Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord

Aus dem Amerikanischen von Irmela Arnsperger und Boike Rehbein

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German Pages [428] Year 2001

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Table of contents :
An die deutschen Leser............................................................. 7
Einleitung.................................................................................... ii
Teil I: Die Kriegsjahre ........................................................... 31
1. Kapitel:
»Wir wußten es ganz allgemein«............................................. 33
2. Kapitel:
»Wenn unsere Brüder mehr Mitgefühl gezeigt hätten« .... 47
3. Kapitel:
»Die Preisgabe der Juden« ..................................................... 69
Teil II: Die Nachkriegszeit................................................... 87
4. Kapitel:
»Die Sammellager haben ihren historischen Zweck
erfüllt«.................................................................................... 89
5. Kapitel:
»Das ist Vergangenheit, und wir müssen mit den gegenwärtigen Tatsachen fertig werden«................................. 117
6. Kapitel:
»Nicht im Interesse der Judenschaft« ..................................... 141
Teil III: Die Übergangsjahre ............................................... 169
7. Kapitel:
»Eine sich selbst hassende Jüdin schreibt Pro-Eichmann Serie«................................................................................. 171
8. Kapitel:
»Ein >für erlittene Qualen< unterbreitetes Gesetz« ................ 196
9. Kapitel:
»Würden Sie meine Kinder verstecken?«.............................. 225
Teil IV: Jüngste Vergangenheit.............................................. 265
10. Kapitel:
»Billigt keinen Fanatismus« .................................................... 267
11. Kapitel:
»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser« ................... 303
Teil V: Die kommenden Jahre ............................................ 333
12. Kapitel:
»Wir können nichts darauf erwidern«.................................... 335
Anmerkungen ........................................................................... 355
Dank........................................................................................... 431
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Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord

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Peter Novick

Nach dem Holocaust Der Um gang mit dem Massenmord Aus dem Am erikanischen von Irmela A rnsperger und Boike Rehbein

Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart München

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel »The Holocaust in American Life« bei Houghton Mifflin Company, Boston/New York © 1999 Peter Novick

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich.

© 2001 Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart / München Satz: Verlagsservice G. Pfeifer / EDV-Fotosatz Huber, Germering Druck und Bindearbeiten: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-421-05479-7

Inhat

An die deutschen Leser.............................................................

7

Einleitung....................................................................................

ii

Teil I: Die Kriegsjahre ...........................................................

31

1. Kapitel :

»Wir wußten es ganz allgemein«.............................................

33

2. Kapitel :

»Wenn unsere Brüder mehr Mitgefühl gezeigt hätten« . . . .

47

3. Kapitel :

»Die Preisgabe der Juden« .....................................................

69

Teil II: Die Nachkriegszeit...................................................

87

4. Kapitel :

»Die Sammellager haben ihren historischen Zweck

erfüllt«....................................................................................

89

5. Kapitel :

»Das ist Vergangenheit, und wir müssen mit den gegenwärtigen Tatsachen fertig w erden«.................................

117

6. Kapitel :

»Nicht im Interesse der Judenschaft« .....................................

141

Teil III: Die Übergangsjahre ...............................................

169

7. Kapitel :

»Eine sich selbst hassende Jüdin schreibt Pro-Eichmann S e rie « .................................................................................

171

8. Kapitel :

»Ein >für erlittene Qualen< unterbreitetes Gesetz« ................ 196 9. Kapitel :

»Würden Sie meine Kinder verstecken?«............... ............... 225

Teil IV: Jüngste Vergangenheit.............................................. 265 10. Kapitel :

»Billigt keinen Fanatismus« .................................................... 267 11. Kapitel :

»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser« ...................

303

Teil V: Die kommenden Jahre ............................................

333

12. Kapitel :

»Wir können nichts darauf erwidern«....................................

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Anmerkungen ...........................................................................

355

D a n k ...........................................................................................

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An die deutschen Leser

Wenn der deutsche Leser ein Buchüber die Auseinandersetzung der Amerikaner mit dem Holocaus während der letzten 60 Jahre zur Hand nimmt, ist es für ihn naleliegend oder gar unvermeid­ lich, Vergleiche zwischen der amerikanischen Auseinanderset­ zung und der deutschen anzustellen. Vergleiche sind immer an­ gebracht, solange man berücksicltigt, daß sie ebenso Unter­ schiede wie Gemeinsamkeiten entlüllen: in diesem Fall tiefgrei­ fende Unterschiede und relativ oberflächliche Gemeinsamkeiten. Fs scheint mir wichtig, von Anfang an zwischen dem immer ho­ mogeneren Corpus historischer Arleiten über den Holocaust und den notwendigerweise vielfältigen kollektiven Erinnerungen an den Holocaust zu unterscheiden. ln den fünfziger Jahren, als ich Geschichte zu studieren be­ gann, war das Bewußtsein berufsmäßiger Historiker »partikulari­ st isch«: Es gab die Nordstaaten- und die Südstaaten-Version des Amerikanischen Bürgerkriegs, eine protestantische und eine ka­ tholische Version der Reformation, eine deutsche und eine franzö­ sische Version des Ersten Weltkriegs. Das hat sich im seither ver­ strichenen halben Jahrhundert stark geändert, in dessen Verlauf das historische Bewußtsein bedeutend »kosmopolitischer« gewor­ den ist. Die Arbeit berufsmäßiger Historiker ist international und Teil eines zusammenhängenden wissenschaftlichen Diskurses ge­ worden. Das wird anhand der historischen Texte über den Holocaust be­ sonders deutlich. Die Holocaust-Historiker, ganz gleich ob sie deutscher, israelischer, amerikanischer, französischer oder ande­ rer Nationalität sind, tauschen sich regelmäßig untereinander aus, veröffentlichen in denselben wissenschaftlichen Zeitschriften und befassen sich gemeinsam mit denselben Deutungsproblemen. Ih­ re Arbeit wird von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt nach Kri-

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An die deutschen Leser

terien ausgewertet - das heißt aufgenommen, kritisiert und modi­ fiziert die nicht durch Staatsgrenzen bestimmt sind. Natürlich gibt es Differenzen zwischen den Wissenschaftlern, methodologi­ sche, ideologische und philosophische. Heute kommen diese Dif­ ferenzen jedoch vor allem innerhalb eines Landes zum Tragen, weniger zwischen den Staaten. Bei der Deutung des Holocaust gibt es keine »amerikanische Schule« oder »deutsche Schule« oder »israelische Schule«, ebensowenig wie es nationale Unter­ schiede im Entsetzen und Grauen gibt, mit dem Wissenschaftler (und andere Menschen) das große Verbrechen betrachten. Das scheint mir eine wünschenswerte Entwicklung zu sein Mit den kollektiven Erinnerungen an den Holocaust verhält es sich anders. Es hat sich eingebürgert, von der (globalen, homoge­ nen) »Erinnerung« an den Holocaust zu sprechen. Dis halte ich für verfehlt und unsinnig, für eine falsche Vorstellung die auf ei­ nem Mißverständnis des Wesens und Zweckes kollektiver Erinne­ rungen beruht. Obgleich kollektive Erinnerungen sich auf die Vergangenheit beziehen, handelt es sich bei ihnen nicht einfach um die kollekti­ ve Sammlung und Überlieferung von Informationen über die Ver­ gangenheit. Vielmehr sind sie mit der kollektiven Bestimmung (und Neubestimmung) des Verhältnisses zur Vergangenheit ver­ knüpft. Zum Teil ist das Verhältnis eine Tatsache. Im Falle des Ho­ locaust haben manche Kollektive historische Verbindungen zu den Mördern, andere zu den Opfern, wieder andere zu den nahen oder entfernten »Zuschauern«. Diese offensichtliche Tatsache al­ lein macht es absurd, davon zu sprechen, daß verschiedene Kol­ lektive dieselbe Erinnerung an das Verbrechen teilten, daß es ein homogenes kollektives Gedächtnis des Holocaust gebe. Über die »faktischen« historischen Verbindungen zu verschie­ denen Vergangenheiten hinaus haben kollektive Erinnerungen ei­ ne weitere, ebenso wichtige, in mancher Hinsicht sogar wichtige­ re, Dimension. Erinnerungen werden gewählt. Man wählt, gestal­ tet, marginalisiert oder zentriert kollektive Erinnerungen auf der Grundlage von Entscheidungen darüber, welche Zwecke die Erin­ nerungen für das Kollektiv zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfüllen könnten. Die Richtung der Auseinandersetzung oder Vermeidung

A ii die deutschen Leser

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deutet in die Zukunft. Da innerhalt jedes Kollektivs verschiedene Individuen und Gruppen verschiedene Zwecke verfolgen - unterMfhiedliche Werte in der Gegenwat und unterschiedliche Visio­ nen der Zukunft haben ist die bändige Diskussion und Aus­ handlung kollektiver Erinnerungei unvermeidbar - notwendig und sinnvoll. In diesem Zusammenhang m öclte ich anmerken, daß ich den negativen Begriff »Instrumentalisierung« zur Bezeichnung der Bezugnahme auf den Holocaust für irgendeinen Zweck nie ver­ standen habe. Auf kollektive Erinnerungen nimmt man immer für gegenwärtige moralische oder politische Zwecke Bezug - im Dienste einer Vision der Zukunft. Väre das nicht der Fall, würde es sich nicht um bedeutsame kollektive Erinnerungen handeln. Es ist nur natürlich, daß verschiedene Menschen unterschiedliche Zwecke und Visionen gutheißen. Ii der Praxis wird die Bezug­ nahme auf den Holocaust als »Mißbrauch« oder »Instrumentali­ sierung« bezeichnet, wenn man den Zweck ablehnt, zu dem das geschieht. In einer Hinsicht ist das vorliegende Buch eine wissenschaftli­ che Untersuchung über die Entwicklung des »Holocaust-Bewußt­ seins« in den USA. Es untersucht d:e Gründe, aus denen man in den Vereinigten Staaten lange Zeit kaum über den Holocaust dis­ kutiert hat, und die Gründe, aus denen in jüngster Zeit so viel Über ihn diskutiert wurde. Da die amerikanische Diskussion über den Holocaust größtenteils von amerikanischen Juden entfacht wurde, beschäftigt sich das Buch intensiv mit dem ausdrücklichen und stillschweigenden Bestreben der amerikanischen JudenN( hilft, in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung des Holocaust zu minimieren und in den darauffol­ genden Jahrzehnten den Holocaust ins Zentrum des eigenen Selbstverständnisses und der Selbstdarstellung zu rücken. Ferner widmet sich das Buch den Gründen, aus denen der Holocaust sich von einem nahezu ausschließlich jüdischen Problem zu einem beziehungsreichen Symbol für alle Amerikaner entwickelte. In einer anderen Hinsicht wurde das Buch als Beitrag zur aktu­ ellen öffentlichen Debatte in den USA über die Rolle des Holoi .inst im [.eben der amerikanischen Judenschaft und im amerika­

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An die deutschen Leser

nischen Leben allgemein verfaßt. In dieser Hinsicht belauscht der deutsche Leser eine rein amerikanische Delitte, wie ich zahlrei­ che rein deutsche Debatten belauscht habe. Im Laufe der letzten Jahre haben zahlreiche amerikanische Juden, darunter auch pro­ minente Vertreter der Judenschaft, kritisiert, daß eine auf den Ho­ locaust gegründete Identität - auf eine von niemandem intendier­ te Weise - andere Grundlagen der jüdischer Identität verdrängt und unter vielen amerikanischen Juden ein »Opferbewußtsein« erzeugt habe, das weder passend noch wünsdienswert sei. Ich tei­ le diese Kritik und führe sie im Buch weiter ans. Die Amerikaner befürworten im großen und ganzen das Ge­ denken an den Holocaust. Das wird als Zeichen einer breiten Ak­ zeptanz des Holocaust als bedeutungsvolles Symbol gedeutet. Allerdings kann man gerade das Fehlen einer Kontroverse als Zei­ chen seiner Folgenlosigkeit auslegen: Die Erinnerung an den Ho­ locaust ist in den Vereinigten Staaten »mühe und kostenlos«. In den USA gibt es keine Organisationen apologetischer Vichy-Fran­ zosen oder SS-Veteranen. Niemandem in denVereinigten Staaten bereitet das Gedenken an den Holocaust Unbehagen. In Washing­ ton gibt es ein großartiges Holocaust-Museum, aber kein Sklave­ rei-Museum. Was würden die Amerikaner davon halten, wenn die Deutschen sagten, der Holocaust sei zwar furchtbar gewesen, wirklich wichtig aber sei die Errichtung einer Berliner Gedenkstät­ te für die amerikanischen Negersklaven?

Einleitung

Am Ursprung dieses Buches liegen Neugier und Skepsis. Die Neugier, die mich als Historiker packte, war mit der Frage ver­ knüpft, warum der Holocaust in cer amerikanischen Kultur der 1990er Jahre - Tausende von Kilometern vom Ort und 50 Jahre nach der Zeit des Geschehens - eine derartige Bedeutung erlangt hat. Die Skepsis, die in mir als Jude und Amerikaner aufstieg, war mit der Frage verbunden, ob die h?rausragende Stellung, die der Holocaust im Diskurs sowohl der amerikanischen Juden wie auch der Amerikaner insgesamt erlangt hat, so wünschenswert ist, wie die meisten Leute es anzunehmen scheinen. Die jahrelange Ar­ beit an diesem Buch hat dazu beigetragen, die Neugier zu befrie­ digen und die Skepsis zu bestärken. In der folgenden Einleitung werde ich den Leser mit dem Ansatz vertraut machen, mit dem ich mich der historischen Frage genähert habe, so daß meine Aus­ sagen leichter nachvollziehbar sind. Außerdem werde ich einige Gründe für meine Skepsis darlegen, damit der Leser meine Argu­ mentationsrichtung besser einschätzen kann. Die Bedeutung, die der Holocaust für die Amerikaner angenom­ men hat, war für mich zum einen wegen des Zeitpunkts rätsel­ haft: warum gerade jetzt? Im allgemeinen werden historische Er­ eignisse kurz nach ihrem Auftreten am meisten diskutiert, um dann nach und nach aus dem Zentrum des Bewußtseins zu ver­ schwinden. Romane, Filme und das Kollektivbewußtsein waren in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von den Blutbädern von Passchendaele und der Somme besessen, nicht aber in den fünfziger und sechziger Jahren; zu diesem Zeitpunkt - mehr als 40 Jahre nach dem Großen Krieg - waren sie in einem dunklen Erinnerungsloch verschwunden, in dem nur noch Histo­ riker herumstöbern. Die meistbesuchten Filme und die meistver-

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Einleitung

kauften Bestseller über den Vietnamkrieg erschienen innerhalb der ersten fünf oder zehn Jahre nach dem Ende des Konflikts; auch das Vietnam Veterans Memorial in Washington entstand in dieser Zeit. Der Holocaust folgte einem anderen Zeitschema: In den ersten 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sprach man kaum darüber, während er dann von den siebziger Jahren an in den Vereinigten Staaten zunehmend ins Zentrum des öffentli­ chen Diskurses rückte - natürlich vor allem unter Juden, aber auch in der gesamten amerikanischen Kultur. Worauf beruht die­ se ungewöhnliche Chronologie? Zum anderen war der Ort für mich rätselhaft: warum gerade hier? Es verwundert nicht, wenn der Holocaust eine zentrale Stel­ lung im Bewußtsein Deutschlands einnimmt, des Landes der Ver­ brecher und ihrer Nachkommen. Das gilt auch für Israel, dessen Bevölkerung - zumindest großenteils - eine besondere Beziehung zu den Opfern des Verbrechens hat. Etwas weniger gilt das für die Länder, die während des Krieges von Deutschland besetzt und Schauplatz der Deportationen (oder sogar der Ermordung) von Ju­ den waren. In all diesen Ländern hatten die Eltern oder Großeltern der heutigen Generation unmittelbar mit dem Verbrechen zu tun - indem sie ihm Widerstand leisteten, an ihm mitwirkten oder es wenigstens beobachteten. Im Falle der Vereinigten Staaten gibt es diese Verbindung nicht. Der Holocaust ereignete sich viele tausend Kilometer von der amerikanischen Küste entfernt. Die Überleben­ den des Holocaust und ihre Nachkommen bilden nur den Bruch­ teil von einem Prozent der amerikanischen Bevölkerung und auch nur einen geringen Teil der amerikanischen Juden. Nur eine Handvoll Täter gelangte nach dem Krieg in die Vereinigten Staa­ ten. Was wir heute als Holocaust bezeichnen, wurde von den ame­ rikanischen Zeitgenossen, einschließlich den meisten amerikani­ schen Juden, kaum wahrgenommen; die Nation war damit be­ schäftigt, die Achsenmächte zu besiegen. Die Vereinigten Staaten hatten ganz einfach nicht die gleiche Beziehung zum Holocaust wie die genannten anderen Länder. Daher müssen wir uns nicht nur fragen: »warum jetzt?«, sondern auch: »warum hier?« Obgleich Wissenschaftler sich nicht systematisch mit diesen Fragen beschäftigt haben - oder vielleicht weil sie sich nicht syste-

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malisch mit ihnen beschäftigt haben besteht eine Art still­ schweigender Konsens über die Antwort. Die - manchmal expli­ zit, immer implizit freudianische - Antwort stuft die gegenwärti­ ge Bedeutung des Holocaust als unvermeidliche Entwicklung ein. »TVauma«, heißt es im Standardworterbuch der Psychoanalyse, sei ein »Ereignis im Leben des Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit, adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die eN in der psychischen Organisation hervorruft«. Das Trauma kön­ ne lange Zeit unterdrückt werden, aber »die verdrängten Elemen­ te« trachteten danach »wiederzukehren«.1 Im freudianischen Ka­ non definieren »Trauma« und »Verdrängung« sich sogar wechsel­ seitig. Trauma ist etwas, das so unerträglich ist, daß es verdrängt werden muß; Verdrängung ist die Folge von etwas, das zu trauma­ tisch ist, ertragen zu werden; beide zusammen führen unvermeid­ lich zur »Wiederkehr des Verdrängten«. Der Holocaust ist nach dieser wirkungsmächtigen Lesart ein traumatisches Ereignis ge­ wesen, mit Sicherheit für die amerikanischen Juden, in etwas ge­ ringerem Maße für alle Amerikaner. Das frühere Schweigen wäre demnach die Manifestation der Verdrängung gewesen, die Ent­ zündung der Diskussion in den letzten Jahren die »Wiederkehr des Verdrängten«. Trotz seiner Eleganz halte ich dieses Schema nicht für eine überzeugende Erklärung der Entwicklung des Holocaust-BewußtNeins in den Vereinigten Staaten. Seine Anwendbarkeit auf ver­ seil iedene Länder Europas und auf Israel wurde von anderen Au­ toren behandelt. In den Vereinigten Staaten wirkt die Abfolge von IVauma, Verdrängung und Wiederkehr im Falle der Überlebenden des Holocaust oft plausibel. (Weiter unten wird sich zeigen, daß die Überlebenden Ende der vierziger Jahre nicht selten über ihre Erfahrungen sprechen wollten und daran gehindert wurden.) Zwei fellos gab es einige amerikanische Juden - und vielleicht auch Nichtjuden -, für die der Holocaust eine traumatische Erfah­ rung war. Die zugänglichen Quellen deuten jedoch nicht darauf hin, daß die amerikanischen Juden (geschweige denn die ameri­ kanischen Nichtjuden) in nennenswertem Umfang durch den I lolocaust traumatisiert wurden. Sie waren oft schockiert, entsetzt

Einleitung

oder betrübt, aber das ist etwas anderes, jedenfalls nicht hinrei­ chend, um die zwingende Abfolge von Verdrängung und Wieder­ kehr des Verdrängten in Gang zu setzen. Bezeichnenderweise wird schlicht und einfach angenommen, daß der Holocaust trau­ matisch gewesen sein muß. Und wenn man nicht über ihn ge­ sprochen hat, so muß Verdrängung die Ursache gewesen sein. Man kann die Entwicklung des Holocaust-Bewußtseins in den Vereinigten Staaten auch betrachten, ohne solch zweifelhafte Enti­ täten wie das »gesellschaftliche Unbewußte« heraufzubeschwö­ ren. In den 1920er Jahren begann der französische Soziologe Halbwachs mit seiner Untersuchung dessen, was er als einer der ersten mit dem Terminus »kollektives Gedächtnis« bezeichnete. Anstatt das kollektive Gedächtnis als die Art zu betrachten, in der die Vergangenheit der Gegenwart ihren Willen aufzwingt, unter­ suchte Halbwachs, wie die Belange der Gegenwart bestimmen, was wir von der Vergangenheit erinnern und wie wir es tun. (Es ist in grausamer Weise naheliegend, Halbwachs ’ Ansatz auf die Untersuchung der Erinnerung an den Holocaust anzuwenden: Als er im besetzten Frankreich gegen die Verhaftung seines jüdi­ schen Schwiegervaters protestierte, wurde Halbwachs nach Bu­ chenwald verschleppt, wo er starb.)2 Kollektives Gedächtnis im Sinne Halbwachs’ ist nicht nur das historische Wissen, das eine Gruppe teilt. In gewisser Hinsicht ist das kollektive Gedächtnis vielmehr ahistorisch oder gar antihisto­ risch. Etwas historisch zu verstehen, bedeutet, sich seiner Kom­ plexität bewußt zu sein, über eine hinreichende Distanz zu verfü­ gen, es aus mehreren Perspektiven zu sehen, die Mehrdeutigkeit (auch die moralische Mehrdeutigkeit) der Motive und Verhaltens­ weisen der Protagonisten zu akzeptieren. Das kollektive Gedächt­ nis vereinfacht; es sieht die Ereignisse aus einer einzigen, interes­ sierten Perspektive; duldet keine Mehrdeutigkeit; reduziert die Er­ eignisse auf mythische Archetypen. Das historische Bewußtsein konzentriert sich von Natur aus auf die Geschichtlichkeit der Er­ eignisse - daß sie damals und nicht heute stattfanden, daß sie aus Bedingungen erwuchsen, die sich von den heutigen unterschei­ den. Das Gedächtnis dagegen hat kein Gespür für das Verstrei­ chen der Zeit; es negiert die »Vergangenheit« seiner Gegenstände

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und beharrt auf ihrer fortdauernden Gegenwart. Es scheint, daß das kollektive Gedächtnis, zumindest eia bedeutsames kollektives Gedächtnis, eine ewige oder innere Wahrheit über die Gruppe ausdrückt - meist eine tragische. Sobald sich ein Gedächtnis her­ ausgebildet hat, definiert es diese ewige Wahrheit und damit eine ewige Identität für die Mitglieder der Gruppe. Ein zentrales Ele­ ment des kollektiven Gedächtnisses der Serben, die verlorene Schlacht auf dem Amselfeld von 1389, symbolisiert die andauern­ de Intention der Moslems, die Herrschaft über die Serben zu er­ ringen. Die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert haben dem Land die »wesentliche« Identität als »Jesus unter den Nationen« ver­ schafft, der immer wieder durch Fremdherrschaft gekreuzigt wird. Die jährliche Pilgerreise französischer Arbeiter zum Mur des Faderes, wo 1871 die Kommunarden abgeschlachtet wurden, war eine Erinnerung an die ewige Feindschaft zwischen Bourgeoi­ sie und Arbeiterschaft. Wenn man das kollektive Gedächtnis auf diese Weise betrachtet, ist cs einfacher, zwischen ephemeren, relativ folgenlosen Erinne­ rungen und dauerhaften Erinnerungen, die das Bewußtsein for­ men, zu unterscheiden. »Remember the Alamo«, »Remember the Maine« oder »Remember Pearl Harbor« waren über einen gewis­ sen Zeitraum hinweg sehr wirkungsmächtige Slogans, die nach getaner Arbeit im wesentlichen aufgegeben wurden. An runden Geburtstagen wird die Erinnerung noch einmal wach - jüngst et­ wa zur Zweihundertjahrfeier der Amerikanischen Revolution oder zur Fünfhundertjahrfeier von Kolumbus’ Entdeckungsfahrt -, aber der Trubel der Gedenkfeiern zu diesen Anlässen bedeutet nicht, daß wir es mit wirklich bedeutsamen kollektiven Erinnerungen zu hm haben. In der jüdischen Tradition haben einige Erinnerungen eine lange Lebensdauer. Die ritualisierten Erinnerungen an den Exodus aus Ägypten und an die Zerstörung des Tempels symbolisieren den loriwährenden Schutz der Juden durch Gott - und seinen Zorn, wenn sie vom rechten Weg abkommen. Der Selbstmord von Masada fehlte fast 2000 Jahre im jüdischen Gedächtnis, obwohl der Icxl, in dem das Ereignis geschildert wird, leicht zugänglich war. Das lag nicht daran, daß Masada ein »verdrängtes Trauma« war,

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Einleitung

sondern weil sich das traditionelle Judentum nicht auf militäri­ schen Widerstand, sondern auf das Überleben und Studieren kon­ zentrierte. Die Tradition erinnerte an Rabbi Jochanan ben Zakkai und die Errichtung der Akademie von Javne, nicht aber an Eleazar ben Jair und den Massenselbstmord. Die Zionisten des 20. Jahr­ hunderts betrachteten Masada als wichtiger für ihr Selbstverständ­ nis und ihr Selbstbild, und ein neues kollektives Gedächtnis ent­ stand. Erinnerungen, die einmal funktional waren, können dys­ funktional werden. Die Schlußkapitel des Buches Esther erzählen von der auffordernden Erlaubnis der Königin, nicht nur die be­ waffneten Feinde der Juden, sondern auch deren Frauen und Kin­ der abzuschlachten - schließlich insgesamt 75 000 Opfer. Diese »Erinnerungen« verschafften den Juden des europäischen Mittel­ alters dankbare Rachephantasien; in der gegenwärtigen Epoche des Ökumenismus sind diese Kapitel einfach aus der Purimfeier verschwunden; die meisten amerikanischen Juden wissen wahr­ scheinlich nichts von ihrer Existenz. f Wenn wir die Erinnerung an den Holocaust in den Vereinigten I Staaten mit Halbwachs ’ Ansatz untersuchen und die Erinnerung | mit heutigen Interessen verknüpfen, werden wir zur Frage ge1 führt, was diese Interessen waren, wie sie bestimmt wurden und 1 wer sie bestimmt hat. Wir werden uns fragen, wie diese Interes­ sen in einer Epoche die Erinnerung an den Holocaust als unange­ messen, nutzlos oder gar schädlich haben erscheinen lassen und in einer anderen Epoche als angemessen und wünschenswert. Im Zusammenhang mit der Untersuchung des wechselhaften I Schicksals der Erinnerung an den Holocaust wird uns über­ raschen, wie es mit den veränderten Bedingungen und - vor allem unter den amerikanischen Juden - mit veränderten Ent­ scheidungen über das kollektive Selbstverständnis und Selbstbild verwoben ist. Eine Möglichkeit, die entgegengesetzten Herangehensweisen an das kollektive Gedächtnis zu charakterisieren, wäre die Aussa­ ge, Freud behandle das Gedächtnis als aufgezwungen, Halbwachs dagegen als gewählt. Das trifft den Punkt jedoch nur, wenn wir das Wort »gewählt« näher bestimmen. Für die meisten Menschen bedeutet »Wahl« soviel wie freie Entscheidung, aber wir meinen

Einleitung

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die Art von Entscheidung, die durch iie Umstände geformt und eingeschränkt wird. (Zu den Umstäncen, die wir betrachten wer­ den, zählen der Kalte Krieg und der fortdauernde Konflikt im Na­ hen Osten, wechselnde Einstellungengegenüber dem Verschwei­ gen oder Herausstreichen ethnische' Unterschiede, veränderte Haltungen gegenüber Opfern und Strategien gemeinschaftlichen Überlebens.) Oft meint man, mit den Wort »Wahl« werde eine überlegte Entscheidung bezeichnet, zx der man nach der Erwä­ gung aller Für und Wider, nach der Einschätzung von Vor- und Nachteilen, gelangt. Wir werden zwai sehen, daß es einige Bei­ spiele für diese Art von Entscheidungen auch in bezug auf die Er­ innerung an den Holocaust gibt, abei in der Mehrzahl der Fälle werden wir auf intuitive oder stillschweigende Entscheidungen stoßen, die ohne große Überlegung hinsichtlich der Konsequen­ zen getroffen wurden. Des weiteren müssen wir uns immer fra­ gen, über wessen Entscheidungen wir sprechen. In bezug auf un­ sere kollektiven Erinnerungen - wie auf andere Aspekte des Kollektivbewußtseins - sind die meisten von uns ziemlich konformi­ stisch und richten sich nach anderen. Schließlich muß man die [ Institutionalisierung des Gedächtnisses berücksichtigen, die \ Halbwachs für besonders wichtig hielt Eine Akkumulation frühe- \ rer - überlegter und unüberlegter - Entscheidungen hat eine Rei- ; he von Institutionen geschaffen, die der Erinnerung an den Holo- * caust gewidmet sind, sowie eine beträchtliche Anzahl von Profis j hervorgebracht, deren Beruf die Erinnerung an den Holocaust ist. / Zusammen erzeugen sie eine Triebkraft, die ausreicht, dem Holo- j caust auch ohne weitere Entscheidungen eine zentrale Bedeutung ■ zu verschaffen. I Demnach wird die Geschichte der anfänglichen Marginalisierung und der späteren Zentrierung des Holocaust im Leben der USA nur im soeben erläuterten, abgeschwächten Sinne eine Ge­ schichte von Entscheidungen sein. Die amerikanischen Juden ste­ hen im Zentrum der Geschichte, weil Juden die Initiative dabei übernommen haben, in diesem Land die Aufmerksamkeit auf den I lolocaust zu lenken. Allerdings handelt es sich keineswegs um eine ausschließlich jüdische Geschichte. Erstens wurden die ame­ rikanischen Juden wie andere Amerikaner von der Kultur der Ver­

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einigten Staaten geprägt, und selbst in der Konstruktion ihres jü­ dischen Bewußtseins haben sie auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen reagiert, von denen alle Amerika­ ner betroffen waren. Zweitens zog der Holocaust zwar infolge jü­ discher Initiative die Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffent­ lichkeit auf sich, aber wir müssen uns fragen, aufgrund welcher Eigenschaften der amerikanischen Kultur und Gesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts nichtjüdische Amerikaner emp­ fänglich für diese Initiative wurden. Einige der Einflüsse, die be­ stimmt haben, wie und wieviel wir über den Holocaust sprechen, können in den gedruckten Dokumenten verfolgt werden, andere liegen mehr im dunkeln und können nur aus archivierten Quel­ len rekonstruiert werden. Diese Einflüsse haben auf komplexe Weise interagiert. Ich habe versucht, die Geschichte so verständ­ lich wie möglich zu erzählen, aber sie ist weder einfach noch frei von Widersprüchen. Eingangs habe ich erwähnt, daß mich neben der »rein histori­ schen« Frage, von der die letzten Abschnitte handelten, meine Skepsis hinsichtlich der Grundfrage beschäftigt hat - ob die ganze Aufmerksamkeit, die man dem Holocaust zollt, so wünschens­ wert ist, wie man normalerweise behauptet. Tatsächlich muß man zwei verschiedene Bilanzen erstellen. Eine bezieht sich auf die Konsequenzen, die sich für die amerikanischen Juden daraus er­ gaben, daß der Holocaust ins Zentrum ihres Selbstverständnisses und Selbstbilds gerückt wurde; die andere Bilanz betrachtet die Konsequenzen des gesteigerten Holocaust-Bewußtseins für die amerikanische Gesellschaft insgesamt. Die Bedeutung der zunehmenden Fixierung auf den Holocaust für die amerikanischen Juden ist untrennbar mit dem Kontext ver­ knüpft, innerhalb dessen sich die Fixierung entwickelt hat. Ein wichtiger Bestandteil dieses Kontextes war der Niedergang des Ethos der rassischen Gleichberechtigung in den Vereinigten Staa­ ten, das darauf abhob, was Amerikaner gemeinsam haben und sie vereint, und seine Ersetzung durch ein partikularistisches Ethos, das betont, was die Amerikaner voneinander unterscheidet und trennt. Die bedeutenden Vertreter der amerikanischen Juden, die

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früher versucht hatten, zu beweisen, d aß Juden »wie jeder andere, nur noch gleicher« waren, mußten n u n für Juden und Nichtjuden bestimmen, durch welche Besonderheiten sich Juden von anderen Menschen unterscheiden. Wodurch unterscheiden sich jüdische Amerikaner denn von anderen Amerikanern? Worauf kann sich eine spezifisch jüdische Identität in den Vereinigten Staaten stützen? Heutzutage können amerikanische Juden ihr Judentum nicht auf der Basis spezifisch jüdischer Glaubenssätze definieren, w eil die meisten von ihnen kaum einen spezifisch jüdischen Glauben haben. Sie können es ebensowenig durch spezifisch jüdische Kultureigenschaften defi­ nieren, weil die meisten von ihnen auch über diese nicht verfü­ gen. Hin und wieder wird behauptet, die amerikanischen Juden würden durch ihren Zionismus vereint; aber wenn das der Fall sein sollte, so ist er schwach und abstrakt: Die meisten amerikani­ schen Juden waren nie in Israel, haben wenig für dieses Land ge­ tan und wissen noch weniger von ihm. Auf jeden Fall haben sich in den letzten Jahren jeweils die weltlichen oder die gläubigen Ju­ den, die Falken oder die Tauben, über die israelische Politik geär­ gert - eine nicht gerade befriedigende Basis ihrer Einheit. Die amerikanischen Juden haben jedoch das Wissen gemeinsam, daß sie das Schicksal der europäischen Juden geteilt hätten, wenn ihre Eltern oder (was zumeist der Fall ist) ihre Großeltern oder Urgroßeltern nicht ausgewandert wären. Da die amerikanischen Juden immer unterschiedlicher und uneiniger wurden, entwickel­ te sich dieses Wissen zur historischen Begründung des endlos wiederholten, aber empirisch fragwürdigen Slogans: »Wir ge­ hören zusammen.« Wie ich oben angedeutet habe, besteht zwischen kollektiver Identität und kollektivem Gedächtnis eine zirkuläre Beziehung. Wir erklären bestimmte Erinnerungen für zentral, weil sie uns das auszudrücken scheinen, was zentral für unsere kollektive Identität ist. Wenn diese Erinnerungen in den Vordergrund ge­ rückt werden, bestärken sie die entsprechende Form von Identität. Das war der Fall beim Holocaust und den amerikanischen Juden. Der Holocaust hat als geradezu einziger gemeinsamer Nenner der Identität amerikanischer Juden den Bedarf nach einem gemeinsa­

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men Symbol gedeckt. Als Symbol war es gut geeignet, der wach­ senden Sorge um »jüdische Kontinuität« angesichts sinkender Re­ ligiosität, verstärkter Assimilation und einer stark wachsenden Anzahl von Gemischtehen zu begegnen, die zusammen eine de­ mographische Katastrophe herbeizuführen drohten. Der Holo­ caust hat als Symbol des Judentums im ausgehenden 20. Jahr­ hundert gefördert, was deutsche Juden zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts als TrotzJudentum bezeichnet haben, die Weigerung zu verschwinden, nicht aus einem positiven Grund, sondern um Hit­ ler keinen »nachträglichen Sieg« zu verschaffen. Viele jüdische Kommentatoren haben daraufhingewiesen, daß ein um den Holocaust zentriertes Judentum nicht das Überleben sichern könne - es werde abstoßend wirken und sich die Jungen entfremden. Das mag auf lange Sicht eintreten, bisher ist es je­ doch nicht der Fall. In einer wachsenden Zahl von Gemeinden wird das Kind bei der Mitzwah zum »Zwilling« eines jungen Op­ fers des Holocaust erklärt, das die Zeremonie nicht erleben konn­ te, und allen Berichten zufolge gefällt den Kindern das gnV Her­ anwachsende amerikanische Juden, die organisierte Reisen nach Auschwitz und Treblinka unternahmen, haben berichtet, sie seien »nie so stolz« gewesen, ein Jude zu sein, wie bei der Nachempfin­ dung des Holocaust an diesen Orten.4 Jüdische Studenten besu­ chen scharenweise Kurse über den Holocaust und heften sich zu Yom Hashoah, dem Tag zur Erinnerung an den Holocaust, bereit­ willig gelbe Sterne an die Brust. Die erwachsenen Juden ihrerseits strömen zu Veranstaltungen, die mit dem Holocaust zu tun haben und spenden freigebig Millionen für die Errichtung unzähliger Holocaust-Denkmäler. Eine andere, parallele Veränderung hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Die Haltung gegenüber Opfern hat sich von Distanznahme und Verachtung zu begeisterter Zuwendung verschoben. Auf der Ebene des Individuums wurde die kulturelle Ikone des starken, schweigsamen Helden durch die des verletzlichen und redseligen Antihelden ersetzt. Der Stoizismus wurde als Kardinal­ tugend von der Sensibilität abgelöst. Anstatt alles schweigend zu ertragen, legt man alles offen. Schmerz und Wut Ausdruck zu ver­ leihen, soll eine stärkende und therapeutische Wirkung haben.

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Transformationen auf der Ebene des Individuums spiegeln «ich auf der Ebene der Gruppe wider. Der an der Harvard Univer«ity lehrende Historiker Charles Maie: hat die moderne amerika­ nische Politik vielleicht etwas übertrie>en als »Streit um die Wür­ digung von Klagen« beschrieben. »Jede Gruppe erhebt Anspruch auf ihren Anteil an öffentlicher Ehre in d öffentlichen Mitteln, in­ dem sie Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten ins Feld führt. Das öffentliche Leben wird zur Verhandlung einer Kunst­ fehlerklage, in der alle Bürger zugbich Patienten und Ärzte sind .«5 Diese Entwicklung spielt nattrlich mit der neuen Beto­ nung eigener Gruppenidentitäten gegenüber einer »gesamtame­ rikanischen« Identität zusammen. In der Praxis ist die Geltend­ machung der geschichtlichen Opferrdle einer Gruppe - auf der Grundlage von Rasse, Ethnizität, Geszhlecht oder sexueller Ori­ entierung - immer zentral für die Geltendmachung der spezifi­ schen Identität der Gruppe. Die Entstehung einer »Opferkultur« war nicht die Ursache da­ für, daß die amerikanischen Juden ihre Aufmerksamkeit in den letzten Jahrzehnten auf den Holocaust gerichtet haben, aber sie war eine wichtige Bedingung. Wir werden sehen, daß die amerika­ nischen Juden in den vierziger und fünfziger Jahren eher Gründe hatten, die Identität eines Opfers zu meiden. Das wiederum führte zu bewußten Entscheidungen, den Holocaust herunterzuspielen. In den achtziger und neunziger Jahren wollten viele Juden aus ver­ schiedenen Gründen herausstreichen, daß auch sie Angehörige ei­ ner »Gemeinschaft von Opfern« seien. Ihre faktische Lage konnte wenig bieten, um dieser Behauptung Glaubwürdigkeit zu Verlei­ hern. Die amerikanischen Juden waren bei weitem die wohlhabend­ ste, gebildetste, einflußreichste und in jeder Hinsicht erfolgreich­ ste Gruppe innerhalb der amerikanischen Gesellschaft - eine Gnippe, die im Vergleich zu anderen identifizierbaren Minder­ heitsgruppen unter keiner feststellbaren Diskriminierung und kei­ nen auf ihrem Minderheitsstatus beruhenden Nachteilen zu leiden halte. Insofern die jüdische Identität jedoch in den Leiden der eu­ ropäischen Juden verwurzelt werden konnte, ließ sich auf den Sta­ tus als Opfer (mittelbar) Anspruch erheben, einschließlich aller moralischer Privilegien, die mit diesem Status einhergehen.6

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Die Begründung der Gruppenidentität und der Forderung nach Anerkennung der Gruppe durch die Opferrolle hat nicht nur einen Wettstreit hervorgebracht, dessen Teilnehmer darum wett­ eifern, ihre Geschichte erzählen zu dürfen. Im jüdischen Holo­ caustdiskurs wird nicht nur um Anerkennung gestritten, sondern auch um eine Vorrangstellung. Dieser Kampf nimmt verschiedene Formen an. Zu den verbreitetsten und beherrschendsten zählt das wütende Beharren auf der Einzigartigkeit des Holocaust. Aus Gründen, die nichts mit dem Holocaust selbst zutun haben, wohl aber mit »Einzigartigkeit«, ist das Beharren auf der Einzigartigkeit (oder ihre Leugnung) ein intellektuell unfruchtbares Unterfangen. Man braucht nur einen Moment lang nachzudenken, um zu er­ kennen, daß der Begriff der Einzigartigkeit ziemlich leer ist. Jedes historische Ereignis, einschließlich des Holocaust, ähnelt in ver­ schiedener Hinsicht anderen Ereignissen, mit denen es verglichen werden kann, und unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht von ihnen. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede sind ein sinnvoller Diskussionsgegenstand. Nur die Aspekte des Holocaust zu be­ rücksichtigen, die einzigartig waren, und die Aspekte zu ignorie­ ren, die er mit anderen Greueltaten gemeinsam hatte, und ihn auf der Grundlage dieser Manipulation für unvergleichbar zu erklä­ ren, ist hingegen ein intellektueller Taschenspielertrick. Die Be­ hauptung, der Holocaust sei einzigartig - wie die, er sei unfaßbar oder nicht darstellbar -, ist tatsächlich zutiefst beleidigend. Was könnte sie anderes bedeuten als: »Eure Katastrophe ist im Gegen­ satz zu unserer gewöhnlich, faßbar und darstellbar.« Die realistische Rede der Schwarzen von ihrem »Getto« (ein jahrhundertealter Sprachgebrauch) wird als bösartiger Versuch verurteilt, sich »unseren« Holocaust anzueignen. Wenn Ted Tur­ ner Rupert Murdochs autokratisches Verhalten verurteilen will, in­ dem er ihn mit dem deutschen Wort »Führer« bezeichnet, fordert die Anti-Defamation League in einer Presseerklärung von Turner eine Entschuldigung, weil er damit den Holocaust verniedlicht ha­ be.7 Der größte Sieg besteht darin, einem Konkurrenten das Zuge­ ständnis abzuringen, man selbst sei das größere Opfer. Angestell­ te des U. S. Holocaust Memorial Museum kolportieren mit einiger Befriedigung die Geschichte, daß schwarze Jugendliche vom Ho­

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locaust erfahren und darauf mit dem Salz reagiert hätten: »Gott, wir dachten, uns ginge es schlecht.«8 Die Konzentration der amerikanischen Juden auf den Holo­ caust war nicht nur unsere Teilnahmeberechtigung für dieses schmutzige Spiel, sie hatte auch andere Konsequenzen. Sie schloß für viele Juden - heute allerdings in weit geringerem Maße als noch vor ein paar Jahren - die Forderung nach einer unnachgiebi­ gen und rechthaberischen Haltung im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern ein. Je mehr der Ifahostkonflikt innerhalb des Holocaust-Paradigmas betrachtet wurde, desto mehr erhielt die verwickelte Lage die Schwarz-Weiß-Eigenschaften der morali­ schen Klarheit des Holocaust. Gleichzeitig wurde dadurch eine feindselige Haltung gegenüber jeglicher Kritik an Israel begün­ stigt: »Wie kannst du es wagen, uns zu kritisieren, nach allem, was du uns angetan hast (oder zugelassen hast)?« (Ich möchte hier einschieben und später zu zeigen versuchen, daß all die Invokationen des Holocaust trotz gegenteiliger Behauptungen von An­ tisemiten und selbstgerechten jüdischen Publizisten keinen nen­ nenswerten Einfluß auf die Israelpolitik der Vereinigten Staaten hatten. Die Politik hing in erster Linie von realpolitischen Erwä­ gungen ab und nur in zweiter Linie von der Berücksichtigung des politischen Einflusses amerikanischer Juden.) Die Erklärung des Holocaust zum Sinnbild jüdischer Erfah­ rung war, wie ich glaube und weiter unten zu zeigen versuche, eng mit der nach innen und nach rechts gerichteten Tendenz der amerikanischen Juden in den letzten Jahrzehnten verknüpft. Wenn es stimmt, was Cynthia Ozick geschrieben hat, »Die ganze Welt will den Tod der Juden«, und die Welt gegenüber dem Leiden der Juden indifferent war, wie oft behauptet wurde, warum sollten sich die Juden dann mit anderen beschäftigen?^ Auch hierbei ha­ ben wir es mit einem komplexen Phänomen zu tun, in dem Ursa­ che und Wirkung miteinander vermischt sind. Dennoch bin ich der Meinung, daß die zentrale Rolle, die der Holocaust im Denken der amerikanischen Juden erlangt hat, zur Erosion eines umfas­ senderen sozialen Bewußtseins beigetragen hat, das in meiner Ju­ gend das Kennzeichen der amerikanischen Juden war - nach dem I lolocaust, aber vor der Holocaust-Fixierung.

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In gewisser Weise ist die Bewahrung des Gedenkens an den Holocaust in der jüdischen Tradition verankert; zumindest wider­ spräche das Vergessen des Holocaust - was kaum eine Option sein dürfte - der Tradition. Yosef Yerushalmi hat uns ins Gedächt­ nis gerufen, daß die hebräische Bibel das Verb »erinnern« in un­ terschiedlichen grammatischen Formen 169 Mal enthält (hinzu­ kommen noch zahlreiche Aufforderungen, nicht zu vergessen).10 Erinnern sollen sich die Juden allerdings in fast allen Fällen an Gottes Werk; mit der weltlichen Geschichte, insoweit diese Kate­ gorie von der Tradition überhaupt zugelassen wird, wird kurzer Prozeß gemacht.11 Um die Toten zu trauern und ihrer zu geden­ ken, sind selbstverständlich traditionelle Pflichten eines Juden. Aber das Judentum hat übermäßiges oder allzu langes Trauern stets verurteilt. Das Verbrennen des Leibes ist verboten, weil es ihn zu schnell vernichten würde, aber es ist ebenso verboten, ihn einzubalsamieren, weil er dadurch zu lange konserviert würde. Kurz, man soll trauern, aber dann weitermachen: »Wählet das LeI ben.« Am neuen Gedenken der Juden an den Holocaust verblüfft 1 mich unter anderem besonders, wie »unjüdisch« - wie christlich - es ist. Ich denke an das Ritual, ehrfurchtsvoll den vorgezeichne­ ten Holocaustparcours in den großen Museen zu folgen, die nichts so sehr ähneln wie der Via Dolorosa und ihren Stationen der Kreuzigung; die ausgestellten Fetischobjekte ähneln den zahl­ losen Bruchstücken des Kreuzes Christi oder den Schienbeinkno­ chen der Heiligen; die symbolischen Darstellungen des Holocaust - namentlich in der Klimax von Ehe Wiesels N ight- benutzen Bil­ der aus der Kreuzigungsgeschichte. Besonders bezeichnend ist vielleicht die Heiligung und Darstellung des Leidens als Weg zur : Weisheit - der Kult des Überlebenden als säkularisierter Heiliger. j Diese Themen haben einige unbedeutende Vorläufer in der jüdi; sehen Tradition, gleichen aber in höherem Maße wichtigen TheJ men des Christentums.12 Schließlich stellt sich die Frage, wie wir uns gegenüber der gro­ ßen Mehrheit von Amerikanern präsentieren, die keine Juden sind, und wie wir von ihnen gesehen werden wollen. Der »Erst­ wohnsitz« des amerikanischen Judentums - die Repräsentation des Judentums und der jüdischen Erfahrung, die von mehr Ame-

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rikanern als jede andere besucht wird und meist die einzige ist, die sie besuchen - ist das Holocaust-Museum an der Mall in Was­ hington. Zweifellos wird es keine zwäte jüdische Institution an der Mall geben, die ein anderes Bild des Juden präsentiert. Und es wird zweifellos keinen anderen gesetzlch vorgeschriebenen Lehr­ plan über die Juden für die staatlichen Schulen in den Vereinigten Staaten geben, außer dem wucherndei Lehrplan über den Holo­ caust, für den sich jüdische Organisatbnen fanatisch einsetzen einen Lehrplan also, der ein Gegengewicht zum bestehenden bil­ det, durch den für eine große Zahl von nichtjüdischen (und natür­ lich auch jüdischen) Kindern die Gleichung Jude-bedeutet-Opfer festgeschrieben wird. Damit komme ich zu einer traditionellen Frage - die man oft bespöttelt, die manchmal jedoch angemessen ist. Wenn wir durch die zentrale Bedeutung, die wir dem Holocaust verschaffen, die Art und Weise bestimmen, wie wir uns verstehen, und nahelegen, wie andere uns verstehen sollen, frage ich: »Ist das gut für die Juden?« Des weiteren muß die Bilanz für die Nation als Ganzes betrachtet werden. Es gibt zahlreiche Gründe dafür, daß die Beschäftigung mit dem Holocaust seitens der zwei oder drei Prozent der Bevöl­ kerung der Vereinigten Staaten, die jüdisch sind, sich auf die gan­ ze amerikanische Gesellschaft ausbreiten konnte. Ich werde an dieser Stelle nur einen der Gründe nennen, weil er meist mit äu­ ßerster Nervosität vermieden wird. Wir sind nicht nur »das Volk des Buches«, sondern auch das Volk Hollywoods und der Femsehanstalten, des Zeitschriftenartikels und der Zeitungskolumne, des Comics und des akademischen Symposiums. Als sich die intensi­ ve Beschäftigung mit dem Holocaust innerhalb des amerikani­ schen Judentums ausbreitete, war es angesichts der wichtigen Rolle, die Juden in den Eliten der amerikanischen Medienwelt und Meinungsmacher spielen, nicht nur naheliegend, sondern ge­ radezu unvermeidlich, daß sie sich auf die gesamte Kultur aus­ dehnen würde. Worin auch immer ihr Ursprung gelegen haben mag, so lautet die öffentliche Begründung für die »Konfrontation« der Amerika­

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ner mit dem Holocaust, er enthalte wertvolle Lehren, die wir zu unserem Nachteil noch nicht gelernt hätten - und ich zweifle nicht daran, daß man ernsthaft für diese Begründung argumen­ tiert und sie ernsthaft akzeptiert hat. War einmal gesagt worden, das Leben der Juden werde »das Licht der Welt« sein - universale Lehren enthalten -, so soll jetzt der Tod der Juden als »Dunkelheit der Welt« universale Lehren enthalten. Es gibt große Verwirrung und gelegentlich scharfe Auseinandersetzungen darüber, was die­ se Lehren eigentlich sind, aber das war der Überzeugung von ih­ rer Dringlichkeit nicht abträglich. Ganz gleich, an welchem Ende des politischen Spektrums man sich befindet, man kann immer die erwünschten Lehren aus dem Holocaust ziehen; er ist eine Art moralischer und ideologischer Rorschachtest geworden. Die Rechte hat den Holocaust als Argument für antikommuni­ stische Interventionen im Ausland herangezogen: Der Täter im Holocaust sei nicht das nationalsozialistische Deutschland gewe­ sen, sondern ein allgemeiner Totalitarismus, der nach 1945 vom Ostblock verkörpert wurde, mit dem man keine Kompromisse schließen sollte. Auf der philosophischen Ebene haben Konserva­ tive den Holocaust dazu benutzt, die Sündhaftigkeit des Men­ schen zu beweisen. Er hat die Bestätigung einer tragischen Welt­ anschauung geliefert, indem er die Sinnlosigkeit einer auf Verän­ derung - oder ernsthaft auf Verbesserung - abzielenden Politik enthüllte. Für andere Teile der Rechten war der Holocaust die un­ ausweichliche Konsequenz des Zusammenbruchs der Religion und der Werte der Familie. So spielt bekanntlich der »Abtrei­ bungsholocaust« in der amerikanischen Debatte über dieses The­ ma eine wichtige Rolle. Linke haben die Behauptung, die amerikanischen Eliten hätten die europäischen Juden während des Krieges im Stich gelassen, dafür benutzt, die Korruptheit des Establishments zu demonstrie­ ren, einschließlich liberaler Ikonen wie Franklin D. Roosevelt. Für Liberale wurde der Holocaust zum Ort der negativen »Lektionen«, die man aus Einwanderungsbeschränkungen und Homophobie, Atomwaffen und dem Vietnamkrieg lernen mußte. Der Lehrplan über den Holocaust, der an staatlichen Schulen immer mehr zum Pflichtfach wird, verknüpft den Holocaust gro­

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ßenteils mit liberalen Prinzipien - selr zum Ärger von amerika­ nischen Rechten, darunter auch jüdschen Rechten wie Lucy Dawidowicz. Für die politische Mitte - in gewissem Maße für alle Amerika­ ner - ist der Holocaust ein moralischer Orientierungspunkt ge­ worden. Während für die letzte Generation die ethische und ideo­ logische Zersplitterung in den Vereinigten Staaten soweit voran-; schritt, daß die Amerikaner über nichis mehr Einvernehmen er-! zielen konnten, gab es immerhin die Möglichkeit, gemeinsam! den Holocaust zu bedauern - ein schwacher moralischer Kon-; sens, aber vielleicht besser als gar keiner. (Dieser banale Konsens ! ist so breit, daß er in zweideutiger Weise sogar die kleine Gruppe böswilliger oder fehlgeleiteter Dummköpfe umfaßt, die die Wirk­ lichkeit des Holocaust bestreiten. »Wenn er stattgefunden hätte«, sagen sie, »würden wir ihn genauso bedauern wie jeder andere. Aber er hat nicht stattgefunden, also s:ellt sich die Frage nicht.«) Im übrigen wird der Holocaust in den Vereinigten Staaten explizit für die nationale Selbstüberhöhung benutzt: Die »Amerikanisie­ rt! ng« des Holocaust ging mit dem Aufveis des Unterschieds zwi­ schen Alter und Neuer Welt einher sowie mit der Feier des Ameri­ can Way of Life durch den Verweis auf seine Negation. __ Die Vorstellung von »Lehren aus dem Holocaust« erscheint mir aus mehreren Gründen als abwegig, von denen ich hier nur zwei erwähnen möchte. Einer könnte, da ich kein besseres Wort finde, als pädagogisch bezeichnet werden. Wenn man aus der Geschich­ te überhaupt Lehren ziehen kann, so dürfte der Holocaust keine geeignete Quelle sein, nicht wegen seiner angeblichen Einzigar­ tigkeit, sondern wegen seines extremen Charakters. Lehren für den Umgang mit Problemen, die uns im - öffentlichen oder pri­ vaten - Alltag begegnen, werden kaum in diesem außergewöhn­ lichsten aller Ereignisse gefunden. Meiner Ansicht nach lassen sich aus dem Verhalten normaler Amerikaner in normalen Zeiten wichtigere Lehren darüber ziehen, wie leicht wir zu Tätern wer­ den, als aus dem Verhalten der SS in Kriegszeiten. Auf jeden Fall führt die typische »Konfrontation« der Besucher der amerikani­ schen Holocaust-Museen oder in immer umfangreicheren Lehr­ plänen mit dem Holocaust kaum dazu, daß wir uns als potentielle

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j Täter sehen - eher im Gegenteil. In derartigen Begegnungerlist es I ein verpflichtender Glaubenssatz, »sich mit den Opfern zu identiI fizieren« und damit den warmen Glanz der Tugend zu erwerben, 1den eine solche Identifikation zweiter Hand mit sich bringt. Ein besonders krasses, aber eben nicht das einzige Beispiel dafür ist die Überreichung von »Opferpässen« an Museumsbesucher Und ebenfalls als Glaubenssatz wird widerspruchslos akzeptiert, daß der bloße Akt, durch ein Holocaust-Museum zu laufen odereinen Holocaust-Film anzuschauen, eine moralisch therapeutische Funktion habe und die Vermehrung derartiger Begegnungen ei­ nen zu einem besseren Menschen mache. Die Vorstellung, Leh­ ren aus solchen Begegnungen könnten eine Auswirkung auf das persönliche oder politische Alltagsverhalten haben, erscheint mir aus pädagogischen Gründen als äußerst fragwürdig. Wir scheinen dem Prinzip zu folgen, das Thomas de Quincey 1839 verkündet hat: »Wenn einer sich erst aufs Morden einläßt, dann verfällt er auch bald aufs Rauben; Saufen und Sabbatschänden sind die nächsten Laster, und von da ist es nicht mehr weit zu Frechheit und Saumseligkeit.«13 Die Vorstellung von Lehren aus dem Holocaust finde ich dar­ über hinaus aus einem pragmatischen Grund zweifelhaft: Was kommt dabei heraus? Oft wird gesagt, eine der wichtigsten Lehren aus dem Holocaust bestehe darin, daß er uns zwar kein Set von Handlungsanleitungen oder ein Regelwerk für das Verhalten lie­ fert, uns aber gegen Unterdrückung und Grausamkeit sensibili' siert. Den Holocaust zum Maßstab von Unterdrückung und Grau­ samkeit zu erklären, hat jedoch gerade die gegenteilige Wirkung, i indem Verbrechen eines geringeren Ausmaßes trivialisiert weri den. Diese Wirkung ist nicht nur im Prinzip, sondern in der Pra­ xis zu beobachten. Die amerikanische Debatte über den blutigen Konflikt in Bosnien während der neunziger Jahre konzentrierte sich darauf, ob die Ereignisse »wirklich ein Holocaust oder bloß ein Genozid« beziehungsweise »ein echter Genozid oder bloß grausam« waren. Das ist eine wirklich ekelhafte und nicht bloß geschmacklose Redeweise und Entscheidungsfindung, zu der wir jedoch gelangen, wenn wir den Holocaust zum Prüfstein des mo­ ralischen und politischen Diskurses erklären.

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Das Problem reicht über die bosnische Tragödie hinaus, die le­ diglich seine dramatischste Erscheinungsform war. Es hängt mit dem Axiom der Einzigartigkeit des Hobcaust und dem Folgesatz zusammen, es sei illegitim oder gar unmständig, etwas mit dem Holocaust zu vergleichen. Ich habe behauptet, der Begriff der Ein­ zigartigkeit selbst sei leer, aber die Belauptung (oder die Leug­ nung) von Einzigartigkeit - für ideologische und andere Zwecke könne sehr mächtig werden. Unabhängig von ihrem Erfolg dient in Deutschland die Rede von der Einzigartigkeit und Unvergleich­ barkeit des Holocaust dazu, die Deutschen von der Flucht vor der besonders schweren, schmerzhaften u id daher wahrscheinlich besonders sinnvollen Auseinandersetzung mit diesem Teil ihrer Cieschichte abzuhalten. Man rufe sich den Kontext ins Gedächtnis, Innerhalb dessen viele Deutsche - anständige Deutsche - in den letzten Jahren Einwände gegen die sogenannte Relativierung des l lolocaust erhoben haben. Zum Kontext gehörte das Beharren von I lelmut Kohls Christdemokratischer Partei auf dem Einschluß ei­ ner Klausel in das Gesetz gegen die Leugnung des Holocaust, daß eN auch widerrechtlich sei, das Leiden der nach 1945 aus dem Osten ausgewiesenen Deutschen zu leugnen. In diesem deut­ schen Kontext - und der Kontext ist wie immer entscheidend bedeutete die »Relativierung« die Gleichsetzung von Verbrechen 'gen Deutsche mit Verbrechen von Deutschen. Die Deutschen, dir auf der Einzigartigkeit des Holocaust beharrten und seine Re­ lativierung verurteilten, taten das, um dem entgegenzuwirken, was sie mit Recht als einen Schacnzug zur Vermeidung der Aus­ einandersetzung mit einer schmerzlichen nationalen Vergangen­ heit und den Folgen der Auseinandersetzung für die Gegenwart und Zukunft betrachteten.14 Die gleiche Rede von der Einzigartigkeit und Unvergleichbar­ keit des Holocaust in den Vereinigten Staaten erfüllt die entgegen­ gesetzte Funktion: Sie fuhrt zur Flucht vor moralischer und histo-1 rischer Verantwortung. Die wiederholte Versicherung, alles, was j die Vereinigten Staaten den Schwarzen, Indianern, Vietnamesen | und anderen angetan haben, verblasse im Vergleich zum Holo- j i aust, ist wahr - und ausweichend. Und während eine ernsthafte \ und anhaltende Auseinandersetzung mit der Geschichte einiger

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Jahrhunderte der Versklavung und Unterdrückung von Schwar­ zen zu kostspieligen Forderungen an die Amerikaner führen könnte, die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen, kostet die Beschäftigung mit dem Holocaust kaum mehr als ein paar bil­ lige Tränen. Letztlich habe ich den Eindruck, daß die Behauptung, der Holo­ caust sei eine amerikanische Erinnerung - die Amerikaner teilten sie entweder diffus, als Angehörige der westlichen Zivilisation, oder konkret, als mitwissende Zuschauer -, darauf hinwirkt, den Begriff der historischen Verantwortung abzuwerten. Sie führt da­ zu, daß man sich um die Verantwortung drückt, die den Amerika­ nern tatsächlich durch die Auseinandersetzung mit ihrer Vergan­ genheit, Gegenwart und Zukunft auferlegt ist. In dieser Einleitung habe ich den historischen Ansatz und die mo­ ralischen Anliegen skizziert, die den folgenden Kapiteln zugrunde liegen. Ich bin sicher, daß fast alle Leser zumindest einige Schwie­ rigkeiten mit der historischen Darstellung haben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es einen Leser gibt, der all meine Einschät­ zungen teilt. Das - zugleich bescheidene und hochgesteckte - Ziel dieses Buches besteht in der Entfachung einer Diskussion über die Fragen, die es aufwirft: Wie sind wir dort hingekommen, wo wir hinsichtlich der Erinnerung an den Holocaust sind, und wol­ len wir dort sein, wo wir sind?

Teil I Die Kriegsjah

l. Kapitel

»Wir wußten es ganz allgemein«

Wir beginnen am Anfang, mit der Antwort amerikanischer Juden und Nichtjuden auf den Holocaust, während das Morden stattfand. Obwohl wir uns größtenteils damit teschäftigen werden, wie nach 1945 über den Holocaust gesprochen wurde, waren die Kriegsjahre der Ausgangspunkt für die spätere Errichtung und Darstellung, Zentrierung und Marginalisierung sowie die Benutzung der Ge­ schichte von der Vernichtung der europäischen Juden. Gleichzeitig hatte der spätere Diskurs über den Holocaust in den Vereinigten Staaten großenteils mit der Reaktion Amerikas auf den Holocaust während des Krieges zu tun. Die gängige Versi­ on der Geschichte erzählt von der sträflichen, manchmal willentli­ chen Blindheit der amerikanischen Nichtjuden für den Mord an den europäischen Juden, von der Gleichgültigkeit der mit sich selbst beschäftigten amerikanischen Juden gegenüber dem Schicksal ihrer Glaubensgenossen und der »Preisgabe der Juden« durch die Regierung Roosevelt - von der Weigerung, die Gelegen­ heiten zur Rettung zu ergreifen, wodurch sich die Vereinigten Staaten zu einem passiven Komplizen des Verbrechens machten. In den siebziger und achtziger Jahren war der Holocaust eine schockierende, schwerwiegende' und spezifische Sache geworden: qualitativ und quantitativ klar getrennt von anderen Greueltaten der Nationalsozialisten und von früheren Judenverfolgungen, ein­ zigartig in seinem Ausmaß, seiner Symbolik und seiner weltge­ schichtlichen Bedeutung. Diese Sichtweise wird heute sowohl als richtig wie auch als natürlich betrachtet, als »normale menschli­ che Reaktion«. Sie war jedoch nicht die Reaktion der meisten Amerikaner oder auch nur der meisten amerikanischen Juden, während der Holocaust stattfand. Er besaß nicht den zentralen Stellenwert im Bewußtsein, den er von den siebziger Jahren an einnahm, ja für die große Mehrheit der Amerikaner - wiederum

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unter Einschluß vieler Juden - existierte er kaum als Ereignis für sich. Das mörderische Handeln des nationalsozialistischen Re­ gimes, das zwischen fünf und sechs Millionen europäische Juden das Leben kostete, war vollständig real. Aber »der Holocaust«, wie wir es heute nennen, war größtenteils eine retrospektive Kon­ struktion, etwas, das die meisten Zeitgenossen nicht erkennen konnten. Von »dem Holocaust« als spezifischer Größe zu spre­ chen, auf die die Amerikaner in unterschiedlicher Weise reagier­ ten (oder versäumten zu reagieren), bedeutet die Einführung ei­ nes Anachronismus, der dem Verständnis zeitgenössischer Reak­ tionen im Wege steht. Die bloße Zahl der Opfer des Holocaust flößt immer noch Furcht ein: zwischen fünf und sechs Millionen Menschen. Aller­ dings fand der Holocaust - was wir natürlich wissen, oft aber die darin enthaltenen Implikationen nicht bedenken - inmitten eines Weltkriegs statt, der insgesamt zwischen 50 und 60 Millionen Op­ fer forderte. Für manche Leute ist jede derartige Kontextualisierung gleichbedeutend mit einer Trivialisierung des Holocaust, ei­ ne stillschweigende Leugnung der speziellen Umstände, die mit der Vernichtung der europäischen Juden zusammenhingen. Zwei­ fellos kann eine Kontextualisierung für diese Zwecke benutzt wer­ den, etwa wenn Jean-Marie Le Pen den Holocaust als bloße »Ne­ bensache« in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs abtut. Es war jedoch der Fortgang des Krieges insgesamt, der in den frühen vierziger Jahren das Denken der Amerikaner beherrschte. Wenn wir uns das nicht klarmachen, werden wir nie verstehen, wie der Holocaust im großen, ihn umgebenden Blutbad untergehen konnte. Für sich genommen ist die Tatsache, daß es während des Krieges und eine Zeitlang nach seinem Ende kein allgemein ge­ bräuchliches Wort für den Mord an den europäischen Juden gab, nicht sonderlich bedeutsam. Etwas wichtiger ist, daß der Termi­ nus »holocaust« (kleingeschrieben) während des Krieges die Ge­ samtheit der von den Achsenmächten angerichteten Zerstörun­ gen bezeichnete (wenn er einmal benutzt wurde), nicht aber das besondere Schicksal der Juden. Dieser Sprachgebrauch ist sym­ ptomatisch für die in der Kriegszeit übliche Wahrnehmung des­ sen, was wir heute als »der Holocaust« hervorheben.

»Wir wußten es ganz allgemein«

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Die marginale Rolle des Holocaus: im Bewußtsein der Ameri­ kaner während des Krieges hat viele verschiedene Dimensionen: was man wußte und was man glainte; wie man das, was man wußte oder glaubte, einordnete; wie n an eine angemessene Reak­ tion ersann. Diese Fragen lassen sid im Prinzip trennen; in der Praxis griffen sie unmittelbar ineinaider. In diesem Kapitel wer­ den wir uns mit den Wahrnehmungen und Reaktionen des ameri­ kanischen Volkes insgesamt beschäftigen, im 2. Kapitel mit denen der amerikanischen Juden und im 3. Kapitel mit denen der ameri­ kanischen Regierung. Obgleich sich keiner das Endresultat vorstellen konnte, war allen Amerikanern - Juden wie Nichtjuder - vom Beginn des national­ sozialistischen Regimes im Jahre 1935 an sein Antisemitismus be­ wußt, wenn nicht sogar schon früher Die nationalsozialistischen Aktionen gegen die Juden, von den anfänglichen diskriminieren­ den Maßnahmen über das Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935 bis zum Novemberpogrom 1938, erfuhren eine breite Be­ richterstattung in der amerikanischen Presse und wurden mehr­ fach auf allen Ebenen der amerikanischen Gesellschaft verurteilt.1 Niemand zweifelte daran, daß die Juden auf der Liste faktischer und potentieller Opfer des Nationalsozialismus oben standen, aber es war eine lange Liste, und die Juden nahmen nicht unbe­ dingt den ersten Rang ein. Trotz der Versuche der Nationalsoziali­ sten, die Geschehnisse in den Konzentrationslagern während der dreißiger Jahre geheimzuhalten, waren ihre Greueltaten im We­ sten bekannt und bildeten das flauptsymbol für die nationalsozia­ listische Brutalität. Bis Ende 1938 zählten jedoch nur wenige Ju­ den als Juden zu den in den Lagern Inhaftierten, Gefolterten und Ermordeten. Bei den Opfern handelte es sich zum allergrößten Teil um Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter und andere politische Gegner des Hitlerregimes. Erst vier Jahre später wurde das besondere Schicksal, das Hitler den Juden Europas zugedacht hatte, im Westen bekannt. Dieser Punkt sollte hervorgehoben werden: Von Anfang 1933 bis Ende 1942 - über drei Viertel der zwölfjährigen Dauer von Hit­ lers Tausendjährigem Reich - wurden die Juden nicht ohne

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Grund als eine unter mehreren Opfergruppen des nationalsoziali­ stischen Regimes betrachtet. Das war die nahezu unstrittige Auf­ fassung der amerikanischen Nichtjuden sowie die Sichtweise vie­ ler amerikanischer Juden. Als die Nachrichten über den Massen­ mord an den Juden inmitten des Krieges durchsickerten, ordneten ihn diejenigen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten bereits zehn Jahre lang verfolgt hatten, natürlich in bestehende Deu­ tungsmuster ein. Erst in der Folge der Reichskristallnacht wurde eine größere Anzahl von Juden in die Konzentrationslager gesperrt, zumeist vorübergehend, weil die deutsche Politik zum Ziel hatte, die Juden zur Auswanderung zu bewegen. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Opfer unter den deutschen Juden um ein Vielfaches ge­ ringer als die Zahl der Juden, die Mörderbanden antisowjetischer Kräfte in der Ukraine 20 Jahre zuvor zum Opfer gefallen waren. Zwar reagierten die amerikanischen Juden mit größerem Ent­ setzen und Grauen auf den Antisemitismus der Nationalsoziali­ sten als die nichtjüdischen Amerikaner, aber ihre Reaktion war mit einem erschöpften Fatalismus verbunden: Solche Perioden hatte es seit Jahrhunderten immer wieder gegeben; sie würden vorübergehen; in der Zwischenzeit würde man tun, was man konnte, und auf bessere Tage warten. Im Westen stieg die Aufmerksamkeit, die dem Schicksal der Ju­ den gewidmet wurde, nach dem Ausbruch des Krieges nicht, sie sank vielmehr. Der Beginn der Kriegshandlungen - mitsamt dra­ matischen Depeschen von der Front - verdrängte die Judenverfol­ gung von den Titelseiten und aus dem öffentlichen Bewußtsein. Die Reichskristallnacht, in der Dutzende von Juden ermordet wur­ den, war über eine Woche lang Gegenstand der Titelseite der New York Times; während des Krieges, als die Zahl der ermordeten Ju­ den über Tausende in die Millionen anstieg, wurde dem Thema nie wieder dieses Maß von Aufmerksamkeit gezollt.2 Von Herbst 1939 bis Herbst 1941 fesselte das militärische Ge­ schehen die Aufmerksamkeit: der Seekrieg, der Fall Frankreichs, die Schlacht um England, die deutsche Invasion der Sowjetunion. Während sich die Amerikaner mit dem Gedanken vertraut mach­ ten, daß die unumschränkte Herrschaft der Nationalsozialisten

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über den gesamten europäischen Kontinent unmittelbar bevor­ stand, ist es kaum verwunderlich, daß außer einigen Juden sich kaum jemand damit beschäftigte, was unter der nationalsozialisti­ schen Herrschaft mit den Juden geschah. Niemand zweifelte am außerordentlichen Leid, das mit der Cettoisierung der polnischen und der Deportation der deutschen u id österreichischen Juden in die polnischen Gettos verbunden war Darüber hinaus war wenig mit Gewißheit bekannt, und die fragmentarischen Berichte, die den Westen erreichten, waren oft widersprüchlich. So schätzte eine Presseagentur im Dezember 1939, es >ei eine Viertelmillion Juden umgebracht worden; zwei Wochen später berichtete dieselbe Agen­ tur, die Zahl der Opfer betrage nur e.n Zehntel dessen.3 Ähnlich stark voneinander differierende Schätzungen wurden im Krieg im­ mer wieder vorgebracht und führten zveifellos dazu, daß viele sich eines Tatsachenurteils enthielten und Übertreibungen vermuteten. Im März 1943 schrieb The Nation, wöchentlich würden 7000 Ju­ den umgebracht, während The New F.epublic die gleiche Zahl für eine vorsichtige Schätzung der täglichen Opfer benutzte.4 In den Jahren 1940, 1941 und 1942 häuften sich die Berichte über Greueltaten gegen die Juden. Sie waren jedoch ebenso wie die zitierten Zahlen oft widersprüchlich. Der Natur der Situation gemäß gab es keine Augenzeugenberichte westlicher Journali­ sten. Die Berichte kamen vielmehr von geflohenen Juden, Unter­ grundquellen, anonymen deutschen Informanten und der offen­ bar unglaubwürdigsten Quelle von allen, der Sowjetregierung. Wenn die Sowjets, wie viele vermuteten, hinsichtlich des Massa­ kers von Katyn gelogen hatten, warum sollte man ihren Berichten über nationalsozialistische Greueltaten gegen sowjetische Juden nicht mit einer gesunden Skepsis begegnen? Nach der Rückerobe­ rung Kiews durch die Sowjets hob der Korrespondent der New York Times, der die Rote Armee begleitete, gegenüber der Be­ hauptung sowjetischer Beamter, in Babi Jar seien Zehntausende von Juden ermordet worden, hervor: »kein Zeuge der Erschießun­ gen ... hat mit den Korrespondenten gesprochen«; »es ist unmög­ lich zu beurteilen, ob die uns erzählte Geschichte wahr oder falsch ist«; »in der Schlucht gibt es kaum Beweise, die die Geschichte be­ stätigen oder widerlegen könnten«.3

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Der wichtigste Bericht über den Holocaust, der in den Westen gelangte, kam von einem damals anonymen deutschen Geschäfts­ mann. Er wurde Mitte 1942 von Gerhard Riegner weitergeleitet, dem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses in der Schweiz. Rieg­ ner äußerte jedoch gleichzeitig Vorbehalte gegenüber der Wahr­ heit des Berichts. Obgleich die groben Umrisse des Massen­ mords, von dem Riegner berichtete, nur allzu wahr waren, be­ hauptete sein Informant überdies, unmittelbare Kenntnis davon zu haben, daß die Leiber von Juden zu Seife verarbeitet würden ein gräßliches Symbol für die Grausamkeit der Nationalsoziali­ sten, das heutzutage von Historikern des Holocaust als haltlos be­ trachtet wird. Im Herbst 1943, über ein Jahr nach der Weiterlei­ tung von Riegners Informationen, kam ein internes Memoran­ dum des amerikanischen Außenministeriums zum Schluß, die Berichte seien »im wesentlichen richtig«. Es war allerdings kaum etwas an der begleitenden Bemerkung auszusetzen, die Berichte von 1942 seien »teilweise verwirrt und widersprüchlich« und ent­ hielten »Geschichten, die offensichtlich von den Horrormärchen des letzten Krieges übriggeblieben sind«.6 Ausschmückungen wie die Seifengeschichte leisteten Zweifeln Vorschub, die unter Juden und Nichtjuden verbreitet waren - eine verständliche Haltung. Wer wollte denn glauben, daß solche Din­ ge wahr waren? Wer würde nicht glauben, wenn furchtbare Dinge geschahen, ihr Ausmaß werde übertrieben und vieles von dem, was geschrieben wurde, sei Kriegspropaganda, von der ein kluger Leser nur die Hälfte glauben sollte? Ein britischer Diplomat gab seiner Skepsis in bezug auf die sowjetische Geschichte von Babi Jar Ausdruck, indem er bemerkte, »wir selbst haben zu verschie­ denen Zwecken Gerüchte über Greuel- und Schreckenstaten aus­ gestreut, und ich zweifle nicht daran, daß dieses Spiel weit ver­ breitet ist«.7 Letztlich kam man sowohl im amerikanischen Office of War Information wie auch im britischen Ministry of Informa­ tion zum Schluß, daß die Informationen über den Holocaust bestätigt zu werden schienen, aber da man sie mit höchster Wahrscheinlichkeit für übertrieben halten würde, könnten die Regierungsorgane an Glaubwürdigkeit verlieren, wenn sie sie verbreiteten.8

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Die amerikanischen Zeitungen scirieben zu jener Zeit relativ wenig über den Holocaust, weil es weiig harte Fakten darüber gab - nur Berichte aus zweiter oder drtter Hand von fragwürdiger Echtheit. Nachrichten sind ereignis-, nicht prozeßorientiert: Bom­ benangriffe, Invasionen und Seeschlaihten sind Material für Nach­ richten, nicht aber verspätete Berich e vom Hörensagen darüber, daß die Räder der Mordmaschine sich weiterdrehen. Für die älte­ ren Redakteure war die Erfahrung, irr Ersten Weltkrieg durch Pro­ paganda getäuscht worden zu sein, lichts, worüber sie gerne in den Geschichtsbüchern lasen; sie haten sich zum Narren halten lassen, indem sie leichtgläubig erfundene Geschichten über Greu­ eltaten geschluckt hatten, und das sollte nicht wieder passieren. Ein weiterer Grund für die geringe Presseberichterstattung über den fortgesetzten Mord an den europäischen Juden bestand vielleicht darin, daß er in gewisser Weise nicht interessant schien. Das ist kein dekadenter Ästhetizismus, sondern liegt in der Natur des »Interessanten«: etwas, das unseren Erwartungen wider­ spricht. Unser Interesse ist geweckt wenn der Fernsehprediger mit einer anrüchigen Frau erwischt wird oder wenn der Gangster fromm seiner Religion huldigt: Sünce, wo wir Tugend erwarten, Tugend, wo wir Sünde erwarten; das, was unsere vorgefaßten Mei­ nungen zerstört. Für eine Generation, die kein Zeuge der offenbar grenzenlosen Verderbtheit des nationalsozialistischen Regimes war, mag der Holocaust lehren, wozu die Menschheit fähig ist. Aber in den vierziger Jahren hielten es die Amerikaner für selbst­ verständlich, daß der Nationalsozialismus die Verkörperung des absoluten Bösen war, auch wenn sie das volle Ausmaß seiner Ver­ brechen nicht erkannten. Die Wiederholung von Beispielen war dementsprechend nicht »interessant«. Für einige glühende Anti­ kommunisten, darunter zahlreiche jüdische Intellektuelle, die für den Partisan Review und The New Leader schrieben, war die Nie­ derträchtigkeit der Sowjets, die im Zuge der kriegsbedingten rus­ sisch-amerikanischen Annäherung in der Presse heruntergespielt wurde, viel interessanter und aufklärungsbedürftiger. Im Krieg war nur wenigen Amerikanern das Ausmaß der Kata­ strophe der europäischen Juden bewußt. Ende 1944 glaubten Dreiviertel der Amerikaner, daß die Deutschen »viele Menschen

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in Konzentrationslagern ermordet« hatten, aber diejenigen, die ei­ ne Schätzung wagten, waren der Meinung, daß ioo ooo oder we­ niger umgebracht worden seien. Im Mai 1945, nach dem Ende des Krieges in Europa, schätzten die meisten Leute, etwa eine Million (Juden und Nichtjuden) seien in den Konzentrationslagern ermor­ det worden.9 Es dürfte kaum überraschen, daß der Mann auf der Straße über den Holocaust, wie über vieles andere, schlecht infor­ miert war. Aber auch die Kenntnis der hochgestellten und im all­ gemeinen gut informierten Personen war in vielen Fällen mangel­ haft: Erst am Ende des Krieges begann die Unwissenheit sich auf­ zulösen. William Casey, später Direktor der Central Intelligence Agency, war in Europa Chef des Geheimdienstes für das Office of Strategie Services (OSS), Vorläufer der CIA. Er berichtete: Das niederschmetterndste Erlebnis des Krieges war für die mei­ sten von uns der erste Besuch eines Konzentrationslagers ... Wir wußten ganz allgemein, daß Juden verfolgt wurden, daß sie zu­ sammengetrieben wurden ... und daß Brutalität und Mord in die­ sen Lagern stattfanden. Aber kaum einer, wenn überhaupt je­ mand, erfaßte das entsetzliche Ausmaß davon. Es war nicht hin­ reichend real, um sich von der allgemeinen Brutalität und Schlächterei abzuheben, welche der Krieg ist.10

William L. Shirer, der den Bestseller Berliner Tagebuch geschrieben hat und während des Krieges Europakorrespondent für CBS war, be­ richtete, er habe Ende 1945 »mit Gewißheit« etwas über den Holo­ caust erfahren; die Neuigkeit habe ihn »wie der Blitz« getroffen.11 Wieviel Amerikaner vom Holocaust wußten, während er statt­ fand, ist ebenso eine semantische wie eine quantitative Frage. Sie erfordert die Unterscheidung verschiedener Formen von Kennt­ nis, Bewußtsein, Glauben und Aufmerksamkeit. Viele neigten da­ zu, ihre Augen vor Dingen zu verschließen, deren Kenntnisnah­ me zu schmerzhaft gewesen wäre. Die Zeitschrift Life druckte 1945 den Brief einer besorgten Leserin ab, in dem es hieß: Warum haben Sie nur dieses Bild drucken müssen? Der Greuel ist wirklich und kann nie aus dem Denken des amerikanischen

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Volkes gelöscht werden, aber warurrdcann man uns nicht ein biß­ chen davon ersparen? Die Geschichten sind schlimm genug, aber ich glaube, das Bild sollte für dokumentarische Zwecke zurückge­ legt und nicht der Öffentlichkeit gezeigt werden.12

Das Bild zeigte nicht etwa Leiber vor Juden, die in einem Konzen­ trationslager wie Klafterholz aufgeschichtet waren, sondern einen gefangenen amerikanischen Flieger der von einem japanischen Offizier geköpft wird. (Da wir seit einigen Jahren mit Bildern der Gewalt überschwemmt werden - dai Fernsehen schwemmt Ozea­ ne von Blut in den lebendigsten Farben in unsere Wohnzimmer -, vergessen wir leicht, wieviel empfindsamer man in den vierziger Jahren für solche Bilder war.) Im Krieg stehen die Belange von Zi­ vilisten - insbesondere von Zivilisten, die nicht Bürger des eige­ nen Landes sind - nicht auf der Tagesordnung. Krieg handelt vom Toten des Feindes, und im Zweiten Veitkrieg gehörte dazu die Er­ mordung einer noch nie dagewesenen Zahl feindlicher Zivilisten. Der Krieg soll das Herz nicht erweichen, sondern härten. In den Worten eines hochdekorierten Veteranen der amerikanischen 8. Luftflotte: Du wirfst eine Ladung Bomben ab, und wenn du mit einem Min­ destmaß an Vorstellungskraft verflucht bist, erscheint dir wenig­ stens ganz kurz das furchtbare Bild eines Kindes, das im Bett liegt, während eine Tonne Gebälk auf es herabstürzt; oder eines dreijährigen Mädchens, das klagend »Mutter ... Mutter ...« ruft, weil sie verbrannt wurde. Dann mußt du dich von diesem Bild abwenden, wenn du nicht verrückt werden willst. Auch, wenn du die Arbeit fortsetzen willst, die deine Nation von dir erwartet.13

Oft wurde behauptet, man habe, als die ganze Geschichte des sich vollziehenden Holocaust von 1942 an den Westen erreichte, ihr nicht geglaubt, weil das bloße Ausmaß des nationalsozialistischen Plans zum Massenmord sie buchstäblich unglaubwürdig machte und sie jenseits des Vorstellbaren ansiedelte. Die Behauptung hat sicher etwas für sich, aber mindestens ebensooft haben die allmäh­ lich durchsickemden und allmählich schlimmer werdenden Nach­

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richten aus Europa eine Art Schockimmunisierung bewirkt, einen Punkt, an dem man aufhörte, den Nachrichten Glauben zu schen­ ken. Berichte über die Judenverfolgung sprachen zwischen Herbst 1939 und Sommer 1941 nicht selten von »Ausrottung« und »Ver­ nichtung«. Das war keine Vorahnung, sondern Übertreibung, und besonnene Beobachter haben sie als solche eingeschätzt. In den folgenden Jahren, als diese Ausdrücke genau zutrafen, waren sie durch die voreilige Verwendung in gewissem Maße entwertet. Wichtiger als »Wissen« im engeren Sinne ist augenscheinlich, wie das Wissen eingeordnet wird. Wir haben bereits gesehen, daß die Vorkriegserfahrung - sogar die Erfahrung bis 1942 - die Juden nicht als besondere Opfer des Nationalsozialismus erfaßte. Und bis zum Frühjahr 1942 hatten die Deutschen mehr sowjetische Kriegs­ gefangene als Juden ermordet.14 Das gegebene Deutungsmuster behielten die meisten Amerikaner bis zum Ende des Krieges bei. Es gibt jedoch weitere Gründe, warum das barbarische und syste­ matische Programm der Ermordung der europäischen Juden im unentwegten Blutvergießen des Krieges unterzugehen tendierte. Für die meisten Amerikaner war der Krieg im Pazifischen Oze­ an weit bedeutsamer als der in Europa. Als der spätere Schriftstel­ ler Arthur Miller täglich 14 Stunden auf der Marinewerft in Brook­ lyn arbeitete, bemerkte er »unter den Männern, mit denen ich ar­ beitete, das nahezu völlige Fehlen ... eines Verständnisses davon, was der Nationalsozialismus bedeutete - wir kämpften im wesent­ lichen gegen Deutschland, weil es mit den Japanern verbündet war, die uns in Pearl Harbor angegriffen hatten«.^ Vom Beginn bis zum Ende des Krieges waren amerikanische Soldaten und See­ leute in Kampfhandlungen gegen die Japaner verwickelt - an­ fangs beim Rückzug, dann beim Vormarsch über die Pazifikin­ seln. Erst im letzten Kriegsjahr, von der Landung in der Norman­ die an, widmeten die Amerikaner dem europäischen Schauplatz die gleiche Aufmerksamkeit. In populären Darstellungen des Krieges, vor allem in den Filmen, waren die Japaner der Haupt­ feind der USA. Für die »Greueltaten der Achsenmächte« standen Bilder amerikanischer Opfer des Todesmarsches von Bataan nicht die europäischer, jüdischer oder nichtjüdischer, Opfer der Nationalsozialisten.

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Wenn man während des Krieges lie Aufmerksamkeit auf die Bar­ barei des Nationalsozialismus richtte, so gab es viele Gründe, das Leid der Juden nicht in den Vordegrund zu stellen. Einer war die bloße Unwissenheit - die mangende Kenntnis vom besonderen Schicksal der Juden in Hitlers Euroja b is zum Ende des Jahres 1942. Das nationalsozialistische Konzentationslager war das bekannteste Symbol für das feindliche Regime, tnd als typischer Insasse galt ein Mitglied der politischen Oppositioi oder des Widerstands. Das lag wohl zum Teil darin begründet, daß das natürliche Deutungsmuster für den Krieg von aktiv kämpfendm Parteien gebildet wurde: Das anerkannte Opfer des Nationalsozälismus war das heroische und prinzipiengeleitete Mitglied der Opjosition. Die von den Nationalso­ zialisten getöteten Juden erweckten dagegen weniger Begeisterung, da sie als passive Opfer betrachtet werden, obwohl man sie gelegent­ lich als Gegner des Nationalsozialismus porträtierte, wenn es ins Bild paßte. So erklärte ein Redakteur der Detroit Free Press, die Ge­ fangenen der Nationalsozialisten, deren Befreiung er erlebt habe, seien in den Lagern gewesen, weil sie sich »weigerten, die politische Philosophie der nationalsozialistischen Partei zu übernehmen ... Zu­ erst Juden und antinationalsozialistische Deutsche, dann andere tap­ fere Seelen, die sich nicht anpassen wollten.«16 In der Hollywoodversion der Lager, die vielleicht mehr Ameri­ kaner erreicht hat als jede andere Version, war der Dissident oder Resistant das exemplarische Opfer. Einer der wenigen Hollywood­ filme der Kriegszeit, der die jüdischen Opfer und den Widerstand zeigte, war None Shall Escape, der damit endet, daß ein Rabbi sein Volk ermahnt, den Nationalsozialisten Widerstand zu leisten - was es tut, »aufrecht sterbend« und dabei ein paar deutsche Sol­ daten mit sich nehmend. Die Rede des Rabbis enthielt den Satz, die Juden sollten ihren Platz »neben allen anderen unterdrückten Völkern« einnehmen, und der Aufstand endete auf einem Bahn­ steig an einem kreuzförmigen Schild, zu dessen Füßen der Rabbi und sein Volk starben.17 Neben den unbewußten Gründen für die Abwertung der beson­ deren Rolle der Juden unter den Opfern der Nationalsozialisten gab es auch berechnete. Im Falle Deutschlands gab es - im Ge­ gensatz zu Japan - keinen Angriff auf Amerikaner, der gerächt

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werden mußte, kein »Remember Pearl Harbor«. Die Aufgabe der amerikanischen Kriegspropaganda bestand darin, Nazideutsch­ land als Todfeind »aller freien Menschen« darzustellen. Daß die Nationalsozialisten Feinde der Juden waren, war bekannt; es hatte keinen rhetorischen Nutzen, diese Tatsache zu unterstreichen. Die Herausforderung war der Beleg, daß sie der Feind aller waren, die Vergrößerung des Spektrums nationalsozialistischer Opfer, nicht die Verkleinerung. Um der Herausforderung zu begegnen, widerstand das Office of War Information (OWI) jeder Versu­ chung, die jüdischen Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Leo Ro­ sten, Chef der Abteilung »Nature of the Enemy« des OWI und be­ liebter jüdischer Schriftsteller, antwortete auf den Vorschlag, die Greueltaten gegen Juden sollten besonders hervorgehoben wer­ den, »erfahrungsgemäß ist die Wirkung auf den Durchschnitts­ amerikaner viel stärker, wenn die Frage nicht ausschließlich jü­ disch ist«.18 Im November 1944 entschied sich die Militärzeit­ schrift Yank gegen die Veröffentlichung eines Artikels über natio­ nalsozialistische Greueltaten gegen Juden, weil der Autor »wegen des latenten Antisemitismus im Heer nach Möglichkeit etwas mit einer weniger semitischen Tendenz« schreiben sollte.19 Es gab einen weiteren Grund, Hitlers »Krieg gegen die Juden« nicht zu sehr in den Vordergrund zu stellen: um der Behauptung vorzubeugen, der Kampf der Vereinigten Staaten gegen Deutsch­ land sei ein Krieg für die Juden.20 Daß die amerikanischen Juden das Land im Namen ihrer europäischen Glaubensgenossen in den Krieg verwickeln wollten, war ein wiederkehrendes Motiv im isola­ tionistischen Diskurs der Vorkriegszeit. Das America First Bulle­ tin sprach von »zahlreichen Gruppen, die sich für den Eintritt der USA in den Krieg einsetzen - ausländische und rassische Grup­ pen, die besondere und gerechtfertigte Klagen gegen Hitler ha­ ben«. Diese Auffassung wurde auch von Charles Lindbergh in ei­ ner berüchtigten Rede vertreten.21 Stellungnahmen dieser Art ver­ schwanden nach Pearl Harbor aus der Öffentlichkeit, lebten aller­ dings untergründig unbeeinträchtigt fort. 1943 verkündete der frühere Botschafter William Bullitt, »das Schwergewicht, das die Regierung Roosevelt dem Krieg in Europa gegenüber dem Krieg in Asien verleiht, sei das Ergebnis jüdischen Einflusses«.22

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Der Vorwurf, die Juden seien Kriegtreiber, w a r oft gegen Holly­ wood gerichtet. Kurz vor Pearl Habor führte der Senator für North Dakota, Gerald Nye, Anhörurgen über das Thema durch, zu denen er Menschen mit »jüdischklingenden« Namen bestell­ te.23 Die Anhörungen wurden nach Kriegsausbruch eingestellt, aber Hollywood blieb dem Thema gWaren wir die Hüter unserer Brüder?«) - und liefert die erwarturgsgemäße Antwort.1 Ein gro­ ßes Gewicht bei der Bewertung ha: die Stimme der Überleben­ den. So schreibt Elie Wiesel: Während Mordechai Anielewicz und seine Kameraden allein, so allein, in der Hölle des belagerten Ghettos kämpften ..., lud eine große New Yorker Synagoge ihre Mitglieder zu einem Galadiner ein, dessen Star ein wegen seiner umwerfenden Komik berühm­ ter Schauspieler war ... [D]ie Todesfabriken von Treblinka, Belcec, Maidanek und Auschwitz liefen auf Hochtouren, und gleichzeitig blühte auf der anderen Seite das gesellschaftliche und intellektu­ elle jüdische Leben. Die jüdischen Führer trafen einander, hoben hilflos die Arme, vergossen eine fromme Träne und setzten die Routine fort: Re­ den, Reisen, Streitigkeiten, Bankette, Toasts, Ehrungen. ... wenn unsere einflußreichen Brüder mehr Stärke, mehr Mitgefühl, mehr Initiative, mehr Eifer, mehr Wagemut an den Tag gelegt hätten ... wenn eine Million Juden vor dem Weißen Haus demonstriert hätte ... wenn angesehene Persönlichkeiten in den Hungerstreik getreten wären ... vielleicht hätte der Feind ge­ zögert.2

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Ein anderer Text schließt mit der Bemerkung: »Vermutlich konnte die Endlösung von den amerikanischen Juden nicht verhindert werden, aber sie hätte ihnen unerträglich sein müssen. Und das war sie nicht.«3 Dieser Blick auf das Thema führt zu zwei getrennten, aber mit­ einander zusammenhängenden, brisanten Fragen. Erstens, haben die amerikanischen Juden eine unnatürliche Distanz oder Gleich­ gültigkeit gegenüber der Katastrophe an den Tag gelegt, von der die europäischen Juden bedroht waren? Zweitens, haben es die amerikanischen Juden auf der Ebene des Handelns aus Furcht, Verzagtheit oder Egozentrik versäumt, energisch potentiell erfolg­ reiche Rettungsstrategien zu fordern? Zur Beantwortung dieser Frage ist die Betrachtung der Situation der amerikanischen Juden unumgänglich. »Die amerikanische Ju­ denschaft« (»American Jewry«) als eine Einheit anzusehen, führt von Anfang an in die Irre. Noch irreführender ist es, in bezug auf jene Jahre von der »amerikanischen Judengemeinde« zu sprechen, wie viele es tun. Der Gebrauch des Wortes »Gemeinde« hat sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, aber es ist ein Kunstwort das für eine Hoffnung oder eine Ermahnung steht, nicht aber für eine Beschreibung. Gegen Ende der 1960er Jahre konnte man sa­ gen, daß die überwältigende Mehrheit der amerikanischen Juden durch ihre Unterstützung Israels vereint war. Dadurch ist zwar kei­ ne »Gemeinde«, aber zumindest eine zerbrechliche Einheit ent­ standen. In den frühen vierziger Jahren gab es keine gemeinsamen Überzeugungen, die alle amerikanischen Juden teilten. Im übrigen waren die amerikanischen Juden damals sozial weit differenzierter als später. Die Trennlinien der Alten Welt waren herübergerettet worden: Juden deutscher Herkunft waren von den Ostjuden ge­ trennt, und innerhalb letzterer wurden, wenn auch nicht ganz so streng, litauische und galizische Juden voneinander unterschieden. Für die orthodoxen Juden, die sich ihrerseits untereinander stritten, waren die Reformjuden kaum besser als Abtrünnige; für die Re­ formjuden waren die orthodoxen Juden Relikte aus einer abergläu­ bischen Vergangenheit, die sie selbst überwunden hatten. Die säku­ larisierten Juden, zu denen die meisten jüdischen Intellektuellen

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zählten, wurden von allen Seiten ge;eißelt. In N ew York hatten die Uptown lebenden republikanische] Bankiers vom American Jewish Committee wenig mit den linkai Gewerkschaftern von der Lo­ wer East Side gemeinsam. Innerhalb der Arbeiterklasse gab es kei­ ne Sympathie - oder Solidarität - zvischen Sozialisten, Kommuni­ sten und Zionisten. In anderen Einvanderergruppen hatten ethni­ sche und Klassenkämpfe oft daselbe Ziel und eine stärkere Solidarität innerhalb der Gemeinschaft erzeugt - beispielsweise kämpften katholische Arbeiter gegei protestantische Arbeitgeber. Hingegen heuerten in der Textilindistrie jüdische Bosse jüdische Gangster an, um jüdische Arbeite' zu terrorisieren (manchmal auch umgekehrt). Das Bestehen schwacher Solidaritätsbande über diese Trennlinien hinweg soll damii nicht geleugnet werden, aber in der Erfahrung der amerikanische! Juden gab es wenig, das die Zusammengehörigkeit stärkte, und riel, das sie schwächte. Noch mehr galt das für die Bancb, die die amerikanischen mit den europäischen Juden verknüpften (oder auch nicht verknüpf­ ten) - also für das Ausmaß, in dem weltweite Verbindungen eines »Volkstums« eine empfundene Realität und die Grundlage für wirksame Forderungen nach einer internationalen jüdischen Soli­ darität waren. Solche Bande werden geschaffen - sowie gelöst und erneuert -, nicht vorgefunden, was durch den üblichen Sprachge­ brauch von einem »Erkennen« oder »Anerkennen« der Bande verschleiert wird. Nennt man sie geschaffen, heißt das nicht, sie seien weniger real, als hätte man sie vorgefunden. Die Bill of Rights, die geschaffen wurde, ist nicht weniger real als der Grand Canyon, der vorgefunden wurde. Wenn man das Volkstum emp­ findet und entsprechend handelt, ist es real, andernfalls ist es nicht real. Der Sinn für ein jüdisches Volkstum entstand und ge­ dieh in Reaktion auf historische Umstände: ein geteilter (traditio­ neller) religiöser Glaube, eine geteilte Sprache (Jiddisch, Hebrä­ isch, Ladino), eine geteilte (überall vorhandene, fast universelle) Diskriminierung und Verfolgung durch die herrschenden Mehr­ heiten, geteilte (spezifische) Bräuche und Traditionen. Als all das von den meisten amerikanischen Juden nicht mehr geteilt wurde, schwand der Sinn für das Volkstum unvermeidlich, und dieser Bedeutungsverlust schwächte das Element der Zusammengehö­

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rigkeit im allgemeinen Bewußtsein. Oft wird behauptet, die realen (ursprünglichen) Bande des jüdischen Volkstums seien durch ei­ nen leeren Universalismus ersetzt worden. Dafür lassen sich zweifellos Beispiele finden - man kann für alles Beispiele anfüh­ ren. Zwar verschwanden für die Mehrheit der amerikanischen Ju­ den die internationalen Bande des jüdischen Volkstums, sie wur­ den jedoch nicht ersetzt durch eine Loyalität zu universalistischen Doktrinen, sondern durch die Loyalität zu den USA.4 Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lag der Höhepunkt der Mas­ seneinwanderung 40 Jahre zurück; viele Familien waren noch frü­ her immigriert. Es gab nicht viele angenehme Erinnerungen an die alten Länder, keine Idylle wie Anatevka. Philip Roth spricht für viele, wenn er von der »vorsätzlichen Amnesie« berichtet, auf die er traf, als er von seinen Großeltern etwas über das Leben in Euro­ pa herausfinden wollte: »Sie waren fortgegangen, weil das Leben dort furchtbar war, so furchtbar, so bedrohlich oder verelendet oder hoffnungslos von Hindernissen verstellt, daß man es lieber vergaß.«* Die »Landsmannschaften«, Heimatverbände, die einen Sinn für die Verbundenheit mit Europa aufrechtzuerhalten ver­ suchten, sowie die Institutionen zur Erhaltung einer gemeinsa­ men Sprache schrumpften schnell. Die Auflage jiddischer Zeitun­ gen nahm beständig ab, jiddische Theater mußten schließen. Kurz vor dem Krieg bemerkte Abraham Cahan, Redakteur des fewish Daily Forward, der führenden jiddischen Zeitung in den Ver­ einigten Staaten, resigniert: »Die Kinder werden amerikanisiert, und das ist nur natürlich; sie leben in diesem Land, und es behan­ delt sie als seine eigenen.«6 Es gab eine langsame, aber stetige Be­ wußtseinsverschiebung von der Selbstbeschreibung - und dem Selbstbild - als Jude, der zufällig in den USA lebt, zu jener, um die Standardformulierung jener Zeit zu benutzen, als Amerikaner, der »zufällig jüdisch ist«. Nach Hitlers Machtergreifung und vor allem während des Krieges schärfte das Mitgefühl mit den Juden Europas unter den amerikanischen Juden tatsächlich den Sinn für eine jüdische Identität. Aber die langen Jahre der amerikanischen Akkulturation hatten die Tiefe der Identität auf ein Minimum ab­ getragen. Shlomo Katz hat die Auswirkung dieser Jahre auf den jungen amerikanischen Juden 1940 wie folgt zusammengefaßt:

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Die Vorstellung des jüdischen Volkesals weltumspannende Ein­ heit mag ihm ideologisch nicht frem< sein, [aber] persönlich hat er das Gefühl der Einheit mit dem gößeren Ganzen verloren ... Nur schwache kulturelle und seelische Bande verknüpfen ihn mit den Juden Polens, Palästinas, Deutsckands oder Rußlands ... Die Unermeßlichkeit der Tragödie entsett ihn ..., aber nicht hinrei­ chend, um ihn lebendig am Drama teihaben zu lassen. Zwischen ihm und dem europäischen Schauplat liegen Jahre ... des Lebens in Amerika. Diese Jahre, mit all demkulturellen Gepäck, das in ihnen gesammelt wurde, teilt er niclt mit den Juden Europas; und sie stehen zwischen ihm und ihnWenn unsere Brüder mehr Mitgefühl gezeigt hätten«

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rottung erforderte keine besondere Aufmerksamkeit mehr, nach­ dem einem die Einzelheiten vertraut waren«. Ein Trauermonat, der ausgerufen wurde, als Ende 1942 das Ausmaß der Katastro­ phe deutlich geworden war, »erwies sich als eine zu große Bürde für die Öffentlichkeit«: Nur der erste der wöchentlichen Gebetsta­ ge sei eingehalten worden; Kinos, die den Monat über geschlossen bleiben sollten, seien wieder geöffnet worden, nachdem ihre Be­ sitzer protestiert hätten, ihr Lebensunterhalt sei gefährdet. Insge­ samt, schließt Porat, »wurde der Alltag in Palästina vom Krieg kaum beeinflußt«, außer in Gestalt größeren Wohlstands infolge der Käufe durch das britische Militär und den Ausgaben durch seine Soldaten.12 Der Vergleich zwischen den Juden in den Vereinigten Staaten und in Palästina ist für die Behauptung relevant, die »übermäßige Assimilation« habe die Reaktion der amerikanischen Juden auf den Holocaust geschwächt. Ebenso aufschlußreich ist es, wie sehr die Reaktion vieler amerikanischer Juden der nicht]üdischer Ame­ rikaner ähnelte - eine Erinnerung, daß es ein Fehler ist, an zwei getrennte Völker zu denken. Wenn die amerikanischen Nichtju­ den die Zahl der jüdischen Opfer in Europa stark unterschätzten, so traf das auch auf viele amerikanische Juden zu. Kurz nach dem Krieg, als die Zahl von sechs Millionen sich überall verbreitet hat­ te, befragte ein junger Soziologe Chicagoer Juden über den Holo­ caust. Die Hälfte der Befragten schätzte die Zahl der jüdischen Opfer bei weitem zu niedrig ein. So sagte ein Buchhalter: »Geht sie in die Millionen? Nein, sie geht nicht in die Millionen. Naja, vielleicht ist es fast eine Million. Nein, so viele können es nicht sein.« Die Frau eines Textilfabrikanten meinte: »Hunderttausen­ de, das weiß ich genau. Natürlich sagen sie, Millionen, aber über den Verbleib so vieler Leute, die wir für verschwunden hielten, wissen wir heute Bescheid, also wer weiß?«13 Es gab viele »sehr jüdische« Juden, die - wie viele Nichtjuden bis zum Ende des Krieges nichts über den Holocaust wußten. Eli Ginzberg, Sohn eines Professors am Jüdischen Theologischen Se­ minar New York und selbst vor Pearl Harbor in jüdischen Angele­ genheiten engagiert, arbeitete während des Krieges im Pentagon. Er wies das, was man ihm über die Konzentrationslager erzählte,

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als »grobe Übertreibungen« zurück. »Der Plan eines Massenge­ nozids lag jenseits meiner Vorstellungskraft, und erst nachdem die Lager von den US-Streitkräften eingenommen worden waren, erkannte ich, daß das Unmögliche geschehen war.«14 Oberstleut­ nant Lewis Weinstein, der ebenfalls in der jüdischen Gemeinde aktiv war, gehörte General Eisenhowers Stab an. Im Frühjahr 1945 verwirrte ihn der Hinweis auf die Karte eines »Todeslagers«. Als er sich bei einem Kollegen erkundigte, erhielt er die Antwort, daß »eine Million, vielleicht zwei Millionen Juden in Auschwitz« er­ mordet worden seien. Später schrieb Weinstein: »Ich war ver­ blüfft. Solche Zahlen hatte ich nie gehört. Ich hatte von der Bestia­ lität des systematischen, wissenschaftlichen Massenmords der Na­ tionalsozialisten nichts gewußt ... Ich hatte von Hunderten, Tau­ senden Morden gehört - aber Millionen Morde!? Die Information war niederschmetternd.«15 Obzwar die amerikanischen Juden insgesamt und im Durch­ schnitt mehr über den Holocaust wußten als ihre nichtjüdischen Nachbarn, gibt es zahllose Beispiele für diese Unwissenheit in der Kriegszeit. Nicht nur die einschlägige Presse brachte wenig über den Holocaust, während er stattfand, sondern auch ein Großteil der jüdischen Presse. Viele jüdische Zeitschriften haben 1973, 1983 und 1993 mehr über den Holocaust berichtet als 1943. Manchmal man kann unmöglich herausfinden, wie oft - mag die Abwertung des Holocaust absichtlich geschehen sein, um die Moral aufrecht­ zuerhalten. Es heißt (darüber wird jedoch noch gestritten), Rabbi Leo Baeck habe im Konzentrationslager Theresienstadt seinen Mitge­ fangenen absichtlich verschwiegen, daß die Deportation nach Polen den Tod bedeutete: Daran konnten sie nichts ändern, und die Auf­ klärung hätte nur unnötiges Leid verursacht. Eine ähnliche Überle­ gung stellte ein Mitarbeiter der Jewish Publication Society an. Zu Beginn des Krieges sorgte er sich um die psychologische Wirkung, die zu viele schlechte Nachrichten auf die amerikanischen Juden haben würden, und lehnte Manuskripte ab, die von den Konzentra­ tionslagern handelten. »Ich meine, die Zeit ist gekommen, daß ei­ ne verantwortungsvolle Organisation wie unsere der Hetze gegen die jüdische Bevölkerung in diesem Land Einhalt gebieten muß die letzte jüdische Bevölkerung, die noch Selbstbewußtsein hat.«16

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Besonders erstaunlich ist, in welchemAusmaß - selbst unter überzeugten Juden - die jüdische Dimension der nationalsoziali­ stischen Verbrechen nicht für die wichtigste gehalten wurde, vor allem seitens Angehöriger der jüngeren Generation. Shad Polier war Schwiegersohn von Rabbi Stephen S Wise, Vorsitzender des American Jewish Congress. Nach dem Krieg leitete Polier zusam­ men mit Wises Tochter Justine den Congress einige Jahre lang. Unmittelbar nach der Reichskristallnacht verlieh Polier in einem Brief an seine Frau seiner Genugtuung darüber Ausdruck, daß Roosevelt zum Zeichen des Protests gegen das von den National­ sozialisten provozierte Pogrom den amerikanischen Botschafter aus Berlin abgezogen hatte. Viel wichtiger sei jedoch, schrieb er an Justine, was Roosevelt in bezug a u f das Waffenembargo gegen die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg tun werde, und in dieser Hinsicht sei er alles andere als optimistisch.17 Nach Kriegsausbruch und nachdem die groben Umrisse des Holocaust bekanntgeworden waren, interpretierten die meisten jü­ dischen Autoren die Greueltaten der Nationalsozialisten universa­ listisch - indem sie hervorhoben, daß die Juden keineswegs die einzigen Opfer seien. Ein Autor des zionistischen Jewish Frontier mahnte 1944, nicht zu vergessen, »was den Tschechen, den Polen, den Juden, den Russen« angetan worden sei.18 Ein Memorandum des American Jewish Committee legte Nachdruck auf den »neuen Geist Polens unter dem Joch der Nationalsozialisten, den neuen Geist der Verwandtschaft und Kameradschaft zwischen allen Tei­ len der polnischen Bevölkerung - Katholiken, Protestanten, Juden ... Es sollte immer daraufhingewiesen werden, daß die nationalso­ zialistische Tyrannei nicht zwischen Juden und Polen unterschei­ det.«^ Ein Redakteur des Menorah Journal bemerkte, »die Leiden der Juden, so ungeordnet und vermischt sie heute sind, bilden nur Teile des Leidens aller Opfer der heutigen Barbarei«.20 In ähnlicher Weise rief Rabbi Wise den Leuten wiederholt ins Gedächtnis, »als Juden hatten wir die größte Last zu tragen«. Er fuhr jedoch in Übereinstimmung mit der anerkannten Darstellung des Krieges als ideologischer Auseinandersetzung fort: »Juden sind Opfer des faschistischen Terrorismus geworden, weil sie die unbeugsamen Verfechter von Freiheit, Glaube und Demokratie sind.«21

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Selbstverständlich kann man die gängige jüdische Erfassung des Holocaust nicht aus den Erklärungen der Sprecher jüdischer Organisationen oder den Artikeln von Journalisten, die für die jü­ dische Presse schrieben, erschließen. Diese waren für die ameri­ kanischen Juden insgesamt nicht repräsentativ, da sie zugleich jü­ discher und weniger jüdisch waren als die, für die sie zu sprechen vorgaben. Sie waren in dem offenkundigen Sinne »jüdischer«, daß die meisten Juden nicht im gleichen Maße beruflich mit dem Judentum zu tun hatten. Und sie waren »weniger jüdisch«, weil ihre öffentliche Rolle - die Tatsache, daß sie wußten, ihre Erklä­ rungen würden auch von Nichtjuden zur Kenntnis genommen vielleicht dazu geführt hat, daß ihre Aussagen weniger offen, we­ niger mit spontanen Gefühlen aufgeladen und »korrekter« als die Unterhaltung am Küchentisch waren.22 Im großen und ganzen ähnelte die Wahrnehmung des Holo­ caust vieler, möglicherweise der meisten amerikanischen Juden der nichtjüdischer Amerikaner in einem wichtigen Punkt. Anläß­ lich einer Studie über Juden in Rochester im Staat New York wäh­ rend des Krieges kam Abraham Karp zum Schluß, daß sie viel über Folter und Massenmord wußten, über unzählige Greueltaten gelesen hatten, »wobei jede neue bis zu einem gewissen Grad den Eindruck und die Unmittelbarkeit der früheren zerstreute«; aber sie wußten nichts über »den Holocaust«. »Das war eine Wahrneh­ mung ..., die Jahre später entstand.«23 Noch brisanter als die Frage, wie die amerikanischen Juden emo­ tional auf den Holocaust reagierten und wie sie ihn auffaßten, ist die Frage, wie sie praktisch auf ihn reagierten. Unter den amerika­ nischen Juden hat sich in den letzten Jahren die Ansicht durchge­ setzt, damals seien die Juden unentschuldbar pflichtvergessen ge­ wesen, weil sie nicht unentwegt und energisch auf Rettung dräng­ ten. Das ist nicht nur eine historische Beobachtung; die Ansicht legte den Grundstein zu einem mächtigen mobilisierenden Süh­ nediskurs. In Kampagnen für die sowjetischen Juden in den 1970er Jahren wurde der Slogan »Nie wieder« erweitert zu: »Nie wieder dürfen amerikanische Juden wie in den frühen vierziger Jahren ihre be­

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drohten Glaubensgenossen im Ausland fallenlassen. Diesmal müssen wir das Richtige tun.« Die systemaischste Anwendung des Sühnethemas waren die Aufrufe zur totalen Solidarität der amerikanischen Juden mit dem kampfbereiten Israel. In einer Re­ de sagte der israelische Premierminister Jüxhak Schamir 1991, die Erinnerung an die Untätigkeit während des Zweiten Welt­ kriegs laste »schwer auf dem Bewußtsein« amerikanischer Juden, und forderte sie zur Aktivität im Namen Israels auf. »Wollen wir hoffen, daß sie die Stärke finden zu korrigieren, was sie vor fünf­ zig Jahren versäumt haben.«2^ Jonathan Pollard fragte von seiner Gefängniszelle aus: »Was sollte ich tun? Israel für sich selbst sor­ gen lassen? Wenn ihr glaubt, ich hätte das tun sollen, wie können wir dann all die blasierten und selbstgerechten amerikanischem Juden verurteilen, die während des Zweiten Weltkriegs bewußt daran mitgewirkt haben, die europäischen Juden im Stich zu lassen?«25 Wieviel taten die organisierten amerikanischen Juden für das Ergreifen von Rettungsmaßnahmen? Es gab zahlreiche Bemü­ hungen mit speziellen Zielen. Die Gruppen orthodoxer Juden ar­ beiteten unermüdlich, gefährdete Rabbis und Jeschiwa-Studenten zu retten, die nach dem Maßstab der religiösen Tradition den Vor­ rang hatten. Das Jewish Labor Committee tat alles in seiner Macht Stehende für jüdische Gewerkschafter und Sozialisten (aber nicht für Kommunisten), die in Gefahr schwebten. Akademische Orga­ nisationen bemühten sich um Hilfe für gefährdete Wissenschaft­ ler. Zionisten in den Vereinigten Staaten und Palästina gaben der Rettung ihrer europäischen Kameraden Vorrang vor der Rettung derer, die sich Erez Jisrael erst zugewandt hatten, als sie selbst in Gefahr gerieten. Und natürlich engagierten sich alle, denen es möglich war, für die Mitglieder ihrer eigenen Familie - was die obengenannten Gruppen in gewisser Weise ebenfalls taten. Im allgemeinen war Rettung im Krieg jedoch kein vorrangiges Thema für die großen jüdischen Organisationen Amerikas oder ihre Vorsitzenden. Die Archive des American Jewish Committee und des American Jewish Congress zeigen wenig Interesse für die Frage. (Die Anti-Defamation League des B’nai B’rith beschäftigte sich in jener Zeit ausschließlich mit einheimischen Angelegen­

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heiten.) Die größte Anstrengung während des Krieges, die ameri­ kanischen Juden zu vereinen - die American Jewish Conference von 1943 - hatte das Thema Rettung ursprünglich nicht auf der Tagesordnung, und als es aufkam, wurde es schnell abgehandelt. Es gab einige Massenveranstaltungen, auf denen zum Handeln aufgefordert wurde, meist aber ohne klare Vorstellung, welche Form dieses Handeln annehmen könnte; der Zweck bestand wohl eher in einer Katharsis als in ernsthafter Mobilisierung. Der Kom­ ponist Kurt Weill urteilte über das Bühnenstück We Will Never Die, an dem er mitgearbeitet hat, es habe »nichts bewirkt... Wir haben lediglich viele Juden zum Weinen gebracht, was keine einzigartige Leistung ist.«26 Die Regierung Roosevelt wurde von einigen Vertretern einzelner Organisationen und von gemeinsa­ men Delegationen vertraulich angesprochen, allerdings nicht in beharrlicher Regelmäßigkeit. Die führenden jüdischen Organisa­ tionen betrieben den Boykott und die Diskreditierung der einzi­ gen Gruppe, die tatkräftig für die Rettung gearbeitet hat, das von Peter Bergson, einem Vertreter des »zionistisch-revisionistischen« Irgun in den Vereinigten Staaten, gegründete Emergency Com­ mittee to Save the Jewish People of Europe. Woher rührt das Verhalten? Man hat verschiedene, zumeist an­ klagende Erklärungen angeführt. Viele von ihnen stellen das feh­ lende Drängen auf Rettung als Folge der verbreiteten Indifferenz der amerikanischen Juden dar. Eine weitere einflußreiche Erklä­ rung leitet die Untätigkeit aus der allgemeinen Ängstlichkeit der amerikanischen Juden ab, insbesondere aus der Angst, daß die Forderung nach Rettung dem einheimischen Antisemitismus Nahrung geben würde.27 Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Juden oft zauderten, in der Öffentlichkeit die Trommel für jüdi­ sche Angelegenheiten zu rühren. Paul Jacobs erinnert sich an ei­ ne Empfindung, die zu seiner Kindheit in der älteren Generation verbreitet war: »Ein Jude machte keine >RischisFranklin, ich bin der Auffassung ...< Da hatte ich das entsetzliche Gefühl, Rabbi Wises Vorrecht, Roo­ sevelt >Franklin< nennen zu dürfen, könne das jüdische Volk noch sehr teuer zu stehen kommen. Ganz offensichtlich war er maßlos stolz auf dieses Privileg.«33

Unter den gegebenen Umständen war mit der Drohung, die Un­ terstützung der Juden zu verlieren, kein Druck auf Roosevelt aus­

»Wenn unsere Brüder mehr Mitgefühl geeigt hätten«

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zuüben. James Baker, Außenministr Ronald Reagans, soll 1992 gesagt haben, als er gewarnt wurde,die Juden würden politische Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, venn er Israel Kreditgaranti­ en vorenthalte: »Scheiß’ auf sie, sie laben uns ohnehin nicht ge­ wählt.« Roosevelt hätte in einem scchen Fall (der nicht eintrat) antworten können: »Scheiß’ au f sifanatischer< Jude«, und man könne ihm vertrauen, »den Juden in der Geschichte richtig zu behandeln«.38 In The Red Menace war »der Jude ... die einzige wirklich sympathische Figur«.39 Der Re­ präsentant in Hollywood war begeistert über den Film My Son John, der in extremer Weise der Linie McCarthys folgte, da er als zentrales religiöses Symbol »die Tafeln, die Moses von Gott be­ kam«, enthielt.40 Etwas besorgt war man hinsichtlich der Behand­ lung der Juden im Film I Was a Communist for the FBI (Ich war FBI-Mann M. C.) der Warner Brothers, aber es wurde kein Protest eingelegt, denn »Herr Warner würde sich über Kritik seitens der jüdischen Gemeinde sicherlich ärgern, wodurch sein großer Bei­ trag zum Jewish Welfare Fund gefährdet würde«.41 Die jüdischen Organisationen verfolgten ähnliche Strategien, jedoch mit individuellen Unterschieden. David Petegorsky vom American Jewish Congress sagte, der größte Beitrag, den die jüdi­ schen Organisationen zum weltweiten Kampf gegen die Sowjet­ union leisten könnten, sei die Beseitigung der Gefahr, die durch die Gleichsetzung von Juden und Kommunisten entstehe. Der Je­ wish Congress schloß seine linken leitenden Mitglieder und Un­ tergruppen aus, von denen einige zu den größten gehörten.42 Die Anti-Defamation League und das American Jewish Committee bo­ ten dem Ausschuß zur Verfolgung unamerikanischer Aktivitäten ihre Unterlagen an, damit nur überzeugte Kommunisten vorgela­ den würden.43 Das American Jewish Committee - in jener Zeit die reichste und einflußreichste große Judenorganisation - war auf diesem Gebiet am aktivsten. Die entschieden antisowjetischen Ar­ tikel in seiner monatlich erscheinenden Zeitschrift Commentary waren nach Norman Podhoretz »Teil eines Geheimprogramms zu beweisen, daß nicht alle Juden Kommunisten waren«.44 Ein lei­ tendes Mitglied des Committee konnte eine Zusage der großen

»Das ist Vergangenheit«

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Zeitschriften Time und Life sowie eiliger New Yorker Zeitungen erwirken, keine Leserbriefe zu veröffentlichen, in denen auf die jüdische Religion angeklagter Kommxnisten hingewiesen wurde. Dasselbe Mitglied behauptete, auch die Vorladung von »minde­ stens drei bekannten amerikanischen Juden ..., die ungenamt bleiben sollen«, vor den Ausschuß zxr Verfolgung unamerikaiiischer Aktivitäten verhindert zu haben Nach zahlreichen Diskus­ sionen innerhalb der Leitung beteilige sich das American Jewish Committee an der All-American Conference to Combat Commtinism und steuerte sogar finanzielle Mittel bei. Wie andere jüdi­ sche Organisationen der politischen Mitte hielt es sich dagegen von der Kampagne für die Begnadigung der Rosenbergs fern.*6 Mit Galgenhumor bemerkte das leiterde Mitglied Edwin J. Lukas in einem internen Memorandum: »Man schreckt zwar vor derar­ tig diabolischen Vorstellungen zurück, aber es ist wahrscheinlich, daß die gegenwärtige Aggressivität gegenüber den Juden stellver­ tretend - aber nur vorübergehend - abreagiert wird, wenn die Ur­ teile vollstreckt werden.«47 Lucy Dawidowicz argumentierte (in ih­ rem Namen, nicht in dem des American Jewish Committee) in The New Leader, außer Anhängern der Kommunisten könnten nur Leute die Todesstrafe gegen die Rosenbergs ablehnen, die sie auch gegen Hermann Göring ablehnten.48 Die Sorge, die Gleichsetzung von Juden und Kommunisten aus dem öffentlichen Bewußtsein zu beseitigen, beherrschte auch die »jüdische Außenpolitik«. In Angelegenheiten, die mit Deutsch­ land zu tun hatten, war es geradezu tabu, den Holocaust zu er­ wähnen, außer hinter verschlossenen Türen oder im privaten Kreise. Die ständige Erwähnung des Holocaust durch die jüdi­ schen Linken hatte das Thema verdächtig gemacht. Man fürchtete sich noch vor der Beschuldigung, rachsüchtig zu sein, und dem Gebrauch von Argumenten, die darauf hindeuten konnten, daß die amerikanischen Juden das Thema nicht von einem »gesamt­ amerikanischen« Standpunkt aus betrachteten. In den ersten Nachkriegsjahren hatten die Juden bei ihrem Widerstand gegen die rasche Rehabilitierung Deutschlands auch unter den Nichtju­ den Verbündete, die keine Kommunisten waren. Ende der vierzi­ ger Jahre waren sich jedoch alle Nichtjuden außer den Anhängern

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Die Nachkriegszeit

und Sympathisanten der kommunistischen Partei einig in ihrer Anerkennung Deutschlands als Verbündeten im Kalten Krieg. Die Perspektive, in dieser Frage nur mit den Kommunisten einer Mei­ nung zu sein, war den führenden Vertretern der Juden äußerst unangenehm. Ein gutes Beispiel für das Dilemma, in dem sich die jüdischen Organisationen befanden, war die Kontroverse über eine deutsche Industriemesse, die von der amerikanischen Militärregierung ver­ anstaltet wurde und 1949 in New York stattfinden sollte. Alle jüdi­ schen Organisationen hielten die Messe für eine schlechte Idee, weil sie dazu diente, die deutschen Industriellen zu rehabilitieren, die überzeugte Nationalsozialisten gewesen waren. In jüdischen Kreisen wurde vorgeschlagen, die Messe zu blockieren. Die jiddi­ sche Zeitung The Day drängte seine Leser zur Blockade »als unse­ re heilige Pflicht gegenüber den 6 000 000 Märtyrern«. Es war si­ cher, daß sich die kommunistischen Gruppen daran beteiligen würden. Da die Vorstellung einer Kette von Streikposten, die nur aus Juden und Kommunisten bestand, erschreckend war, spra­ chen sich die landesweiten jüdischen Organisationen gegen die Beteiligung ihrer Mitglieder und möglichst aller erreichbaren Ju­ den an der Blockade aus.49 Dagegen stellte der Geschäftsführer des von allen Gruppen besetzten National Community Relations Advisory Council (NCRAC) die Frage: Könnten die jüdischen Gruppen »die öffentliche Meinung [gegen die Messe] aufwiegeln und gleichzeitig unsere Vertretungen gegen eine Teilnahme an der Blockade beeinflussen«?50 Andererseits bemerkte eine jüdi­ sche Führungsperson aus Brooklyn, »wenn das NCRAC zu die­ sem Zeitpunkt die Führung ablehnt, würde das bedeuten, den Kommunisten in die Hände zu spielen«. Die jüdischen Gruppen aus Brooklyn konnten von eigenmächtigen Aktionen nur durch die Versicherung abgebracht werden, daß die landesweiten Orga­ nisationen etwas unternehmen würden.51 In gemeinsamen Überlegungen, worin dieses »Etwas« beste­ hen könnte, sprach George Hexter vom American Jewish Com­ mittee die Befürchtung aus, man könne rachsüchtig erscheinen. Er erinnerte daran,

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daß man im öffentlichen Bewußtsein den Morgenthauplan im all­ gemeinen für einen jüdischen Plai hielt; und daß der Eindruck entstehen könne, die Juden der Veeinigten Staaten bildeten eine politische Enklave, wenn man jener Auffassung durch Aktionen Vorschub leistete, die Beweise für den Glauben zu liefern schie­ nen, die Juden der Vereinigten Staaten wollten sich am deutschen Volk rächen. Sollte dieser Eindrucl entstehen, wäre die jüdische Gemeinde in den Vereinigten Staaen isoliert, woraus für alle Ju­ den eine ernste Gefahr erwüchse ...Wir können uns nicht leisten, durch Gefühle geleitet zu werden, cie in der jüdischen Gemeinde bestehen; vielmehr müssen wir dh Verantwortung für die Füh­ rung übernehmen und uns bemühen, die jüdische Gemeinde über die ganze Komplexität der Angelegenheit zu unterrichten.52

Über allen Erwägungen schwebte die kommunistische Frage. Der Geschäftsführer des NCRAC sagte vor den Mitgliedern: »Der Wi­ derstand [gegen die Messe] würde als Widerstand gegen die Reha­ bilitierung Deutschlands und damit als Widerstand gegen die offi­ zielle Haltung der amerikanischen Regierung gegenüber Rußland aufgefaßt - und durch eine einfache Schlußfolgerung als pro-so­ wjetische Einstellung.«53 Letztlich war die Blockade, zum Teil in­ folge des Engagements des NCRAC, auf die Gruppen beschränkt, die als Sympathisanten der Kommunisten galten. In der gemein­ samen Erklärung der großen jüdischen Organisationen wurde jegliche Kritik an der Messe vermieden, Besorgnis hinsichtlich der Politik der deutschen Industrie vorgebracht und der Wiederauf­ bau der deutschen Wirtschaft befürwortet, damit Deutschland ein Bollwerk gegen die totalitäre Bedrohung werden könne.54 In den Erwägungen jüdischer Gruppen spielte die Sorge, die emotionalen Reaktionen der Juden in bezug auf Fragen zu kon­ trollieren, die mit Deutschland und dem Holocaust zu tun hatten, eine große Rolle. Ein Vertreter des Philadelphia Jewish Communi­ ty Relations Council hielt es für notwendig, die Juden so zu erzie­ hen, daß sie »den verständlichen, aber irrationalen emotionalen Standpunkt« aufgaben.55 Sein Kollege aus Cleweland bestätigte ihn darin; die landesweiten Organisationen sollten ihren Mitglieds­ gruppen dazu bringen, von »emotionalen Reaktionen« Abstand

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Die Nachkriegszeit

zu nehmen.56 Ein Memorandum der Leitung des American Jewish Committee stellte mit Bedauern fest, »für die meisten Juden sind die Gedanken über Deutschland und die Deutschen immer noch von starken Emotionen überschattet«.57 Albert Vorspan vom NCRAC meinte, es sei ein schwerer Fehler, wenn die jüdischen Organisationen »den tiefen Emotionen innerhalb der ... jüdischen Gemeinde Vorschub« leisteten.58 Elliot Cohen, Redakteur des Commentary, sprach von der Notwendigkeit, die Juden zu einer »realistischen Haltung« zu erziehen, »anstelle der beschuldigen­ den und bestrafenden«, weil von Deutschland »die Zukunft der westlichen demokratischen Zivilisation« abhänge.59 All das deutet darauf hin, daß die Zwänge des Kalten Krieges auf unterschiedliche Weise eine immer größere Differenz zwi­ schen dem privaten und dem öffentlichen Diskurs der Juden über Deutschland und den Holocaust schufen, eine Lücke zwischen spontan-persönlich und strategisch-offiziell. Vom Standpunkt vie­ ler jüdischer Führungspersonen in den Nachkriegsjahren hielt die Einstellung der meisten Juden nicht mit den Erfordernissen der Zeit Schritt. Ein Vertreter der Juden klagte gegenüber einem Kol­ legen, die amerikanischen Juden ergriffen »nicht im geringsten die gleichen Maßnahmen oder [zeigten] die gleichen Bemühun­ gen bei der Bekämpfung des Kommunismus wie bei der des Na­ tionalsozialismus. Ich weiß, sie werden die Frage der zwei Welt­ kriege und der 6 0 0 0 0 0 0 vernichteten Juden aufbringen. Aber das ist Vergangenheit, und wir müssen mit den gegenwärtigen Tatsachen fertig werden.«60 Man sollte die berechnete öffentliche Haltung der Judenvertre­ ter nicht mit den Gefühlen verwechseln, die die amerikanischen Juden »zu Hause« hegten, vor allem nicht hinsichtlich der Hemmnisse, die der Kalte Krieg den Diskussionen über den Holo­ caust auferlegte. Aber diese Hemmnisse (und andere, die im nächsten Kapitel erörtert werden) führten dazu, daß der Holo­ caust etwas war, was die Juden privat, wenn auch in großer Zahl, beklagten. Ohne offizielle Billigung konnte der Holocaust nicht zu einem öffentlichen Symbol der Gemeinde werden; ohne offi­ zielle Bestärkung tendierte er für viele dazu, an Bedeutung zu verlieren.

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Während die wichtigste Auswirkung des Kalten Krieges die Ein­ schränkung der Diskussion über den Holocaust war, konnte man den Holocaust in einer Hinsicht in cen neuen Kreuzzag einglie­ dern. Im Zentrum der »Außenpolitik« der amerikanischen Juden stand in der Frühzeit des Kalten Krieges der Protest gegen den Antisemitismus im Ostblock. Ein besonderes Angriffsziel war der Prozeß gegen Rudolph Slansky und andere jüdische Führer der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei Ende 1952. Zwei­ fellos waren die Proteste der jüdisclen Gruppen ernstgemeint, ebenso ihre Befürchtungen - die nacl Stalins Tod Anfang 1953 et­ was nachließen -, daß weite Kreise der osteuropäischen Juden von »antizionistischen« Kampagnen bedroht waren. Es steht in­ des außer Frage, daß sie sich der innenpolitischen »Verteidi­ gungsfunktionen« bewußt waren, die ihre Proteste erfüllten. Ein Memorandum über die Ziele des Programms des American Jewish Committee zum Kampf gegen den sowjetischen Antisemitis­ mus stellte fest, »selbst wenn keine jüdischen Leben in Ausland gefährdet wären, würde uns die Sorge um die Sicherheit der Ju­ den in den Vereinigten Staaten zum Handeln zwingen. Die sowje­ tische Politik eröffnet Möglichkeiten, die nicht übersehen werden dürfen,... um gewisse wichtige Aspekte des innenpolitischen Pro­ gramms des AJC zu bestärken.«61 »Der Prager Prozeß«, hieß es an anderer Stelle«, ist die beste Gelegenheit, die wir je hatten, um in den Augen der allgemeinen Öffentlichkeit >die Juden von den Kommunisten zu distanzieren^«62 In der Zusammenfassung ei­ ner Diskussion der Leitung wurde allgemeine Übereinstimmung darüber festgehalten, daß »der ungeheure Aufschrei der Juden in der Öffentlichkeit dazu beitragen wird, die Juden im öffentlichen Bewußtsein von den Kommunisten abzugrenzen.«65 Ein Redak­ teur des Comm.enta.ry bemerkte ebenfalls die »große Gelegen­ heit«, die sich durch Proteste gegen den sowjetischen Antisemitis­ mus bot, als man hinsichtlich der Konsequenzen des Falls Rosen­ berg auf die öffentliche Meinung Befürchtungen hegte.64 Der Holocaust fand in diesem Zusammenhang häufige Erwäh­ nung. Mit dem Prager Prozeß, ließ ein Artikel in The New Leader verlautbaren, »hat sich Stalin auf seine >Endlösimg der Judenfrage< vorbereitet«.65 Stalins Ziel, hieß es in einem Leitartikel eine Woche

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später, »ist die Beseitigung der Reste, die Hitler hinterlassen hat«.66 »Stalin wird Erfolg haben, wo Hitler gescheitert ist«, war in einem Artikel im Commentary zu lesen. »Er wird die Juden Mittel- und Osteuropas endlich vernichten ... Die Parallele zur Politik der natio­ nalsozialistischen Ausrottung ist fast vollkommen.«67 Eine Presse­ mitteilung des American Jewish Committee brachte die groteske Konstruktion, die ostdeutsche Regierung treibe die >Nichtarier< zu­ sammen, »wobei die Auswahl auf die Rassengesetze der Nazis ge­ stützt wird«.68 In einer Pressemitteilung des NCRAC wurde ange­ kündigt, die repressiven Maßnahmen in Ungarn seien »nur die er­ ste Station auf dem Weg zu einem russischen Auschwitz«. (»Ich setze alles an diese Sache«, schrieb ein leitendes Mitglied des NCRAC an einen Kollegen, »weil es eine gute indirekte [Antwort auf] den Vorwurf, >Juden sind Kommunisten^ ist.«)69Auch die re­ lativ seltenen Fälle, in denen die jüdischen Organisationen Arbei­ ten förderten, die unmittelbar mit dem Holocaust zu tun hatten, waren nicht frei von den Einflüssen des Kalten Krieges. Als das American Jewish Committee ioo Exemplare einer Quellensamm­ lung zum Holocaust in deutscher Sprache als Geschenk verschick­ te, wies das Begleitschreiben des Präsidenten auf das Ausmaß hin, »in dem der Nationalsozialismus der im wesentlichen identische totalitäre Zwilling des Kommunismus« ist.7° Als die Anti-Defamation League 1961 The Anatomy o f Nazism veröffentlichte, hieß es im Brief zur Vorankündigung, das Buch zeige die fundamentale Ähn­ lichkeit zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus. Ich habe mich auf den jüdischen Diskurs über den Holocaust un­ ter dem Einfluß des Kalten Krieges konzentriert - darauf, wie die­ ser Diskurs zum Schweigen gebracht oder in den Dienst antiso­ wjetischer Zwecke gestellt wurde. Der Grund für die Schwer­ punktsetzung besteht darin, daß es^rn jenen Jahren kaum einen nichtjüdischen Diskurs über den Holocaust gab. Eine gewisse (und wie wir sehen werden, sehr eingeschränkte) Ausnahme bil­ dete die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Heute denkt man beim Wort »Völkermord« zwar unwillkürlich an den Holocaust, zu Beginn des Kalten Krieges war das jedoch nicht so selbstverständlich.72

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Der Mann, der das Wort »Völkenmord« geprägt hat und zu­ gleich der wichtigste Befürworter der Konvention war, war Rapha­ el Lemkin, ein Jude polnischer Herkunft. Obgleich das Wort vor dem Holocaust nicht aaftauchte, hatte Lemkin schon Jahre zuvor seine Aufmerksamkeit auf das Phänomen gerichtet. Angeblich hat die Darstellung der christlichen Märtyrer unter dem Römi­ schen Reich in Quo Valis, das er als Kind jelesen hat, großen Ein­ druck auf ihn gemacht Die späteren Ereignisse, die im Massen­ mord der Türken an den Armeniern im frsten Weltkrieg kulmi­ nierten, haben sein Interesse noch stärker auf den staatlich sank­ tionierten Mord an einzelnen gesellschaftlichen Gruppen gelenkt.73 Zweifellos wurde der Völkermord durch die Verbrechen der Nationalsozialisten auf die Tagesordnung der Vereinten Natio­ nen gesetzt, aber Lemkin hat das nationalsozialistische Programm von Anfang an aus ökumenischer Perspektive definiert: »Die Na­ zi-Führer hatten ihr Vorhaben klar geäußert, die Polen und Rus­ sen auszumerzen; das französische Element in Elsaß-Lothringen demographisch und kulturell zu zerstören sowie das slowenische Element in Krain und Kärnten. Ihr Ziel, die Juden und Zigeuner Europas zu vernichten, haben sie fast erreicht.«74 Die Völkermordkonvention, die 1948 von der Generalversamm­ lung der Vereinten Nationen einstimmig angenommen wurde, ent­ hielt eine breite Definition des Verbrechens, die den Holocaust um­ faßte, aber weit darüber hinausging. Völkermord sei der Versuch, »ganz oder teilweise eine nationale, ethnis che, rassische oder reli­ giöse Gmppe als solche« zu zerstören. Zu den Handlungen, die den Tatbestand des Völkermords erfüllten, gehörten die Verursa­ chung ernsthafter »mentaler Schäden« oder die Schaffung von »Le­ bensbedingungen«, die zu diesen Schäden führten. Sowjetische Versuche, den Begriff des Völkermords sprachlich enger mit den Verbrechen der Nationalsozialisten zu verknüpfen, wurden von den Vereinten Nationen abgewiesen. Trotz der Reichweite der Konventi­ on haben die Vereinten Nationen im Laufe der folgenden 50 Jahre nie ein Verfahren aufgrund der Anklage des Völkermords ange­ strengt, obwohl Millionen Menschen durcti Handlungen ums Le­ ben gekommen sind, die nach der Definition eindeutig den Tatbe­ stand des Völkermords erfüllten. Von Begin n an war »Völkermord«

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eher ein rhetorisches als ein juristisches Mittel, das allein zu propa­ gandistischen Zwecken eingesetzt wurde. Und im Kalten Krieg wa­ ren diese Zwecke für die Vereinigten Staaten antisowjetisch. Als Lemkin sich um die Zustimmung der Amerikaner zur Völ­ kermordkonvention bemühte, benutzte er fast ausschließlich Ar­ gumente, die mit dem Kalten Krieg in Zusammenhang standen, und erwähnte selten den Holocaust, außer wenn er sich an jüdi­ sche Gruppen wandte. Er wurde vor allem von Amerikanern mit litauischem und ukrainischem Hintergrund unterstützt, sowohl in finanzieller wie auch in politischer Hinsicht.75 Das war nahelie­ gend, weil die Anklage gegen die Sowjetunion, sich des Völker­ mords an mehreren Gruppen schuldig gemacht zu haben, Haupt­ gegenstand von Lemkins Kampagne war. (Gegenüber Amerika­ nern mit deutschem Hintergrund sagte Lemkin, die Vertreibung von Volksdeutschen aus Osteuropa und die anhaltende Inhaftie­ rung deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion sei gleichbe­ deutend mit Völkermord.)76 Die Diskussionen über Völkermord und die Völkermordkonvention, die in den 1950er Jahren im San­ de verliefen, bezogen sich kaum auf den Holocaust. Sie konzen­ trierten sich nahezu vollständig auf die - oft wirklichen, manch­ mal eingebildeten - Verbrechen des Ostblocks.77 Völkermord war eine allgemeine Kategorie, und man konnte Bei­ spiele finden, die dem jeweiligen unmittelbaren Zweck angepaßt waren. Der Holocaust war in ungünstiger Weise speziell und für die zeitgenössischen Zwecke die »falsche Greueltat«. Dem Pro­ blem der ungünstigen Greueltat hatte das amerikanische Füh­ rungspersonal im Krieg gegenübergestanden. Es kam ans Licht, daß tausende polnische Offiziere, deren Leichen im Wald von Katyn gefunden worden waren, Opfer der russischen Verbündeten der USA waren, nicht der deutschen Feinde. In diesem Fall den Verbrecher zu benennen, hätte das Bild alliierter Tugend im Kampf gegen die Sündhaftigkeit der Achsenmächte in Frage ge­ stellt. Roosevelt und das Office of War Information hatten sich da­ her bemüht, Gras über die Angelegenheit wachsen zu lassen.78 Als die polnische Exilregierung vom Internationalen Roten Kreuz eine Untersuchung erbat und eine Krise der polnisch-russischen

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Beziehungen heraufbeschwor, kritisitrte die amerikanische Pres­ se die Polen scharf, weil sie ein Therm aufgebracht hatten, das die Anti-Hitler-Allianz gefährden könne. Die großen Zeitungen brachten Leitartikel mit Titeln wie »Enheit steht an erster Stelle« oder »Nur Hitler kann Nutzen darau; ziehen«.79 Time argumen­ tierte, es sei zweitrangig, wer die Opfer von Katyn ermordet hatte, weil die Nationalsozialisten bereits »ziele, viele Male io ooo Po­ len« getötet hätten.80 Die Argumente nahmen die Haltung gegen­ über den Juden vorweg, die über cbn Holocaust sprachen, als Deutschland wiederbewaffnet werden sollte, um der sowjetischen Bedrohung entgegenzutreten. Wie positiv die Intentionen, die hinter der Erwähnung Katyns standen, auch gewesen sein mögen, im Zweiten Weltkrieg behinderten sb die notwendige Mobilisie­ rung der öffentlichen Meinung - ja, sie dienten sogar objektiv den Zwecken der Nationalsozialisten. Die Organisationen polnischer Amerikaner schwiegen während des Krieges in bezug auf Katyn, »um Vorwürfe, die Einheit der Alliierten zu stören, zu ver­ meiden«81 - ganz ähnlich wie viele jüdische Organisationen unter ähnlichen Bedingungen in der Nachkriegszeit. Natürlich war nach dem Krieg, als die Erwähnung des Holocaust und anderer deutscher Verbrechen unziemlich schien, die Erwähnung des Massakers von Katyn und anderer sowjetischer Greueltaten zweckmäßig.

6. Kaptel

»Nicht im Interesseder Judenschaft«

Zwischen dem Kriegsende und den 1960er Jahren tauchte ler Holocaust im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten kaum auf, wie jeder bezeugen kann, der diese Zeit erlebt hat. Auch im jüdischen Diskurs wurde er selten erwähnt - vor allem im Eis­ kurs, der an Nichtjuden gerichtet wir. Nur eine Handvoll Bücher beschäftigten sich mit dem Hdocaust; und die meisten von ihnen fanden kaum Leser, von weni­ gen Ausnahmen abgesehen, beispielsweise Das Tagebuch der An­ ne Frank .1Bei den beiden historischen Darstellungen des Holo­ caust, die in jener Zeit in den Vereinigten Staaten zu kaufen wa­ ren, handelte es sich um Importe aus dem Ausland, die keine große Aufmerksamkeit fanden. Gerald Reitlingers The Final Solu­ tion (Die Endlösung) erschien in den USA bei einem unbekann­ ten Verlag und wurde meines Wissens nie in der Massenpresse re­ zensiert. Das Gleiche galt für Leon Poliakovs Breviaire de la haine. Das Buch konnte - unter dem Titel H arvest o f Hate - nur dank der Unterstützung eines jüdischen Geschäftsmanns in den Verei­ nigten Staaten erscheinen, allerdings wurden nur einige hundert Exemplare verkauft. Weder Reitlingers noch Poliakovs Buch fand das Interesse der größeren historischen Zeitschriften. In den Ge­ schichtslehrbüchern für die High School und das College wurde der Holocaust äußerst knapp behandelt - oft gar nicht.2 In nicht­ jüdischen Zeitungen und Zeitschriften wurde er selten und dann normalerweise beiläufig erwähnt. Im neuen Medium Fernsehen gab es einige wenige Sendungen, in denen der Holocaust vorkam. Im Kino gab es vor den 1960er jahren nichts (auch hier bildet A nne Frank eine Ausnahme) - und auch in den sechziger Jahren noch nicht viel. Der Film N uit et brotiillard (Nacht und Nebel) von Alain Resnais (1955) wird normaler­ weise als Film über den Holocaust eingestuft, aber er behandelt in

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erster Linie die deutschen Aktionen gegen Mitglieder der französi­ schen Resistance; im übrigen taucht nicht einmal das Wort »Jude« auf. (Für Resnais sollte der Film eine Warnung vor den Greueltaten sein, die zu jener Zeit in Algerien begangen wurden.)3 Auch von Judgm ent at Nurem berg (Das Urteil von Nürnberg) - ein Fernseh­ spiel von 1959, das 1961 als Film produziert wurde - spricht man oft, als handele es sich um einen Film über den Holocaust, aber obwohl der Mord an den Juden am Rande erwähnt wird, liegt der Akzent auf anderen Verbrechen der Nationalsozialisten. Judgm ent at Nurem berg , trotz seiner Starbesetzung, und Das Tagebuch der A nne Frank, trotz der Popularität des Buches und der intensiven Werbung für den Film, waren keine Kassenschlager.4 Auch in anderen Bereichen wurde der Holocaust nicht themati­ siert. Die jüdischen religiösen Denker Amerikas hatten in jener Zeit nichts über den Holocaust zu sagen. Wenn man von den gele­ gentlichen Erwähnungen in Sederritualen absieht, wurden keine Maßnahmen für eine religiöse Erinnerung an das Ereignis getrof­ fen.5 Das weltliche Gedenken war auf die Überlebenden be­ schränkt. Während der gesamten 1950er Jahre rief der Jüdische Weltkongreß, mit unterschiedlichem Erfolg, die jüdischen Grup­ pen der ganzen Welt auf, jährlich eine Gedenkfeier für den Auf­ stand des Warschauer Gettos zu veranstalten. Nirgendwo hatte der Aufruf einen so geringen Erfolg wie in den Vereinigten Staaten. Die Akten des Jüdischen Weltkongresses sind voller Berichte über Miß­ erfolge und Enttäuschungen. Die Association of Jewish Musicians stand einer Beteiligung »lau und gleichgültig« gegenüber. Die mei­ sten studentischen Hillel-Gruppen »waren der Auffassung, daß die örtlichen Umstände eine derartige Gedenkfeier entweder unklug oder impraktikabel erscheinen lassen«. Ein Treffen mit Mitgliedern des American Jewish Congress zeigte, »wie wenig Bedeutung diese Kreise der Erinnerung beimessen«. Jedes Jahr sammelte der Jüdi­ sche Weltkongreß Informationen über die Gedenkfeiern in Län­ dern mit großen und kleinen jüdischen Gemeinden. In einem Jahr schrieb Isaac Schwarzbart vom Jüdischen Weltkongreß unter den amerikanischen Bericht: »Sehr armselig - selbst für Indonesien.«6 Keine Monumente oder Denkmäler wurden errichtet, wenn man von ein paar Erinnerungstafeln an Synagogenmauern ab-

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sieht. Nach jedem Maßstab — auf j eden Fall verglichen mit ler Omnipräsenz des Holocaust in der achtziger und neunziger Jihren - hatte kaum jemand etwas über das Thema zu sagen, zumin­ dest nicht in der Öffentlichkeit. Wenn wir uns mit dem öffentlichen Holocaust-Diskurs befassen, können wir auf die zeitgenössischen Dokumente zurückgreifei auch wenn es sich hauptsächlich um die Dokumentation von Ab­ wesenheit handelt - und gut begründete Verallgemeinerungen machen. Wenn wir fragen, wie häurig man privat über den Hdocaust gesprochen oder nachgedachthat, begeben wir uns auf dün­ neres Eis, weil die Zeugnisse seltener, fragmentarisch und oft in­ direkt, manchmal auch unzuverlässig sind. Daher erscheint es iatsam, nur vorläufige Verallgemeinerungen aufzustellen. Und ich werde mich auf Juden beschränken, weil es über den privaten Dis­ kurs von Nichtjuden so gut wie gar keine Zeugnisse gibt. Zeitgenössische Beobachter, die s ch diesbezüglich geäußert ha­ ben, waren erstaunt, wie wenig die amerikanischen Juden vom lin­ de des Krieges bis zu den sechziger Jahren über den Holocaust sprachen - und, soweit sie es beurteilen konnten, nachdachten. Na­ than Glazer bemerkte in seinem Buch American Judaism von 1957, der einzigen wissenschaftlichen Untersuchung über die Juden in den fünfziger Jahren, der Holocaust »hatte bemerkenswert geringe Auswirkungen auf das Seelenleben der amerikanischen Juden ge­ habt«.7 Im selben Jahr erforschte Norman Podhoretz die Einstellun­ gen seiner jüdischen Zeitgenossen in einem Artikel mit dem Titel »The Intellectual and Jewish Fate«. Der Titel scheint Gedanken zu versprechen, die um den Holo caust kreisen. Er wurde noch nicht einmal erwähnt.8 Es gab eine unveröffentlichte wissenschaftliche Untersuchung der Reaktion der amerikanischen Juden auf den Ho­ locaust nach dem Krieg. Leo Bogart, der später ein angesehener Meinungsforscher war, schrieb Ende der vierziger Jahre seine so­ ziologische Abschlußarbeit an der Universität Chicago über genau dieses Thema. Bogart ging von der Hypothese aus, ein Ereignis dieser Größenordnung »müßte sich in Veränderungen des Grup­ penverhaltens und der Gruppenüberzeugungen äußern« - genau­ er, »die Juden in Amerika müßten mit einem verstärkten Sinn

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für die Einheit und den Zusammenhalt der Gruppe reagieren und vielleicht mit einigen Symptomen psychischer Zerrüttung«^ Eine Methode, die er zur Überprüfung dieser Hypothese anwendete, war die Bitte um längere schriftliche Stellungnahmen von mehreren jungen Juden. Außer bei zwei Personen, die am Ende des Krieges mit den amerikanischen Streitkräften in Europa waren, hatte es laut Bogart nicht den Anschein, daß »die Vernichtung der Juden Europas ... eine emotionale Auswirkung auf die Autoren der Stel­ lungnahmen [hatte] oder ihre Weltanschauung beeinflußt hat«. Im Zentrum des Projekts stand die Auswertung eines offenen Fragebo­ gens, der an ioo Chicagoer Juden aus unterschiedlichen Milieus verteilt worden war. Die Antworten seiner Stichprobe veranlaßten Bogart zum Schluß, »der Mord an den Juden Europas hat die grundsätzlichen Denk- und Empfindungsmuster der Juden in den Vereinigten Staaten nicht sehr beeinflußt«.10 Die Veröffentlichungen dreier Befragungen liefern indirekte Hinweise darauf, welche Rolle der Holocaust im Denken junger amerikanischer Juden spielte. 1957 druckte The New Leader eine Serie persönlicher Aufsätze, um festzustellen, »was sich in den Köpfen der fünf Millionen Amerikaner abspielt, die seit Hiroshi­ ma einen College-Abschluß erworben haben«. Mindestens zwei Drittel der Aufsätze stammten von Juden. Als prägende Einflüsse auf ihr Denken nannten sie mehrere historische Ereignisse, von der Weltwirtschaftskrise bis zum Kalten Krieg. Kein einziger Auf­ satz erwähnte den Holocaust.11 Die Veröffentlichungen zweier an­ derer Befragungen unter Juden erschienen 1961, also kurz nach der in diesem Teil des Buches erörterten Periode. Da die Diskussi­ on über den Holocaust wegen der Gefangennahme Adolf Eich­ manns (die das nächste Kapitel behandelt) gerade einen gfoßen Aufschwung erlebt hatte, ist eine Beeinflussung der Veröffentli­ chungen nicht auszuscmießen. An einer Befragung des Commentary, »Jewishness and the Younger Intellectuals«, nahmen 31 Per­ sonen teil. Einige von ihnen erwähnten den Holocaust beiläufig, aber nur zwei Befragte sprachen so von ihm, daß man vermuten könnte, er spielte für die Bestimmung ihrer jüdischen Identität ei­ ne große Rolle.12 Später im selben Jahr unternahm die Viertel­ jahrsschrift Judaism eine Befragung, »My Jewish Affirmation«,

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mit 21 Teilnehmern, von denen die meisten etwas älter und weni­ ger weltlich waren als die Teilnehmer der Befragung ies Commentary. Nur einer von ihnen, der nadi dem Anschluß aus Öster­ reich geflohen war, erwähnte den Holocaust.13 Es gilt unter Historikern - mit Recht - als Regel, zeitgenössi­ schen Quellen größeres Vertrauen ent^egenzubringen als weit spä­ ter vorgebrachten Erinnerungen, nackdem die Verarbeitung und Neuanordnung des Erinnerten begomen hat. Wie man sie auch einschätzen mag, die Memoiren und Autobiographien vieler enga­ gierter Juden liefern zeitgenössisches Material, das auf eia sehr ge­ ringes Maß an Diskussion über den Holocaust schließen läßt. Alan Dershowitz, der in den vierziger und fünfziger Jahren in einer Ge­ gend von Brooklyn mit einem besonders großen Anteil an Juden aufwuchs, erinnert sich an keine Diskission über den Holocaust, weder mit seinen Schulkameraden noch zu Hause.14 Daniel J. Elazar, ein strenger Jude, der später nach Israel auswanderte, berichtet, in seinem zionistischen Milieu in Detioit habe der Spanische Bür­ gerkrieg in derselben Zeitspanne einen höheren symbolischen Wert gehabt als der Holocaust.15 Als junger Mann war Norman Podhoretz von seiner jüdischen Religion überzeugt genug, um vier Jahre lang am Jüdischen Theologischen Seminar der Columbia University zu studieren. In seinen Memoiren von 1967, Making It, sind zahlrei­ che Einflüsse angeführt, denen er in seiner Jugendzeit unterlag; der Holocaust findet dabei keine Erwähnung.16 In anderen Memoiren, vor allem in den jüngst erschienen, berichten die Autoren hinge­ gen, der Holocaust sei während ihrer Kindheit in den fünfziger Jah­ ren sehr präsent gewesen. Der linksgerichtete Todd Gitlin schreibt mit Bezug auf sein jugendliches Engagement gegen nukleare Abrü­ stung, für ihn und seine Freunde seien »amerikanische Bomben ... die Sache [gewesen], die einem unmoralischen Äquivalent von Auschwitz zu unserer Lebenszeit am nächsten kam. Als die Gele­ genheit kam, ergriffen wir sie, um uns von dem zu reinigen, was dem ursprünglichen Trauma am nächsten war.«17 Andere Autoren sprechen (wörtlich) von einem wiederkehrenden Alptraum, bei­ spielsweise Daphne Merkin im Essay Dreaming o f Hitler oder Meredith Tax, wenn sie berichtet, sie habe jede Nacht »unter das Bett geschaut, ob Marsmenschen, Hexen oder Nazis darunter« lagen.18

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Die Erinnerungen daran, wieviel die amerikanischen Juden in den 1950er Jahren über den Holocaust sprachen und nachdach­ ten, variieren so stark, daß man für jede These Gegenbeispiele fin­ det, so daß man nur mit Vorbehalten verallgemeinern kann. Die Quellen, mit denen wir uns bislang befaßt haben, sind nicht re­ präsentativ für alle Schichten der amerikanischen Judenschaft, weil sie auf die schreibenden Schichten beschränkt sind. Außer den direkten und indirekten Zeugnissen, die ich erwähnt habe, müssen wir uns in Anbetracht der Abwesenheit einer ausgepräg­ ten öffentlichen Diskussion fragen, ob es wahrscheinlich ist, daß man privat viel über den Holocaust diskutiert hat. Allerdings sind beide Bereiche nicht ganz unabhängig voneinander. Wenn es viele private Diskussionen gegeben hätte, wäre wahrscheinlich auch in der Öffentlichkeit viel mehr diskutiert worden, als das der Fall war - und umgekehrt. Selbst für die Art, in der wir über unsere un­ mittelbaren Erfahrungen und Gefühle sprechen, stützen wir uns auf die jeweils angemessenen Schemata unserer Kultur. Wenn man einmal das Gespräch Liebender belauscht, wird man feststel­ len, daß viel vom Gesagten äußerst schematisch, an Modellen der Popkultur ausgerichtet ist. Wenn wir privat über dramatische Er­ eignisse sprechen, über die viel geredet wird, spiegeln unsere Worte das wider, was in der Öffentlichkeit gesagt wird, oder rea­ gieren darauf. Der öffentliche Diskurs gestaltet nicht nur den pri­ vaten, sondern ist sein Katalysator. Er zeigt uns: »Das ist etwas, worüber man reden sollte.« Wenn es keinen signifikanten öffentli­ chen Diskurs gibt, wie in bezug auf den Holocaust in den 1950er Jahren, wird das entgegengesetzte Signal ausgesandt. Natürlich wird nicht jeder dem Signal Folge leisten - in diesem Fall wird es sich dabei am ehesten um diejenigen gehandelt haben, deren Fa­ milien vor relativ kurzer Zeit eingewandert waren, die in jüdi­ schen Gegenden wohnten oder die eine stark traditionelle jüdi­ sche Identität hatten. Ich halte es jedoch für wahrscheinlich, daß das negative Signal von den meisten befolgt wurde. Die geringe Thematisierung des Holocaust in jenen Jahren kann auf unterschiedlichen Wegen erklärt werden. Wie in der Einlei­ tung bereits ausgeführt, scheint mir die Erklärung nicht darin ge-

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funden werden zu können, daß das »Trauma« die »Verdrängung ausgelöst habe. Erkenntnisfördernde’ scheint mir die Annahne von Entscheidungen - wenn auch {tillschweigender und niclt vollständig bewußter Entscheidungei ob m an viel über da Holocaust sprechen sollte. Einige Gründe für die Entscheidungen habe ich bereits erörtert, beispielsweise die Argumente, es sei bes­ ser für die Überlebenden, sich nicht n it der Vergangenheit zu be­ schäftigen, oder die Zwänge, die der Kalte Krieg erzeugte. Bevor wir uns den allgemeinen Erwägungen zuwenden, die Einfluß auf die Marginalisierung des Holocaust nahmen, sollten wir einen Blick auf einige Teilfelder werfen, die für unsere Fragestellung be­ deutsam sind. Von der Filmindustrie wird manchnal behauptet, die Juden, die in der Branche eine beherrschende Stellung e innahmen, wollten es vermeiden, die Aufmerksamkeit auf ihre Religion zu lenken oder Vorwürfen der Engstirnigkeit ausgesetzt zu sein, indem sie Filme über jüdische Themen produzierten. Die Behauptung ist si­ cher nicht ganz falsch. Gleichzeitig kam es sowohl im Film wie auch im Fernsehen stets auf die »Aussage« an. A ls ein Angestellter während des Krieges Darryl F. Zanuck vorschlug, einen Film über die Konzentrationslager zu produzieren, lehnte dieser ab: Er wisse »kein Thema, das ... für Zuschauer weniger einladend wäre«; jeder Film in dieser Richtung sei bis dahin »ein Riesenreinfall« gewesen.1^ In den fünfziger und frühen sechziger Jaliren berichtete der Vertreter der jüdischen Organisationen in Hollywood, derartige Einschätzungen seien in der Filmindustrie ein beständiges Hin­ dernis für Projekte, die mit dem Holocaust zu tun hätten.20 Die Umgehung des Holocaust-Themas in den Diskussionen der jüdischen Theologen spiegelte die weitverbreitete Unzufrie­ denheit mit der traditionellen Erklärung wider, eine jüdische Kata­ strophe sei ein Weckruf Gottes, verursacht durch die Sünden der Juden. Aus den Nachkriegsjahren habe ich nur ein Beispiel einer religiösen jüdischen Erklärung für den Holocaust gefunden, die an die Öffentlichkeit gerichtet war, und diese entsprach der Tradi­ tion. Louis Finkeistein, Kanzler des Jüdischen Theologischen Se­ minars, wurde 1951 vom Nachrichtenmagazin Time für eine Titel­ geschichte über ihn interviewt:

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Die Nachkriegszeit Als ich vor 40 Jahren am Seminar studiert habe, schien es, ... als könne unser Glauben nicht überleben ... Der große Rabbi Elieser aus dem ersten Jahrhundert hat einmal gesagt: »Der Messias wird erst kommen, wenn das jüdische Volk Sühne leistet.« Auf die Fra­ ge, »Was, wenn die Juden keine Buße tun«, antwortete er: »Der Herr wird sie mit einem König strafen, der schlimmer ist als Haman, und sie werden Sühne leisten.« Genau das ist passiert ... Sechs Millionen ... Dieses bedauernswerte Unheil - und die gan­ ze geistige und materielle Krise unserer Zeit - bringt die amerika­ nischen Juden zum Glauben ihrer Vorväter zurück.21

Vom Ende der 1960er Jahre an versuchten verschiedene religiöse Kreise andere Deutungen des Holocaust zu entwickeln als die ei­ ner göttlichen Bestrafung - oder des Ablaufs des besonderen Bun­ des zwischen den Juden und Gott. Aber auch die neuen Deutun­ gen hatten keine erkennbaren Auswirkungen auf das religiöse Be­ wußtsein der durchschnittlichen Juden. In den fünfziger Jahren dagegen wurden derartige Deutungen gar nicht vorgebracht.22 Rabbi Eugene Borowitz hat auf ein weiteres Hemmnis hingewie­ sen, dem die theologische Diskussion der Juden über den Holo­ caust unterlag. Seiner Ansicht nach waren die meisten Juden in jener Periode Agnostiker, die den Glauben an einen Gott, der straft und belohnt, aufgegeben hatten. Sie gingen in die Synagoge, um eine Nische in einer Kultur zu finden, die Juden als Teil der protestantisch-katholisch-jüdischen Trias akzeptierte: »Die Stim­ me gegen den Gott zu erheben, der eine solche Ungeheuerlichkeit zuließ, würde gegenüber dem christlichen Amerika das ganze Ausmaß des jüdischen Unglaubens offenlegen und dadurch den Status des Judentums als einer der gleichwertigen Glaubensrich­ tungen Amerikas untergraben^«23 Später sollten die Überlebenden in den Vereinigten Staaten viel dafür tun, daß man des Holocaust gedachte, insbesondere auf der lokalen Ebene. In den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg waren die Überlebenden jedoch meist jung und damit beschäftigt, in ihrer neuen Heimat zurechtzukommen. Oft beherrschten sie die engli­ sche Sprache nur unzureichend und waren vom Hauptstrom des jüdischen Lebens in den Vereinigten Staaten abgeschnitten. Der

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größte Teil der Erinnerungsarbeit wu:de innerhalb der Gruppe dar Überlebenden geleistet, ohne daß sie sich bemüht hätten, andeie daran zu beteiligen. Rabbi Irving Gieenberg hat über einen Gdenkgottesdienst in jenen Jahren geschrieben, es sei ihm deutlich bewußt geworden, daß er nicht dort lingehöre. »Es kam mir vor«, sagte er, »als würden wir in eine Beercigung hineinplatzen.«24 Es gab allerdings ein wichtiges unc weitverbreitetes Ritual zun Gedenken an den Holocaust, das nickt von Überlebenden initiiert worden war. Dabei handelte es sich um den spontanen und nie förmlich erklärten Boykott deutscher Waren und den stillschwei­ genden Bann über Reisen nach Deutschland seitens der amerikinischen Juden. Dabei kam es zu paradoxen Erscheinungen. Die amerikanischen Juden mieden Volkswagen und Grundig-Radios, während Israel infolge der Reparatiorszahlungen von langlebigen deutschen Konsumgütern überflutet wurde. Und im Gegensalz zum 1492 förmlich erklärten Verbot, den Fuß auf spanischen Bo­ den zu setzen, das vor allem von Sephardim befolgt wurde, die an unmittelbarsten betroffen waren, handelten in der Nachkriegszeit gerade die amerikanischen Juden dem informellen Verbot von Reisen nach Deutschland zuwider, die als Deutsche in den dreißi­ ger Jahren vor Hitler geflohen waren. In einer ähnlichen - wenn auch sehr viel öffentlicheren - Kategorie symbolischer Handlun­ gen waren die jüdischen Proteste gegen das Engagement und die Auftritte von Musikern, die in irgendeiner Weise mit dem natio­ nalsozialistischen Regime ve rknüpft waren, auf amerikanischen Bühnen anzusiedeln.25 Über die Betrachtung dieser besonderen Bereiche hinaus müssen wir fragen, welche allgemeinen Erwägungen zu einer Hemmung der Diskussion über den Holocaust führten. Eine der größten Hürden trat deutlich hervor. Der Holocaust war ein grauenhaftes Ereignis, die Beschäftigung m it ihm ist schmerzhaft und ekelerre­ gend, so daß die meisten von uns darauf reagieren, indem sie die Augen verschließen. Diese Foarm von Selbstschutz wird oft als mo­ ralisches Scheitern bezeichnet. Zweifellos lassen sich viele gute Gründe dafür anführen, daß e s moralisch und politisch unverant­ wortlich ist, den Blick von Unerfreulichem abzuwenden, wenn

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man durch die unmittelbare Beschäftigung mit ihm zu nützli­ chem Handeln gebracht werden könnte. Das ist natürlich die Grundlage der Kritik an den Zeitgenossen, die ihren Blick vor dem Holocaust verschlossen. Aber der Holocaust wurde in den er­ sten Nachkriegsjahren - weit mehr als heute - historisiert. Man dachte und sprach über ihn als einen furchtbaren Aspekt der Epo­ che, die mit dem Sieg über Nazideutschland zu Ende gegangen war. In der Nachkriegszeit hatte der Holocaust noch nicht den transzendenten Status als Träger ewiger Wahrheiten oder Lehren erlangt, die durch die Beschäftigung mit ihm erkannt werden konnten. Da der Holocaust vorüber war, ging mit dem schmerz­ haften Starren in den grauenhaften Abgrund kein praktischer Nutzen einher. Das war sicher die in den Vereinigten Staaten vor­ herrschende Auffassung, die auch von vielen Juden geteilt wurde. In der Vierteljahrsschrift des American Jewish Congress, Judaism , bemerkte ein Autor über die Lage in den Nachkriegsjahren, für »die große Mehrheit der amerikanischen Juden ... geschah das, was sich vorher und in anderen Teilen der Welt ereignete, auf die gleiche Weise: in einer anderen Zeit und an anderen Orten«.26 Vielen erschien die Beschäftigung mit den grausamen Ereignis­ sen als ungesunder Voyeurismus. Selbst diejenigen, deren Beruf darin bestand, waren der Aufgabe nicht gewachsen. Als der Histo­ riker Lloyd P. Gärtner den Widerwillen seiner Kollegen, sich in der Nachkriegszeit mit dem Holocaust zu beschäftigen, erklären wollte, erinnerte er sich an »die Unterdrückung von Ekel und hef­ tigen Reaktionen«.27 Im Jahre 1945 wurde nicht nur das Grauen der Todeslager voll­ ständig enthüllt, sondern es gab ein neues Grauen. Hiroshima üb­ te eine weitaus stärkere und anhaltendere Wirkung auf die Ameri­ kaner aus als der Holocaust. Das hatte einleuchtende Gründe, die keineswegs mit einer »vergleichenden Wissenschaft der Greuelta­ ten« verknüpft sind. Wenn der Holocaust den Charakter eines Symbols für die gerade beendete Epoche hatte, so definierte Hi­ roshima als Symbol nuklearer Verwüstung Gegenwart und Zu­ kunft. Im Gegensatz zum Holocaust schien Hiroshima den Ame­ rikanern wichtige Lehren zu beinhalten, vor denen man seinen Blick nicht verschließen durfte. Für viele, auch führende Geistli-

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che, lehrten die Bilder der Toten unc Verkrüppelten von Hiroshi­ ma: »Gott, vergib' uns.« Für fast alle Amerikaner lehrten sie: »Gott - das könnten wir sein.« Nicht nur christliche Pazifisten, sondern auch antipazifistische christliche Theologen wie Reinhold Niebuhr waren der Auffas­ sung, die Amerikaner hätten eine »moralisch nicht zu verteidi­ gende« Handlung ausgeführt, mit der sie »sich schwer gegen die Gesetze Gottes und das japanische Volk versündigt« hatten.28Har­ ry Emerson Fosdick, einer der bekanntesten Vertreter der ameri­ kanischen Protestanten, forderte weiterhin die Bestrafung Deutschlands für sein »monströses Programm kaltblütiger Folter und Ausrottung«, war aber nach Hiroshima der Ansicht, die Ame­ rikaner seien »nicht in der Position, unsere Hände in Unschuld zu waschen und andere zu beschädigen«.29 Ein Leitartikel im New York Herald Tribüne fand »keine Befriedigung im Gedan­ ken, daß eine amerikanische Flugzeugbesatzung verursacht hat, was zweifellos das größte einzelne Blutbad in der gesamten Menschheitsgeschichte war und seifst hinsichtlich der Zahl den methodischeren Massenschlächtereien der Nazis oder der Antike gleichkommt«.30 Lewis Mumford schrieb: »Wir hatten andere Zie­ le, aber unsere Methoden waren die des schlimmsten Feindes der Menschheit.«31 Wenn auch nur eine Minderheit der Amerikaner die Vereinig­ ten Staaten als Verursacher einer entsetzlichen Greueltat betrach­ tete, so zweifelte die überwiegende Mehrheit nicht daran, daß sie selbst das Schicksal der Bewohner Hiroshimas teilen könnte. Die Presse schlachtete das Thema aus. In den Lokalzeitungen waren Kreise, die der Reichweite der Zerstörungen von Hiroshima ent­ sprachen, auf Abbildungen der jeweiligen Heimatgebiete einge­ zeichnet. Life widmete der Beschreibung eines künftigen Atom­ kriegs neun Seiten, die darin gipfelte, wie ein Techniker den Schutt der zerstörten Stadt N ew York vor den Augen der (erhalten gebliebenen) Löwen vor der F*ublic Library an der Fifth Avenue auf Radioaktivität untersucht.32 Wie wir im vorangegangen en Kapitel gesehen haben, gab es zur Zeit der Befreiung der Konzentrationslager Menschen, die darauf beharrten, daß die Amerikaner sich mit dem Grauen auseinander-

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setzten, um das volle Ausmaß der nationalsozialistischen Verbre­ chen erfassen zu können. Insofern überhaupt eine Auseinander­ setzung dieser Art stattgefunden hat, war sie von kurzer Dauer. Hiroshima, das nur wenige Monate später zerstört wurde, übte auf die Amerikaner eine unmittelbarere Wirkung aus. Anders als beim Holocaust waren die Amerikaner sowohl als Täter wie auch als potentielle Opfer betroffen. Und anders als beim Holocaust gab es praktische Gründe für die Qual, sich mit dem Grauen aus­ einanderzusetzen. Die Ethnologin Ruth Benedict schrieb, um die zukünftigen Aussichten zu erkennen, sei es notwendig, »Szenen von Verbrannten und Verwundeten, die endlos die Straßen ent­ langtaumeln, von lebendig Begrabenen, ... von Erbrochenem, Ei­ ter und langsamem Tod« zu sehen.33 Der Ökonom Stuart Chase war der Auffassung, »wir alle, Kinder und Erwachsene«, sollten Fotos und Filme von Hiroshima anschauen. »Wir sollten die To­ ten, die Verletzten, die zerstörten Krankenhäuser, das Leid sehen. [Die Filme] sollten in jedem Kino laufen ... Wir sollten das Grauen unmittelbar, hart und ungeschminkt erfahren. [Nur] die unmittel­ bare Erfahrung kann uns zur Aufgabe anhalten, unsere Zivilisati­ on zu retten.«34 Ein anderer Autor forderte dramatische Wiederho­ lungen der Zerstörung, »bis der Mensch ... die Möglichkeit seiner eigenen Vernichtung mit eigenen Augen gesehen und mit unmit­ telbarer Emotion gefühlt hat«.35 Obgleich die amerikanische Öf­ fentlichkeit sich einmal mehr, einmal weniger mit dem furchter­ regenden Gespenst Hiroshima beschäftigen wollte, fehlte es nie an neuen Anreizen: der Besitz der Sowjetunion zunächst von Atom-, dann von Thermonuklearwaffen, der Schutzwahn, die Angst vor dem Fallout der Testbomben, die Kubakrise. In diesen Jahren gab es keinen vergleichbaren Anreiz für die Amerikaner, sich mit den Schrecken des Nationalsozialismus zu befassen. Verschiedene Autoren, die man nicht miteinander vergleichen sollte, sprachen von Auschwitz und Hiroshima als Zwillingssym­ bolen des von Menschen verursachten Massentods. Für einige war Auschwitz das Vorspiel eines künftigen, größeren Holocaust, ei­ ner wirklichen Endlösung für die ganze Menschheit, die in Fil­ men wie On the Beach, Planet der Affen und Dr. Seltsam darge­ stellt wurde. Der Physiker I. I. Rabi sagte mit Bezug auf das Wett-

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rüsten: »Heute werden ganze Völler auf g e re ih t, wie einst die Häftlinge in Auschwitz vor den Cfen.«3für erlittene Leiden< unterbreitetes Gesetz«

Es ist in den letzten Jahren zum Geneinplatz geworden, daß Isra­ el und der Holocaust die beiden Säulen der amerikanisch-jüdi­ schen »zivilen Religion« sind - die Symbole, die Juden in den Ver­ einigten Staaten verbinden, seien es Gläubige oder Nichtgläubige, seien sie politisch rechts, links oder n der Mitte aagesiedelt. Aber Mitte der sechziger Jahre spielte Israel, wie dei Holocaust, im amerikanisch-jüdischen Bewußtsein keine große Rolle - zumin­ dest nicht in den öffentlichen Äußerungen dieses Bewußtseins. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahien wurde Israel sehr viel wichtiger für die amerikanischen Judea und, in einer Spiralbewegung - äußerte man die Sorge um Israel mit einem Vo­ kabular, das den Holocaust wieder wachrief, und umgekehrt. Die amerikanische zionistische Bewegung hatte die amerikani­ schen Juden zum Engagement für eine jüdische nationale Heimat in Palästina angespornt, obgleich der israelische Ministerpräsident David Ben Gurion nach der Gründung dieser Heimat die ameri­ kanischen Zionisten bewußt und entscheidend schwächte. Viele zionistische Führungspersonen in den Vereinigten Staaten hatten auf Ben Gurions G egner in Israel gesetzt; auf jeden Fall hielt er es, sowohl zum Zweck, Spenden aufzutreiben, als auch zum Zweck des Lobbyismus fiir vorteilhafter, Beziehungen mit vermögenden und politisch einflußreicheren nichtzionistischen amerikanischen Juden zu knüpfen.1 Obwohl alle amerikanischen jüdischen Vertre­ ter wie auch ihre Wählerschaft allgemein Israel unterstützten, war der Grad der Verbundenheit mit dem neuen Staat sehr unter­ schiedlich. Nathan Perlmutter von der Anti-Defamation League wurde sipäter ein strenger Zionist. Vor 1967 schrieb er in einem Bericht, er sei über die Existenz Israels als Heimat vertriebener Ju­ den glücklich, aber »ich habe nicht das Gefühl eines jüdischen

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Heimatlands< ... Auf einer Liste für die beliebtesten Reiseziele lag Israel hinter Paris, England und Japan.«2 Lucy Dawidowicz vom American Jewish Committee war in den späteren Jahren ebenfalls eine glühende Anhängerin Israels. In den fünfziger Jahren war sie eine scharfe Kritikerin des neuen Staates gewesen, sie hatte Israels Bereitschaft, deutsche Reparationen anzunehmen, der Unterlas­ sung gegenübergestellt, Verantwortung für die vertriebenen Palä­ stinenser zu übernehmen. »Moral«, schrieb sie damals, »kann nicht so flexibel sein.«3 Gruppen wie der American Jewish Con­ gress orientierten sich stärker nach Israel, aber 1961 entschied sich sein Vorsitzender, Joachim Prinz, zur Erklärung, der »Zionismus ist - für alle praktischen Zwecke - gestorben«.4 Zur Zeit des SinaiKonflikts war der amerikanisch-jüdische Lobbyismus für Israel zu­ rückhaltend; in der unmittelbar darauffolgenden Wahl erhielt Eisenhower, der die Israelis scharf gerügt hatte, eine größere Zahl jüdischer Stimmen als 1952.5 Trotz des steigenden Wohlstands nahmen in den Jahren vor 1967 Spenden amerikanischer Juden an Israel ab. Anläßlich einer in den späten fünfziger Jahren durdigeführten Studie fragte man in einem Vorort im mittleren Westen, welches Verhalten einen guten Juden auszeichne. »Israel unter­ stützen« wurde von 21 Prozent angegeben, im Vergleich zu 58 Pro­ zent, die »Hilfe für die Unterprivilegierten« ankreuzten.6 Zwar gibt es keine Möglichkeit abzuschätzen, wie wichtig Israel Mitte der sechziger Jahre für die amerikanischen Juden war, doch ein­ deutig war es weniger wichtig als später. In welchem Ausmaß verband man, unabhängig davon, wieviel oder wie wenig amerikanische Juden in diesen Jahren über Israel nachdachten oder sprachen, Israel mit der Erinnerung an den H o­ locaust? Auch hier kann man schwerlich eine präzise Antwort g e ­ ben, außer, daß das Band lockerer war als in der Zukunft. Nachdem die Gründung Israels den Überlebenden des Holo­ caust eine Heimat verschafft hatte, erfolgte eine deutliche Abnah­ me des Umfangs, in dem Israel mit dem Holocaust im öffentlich en jüdischen Diskurs verbunden war. Sicher spielte der Holocaust zu ­ weilen eine Rolle in den Spendensammlungen für Israel, aber das kam in den fünfziger und frühen sechziger Jahren weniger vor als in den späten Vierzigern, allerdings aber wieder nach den späten

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Sechzigern. Einige amerikanische Zi> nisten drängen auf ein enge­ res Band, aber ihr Einfluß war fraglich. Zudem erhielten jene, die genau auf den israelischen Diskurs achteten - eine kleine Minder­ heit der amerikanischen Juden - keire eindeutigem Aussagen. Einerseits beanspruchten israelische Spitzen ein gewisses sym­ bolisches Eigentumsrecht am Holo:aust. Ein Btweis dieses An­ spruchs war der Plan, in Yad Vashem allen in Europa Ermordeten posthum die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen.? Israels Eigentumsrecht wurde zur Zeit des Eichmann-Prozesses neuer­ lich bekräftigt. Israel, sagte Ben Girion, »ist der Erbe der sechs Millionen ... der einzig rechtmäßige Erbe ... Häten sie überlebt, wäre die große Mehrheit von ihnen nach Israel gekommen«.8 Zur gleichen Zeit wirkten mehrere Faktoren daraufhin, Israels Ver­ bindung mit der europäischen Katas:rophe auf eia Minimum her­ abzusetzen. In der Selbstdarstellung Israels vor den sechziger Jah­ ren wurde der Holocaust heruntergespielt; es sali in die Zukunft, weniger in die Vergangenheit; betonte die Diskontinuität zwi­ schen dem verderbten Leben der Juden in der Diaspora und dem tapferen »neuen Juden« Israels. Yom Hashoah - der HolocaustGedenktag —wurde weitgehend nicht begangen, und Schulbücher zollten dem Holocaust wenig Aufmerksamkeit. In jenen Jahren waren die Israelis ebensowenig geneigt wie die amerikanischen Juden, Juden als Opfer darzustellen. ? Das Bild Israels in den Köp­ fen der meisten amerikanischen Juden war nicht das Land der von ihren Erinnerungen gepeinigten Überlebenden, sondern wurde von braungebrannten, blauäugigen jungen Sabras verkörpert, die mit ihren Hacken auf den Schultern singend auf die Felder mar­ schierten - »um die Wüste zum Blühen zu bringen«.10 Wie allgemein bekannt ist, war das Frühjahr 1967 ein dramati­ scher Wendepunkt in der Beziehung amerikanischer Juden zu Is­ rael. Weniger dramatisch und in einer weniger durchgreifenden Art und Weise kennzeichnet es ein wichtiges Stadium in ihrer sich ändernden Beziehung zum Holocaust. In der eskalierenden Nahostkrise verkündeten Sprecher der Araber ihre Entschlossenheit, »Israel von der Landkarte auszura­ dieren« und »die Juden ins Meer zu treiben«. Einer sagte, daß

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»den überlebenden Juden geholfen werde, in ihre Geburtsländer zurückzukehren«, aber, fügte er hinzu, »es wird sehr wenige Überlebende geben«.11 Die große Mehrheit der amerikanischen Juden, einschließlich vieler, die zuvor nicht das leiseste Interesse an Israel gezeigt hatten, hatten große Angst und stürzten sich in eine Unmenge von Kundgebungen und Spendenveranstaltungen. In Wirklichkeit war Israel kaum in ernster Gefahr. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Juni diskutierten Präsident Lyndon Johnsons Geheimdienstexperten darüber, ob es eine Woche oder zehn Tage brauchen werde, bis Israel seine Feinde besiegt habe.12 Aber das war nicht die Auffassung amerikanischer Juden, für die sich Israel an der Schwelle zur Zerstörung befand - und es ist un­ sere Wahrnehmung der Realität, nicht die Realität selbst, die unse­ re Reaktionen formt. Obwohl es in der amerikanisch-jüdischen Mobilisierung für Israel vor dem Krieg überraschend wenige Hin­ weise auf den Holocaust gab, waren Gedanken an einen erneuten Holocaust sicher vorhanden.^ Der Holocaust verwandelte sich für viele von einem »bloßen«, obgleich tragischen Bestandteil der Ge­ schichte zu einem drohenden und furchterregenden Zukunfts­ aspekt. Binnen weniger Tage verkehrte sich die Verzweiflung in Freu­ de, als die israelischen Streitkräfte die vereinigten arabischen Feinde demütigten, Jerusalem und die West Bank von Jordanien, die Golanhöhen von Syrien und Sinai von Ägypten besetzten. Der Sechstagekrieg - und noch mehr dessen hektisches Vorgeplänkel und triumphales Nachspiel - löste eine dauerhafte Umstellung der Tagesordnung des organisierten amerikanischen Judentums aus - im Sammeln von Spenden, beim Lobbyismus und im Wahl­ kampf. Oscar Cohen, ein langjähriger Vertreter der Anti-Defamation League, schrieb einem Freund, daß das organisierte amerika­ nische Judentum »eine Agentur der israelischen Regierung [ist]... deren Instruktionen es von Tag zu Tag befolgt«.14 Das allgemein verbreitete jüdische Verhalten erfuhr eine gründliche »Israelisierung«. Zum Kennzeichen des guten Juden oder der guten Jüdin wurde die Tiefe seiner oder ihrer Bindung zu Israel. Das Versäum­ nis, religiöse Pflichten wahrzunehmen und eine fast vollständige Unkenntnis des Judaismus waren erlaubt; das Fehlen der Begei­

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sterung für die israelische Sache (gan zu schweigen von öffentli­ cher Kritik an Israel) wurde unvereihlich. Die Veränderung schlug sich auch im Sprachgebraucl nieder, kippa ersetzte das Wort yarmulke und die israelische (sohardische) Aussprache des Hebräischen wurde vorherrschend - >chabbat (hebräisch) trat an die Stelle von Schabbes (jiddisch), baian die Stelle von bas mitzvah. Israelische Kunstgegenstände in Wohnzimmer wurden so obligatorisch wie ein Mesusah am Jahmen der Haustür. (Eine Kenntnis von Israel wurde keineswejs gefordert. Eine Umfrage aus den achtziger Jahren enthüllte, da> weniger als ein Drittel der amerikanischen Juden wußte, daß die Erzfeinde Menachem Begin und Schimon Peres Mitglieder verschitdener Parteien waren.)15 Im Verhältnis der amerikanischer Juden zu Israel war der Sechstagekrieg der unmittelbare unc wichtigste Grund für die neue Nähe. Was den Holocaust und de Bande betrifft, die ameri­ kanische Juden zwischen dem Holocmst und Israel herstellten, läßt sich ein einzelnes entscheidende* Moment schwerer ausma­ chen. Wir müssen nicht nur den Seclstagekrieg in Betracht zie­ hen, sondern auch den Jom-Kippur-Krieg von 1973, und auch die (im nächsten Kapitel betrachteten) Inhndsentwicklungen, die die Wirkung verstärkten. Gleichwohl kommt dem Sechstagekrieg Be­ deutung zu. Die Ängste vor einem erneuten Holocaust am Vor­ abend dieses Krieges hinterließen ihre Spuren im amerikanisch­ jüdischen Bewußtsein. Ebenso wichtig war die Art und Weise, wie das Bild der Juden als Kriegshelden geholfen hat, das Stereotyp schwacher und passiver Opfer auszulöschen, das, wie oben er­ wähnt, zuvor die jüdische Diskussion über den Holocaust verhin­ dert hatte. (Es kursierten viele Witze und Karikaturen darüber, den ins Stocken geratenen amerikanischen Militäreinsatz in Vietnam General Mosche Dajan zu übergeben.) Der »wunderbare« Sieg Israels erleichterte die Integration des Holocaust in das jüdische religiöse Bewußtsein. Für Juden mit ei­ nem Rest von traditionellem religiösen Glauben hatte der Holo­ caust ein sehr ernstes Problem dargestellt. Es war nicht nur das jahrhundertealte Problem der Theodizee, das von allen religiösen Traditionen geteilt wird: Wie versöhnt man einen Gott, der all­ wissend, allmächtig und gütig ist, mit der Existenz grauenhaften

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Leidens? Für religiöse Juden ging das Problem über die Theodizee hinaus: Wie ließ sich der Holocaust mit dem Bund mit Gott ver­ einbaren - Gottes besondere Verbindung mit dem jüdischen Volk als sein Beschützer? Es gab eine Antwort der Orthodoxen darauf: Genau wie frühere Katastrophen stellte der Holocaust ein weiteres Warnzeichen Gottes an die Juden dar, die sich ihrerseits nicht »durch unerschütterliche Liebe« an den Bund hielten. Diese Er­ klärung fand bei wenigen Juden außerhalb der ultraorthodoxen Kreise Anklang; die meisten fanden sie hassenswert. Eine allge­ meine Reaktion war Ausweichen: Der Rektor einer jüdischen reli­ giösen Schule soll den Holocaust im Unterricht abgelehnt haben, weil er »Gott schlecht aussehen läßt«.16 Aber in einer Weise, die bei vielen Juden Anklang fand, ermög­ lichte der Sechstagekrieg eine Volkstheologie von »Holocaust und Sühne«. In den Worten Jacob Neusners war sie ein Erlösungsmy­ thos »von der Dunkelheit ans Licht; eine Irrfahrt durch die Unter­ welt ... dann, endlich, gereinigt durch Leiden und Blut, die An­ kunft in einem neuen Zeitalter«. Die Vernichtung der europäischen Juden konnte d e r H o lo c a u s t erst am 9. Juni werden, als der Staat Israel nach einem bemer­ kenswerten Sieg die Rückkehr des Volkes Israels zur alten Mauer des Tempels von Jerusalem feierte. An diesem Tag fand die Ver­ nichtung des europäischen Judentums ihr - wenn nicht glückli­ ches, aber zumindest zufriedenstellendes - Ende, das zur Ver­ wandlung der Ereignisse in einen Mythos diente und ein Symbol mit einer einzigen unabwendbaren Bedeutung begründete.17

Rabbi Irving Greenberg sollte später Vorsitzender der Präsiden­ tenkommission für den Holocaust werden, der den Bau eines Mu­ seums in Washington anregte. In den Nachwirkungen des Sechs­ tagekrieges schrieb er, er habe Gott eine zweite Chance gegeben: In Europa hat Er bei Seiner Aufgabe versagt ... Das Versäumnis, im Juni zu erscheinen, hätte eine noch entscheidendere Zerstö­ rung des Bundes bedeutet. (Als wir die Nachrichten vom Kriegs­ ausbruch hörten, fragte mich ein Gemeindemitglied: Was machen

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wir, wenn wir verlieren? Meine Antvot war: Du wirst ein Schild außen vor der Synagoge finden, auf lern geschrieben steht: »Wir haben geschlossen.«)18

Eine der üblichen Möglichkeiten, tht «logisch mit dem Holocaust umzugehen, ist das Konzept des hesei panim , Gottes zeitweiliges »Verbergen Seines Antlitzes«. Jenei,die ihm anhingen, diente der Ausgang des Krieges von 1967 asBeweis, daß das Verbergen beendet war; Er erledigte wieder seine Pflicht.19 Aber das Vermächtnis des Sechszagekrieges - besonders die Siegesstimmung in der Zeit nach dem Krieg - war kein klares Zei­ chen für eine Konzentrierung auf der. Holocaust im amerikanisch­ jüdischen Bewußtsein. Der Ausgang des Krieges ließ darauf schlie­ ßen, daß die, obwohl verständliche, Furcht vor einem neuen Holo­ caust unberechtigt war. Er schien die radikale Diskontinuität zwi­ schen den schlimmen alten Tagen der jüdischen Verwundbarkeit und dem neuen Zeitalter der jüdischen Unverletzbarkeit zu zeigen. Sicher konnte, wie Jacob Neusner nahelegte, der Holocaust zusam­ men mit dem Sechstagekrieg jetzt in den Erlösungsmythos kanoni­ siert werden. Aber solche Mythen erzählen, mit seinen Worten, vom »alten und vom neuen Sein, vom Sieg über Tod und Trauer ... vom Aussterben früherer Dinge«.20 Wenn der Sieg von 1967 die Seelen­ qualen Israels beendet hätte, hätte der Holocaust auf diese Weise ins amerikanisch-jüdische Bewußtsein dringen können - als ein untergeordnetes, Geschichte gewordenes und überwundenes Ele­ ment in einem Erlösungsmythos. Doch nahm der Holocaust nicht auf diese Weise einen zentralen Platz im amerikanisch-jüdischen Bewußtsein ein. Eher legte er, wie viele andere nationale Mythen, ei­ nen anhaltenden, vielleicht dauerhaften, jüdischen Zustand fest. Gravierende Bedeutung für die Änderung der Weltanschauung vieler ist dem Jom-Kippur-Krieg 1973 beizumessen. Obwohl Israel letztlich siegreich war, wurde der Sieg erst nach ernsten und furchteinflößenden Niederlagen und nach beträchtlichen israeli­ schen Verlusten errungen. Das Entrinnen aus der Katastrophe war in großem Maße der Luftversorgung mit amerikanischem Nachschub während der Kämpfe zu verdanken. Die Kriegsfolgen

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waren für Israelis und amerikanische Juden weitreichend. Die Il­ lusionen von der israelischen Unbesiegbarkeit und Unabhängig­ keit gehörten zu den Opfern des Krieges. Auf der Strecke blieb auch der Gegensatz, der traditionell von den Zionisten hergestellt wurde, zwischen der Verwundbarkeit der Juden in der Diaspora, die im Holocaust gipfelte, und der Sicherheit, die die Juden in ei­ nem jüdischen Heimatland finden konnten. Eindeutig gab es kei­ nen Platz auf der Welt, der weniger sicher für Juden war als Israel. Ferner gab es eine große Besorgnis über Israels wachsende Iso­ lierung auf der Welt. Zur Zeit des Sechstagekrieges hatten die mei­ sten Völker im Westen Israels Sieg begrüßt. Aus einer Vielfalt von Gründen entfremdete sich Israel 1973 sogar von seinen einstigen Freunden. Die amerikanische Regierung unterstützte Israel noch, aber wie sicher konnte man dieser Unterstützung sein, besonders wenn sie kostspielig war? Vom Standpunkt der amerikanischen Au­ ßenpolitik konnte die massive Hilfe für Israel die sehr gewünschte Entspannung mit der Sowjetunion bedrohen. In den Vereinigten Staaten konnte, angesichts der Ölpreise, die die arabischen Staaten als politische Waffe einsetzten, Hilfe für Israel weitere Kosten mit sich bringen. Wie würde vor allem das gerade aus dem VietnamAlptraum erwachte amerikanische Volk auf Aufrufe reagieren, Op­ fer zu bringen, um einen kleinen, von größeren Nachbarn bedroh­ ten Staat am anderen Ende der Welt zu verteidigen? Eine mögliche Antwort war: »Das haben wir doch schon gehabt.« Die amerikanischen Juden (und auch Israelis) erkannten in der Situation des verwundbaren und isolierten Israel zunehmend eine beängstigende Parallele zur Lage der europäischen Juden 30 Jahre zuvor. War die Furcht im Mai 1967 eine kurze und schnell verfloge­ ne Angst eines erneuten Holocaust, wurde sie nun zu einem fort­ dauernden Schreckgespenst. Nach dem Krieg von 1973 stand der Song »The Whole World Is Against Us« (Die ganze Welt ist gegen uns) an erster Stelle der Charts in Israel; und in den Vereinigten Staaten schrieb Cynthia Ozick »All the World Wants the Jews Dead« (Die ganze Welt will den Tod der Juden). Doch obwohl zu diesem Zeitpunkt, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, andere Fak­ toren am Werk waren, kamen nicht nur Gespräche über den Holo­ caust auf, sondern wurden auch zunehmend institutionalisiert.21

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Ein um das andere Mal, besonders m internen und zwanglosen jüdischen Diskurs, war die Verknüpfuig von Israels mißlicher Lage mit dem Holocaust reflexartig und unwissenschaftlich: Die Assozia­ tion erfolgte ohne jede strategische Beechnung oder Rücksicht auf rhetorische Wirkung. Wir blicken jedch nicht nur auf die Zahl pri­ vater Unterhaltungen, sondern auf die massiven Bemühungen kommunaler jüdischer Organisationen, das »Holocaust-Bewußt­ sein« zu fördern. Gemeindevertreter verden gewählt, um strategi­ sche Überlegungen anzustellen und drüber nachzudenken, welche Mittel voraussichtlich die gewünschten Ziele erreichen könnten, und um wirkungsvolle Programme au der Grundlage ihrer Schluß­ folgerungen zu entwickeln. Ihre Interesen und Entscheidungen für ein Vorgehen werden beeinflußt und x>rbestimmt durch ihre Wäh­ lerschaft. Wenn sie erfolgreich arbeitei, ändern sie wiederum diese Meinungen auch. Ist der Prozeß eine Zeit im Gang, läßt sich un­ möglich das Spontane und das Ausgedachte voneinander trennen. Unmittelbar nach dem Jom-Kippu:-Krieg waren amerikanisch­ jüdische Vertreter mit dem quälenden Problem konfrontiert, das von Leonard Fein, dem Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Mo­ ment, zusammengefaßt wurde: Eine komplexe Furcht hat uns seit dein Oktober 1973 erfaßt. Ihre Wurzeln liegen in unserem erneuerten Bewußtsein der jüdischen Verwundbarkeit, die jetzt in weiten Kreisen als dauerhaft, viel­ leicht sogar als endgültig wahrgenommen wird ... Die schreckliche Isolierung Israels, das dramatische Übergewicht der Araber ..., Israels fast vollständige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten - das sind Aspekte unseres gegenwärtigen Schwermuts. Wir suchen unsicher nach einem Weg, für Israel zu argumen­ tieren, einem Weg, der hinlänglich zwingend sein könnte, der Be­ drohung eines Ölembargos, arabischer wirtschaftlicher Repressa­ lien Herr zu werden ... einem Weg, der hinlänglich zwingend ist, das postvietnamesische Amerika zu überzeugen, die Lasten und Risiken von Israels Verteidigung auf sich zu nehmen ... Bei einem so großen Einsatz und so offenkundigen Gefahren suchen wir nach den schlagendsten Argumenten ... Wir reden versuchsweise, testen die Stärke einer Vorgehensweise gegen eine andere.22

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Die Übergangsjahre

Als amerikanisch-jüdische Vertreter die Gründe für die Isolierung und Verwundbarkeit Israels zu erkennen suchten - Gründe, die vielleicht auf ein Heilmittel hinweisen könnten traf die Erklä­ rung auf breite Zustimmung, daß das Verblassen der Erinnerun­ gen an die Verbrechen des Nationalsozialismus an den Juden und das Auftauchen einer Generation, die nichts über den Holocaust wußte, Israels Verlust der einstigen Unterstützung zur Folge hat­ ten. Unter denen, die dieses Argument vorgebracht hatten, waren zwei Spitzenfunktionäre der Anti-Defamation League, Arnold For­ ster und Benjamin Epstein, die es in einem überall besprochenen, unmittelbar nach dem Jom-Kippur-Krieg geschriebenen Buch er­ läuterten: Eine lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg half das Mitleid für die sechs Millionen jüdischen Opfer des Nazivölkermords ... Tü­ ren zu öffnen, die hier und im Ausland für die Juden verschlossen waren. Sicher war der Staat Israel einer der unmittelbaren Nutz­ nießer der weltweiten Sympathie für die jüdischen Opfer des Na­ tionalsozialismus ... In der Nachkriegswelt... [war] die Zeit, in der die nichtjüdische Welt die Juden noch als Unterdrückte ansah, unglaublich kurz. Innerhalb von 25 Jahren, nachdem die Fotos der Greueltaten in den Konzentrationslagern die Welt schockiert hatte ... waren die Juden keine Opfer mehr.

Die Tatsache, daß man den Holocaust vergessen hatte, behaupte­ ten sie, habe den »offensichtlichen Verschleiß der weltweiten Sympathie und Freundschaft für Juden« verursacht. Juden, folger­ ten sie, waren für die nichtjüdische Welt insofern akzeptabel, als sie als Opfer wahrgenommen wurden. Wenn sie nicht länger als Opfer wahrgenommen wurden, war das für die Welt »schwer zu begreifen«, und sie bemühte sich, »sie aufs neue zu Opfern zu machen«.23 Wir fühlen uns alle zu Erklärungen hingezogen, die beweisen, daß unser Unglück der Fehler anderer ist und wir schuldlos sind. In Wirklichkeit war der wichtigste Grund für Israels abnehmen­ des Ansehen niemandes Schuld. Er war das Ergebnis einer massi­

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ven Veränderung des globalen Dnkens seit den Anfängen des zionistischen Unternehmens bis :u der Zeit, da dieses Früchte trug. Als der politische Zionismuün den 1890er Jahren geboren wurde, befand sich die europäiscie Expansion auf dem Höhe­ punkt, und nichts schien selbstvertändlicher als eine europäische Siedlung im nichteuropäischen Gbiet, die Errichtung von Vorpo­ sten der europäischen Oberherrsclaft und der Transfer der westli­ chen Aufklärung in den unaufgedärten Osten. Der Zionismus war nicht einfach oder allein ein Beispiel dieses Phänomens weit gefehlt -, aber auch. Theodo: Herzl hatte argumentiert, ein jüdischer Staat in Palästina sei ein /orposten der westlichen Zivili­ sation gegen die östliche Barbarei, mnd viele christliche Verfechter des Zionismus betrachteten ihn weiterhin als einen solchen. Zur Zeit der Gründung Israels 1948 ärderte sich das, in der nächsten Generation zog der Wandel wie ehe Flut über die Landkarte, als Kolonialreiche hinweggefegt wurden, als die Aufstände nichteuro­ päischer Völker, in deren Mitte sici die Europäer befanden, nicht abrissen. In den fünfziger Jahrer. wurde Israels Unternehmen Suez mit den einstigen imperialen Mächten, Großbritannien und Frankreich, gestartet und fast einteilig als eine anachronistische Praxis des Neokolonialismus verureilt. »Siedlerregime« wurde zu einem Schimpfwort. Der Wandel wurde politisch institutionali­ siert, als die UN-Vollversammlung schließlich von Vertretern ei­ ner großen Zahl nichteuropäischer, kürzlich aus europäischer Herrschaft entlassener Länder beherrscht wurde. Vor 1967 hatte das alles eine beträchtliche Bedeutung für Israels globales Ansehen gehabt, aber es handelte sich nicht um ein ernst­ liches Problem. Israel hatte sehr gute Beziehungen zu einer An­ zahl vor kurzem unabhängig gewordener afrikanischer Staaten. Dann folgte sein überwältigender Sieg - und die territoriale Expan­ sion - im Sechstagekrieg. Juden erinnerte der Sieg des kleinen Is­ rael über seine großen Nachbarn an David und Goliath. Für viele rund um die Welt rief er bittere Erinnerungen an frühere Fälle wach (Cortes in Mexiko, Clive in Indien), in denen eine kleine Streitmacht von Europäern »die Eingeborenen« erobert hatte. Wenn man den Kolonialvergleich weiterspann, hatte sich Israel zum Herrscher über mehr als eine Million Palästinenser in der

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Die Übergangsjahre

West Bank und in Gaza gemacht. Unmittelbar nach dem Sechs­ tagekrieg flehte der in Ruhestand gegangene David Ben Gurion seine Landsleute an, die eroberten Territorien zu jeden möglichen Bedingungen zurückzugeben. Ihr Besitz, sagte er, werde den israe­ lischen Staat verformen oder sogar zerstören.24 Man hörte nicht auf ihn. Schon innerhalb eines Kriegsjahres begann Israel damit, »Fakten auf dem Boden« zu schaffen: Es entstanden immer mehr jüdische Siedlungen in den neu hinzugewonnenen Gebieten. Isra­ els Ministerpräsidentin Golda Meir erklärte 1969 mit an »ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« erinnernden Worten, daß es keine Palästinenser gäbe.25 In den frühen siebziger Jahren lehnte Israel das Friedensangebot des ägyptischen Präsidenten Anwar asSadat ab. Es gab Zwischenfälle wie den israelischen Angriff auf ei­ ne libysche Linienmaschine Anfang 1973, der zum Tod von hun­ dert Zivilpassagieren führte. Der Punkt ist nicht, Israel müsse für alle Probleme im Nahen Osten nach 1967 verantwortlich gemacht werden, was definitiv nicht zutraf - es gab Verbrechen und grobe Fehler in Hülle und Fülle auf der anderen Seite. Vielmehr soll hier daraufhingewiesen sein, daß die Erklärung für Israels schwinden­ des Ansehen in der Welt keine Hypothesen über die »verblassen­ den Erinnerungen an den Holocaust« benötigte. Das Mitgefühl für die jüdischen Überlebenden des Holocaust gehörte sicher zu den Faktoren, die 1947 die Vereinten Nationen bewegten, die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina zu unterstützen. Aber diese Entscheidung hatte den Ansprüchen der Palästinenser gleiches Gewicht zugebilligt, deshalb hatte die UNO für eine Teilung des Landes gestimmt. Nach 1967 und besonders nach 1973 kam ein Großteil der Welt zur Ansicht, der Nahostkon­ flikt wurzele im palästinensischen Kampf, um verspätet die ur­ sprüngliche Absicht der Vereinten Nationen in die Tat umzuset­ zen. Es gab für jüdische Organisationen gewichtige Gründe, das alles nicht zu beachten und sich statt dessen vorzustellen, Israels Schwierigkeiten gingen darauf zurück, daß die Welt den Holo­ caust vergessen habe. Das Holocaust-Deutungsmuster erlaubte, jede legitime Kritik an Israel als irrelevant beiseite zu schieben, sogar das Nachdenken über die Möglichkeit zu meiden, Recht und Unrecht könnten komplex sein. Außerdem konnten amerika­

»Ein für >erlittene Leiden< unterbreitetes tieg des Holocaust zum er­ sten jüdischen Tagesordnungspunkt - obwohl er bei den amerika­ nischen Juden eine gewisse »Populartät« hatte - keineswegs eine spontane Entwicklung. Mehr als jede: andere war er das Ergebnis von Entscheidungen von Gemeindevorstehern als Antwort auf ihre Einschätzung der aktuellen Gerreindebedürfnisse - was sich in der Behandlung unmittelbarer Probleme als wirksam erwies. Daß das Endergebnis dieser Entschedungen war, den Holocaust in den Mittelpunkt des Selbstverstäninisses und der Vermittlung dessen, wie sich Juden selbst verstanden, zu rücken und anderen Verständnis für sie zu vermitteln, w a von den meisten, die den Prozeß in Gang gebracht hatten, wecer voraussehbar noch beab­ sichtigt gewesen. Der Anlaß für diejenigen, die seit den sechziger Jahren auf eine »Begegnung« mit dem Holocaust drängten, war die Bestürzung über das verhältnismäßige Schweigen der Nach­ kriegsjahre, als viele Juden sich dessen schämten. Jahre später wa­ ren sie häufig genauso bestürzt, als viele Juden stolz darauf zu sein schienen.

Teil IV Jüngste Vergangenheit

ю . Kapitel

»Billigt keinen Fanatismus«

Seit den 1970er Jahren wird der Holocaust nicht mehr nur als jü­ dische Erinnerung dargestellt - und eingeschätzt sondern als eine amerikanische. In einer wachsenden Anzahl von Staaten ist der Holocaust obligatorischer Bestandteil des Lehrplans staatli­ cher Schulen. In den höheren Rängen der amerikanischen Armee werden Anleitungen zur Durchführung von »Gedenk­ tagen« verteilt, und jedes Jahr werden Gedenkfeiern in der Ro­ tunde des Kapitols veranstaltet. In den vergangenen 20 Jahren hat jeder Präsident die Amerikaner aufgefordert, die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren. Die Unterhaltskosten des Was­ hingtoner Holocaust-Museums - für die ursprünglich private Spenden aufkommen sollten - werden größtenteils von der Bun­ desregierung finanziert. Das New England Holocaust Memorial befindet sich in Boston neben Gedenkstätten für die amerikani­ sche Geschichte wie dem Haus von Paul Revere und dem Bunker Hill Monument am Freedom Trail. Regierungsvertreter im ganzen Land haben den Amerikanern mitgeteilt, es sei ihre Pflicht als Bürger, Schindlers Liste anzusehen. Wie konnte das europäische Ereignis eine derartige Bedeutung im amerikani­ schen Bewußtsein erlangen? Ein Gutteil der Antwort ist in der Tatsache zu suchen - die da­ durch nicht weniger eine Tatsache wird, daß Antisemiten sie zu einem Ärgernis erklären -, daß die Juden eine wichtige und ein­ flußreiche Rolle in Hollywood, in der Fernsehindustrie sowie beim Verlegen von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern spie­ len.1 Jeder, der die große Aufmerksamkeit erklären möchte, die dem Holocaust während der letzten Jahre in diesen Medien zuteil wurde, ohne diese Tatsache einzubeziehen, wäre naiv oder unauf­ richtig. Dieser Teil der Antwort hat natürlich nichts mit einer jüdi­ schen Verschwörung zu tun - die Juden in den Medien tanzen

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Jüngste Vergangenheit

nicht nach der Pfeife der »Ältesten von Zion«. Er hat auch nichts mit dem Vorhandensein vonfuden in den Medien per se zu tun, was eine alte Geschichte ist, sondern damit, um welche Art von Juden es sich handelt. Von den siebziger Jahren an wurde eine Anzahl Juden, die keine besonderen jüdischen Anliegen hatten oder sich scheuten, ihre diesbezüglichen Anliegen zu äußern, durch eine Anzahl von Juden ersetzt, von denen viele tief empfun­ dene Anliegen hatten und sie deutlich äußerten. Die Verbreitung des Holocaust über die jüdischen Kreise hinaus auf die gesamte amerikanische Öffentlichkeit resultierte zu einem großen Teil aus privaten und freiwilligen Entscheidungen von Juden, die zufällig strategische Positionen in der Massenmedien innehatten. Die Verbreitung war jedoch nicht vollständig privat und freiwil­ lig. Wenn die Amerikaner durch ein Bewußtsein vom Holocaust zu einer verständnisvolleren Haltung gegenüber Israel bewegt werden konnten, wie viele der Mitglieder jüdischer Organisationen glaubten, so mußten Anstrengungen unternommen werden, die­ ses Bewußtsein in der amerikanischen Gesellschaft zu verbreiten. Blu Greenberg, die Ehefrau von Rabbi Irving Greenberg, schrieb, sie sei ursprünglich für ein ausschließlich jüdisches Gedenken an den Holocaust eingetreten, da diese Gelegenheiten »ein Moment des Einkehrens in die eigene Gruppe« bildeten. Nach dem Besuch einer interkonfessionellen Yom-Hashoah-Zeremonie fand sie es je­ doch »bewegend und beruhigend zu sehen, wie Christen ihre Trä­ nen mit uns teilen, die christliche Schuld anerkennen und sich für die Sicherheit Israels einsetzen«.2 Tatsächlich konnte das Ziel, das Holocaust-Bewußtsein unter den Juden zu verbreiten - für die Zwecke des »Überlebens« oder andere -, nur durch eine allgemei­ ne Verbreitung des Holocaust-Bewußtseins erreicht werden. »Da­ mit die Juden den Ort des Holocaust innerhalb des jüdischen Be­ wußtseins festigen können«, schrieb Michael Berenbaum vom Washingtoner Holocaust-Museum, »müssen sie seine Bedeutung für das gesamte amerikanische Volk heraussteilen.«3 Nicht alle Bemühungen, das Holocaust-Bewußtsein zu verbrei­ ten, gingen von Juden aus - a u f die Ausnahmen wird weiter unten eingegangen -, aber die meisten, viele von ihnen unter beträchtli­ chem Einsatz der Ressourcen der jüdischen Gemeinde. Einige der

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Bemühungen richteten sich auf bestimmte Zielgruppen wie die katholische oder protestantische Kirche oder die Schulen. Manch­ mal unterstützten Juden die eigenständigen Bemühungen ande­ rer, beispielsweise die Fernsehserie Holocaust des Senders NBC im Jahre 1978. Bei offiziellen Initiativen der Regierung handelte es sich faktisch oft um Initiativen jüdischer Mitarbeiter, die Pro­ jekte vorantrieben, von denen sie überzeugt waren und die gleich­ zeitig das Ansehen ihrer Vorgesetzten bei der jüdischen Wähler­ schaft steigerten. Das ist nichts Verwerfliches; jede Interessen­ gruppe im amerikanischen Pluralismus tut das. Dennoch sollte man das Phänomen im Hinterkopf behalten, um die Tiefe und Freiwilligkeit der Stellungnahmen nichtjüdischer Personen des öffentlichen Lebens nicht zu überschätzen. In jedem Fall ist die »Bauchrednerei zwischen übereinstimmenden Erwachsenen« ei­ ne altehrwürdige Praxis. In die Wand des Holocaust-Museums in Washington sind die Worte George Washingtons gemeißelt, die er in einem Brief an die jüdische Gemeinde von Newport 1790 benutzte: »Die Regie­ rung der Vereinigten Staaten ... billigt keinen Fanatismus und un­ terstützt keine Verfolgung.« Eine bewahrenswerte Überzeugung, der die amerikanische Regierung meistens entsprochen hat, zu­ mindest was die Juden betrifft.4 Wie die Bemühungen auch entstanden und motiviert sein mochten, das Eindringen des Holocaust in den allgemeinen ame­ rikanischen Diskurs warf neue Fragen auf. Wenn der Holocaust einem Massenpublikum nahegebracht werden sollte, was waren angemessene und was unangemessene Darstellungsweisen? Wel­ che Kompromisse waren zulässig und welche unzulässig, um das Thema den Massen nahezubringen? Das Eindringen des Holo­ caust in den amerikanischen Diskurs hat in vielen Fällen zu einer Neudefinition des Wortes »Holocaust« selbst geführt. Als die Rol­ le des Holocaust in den Vereinigten Staaten immer bedeutender und er in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt wurde, er­ wuchs wiederholt das Problem, zwischen dem (legitimen) »Ge­ brauch« und dem (illegitimen) »Mißbrauch« des Holocaust und seiner Symbolik zu unterscheiden. Schließlich ist zu fragen, wie die Nichtjuden dem Diskurs über den Holocaust begegneten.

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Ohne Zweifel war die wichtigste Phase für das Eindringen des Ho­ locaust in das allgemeine amerikanische Bewußtsein die Sendung Holocaust im April 1978. Nahezu 100 Millionen Amerikaner sa­ hen die gesamten oder fast die gesamten neuneinhalb Stunden der vierteiligen Sendereihe.5 Wie zu jener Zeit oft festgestellt wur­ de, erhielten die Amerikaner an vier Abenden mehr Informatio­ nen über den Holocaust als in den gesamten vorangehenden 30 Jahren. Die Sendung zeichnete zehn Jahre des Lebens zweier er­ fundener Familien nach - einer Familie assimilierter deutscher Juden und einer, deren Oberhaupt ein hochrangiger SS-Mann war. Durch diese Konstruktion konnte die Serie die wichtigsten Stationen der Geschichte behandeln: die Nürnberger Rassengeset­ ze, die Reichskristallnacht, die Wannseekonferenz, Babi Jar, den Aufstand des Warschauer Gettos, Buchenwald, Theresienstadt und Auschwitz. Die Serie war ein kleiner Überblickskurs. NBC machte viel Werbung für die Serie - als Antwort auf die außerordentlich erfolgreiche Sendung Roots des Konkurrenten ABC im Jahr zuvor. Aber die Anstrengungen von NBC verblaßten gegenüber denen der organisierten Judenschaft. Wie wir gesehen haben, wurde die Reihe zu einer Zeit gesendet, in der die jüdi­ schen Organisationen den Holocaust zu ihrem Thema erkoren hatten. Sie war also eine einzigartige Gelegenheit. Die Anti-Defamation League verteilte zehn Millionen Exemplare ihres 16-seiti­ gen Blattes The Record, um Werbung für die Serie zu machen. Jü­ dische Organisationen drängten große Zeitungen mit Erfolg, Ge­ rald Greens Romanfassung des Fernsehspiels als Fortsetzungsge­ schichte zu drucken oder Sonderbeilagen über den Holocaust zu veröffentlichen. (The Chicago Times verteilte Hunderttausende Exemplare ihrer Beilage an Schulen.) Das American Jewish Com­ mittee verteilte in Zusammenarbeit mit der NBC mehrere Millio­ nen Exemplare eines Leitfadens an die Fernsehzuschauer. Ge­ meinsam mit dem National Council of Churches erarbeiteten die jüdischen Organisationen Werbe- und Lehrmaterial und organi­ sierten vorgezogene Aufführungen der Sendung für die Vertreter religiöser Gruppen. Der Tag des Serienstarts wurde »HolocaustSonntag« genannt. In den Städten des ganzen Landes fanden ver­ schiedene Veranstaltungen statt. Die National Conference of Chri-

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stians and Jews verteilte gelbe Sterne, die an diesem Tag getragen werden sollten.6 Diese Bemühungen zielten auf Nichtjuden. Für die Verwirkli­ chung von Berenbaums Diktum, die Herausstellung der Bedeutung des Holocaust für alle Amerikaner werde ihn auch für die Juden be­ deutsam machen, bot die Serie der NBC allerdings auch eine einzig­ artige Gelegenheit. Daher sprachen ein großer Teil der Werbung der jüdischen Organisationen und viele Aktivitäten, die die Serie beglei­ teten, die amerikanischen Juden an, von denen nahezu alle die Sen­ dung angeschaut zu haben scheinen. »Für Juden«, hieß es in einer jüdischen Zeitschrift, hat das Sehen der Sendung »die Natur einer religiösen Verpflichtung.«7 Der Direktor einer jüdischen Schule in Pittsburgh nannte Holocaust eine »Schocktherapie für die Entwick­ lung einer jüdischen Identität.«8 Es gab Unterschiede zwischen dem Material, das die jüdischen Organisationen für nichtjüdische Zuschauer anfertigten, und dem für jüdische Zuschauer gedachten. Die Serie enthielt mehrere Hinweise auf christlichen Antisemitis­ mus, das Schweigen der Kirchen während des Holocaust und die Beteiligung von Osteuropäern an den Morden der Nationalsoziali­ sten. Das Blatt The Record der Anti-Defamation League brachte kei­ ne derartigen Hinweise, sondern erwähnte vier Fälle, in denen Kle­ riker Widerstand geleistet oder Juden gerettet hatten - wahrschein­ lich nach Maßgabe der Öffentlichkeitsarbeit. Die Leitfäden für jun­ ge Juden, die von mehreren jüdischen Organisationen gemeinsam verfaßt wurden, unterschieden sich stark davon. In ihnen war mehrfach die Rede von christlichem Antisemitismus und osteu­ ropäischen Kollaborateuren. Es fanden sich auch abschätzige Be­ merkungen über das hohe Maß an Assimilation der Familie der jü­ dischen Protagonisten der Serie und ihre Unbekümmertheit ge­ genüber der Hochzeit ihres Sohnes mit einer Nichtjüdin. Misch­ ehen gehörten zu den vorgeschlagenen Themen, die nach der Serie verhandelt werden sollten. Unter den Fragen, die die Leitfäden für eine Diskussion empfahlen, waren: »Was können wir in der Fern­ sehsendung über diejenigen lernen, die vergessen wollten ..., daß sie Juden waren?« - »Sollten Juden immer die Gültigkeit ihrer Päs­ se prüfen, für den Fall eines Falles?« - »Haben Sie eine Feuerwaf­ fe?« - »Sind Sie der Meinung, eine haben zu sollen ?«9

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Mit wenigen Ausnahmen waren die Kritiker und Kommenta­ toren begeistert über die Serie Holocaust10 Nachdem sie so große Anstrengungen für die Werbung auf sich genommen hat­ ten, waren die führenden jüdischen Organisationen dementspre­ chend voll des Lobes. »Ich habe den ganzen Film dreimal gese­ hen«, meinte Rabbi Marc Tannenbaum vom American Jewish Committee. »Und jedesmal mußte ich schreien wie ein Baby. Er hat wirklich eine verändernde Kraft. Er könnte wirklich etwas be­ wirken.«11 Diese erste Darstellung des Holocaust für ein Massenpublikum war jedoch auch der Auslöser für die Kritik an einer solchen Dar­ stellung. Am ersten Tag der Ausstrahlung der NBC-Serie brachte die New York Times einen Artikel von Elie Wiesel mit dem Titel »Trivialisierung des Holocaust«: Unwahr, anstößig und billig ... eine Beleidigung für die, die ge­ storben sind, und die, die überlebt haben ... Er verwandelt ein on­ tologisches Ereignis in eine Seifenoper ... Wir sehen endlose Pro­ zessionen von Juden, die nach Babi Jar laufen ... Wir sehen die nackten Leiber bedeckt mit »Blut« - und es ist alles eine Illusion ... Man wird mir entgegenhalten, daß ... ähnliche Techniken für Kriegsfilme und historische Darstellungen benutzt werden. Aber der Holocaust ist einzigartig; kein Ereignis unter vielen. Die Serie behandelt den Holocaust, als sei er ein Ereignis unter vielen ... Auschwitz kann nicht erklärt oder in Bildern dargestellt werden... Der Holocaust transzendiert die Geschichte ... Die Toten besitzen ein Geheimnis, das zu erlangen wir Lebenden weder wert noch fähig sind ... Der Holocaust [ist] das ultimative Ereignis, das ulti­ mative Mysterium, das nie verstanden oder mitgeteilt werden kann. Nur diejenigen, die dort waren, wissen, was es war; die an­ deren werden es nie wissen.12

Nicht jeder war bereit, Wiesels Behauptung zuzustimmen, der Holocaust sei ein heiliges Mysterium, dessen Geheimnisse auf die Priesterschaft der Überlebenden beschränkt waren. Auf eine dif­ fuse Weise hatten die Behauptungen, der Holocaust sei ein heili­ ges Ereignis, das sich einer profanen Darstellung widersetze, er

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sei einer Erklärung oder einem Verständnis in einzigartiger Weise unzugänglich, die Überlebenden hätten die Autorität über die Interpretation, jedoch Nachwirkungen, wenngleich ihr Einfluß insgesamt schwer einzuschätzen ist. Daß der Holocaust auf unbe­ stimmte Weise heilig sei und besonderer Regeln für die Darstel­ lung bedurfte, war eine Behauptung, zu der sich viele Leute zu­ mindest verbal bekannten. Viele gelangten auch zu der Überzeu­ gung, der Holocaust sei nicht zu erklären - eine Überzeugung, die meines Erachtens auf der fälschlichen Annahme beruht, daß die Historiker sich über die Erklärung anderer komplexer Ereig­ nisse einig wären. Die Behauptung, nur diejenigen, die dabei wa­ ren, könnten wissen, wie es war - und die daraus abgeleitete Auto­ rität des Überlebenden -, ist in einem Sinne vollkommen wahr. Gleichzeitig zieht sie eine übermäßig scharfe Trennlinie zwischen der Erfahrung des Holocaust und anderen Erfahrungen. In die­ sem Zusammenhang schrieb Raul Hilberg: »>Wenn du nicht dort warst, kannst du dir nicht vorstellen, wie es war.< Diese Worte sprach vor einigen Jahren ein einbeiniger Veteran der deutschen Armee in Düsseldorf zu mir, der Ende 1941 in der Igelstellung von Demjansk an der russischen Front gefangen war. Der Mann war sechsmal verwundet worden. Man kann nicht bestreiten, daß seine Aussage eine Berechtigung hat.«13 Welchen Einfluß hatte all das auf die Darstellung des Holocaust für ein Massenpublikum? Ich vermute, daß es kaum Folgen hatte. Es sind viele Texte über die besonderen Probleme geschrieben worden, die angeblich bei der Darstellung des Holocaust im Film, in Romanen und in der Wissenschaft bestehen. Aber diese Texte sind akademisch - geschrieben von Gelehrten für Gelehrte, fast immer in wissenschaftlichen Zeitschriften abgedruckt, oft voller Fachausdrücke und unter der Voraussetzung verfaßt, daß der Le­ ser mit den aktuellen wissenschaftlichen Theorien vertraut ist. Das soll kein Urteil über die intellektuelle Qualität der Texte sein, die natürlich schwankt. Mir geht es an dieser Stelle nur um die Frage, ob die Produzenten oder Konsumenten der Darstellungen des Holocaust in den Massenmedien durch die Texte beeinflußt wurden. Und es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die Be­ einflussung nicht sehr stark war.

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In der populären Presse griffen einige Autoren die Serie Holo­ caust als Sakrileg an. So schrieb die Kritikerin Molly Haskell in der Zeitschrift New York »Wie können Schauspieler es wagen, sich vorstellen und uns sagen zu können, wie es sich angefühlt hat! Der Versuch wird zu einem Verstoß unter anderem gegen das he­ bräische Verbot von Götzenbildern.«14 Häufiger waren Argumen­ tationen wie die Peter Sourians in The Nation, es sei gerade die »Falschheit« von Gerald Greens Fernsehspiel, die die Erreichung seines Ziels ermögliche - die zu bewegen und zu informieren, die gar nicht bewegt und informiert werden wollen, »zumindest nicht im Abendprogramm«. ^ Sourians Argumentation erhielt Anfang des folgenden Jahres wichtige, wenn nicht gar entscheidende Unterstützung, als Holo­ caustin Deutschland gesendet wurde. In der Debatte, ob die Serie ausgestrahlt werden sollte, machten die Gegner des »Sühlens« in der nationalsozialistischen Vergangenheit die ganze Bandbreite ästhetischer Einwände geltend. Franz Josef Strauß, damals Kanz­ lerkandidat der CDU/CSU, sprach von »Geschäftemacherei«. Ver­ treter der deutschen Fernsehanstalten, die sich gegen die Sen­ dung aussprachen, bezeichneten die Serie als eine »kulturelle Wa­ re«, die sich nicht mit der Erinnerung der Opfer vertrage. Der Spiegel sprach sich gegen die Darstellung der Judenvernichtung als Seifenoper aus und zitierte Personen des öffentlichen Lebens, denen zufolge die Serie »eine kommerzielle Horror-Show [und] importierte Billigware« sei. Der Autor des Artikels schrieb: »>Holocaust< vertreibt Geschichte im Format eines Familienalbums, der Völkermord schrumpft auf >BonanzaLove StoryHolo­ caust Endlösung der Judenfrage< verbirgt. Sie weiß es, weil die US-Filmemacher den Mut hatten, sich von dem lähmenden Lehrsatz freizumachen ...: daß der Massenmord undarstellbar sei.18

Eine doppelte Ironie. Eine amerikanische »Seifenoper« zerbrach das dreißigjährige Schweigen der Deutschen über ihre Verbre­ chen während des Krieges. Und die deutsche Rezeption der ame­ rikanischen »Seifenoper« beendete in der Praxis, wenn nicht so­ gar im Bereich der Theorie, die amerikanische Debatte über die Fähigkeit populärer Medien, den Holocaust wirksam darzustellen. Die amerikanischen Medien, vor allem die Fernsehsender, fuh­ ren damit fort, wenn auch nicht lange in einem derartigen Aus­ maß: Playingfor Time, Escape from Sobibor, Triumph o f the Spi­ rit, War and Remembrance; und viele andere.19 Keine dieser Fern­ sehproduktionen erreichte so viele Menschen oder rief soviel Dis­ kussion hervor wie Holocaust 1978. Zusammengenommen aber trugen sie zur festen Verankerung des Holocaust in der amerika­ nischen Kultur bei. Den bisherigen Höhepunkt der Entwicklung bildete Steven Spielbergs Film Schindlers Liste von 1993, der nicht nur vom außerordentlichen Ruhm des Regisseurs profitier­ te, sondern auch von der Eröffnung des Holocaust-Museums in Washington. Während die jüdischen Organisationen sich 1978 genötigt sahen, Werbung für die Fernsehserie zu machen, warben 1993 Vertreter der Regierung vom Präsidenten abwärts so enga­ giert für Spielbergs Film, daß es fast unmöglich war, sich über­ haupt noch Gehör zu verschaffen. Überall in den Vereinigten Staaten wurden kostenlose Vorführungen für Schüler (während

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der Unterrichtszeit) zur Ergänzung ihrer moralischen Ausbildung veranstaltet. Damit wollte man dem Beispiel Oprah Winfreys fol­ gen, die in ihrer Talkshow verkündete: »Seit ich Schindlers Liste gesehen habe, bin ich ein besserer Mensch.«20 Wie bei Holocaust gab es kritische Stimmen, die jedoch eindeu­ tig in der Minderheit waren: Zwei negative Kommentare trugen den Titel »A Dissent on Schindler’s List«.21 Die kritischen Stim­ men brachten überzeugende Punkte vor: Es sei grotesk, daß der angeblich ultimative Holocaust-Film den atypischsten HolocaustHelden hatte, einen nationalsozialistischen Retter; ferner habe Spielberg »angenehme Unterhaltung über die ultimative unange­ nehme Erfahrung des 20. Jahrhunderts« gemacht.22 Selbst die Kritiker des Films erkannten jedoch an, daß alle, die Schindlers Liste gesehen hatten - ganz gleich, wieviel oder wie wenig sie vor­ her über den Holocaust gewußt hatten -, vom Grauen der Ereig­ nisse überwältigt und tief bewegt waren, oft zu Tränen. Das war auch meine eigene Erfahrung, und ich halte es für wahrschein­ lich, daß Reaktionen des Grauens und des Schmerzes einen etwai­ gen entschuldigenden Unterton des Films verstummen ließen. Das sind zweifellos keine unangemessenen Reaktionen. Aber da­ mit ist noch nicht die Frage beantwortet, warum man die Provoka­ tion derartiger Reaktionen bei den Amerikanern für so außeror­ dentlich wichtig hält. Sechs Millionen ist eine leicht zu merkende Zahl, die allgemein angenommene Zahl der Juden, die dem mörderischen Kreuzzug der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.2^ Der Ausdruck »die sechs Millionen« ist ein rhetorisches Äquivalent für »den Holo­ caust«. Heute beträgt die wirkliche Zahl der Opfer des Holocaust für viele Menschen jedoch elf Millionen: sechs Millionen Juden und fünf Millionen Nichtjuden. Hierbei geht es natürlich nicht um die Zahlen als solche, sondern darum, was wir meinen, wenn wir von »dem Holocaust« sprechen. Wie wir sehen werden, wurde die Frage anläßlich offizieller amerikanischer Gedenkfeiern eifrig und heftig diskutiert. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen von »sechs« und »elf« werfen Licht auf die VerwendungsStile des Holocaust.

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Die Zahl von elf Millionen - besser gesagt, die Vorstellung von fünf Millionen »anderen Opfern« des Nationalsozialismus, die zu den sechs Millionen Juden hinzuzuzählen seien - ist historisch nicht sinnvoll. Fünf Millionen sind entweder zu wenig (für alle nichtjüdischen Zivilisten, die durch das Dritte Reich ums Leben kamen) oder zuviel (für nichtjüdische Gruppen, die wie die Juden vernichtet werden sollten). Woher stammt diese Zahl? Obgleich es keine genau dokumentierte Spur gibt, herrscht Einigkeit darüber, daß die Zahl von elf Millionen zuerst von Simon Wiesenthal vor­ gebracht wurde, dem bekannten Verfolger von nationalsozialisti­ schen Verbrechern. Wie kam er zu dieser Zahl? Der israelische Historiker Yehuda Bauer berichtet, Wiesenthal habe ihm gegenü­ ber in einer privaten Unterhaltung zugegeben, er habe sie einfach erfunden.2! Er sei, sagte er einmal zu einem Reporter, gegen »die Trennung der Opfer«: »Seit 1948«, meinte er, »habe ich die jüdi­ schen Führungspersonen dazu aufgefordert, nicht von sechs Mil­ lionen jüdischen Toten zu sprechen, sondern von elf Millionen to­ ten Zivilisten, unter denen sechs Millionen Juden waren ... Wir haben das Problem auf eines zwischen Nationalsozialisten und Ju­ den reduziert. Aus diesem Grund haben wir viele Freunde verlo­ ren, die mit uns gelitten haben und deren Familien in denselben Gräbern liegen.«25 Die Jahreszahl in Wiesenthals Aussage ist nicht ohne Bedeu­ tung. Im Europa der Nachkriegszeit neigte man wie in den Verei­ nigten Staaten trotz der Erkenntnis, daß die Juden ein »besonde­ res« Schicksal gehabt hatten, dazu, dieses Schicksal unter die Ka­ tegorie »Verbrechen des Nationalsozialismus« zu subsumieren. Diese Neigung erstreckte sich auch auf die Juden. Wiesenthal neigte ebenfalls dazu - um so mehr, als seine Lebensaufgabe dar­ in bestand, nationalsozialistische Verbrecher aufzuspüren und die Mithilfe der europäischen Regierungen dafür zu gewinnen. Seine Biographie spielte auch eine Rolle. Viele Überlebende des Holo­ caust waren strenggläubige Juden, die als Kinder vom Stetl in die Lager kamen, wo alle Mitgefangenen Juden waren. Nichts hätte für sie selbstverständlicher sein können, als ihre Erfahrung für ei­ ne ausschließlich jüdische zu halten. Wiesenthal war nicht reli­ giös und hatte einen relativ weitläufigen Hintergrund - worin er

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beispielsweise Primo Levi glich. Er überstand vier Jahre in Lagern wie Mauthausen, in denen die meisten anderen Gefangenen kei­ ne Juden waren. Wiesenthals Erfindung von »elf Millionen« war merkwürdig, aber in Anbetracht seiner Erfahrungen und des Kon­ textes, innerhalb dessen er arbeitete, war es nicht ungewöhnlich oder unnatürlich, die nationalsozialistischen Verbrechen »öku­ menisch« zu interpretieren.26 Es bleibt festzuhalten, daß er mit Bezug auf diese Verbrechen insgesamt (und nicht auf »den Holo­ caust«) von elf Millionen sprach. Vor dem Ende der siebziger Jahre hatte kaum jemand in den Vereinigten Staaten die Zahl »elf Millionen« gehört. Wiesenthals Ruhm in den Vereinigten Staaten beruht auf seinen Erfolgen als Nazijäger, nicht als Interpret des Holocaust. Das änderte sich 1977, als ein Rabbi aus Kalifornien als Belohnung für seine Beiträ­ ge zu Wiesenthals Programm der Entdeckung von Kriegsverbre­ chern die Erlaubnis erhielt, eine später bekannte Holocaust-Insti­ tution nach ihm Simon Wiesenthal Center zu nennen.27 Die Zahl »elf Millionen« gehörte zum Erbe, das der Name mit sich brachte.28 Am Eingang des zum Center gehörenden Museums wurde eine Huldigung an die »sechs Millionen Juden und fünf Millionen Angehörige anderer Glaubensrichtungen« angebracht; in den Veröffentlichungen des Centers hieß es später: »Der Holo­ caust - sechs Millionen Juden und fünf Millionen Nichtjuden.«29 Ursprünglich anders gemeint, wurde die Zahl »elf Millionen« zu einer neuen Beschreibung der Parameter des Holocaust. Das Wiesenthal Center allein hätte der Zahl »elf Millionen« wahrscheinlich keine weite Verbreitung verschafft. Sie erlangte Bedeutung - und wurde zum Slogan für einige und zu einem Schlachtruf für andere - durch den Beginn des Prozesses im Frühjahr 1978, der letztlich zur Schaffung des United States Holo­ caust Memorial Museum in Washington führte. Der Prozeß begann mit der konventionellen Interpretation des Holocaust. Auf einer Feier des 30. Jahrestags der Gründung Isra­ els vor dem Weißen Haus gab der amerikanische Präsident Jim­ my Carter bekannt, er stelle eine Kommission zusammen, die ei­ ne nationale Erinnerungsstätte für »die sechs Millionen, die im

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Holocaust getötet wurden«, planen sollet0 Zu diesem Anlaß wäre keine andere Definition passend gewesen, denn Carters Vorhaben war - was in den Vereinigten Staaten bekannt ist - ein Versuch, die amerikanischen Juden versöhnlich zu stimmen, die sich zu­ nehmend darüber ärgerten, was sie für eine »übermäßige Unpar­ teilichkeit« im Umgang mit Israelis und Palästinensern hielten.31 Hätte sich ihr Ärger verstärkt, wäre das verheerend für Carters Aussicht auf eine Wiederwahl gewesen, teilweise wegen der jüdi­ schen Stimmen in entscheidenden Staaten und noch mehr, weil die Juden traditionell einen beträchtlichen Teil zum Budget für den Bundeswahlkampf der Demokraten beisteuerten.32 Die jüdi­ schen Mitarbeiter des Weißen Hauses, die am Vorschlag für eine Gedenkstätte arbeiteten, waren allerdings nicht nur durch politi­ sche Berechnungen motiviert; viele von ihnen scheinen sich wirk­ lich für die Sache des Gedenkens an den Holocaust eingesetzt zu haben.33 Aber der mögliche politische Lohn war entscheidend. Die letzten Diskussionen im Weißen Haus über die vorgeschlagene Gedenkstätte wurden inmitten der Aufregung um die NBC-Serie Holocaust geführt. Das veranlaßte einen Mitarbeiter des innenpo­ litischen Beauftragten Stuart Eizenstadt zur Befürchtung, das Vor­ haben könne »wie eine armselige Bemühung, auf den fahrenden Zug aufzuspringen«, wirken. Das sei möglich, antwortete ein an­ derer Mitarbeiter, aber »unsere Beziehungen zur jüdischen Ge­ meinde brauchen jede mögliche Förderung«.34 Einen Tag nach Carters Bekanntgabe eines Plans zur Erinnerung an »die sechs Millionen«, schlug eine Mitarbeiterin Eizenstadts vor, die neue Kommission solle in Erwägung ziehen, die Zahl nach dem Beispiel des Simon Wiesenthal Centers »auf elf Millionen aus­ zuweiten«.35 Es gab mehrere Gründe, den Vorschlag umzusetzen. Carters Initiative hatte sich auf einen kurz zuvor im Senat eingebrachten Gesetzentwurf bezogen (hinter dem 20 weitere Namen standen), ein Denkmal für die »elf Millionen unschuldigen Opfer des Holocaust aller Glaubensrichtungen« zu erbauen.36 In den Kongreßdebatten nach Carters Bekanntgabe sprachen die dem Vor­ schlag positiv gegenüberstehenden Senatoren und Repräsentaten Juden wie Nichtjuden - ebensooft von »elf Millionen« oder »sechs plus fünf« oder »sechs und Millionen anderer«, wie sie von

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»sechs« Millionen sprachen.37 Als die Commission on he Holo­ caust des Präsidenten einige Monate später mit Elie Wiesi als Vor­ sitzendem offiziell gegründet wurde, erbat sie von verschiedenen Stellen Vorschläge, auch von Vertretern ethnischer Gruppen. Der Direktor des Ukrainian National Information Service schieb, die Ukrainer hätten auch »Hitlers Kriterien zur Ausrottung genügt« und seien »zahlenmäßig die zweitgrößte Gruppe [gewesen], die in ... Auschwitz, Treblinka und Dachau vernichtet werdei sollte«. Er bat darum, auf jeden Fall »die verschiedenen Nationalitäten und numerischen Proportionen der Opfer des nationalsozialistischen Holocaust« zu berücksichtigen.38 Aloysius Mazewski, der Fräsident des Polish-American Congress, bestand darauf, daß den Polen, nicht den Ukrainern, der zweite Platz nach den Juden gebthre. Sei­ ne Gesamtzahl von zehn Millionen Opfern des Holocaust setzte sich zusammen aus sechs Millionen Juden, drei Millionen katholi­ schen Polen und einer Million »anderer Nationalität«.3^ Der Präsi­ dent der Alliance of Poles of America behauptete, »mehr ils sechs Millionen Christen [größtenteils Polen] ... verloren ihr Leben«. Er sprach von der »Notwendigkeit, an die Leiden und den Tod unserer polnisch-katholischen Brüder und Schwestern zu erinnern - und nicht nur an die Angehörigen der jüdischen Tradition. Andernfalls würde ihr Leiden und Tod sinnlos.«40 Im April 1979 wurden während der Beratungen der Kommissi­ on die ersten »Tage der Erinnerung« in der Rotunde des Kapitols begangen.41 Zu dieser Zeit hatte das Weiße Haus, aus welchen Gründen auch immer, seine Definition »des Holocaust« geändert. Jimmy Carter sprach von »elf Millionen vernichteten unschuldi­ gen Opfern - darunter sechs Millionen Juden«. Vizepräsident Walter Mondale meinte, man müsse Zeugnis ablegen für »die ungehörten Schreie der elf Millionen«.42 Die Neubestimmung war für Wiesel natürlich höchst anstößig. Der Bericht seiner Kommis­ sion, die dem Präsidenten im September 1979 überbracht wurde, war in erster Linie eine Antwort auf Carters neue Bestimmung. Wiesel beharrte auf der jüdischen Bestimmung - dem jüdischen Wesen - des Holocaust: »jeder Versuch, diese Realität zu verwäs­ sern oder zu leugnen, würde bedeuten, sie im Namen eines fehl­ geleiteten Universalismus zu verfälschen«. Der Bericht enthielt

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Formulierungen, die Wiesel über die folgenden Jahre hinweg des öfteren wiederholte; in ihnen erkannte er an, daß der Nationalso­ zialismus weitere Ziele hatte, bestand aber auf dem zeitlichen und dem begrifflichen Vorrang der jüdischen Opfer: »als die Nacht hereinbrach, wurden Millionen anderer Menschen in dieses To­ desnetz getrieben«; »die Juden sind vielleicht nicht die letzten Op­ fer des nationalsozialistischen Völkermords geblieben, aber sie waren zweifellos die ersten«; »wie immer begannen sie mit den Juden[;] wie immer ließen sie es nicht bei den Juden bewenden«. Es habe in der Tat »andere Opfer« gegeben, auf deren Existenz im vorgeschlagenen Museum hingewiesen werden solle, aber sie wa­ ren, wie aus dem Bericht hervorging - ohne daß es deutlich aus­ gesprochen wurde -, keine Opfer »des Holocaust« 45 In den folgenden Monaten gab es eine heftige Auseinanderset­ zung zwischen Wiesel und den Mitarbeitern des Weißen Hauses über die Beschreibung des Holocaust und wer dazugehörte. Es sei »moralisch verwerflich«, meinte ein Mitarbeiter des Präsidenten, »eine Kategorie von Zweiter-Klasse-Opfern des Holocaust zu schaf­ fen, wie Herr Wiesel es von uns fordert«.44 Stuart Eizenstadt drängte Carter, er solle im Exekutiverlaß zur Schaffung des Holo­ caust Memorial Council (der Nachfolger der Kommission des Prä­ sidenten werden sollte) »klarstellen, daß das Denkmal zur Ehrung des Gedenkens aller Opfer des Holocaust dient - sechs Millionen Juden und etwa fünf Millionen Angehörige anderer Völker«.45 Ein Mitarbeiter wies darauf hin, daß diese Definition von Simon Wie­ senthal stammte, »dessen Holocaust-Zeugnis besser nicht sein könnte«.46 In höchster Not machten Wiesel und der neue Vorsit­ zende der Kommission, Monroe Freedman, den genialen Vor­ schlag, die Frage durch eine andere Zeichensetzung in der Formu­ lierung zu lösen. Im Entwurf des Weißen Hauses hieß es: »Der Holocaust, die systematische, staatlich geförderte Vernichtung von sechs Millionen Juden und Millionen anderer Opfer des National­ sozialismus im Zweiten Weltkrieg.« Im alternativen Vorschlag soll­ te durch die Einsetzung von Gedankenstrichen eine Trennung vor­ genommen werden: »Der Holocaust - die systematische, staatlich geförderte Vernichtung von sechs Millionen Juden - und die Mil­ lionen anderer Opfer des Nationalsozialismus.«47 Schließlich war

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Eizenstadt bereit nachzugeben. Wiesel sei zum Symbol Lir den Holocaust geworden, und wenn er wegen dieser Frage zurüktrete, »wären [wir] einfach nicht in der Lage, einen anderen prominenten Vertreter der Juden für das Amt des Vorsitzenden zu gewinnen«. Den osteuropäischen ethnischen Gruppen wäre der ursprüagliche Wortlaut zwar lieber, aber die Definition sei für sie keine »ingelegenheit von Leben und Tod wie für Wiesel«.48 Der aufgebrachte Carter weigerte sich jedoch, die Gedankenstriche zu akzqtieren, und im Exekutiverlaß zur Schaffung des Holocaust Monorial Council war von elf Millionen Opfern die Rede. Wiesel trat nicht zurück, und das Museum, mit dessen Errichtung er betrautwurde, sollte offiziell dem Gedenken an »elf Millionen« dienen. Das war für Wiesel und andere, für die »die große Waiirheit« des Holocaust in seiner jüdischen Besonderheit lag, natürlich in­ akzeptabel. Sie antworteten auf die Erweiterung der Opferzihl des Holocaust auf elf Millionen, wie gläubige Christen auf die Erwei­ terung der Opfer der Kreuzigung auf drei entgegnen würden. Wiesels Kräfte, innerhalb und außerhalb des Holocaust Council, sammelten sich, um sicherzustellen, daß sich ihre Definition trotz des Exekutiverlasses durchsetzte. Obgleich keine jüdischer Über­ lebenden des Holocaust an der Initiative zur Schaffung des Mu­ seums beteiligt waren, erlangten sie unter Wiesels Führung die beherrschende Position im Council - moralisch, wenn nicht gar zahlenmäßig. Als ein Überlebender, Sigmund Strochlitz, als Mit­ glied des Council vereidigt wurde, sagte er, es sei »unvernünftig und unangemessen, von Überlebenden zu verlangen, den Aus­ druck Holocaust mit anderen zu teilen ..., um unser Leiden ... mit dem anderer gleichzusetzen«.4^ Auf einer Sitzung des Council wurde ein anderer Überlebender, Kalman Sultanik, gefragt, ob man in der Hall of Remembrance im künftigen Museum an Dani­ el Trocme erinnern dürfe, der in Majdanek für die Rettung ermor­ det und in Yad Vashem als rechtschaffener Nichtjude geehrt wur­ de. »Nein«, erwiderte Sultanik, denn »er starb nicht als Jude ... Die sechs Millionen Juden ... starben anders.«50 Es wurde auch versucht, die jüdische Meinung insgesamt gegen eine Verwischung des Unterschieds zwischen dem jüdischen Op­ ferstatus und dem anderer Menschen zu mobilisieren. Der Überle-

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bende Henry Grynberg wandte sich sogar gegen die Nebenrolle, die Nichtjuden in Wiesels Formulierung zugesprochen wurde, »als die Nacht hereinbrach, wurden Millionen anderer Menschen in dieses Todesnetz getrieben«. Das sei nach Grynberg »absolut falsch«: »Jene Millionen anderer Menschen wären im Krieg umge­ kommen, auch wenn der Holocaust nicht stattgefunden hätte.«51 Unter denen, die auf dem Unterschied zwischen dem Tod von Ju­ den und dem Tod anderer beharrten, befanden sich viele Kinder von Überlebenden. So sagte ein Nachkomme, die Nichtjuden »starben einen Tod, der für Juden erfunden worden war ... Opfer einer >Lösunganderen Millionen« Opfer des Holocaust, oler kom­ men sie zum Holocaust hinzu?«56 Wiesel hat die Frage nie klar be­ antwortet, ebensowenig wie das Museum.57 Klarheit war unklug und nicht wünschenswert; es war besser, die Zweideutigkeit auf­ rechtzuerhalten. Die gleiche Zweideutigkeit, Verwirrung und Unsicherheit charak­ terisieren den allgemeinen amerikanischen Diskurs überden Ho­ locaust. Die Amerikaner werden ermahnt, sich an den Holocaust zu »erinnern« oder sich mit ihm »auseinanderzusetzen«, aber woran erinnern sie sich dabei? Die Frage zielt nicht auf verschie­ dene Interpretationen oder Theorien, sondern auf das Ereignis, über das wir sprechen. Es ist eine Binsenweisheit, daß wir nie mit den Ereignissen selbst zu tun haben, sondern immer nur mit Dar­ stellungen der Ereignisse, aus denen sich verschiedene Versionen der Ereignisse gewinnen lassen. Je bedeutsamer und beztehungsreicher ein Ereignis ist, desto größer ist der Anreiz, verschiedene Versionen von ihm zu gewinnen. Ein Beispiel: Kein Text über den Holocaust wird häufiger zitiert als Martin Niemöllers Geständnis, in den dreißiger Jahren moralisch versagt zu haben: Erst holten sie die Kommunisten, aber ich war ja kein Kommu­ nist, darum schwieg ich. Dann holten sie die Sozialdemokraten, aber ich war ja kein Sozialdemokrat, so tat ich nichts. Dann ka­ men die Gewerkschafter dran, aber ich war kein Gewerkschafter. Und dann holten sie die Juden, aber ich war kein Jude, so tat ich wenig. Als sie dann kamen und mich holten, da war niemand mehr da, der für mich hätte einstehen können.58

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Das Nachrichtenmagazin Time, der amerikanische Vizepräsident Al Gore und ein Redner auf einem republikanischen Parteitag folgten dem Beispiel der Enzyklopädie des Holocaust, indem sie die Juden von der letzten an die erste Stelle setzten: »Erst holten sie die Juden .«59 Time, Gore und der republikanische Redner ließen die Kommunisten und die Sozialdemokraten weg; Gore er­ wähnte auch die Gewerkschafter nicht. Alle drei fügten die Katho­ liken hinzu. Die Katholiken tauchen auch in der Version des Zi­ tats auf, die sich am Holocaust-Denkmal in Boston befindet, wo viele Katholiken leben.60 Das U. S. Holocaust Memorial Museum gibt die Liste in der richtigen Reihenfolge wieder, läßt allerdings wohlweislich die Kommunisten aus.61 In anderen Versionen sind Homosexuelle in Niemöllers Liste eingefügt.62 Das Zitat wurde für Zwecke eingesetzt, die von der jüdischen Besiedlung der West Bank bis zur Befreiung der amerikanischen Versicherungen von staatlicher Kontrolle reichen.63 Der kurze Überblick über das kreative Lektorat von Niemöllers Zitat soll die zentrale Rolle von Fragen des Ein- und Ausschlusses demonstrieren, aber in gewisser Hinsicht ist das Beispiel schlecht gewählt. Zumindest in einigen Fällen handelt es sich um absichtli­ che Entstellungen. Außerdem bezieht es sich nicht auf die für uns zentrale Frage, worüber wir sprechen, wenn wir von »dem Holo­ caust« reden. Niemand entstellt absichtlich etwas, wenn er von sechs oder elf Millionen spricht. Vielmehr spricht man über ver­ schiedene Dinge. Außer für Leute wie Henryk Grynberg, der ei­ nen Graben um die sechs Millionen ziehen und die Zugbrücke hochklappen lassen würde, sind diese Dinge jedoch nie klar defi­ niert. Selbst Ehe Wiesel hat, wie wir oben gesehen haben, zwei­ deutige Aphorismen einer klaren Grenzziehung vorgezogen.64 Beugte man sich dem Druck anderer Opfergruppen, die auch ihren Anteil forderten? Es ist richtig, daß bei den Erwägungen, die das Weiße Haus unter Carter zur Annahme der Zahl »elf« beweg­ ten, Bitten der Vertreter polnisch-amerikanischer und ukrainisch­ amerikanischer Organisationen eine Rolle spielten. Dabei handel­ te es sich allerdings um erbetene, nicht um freiwillig geäußerte Meinungen. Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch des Ostblocks betrachteten sich diese Gruppen nicht als Opfer des

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Nationalsozialismus, sondern als Mitglieder der Familie gefange­ ner Völker, die unter der sowjetischen Tyrannei zu leidenhatten. Im großen und ganzen wollten sie nicht in die Diskusson um den Holocaust einbezogen werden, sondern sich von ihr lesen. In den meisten populären Darstellungen des Holocaust «rschienen die Polen bestenfalls als schuldige Zuschauer. Daherwurde, von Wiesel und anderen, oft behauptet, es sei »kein Zufall« gewe­ sen, daß die Deutschen die Todeslager in Polen errichtet hatten; sie hätten eine passende antisemitische Umgebung gesucht.65 Die Ukrainer wurden regelmäßig als Gehilfen der Nationalsozalisten dargestellt - was auf einige (wenige) zutrifft. Wenn Polen, Ukrai­ ner und andere Osteuropäer an Gedenkfeiern für den Holocaust teilnahmen, was gelegentlich geschah, so taten sie das aus iein de­ fensiven Gründen. Sie behaupteten, daß viele Polen und Ukrainer dem nationalsozialistischen Regime zum Opfer gefallen waren, um der Meinung entgegenzutreten, sie seien Verbündete ies Re­ gimes gewesen. Jedenfalls hatten sie, außer in einigen Fällen auf lokaler Ebene, nicht die politischen, kulturellen und finanziellen Ressourcen, um ihren Behauptungen Gewicht zu verleihen. Das traf noch mehr auf die Zigeuner zu, die etwa den gleichen prozen­ tualen Anteil an Opfern des nationalsozialistischen Mordpro­ gramms zu beklagen hatten. Ferner hatten die früheren sowjeti­ schen Gefangenen der Deutschen keine Lobby, obgleich Millionen von ihnen durch Hunger, Krankheit und Hinrichtung ums Leben kamen. Paradoxerweise hat die Gruppe, deren Verluste den geringsten Teil der Gesamtzahl ausmachten, als einzige aktiv und erfolgreich die Aufnahme in den Kreis der »elf Millionen« gefordert. Behaup­ tungen seitens homosexueller Aktivisten und ihrer Anhänger, die Zahl der im Dritten Reich ermordeten Homosexuellen betrage bis zu einer Million oder liege bei 250 000 oder einer halben Million, sind nicht ungewöhnlich.66 Die tatsächliche Zahl von Homosexu­ ellen, die in den Lagern starben oder ermordet wurden, scheint bei etwa 5000, möglicherweise bis zu 10 000 zu liegen.67 Im Ge­ gensatz zu anderen Gruppen, die als Opfer des Holocaust aner­ kannt werden wollen, haben die Homosexuellen jedoch politische und kulturelle Ressourcen. Außerdem steht ihnen nicht die glei-

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che, auf Erfahrungen der Vorkriegszeit oder des Krieges gestützte Feindseligkeit gegenüber, der Polen und Ukrainer begegnen. Schließlich konnte man ihre Einbeziehung als Beitrag zum Kampf gegen Schwulenfeindlichkeit deuten. Und viele ihrer Spre­ cher, die dafür eintreten, sie zu berücksichtigen, sind Juden. Von den 1970er Jahren an bewirkte eine Serie von Ereignissen die manchmal trivial, oft aber symbolträchtig waren -, daß der Holocaust auf den Titelseiten und in den Abendnachrichten blieb. Natürlich führt der Versuch, Ursache und Wirkung voneinander zu trennen, in einen Zirkel: In welchem Maße trug die Berichter­ stattung dazu bei, den Holocaust in der amerikanischen Öffent­ lichkeit zum Thema zu machen; in welchem Maß wurde so voll­ ständig über die Ereignisse berichtet, weil der Holocaust in der Öffentlichkeit bereits ein Thema war? Daß die Ereignisse in den Nachrichten gebracht wurden und nicht in Geschichtsbüchern, war sicher ein Anlaß, den Holocaust als Gegenwartsproblem zu empfinden. Wie genau verfolgten die Amerikaner die Ereignisse? Wie tief und anhaltend war ihre Wirkung? Wie sehr und auf wel­ che Weise beeinflußten sie das Denken der Amerikaner über den Holocaust? Wir können darüber nur spekulieren, gestützt auf fragmentarische Dokumente, zweideutige Umfrageergebnisse und intuitive Vermutungen. 1985 entbrannte eine kurze, aber heftige Kontroverse über den Besuch Ronald Reagans auf dem Friedhof von Bitburg. Es wurde diskutiert, ob er die Gräber junger, im Krieg gefallener SS-Männer aufsuchen würde oder nicht; und ob er ein Konzentrationslager besuchen würde? Die öffentliche Meinung der Vereinigten Staa­ ten war stark polarisiert - einer Umfrage zufolge war sie genau in der Mitte gespalten, eine Hälfte befürwortete den Besuch, die an­ dere lehnte ihn ab.68 (Die Antworten entsprachen in vielen Fällen der Parteizugehörigkeit, wobei die Anhänger der Republikaner dafür waren, die der Demokraten dagegen.)6^ Zur Zeit der Debat­ te stimmte eine knappe Mehrheit der Amerikaner Reagans Be­ merkung zu, »die deutschen Soldaten, die auf dem Bitburger Friedhof begraben sind, waren ebenso sicher Opfer der National­ sozialisten wie die Opfer in den Konzentrationslagern«.70 Drei

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Monate später gab das American Jewish Committee eine Umfrage in Auftrag, die die landesweite Wirkung des Besuchs erforschen sollte.71 Obgleich es immer schwer herauszufinden ist, was derar­ tige Umfragen messen, waren ihre Ergebnisse aufschlußreich. Je gebildeter die Befragten waren, desto eher tendierten sie zu einer Befürwortung von Reagans Besuch - wahrscheinlich, schrieb ein leitendes Mitglied des Committee, weil sie ihn als Beitrag zur Ver­ besserung des internationalen politischen Klimas und zur »Hei­ lung alter Wunden« betrachteten, während die weniger Gebilde­ ten nationalistischer eingestellt waren. In der Umfrage wurde auch gefragt, ob »der Holocaust etwas ist, woran wir jährlich erin­ nert werden sollten, oder sind Sie der Meinung, daß die Juden nach vierzig Jahren aufhören sollten, sich auf den Holocaust zu konzentrieren?« 46 Prozent der Befragten befürworteten eine jährliche Erinnerung, 40 Prozent sprachen sich dafür aus, daß die Juden die Sache auf sich beruhen lassen sollten.72 Ein Jahr nach Bitburg kam es zur Waldheim-Affare. Es wurde gefragt, ob der frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen und designierte Präsident Österreichs ein nationalsozialistischer Kriegsverbrecher gewesen war; und ob man ihn auf die Liste set­ zen solle, die Angehörigen dieser Kategorie die Einreise in die Vereinigten Staaten untersagte? Während die Diskussion über Waldheims Vergangenheit noch Jahre andauerte und zum kumu­ lativen Prozeß beitrug, der die Amerikaner an den Holocaust erin­ nerte, scheint die Affäre selbst in den Vereinigten Staaten keine besondere Wirkung hinterlassen zu haben. Man betrachtete Wald­ heim eher als einen Opportunisten, der er war, weniger als aktiven Mittäter im Holocaust, der er wahrscheinlich nicht war. Aus der Waldheim-Affäre entstand die Kontroverse über den Empfang des österreichischen Präsidenten, als er in ganz Europa geächtet war, durch Papst Johannes Paul II. Das war nicht die ein­ zige Debatte über den Holocaust und die katholische Kirche, die eine intensive Berichterstattung in den Medien erhielt. Es gab ei­ ne endlose Diskussion über die Existenz eines Karmeliterklosters in Auschwitz, für dessen Verlegung jüdische Gruppen beständig eintraten. Da die Führer der katholischen Kirche Polens die Verle­ gung immer wieder hinauszögerten, blieb der Diskussionsstoff

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viele Jahre erhalten. Die amerikanischen Katholiken reagierten unterschiedlich auf diese Konflikte. Viele von ihnen stimmten den Juden in ihrer Kritik am Empfang Waldheims durch den Papst zu. In bezug auf das Kloster war den meisten Vertretern der amerika­ nischen Katholiken sowie vielen Laien die Verzögerungstaktik der polnischen Kirche peinlich, ganz zu schweigen von antisemiti­ schen Bemerkungen des polnischen Kirchenoberhaupts, Kardinal Josef Glemp, im Verlauf der Kontroverse.73 Schließlich war die Diskussion eher eine Gelegenheit für Solidaritätsbekundungen der amerikanischen Juden und Katholiken als ein Konflikt - auch wenn einige amerikanische Katholiken mit polnischem Hinter­ grund sich Glemp anschlossen. Anders verhielt es sich mit den immer wieder zum Ausdruck gebrachten Hoffnungen der ameri­ kanischen Juden, daß der Vatikan sich für das »Schweigen« der Kirche im allgemeinen und das von Pius XII. im besonderen während des Holocaust entschuldigen würde. In dieser Frage blie­ ben die amerikanischen Katholiken - beziehungsweise diejeni­ gen, die ihre »offizielle« Meinung verkündeten - störrisch. Sie verteidigten weiterhin die Rolle Pius’ und der Kirche insgesamt, eine Position, die sie wahrscheinlich beibehalten werden.74 Viele jüdische Führungspersönlichkeiten haben das erkannt und sich bemüht, neue Konfliktgelegenheiten zu vermeiden. (Unter den Dutzenden von Taten und Unterlassungssünden, die im Holo­ caust-Museum von Washington dargestellt werden, gibt es keinen Hinweis auf das Schweigen Pius' XII.) Parallel zu den soeben angeführten Ereignissen führte die ame­ rikanische Justiz ein Programm durch - das Ende der siebziger Jahre begann und auch gegenwärtig noch umgesetzt wird in dessen Rahmen Einwanderer (manchmal deutscher, zumeist ost­ europäischer Herkunft), die der Beteiligung am Holocaust be­ schuldigt werden, aufgespürt, ausgebürgert und deportiert wer­ den sollen. Der Vorsitzende des Office of Special Investigations des Justizministeriums hat behauptet, die Verfolgung von natio­ nalsozialistischen Kriegsverbrechern habe in der amerikanischen Öffentlichkeit »die Bedeutung von Mami, Baseball und Apple Pie«.75 Mit Blick auf das Prinzip und den Beginn des Programms hatte er wahrscheinlich recht, zumal die Bedeutung durch populä­

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re Filme verstärkt wurde, die die Jagd romantisierten. Die meisten frühen Fälle erhielten jedoch eine geringe Berichterstattung, außer in den Orten, an denen der Gejagte ansässig war, und in der ethnischen Gruppe, der er angehörte.76 (Innerhalb einiger, aber nicht aller osteuropäischen Organisationen in den Vereinigten Staaten wurde erbost von Verfolgung gesprochen, oft mit einem antisemitischen Unterton, aber die Anklagen fanden nicht das In­ teresse der breiten amerikanischen Öffentlichkeit.) Bei weitem die intensivste Berichterstattung erhielt der Fall John Demjanjuks, eines Rentners, der zuvor Arbeiter in einer Au­ tofabrik in Cleveland gewesen war. Zahlreiche Überlebende iden­ tifizierten ihn als »Iwan den Schrecklichen« von Treblinka - ein Aufseher, der sich selbst unter den Verderbten noch durch die un­ bekümmerte Heiterkeit auszeichnete, mit der er jüdische Gefan­ gene ermordete und verstümmelte. Über die erschreckenden Aus­ sagen der Überlebenden während der Anhörungen in den Verei­ nigten Staaten, deren Ergebnis Demjanjuks Auslieferung an Isra­ el war, wurde in der Presse berichtet. Noch lebendiger wurde im Fernsehen das Gerichtsverfahren gegen ihn in Jerusalem 1987 verfolgt, das zum Todesurteil führte. Das Verfahren gegen Demjanjuk wurde als heilsame Erinnerung an die menschliche Wirk­ lichkeit hinter dem bürokratischen Ausdruck »Endlösung« be­ trachtet - was zweifellos zutraf. Demjanjuk selbst wurde zum Musterbeispiel eines Holocaust-Mörders - was sich als problema­ tischer erwies. Nach der Verurteilung ihres Mandanten veröffent­ lichten Demjanjuks Anwälte Beweismaterial, aus dem zwar (im Gegensatz zu seinen eigenen wiederholten gegenteiligen Beteue­ rungen) fast zweifelsfrei hervorging, daß er irgendwo Aufseher in einem Konzentrationslager gewesen war, aber gleichzeitig zu erse­ hen war, daß die Aussagen der Überlebenden, die sicherlich guten Gewissens gehandelt hatten, Demjanjuk wahrscheinlich irrtüm­ lich als »Iwan den Schrecklichen« von Treblinka identifiziert hat­ ten. 1993 stimmte der Oberste Gerichtshof Israels zu, es gebe be­ rechtigte Zweifel, hob das Urteil auf und ließ Demjanjuk frei, der daraufhin in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Nach beträcht­ lichen Rechtsstreitigkeiten erkannte ein amerikanisches Gericht Demjanjuk wieder die amerikanische Staatsbürgerschaft zu, weil

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das Justizministerium anläßlich seiner Ausbürgerung entlasten­ des Beweismaterial unterdrückt habe. Die Aufhebung des Urteils gegen Demjanjuk und die Beschul­ digung gegen das Justizministerium, nicht rechtmäßig gehandelt zu haben, desillusionierte viele Amerikaner hinsichtlich der fort­ dauernden Jagd auf die Täter des Holocaust und ihre Komplizen. Diese Einstellung war nicht neu. In der Umfrage des American Jewish Committee nach Reagans Besuch in Bitburg sprachen sich 41 Prozent der Amerikaner für die Suche nach Kriegsverbrechern aus, 49 Prozent waren der Meinung, »die Zeit ist gekommen, sie hinter uns zu lassen«.77 Das Demjanjuk-Fiasko verstärkte die Skepsis. (Die Juden waren bereits seit langem geteilter Meinung bezüglich der Verfolgung alternder Nazis. Der israelische Außen­ minister Abba Eban hatte einige Jahre zuvor gesagt, es sei ihm nicht so wichtig, ob »irgendein elender Mann in Paraguay oder Brasilien« verhaftet werde. Aber selbst - oder vor allem - nach der Aufhebung des Urteils gegen Demjanjuk blieben einige unerbitt­ lich: Die Holocaust-Forscherin Deborah Lipstadt bekannte, sie würde »ihnen den Prozeß machen, auch wenn sie auf einer Bahre in den Gerichtssaal gerollt werden müßten«.)78 Zur Zeit der Abfassung dieses Buches war das letzte Ereignis in der keineswegs vollständig angeführten Liste von Geschehnissen, die mit dem Holocaust zu tun haben und auf die Titelseiten der Zeitungen kamen, die Geschichte der Schweizer Banken: ihr an­ fängliches Widerstreben gegen die Herausgabe des Geldes auf »ruhenden Konten« von Opfern des Holocaust; spätere Anschul­ digungen, unter dem von ihnen während des Krieges gewasche­ nen Gold der Nationalsozialisten habe sich auch jüdisches Zahn­ gold befunden; endlose Streitigkeiten über die Summen, die sie für eine Entschädigung zur Verfügung stellen würden. Es ist un­ klar, wie genau der Großteil der Fernsehzuschauer und Zeitungs­ leser die Berichterstattung darüber verfolgt hat. Die Reaktion der gewählten Volksvertreter auf die Affäre wirft jedoch Licht auf eine andere Weise, in der der Holocaust der amerikanischen Öffent­ lichkeit präsentiert wurde: seine Ausbeutung durch die Politiker. Politiker, die während ihrer gesamten Karriere damit beschäftigt waren, ihre Taschen mit Spenden fragwürdiger Herkunft zu

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füllen, waren schockiert - schockiert! - über die Erkenntnis, daß den Schweizer Goldgeschäften in der Kriegszeit etwas Gesetz­ widriges angehaftet haben sollte. Der New Yorker Senator \lphonse DAmato, der vor einer harten Kampagne für seine Wiederwahl in einem Staat mit einem großen Anteil an Juden stand, Forderte sogleich lautstark und wiederholt von den Schweizer Banken schnelleres und großzügigeres Handeln. »Ich danke Ihnei für Ihr Mitgefühl mit dem jüdisches Leiden und der jüdischen Erinne­ rung«, sagte Ehe Wiesel öffentlich zu DAmato.7^ Rasch schlossen sich städtische und staatliche Beamte - größtenteils in Gegenden mit vielen jüdischen Wählern - seinem Beispiel an. Sie erfaßten die Gelegenheit zur moralischen Aufwertung und drohen mit dem Abzug öffentlicher Gelder von Schweizer Banken, falls diese sich nicht entgegenkommender zeigten. Daß die Politiker sich opportunistisch der Kampagne gegen die Schweizer Banken anschlossen, ist nur das letzte Beispiel für die politische Ausschlachtung des Holocaust. Es ist ein »Equal-opportunity«-Unternehmen, an dem Vertreter aller Gruppierungen und Ebenen teilnehmen. Die demokratische Senatorin für Illinois, Carol Moseley-Braun, deren Wiederwahl wie die DAmatos unsicher war, schloß sich seiner Gesetzeseingabe für die Schaffung eines ei­ genen Ausschusses zur Untersuchung der bei Holocaust Opfern vorgenommenen Enteignungen von Kunstwerken und anderen Gütern an.8° Politiker aller Ebenen haben sich die Assoziation mit dem Holocaust auf die eine oder andere Weise zunutze gemacht. Vor einer Reise nach Europa zur Anwerbung von Geschäftspart­ nern wurde der New Yorker Bürgermeister David Dinkins kriti­ siert, weil auf seinem Reiseplan auch der Besuch eines Tennistur­ niers stand. Er beugte sich der Kritik und versprach, sich nur dem Geschäftlichen zu widmen: seiner Handelsmission und dem Be­ such von Holocaust-Gedenkstätten.81 Fotografische Ablichtungen vor lokalen Holocaust-Denkmälern wurden zum Bestandteil einer Wahlkampagne; als Vizepräsident George Bush nach Israel reiste, ließ er sich sogar von einem eigenen Filmteam begleiten, um sei­ nen Besuch von Yad Vashem zu dokumentieren.82 Das einfalls­ reichste und subtilste Holocaust-Foto entstand 1996, als Hillary Clinton, die zu jener Zeit wegen verschiedener Vergehen unter Be-

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schuß stand, während der (im Fernsehen ausführlich gezeigten) Rede ihres Mannes zur Lage der Nation mit ihrer Tochter Chelsea und Elie Wiesel auf der Empore des Parlaments erschien. Einen anderen guten Einfall hatte der republikanische Senator für Penn­ sylvania, Arien Specter. Als Vorsitzender des Juvenile Justice Subcommittee führte er Anhörungen zum Verbleib von Dr. Josef Men­ gele durch. Als Grund für die Zuständigkeit des Unterausschusses wurden Mengeles Experimente mit Kindern genannt.83 Nachdem antisemitische Bemerkungen einiger Vertreter der Christian Coalition dem Ruf der Organisation geschadet hatten, gab ihr Vorsitzen­ der, Ralph Reed, bekannt, er sei lebenslanges Fördermitglied von Yad Vashem und dem U. S. Holocaust Museum geworden.84 Die Vertreter vieler Gruppen versuchten, ihre Berechtigung und öffentliche Präsenz durch eine Verknüpfung mit dem Holo­ caust zu steigern. Der Senator (und spätere Vizepräsident) Al Go­ re schrieb über »Eine ökologische Kristallnacht«, der ein »Um­ welt-Holocaust« folgen werden.85 Gegner Fidel Castros errichteten in Miami ein »Denkmal für den kubanischen Holocaust«.86 Eben­ falls in Miami ist offenbar das rosafarbene Dreieck, das Zeichen für Homosexuelle in den Konzentrationslagern, zum Symbol der homosexuellen Befreiung geworden. Nach Miami begab sich auch die Homosexuellen-Gegnerin Anita Bryant für ihre Kampagne ge­ gen Gesetze für mehr Rechte der Homosexuellen. Ein Kolumnist schrieb in einer Homosexuellenzeitung, »die jüdischen Stimmen sind entscheidend für unseren Sieg in Miami, und das rosa Drei­ eck könnte den Ausschlag geben«.87 Inner- und außerhalb der politischen Arena wurde es üblich, sich auf den Holocaust zu beziehen, um den eigenen Opferstatus - und das Überleben - zu dramatisieren. Als »verfolgte evangeli­ sche Christen«, sagte Ronald Reagans Innenminister James G. Watt, könnten er und seine Frau »die Saat einer Holocaust-ähnli­ chen Gesinnung hier in Amerika« erkennen; daher seien sie ent­ schiedene Befürworter des Holocaust-Museums in Washington.88 Nachdem Jim Bakker und seine Frau wegen eines Geld-und-SexSkandals zum Rücktritt als Fernsehprediger gezwungen worden waren, sagte Bakker seinen Zuschauern nach seiner Rückkehr zum Fernsehen, »wenn Jim und Tammy ihren Holocaust der letz­

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ten zwei Jahre überleben können, dann können auch Siees schaf­ fen«.89 Woody Allen meinte in einem Interview, er habe mit den Skandalen um sein Privatleben fertig werden können weil er während seines Lebens soviel über den Holocaust gelesen habe: »Diejenigen, die sich darauf konzentriert haben, was ihien wirk­ lich widerfuhr - das tägliche Grauen ... seine Wirklichkeit -, die haben überlebt.«90 Auf verschiedenen Wegen war der Holocaust in den amerikani­ schen kulturellen Mainstream gelangt; er war Teil der Spiache ge­ worden; außer einigen Außenseitern konnte ihm niemaad mehr entfliehen. Was hielten die Amerikaner davon? Welcher Einfluß hatte der Holocaust auf ihr Bewußtsein? Zur - wie ich gleich zu Beginn zugeben möchte, recht unbefrie­ digenden - Beantwortung dieser Fragen können wir uns auf kaum etwas anderes stützen als das grobe und fehlerhafte Instru­ ment der Meinungsumfrage. Den Umfragen zufolge wissen die Amerikaner heute mehr über den Holocaust als je zuvor. In einer Umfrage über das Wissen der Allgemeinheit über den Zweiten Weltkrieg wußten 97 Prozent der Befragten, was der Holocaust war. Das waren bedeutend mehr als die Zahl derer, die wußten, was Pearl Harbor war oder daß die Vereinigten Staaten eine Atom­ bombe über Japan abgeworfen hatten; und nur 49 Prozent wuß­ ten, daß die Sowjetunion im Krieg auf der Seite der Amerikaner kämpfte.91 Was jedoch bedeutet »wissen, was der Holocaust war« für den Teil der amerikanischen Bevölkerung, der entweder nicht wußte, daß der Holocaust im Zweiten Weltkrieg stattfand, oder »wußte«, daß er nicht in dieser Zeit stattfand?92 Die derzeitige Di­ rektorin des Washingtoner Holocaust-Museums war über dieses Ergebnis nicht entsetzt. Sie fragte einen Journalisten: »Das wun­ dert Sie in einem Land, das nicht weiß, wo Mexiko liegt?« Sie be­ zog sich dabei auf eine Umfrage, nach der beinahe die Hälfte der Amerikaner nicht in der Lage war, Mexiko auf einer Landkarte zu finden.93 Das ist in gewisser Weise eine passende Erwiderung: So­ gar die Mehrheit der Amerikaner mit einem College-Abschluß könnte nichts besonders Sinnvolles über die amerikanische Revo­ lution oder den Bürgerkrieg sagen. Daraus erwächst die unbeant­

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wortbare Frage, wie viele Amerikaner mehr über den Holocaust wissen als einige vereinzelte Informationsfetzen. Wie wenig sie auch über den Holocaust wissen mögen, diejeni­ gen, die in den Meinungsumfragen antworten, sind sich sicher, daß er wichtig ist. In einer Umfrage von 1990 war eine deutliche Mehrheit angesichts einer Liste von Katastrophen der Meinung, der Holocaust sei »die schlimmste Tragödie der Geschichte« ge­ wesen.94 Ferner besteht ein hohes Maß an Übereinstimmung über die Lehren aus dem Holocaust: Zwischen 80 und 90 Prozent der Befragten stimmten zu, daß zu den Lehren des Holocaust der Schutz von Minderheitenrechten und die Pflicht, »sich nicht der Masse anzuschließen«, gehörten. Eine ähnliche Anzahl war der Meinung, es sei wichtig, »daß die Menschen weiterhin vom Holo­ caust erfahren, damit er nie wieder geschieht«.95 Meine Kollegen, die Meinungsumfragen durchführen, verwei­ sen gerne auf eine Karikatur, die einen verzweifelten Interviewer zeigt, wie er zu einem Befragten sagt: »Das sind die schlechtesten Meinungen, die ich je gehört habe!« Zweifellos spiegelt sich darin ihre eigene (unausgesprochene) Verzweiflung unter ähnlichen Bedingungen wider, aber die Karikatur deutet noch auf etwas an­ deres hin, das für unsere Interpretation der angeführten Umfra­ geergebnisse bedeutsam ist. Die meisten Menschen wissen intui­ tiv recht gut, was »bessere« und was »schlechtere« Meinungen in einer bestimmten Umfrage sind, vor allem wenn sie gefragt wer­ den, ob sie einer gutwillig klingenden Aussage zustimmen. Han­ delt es sich dann überhaupt in einem ernstzunehmenden Sinne um Meinungen? Millionen nichtjüdischer Besucher haben dem Holocaust-Mu­ seum in Washington die Türen eingerannt, sie haben gewisser­ maßen mit ihren Füßen für die Auseinandersetzung mit dem Ho­ locaust gestimmt, die das Museum bietet. Ein nicht zu bestim­ mender Anteil der Besucher wurde durch ein tiefgehendes Inter­ esse zum Besuch bewogen, während das Museum für einen ebenso unbestimmbaren Anteil von Besuchern etwas geworden ist, das man gesehen haben muß, wenn man nach Washington reist, so wie man den Louvre gesehen haben muß, wenn man in Paris ist.

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Jüngste Vergagenheit

Meiner Skepsis hinsichtlich der üblichen Methoden zrr Mes­ sung des Interesses der nichtjüdischen Amerikaner am Hdocaust steht meine Gewißheit gegenüber, daß viele von ihnen sine Be­ deutung erkennen und in einem diffusen Sinne für das Gdenken an ihn empfänglich sind. Wir wissen zwar nicht genau, was sie da­ zu gebracht hat, aber es gibt einige Hypothesen. Eine der interessantesten Hypothesen hat Robert Wuthiow auf­ gestellt, ein Soziologe an der Princeton University. Er erklärte die große Zahl der Zuschauer der NBC-Serie Holocaust i978als »öf­ fentliches Ritual«, in dem das moralische Chaos und der Zusam­ menbruch dargestellt wurde, vor dem sich die Amerikaner fürch­ teten, sowie die Gewißheit wiederhergestellt, daß Gut uid Böse klar voneinander zu unterscheiden sind.96 Die Serie sei unmittel­ bar nach Vietnam und Watergate ausgestrahlt worden, inmitten gewaltsamer Rassenkonflikte und der Erosion der traditionellen Moral, zu einer Zeit, in der die Zahl der Amerikaner slark anwuchs, die der Meinung waren, das Land habe »die falscle Rich­ tung eingeschlagen«.97 Wuthnow spekulierte nicht nur über den Zusammenhang zwischen der Angst vor einem Chaos und der Suche nach moralischer Ordnung auf der einen Seite und dem In­ teresse am Holocaust auf der anderen. Auf der Grundlage einer umfangreichen Stichprobe von Antworten auf einen detaillierten Fragebogen konnte er eine signifikante Korrelation zwischen bei­ den ermitteln: Ganz gleich, ob jemand politisch eher liberal, gemäßigt oder kon­ servativ war, die Wahrscheinlichkeit, daß der oder die Befragte ein Interesse am Holocaust hatte, war höher, wenn er oder sie ernst­ hafte Probleme in der moralischen Ordnung erblickte ... Der Ho­ locaust interessierte die Personen, die sich über das moralische Gefüge Sorgen machten, nicht als historisches Ereignis, sondern als Symbol des immer präsenten Bösen.98

Wuthnow fand auch heraus, daß verschiedene Zuschauer das, was sie sahen, unterschiedlich auffaßten und unterschiedliche Lehren daraus zogen. Beispielsweise waren religiös konservativ orientier­ te Befragte der Meinung, der Holocaust habe sich aus dem Zu­

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sammenbruch der traditionellen christlichen Werte ergeben, die ein Heilmittel gegen seine Wiederkehr böten; Liberale suchten die Ursachen und Gegenmittel in gesellschaftlichen Verhältnissen. In einer Hinsicht war das Sehen von Holocaust also ein Ritual der Solidarität, in dem sich die Abscheu vor der »Verkörperung des Bösen« ausdrückte - eine Affirmation gemeinsamer Werte, auch wenn sie sich negativ äußerte. In einer anderen Hinsicht wurde der Holocaust zu einem Hintergrund, auf den die Menschen eine Vielfalt von Werten und Ängsten projizierten. Obgleich Wuthnows Interpretation des öffentlichen Rituals auf eine Fernsehserie und ihre Auswirkungen beschränkt war, enthält sie auch Lehren über die Funktionen der Erinnerung an den Holo­ caust in der Gesellschaft. Die Angst vor einem moralischen Chaos und gesellschaftlicher Unordnung sowie der Wunsch nach feste­ ren Orientierungspunkten sind weiter verbreitet als je zuvor; der Holocaust bleibt ein Symbol für die Angst und den Wunsch. Die Leitung des Holocaust-Museums in Washington haben das Muse­ um als Beispiel - ex negativo - für die traditionellen amerikani­ schen Werte präsentiert und ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, es möge »ein moralischer Kompaß« für die Nation sein ." Ein Ko­ lumnist hat den Erfolg des Museums so erklärt: In einer Zeit moralischer Relativität dient das Holocaust-Museum als Orientierung. Hier gibt es keine Rationalisierung ... Hier ist et­ was Absolutes. Und im absoluten Bösen vielleicht die Hoffnung auf ein absolutes Gutes ... Wir leben inmitten der Ruinen »der Mo­ derne« - eines Zeitalters, in dem der westliche Mensch uralte Stan­ dards und Überzeugungen aufgegeben und sein Vertrauen in die Wissenschaft gesetzt hat. Wer in das Holocaust-Museum geht, sucht nach Antworten - in Gestalt moralischer Gewißheiten ... Das Holocaust-Museum bietet eine moralische Basis, auf die man bau­ en kann: eine negative Gewißheit, mit der man anfangen kann.100

Im vorangehenden Kapitel habe ich argumentiert, eine Verände­ rung der Einstellung gegenüber Opfern in der amerikanischen Kultur habe das Verhältnis der Juden zum Holocaust verändert. Der Einstellungswechsel begann nicht bei den Juden und hörte

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Jüngste Vergangenheit

nicht bei ihnen auf. Als Ursache wie als Wirkung dieserEntwicklung betrachteten sich die unterschiedlichsten Amerikanr als Op­ fer - die durch die verschiedensten Aspekte des modernen Lebens unterdrückt werden. Man hat behauptet, das habe dazu geführt, daß sich viele Nichtjuden mit den jüdischen Opfern des Holo­ caust identifizierten, weil der Opferstatus dieser Juder konkret und sinnbeladen sei.101 Die Behauptung ist wahrscheinlich nicht ganz falsch. Sie könnte zur Erklärung beitragen, warum die Aus­ gabe von Opferpässen an die Besucher des Washingtoner Holo­ caust-Museums bei den Zielgruppen so gut ankam, mit denen die Ausstellungsplaner vor der Eröffnung des Museums Unlerredungen geführt hatten.102 Wenn es stimmt - und es scheint zu stimmen -, daß de ameri­ kanischen Nichtjuden sich eher mit den Opfern des Holocaust als mit den Opfern anderer Katastrophen identifizieren, warum ist das der Fall? Teilweise liegt das sicher daran, daß man ins öfter dazu auffordert - explizit durch die Opferpässe im Washingtoner Museum und im Simon Wiesenthal Center, implizit auf unter­ schiedlichsten Wegen. Wahrscheinlich aber gibt es nocli weitere Gründe. »Hitlers Verbrechen«, hat Jason Epstein geschrieben, »sind für uns so schrecklich, weil sie sozusagen im Nachbarhaus geschahen ... Die Opfer waren wir mit nur einem kleinen Unter­ schied ..; Die sowjetischen Opfer in ihrem weit entfernten Land, mit ihrdh. unaussprechlichen Namen und ihrer eigentümlichen Kleidung ähnelten uns in keiner Weise.«103 Phillip Lopate hat ge­ nauso argumentiert, um zu erklären, warum »die Haufen anderer Opfer nicht so bedeutsam sind wie jüdische Leichen«: Liegt es nur daran, daß sie Menschen der Dritten Welt sind - mit schwarzer, brauner oder gelber Hautfarbe? ... Bis zu welchem Grad ist die gesellschaftliche Klasse selbst ein Faktor? Bei vielen Büchern und Filmen über den Holocaust kommt es mir vor, als fordere man mich dazu auf, ein besonderes Pathos beim Zusam­ mentreiben höflicher, gebildeter, zivilisierter Menschen aus der Mittelschicht zu empfinden, die in Viehwaggons gezwängt wer­ den, als sei die Liquidierung bäuerlicher Analphabeten nicht ge­ nauso schrecklich. Die mittlerweile vertraut gewordene Fern­

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sehnachricht, in der Asiaten auf der Flucht vor einem Gemetzel mit ihren ärmlichen Habseligkeiten auf Handkarren gezeigt wer­ den, ist für uns immer noch eine Katastrophe, von der »Massen« betroffen sind, während die Bilder aufgereihter Juden mit ihren Filzhüten und Mänteln uns genau deshalb ins Herz treffen, weil wir sie als Individuen sehen.104

Es sei daran erinnert, daß wir nicht auf Ereignisse reagieren, son­ dern auf Darstellungen von Ereignissen. Nur eine Minderheit der europäischen Juden, die von Hitler ermordet wurden, ähnelten Amerikanern aus der Mittelschicht, aber sie wurden dem amerika­ nischen Publikum gegenüber zumeist so dargestellt. Erinnern wir uns an Meyer Levins Überzeugung, Das Tagebuch der Anne Frank könne den Amerikanern den Holocaust viel besser als alles andere nahebringen, weil »diese Leute ... unsere Nachbarn sein« könn­ ten.105 Zur Erklärung, warum er die sehr »amerikanische« Familie Weiss als Protagonisten von Holocaust gewählt hatte, antwortete Gerald Green, »wir wollten keine Juden aus Anatevka«; das »hätte unser Ziel eingeschränkt - ein breites Publikum zu erreichen«.106 Wir können nicht wissen, daß einer der Gründe dafür, daß die Amerikaner das Schicksal der europäischen Juden so tief berührt, in ihrer Ähnlichkeit mit »uns« besteht. Aber es ist wahrscheinlich. Wenn wir in den Vereinigten Staaten von »Nichtjuden« spre­ chen, meinen wir fast immer (zumindest nominelleJ^Christen. Man kann unmöglich angeben, was an der Reaktion der Amerika­ ner insgesamt auf den Holocaust spezifisch christlich ist, aber man kann etwas über die Reaktionen sagen, die explizit christlich sind. Das erste bedeutende Ereignis in der Öffentlichkeit, bei dem Christen als Christen des Holocaust gedachten, war eine Konfe­ renz in der New Yorker Kathedrale St. John the Divine im Jahre 1974. Die Begrüßungsansprache des Bischofs von New York ent­ hielt zwei Themen, die im späteren christlichen Diskurs über den Holocaust immer wieder auftauchten. Das eine war die Vorstel­ lung, man könne selbst zu den Tätern gehört haben - was der Hauptströmung des jüdischen Diskurses völlig fremd war:

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Jüngste Vergingen heit

Wenn wir in unsere eigenen Seelen schauen, erkennen wii daß auch wir in Auschwitz waren; daß jeder von uns unter bestmmten Bedingungen diese Greueltaten hätte begehen können . Ich bin als anständiger, christlicher amerikanischer Junge in das Ma­ rine Corps eingetreten; ich wurde zum Toten ausgebildet; uni ich habe getötet ... Meine Seele war durch die Propaganda, der ich ausgesetzt war, so verbogen und immunisiert, daß ich dieseDinge tun konnte, ohne etwas zu empfinden ... Ich habe in meinem Leben mein My Lai gehabt, so daß mich My Lai nicht übernscht hat, als es stattfand. Und ich glaube, jeder von uns könnte sein oder ihr My Lai, sein oder ihr Auschwitz gehabt haben.

Gleichzeitig verlieh er dem Wunsch der Christen Ausdruck, »als Mitmenschen« die eigentümliche Ehre unschuldigen Leidens, die eigentümäche Ehre des Heldentums, die aus den Geschichten aus Auscliwitz hervorschien [, zu teilen] ... Das unschuldige Leiden ist etwas Merkwürdiges in unserer Schöpfung, und Auschwitz ist vielleicht sein größtes Symbol. Vielleicht gibt es hier ein Mysterium der Buße. Vielleicht ist die kosmische Kraft der heiligen Unschuldi­ gen ein Mittel, durch das wir eins werden können. [Diese Konfe­ renz] muß in uns die Kraft freisetzen, die durch dieses Opfer und die Unschuld erzeugt wird ..., sie zu einem Teil unseres Lebens machen: so daß wir es wagen können, an dieser Leidensgeschich­ te teilzuhaben, das stellvertretende Leiden.107

Der Bischof also zugleich als römischer Soldat mit Speer und Christus am Kreuz. Wie wir gesehen haben, waren jüdische Theologen nicht selten entschieden dagegen, dem Leiden und dem Tod einen religiösen Sinn zu verleihen - weil das für sie unjüdisch wäre. Diese Hem­ mungen gibt es nicht in einer religiösen Tradition, die ein Lei­ dens- und Mordwerkzeug zu ihrem obersten Symbol erhoben hat. Außerdem sind Leiden und Erlösung sowie Schuld und Reue The­ men, die für viele Christen eine starke Anziehungskraft haben. Martin Jaffee, Professor für Judaistik an der University o f Wa­

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shington, hat viele christlich-jüdische Begegnungen im Zusam­ menhang mit dem Holocaust als Rituale mit einer tiefen religiö­ sen Bedeutung für die Christen beschrieben: Der christliche Partner im Holocaust-Diskurs, der vor dem Juden als Erbe und Vertreter der christlichen Kultur steht, in der ... der Holocaust entstanden ist, muß die Wahrheit jüdischen Zorns und die Berechtigung der jüdischen Wut unterwürfig anhören, aner­ kennen und erinnern. Die passende Reaktion des Christen auf den Juden sind in einer Art stillschweigendem gegenseitigen Ein­ verständnis eine geistige Selbstzerstörung und ein offenes Ge­ ständnis der eigenen Schuld, in denen sich auf subtile Weise The­ men der klassischen christlichen Theologie wider spiegeln.108

Auf viele Christen haben derartige Rituale und andere Formen symbolischer Buße eine starke Anziehungskraft ausgeübt. Eine re­ lativ kleine Gruppe von Christen - Protestanten und Katholiken, sowohl Geistliche wie Laien - haben es sich zur Aufgabe gemacht, den Holocaust als spezifisch christliches Problem anzugehen. In vielen Fällen wurden sie durch das motiviert, was sie als unange­ messene christliche Reaktion auf die Kriege von 1967 und 1973 be­ trachteten. Sie haben unermüdlich und mit einem gewissen Erfolg an der Aufgabe gearbeitet, antisemitische Elemente in der christli­ chen Lehre aufzuspüren, zu enthüllen und zu tilgen, die ihrer An­ sicht nach den Grundstein für den Holocaust gelegt hatten. Einige dieser Christen sind Mitglieder des Beirats des Washingtoner Ho­ locaust-Museums geworden. In diesem Rahmen haben sie ohne großen Erfolg darauf hingearbeitet, den christlichen Hintergrund des nationalsozialistischen Antisemitismus in die Ausstellung auf­ zunehmen. (Die Führung des Museums entschied, das wäre zu provozierend und abschreckend für christliche Besucher.)io9 In Zusammenarbeit mit jüdischen Gruppen haben sie sich dafür ein­ gesetzt, daß der Holocaust in den Lehrplan konfessioneller Schu­ len aufgenommen wird und interkonfessionelle Gedenkfeiern stattfinden. Ihr Ziel, den Holocaust in das Herz der christlichen Lehre und Liturgie zu rücken, haben sie außerhalb eng begrenzter Kreise jedoch nicht erreicht.110 Die Angehörigen dieser Gruppe -

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Jüngste Vergngenheit

sowie die anderen Christen, für die der Holocaust Anlaß iur kriti­ schen religiösen Selbstreflexion ist - sind von allen nichtjtdischen Amerikanern wahrscheinlich diejenigen, die sich den Eolocaust am meisten zu Herzen genommen haben. Schließlich ist noch zu fragen, ob sich die Reaktion des ameri­ kanischen Volkes von der offiziellen Reaktion seiner Verteter un­ terscheidet. Der Unterschied ist sicher nicht sehr groß. Als ich vor einigen Jahren mit der Arbeit an dieser Untersuchung begann, hat mich die Häufigkeit beeindruckt, mit der Nichtjuden Iber den Holocaust sprachen. Nachdem ich mich länger mit dem Material beschäftigt und mehr darüber nachgedacht hatte, gelangt« ich zur Überzeugung, der ich immer noch anhänge, daß ein grcßer Teil des Gesagten formelhaft ist. Wie die rituelle Begrüßung, mit der wir Interesse am Wohlergehen des anderen ausdrücken (»Wie geht es Ihnen?«), ist die rituelle Anerkennung des Leidens ande­ rer Gruppen gut gemeint, eine sinnvolle Geste. Aber das bedeutet nicht, daß die Anerkennung tiefe und eigenständige Gefühle aus­ drückt, so wie der Stellenwert von George Washingtons ebenso wohlmeinenden Worten an die jüdische Gemeinde von Mewport mit Vorsicht zu genießen ist. Woher das Interesse der Amerikaner am Holocaust auch rühren und wie tiefgreifend es auch sein mag, es herrscht doch weitgehend Einigkeit über die rationale Begründung des Interes­ ses. Alle sind der Meinung, der Holocaust enthalte äußerst wichti­ ge Lehren - nicht nur für die Juden, sondern für alle von uns. Die­ sen Lehren wollen wir uns nun zuwenden.

li. Kapitel

»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser«

Das Gedenken an den Holocaust bedarf keiner pragmatischen Rechtfertigung, schon gar nicht für einen Juden. Es ist ein Akt der Pietät, ähnlich der Rezitation des Kaddisch zum Jahrestag des To­ des eines Verwandten oder der Erinnerung an die Gefallenen zum Heldengedenktag. Daß das Gedenken keiner Rechtfertigung be­ durfte, heißt nicht, daß es nicht gerechtfertigt worden ist; und spe­ zifisch jüdische - zionistische und andere - Schlußfolgerungen aus dem Holocaust wurden fester Bestandteil von Holocaust-Ge­ denkfeiern. Als das Gedenken zusammen mit den Lehrveranstal­ tungen über den Holocaust Eingang in die breite amerikanische Öffentlichkeit fand, schien eine pragmatische Rechtfertigung not­ wendig zu werden. Warum sollten nichtjüdische Amerikaner um Hitlers jüdische Opfer mehr trauern als um Pol Pots kambodscha­ nische Opfer, da es doch in beiden Fällen keine wirklichen oder metaphorischen Familienbande gab? Warum sollte man den Ho­ locaust eher auf den Lehrplan setzen als die anderen grausamen Verbrechen der Menschheitsgeschichte? Alle scheinen sich über die Antwort einig zu sein, daß der Ho­ locaust Lehren für alle Menschen enthält, nicht nur für die Juden. Der Holocaust, hat Elie Wiesel gesagt, war »eine einzigartige jüdi­ sche Tragödie mit universalen Konsequenzen«.1 Die Konsequen­ zen sind in Lehren übersetzt worden, und selten gibt es eine Holo­ caust-Gedenkfeier, eine Holocaust-Institution oder eine Lehrver­ anstaltung über den Holocaust, die nicht dazu diente, »die Lehren des Holocaust« zu verbreiten. Viele der Lehren tragen sehr allgemeine Züge. Beispielsweise wird gesagt, der Holocaust sei eine heilsame Erinnerung an die Existenz des Bösen in der Welt, »ein Antidot gegen Unschuld«.2 Es gibt weitreichendere Lehren. Dem früheren amerikanischen

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Jüngste Vergangenheit

Präsidenten George Bush zufolge dient der Holocaust da2i, unse­ re aus der Aufklärung stammende Illusion von der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen« zu zerstören.3 In ähnlicher Weise bemerkt der Philosoph Ronald Aronson, der Hdocaust »vernichtet... den verbreiteten Glauben an einen stetigen,irrever­ siblen Fortschritt«.4 Der Kolumnist George Will schreibt, der Ho­ locaust widerlege »die große Illusion der Renaissance, laß der Mensch immer besser wird, wenn er klüger wird«.5 Für andere be­ weist der Holocaust, daß Wissenschaft und Technik niclt unbe­ dingt gut oder auch nur neutral sind; vielmehr machtensie den Holocaust erst möglich.6 Noch allgemeiner wird er oft nicht nur als Ergebnis, sondern als Symbol der »Moderne« dargestellt, mit seiner bürokratischen Rationalität und Arbeitsteilung, dirch die die Verantwortung aufgeteilt wird.7 Diese Lehren sind problematisch, nicht weil sie falsch, sondern weil sie leer und nicht besonders nützlich sind. Es ist kaum anzu­ nehmen, daß es heutzutage viele Amerikaner gibt, die - angesichts der Bombardierung mit Bildern von Straßenmorden, Terroran­ schlägen und Massengewalt - ohne die Erinnerung an den Holo­ caust die Existenz des Bösen in der Welt nicht sähen.8 Ich zögere zu behaupten, es gebe keine Amerikaner, die an die Karikatur des aufklärerischen Gedankens glaubten, der Mensch könne vervoll­ kommnet werden; oder die glauben, der menschliche Fortschritt sei stetig und irreversibel; oder Klugheit bedeute Tugend; oder (zu­ mindest seit Hiroshima) daß Technologie ein uneingeschränkter Segen sei. Aber wie viele gibt es? Die meisten Amerikaner haben keine tiefschürfenden Gedanken über die Moderne, aber wenn sie welche hätten, würden sie wahrscheinlich nicht leugnen, daß sie eine dunkle Seite hat. Manche Eigenschaften des Holocaust waren zwar typisch für die Moderne, andere hingegen stellten eine Nega­ tion einiger ihrer Charakteristika dar. Im übrigen fragt sich, was man mit der Lehre anfängt, der Holocaust sei ein Symbol der Mo­ derne - außer den Vorsatz zu fassen auszusteigen. Gleiches gilt für die positiven Lehren, die das Holocaust-Muse­ um in Washington vermitteln möchte. Es ist nichts an ihnen aus­ zusetzen, aber sie sind kaum notwendig, wenn nicht sogar über­ flüssig. »Wenn die Lage in Amerika besonders gut ist«, sagte ein

»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser«

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Mitglied der Museumsleitung in einem Interview, »ist der Holo­ caust in den Vereinigten Staaten unmöglich.« Er meinte, das Mu­ seum lehre die fundamentalen amerikanischen Werte von »Plura­ lismus, Demokratie, Beschränkung des Staates, unveräußerlichen Rechten des Individuums, Freiheit der Presse von staatlicher Kon­ trolle, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit usw.«10 Wenn den Amerikanern demonstriert werden muß, wie diesen Werten im Holocaust zuwider gehandelt wurde, um zu ihnen zu stehen, ist es um unsere Lage schlimmer bestellt, als ich dachte. Am anderen Ende der Skala stehen den allgemeinsten und un­ strittigsten Lehren des Holocaust die schärfsten und meist um­ strittensten gegenüber. Ehe Wiesel dürfte mit der Rede von »uni­ versalen Konsequenzen« des Holocaust recht gehabt haben, wenn man von der Anzahl von Menschen ausgeht, die der Meinung wa­ ren, er habe Konsequenzen für ihre Überzeugungen. Keine Lehre hat mehr und begeistertere Anhänger gehabt als die Formulierung, die Legalisierung der Abtreibung sei »der amerika­ nische Holocaust«.11 Diejenigen, für die der Fötus den gleichen Schutz verdient wie alles andere menschliche Leben, hielten die Legalisierung der Abtreibung für eine heimliche Übernahme des nationalsozialistischen Begriffs »lebensunwertes Leben«. C. Everett Koop, der Surgeon General der Vereinigten Staaten, glaubte ein Voranschreiten »von liberalisierter Abtreibung ... über aktive Euthanasie ... bis hin zur Entstehung des politischen Klimas, das zu Auschwitz, Dachau und Belsen führte«, zu erkennen.12 (Das är­ gerte natürlich die andere Seite, die ihre Sache ebenfalls durch die Berufung auf den Holocaust zu stützen suchte. »Der Völkermord«, sagte eine Befürworterin der »freien Entscheidung«, »beginnt in dem Moment, in dem man den Menschen das Recht und die Mög­ lichkeit nimmt, über ihren eigenen Körper zu bestimmen.«)13 Feministinnen haben behauptet, die Herrschaft »patriarchaler Werte« habe den Holocaust möglich gemacht. Sie belegten ihre Behauptung mit dem Hinweis, es seien »größtenteils Männer« gewesen, die die Todeslager entworfen und geleitet hatten.14 Ein Parlamentsmitglied aus Oklahoma sagte im Kongreß über die NBC-Serie Holocaust, sie lehre die Gefahren einer »starken Regie­ rung«.13 Tierschützer bezeichnen Pelzfarmen als »Buchenwald für

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Präsidenten George Bush zufolge dient der Holocaust dazi, unse­ re aus der Aufklärung stammende Illusion von der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen« zu zerstörend In ähnlicher Weise bemerkt der Philosoph Ronald Aronson, der Hdocaust »vernichtet... den verbreiteten Glauben an einen stetigen,irrever­ siblen Fortschritt«.4 Der Kolumnist George Will schreibt, der Ho­ locaust widerlege »die große Illusion der Renaissance, laß der Mensch immer besser wird, wenn er klüger wird«.5 Für andere be­ weist der Holocaust, daß Wissenschaft und Technik niclt unbe­ dingt gut oder auch nur neutral sind; vielmehr machtensie den Holocaust erst möglich.6 Noch allgemeiner wird er oft nicht nur als Ergebnis, sondern als Symbol der »Moderne« dargestellt, mit seiner bürokratischen Rationalität und Arbeitsteilung, durch die die Verantwortung aufgeteilt wird.7 Diese Lehren sind problematisch, nicht weil sie falsch, sondern weil sie leer und nicht besonders nützlich sind. Es ist kaum anzu­ nehmen, daß es heutzutage viele Amerikaner gibt, die - angesichts der Bombardierung mit Bildern von Straßenmorden, Terroran­ schlägen und Massengewalt - ohne die Erinnerung an den Holo­ caust die Existenz des Bösen in der Welt nicht sähen.8 Ich zögere zu behaupten, es gebe keine Amerikaner, die an die Karikatur des aufklärerischen Gedankens glaubten, der Mensch könne vervoll­ kommnet werden; oder die glauben, der menschliche Fortschritt sei stetig und irreversibel; oder Klugheit bedeute Tugend; oder (zu­ mindest seit Hiroshima) daß Technologie ein uneingeschränkter Segen sei. Aber wie viele gibt es? Die meisten Amerikaner haben keine tiefschürfenden Gedanken über die Moderne, aber wenn sie welche hätten, würden sie wahrscheinlich nicht leugnen, daß sie eine dunkle Seite hat. Manche Eigenschaften des Holocaust waren zwar typisch für die Moderne, andere hingegen stellten eine Nega­ tion einiger ihrer Charakteristika dar. Im übrigen fragt sich, was man mit der Lehre anfängt, der Holocaust sei ein Symbol der Mo­ derne - außer den Vorsatz zu fassen auszusteigen. Gleiches gilt für die positiven Lehren, die das Holocaust-Muse­ um in Washington vermitteln möchte. Es ist nichts an ihnen aus­ zusetzen, aber sie sind kaum notwendig, wenn nicht sogar über­ flüssig. »Wenn die Lage in Amerika besonders gut ist«, sagte ein

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Mitglied der Museumsleitung in einem Interview, »ist der Holo­ caust in den Vereinigten Staaten unmöglich.« Er meinte, das Mu­ seum lehre die fundamentalen amerikanischen Werte von »Plura­ lismus, Demokratie, Beschränkung des Staates, unveräußerlichen Rechten des Individuums, Freiheit der Presse von staatlicher Kon­ trolle, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit usw.«10 Wenn den Amerikanern demonstriert werden muß, wie diesen Werten im Holocaust zuwider gehandelt wurde, um zu ihnen zu stehen, ist es um unsere Lage schlimmer bestellt, als ich dachte. Am anderen Ende der Skala stehen den allgemeinsten und un­ strittigsten Lehren des Holocaust die schärfsten und meist um­ strittensten gegenüber. Ehe Wiesel dürfte mit der Rede von »uni­ versalen Konsequenzen« des Holocaust recht gehabt haben, wenn man von der Anzahl von Menschen ausgeht, die der Meinung wa­ ren, er habe Konsequenzen für ihre Überzeugungen. Keine Lehre hat mehr und begeistertere Anhänger gehabt als die Formulierung, die Legalisierung der Abtreibung sei »der amerika­ nische Holocaust«.11 Diejenigen, für die der Fötus den gleichen Schutz verdient wie alles andere menschliche Leben, hielten die Legalisierung der Abtreibung für eine heimliche Übernahme des nationalsozialistischen Begriffs »lebensunwertes Leben«. C. Everett Koop, der Surgeon General der Vereinigten Staaten, glaubte ein Voranschreiten »von liberalisierter Abtreibung ... über aktive Euthanasie ... bis hin zur Entstehung des politischen Klimas, das zu Auschwitz, Dachau und Belsen führte«, zu erkennen.12 (Das är­ gerte natürlich die andere Seite, die ihre Sache ebenfalls durch die Berufung auf den Holocaust zu stützen suchte. »Der Völkermord«, sagte eine Befürworterin der »freien Entscheidung«, »beginnt in dem Moment, in dem man den Menschen das Recht und die Mög­ lichkeit nimmt, über ihren eigenen Körper zu bestimmen.«)13 Feministinnen haben behauptet, die Herrschaft »patriarchaler Werte« habe den Holocaust möglich gemacht. Sie belegten ihre Behauptung mit dem Hinweis, es seien »größtenteils Männer« gewesen, die die Todeslager entworfen und geleitet hatten.14 Ein Parlamentsmitglied aus Oklahoma sagte im Kongreß über die NBC-Serie Holocaust, sie lehre die Gefahren einer »starken Regie­ rung«.15 Tierschützer bezeichnen Pelzfarmen als »Buchenwald für

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Tiere«. »In ihrem Verhalten gegenüber Lebewesen«, schieb Isaac Bashevis Singer, ein strenger Vegetarier, »sind alle Menschen Na­ zis.«16 In einem von der American Civil Liberties Unm ange­ strengten Verfahren gegen die grausame Hinrichtungsmethode mit Zyanidgas stellte der Hauptvertreter der Anklage fest die che­ mische Zusammensetzung des Gases sei die gleiche wir die von Zyklon B, das in den Todeslagern eingesetzt wurde.17 Krtiker des Soziobiologen Edward O. Wilson von der Harvard University be­ schuldigten ihn, er griffe Ideen auf, die »zur Errichtungyon Gas­ kammern im nationalsozialistischen Deutschland« geführt hat­ ten.18 In einer Kampagne gegen die Kontrolle des Waffelbesitzes druckte die Zeitschrift The American Rißeman einen Aitikel mit dem Titel »The Warsaw Ghetto: Ten Handguns Agiinst Tyranny«.19 »Hätte es in Deutschland das Recht auf Waffenkesitz ge­ geben«, meinte der Sprecher des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, »wäre es vielleicht nicht zum Holocaust gekommen.«20 In Verbindung mit ihrem Slogan, »Schweigen bedeutet Tod«, ar­ gumentieren die Homosexuellen, die Gleichgültigkeit der Nicht­ betroffenen ermögliche im AIDS-Holocaust ebenso wie im Holo­ caust der vierziger Jahre das ungehinderte Voranschrdten der Zerstörung.21 Ein evangelischer Autor schreibt anläßlich einer Auswertung der Literatur über die Retter von Juden, die Quellen­ lage »bestätigt grundlegende christliche Überzeugungen über die zentrale Bedeutung der Familie«.22 Bevor wir uns weiteren Lehren des Holocaust zuwenden, sollten wir uns fragen, was wir über die allgemeinen und besonderen Lehren sagen können, die wir bislang erörtert haben. Die meisten Leser werden bemerkt haben, daß die Lehren zwar so dargestellt werden, als seien sie aus dem Holocaust gezogen worden, in Wahrheit aber an ihn herangetragen werden. Die Lehren beruhen auf Werten und Interessen, die ihren Ursprung an einem anderen Ort haben, aber durch den Holocaust bestätigt zu werden schei­ nen - oder wenigstens dadurch dramatisch veranschaulicht wer­ den können, indem man sie im Holocaust verankert. Das gilt für die meisten allgemeinen wie auch für die meisten besonderen Lehren. Es war nicht der Holocaust, der George Bush und George

»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser«

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Will zu Konservativen mit einer düsteren Auffassung der mensch­ lichen Natur und der menschlichen Möglichkeiten gemacht hat. Allgemein gesprochen leitet sich die gegenwärtig so beliebte pes­ simistische Weltanschauung nicht vom Holocaust her. Die ersten Jahrzehnte nach dem Holocaust waren in den Vereinigten Staaten besonders fröhlich und optimistisch. Erst später haben die Ameri­ kaner aus verschiedenen Gründen eine trübere Weitsicht ange­ nommen und den Holocaust sodann zur Rechtfertigung dieser Sicht herangezogen.23 Auf jeden Fall haben Feministinnen, Ho­ mosexuelle, Tierschützer sowie die Gegner der Abtreibung, einer starken Regierung, der Todesstrafe, der Waffenkontrolle und die Fürsprecher christlicher Werte der Familie ihre Position nicht erst aufgrund der Reflexion über den Holocaust angenommen - nicht erst die Lehren aus ihm gelernt. Bedeutet die Tatsache, daß diese Lehren sich nicht aus dem Ho­ locaust herleiten, sie seien nicht wirklich Lehren des Holocaust oder zumindest keine authentischen Lehren? Meines Erachtens sollte man die Frage nicht vorschnell bejahen. Das würde heißen, daß ein Zionist, der bereits vor dem Zweiten Weltkrieg von der Notwendigkeit eines unabhängigen jüdischen Staates überzeugt war, nach dem Krieg nicht behaupten konnte, die Notwendigkeit sei eine »Lehre des Holocaust«. Dürfen nur diejenigen, die vor ei­ ner Begegnung mit dem Holocaust unbeschriebene Blätter waren, Lehren aus ihm ziehen? Wie wird etwas zu einer »echten« Lehre des Holocaust? Zur Be­ antwortung der Frage sollten wir uns einigen Lehren zuwenden, deren Erfahrung mit dem Holocaust unmittelbar war (nicht nur aus zweiter Hand) und die behaupten, genau diese Erfahrung ha­ be sie zu bestimmten Lehren genötigt. Die Klage der American Civil Liberties Union gegen die Hinrichtung durch Gas wurde durch eine eidesstattliche Erklärung einer KZ-Überlebenden ge­ stützt: »Als eine Person, die täglich das Grauen der Massenver­ nichtung durch Gas erlebt hat, weiß ich, daß die Hinrichtung durch Gas Folter ist und nie etwas Geringeres sein kann.«24 Brachte sie keine authentische Lehre aus ihrer Holocaust-Erfah­ rung vor? Alex Hershaft ist ein bekannter Tierschützer und Über­ lebender des Warschauer Gettos. Die Jahre, in denen er sich ver­

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Jüngste Vergngenheit

stecken mußte, hätten ihn mit einer »Leidenschaft für Gerechtig­ keit und einer Sorge um das Überleben des Planeten [erfillt]. Hin­ sichtlich der Gerechtigkeit habe ich mich nur um die ammeisten verfolgten Lebewesen auf der Erde gekümmert«25 Hat Hershaft eine unrichtige oder illegitime Lehre aus seinen Jahren im Ver­ steck gezogen? Waren die Konsequenzen, die der Holotaust für ihn hatte, zu universal? Ist es für Nicht-Überlebende weniger legitim, diese Lehren zu unterstützen, als sich geläufigeren Lehren anzuschließen die von anderen Überlebenden aus dem Holocaust gezogen wurden? Wenn es weniger legitim ist, warum? Mit alledem will ichnicht sa­ gen, daß sämtliche aus dem Holocaust gezogenen Lehren gleich angemessen sind. Niemand könnte eine so absurde Meinung ver­ treten. Mir geht es vielmehr darum herauszufinden, auf welcher Grundlage wir manche Lehren für richtig oder legitim halten und andere für falsch oder illegitim. Wenn wir sagen, ein Ereignis beinhalte Lehren, die sich auf ei­ ne andere Situation anwenden lassen, stellen wir meisteas etwas her, was als Analogie bezeichnet wird; meinem Wörterbuch zufol­ ge weisen wir hin auf eine »Ähnlichkeit in einiger Hinsicht zwi­ schen Dingen, die ansonsten unähnlich sind«. Wir kommen nicht wesentlich weiter, wenn wir sagen, es gebe gute und schlechte Analogien, als ob wir uns dabei - wie vage auch immer - auf ei­ nen unpersönlichen Maßstab bezögen. Analogien - wie die zwi­ schen »dem Ungeborenen« in den Vereinigten Staaten und dem »lebensunwerten Leben« im nationalsozialistischen Deutschland - sind klar und zwingend für diejenigen, die sie hersteilen; andere verwerfen sie als abwegig. Wenn eine Analogie jemandem ein­ leuchtet oder ihn sogar fesselt, wird man ihn oder sie kaum davon überzeugen können, sie fallenzulassen. Wenn sie jemandem nicht einleuchtet oder er sie unbedingt leugnen will, dann wird er oder sie sagen: »Das ist überhaupt nicht miteinander zu verglei­ chen.« Ich kenne kein Kriterium für die Angemessenheit einer Analogie außer dem pragmatischen: Leuchtet sie ein oder nicht? Die Schwierigkeit, richtige von falschen Lehren des Holocaust zu trennen, wird dadurch verschärft, daß diejenigen, die wie Elie Wiesel auf den universalen Konsequenzen des Holocaust beste­

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hen, ebenso darauf beharren, nichts ließe sich mit ihm verglei­ chen. Sie schließen damit »enge« Analogien aus. Strenge Kriteri­ en für Ähnlichkeit sind irrelevant: Es geht darum, daß man an den Holocaust erinnert wird, wenn man auf eine spätere Greueltat oder Ungerechtigkeit stößt, wenn der spätere Fall Emotionen weckt, die man auf den Holocaust bezieht. Selbst wenn es Logiker gäbe, die die Regeln für die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Analogien festsetzen könnten, dürfte wohl niemand so verwegen sein, festsetzen zu wollen, unter welchen Bedingungen es richtig ist, an den Holocaust erinnert zu werden. Unsere unter­ schiedliche Beurteilung richtiger und falscher Lehren des Holo­ caust sowie angemessener und unangemessener Gelegenheiten, sich an ihn erinnert zu fühlen, beruhen in der Praxis auf unserem Eindruck, in welche Richtung diese Lehren und Erinnerungen deuten. Ich sehe nicht, wie es anders sein könnte. Genau die Eigenschaften des Holocaust, die ihn zu einer attrakti­ ven Illustration dieser oder jener Lehre machen, sind auch dafür verantwortlich, daß er eine zweifelhafte Quelle dieser oder jener Lehre ist. Man beruft sich für verschiedene Lehren auf den Holo­ caust, weil er so dramatisch, furchtbar und extrem ist. Wenn der Holocaust uns zeigt, wohin Technik, Moderne oder Patriarchat führen können oder wenn die Abtreibung wirklich dem Holocaust ähnelt, müssen wir ernsthafter über diese Fragen nachdenken als bisher. Gerade der extreme Charakter des Holocaust und der Um­ stände, unter denen er stattfand, begrenzen sehr stark seine Eig­ nung, Lehren zu liefern, die in unserer Alltagswelt anwendbar sind. Zuerst ist zu fragen, welche Lehren für das Überleben die Opfer aus dem Inferno gezogen haben? Einige von ihnen berichten und wir haben keinen Grund, ihnen nicht zu glauben -, gegensei­ tige Hilfe, Solidarität und religiöser Glaube hätten ihnen das Überleben ermöglicht. Andere sagen - ebenso glaubhaft -, eine gewisse Rücksichtslosigkeit, ein Gespür für die Gelegenheit und das Vertrauen nur auf sich selbst, nicht auf Gott oder andere Men­ schen, hätten sie am Leben erhalten. Einige konnten überleben, weil sie mit Nichtjuden verheiratet waren oder sich auf andere

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Weise in die Umgebung einfügten. Andere berichten, rar ihr be­ ständiges Mißtrauen gegenüber allen außer »sich selbst hätte ih­ nen das Leben gerettet. Welche dieser entgegengesetzte Überle­ benslehren sollten wir als die authentische Lehre aus kr Erfah­ rung der Opfer annehmen? Und welche Lehre ergibt sich, wenn wir uns der verbreitetsten und plausibelsten aller Erllärungen anschließen - Glück? Vor allem, welche Relevanz halen diese Lehren über das Überleben in der Hölle von Hitlers Eurcpa für ei­ ne sichere und friedliche Lebensführung hier und jetzt? Zweitens müssen wir nach den Lehren fragen, die wir im Ver­ halten der Täter suchen. Alle von uns wollen verstehen, vie offen­ bar normale Deutsche bereitwillig dem Befehl Folge leisten konn­ ten, Millionen unschuldiger europäischer Juden zu quälen und zu töten. In einer Hinsicht ist das eine streng historische Irage, de­ ren Beantwortung sich viele Historiker gewidmet haben, Aber sie ist mehr als das: Wir fragen nach den universalen Konsequenzen. Wir wollen, wenn möglich, zu nützlichen Lehren und zu einem besseren Verständnis gelangen. Zweifellos kann die Erforschung des Holocaust dabei von Nutzen sein, aber ist sie der Konigsweg zum Verständnis der umfassenderen Frage, die uns beschäftigt? Im 7. Kapitel habe ich Stanley Milgrams Experiment beschrieben, das gezeigt hat, wie bereitwillig normale Menschen unter norma­ len Umständen barbarische Instruktionen befolgen.26 Natürlich läßt sich das Experiment in seiner Reichweite nicht mit dem Ho­ locaust vergleichen: Auf der einen Seite steht der millionenfache Mord, auf der anderen werden einige hundert Menschen in einem psychologischen Laboratorium für kurze Zeit getäuscht, und nie­ mand kommt dabei zu Schaden. Während das Ausmaß des Holo­ caust uns nicht in den Kopf will, ist die Tatsache wohlbekannt, daß Menschen vor allem in Kriegszeiten auf Befehle ihrer Vorgesetz­ ten hin diejenigen umbringen, die zu verachten und als völlig an­ dersartig zu betrachten sie systematisch erzogen wurden. Ob­ gleich diese besonderen Umstände völlig fehlten, waren Bürger von New Haven, Frauen übrigens nicht weniger als Männer, be­ reit, jemandem, der genauso war wie sie selbst, gegen den sie nicht die geringste Abneigung hegten, extremen Schmerz zuzufü­ gen.27 Wenn es uns auf relevantes, nützliches Verständnis an-

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kommt, scheint mir Milgrams Arbeit in gewisser Hinsicht erhel­ lender - und um so erschreckender. Und sollte unsere größte Sor­ ge hinsichtlich der praktischen Moral - der Auffindung nützlicher Lehren - Menschen betreffen, die den Befehl zum Völkermord blind befolgen? Es könnte angemessener sein, darüber nachzu­ denken, wie bereitwillig wir unsere moralische Entscheidungsfin­ dung an ehrbare Autoritäten delegieren - so ehrbar wie ein Pro­ fessor an der Yale University mit einem weißen Kittel -, die uns versichern, die Dinge, die wir ausführen sollen, schienen zwar furchtbar, dienten aber einem guten Zweck. Schließlich gibt es die Zuschauer und die Lehren, die man aus ihrem Verhalten ableiten können soll. Keine Lehre des Holocaust wird häufiger und stärker geltend gemacht als »das Verbrechen der Gleichgültigkeit«. Das Holocaust-Museum in Washington er­ leichtert seinem ersten Direktor zufolge »die Internalisierung der moralischen Lehren, die in der Geschichte enthalten sind«. Keine von ihnen sei wichtiger als die Einsicht, daß »Zuschauer durch Unterlassung zu Komplizen der Täter wurden«.28 Immer wieder stellt man uns als negative Lehre die Tatsache vor Augen, daß mehrere zehn Millionen europäische Zivilisten »zuschauten« und »schwiegen«, während die Juden deportiert und ermordet wurden. Wenn man eine Anklage gegen die Moderne entwerfen müßte, würde ganz oben auf der Liste der Anklagepunkte das Verschwin­ den eines Sinnes für gegenseitige Verpflichtung stehen - das Ge­ genstück zum Individualismus, den die Moderne vertritt. Ganz gleich, ob wir die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Mitmen­ schen als Verbrechen bezeichnen oder nicht, so sollte sie uns doch zweifellos Sorge bereiten. Ist jedoch das Versäumnis der Eu­ ropäer, unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gegen das Schicksal der Juden zu protestieren und ihnen zu helfen, das be­ ste Beispiel für das Phänomen, das wir mit Recht mißbilligen? In der Einleitung habe ich erwähnt, daß Maurice Halbwachs, als er gegen die Verhaftung seines jüdischen Schwiegervaters protestier­ te, nach Buchenwald geschickt wurde, wo er den Tod fand. Das Beispiel ist eindrucksvoll, aber ist es das Modell, das uns als Alter­ native zur Gleichgültigkeit dienen soll? Es gab moralische Ent-

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Scheidungen, die unter der deutschen Besatzung gefälllwerden mußten, wie zu anderen Zeiten und an anderen Orten. Iber der extreme Charakter der Umstände steckte dem Entschddungsspielraum enge Grenzen. Für das Wohlergehen der eigenen Fami­ lie zu sorgen, ist eine grundlegende Pflicht - die der Abfassung der Mehrheit zufolge höher steht als eine Verpflichtung gegenü­ ber Fremden. Wenn man Polen erwischte, die Juden versteckt hielten, wurden nicht nur sie, sondern auch alle Fanilienangehörigen erschossen. Sind wir sicher, daß unter diesen Umstän­ den die einzige moralisch richtige Handlungsweise darin Bestand, ein guter Nichtjude zu sein, wie hoch die Kosten auch seid moch­ ten und wer immer sie auch bezahlte? Diese furchtbare Irage zu stellen - die so furchtbar ist wie die Situation, die zu ihr ührte -, ist nicht gleichbedeutend mit der Leugnung, daß es wählend des Holocaust wirklich schuldhafte Gleichgültigkeit gegeben hat. Es bedeutet vielmehr, daß wir den extremen Charakter der Unstände deutlich erkennen und darüber nachdenken sollten, ob las Ver­ halten unter diesen Umständen für unsere Probleme wirklich so relevant ist. Wer in den 1960er Jahren in New York gelebt hat, wird sich an den Fall von Kitty Genovese erinnern. Als sie spät abends von der Arbeit nach Hause kam, wurde sie von einem Geistesgestörten mit einem Messer angegriffen und rief um Hilfe. 38 Nachbarn konnten von ihren Wohnungen aus den Vorfall beobachten und hörten ihre Hilferufe. Keiner von ihnen verständigte die Polizei. Der Angreifer kehrte daraufhin zur Stelle zurück, an der die blu­ tende Frau lag, und stach erneut zu. Dann kam er ein zweites Mal wieder und stach nochmals zu. Als sie tot war, begab sich einer der 38 Anwohner zur Wohnung einer älteren Nachbarin und be­ wegte sie dazu, die Polizei zu rufen. »Ich wollte damit nichts zu tun haben«, erklärte er später.^ Wir wissen nicht, was in den Köp­ fen der gleichgültigen Zuschauer vorging, weder in Hitlers Euro­ pa noch in New York. Aber wir wissen, wie hoch der Preis im ersteren Fall war, wenn man den Mund aufmachte, und wie gering die Kosten eines Telefonanrufs im letzteren waren. Aber nicht einmal der Fall von Kitty Genovese und die analogen Fälle, über die in den darauffolgenden Jahren berichtet wurde,

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treffen den Punkt, weil sie wie der Holocaust - wenn auch in ei­ nem unendlich kleineren Maßstab - extrem sind. Wenige von uns sind Augenzeugen eines Mordes geworden oder werden es je sein, so daß wir das Recht zur Versicherung hätten, wir würden uns niemals so verhalten wie die Einwohner New Yorks in den sechzi­ ger Jahren oder die Polens in den vierziger Jahren. Allerdings sind alle von uns Zeugen von - großen und kleinen - Ungerechtigkei­ ten, über die wir hinwegsehen. »Es würde ohnehin keinen Unter­ schied machen.« »Wer will schon unnötigen Ärger machen?« Ich möchte eine Anekdote aus meinem eigenen Leben an­ führen, die den Punkt so gut verdeutlicht, daß ich es keinem Le­ ser übelnehmen würde, wenn er glaubt, ich hätte sie erfunden. Vor einigen Jahren habe ich in einem Seminar mit dem Titel »Der Holocaust und der Gebrauch der Geschichte« moralische Urteile über tatenlose Zuschauer zur Diskussion gestellt, die mei­ nes Erachtens - aus den soeben angeführten Gründen - zu stark vereinfachend waren. Eine Seminarteilnehmerin, Samantha, war entschieden anderer Meinung: »Es war schändlich und unent­ schuldbar, daß sie nichts gesagt haben.« Nach einem kurzen Wortwechsel sind wir zu einem anderen Thema übergegangen. Am folgenden Tag hat Samantha mich in einer Sache aufgesucht, die damit nichts zu tun hatte, sagte jedoch, einige Studenten hät­ ten ihr nach dem Seminar mitgeteilt, sie seien vollständig ihrer Meinung, aber »weißt du, wir wollten nichts sagen«. Auf dem Weg zu meinem Zimmer habe sie einen weiteren Seminar­ teilnehmer getroffen, der ebenfalls ihre Auffassung teilte, das Schweigen der polnischen Zuschauer sei unentschuldbar gewe­ sen. Dieser Student habe auf Samanthas Seite in die Diskussion eingreifen wollen, aber »weißt du ...« Bei der nächsten Sitzung des Seminars berichtete ich, was Samantha mir gesagt hatte und daß sie sich von den anderen Studenten distanziert hatte. »Wenn ihr etwas gegen die nationalsozialistischen Morde im be­ setzten Polen gesagt hättet«, fügte ich hinzu, »hätte man euch umgebracht, eure Familie umgebracht und euer Haus niederge­ brannt. Was, glaubt ihr, hätte ich gemacht, wenn ihr im Seminar etwas gegen meine Meinung gesagt hättet?« Dieses Beispiel habe ich wirklich nicht erfunden.30

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Die eine oder andere Lehre aus dem Holocaust mag eine >eträchtliche Kraft haben. Darüber hinaus wird jedoch die umfasendere Behauptung aufgestellt, der Holocaust »sensibilisiere« ms und mache uns wachsamer für andere, geringfügigere Graeltaten. Diese Vorstellung ist nicht abwegig und hat viele Anhänge gefun­ den, wenn man nach der Häufigkeit urteilt, mit der der Holocaust von denen erwähnt wird, die die öffentliche Meinung oder die Re­ gierung zum Handeln bewegen möchten. Wie effektiv dis in der Praxis war, ist eine andere Sache. Die wahrscheinlich erste Katastrophe, über die man n f diese Weise sprach, war der nigerianische Bürgerkrieg Ende der sechzi­ ger fahre. Die eingekesselte Bevölkerung des sezessionistischen Biafra wurde als Opfer eines Völkermords dargestellt. Ein Vertre­ ter einer Hilfsorganisation erwähnte in einer Schätzung Jer mög­ lichen Hungertoten die symbolträchtige Zahl von sech Millio­ nen.31 Biafra war die Region Nigerias, in der die meisten Katholi­ ken lebten, und katholische Missionare waren die energischsten Fürsprecher der Sezessionisten. »Zu unserer ewigen Schande«, sagte ein Missionar, »haben wir zugeschaut, als Millionen Juden und andere Menschen vor unseren Augen getötet wurden. Da­ mals haben wir praktisch nichts getan. Haben wir aus dieser Zeit nichts gelernt?«32 Die Kampagne für Biafra in den Vereinigten Staaten charakterisierte ein Mitarbeiter als Versuch, »ein Bild des nationalsozialistischen Regimes und jüdischer Opfer« ins Ge­ dächtnis zu rufen.33 Private Wohlfahrtsverbände haben beträchtli­ che Summen gesammelt, aber die amerikanische Regierung hat wie die meisten anderen Staaten die nigerianische Zentralregie­ rung unterstützt, so daß der Aufstand schließlich scheiterte. Nachdem die Vietnamesen Ende der siebziger Jahre in Kam­ bodscha einmarschiert waren und das Pol-Pot-Regime gestürzt hatten, entdeckte die Welt »den kambodschanischen Holocaust«. Zwischen 1975 und 1978 hatten Flüchtlinge vereinzelt über Mas­ senmorde in Kambodscha berichtet, aber nach dem Ende des Viet­ namkriegs hatten die meisten Amerikaner genug von Südostasien und widmeten dem Problem keine Aufmerksamkeit. Erst nach der Beendigung des Mordens durch die Vietnamesen wurde das ganze Ausmaß des Grauens offenbar. Seine Enthüllung übertraf

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alle früheren Mutmaßungen. Daß man es als »Holocaust« bezeichnete, war zum Teil eine spontane Reaktion, zum Teil aber auch von den Vietnamesen gewollt. Sie errichteten ein Museum für »das asiatische Auschwitz« in Tuol Sleng und gestalteten die Ausstellung bewußt nach Vorbildern des Zweiten Weltkriegs. Sie schickten den Kurator nach Buchenwald und Sachsenhausen, da­ mit er Tuol Sleng dem nationalsozialistischen »Original« noch weiter annähern konnte.34 Der Westen unternahm massive An­ strengungen, um den kambodschanischen Flüchtlingen zu Hilfe zu kommen - großenteils Kadern der Roten Khmer, die vor den Vietnamesen flohen. In seinem Spendenaufruf an die Amerika­ ner sagte Präsident Carter: »Vor 37 Jahren begann ein Holocaust, der mehr als sechs Millionen Menschen das Leben kosten sollte. Die Welt hat schweigend zugesehen und damit ein moralisches Vergehen begangen, das noch heute den Geist erstarren läßt ... Wenn eine Tragödie mit den Ausmaßen eines Völkermords in Kampuchea vermieden werden soll, müssen wir alle helfen.«33 Gleichzeitig, und zur Zeit von Carters Auseinandersetzung mit Ehe Wiesel über die Definition der Opfer des Holocaust, unter­ stützte das Weiße Haus heimlich Pol Pot, der für den kambod­ schanischen Holocaust verantwortlich war. Die Vietnamesen gal­ ten als die wirkliche Gefahr für die Interessen der Vereinigten Staaten, und Pol Pot mußte als Gegengewicht im Spiel bleiben. »Ich habe die Chinesen aufgefordert, Pol Pot zu unterstützen«, sagte Carters Berater für nationale Sicherheit, Zbigniew Brzezinski. »Pol Pot war ein Greuel. Wir konnten ihn unter keinen Um­ ständen [öffentlich] unterstützen. Aber China konnte es.« Die Amerikaner, meinte Brzezinski, »gaben China halböffentlich ihr Einverständnis«, über Thailand Waffen an Pol Pot zu liefern.36 Wenn Tuol Sleng öffentlich an Auschwitz erinnerte, so erinnerte die amerikanische Politik gegenüber den Roten Khmer insgeheim an die amerikanische Haltung gegenüber Deutschland nach 1945: Da man einem gegenwärtigen Feind in die Augen sah, durften frühere Verbrechen nicht die strategischen Erfordernisse stören. In den achtziger Jahren verkündeten die Mujaheddin Afghani­ stans, was die Sowjets nach dem Einmarsch in ihr Land anrichte­ ten, sei »schlimmer als der Holocaust der Nationalsozialisten in

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Deutschland«. Auch Vertreter der amerikanischen Regierung und Journalisten haben den Ausdruck »Holocaust« gelegentlich auf Afghanistan angeweidet.3? Die Reaktion der amerikanischen Re­ gierung hatte gleichfohl nichts mit den »Holocaust-Dimensio­ nen« der Invasion zutun; sie war nichts weiter als ein Manöver im Kalten Krieg. Natürlich stand eine direkte militärische Konfronta­ tion der Amerikaner mit den Sowjets außer Frage; statt dessen bil­ dete die Central Intelligence Agency die islamischen Rebellen in Afghanistan aus, versorgte sie mit Waffen und unterstützte sie an­ derweitig.38 Zur Gewinnung fon Unterstützung für den Golfkrieg 1991 spielte die Rede vom Holocaust eine weitaus bedeutendere Rolle. Der amerikanische Präsident George Bush sagte, Saddam Hussein sei schlimmer als Hitler.39 Einige Kommentatoren waren der Mei­ nung, »schlimmer« sei eine zu starke Charakterisierung, aber die Gleichsetzung (oder die Annäherung) wurde immer wieder vorge­ nommen.40 Geschichten aus fragwürdigen Quellen über Greuelta­ ten, die an die Nationalsozialisten erinnerten - beispielsweise hät­ ten irakische Soldaten kuwaitische Neugeborene in einem Kran­ kenhaus aus den Inkubatoren genommen und auf dem kalten Fußboden sterben lassen - erhielten in der Presse eine breite Be­ richterstattung.41 In der New York Times schrieb ein Kolumnist, Hussein führe »seine eigene Version der Endlösung« durch.42 Das Simon Wiesenthal Center behauptete, deutsche Firmen hätten für den Diktator »Gaskammern« errichtet.43 Wie im Falle Afghani­ stans gaben eindeutig geopolitische Erwägungen den Ausschlag für die »Operation Desert Storm«, nicht etwa Befürchtungen hin­ sichtlich eines neuen Holocaust. Die Bezugnahme auf den Holo­ caust mag eine Rolle bei der Gewinnung von Unterstützung für die Operation im amerikanischen Kongreß und in der Öffentlich­ keit gespielt haben, aber diese scheint marginal gewesen zu sein 44 Im einzigen Fall, als die Vereinigten Staaten eingegriffen ha­ ben, um ein Massensterben im Ausland zu verhindern, der Hun­ gersnot in Somalia, wurde am seltensten vom Holocaust gespro­ chen - wenngleich es möglich ist, daß die dauernde Erwähnung der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg einen diffusen Anteil an der Überzeugung

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der amerikanischen Öffentlichkeit hatte, die »Operation Restore Hope« der amerikanischen Armee zu unterstützen.45 Das Ergeb­ nis des Unternehmens - der Tod und die Demütigung vieler ame­ rikanischer Soldaten durch somalische Kriegsherren - überzeugte viele Amerikaner davon, daß die eigentliche Bedeutung von »Nie wieder!« darin bestand, das Leben amerikanischer Soldaten nie­ mals wieder zu riskieren, wenn die nationalen Interessen der Ver­ einigten Staaten nicht eindeutig bedroht sind. Im Einklang mit den tragischen Lehren, die er aus dem Holocaust gezogen hat, ver­ lieh George Will der Hoffnung Ausdruck, die Erfahrung in Soma­ lia werde »Amerikas Staat gegen die Versuchungen eines huma­ nitären Interventionismus immunisieren« 46 Über die andere, weit größere afrikanische Katastrophe der letz­ ten Jahre, den Völkermord in Ruanda 1994, sprach man dagegen mit dem Vokabular des Holocaust, was nicht unberechtigt war, weil er nahezu jedes vorstellbare Kriterium dafür erfüllte. Aber in Anbetracht des Mißerfolgs der Amerikaner in Somalia und oh­ nehin hatten die amerikanischen Politiker nicht das geringste In­ teresse an einer Intervention. Die wichtigste Handlung der Regie­ rung Clintons während des Massakers war vielmehr eine Direkti­ ve zur Kürzung der amerikanischen Beteiligung an Friedensmis­ sionen, die von der Erklärung begleitet war, die Amerikaner würden sich an derartigen Missionen nicht beteiligen, wenn ihre nationale Sicherheit nicht unmittelbar gefährdet sei47 Obgleich kaum jemand von denen, die meinten, es müsse etwas gegen den Völkermord in Ruanda getan werden, wußte, worin dieses »Et­ was« bestehen sollte, wurden die Beamten von der Regierung si­ cherheitshalber angewiesen, das Massaker nicht als »Völkermord« zu bezeichnen. Wenn die Vereinigten Staaten nämlich anerkannt hätten, daß es sich um einen Völkermord handelte, wären sie zu­ sammen mit anderen Unterzeichnern der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zum Handeln verpflichtet gewesen. Zuweilen wird behauptet, auch wenn die Erinnerung an den Holocaust die Vereinigten Staaten nicht dazu veranlaßt habe, in den jüngsten Fällen von Völkermord einzugreifen, so seien sie doch durch die Erinnerung an die jüdischen Flüchtlinge, die in den dreißiger und vierziger Jahren verzweifelt um Aufnahme in

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die USA gefleht hatten, zu einer freundlicheren Haltung gegenü­ ber politischen Flücltlingen bewegt worden. Als Ende der siebzi­ ger Jahre einer großen Anzahl vietnamesischer »boat people« die Einreise in die Vereinigten Staaten gestattet wurde, befand Rabbi Irving Greenberg, das beruhe eindeutig auf der »kumulativen Wirkung des gesteigerten Holocaust-Bewußtseins«.49 Es ist rich­ tig, daß der Präzedenzfall jüdischer Flüchtlinge vor den National­ sozialisten für die Sache der »boat people« angeführt wurde, und es ist vorstellbar, daß das für die Entscheidung nicht bedeutungs­ los war. Die Aufnahme der »boat people« paßte jedoch zur ameri­ kanischen Flüchtlingspolitik des Kalten Krieges, die den Flüchtlin­ gen aus kommunistischen Ländern (Ungarn, Kubanern usw.) ei­ nen Sonderstatus einräumte, aber keinen anderen Gruppen.50 An­ fang der neunziger Jahre wurde die Erinnerung an die Flüchtlinge vor dem Holocaust in ähnlicher Weise für die Sache der Flüchtlin­ ge aus Haiti geltend gemacht. Die Haitianer hatten jedoch das Pech, vor einer rechtsgerichteten Diktatur zu fliehen, und das ge­ steigerte Holocaust-Bewußtsein konnte für sie nichts bewirken. Die Präsidenten Bush und Clinton schickten sie zurück in die Fänge der Mörder, vor denen sie geflohen waren, mit den vorher­ sehbaren mörderischen Konsequenzen.51 Die Krise, in der man sich am häufigsten auf die Lehren des Holocaust berief, war der Angriff serbischer Truppen auf die bos­ nischen Moslems ab 1992. Bereits im Sommer dieses Jahres be­ gannen die Berichte über serbische Greueltaten Erinnerungen wachzurufen: Es gibt wachsende Hinweise darauf, daß sich in Omarska ... ein Todeslager befindet, in das die serbischen Behörden ... Tausende von Moslems gebracht haben. [Ein Zeuge] zitierte einen Lager­ kommandanten, der den Insassen sagte, sie würden das Lager niemals lebend verlassen ... Fast jede Nacht wird jemand zum Verhör abgeführt und kehrt nicht zurück ... »Wir alle fühlten uns wie Juden im Dritten Reich«, sagte [ein moslemischer Student]. Frauen, Kinder und Alte, die von der Polizei in ihren Dörfern zu­ sammengetrieben werden ..., werden wie Vieh in versiegelte Gü­ terwaggons gepackt und deportiert.52

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»50 Jahre nachdem Adolf Hitlers SS Millionen Juden, Zigeuner und andere in Güterwaggons stopfte und in die Todeslager schick­ te«, hieß es in einem Nachrichtenmagazin, »transportieren ver­ schlossene Züge erneut menschliche Fracht durch Europa. Die Re­ aktion des Westens auf diesen neuen Holocaust ist genauso zag­ haft gewesen wie seine Reaktion auf den Beginn von Hitlers Völ­ kermorde^ Die Berichte aus Bosnien enthielten oft die Einschränkung, daß der größte Teil der Informationen aus zweiter Hand stamme und nicht von unabhängigen Quellen bestätigt sei, aber die bestätigten Informationen reichten aus, um die Geschich­ ten glaubwürdig erscheinen zu lassen. Außerdem gab es Fotografi­ en, die auf den Titelseiten amerikanischer Zeitschriften erschie­ nen. Sie zeigten abgemagerte Bosnier, die hinter Stacheldraht stan­ den, Bilder, deren Untertitel »Buchenwald 1945« hätten lauten können. In frühen Berichten - die ebenfalls nicht bestätigt, aber von vielen geglaubt wurden - hieß es, Hunderttausende moslemi­ scher Zivilisten aus Bosnien seien bereits ums Leben gekommen. Bald nach den ersten Berichten schlugen jüdische Organisatio­ nen und einzelne Vertreter der Juden Alarm. »Stoppt die Todesla­ ger«, lautete die Überschrift einer Anzeige dreier wichtiger jüdi­ scher Organisationen in der New York Times: Den Namen von Auschwitz, Treblinka und anderen nationalsozia­ listischen Todeslagern, die das Blut gefrieren lassen, scheinen nun die Namen von Omarska und Brcko hinzugefügt worden zu sein ... Ist es möglich, daß die Staaten der Welt, einschließlich un­ seres eigenen, 50 Jahre nach dem Holocaust zuschauen und nichts tun, da wir angeblich hilflos sind? ... Wir müssen deutlich machen, daß wir alle notwendigen Maßnahmen, einschließlich der Gewaltanwendung, ergreifen werden, um diesem Wahnsinn und Blutvergießen ein Ende zu bereiten.54

Nicht nur Juden haben diese Analogie gezogen und eine Interven­ tion gefordert. Ein für die Region zuständiger Beamter im Außen­ ministerium kündigte aus Protest gegen die amerikanische Taten­ losigkeit. »So hat der Holocaust vielleicht nicht aufgehört«, sagte er, »aber so hat der Holocaust angefangen. 1945 hatten wir die Bil­

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der und die Zeugnisse, nachdem er vorbei war. 1992 wissen wir, was geschieht, noch während es in Bosnien stattfindet.«5 In sei­ nem Präsidentschaftswahlkampf sagte Bill Clinton, »\senn die Schrecken des Holocaust uns etwas gelehrt haben, so ist es der ho­ he Preis, im Angesicht des Völkermords zu schweigen uid taten­ los zu bleiben«. Er forderte Präsident Bush auf, »alles Notovendige zu tun«, nötigenfalls eine bewaffnete Intervention lurchzu­ führen.56 Vertreter Bosniens in den Vereinigten Staatei reizten die Analogie zum Holocaust natürlich aus; und auf zirkuläre Wei­ se wurde die weite Verbreitung der Analogie zum Beleg ihrer Richtigkeit. In der CNN-Sendung Crossßre erwiderte d«r bosni­ sche Botschafter bei den Vereinten Nationen auf den Zveifel, ob »Völkermord« die richtige Bezeichnung für die Ereigniss« sei: Ich glaube, es ist ziemlich bedauerlich, daß sie fragen, ob hier ein Völkermord stattfindet oder nicht, wenn es im größten Teil der jü­ dischen Gemeinde einen Aufschrei über die Geschehnisse in Bos­ nien gab, wenn diese von ihr sogar damit verglichen wurden, was während des Holocaust geschehen ist. Zweifellos sind die Zahlen nicht miteinander vergleichbar, aber wenn die jüdische Gemeinde sagt, »Nie wieder«, haben wir meines Erachtens mehr als hinrei­ chende Gründe, zum Schluß zu kommen, daß es einen Völker­ mord gibt.57

Nicht jeder war mit der Analogie einverstanden. Die Geschehnisse in Bosnien mit dem Holocaust zu vergleichen, schrieb dei Kolum­ nist Richard Cohen in der Washington Post, sei, »als würde man einen Verkehrspolizisten als Nazi beschimpfen, wenn er einen Strafzettel ausstellt«.58 Neben vielen anderen klagte Andrew Greeley, der Vergleich »trivialisiert den Holocaust«.5^ Die Tatsache, daß die Eröffnung des Holocaust-Museums in Washington in die Zeit der Debatte über die amerikanische Politik fiel, veranlaßte einige jedoch zu bitteren Gedanken über die angeblichen Lehren des Ho­ locaust. Henry Siegman, Direktor des American Jewish Congress und Überlebender des Holocaust, sagte, wenn die Vereinigten Staaten in Bosnien nicht entschieden eingriffen, seien die Feier­ lichkeiten zur Museumseröffnung »schlimmer als leere Gesten.

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Nicht in Bosnien zu handeln, bedeutet zu sagen, daß wir nichts aus dem Holocaust gelernt haben.«60 Mortimer Zuckerman, Her­ ausgeber der Zeitung U. S. News & World Report, war ebenfalls der Meinung, daß die Eröffnung des Museums ohne eine amerika­ nische Intervention in Bosnien »leerer Symbolismus« sei.61 Ob zufällig oder absichtlich, die Regierung Clintons machte erst zwei Wochen nach der Eröffnung des Museums deutlich, daß sie das Raster des Holocaust auf die Geschehnisse in Bosnien nicht mehr anwende. Clintons Außenminister Warren Christopher sagte vor einem Kongreßausschuß, die Lage in Bosnien sei in Wahrheit »ein Sumpf« von »tiefem Mißtrauen und altem Haß«, »es gab Greueltaten auf allen Seiten«. Auf die Frage, ob »ethnische Säube­ rungen« letztlich kein Völkermord seien, antwortete Christopher: »Ich habe nie von einem Völkermord der Juden am deutschen Volk gehört.«62 Nach diesem klaren Signal von der Regierung verlor die Debatte, ob Bosnien ein Holocaust sei, den größten Teil ihrer Schärfe. War eine energische Reaktion der Vereinigten Staaten auf die ethnischen Säuberungen in Bosnien - die zumindest teilweise auf »den Lehren des Holocaust« beruhte - jemals ernsthaft erwo­ gen worden? Das läßt sich nicht mit Gewißheit beantworten. Die Argumente dagegen waren jedoch gewichtig: die hohe Wahrschein­ lichkeit, daß nur der Einsatz amerikanischer Bodentruppen den endgültigen Sieg der Serben verhindern konnte; der Widerstand ge­ gen einen umfassenden Militäreinsatz seitens der amerikanischen Verbündeten in Europa; das Widerstreben des Kongresses, der Öf­ fentlichkeit und des Pentagons gegen die Entsendung amerikani­ scher Soldaten; die Schwierigkeit, ein nationales Interesse der Ver­ einigten Staaten zu bestimmen, das eine Intervention rechtfertigen könnte. Über allem schwebten »die Lehren Vietnams«, die deutlich eindrucksvoller waren als »die Lehren des Holocaust«. Keiner der vorangehenden Punkte widerlegt die Behauptung, der Holocaust könne »sensibilisieren«. Manchmal tut er das. Wahr­ scheinlich trug die Berufung auf den Holocaust zu privaten Hilfs­ bemühungen für Biafra, Kambodscha und Somalia bei. Im Falle Bosniens bewegte die Holocaust-Analogie untergeordnete Beam­ te, Kongreßmitglieder, Journalisten und einfache Bürger dazu, Ta­

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ten zu fordern, wenn auch ohne Erfolg. Michael Berenbaim vom Washingtoner Holocaust-Museum meinte, die Berufungauf den Holocaust habe die Regierung zwar nicht zum Handeln gebracht, aber wenigstens »Gewissensbisse« erzeugt: »diese Geieration fühlt sich schuldig«; das sei ein - geringer - Fortschritt.63 Für manche war es bereits ein Fortschritt, daß soviel üter Bos­ nien gesprochen, »Zeugnis abgelegt« und »der Muni aufge­ macht« wurde. Wenn »Nie wieder« etwas bedeutet, ssgte ein führender Reformrabbi, »dann heißt es, daß gute Mensthen nie wieder schweigend zuschauen werden« - eine Meinung,die von vielen geteilt wurde.64 Es war eine Parodie dieser Auffoiderung, daß Präsident Clinton auf die Frage eines Reporters antwortete, ob sein Besuch des Holocaust-Museums seine Entscheidungen in be­ zug auf Bosnien beeinflußt habe: »Ich glaube, die Vereinigten Staaten sollten immer eine Gelegenheit ergreifen, sich einzuset­ zen« - dann korrigierte er sich - »oder zumindest auszusprechen gegen Unmenschlichkeit.«65 Ich zähle zur großen Mehrheit der Amerikaner, die nicht wis­ sen, wie eine amerikanische Politik im Interesse der bosnischen Moslems hätte aussehen können. Ich war unfähig (odei Unwil­ lens), die Zeit und Mühe zu investieren, die für ein ausgewogenes Urteil notwendig gewesen wären. Es war klar, worin eine tugend­ hafte Haltung bestehen sollte; weniger klar war, ob sie auch für das beste - oder am wenigsten schlechte - Ergebnis garantiert hätte. Daher vermag ich die folgende Argumentation nicht zu be­ urteilen, die David Rieff einigen Vertretern der Vereinten Natio­ nen zuschrieb. Sie sollen gesagt haben, es habe nie die geringste Möglichkeit für ein militärisches Eingreifen des Westens gegeben, aber die dauernde Rede von einem Eingreifen (verstärkt durch die Anführung der Lehren des Holocaust) erschwerte eine definitive Erklärung der Vereinigten Staaten, daß es unmöglich sei. Infolge­ dessen hätten sich die bosnischen Moslems falsche Hoffnungen gemacht, die Kämpfe in die Länge gezogen und ihr Leiden ver­ größert. Schließlich hätten sie sich mit einem Friedensvertrag be­ gnügen müssen, dessen Bedingungen weit schlechter waren, als sie früher möglich gewesen wären, wenn sie sich in das Unaus­ weichliche gefügt hätten.66

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Selbst aus der Perspektive der Befürworter des Eingreifens ist ungewiß, ob die Berufung auf den Holocaust letztlich ein rhetori­ scher Pluspunkt war. Einigen von ihnen kam die Assoziation Bos­ niens mit dem Holocaust automatisch und sofort in den Sinn ihnen leuchtete die Analogie ein. »Es geschieht wieder«, sagte ein Rabbi aus Kalifornien. »Der Schock des Wiedererkennens ist überwältigend.«67 Andere jedoch wiesen die Parallele als abwegig zurück. Erwin Knoll, Redakteur von The Progressive, hielt den Vergleich für »unangemessen und sogar beleidigend«.68 Gegner einer Intervention sahen keine Ähnlichkeit mit dem Holocaust; für sie war es eine Angelegenheit »uralter Feindschaften auf dem Balkan«. Darauf erwiderten Befürworter eines Eingreifens wie Su­ san Sontag: »Das ist, als seien Kamerateams im Warschauer Get­ to, und die Leute ... sagten: >Oh, das ist bloß uralter europäischer Antisemitismus, was können wir dagegen tun?Nie wieder< zu sagen«.74 »Nie wieder«, meinte ein an­ derer desillusionierter Befürworter einer Intervention in Bosnien, schien zu bedeuten: »Nie wieder dürfen Deutsche in den vierziger

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Jahren europäische Juden töten.« Man könnte ebensogut sagen, fügte er hinzu, sich auf die Kreuzzüge des 13. Jahrhunderts bezie­ hend: »Nie wieder das Abschlachten der Albigenser.«75 Diejenigen, die weiterhin »Nie wieder« sagten, taten das auf die gleiche Weise, in der weltliche Juden am Ende des Seder-Rituals sagen: »Nächstes Jahr in Jerusalem.« Es ist keine Erwartung, nicht einmal eine Hoff­ nung, eher eine ritualisierte Erinnerung an Erwartungen und Hoff­ nungen, die man stillschweigend aufgegeben hat. Die Geschehnis­ se in Bosnien bildeten keinen Holocaust. Das zu behaupten, wäre eine Übertreibung. Vielmehr enthüllte die Entwicklung der ameri­ kanischen Politik in dieser und anderen Krisen die Leere hochtra­ bender Phrasen, die von führenden Politikern vorgebracht werden - und die fortbestehende Herrschaft der Realpolitik. Es besteht nicht die geringste Aussicht, daß sich das in naher Zukunft ändern wird. Auf einer anderen Ebene werden die Lehren des Holocaust weiter­ hin eifrig verbreitet. In einem amerikanischen Bundesstaat nach dem anderen setzte die Gesetzgebung fest, daß alle Schüler in die­ sen Lehren unterwiesen werden. Den Lehren des Holocaust fügte man aufgrund der gleichen ethnischen Zugeständnisse, die den Holocaust zum Pflichtfach gemacht haben, jedoch bald die Leh­ ren des Völkermords an den Armeniern, die Lehren der irischen Kartoffelhungersnot und zahlreiche andere Lehren hinzu - ent­ sprechend der jeweiligen Zusammensetzung der Bevölkerung und den Machtverhältnissen. Nachdem die vorgeschlagene Ge­ setzgebung, die den Unterricht des Holocaust zwingend vor­ schreiben sollte, wegen unvereinbarer Forderungen verschiedener Ethnien, einbezogen zu werden, ins Stocken gekommen war, be­ schloß man in New Jersey, eine Kommission solle eine Liste »an­ erkannter Greueltaten« zusammenstellen, von der die zuständige Schulbehörde jeweils eine Auswahl treffen könne. Der Vertreter der Dachorganisation New Jersey School Boards Association sag­ te: »Wenn ein Lehrer in Paramus oder Fort Lee, wo viele Schüler aus Südostasien wohnen, beschließen sollte, es sei wichtiger, die Geschichte der Erfahrungen des Journalisten Dith Pran auf den Killing Fields von Kambodscha durchzunehmen ..., sollte der Leh­ rer nicht zögern, diese Entscheidung zu fällen.«76

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Einige der jüdischen Initiatoren der Gesetzesentwürfi waren verärgert. »Wir wollen keine Trivialisierung des Holocaust, und die Einbeziehung all dieser Fälle von Greueltaten ist lächeiich.«77 Größtenteils aber beugten sie sich den politischen Gegebeiheiten. Der Vorsitzende der Kommission zum Holocaust-Untericht in New Jersey war der Meinung, die Einbeziehung der poldschen und ukrainischen Opfer in den Lehrplan würde »die Einzigartig­ keit des Holocaust verwässern oder sogar negieren«. Er war je­ doch bereit, die Einbeziehung des Völkermords an den Ar­ meniern zu akzeptieren. Möglicherweise hatte das mit der Tatsa­ che zu tun, daß der Sprecher des Staatsparlaments armenischer Herkunft war.78 Auch wenn andere Greueltaten einbezogm wur­ den, blieb der Holocaust der Mittelpunkt: teils, weil er dis Zen­ trum der ursprünglichen Vorschläge gewesen war; teils wegen der besseren Zugänglichkeit historischen und literarischen Materials zum Thema (dazu sind auch die Überlebenden des Holoaust zu zählen, deren persönliches Erscheinen in vielen Gegendei zu ei­ nem regelmäßigen Bestandteil des Unterrichts wurde); und schließlich wegen der Unterstützung, die der Holocaust Unter­ richt von amerikanischen Juden erhielt. Das Motiv hinter dem Holocaust-Unterricht an den Schulen ist die Überzeugung, daß eine Begegnung mit dem Holocaust, vor al­ lem, wenn sie emotional ist, Lehren hervorbringen dürfte Diese Überzeugung teilten auch die Planer des Washingtoner Holo­ caust-Museums. Sie nahmen an, ein Museumsbesuch werde eine moralische Veränderung bewirken, Besucher würden dazu ange­ regt, sich für eine »Vertiefung der Qualität des amerikanischen bürgerlichen und politischen Lebens sowie eine Stärkung und Be­ reicherung der moralischen Beschaffenheit dieses Landes« zu en­ gagieren.79 Jeshajahu Weinberg, der den endgültigen Entwurf des Museums überwachte, äußerte seine Überzeugung, daß die Besu­ cher aufgrund der Sicherstellung ihrer emotionalen Anteilnahme dazu gebracht würden, die in der Ausstellung enthaltenen morali­ schen Lehren zu internalisieren. »Während >normale< Museen im allgemeinen die Besucher nicht emotional berühren, tut das die­ ses Museum nicht nur, sondern muß es tun.«8° Andererseits schrieb er:

»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser«

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Das Museum ... ist peinlich darum bemüht, jeden Versuch einer Indoktrinierung zu vermeiden, jede Manipulation der Eindrücke oder Emotionen ... Es beschränkt sich auf die Verbreitung von Wissen; auf die leidenschaftslose Darstellung der Tatsachen ... Und während die tatsächliche Geschichte des Holocaust eine Vielzahl moralischer Lehren von größter menschlicher Bedeu­ tung enthält, überläßt das Museum es jedem Besucher, seine ei­ genen Schlußfolgerungen zu ziehen, die seinem individuellen Hintergrund, seiner Erziehung und seiner Persönlichkeit ent­ sprechen.81

Die Besucher haben tatsächlich ihre eigenen Schlußfolgerungen und eigenen Lehren gezogen. Eine Abtreibungsgegnerin berichte­ te, das Museum habe ihre Überzeugung vertieft, daß Amerikaner, die sich von den furchtbaren Geschehnissen in Abtreibungsklini­ ken abwendeten, genauso seien wie die Deutschen, die ihre Au­ gen vor dem Schicksal der Juden verschlossen hatten. Die Lehre­ rin einer apostolischen Kirchenschule sagte den Schülern, die sie durch das Museum führte, wenn die Juden Europas Jesus als den Messias erkannt hätten, »hätte Gott ihre Gebete weit mehr er­ hören können«.82 In ihrem Gehalt sind diese Reaktionen alles andere als typisch, aber in einem anderen Sinne - daß die Besucher das Museum im großen und ganzen mit dem verlassen, was sie in es hineingetra­ gen haben - sind sie wahrscheinlich typisch. Typisch bedeutet nicht universell. Es gibt sicher Leute, die durch den Museumsbe­ such verändert werden, die mit veränderten Werten oder einer an­ deren Sichtweise aus dem Museum kommen, so wie das zweifel­ los auf viele zutrifft, die Schindlers Liste gesehen haben. Aber wie viele? Es ist schwer vorstellbar, daß jemand nach dem Besuch die­ ses hervorragend konzipierten Museums vom Grauen des Holo­ caust weniger überwältigt ist als vorher; wie bei Schindlers Liste ist normalerweise das Gegenteil der Fall. Darüber hinaus zu sa­ gen, die Besucher seien hinterher verändert - sie hätten in einem substantiellen Sinne »Lehren begriffen« -, scheint mir die Ver­ wechslung eines bewundernswerten Anspruchs mit der wirkli­ chen oder möglichen Leistung zu sein.

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Jüngste Vergaigenheit

In diesem Kapitel habe ich Zweifel am Nutzen des Holoaust für die Vermittlung von Lehren angemeldet. Größtenteils bziehen sich die Zweifel auf den extremen Charakter des Holocauä: Er be­ wirkt auf der einen Seite, daß seine praktischen Lehrenim All­ tagsleben kaum anwendbar sind. Auf der anderen Seite lä&t er al­ les, was mit ihm verglichen wird, als »nicht so schlimm« erschei­ nen. Meine Zweifel haben allerdings noch eine andere Dimensi­ on. Wie die meisten Historiker stehe ich den sogenanntenLehren der Geschichte skeptisch gegenüber. Besonders skeptischbin ich gegenüber prägnant formulierbaren Lehren, die auf einenAufkleber passen. Wenn man durch die Beschäftigung mit einen histo­ rischen Ereignis irgendeine Weisheit (um ein prätentiöses Wort zu benutzen) erlangen kann, scheint sie mir aus der Auseinander­ setzung mit seiner ganzen Komplexität und all seinen Wider­ sprüchen gewonnen zu werden; aus der Ähnlichkeit mit anderen Ereignissen, mit denen es verglichen werden kann, wie aus den Unterschieden. Das hat nichts damit zu tun, sich der Vergangen­ heit neutral oder wertfrei zu nähern oder sich moralischer Urteile zu enthalten - schon gar nicht, wenn es um den Holocaust geht. Und es hat nichts damit zu tun, einen interesselosen akademi­ schen Standpunkt einzunehmen. Der medizinische Forscher will die Krankheiten in ihrer ganzen Komplexität verstehen und Dinge über sie erkennen, die seinen Vorurteilen widersprechen, weil sein Interesse darin besteht, die Krankheit zu besiegen. Morali­ sche Entrüstung trägt nichts dazu bei. Die Rede von bösen Körper­ säften im Blut bringt einen dazu, den Aderlaß als Heilmethode zu versuchen, die nicht funktioniert. Die Rede von der Besessenheit mit einem Dämon bringt einen dazu, Exorzismus zu versuchen, der ebensowenig funktioniert. Wenn aus der Begegnung mit der Vergangenheit Lehren gezogen werden können, muß die Begeg­ nung die ganze Unordnung der Vergangenheit mit einbeziehen. Die Lehren ergeben sich kaum aus einer Begegnung mit einer Vergangenheit, die so geformt und gefärbt ist, daß anregende Leh­ ren aus ihr hervorgehen. In frühen Schriften über den Holocaust - vor allem in Israel, aber auch in den Vereinigten Staaten - wurde der jüdische Wider­ stand zum Zwecke der Anregung übertrieben akzentuiert. In vie-

»Nie wieder das Abschlachten der Albigenser«

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len Schriften des Kalten Krieges wurde die Verantwortung der Vereinigten Staaten für den Holocaust vom nationalsozialisti­ schen Deutschland auf den »Totalitarismus« übertragen, so daß man die gewünschten antisowjetischen Lektionen daraus ziehen konnte. In der jüngeren Vergangenheit hat man die Möglichkei­ ten zur Rettung von Juden übertrieben, über die die Alliierten und die Nichtjuden in Hitlers Europa verfügten, so daß sich die Leh­ ren über Gleichgültigkeit daraus ergaben. Bestimmte Ausformungen und Einfärbungen zur Gewinnung von Lehren werden natürlich besonders wichtig, wenn Lehren an die Spitze der Tagesordnung gelangen. In der Bosnien-Debatte dienten sie beiden Seiten. Die Befürworter einer Intervention argu­ mentierten - manchmal explizit, immer implizit -, die Geschichte des Holocaust beweise, daß Rettungsbemühungen wie die Bombar­ dierung von Auschwitz seinerzeit zahllose Leben hätten retten kön­ nen und ähnliche Maßnahmen heute ebenfalls viele Leben retten würden.83 Die Gegner einer Intervention betonten immer wieder, der Wunsch der Serben, in einem von bosnischen Moslems »berei­ nigten« Gebiet zu leben, sei ein rationales, wenn auch bedauerns­ wertes Bestreben; er gleiche keineswegs Hitlers Wunsch, die Juden aus einem Europa unter deutscher Herrschaft zu eliminieren.84 Wenn trotz meiner Skepsis Lehren aus dem Holocaust gezogen werden können, werden sie sich wahrscheinlich nicht aus seinen auf Lehren zurechtgebogenen Versionen ergeben. George Steiner schrieb vor vielen Jahren: Wir Spätgeborene wissen, was immer die Nachrichten bringen, so könnte es sein. Welches Massaker, welche Folter auch immer ..., so könnte es sein. Wir haben nicht mehr die psychologische Blindheit, aufgrund deren viele anständige Menschen sagten, als die ersten Berichte ... über Eisenbahnen durchsickerten, die 9000 Menschen täglich in ein Lager brachten: »Das kann nicht sein ... Das ist jenseits menschlicher Vorstellungskraft.« Wir haben keine derartige Entschuldigung mehr.83

Vor dem Holocaust bestand die Tendenz, die barbarischsten Ver­ brechen den barbarischsten Menschen zuzuschreiben - den unzi-

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Jüngste Vergagenheit

vilisiertesten und rückständigsten. Der Holocaust hat uns jelehrt, daß diese Meinung falsch ist. Vielleicht gibt es darüber hinus an­ dere Lehren, aber keine, die fruchtbar wären. Furclt und Schrecken sind zweifellos angemessene Reaktionen, wem man dem Holocaust begegnet - zum ersten oder zum tausendsten Mal, damals, heute, auf ewig. Allerdings ist das keine Lehn - zu­ mal keine nützliche Lehre -, ganz gleich, wie weit wir das Wort »Lehre« fassen. Der Wunsch, Lehren des Holocaust zu finden und zu (ermit­ teln, hat verschiedene Ursprünge - bei verschiedenen Menschen sind die Ursprünge verschieden, sollte man meinen. Wahrschein­ lich ist einer der wichtigsten Ursprünge für diesen Wunsch die Hoffnung, aus dem Holocaust etwas zu ziehen, das erlöserd oder zumindest nützlich ist. Ich bezweifle, daß das möglich ist.

Teil V Die kommenden Jahre

12. Kapitel

»Wir können nichts darauf erwidern«

Was ist über die Zukunft des Umgangs mit dem Holocaust zu sa­ gen? Innerhalb einer Generation ist der Holocaust vom Rand in das Zentrum des Bewußtseins der amerikanischen Juden gelangt, er hat sich von einem Ereignis, das selten im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten auftauchte, zu einem omnipräsenten Phä­ nomen entwickelt. Wird der Holocaust nach zwei oder drei Gene­ rationen immer noch die gleiche große Bedeutung haben wie heute? Oder wird seine zentrale Stellung von kurzer Dauer sein? Diese Fragen lassen sich nicht mit Gewißheit beantworten, aber der Begriff des kollektiven Gedächtnisses im allgemeinen und das Schicksal der Erinnerung an den Holocaust im besonderen kön­ nen uns vielleicht ein paar Hinweise geben. Einige kollektive Erinnerungen sind von sehr langer Dauer die Schlacht auf dem Amselfeld für die Serben, die Vertreibung von 1492 für die sephardischen Juden. Der Grund dafür, daß sich diese Erinnerungen jahrhundertelang halten konnten, ist der Fort­ bestand der Bedingungen, die sie symbolisieren: in diesen Fällen Fremdherrschaft und Exil. Langlebige Erinnerungen sind charak­ teristisch für stabile Gesellschaften, in denen sich nicht viel än­ dert. Wenn wir von einer kollektiven Erinnerung sprechen, ver­ gessen wir oft, daß wir eine Metapher verwenden - eine organi­ sche Metapher -, die eine Analogie zwischen der Erinnerung ei­ nes Individuums und der einer Gemeinschaft herstellt. Die Metapher funktioniert am besten, wenn wir von einer organi­ schen, traditionellen, stabilen, homogenen Gemeinschaft spre­ chen, in der sich das Bewußtsein, wie die gesellschaftliche Wirk­ lichkeit, nur langsam ändert. Als Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren zum ersten Mal den Begriff des kollektiven Ge­ dächtnisses benutzte, war der große französische Mediävist Marc Bloch, der organischen Metaphern für gesellschaftliche Sachver­

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Die kommenden Jahre

halte skeptisch gegenüberstand, dennoch der Meinung, ler Be­ griff könne fruchtbringend auf Phänomene angewandt werden wie die Weitergabe ländlicher Traditionen vom Großvateian sei­ nen Enkel.1 Das ist ein organisches Bild. Ob die Metapherauf die sehr wenig organischen Gesellschaften des ausgehenden 2D. Jahr­ hunderts anwendbar ist - die fragmentiert sind statt homojen, die sich schnell verändern, statt statisch zu bleiben, in deien die Kommunikation größtenteils elektronisch verläuft anstatt ion An­ gesicht zu Angesicht -, erscheint mir fraglich. Die Lebenserwartung von Erinnerungen in der heutigenGesellschaft ist sehr viel kürzer. Da unsere Lebensumstände sich so schnell ändern, gibt es kaum eine Erinnerung, die mit einer gleichbleibenden Bedingung verknüpft ist. Das trifft besonders auf die Vereinigten Staaten zu, das gegenwartsbezogenste und vergeßlichste Land. Vor vielen Jahren war der 4. Juli ein Tag, zu dem sich die Gemeinde versammelte, um patriotische Reden an­ zuhören. Heute kann sich ein durchschnittlicher Amerikaner kaum daran erinnern, wann er zum letzten Mal am 4. Juli eine pa­ triotische Rede gehört hat. Es ist wahrscheinlich ebenfalls lange her, seit er zum letzten Mal an die Unabhängigkeitserklärung ge­ dacht hat, an die der Feiertag erinnern soll. »Die Welt wird kaum Notiz davon nehmen oder sich lange daran erinnern, was wir hier sagen, aber sie wird nie vergessen, was hier geschehen ist.« Ge­ nau das Gegenteil dieses Satzes von Abraham Lincoln trifft zu. Seine in Gettysburg gesprochenen Worte sind noch nicht ganz in Vergessenheit geraten, aber nicht einer von hundert Amerikanern hat die leiseste Vorstellung der Bedeutung der Schlacht von Get­ tysburg und davon, wer sie gewonnen hat. Der 11. November war in den Vereinigten Staaten einmal der Tag des Waffenstillstands, an dem man einer Erinnerung gedachte; heute ist er der Tag der Veteranen, an dem wir einer Interessengruppe gedenken.2 Einige meiner amerikanischen Kollegen sind immer noch entsetzt, wenn Studienanfänger nichts von Ereignissen der »alten Geschichte« wie dem Vietnamkrieg oder Watergate wissen. Die Kollegen er­ kennen - zähneknirschend, weil sie sich aufgrund dessen alt fühlen - an, daß sich diese Dinge ereigneten, bevor die Studenten geboren wurden, wenden aber ein, die Eltern der Studenten hät­

»Wir können nichts darauf erwidern«

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ten sie erlebt: »Sie müssen ihnen davon erzählt haben!« Vielleicht haben die Eltern das getan, aber die Kinder haben (wie immer) nicht zugehört. Wir haben uns weit entfernt von der traditionellen Vorstellung über die Weitergabe kollektiver Erinnerungen, erst recht von jenen, die Jahrhunderte überdauern. Ob wir es als Erinnerung bezeichnen wollen oder nicht, das Holo­ caust- Bewußtsein ist in der letzten Generation enorm gewachsen - vor allem unter amerikanischen Juden, etwas schwächer unter den anderen Amerikanern. Was läßt der Prozeß, durch den sich dieses Wachstum vollzogen hat, über »die Zukunft des Holo­ caust« vermuten? Die ursprüngliche Motivation hinter der Bemühung der Juden, dem Holocaust eine zentrale Stellung zu verschaffen, nimmt stark ab, hat sich vielleicht sogar erschöpft. Diejenigen, die sich früher mit Recht darüber beklagt haben, der Holocaust sei vernachlässigt worden, und die Notwendigkeit geltend machten, etwas gegen die­ se Vernachlässigung zu tun, hatten bei ihrer Aufgabe zweifellos Erfolg, und die Klage hat keinen Gegenstand mehr. Wie wir gese­ hen haben, wurde das Holocaust-Bewußtsein vorangetrieben, um Unterstützung für das bedrängte Israel zu mobilisieren, das so dargestellt wurde, als sei es von einer Art Holocaust bedroht. Der­ artige Argumente hört man heutzutage selten, und es ist unwahr­ scheinlich, daß sie viele Anhänger finden, wenn sie ausgespro­ chen werden. Die Aussicht auf eine für beide Seiten annehmbare Übereinkunft zwischen Israelis und Palästinensern bleibt zwar unsicher, aber man kann sich schwerlich eine Situation vorstellen, in der Israels Probleme Bilder des Holocaust wachrufen würden. In den frühen siebziger Jahren war in den Vereinigten Staaten viel von einem grassierenden »neuen Antisemitismus« die Rede so­ wie von der Notwendigkeit, Juden und Nichtjuden an den Holo­ caust zu erinnern, um jenen zu bekämpfen. Ich habe argumen­ tiert, die Behauptungen über einen neuen Antisemitismus in den Vereinigten Staaten seien unsinnig gewesen; zweifellos sind sie heutzutage unsinnig. Es wird zwar immer Antisemiten unter uns geben, aber ihr Einfluß, der Anfang der siebziger Jahre unbedeu­ tend war, ist heute noch unbedeutender.

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Die kommenlen Jahre

Viele der führenden Köpfe in der Kampagne für das HlocaustBewußtsein waren von der Überzeugung getrieben, daß er eine Umorientierung des religiösen Glaubens und der Praxis dr Juden notwendig mache. Diese Überzeugung hat kaum Anhänge gefun­ den, und ihre Kraft scheint zu schwinden. Rabbi Irving Geenberg war vielleicht die einflußreichste Figur bei der Zentrierungdes Ho­ locaust im Bewußtsein der Juden und Nichtjuden in den USA, durch die Gedenkfeiern und -statten, die er finanzierte, urd durch sein Amt als Vorsitzender von Präsident Carters Kommission zum Holocaust. Für Greenberg war der Holocaust, wie wir bereits gese­ hen haben, ein »Offenbarungsgeschehen« und auf einer Ekene an­ zusiedeln mit dem Empfang der Thora am Berg Sinai. So we Juden zur Erinnerung an den Exodus rituell Matze essen, fordert« Green­ berg, sollten sie zur Erinnerung an den Holocaust rituell rerfaulte Kartoffelschalen essen. Er argumentierte, die Zerstörung des Tem­ pels habe eine neue Institution hervorgebracht, die Synagcge, und die Vernichtung der europäischen Juden bringe eine weitere neue, religiöse Institution hervor, das Holocaust-Museum.5 Dei größte Teil der jüdischen Religionsführer hat sich durch die Bemühungen Greenbergs, Emil Fackenheims und anderer, die dem Holocaust ei­ nen wichtigen Stellenwert in der formellen jüdischen Lituigie und Theologie verschaffen wollten, nicht beeindrucken lassen. Für Ismar Schorsch, Chef des konservativen Jewish Theological Seminary, war der Holocaust »ein theologisches >schwarzes Loch