dazu auch unten S. 305.. 94  Siehe für die weiteren Fallgruppen oben ab S. 111.

304

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

Das Bundesverfassungsgericht hat der Annahme der Unzulässigkeit eines Rechtsmittels wegen prozessualer Überholung wegen Erledigung der angegriffenen Maßnahme bei besonders grundrechtsrelevanten Maßnahmen mit der Entscheidung aus dem Jahr 1997 die verfassungsrechtliche Grundlage entzogen. Tatsächlich dürfte diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erst recht auch auf den Fall der prozessualen Überholung anzuwenden sein, die die Oberlandesgerichte im Falle eines Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO grundsätzlich annehmen. Selbst in der Ausgangsentscheidung aus dem Jahr 197895 setzte die Annahme der prozessualen Überholung denknotwendig voraus, dass die Maßnahme gegenwärtig nicht mehr fortwirkt. „Es entsprach seit langem allgemeiner Rechtsauffassung, daß über eine gegen den richterlichen Durchsuchungsbeschluß eingelegte Beschwerde jedenfalls regelmäßig nicht mehr in der Sache entschieden werden darf, wenn die Durchsuchung abgeschlossen ist; die Beschwerde gilt in diesen Fällen – sofern nicht ausnahmsweise ein Rechtsschutzinteresse an der Beschwerdeentscheidung fortbesteht – als prozessual überholt. Dabei handelt es sich nicht um ein Problem, das speziell und ausschließlich bei einer gegen einen richterlichen Durchsuchungsbefehl gerichteten Beschwerde auftritt; vielmehr soll im Strafprozeß ganz allgemein die prozessuale Überholung der Möglichkeit, eine Sachentscheidung zu erlassen, entgegenstehen. Das gilt beispielsweise im Falle der Beschwerde gegen richterliche Anordnungen nach § 81 a und § 81 c StPO, wenn die Untersuchung vollständig durchgeführt ist, sowie bei der Beschwerde gegen einen Vorführung[s]befehl (§ 134 StPO) nach dessen Vollzug. Diese Ansicht beruht auf einem bestimmten grundsätzlichen Verständnis von der Funktion strafprozessualer Rechtsmittel: Diese richten sich auf die Beseitigung einer gegenwärtigen, fortdauernden Beschwer, dienen also regelmäßig dem Zweck, dem Betroffenen die Möglichkeit zu verschaffen, die richterliche Überprüfung einer Maßnahme mit dem Ziel ihrer Aufhebung zu verlangen; eine feststellende Entscheidung des, Inhalts, daß eine endgültig vollzogene Maßnahme rechtmäßig oder rechtswidrig gewesen sei, sieht die StPO dagegen in der Regel nicht vor.“96

So liegt der Fall in der im Rahmen dieser Untersuchung seitens der Rechtsprechung praktizierten Umdeutung wegen vermeintlicher prozessualer Überholung aber gerade nicht.97 Durch einen Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nehmen die Oberlandesgerichte grundsätzlich sogar dann eine prozessuale Überholung und damit die Unanfechtbarkeit des ermittlungsrichterlichen Haftbefehls an, wenn dieser vollzogen wird, also die 95  BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154 (siehe oben S. 110). 96  Wörtlich zitiert aus BVerfG, Beschluss vom 11. Oktober 1978 – 2 BvR 1055/ 76, NJW 1979, 154 unter Auslassung der dortigen Nachweise; Hervorhebung durch die Verfasserin. 97  Vgl. Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 110.



B. Eigene Bewertung 305

Grundlage für die gegenwärtige Inhaftierung des Betroffenen bildet und somit unmittelbar beschwerend wirkt. Mit der prozessualen Überholung, die bislang Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung war, hat dieses Vorgehen nichts gemein. Die Verfasserin verkennt nicht, dass der Begriff der prozessualen Überholung in der Vergangenheit in Rechtsprechung und Literatur auch in anderen Fallgruppen als die der Erledigung oder der funktionalen Ersetzung der angegriffenen Maßnahme diskutiert wurde. Allerdings handelt es sich hierbei weitestgehend um die Versäumung prozessualer Rügefristen.98 Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürfte in allen übrigen Fällen, in denen in der Vergangenheit der Begriff der prozessualen Überholung verwendet wurde, ohne dass die Unzulässigkeit der Rüge bzw. des Rechtsbehelfs Folge einer gesetzlichen Regelung ist, im Einzelnen zu prüfen sein, ob der Betroffene fortan ein Rechtsschutzbedürfnis hat.

Entgegen der in zahlreichen Entscheidungen zu findenden Formulierung, dass die „Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde so ausgestaltet sein [müssen], dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition besteht“99, lassen die Oberlandesgerichte in Folge eines Zuständigkeitswechsels vielmehr überhaupt keine Beschwerde gegen den Haftbefehl mehr zu.100 Damit verstoßen die Oberlandesgerichte auch gegen das Erfordernis, dass im Falle der Bereitstellung eines Rechtswegs die Effektivität des Rechtsschutzes in jeder Instanz garantiert sein muss. Durch die anlässlich eines Zuständigkeitswechsels vorgenommene Umdeutung wird die von der Strafprozessordnung vorgesehene (mehrinstanzliche) Beschwerdemöglichkeit und somit die einzige Rechtsschutzmöglichkeit mit Devolutiveffekt gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl jedenfalls temporär versagt. Das Vorgehen der Rechtsprechung erscheint noch prekärer vor dem Hintergrund, dass nach dem Vorgesagten Haftbefehle, die von einem unzuständigen Richter erlassen wurden, rechtswidrig, aber vollziehbar sind (soweit die Zuständigkeit nicht willkürlich angenommen wurde), und im Regelfall auf 98  Vgl. zu der umfassenden Analyse des Vorkommens des Begriffs der prozessualen Überholung in Rechtsprechung und Literatur, welche den angemessenen Umfang dieser Untersuchung sprengen würden: Budach, Die prozessuale Überholung, S. 55 ff., 69 ff., 96 ff., 116 ff., 121 f. und die dortigen Nachweise. 99  Statt vieler jeweils m. w. N.: BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1337; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 23; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181. 100  Siehe allgemein zu der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung oben ab S. 191 und explizit zu ihrer Begründung oben ab S. 236.

306

7. Teil: Bewertung der Rechtsprechung

die Beschwerde auf Grund des Zuständigkeitsmangels aufzuheben sind.101 Da die Rechtsprechung die Verantwortlichkeit für den vor Anklageerhebung erlassenen Haftbefehl nicht auf das Tatgericht überträgt, ist eigentlich anzunehmen, dass der aktuelle Haftbefehl von einem (nunmehr) unzuständigen Richter erlassen wurde, somit rechtswidrig und auf die Beschwerde aufhebbar ist. Eine Beschwerde gegen den Haftbefehl wird aber gerade auf Grund prozessualer Überholung nicht mehr zugelassen. In der Konsequenz müsste die Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO der Rechtsprechung somit – da die Beschwerde ja gerade nicht zugelassen wird – dazu führen, dass der Haftbefehl seine Wirksamkeit verliert und somit durch das nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO zuständig gewordene Tatgericht ggf. unverzüglich (Art. 104 Abs. 3 GG) ein neuer Haftbefehl erlassen werden müsste. Anderenfalls wäre der Betroffene aus der Haft zu entlassen. Der etwaige Einwand, dem Betroffenen stünde als Alternative die Haft­ prüfung zur Verfügung, ist mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar. Denn wie in dieser Untersuchung dargestellt, unterscheiden sich die Rechtsmittel der Haftbeschwerde und der Haftprüfung grundlegend.102 Es obliegt daher der Rechtsmittelautonomie103 des Betroffenen, sich für eines der beiden Rechtsmittel unter Abwägung der jeweiligen Vor- und Nachteile zu entscheiden. Insbesondere hat die Haftprüfung keinen Devolutiveffekt, sodass der für die Beschwerde gesetzlich normierte Rechtsweg mit dieser überhaupt nicht beschritten werden kann. Insoweit ist den (überholten) Ausführungen des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dessen abweichender Entscheidung aus dem Jahr 1972 zuzustimmen. Die Systematik der Strafprozessordnung verlangt, dass Haftbefehle grundsätzlich und jederzeit mit der Haftbeschwerde angegriffen werden können. Eine Beschneidung des Rechts, Haftbeschwerde einzulegen, bedarf einer konkreten gesetzlichen Grundlage, die die Strafprozessordnung nicht bietet.104 Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt daher, dass jeder den Betroffenen gegenwärtig belastenden Haftbefehl jedenfalls einmal mit der Beschwerde und ggf. der weiteren Beschwerde nach den §§ 304 ff. StPO angegriffen werden kann. Die Umdeutungspraxis der Rechtsprechung stellt somit nicht nur einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen (Art. 2 Abs. 2 GG, 101  Siehe

oben ab S. 73. oben ab S. 136. 103  Vgl. Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 43, § 126 Rn. 19; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 851; Kirchner, StV 2006, 318; Rostek, in: StV 2002, 225. 104  So bereits OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478, 479 in der einzigen abweichenden Entscheidung (siehe oben ab S. 196). 102  Siehe



B. Eigene Bewertung 307

Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK) sondern auch einen Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) dar.

IV. Ergebnis Die Rechtsprechung, insbesondere der Oberlandesgerichte, verstößt mit der Umdeutung von Haftbeschwerden in Folge eines Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO sowohl gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen als auch gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Somit ist festzuhalten, dass die Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Rechtsprechung wegen eines Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 19 Abs. 4 GG nicht verfassungsgemäß und wegen eines Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK auch nicht konventionskonform ist. Der Rechtsprechung gelingt somit bislang weder eine verfassungs- noch eine konventionskonforme Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO.

8. Teil

Eigene Lösung A. Reichweite der eigenen Lösung Um ein verständliches und abschließendes Ergebnis zu erreichen, ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nach der Rechtsprechung auch Auswirkungen auf Beschwerden gegen haftbeschränkende Entscheidungen und Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO hat. Somit tangieren sowohl eine anderweitige Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO als auch der folgende Gesetzesentwurf auch die Praxis der Rechtsprechung hinsichtlich Beschwerden gegen ermittlungsrichterliche Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO.

I. Exkurs: Anwendung der Rechtsprechung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf Beschwerden gegen haftbeschränkende Maßnahmen und Entscheidungen nach § 119 Abs. 1 StPO Der folgende Abschnitt behandelt die seitens der Oberlandesgerichte entwickelte Rechtsprechung zu den Auswirkungen eines Zuständigkeitswechsels nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO auf Beschwerden gegen haftbeschränkende Maßnahmen und Entscheidungen nach § 119 Abs. 1 StPO. Fallbeispiel 9 Der Untersuchungsgefangene U ist wegen Verdunkelungsgefahr inhaftiert. Da dringend zu befürchten ist, dass ihn potenziell belastende Zeugen besuchen und er in diesem Zusammenhang auf ihre Aussage einwirken wird, hat der nach § 125 Abs. 1 StPO i. V. m. § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO zuständige Ermittlungsrichter beim Amtsgericht E dem U vor Anklageerhebung durch Beschluss ein Besuchsverbot nach § 119 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Var. 1 StPO auferlegt. U legt gegen das Besuchsverbot Beschwerde ein. Welches Gericht ist zur Bescheidung der Beschwerde zuständig, wenn a) die Beschwerde vor Anklageerhebung eingelegt wurde? b) die Beschwerde nach Anklageerhebung eingelegt wurde?



A. Reichweite der eigenen Lösung 309

Zur Veranschaulichung der allgemein anerkannten Behandlung des vorgenannten Fallbeispiels durch die Oberlandesgerichte dürfte die Darstellung der Entwicklung der Rechtsprechung an Hand einiger Beschlüsse genügen, um den angemessenen Umfang dieses Exkurses nicht zu überschreiten. 1. Ausgangsentscheidung Eine der nach den Recherchen der Verfasserin ersten seit 1956 veröffentlichten Entscheidungen hinsichtlich der Konstellation einer Beschwerde des Betroffenen gegen eine haftbeschränkende Maßnahme traf das Oberlandesgericht Karlsruhe im Jahr 1983.1 Der Betroffene wandte sich mit der Beschwerde gegen die Anordnung des erstinstanzlich zuständigen Strafrichters, ihm während seiner Untersuchungshaft ein bestimmtes Magazin nicht auszuhändigen. Die Beschwerde ging beim Amtsgericht am 26. Mai 1983 ein. Ebenfalls legte der Betroffene gegen das das erstinstanzliche Urteil Berufung ein. Die Berufungsakten gingen der Berufungskammer beim Landgericht am 16. Juni 1983 zu. Der Strafrichter half der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Beschwerdegericht vor. Sie ging erst am 24. Juni 1983 bei der Beschwerdekammer beim Landgericht ein. Daraufhin erklärte sich die Beschwerdekammer des Landgerichts am 29. Juni 1984 für die Entscheidung über die Beschwerde für unzuständig. Die Berufungskammer traf auf die Beschwerde sodann eine Nichtabhilfeentscheidung und legte sie zur Entscheidung dem Oberlandesgericht Karlsruhe vor. Tatsächlich wurde die Berufung in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht am 15. August 1984 zurückgenommen, sodass das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig wurde. Wie dargestellt, entschied das Oberlandesgericht Karlsruhe für die vorgenannte Grundkonstellation hinsichtlich des Schicksals von Haftbeschwerden gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters bereits im Jahr 19722, diese seien durch die Anklageerhebung nicht mehr anfechtbar und Beschwerden daher in einen Haftprüfungsantrag umzudeuten. Anders entschied das Oberlandesgericht Karlsruhe jedoch in diesem Fall. Ohne nähere eigene Begründung der Auffassung von Dünnebier3 folgend, vertrat das Oberlandesgericht Karlsruhe in diesem Beschluss die konträre 1  OLG

183.

Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984,

2  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 1972 – 2 Ws 70/72. NJW 1972, 1723 (siehe oben S. 194). 3  Dünnebier, in: L-R II 1978, § 114 Rn. 71.

310

8. Teil: Eigene Lösung

Auffassung: Durch den Zuständigkeitswechsel sei die mit der Beschwerde angegriffene Entscheidung des Strafrichters dem Berufungsgericht als eigene Entscheidung zuzurechnen. Dieses sei durch die Aktenzuleitung nach § 321 Satz 2 StPO zuständig geworden. Der Vorsitzende der Berufungskammer habe daher zu Recht eine Nichtabhilfeentscheidung getroffen. Die Beschwerdekammer sei hierzu gerade nicht zuständig gewesen.4 Auf Grund der Rücknahme der Berufung wurde das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig. Auf Grund der darauffolgenden Vollstreckung der Freiheitsstrafe gegen den Betroffenen sei die Beschwerde nach dem Oberlandesgericht Karlsruhe dennoch prozessual überholt und somit gegenstandslos.5 Zur Begründung führt das Oberlandesgericht Karlsruhe an, ein Fall des fortbestehenden Rechtsschutzbedürfnisses6 liege nicht vor, sodass die Beschwerde auch nicht ausnahmsweise weiterhin zulässig sei. Die übrige Begründung des Oberlandesgerichts Karlsruhe bezieht sich auf das Verhältnis der Strafprozessordnung zu dem Strafvollzugsgesetz, welche zum Zeitpunkt dieser Untersuchung nicht mehr in Gänze aktuell ist und für diese zudem nicht von Bedeutung ist, sodass von einer detaillierten Darstellung der Begründung an dieser Stelle abgesehen wird.7 Diese Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe nahmen einige Autoren in gängige Kommentare zur Strafprozessordnung auf.8 2. Parallele zu der Rechtsprechung bezüglich der Haftbeschwerden Mit einem Beschluss aus dem Jahr 1996 zog das Kammergericht9 eine Parallele zu dem von der Rechtsprechung entwickelten Umdeutungserforder4  OLG

Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984,

5  OLG

Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984,

6  Siehe

oben ab S. 126. Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984,

183. 183.

7  OLG

183.

8  So etwa Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 1995, § 126 Rn. 7 nach dem die Umdeutung im Falle der Anklageerhebung lediglich eine Ausnahme darstelle. Der Normalfall behandele die Entscheidung des OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984, 183. Eine Differenzierung der Beschwerdegegenstände nimmt Wendisch, in: L-R II 1989, § 114 Rn. 56 in Fortführung der Auffassung Dünnebiers (siehe oben S. 289) nicht vor. Nach Wendisch und Dünnebier (a. a. O.) seien die Entscheidungen des Ausgangsgerichts bei einem Zuständigkeitswechsel grundsätzlich als solche des durch den Zuständigkeitswechsel zuständigen Gerichts zu behandeln. 9  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365.



A. Reichweite der eigenen Lösung 311

nis von Haftbeschwerden durch einen Zuständigkeitswechsel, wie etwa der Anklageerhebung. Gegen den Betroffenen wurden zwei Ermittlungsverfahren geführt, während er sich in Strafhaft befand. In beiden Ermittlungsverfahren wurde durch den zuständigen Ermittlungsrichter beim Amtsgericht ein Untersuchungshaftbefehl erlassen. Auf Grund der Vollstreckung der Strafhaft wurde die Untersuchungshaft als Überhaft notiert. Zudem erließ der Ermittlungsrichter gegen den Betroffenen in beiden Ermittlungsverfahren haftbeschränkende Sicherungsverfügungen10. Gegen diese Sicherungsverfügungen legte der Betroffene am 23. Februar 1996 Beschwerde ein. Der Ermittlungsrichter half diesen nicht ab und legte sie der zuständigen Beschwerdekammer beim Landgericht vor. Zu dieser Kammer erhob die Staatsanwaltschaft am 6. Mai 1996 nach Verbindung der beiden Ermittlungsverfahren Anklage. Erst danach half der Kammervorsitzende der Beschwerde nicht ab und legte sie dem Kammergericht vor. Das Kammergericht stellte unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte11 zu dem Umdeutungserfordernis von Haftbeschwerden durch die Anklageerhebung fest, dass dem vorliegenden Fall eine identische Verfahrenssituation zu Grunde liege. Auch hinsichtlich haftbeschränkender Maßnahmen nach § 119 StPO müsse daher mit Anklageerhebung die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters und des diesem zugeordneten Instanzenzugs entfallen. Die Beschwerde sei daher prozessual überholt, sodass das Landgericht nicht mehr über ihre Nichtabhilfe entscheiden könne. Die Beschwerde gegen haftbeschränkende Maßnahmen sei parallel zu der Haftbeschwerde durch die Anklageerhebung in einen Antrag auf Aufhebung der haftbeschränkenden Maßnahmen (hier: Sicherungsverfügungen) umzudeuten. Über diesen habe nach § 119 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 126 Abs. 2 Satz 3 StPO der Vorsitzende des zuständigen Spruchkörpers zu entscheiden.

10  Um welche Verfügungen es sich genau handelt, ist dem Beschluss des KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365 nicht zu entnehmen. 11  Die Beschlussgründe nehmen u. a. Bezug auf die folgenden hier ebenfalls untersuchten Entscheidungen: OLG Oldenburg, Beschluss vom 25. Oktober 1956 – Ws 278/56, NJW 1957, 233 (siehe oben S. 192); OLG Schleswig, Beschluss vom 23. April 1982 – 2 Ws 95/82, SchlHA 1983, 124 [sic! gemeint ist wohl S. 110 f.] (siehe oben S. 223); OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 (siehe oben S. 197); OLG Karlsruhe [sic! gemeint ist wohl Stuttgart], Beschluss vom 21. November 1989 – 6 Ws 220/89, NStZ 1990, 141 (siehe oben Fn. 19, S. 253). Zudem verweisen die Beschlussgründe auf die entsprechende damalige Kommentarliteratur wie etwa: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 1993, § 117 Rn. 12; Boujong, in: KK 1993, § 126 Rn. 8.

312

8. Teil: Eigene Lösung

Erst gegen diese Entscheidung sei dann die Einlegung der Beschwerde möglich.12 In dieser Fallkonstellation ist besonders hervorzuheben, dass zwischen der Beschwerdeeinlegung am 23. Februar 1996 und der Anklageerhebung am 6. Mai 1996 über zwei Monate lagen. Bis zu der Entscheidung des Kammergerichts am 11. Juni 1996 verging wiederum mehr als ein voller Monat. Auf Grundlage der Beschlussgründe ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Beschwerde des Betroffenen nicht bereits vor Anklageerhebung beschieden worden war. Die Ursache hierfür dürfte jedenfalls nicht in der Sphäre des Betroffenen selbst gelegen haben. Bemerkenswert ist, dass für die Bescheidung der Beschwerde das Kolle­ gialgericht zuständig ist (§§ 73 Abs. 1, 76 Abs. 1 GVG), während über den umgedeuteten einfachen Aufhebungsantrag nach § 119 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 126 Abs. 2 Satz 3 StPO der Vorsitzende allein entscheidet. Dies sei nach dem Kammergericht jedoch unschädlich, da der Betroffene die Entscheidung des Vorsitzenden wiederum mit der Beschwerde anfechten könne und auf diese Weise eine Entscheidung des Kollegialgerichts erreichen könne.13 Gegen die vorgenannte Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 29. August 198314 führte das Kammergericht aus, dass das Vorgehen des Oberlandesgerichts Karlsruhe insbesondere unter Berücksichtigung des anerkannten Erfordernisses der Umdeutung einer Haftbeschwerde in einen Haftprüfungsantrag anlässlich der Anklageerhebung systemwidrig sei.15 Zudem sei das durch die Anklageerhebung zuständig gewordene Tatgericht in konsequenter Anwendung dieser Entscheidung jeglicher nennenswerten Entscheidungskompetenz beraubt: Habe der Ermittlungsrichter bereits eine Nichtabhilfeentscheidung getroffen, müsse auch das Tatgericht sich diese zurechnen lassen. Anderenfalls wäre die Beteiligung des Tatgerichts auf eine lediglich verfahrensinterne (Nicht-)Abhilfeentscheidung reduziert, da es die Entscheidung des Ermittlungsrichters als eigene zu behandeln hätte. Dies widerspreche, insbesondere vor dem Hintergrund, dass es als das mit der Sache befasste Gericht die

12  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365. 13  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365. 14  OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984, 183 (siehe oben S. 309). 15  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365.



A. Reichweite der eigenen Lösung 313

sachgerechteste Entscheidung treffen dürfte, den vom Gesetzgeber gewollten Zuständigkeitsregelungen.16 Ebenso entschied das Oberlandesgericht Frankfurt im Jahr 2014.17 Der zuständige Ermittlungsrichter hatte gegen den in Untersuchungshaft befindlichen Betroffenen vor Anklageerhebung am 14. März 2013 unter anderem Besuchsüberwachung angeordnet. Am 19. April 2013 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht. Am 6. Januar 2014 beantragte der Betroffene beim Landgericht, die Anordnung der Besuchsüberwachung aufzuheben, soweit diese auch Besuche seiner Ehefrau und Tochter erfasse. Dieser Eingabe half der Vorsitzende der Strafkammer nicht ab und legte sie dem Oberlandesgericht vor. Das Oberlandesgericht traf keine Entscheidung über den Antrag und legte die Eingabe des Betroffenen erneut dem Landgericht zur Entscheidung vor.18 Zur Begründung führte es an, der Vorsitzende hätte zunächst den tatsächlich gestellten Aufhebungsantrag bescheiden müssen. Erst wenn der Betroffenen auf die darauf ergangene Entscheidung Beschwerde eingelegt hätte, wäre der Vorsitzende zu einer Nichtabhilfeentscheidung und der Vorlage der Sache an das Oberlandesgericht Frankfurt befugt gewesen. Obwohl für den zu entscheidenden Fall nicht von nennenswerter Relevanz führt das Oberlandesgericht Frankfurt ergänzend aus, dass jede Beschwerde gegen ermittlungsrichterliche Maßnahmen durch die Anklageerhebung ohnehin in einen Antrag auf Aufhebung der angegriffenen Maßnahme umzudeuten sei. Aus der folgenden Aufzählung19 folgt, dass das Oberlandesgericht Frankfurt hiermit alle denkbaren ermittlungsrichterlichen Maßnahmen meint, unabhängig davon, ob sich die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters aus § 125 Abs. 1 StPO, § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO oder § 162 Abs. 1 Satz 1 StPO ergibt. Es komme auch nicht darauf an, ob die Beschwerde vor oder nach der Anklageerhebung erhoben worden sei.20

16  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365. 17  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217. 18  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 217 f. 19  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218. 20  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218; vgl. bzgl. der Haftbeschwerde auch OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 (siehe oben S. 197) und OLG Hamm, Beschluss vom 19. März 2013 – 2 Ws 93/13, BeckRS 2013, 06213.

314

8. Teil: Eigene Lösung

Nach dem Oberlandesgericht Frankfurt folge aus § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO der allgemeine Rechtsgedanke, das mit der Sache befasste Gericht müsse nach Anklageerhebung zunächst eine eigene Entscheidung treffen, die sodann mit der Beschwerde angreifbar sei. Auch im Falle von Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO müsse daher erst eine Entscheidung des nun für solche nach § 119 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 126 Abs. 2 Satz 3 StPO zuständigen Vorsitzenden ergehen. Etwaige Beschwerden seien daher in einen Antrag auf Aufhebung der belastenden Maßnahme umzudeuten.21 Wie das Kammergericht22 vertritt auch das Oberlandesgericht Frankfurt23 die Auffassung, eine Maßnahme des Ermittlungsrichters nach Anklageerhebung könne nicht als eigene Maßnahme des mit der Sache befassten Gerichts gelten. Zur Begründung führt es ebenfalls an, die damit einhergehende bloße Nichtabhilfeentscheidung entzöge dem eigentlich nach § 119 Abs. 1 Satz 3 StPO i. V. m. § 126 Abs. 2 Satz 3 zuständigen Vorsitzenden die Entscheidungskompetenz. Ergänzend bemerkt das Oberlandesgericht Frankfurt, der Vorsitzende sei auf Grund des Übergangs der Haftzuständigkeit aber gerade dazu angehalten, haftbeschränkende Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO entsprechend § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO aufzuheben, sofern ihre Voraussetzungen entfallen sind.24

21  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218. In einer weiteren Entscheidung bzgl. einer Beschwerde gegen eine Observationsmaßnahme, welche auf Grund der Anklageerhebung ebenfalls umzudeuten war, formulierte das OLG Frankfurt unter Verweis auf zwei Entscheidungen des BGH [BGH, Beschluss vom 15. September 1977 – StE 2/77 – StB 196/77, NJW 1977, 2175 (siehe oben S. 264); BGH, Beschluss vom 1. Februar 1980 – 1 BJs 47/79 – StB 3/80, NJW 1980, 1401, 1402 (siehe oben S. 269)], bei der Umdeutungspraxis zur Verhinderung von Doppelzuständigkeiten handele es sich um eine in der Rechtsprechung „lang andauernde […] Tradition“, vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 1. Dezember 2005 – 3 Ws 972/05 u. 1021/05, NStZ-RR 2006, 44, 46. 22  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365. 23  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218. 24  Obwohl der Wortlaut des § 120 StPO alleine den Haftbefehl selbst erfasst, dürfte sich jedenfalls aus einem Erst-Recht-Schluss ergeben, dass auch haftbeschränkende Maßnahmen und Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO von Amts wegen aufzuheben sind, wenn die Voraussetzungen für ihren Erlass nicht (mehr) vorliegen. Von dieser Pflicht des zuständigen Gerichts geht im Ergebnis – ohne diese aus § 120 StPO herzuleiten – auch der Gesetzgeber in den Gesetzgebungsmaterialien bezüglich der Reform (auch) des § 119 StPO im Jahr 2010 aus; vgl. neben BGH, Beschluss vom 12. Januar 2012 – StB 19/11, BeckRS 2012, 2333; OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218 ferner BT-Drs. 16/11644, S. 30.



A. Reichweite der eigenen Lösung 315 Lösung des neunten Fallbeispiels Erneut lautet die Lösung beider Fallfragen des achten Fallbeispiels, dass kein Gericht zur Bescheidung der Beschwerde des U zuständig ist. Vielmehr muss U zunächst – wie es der Betroffenen in dem vorgenannten seitens des Oberlandesgerichts Frankfurt im Jahr 201425 zu entscheidenden Fall getan hatte – zunächst beim Tatgericht bzw. im Falle eines Kollegialgerichts bei dessen Vorsitzenden (§ 126 Abs. 2 Satz 3 StPO) einen Antrag auf Aufhebung des Besuchsverbots (als haftbeschränkende Maßnahme i. S. d. § 119 Abs. 1 Satz 1 StPO) beantragen. Eine dennoch eingelegte Beschwerde ist auf Grund prozessualer Überholung unzulässig und wird in einen entsprechenden Aufhebungsantrag umgedeutet.

II. Zusammenfassung Die Rechtsprechung behandelt Beschwerden gegen haftbeschränkende Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO in Ansehung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO genau wie die Haftbeschwerde selbst. Mit Eintritt eines Zuständigkeitswechsels wie der Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO verlieren haftbeschränkende Maßnahmen des Ermittlungsrichters beim Amtsgericht nach § 125 Abs. 1 StPO ihre Beschwerdefähigkeit. Sie sind daher in einen Antrag auf Aufhebung der belastenden Maßnahme an das Tatgericht umzudeuten. Auch in der aktuellen Kommentarliteratur ist das Vorgehen des Kammergerichts26 und des Oberlandesgerichts Frankfurt27 überwiegend als allgemeine Rechtsprechung ausgewiesen.28 Es wäre daher sinnwidrig, die folgende verfassungs- und konventionsgemäße Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nur auf die Haftbeschwerde selbst zu isolieren. Anderenfalls würde die Umdeutungspraxis der Rechtsprechung auf haftbeschränkende Maßnahmen weiterhin Anwendung finden, während das Haftbeschwerdeverfahren selbst trotz des Zuständigkeitswechsels durchzuführen wäre. So würde ein Auseinanderfallen von Zuständigkei25  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217. 26  KG, Beschluss vom 11. Juni 1996 – 1 ARs 661/96 – 4 Ws 84-85/96, NStZ-RR 1996, 365. 27  OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218. 28  Gärtner, in: L-R XII 2014, Nachtr. §  119 Rn. 80; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 119 Rn 36; Krauß, in: Graf-StPO 2018, § 126 Rn. 6; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 8a; Herrmann, in: SSW 2018, § 117 Rn. 40 ff. i. V. m. § 119 Rn. 84; a. A. wohl Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Fn. 19, der dort noch die Auffassung des OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984, 183 als herrschend bezeichnet.

316

8. Teil: Eigene Lösung

ten für den Haftbefehl und für etwaig erlassene haftbeschränkenden Maßnahme drohen, wenn explizit lediglich der Haftbefehl mit der Beschwerde angefochten wurde und davor oder danach ein Zuständigkeitswechsels eintritt. Zudem ist auch im Rahmen des Beschwerdeverfahrens selbst regelmäßig von Bedeutung für das erkennende Gericht, ob und welche haftbeschränkenden Maßnahmen neben dem Haftbefehl selbst angeordnet wurden, um insbesondere die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft insgesamt beurteilen zu können. Es ist daher unbedingt notwendig, dass die Zuständigkeit für die Beurteilung sowohl der Untersuchungshaft dem Grunde nach als auch hinsichtlich etwaiger beschränkender Maßnahmen und Entscheidungen bei einem Gericht konzentriert ist. Aus diesem Grund werden die im Folgenden dargestellten Lösungen auch die Beschwerde gegen Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO erfassen. Überdies wirken sich die nachfolgend dargestellten Lösungsvorschläge auch auf die Zuständigkeit für Auflagen nach § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO aus. Nach den Recherchen der Verfasserin wurde bislang zwar keine Entscheidung veröffentlicht, indem eine Beschwerde gegen eine Auflage nach § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO wegen eines Zuständigkeitswechsels in einen Antrag auf Aufhebung der Auflage umgedeutet wurde. Auch die Kommentarliteratur verhält sich kaum zu dieser prozessualen Situation.29 Angesichts der Stringenz der Umdeutungspraxis der Rechtsprechung ist jedoch davon auszugehen, dass diese auch auf Beschwerden gegen Auflagen nach § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO angewendet wird. Zudem wäre dies unter Berücksichtigung der Begründung30 der Oberlandesgerichte auch das folgerichtige Vorgehen. Anderenfalls wären nach der Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO durch die Rechtsprechung gleichzeitig das Beschwerdegericht und das Tatgericht zuständig, um über die Auflagen nach § 116 Abs. 1 Satz 1 StPO zu entscheiden.

B. Verfassungs- und konventionskonforme Auslegung: Prozessuale Zurechnungslösung In systematischer Hinsicht ist angesichts des Untersuchungsergebnisses zu berücksichtigen, dass der die Untersuchungshaft rechtfertigende Haftbefehl des Ermittlungsrichters im Sinne des Art. 19 Abs. 4 StPO trotz Anklageerhebung noch mit der Beschwerde anfechtbar sein muss. Des Weiteren darf die Auslegung nicht bereits dem Grunde nach eine Verzögerung mit sich brin29  Vgl. aber Wankel, in: KMR II 2019, § 126 Rn. 21, wo die Beschwerde gegen eine Auflage nach § 116 StPO in diesem Zusammenhang jedenfalls Erwähnung findet. 30  Siehe oben ab S. 236.



B. Prozessuale Zurechnungslösung317

gen, um einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen zu vermeiden.

I. Grundlegende Überlegungen Fokus der Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ist somit insbesondere die Bedeutung des Wortes „weiteren“ in § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO, auf den § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO Bezug nimmt, unter Berücksichtigung des Gebot des effektiven Rechtsschutzes und des Beschleunigungsgebots in Haftsachen. Nach der gesetzgeberischen Konzeption muss die Rechtmäßigkeit eines Untersuchungshaftbefehls jederzeit sichergestellt sein, weshalb diese von Amts wegen fortlaufend zu überprüfen ist (§ 120 Abs. 1 StPO). Im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ist daher erforderlich, dass mit Anklageerhebung dem Tatgericht tatsächlich die gesamte Haftkontrolle so, wie sie sich zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels darstellt, zugerechnet wird. Dies impliziert im Gegensatz zu der Auffassung der Rechtsprechung auch, dass die Zuständigkeit nach § 125 Abs. 1 StPO für den erlassenen Haftbefehl selbst und für vor Anklageerhebung getroffenen weiteren Entscheidungen und Maßnahmen nach § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO unter Berücksichtigung der prozessualen Lage mit Anklageerhebung auf das Tatgericht übergeht. Somit gilt der Haftbefehl nach § 125 Abs. 1 StPO und sonstige zuvor durch den Ermittlungsrichter getroffenen Maßnahmen und Anordnungen nach § 126 Abs. 1 StPO als solche des Tatgerichts. Bereits vor dem Zuständigkeitswechsel eingelegte Beschwerden bleiben zulässig. Die gleiche Zurechnung aller zuvor getroffenen Haftentscheidungen unter Berücksichtigung der prozessualen Lage tritt auch bei den übrigen anerkannten Zuständigkeitswechseln ein, wie etwa nach § 321 Satz 2 StPO oder § 209 Abs. 1 StPO. Eine solche Auslegung nimmt in Ansätzen auch die aktuelle oberlandesgerichtliche Rechtsprechung vor. Die Rechtsprechung versäumt aber, dem Tatgericht auch die Verantwortung für den Haftbefehl und sonstige Haftentscheidungen zu übertragen, die zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels die Grundlage für die Inhaftierung des Betroffenen bilden. Zudem berücksichtigt die Rechtsprechung nicht eine etwaige vor dem Zuständigkeitswechsel erhobene Beschwerde, welche Einfluss auf die prozessuale Lage genommen hat.

318

8. Teil: Eigene Lösung

An diesem Punkt verbirgt sich der systematische Mangel der Recht­ sprechung. Nach der hier dargestellten31 Auslegung der Rechtsprechung32 erlangt das Tatgericht durch einen Zuständigkeitswechsel lediglich die erst­ instanzliche Haftzuständigkeit. Ohne Begründung wird gerade nicht berücksichtigt, in welcher prozessualen Lage sich die Haftsituation zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels befand, also etwa ob der Haftbefehl angefochten wurde und somit eine zweitinstanzliche Zuständigkeit des Beschwerdegerichts entstanden ist. Dies erscheint bereits ohne Berücksichtigung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes und des Beschleunigungsgebots in Haftsachen inkonsequent, da auch die seitens des Ermittlungsrichters getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen nach §§ 116, 119 StPO sowie die Haftkontrolle von Amts wegen nach § 120 Abs. 1 StPO an dem Haftbefehl „kleben“ bleiben und nach der Auffassung der Rechtsprechung durch die Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO in die Zuständigkeit des Tatgerichts fallen.33 Übergehen soll aber ohne jede Begründung weder die Verantwortlichkeit für den Haftbefehl selbst, noch eine etwaige (wenn auch verfahrensinterne) Haftentscheidung des Ermittlungsrichters nach § 306 Abs. 2 StPO, die in strafprozessrechtlicher Hinsicht den Eintritt des Devolutiveffekts der Beschwerde und somit insbesondere den Übergang der Zuständigkeit zur Bescheidung des Beschwerdegegenstands auf das Beschwerdegericht34 be31  Siehe

oben ab S. 191. ist auch die Auslegung des Bundesgerichtshofs, vgl. etwa BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478 (siehe oben S. 256). 33  Statt vieler: BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478 (siehe oben S. 256); OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221); OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791; OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. Juni 1996 – 3 Ws 535/96, NStZ-RR 1996, 302 (siehe oben S. 206 und S. 225); Vgl. im Übrigen die oben ab S. 191 dargestellte Rechtsprechung. 34  Das Beschwerdegericht wird mit Aktenzuleitung dafür zuständig, eine eigene Entscheidung über den Beschwerdegegenstand zu treffen, welche in Ausnahmefällen auch die Zurückverweisung sein kann. Vor Aktenzuleitung ist es dem Beschwerdegericht faktisch nicht möglich, eine Entscheidung zu treffen. Dass das Beschwerdegericht für die Bescheidung des Beschwerdegegenstands zuständig wird, wird offenbar vorausgesetzt, folgt aber z. B. aus: BGH, Beschluss vom 24. Juni 1992 – 1 StE 11/88 – StB 8/92, NJW 1992, 2775 [„das BeschwGer. (hat die Sache nach) § 309 II StPO grundsätzlich (…) anstelle des Erstgerichts selbst zu entscheiden“]; OLG Bamberg, Beschluss vom 12. März 2013 – 2 Ws 19/13, NStZ-RR 2013, 326 [das Beschwerdegericht tritt „rechtlich voll an die Stelle des an sich zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers“]; Matt, in: L-R VII-1 2014, § 309 Rn. 7 [„das Beschwerdegericht (soll) grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheiden“]; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 309 Rn. 4 [„das Beschwerdegericht (muss) eigene Sachentscheidung anstelle des 1. Richters treffen“]; Plöd, in: KMR V 32  Gemeint



B. Prozessuale Zurechnungslösung319

gründet. Vergegenwärtigt man sich dies, wird deutlich, dass die Rechtsprechung § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO systematisch jedenfalls wenig überzeugend anwendet: § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO ist zwingend im Zusammenhang mit § 126, dort insbesondere Abs. 1 Satz 1 StPO, zu lesen. Nach § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO ist vor Erhebung der öffentlichen Klage für die weiteren gerichtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft, die Aussetzung ihres Vollzugs (§ 116 StPO), ihre Vollstreckung (§ 116b StPO) sowie auf Anträge nach § 119a StPO beziehen, das Gericht zuständig, das den Haftbefehl erlassen hat. Hierzu gehören auch die Entscheidungen nach § 119 StPO.35 Aus der Systematik der Strafprozessordnung ergibt sich jedoch, dass der Ermittlungsrichter gemäß § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO (vor Anklageerhebung) nicht mehr für Maßnahmen und Entscheidungen zuständig ist, soweit diese mit der Beschwerde angefochten sind. In diesem Fall geht die Zuständigkeit zur Entscheidung über den Beschwerdegegenstand auf das Beschwerdegericht über, § 309 StPO.36 § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO, wonach der Erlass des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht vor Anklageerhebung die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters nach § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO begründet, dokumentiert, dass dem Gesetzgeber37 bewusst war, dass auch Beschwerdeentscheidungen im Rahmen der Haftkontrolle zu berücksichtigen sind. Insofern ist zwar zu bemängeln, dass § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO überhaupt keine explizite Bezugnahme vornimmt. Es ist aber kein systematischer Grund dafür erkennbar, in Anwendung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO lediglich die erstinstanzliche Zuständigkeit unabhängig von einer etwaigen Anfechtung der in Rede stehenden Haftzuständigkeiten zu übertragen.

2019, § 309 Rn. 7 [„das Beschwerdegericht (hat) die Entscheidung aufzuheben und in der Sache, die Beschwerdegegenstand ist, selbst zu entscheiden“]; Frisch, in: SK VI 2016, § 309 Rn. 29 [„Ändert das Beschwerdegericht die angefochtene Entscheidung (…), so ist für das weitere Verfahren diese Entscheidung maßgebend.“]; Hoch, in: SSW 2018, § 309 Rn. 9 f. [„eine neue (…) Entscheidung anstelle des Erstgerichts“]; Ellersiek, Die Beschwerde im Strafprozeß, S. 192 (danach hat das Beschwerdegericht nach Nichtabhilfe durch das Ausgangsgericht zunächst seine eigene örtliche und sachliche Zuständigkeit festzustellen). 35  Gärtner, in: L-R XII 2014, Nachtr. §  119 Rn. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 1; Schultheis, in: KK 2019, § 126 Rn. 1; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 126 Rn. 3; Paeffgen, in: SK II 2016, § 126 Rn. 1. 36  Vgl. Fn. 34, S. 318. 37  § 126 Abs. 1 Satz 2 StPO trat durch die Umstrukturierung der Haftrichterzuständigkeit durch das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes im Jahr 1965 in Kraft, vgl. BGBl I Nr. 63 vom 31. Dezember 1964, S. 1071.

320

8. Teil: Eigene Lösung

Die vorgenannten systematischen Unstimmigkeiten intensivieren sich noch vor dem Hintergrund, dass im Rahmen einer Zuständigkeitsübertragung nach § 126 Abs. 1 Satz 3 StPO nach ganz einhelliger Auffassung der „übergegangene“ Haftbefehl anfechtbar bleibt und auch etwaige vor dem Zuständigkeitswechsel begründete Beschwerdezuständigkeiten ebenfalls übergehen.38 Dieses Ergebnis wird durch die Anwendung der Zurechnungslösung auch auf andere Zuständigkeitswechsel wie etwa § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO39 erreicht. Jedenfalls sind unter Berücksichtigung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes und des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen etwaig begründete zweitinstanzliche Zuständigkeiten auch bei einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 1 Satz 2 StPO zu berücksichtigen.

II. Auswirkungen auf die Beschwerdeeinlegung vor einem Zuständigkeitswechsel Versteht man § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO und insbesondere die „weiteren Maßnahmen und Entscheidungen“ also konsequent dahingehend, dass die gesamte Haftkontrolle auf das Tatgericht übergeht, so muss dies – wie bezüglich des Haftbefehls selbst schon Dünnebier40 vertrat – im Sinne einer vollständigen Zurechnungslösung nicht nur für sonstige zuvor getroffenen Maßnahmen und Entscheidungen nach § 119 Abs. 1 StPO, eine etwaige Außervollzugsetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SPO und et­waige Auflagen nach § 116 Abs. 1 Satz 2 StPO, sondern insbesondere auch für die erstinstanzliche Verantwortlichkeit für den Haftbefehl selbst gelten. Zudem sind dem Tatgericht auch etwaige zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels bereits begründete zweitinstanzliche Zuständigkeiten zuzurechnen. Befindet sich die Haftbeschwerde während des Zuständigkeitswechsels im Beschwerdeverfahren – also in der zweiten Instanz – geht also auch diese prozessuale Lage auf das Tatgericht über. Zuständig für die Beschwerde wird durch die Anklageerhebung das dem Tatgericht als Beschwerdegericht übergeordnete Gericht. Demnach ist der Rechtsprechung darin zuzustimmen, dass durch die Anklageerhebung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters und die des diesem zugeordneten Instanzenzugs entfällt. Aber § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO begründet in der Zusammenschau mit § 126 Abs. 1 Satz 1, 309 StPO gerade nicht nur die erstinstanzliche Zuständigkeit des Tatgerichts, sondern auch die des dem Tatgericht überge38  Siehe

dazu oben S. 122. sind die weiteren Zuständigkeitswechsel, wie etwa im Rahmen der Berufungseinlegung oder des Erlasses eines verweisenden Revisionsbeschlusses. 40  Siehe oben ab S. 289. 39  Gemeint



B. Prozessuale Zurechnungslösung321

ordneten Beschwerdegerichts, sofern zum Zeitpunkt des Zuständigkeitswechsels gerade eine Beschwerde anhängig war, also eine zweitinstanzliche Zuständigkeit begründet war. Denklogisch muss sich das Tatgericht somit auch eine etwaig bereits getroffene Nichtabhilfeentscheidung des Ermittlungsrichters zurechnen lassen. Wurde eine solche noch nicht getroffen, eine Beschwerde aber bereits eingelegt, hat das Tatgericht eine eigene Entscheidung nach § 306 Abs. 2 StPO zu treffen und die Beschwerde sodann ggf. dem übergeordneten Beschwerdegericht zuzuleiten. Der Film wird also nicht zurückgespült, sondern läuft mit anderen Akteuren weiter. Die Zuständigkeit des Beschwerdegerichts ist auf Grund der Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO nach der Zurechnungslösung mit Anklageerhebung bzw. einem sonstigen Zuständigkeitswechsel somit ggf. neu zu bestimmen. Nach dieser gilt die angefochtene Maßnahme nunmehr als eine des Tatgerichts, sodass das zuständige Beschwerdegericht das dem Tatgericht nach den Regelungen des Gerichtsverfassungsgesetzes übergeordnete ist. Wird Anklage beispielsweise zum Landgericht erhoben, ist das zuständige Beschwerdegericht somit gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2 GVG das Oberlandesgericht. Wurde die Beschwerde bereits dem bis zu der Anklageerhebung als Beschwerdegericht zuständigen Landgericht zugeleitet, ist eine umgehende Weiterleitung an das nunmehr zuständige Oberlandesgericht erforderlich. Ist zum Zeitpunkt der Anklageerhebung eine weitere Beschwerde anhängig und wird die Anklage zum Landgericht erhoben, wandelt sich die weitere Beschwerde ihrem Wesen nach in eine einfache Beschwerde, da der Haftbefehl durch die Anklageerhebung als durch das Landgericht als Tatgericht erlassen gilt und gegen landgerichtliche Entscheidungen nur die einfache Beschwerde zulässig ist41, arg. ex. § 304 Abs. 1, 310 StPO. Selbstverständlich kann das Tatgericht unabhängig von dem Beschwerdeverfahren den Haftbefehl gemäß § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO so lange aufheben, bis die Beschwerdezuständigkeit durch Eingang der Akten bei dem Tatgericht nach § 306 Abs. 2 StPO übergeordneten Beschwerdegericht auf dieses übergegangen ist.42 Eine Doppelzuständigkeit ist im Rahmen der Zurechnungslösung somit ausgeschlossen.43 41  Siehe 42  Vgl.

zu der Zulässigkeit der einfachen Beschwerde oben ab S. 134. zu der Zuständigkeit des Beschwerdegerichts mit Anklageerhebung Fn. 34,

S. 318. 43  Vgl. Rostek, in: StV 2002, 225, 226. Soweit Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 102 davon ausgeht, das Ausgangsgericht sei nach dem BGH auch während eines laufenden Beschwerdeverfahrens nach § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO dazu verpflichtet, den Haftbefehl aufzuheben, sofern die Haftvoraussetzungen wegfallen, ist darauf hinzuweisen, dass der insoweit von Wankel in Bezug genommene Beschluss BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478 (siehe oben S. 256) keine Haftbeschwerde zum Gegenstand hat. Überdies folgt die Auffas-

322

8. Teil: Eigene Lösung

Der Einwand der Rechtsprechung, das Tatgericht sei durch eine Zurechnung der vorangegangenen Entscheidungen bei einer Fortführung des Beschwerdeverfahrens allenfalls auf eine reine verfahrensinterne (Nicht-)Abhilfeentscheidung beschränkt44, verfängt schon in der Sache nicht. Zwar ist § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO von der grundsätzlichen Erwägung getragen, das mit der Sache befasste Gericht könne die sachnächste Entscheidung treffen. Diese Annahme kann aber denklogisch nicht für den Zeitraum unmittelbar nach der Anklageerhebung gelten.45 Zu diesem Zeitpunkt wird das Gericht sich die Akten noch nicht einmal angesehen haben, sodass es bei praxisnaher Betrachtung aus der Perspektive der Sachnähe belanglos ist, welches Gericht über die Haftfrage entscheidet. Von Interesse für den Betroffenen, der sich bewusst für die Haftbeschwerde entschieden hat, ist alleine, dass ein höherrangiges Gericht entschieden hat. Nach hiesiger Auffassung liegt es entgegen der Ansicht Dünnebiers46 auch nicht im vorrangigen Interesse des Betroffenen, zunächst eine Entscheidung des Landgerichts zu erhalten. Dagegen, dass das Landgericht als Tatgericht nach der hier vorgeschlagenen Zurechnungslösung in bestimmten Konstellationen auf Grund der Zurechnung der ermittlungsrichterlichen Nichtabhilfeentscheidung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens (§ 306 Abs. 2 StPO) gar keine eigene Haftentscheidung mehr trifft, bestehen nach hiesiger Auffassung keine Bedenken. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass dies die gesetzliche Folge aus einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO im Sinne der Zurechnungslösung ist. Der Betroffene hat in der dieser Untersuchung zu Grunde liegenden Grundkonstellation zwar die Haftbeschwerde gegen den Haftbefehl des Haftrichters eingelegt, also im Regelfall bei dem Ermittlungsrichter beim Amtsgericht. Somit ist zwar naheliegend, dass der Betroffene zunächst mit einer Entscheidung des Landgerichts rechnet, um dann ggf. die weitere Beschwerde sung des BGH aus dem systematischen Auslegungsfehler der Rechtsprechung bezüglich § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO, wonach mit Anklageerhebung lediglich die erstinstanzliche Haftzuständigkeit, nicht aber, wie nach der unter Berücksichtigung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes und des Beschleunigungsgebots in Haftsachen vorzugswürdigen Zurechnungslösung, sämtliche Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters auch unter Berücksichtigung der prozessualen Lage (und somit eines etwaigen Beschwerdeverfahrens) auf das Tatgericht übergehen. 44  Siehe oben ab S. 238. 45  Das OLG Stuttgart, Beschluss vom 23. Dezember 1976 – 3 Ws 411/76 –, juris (siehe oben S. 204) führte sogar aus, dass das Tatgericht sich regelmäßig erst im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses nach § 207 Abs. 4 StPO überhaupt mit der Haftfrage befasse und zwischen diesem und der Anklageerhebung ein erheblicher Zeitraum liegen kann. Vgl. auch Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn. 109. 46  Siehe oben ab S. 289.



B. Prozessuale Zurechnungslösung323

zum Oberlandesgericht einlegen zu können. Es ist aber kein Grund dafür ersichtlich anzunehmen, dass der Betroffene zunächst eine Entscheidung des Landgerichts erstrebt und eine besonders frühzeitige Entscheidung des Oberlandesgerichts seinen Interessen zuwiderläuft. Vielmehr dürfte eine frühzeitige oberlandesgerichtliche Entscheidung gerade dem Interesse des Betroffenen entsprechen, der sich für die Beschwerde entschieden hat und deren potenzielle präjudizielle Wirkung47 in Kauf genommen hat. Jedenfalls erleidet er keinerlei Nachteile, da es ihm freisteht, die Beschwerde nach dem Eintritt des Zuständigkeitswechsels zurückzunehmen und zunächst eine isolierte Haftentscheidung des Tatgerichts zu beantragen. Es bleibt dem Betroffenen somit unbenommen, den Film selbst zurückzuspulen.

III. Auswirkungen auf die Beschwerdeeinlegung nach einem Zuständigkeitswechsel Nach der Zurechnungslösung muss sich das Tatgericht den Haftbefehl des Ermittlungsrichters und alle diesbezüglichen Entscheidungen zurechnen lassen. Da es dem Tatgericht auch nach der Rechtsprechung zugebilligt wird, den Haftbefehl sowie haftbeschränkenden Maßnahmen und Entscheidungen des Ermittlungsrichters ab Anklageerhebung von Amts wegen nach § 120 Abs. 1 StPO oder im Rahmen eines auf den (umgedeuteten) Antrag durchgeführten Haftprüfungsverfahrens nach einem Zuständigkeitswechsel aufzuheben48, ist es nur konsequent und insbesondere unter Berücksichtigung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes und des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen notwendig, diesem auch im Übrigen die volle Verantwortung bezüglich der Untersuchungshaft des Betroffenen zu übertragen. Aus dieser vollständigen Zurechnung folgt, dass der ursprüngliche Haftbefehl des Ermittlungsrichters als solcher des Tatgerichts gilt. Dieser und sämtliche sonstige seitens des Ermittlungsrichters getroffenen Haftentscheidungen sind somit ohne Einschränkungen auch nach Eintritt eines Zuständigkeitswechsel mit der Beschwerde anfechtbar.

47  Siehe zu den Besonderheiten der Haftbeschwerde – wie etwa der präjudiziellen Wirkung – oben ab S. 139. 48  St. Rspr.: BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 BJs 6/71 – StB 37/72, NJW 1973, 477, 478 (siehe oben S. 256); OLG Hamm, Beschluss vom 10. Juni 1974 – 4 Ws 124/74, NJW 1974, 1574, 1575 (siehe oben S. 221); OLG Zweibrücken, Beschluss vom 1. Oktober 1979 – 1 Ws 392/79, BeckRS 1979, 01791 (siehe oben Fn. 19, S. 195); OLG Frankfurt, Beschluss vom 17. Februar 2014 – 3 Ws 122/14, NStZ-RR 2014, 217, 218 (bzgl. einer Beschwerde gegen eine Verfügung nach § 119 StPO; siehe dazu unten S. 313).

324

8. Teil: Eigene Lösung

Dass das Tatgericht nach der Zurechnungslösung im Falle der Anfechtung des Haftbefehls nach dem Zuständigkeitswechsel auf eine reine verfahrensinterne Nichtabhilfeentscheidung beschränkt ist, ist – wie oben bereits dargestellt49 – unschädlich, da dieses unmittelbar nach Anklageerhebung tatsächlich nicht die größte Sachnähe aufweist. Begehrt der Betroffene eine Haftentscheidung des durch den Zuständigkeitswechsel zuständig gewordenen Tatgerichts, ist es ihm unbenommen, nicht die Haftbeschwerde, sondern stattdessen ein Haftprüfungsverfahren nach § 117 StPO50 zu beantragen.

IV. Zusammenfassung Durch dies Zurechnungslösung kann ein Beschwerdeverfahren gegen die ermittlungsrichterlichen Haftentscheidungen, die mit Anklageerhebung als solche des Tatgerichts gelten, ohne vermeidbare Verzögerungen durchgeführt werden. Dies gilt unabhängig davon, ob die Beschwerde vor oder nach Anklageerhebung eingelegt wird. Selbst der Betroffene, der bereits die weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht eingelegt hatte, kann weiterhin eine Entscheidung des Oberlandesgerichts beanspruchen, ohne zunächst ein neues Rechtsmittel bei einer dem Oberlandesgericht untergeordneten Instanz einlegen zu müssen. Die Zurechnungslösung birgt somit in keiner denkbaren Konstellation Verzögerungen. Zudem wird der gesetzlich vorgesehene Beschwerdeinstanzenzug insoweit voll eingehalten, als dass der Haftbefehl als seitens des Tatgerichts erlassen gilt. Dies kann zu einer Verschiebung der ursprünglich gegen den ermittlungsrichterlichen Haftbefehl zuständigen Instanz führen, wenn Anklage zum Landgericht erhoben wird, welches nach § 73 Abs. 1 GVG bis dahin eigentlich für die bereits eingelegte Beschwerde zuständig gewesen wäre. Da aber auch diese Verschiebung abstrakt-generell gesetzlich durch § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgesehen ist, wird dem Betroffenen nicht der gesetzliche Richter entzogen, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Jedenfalls kann der Betroffene den Haftbefehl uneingeschränkt anfechten und so ohne Verzögerungen durch Umdeutungen eine Entscheidung des Oberlandesgerichts erwirken. Die auf Dünnebiers51 Auffassung aufbauende Zurechnungslösung hat im Ergebnis auch das Oberlandesgericht Frankfurt in dem Beschluss aus dem 49  Siehe

dazu oben ab S. 322. zu den Rechtsbehelfen des Haftprüfungsantrags und der Haftbeschwerde oben ab S. 113 und insb. zu den Unterschieden der beiden Rechtbehelfe oben ab S. 136. 51  Sie oben ab S. 289. 50  Siehe



C. Legislativer Lösungsansatz325

Jahr 197252 sowie das Oberlandesgericht Karlsruhe in dem Beschluss aus dem Jahr 198353 vertreten. Bereits zuvor hatte von Beling (allerdings ohne Bezugnahme auf das Rechtsmittel der Beschwerde) ausgeführt, der nach § 124 Abs. 1 StPO (1926) mit Anklageerhebung zuständig gewordene Richter rücke an die Stelle des zuvor zuständigen Ermittlungsrichters ein.54 Somit scheint auch von Beling davon ausgegangen zu sein, dass dem Tatgericht alle zuvor getroffenen Haftentscheidungen zuzurechnen seien. Allerdings spricht auch Wankel davon, dem Tatgericht würden die Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters zugerechnet55, befürwortet im Ergebnis aber jedenfalls die Umdeutung von Beschwerden, die vor oder gleichzeitig mit Anklageerhebung gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters erhoben wurden, um Doppelzuständigkeit und Instanzenvermischung zu verhindern.56 Wie dargestellt, führt eine konsequente Zurechnung aller Haftentscheidungen und ggf. Nichtabhilfeentscheidung nach § 306 Abs. 2 StPO nebst einer etwaigen Anpassung der Beschwerdezuständigkeiten unter Berücksichtigung der prozessualen Lage aber gerade nicht zu Doppelzuständigkeiten bzw. In­ stanzenvermischungen.

C. Legislativer Lösungsansatz I. Notwendigkeit Neben einer Rechtsprechungsänderung im Sinne der vorgenannten Auslegung kommt auch eine Gesetzesänderung in Betracht. Tatsächlich wäre eine solche aus mehreren Gründen sogar vorzugswürdig: Die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist seit Einführung des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO mit Ausnahme einer abweichenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt aus dem Jahr 197257, von der dieses selbst ohne nähere Begründung Abstand genommen hat58 und in der es dem Grunde 52  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 53  Hier bezüglich der Beschwerde gegen eine haftbeschränkende Maßnahme, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 29. August 1983 – 3 Ws 150/83, NStZ 1984, 183 (siehe oben S. 309). 54  von Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, S. 501, Fn. 4. 55  Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 110 f. 56  Wankel, Zuständigkeitsfragen, S. 115. 57  OLG Frankfurt, Beschluss vom 26. Oktober 1972 – 1 Ws 251/72, NJW 1973, 478 (siehe oben S. 196). 58  OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Februar 1985 – 1 Ws 46/85, NJW 1985, 1233 (siehe oben S. 197).

326

8. Teil: Eigene Lösung

nach die hier vertretene Zurechnungslösung angewendet hat, einheitlich gefestigt. Es ist daher unwahrscheinlich, dass eines der Oberlandesgerichte die ständige Rechtsprechung aufgeben wird und § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO einer verfassungskonformen Auslegung wie der Zurechnungslösung zuführen wird und sich die übrigen Oberlandesgerichte dieser anschließen werden. Jedenfalls ist ein Divergenzverfahren nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG bei abweichenden Rechtsansichten über Beschwerdeentscheidungen gesetzlich nicht vorgesehen.59 Ebenso ist fernliegend, dass eines der Oberlandesgerichte die Verfassungsgemäßheit der jahrelang praktizierten Judikatur bzw. § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO selbst in Frage stellt und eine konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG zum Bundesverfassungsgericht anstrengen wird. Um eine rasche verfassungs- und konventionsgemäße Anwendung des § 126 Abs. 2 StPO durch alle Oberlandesgerichte garantieren zu können, kommt nur eine Gesetzesänderung in Betracht. Insoweit greifen die Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten des Gesetzgebers, da die Herstellung einer verfassungsmäßigen Rechtsprechung auf andere Weise nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann.60

II. Gesetzgebungsvorschlag: Kodifizierte Zurechnungslösung 1. Gesetzgebungsentwurf Nach alledem ist folgender Gesetzgebungsvorschlag erörterungswürdig, der im Folgenden als „kodifizierte Zurechnungslösung“ bezeichnet wird: Gesetz zur Beschleunigung des Haftbeschwerdeverfahrens - Entwurfsvorschlag – Artikel 1 Änderung der Strafprozessordnung 1. § 126 wird wie folgt geändert: 59  Siehe

oben ab S. 274. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 – 2 BvR 2883/10 – 2 BvR 2155/11, NStZ 2013, 295, 299 m. w. N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 84; Hömig, MSKB II, § 95 Rn. 73. Siehe auch oben ab S. 184. 60  Vgl.



C. Legislativer Lösungsansatz327 a) Nach § 126 Absatz 2 Satz 1 werden folgende Sätze 2 und 3 eingefügt: „Die Maßnahmen und Entscheidungen des Ermittlungsrichters nach § 125 Abs. 1 und Absatz 1 sowie ggf. nach § 306 Abs. 2 gelten mit Anklageerhebung als solche des mit der Sache befassten Gerichts. Eine vor Anklageerhebung eingelegte Beschwerde nach § 304 Abs. 1 oder § 310 Abs. 1 Nr. 1 gegen Maßnahmen und Entscheidungen des Ermittlungsrichters nach § 125 Abs. 1 und Absatz 1 wird unbeschadet der Anklageerhebung mit der Maßgabe durchgeführt, dass die angegriffene Maßnahme oder Entscheidung ab Anklageerhebung als solche des mit der Sache befassten Gerichts gilt.“ b) § 126 Absatz 2 Satz 3 und 4 werden unverändert zu § 126 Absatz 2 Satz 4 und 5. c) § 126 Absatz 2 Satz 2 wird zu § 126 Absatz 3 Satz 1. Der bisherige § 126 Absatz 3 wird zu § 126 Absatz 3 Satz 2. 2. § 209 wird wie folgt geändert: a) Absatz 1 werden folgende Sätze 2 und 3 angefügt: „Mit Eingang der Verfahrensakten bei dem Gericht niedrigerer Ordnung ist dieses mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.“ b) Absatz 2 werden folgende Sätze 2 und 3 angefügt: „Mit Eingang der Verfahrensakten bei dem Gericht höherer Ordnung ist dieses mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.“ 3. § 321 wird wie folgt neu gefasst: (1) Die Staatsanwaltschaft übersendet die Akten an die Staatsanwaltschaft bei dem Berufungsgericht. Diese übergibt die Akten binnen einer Woche dem Vorsitzenden des Gerichts. (2) Mit Eingang der Verfahrensakten bei dem Berufungsgericht ist dieses mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend. 4. § 328 Absatz 2 werden folgende Sätze 2 und 3 angefügt: „Mit Erlass des Verweisungsbeschlusses ist das in dem Beschluss bezeichnete Gericht mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.“ 5. Nach § 354 wird folgender Absatz 4 angefügt:

328

8. Teil: Eigene Lösung

„Mit Erlass eines Verweisungsbeschlusses nach den Abs. 2 und 3 ist das in dem Beschluss bezeichnete Gericht mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.“ 6. In § 355 wird folgender Satz 2 angefügt: „§ 354 Abs. 4 gilt entsprechend.“

Artikel 2 Inkrafttreten Das Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft.

2. Gesetzestext nach Implementierung des Entwurfs Die geänderten Vorschriften hätten somit in Gänze folgenden Wortlaut:

§ 126 Zuständigkeit für weitere gerichtliche Entscheidungen (1) Vor Erhebung der öffentlichen Klage ist für die weiteren gerichtlichen Entscheidungen und Maßnahmen, die sich auf die Untersuchungshaft, die Aussetzung ihres Vollzugs (§ 116), ihre Vollstreckung (§ 116b) sowie auf Anträge nach § 119a beziehen, das Gericht zuständig, das den Haftbefehl erlassen hat. Hat das Beschwerdegericht den Haftbefehl erlassen, so ist das Gericht zuständig, das die vorangegangene Entscheidung getroffen hat. Wird das vorbereitende Verfahren an einem anderen Ort geführt oder die Untersuchungshaft an einem anderen Ort vollzogen, so kann das Gericht seine Zuständigkeit auf Antrag der Staatsanwaltschaft auf das für diesen Ort zuständige Amtsgericht übertragen. Ist der Ort in mehrere Gerichtsbezirke geteilt, so bestimmt die Landesregierung durch Rechtsverordnung das zuständige Amtsgericht. Die Landesregierung kann diese Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltung übertragen. (2) Nach Erhebung der öffentlichen Klage ist das Gericht zuständig, das mit der Sache befaßt ist. Die Maßnahmen und Entscheidungen des Ermittlungsrichters nach § 125 Abs. 1 und Absatz 1 sowie ggf. nach § 306 Abs. 2 gelten mit Anklageerhebung als solche des mit der Sache befassten Gerichts. Eine vor Anklageerhebung eingelegte Beschwerde nach § 304 Abs. 1 oder § 310 Abs. 1 Nr. 1 gegen Maßnahmen und Entscheidungen des Ermittlungsrichters nach § 125 Abs. 1 und Absatz 1 wird unbeschadet der Anklageerhebung mit der Maßgabe durchgeführt, dass die angegriffene Maßnahme oder Entscheidung ab Anklageerhebung als solche des mit der Sache befassten Gerichts gilt. Einzelne Maßnahmen, insbesondere nach § 119, ordnet der Vorsitzende an. In dringenden Fällen kann er auch den Haftbefehl aufheben oder den Vollzug aussetzen (§ 116), wenn die Staatsanwaltschaft zustimmt; andernfalls ist unverzüglich die Entscheidung des Gerichts herbeizuführen.



C. Legislativer Lösungsansatz329

(3) Während des Revisionsverfahrens ist das Gericht zuständig, dessen Urteil angefochten ist. Das Revisionsgericht kann den Haftbefehl aufheben, wenn es das angefochtene Urteil aufhebt und sich bei dieser Entscheidung ohne weiteres ergibt, daß die Voraussetzungen des § 120 Abs. 1 vorliegen. (4) Die §§ 121 und 122 bleiben unberührt. (5) Soweit nach den Gesetzen der Länder über den Vollzug der Untersuchungshaft eine Maßnahme der vorherigen gerichtlichen Anordnung oder der gerichtlichen Genehmigung bedarf, ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Maßnahme durchgeführt wird. Unterhält ein Land für den Vollzug der Untersuchungshaft eine Einrichtung auf dem Gebiet eines anderen Landes, können die beteiligten Länder vereinbaren, dass das Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die für die Einrichtung zuständige Aufsichtsbehörde ihren Sitz hat. Für das Verfahren gilt § 121b des Strafvollzugsgesetzes entsprechend.

§ 209 Eröffnungszuständigkeit (1) Hält das Gericht, bei dem die Anklage eingereicht ist, die Zuständigkeit eines Gerichts niedrigerer Ordnung in seinem Bezirk für begründet, so eröffnet es das Hauptverfahren vor diesem Gericht. Mit Eingang der Verfahrensakten bei dem Gericht niedrigerer Ordnung ist dieses mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend. (2) Hält das Gericht, bei dem die Anklage eingereicht ist, die Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung, zu dessen Bezirk es gehört, für begründet, so legt es die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft diesem zur Entscheidung vor. Mit Eingang der Verfahrensakten bei dem Gericht höherer Ordnung ist dieses mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.

§ 321 Aktenübermittlung an das Berufungsgericht (1) Die Staatsanwaltschaft übersendet die Akten an die Staatsanwaltschaft bei dem Berufungsgericht. Diese übergibt die Akten binnen einer Woche dem Vorsitzenden des Gerichts. (2) Mit Eingang der Verfahrensakten bei dem Berufungsgericht ist dieses mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.

§ 328 Inhalt des Berufungsurteils (1) Soweit die Berufung für begründet befunden wird, hat das Berufungsgericht unter Aufhebung des Urteils in der Sache selbst zu erkennen. (2) Hat das Gericht des ersten Rechtszuges mit Unrecht seine Zuständigkeit angenommen, so hat das Berufungsgericht unter Aufhebung des Urteils die Sache an das zuständige Gericht zu verweisen. Mit Erlass des Verweisungsbeschlusses ist das in dem Beschluss bezeichnete Gericht mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.

330

8. Teil: Eigene Lösung

§ 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung (1) Erfolgt die Aufhebung des Urteils nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere tatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung oder auf Einstellung oder auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe oder das Absehen von Strafe für angemessen erachtet. (1a) Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen. (1b) Hebt das Revisionsgericht das Urteil nur wegen Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe (§§ 53, 54, 55 des Strafgesetzbuches) auf, kann dies mit der Maßgabe geschehen, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach den §§ 460, 462 zu treffen ist. Entscheidet das Revisions­ gericht nach Absatz 1 oder Absatz 1a hinsichtlich einer Einzelstrafe selbst, gilt Satz 1 entsprechend. Die Absätze 1 und 1a bleiben im Übrigen unberührt. (2) In anderen Fällen ist die Sache an eine andere Abteilung oder Kammer des Gerichtes, dessen Urteil aufgehoben wird, oder an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen. In Verfahren, in denen ein Oberlandesgericht im ersten Rechtszug entschieden hat, ist die Sache an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückzuverweisen. (3) Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört. (4) Mit Erlass eines Verweisungsbeschlusses nach den Abs. 2 und 3 ist das in dem Beschluss bezeichnete Gericht mit der Sache befasst. § 126 Abs. 2 gilt entsprechend.

§ 355 Verweisung an das zuständige Gericht Wird ein Urteil aufgehoben, weil das Gericht des vorangehenden Rechtszuges sich mit Unrecht für zuständig erachtet hat, so verweist das Revisionsgericht gleichzeitig die Sache an das zuständige Gericht. § 354 Abs. 4 gilt entsprechend.

III. Erläuterungen 1. Grundsätzliches Der Bund ist gemäß Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zum Erlass des vorliegenden Entwurfs als Gesetz zuständig.



C. Legislativer Lösungsansatz331

Im Wesentlichen hat der Gesetzesentwurf zum Ziel, die vorgenannte verfassungskonforme Auslegung im Sinne der Zurechnungslösung 61 zu normieren. Erneut bilden Dünnebiers62 Überlegungen, denen im Jahr 1972 auch das Oberlandesgericht Frankfurt63 folgte, den Ausgangspunkt für den Gesetzgebungsentwurf. Lediglich durch die Ergänzung der beiden Sätze des Artikels 1 Nummer 1 des Gesetzgebungsentwurfs kann rechtssicher normiert werden, dass die Haftentscheidungen des Ermittlungsrichters mit Anklageerhebung als solche des mit der Sache befassten Gerichts gelten. Angesichts der abweichenden oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung sieht der Gesetzgebungsentwurf die explizite Klarstellung vor, dass ein Beschwerdeverfahren unter Berücksichtigung der Zurechnung nach § 126 Abs. 1 Satz 2 des Entwurfs trotz Anklageerhebung durchzuführen ist. Klargestellt wird auch, dass sich das mit der Sache befasst Gericht eine etwaig bereits getroffene Nichtabhilfeentscheidung des Ermittlungsrichters nach § 306 Abs. 2 StPO zurechnen lassen muss. Zu berücksichtigen ist, dass eine beim Oberlandesgericht anhängige weitere Beschwerde durch den Zuständigkeitswechsel nicht (etwa wegen der grundsätzlichen Unanfechtbarkeit landgerichtlicher Entscheidungen mit der weiteren Beschwerde) unzulässig wird. Sinn und Zweck des Gesetzes zur Beschleunigung des Haftbeschwerdeverfahrens ist gerade, alle Beschwerdeinstanzen trotz eines Zuständigkeitswechsels ausschöpfen zu können. Daher werden weitere Beschwerden beim Oberlandesgericht mit Eintritt eines Zuständigkeitswechsels automatisch zu einfachen Beschwerden nach § 304 StPO. Die Verfasserin hat auf eine entsprechende Klarstellung dieser Konstellation in Art. 1 Ziff. 1 des Entwurfs verzichtet, um diesen nicht unnötig zu verkomplizieren. Dass eingelegte Beschwerden nicht auf Grund eines Zuständigkeitswechsels unzulässig werden, ergibt sich nach hiesiger Auffassung bereits hinreichend aus dem Telos des Gesetzesentwurfs. 2. Klarstellung der Zuständigkeiten Die übrigen vorgeschlagenen Änderungen dienen ebenfalls Klarstellungsgründen, da die Oberlandesgerichte ihre Umdeutungspraxis auf alle denk­ baren Zuständigkeitswechsel nach der Strafprozessordnung übertragen haben. Die in dem Gesetzgebungsentwurf vorgesehenen Zuständigkeitswechsel sind zwar in Rechtsprechung und Literatur anerkannt bzw. unbestritten, aber bislang gesetzlich nicht klar normiert. Anlässlich der Normierung der Zurech61  Siehe

oben ab S. 316. oben ab S. 289. 63  Siehe oben ab S. 196. 62  Siehe

332

8. Teil: Eigene Lösung

nungslösung in § 126 Abs. 2 des Entwurfs werden daher auch alle in der Praxis anerkannten Zuständigkeitswechsel durch die Ergänzung der §§ 209, 321, 328, 354, 355 StPO eindeutig geregelt. Hinsichtlich des Zuständigkeitswechsels nach Erlass eines verweisenden Berufungsbeschlusses nach § 328 Abs. 2 Satz 1 StPO und verweisenden Revisionsbeschlusses nach §§ 354 Abs. 2, Abs. 3, 355 StPO kommt es entsprechend dem gesetzgeberischen Willen bzgl. des verweisenden Revisionsbeschlusses64 auf den Zeitpunkt des Erlasses des jeweiligen Verweisungsbeschlusses an, §§ 328 Abs. 2 Satz 2, 354 Abs. 4 Satz 1, 355 Satz 2 des Entwurfs. Zudem wird jeweils klargestellt, dass die Zurechnung vorangegangener Haftentscheidung bei Zuständigkeitswechseln entsprechend § 126 Abs. 2 Satz 2 und 3 des Entwurfs in jedem Verfahrensstadium Anwendung findet. Beschwerden gegen Haftentscheidungen sind somit durch die Ergänzung und Abänderung der Strafprozessordnung in sehr geringem Umfang unbeschadet eines Zuständigkeitswechsels ohne Verzögerungen und unter Wahrung des Gebots des effektiven Rechtsschutzes uneingeschränkt mit der Beschwerde anfechtbar. 3. Sonstige Änderungen Lediglich bei Gelegenheit sieht der Gesetzgebungsentwurf vor, auch die besonderen Haftzuständigkeiten und Befugnisse des Revisionsgerichts während des Revisionsverfahrens einheitlich in § 126 Abs. 3 des Entwurfs zu regeln.

D. Praktische Hinweise Abschließend ist aus Gründen der Beschleunigung noch auf Folgendes hinzuweisen:

64  BT-Drs. 16/11644, S. 33. Vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. Mai 1996 – 1 StR 51/96, NJW 1996, 2665; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 9. Oktober 1986 – 2 Ws 71/86, NStE Nr. 1 zu § 126 StPO; KG, Beschluss vom 17. Januar 2000 – 4 Ws 2/00, NStZ 2000, 444 (siehe oben S. 227); Hilger, in: L-R IV 2007, § 125 Rn. 15, § 126 Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 2019, § 126 Rn. 6; Boujong, in: KK 1999, § 125 Rn. 10, Schultheis, in: KK 2019, § 125 Rn. 10; Böhm/Werner, in: MüKo I 2014, § 125 Rn. 10, § 126 Rn. 23; Paeffgen, in: SK II 2016, § 125 Rn. 5; Münchhalffen/Gatzweiler, Untersuchungshaft, Rn.  114; Schlothauer/Weider/Nobis, Untersuchungshaft, Rn. 877; a. A. (Zeitpunkt der Aktenzuleitung, allerdings vor der Klarstellung durch den Gesetzgeber im Jahr 2009) Franke, in: L-R VII-2 2013, § 354 Rn. 61.



D. Praktische Hinweise333

Da es nach der Zurechnungslösung (gleich ob im Wege der Auslegung oder einer Gesetzesänderung) vorkommen kann, dass ein Beschwerdegericht während einer anhängigen Beschwerde durch die Anklageerhebung oder einen anderweitigen Zuständigkeitswechsel unzuständig wird und stattdessen etwa das Oberlandesgericht zur Bescheidung der Beschwerde zuständig wird, sollte unabhängig von der Anklageerhebung umgehend die Weiterleitung der Akten an das neue Beschwerdegericht veranlasst werden. Dies kann in praktischer Hinsicht dadurch beschleunigt erreicht werden, dass der zuständige Dezernent der Staatsanwaltschaft in der Abschlussverfügung eine Mitteilung über die Anklageerhebung an das (aktuelle) Beschwerdegericht verfügt. Durch dieses Vorgehen erhält dieses unmittelbar Kenntnis von seiner Unzuständigkeit und kann – sofern aktuell eine noch nicht beschiedene Beschwerde anhängig ist – umgehend die Weiterleitung der Akten an das nunmehr zuständige Gericht veranlassen.65 Eine Benachrichtigung des Ermittlungsrichters im Rahmen der Anklageerhebung ist ohnehin nach § 114d Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlich. Liegt dem Ermittlungsrichter eine Beschwerde vor, über deren Abhilfe nach § 306 Abs. 1 StPO zu entscheiden ist, hat er diese mit Eingang der Mitteilung über die Anklageerhebung nebst den Akten umgehend dem Gericht zuzuleiten, dem die angefochtene Maßnahme nach der Zurechnungslösung zugerechnet wird. Dieses ist nunmehr nach der Zurechnungslösung für die (Nicht-)Abhilfeentscheidung nach § 306 Abs. 1 StPO zuständig. Hat der Ermittlungsrichter bereits über die (Nicht-)Abhilfe entschieden, hat er dafür Sorge zu tragen, dass das nunmehr durch den Zuständigkeitswechsel in Anwendung der Zurechnungslösung zuständige Beschwerdegericht zeitnah den Besitz der Akten erlangt, um die Beschwerde zu bescheiden.

65  Insoweit

könnte eine Ergänzung der RiStBV wertvolle Dienste leisten.

Zusammenfassung Als Untersuchungsergebnis bleibt Folgendes festzuhalten: 1. Die Untersuchungshaft hat in Deutschland sowohl bezüglich der Quantität ihrer Verhängung und ihrer Dauer als auch bezüglich ihrer hohen Eingriffsintensität in qualitativer Hinsicht eine besondere Bedeutung. 2. Es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die mit dem Zuständigkeitswechsel des § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO einhergehenden ungeregelten Unsicherheiten bezüglich der Anfechtbarkeit ermittlungsrichterlicher Haftentscheidungen übersehen hat. Den untersuchten Gesetzgebungsmaterialien sind keine entsprechenden Hinweise zu entnehmen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber diese Frage bewusst der Rechtsprechung überlassen wollte. Herausgearbeitet werden konnte allerdings, dass bereits im Rahmen der Schaffung der Strafprozessordnung im Fokus des Gesetzgebers stand, die Untersuchungshaft als ultima ratio auszugestalten. Auch die späteren Gesetzesänderungen in den Jahren 1926, 1950, 1965 und 2010 dienten den Zwecken, die Rechte des inhaftieren Betroffenen zu stärken oder die Untersuchungshaft der Länge nach auf das unbedingt notwendige Maß zu beschränken. Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls festgehalten werden, dass die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung, die strukturell die Verzögerung der Bescheidung der Haftbeschwerde durch das letztinstanzliche Beschwerdegericht bedingt, nicht im Sinne des Gesetzgebers gewesen sein kann. Die Umdeutungspraxis, die durch die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Aufhebung des Haftbefehls und somit die Haftentlassung zu verzögern, steht mit den erkennbaren Motiven des Gesetzgebers (Stärkung der Betroffenenrechte, Verkürzung der Untersuchungshaft) in einem kaum auflösbaren Widerspruch. 3. Die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung hat zur Folge, dass Haftbefehle bzw. allgemein Haftentscheidungen nach § 126 Abs. 1 Satz 1 StPO, die vor einem Zuständigkeitswechsel nach § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO, aber auch nach den §§ 209, 321, 354, 355 StPO, ab dem jeweiligen Zuständigkeitswechsel nicht mehr mit der Beschwerde anfechtbar sind. Dies verstößt gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG.

Zusammenfassung335

Die Umdeutungspraxis hat zur Folge, dass das von der Prozessordnung eröffnete Rechtsmittel der (weiteren) Haftbeschwerde nach den § 304 ­StPO unzulässig und somit ineffektiv ist. Das Rechtsmittel der Beschwerde läuft für den Betroffenen in dem Verfahrensstadium nach einem Zuständigkeitswechsel leer, was es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Ansehung des Art. 19 Abs. 4 GG gerade zu verhindern gilt.1 Somit wird das Verfahren der Haftbeschwerde durch die oberlandesgerichtliche Rechtsprechung entgegen den Vorgaben des Bundesverfassungsgericht2 so ausgestaltet, dass durch die verzögerte letztinstanz­ liche Entscheidung über die Haftbeschwerde, nachdem zunächst der umgedeutet Haftprüfungsantrag beschieden und erneut mit der Beschwerde angefochten werden musste, eine Entwertung und somit Verletzung der materiellen Grundrechtsposition der körperlichen Freiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG besteht. 4. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat in Deutschland enorm an Bedeutung gewonnen. Alle staatlichen Stellen sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dazu verpflichtet, ihr Handeln im Rahmen verfassungsmäßiger Grenzen auch an den Menschenrechten der europäischen Menschenrechtskonvention und der Rechtsprechung des Gerichtshofs auszurichten. Konventionswidriges staatliches Handeln kann daher gestützt auf einen etwaig damit einhergehenden Grundrechtsverstoß i. V. m. einem Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden. Die mit der Umdeutungspraxis strukturell einhergehende Verzögerung der letztinstanzlichen Bescheidung einer Haftbeschwerde, stellt auch einen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen dar. Der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK ergibt sich auch unmittelbar aus dem Verfassungsrecht, namentlich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG.

1  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2001 – 2 BvR 527/99 (u. a.), NJW 2002, 2456; BVerfG, Beschluss vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04, BeckRS 2005, 31131; jeweils m. w. N. Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. März 1988 – 2 BvR 233/84, NVwZ 1988, 718, 719; BVerfG, Beschluss vom 30. April 1997 – 2 BvR 817/90 (u. a.), NJW 1997, 2163, 2164. 2  Statt vieler jeweils m. w. N.: BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, NJW 2006, 1336, 1337; BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 – 2 BvR 806/08, BeckRS 2008, 36092; BVerfG, Beschluss vom 13. Mai 2009 – 2 BvR 388/09, BeckRS 2009, 34595; BVerfG, Beschluss vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 –, juris, Rn. 23; BVerfG, Beschluss vom 14. November 2012 – 2 BvR 1164/12, BeckRS 2012, 60181.

336 Zusammenfassung

5. Die unter Ziffer 3 und 4 genannten Defizite der Umdeutungspraxis der Oberlandesgerichte wären durch eine verfassungs- und konventionskonforme Auslegung im Wege der Zurechnungslösung, alternativ durch die hier vorgeschlagene Gesetzesänderung („kodifizierte Zurechnungslösung“) vermeidbar.

Die gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK verstoßende oberlandesgerichtlichen Umdeutungspraxis ist nunmehr seit Jahrzehnten etabliert. Es ist daher fernliegend, dass die Rechtsprechung § 126 Abs. 2 Satz 1 StPO deutschlandweit in angemessener Zeit verfassungs- und konventionskonform auslegen und anwenden wird. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass nur gesetzgeberische Maßnahmen dazu geeignet sind, den verfassungs- und konventionswidrigen Zustand durch eine Gesetzesänderung zu beheben.

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Stichwortverzeichnis Analogieverbot  57, 174 Barmat-Skandal  44 Beschleunigungsgrundsatz (allgemein)  151 f. Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen  24, 60, 69, 142 ff., 152 ff, 163 ff., 181 ff., 191, 297 ff. –– Nationale Rechtsprechung  164 ff. –– Rechtsprechung des EGMR  161 ff. –– Verstoß  154 ff., 166 ff. Beschwerde –– Beschwer  126 f. –– Devolutiveffekt  122, 139 –– Haftbeschwerde  121 ff., 139 f. –– Verwirkung (des Beschwerderechts)  127 f. –– Weitere Beschwerde  134 ff. –– Zuständigkeit  122 ff. Beschwerde gegen haftbeschränkende Maßnahmen und Entscheidungen  308 ff. Beschwerde gegen weitere gerichtliche Untersuchungshandlungen (§ 162 StPO)  249 ff. Divergenzvorlage  199, 219, 274 f. Doppelzuständigkeit  197, 203 ff., 236 ff., 258, 265 ff., 285 ff., 314, 321, 325 Eröffnungsbeschluss  57, 23, 182, 233, 237, 242 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)  143 f., 158 ff., 184 ff., 335 Fall Görgülü  158 f., 186 f

Gerichtliche Voruntersuchung  37 f., 41 ff., 52 ff., 62 Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG)  105 ff., 281, 301 ff. Grundrecht auf körperliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG)  22, 60, 68 f., 89 f., 145, 165 ff., 179, 184 f., 190, 297, 300, 335 Haftbeschränkende Maßnahmen und Entscheidungen (§§ 119 Abs. 1 StPO)  308 ff. Haftprüfung auf Antrag (§§ 117 ff. StPO)  113 ff., 138 f. Haftprüfung von Amts wegen –– Oberlandesgerichtliche Haftprüfung (§§ 121 122 StPO)  21, 28 f., 60 ff., 90, 99 ff., 115, 144, 149, 164 –– Sonstige  46 ff. Haftrichterzuständigkeit  –– Allgemein  73 ff. –– Historische Entwicklung  35 ff. Instanzenvermischung  195 ff.; 236 f., 286 ff., 325

inter pares  159

Lex Höfle  44 ff., 52 f. Prozessuale Überholung  109 ff., 126 f., 238 ff., 301 ff. Rechtsmittelautonomie  22, 136 f., 240, 263, 286 f., 294, 306 Rechtsschutzbedürfnis  109 ff., 126 f., 303 ff. Reform(-versuch)

Stichwortverzeichnis351 –– Einführungsgesetz zum Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuch und zum Strafvollzugsgesetz  55 f. –– Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (1960)  59 –– Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (1961/1962)  59 ff. –– Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts/Vereinheitlichungsgesetz  57 –– Nr. 343 der Ausschussdrucksachen (13. Ausschuss, III. Wahlperiode 1924/26)/Lex-Höfle  44 ff., 52 f. Reichsstrafprozessordnung (1877)  36 ff., 46 ff., 66 Sicherungsverwahrung  188 f. Strafzumessungsmodell/Strafzumessungslösung  172 ff. Unschuldsvermutung  68, 96, 99 Untersuchungshaft –– Antrag auf Aufhebung/Außervollzugsetzung  120 f., 140 f. –– Antrag auf Erlass  83 ff. –– Apokryphe Haftgründe  97, –– Begründungstiefe von Haftentscheidungen (Exkurs)  89 ff. –– Ende  103 f. –– Flucht/Fluchtgefahr  93 f.

–– Form (Inhalt, Verkündung, Form)  85 ff. –– Grenzen  68 ff. –– Haftgründe  92 ff. –– Rechtsbehelfe  105 ff. –– Statistiken  27 ff. –– Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO)  95 f. –– Tatverdacht  91 f. –– Verdunkelungsgefahr  95 –– Verhältnismäßigkeit  98 f. –– Voraussetzungen  72 ff –– Wiederholungsgefahr  96 f. –– Zweck  67 f. Verdunkelungsgefahr  42, 49, 95 f., 97 f., 155 Vereinheitlichungsgesetz  57 f. Verfahrensverzögerung  25, 32, 35, 42, 54, 62 ff., 155, 163, 168 ff., 193, 200, 206 ff., 220 ff., 236 ff., 268, 271 ff., 286 ff., 298 ff., 312, 324, 332 ff. Verwahrungshaft  40 Vollstreckungsmodell  175 ff. Vorläufige Festnahme  79 ff. Weitere gerichtliche Untersuchungshandlungen (§ 162 StPO)  249 ff. Zuständigkeitswechsel –– Anklageerhebung  231 f. –– Berufung  233 f. –– Eröffnung des Hautverfahrens vor einem Gericht niedrigerer Ordnung  232 f. –– Revision  234 f.