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German Pages [360] Year 2004
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Arbeiten zur Pastoraltheologie
Herausgegeben von Eberhard Hauschildt und Jürgen Ziemer
Band 44
Vandenhoeck & Ruprecht
Predigen nach dem Holocaust Das jüdische Gegenüber in der evangelischen Predigtlehre nach 1945
Von Christian Stäblein
Vandenhoeck & Ruprecht
Für Anke, für Paula, Gideon und Shaul
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar ISBN 3-525-62381-X
© 2004 Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu §52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Textwerkstatt W. Veith, München Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Vorwort Die vorliegende Studie ist die überarbeitete und stark gekürzte Fassung meiner Dissertation „Predigen aus dem Gedenken an den Holocaust. Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in der homiletischen Theorie nach 1945“, die von der Theologischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen im Wintersemester 2001 angenommen wurde. Die Veröffentlichung dieses Buches verbinde ich mit vielfältigem Dank: Dank vor allem an Herrn Professor Manfred Josuttis für Anstoß, Förderung und Vertrauen in meine Arbeit, an Herrn Professor Jan Hermelink für Rat, Ermutigung und Unterstützung beim Abschluss, an Herrn Professor Christoph Bizer für die Erstellung seines Gutachtens sowie an Herrn Professor Eberhard Hauschildt und Herrn Professor Jürgen Ziemer für die Aufnahme des Buches in die Reihe Arbeiten zur Pastoraltheologie. Weiterhin und besonders gilt mein Dank meinen Eltern Renate Stäblein und Friedrich Stäblein, die mir Studium und Promotion großzügig ermöglicht haben. Meinem Vater Friedrich Stäblein danke ich darüber hinaus für wertvolle Hinweise zum Thema. Zu danken habe ich auch der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, der Friedrich-Ebert-Stiftung (Förderung durch ein Herbert-Wehner-Stipendium) sowie der Axel-Springer-Stiftung für namhafte Druckkostenzuschüsse, die das Erscheinen in dieser Form erst ermöglicht haben. Schließlich danke ich meiner Frau Anke, die mit mir Freuden und Mühen auf dem Weg zu diesem Buch geteilt hat. Die grundlegenden Anregungen für die Beschäftigung mit dem Thema habe ich 1991 bei einem einjährigen Studienaufenthalt in Israel erhalten. Israelische Freunde haben mir dort eine neue Welt eröffnet. Namentlich seien hier genannt: Paula Palombo, Gideon Reuveni und Shaul Zaban. Ihnen danke ich von Herzen für die Bereitschaft zum Austausch, für den Dialog und für viele gemeinsame Stunden in Jerusalem, Tel Aviv, Berlin und München. Ihnen und meiner Frau ist dieses Buch gewidmet. Unter der Leitfrage „Wie predigen wir nach dem Holocaust“ tauchte und taucht immer wieder der Wunsch nach konkreten Beispielen auf: Ich will an dieser Stelle nur auf eine Predigt hinweisen, die Manfred Josuttis am 7. Mai 1995 gehalten hat. Sie ist unter der Überschrift „Das Buch, die Tränen, der Ruhm“ im Predigtband „Offene Geheimnisse“ veröffentlicht. Sie endet mit Worten, die mich über all die Zeit begleitet haben: „Die letzten Worte, die in der Weltgeschichte erklingen, werden nicht deutsch sein und auch nicht griechisch und nicht lateinisch. Halleluja! Schalom! Amen!“ Göttingen, im April 2004
Christian Stäblein 5
Inhalt Einleitung.........................................................................................................9 1. Die homiletische Ausgangsfrage ....................................................................9 2. Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes und das Stichwort der Erinnerung ..............................................................15 3. Predigt als öffentliche Rede und die Erinnerung an den Holocaust .............20 4. Die exemplarische Ausrichtung auf die homiletische Theorie ......................21 5. Die Wahrnehmung des Judentums als Gegenüber ......................................23 6. Resumee und Aufbau der Untersuchung.....................................................28
I. Erinnerung – Erfahrungswissenschaftliche Perspektiven ..................31 1. Individuelle Zusammenhänge: Auswahl und Rekonstruktion......................31 2. Kollektive Zusammenhänge: Kulturelles Gedächtnis und Rahmenwechsel...............................................33 3. Psychoanalytische Perspektiven: Erinnern und Verdrängen.........................40 4. Phänomenologische Perspektive: Einheilendes Erinnern und Weinen .........43 5. Geschichtsphilosophische Perspektiven: Wahrheit und Methode ................48 6. Religiöse Perspektiven: Anamnese und die Grenzen der Erinnerung ...........54 Exkurs I: Das Verhältnis von Judentum und Christentum zur Geschichte ..59 7. Erfahrungswissenschaftliche Perspektiven und die Erinnerung an den Holocaust .....................................................................60
II. Erinnerung an den Holocaust – Historische und kulturphilosophische Perspektiven............................68 1. Holocaust: Grenze des Erinnerns – Grenze des Verstehens..........................69 2. Die Erinnerung an den Holocaust und ihre Paradoxien – Wahrnehmung einer Falle ..........................................................................85 3. Philosophische Erklärungen des Erinnerungsparadox..................................90 4. Überwindung und Missachtung der Grenzen der Erinnerung .....................95 5. Bewahrendes Gedenken zwischen Erinnern, Schweigen und Lernen ...............................................103 6. Vom Scheitern einer Sonntagsrede – Die Walser-Bubis-Debatte ...............113
III. Wahrnehmung des Judentums – Praktisch-theologische Perspektiven ....................................................129 1. Die radikale Anfrage des Holocaust an die christliche Theologie ...............130 2. Die christliche Beziehung zum Judentum und ihre Gefährdungen durch Antijudaismus und Philojudaismus...................136
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3. Standortbestimmung und Wahrnehmung des Gegenübers........................151 4. Praktisch-theologische Konzeptionen der Wahrnehmung des Judentums..................................................................157 5. Fragestellung der Untersuchung: Homiletischer Lernprozess.....................164
IV. Homiletische Entwürfe im Gedenken an den Holocaust zwischen 1945 und 1980 ...........168 1. Die erste Phase – Moralische Herausforderungen......................................171 2. Die zweite Phase: Dialogische Herausforderungen ....................................178 3. „Homiletischer Lernprozess“ in der ersten und zweiten Phase ...................206
V. Homiletische Entwürfe zwischen 1980 und 2000 – Konfessorische Herausforderungen ......................................................216 1. Allgemeine Entwicklung: Einordnung der christlich-jüdischen Beziehung ........................................216 2. Kriterien der theologischen Neuorientierung ............................................219 3. Homiletische Entwürfe im Gefolge der Neuorientierung ..........................233 4. Umfassende Konzepte homiletischer Verankerung einer Wahrnehmung des Judentums .........................................................266 5. Homiletik zwischen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und der Bezogenheit auf das jüdische Gegenüber...................279 6. Göttinger Predigtmeditationen – Aufbruch und Erinnerung, Verunsicherung und Offenheit.......................293 Exkurs II: Die EPM und die Entwicklung in der ehemaligen DDR ..........305 7. Zusammenfassung der dritten Phase .........................................................307
VI. Predigen aus dem Gedenken an den Holocaust – Konsequenzen ........................................................................................311 1. Das Kommunikationsgeschehen Predigt und die Erinnerung an den Holocaust ...................................................................311 2. Predigt als öffentliche Rede und das Gedenken an den Holocaust.............315 3. Die Verkündigung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium ............320 4. Die homiletische Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers auf dem Hintergrund von Beziehungsmodellen ........................................321 5. Predigen aus dem Gedenken an den Holocaust.........................................328
Literatur .......................................................................................................330 Namenverzeichnis .......................................................................................356
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Einleitung Erinnern ja, aber wie? – Mitte der 1990er Jahre, 50 Jahre nach Ende des zweiten Weltkrieges, erreicht die Frage nach der angemessenen Form der Erinnerung an das Geschehene einen Höhepunkt im öffentlichen Bewusst1 sein. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen werden begleitet von der Frage, wie die Erinnerung an die im deutschen Namen begangenen Verbrechen aufzubereiten sei, damit die folgenden Generationen diese Erinnerung bewahren können. Auch im kirchlichen Rahmen entwickelt sich in diesen 2 Jahren eine Praxis öffentlichen Erinnerns an Krieg und Holocaust. Sie ist verbunden mit dem bedrängenden Gedanken, dass eigene Schuld aufgearbeitet werden muss – und mit den daraus erwachsenden Überlegungen zur Neugestaltung des Verhältnisses zum Judentum, ein Thema, das ohnehin in dem nach dem Krieg neu in Gang gekommenen christlich-jüdischen Gespräch kontinuierlich bedacht wird. Zahlreiche kirchliche Verlautbarungen waren und sind das Ergebnis einer Kirche und Theologie erfassenden Neuorientierung. Von besonderer Bedeutung für das kirchliche Handeln ist die gottesdienstliche Predigt. Die zentrale Frage dieses Buches lautet deshalb: Wie haben wir nach Auschwitz zu predigen? Denn es sind fundamentale Fragen, die sich dem Prediger und der Predigerin stellen: Wie ist – angesichts der Erfahrung des Holocausts – von Juden und Jüdinnen in der Predigt zu reden? Wie ist – angesichts der Erfahrung des Holocausts – das Verhältnis von Christen zu Juden in der Predigt darzustellen? Wie sind – angesichts der Erfahrung des Holocaust – in der Predigt Vergangenheit und Gegenwart des Judentums in den Blick zu nehmen? Hat die Predigt – angesichts der Erfahrung des Holocausts – im Blick auf das Judentum eine besondere Aufgabe? 1. Die homiletische Ausgangsfrage Die homiletische Fragestellung nach Aufgabe und Form einer Predigt in Erinnerung an den Holocaust steht im Zentrum der Untersuchung. Ich 1 Vgl. zur Entwicklung der Gedenktage in der Bundesrepublik P. REICHEL: Politik, 265ff. 2 Vgl. beispielhaft den „Vorschlag für einen Klage- und Gedenkgottesdienst zum 50. Jahrestag des Kriegsendes“; vgl. Anregungen, passim; vgl. die Arbeitshilfe für einen Gedenkgottesdienst am 9. November 1998, hg. v. Beauftragten für Christentum und Judentum der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers.
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verstehe sie als Fragestellung auf dem Hintergrund verschiedener, homiletisch weitgehend unumstrittener Einsichten, die im folgenden kurz dargelegt werden sollen: a) Predigt ist Verkündigung des Wortes Gottes Die Aufgabe der Verkündigung erschließt sich aus dem speziellen Gehalt der Predigt. Darauf hat Hans Martin Müller in seiner evangelischen Predigtlehre hingewiesen. Der Gehalt der Predigt besteht in der Selbstmitteilung Jesu Christi im Wort. Diese Selbstmitteilung stellt sich als Personbegegnung dar. Die Predigt wird ihrer Aufgabe gerecht, „wenn sie diesen 3 ihren Gehalt verständlich zur Sprache bringt.“ Aufgabe der Predigt ist die Verkündigung des fleischgewordenen Wortes Gottes als der Mitte der Schrift. Über diese Aufgabe der Predigt herrscht in der homiletischen Theorie weitgehende Einigkeit. Im Hintergrund dieser Predigtbestimmung ist die reformatorisch geprägte und von der dialektischen Theologie aktualisierte Definition Praedicatio verbi Dei est verbum Dei zu sehen. Karl Barth hat mit seiner bekannten Doppel4 formel das Verständnis von Predigt als Wort Gottes näher bestimmt und in seiner Problematik radikal offengelegt. Gegen eine derartige dogmatische Bestimmung der Predigt hat es verschiedene Einwände gegeben. Sie verweisen auf die Lebendigkeit von Gottes Wort, das eine begriffliche Prinzipienbildung verhindere. So haben sich Wolfgang Trillhaas und Rudolf Bohren einer Predigtdefinition 5 gänzlich versagt. Aber auch sie begreifen die Predigtaufgabe aus der Selbstmitteilung des Wortes Gottes heraus. Insofern zeigt bei Trillhaas das Wort Gottes „klar und doch geheimnisvoll den Weg“ der Predigt. Für Bohren liegt die Pointe des Predigtgeschehens darin, dass es die Identifikation mit dem Wort Gottes immer erst noch vor sich hat: „Das ‚est‘ [sc. aus: Praedicatio verbi Dei est verbum Dei; CS] ist zunächst Zukunft, auf die ich mit der Predigtlehre und dem Predigen zu6 gehe.“
Die Predigt als Wort Gottes redet von der Begegnung mit einer lebendigen Person, die dieses Wort Gottes verkörpert. Wegen dieses Begegnungscharakters kann die Predigt nicht vom „persönlichen Getroffensein des Predi7 gers und seines Hörers“ abgelöst werden. Das bedeutet zugleich, dass die 3 H.M. MÜLLER: Homiletik, 194. 4 K. BARTH: Homiletik, 30: „1. Die Predigt ist Gottes Wort, gesprochen von ihm selbst unter Inanspruchnahme des Dienstes der in freier Rede stattfindenden, Menschen der Gegenwart angehenden Erklärung eines biblischen Textes durch einen in der ihrem Auftrag gehorsamen Kirche dazu Berufenen. 2. Die Predigt ist der der Kirche befohlene Versuch, dem Worte Gottes selbst durch einen dazu Berufenen so zu dienen, dass ein biblischer Text Menschen der Gegenwart als gerade sie angehend in freier Rede erklärt wird als Ankündigung dessen, was sie von Gott selbst zu hören haben.“ 5 Vgl. W. TRILLHAAS: Predigtlehre, 39; vgl. R. BOHREN: Predigtlehre, 51. 6 R. BOHREN: Predigtlehre, 51. 7 H.M. MÜLLER: Homiletik, 187.
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Predigt von den Bedingungen des menschlichen Daseins, in die hinein sie gesprochen wird, nicht absehen kann. Zu diesen Bedingungen gehört die Wahrnehmung der im Menschen wirksamen, ihn von Gott trennenden Mächte. „Da es sich hier“, so Müller, „um Glaubenseinsichten handelt, die nicht ohne weiteres der natürlich-vernünftigen Einsicht offenliegen, müssen sie durch die Predigt, und zwar durch die Predigt des Gesetzes vermittelt 8 werden.“ Aus der Einsicht in den lebendigen, personalen Charakter der Verkündigung folgt die notwendige Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Worte Gottes. So kann Müller formulieren: „Gesetz und Evange9 lium sind der Gehalt der christlichen Predigt.“ Die Predigt ist so zu gestalten, dass sie die Wahrnehmung des Wortes Gottes als Gesetz und als 10 Evangelium ermöglicht. Mit anderen Worten: Verkündigung des Wortes Gottes in der Predigt konkretisiert sich in dessen spezifischer Vermittlungsgestalt. Predigt – als Verkündigung des Wortes Gottes in der Gestalt von Gesetz und Evangelium – dient der Vermittlung von Heil. Zum einen ist dieser Zusammenhang unmittelbar einsichtig, wenn die Rede von der Selbstmitteilung Gottes näher betrachtet wird. „Predigt“, so hat Wilfried Engemann zuletzt einprägsam formuliert, komme davon, „dass Gott sich dem Menschen 11 zeigt.“ In dieser ursprünglichen Begründung von Predigt in Gottes Selbstoffenbarung erweise sich diese als unvollendbarer Kommentar „zu der immer wieder neu in Worte zu fassenden heilvollen Geschichte Gottes mit 12 uns.“ So sei die Predigt einerseits Deutung von Heilsgeschichte, ziele dabei andererseits auf aktuelles Heilsgeschehen. Dabei spielt der sakramentale Charakter der Predigt des Wortes Gottes eine entscheidende Rolle. Der sich selbst vergegenwärtigende Christus erscheint in, mit und unter den Worten 13 der Predigt und macht so den Prozess des Predigens zum Heilsgeschehen. Wie im Gebrauch der Sakramente gibt es hierbei keine Heilswirksamkeit ex opere operato. Das äußerliche Wort der Predigt bleibt Menschenwort, das nicht aus sich heraus das heilsame Geschehen herbeiführen kann. Ich halte fest: Predigt ist einerseits Verkündigungsgeschehen, unter dem sich der sich selbst vergegenwärtigende Christus ereignet, und andererseits eine nach den Regeln menschlicher Kommunikation hergestellte und analysierbare Rede. Beide Aspekte sind zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen. Dieser in der Homiletik unumstrittene Sachverhalt soll kurz dargestellt werden.
8 A.a.O., 188. 9 A.a.O., 189. 10 Zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Rahmen der Predigtaufgabe, s.u. V. 5. 11 W. ENGEMANN: Einführung, 79. 12 A.a.O., 82. 13 Vgl. H.M. MÜLLER: Homiletik, 186; vgl. W. ENGEMANN: Einführung, 98.
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b) Predigt ist Rede unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation Das Wissen um die Predigt als empirisch analysierbarem Kommunikationsgeschehen ist schon in der Doppelbestimmung Barths vorzufinden, insofern hier von dem der Kirche aufgegebenen Versuch der Verkündigung des Evangeliums durch die Rede einer einzelnen Person gesprochen wird. Die Einführung des Kommunikationsbegriffes war in der Homiletik zunächst mit einer Abgrenzung gegen den Verkündigungsbegriff der dialektischen Theologie verbunden. Dabei wird der Begriff der Verständigung gegen den der Verkündigung abgesetzt. So erklärt Karl-Heinrich Bieritz unter der Überschrift „Predigt als Kommunikation des Evangeliums“, der Vorgang der Glaubensvermittlung sei als eine „gemeinsame ‚Verständigungsbemühung‘ von Sprecher und Angesprochenen, Prediger und Hörer zu begreifen.“ Die Rede von der Kommunikation des Evangeliums sperre sich so einem „autoritären, im Grundsatz undialogischen Predigtverständnis, das Predigt als ‚Einbahnverkehr‘ bestimmen will“. Anders als im Begriff der Verkündigung würden Prediger und Hörer hier so zugeordnet, wie es Ernst Lange beschreibe: „Der homiletische Akt ist eine Verständigungsbemühung [...] Seine Funktion ist die Verständigung mit dem Hörer über die gegenwärtige 14 Relevanz der christlichen Überlieferung.“ Die Pointe dieser Abgrenzung des Verständigungsbegriffes gegenüber dem vormaligen Leitbild der Verkündigung liegt in der Hinwendung zu empirischen Fragestellungen. Diese waren zwar bis dato nicht ausgeschlossen, traten aber hinter den traditionellen Anspruch der Predigt vollständig zurück. Nach Friedrich Wintzer waren „Prinzip und Erfahrung nicht (mehr) genügend miteinander ver15 mittelt.“ An die Stelle prinzipiell-homiletischer Überlegungen treten nun erfahrungswissenschaftlich bezogene Einzelfragen, die sich wesentlich mit der empirischen Gestalt der Predigt und ihren kommunikationstheoretischen Bedingungen 16 beschäftigen.
Mit der Hinwendung hin zu den empirischen Fragen in der Homiletik verbunden ist die Einsicht, dass kommunikationssoziologische, psychologische und rhetorische Erkenntnisse von nicht mehr zu vernachlässigender Bedeu17 tung für die Predigt sind. Fragen nach der kommunikationstheoretischen Wahrnehmung des Hörers und seiner Rezeptionsfähigkeiten, wie sie KarlWilhelm Dahm eingebracht hat, Einsichten zu der Person des Predigers und den psychologischen Implikationen des Predigtgeschehens, wie sie von Manfred Josuttis, Hans-Christoph Piper und Axel Denecke formuliert wurden, und schließlich die Notwendigkeit der kommunikativen, rhetorisch geformten Gestalt der Predigt, die von Gert Otto nachdrücklich betont worden ist, erweitern die homiletische Diskussion. Der hier erreichte 14 K.H. BIERITZ: Predigt, 65. K.H. Bieritz zitiert hier E. LANGE: Predigen, 20. 15 F. WINTZER: Predigt, 37. 16 In biographischen Äußerungen Hans-Christoph Pipers und Ernst Langes lässt sich der psychische Konflikt ahnen, den einzelne Prediger in dieser Wandlung des Verstehens von Predigt durchleben; vgl. H.W. DANNOWSKI: Kompendium, 35f, der H.C. Pipers Erleben ausführlich darstellt. 17 Vgl. D. RÖSSLER: Grundriss, 387.
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Erkenntnisstand ist – unbeschadet der im einzelnen kontroversen Gewichtung kommunikationstheoretischer und psychologischer Einsichten einer18 seits und theologischer Einsichten andererseits – aus der gegenwärtigen Homiletik nicht mehr wegzudenken. Dabei ist zu bedenken, dass mit dem Begriff der Kommunikation eine andere als die früher übliche Beschreibung der spezifischen Vermittlungsleistung der Predigt gegeben ist. Der weit gefasste Kommunikationsbegriff impliziert, dass es im Akt der Kommunikation um Teilgabe geht. So erklärt Engemann: „Sowohl die Kommunikation zwischen Menschen als auch die Überlieferung und Erfahrung der Rede Gottes mit den Menschen ist immer 19 auch Ausdruck eines Partizipationsgeschehens.“ In, mit und unter den Bedingungen menschlicher Kommunikation vollzieht sich Gottes Selbstmitteilung. Das Medium der Kommunikation ist dabei vor allem Sprache in Form eines verbalen Codes. Aber auch andere, nonverbale Sprachen spielen eine Rolle. Hans Werner Dannowski weist in seinem „Kompendium der Prediglehre“ auf die Impulse der amerikanischen Massenkommunikationsforschung 20 für die kommunikationssoziologische Analyse von Predigten hin. Damit wird die medienwissenschaftliche Herkunft der kommunikationstheoretischen Grundlegung der Predigt angedeutet. Die empirisch orientierte Homiletik gehört nach ihrem Ausgangspunkt wie von ihrer Ausrichtung her im weitesten Sinne in den Bereich medientheoretischer Überlegungen. Die sprachliche Gestaltung, die Person des Predigers/der Predigerin und die Beziehung zu den Hörenden sind die ureigensten Medien der Predigt, die Rhetorik (bzw. Linguistik), die Psychologie und die Soziologie sind die je besonderen Theorien dieser Medien. Durch den Begriff Medium wird ausgedrückt, dass es sich bei der Predigt um eine spezielle Vermittlungsleistung 21 handelt. Gefragt wird in der kommunikationstheoretisch-homiletischen Perspektive neben dem zu vermittelnden Gehalt nach der den Bedingungen angemessenen Gestalt der Predigt. In der Diskussion um Rhetorik und Homiletik wird ein hermeutischer Ansatz von Rhetorik von einem instrumentellen Ansatz abgegrenzt. Das hermeneutische Verständnis von Rhetorik hat sich hierbei weitgehend durchgesetzt. Es bringt Rhetorik und Theologie im Rahmen der Predigtarbeit in eine enge Beziehung: „Der Weg der Mitteilung entscheidet über die 22 Wahrheit selbst“, so Otto. Auch in Josuttis’ programmatischem Aufsatz von 1968 zur Beziehung von „Homiletik und Rhetorik“ wird die fundamentale Bedeutung der Rhetorik für das Predigtgeschehen unterstrichen. Grundlegend ist dabei die folgende Aussage: „Predigt als Verkündigung des 18 387. 19 20 21 22
Vgl. hierzu H.W. DANNOWSKI: Kompendium, 38ff; vgl. D. RÖSSLER: Grundriss, W. ENGEMANN: Einführung, 117. Vgl. H.W. DANNOWSKI: Kompendium, 113ff. Vgl. W. ENGEMANN: Einführung, 326ff. G. OTTO: Predigt, 22.
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Wortes Gottes ist Sprache im Akt öffentlicher Rede.“ Insofern Predigt in diesem Akt öffentlicher Rede auf die Kongruenz von Form und Inhalt zielen muss, so Josuttis, ist der Predigende für den Inhalt, aber auch für die Form verantwortlich. Deshalb ist die Rhetorik schließlich unverzichtbarer Bestandteil der Predigtarbeit. Josuttis resümiert: „Erst wenn sich die Homiletik auch mit diesen Fragen beschäftigt, wird sie fähig sein, den Predigern zu jener Sprache zu helfen, die dem sakramentalen Charakter des Wortes 24 entspricht, das schenkt, was es sagt, und austeilt, wovon es erzählt.“ Zu betonen ist, dass mit dem sakramentalen und deshalb medialvermittelten Charakter des Predigtgeschehens auch sein öffentlicher Gestus angesprochen ist. Predigt, das ist eine weitere gegenwärtig unbestrittene Einsicht, ist öffentliche Kommunikation, ist Rede im Licht der Öffentlichkeit. Auch darauf ist kurz einzugehen. c) Predigt ist öffentliche Rede Predigt ist öffentliche Rede. Die Bedeutung des Moments der Öffentlichkeit ergibt sich dabei weniger aus der Quantität des Adressatenkreises als vielmehr aus der Qualität des Inhalts der Verkündigung. „Was im Namen 25 des Herrn aller Herren gesagt wird, geht jeden an.“ Daher stellt Engemann fest: „Wenn daran festgehalten wird, dass die Predigt u.a. Ausdruck der Herrschaft Christi ist, dann ist es möglich, ihre Öffentlichkeit nicht als etwas erst Eintretendes oder Herzustellendes zu bestimmen. Sofern in der Predigt gemäß dem offiziellen Verkündigungsauftrag der Kirche das Reich Gottes proklamiert wird, handelt es sich um einen hochoffiziellen Akt, der grundsätzlich die ganze Öffentlichkeit betrifft – sie mag der Predigt folgen 26 oder nicht.“ Das Potential dieser faktischen Öffentlichkeit ist – bei aller Klage über einen geringen Gottesdienstbesuch – nicht zu unterschätzen. Dass die Predigt öffentliche Rede ist, bedeutet, dass sie allen zugänglich zu sein hat. „Eine Predigt, die nicht auch die res publica, die Belange der Öffentlichkeit berührte und auf sie einwirkte, könnte sich schwerlich auf das Evangelium berufen. In diesem Zusammenhang von einer intendierten Öffentlichkeit zu sprechen, bedeutet, auf die je konkrete Relevanz der Predigt zu verweisen. Gepredigt wird, um Gottes Willen auch in Konkurrenz zu 27 anderen Kräften publik zu machen“, so Engemann. Die Intendierung von Öffentlichkeit bedeutet für die Predigt, dass sie sich in ein Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit setzt. Sie tut das mit der Intention, das Evangelium selbst in den öffentlichen Angelegenheiten zu platzieren. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Predigt im Blick auf die breitere, gesellschaftliche Öffentlichkeit stets in doppelter Hinsicht wirksam werden kann. 23 24 25 26 27
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M. JOSUTTIS: Homiletik, 18. A.a.O., 28. M. JOSUTTIS: Praxis, 47. W. ENGEMANN: Einführung, 106f. A.a.O., 108.
Sie kann zum einen eine kritische, auf Erneuerung abzielende Wirkung beabsichtigen. Andererseits kann sie stabilisierende, ordnende Funktionen im öffentlichen Kontext erfüllen. Jedenfalls wird sie von dieser Wirkungsmöglichkeit nicht absehen. Predigt ist in dieser Hinsicht faktisch, bewusst und mit voller Absicht öffentliche Rede. Sie unterliegt dabei den Regeln und Inhalten des öffentlichen Diskurses. Das Diktum „Predigt ist öffentliche Rede“ erschließt sich auf diesem Hintergrund so: Predigt wird erstens als Medium, als öffentlicher Weg, der Vermittlung von Gottes Heilshandeln auf Öffentlichkeit hin gehalten. Predigt ist zweitens vom Kontext der Öffentlichkeit her und in diesem Zusammenhang zu verstehen. Von dort lässt sich noch einmal umgekehrt die Intention der Predigt und ihre Wirkung befragen. Für die homiletische Ausgangsfrage ergibt sich folgendes Bild: Predigt ist Verkündigung des Wortes Gottes. Sie ist Rede im Sinne empirischer Kommunikationsforschung. Sie ist öffentliche Rede. Predigt stellt eine spezielle Vermittlungsleistung in, mit und unter den Bedingungen interpersonaler Kommunikation dar. Sie ist ein Medium der Selbstmitteilung Gottes. Auf diesem Hintergrund setze ich bestimmte Akzente im Blick auf die Frage nach Gehalt und Gestalt einer Predigt in Erinnerung an den Holocaust. Der erste Akzent ergibt sich aus einer Verknüpfung des Stichwortes Erinnerung mit der Predigtaufgabe der Verkündigung. 2. Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes und das Stichwort der Erinnerung Eine explizite Verknüpfung der Aufgabe der Predigt mit dem Stichwort der Erinnerung nimmt Bohren in seiner pneumatologisch verankerten Predigtlehre vor. Erinnerung wird von Bohren als erste von drei „Zeitformen“ des Wortes Gottes beschrieben. Als weitere „Zeitformen“ nennt er Verheißung und Gegenwart. Zusammen bilden sie Weisen, in denen die Gegenwart des Geistes in den verschiedenen Zeiten vermittelt wird. In der Erinnerung Gottes sieht Bohren die Grundlegung allen Predigens: „Hat die Predigt geschehenes Heil, Heilsgeschichte zu verkündigen, dann gilt das geschehene Heil nicht so sehr darum, weil es geschehen ist, sondern vielmehr darum, 28 weil es bei Gott gilt, weil Gott sich erinnert.“ Erinnerung meint hier also zunächst Gottes Selbsterinnerung. In diesem Sich-Erinnern Gottes findet das Ereignis der Predigt seinen Grund. Es beginnt damit, „dass Gott sich selbst seiner Vergangenheit, seines Bundes, dass er sich der Erzväter, der Einmaligkeit des Opfers Christi und also seines ewigen Erbarmens erin29 nert.“ Aufgabe der Predigt ist es, an diese Selbsterinnerung Gottes zu erin28 R. BOHREN: Predigtlehre, 159. 29 A.a.O., 160.
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nern. Erinnerung findet hier also in doppelter Richtung statt: Der Mensch erinnert an Gottes Heilstat und zugleich wird er von Gott daran erinnert, dass dieser selbst sich des Menschen erinnert. Bohren formuliert diese doppelte Richtung im Erinnern so: „Predigendes Erinnern hat zu geschehen als 30 ein mit Gott verbündetes Tun.“ Im Blick auf eine Erinnerung des Holocaust stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis menschliches Erinnern im historischen Sinne und Gottes Selbsterinnerung im Erzählen und Erinnern der Predigt stehen. Das ist eine Frage, die sich – in Form methodischer, historischer Kritik – zunächst einmal an die biblische Geschichte selbst richtet, eine Frage aber auch, die sich da aufdrängt, wo die Erinnerung mit einer schwer zu bewältigenden Geschichte und ihrer in der Erinnerung gegenwärtigen Wirkmächtigkeit behaftet ist. Erinnerung, so verstanden als gegenwärtiges Geschehen, steht dann als menschliche Erinnerung an heillose Vergangenheit im Gegensatz zur göttlichen Selbsterinnerung. Wie lässt sich solche Erinnerung an eine heillose Vergangenheit „bewältigen“? Wie wird die Erinnerung an heillose Vergangenheit heilsam? Bohrens Grundsatz im Blick auf diese Fragen lautet: „Nicht die Vergangenheit wird bewältigt, indem man sich von ihr befreit, sondern die Gegenwart wird bewältigt, indem sie an die Vergangenheit gebunden wird. So wird in Gottes Erinnerung an das geschehene Heil 31 die heillose Gegenwart ‚bewältigt‘.“ Predigendes Erinnern erinnert zwangsläufig auch an heillose, weil gottferne menschliche Geschichte: „Predigt als Erinnerung stößt auf die 32 menschliche Sünde und deren Vergangenheit.“ Sündenerkenntnis entspringt auch im Modus des predigenden Erinnerns einem Offenbarungsvorgang. Denn indem Predigt sich an Gottes Heilstat erinnert, entdeckt sie das gottferne, unheilvolle menschliche Handeln. Auch hiervon ist in der Predigt zu reden. Bohren exemplifiziert diese Forderung für einen ganz bestimmten Zusammenhang: Die Erinnerung an die Sünde der Väter. Hier wird die Heillosigkeit der Vergangenheit mittels der Erinnerung in der Gegenwart wirkmächtig. Die Sünde der Väter gehört zur Gegenwart des Menschen. Auch als nicht persönliche, nicht individuelle Schuld, ist sie Teil menschlichen Daseins. Bohren verortet diesen Gedanken theologisch in der Erbsündenlehre, deren grundlegende Entfaltung in 33 der theologischen Anthropologie er mit Hans-Joachim Iwand hervorhebt: „Will man nicht aus dem peccatum originale ein Abstraktum und damit wiederum einen Mythos machen, wird man dessen Konkretion in der Schuld der Väter sehen. 34 Wir erfahren die Erbsünde als Sünde der Väter.“ Die „Väter“ sind in diesem Zusammenhang sowohl individuell als auch gesellschaftlich zu verstehen. Das Individuum und das Kollektiv – Volk, Gesellschaft, Gemeinde – gehören in ge30 31 32 33 34
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A.a.O., 162. A.a.O., 163. A.a.O., 209. Vgl. a.a.O., 211ff. A.a.O., 212f.
schichtlicher Perspektive zusammen. Deshalb erklärt Bohren: „So gibt es ‚Erbsünde‘ nicht nur in der Vertikale der Geschlechter, sondern auch in der Horizontale. [...] In sich gehen, ‚in se introire‘, heißt dann, auch in die Geschichte, in die Ge35 sellschaft gehen.“
In welches Verhältnis setzt Bohren die Selbsterinnerung Gottes und die Erinnerung an die Sünde der Väter im Rahmen der Predigt? Bohren bestimmt das Verhältnis christologisch: „Das ‚Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten‘ vergangener Schuld hat in der Predigt den Sinn, dass die Tat dessen erzählt und begriffen und geglaubt werden kann, von dem wir singen: ‚All 36 Sünd hast du getragen, sonst müssten wir verzagen.‘ “ Der christologische Gedanke wird expliziert im Aspekt der Stellvertretung: So wie wir, die „Söhne“ und „Töchter“ für die Sünde der Väter eintreten, so tritt schließ37 lich Gott in Christus für unsere Sünden ein. Bohren kann insofern scharf formulieren: „Erinnerung an die Sünde wird darum heißen: Identifizierung mit Hitler und mit der Unbußfertigkeit der Jahre danach. [...] Seine Sünde kann predigend nur so erzählt werden, dass sie für den Prediger selbst zählt. Dieses Zählen und Erzählen kann durchaus in psychologischer Begrifflichkeit erfolgen, es erzählt seine Qualifikation durch das Vorzeichen des Na38 mens, für den allein jetzt theologisch die Sünde noch zählt.“ Solange dieses Zählen und Erzählen nicht möglich ist, ist für Bohren weder ein Erinnern noch ein Trauern noch ein Vergessen noch eine Umkehr möglich. Das Vergessen, so Bohren an anderer Stelle, „hebt die Sünden der Väter und unsere Sünde nicht auf. Darum, so folgern wir, bedroht das Ver39 gessen der Schuld das Leben.“ Aufheben im Sinne des Wortes kann diese Sünde nur Christus. Deshalb gelte: „Wird aber ‚all Sünd‘ verleugnet, wird die Bedeutung von Christi Kreuz für uns nicht deutlich, so wird nicht verstehbar, dass er für uns zur Sünde gemacht wurde. Das Kreuz bleibt für uns 40 irrelevant und die Predigt vom Kreuz ohnmächtig.“ Zusammenfassend kann Bohren deshalb sagen: „Erinnerung an die Sünde gehört zur Predigt 41 des Kreuzes Christi als Kraft und Weisheit Gottes (1 Kor 1,24).“ 35 A.a.O., 213. 36 A.a.O., 221. Dabei wird die Zielbestimmung zwar einerseits in analytischen Begriffen zum Ausdruck gebracht („Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten“), zugleich aber wird die Deutung des Geschehens ausdrücklich in biblisch-theologischen Begriffen vorgenommen. R. Bohren grenzt hier Theologie und Analyse eindeutig voneinander ab, vgl. a.a.O., 209: „Der Prediger aber wird sich vom Analytiker darin unterscheiden, dass er die Sünde nicht von Christus abstrahieren kann.“ 37 Vgl. a.a.O., 220f: „Für den Prediger heißt das, er kann die Sünde der Väter (in unserem Fall die unbewältigte Vergangenheit) nur erzählen als seine Sünde. Von der Sünde Hitlers kann ich predigend nur erzählen als von meiner Sünde (...). Dieser Gedanke ist für den Prediger solange nicht nachvollziehbar, als der Begriff von Stellvertretung und Opfer ihm existenziell fremd bleibt.“ 38 A.a.O., 221. 39 A.a.O., 215. 40 A.a.O., 221. 41 Ebd.
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In der Predigt als Selbsterinnerung Gottes kommt es zu einer Verschränkung zweier einander bedingender, aber zu unterscheidender Erinnerungen: Die Erinnerung an die „Sünde der Väter“ und die (Selbst)Erinnerung Gottes an sein Erbarmen. Beide Erinnerungen gehören zusammen. Ihr Zusammenhang wird von Bohren in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium beschrieben. Das Ziel der Erinnerung an die Sünde formuliert Bohren mit Rekurs auf Iwand: „Durch das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde kommen, heißt, zum Heil kommen, heißt, das Gesetz, die Macht und Gewalt der Sünde so erkennen, dass wir wissen, dass bei uns keine Rettung 42 davor ist.“ Das heißt: Erinnerung an die Sünde ist Predigt des Gesetzes. Die Erinnerung an die Sünde zielt auf Aufdeckung der Sünde, auf Bekenntnis derselben und auf Umkehr. Ohne diese Erinnerung an die Sünde bleibt das Evangelium, die Selbsterinnerung Gottes, stumm. Erkannt wird die Erinnerung der Sünde in der vorausgehenden Selbsterinnerung Gottes, in der sich Gott seiner Barmherzigkeit und seines Bundes mit den Menschen erinnert. Erst durch diese Erinnerung Gottes wird die Erinnerung an die Sünde offenbar. Zugleich wird die Selbsterinnerung Gottes nur dann zu einer gegenwärtigen Erinnerung des Menschen, wenn dieser die Erinnerung an die Sünde vorausgeht. Liegt also die Prävenienz der ontischen Dimension heilsamer Erinnerung bei der Erinnerung Gottes an seine Barmherzigkeit, so kommt der Erinnerung an die Sünde noetische Prävenienz im Zusammenhang der Heilsoffenbarung zu. Eine Verdrängung der Sünde kommt, so Bohren, einer Verdrängung Gottes gleich. Und einer Verdrängung Gottes entspricht eine Verdrängung der Sünde.
Ich halte fest: Bohren bestimmt die Aufgabe der Predigt als Erinnerung an Gottes Verheißung. Dabei stellt sich der Predigt zugleich die Aufgabe, an die Sünde zu erinnern. Das Verhältnis der Erinnerung an die Verheißung und der Erinnerung an die Sünde lässt sich durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium begreifen. Sinn der Erinnerung an die Sünde ist die Aufhebung derselben in Christus. Durch diese Aufhebung kann jenseits aller Verdrängungen der Übergang von der Erinnerung an heillose Vergangenheit zur heilsamen Erinnerung Gottes erfahren werden. Zur Erinnerung an die Sünde steht die Verdrängung der Sünde in Konkurrenz. Die Verdrängung der Sünde bedeutet zugleich eine Verdrängung Gottes. Das Wesen der Verdrängung äußert sich im Gefangensein in der Sünde und in der Wiederholung der „Sünden der Väter.“ An die zentrale Rolle, die die Erinnerung in der Predigtkonzeption von Bohren spielt, knüpfe ich an mit der Frage, welchen sachlichen Ort die Erinnerung an den Holocaust in der Predigt nach Auschwitz haben kann und soll. Zum besseren Verständnis des weiteren Gangs der Untersuchung sei vorab auf folgendes hingewiesen. a) Zum Kontext des Phänomens Erinnerung gehören die Prozesse Vergessen und Verdrängen. Eine Untersuchung des Predigtgeschehens, die 42 A.a.O., 215.
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dem Begriff der Erinnerung einen hohen Stellenwert einräumt, muss daher auch die Begriffe Vergessen und Verdrängen in den Blick nehmen (s.u. I.). b) Die Unterscheidung zwischen dem Begreifen des Predigtgeschehens als Gottes Erinnerung und der Aufgabe, in der Predigt an Gottes Heilstat bzw. menschliche Sünde zu erinnern, gründet sich auf fundamentale Bedeutungsunterschiede im Begriff Erinnerung. Erinnerung ist einerseits ein Begriff, der einen konkreten Vollzug beschreibt, andererseits ein hermeneutischer Begriff, der allgemeinere Vollzüge als Erinnerung deutet (s.u. I. 5). c) Die Verknüpfung von Predigt und Erinnerung in der Konzeption von Bohren bringt eine heilsvermittelnde Perspektive mit sich. Erinnerung an die „Sünden der Väter“ als Predigt des Gesetzes und Erinnerung an Gottes Heilstat als Predigt des Evangeliums tragen gleichermaßen zur soteriologischen Dimension der Predigt bei. d) Das Verständnis der Predigt als Gottes Selbsterinnerung und Erinnerung an die Sünde erfordert eine Zuordnung dieser Erinnerungen zueinander. Die soteriologische Zuordnung, die Bohren vornimmt, lässt es wünschenswert erscheinen, die Frage nach dem weiteren Umgang mit der Erinnerung an die Sünde zu stellen. Durch die Erinnerung an die Sünde beschreitet die Predigt einen Weg, an dessen Ende die Lösung von der Sünde liegen soll. Die destruktive Macht, die die Erinnerung haben kann, wird auf diese Weise gebrochen. Die Erinnerung an die Sünde als Teil der Predigt des Gesetzes wirft den Menschen nieder und führt ihm seine Schuld vor Augen. Auf diese Weise bereitet die Erinnerung an die Sünde die Predigt des Evangeliums, die Selbsterinnerung Gottes vor. Aber sie führt dieses Evangelium nicht selbst herbei. Wie in der Predigt mit der Erinnerung an die Sünde umzugehen ist, wird sich also an der fundamentalen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu orientieren haben. Die Konsequenzen aus dieser Unterscheidung werden daher einen Schwerpunkt der Untersuchung bilden (s.u. V. 5). e) Mit der Zuspitzung auf die Erinnerung an den Holocaust greife ich einen speziellen Aspekt der „Erinnerung an die Sünde der Väter“ heraus. Eine ähnliche Beschränkung hat auch Bohren vorgenommen, als er die „Sünden der Väter“ am Beispiel des Nationalsozialismus in den Blick ge43 nommen hat. Die Erinnerung an den Holocaust lässt die „Sünden der Väter“ im Kontext der christlich-jüdischen Auseinandersetzung wahrnehmen und stellt die Aufgabe, gerade im homiletischen Kontext eine neue
43 R. Bohren stellt nicht mehr als Überlegungen – jedenfalls im Blick auf diese Konkretion – an, wie er selbst immer wieder erklärt, DERS.: Predigtlehre, 210: „Es wäre eine interessante Aufgabe, einmal die Predigt der Nachkriegszeit in Deutschland im Anschluss an die Arbeit der Mitscherlichs zu analysieren und mit reformatorischer Theologie zu konfrontieren.“ Vgl. auch a.a.O., 220: „Es bedürfte einer eingehenden Untersuchung an Hand der Nachkriegspredigten in Deutschland [...].“
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Sicht des Judentums zu gewinnen. Die Berücksichtigung erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Lösung dieser Aufgabe stellt einen weiteren Schwerpunkt in dieser Arbeit dar (s.u. II. und III.). 3. Predigt als öffentliche Rede und die Erinnerung an den Holocaust Die Offenheit homiletischer Theorie für empirische Aufschlüsselungen der Wirklichkeit legt es nahe, den Begriff der Erinnerung an den Holocaust auf seine Bedeutung in erfahrungswissenschaftlichen Zusammenhängen zu befragen, damit Homiletik sich nicht von diesen Zusammenhängen abkoppelt und eine rein innertheologische Kommunikation betreibt. Der kommunikative und der öffentliche Charakter der Predigt verbieten eine solche Engführung. Die Analyse der Rede von der Erinnerung an den Holocaust erweist sich dabei im Rahmen der Untersuchung als komplexe und umfangreiche Aufgabe. Ich sehe dafür mehrere Gründe: a) Die Holocaustforschung ist in der Praktischen Theologie bisher noch nicht wahrgenommen worden. b) Wie bereits angedeutet, müssen mit dem Begriff Erinnerung auch die Begriffe Vergessen und Verdrängen in die Untersuchung einbezogen werden. Gerade im Kontext der Erinnerung an den Holocaust spielt die Sorge vor möglichen Verdrängungen oder einem etwaigen Vergessen eine herausragende Rolle. c) Hinzu kommt, dass es sich aus noch zu erörternden Gründen von einem bestimmten Punkt der Untersuchung an nahe legt, den Begriff Erinnern durch den Begriff Gedenken zu ersetzen. In dieser begrifflichen Verschiebung werden bestimmte Zusammenhänge, das methodische Vorgehen sowie die Zielsetzung der Arbeit erkennbar (s.u. II. 5). d) Bei der Aufarbeitung der Holocaustforschung habe ich daneben Wert auf eine Wahrnehmung jüdischer Stimmen gelegt. Dan Diner und Shaul Friedländer, Vilem Flusser und Francois Lyotard, um nur einige Namen zu nennen, geben an entscheidenden Stellen die Richtung der Untersuchung vor (s.u. II. 1–3).
Der ursprünglich als Vorarbeit gedachte, der Holocaustforschung gewidmete Teil bildet einen eigenständigen Schwerpunkt des Buches. Basierend auf dem Verständnis von Predigt als einer menschlichen Rede, deren Vermittlungs- und Verständigungsleistung durch soziologische, psychologische und in diesem Falle auch historische Einsichten erhellt werden kann, soll dieser Teil der Untersuchung in besonderer Weise der Beantwortung der Frage dienen, wie nach dem Holocaust gepredigt werden kann. Die Wahrnehmung der Predigt als öffentliche Rede fordert die Einbeziehung humanwissenschaftlicher Einsichten in Theorie und Praxis der Predigt geradezu heraus. Indem die vorliegende Untersuchung dazu einen Beitrag zu leisten sucht, will sie den öffentlichen, wissenschaftlichen Diskurs der Theologie mit anderen Fachbereichen fördern. Insbesondere stellt sie sich einem gegenwärtigen, jüdischen Gegenüber. Vor ähnlichen Problemen wie die Predigt stehen säkulare Reden, die in Erinnerung an den Holocaust gehalten werden. Sie sind deshalb als Ver20
gleichsmaterial von Interesse. Aus Gründen der Begrenzung der Arbeit habe ich eine Rede ausgewählt, die – zusammen mit der über sie geführten Dis44 kussion – in besonderem Maße lehrreich ist: die Rede Martin Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Sie thematisiert die Erinnerung an den Holocaust als Gegenstand von Reden. Sie tut dies in problematischer und in einer breiten öffentlichen Diskussion nachdrücklich problematisierten Art und Weise. Zu untersuchen ist: Was kann Predigt von der Bearbeitung des Themas im säkularen Zusammenhang lernen? Inwieweit kann sie sich von den hier auftretenden Schwierigkeiten abgrenzen? (S.u. II. 6) 4. Die exemplarische Ausrichtung auf die homiletische Theorie Die Gründe der Konzentration auf die Predigttheorie (und nicht auf die Analyse von Predigten) sind vielfältig und bilden sich im methodischen Vorgehen der Untersuchung ab. a) Die homiletische Theorie stellt ein wesentliches Steuerungsmoment der Predigtpraxis dar. Durch eine Untersuchung der homiletischen Theoriebildung soll zunächst überprüft werden, ob und wie die Thematik eines Predigens in der Erinnerung an den Holocaust in der Predigttheorie reflektiert wird. Es gibt, wie sich zeigen wird, eine Reihe von Ansätzen, die das Thema aufnehmen. b) Die Beschäftigung mit der Predigttheorie bringt eine eigenwillige, aber fruchtbare Akzentverschiebung mit sich: Thema ist nicht allein die Erinnerung an den Holocaust, sondern die reflektierende Aufnahme dieser Erinnerung. Anders gesagt: Gefragt ist eine homiletische Theorie, die sich als Theorie nach dem Holocaust begreift. Diese Akzentverschiebung entspricht analogen Momenten in der erfahrungswissenschaftlichen Analyse der Erinnerung an den Holocaust. Auch hier überlagert inzwischen die Frage nach den Konsequenzen aus der Erinnerung an den Holocaust das konkrete Erinnern selbst. Auf dem Hintergrund dieser Verschiebung wird deutlich, warum die Untersuchung homiletischer Theorie hier von größerem Interesse ist als die Analyse konkrete Predigten. Eine Konzentration auf die homiletische Theorie kann bei der Materialsuche und Auswahl davon ausgehen, dass der Zusammenhang der Problematik im Blick ist. Der Holocaust als Moment, in dessen namentlicher Erinnerung dann homiletische Überlegungen angestellt werden, dürfte ebenso benannt werden wie etwaige Konsequenzen aus dieser Erinnerung. c) Die pragmatische Konsequenz, auf die Analyse von Predigten zu verzichten, heißt nicht, dass eine solche Analyse nicht wichtig und lohnend 44 Angeboten hätten sich daneben die Rede P. Jenningers am 9.11.1988 oder die Rede R. von Weizsäckers am 8.5.1985. Sie haben beide auf ihre Weise großen Nachhall gefunden. Zur Rede Jenningers vgl. B.-N. KREBS: Sprachhandlung, 105ff.
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wäre. In dieser Untersuchung steht allerdings die homiletische Theorie als einem gewichtigen Steuerungszentrum homiletischer Praxis im Vordergrund. Dabei bezieht die Untersuchung auch Predigtmeditationen mit ein. Sie werden unter der Frage analysiert, ob und inwieweit sie die systematisch-homiletische Theoriebildung bestätigen oder korrigieren. d) Die empirische Analyse der Erinnerung an den Holocaust (s.u. I. und II.) und im Weiteren die Konsequenzen, die daraus für ein Gedenken an den Holocaust gezogen werden, führen dazu, dass die später durchgeführten Untersuchungen zur homiletischen Theoriebildung (s.u. IV. und V.) sich auch als beispielhafte Bestätigung dieser Analyse verstehen lassen. Die Homiletik zeigt sich als Ort, an dem sich die Schwierigkeiten der Erinnerung an den Holocaust aufweisen und die Veränderungen samt ihren notwendigen Konsequenzen zeigen lassen. Mit dem Titel des Buches soll insofern keine direkte Praxishilfe für das Predigen an bestimmten Sonntagen versprochen werden. Es geht vielmehr um die Einordnung der Problematik des Predigens nach dem Holocaust in den umfassenden Zusammenhang der Erinnerung und um die grundlegende Herausforderung, die diese Thematik für die Homiletik darstellt. Einen anderen Ansatz verfolgt die Arbeit von Evelina Volkmann „Vom Judensonntag zum Israelsonntag. Predigtarbeit im Horizont des christlich-jüdischen Gesprächs“. Hier wird eine umfassende Analyse von Predigtmeditationen und Predigthilfeliteratur nach 1945 im Blick auf die Thematik durchgeführt. Diese Arbeit ist in großer zeitlicher Nähe zur vorliegenden Untersuchung entstanden. Ich beschränke mich deshalb auf wenige Hinweise zu Gemeinsamkeit und Diffe45 renz der beiden Untersuchungen. Volkmann analysiert vorhandene Predigthilfeliteratur auf Grund eines aus dieser Literatur sowie aus bestimmten theologischen Vorgaben gewonnenen Rasters. Das Gedenken an den Holocaust kommt dabei nur in dem Umfang in den Blick, wie es aufgrund dieser theologischen wie homiletischen Vorgaben möglich ist. Der Ansatz der vorliegenden Untersuchung ist demgegenüber davon bestimmt, das Gedenken an den Holocaust als dem der Wende im Verhältnis der Kirche zu Israel vorgängigen Geschehen mit seinen umfassenden Implikationen in den Blick zu nehmen, um von hier aus Konsequenzen für den Bereich der Homiletik aufweisen zu können. Während Volkmann Predigthilfen zum 10. S.n.Tr. seit 1945 untersucht, geht es mir um die Frage nach Möglichkeiten, Aufgaben und Grenzen einer Homiletik nach dem Holocaust. Deshalb wird eine humanwissenschaftliche Aufarbeitung des Begriffs Erinnerung, die Aufnahme der Perspektiven der Holocaustforschung und eine fundamentaltheologische Betrachtung der Beziehung zum Judentum vorgenommen. Volkmann kann auf derartige Einordnungen verzichten, weil die Erinnerung des Holocaust bei ihr einer von vielen Aspekten im Rahmen des inhaltsanalytischen Rasters ist. Zwar sieht auch sie die Schoah als 46 Ausgangspunkt der Veränderungen in der Predigthilfeliteratur an, und auch für 45 Daneben beziehe ich einen Aufsatz von E. Volkmann zur selben Thematik in die Überlegungen zum homiletischen Lernprozess ein (vgl. V. 3.4). 46 Vgl. E. VOLKMANN: Judensonntag, 109.
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sie leistet die „im Kontext der Predigtarbeit stattfindende Revision überkommener 47 judenfeindlicher Positionen [...] einen Beitrag zum Schoah-Erinnerungsdiskurs“, ihr Frageinteresse zielt aber nicht auf die Begründung dieses Zusammenhanges. Der Zusammenhang von Erinnerung an den Holocaust und bewahrendem Gedenken in einer veränderten Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers, der in meiner Untersuchung als eine Antwort auf die Frage nach der Aufgabe von Predigen nach dem Holocaust erarbeitet wird, liegt außerhalb der Fragestellung von Volkmanns Untersuchung. Die von mir geforderte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers, die sich erfreulicherweise in der Homiletik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, versuche ich als fundamentaltheologische Forderung auch für andere Bereiche praktisch-theologischer Theoriebildung zu begründen. Volk48 mann fordert ebenfalls diese Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers.
5. Die Wahrnehmung des Judentums als Gegenüber Inhaltlich vorweggenommen werden soll hier ein Schlüsselelement der Arbeit, das im Zusammenhang der Untersuchung irritierend wirken kann. Eine Konsequenz aus den Überlegungen zur Erinnerung an den Holocaust wird sein, dass christliche Theologie und somit auch homiletische Theorie ihr Selbstverständnis nur in der Wahrnehmung eines Judentums entwickeln kann, das gegenwärtig und lebendig ist und dessen Selbstverständnis nicht von christlicher Seite eigenmächtig festgelegt werden kann. Deshalb wird in dieser Arbeit ein sehr weiter, möglicherweise formal anmutender Begriff von Judentum benutzt. Ich fasse den Begriff des Judentums so weit dies eben möglich erscheint, um der Selbstbestimmung und Selbstdefinition des jüdischen Gegenübers Raum zu geben. Unter dem jüdischen Gegenüber soll jenes Kollektiv von Menschen zu verstehen sein, die als Jüdinnen und Juden Judentum gelebt haben oder leben, sei es in synagogaler Zusammenkunft, sei es in nationaler, sei es in religiöser, sei es in mnemologischer, sei es in säkularer, sei es in auf das Land „eretz israel“ ausgerichteter oder eben auch noch anderer möglicher Perspektive. Wenn vom jüdischen Gegenüber gesprochen wird, soll also nicht die eine oder andere jüdische Stimme für absolut erklärt werden. Vielmehr wird ein weiter, eben genau die Vielstimmigkeit erfassender Begriff des Judentums zu Grunde gelegt. Dabei könnte die Gefahr bestehen, dass der Eindruck entsteht, dass „Gegenüber Judentum“ oder „jüdisches Gegenüber“ zu leeren Begriffen werden. Das Gegenteil ist beabsichtigt: Die Wahrnehmung eines Gegenübers, dessen Präsenz und Lebendigkeit den Begriff von sich selbst durch Praxis und Gegenwart füllen. Weil an dieser Stelle die Vielgestaltigkeit jüdischer Gegenwart und die Selbstbestimmung jüdischen Selbstverständnisses zur Grundlage des Begriffes Judentum gemacht werden, halte ich es für wichtig, die Möglichkeit 47 A.a.O., 261. 48 Vgl. a.a.O., 261.
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eines solchen Ansatzes auch aus jüdischer Perspektive zu belegen. Die jüdischen Philosophen Emil L. Fackenheim (a) und Vilem Flusser (b) zeigen in ihrer Definition dessen, was Jude-sein heißt, dass auch auf jüdischer Seite ein sehr weiter, in gewissem Sinne formal anmutender Begriff vom Judentum möglich ist. Die Positionen von Flusser und Fackenheim stellen ein jüdisches Zeugnis dessen dar, was ich in dieser Arbeit als Judentum verstehen möchte: ein selbstbestimmtes, lebendiges Gegenüber (c). a) Emil L. Fackenheim – Die Forderung zu überleben Der in Jerusalem lebende jüdische Philosoph Emil L. Fackenheim stellt die Frage seines Buches „Was ist Judentum? Eine Deutung für die Gegenwart“ in der Absicht, eine das gegenwärtige Judentum in seiner Vielgestaltigkeit erfassende Bestimmung zu finden. Unter der Überschrift „Wie beginnen?“ zitiert er zunächst die klassische Wendung: „Gott, die Tora und Israel sind 49 eins.“ Nach einer kurzen Darstellung, warum diese Topoi unverzichtbar bei einer Bestimmung des Judentums sind, erklärt Fackenheim dann: „Aber wie sollen wir in einem Buch über Judentum für einen Juden von heute beginnen? Mit ‚Gott‘? Manch ein guter moderner Jude kann ihn allenfalls finden, ihn aber nicht von vornherein haben; und nach allem, was in diesem Jahrhundert geschehen ist, können auch viele wahrhaft heilige Juden ihn überhaupt nicht mehr finden. Sollen wir also mit der ‚Tora‘ begin50 nen?“ Mit Blick auf Juden in der Sowjetunion, die als Juden keinerlei Kenntnis von der Tora haben und auch nicht haben können, verwirft Fackenheim auch diesen Ausgangspunkt und folgert schließlich: „Wir müssen also mit dem dritten Begriff des oben zitierten Satzes beginnen, mit ‚Israel‘, 51 d.h. mit den Juden, wie sie wirklich sind.“ Dieses „wie sie wirklich sind“ führt Fackenheim aus, indem er die Spannbreite jüdischer Lebenszeugnisse andeutet. Im Blick auf die Vergangenheit sei da zum einen der stolze und „einfache“ Jude, der im KZ Sachsenhausen dem SS-Offizier widersteht. Und da sei zum anderen ein Henri Bergson, der große französische Philosoph seiner Zeit, der sich vom Vichy-Regimes nicht korrumpieren lässt. Beide, so Fackenheim, meine er, wenn er von Israel spreche: die „einfachen“ Juden und die berühmten Persönlichkeiten. In die Gegenwart wiederum gehörten „die sowjetischen Juden, die auf ihrer jüdischen Identität beharren, obwohl ihnen jegliches jüdische Wissen verweigert wird; die israelischen Juden, die der Versuchung widerstehen, in sichere, einfachere Länder zu gehen, obwohl sie der Belastung durch feindselige Nachbarn, auf deren Ende wenig hindeutet, müde geworden sind. In die Gegenwart gehören auch diejenigen Studenten westlicher Universitäten, die alle erdenklichen Möglichkeiten haben, in einem günstigen Umfeld einfach aufzugehen, diese 49 E.L. FACKENHEIM: Judentum, 39. 50 Vgl. ebd. 51 A.a.O., 40.
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Möglichkeit aber verwerfen, weil sie sie als Verrat betrachten.“ Diese verschiedenen Gruppen seien zusammen in ihrer Vielgestaltigkeit Israel. Fackenheim spitzt seine Darstellung dabei auf das für ihn entscheidende, verbindende Element zu: eine besondere Treue. Diese Treue habe eine für das Judentum existentielle und deshalb auch essentielle Komponente: „Ohne andere Tugenden können Juden nicht fromm, gelehrt, heilig oder hel53 denhaft sein, ohne Treue wären sie längst von der Erde verschwunden.“ In 54 der Pflicht, in dem Gebot, zu überleben, und in der Treue, als Juden zu überleben wird bei Fackenheim das Judentum als „Israel“ beschrieben. Von hier aus gewinnen der Faktor Religion und hierin explizit die Elemente Bibel, Tora, Halacha ihre Gestalt. Die Reihenfolge ist dabei konstitutiv: Ein Jude in der Gegenwart wird zunächst von seinem Überleben als Jude und von seinem Dasein als Jude in Treue zu seinem Dasein bestimmt und erst danach und von hier aus durch andere Faktoren jüdischen Selbstverstehens. Fackenheim führt diese Reihenfolge im essentiellen Bezug zur Bibel vor und antwortet dabei zugleich auf die gestellte Frage: Wer ist „ein Jude von heute“? „Er fühlt sich eins mit Israel, wenn er nicht selbst ein Israeli ist. Er fühlt sich eins mit den Überlebenden des Holocaust, wenn er nicht selbst ein Überlebender ist. Als solcher kann er nichts anderes tun, als dem Beispiel Raschis und Nachmanides’ zu folgen. Auch er gedenkt des Blutes der Kinder, und alles Gerede über den Sinn jener vier schlimmen Jahrhunderte verbietet sich von selbst. Dafür hat er, wenn er den Tenach selbst liest, nur diesen kühnen, machtvollen, so großartig anthropomorphen Satz: ‚Und 55 Gott gedachte.‘ Mehr nicht.“ b) Vilem Flusser – Jude sein Der in Prag geborene und 1991 unweit der deutsch-tschechischen Grenze bei einem Autounfall ums Leben gekommene jüdische Philosoph Vilem Flusser skizziert Antworten im Lichte ganz verschiedener Aspekte auf die Frage nach der Essenz des Judentums. Im Zentrum seiner Überlegungen kommt er wiederholt auf den rituellen Aspekt jüdischen Lebens zu spre56 chen. Das Judentum sei, so Flusser, ein „rituell festlicher ‚way of life‘ “, in dem wie in anderen Religionen auch die Wahrheit eines zugrunde liegen57 den Mythus existentiell dargestellt werde. Dabei sei es das Besondere am 52 A.a.O., 41. 53 A.a.O., 42; vgl. auch a.a.O., 47. 54 Vgl. hierzu E.L. FACKENHEIM: Stimme, passim, besonders 95: „Was gebietet die Stimme von Auschwitz? Es ist den Juden verboten, Hitler nachträglich siegen zu lassen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergehe. Es ist ihnen geboten, der Opfer von Auschwitz zu gedenken, damit das Andenken an sie nicht verloren gehe.“ Vgl. auch DERS.: Stimme, 107. 55 DERS.: Judentum, 76. 56 V. FLUSSER: Jude sein, 90. 57 Vgl. a.a.O., 88f.
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jüdischen Ritus, dass er dem Ritus seine ursprüngliche, heidnische Bedeutung nehme. Flusser erklärt diese Besonderheit so: „Aus der rituellen Geste des Opfers, durch das die beleidigten Götter beschwichtigt werden, wird eine absurde Geste, die nichts bezweckt. Eine sinnlose, nach einem strengen Vorbild ausgeführte Geste, die zu nichts dient. Eine höchst praktische Ges58 te, deren Praxis ohne Zweck ist.“ Aus dieser Revolution des Ritus ergibt sich für Flusser die Essenz des Judentums: „Mit einem Schlag zerreißt das Judentum diese Welt und revolutioniert das Leben. Indem es die Ewigkeit der Welt leugnet und ihre Erschaffung ex nihilo postuliert, bekommt die Welt eine Geschichte. Ein Vakuum wird geschaffen, der Sabbat, das offene Fenster zum Transzendenten, wodurch die Kompaktheit der Welt verneint 59 wird.“ Hier liegt für Flusser der Ursprung zu einem geradlinigen, zugleich absurden, zum Tod hin offenen Leben. Dieses anzunehmen heiße jüdisch zu leben. Eine, wie Flusser sagt, beinahe übermenschliche Leistung. Denn es handele sich beim rituellen Vollzug um eine permanente Revolution, bei der es immer wieder um die Etablierung eines absurd anmutenden Verhaltens gehe. Es gelte nämlich der Versuchung zu widerstehen, dem Ritus doch eine (heidnische) Bedeutung zu geben. Hierbei gehe es letztlich um die besondere Herausforderung, das Gute ohne Aussicht auf Belohnung zu tun, sondern allein, weil es gut ist. Zu diesem Tun des Guten und damit zur Essenz dieser Orthopraxie gehöre die Anerkennung der Gegenwart des Heiligen im anderen Menschen. Und so kann Flusser die verschiedenen Aspekte zusammenfassend erklären: „Der dem Judentum eigene praktische Aspekt, seine Besessenheit von der Aktion und Passion im Antlitz des Heiligen unter Ausschluss aller theoretischen und dogmatischen Überlegungen, führt zum Absurden. [...] Es [sc.: das Judentum; CS] kann aber auch zu einem verantwortungsvollen Leben in einer absurden Welt führen, mit der 60 Anerkennung des Heiligen im anderen Menschen.“ Schließlich fragt Flusser nicht nur nach dem rituellen Aspekt des Jude-seins, sondern auch nach dem existentiellen. Ihn betrachtet er unter der allen existentiellen Determinierungen zukommenden dialektischen Spannung von Bedingung und Freiheit. Dabei steht es für ihn außer Frage, dass das Jude-sein, so wie er es betrachtet, keine Wahl sein könne. Gleichwohl entspringe es einem dialektischen Prozess, der sich aus dem Blick des anderen und dem eigenen Blick auf sich selbst ergebe. So erklärt Flusser, dass es zwei Bedingungen des Jude-seins gebe: „Als ich in die Welt geworfen wurde, ohne befragt worden zu sein, fand ich mich entweder als Jude für andere Juden oder als Jude für Nicht-Juden.“ Zwischen diesen Bedingungen sei zu wählen. Freiheit entstehe in der Wahl eines authentischen Inder-Welt-Seins, dass eben gerade in der Treue zu sich selbst überholt werden könne. Dabei stünden beide Möglichkeiten offen: „Es gibt diese zwei Möglichkeiten, sich anzunehmen: Juden für andere Juden und Juden für die Welt. Gewiss 58 A.a.O., 96. 59 A.a.O., 95. 60 A.a.O., 85.
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können sich diese beiden Möglichkeiten ergänzen, und das ist in ruhmreichen 61 Perioden der jüdischen Geschichte der Fall gewesen.“
In die Analyse des existentiellen Aspekts jüdischen Daseins integriert Flusser seine inhaltlich-religiöse Bestimmung des Jude-sein: Es geht auch hier um ein – im rituellen Vollzug dargestelltes – ganz spezifisches Erleben des Heiligen, das seinen Ausdruck in der Konfrontation oder in der Beziehung auf den Anderen findet. Flusser bringt diese Bestimmung des Lebens vom Heiligen her, das im anderen gegenwärtig werde, auf eine Formel: Jude sein bewege hauptsächlich die Frage: „Wie hat man in der Gegenwart des Ande62 ren zu leben?“ Ich halte fest: Flusser formuliert seine Antwort auf die Frage, was Jude sein bedeutet, indem er die unterschiedlichen Weisen jüdischen Lebens auf ihren strukturellen Zusammenhang hin befragt. Das verbindende Element ist dabei eine im Blick auf den existentiellen und religiösen Aspekt hin entfaltete Dialektik von Selbstbezug einerseits und Welt- bzw. Gottesbezug andererseits. c) Der Begriff Judentum im Rahmen dieser Untersuchung In den dargestellten Entwürfen von Fackenheim und Flusser werden neben offenkundigen inhaltlichen Unterschieden einige Gemeinsamkeiten sichtbar: Das Judentum wird in seiner inneren Verbundenheit wie auch in seiner äußeren Bezogenheit auf andere umrissen. Die selbstverständliche, vorgängig existentielle Bedeutung des Jude-seins wird herausgestellt. Deutlich wird dies bei Fackenheim in dem Gebot, als Jude zu überleben. Bei Flusser findet die existentielle Betroffenheit in der Dialektik von Bedingungen und Frei63 heit jüdischer Existenz gegenüber dem eigenen Jude-sein ihren Ausdruck. M.E. spiegelt sich in dieser Betonung dessen, was Existenz als Jude bedeutet, die von beiden erlebte und erlittene fundamentale Bedrohung des Judentums durch den Holocaust. So wurde Flussers Vater in Buchenwald zu Tode geprügelt. Seine Mutter und seine einzige Schwester sind in Auschwitz vergast worden. Und auch Fackenheim ist direkt persönlich von der Katastrophe des Holocaust betroffen. Sein Onkel Adolf Goldberg, Freiwilliger im 1. Weltkrieg und dabei schwerstverwundet, wurde in der Kategorie „Schwachsinnige und verkrüppelte Häftlinge“ 1942 von den Nazis ermordet. Nicht zuletzt von hier aus dürfte das beiden eigene, umfassende Verständnis vom Judentum als essentielle und existentielle Gemeinschaft zu begreifen sein. Die Gemeinschaft des Judentums wird von Fackenheim und Flusser in ihren unterschiedlichen Gestalten eines säkular, orthodox, religiös, ethisch, national oder zionistisch orientierten Judentums reflektiert, ohne dass eine 61 A.a.O., 66. 62 A.a.O., 82f. 63 Vgl. a.a.O., 51ff.
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dieser Ausprägungen zur alles entscheidenden bestimmt würde. Auch da, wo einzelne Aspekte – wie bei Flusser der Vollzug des jüdischen Ritus oder bei Fackenheim die Beziehung zur Gemeinschaft und zum Ort Israel – in ihrem für die gesamte jüdische Gemeinschaft bedeutsamen Gewicht hervorgehoben werden, werden diese Aspekte nicht als eine das Jude-sein festschreibende Eingrenzung begriffen. Die zentralen Momente werden vielmehr als Bezugspunkte herausgestellt, auf die alles Jude-sein in einer Dialektik von Annehmen und Überholen der Bedingung bezogen bleibt. Damit wird in das Begreifen jüdischer Existenz dessen Vielgestaltigkeit und Lebendigkeit integriert. Wenn im Folgenden der Begriff „jüdisches Gegenüber“ gebraucht wird, so sollten die vielfältigen Möglichkeiten jüdischen Selbstverständnisses im Blick sein. Damit wird das eigene Bild vom Juden64 tum für eine permanente Revision offen gehalten. 6. Resumee und Aufbau der Untersuchung Die Untersuchung setzt ein bei der Frage, wie Predigen in Erinnerung an den Holocaust aussehen kann. Diese Frage wird in doppelter Perspektive aufgenommen: Zum einen auf dem Hintergrund des christlich-jüdischen Gesprächs, zum anderen im Zusammenhang konkreter Predigtherausforderung. Die Ausgangsfrage wird gestellt auf der Basis bestimmter homiletischer Grundeinsichten: Predigt ist Verkündigung des Wortes Gottes. Und sie ist gleichzeitig menschliche, öffentliche Rede. Sie ist Medium der Selbstmitteilung Gottes in, mit und unter den Bedingungen interpersonaler Kommunikation. Deshalb dienen der Klärung des Predigtgeschehens unter anderem humanwissenschaftliche Einsichten, die zu theologischen Konsequenzen führen. Mit Bohren lässt sich die Aufgabe der Predigt als Erinnerung an Gottes Verheißung bestimmen. Der Predigt stellt sich zugleich die Aufgabe, an die Sünde zu erinnern. Das Verhältnis beider Erinnerungen im Zusammenhang des Predigtgeschehens verweist auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Eine wesentliche Konsequenz aus dem Gedenken an den Holocaust ist die Wahrnehmung des lebendigen, jüdischen Gegenübers. Die Beschreibung dessen, was unter dem Gegenüber Judentum zu verstehen ist, wird so gefasst, dass unterschiedliche jüdische Selbstbestimmungen integriert werden können. Indem unter Judentum jene Gemeinschaft von Menschen verstanden wird, die als Jüdinnen und Juden Judentum in der ihnen eigenen Gestalt und Perspektive leben, bleibt der Begriff offen für eine immer neue Wahrnehmung von Judentum.
Zum Aufbau der Arbeit: Der Einleitung folgt als erster Schwerpunkt der Arbeit eine Untersuchung der Zugangsweisen, die eine Reihe von Humanwissenschaften zur Erinnerung an den Holocaust bieten (I.). Der Vorgang der Erinnerung wird hier in seiner psychologischen, psychoanalytischen, 64 Die eigene, christliche Position und die notwendig qualifizierte, inhaltliche und für die christliche Position wesentliche Bezugnahme auf das Gegenüber Judentum wird an späterer Stelle thematisiert. S.u. III.
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soziologischen, phänomenologischen, philosophischen und religiösen Bedeutung dargestellt. Im Anschluss daran wird die Erinnerung an den Holocaust als eine besondere Erinnerung mit ihren Schwierigkeiten und Gefährdungen, mit ihren Grenzen und Aufgaben in den Blick genommen (II.). Vor allem Beiträge aus der Geschichtswissenschaft und der Philosophie kommen hier zur Darstellung (II. 1–3). Dabei führt die Wahrnehmung der besonderen Probleme einer Erinnerung an den Holocaust zur Einführung des Begriffs Gedenken. Bewahrendes Gedenken wird als angemessener Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust vorgestellt (II. 5). In der sich anschließenden Untersuchung der Rede Martin Walsers erweist sich der angemessene sprachliche Umgang mit dem Holocaust als eine für die Problematik zentrale Fragestellung. Aus dieser Analyse werden deshalb Konsequenzen für die „Sonntagsrede“ Predigt gezogen, die als Zusammenfassung der bis dahin erzielten Ergebnisse verstanden werden können (II. 6). Im Anschluss daran geht es um die Konsequenzen, die aus den Beiträgen der Humanwissenschaften für den Bereich der Homiletik gezogen werden können und sollen (III.). Im Mittelpunkt steht, was homiletische Theorie im Gedenken an den Holocaust aus diesem Gedenken lernen kann. Weil es hierbei vor allem um die Wahrnehmung der Beziehung zum Judentum als eines lebendigen, gegenwärtigen Gegenübers geht, stelle ich die Einstellungen zum Judentum dar, die diese Beziehung gefährden: Antijudaismus und Philojudaismus (III. 2). Daran schließt sich der Vergleich der eigenen Konzeption einer angemessenen Wahrnehmung des Judentums mit anderen Entwürfen aus dem Bereich der Praktischen Theologie an (III. 3–5). In den Kapiteln IV und V wird die homiletische Theorie nach dem Holocaust im Blick auf ihre Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers untersucht. Dabei wird mit Hilfe einer Einteilung in historische Abschnitte neben einer chronologischen Darstellung der Aufweis eines „homiletischen Lernprozesses“ zu führen versucht. Die Wahrnehmung des Judentums, die der homiletische Lernprozess ermöglicht, wird dabei in die Gesamtentwicklung des christlich-jüdischen Verhältnisses eingeordnet. Am Ende der Untersuchung werden die Ergebnisse im Blick auf eine Homiletik aus dem Gedenken an den Holocaust zusammengefasst (VI.). Unter Aufnahme einer Typologie von Beziehung und Begegnung mit dem anderen sollen die vielfältigen Ansätze der Einbeziehung der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers im Blick auf ihre Möglichkeiten und Grenzen eingeordnet werden (VI. 4). Den Abschluss bilden Thesen zu einer Predigt aus dem Gedenken an den Holocaust (VI.5).
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I. Erinnerung – Erfahrungswissenschaftliche Perspektiven Erinnerung vermittelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Durch Erinnerung wird Vergangenes gegenwärtig. Erinnern ist allerdings nicht einfach mit der Vergegenwärtigung von Vergangenem gleichzusetzen. Der Vorgang des Erinnerns hat verschiedene Aspekte: zum einen das Wiedererkennen von aus der Vergangenheit Bekanntem, zum zweiten die Reproduktion von Vergangenem und zum dritten die (re)konstruktive Bezugnahme auf Vergangenes. Der begriffliche Gegenpol von Erinnern, nämlich das Vergessen, lässt im Vorgang des Erinnerns auch das Moment der Bewahrung, der Konservierung von Vergangenem mitschwingen. 1. Individuelle Zusammenhänge: Auswahl und Rekonstruktion In der Gedächtnispsychologie wird unter Erinnern die Fähigkeit, „Vorstellun1 gen in einem zeitlichen Zusammenhang zu behalten“ verstanden. Die Aktivierung dieser Fähigkeit nutzt sowohl kognitive als auch nicht kognitive 2 Speicherprozesse, d.h. Gedächtnisleistungen. In unserem Zusammenhang ist derjenige explizit kognitive Prozess von Interesse, in dem Vergangenes wiedererkannt und reproduziert wird. Während das Wiedererkennen in den meisten Fällen ein passiver Vorgang ist, handelt es sich bei der Reproduktion um einen aktiv und bewusst gesteuerten Vorgang. Eine genauere Vorstellung von den physiologischen und psychologischen Abläufen, die mit dem Vorgang des Erinnerns einhergehen, liefert die Ge3 dächtnisforschung. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Vorstellung 4 des Gedächtnisses um ein theoretisches Konstrukt handelt, das der Erklärung der Tatsache dienen soll, „dass das Verhalten und Erleben eines Organismus zu einem bestimmten Zeitpunkt durch sein Verhalten und Erleben 5 zu einem früheren Zeitpunkt beeinflusst wird.“ Dieses Konstrukt macht 1 So C. VON BORMANN: Erinnerung, 636. 2 Vgl. P.G. ZIMBARDO: Psychologie, 314. 3 Vgl. D. ALBERT/K.H. STAPF: Enzyklopädie der Psychologie. Kognition 4: Gedächtnis, Göttingen 1996. 4 Das theoretische Konstrukt „Gedächtnis“ zur Beschreibung menschlicher Behaltensleistungen ist umstritten. Die behavioristische Schule der Psychologie und weite Teile der amerikanischen Forschung verzichten auf den Gedächtnisbegriff und beschränken sich auf die Beschreibung lernpsychologischer Vorgänge. 5 Vgl. F.E. WEINERT: Gedächtnis, 35.
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von der Vorstellung eines Speichers Gebrauch, um der Wirkung der Erin6 nerung einen Ort zuschreiben zu können. Die Art der Speicherung spielt sowohl bei der Deutung der Vorgänge des Wiedererkennens und des Reproduzierens als auch bei dem Verlust dieser Fähigkeiten, beim Vergessen, eine Rolle. Verschiedene Theorien versuchen, diesen Verlust zu erklären. 7 Die Verfallstheorie geht von einem Zerfall der neuronalen Erinnerungsspur aus. Die Interferenztheorie zieht zur Erklärung so genannte Abrufstörungen heran. Die Theorie des motivierten Vergessens macht eine Blockierung der Erinnerungsfähigkeit verantwortlich. Diese verschiedenen Erklärungsversuche verbieten den Schluss, Vergessen einfach als gegenläufigen Vorgang zum Erinnern zu begreifen. Vergessen beruht auf anderen Abläufen als Erinnern. Vergessen ist nicht der Verlust einer Erinnerungsspur. Er ist der Verlust der Fähigkeit, einen bestimmten Erinnerungsvorgang in Gang zu setzen. Demgegenüber ist Erinnern nicht eine Form mechanischer Reproduktion, sondern beinhaltet eine Verarbeitung der Information. Erinnern ist ein konstruktiver Prozess, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, „wie Menschen bedeutungstragenden Input organisieren, interpretieren und 8 aufbewahren.“ Der Gedächtnispsychologe Frederick Bartlett hat bereits in den 1930er Jahren die Arten der Veränderungen untersucht, die im Prozess der konstruierenden Wiedergabe aufgenommener Informationsinhalte vermehrt vorkommen. Dabei beobachtete er neben den Vorgängen des Vereinfachens (leveling) und des Akzentuierens (sharpening) auch die Form des Assimilierens (assimilation), d.h. eine Veränderung der Erinnerung in der Weise, dass sie besser zum Hintergrund und zum Vorwissen des Erinnernden passen. Dem Erinnern kommt auf diese Weise ein sinnstiftender Aspekt zu. Der passende Kontext für Verstehen und Interpretieren wird automatisch bereitgestellt mit der Folge, „dass wir auch angesichts fragmen9 tarischer Beweislagen handlungsfähig sind.“ Die Rekonstruktion des Vergangenem ist notwendig selektiv. Nicht alles 10 Vergangene kann erinnert werden. Um etwas erinnern zu können, muss 6 Weinert, Gedächtnis, 35, weist darauf hin, dass der Begriff Gedächtnis äquivok verwandt wird, in der Wissenschaft ebenso wie in der Umgangssprache. Gedächtnis kann verstanden werden als „hypostasierte Fähigkeit von Organismen zu Reproduktionen irgendwelcher Art und zugleich die Summe der dadurch erworbenen kollektiven und individuellen Dispositionen, Spuren oder Engramme“, als „explikativ gemeinte psychische und/oder organische Bedingung der Möglichkeit eines Organismus, aus Erfahrung zu lernen, das Gelernte [...] zu speichern und unter bestimmten Bedingungen zu einem späteren Zeitpunkt wieder im Verhalten zu aktualisieren“ oder einfach als „die Tatsache und/oder Fähigkeit des Organismus, sich an vergangene Erlebnisse mehr oder minder bewusst erinnern zu können.“ Weinert weist darauf hin, dass im englischen Forschungsraum mit „memory“ nicht zwischen Erinnerung und Gedächtnis unterschieden werden kann. 7 Vgl. P.G. ZIMBARDO: Psychologie, 341ff. 8 A.a.O., 335. 9 A.a.O., 339. 10 Vgl. Y. KANIUK: Der letzte Jude, 1990; vgl. C. STÄBLEIN: Begegnung, 64f.
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vieles andere in diesem Augenblick ausgeblendet – und das heißt für diesen Moment – vergessen werden: „Vergessen ist nicht nur Defizit, Mangel an Speicherkapazität im Gehirn; es ist auch die notwendige Bedingung von Erinnerung: Nur durch Vergessen hebt sich aus der unendlichen Fülle dessen, was geschieht, einiges distinkt heraus, das, in einen Zusammenhang ge11 bracht, Vergangenheit, Geschichte konstituiert.“ (Hervorhebung CS). Diese Form des Vergessens, eine Art Speicherleerung vor Beginn, ist die Voraussetzung für die Erinnerung als schöpferische Kraft. Ohne die Möglichkeit, vergessen zu können, wird der Vorgang des Erinnerns zwanghaft, 12 häufig mit krankmachenden Folgen. Vergessen ist eben nicht das Gegenteil von Erinnern, sondern ein eigenständiger Prozess, der das Erinnern begleitet, begleiten muss. Es lässt sich zusammenfassend sagen: Erinnerung ist ein rekonstruktiver Vorgang, der über die schlichte, beziehungslose Vergegenwärtigung hinausgeht. Er hat für das Individuum eine deutende Funktion. Mit der rekonstruktiven Grundstruktur hängt zusammen, dass Erinnerung ein selektiver Prozess ist. Indem etwas erinnert wird, wird vieles andere zum selben Zeitpunkt nicht erinnert. Die Heraushebung aus der Masse der Erinnerungen bedingt ein Zurücktreten anderer Erinnerungen, die möglich gewesen wären. Erinnern und Vergessen sind auf eigentümliche Weise miteinander verbunden, ohne Gegensätze oder die schlichte Umkehrung der Vorgänge zu sein. Das Vergessen wirkt als eine Art von Zugangssperre zu Behaltenem und damit als Teil eines komplizierten, dialektisch angelegten selektiven und rekonstruktiven Steuerungsprozesses, den das Erinnern darstellt. 2. Kollektive Zusammenhänge: Kulturelles Gedächtnis und Rahmenwechsel 2.1 Das kollektive Gedächtnis Der Erinnerung kommt eine Vermittlungsfunktion nicht nur im individualpsychologischen Rahmen zu. Es handelt sich um eine Funktion, die auch im sozialen Kontext ihren Ort hat. Der Soziologe und Philosoph Maurice Halbwachs hat bereits 1925 die Abhängigkeit der individuellen Erinnerungsfähigkeit des Menschen vom 13 sozialen Rahmen untersucht und die Theorie eines kollektiven Gedächtnisses entwickelt. Seine Hauptthese lautet: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wieder11 M. KLESSMANN: Erinnerung, 306. 12 Vgl. a.a.O., 307. 13 Der im Französischen verwendete Begriff lautet: „cadres sociaux“.
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zufinden.“ Halbwachs bestreitet nicht, dass das Subjekt konkreter Erinnerungsfähigkeit immer nur das Individuum sein kann. Es geht ihm darum zu zeigen, dass die individuelle Erinnerung vom sozialen Rahmen geformt wird und inhaltlich bestimmt ist. Ein Kollektiv hat kein Gedächtnis. Aber ein Kollektiv bestimmt das Gedächtnis seiner Glieder, denn Erinnerungen ent15 stehen durch Kommunikation und Interaktion im sozialen Kontext. Das heißt: Ein Mensch kann nur das erinnern, was als Vergangenheit innerhalb des sozialen Bezugsrahmens einer jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist. Die Gedächtnisinhalte werden in sogenannten Erinnerungsfiguren geformt. Deren Entstehung erklärt Halbwachs so: Um im Gedächtnis einer Gruppe Eingang zu finden, bedarf es einer Versinnlichung der Idee, die durch eine Verschmelzung von Begriff und Bild zustande kommt. Aus dem reflexiven Bezug von Erfahrung, Begriff und Versinnlichung entsteht die Erinnerungsfigur, die durch drei Merkmale bestimmt ist: a) durch ihren konkreten Bezug auf Zeit und Raum, b) durch ihren konkreten Bezug auf eine Gruppe und c) durch ihre Rekonstruktivität als eigenständigem Entstehungsverfahren. Als Beispiel für den Zeitbezug kann der Festkalender dienen. In ihm spiegelt sich kollektiv erlebte Zeit wider. Beispiele für den Raumbezug sind nicht nur absichtlich geschaffene Orte beispielsweise in Form von Denkmälern, die zu solchen Anhaltspunkten der Erinnerung werden. Auch das Stadtbild als Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses ist zugleich Reflex und Motor des kollektiven Gedächtnisses. Mit dem Gruppenbezug wird die notwendige Identitätskonkretion der Erinnerungsfigur beschrieben: „Das Kollektivgedächtnis haftet an seinen Trägern und ist nicht beliebig 16 übertragbar.“ Denn, so Halbwachs, in der Erinnerungsfigur als Ausdruck des Kollektivgedächtnisses definiert die Gruppe ihre „Wesensart, ihre Eigenschaften 17 und ihre Schwäche.“
Die Rekonstruktion der Vergangenheit von Gruppen wird gemeinhin als Aufgabe der Geschichtswissenschaft angesehen, da die rekonstruierte Vergangenheit als Geschichte begriffen wird. Wenn es daneben auch die Funktion des kollektiven Gedächtnisses ist, Vergangenheit zu rekonstruieren, bedarf es einer Verhältnisbestimmung der Begriffe kollektives Gedächtnis auf der einen und Geschichte auf der anderen Seite. Für Halbwachs ergänzen sich diese Begriffe. „Die Geschichte“, so Halbwachs, „beginnt im allgemeinen erst an dem Punkt, wo die Tradition aufhört und sich das soziale 18 Gedächtnis auflöst.“ Diese Abfolge erklärt Halbwachs durch den unterschiedlichen Entstehungs- und Funktionsmechanismus von „Histoire“ und „Memoire“. Schaut das kollektive Gedächtnis auf Ähnlichkeiten und Kontinuitäten in der eigenen Vergangenheit, so ist die Wahrnehmung von Geschichte auf Differenzen und Diskontinuitäten konzentriert. Andererseits: 14 35. 15 16 17 18
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Vgl. M. HALBWACHS: Gedächtnis, 121. Zitiert nach J. ASSMANN: Gedächtnis, Vgl. J. ASSMANN: Gedächtnis, 36. J. ASSMANN: Gedächtnis, 39. M. HALBWACHS: Gedächtnis, 209f. M. HALBWACHS: Gedächtnis, 103.
Während das kollektive Gedächtnis die Differenz der eigenen Geschichte und der darin begründeten Eigenart gegenüber anderen hervorhebt, „nivelliert die Geschichte alle derartigen Differenzen und reorganisiert ihre Fakten in einem vollkommen homogenen historischen Raum, in dem nichts einzigartig, sondern alles mit allem vergleichbar, jede Einzelgeschichte an die andere anschließbar und vor allem alles gleichermaßen wichtig und be19 deutsam ist.“ In dem Moment, in dem das Gruppengedächtnis eine Zeit nicht mehr „bewohnt“, tritt nach Halbwachs die historische Geschichtsschreibung auf den Plan, um „das Bild und die Abfolge der Fakten festzule20 gen.“ Aus lebendiger Erinnerung wird mittels der Geschichtsschreibung fixierte Historie. Eine zweite Form der Verfestigung von verblassender Vergangenheit ist für Halbwachs die Traditionsbildung. Statt immer neuer Rekonstruktion des Vergangenen wird eine feste Form der Überlieferung ausgebildet. Die Notwendigkeit hierzu tritt immer dann auf, wenn die Erinnerungen an die Vergangenheit durch den Wandel des sozialen Milieus und der Zeit nicht mehr aus sich selbst heraus verständlich sind, sondern für ihre Weitergeltung der Kanonisierung bedürfen. Die Theorie des kollektiven Gedächtnisses, die das Erinnern in Abhängigkeit von sozialen Rahmenbedingungen versteht, erklärt auch das Vergessen durch den sozialen Kontext. Vergessen ist bedingt durch den Verlust oder die Deformation des Rahmens, unabhängig davon, ob dieser Verlust von der Gruppe oder dem Einzelnen gewollt, verschuldet oder teilnahmslos erfahren wird. So erklärt Assmann im Anschluss an Halbwachs: „Man erinnert nur, was man kommuniziert und was man in den Bezugsrahmen des 21 Kollektivgedächtnisses lokalisieren kann.“ Ein Rahmenwechsel bedeutet die völlige Veränderung der Lebensbedingungen und der sozialen Verhältnisse. Rahmenwechsel können durch den Wandel der Zeitumstände gewissermaßen natürlich auftreten, sie können aber auch die Folge von geographischen oder politischen Veränderungen sein. 2.2 Das kulturelle Gedächtnis Im Anschluss an Halbwachs unterscheidet Assmann in seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses vier Bereiche der Außendimension des menschlichen Gedächtnisses. Der erste Bereich wird als mimetisches Gedächtnis bezeichnet, das sich auf das Gebiet des alltäglichen nachahmenden Handelns bezieht. Die Eigenart dieses Gedächtnisses ist es, nie vollständig kodifiziert 19 J. ASSMANN: Gedächtnis, 43. 20 M. HALBWACHS: Gedächtnis, 103. M. Halbwachs beschreibt mit den Begriffen Geschichte und Gedächtnis die Differenz, die im Sprachgebrauch häufig mit den Begriffen Geschichte und Zeitgeschichte belegt wird. 21 J. ASSMANN: Gedächtnis, 37.
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werden zu können. Den zweiten Bereich nennt Assmann das Gedächtnis der Dinge. Mit jedem Ding in seiner Umgebung hat der Mensch eine Geschichte, die dieses Ding für ihn widerspiegelt. Als drittes beschreibt Assmann das kommunikative Gedächtnis, das der Konstitution von Gleichzei22 tigkeit und Orientierung im Alltag dient. Hierzu gehören vor allem die Fähigkeit zur Kommunikation mit anderen Menschen, beispielsweise die gemeinsame Sprache. Assmann nennt dieses Gedächtnis auch das typische Generationen-Gedächtnis, denn es beschränkt sich auf den von allen Gruppenmitgliedern mittels persönlich verbürgter und kommunizierter Erfahrung gebildeten Erinnerungsraum, der etwa drei bis vier Generationen um23 fasst. Den vierten Bereich nennt Assmann das kulturelle Gedächtnis. Es 24 leistet die Sinnüberlieferung. Das kulturelle Gedächtnis richtet sich auf Fixpunkte in der Vergangenheit, die in ihm zu symbolischen Figuren gerinnen, an die sich wiederum die Erinnerung heften kann. Hier findet die eigentliche Identitätsbildung einer Gruppe statt. Im kulturellen Gedächtnis werden die „res factae“ zu erinnerter Geschichte und schließlich in Einzelfällen zum Mythos transformiert. Dabei wird die Erinnerung zu einer Geschichte, die erzählt wird, „um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhel25 len.“ Indem die Geschichte zum Mythos wird, wird sie nicht unwirklich, sondern „Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und for26 mativen Kraft.“ Der Mythos ist eine Form der Erinnerungsfigur des kulturellen Gedächtnisses. Die von Halbwachs vorgenommene scharfe Abgrenzung des Begriffs „Kollektives Gedächtnis“ vom Begriff der Tradition lehnt Assmann ab. Er ersetzt diese Unterscheidung durch die Differenzierung zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Bei der Unterscheidung von kollektiver Erinnerung und Tradition ging es für Halbwachs um den Übergang von lebendiger Erinnerung in die verschiedenen Formen der festen Fixierung von Geschichte und damit um die Grenze des kollektiven Gedächtnisses. Assmann sieht dagegen eine andere Übergangssituation, und zwar etwa bei der Hälfte des Zeitraums, der für die Erinnerungen des kollektiven Gedächtnisses in Betracht kommt. Er setzt den kommunikativen Erinnerungsraum mit ungefähr 80–100 Jahren an und zeigt, dass bei den 27 Zeitzeugen, „die ein bedeutsames Ereignis als Erwachsene erlebt haben“, nach 40 Jahren ein Schub von schriftlicher Erinnerungsarbeit einsetzt. Sie erreichen dann ein Alter, in dem sich der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe der Erinnerungen durchsetzt. 22 Vgl. J. ASSMANN: Mensch, 21. 23 J. ASSMANN: Gedächtnis, 50. 24 Das kulturelle Gedächtnis stellt für Assmann einen Raum dar, in den die drei vorher genannten Bereich hineinragen; vgl. DERS.: Gedächtnis, 21; vgl. auch DERS.: Mensch, 16f. 25 J. ASSMANN: Gedächtnis, 52. 26 Ebd. 27 A.a.O., 51.
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Die im Hintergrund dieser Vorgänge stehenden Rahmenveränderungen bringen nach der Theorie Assmanns das Vergessen mit sich. Sie treten automatisch durch Generationswechsel ein. Auf diese Weise fallen unzählige Erinnerungen an Vergangenes aus dem kommunikativen Gedächtnis heraus und kommen in Kontrast zur fortschreitenden Gegenwart. Die Erinnerung 28 wird „kontrapräsentisch.“ Zu einem solchen Rahmenwechsel kommt es auch, wenn Individuen oder Kollektive geographische Veränderungen vornehmen. Der Urtypus hierfür ist die Reise in die Fremde. Wenn nun die Erinnerung an die vergangene Wirklichkeit trotzdem aufrecht erhalten werden soll, muss es zu einer kontrapräsentischen Form der Erinnerung kommen mit dem Ziel, Ungleichzeitiges zu vermitteln. Statt einer Anpassung an das Neue ist die Erinnerung und die mit ihr verbundene Rückbindung an das Vergangene gefordert. Eine Gemeinschaft kann diese Aufgabe, so Assmann, nur bewältigen, wenn eine „Transformation kommunikativer – gelebter und in Zeitzeugen verkörperter – Erinnerung in kulturelle – institutionell geformte und gestützte – Erinnerung, mithin in kulturelle Mnemo29 technik“ gelingt. Auf diese Weise stellt sich statt Vergessen eine Form kontrapräsentischer Erinnerung ein, die sich gesellschaftlich durch die Präsenz anachroner Strukturen bemerkbar macht. Für Assmann ist die Religion der typische Fall einer solchen anachronen Struktur. „Rück-Bindung, Erinnerung, bewahrendes Gedenken ist der Ur-Akt der Religion.“ Ihre Funktion sei es, „durch Erinnern, Vergegenwärtigen und Wiederholen Ungleich30 zeitiges zu vermitteln.“ Im Blick auf das Vergessen heißt das: Vergessen ist kein automatischer Prozess im zeitlich oder räumlich bedingten Rahmenwechsel. Vergessen wird das, was nicht in kulturelle Erinnerung transformiert wird oder werden kann. Zusammenfassend lässt sich sagen: Grundlage der Theorie des kollektiven Gedächtnisses ist die Einsicht: Individuell geformte Erinnerung konstituiert sich in Abhängigkeit vom sozialen Rahmen. Bei der „Rahmenveränderung“ Generationswechsel – nach etwa 40 Jahren – setzt im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis der Vorgang des Vergessens ein. Die Erinnerung muss nun kontrapräsentische Form gewinnen, weil Ungleichzeitiges zu vermitteln ist. Soll beim Generationswechsel dem Vergessen entgegengewirkt werden, bedarf es einer Transformation der kommunikativen in kulturelle Erinnerung. 2.3 Kultur als Gedächtnis In ähnlicher Weise wie Assmann, aber mit größeren Differenzierungsmöglichkeiten im Blick auf das Vergessen argumentiert Renate Lachmann in 28 Zitiert nach J. ASSMANN: Gedächtnis, 222. 29 A.a.O., 222. 30 A.a.O., 227.
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ihrer semiotischen Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die sie am Begriff der Memoria entwickelt. Ausgangspunkt ist hier ein Gedächtnisbegriff, der auf dem Hintergrund 31 kultursemiotischer Theorie gewonnen wird. Der Kulturraum wird „als 32 Raum eines ‚Gemeingedächtnisses‘ “ definiert. Inhalt dieses „Gemeinge33 dächtnisses“ sind Texte, Zeichen und Daten, in denen sich Kultur realisiert. Sie werden gespeichert und können abgerufen sowie aktualisiert werden. Das kulturelle Gedächtnis ist für Lachmann „kein passiver Spei34 cher, sondern ein komplexer Textproduktionsmechanismus.“ Die Arbeitsweisen des Gedächtnisses, Erinnern und Vergessen, sind als ein von der kulturtragenden Gruppe durch spezifische Techniken in Gang gesetzter Mechanismus der De- (Vergessen) und Resemiotisierung (Erinnern) kultureller Zeichen zu verstehen. Desemiotisierung bedeutet den Verlust der se35 36 mantischen wie auch der pragmatischen Funktion eines Zeichenträgers, die dieser bis dahin innerhalb des Systems wahrgenommen hatte. Der Verlust der Zeichenqualität eines Elementes, seine Ausgrenzung, kann zu einem späteren Zeitpunkt wieder rückgängig gemacht werden. Das in die Latenz des kulturellen Vergessens geschobene Element wird auf diese Weise resemiotisiert. Bei den Mechanismen der De- und Resemiotisierung von Zeichenträgern handelt es sich nach Lachmann um eine der jeweiligen Kultur eigene Regulierung des Zeichenhaushalts, die das stabile Funktionieren kultureller Kommunikation erst garantiert. Den Regulationsmechanismus 37 nennt Lachmann die „mnemonische(n) Konstruktion“ einer Kultur. Der Wechsel von Erinnern und Vergessen, der dieser Konstruktion zu Grunde liegt, wird als eine Art „Eigenbewegung“ der Kultur interpretiert. Weil die mnemonische Konstruktion der Kultur auf einem Regulationsmechanismus von sich abwechselndem De- und Resemiotisieren der Zeichenträger fußt, gibt es für jedes mnemonische Paradigma ein inhärentes Moment des Vergessens – „Vergessen im Sinne spektakulärer Löschungsakti38 onen oder Vergessen als Rückzug aus der Welt der Zeichen“ –, das als bedrohlich und zugleich als verheißungsvoll erfahren wird. Lachmann spricht von der Ambivalenz aller Mnemotechniken: „Sie arbeiten ihm (sc.: dem Ver39 gessen; CS) entgegen und streben ihm zugleich zu.“ Denn mit dem Ver31 Vgl. R. LACHMANN: Kultursemiotischer Prospekt, XVII. 32 Ebd. 33 Text im Sinne der Semiotik ist eine Summe von Zeichen, die jeder Sprache zu Grunde liegen und die in ihrer Spannung von Code und Botschaft untersucht werden. Zeichen sind dabei selbstverständlich nicht nur Schrift-Zeichen, sondern auch Gesten, Bilder, Töne, Architektur usw; vgl. R. VOLP: Liturgik, 122f.125ff. 34 R. LACHMANN: Kultursemiotischer Prospekt, XVII. 35 Semantik im Rahmen der Semiotik: das Verhältnis der Zeichen zur Bedeutung. 36 Pragmatik im Rahmen der Semiotik: das Verhältnis der Zeichen zu ihren Benutzern. 37 R. LACHMANN: Kultursemiotischer Prospekt, XX. 38 A.a.O., XXVII. 39 Ebd.
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gessen verbunden ist einerseits die Angst vor der Katastrophe – das wäre die Unterbrechung der Weitergabe des kulturellen Wissens oder die Unkenntlichmachung der Zeichenordnung durch ihre Zerstückelung – und anderer40 seits ein „Begehren nach Katharsis.“ Wenn mit dem Vergessen als einer Desemiotisierung zunächst der Verlust der Zeichenqualität eines Elements, dessen kulturelle Inaktivität, dessen Vakanz, gemeint ist, nicht aber die Löschung des Zeichens, so kann dies als eine Übertragung der gedächtnispsychologischen Vorstellung vom Vergessen auf die Kultur41 semiotik begriffen werden. Vergessen ist der temporäre Verlust einer Fähigkeit. In einem Fall ist es der Verlust der Fähigkeit, Zeichen wiederzuerkennen und zu reproduzieren, im anderen Fall der Verlust der Fähigkeit, Zeichen zu deuten. Während aber im Bereich der neuronalen Prozesse des Gehirns eine Restsubstanz der Erinnerung, ein Engramm, nicht nachweisbar ist, bleibt das Zeichen in der Kultur beispielsweise als Text oder als Code erhalten. Die vakanten Zeichen bilden innerhalb der Kultur eine Art Reserve, „die wie ein negativer Speicher fun42 giert.“ Man könnte auch von einem Anti-Gedächtnis sprechen. Ein „natürliches“ Vergessen erscheint damit in der Kultur als ausgesprochen fragwürdig. Der italienische Semiotiker Umberto Eco erklärt, Semiotik (Kultur) und Vergessen (Natur) seien Kontrahenten, denn die Semiotik im Sinne einer kulturellen Praxis 43 fungiere als Limitierung des natürlichen Vergessens. Eco kann sich Vergessen nur aufgrund kultureller Überinformation vorstellen. Aus einem „Zuviel“ an Information und aus der sich daraus ergebenden Konfusion resultiere das Verges44 sen. Während Eco sich einen gesteuerten Prozess derartiger Hypersemiose nicht vorstellen kann, geht Lachmann davon aus, dass es „Strategien der Kanalisierung 45 des semiotischen Exzesses und der Zeichentilgung“ gibt. Im Extremfall könne die Löschung der aktuellen Zeichenbedeutungen sogar – ebenso wie die Unlösch46 barkeit – zum Leitparadigma einer Kultur werden. Ein oblivionaler Akzent wohne der mnemonischen Konstruktion einer Kultur inne, nicht zuletzt deshalb, um nicht durch ein ständig zunehmendes semantisches Potential an Zeichen kommunikationsunfähig zu werden. So sei das Vergessen – im Sinne eines Ausgrenzens passiv gewordener Elemente – schließlich ein notwendiger Bestandteil 47 innerhalb einer Kultur.
Wir halten fest: In Lachmanns kultursemiotischer Theorie wird Kultur selbst als Speichermedium, als Gedächtnis, verstanden. Erinnern und Vergessen sind als Mechanismen der De- (Vergessen) und Resemiotisierung (Erinnern) kultureller Zeichen zu verstehen. Der Regulationsmechanismus, innerhalb dessen diese Prozesse ablaufen, ist die mnemonische Konstruktion, eine Art „Eigenbewegung“ der Kultur, die sich in verschiedenen mne40 41 42 43 44 45 46 47
Ebd. Vgl. a.a.O., XXIII. Ebd. Vgl. R. LACHMANN: Unlöschbarkeit, 112. Vgl. a.a.O., 111; vgl. U. ECO: Ars Oblivialonis, 260. R. LACHMANN: Unlöschbarkeit, 112. Vgl. R. LACHMANN: Kultursemiotischer Prospekt, XX. Vgl. a.a.O., XVIII; vgl. auch DIES.: Unlöschbarkeit, 135.
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motechnischen Paradigmen vollzieht. Ihnen allen wohnt ein Moment des Vergessens inne. Vergessen ist als komplementärer Mechanismus zum Erinnern schon deshalb notwendig, um den Vorrat an Zeichen nicht unerschöpflich werden zu lassen. Lachmann spricht von der Ambivalenz aller Mnemotechniken. Sie seien getragen von der Sorge vor der Katastrophe der Unterbrechung des kulturellen Wissens einerseits und dem Begehren nach Katharsis aus Furcht vor einer Hypersemiose andererseits. 3. Psychoanalytische Perspektiven: Erinnern und Verdrängen 3.1 Die analytische Perspektive: Erinnern, Vergessen, Verdrängen Einen grundsätzlich anderen Zugang zum Erinnerungsvorgang bieten die psychoanalytischen Entwürfe zu diesem Thema. Mit der Unterscheidung von Bewusstsein und Unbewusstem ist in der psychoanalytischen Theorie der Grundstein für ein eigenes Verstehen von Erinnern und Vergessen gelegt. Das Unbewusste ist „die Gesamtheit aller Schwererinnerlichkeiten dessen, was einst bewusst erlebt wurde und dann unter besonderen Umständen so sehr dem Vergessen anheim fiel, dass es auf üblichem Wege, bei üblicher 48 Anstrengung nicht erinnert werden kann.“ Unbewusst sind demnach jene Vorgänge, die einstmals bewusst waren, in der Gegenwart aber für das Bewusstsein schwer oder gar nicht zugänglich, sondern nur noch an ihren spe49 zifischen Auswirkungen erkennbar sind. Das Unbewusste ist das aus dem 50 Bewusstsein Verdrängte (zum Begriff Verdrängung s.u.). Aus der Einführung der Unterscheidung von Bewusstsein und Unbewusstem ergibt sich jedoch nicht automatisch ein neues Verständnis der Begriffe Erinnern und Vergessen. Erst die Einordnung dieser Begriffe in die psychoanalytische Theorie des Bewusstseins und des Unbewussten kann die Differenz zur gedächtnispsychologischen Begriffsbestimmung aufweisen. Sigmund Freud erklärt Vergessen als Auswirkung der Tendenz, „die Erwe51 ckung von Unlust durch Erinnern zu vermeiden.“ Diese Sicht des Verges52 sens führt dazu, Vergessen als Verdrängen zu begreifen. Die Verdrängung ist der abwehrende Mechanismus, durch den affektbeladene, Unlust erweckende Erinnerung im Unbewussten gehalten wird mit der Folge, dass sie 53 im Bewusstsein nicht aufzutauchen vermag. Genau dieses „ ‚Nicht54 Auftauchen im Bewusstsein‘ “ bezeichnet David Rapaport als Vergessen im 48 49 50 51 52 53 54
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H. SCHEPANK: Unbewusstes, 388f. Vgl. a.a.O., 389. Vgl. J. LAPLANCHE/J.B. PONTALIS: Vokabular, 585. D. RAPAPORT: Gefühl, 180. Vgl. a.a.O., 203. Vgl. J. LAPLANCHE/J.B. PONTALIS: Vokabular, 582. D. RAPAPORT: Gefühl, 176.
Sinne der psychoanalytischen Theorie. Erinnern wird entsprechend als „Auftauchen im Bewusstsein“ verstanden. Was erinnert wird, ist in psychoanalytischer Perspektive weniger wählund steuerbar als es die gedächtnispsychologische Sichtweise behauptet. In psychoanalytischer Sicht werden maßgebliche Abläufe menschlichen Handelns und Vorstellens häufig vom Unbewussten beeinflusst und nicht vom Bewusstsein gesteuert. Die sogenannten Fehlleistungen sind als misslungene 55 Versuche von Vergessen anzusehen. Sie sind das Ergebnis der Verdrängungen und von daher als Erinnerungsphänomene besonderer Art zu verstehen. Akzeptiert man dieses Verständnis, dann wird eine Unterscheidung von Verdrängen und Vergessen fragwürdig, weil jedes Vergessen als ein in Wahrheit unbewusstes Verdrängen gedeutet werden kann. Auch das nicht Erinnerte (im Sinne von „nicht ins Bewusstsein Geholte“) geht nicht verloren. Statt es im Bewusstsein zu reproduzieren wird das Vergangene in Freuds Sicht in das Unbewusste verdrängt mit der Folge, dass es nicht sel56 ten Anlass zum Ausagieren einer zwanghaften Tat wird. Es stellt sich die Frage, ob ein Vergessen bei diesen Prämissen theoretisch überhaupt denkbar ist. Die Annahme, alles Erlebte und Erfahrene würde 57 behalten und nichts je vergessen, hielt Freud selbst zwar für absurd, die 58 Problematik ist gleichwohl wiederholt diskutiert worden. Freud hat klar gesehen, dass uns „das Vergessen rätselhafter geworden [ist] als das Erin59 nern.“ Durch die Konzeption des Unbewussten, in dem das scheinbar Vergessene als in Wahrheit Verdrängtes aufgefangen wird, wird die Deutung des Vergessens, die Verdrängung, vor den Vorgang des Vergessens geschoben. Zuspitzend formuliert: Die Verdrängung verdrängt das Vergessen. Verdrängung steht auf diese Weise als Schlüsselbegriff zwischen dem Verständnis von Erinnern und Vergessen. Verdrängen kann so keine Alternative zu Vergessen oder zu Erinnern sein. Das Konstrukt Verdrängen stellt vielmehr einen Versuch dar, die Vorgänge des Erinnerns und des Vergessens und vor allem ihre Störungen zu erklären. Als Formen von psychischer Störung sind verdrängte Erinnerung und misslungenes Vergessen für die psychoanalytische Betrachtungsweise von besonderem Interesse, ein Interesse, das auch erklärt, warum die psychoanalytischen Erklärungsversuche der Verdrängung und nicht, wie in der Gedächtnispsychologie, dem Erinnern und Vergessen gelten. Rapaport weist darauf hin, dass in der psychoanalytischen Literatur niemals der Versuch 55 A.a.O., 184. 56 Vgl. S. FREUD: Erinnern, 129: „Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.“ 57 Vgl. S. FREUD: Unbehagen, 426–428. 58 Vgl. z.B. D. RAPAPORT: Gefühl, 176: „Erstens zeigen psychoanalytische Untersuchungen meist, dass vielleicht nichts, was einmal erlebt worden ist, verlorengeht; infolgedessen liegt das Problem eher darin, wie Vergessen überhaupt möglich ist.“ Vgl. auch TH. REIK: Psychologe, 130. 59 S. FREUD: Psychopathologie, 148, zitiert nach D. RAPAPORT: Gefühl, 176.
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unternommen wurde, „eine systematische Theorie der Erinnerung vorzule60 gen“, wohl aber etliche Theorien der Verdrängung. 3.2 Der therapeutische Ansatz: Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten In seiner kurzen Schrift „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ hat Freud ein therapeutisches Erinnerungskonzept entwickelt. Er schildert hier die Probleme, die sich in einer Analyse-Situation ergeben, wenn es darum geht, die verborgenen, zumeist traumatisch besetzten Erlebnisse der Vergangenheit, die zu einer (psycho)somatischen Krankheit geführt haben, aufzudecken. Sowohl bei der analytischen Gesprächssituation als auch bei der älteren Technik der Hypnose gehe es darum, dass der Patient das Vergessene erinnere. Hierfür müsse der Widerstand vom Therapeuten entdeckt, benannt und vom Patienten überwunden werden. Der Widerstand fungiere im Blick auf das Vergessene – genauer gesagt: das Verdrängte – wie eine 61 Absperrung. Mustergültig sei dieses Schema der Überwindung des Widerstandes bei der älteren Hypnosetechnik zu erkennen. Ihr Ziel, das „Erinnern 62 und Abreagieren“, wurde gewissermaßen unter Laboratoriumsbedingungen erreicht. Mit der neueren Technik des Analyse-Gesprächs ergebe sich hingegen eine Art Arbeitsteilung, bei der dem Arzt die Aufgabe zukommt, die dem Kranken unbekannten Widerstände aufzudecken, so dass dieser wiederum die verdrängten Situationen und Zusammenhänge erinnern und schließlich erzählen kann. Ziel ist die Ausfüllung der Erinnerungslücken. Die Hauptschwierigkeit auf dem Weg dahin ist, dass der Analysierte zunächst überhaupt nichts von dem Verdrängten bewusst erinnert. Vielmehr agiert er es, das heißt: „Er reproduziert es nicht als Erinnerung, sondern als 63 Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, dass er es wiederholt.“ Diese Wiederholung der Erinnerung vollzieht sich an einem anderen als dem ursprünglichen Objekt. Im Gespräch agiert der Patient die Erinnerung in der Regel am Arzt aus. Dieser Objektwechsel wird Übertragung genannt. Es ist also nicht so, dass der Patient nicht erinnert. Mittels der Verdrängung hat die Erinnerung eine neue Form bekommen: Sie wird ausagiert im Zwang zur Wiederholung bestimmter Handlungen und Vorstellungen. Die Erinnerung an die traumatische, unbewältigte Vergangenheit hat ihre Erscheinungsform gewechselt. Erinnern ist nun die Wiederholung „unter den 60 D. RAPAPORT: Gefühl, 176. Vergessen als Begriff findet sich nicht unter den 331 Fachbegriffen, die im Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche/Pontalis aufgeführt sind; was die psychoanalytische Theorie unter Verdrängung versteht, wird in der gedächtnispsychologischen Literatur meist unter „motivationalem Vergessen“ beschrieben. Hierbei wird auch die empirische Nachweisbarkeit des Phänomens Verdrängung diskutiert. Vgl. T. GOSCHKE: Gedächtnis, 608ff. 61 FREUD: Erinnern, 127. 62 A.a.O., 126. 63 A.a.O., 129.
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Bedingungen des Widerstandes.“ In dieser Wiederholung erweist sich, dass die verdrängte Vergangenheit keine „historische Angelegenheit“ ist, 65 sondern „eine aktuelle Macht“. Er konstatiert: „Das Wiederholenlassen während der analytischen Behandlung nach der neueren Technik heißt ein Stück realen Lebens heraufbeschwören und kann darum nicht in allen Fäl66 len harmlos und unbedenklich sein.“ Es komme darauf an, am Moment der ausagierten Wiederholung, der Übertragung, mit dem Patienten zu arbeiten. Der Patient soll gewissermaßen alle Wiederholungen frei und ungestört an einem vom Arzt kontrollierbaren Übertragungsobjekt ausagieren, um so einen Zwischenbereich zwischen Krankheit und Leben zu schaffen. Anhand jenes Artefakts Übertragung schließlich – sowohl ein Stück Realität 67 als auch ein Konstrukt, eine „artifizielle Krankheit“ – lasse sich in die zwanghaften Wiederholungen eingreifen und der Widerstand des Patienten gegenüber der Verdrängung brechen. So wird die Absperrung gegenüber dem „Vergessenen“ aufgehoben und der eigentliche Prozess des Durcharbeitens beginnt: Die Erinnerung, die Auffüllung der Erinnerungslücken, die Aufdeckung der verdeckten Triebregungen. Der Wandel des Verdrängten in Erinnerungen, der Wandel vom Wiederholungszwang durch Übertragung hin zur Aufdeckung der ursprünglichen Erinnerung ist das therapeutische Ziel. Im Erinnern und Erzählen der „Erinnerungslücken“ sind Ziel und therapeutische Methode eins. Wir halten fest: Die psychoanalytische Theorie nimmt eine Neubestimmung der Vorstellung von Erinnern und Vergessen vor. Erinnern wird als „Auftauchen“ von Vergangenem im Bewusstsein verstanden, Vergessen als „Nicht-Auftauchen“ im Bewusstsein wird als Verdrängen unangenehmer Erinnerungen ins Unbewusste erklärt. Vergessenes wird in Wahrheit verdrängt. Es wird wiederholt, zwanghaft ausagiert und so erinnert. Freud entwirft ein therapeutisches Konzept heilsamen Erinnerns, bei dem der Patient befähigt wird, die durch Verdrängung entstandenen Erinnerungslücken zu schließen. Er wird von seinem Zwang zur unbewussten Erinnerung, der Wiederholung, mittels der bewussten Erinnerung befreit. 4. Phänomenologische Perspektive: Einheilendes Erinnern und Weinen Der Philosoph Hermann Schmitz entfaltet in seinem „System der Philosophie“ eine Sicht der Vorgänge Erinnern und Vergessen, die dem psychoanalytisch-therapeutischen Ansatz verwandt ist. Die therapeutische Komponen68 te kommt in der von ihm geprägten Wendung „einheilende Erinnerung“ 64 65 66 67 68
A.a.O., 131. Ebd. A.a.O., 131f. A.a.O., 134. Vgl. H. SCHMITZ: Leib, 226.236.
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besonders prägnant zum Ausdruck. Allerdings werden die Begriffe Erinnern und Vergessen bei Schmitz im Kontext einer Philosophie entwickelt, die sich der phänomenologischen Methode bedient und dabei andere Schwer69 punkte als die Psychoanalyse setzt. Schmitz will der psychologistischreduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung der Welt ein Begreifen entgegensetzen, bei dem der wichtigste „Kunstgriff der Zersetzung, die Introjektion, rückgängig gemacht und namentlich die leiblichen Regungen und die Gefühle (als ergreifende Mächte und Atmosphären) aus 70 ihrer Verbannung in die Seele erlöst“ werden. Das Hauptwerk von Schmitz ist sein „System der Philosophie“ (5 Bände in 10 71 Teilbänden, Bonn 1964–1980). Seine „Neue Phänomenologie“ widmet sich der Aufgabe, „die Abstraktionsbasis der Theorie- und Bewertungsbildung tiefer in die 72 unwillkürliche Lebenserfahrung hineinzulegen.“ Philosophie ist hierbei das 73 „Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung.“ Schmitz grenzt sich radikal gegen die klassische Philosophie ab, deren Denken zu einer falschen Vergegenständlichung der Welt führe, hinter der das leibliche Betroffensein zurückbleibe. Das Werk von Schmitz stellt in gewisser Hinsicht die Position eines Außenseiters dar. Für mich ist es an dieser Stelle deshalb von besonderem Interesse, weil es einen Blick auf die leibliche Dimension von gemeinhin nur innerpsychisch verstandenen Vorgängen liefert. In dieser Hinsicht sind die Schmitzschen Ausführungen fruchtbar für eine integrative therapeutische Praxis und finden Aufnahme 74 im psychotherapeutischen Bereich.
Erinnerung wird von Schmitz nicht als innerpsychologischer Vorgang begriffen, sondern in engem Zusammenhang mit der Leiblichkeit des Menschen gesehen. Zur Veranschaulichung führt Schmitz die Situation des elementar-leiblichen Betroffenseins an, wie es im Zusammenschrecken 75 begegnet. Schmitz formuliert: „Leiblich sein heißt: erschrecken können“; und – vom konkreten Phänomen Schreck abstrahierend: „Im elementarleiblichen Betroffensein tritt Gegenwart als das Plötzliche hervor, das ein 76 Kontinuum der Dauer zerreißt.“ Dieses „Plötzliche“ bezeichnet Schmitz als den absoluten Augenblick, hinter den einerseits die Vergangenheit vage, verschwommen und vieldeutig zurücktritt, und in dem andererseits das Ich dem Einbruch des Kommenden ausgesetzt ist, das sich unvermeidlich und eindeutig ereignet. Symptomatisch für den in der leiblichen Betroffenheit 69 Vgl. zu Schmitz’ eigener Einordnung und Beschreibung der Methode: DERS.: Gegenwart, 138–142. 70 H. SCHMITZ: Person, XIII. 71 Dieser Terminus fällt an verschiedenen Orten als Selbstbezeichnung, vgl. H. SCHMITZ: Raum, 7ff; vgl. H. SCHMITZ: Phänomenologie. 72 H. SCHMITZ: Raum, 7. 73 H. SCHMITZ: Gegenstand, 5. 74 Vgl. H. GAUSEBECK u.a.: HERMANN SCHMITZ: Leib und Gefühl, 8. 75 H. SCHMITZ: Leib, 219. 76 H. SCHMITZ: Der leibliche Raum, 21.
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wahrgenommenen absoluten Augenblick ist, dass die klassischen Brücken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft, Erinnerung und Erwartung, versperrt bleiben. So markiert der „Riss“ für diesen Moment einen Abgrund zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der auch von der Erinnerung nicht überwunden werden kann. 4.1 Erinnern und Vergessen 77
Die Erinnerungen gehören für Schmitz zur „persönlichen Situation.“ Wie ein Kometenschweif ziehe der Mensch die Masse seiner Erinnerungen mit sich. Ihr wesentliches Merkmal, das sie von einer bloßen Vergegenwärtigung unterscheidet, ist die Subjektivität des erinnerten Sachverhalts. Beim Erinnern findet auf dem Weg der Vergegenwärtigung die Freisetzung (Explikation) eines einmal erlebten Sachverhalts statt, eines Sachverhalts, der zur persönlichen Situation gehört. Diesem Vorgang geht die Implikation jenes Sachverhaltes in die persönliche Situation voraus. Diese Implikation kann auf verschiedene Art und Weise stattfinden. Für unseren Zusammenhang bedeutsam ist hier: Als implizierende Leistung wird von Schmitz unter anderem das Vergessen charakterisiert: „Die gewöhnlichste Form von Implikation in die persönliche Situation ist aber das Vergessen. Vergessen ist kein Verlieren, sondern ein Behalten durch Wechsel des Mannigfaltigkeits78 typus.“ Wechsel des Mannigfaltigkeitstypus meint: Einzelnes streift durch Einschmelzung in chaotisch Mannigfaltiges seine Anzahl ab und kann gleichfalls in umgekehrter Richtung wieder vereinzelt werden. Vergessen ist, so Schmitz ausdrücklich, kein Verschwinden, sondern Einschmelzung individueller Mannigfaltigkeit in chaotische. Es ist ein beständiger, unauffälliger Vorgang. Die Pointe dieses Verständnisses von Vergessen bringt Schmitz zum Ausdruck, wenn er formuliert: „Hier, im persönlichen Charakter, sind Vergessen und Behalten eins, nämlich die [...] besprochene Implikation, die wie beim Singen Fälle von Identität und Verschiedenheit in chaotische Verhältnisse auflöst, und die so genannteWeckung einer Erinnerung ist die dazu 79 gegenläufige Explikation.“ Eine weitere Pointe ist, dass die Erinnerung auch ohne ihre explizite und explizierende Weckung besteht, und zwar in der Lebenswirkung, in die sie implizit übergegangen ist. Diese Lebenswirkung ist der persönliche Charakter eines Menschen, in dem Erinnertes sich nicht einzeln abheben muss. Es kann auch vergessen sein, weil Vergessen (nur) ein reversibler Wechsel des Mannigfaltigkeitstyps ist. Die Weckung der Erinnerung, ihre Explikation braucht es gemeinhin nicht, damit das als 77 Vgl. a.a.O., 225. Zum Unterschied von persönlichem Charakter und persönlicher Situation vgl. DERS.: Person, 297. 78 H. SCHMITZ: Leib, 226. 79 DERS., Person, 362.
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Vergessenes Behaltene gegenwärtig wirkt, denn, so Schmitz: „Spätestens in der persönlichen Situation, gewöhnlich aber schon in kleineren Komplexen, findet sich das Erinnerte, und sei es auch vergessen, in seiner Ganzheit [...] 80 zusammen.“ In diesem Sinne kann Schmitz sogar die Erinnerung selbst als „behaltendes Vergessen“ bezeichnen, nämlich als Implikation in den per81 sönlichen Charakter bzw. in die persönliche Situation. Die besonders prägenden Erinnerungen bezeichnet Schmitz als Kristallisationskerne der Erinnerung. Ihre Wirkung hängt kaum an der Weckung im Sinne einer expliziten Reproduktion. Die Kristallisationskerne kommen 82 und gehen, „steigen, strahlen und wühlen“, wenn sie erst einmal in die persönliche Situation übergegangen sind. Mit der Vorstellung einer Lebenswirkung ist Schmitz nahe an der – klassischen – Verknüpfung von Erinnern und Lernen: Erinnerung ist das implizite Steuerungselement jeglichen Lernens, das die Implizierung des Erinnerten voraussetzt. Zur Persönlichkeit gehört für Schmitz nicht nur die Erinnerung, die die Person wie einen Kometenschweif vergessend und bewahrend mit sich zieht und die seinen persönlichen Charakter ausmacht. Zur Persönlichkeit einer Person gehört auch ihre leibliche Disposition. Sie hat wesentlichen Anteil daran, wie Erinnerungen verarbeitet werden können und wie sie im persönlichen Charakter zum Ausdruck kommen. Daneben tritt der Beitrag, den das aktuelle leibliche Geschehen bei der Erinnerungsverarbeitung zu leisten vermag. Hier hebt Schmitz den herausragenden Beitrag des Weinens hervor. Diesem Zusammenhang von Leib und Erinnerung wende ich mich im folgenden Abschnitt zu. Indem das Verständnis von Erinnern und Vergessen im leiblichen Zusammenhang expliziert wird, wird die therapeutische Intention des Schmitzschen Konzepts deutlich. 4.2 Weinen – Leiblicher Begleiter der Erinnerung Schmitz betrachtet das Weinen wie auch das Lachen als Künste der Natur, als Gestaltungen personaler Regression im Dienste personaler Emanzipation. Das Lachen vergleicht Schmitz mit einer Bauchwelle am Reck: „Es ist die Kunst, im Sich-fallen-lassen, in der Preisgabe an die Übermacht eines spontan ausbrechenden leiblichen Impulses, so viel Schwung für den Absturz in personale Regression zu nehmen und diesen so zu wenden, dass er im Triumph zur Erhebung auf ein Niveau personaler Emanzipation zurück83 führt.“ Anders das Weinen: In ihm geht es um ein Entkommen aus bedrängender, leiblich spürbarer Enge. Indem der Weinende, sich als personales Subjekt preisgebend, auf die Enge des Leibes hin abstürzt, findet er 80 81 82 83
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DERS., Person, 363. Vgl. H. SCHMITZ, Person, 484. A.a.O., 365. H. SCHMITZ: Leib, 234.
Anschluss an die Weite, in die diese Enge eingebettet ist. Der diffuse, gelöste, weiche Zustand des leiblichen Befindens ist das Ziel, auf das der Weinende zuläuft, um sich dann – nach dem Aus-weinen – zu neuer Engung und personaler Emanzipation sammeln zu können, wobei der Zustand des Weinens selbst ihm diese Sammlung nicht zumutet. Charakteristisch für das Weinen ist, dass sich die Gelegenheit zum Absprung in die personale Regression für den Bedrängten meist nicht auf der Spitze der Bedrängnis bietet, sondern erst, wenn diese Bedrängnis sich gelockert hat, aber zugleich noch so nachwirkt, dass es schwer auszuhalten ist. Schmitz führt als Beispiel hierfür den Bericht einer Frau an, die nach kurzer Verschüttung im Luftschutzkeller die Vernichtung ihres Hauses im überstandenen Bombenangriff bemerkt: „Nach vielleicht weiteren 15 Minuten kamen wir dann heraus. Das Nebenhaus brannte und unser Haus war ganz zerstört. Als ich das sah, löste sich bei mir die Spannung und ich musste heftig weinen. In diesem Augenblick kam mir erst voll zu Bewusstsein, in welcher Gefahr wir gewesen wa84 ren.“
Weinen ist vergangenheitsträchtig, es ist auf eine Geschichte bezogen, „die es hinter sich hat, wie der Gestrandete das Meer, ehe er sich an Land zu85 rechtgefunden und den Schiffbruch abgetan hat.“ Weinen ist zu einem wesentlichen Teil Abschiednehmen, Zurücklassen von Vergangenheit. Es ist zugleich so etwas wie Wiedergeburt, weil das, wovon Abschied genommen wird, zu chaotisch Mannigfaltigem, zu zerfließender, der Schärfe beraubter Unbestimmtheit wird. So entsteht die Gelegenheit zu einem neuen Anfang. Da das Neue hinter diesem Anfang noch vage erscheint, spricht Schmitz von einer doppelten Entlastung: Entlastung einerseits von der vormals bedrängenden Enge und andererseits von einem nicht minder beengenden Neuen. Diese Entlastung ist charakteristisch für das Weinen, dessen Ziel nicht wie beim Lachen eine „restitutio in statum integrum (aut firmio86 rem)“ ist, sondern die Möglichkeit des Neuanfangs. Zusammenfassend lässt sich sagen: Für Schmitz gehören Erinnerungen zur persönlichen Situation. Wie einen Kometenschweif zieht der Mensch die Masse seiner Erinnerungen in seinem persönlichen Charakter mit sich. Erinnern ist in der Regel ein Vorgang im Rahmen der personalen Explikation. Vergessen ist demgegenüber ein Einschmelzen, ein Implizieren eines einmal Gewesenen in die persönliche Situation. Vergessen ist kein Verlieren oder Verschwinden des Erinnerten. Im Gegenteil: Auf dem Wege des Vergessens wird das Erinnerte bewahrt und erhält seine Wirkung auf die Lebenssituation. Weil das Erinnerte nicht permanent expliziert wird, kann es als eingeheilt, als vergessen und zugleich bewahrt begriffen werden. Schmitz treibt in diesem Zusammenhang die Dialektik von Vergessen und Erinnern auf die Spitze. Daneben beschreibt Schmitz Erinnern und Vergessen in ih84 H. SCHMITZ: Person, 127. 85 A.a.O., 128. 86 Ebd.
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rem leiblichen Kontext. Es gibt charakteristische Formen leiblichen Geschehens als Begleiter der Vorgänge Erinnern und Vergessen. Schmitz nennt hier vor allem das Weinen. Es ist vergangenheitsträchtig, denn es stellt die leibliche Form des Abschieds von dem durch einen Riss von der Gegenwart abgeschiedenen Gewesenen dar. Weinen ist der leibliche Begleiter eines implizierenden, bewahrenden Vergessens, das die Voraussetzung einheilenden Erinnerns ist. 5. Geschichtsphilosophische Perspektiven: Wahrheit und Methode 5.1 Die Spannung von Wahrheit und Methode Wie jede Vermittlungsinstanz ist auch die Erinnerung in sich selbst einer dialektischen Struktur unterworfen. In der phänomenologischen Theorie von Schmitz wird dies deutlich im Begriff der Lebenswirkung. Die Erinnerung wirkt auch dort, wo sie als Vergessenes bewahrt bleibt. Mein Blick auf die (abendländische) philosophische Betrachtung der Erinnerung setzt an diesem Punkt dialektischer Verschränkung ein. Sie ergänzt die gedächtnispsychologische, die psychoanalytische und die phänomenologische Be87 trachtung nicht nur, sie ist diesen Perspektiven vorgängig. Der Vorgang des Erinnerns ist in der griechischen Philosophie nicht vom Erinnerten selbst, also der Substanz des Erinnerungsvorganges, zu trennen, weil der Mensch den Begriff des Vergangenen erst dadurch lernt, dass er sich erinnert. Auf dem Hintergrund dieser Einsicht hat sich die platonische Anamnesislehre entfaltet. Ihre Grundaussage ist, dass das menschliche Suchen und Lernen ganz und gar Anamnesis ist. Mit anderen Worten: Der Begriff der Erinnerung führt zur Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnisvermittlung und damit von Erkenntnis überhaupt. Diesen Zusammenhang betont Johann Baptist Metz: „Die Begründung von Vernunfterkenntnis aus vorgewusster Wahrheit – vorgewusst im Modus der Vergessenheit und deshalb ‚wiedererinnert‘ mit Hilfe des maieutischen Verfahrens 88 – leitet die ‚apriorische‘ Vernunft- und Erkenntnismetaphysik ein.“ Auf diesem Hintergrund nimmt die Vorstellung der Erinnerung ihren Ausgangspunkt als Grundbegriff abendländischer Philosophie im Vermitt89 lungszusammenhang von Vernunft, Geschichte und Wahrheit. Zum Gegenstand theologischer (und eben nicht mehr nur philosophischer) Reflexion wird die Erinnerung in den Konfessionen Augustins. Hier wird die Reflexion weiter in die Innerlichkeit vorangetrieben. Es werden nicht die 87 Vgl. C. VON BORMANN: Erinnerung, 636. 88 J.B. METZ: Erinnerung, 164; vgl. auch M. ELIADE: Mythologie, 36: „Lernen bedeutet für Plato letzten Endes sich erinnern [...]“ 89 Vgl. J.B. METZ: Erinnerung, 162; vgl. C. VON BORMANN: Erinnerung, passim.
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Ideen erinnert, sondern das Erinnern selbst. „Das heißt“, so Claus von Bormann, „die memoria ist der Ort, in dem wir immer schon in die Wahr90 heit hineingebunden sind und wo wir darum Gott finden.“ Der hohe Stellenwert des Erinnerungsbegriffes bei der Vermittlung von göttlicher Wahrheit und menschlichem Sein ist keine exklusive Entdeckung christlich-abendländischer Philosophie. Schon in Israel wird der Erinnerung ein entscheidender Platz bei der Erkenntnis göttlicher Offenbarung zugemessen. Auf diesen Zusammenhang hat der amerikanische Religionsphilosoph Yosef Haim Yerushalmi in seinem Buch „Zachor – Erinnere Dich!“ hingewiesen. Er hebt die singuläre Bedeutung der Erinnerung für Israels Glauben und Existenz heraus. „Nur in Israel, nirgends sonst, empfindet ein 91 ganzes Volk die Aufforderung, sich zu erinnern, als religiösen Imperativ.“ Auch Assmann hat wiederholt die konstitutive Bedeutung der Erinnerung für das Selbstverständnis Israels hervorgehoben. Im Rahmen seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses (s.o. I. 2.2) erklärt er: „Religion im deuteronomistischen Sinne ist eine artifizielle Steigerungsform der ‚memoire collec92 tive‘.“ Assmann will aus diesem „Modell der Religion im alten Israel“ das Wesen der Religion schlechthin ableiten, als deren Hauptmerkmal er eine durch den Vorgang des Erinnerns konstituierte „anachrone Struktur“ ansieht. Die Funktion der Religion sei es, mittels Erinnern, Vergegenwärtigen und Wiederholen das zu vermitteln, was vergangen ist, aber den Ursprung des Heute darstellt. Insofern sei „Rück-bindung, Erinnerung, bewahrendes 93 Gedenken [...] der Ur-Akt der Religion.“ Für beide hier nur en passant angedeuteten Erinnerungskulturen, die philosophisch-abendländische und die religiös-alttestamentliche, gibt es Gründungslegenden. Sie stellen in ihrer narrativen Gestalt eine Art von Urgedenken dar. Für die abendländische Erinnerungskultur gilt als Gründungslegende die so genannte Simonides-Geschichte, die von Cicero erzählt (und von Anselm Haverkamp nacherzählt) wird: „Besagter Simonides, der [...] die ars memoriae erfunden haben soll, überlebt den Einsturz einer Festhalle, in der er eben noch zur Feier des Tages sein Gedicht vorgetragen hat. Weil der Gastgeber und seine Verwandten bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind, wird ihre Identifizierung nötig. Das individuelle Begräbnis der Toten einer entstellenden Katastrophe ist der tiefsinnige Anlass der mnemotechnischen Übung, die einzig der Dichter mit seiner Routine im Memorieren von Texten zu vollbringen weiß. Er allein weiß sich die Sitzordnung zu vergegenwärtigen
90 C. VON BORMANN: Erinnerung, 636f; vgl. AUGUSTINUS: Confessiones, Buch X, passim; besonders 545. 91 Y.H. YERUSHALMI: Zachor, 22. 92 J. ASSMANN: Gedächtnis, 214; vgl. hier zum Begriff „artifiziell“ auch ebd. die Anm. 38. 93 A.a.O., 227.
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– [...] und Ciceros Antonius referiert sie allein der Pointe wegen, dass es bei der 94 rhetorischen memoria am meisten auf die Ordnung der Dinge ankomme.“
Hier geht es um die Verräumlichung der Erinnerung. Ein Erinnerungskünstler weiß alle Daten in einem imaginären Raum anzuordnen und mit Hilfe dieses Raumbildes zusammen auch wieder abzurufen. Die Gründungslegende für die jüdische – und dann auch jüdischchristliche – Welt ist die Geschichte von der Auffindung des Buches Deuteronomium. Assmann erzählt die Geschichte König Josias (2 Kön 22–23): „Dem Bericht in 2.Kg 22,2–13 zufolge ‚fand‘ der Hohepriester Hilkia im Tempel von Jerusalem bei Reparaturarbeiten ein offenbar völlig in Vergessenheit geratenes sogenanntes ‚Buch der Torah‘ (sefer ha-torah) oder ‚Buch des Bündnisvertrags‘ e 95 (sefer ha-b rit). Als es dem König vorgelesen wurde, zerriss dieser seine Kleider in einer Geste heftigen Entsetzens. Denn dieses Buch enthielt nicht nur bis ins einzelne spezifiziert die ‚Gebote, Zeugnisse und Statuten‘ des Vertrages, den der Herr mit Israel geschlossen hatte, sondern dazu auch noch schwerste Verwünschungen für den Fall der Nichtbeachtung. Alle Drangsale und Schicksalsschläge der Vergangenheit und Gegenwart wurden nun als göttliches Strafgericht offenbar. Denn die religiöse und politische Praxis des Landes stand im krassesten Gegensatz zu 96 dem, was in diesem Vertrag gefordert wird.“
Wie bei Simonides bildet eine Katastrophe den Hintergrund der Geschichte. Sie wird hier aber nicht als drohende Ursache für ein Vergessen dargestellt, sondern als Konsequenz aus dem Vergessen vorhergesagt. In diesen Szenen spiegelt sich die Urerfahrung eines Bruches in der Zeit, „in der sich die Entscheidung zwischen Verschwinden und Bewahren 97 stellt.“ Die Urerfahrung eines solchen Zeitbruches schlechthin ist der Tod. Durch den Charakter der radikalen Endlichkeit, der Unfortsetzbarkeit, „gewinnt das Leben die Form der Vergangenheit, auf der eine Erinnerungs98 kultur aufbauen kann.“ Das Totengedenken darf als die ursprünglichste und verbreitetste Form der Erinnerungskultur gelten. Auf diesen Zusammenhang von Erinnerungskultur und Totengedenken weist auch Haverkamp in seiner Auslegung der Simonides-Geschichte hin. Der Anlass der Geschichte, der Einsturz der Halle und die notwendige Identifizierung der Toten, übertreffe die Vordergründigkeit ihrer Pointe, – dass es bei der ars memoriae auf die räumliche Ordnung der zu erinnernden Dinge im Gedächtnis ankomme –, um Längen. So könne es zwar passieren, dass man über dem technischen Problem (wie identifiziert man aus dem Gedächtnis) den Anlass (die Katastrophe des Einsturzes der Halle) aus den Augen verlie94 A. HAVERKAMP: Auswendigkeit, 26. 95 Hier klingt die exegetische Auslegung von N. LOHFINK: Dtn 26, 17–19, und K. e BALTZER: Bundesformular, durch, die b rit mit Vertrag im Sinne von gegenseitiger Verpflichtung wiedergeben. Anders sieht dies L. PERLITT: Bundestheologie, passim. 96 J. ASSMANN: Gedächtnis, 215f. 97 A.a.O., 33. 98 Ebd.
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re, dieser werde indessen in der vordergründigen Wiederholung der Geschichte mitüberliefert. Dies mache die untergründige Faszination der Geschichte aus. Er folgert: „Die sichere ‚Aufhebung‘ der Memoria-Motivation in der Vordergründigkeit der mnemotechnischen Pointe kann nämlich 99 selbst als das Exempel eines mnemotechnischen Erfolges gelesen werden.“ Die Geschichte vom Dichter Simonides ist in doppelter Hinsicht grundlegend für das Verständnis von Erinnerung: Der Einsturz der Halle markiert den Ursprungs-Moment und exemplifiziert die Modalitäten, auf die sich abendländische Gedächtniskunst bezieht. Die Frage nach Wahrheit und ihre methodische Erschließung im Modus der Erinnerung sind in dieser Geschichte gleichsam eingraviert, weil die der Methode eingeschriebene Wahrheit als Ursprung und Motiv ihrer selbst tradiert werden. In der Gestalt, in der die Geschichte diesen Zusammenhang herzustellen vermag, „bleibt sie“, so Haverkamp, „ganz sie selbst: Methode, nicht Wahrheit. Dass 100 sie ihre Wahrheit nicht ist, macht sie wahr im Gedächtnis der Rhetorik.“ Mit dieser Analyse kehren wir zur ursprünglichen Frage des Vermittlungszusammenhanges, der sich im Begriff der Erinnerung stellt, zurück. Es geht im Begriff der Erinnerung nicht allein um eine ausschließlich technische, gedächtnispsychologisch erfassbare Fähigkeit der Vermittlung von Vergangenem. Es geht auch um die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. In diesem Spannungsfeld von Wahrheit und Methode kommt der Erzählkunst ihre eigene, unverzichtbare Rolle zu. Diese Rolle, in der Gestalt des Dichters Simonides immer wieder miterzählt, ist „aus der Geschichtsschreibung, in der doppelten Bedeutung von Geschichte und Erzählung, in den Institutionen kollektiven Gedenkens und öffentlicher Repräsentation 101 nicht wegzudenken.“ 5.2 Die Aufgabe der Geschichtsschreibung Auf dem Hintergrund des spannungsvollen Geflechts von Wahrheit und Methode im Bereich der Erinnerung erlangen die Formen und Gestalten der Erinnerung besonderes Interesse. Es gibt zahlreiche kulturelle Erinnerungsformen: Denkmäler, Mythen, Städtebau, Ahnenmasken, Memoriabücher, Museen, Fotos, Filme, Musik. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Der Begriff der Kultur, der hier im Hintergrund steht, bezieht sich sowohl auf die Denkformen, Mentalitäten und geistigen Haltungen, die in einem Kollektiv vorkommen, als auch auf die aus ihnen resultierenden Formen des sozialen Handelns. Alle diese Hervorbringungen können als Form begriffen werden, in denen kollektive Erinnerung Gestalt erlangt. In diesem Sinne will Otto Gerhard Oexle das Stichwort der „Memoria als Kultur“ verstan99 A. HAVERKAMP: Auswendigkeit, 26. 100 Ebd. 101 A. HAVERKAMP: Hermeneutischer Prospekt, XV.
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den wissen als die im Lauf der Zeit für Individuen und Gruppen spezifischen, immer wieder anders geprägten „Formen der Erinnerung im Denken und Handeln, in Philosophie und Liturgie, in der Geschichtsschreibung wie 102 in der Kunst.“ Auch hier gilt die beschriebene dialektische Spannung von Wahrheit und Methode: Kultur ist Ausdrucksform der Erinnerung und innerhalb jeder kulturellen Hervorbringung ist die Erinnerungsgestalt das beschreibende Medium des Hervorgebrachten. Erinnerung ist die Substanz des Erinnerten und sie ist zugleich die Formgebung des Erinnerten im Erinnern. Der Geschichtsschreibung kommt ein besonderer Ort in der mnemonischen Selbstkonstruktion einer Kultur zu. Sie soll an dieser Stelle näher betrachtet werden, weil sich in ihr die bisherigen Überlegungen bündeln. Die Gestalt der Geschichte als Erzählung kann als das mnemotechnische Paradigma unserer Kultur bezeichnet werden. Der Umgang einer Gesellschaft mit ihrer Geschichte – ihre Bewältigung oder Verarbeitung – ist in gewisser Hinsicht der Indikator ihres eigenen Zustandes. Der historiographischen Betrachtungsweise ist eine über diesen Selbstbezug hinausgreifende Tendenz eigen. Sie zeigt sich da, wo zunächst gar nicht nach einem Sinn der Geschichte gefragt ist. In der ursprünglich religiösen Wertung des Gedächtnisses wie in der modernen Historiographie geht es für Eliade um die Bedeutsamkeit umfassender Rückerinnerung an die Vergangenheit. Bei allen Unterschieden gebe es einen gemeinsamen Zielpunkt: „Beide Arten der Anamnese aber lassen den Menschen aus seinem ‚ge103 schichtlichen Augenblick‘ heraustreten.“ Für Eliade hat die moderne Geschichtsbetrachtung nicht nur einen sinnhaften, sondern einen sinnstiftenden Aspekt. Auf dem Wege der Erinnerung wird über die Zeit hinweg vermittelt, so dass die vergangene Zeit nicht als abgeschlossen, sondern als gegenwärtig erscheint. Durch diese Vergegenwärtigung der Vergangenheit verändert sich das Selbstverständnis dessen, der sich erinnert. Erinnerung und Geschichte (als Geschichtserzählung) sind bei der Betrachtung nicht in eins zu setzen. Geschichte in Form von historischer Darstellung ist eine spezifische Art des Rückgriffs auf die Vergangenheit und ihrer Vermittlung. Für Yerushalmi leistet – zumindest die jüdische – Geschichtsschreibung nicht nur eine Vermittlung über die Brüche innerhalb der Geschichte hinweg. Sie ist auch Ausdruck dieser Brüche im Blick auf die Vergangenheit. Der moderne Versuch, so Yerushalmi, „die jüdische Vergangenheit zu rekonstruieren, beginnt zu einer Zeit, in der die Kontinu104 ität jüdischen Lebens einen tiefen Bruch erfährt.“ Mit Worten von Eugen Rosenstock-Huessy macht Yerushalmi das Verhältnis zwischen den Brüchen und der modernen Geschichtsschreibung deutlich: „Der Historiker ist der Arzt des Gedächtnisses. Seine Ehre ist die Heilung von Wunden, von ech102 O.G. OEXLE: Memoria, 7. 103 M. ELIADE: Mythologie, 47. 104 Y.H. YERUSHALMI: Zachor, 92.
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ten Wunden. Wie der Arzt unabhängig von medizinischen Theorien einfach deshalb handeln muss, weil der Patient krank ist, so steht der Historiker unter dem moralischen Druck, durch sein Handeln das Gedächtnis ei105 nes Volkes oder das der ganzen Menschheit wiederherzustellen.“ In diesem Verständnis von Geschichte als Vermittlung von Identität in Kri106 senzeiten, bis hin zu dem religiösen Wert, den sie dabei gewinnt, offenbart sie einen durchaus heilsamen, gleichsam rettenden Charakter. Solch rettender Charakter tritt auch in dem in Anschluss an Joachim Ritter von Hermann Lübbe und Odo Marquard vertretenen Kompensationstheorem zu Tage. Es besagt, dass die durch die experimentellen Wissenschaften vorangetriebene Modernisierung einen lebensweltlich unwiederbringlichen Verlust verursache. Denn die experimentellen Wissenschaften gewönnen ihren Erkenntnisfortschritt durch eine Neutralisierung der lebensweltlichen Traditionen und somit durch einen methodisch bedingten Verzicht auf die geschichtlichen Herkunftswelten der Menschen. Das führe zu einer problematischen Konstellation, „weil zunehmend der lebensweltliche Bedarf der Menschen nicht mehr gedeckt wäre, in einer farbigen, ver107 trauten und sinnvollen Welt zu leben.“ Hieraus resultiert die entscheidende Maxime für ein Verstehen der modernen Welt: „Dieser Verlust ruft 108 nach Kompensation.“ Diese leisteten die Geisteswissenschaften und an ihrer Spitze die Geschichtswissenschaft, indem sie – nicht modernisierungsfeindlich, sondern modernisierungsermöglichend – die Kunst der Wiedervertrautmachung fremd werdender Lebens- und Herkunftswelten vollführe. Diese Kunst beruhe auf dem hermeneutischen Vermögen der Geisteswissenschaften: „Durch sie sucht man in der Regel für Fremdgewordenes einen vertrauten Kram, in den es passt; dieser Kram ist fast immer eine Geschichte. Denn die Menschen: Das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss 109 man erzählen.“ Mit dem Begriff der Kompensation wird hier eine Funktion der Geistes- und speziell der Geschichtswissenschaft beschrieben, die Marquard sehr ernst ist: Die Rettung des Menschen vor dem Tod durch Identitäts-, weil Herkunfts- und Orientierungslosigkeit. Diese Rettung könne nur durch das Erzählen von Geschichten geleistet werden, denn 110 „sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie.“ In der modernen Gestalt der Erinnerung geht es also um Heil, um Ganzheit, um verlorenen Sinn und verlorene Identität. Die Erinnerung bekommt soteriologische Qualität. 105 Y.H. YERUSHALMI: Zachor, 100. (Y.H. Yerushalmi zitiert hier E. RosenstockHuessy) 106 Vgl. Y.H. YERUSHALMI: Zachor, 92: „Dabei fällt dann der Geschichte eine völlig neue Rolle zu – sie wird zum Glauben ungläubiger Juden.“ 107 O. MARQUARD: Unvermeidlichkeit, 104. 108 A.a.O., 105. 109 A.a.O., 105. 110 Ebd.
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Wir halten fest: Der Vorgang des Erinnerns ist nicht vom Erinnerten selbst zu trennen. Der Begriff der Erinnerung führt zur Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und ihrer Vermittlung. Die Gründungslegenden der Geschichte des Erinnerns zeigen in ihrer narrativen Gestalt: a) Die Urerfahrung des Bruches in der Zeit, die Erinnerung erst nötig macht, ist die Katastrophe. b) Die Erzählkunst, die diesen Zusammenhang überliefert, tradiert auf ihre Weise die Methode der Erinnerung als die dem Erinnern eingeschriebene Wahrheit. Kultur kann insgesamt als Gestaltungsraum von Erinnerung verstanden werden. Der Geschichtsschreibung kommt dabei ein besonderer Rang zu. Ihr wird die Aufgabe der Vermittlung von Identität in Krisenzeiten zugewiesen. Im Kompensationstheorem moderner Geschichtsphilosophen erhält die Erinnerung in Gestalt historischer Erzählkunst rettende, soteriologische Qualität. 6. Religiöse Perspektiven: Anamnese und die Grenzen der Erinnerung 6.1 Religiöse und kulturelle Erinnerung Religion ist Teil von Kultur. Insofern nimmt Religion an der mnemonischen Selbstkonstruktion der Kultur teil. Religion stellt aber über die Historie hinaus einen zusätzlichen Ort kultureller Erinnerungsformen zur Verfügung. Sie tritt daher auch in Konkurrenz zu den säkularen Formen kultureller Erinnerung. Religiöse Rituale und Feiern sind die Formen, in denen sich Erinnerung 111 vorrangig realisiert. Richard Schaeffler erklärt im Blick auf das „Erinnerungspotential“ von Liturgie: „Zur religiösen Feier gehört die Erinnerung; aber es lässt sich auch sagen: Die Erinnerung hat, wenn sie spezifisch religi112 öser Natur ist, ihren ursprünglichen Ort in der gottesdienstlichen Feier.“ Mit Erinnerung ist hier die Erinnerung an Gottes heilsame Zusage und an Gottes Tun gemeint. Schaeffler betont, dass es nicht allein um eine kognitive Erinnerung im Bewusstsein der Feiernden geht, wenn von Erinnerung im gottesdienstlichen Handeln gesprochen wird. Es gehe auch darum, dass das von Gott her Gesagte und Gewirkte, das, was in der Feier erinnert wird, denen, die an dieser Feier teilhaben, aktuell und wirksam begegnet. Das „memores“, das „wir sind eingedenk“, charakterisiert Schaeffler als die 113 Grundaussage des religiösen Bewusstseins.
111 Vgl. Y.H. YERUSHALMI: Zachor, 24. 112 R. SCHAEFFLER: „Darum sind wir eingedenk“, 16. 113 Vgl. a.a.O., 16.
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Ähnlich beschreibt Dietrich Neuhaus das gottesdienstliche Handeln. Er betont im Rückbezug auf Eliade, dass der Vorgang des Erinnerns ursprünglich in den Bereich des Religiösen gehört. Der Vorgang stehe „im Zentrum des Kultus“ und diene „der Erneuerung des Lebens in einer bestimmten 114 Gruppe.“ Im religiösen Bereich gehe es vor allem darum, die gegenwärtige Zeit an der Urzeit partizipieren zu lassen. Die Urzeit sei die eigentlich bedeutungsvolle, die aller Zeit Sinn gebe. Das Ritual habe die Aufgabe, über den Bruch zwischen Urzeit und historischer Zeit hinweg die Teilhabe an der Urzeit zu vermitteln. Durch diese „Zeiterneuerung“ werde das Leben in einer Gruppe erneuert, kurz: „Profane Zeit muss als verbrauchte Zeit in periodischen Abständen erneuert werden, die Erneuerung geschieht durch 115 Feste und Rituale.“ Das Christentum, so Neuhaus, sei die Religion der Erinnerung par excellence. Denn in seinem rituellen Kern, dem Abendmahl, gehe es um Erinnerung. Das ganze Ritual sei als Gedächtnis des Herrn zu begreifen. Eine Pointe der Ausführungen von Neuhaus besteht in der Aussage, dass die in der religiösen Erinnerung sich vollziehende Vergegenwärtigung und Aktualisierung von Vergangenem antihistorisch wirken: „Ein historisches Ereignis“, so Neuhaus, „öffentlich wiederholt zu erinnern, d.h. es rituell bedeutsam für ein Kollektiv zu gestalten, enthistorisiert dieses 116 Ereignis.“ Im Verständnis des Rituals als Träger der Erinnerung stößt das historische Zeiterleben an seine Grenzen. Ähnlich beschreibt es auch Günter Bader in seiner Ausdeutung der christlichen Liturgie des Abendmahls. Liturgische Memoria erscheint ihm „geradezu als Umschlagplatz, über den alle sonstigen Gedächtnisse, seien es historische oder kollektive, vermittelt wer117 den.“ Bader vergleicht die Abendmahlsparadosis in ihrem inneren Aufbau mit den verschiedenen Stufen eines Gedächtnisses. In der Tiefe der Abendmahlsparadosis stoße man am Ende auf einen „blutenden Leib (sei 118 es Christi oder wessen immer) als seine Voraussetzung.“ Bader spricht von einem Inkommunikablen, allem Transport vorausgehenden Untransportablen, von einem allen metaphorischen Übertragungen vorausgehenden Metapherlosen. An dieser Stelle werde das Gedächtnis seiner eigenen Aufhebung gewahr, weil es in seiner Vermittlungsintention an das Unvermittelbare, den Bruch, den Tod des Menschen, stoße. So stifte das Abendmahl ein „Gedächtnis im Gedächtnis“, „indem anstelle des Metapherlosen eine Metapher dargeboten wird und damit ein Fortlassen, Vergessen und Über119 springen in eine ganz neue Sphäre“ möglich wird. Bader erklärt diese Möglichkeit des (Zeit-) Sprunges mit dem Geheimnis des Abendmahles: „Wenn an die Stelle von Leib Brot und an die Stelle von Blut Wein tritt, 114 115 116 117 118 119
D. NEUHAUS: Gottes-Dienst, 158. A.a.O., 159. D. NEUHAUS: Gottes-Dienst., 160. G. BADER: Abendmahlsfeier, 134. A.a.O., 136. Ebd.
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und dies mit der bestimmtesten Kennzeichnung, Brot und Wein seien, was sie evidentermaßen nicht sind, nämlich Leib und Blut, dann ist dadurch der Übergang geschehen, dass durch Christi blutenden Leib Nicht-Leib als 120 Leib, nämlich Brot, und Nicht-Blut als Blut, nämlich Wein, gesetzt ist.“ Damit beschreibt Bader detailliert, was mit dem Stichwort Lebenserneuerung gedeutet werden kann. Der unvermittelbare Bruch des Todes wird unvermittelt überwunden durch das rituelle Gedenken des Tausches von Tod und Leben im Memorieren des Todes Jesu. Im Abendmahl kommen Zeiterfahrung und Erinnerung an ihre Grenze. Im Kern des religiösen Erinnerungsgeschehens wird die Erinnerung zurückgelassen. Das religiöse Paradigma der Erinnerung erweist sich so als eines, das im kultischen Kontext am Ende alle kulturellen und kultischen Begrenzungen hinter sich lässt. Die religiöse Form der Erinnerung ist deshalb nicht nur Teil kultureller Erinnerung, sondern auch Konkurrentin, weil sie in ihrer Gestalt über die kulturelle Erinnerungsform hinausweist und sich so als Alternative darstellt. 6.2 Die Gestaltungsformen religiöser Erinnerung Die religiöse Erinnerung ist eine umfassende Weise des Erinnerns. In ihr finden alle anderen Erinnerungsformen ihren Ursprung und ihre Grenze. Konkurrenzen können bei der Identitätskonstitution und Repräsentation einer Person oder eines Kollektivs entstehen. Historisch-biographische und religiöse Sicht des eigenen Selbst können aber auch miteinander vermittelt werden. Einen Entwurf, in der ihre gegenseitige Vermittlung ansichtig wird, stellt das „story-Konzept“ dar, das von Dietrich Ritschl im deutschen Sprachraum bekannt gemacht worden ist. Der Mensch wird hierbei als ein in seinen Geschichten existierendes Wesen begriffen. Diese Geschichten, in die 121 jeder Mensch „verstrickt“ ist, nennt Ritschl im Anschluss an amerikani122 sche Theologen story. Ritschl: „Wenn ich sagen soll, wer ich bin, so erzähle ich am besten meine Story. Jeder von uns hat seine unverwechselbare Story, jeder ist seine Story. [...] Ein Mensch ist das, was man zu und über ihn sagt und was er selbst über sich erzählen kann und was er daraus mit 123 seinem Leben macht.“ Entscheidend sei, ob ein Mensch seine story mit der story Gottes – vermittelt durch das Volk Israel und die Kirche – zusammenzubringen vermag, wenn er „erzählt, wer er ist“. Die Selektionskriterien 120 Ebd. 121 Vgl. dazu auch W. SCHAPP: In Geschichten verstrickt, Hamburg 1953. 122 Vgl. D. Ritschls eigenen Überblick über die Entwicklung der Konzeption in: D. RITSCHL: Logik, 47; vgl. auch D. RITSCHL/H.O. JONES: „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976. 123 D. RITSCHL: Logik, 45.
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bei der Erzählung der eigenen Geschichte sind Erinnerung und Hoffnung, abgebildet durch die Kategorien Erfahrung und Erwartung. Beispielhaft hierfür ist die Praxis Israels, wie Ingrid Schoberth in ihrer Verarbeitung der Ritschlschen Konzeption darlegt: „So ist das Volk Israel das, was es durch die Erzählung seiner Geschichten mitteilt. Die disparaten und zum Teil voneinander unabhängigen Mitteilungen Israels zeigen die story Israels auf; [...] Israels Erfahrungen mit seinem Gott sind konstituiert und bestimmt von den Erinnerungen und Hoffnungen mit und auf ihren 124 Herren. Diese story beansprucht Kontinuität in allen Zeiten.“ Ebenso bringt auch der Einzelne seine story in der Erfahrung und Erwartung Gottes in seiner Geschichte zum Ausdruck. Eine Einrichtung, bei der die story in die Gesamt-Story der Gemeinde eingetragen und die eigene story in der Geschichte Gottes mit den Menschen und der Gemeinde wiedergefunden werden kann, ist der Gottesdienst als Ort praktischen kirchlichen Handelns. Albrecht Grözinger hat die theologischen Überlegungen zu Geschichte und Erzählung für seine Einsichten, wie sich kirchliches Handeln konstituiert, fruchtbar gemacht. Aufweis seiner Vorstellung „des in Geschichten 125 verstrickten Gottes“ ist für ihn die Trinitätslehre. In ihr sieht er alles kirchliche Handeln begründet. Die Pointe der Trinitätslehre sei es, „die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine jeweils aufs neue konkrete und aufs neue aktuelle Geschichte abseits aller metaphysischen Spekulation zu denken und darzustellen. Mensch und Gott kommen als in eine gemein126 same Geschichte verstrickt zur Sprache.“ Der Mensch könne seine individuelle Lebensgeschichte in diese Geschichte Gottes eintragen, gerade weil in der Geschichte Gottes mit dem Menschen die „menschliche, individuelle 127 Lebensgeschichte immer schon mitbedacht ist“ – und zwar so, dass von der Geschichte Gottes her der Mensch als erwählter Partner Gottes bestimmt und qualifiziert werde. Die Form, in der der Mensch seine Lebensgeschichte im Horizont der Geschichte Gottes gestaltet, hat in Anlehnung an Ritschl viel mit Erzählen zu tun. Das Erzählen ist die Wahrnehmungsform der verschiedenen, ineinander verschlungenen Geschichten. Deshalb sei die Bibel ein „Erzähl128 Buch.“ Im Erzählen geschehe die „erschließende Erkundung von Vergan129 genheit, Gegenwart und Zukunft.“ Mit dem Erzählen hänge auch die Ausbildung der eigenen Identität zusammen. Identität sei im Akt des Erzählens immer auf Gemeinschaft hin angelegt, denn wer Geschichten erzähle, der baue auf Zuhörer. Schließlich werde im Akt des Erzählens eine ganz eigene Freiheit im Blick auf die Wirklichkeit und ihre Konstitution sichtbar. 124 125 126 127 128 129
I. SCHOBERTH: Erinnerung, 86. Vgl. A. GRÖZINGER: Erzählen, 11. A.a.O., 33. A.a.O., 35. A.a.O., 11. A.a.O., 44.
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Denn: „Zum einen konstituiert sich der Wirklichkeitsbezug erst im Erzählen und Hören von Geschichten, jenem Akt also, den wir hier die erschließende Erkundung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft genannt haben. Zum anderen wird die Wirklichkeit in und mit diesen Geschichten 130 produktiv verändert.“ Im Erzählen von Geschichten erschließe sich die Wirklichkeit als eine Wirklichkeit in der Ontologie des Werdens, die ihrerseits dazu anhalte, auf diese Wirklichkeit in ihrem Prozess Einfluss zu nehmen. Dies geschehe zuallererst durch die Akte des Erzählens und Hörens von Geschichten. Diese Akte seien ihrerseits immer schon Handlungen. Nach der Form der Wahrnehmung von Geschichten in ontologischer und ethischer Perspektive wendet sich Grözinger der Herausbildung christlicher Identität im Gewahrsein geschichtlicher Existenz zu. Hierbei gehe es um die Verschmelzung von Geschichten, indem – so Grözinger in Anlehnung an Scharfenberg – „die eigene Lebensgeschichte zur ‚Vita Jesu‘ in Be131 ziehung gebracht wird.“ Es komme zu einer Verschmelzung der Horizonte von individueller Lebensgeschichte und Gottesgeschichte. Diese Verschmelzung geschehe im Akt des Erzählens. Deshalb habe jede Theologie und jede kirchliche Praxis eine narrative Struktur. Was damit gemeint ist, führt Grözinger in Auslegung von Bohrens Grundsatz der „theonomen Reziprozität“ vor: „Gott tut sein Werk, indem er eine Geschichte eröffnet, die den Menschen einschließt, und im Verfolg dieser Geschichte erwächst 132 eine Geschichte aus der anderen.“ Hier schließt sich der Kreis. Grözinger bindet seine Konzeption zurück an eine eingedenkende Praxis des Abendmahls: „Der Satz aus der Abendmahls-Überlieferung des 1. Korintherbriefes ‚Dies tut zu meinem Gedächtnis‘ ist zugleich der Grund-Satz aller kirchli133 chen Praxis.“ Wir halten fest: Religiöse Rituale sind Grundformen der Erinnerung. Der Aufruf zum Gedenken in der christlichen Liturgie zielt auf die Begegnung mit Gottes heilsamen Wort. Ritueller Kern des Abendmahls ist das liturgische Erinnern. Das Zeiterleben und die Erinnerung stoßen an ihre Grenzen. Das Abendmahl stiftet ein Gedächtnis im Gedächtnis, indem der Sprung in eine andere Sphäre möglich wird, hinter der die Erinnerung zurückbleibt. Die religiöse Erinnerung ist dabei nicht nur Teil kultureller Erinnerung, sondern auch dessen Konkurrentin. Historisch-biographische und religiöse Sicht des eigenen Selbst werden im „story-Konzept“ von Ritschl miteinander vermittelt. Die durch das Medium der Erinnerung konstituierte story einer Person oder eines Kollektivs wird in ihrer Verwobenheit mit Gottes Geschichte erzählt. Im Akt des Erzählens werden die verschiedenen, miteinander verschlungenen Geschichten
130 131 132 133
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A.a.O., 46. A.a.O., 53. A.a.O., 110. Ebd.
wahrgenommen. Es kommt zu einer Verschmelzung der Horizonte von individueller Lebensgeschichte und Gottesgeschichte. Exkurs I: Das Verhältnis von Judentum und Christentum zur Geschichte Die Frage, ob Christentum und Judentum ein sehr ähnliches, in gewisser Weise voneinander abhängiges oder ein sehr unterschiedliches Verhältnis zur Geschichte und zur Erinnerung haben, wird in der Literatur nicht einheitlich beantwortet. Einerseits wird generalisierend von jüdisch-christlicher Erinnerungskultur gesprochen, so z.B. bei Metz, Assmann oder Oexle. Letzterer differenziert allerdings und sieht im Christentum ein wesentliches zusätzliches Moment darin, dass hier nicht nur ein konstitutives Ereignis kommemoriert wird, sondern Memoria selbst konstitutives Ereignis ist. Diesen Zusammenhang sieht er vor allem durch die Geschichte des Abend134 mahlsstreits im Christentum belegt. Diese Sichtweise, im Christentum die Gedächtnis-Religion zu sehen, ist eher die Ausnahme. Gemeinhin sieht man die christliche Tradition des Erinnerns als vom Judentum übernommen und in diesem weiterhin beispielhaft abgebildet. Diese Auffassung wird in der Konzeption Grözingers sichtbar, der in entscheidenden Passagen Israels Beziehung zur Geschichte als beispielhaft für das Christentum an135 sieht. Häufig wird das Verhältnis auch so gesehen, dass das Judentum als die gedächtniszentrierte Religion gilt, das Christentum demgegenüber als ge136 dächtnisarm. Eine solche Darstellung findet sich bei dem Historiker Christoph Münz, der im Blick auf die zentrale Stellung der Erinnerung in den Religionen einen Antagonismus zwischen Judentum und Christentum ausmacht. Das Judentum sei als eine „einzigartige Verknüpfung von Geschichtsverständnis und Religiosität“ zu begreifen, „mithin als Verkörperung des Historischen und seiner Sinnhaftigkeit, mithin als das Gedächtnis 137 der Welt – theologisch formuliert: das Gedächtnis der Schöpfung.“ Deshalb sei das Judentum vom Christentum immer als für das eigene Selbstverständnis bedrohlich angesehen worden, denn im Christentum habe sich ein wirksamer Prozess der „Immunisierung des Glaubens gegenüber der histori138 schen Wirklichkeit, gegenüber der Geschichte selbst“ vollzogen. Münz beschreibt den Mechanismus dieses Prozesses so: „Alles geschichtlich Relevante wird auf einen Moment in der Zeit reserviert und auf diesen begrenzt, 139 nämlich den Zeitraum des Lebens und Sterbens Jesu.“ 134 135 136 137 138 139
Vgl. O.G. OEXLE: Memoria als Kultur, 33. Vgl. A. GRÖZINGER: Erzählen, 12.110. Vgl. C. MÜNZ: Gedächtnis, 474. A.a.O., 471. Ebd. Ebd.
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In diesen Formulierungen lässt sich eine Konzeption wie die von Bader entdecken, nach der jedes historische Gedächtnis im Gedächtnis des gemeinsamen Mahls im dialektischen Sinne aufgehoben sei. Die radikalisierende Konsequenz, die sich bei Münz in dem propagierten Antagonismus von Judentum und Christentum findet, überzeugt allerdings nicht. Wenn Münz erklärt, das Judentum werde „im Verständnis des Christentums nicht nur zu einem Anachronismus, weil es nach dessen Auffassung ein Anachronismus ist, sondern noch viel mehr, weil es eine Form von Geschichtlichkeit, von geschichtlichem, von religiös geprägtem geschichtlichem Bewusstsein repräsentiert, das man in der Geburtsstunde des Christentums bereits 140 für verworfen und obsolet erklärt hat“ – dann zeigt dies lediglich, dass Münz die Vorstellung von der Aufhebung im Sinne einer Auflösung interpretiert. Christliches Gedächtnis und Gedenken ist für Münz ein die Historie aufhebendes, zum Verschwinden bringendes Gedenken. Die bei Münz durchschimmernde Vorstellung vom Judentum als der „Religion der Geschichte“ und Christentum als der „Religion des Glaubens bzw. der Erlösung von der Geschichte“ scheint mir nicht fruchtbar. Für problematisch halte ich vor allem, eine jüdische Identitätsbeschreibung antithetisch zu einer christlichen formulieren zu wollen. Auch wenn jüdische Identität sich nach dem Holocaust häufig im Paradigma des Gedenkens versteht, ist es nicht angebracht, dass christliche Fremdbeschreibung des Judentums diese Selbstbeschreibung in der Weise übernimmt, dass daraus eine umstrittene antithetische Gegenüberstellung von Judentum und Christentum hervorgeht. Der Aspekt des Gedenkens sollte im Verhältnis des Christentum zum Judentum so eingeordnet werden, dass die Verbindung und die Unterscheidung des einen vom anderen auf jenem Hintergrund sichtbar bleiben, der sie als vorgängig und prinzipiell aufeinander bezogen begreift. 7. Erfahrungswissenschaftliche Perspektiven und die Erinnerung an den Holocaust Die Untersuchung des Vorgangs der Erinnerung aus unterschiedlichen Perspektiven führt dazu, Erinnerung als einen mehrdimensionalen Vorgang wahrzunehmen. Diese Wahrnehmung ermöglicht und erfordert einen ersten Ausblick auf die Konsequenzen, die daraus für die besondere Erinnerung an den Holocaust zu ziehen sein werden. a) Die gedächtnispsychologische Betrachtung hatte zu folgenden Erkenntnissen geführt. Erstens: Erinnerung ist ein rekonstruktiver, im Bereich der subjektiven Reflexivität sich vollziehender Vorgang. Zweitens: Erinnerung ist ein selektiver Prozess, der das Vergessen als eigentümliche Bedingung seiner selbst voraussetzt. 140 Ebd.
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Bei der Anwendung dieser Aussagen auf die Erinnerung an den Holocaust werden Probleme sichtbar, die zu Auseinandersetzungen grundsätzlicher Art geführt haben. Auch dieses Erinnern ist ein subjektbezogener, rekonstruktiver Vorgang, der mit bestimmten Deutungen und Interpretationen verbunden ist. Die persönliche Perspektive, aus der rekonstruiert wird, spielt eine entscheidende Rolle. Die Diskussion zwischen Martin Broszat und Shaul Friedländer wird vor Augen führen, wie Täter- und Opferperspektive unvermittelt bleiben müssen (s.u. II. 1). Aber auch die Bedingungen möglicher Erinnerung des Holocaust stehen in Frage, insofern Erinnerung als rekonstruktiver Vorgang in der Regel im narrativen Paradigma Gestalt gewinnt. Dan Diner bestreitet aber, dass dem Holocaust aufgrund seiner eigentümlichen historischen Zeitstruktur ein Narrativ zukommt. In gewisser Weise entziehe er sich durch die zugeschriebenen Narrative der Erinnerung (s.u. II. 1). Der aus der Rekonstruktivität folgende selektive Charakter der Erinnerung spiegelt sich in der Begriffsgeschichte des Wortes Holocaust und seiner möglichen Alternativen wieder. Denn hier wird thematisiert, ob und in welcher Weise der Begriff auf eine bestimmte Erinnerung beschränkt bleibt oder aber ausgeweitet wird (s.u. III. 1). In der Diskussion um das zentrale Mahnmal in Berlin war immer wieder die Konkurrenz mehrerer Erinnerungsperspektiven Thema der Auseinandersetzung. Erinnerung als notwendig selektiver Vorgang bedingt, dass nicht alles gleichzeitig erinnert werden kann. Was aber wird zur Erinnerung ausgewählt? Die gedächtnispsychologische Perspektive des Vorgangs Erinnern macht manche – zweifellos notwendige – politische Diskussion verständlich. b) Erinnern und Vergessen sind sozial determinierte und im kulturellen Kontext zu begreifende Vorgänge. Wenn die individuellen Erinnerungsträger eines Kollektivs, die Zeitzeugen, sterben, wird eine Transformation der Erinnerung vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis nötig. Geschieht dies nicht, bewirkt die durch Generationenwechsel zustande gekommene Rahmenveränderung ein Vergessen der bis dahin im kollektiven Gedächtnis kommunizierten Erinnerungen. Der Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis ist in der Regel nach einer Zeitspanne von 40 Jahren erreicht. Erinnerung wird dann schwieriger, weil von ihr nun eine kontrapräsentische Form gefordert ist. Die Erinnerung und mit ihr die Erinnerung an den Holocaust ist erkennbar abhängig von ihren sozialen Kontexten. Erinnerung an den Holocaust in den USA ist eine andere als die in Israel, Erinnerung in Frankreich eine andere als die in der Schweiz. Wieder anders ist die Erinnerung im Land der Täter und ihrer Nachkommen, in Deutschland. Diner weist mehrfach auf die unterschiedlichen Merkmale dieser Gedächtnisse bei der Aufarbeitung des Holocaust hin. Der Umriss des sozialen Kontextes eines kollektiven Gedächtnisses ist eine sehr flexible Größe. Nicht nur Länder, auch Städte und Gemeinden sowie Milieus und Interessengruppen kommunizieren je spezifische Erinnerungen als ihr kollektives Gedächtnis. Innerhalb einer Kultur gibt es insofern zwischen den verschiedenen Gruppen Ausei61
nandersetzungen um die Besetzung als wesentlich geltender Elemente des kollektiven Gedächtnisses, wie die Errichtung von Denkmälern oder die Festlegung grundlegender Herkunftsnarrative der Gruppe. Solche Prozesse sind bei den geradezu periodisch wiederkehrenden Auseinandersetzungen in der Geschichtswissenschaft wie dem Historikerstreit oder der GoldhagenDebatte zu verfolgen. Dass diese Debatten seit Mitte der 1980er Jahre an Häufigkeit und Schärfe gewonnen haben, dürfte mit dem von Assmann beschriebenen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis 141 zusammenhängen. c) In der semiotisch orientierten Theorie Lachmanns wird die Kultur als Speichermedium begriffen, als Gedächtnis, das permanenten Prozessen von Resemiotisierung (Erinnern) und Desemiotisierung (Vergessen) unterliegt. Lachmann arbeitet hierbei die Ambivalenz aller mnemotechnischen Paradigmen im Rahmen der mnemonischen Konstruktion einer Kultur heraus. Jede Kultur lebt auch von einer in der Resemiotisierung bereits angelegten Desemiotisierung. Erinnern und Vergessen sind deshalb als komplementäre kulturelle Prozesse zu begreifen. In ihrer Ambivalenz sind sie nicht davor geschützt, zu kathartischen Zwecken missbraucht zu werden. Im Blick auf die Erinnerung an den Holocaust zeigen nicht zuletzt die teilweise erbittert geführten Diskussionen über die Errichtung von Gedenkstätten die von Lachmann beschriebenen Mechanismen. Der Vorwurf, dass ein Mahnmal nicht dem Vergessen wehre, sondern das Vergessen einleite, wird durch die Lachmannsche Theorie verständlich. Strategien der bewussten oder unbewussten, gewollten oder ungewollten Desemiotisierung des Holocaust innerhalb unserer Kultur werden in der Diskussion regelmäßig der jeweiligen Gegenseite unterstellt. Auch die Frage, ob es eigentlich ein angemessenes Zeichen für das Geschehene zur Erinnerung an den Holocaust geben kann, dürfte von der Ambivalenz im Lachmannschen Sinne bestimmt sein – bestimmt einerseits von der Angst, das fixierte Erinnerungszeichen in Form einer Gedenktafel delegiere die Erinnerung und fördere auf diese Weise eigentlich das Vergessen, bestimmt andererseits von dem Wunsch, sich auf dem Wege solcher Delegation von einer unangenehmen Erinnerung entlasten zu können (s.u. II. 2). d) Die psychoanalytische Dimension des Erinnerungsvorgangs bereichert das Verständnis um zwei wesentliche Einsichten. Zum einen wird der Begriff der Verdrängung herausgearbeitet. Zum anderen wird die heilsame Komponente der Erinnerung aufgewiesen. Wer verdrängt, so die psychoanalytische Theorie, kann das Verdrängte weder erinnern noch vergessen. Er kann es nur wiederholen und tut dies zwanghaft. Das therapeutische Konzept, das in dieser Konstellation des neurotischen Wiederholungszwanges von der Psychoanalyse empfohlen wird, ist die Ermöglichung von Erinnerung durch die Arbeit an den Blockaden.
141 Vgl. J. ASSMANN: Gedächtnis, 11.
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Dass einzelne Elemente dieser Theorie im Hintergrund zahlreicher Debatten um die Erinnerung an den Holocaust stehen, ist offenkundig. Die Sorge, die Erinnerung an den Holocaust könnte verdrängt und so einer Wiederholung des Geschehens Vorschub geleistet werden, zeigt sich in vielen Diskussionen. Auch der Hinweis, die Erinnerung selbst könne im Gegensatz zur drohenden Verdrängung heilsam sein, ist ein wiederkehrendes Motiv in der Auseinandersetzung. Umstritten bzw. ungeklärt scheint mir bei diesem Konzept allerdings zweierlei. Zum einen: Was geschieht, wenn die Erinnerung in heilsamer Form vollzogen werden konnte? Wird sie weiter erinnert? Oder wird sie vergessen? Hierüber gibt die psychoanalytische Theorie nur am Rande Auskunft. Das hängt damit zusammen, dass der Begriff des Verdrängens den 142 des Vergessens weitgehend aus der Theorie verdrängt hat. Einen hilfreichen Hinweis liefert Yorick Spiegel in seiner Analyse des Trauerprozesses. Das Erinnern im Gegenüber zum Verdrängen ziele im Rahmen der Trauerarbeit nicht „auf ein Vergessen, nicht auf eine ‚Wiederholung‘ der Vergangenheit, sondern auf eine prozesshafte und produktive Bewältigung, in der der Verstorbene in das Ich aufgenommen wird. Der Prozess des Erinnerns 143 bereitet die Inkorporation des Verstorbenen vor.“ Bewältigung in diesem Sinn heißt Anerkennung des Realitätsprinzips, heißt Anerkennung jenes Prinzips, das sich gegen die objektlibidinösen Bindungen an das Vergangene – hier den Verstorbenen – im Erinnern durchsetzt. Im Erinnern erkennt der Trauernde schrittweise an, „dass das Liebesobjekt nicht mehr vorhanden ist, löst allmählich die einzelnen Bindungen ab und investiert die Libido in 144 andere Beziehungen.“ Die Erinnerung wird auf diesem Wege aus dem gefährlichen Bereich der Verdrängung heraus- und zurückverwandelt in das, was sie ist: Erinnerung an Vergangenes, die mit schmerzhaften ichbedrohenden Erfahrungen assoziiert ist. Spiegel nennt diesen Wandlungsprozess Inkorporation. Wie ein solcher Prozess zu verstehen ist und in welcher Form er sich mit dem Vorgang des Vergessens berührt, wird in der Theorie von Schmitz beschrieben. Die heilsame Erinnerung wird in eigentümlicher inkorporierender Weise bewahrt. Es bleibt allerdings zu fragen, was das für die Erinnerung an den Holocaust bedeutet oder bedeuten könnte. Wie könnte eine individuelle oder kulturelle Inkorporation aussehen? Die zweite offene Frage ist, wie weit die psychoanalytische Theorie der Verdrängung, die schon im Bereich der Individualpsychologie umstritten ist, auf Kollektive übertragen werden kann. Diese Frage ist für die Thematik des Erinnerns an den Holocaust von besonderer Virulenz. In ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ haben Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 eine derartige Übertragung vom individuellen in den kollek142 Vgl. H. WEINRICH: „Lethe“, 174. 143 Y. SPIEGEL: Prozess, 283. 144 A.a.O., 277. Die therapeutisch orientierte Seelsorge rekurriert auf die Konzeptionen S. Freuds und Y. Spiegels; vgl. hierzu M. JOSUTTIS: Segenskräfte, 234, und dessen Kritik dazu, a.a.O., 234ff.
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tiven Kontext vorgenommen. In ihrem Buch „Erinnerungsarbeit“ fasst M. Mitscherlich 20 Jahre später die These von der kollektiven Verdrängung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch einmal zusammen. Ich zitiere einen längeren Ausschnitt: „Nach der Niederlage vollzog sich als erstes eine schlagartig einsetzende Derealisierung; die Vergangenheit versank wie in einem Traum. Der Identitätswechsel durch die Identifikation mit dem Sieger, ohne auffällige Anzeichen gekränkten Stolzes, verstärkt die Abwehr gegen Gefühle des Betroffenseins. Das manische Ungeschehenmachen, die gewaltigen kollektiven Anstrengungen des Wiederaufbaus, eine Art nationaler Beschäftigungstherapie, förderte die Verleugnung und Verdrängung. Wenn aber Verleugnung, Verdrängung, Derealisierung der Vergangenheit an die Stelle der Durcharbeitung treten, ist ein Wiederholungszwang unvermeidbar, auch wenn er sich kaschieren lässt. Nazisymbole und Nazivereinigungen kann man verbieten. ‚Nazistrukturen‘ (z.B. den autoritären Charakter) aus der Welt der Erziehung, des Verhaltens, der Umgangs- und Denkweisen, der Politik zu vertreiben, ist nicht möglich ohne Trauerarbeit. Deswegen müssen wir heute erkennen, dass die junge Generation, die sich unschuldig fühlt, nicht die Bearbeitung unserer Vergangenheit angetreten, sondern deren Verleugnung und Verdrängung übernommen hat. Die Naivität, mit der ein Bundeskanzler in Israel, in Konzentrationslagern oder vor SS-Gräbern von der Unbetroffenheit seiner Generation durch die NS-Zeit, von der ‚Gnade der späten Geburt‘ spricht, ist eine von vielen Zeichen für diese Verdrängung. [...] Psychologisch und historisch ist das eine für Gegenwart und Zukunft gefährliche Haltung. Trauerarbeit setzt eine 145 besondere Art von Erinnerungsarbeit voraus.“
In diesen Ausführungen werden wesentliche Elemente individual-psychoanalytischer Theorie auf das Kollektiv Bundesrepublik übertragen: Die Verdrängung als Abwehrmechanismus, der tatsächliche und befürchtete Zwang zur Wiederholung des Verdrängten und schließlich die Forderung heilsamer Erinnerung als Therapie für die Gesellschaft. Die Möglichkeit einer solchen Übertragung ist umstritten. Tilmann Moser hat zu zeigen versucht, dass die Gleichzeitigkeit des Denkens in individual-analytischen und in sozialpsychologischen, volkscharakterologischen Dimensionen nicht nur unsachgemäß ist, sondern ursächlich dafür verantwortlich, dass die Mitscherlichsche Analyse weniger einen Therapieansatz ermögliche als vielmehr vor allem ein gewisses „Unbehagen an einer Vermischung von Psychoanaly146 se und vorwurfsvoller Moral“ mit sich bringe. In seiner Abwehr des Ansatzes der Mitscherlichs zeigt Moser den Weg, auf dem jene Konzeption der Übertragung auf das Kollektiv Bundesrepublik bis heute eine breite Akzeptanz gefunden hat. Moser findet diesen Weg in den Büchern von Dörte von Westernhagen „Die Kinder der Täter“ oder von Horst E. Richter „Die Chance des Gewissens“ vorgezeichnet. Setzt die Kompetenz der Psychotherapie nach Mosers Meinung „im Grunde erst ein in den achtziger Jahren 145 M. MITSCHERLICH: Erinnerungsarbeit, 14f. 146 Vgl. MOSER: Unfähigkeit, 204.207.
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mit Falldarstellungen über Therapien mit Kindern und Kindeskindern von 147 Opfern und Tätern“, so werden durch die Psychotherapie jedenfalls Räume für Angst, Scham, Reue und Schuld geöffnet. Diese je für sich individuellen Räume sind in sozialpsychologischer Hinsicht von nicht zu unterschätzender Bedeutung. e) Aus phänomenologischer Perspektive beschreibt Schmitz den Prozess des Erinnerns. Einheilendes Erinnern vollzieht sich auf dem Wege personaler Regression, vermittelt durch Vergessen. Vergessen ist dabei kein Verlieren des Erinnerten. Auf dem Wege des Vergessens wird das Erinnerte bewahrt und erhält eine Lebenswirkung. Es gibt charakteristische Formen leiblichen Geschehens als Begleiter dieser Vorgänge. Schmitz nennt den Schreck, den Schmerz, die Angst. Daneben nennt er als leiblichen Begleiter des Vergessens insbesondere das Weinen. Es ist der Begleiter eines implizierenden, bewahrenden Vergessens, das die Voraussetzung einheilenden Erinnerns ist. Die dialektische Zuspitzung von Erinnern und Vergessen ist in den Zusammenhang der Erinnerung an den Holocaust mit Vorsicht zu übertragen. Es ist der Eindruck auszuschließen, es würde einem Vergessen des Holocaust das Wort geredet. Ausdrücklich hebe ich deshalb hervor: Vergessen meint bei der Anwendung der phänomenologischen Theorie kein Verlieren, sondern ein implizites, die Lebenswirkung und damit auch ein mögliches Lernen begründendes Bewahren des Erinnerten (s.u. II. 3–5). Bei der Einordnung der Schmitzschen Theorie in eine Konzeption von Erinnerung des Holocaust setze ich bei den Beispielen leiblichen Geschehens als Begleitung der Vorgänge an. Da ist zunächst das „Plötzliche“, leiblich wahrnehmbar im Schreck, daneben Schmerz und Angst, die zur Wahrnehmung leiblicher Betroffenheit und der Enge „primitiver“ Gegenwart führen. Die Wahrnehmung des Holocaust ist zweifellos mit Angst und Schmerz behaftet. Die Erinnerung des Holocaust erschreckt. In diesem Moment des Gewahrwerdens ist alles andere nichtig, abgeschieden, versunken im chaotisch Mannigfaltigen. Es ist die personale Regression, begleitet durch das Weinen, die den Weg in die Weite zu öffnen vermag. Mittels des impliziten Bewahrens bereitet die personale Regression dabei den Weg von der Wahrnehmung zur Erinnerung vor. Das Weinen befördert die Möglichkeit zum Neuanfang. Es birgt in sich die Möglichkeit zur personalen Emanzipation. Diese wiederum lässt die Erinnerung des Holocaust erst zu. Sie wird so zur Aufgabe, die im Wechsel von Weinen, von Zurücklassen und Abschiednehmen, von Einschmelzen in die Lebenswirkung und von Lernen aus diesem Bewahrten realisiert werden kann. Der Holocaust wird zu einem Kristallisationskern innerhalb einer einheilenden Erinnerung. f) In philosophischer Perspektive wird mit dem Thema der Erinnerung die Frage nach Bedingung und Möglichkeit von Erkenntnis gestellt. Vorgewusste Wahrheit wird auf dem Hintergrund einer Katastrophe durch Erinnerung vermittelt. Wahrheit erscheint so als erinnerte Erinnerung. Sie 147 A.a.O., 217.
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bleibt an ihre Zugangsform, die „Methode Erinnerung“, gebunden. Die Dialektik von Wahrheit und Methode im Blick auf den Erinnerungsvorgang wird in dessen narrativer Struktur transportiert. Der Wissenschaft vom Erzählen der Vergangenheit (Geschichtswissenschaft) kommt so eine besondere Aufgabe bei der mnemonischen Selbstkonstruktion einer Kultur zu. Der hier nur angedeuteten Selbstreferentialität des Vorgangs Erinnerung kommt im Blick auf die Erinnerung an den Holocaust als des katastrophalen Zivilisationsbruches schlechthin eine besondere Bedeutung zu. Gestalt und Gehalt der Erinnerung an den Holocaust bedingen sich nicht nur in besonderer Weise, sie geraten auch in Widerstreit, weil die Möglichkeit einer angemessenen Gestalt der Erinnerung an den Holocaust immer wieder bestritten wird. Hier tut sich eine Art „Falle“ auf, deren Ursachen – zumindest von den jüdischen Forschern Dan Diner, Vilem Flusser und Francois Lyotard – im Charakter des Geschehens Holocaust selbst gesehen werden (s.u. II. 1–3). So kommt es an etlichen Punkten kultureller Erinnerung an den Holocaust zu einer strittigen Auseinandersetzung um die Darstellungsformen, in besonderer Weise in der Geschichtswissenschaft. Die Schärfe, in der die Debatten dort ausgetragen werden, dürfte darin bedingt sein, dass der narrative Gestus in der modernen, historisch orientierten Gesellschaft fast soteriologische Qualität in sich birgt. Dieser Sachverhalt scheint im Streit um die Singularität des Holocaust auf. Dan Diner schreibt dieser Auseinandersetzung quasi-religiöse Implikationen zu und weist so auf den ureigenen Konstitutionszusammenhang des Vorgangs Erinnerung hin. g) In religiöser Perspektive stellt sich Erinnerung als Teil des kulturellen Gedächtnisses und zugleich als Konkurrenz zu ihr dar. Im christlichen Gedenken an Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi im Abendmahl wird die Erinnerung an ihre Grenze geführt. Im Moment des Überbrückens der Zeit wird ein (Zeit-) Sprung in eine andere Sphäre möglich. Der heilsame Charakter dieser Erinnerung besteht darin, die Implikation jeder Erinnerung, den Bruch, im Gewahrwerden bewahren und in der Übernahme durch Jesus Christus zurücklassen zu können. Gottesgeschichte und individuelle Lebensgeschichte werden heilsam miteinander verschmolzen. Hier deutet sich in der religiösen Dimension ein möglicher Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust an. Die religiöse Erinnerung vermag die Erinnerung an das Leid und den Tod zu verwandeln. Nicht, indem sie dieses Leid dem Vergessen anheim gibt, sondern indem die Erinnerung an ihre Grenze geführt wird. Leid und Tod werden so mit der Geschichte Gottes verbunden. Indem sich Gott auf diese Weise in die Geschichte der Menschen verstrickt, ermöglicht er einen Neuanfang, der zugleich das Zurückgelassene bewahrt. Ich hebe hier einseitig auf den spezifisch christlichen Kontext der Erinnerung ab. Je nach Blickwinkel lässt sich der jüdische Horizont als in seiner mnemotechnischen Konstruktion strukturanalog, strukturverschieden oder gar diametral entgegengesetzt deuten. Entsprechend meiner eigenen Vorgabe (siehe Einleitung 5) habe ich mich hier auf einen Hinweis beschränkt. Das Gedächtnis von Tätern (und ihrer Nachkommen) 66
an das begangene, verschuldete und zu verantwortende Leid und die Erinnerung von Opfern (und ihrer Nachkommen) an die erlittenen Leiden sind nicht vermittelbar. So scheint es mir aus christlichem Verständnis von Erinnern heraus schlüssig, hier eine für die christliche Perspektive stimmige und heilsame Form des Umgangs mit der Erinnerung an den Holocaust andeuten zu können. Dabei ist zu beachten, dass die Verknüpfung mit der Memoria des Abendmahls nicht als Vorschlag für eine jüdische Erinnerung an den Holocaust missverstanden werden darf. Das wäre ein respektloses Ansinnen gegenüber der jüdischen Perspektive.
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II. Erinnerung an den Holocaust – Historische und kulturphilosophische Perspektiven Die Erinnerung an den Holocaust ist eine besondere Erinnerung. Dieser Sachverhalt wurde bereits angedeutet. In diesem Abschnitt will ich die Besonderheiten für den Kontext der (alten) Bundesrepublik herausarbeiten. Bei der Frage nach einem angemessenen Erinnern des Holocaust werden Probleme angesprochen, vor die sich nicht allein und nicht zuerst die Theologie gestellt sieht. Im gesellschaftspolitischen Diskurs war es lange Zeit das Stichwort der 1 „Vergangenheitsbewältigung“, das die strittige Frage eines angemessenen Umgangs mit der NS-Vergangenheit im allgemeinen und damit implizit auch mit dem Holocaust im besonderen bestimmt hat. Die Art der Diskussion kann m.E. als Indiz für ein Phänomen begriffen werden, das sich mit dem vielleicht berühmtesten Diktum des Historikerstreites beschreiben 2 lässt: Es scheint um eine Vergangenheit zu gehen, die nicht vergehen will. Den Umgang mit dieser Vergangenheit hat Theodor Wiesengrund Adorno bereits 1959 so charakterisiert: „Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben lässt, [...]; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch 3 höchst lebendig ist.“ Es handele sich um eine Konstellation von Vergangenheitsbezug, in der jedes Verhalten, auch das der Aufarbeitung der Vergangenheit, problematisch wird, weil sich die Tendenz der unbewussten Abwehr von Schuld mit dem Gedanken der Aufarbeitung auf widersinnige Weise verbinde, so Adorno. Er führt hierfür – Ende der 1950er Jahre – eine Reihe von wohlmeinenden Initiativen zur Bearbeitung der NS-Vergangenheit an, die der Struktur der von ihm beschriebenen doppelten Zielvorgabe des Entkommen-Wollens und doch nicht Entkommen-Könnens nicht zu entgehen vermögen. Adornos Darlegungen zur theatralen Aufführung des 4 Tagebuchs der Anne Frank, in der die eigentliche Aufklärung über die Historie schließlich zum Alibi genutzt werde, unterscheiden sich kaum von der Kritik am Kinofilm Schindlers Liste zu Beginn der 1990er Jahre.
1 Die Probleme, um die es in dieser Diskussion geht, sind z.B. referiert in der Auseinandersetzung zwischen dem Historiker Manfred Kittel und dem Politologen Joachim Perels; vgl. M. KITTEL: Legende, passim, sowie J. PERELS: Normalisierung, passim. 2 S. u. II. 1.1; vgl. E. NOLTE: Vergangenheit, 32ff, der diesen Ausdruck geprägt hat. 3 TH.W. ADORNO: Aufarbeitung, 555. 4 A.a.O., 570.
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Warum will die Vergangenheit nicht vergehen? Möglichen Antworten widmen sich die nächsten Abschnitte, in denen ich Anleihen bei verschiedenen Diskussionen in der Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte mache. 1. Holocaust: Grenze des Erinnerns – Grenze des Verstehens Nicholas Berg hat in seinem Aufsatz „ ‚Auschwitz‘ und die Geschichtswissenschaft – Überlegungen zu Kontroversen der letzten Jahre“ eine Systema5 tisierung verschiedener Auseinandersetzungen vorgenommen, an der ich mich orientiere. Berg rekurriert auf den Historikerstreit von 1986/87, die Historisierungsdebatte von 1985/88 und die in den frühen 1990er Jahren geführte Diskussion um Rationalität bzw. Irrationalität des Entschlusses 6 zum Völkermord. Er sieht in den Kontroversen jeweils eine Fragestellung als besonders beherrschend an: Mit dem Historikerstreit sei die Frage nach der historischen Wertung (1.1) verbunden, in der Historisierungsdebatte gehe es um die Frage nach der angemessenen historischen Perspektive (1.2), den Streit um Rationalität und Irrationalität schließlich versteht er als Ausdruck der Grenzfrage historischen Verstehens (1.3) überhaupt. Bei allen Kontroversen geht es um die Problematik verschiedener, oft sehr gegensätzlicher Deutungsmuster, die im Versuch des Verstehens der nationalsozialistischen Judenvernichtung zum Tragen kommen. Berg zählt einige dieser Möglichkeiten zur deutenden Einordnung auf, so z.B. das Thema der Natur des Menschen „oder, ähnlich universell, das Wesen des 7 Bösen, die Abwesenheit von Sinn oder die von Gott.“ Diese Deutungsmuster stünden häufig einander diametral entgegen: „Auschwitz steht einmal für das Wesen einer modernen bürokratisch-arbeitsteiligen Gesellschaft, in einem historischen Kontext also, der auch heute noch für uns Geltung hat, ein andermal für die Wiederkehr längst überwunden geglaubter Zeiten der 8 ‚Barbarei‘.“ Es sei heute im Blick auf Auschwitz üblich, die Vielzahl verschiedener, einander widersprechender Deutungen hinzunehmen und bisweilen auch trotz ihrer Gegensätzlichkeiten und Widersprüche miteinander zu verknüpfen. Auf diese Weise könne jeder Auschwitz für sich und seine Deutung der Wirklichkeit auf „seiner Seite haben“. Berg fordert hiergegen die Wahrnehmung einer Grenze im Umgang mit konkurrierenden Deutungen. Sie sei als Grenze des Verstehens des Holocaust anzuerkennen, um nicht einer gesprächigen Sprachlosigkeit zu verfallen, die entweder mit kon5 Einen Überblick über die Interpretationen des Nationalsozialismus bietet I. KER4 Der NS-Staat, 1994. Eine zusammenfassende Darstellung mit besonderem Akzent auf der jüdischen Historiographie findet sich bei C. MÜNZ: Gedächtnis, 37–110; vgl. auch H. LOEWY (Hg): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens, Hamburg 1992. 6 Vgl. N. BERG: „Auschwitz“, 33. 7 A.a.O., 31f. 8 A.a.O., 32. SHAW:
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kurrierenden und unverknüpfbaren Deutungen um sich wirft oder in Unsagbarkeitstopoi erstarrt oder schließlich ihren Gegenstand durch einen Positivismus des Details entfremdet. 1.1 Historische Wertung: das Singularitätsparadox Der Historikerstreit entzündete sich an der Frage, ob die nationalsozialistische Judenvernichtung historisch vergleichbar ist oder sich wegen ihrer „absoluten“ Unvergleichlichkeit allem historischen Vergleichen entzieht. Auslöser für diese Kontroverse ist ein Artikel Ernst Noltes in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er den Archipel Gulag und Auschwitz miteinander vergleicht und dabei Auschwitz als eine Reaktion der Nazis und als Imitation der „bolschewistischen“ Vernichtungspraxis verstanden wissen will. Noltes expliziertes Interesse bei seinem Vergleich ist, dass der NS-Vergangenheit „jene ‚Gleichbehandlung‘ widerfahren soll, die ein prin9 zipielles Postulat der Philosophie und der Geschichtswissenschaft“ sei. Deren Ziel müsse es sein, nicht gleichzusetzen, sondern Unterschiede herauszustellen. Neben diesem epistemologischen Interesse formuliert Nolte ein zweites, gesellschaftspolitisches Interesse. Es bedürfe einer solchen Einordnung, damit jene Vergangenheit vergehen könne, das heißt: nicht mehr gegenwärtig bedrängend sein müsse, ohne dass sie deshalb vergessen wer10 de. Vergangenheit, die nicht vergeht, berge ein gefährliches Potential in sich. Diese These bindet Nolte so in seine historische Analyse ein, dass er etwaige Opponenten derselben Torheit und Zwanghaftigkeit, desselben Ausgeliefertseins an eine nicht vergangene Vergangenheit schilt, die auch für Hitler kennzeichnend gewesen seien. Hans-Ulrich Wehler hat darauf hingewiesen, dass Nolte seine „Imitations- oder Reaktionsthese“ in keiner 11 Weise hat nachweisen können. Dennoch hat der Vergleich Noltes von Gulag und Auschwitz eine Diskussion eröffnet, die vor allem in den Feuilletons der überregionalen bundesdeutschen Zeitungen geführt wurde. Gewissermaßen zum Gegenstichwort des Begriffs der Vergleichbarkeit wird in der Diskussion der Begriff der Einzigartigkeit bzw. sein lateinisches Äquivalent Singularität. Jürgen Habermas war der erste in der Kontroverse, der Nolte vorwirft, die Nazi-Verbrechen verlören „ihre Singularität da9 E. NOLTE: Vergangenheit, 35. 10 E. NOLTE führt den Unterschied zwischen Vergehen und Vergessen zu Beginn seines Artikels aus, a.a.O., 32: „Das Thema impliziert die These, dass normalerweise jede Vergangenheit vergeht und dass es sich bei diesem Nicht-Vergehen um etwas ganz Exzeptionelles handelt. Andererseits kann das normale Vergehen der Vergangenheit nicht als ein Verschwinden gefasst werden. Das Zeitalter des Ersten Napoleon etwa wird in historischen Arbeiten immer wieder vergegenwärtigt und ebenso die Augusteische Klassik. Aber diese Vergangenheiten haben offenbar das Bedrängende verloren, das sie für die Zeitgenossen hatten. Eben deshalb können sie den Historikern überlassen werden.“ 11 H.U. WEHLER: Entsorgung, 43.
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durch, dass sie als Antwort auf (heute fortdauernde) bolschewistische Ver12 nichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden.“ Was meint der Ausdruck Singularität bei der Bewertung des historischen Ereignisses Holocaust? Handelt es sich um die Leugnung jeglicher Vergleichbarkeit? Die Gegner des Nolteschen Vergleiches lehnen nicht den Vergleich an sich ab. Sie lehnen die gleichmachende, die im Vergleich die Gemeinsamkeiten herausstellende Bewertungsintention ab. Micha Brumlik macht dieses Anliegen in einer rhetorischen Frage deutlich: „Sind also – und darauf kommt es an – die Gaskammern, Eisenbahnbetriebe und Bürokratien der Massenvernichtung in moralischer und politischer Hinsicht zufälliges Beiwerk eines beliebigen Totalitarismus oder nicht doch Ausdruck, nein Wesen eines weltgeschichtlich einmaligen Verbrechens, dessen Dimensionen sich unserem moralischen Fassungsvermögen je und je wieder entziehen, so dass wir stets versucht sind, es in vertraute und bekannte Kategorien zu13 rückzuholen?“ Mit anderen Worten: Gerade wenn und gerade weil man Auschwitz vergleicht, entzieht es sich bestehenden Kategorien und Einordnungsmustern. Dieser Sachverhalt soll mit dem Begriff Singularität ausgedrückt werden. Zu fragen ist nun: Worin wird die Singularität des Geschehens der nationalsozialistischen Judenvernichtung begründet? Joachim C. Fest „unter14 stellt“ den Vertretern der Singularitätsthese drei Argumente: Zum einen sei das Einzigartige an der Judenvernichtung, „dass deren Betreiber nicht nach Schuld oder Unschuld fragten, sondern die rassische Zugehörigkeit zur ausschließlichen Ursache der Entscheidung über Leben oder Tod machten“, zum zweiten, „die administrative und mechanische Form [...], in der das Massenmorden vollzogen wurde“, und zum dritten, dass „solche Rück15 fälle ins Entmenschte sich in einem alten Kulturvolk ereigneten.“ Das einzig zutreffende Argument für die Singularität des Holocaust bleibt hierbei laut Eberhard Jäckel ungenannt: „Ich behaupte dagegen (und nicht erst hier), dass der nationalsozialistische Mord an den Juden deswegen einzigartig war, weil noch nie zuvor ein Staat mit der Autorität seines verantwortlichen Führers beschlossen und angekündigt hatte, eine bestimmte Menschengruppe einschließlich der Alten, der Frauen, der Kinder und der Säuglinge möglichst restlos zu töten, und diesen Beschluss mit allen nur 16 möglichen staatlichen Machtmitteln in die Tat umsetzte.“ Mit anderen Worten: Die Totalität der Vernichtungsandrohung und des Vernichtungswillens sowie seine staatlich-administrative und technisch-industrielle Umsetzung stellt das eigentlich Singuläre am Holocaust dar. Bei dem Streit um die Vergleichbarkeit oder Singularität geht es nicht um den Vergleich an sich, sondern um die mit ihm verbundene Wertung 12 13 14 15 16
J. HABERMAS: Schadensabwicklung, 48. M. BRUMLIK: Staatsmythos, 55. Vgl. den Titel Artikels von E. JÄCKEL: „Die elende Praxis der Untersteller“. J.C. FEST: Erinnerung, 70. E. JÄCKEL: Praxis, 78.
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des Geschehens – eine Problematik, der historiographische Hermeneutik allgemein ausgesetzt ist. Soll sie auf das Individuelle, Besondere, Einmalige bezogen sein? Oder soll sie strukturell orientiert sein, den Blick auf die Verallgemeinerung, Systematik und Generalisierung richtend? Hinter dieser Alternative steckt ein Dilemma, dem im vergleichenden Bewerten schwer zu entkommen ist. Das Postulat der Singularität bleibt deshalb im Blick auf die Methodik ambivalent. Es wendet sich gegen eine Vergleichsweise, die letztlich zum Aufweisen von Singularität notwendig ist. Und noch indem das Postulat der Singularität sich gegen jede Relativierung wendet, relativiert es, weil eine Wiederholung doch per definitionem ausge17 schlossen sein müsste. Zurück bleibt das Paradox, dass das Einzigartige sich dann erschließt, wenn es in seinen Zusammenhang eingeordnet wird. In der Einordnung aber entzieht es sich jenem Zusammenhang. James E. Young spricht bei der Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust von einer „falschen Fährte“. Wer vom historischen Stellenwert des Holocaust ausgehe, könne und müs18 se diesen als „einzigartige Abfolge von Ereignissen betrachten.“ Aber, so Young weiter: „Ziehen wir jedoch unsere eigene begrenzte Fähigkeit in Betracht, diese Ereignisse zu verstehen und zu interpretieren, dann kann der Sinn, den wir in ihnen sehen, keinesfalls in ihrer Einzigartigkeit bestehen.“ Denn: „Historische Ereignisse gleichen einander niemals vollkommen, und auch ihre Ursachen sind nur selten die gleichen.“ Es sei die dem menschlichen Denken und Verstehen vorgegebene Struktur, die aus beispiellosen Ereignissen neue Metaphern und Archetypen mache: „Die Ereignisse sind neu, doch die Namen, die wir ihnen geben, und die Bedeutungen, die sie 19 für uns haben, sind zwangsläufig alt.“ Deshalb gilt für Young: „Zu neuen, eindeutigen Bedeutungen können wir nur dann gelangen, wenn wir zulassen, dass neue, beispiellose Ereignisse, zur Metapher geronnen, die alten, 20 verfügbaren Bedeutungsmuster zersetzen, die wir in sie hineintragen.“ Diese Struktur gelte auch für den Holocaust und seine Deutungen. Der Holocaust werde unweigerlich in den Begriffen anderer, früherer Katastrophen begriffen, so wie er – angesichts seiner Einzigartigkeit paradox – zum Namen und zur Deutungskategorie für Ereignisse nach und sogar vor 1945 21 werde. Die vorgestellte Problematik betrifft nicht nur die Historiographie, sondern jede Deutung des Geschehens Holocaust. Einzigartig oder vergleichbar – wenn es sich auch um eine, wie gesehen, falsche Alternative handelt, so hat doch das sich hier zeigende Paradox weitreichende Konsequenzen. Erstens: Was sich allen Deutungsmustern, allen Kategorien entzieht, bleibt darstellungs-, form-, inhalts-, und namenlos. Zweitens: Was sich als unver17 18 19 20 21
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Vgl. N. BERG: „Auschwitz“, 37. J.E. YOUNG: Holocaust, 146f. Alle Zitate a.a.O., 147. Ebd. Vgl. a.a.O., 164ff; besonders 164. S. u. III. 1.1.
gleichlich zeigt, gewinnt möglicherweise trotz (oder durch) seine Wertlosigkeit und Unerfassbarkeit einen besonderen Wert. Andrej Kaminski hat auf einen sonderbaren deutschen „Chauvinismus mit umgekehrten Vorzeichen“ hingewiesen, der sich immer wieder darauf versteife, die NS-Verbrechen 22 „als ‚unvergleichbar‘ und ‚beispiellos‘ zu bezeichnen.“ Dan Diner hat angemerkt, dass ihm die Auseinandersetzungen um die Frage der Singularität des Holocaust bisweilen wie eine Fortsetzung der Debatte um die Erwäh23 lung Israels auf säkularer Ebene vorkämen. Das in der Erfassung des Holocaust als historischem Ereignis mitgegebene Paradox weise „quasi-religiöse Implikationen“ auf, die sich in der Frage des historischen Verstehens des Holocaust fortsetzten. Das Singularitätsparadox der Vergangenheit Holocaust setzt dem Verstehen eine Grenze. Es verhindert ein vollständiges Begreifen des Holocaust. Es bringt dadurch auch das Erinnern an seine Grenze. Wie ein „schwarzes Loch“ entzieht sich das Geschehen Auschwitz den passenden Kategorien, Namen und Einordnungen. Deutlich wird diese Problematik in der Diskussion um die Rationalität und damit um die Verstehbarkeit des Geschehens. Auch in der Diskussion um die einzunehmende Perspektive im Blick auf das Ereignis Holocaust werden diese Schwierigkeiten sichtbar. 1.2 Die unvermittelbaren historischen Perspektiven – Grenzen der Verständigung In der Auseinandersetzung zwischen den Historikern Martin Broszat und Saul Friedländer in den späten 1980er Jahren geht es um die Frage der Perspektive, aus der heraus das Geschehen Holocaust analysiert werden soll. Die Frage der angemessenen Perspektive ist dabei in zweifacher Hinsicht umstritten. Zum einen geht es um den historischen Aspekt: Aus welchem Blickwinkel soll die Geschichte des Dritten Reiches untersucht werden? Damit verbunden ist die Frage: Welchen Stellenwert hat der Holocaust bei der Erfassung der Geschichte des Nationalsozialismus? Muss er im Mittelpunkt der Betrachtung stehen oder ist er „lediglich“ ein Teil der Geschichte unter anderen? Zum zweiten geht es um die Frage, welche Rolle die individuell-persönliche, vom soziopolitischen, historischen und biographischen Kontext abhängige Perspektive spielt. Konkret: Wirkt sich der Unterschied zwischen einem Forscher aus der „HJ-Generation“ und einem Forscher aus der Generation der Opfer und ihrer Nachkommen in der Betrachtungsweise aus? Beide Komplexe, die Frage der historischen wie die der persönlichen Perspektive, greifen in der Auseinandersetzung ineinander. Die Auseinandersetzung zwischen Broszat und Friedländer wurde 1987 in der Form eines Briefwechsels geführt. Ich referiere im Folgenden die 22 Zitiert nach N. BERG: „Auschwitz“, 37. 23 Vgl. D. DINER: Täuschungen, 292f.
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Position Broszats (a) und die Kritik Friedländers (b). Abschließend möchte ich Konsequenzen und weiterführende Fragen für die Untersuchung darlegen (c). a) Die Position Broszats Broszat fordert eine „Historisierung“ des Nationalsozialismus. Damit intendiert er dreierlei im Blick auf die wissenschaftliche und gesellschaftliche Behandlung des Holocaust: Erstens solle die Zeit des Nationalsozialismus nicht länger als eine abgeschottete, dadurch fremde, ja ganz und gar befremdliche Geschichte verstanden werden. Sie solle als ein Kapitel der deutschen Geschichte verstan24 den und „als ein Stück der eigenen Geschichte integrierbar“ werden. Es dürfe nicht zu einem „Ablegen der NS-Zeit in ein Fach für tote Geschich25 te“ kommen. Eine „Verlebendigung von Geschichte“ und ein „Rückge26 winn von Authentizität“ sei zu erreichen. Historisierung bedeutet für Broszat nicht die Entsorgung und Verdrängung der Geschichte. Es sei im Gegenteil dieser Verdrängung der Geschichte aus der Geschichte heraus entgegenzuwirken. Broszat sieht die Abschottung der NS-Zeit vor allem durch die Fokussierung auf ein pauschales moralisches Urteil bedingt, mit dem der Nationalsozialismus und die gesamte Epoche bedacht würden. Diesem moralischen Urteil will er nicht widersprechen. In seiner Pauschalisierung und Generalisierung verhindere dieses Urteil aber historische Einsicht im Sinne eines Verstehens des Geschehenen. Um solches historisches 27 Verstehen geht es Broszat mit seiner Forderung nach Historisierung. Die Abschottung der NS-Zeit, die diese „Periode der deutschen Geschichte ausschließlich zum Exempel und Paradigma weltweiter politisch-moralischer 28 29 Didaktik“ mache, sei aufzuheben. Sie sei als „unsere Geschichte“ wieder einzuholen. Zweitens: Mit der Forderung der Integration verbindet Broszat den prob30 lematischen Begriff der „Normalisierung.“ Es gehe um „Normalisierung 31 der Methode, nicht der Bewertung.“ Historisierung der NS-Zeit bedeutet bei Broszat eine Anwendung „normaler“ historischer Methoden bei der Er24 M. BROSZAT, Briefwechsel, 351. 25 A.a.O., 351f. 26 A.a.O., 364. 27 Vgl. hierzu die Differenzierung, die M. Broszat vornimmt, a.a.O., 340. 28 M. BROSZAT, Historisierung, 4. 29 A.a.O., 6; vgl. auch mit derselben Beobachtung, allerdings ausgedehnt auf die gesamte historische Epoche zwischen 1870 und 1945, T. NIPPERDEY: Nachdenken, 225; vgl. G. REUVENI: Zukunft, 214. 30 M. Broszat setzt diesen Begriff bereits in „Plädoyer“, 384, in Anführungszeichen. Diese verhindern aber nicht die Verselbständigung des missverständlichen Begriffs; vgl. N. BERG: „Auschwitz“, 39. 31 M. BROSZAT: Briefwechsel, 365.
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forschung und Darstellung der Epoche. Er fordert vor allem den Einsatz historischen Erzählens, in dessen Folge es zu einem empathischen Nacherleben der Geschichte kommen könne. Ohne ein zu investierendes und zu provozierendes „teilnehmendes Interesse“ gebe es kein historisches Verste32 hen, geschweige denn die Möglichkeit, solches Verstehen zu vermitteln. Drittens: Zur Einordnung der Epoche des Nationalsozialismus in den Gesamtzusammenhang der Geschichte gehöre es, nicht „rückwirkend eine neue Hierarchie und Anordnung der geschichtsbestimmenden Faktoren zu schaffen, d.h. von Auschwitz her die ganze Geschichte des Dritten Reiches rückwärts aufzurollen“. Der historischen Methode entspräche es demgegen33 über, diese Geschichte „nach vorwärts zu entfalten.“ Auch wenn Auschwitz – wegen seines singulären Bedeutungsgehaltes – im Nachhinein ein Zentralereignis der Zeit sei, dürfe nicht übersehen werden, dass es dieses Zentralereignis in der Zeit selbst nicht gewesen sei. Auschwitz sei überhaupt nur möglich gewesen, weil es „nicht im Rampenlicht stattfand, sondern 34 weitgehend verborgen gehalten werden konnte.“ Der Stellenwert von Auschwitz sei im ursprünglich geschichtlichen Handlungskontext evident ein anderer als dessen Bedeutung in der nachträglichen historischen Retrospektive. Methodisch sei es inakzeptabel, wenn Auschwitz zum „Angelpunkt“ des gesamten faktischen historischen Geschehens der NS-Zeit bzw. zum alleinigen Maßstab der historischen Perzeption gemacht werde. b) Die Kritik Friedländers Die Kritik Friedländers setzt am dritten Punkt des Historisierungsprogramms, dem Stellenwert von Auschwitz, an. Friedländer räumt ein, dass Broszat im Blick auf die gängige historische Methodik recht habe, dass man mit dem Anfang zu beginnen habe und den vielfältigen Pfaden der Entwicklung folgen solle, auch den Linien, die wenig mit Auschwitz zu tun haben. „Aber“, so Friedländer, „der Historiker kennt das Ende und teilt die35 se Kenntnisse dem Leser mit.“ Die Erzählung des Historikers könne von dem ihm bekannten Ende nur bedingt absehen, der Hauptstrang der Erzählung müsse schließlich doch darauf zulaufen. Broszats Argument, der Stellenwert von Auschwitz während des Dritten Reiches sei kategorial verschieden von dem Stellenwert, den Auschwitz aus der Retrospektive erhalte, will Friedländer nur begrenzt gelten lassen. Der Vernichtung der Juden sei ein während des Krieges „zwar verborgenes, aber sehr wohl wahrgenommenes 36 Faktum“ gewesen, das die Gedanken zahlreicher Deutscher bestimmte. 32 A.a.O., 351; M. Broszat zitiert hier D. Sternberger. Bereits in seinem „Plädoyer“, 375, klagt M. Broszat über die mangelnde Erzähllust. Seine Forderung nach einer „Lust am Erzählen“ ist Anlass zu Missverständnissen, vgl. S. FRIEDLÄNDER: Briefwechsel, 355. 33 A.a.O., 352. 34 Ebd. 35 S. FRIEDLÄNDER: Briefwechsel, 356. 36 A.a.O., 358.
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Von hier aus werde die Vorstellung eines ganz „normalen“ Alltagslebens massiv erschüttert, denn, so Friedländer weiter: „Ein normales Leben in dem Bewusstsein, dass gleichzeitig massive Verbrechen geschehen, begangen durch die eigene Nation und die eigene Gesellschaft, ist doch wohl kein so 37 ganz normales Leben ... .“ Es zeigt sich, dass Friedländer Auschwitz anders als Broszat einordnet. Auschwitz ist für Friedländer die paradigmatische Kennzeichnung der NaziKriminalität. Eine Kriminalität, die ihresgleichen suche, deren Singularität 38 Friedländer – wenn auch mit anderen Worten – mehrfach betont. Anders als bei Broszat, der die Singularität ebenfalls nicht in Frage stellt, hat diese bei Friedländer Auswirkungen auf dessen Argumentation. Die Einmaligkeit des verbrecherischen Geschehens strahle auf die gesamte Epoche aus. Sie setze durch ihr kriminelles Potential eine Grenze des Verstehens und des 39 Nachvollziehens, die Broszat überschreite. Zugespitzt formuliert heißt das: Die Grenzenlosigkeit von Auschwitz, die grenzenlose Nazi-Kriminalität, setzt einer bestimmten Form von Historisierung ihre Grenze. Diese Grenze begrenzt aus Sicht Friedländers auch die von Broszat geforderte Anwendung der normalen historischen Methoden auf die NaziEpoche, insbesondere das erzählerische Element. Das liege zum einen an der Unbeschreiblichkeit, ja Grenzenlosigkeit des Horrors dieser Verbrechen. Aus diesem Horror ergebe sich eine Art Paradox historischer Hermeneutik im Blick auf das Erzählen. Dieses Paradox beschreibt Friedländer so: „Bevorzugt man die narrative Vorgehensweise, dann sollte sich der Historiker normalerweise so gut wie möglich in die Ereignisse einfühlen, die er beschreibt, um ihnen wirklichkeitsgemäße Plastizität zu verleihen. Doch wenn wir uns dem Bereich der nationalsozialistischen Kriminalität nähern, dann wäre es eher Pflicht des Historikers, den Versuch der Visualisierung zu unterlassen; er sollte sich besser damit begnügen, das Ereignis bloß zu dokumentieren. Solches Paradox mag aus einer ungewöhnlichen Perspektive heraus verdeutlichen, welches die Schwierigkeiten der Historisierung sein 40 können.“ Zum zweiten ergebe sich hier, nachdrücklicher noch als bei der Frage der Zentralität von Auschwitz, das Problem der Perspektive. Aus welcher Perspektive solle denn erzählt werden? Von wo aus entfalte wer seine „Lust am Erzählen“? Hier sieht Friedländer keinen auch nur annähernd verbindenden Ansatzpunkt der Perspektive der Opfer und ihrer Nachkommen einerseits und der Täter und ihrer Nachkommen andererseits. Hier sehe ich den Kernpunkt der Friedländerschen Argumentation. Friedländer vermutet hinter der Forderung der Historisierung durch Erzäh37 Ebd. (Punkte gehören hier zum Zitat). 38 Vgl. a.a.O., 371: „[...] etwas nicht unbedingt Singuläres, aber doch zuvor Ungeschehenes, [...].“ Mehrfach zitiert S. Friedländer hier J. Habermas, vgl. S. FRIEDLÄNDER: Briefwechsel, 356.371. 39 Vgl. S. FRIEDLÄNDER: Briefwechsel, 346. 40 A.a.O., 371.
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len des Alltags der NS-Zeit nicht so sehr eine Trivialisierung der Ereignisse und mit ihr eine Relativierung, auch nicht eine Infragestellung des Primats 41 der Politik für diese Zeit zugunsten einer „Alltagsnormalität“. Der Kernpunkt ist, dass er Auschwitz als Grenzereignis begreift, dessen Erfassung und Erforschung niemals aus einer einzigen, geschweige denn aus einer gemeinsamen Perspektive von Täter- und Opfergruppe erfolgen kann. Eine „Horizontverschmelzung“ der Perspektiven der einen und der anderen 42 Gruppe sei nicht einmal entfernt in Sicht. Und das, obwohl das Ereignis Auschwitz in seiner Grenzenlosigkeit eine gemeinsame Perspektive als Bedingung für die Zukunft der Menschheit geradezu herausfordere, weil Auschwitz an „eine tiefe Schicht der Solidarität zwischen allem, was Men43 schenantlitz trägt“, rühre. Damit wird ein weiteres Paradox deutlich: Das in seiner Unvorstellbarkeit geschehene Auschwitz verbindet alle Menschen. Und zugleich trennt es in jedem Versuch der Erfassung in die verschiedensten, unvermittelbaren Gruppenperspektiven. Die Problematik beschreibt Friedländer durch das Stichwort der Kontextualisierung, also den „Umstand, dass wir unauflösbar verfangen sind in einem Netz aus persönlichen Rückerinnerungen, allgemeiner gesellschaftlicher Konditionierung, angeeignetem fachlichen Wissen 44 – und ständiger Versuche kritischer Distanzierung.“ Eine solche Einsicht, so Friedländer, sei eigentlich selbstverständlich und keineswegs ungewöhnlich im Rahmen historischer Forschung. Nur sei in diesem speziellen Fall der Kontext, der eigene persönliche sowie der gesellschaftliche, nicht zu bewältigen: „Kommt es aber zur Gesamtdeutung, zumal in einem solch extremen Falle wie dem unseren, kann ich mir nicht vorstellen, wie unsere Generation sich dieses Kontextes einfach entledigen könnte, sosehr sie dieses auch wünscht; ich sage das aus eigener Anschauung, aus Beobachtungen, 45 aber auch von einem theoretischen Standpunkt aus.“ Friedländer erklärt auf diese Weise eine „rein wissenschaftliche“ Geschichtsschreibung zur psychologischen wie erkenntnistheoretischen Illusion im Blick auf die beiden Hauptperspektiven der Tätergruppe und der Opfergruppe. Eine Einholung der NS-Zeit in die „normale“ historische Methode sei wegen der Befangenheit in diesem speziellen Kontext schlechterdings unmöglich. Auf diesem Hintergrund rückt der zweite Bereich der Auseinandersetzung, die Frage der individuell-persönlichen Perspektive, die Frage der „persönlichen Rückerinnerungen“ ins Zentrum der Auseinandersetzung. Eingeführt hatte diesen Aspekt bereits Broszat, als er in seinem ersten Brief von einer „mythischen Erinnerung“ der Opfer gesprochen hatte. Er versteht darunter, dass bei aller wissenschaftlichen Erkundung der Vergangenheit diese Vergangenheit auf Seiten der jüdischen Opfer noch immer mit 41 42 43 44 45
A.a.O., 354. Vgl. auch a.a.O., 345. Vgl. ebd. Ebd. S. Friedländer zitiert hier J. Habermas. A.a.O., 367. Ebd.
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schmerzlichen Erfahrungen besetzt sei und deshalb mit trauernder und anklagender Erinnerung behaftet sein müsse. Der Dissens zu Friedländer entsteht da, wo Broszat diese von ihm so genannte mythische Erinnerung in eine Art Opposition zu dem seines Erachtens möglichen und angestrebten rationalen Begreifen der Historie bringt. Broszat unterstellt hier – wenn auch sehr zurückhaltend – der Erinnerung der Opfer und ihrer Nachkommen „Vergröberung des Historischen“, mitunter auch ein „Vergessen der den Zeitgenossen noch vertrauten Einzelheiten und Imponderabilien der 46 Geschichte.“ An dieser Form der Gegenüberstellung von „mythischer Erinnerung“ der Opfer einerseits und rationalem Diskurs der deutschen Geschichtswissenschaft andererseits nimmt Friedländer Anstoß. Er stellt der Erinnerung der Opfer die Erinnerung der Täter entgegen und fragt nach der Objektivität 47 der Forscher der von ihm so genannten „HJ-Generation“. Ob sie sich denn wohl mehr von ihren Erinnerungen frei machen könnten als die Nachkommen der Opfer? Auch deshalb könne es keine Gesamtperspektive auf das Grenzereignis Auschwitz geben. Möglich sei nur ein Gespräch, das in aller Offenheit die Differenzen und die Unvermittelbarkeit der Perspektiven bei der Erfassung und Erforschung der NS-Vergangenheit aner48 kenne. c) Konsequenzen und weiterführende Fragen für die Untersuchung Erstens: Auschwitz stellt die gesamte Zeit des Nationalsozialismus unter einen „kriminellen Schatten“, weil sich das Ereignis wegen seiner Monstrosität schwer eingrenzen lässt: Gehören nur die unmittelbar beteiligten Personen, SS, Wehrmacht und Lagereinheiten dazu? Oder nicht genauso die Verwaltungsbeamten des RSHA, die Industriellen, die Produzenten von Zyklon B, die „Kriegsgewinnler“? Hannah Arendts Beschreibung der „Banalität des Bösen“ sowie die strukturalistisch orientierte NS-Forschung weisen darauf hin, dass Auschwitz nicht ein isolierbarer, sondern ein untrennbarer Bestandteil dieser Zeit ist. Die Judenvernichtung beginnt nicht erst auf dem Weg nach Auschwitz-Birkenau. Sie beginnt mit der Ausgrenzung der Juden aus allen Bereichen der Gesellschaft, und diese Ausgrenzung ist in ökonomischer, gesellschaftlicher, politischer und ideologischer Hinsicht fester Bestandteil der Epoche. Bei der Suche nach den Gründen für Auschwitz zeigt das Ereignis in seiner totalen Verkehrung der Menschlichkeit und Zivilisation eine entgrenzende Wirkung. Wo soll man einen Ansatzpunkt, wo das konstituierende Moment für die Vernichtung finden? Die Vergegenwärtigung des Holocaust entfaltet eine Art Sogwirkung, die bestimmte Unterscheidungen verunmöglicht. Auf diese Problematik zielt die Forde46 Vgl. M. BROSZAT: Briefwechsel, 343. 47 Vgl. S. FRIEDLÄNDER: Briefwechsel, 347. 48 Vgl. a.a.O., 359.
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rung Broszats, Einsicht in das Bewusstsein der Personen jener Zeit zu vermitteln, um das Gesamtgeschehen – gerade wegen der unvermeidlichen Ausrichtung auf das eine Zentralereignis Auschwitz – nicht zu enthistorisieren und aus der Geschichte zu verdrängen. Das Bewusstsein des Einzelnen, seine persönlichen Erinnerungen bleiben das Fundament historischer Rekonstruktion. Beides gilt es zu bedenken: Die Sogwirkung des monströsen Geschehens, das auf seine Weise die einzelnen Erinnerungen überlagert, ja regelrecht überschreibt. Und die unhintergehbare Authentizität der individuellen Erinnerungen, die dem alles entziehenden Blickwinkel des Grenzenlosen gegenüberstehen – womöglich gegenüberstehen müssen, wie Friedländer am Schluss seines letzten Briefes schreibt: „Es [sc.: das menschliche Erinnerungsvermögen; CS] zieht das Normale dem Abnormalen, das Verstehbare dem schwer Verstehbaren, das Vergleichbare dem Schwer49 vergleichlichen, das Erträgliche dem Unerträglichen vor.“ Zweitens: Eine Gesamtperspektive bei der Erfassung des Holocaust gibt es nicht. Vielmehr sind die einzelnen Perspektiven, die aus den verschiedenen Gruppen (Täter, Opfer, Zuschauer, Unbeteiligte) und ihren nachfolgenden Generationen auf das Ereignis eröffnet werden, nicht miteinander zu vermitteln. Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen: Aus welcher Perspektive kann und soll im Sinne von Broszat vom Holocaust erzählt werden? Soll überhaupt erzählt werden? Wenn ja, mit welchen Begriffen? Sind nicht Begriffe in sich schon Vergleiche, in denen neue Erfahrungen mit alten Begriffen „begriffen“ werden? Braucht es nicht eine gemeinsame Sprache, um sich verständlich machen zu können? Und setzt eine gemeinsame Sprache nicht eine gemeinsame Perspektive auf die Wirklichkeit voraus? Ist Sprache nicht eine Art gemeinsame Perspektive, so dass, wenn es keine gemeinsame Sprache gibt, eine Verständigung scheitern muss? Die ins Ausweglose führenden Fragen sollen nun noch um einen Punkt erweitert werden. Von ihm aus mag verstehbar werden, warum die Vernunft bei der Frage nach der Darstellung des Holocaust wiederholt in derartige Aporien getrieben wird. Der Komplex, um den es nun gehen soll, wird in der Geschichtswissenschaft unter der Überschrift Rationalität und Gegenrationalität des Holocaust diskutiert. 1.3 Die Gegenrationalität – Grenze des historischen Verstehens Bei der Diskussion um „das Warum“ von Auschwitz handelt es sich nicht um einen Streit im eigentlichen Sinne mit mehreren Kontrahenten. Die Frage nach dem Verstehen, nach den Gründen des Holocaust – Diner beschreibt sie als die „gleichermaßen vorwissenschaftliche Erkenntnisformel: ‚Wie war es möglich?‘ “, die intuitiv voraussetze, „Verbrechen solcher Natur und solchen Ausmaßes seien in unserer Zivilisation eigentlich nicht mög49 A.a.O., 372.
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lich“ – droht allerdings in dem Problem dichotomisch auseinander fallender Perspektiven und ihrer gruppenabhängigen Erklärungsversuche gleichsam zerrieben zu werden. Diner führt diese Problematik ex negativo vor, indem er die verschiedenen historiographischen Zugänge zu den Fragen von Darstellung und Verstehen des Nationalsozialismus bemüht. Dabei ist sein Ausgangspunkt der, dass die Tatsache dichotomischer Perspektivik auf ein historisches Ereignis allein noch keinerlei Anspruch auf Außergewöhnlichkeit erheben könne. Eine qualitative, radikale Steigerung erfahre das Auseinanderfallen der Perspektiven erst durch die „Natur der nationalsozialistischen Massenvernichtung“. Zentrales Element dieser Massenvernichtung sei eine bis ins Absurde gesteigerte arbeitsteilige Organisation, die die Tat selbst als abstrakt, die Täter hingegen in ihrem Bewusstsein als unbeteiligt zurücklasse. So entstehe 51 das paradoxe Phänomen einer „Tat ohne Täterschaft“, dessen Korrelat in der Depersonalisierung der Opfer – Nummern statt Namen – zu finden sei. Die berühmte These von der Banalität des Bösen finde ihren Ausgang in eben jener Tatstruktur, in der das Handeln des Einzelnen und seine Mitwirkung im eigenen Bewusstsein als „banal“ erscheine. Diner macht darauf aufmerksam, dass eine derartige, strukturalistisch zu nennende Sichtweise sich vor allem in die Perspektive der Täter einfüge. Denn für die Opfer sei das Böse nicht banal gewesen, sondern schlechterdings monströs. So stehe denn der erhellenden „Reflexion der planerisch 52 rational-funktionalen Durchführung“ des Holocaust einerseits das schein53 bare Verschwinden von Täter, Tat und Motiven im „totalitären Nebel“ des Systems andererseits gegenüber. Eine Zusammenführung jener Perspektiven lasse sich wegen der Dichotomie von „banaler“ Erklärung und „monströser“ Erfahrung nicht erwirken. Das werde auch in den unterschiedlichen Ausprägungen der jeweiligen kollektiven Gedächtnisse deutlich: So neige das als deutsch apostrophierte Gedächtnis eher dazu, sich des durch den Holocaust verursachten Schuldzusammenhanges zu entledigen. Das jüdische Gedächtnis hingegen gebe „sich nicht mit Erklärungen zufrieden, die jene Tat allein auf eine unglückliche Verkettung von Ereignissen mit Zufallscharakter zurückzuführen suchen. Der gerichtsförmigen Entgegensetzung von Kläger und Beklagten analog fordert dieses Gedächtnis ein Schuldeingeständnis ein. Damit soll die Tat auf absichtsvolles Handeln und 54 damit auf eine wirkliche Intention zurückgehen.“ Diners Schlussfolgerung: „So kehren die Erfahrungskontexte des Holocaust in der gedächtnisgeleiteten wie forschungstechnisch relevanten Perspektivenwahl wieder: 55 Monstrosität versus Banalität.“ 50 51 52 53 54 55
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D. DINER: Perspektivenwahl, 97. A.a.O., 99. A.a.O., 102. A.a.O., 101. D. DINER: Variationen, 29. A.a.O., 30.
Worin aber gründet das Auseinanderfallen der Erfahrungskontexte in den Erklärungsversuchen? Es sei festzustellen, so Diner, dass der „rein strukturalistischen“ Analyse der Durchführung der Tat nicht nur die Täter, son56 dern auch der „finalisierende Kontinuitätsbezug“ – d.h.: die sinnstiftende Deutung – abhanden komme. Der Protest gegen eine solche „sinnlose Deutung“ entspringe nicht allein aus dem Bedürfnis der Opfer, das „Kollektivinnerweltliche mit den schier unbegreiflichen Phänomenen der Außenwelt 57 – gleichsam Erinnerung und Geschichte – “ zu versöhnen. Die „sinnlose Deutung“ erscheine auch einer allgemein übergreifenden Sichtweise als unerträglich. Gerade in der westlich-zweckorientierten Zivilisation müsse eine „zwecklose Vernichtung“ eine unmögliche Vorstellung sein. Deshalb herrsche an finalisierenden Kontinuitätsbezügen, die der „sinnlosen Tat“ Sinn geben, kein Mangel. Der markanteste Topos sei hier – zumindest in der Sichtweise der Opfer – „die ständige Wiederkehr antijudaistischer und antisemitischer Schübe in der abendländischen Geschichte – eine Sichtweise, die auf der Basis eines religiös grundierten Resonanzbodens die Ausbildung eines liturgischen Gedächtnisses fördert und die obendrein eine negative 58 Teleologie der Katastrophe (‚Shoah‘) indiziert.“ Diesem Deutungsschema hält Diner entgegen, dass zwar erklärt werde, „warum gerade jüdische Menschen zu Opfern der Massenvernichtung wurden“. Die finale Konstruktion von Ideologie und Tat stoße aber an ihre Grenze, wo zu deuten sei, „wie es dazu kommen konnte, Menschen überhaupt einer systematischen Vernichtung zu überantworten.“ Kurz: „War der Antisemitismus für die Judenvernichtung nötig, so geht letztere nicht notwendig aus dem Antisemi59 tismus hervor.“ Der „finalisierende Kontinuitätsbezug“ Antisemitismus erkläre allenfalls einen Teilaspekt, aber keinesfalls die totalitäre Form der Tat. Dasselbe gilt, wie Diner vorführt, für andere scheinbar „rationale“ Deutungsmuster, sei es der Versuch, die „Endlösung“ auf ökonomische Zweckrationalität zurückzuführen, sei es der Versuch, „biologisch-medizinisch-rassische Rationalität“ als Hauptursache einführen zu wollen. Alle diese (pseudo-) rationalen, Sinnzusammenhang stiftenden Erklärungen müssten scheitern, weil sie den Kern der Problematik verfehlten. Denn sie versuchten alle, jenen kausalisierenden Nachweis von Ursache und Wirkung, von Verantwortung und Schuld zu führen, „der im Nebel des organisierten Chaos eines totalitär aus den Fugen des traditionellen Staates geratenen politischen Systems verborgen“ bleibe. Dabei geschehe folgendes: „Durch die Fokussierung von Kontinuitätsbezügen gesellschaftlicher Phänomene durch den Nationalsozialismus hindurch, entzieht sich die extreme Ausnahmeerscheinung der Massenvernichtung notwendig einem solchen 56 D. DINER: Perspektivenwahl, 106. 57 A.a.O., 103. 58 A.a.O., 103. 59 Alle Zitate a.a.O., 104. D. Diner spricht im Blick auf eine monokausale Ableitung des Holocaust aus der „Intention“ Antisemitismus von einer „verzerrenden Verkürzung.“
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Zugriff wie von selbst.“ Hier liegt der Kern der Dinerschen Analyse: Die zivilisationszerstörende Faktizität von Auschwitz wird von den gängigen Deutungen – und zwar jenseits ihrer Perspektiven-Dichotomie – nicht erfasst. Die Grenze jener Deutungen mache deutlich, dass „Auschwitz [...] ein Niemandsland des Verstehens, ein historiographische Deutungsversuche 61 aufsaugendes Vakuum“ ist. Die Erklärung hierfür findet Diner in der „gegenrationalen“ Struktur der Tat. Was meint gegenrational in diesem Zusammenhang? Diner ist nicht der Ansicht, dass Auschwitz eine „überhistorische“ Struktur habe. Gleichwohl komme dem Holocaust „überhistorische“ Bedeutung zu. Die gegenrationale Verhaltensweise der Täter habe die traditionellen Verhaltensweisen der Zivilisation gegen das Böse und so die Konstitutionslogik der modernen Gesellschaften ad absurdum geführt. Diese Erkenntnis gewinnt Diner, indem er – nun doch – eine Aufhebung der erfahrungsgeschichtlich gegenläufigen Perspektiven vollzieht und mittels einer „dritten Sicht“ die Massenvernichtung in ihrer universalhistorischen Bedeutung in den Blick nimmt. So vermag er das, was bisher nicht in Erscheinung trat, was in allen Erklärungen verborgen blieb, aufzudecken. Ausgangspunkt der dritten Perspektive ist – paradox genug – das Phä62 nomen der Institution des „Judenrates.“ In dieser Institution habe sich zeitweise eine – scheinbar vermittelnde – Perspektive ergeben. Diner erklärt: „Schon bei näherem Hinsehen wird deutlich, wie die Institution des ‚Judenrates‘ trotz ihres partikularen Charakters sich den gegensätzlich gepolten Erfahrungsbereichen von Täter und Opfer – Banalität und Monstrosität 63 – in einem zuneigt.“ Der „Judenrat“ sei beides in einem gewesen: Jüdische Interessenvertretung im Gegenüber zu den Nazis und Vermittlungsinstanz nationalsozialistischen Willens, der sich der Juden im Gegenüber zu den Juden bedient habe. So würden an einem Ort zwei gegenläufige Willen miteinander verschränkt, deren Harmonisierung völlig ausgeschlossen sei, weil der Wille des Einen, der Nazis, den Tod des Anderen, der Juden, wolle, jener Wille des Anderen aber dem Überleben gelte. Die Akteure des Judenrates handelten deshalb in einer Grenzsituation, oder wie Diner sagt: „Der ‚Judenrat‘ an sich ist permanente Grenzsituation.“ Er beschreibt diese Situation so: „Seine handelnden Vertreter sehen sich in doppelter Lage gefangen, eine Lage, die sich als Ausgangspunkt jener historiographischen Verschmelzung der Perspektiven anbietet: Nämlich aus Überlebensinteresse gezwungen zu sein, als Opfer die Nazis zu denken, bzw. im Interesse des Überlebens vieler die vermeintlichen Absichten der Nazis durch vorwegnehmendes Handeln zu moderieren. Ihre reale Lage könnte die jener radi64 kalen Tat angemessene radikale Perspektive sein.“ 60 61 62 63 64
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Alle Zitate a.a.O., 108. N. BERG: „Auschwitz“, 48. Vgl. D. DINER, Perspektivenwahl, 111ff. A.a.O., 111. Ebd.
Anhand des Agierens und Reagierens in der partikularen Institution „Judenrat“ lasse sich, so Diner, die universelle Krise der handlungsleitenden Denkformen der rational geprägten, zivilisatorischen Moderne zeigen. Diese Krise bestehe darin, dass das rationale Verhalten der jüdischen Seite in diesen „Judenräten“, ein „sozial gewachsenes und im verantwortungsethischen Sinne aufs Überleben gerichtetes Handeln“, von den Nazis „universell dementiert und im historischen Falle praktisch gebrochen“ worden sei, weil das Handeln der Nazis „nicht von Nützlichkeitserwägungen im Sinne des 65 traditionell Bösen angeleitet war.“ Mit anderen Worten: Die „Judenräte“ verhielten sich gegenüber den Nazis so, wie sie sich verhielten, weil sie ihr Handeln an dem erwarteten Handeln des als traditionell Bösen eingestuften Gegenübers ausrichteten. „Traditionell Böses“ meint hier die „Realisierungsabsicht grenzenlosen materiellen Egoismus und schrankenloser Trieb66 befriedigung.“ Das Handeln der Judenräte verstand sich in diesem Sinne als durchaus rational. Im Sinne eigener Selbsterhaltung wurde darauf hinzuwirken versucht, „ein materiell antizipiertes Interesse des Gegenübers zu 67 befriedigen.“ Das war rational, weil eine Verhaltensweise entwickelt wurde, die – im Reflex auf das traditionell Böse – für die Opfer lebenserhaltende Wirkung hätte haben müssen. Das Verhalten der Nazis habe sich dann aber als gegenrational erwiesen, in Verkehrung des traditionell Bösen als radikal böse. Denn deren Handeln zeigte sich als von keiner Zweckrationalität geleitet. Statt dessen wurden „jene universell voraussetzbaren interessensgeleiteten Denk- und Handlungsformen, denen sich die Judenräte faktisch alternativlos anvertrauen mussten, um überhaupt tätig werden zu können, dahingehend instrumentell verkehrt, als sie als passive Anteile jener Handlungsfalle wirkten, in die die Nazis die Juden trieben.“ Das Ergebnis: „Gesellschaftlich begründete Handlungsrationalität, sonsthin dem eigenen Überleben zweckdienlich, mündete praktisch in eine Paralyse bis hin zur 68 anteiligen Selbstvernichtung.“ Wie Friedländer resümiert auch Diner, dass die Nachwelt den Kernpunkt der durch den Nationalsozialismus heraufbe69 schworenen Krise wohl der „Schattenwelt des Vergessens“ in ihrem Gedächtnis überantworten müsse. Denn nur die radikale Perspektive erweise sich der radikalen Tat als angemessen. Diese Perspektive kann die Zivilisation – gemäß ihrer eigenen Logik – gegenüber dem Zivilisationsbruch nicht einnehmen. So lässt sich das Gesagte in der Frage zuspitzen: Wie sollte die zivilisatorische Handlungsrationalität ihre eigene Widerlegung erinnern können? Die Grenzen der Darstellung und die Grenzen der Perspektive werden von Diner auf die Grenze des Verstehens zurückgeführt. Dem Verstehensvakuum entspricht ein Erinnerungsvakuum. Mit ihm einher gehen Sprach65 66 67 68 69
A.a.O., 112. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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und Erzählvakuum. Diner macht diese Folgeerscheinungen an den erzählerischen Aporien im Blick auf das Geschehen deutlich. Er bringt die erzählerische Aporie auf den Satz: „Auschwitz hat zwar eine Statistik, aber kein 70 Narrativ.“ Dieses Faktum rühre zum einen aus dem extremen Verhältnis von Zahl und Zeit. In einem sehr kurzen Zeitraum sei millionenfacher Mord geschehen. Der zweite Grund liege in der systematischen Methode 71 des Mordens. Das durch diese Koinzidenz von millionenfachem Mord in extrem kurzer Zeit und bürokratisch gleichförmiger Vernichtung ausgelöste Bewusstseinsphänomen nennt er „gestaute Zeit“. Darunter versteht er sowohl den Umstand des Erzählvakuums – das Bewusstsein kann die Wucht des Ereignisses nicht adäquat perzipieren, ein Narrativ bleibe aus – sowie die plausible Folge der Ausbildung von Ersatznarrativen – weil die Erzählung für das Überleben des Menschen notwendig ist, werden dem Ereignis angemessene Erzählungen konstruiert. Diese Ersatznarrative seien keine „unwahren“ Konstruktionen oder gar Lügen, sondern brächten die Kompensation eines Unvermögens in der Verschiebung des Fokus der Erzählung zum Ausdruck. So diene beispielsweise der Warschauer Ghettoaufstand häufig als Ersatznarrativ: „Was Auschwitz angeht, nahm die Geschichte des Warschauer Ghettoaufstandes die Bedeutung eines solchen Ersatznarrativs an. Gemessen an den Vorgängen der administrativen und industriellen Massenvernichtung war jener Aufstand eher von marginaler Natur. Dennoch ist es, sich auf ihn beziehend, möglich, mit einer Geschichte aufzuwarten, die ihres epischen Charakters wegen jene statistische 72 Leere von Auschwitz zu kompensieren vermag.“
Mit anderen Worten: Ersatznarrative verschieben den Fokus vom Unverstehbaren, Unerzählbaren, Undarstellbaren hin zum Verständlichen, Nachvollziehbaren und deshalb Erzählbaren. Mit Hilfe der Ersatznarrative wird eine finalisierende Kontinuitätsstruktur hergestellt, die die Vorgeschichte und das Ereignis in einen teleologischen Zusammenhang bringt. Wie gesehen erklärt Diner mittels des Verstehensparadoxes die Erzählnot, die im Erzählparadox gründet: Wie von dem erzählen, das keine Erzählstruktur hat? Wie das Bebildern, was keine Bebilderung hat? An die 73 Stelle von Narrativen trete deswegen, so Diner, eine Zahl. Aber: Auch die Zahl, auch die Darstellung der Statistik als Statistik ist eine Art Ausflucht aus dem Erzählvakuum. Denn die Zahl, die an die Leerstelle rückt, werde in ihrer Ersatzfunktion zur Ikone, so Diner. Eine Problematik, mit dem sich viele bildnerische Erinnerungszeichen auseinandersetzen müssen.
70 D. DINER: Gedächtnis, 15. Vgl. auch D. DINER: Zeit, 126. Unter Narrativ versteht D. Diner eine einem Ereignis immanente und deshalb auch artikulierbare Erzählstruktur, vgl. D. DINER: Zeit, 127. 71 Vgl. D. DINER: Zeit, 127. 72 D. DINER: Gedächtnis, 16f. 73 Vgl. a.a.O., 16.
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2. Die Erinnerung an den Holocaust und ihre Paradoxien – Wahrnehmung einer Falle Die Analyse Diners deckt eine „Falle“ auf, in der jede Erinnerung an den Holocaust zu stecken scheint: Das Unerinnerbare ist nicht zu erinnern und soll doch erinnert werden. Diese Falle erscheint auf allen Ebenen, in denen die Erinnerung Gestalt gewinnt. Wo Erinnerung schwierig wird, ist auch das Vergessen als komplementärer Bestandteil der Erinnerung problematisch. Hieraus resultiert die Gefahr der Verdrängung der Erinnerung. Das „Erinnerungsvakuum“ wird zur Falle von Gedenkstättenkonzeption und Mahnmalentwurf. Sie wird zur „Erzählfalle“ in Historie und Literatur. Das „Verstehensvakuum“ findet als „Kulturfalle“ ihr Abbild sogar bei dem Versuch, ein „normales“ Fußballspiel zwischen Deutschland und Israel durchzuführen. Hierin werden das prinzipielle Betroffensein aller Lebensbereiche durch die Erinnerung und der schwierige Umgang mit dieser Erinnerung deutlich. Jean-Luc Nancy beschreibt die Falle in seinem kurzen Essay „Un Souffle“ präzise: „Ich will nicht von der Shoah sprechen hören, aber ich will auch nicht das Schweigen über sie hören. Wenn man davon spricht, hallt das Schweigen furchterregend wider. Man muss deshalb hören, man muss all das hören, was gesagt wird, alles, unablässig. Man muss die unaufhörliche Wiederholung hören, die Diskussion über das Darstellbare und Undarstellbare, über die Poesie und ihre Unmöglichkeit, über die Fiktion und ihre Nichtannehmbarkeit, und auch all die Debatten über die begründeten oder zweifelhaften Vergleiche, [...] . Man muss genau dieses Innehalten, dieses Stocken und fast dieses Ersticken unserer Reden durch eine quälende, wachsende – man könnte fast sagen ‚totalitäre‘ Präsenz hö74 ren.“
An diesem Paradox vorbei, nicht sprechen zu können und nicht schweigen zu wollen, gibt es keinen Weg der Erinnerung an den Holocaust. Anders gesagt: Man muss die Ausweglosigkeit der Erinnerung an den Holocaust und ihrer Vermittlungsversuche wahrgenommen haben, um diese Erinnerung einordnen zu können. Man muss erfahren haben, dass es keine adäquaten Medien bei der Erinnerung an den Holocaust gibt, um mit der Erinnerung und ihren notwendigen Medien umgehen zu lernen. Anscheinend gilt: Wer den Holocaust erinnert, gerät in den Sog dieser Erinnerung. Die Monstrosität jenes Verbrechens, die dabei gegenwärtig wird, ist nur schwer auszuhalten. Primo Levi ist nicht der einzige, der in diesem Sog der Erinnerung um sein Leben gebracht wurde. Weiter gilt aber auch: Wer den Holocaust verdrängt, erlebt und befördert sein Fortbestehen. Eine Darstellung zur Erinnerung an den Holocaust muss deshalb die Falle, die Paradoxien dieser Erinnerung, abschreiten. In Ansätzen soll dieses Abschreiten hier geschehen. Als Beispiele, mit deren Hilfe zunächst die Grenzen der Falle abgeschritten werden, führe ich die Debatte um die Errichtung eines zentralen 74 J.-L. NANCY: Souffle, 124. Deutsche Übersetzung von B. STIEGLER, a.a.O., 125.
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Mahnmals in Berlin an (a) und – weil auch scheinbare Banalitäten wichtige Hinweise geben können – die Problematik eines Fußballspiels zwischen Israel und Deutschland (b). a) Die Debatte um die Errichtung eines zentralen Mahnmals in Berlin Die am Ende des letzten Jahrhunderts über zehn Jahre anhaltende Diskussion um die Errichtung eines zentralen Mahnmals zur Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden in Berlin-Mitte ist ein beredtes Beispiel für die Schwierigkeit, eine adäquate Darstellungsform des Gedenkens zu finden. Am Ende dieses Prozesses wurde politische Einigkeit über den Bau eines Mahnmals erzielt. Die Debatte ist lehrreich im Blick auf die Antinomien, die bei einer Formgebung der Erinnerung an den Holocaust wirksam sind. Die Falle besteht hierbei weniger in der allgemeinen Problematik des Verhältnisses von Erinnerung und äußerer Formgebung. Die These, dass die äußerliche Gestalt eines Denkmals weniger dem Erinnern als vielmehr dem Vergessen diene, ist zwar ein wiederholt angeführtes Argument im Streit um die Errichtung eines zentralen Mahnmals an den Holocaust in 75 Deutschland. Diese Problematik trifft aber nicht den Kern der besonderen Schwierigkeit der Erinnerung an den Holocaust. Die Schwierigkeit wird so lediglich auf eine allgemeine Dialektik der Vorgänge Erinnern und Verges76 sen geschoben. Die missliche Umdeutung des Adornoschen Diktums von der Unmöglichkeit, nach Auschwitz noch Gedichte schreiben zu können, hin zu einem vorgeblichen Bilderverbot in der Erinnerung an Auschwitz greift als Erklärung der Auseinandersetzung ebenso zu kurz wie das m.E. zurecht beklagte, bisweilen in der Debatte auftretende Vertauschen der Täter- und Opferperspektive, das die bereits besprochene Problematik der unvermittelbaren Perspektiven widerspiegelt. Dahinter mögen sich Exkulpati77 onswünsche verbergen. Die Falle zeigt sich in der Schwierigkeit, dass nicht dargestellt werden kann, was nicht darstellbar ist, weil Möglichkeiten des Begreifens, des Verstehens, des Erinnerns und des Erzählens fehlen. Widerspruch artikuliert sich deshalb gegen jedwede Formgebung der Erinnerung.
75 Vgl. z.B. C. VON BRAUN: Dilemma: „Steine oder Bilder sind weniger geeignet als Worte, an die Shoa zu erinnern. Das hängt paradoxerweise gerade damit zusammen, dass Steine und Bilder eher zur Verfestigung (damit aber auch zur Auslöschung) von Erinnerung führen als die gesprochene und geschriebene Sprache.“ Vgl. auch T. ASSHEUER: Aufgabe. 76 Siehe hierzu oben I. 1–3; vgl. E. und J. GERZ: Denkmal, 201f 77 Vgl. R. KOSELLEK: Rollentausch: „Lauert hier nicht ein erschlichener Rollentausch, der die Nation der Täter über ein Holocaust-Denkmal in die Reihe der Opfer einrückt?“
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Das gilt auch für jene von Peter Reichel empfohlene Form des epheme78 ren Mahnmals, das aus der doppelten Not (allgemeine Denkmalsdialektik von Erinnern und Vergessen und Sichtbarmachen des Unsichtbaren, des Verlorenen/Ermordeten/Vertriebenen/Verdrängten) eine Tugend macht und eine Art Kunst des Verschwindens darstellt. Reichel bezieht sich hier 79 auf Künstler wie Christian Boltanski, Karol Broniatowski, Jochen Gerz, Hans Haacke, Horst Hoheisel und Micha Ullman, die die Erinnerung an den Verlust in Form einer Lücke als Hohlform, als sichtbar Unsichtbares 80 thematisieren und so eine ephemere Denkmalinstallation konstruieren. Von Boltanski stammt die Gedenk-Installation „the missing house“ in BerlinMitte. Ihr besonderes Merkmal: Im Kern besteht sie aus einer Hauslücke auf der Großen Hamburger Straße. Am 3.2.1945 wurde das Haus bei einem Bombenanschlag zerstört. Durch das Anbringen von kleinen Tafeln an der Mauer des Nachbarhauses erinnert Boltanski an vergessene Menschenleben mit individuellen Biographien. Hinter dem allgemeinen Aspekt der Besetzung der Lücke steckt ein gezielter Hinweis auf die Gestalt des verlorenen Lebens. Boltanski versucht, den einst abrupt vollzogenen Übergang vom Leben zum Tod umzukehren. Ein gewaltsam entstandener „Freiraum“ soll noch einmal für kurze Zeit mit Leben erfüllt werden. Mit dem anstehenden Neubau verschwindet die ephemere Installation an dieser Stelle. Die zeitliche Begrenzung ist Teil des Konzeptes. Damit soll die Problematik einer Vergegenwärtigung des Vergangenen verdeutlicht werden.
Mit dieser Idee spielt auch Hoheisels Vorschlag zum Wettbewerb des zentralen Mahnmals in Berlin. So erklärt er die Grundidee seines Entwurfes so: „Die Nähe des vorgesehenen Denkmalstandortes zum Brandenburger Tor und die Leere des Geländes, sowie die Einsicht, dass im Lande der Täter dieses Denkmal ganz anders sein muss als in den Ländern der Opfer, haben dann meinen Entwurf bestimmt: Ich habe vorgeschlagen, das Brandenburger Tor zu Staub zu zermahlen und auf dem Denkmalsgelände zu verstreuen. Der Platz wird mit Granitplatten belegt. Als Denkmal entstehen zwei benachbarte leere Orte: der des ehemaligen Brandenburger Tores und der des Denkmals. Das eigentliche Denkmal ist, diese doppelte Leere auszuhal81 ten.“ Hoheisel ist vorgeworfen worden, er vermische auf unlautere Weise die Idee des Denkmals mit Sühnevorstellungen, die letztlich die Möglich-
78 Vgl. P. REICHEL: Politik, 119ff. 79 Von J. und E. GERZ stammt das Harburger Mahnmal gegen den Faschismus, Krieg und Gewalt – für Frieden und Menschenrecht. Es handelte sich dabei um eine Säule im Harburger Zentrum, auf der dazu eingeladen wurde, gegen Krieg und Gewalt und für Frieden und Menschenrechte zu unterschreiben. Der mit Unterschriften bedeckte Teil wurde versenkt, solange, bis die Säule ganz im Boden verschwunden war. Eine nebenstehende Platte erinnert nun an das Projekt. Die Säule stand von 1986 bis 1993. Dann war sie mit 70000 Unterschriften vollständig beschrieben und vollständig abgesenkt; vgl. auch E. und J. GERZ: Denkmal, 201ff. 80 Vgl. P. REICHEL: Totengedenken, 77. 81 H. HOHEISEL: Erinnerungsversuche, 261ff.
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keit einer Entschuldung der Täter suggerierten. Das Aufbegehren gegen Hoheisels Vorschlag bezieht sich vor allem auf die zentrale Idee dieses „Kunstwerks“: Hier wird auf unzivilisierte Weise der Zivilisationsbruch in Erinnerung gebracht. Es wird geradezu „barbarisch“ ein Kunstwerk abgerissen und die so entstehende Leere, die verlorenes Leben versinnbildlicht, durch neue Leere, ein fehlendes Kunstwerk, ersetzt. Hier zeigt sich die Grenze des ephemeren Mahnmals. Der Rückfall in die Leere ist nur scheinbar ein Ausweg aus der Darstellungsfalle. Als postmoderne Kunst ist der unzivilisierte Rückfall zivilisierter als er sein möchte. Mariam Niroumand hat darauf hingewiesen, dass auch die verschwindenden Mahnmale „in den Formen selbst eine Schwäche für das Erhabene, die 82 Einschüchterung“ verraten. Der Negierung der Abbildbarkeit und dem Rückverweis auf den Betrachter, der im Verschwinden des Mahnmals seiner selbst und des verlorenen Unsichtbaren gewahr wird, liege letztlich die – wenn auch in sich verkehrte – gleiche Konstitutionslogik wie jedem anderen Mahnmal zu Grunde. D.h.: Selbst wenn die Kunst des Verschwindens das Verschwundene möglicherweise angemessener erinnert als andere Formen, der Darstellungsfalle, nicht darstellen zu können, was nicht darstellbar ist, entkommt sie nicht. Die Aufnahme dieser Problematik in die Konstitution des Mahnmals spricht gleichwohl zugunsten dieser ephemeren, unsichtbaren Denkmäler. Einen Ausweg aus der Darstellungsfalle weist keine noch so ausgeklügelte Darstellung. Es bleibt zunächst die Wahrnehmung, dass die Falle aus einer Verstrickung in Antinomien, in widerstreitende Gesetzmäßigkeiten, besteht. Darauf weist Brumlik hin. Er setzt der „Nicht-Vorstellbarkeit des Ge83 genstands“ die „Unverzichtbarkeit kollektiver Erinnerung“ entgegen. Brumlik beschreibt die unterschiedlichen Antinomien im Blick auf das angestrebte zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin: Neben der reinen 84 85 „Denkmals-Antinomie“ und der „Perspektiven-Antinomie“ nennt er die „Darstellungs-Antinomie“: „Einerseits kann keine ästhetische Form dem Grauen genügen – andererseits kann nur künstlerische Gestaltung über eine reine Information hinaus die mit dem Grauen und der Trauer einhergehenden Affekte auf Dauer im öffentlichen Raum darstellen.“ Sein Fazit: „Diesen Antinomien ist argumentativ nicht zu entgehen, sie lassen sich
82 M. NIROUMAND: Darsteller, 15. 83 M. BRUMLIK: Trauerrituale, 204.207. 84 M. BRUMLIK: Dilemma: „Einerseits kann der Verzicht auf ein Mahnmal als Unwillen ‚der Deutschen‘, sich der Schande der Nation zu erinnern, verstanden werden – andererseits lässt sich jedes noch so vergleichsweise gelungene Mahnmal als abschließender Akt, der dem Vergessen Tür und Tor öffnet, deuten.“ 85 Ebd.: „Einerseits kann die Beschränkung auf die jüdischen Opfer als subtile Fortsetzung von Diskriminierung und Selektion denunziert werden – andererseits eine Ausweitung auf alle Opfergruppen als Verdrängung des antisemitischen Kerns der Shoah kritisiert werden.“
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bei jedem möglichen Vorschlag für ein Mahnmal immer wieder von neuem 86 erheben.“ Der Mahnmalsdiskussion vergleichbare Diskurse ließen sich beispielsweise zu Filmen in Erinnerung an den Holocaust oder zu literarischen Erzählungen wiedergeben. Ob „Holocaust“, ob „Schindlers Liste“, ob Claude Landsmanns Film „Shoah“, immer wieder scheinen die Antinomien der Erinnerung an den Holocaust das Medium zu überfordern. In Übersetzung des Begriffes Medium ausgedrückt: Das Mittelding wird unmöglich, weil jene Mitte nicht zu finden ist, die benötigt wird, um vermitteln zu können. Das Medium scheint am Ende ganz auf der Seite des Beobachters zu stehen, fern einer Sache, die es nicht verstehen kann, gebunden an die von Diner so genannten Ersatznarrative, die es zur Mitte erheben muss. Der öffentliche Weg – Sinn des Mediums – erscheint unbegehbar.
Das heißt nicht, dass jedes Mahnmal gleich gelungen bzw. misslungen ist oder jeder Film von gleichem qualitativen Rang wäre. Die Darstellungsfalle nivelliert nicht die Differenzen der Darstellung, ihre Ansprüche, ihre gestalterische Umsetzung. Aber auch für den besten Film, die beste Absicht, die beste Umsetzung bleibt die Falle zunächst bestehen, weil es an einer den Antinomien entkommenden dritten Sicht mangeln muss. b) Die Problematik eines Fußballspiels zwischen Israel und Deutschland Wie breit der Sog eines Verstehens-Vakuums auf die Bereiche der Gesellschaft ausstrahlt, möchte ich am Beispiel des Fußballs andeuten: Am Tag nach dem Fußball-Länderspiel Israel–Deutschland, am 27. Februar 1997, erreichte mich ein Fax aus einem Vorort von Tel Aviv mit folgendem Wortlaut: „Christian, ich habe nicht das ganze Spiel gesehen, aber was mich gestört hat, ist, dass die deutschen Spieler so vorsichtig und sensibel gespielt haben, und zwar wegen der uns bekannten Geschichte. Das war verletzend 87 für die israelische Nationalmannschaft.“ Die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit steckte, so spiegelt es dieser Kommentar meines Freundes Shaul Zaban wider, den deutschen Nationalspielern in Köpfen und Füßen. Jeder Nationalspieler, der im Vorfeld von einem ganz normalen Fußballspiel gesprochen hätte, wäre von Trainer und Präsidenten zurechtgewiesen worden. Mit medienwirksamer Inszenierung hat die deutsche Fußballnationalmannschaft bewusst, dem Willen ihres Präsidenten Braun folgend, das Länderspiel zu einer Nebensache ihrer Reise nach Israel ge88 macht. Die „Botschafter in Stollenschuhen“ sollten ein nachhaltiges Zeugnis guten deutschen Gedenk-Willens ablegen. Etwas Gegenteiliges 89 haben sie, wie die Reaktion meines Freundes zeigt, dabei ausgelöst. Ohne 86 Ebd. 87 Fax vom 27.2.1997, S. ZABAN an CS. 88 Göttinger Tageblatt vom 26.2.1997, 26: „Spiel steht im Hintergrund“. 89 Die Beobachtung, deutsche Nationalspieler hätten möglicherweise ein etwas rüderes Foul für eine antisemitische Handlung gehalten, wurde auch von Teilen der israeli-
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mit der zum Fußball gehörenden Aggressivität zu spielen, ist für das Gegenüber verletzend, weil Israelis so als aktueller, gegenwärtiger (Spiel-) Partner weder wahr- noch ernst genommen werden. Die Gedenkfalle kann also sogar zur Fußballfalle werden. Hier wie dort gilt: Die Erinnerung an den Holocaust bemächtigt sich des Mediums derart, dass das Medium selbst an seine Grenzen gestoßen wird. Das scheint auch da zu geschehen, wo das ursprüngliche Anliegen gar nicht das Erinnern selbst ist. In dem Moment, wo das Fußballspiel mit der Erinnerung an den Holocaust verbunden wird, stößt das Spielen an die Grenzen der Erinnerung, wird es zu ihrem Medium. Hinter dieser Grenze erscheint das Unbegreifliche, das das Erinnerungsmedium seiner Möglichkeiten zu Teilen beraubt. Könnte man doch einfach Fußball spielen ohne nachzudenken, mag sich mancher wünschen. Aber auch das „läuft“ so nicht. 3. Philosophische Erklärungen des Erinnerungsparadox An dieser Stelle möchte ich zwei philosophisch-kulturwissenschaftliche Entwürfe vorstellen, die die ganz eigene Problematik der Erinnerung an den Holocaust von jüdischer Seite aus einfühlsam wahrnehmen. Auf ihre Weise schreiten sie die Grenzen der beschriebenen Falle ab und stellen so erste Ansätze dar, mit der Problematik umzugehen. Der erste Entwurf stammt von dem bereits mehrfach angeführten Kommunikationstheoretiker Flusser (a), der zweite von dem Philosophen Lyotard (b). a) Vilem Flusser: Auschwitz im Programm unserer Kultur Vilem Flusser findet für die von mir so genannte Falle der Antinomien eine andere Metapher bei seiner Beschreibung der Krise der westlichen Kultu90 ren: die „Hohlheit.“ „Wir haben den Glauben an den Fortschritt verloren. Wenn wir trotzdem fortschreiten, dann tun wir dies ‚bösen Glaubens‘. Wir 91 haben den Glauben an den uns tragenden Boden, an uns selbst verloren.“ Ursache sei das einzigartige Ereignis Auschwitz. Es sei deshalb so einzigartig „– und daher prinzipiell unbegreiflich –“, weil „es sich um ein notwendig gewordenes, wenn auch gänzlich unwahrscheinliches Resultat unserer Kul92 tur“ handele. Unwahrscheinliches Resultat nicht deswegen, weil es ein Bruch mit der westlichen Kultur gewesen sei, sondern weil die Regeln dieser Kultur in Auschwitz so konsequent wie nirgendwo angewendet worden seien. Flusser: „Ist doch das Monströse an Auschwitz, dass es nicht etwa ein schen Presse nach dem Spiel vermerkt, wo es heißt: „es schien, als gäbe weniger der Bundestrainer als mehr der Verein für deutsch-israelische Freundschaft die Anweisungen.“ (Haaretz vom 26.2.1997) 90 Vgl. V. FLUSSER: Nachgeschichte, passim. 91 Vgl. a.a.O., 15. 92 A.a.O., 12.
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sich nie wiederholender ‚Unfall‘ war, sondern die erste Verwirklichung einer 93 Anlage im Programm des Westens, dass es der erste perfekte Apparat war.“ Dieser Gedanke, der sich in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno sowie in seiner konkreten Übertragung auf das Ver94 nichtungslager Auschwitz in der „Dialektik der Ordnung“ von Zygmunt Baumann wiederfindet, wird von Flusser auf seine „Philosophie der Programme und Apparate“ hin entfaltet: Die westliche Kultur habe in Auschwitz nichts anderes als ihr bisher verborgenes Gesicht gezeigt. Deshalb stehe die gesamte Kultur in Frage. Alle Errungenschaften, seien sie in der Wirtschaft, in der Politik, in der Technik, in Kunst oder Wissenschaft, in der Philosophie, wären durch das „unverdaute“ Wissen von Auschwitz unter95 höhlt. In immer radikaleren Formulierungen beschwört Flusser das Ende unserer Kultur, ihre Grenze, die mit Auschwitz erreicht sei: „Das ist der wahrhaft revolutionäre Aspekt von Auschwitz: Es wirft unsere Kultur um.“ 96 Und: „Die ganze Geschichte des Westens ist absurd geworden.“ Das verborgene Gesicht, die westliche Utopie, die in Auschwitz erstmals ihren Ort gefunden habe, beschreibt Flusser als das Produkt eines Modells, das den funktionierenden Apparat in seinem Zentrum habe. Dieser Apparat sei in der alles bestimmenden technischen Vernunft als der Grundlage dieses Modells angelegt. Für die Genese des Apparats macht Flusser die dem Westen eigene Fähigkeit, alles zu objektivieren, verantwortlich. Hier liege der Grund und zugleich das Instrument zur Verdinglichung des Menschen. Die westliche Gesellschaft sei ihrem Wesen nach „eben Vernichtungsla97 ger.“ Auschwitz sei in diesem Rahmen nur eine erste – und deshalb noch 98 sehr brutale – Form der Verwirklichung davon. Das grundsätzliche Problem, dem sich Flusser stellt, lautet: Eine derartige Einsicht in die eigene Kultur ist – mindestens was ihre praktische Konsequenz angeht – an sich unmöglich. Zum Wesen des Apparates gehöre es, dass derjenige, der sich in ihm bewegt, von der Lauterkeit und Reinheit seiner Funktion und ihrer Erfüllung überzeugt sei. Auf provokante Weise macht Flusser diesen Zusammenhang am Beispiel des Holocaust deutlich: „Die Nazis folgten den für den Westen edelsten Motiven. Sie verhielten sich wie ‚Helden‘, ‚reine Künstler‘, ‚für Ideen Engagierte‘. Dasselbe taten die Juden. Sie verhielten sich wie ‚Heilige‘, ‚Märtyrer‘, ‚Gerechte‘. Und beide verhielten sich zueinander in Hingabe: Die Nazis lebten in Funktion der Juden und die Juden in Funktion der Nazis. Auschwitz war ein perfekter 93 A.a.O., 14. 94 Z. BAUMANN: Die Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992. 95 Vgl. a.a.O., 12. Sport würde ich noch hinzufügen, s.o. 96 A.a.O., 13. 97 A.a.O., 15. 98 Vg. ebd.: „Die totale Verdinglichung der Juden durch die Nazis, die konkrete Verwandlung der Juden zu Asche, ist nur die erste und darum noch brutale Form der ‚sozialen Technik‘, die unsere Kultur kennzeichnet.“
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Apparat, der nach den besten Modellen des Westens hergestellt worden war 99 und funktionierte.“ Ein Heraustreten aus dem Apparat ist laut Flusser keine Alternative. Es ist schlechterdings unmöglich. Zwar habe die Kultur gezeigt, dass sie zu verwerfen sei. Nur könne man die eigene Kultur nicht verwerfen. Denn sie sei und bleibe der Boden unter den Füßen. Diesen zu verwerfen hieße, verrückt zu werden, dem Wahnsinn zu verfallen. Man sei von daher dem eigenen Modell, in dem man sich befindet, im Guten wie im Bösen verfallen. Diese Einsicht spitzt Flusser in einem Wortspiel zu: 100 „Modelle sind Fallen, die dem Auffangen der Welt dienen.“ Und derer man sich deshalb nicht entledigen könne. Es bleibt keine Alternative, als auf dem Fundament der Kultur zu verweilen und dennoch seine Hohlheit zu spüren: Auschwitz. Hohlheit beschreibt mit einem anderen Wort, was ich als Falle bezeichnet habe: Die Einsicht in die Selbstwidersprüchlichkeit der eigenen Kultur, Einsicht in die Antinomien und Grenzen, die sich ihr durch und seit Auschwitz stellen. Die Einsicht ist verbunden mit dem Bewusstsein, aus dieser Selbstwidersprüchlichkeit nicht heraus treten zu können. So bleibt die Frage, ob die Einsicht in diese Zusammenhänge einen eigenen Stellenwert haben kann. Flusser bejaht diese Frage. Wenn die Einsicht auch nicht aus dem aushöhlenden Selbstwiderspruch herausführt, so vermag sie doch „Schlimmeres“ zu verhindern. Es sei zwar so, dass uns „trotz 101 Auschwitz“ nichts anderes übrig bleibe, als in unseren als verwerflich entlarvten Modellen fortzuschreiten, aber eben „trotz Auschwitz“. Das heißt: 102 „Nicht so tuend, als sei nichts geschehen.“ Andernfalls geschehe Fürchterliches: Auschwitz verschöbe sich aus der Vergangenheit in die Zukunft, aus dem Polen der 1940er Jahre des letzten Jahrhunderts in die nachindustrielle Gesellschaft. Die dann entstehenden Programme zur Verdinglichung des Menschen seien schlimmer, ihre Technik noch feiner als die bisher bekannten. Flusser beschreibt hier das Problem der Verdrängung: Die Wiederholung des Geschehens in anderer Form. Die Einsicht in die Hohlheit hilft also auf mittelbare Weise: Sie verhindert – möglicherweise – eine Wiederholung. Hoffnungsvoll klingt Flusser dabei nicht. Er resümiert: „Wir haben den Glauben an den uns tragenden Boden, an uns selbst verloren. Unsere Geschichte ist zwar noch nicht am Ende, aber von jetzt an ist sie eine üble Geschichte. [...] Unsere einzige Hoffnung ist auf das Unterbinden der Verwirklichung unseres Programms und der Aufrichtung des apparativen Tota103 litarismus gerichtet.“ Aus was könnte sich derartige Hoffnung nähren? Hierauf gibt es keine andere Antwort als die im „trotz Auschwitz“ angedeu99 A.a.O., 13. Er ist sich der Provokation, Täter und Opfer an dieser Stelle in einem Zug zu nennen und von der Metaebene der Apparat-Theorie her zu parallelisieren, bewusst, vgl. a.a.O., 13. 100 A.a.O., 14. 101 Vgl. a.a.O., 13. 102 A.a.O., 14. 103 A.a.O., 15f.
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teten Blickwinkel. Jenes „trotz Auschwitz“ schließt die Verdrängung als Grund zwanghafter Wiederholung aus. Die Erinnerung, die letztlich zum Grund „wahnsinniger“ Verwerfung der eigenen Kultur werden müsste, kommt für Flusser als alleiniges „Heilmittel“ nicht in Betracht. Es gelte, Auschwitz als Modell der westlichen Kultur zu erinnern. In der Konzeption Flussers bedeutet das: Im Wechsel von Einsicht in die Hohlheit der Kultur einerseits und der Unmöglichkeit, diese Einsicht praktisch umsetzen zu können andererseits, mit der Hohlheit und trotz der Hohlheit zu leben. Im Bild der Falle ausgedrückt: Die Falle wahrzunehmen bedeutet, sie abzuschreiten und an ihre Grenzen zu stoßen, die auf diese Weise sichtbar werden. b) Francois Lyotard – Der Widerstreit (Le différend) In seiner psychoanalytischen Kulturtheorie stellt der jüdische Philosoph Francois Lyotard ähnlich wie Flusser die Shoah als Entbergung des abend104 ländischen Geschicks dar. Nicht minder radikal als Flusser, aber mit einer anderen Stoßrichtung rückt Lyotard das Dilemma der Undarstellbarkeit von Auschwitz ins Zentrum seiner Überlegungen. Diese können als Reflex auf die Suche nach einer dritten Perspektive im Erfassen der Shoah verstanden werden. Sie sind so der Versuch einer Antwort auf das Phänomen der 105 Gegenrationalität im Dinerschen Sinne. 106 Lyotard formuliert in seinem Buch „Der Widerstreit“ das Problem der Unbegreiflichkeit im Blick auf das Medium Sprache: „Der Aufhebung von ‚Auschwitz‘ fehlt eine Instanz, die – für sich – in einen neuen Satz übertragen könnte, was sich hier und dort, seitens der Nazis und seitens der Deportierten, nur als Ansicht darstellt. [...] Es gibt keinen Übergang vom Uni107 versum des Satzes des Deportierten zu dem des Satzes der SS.“ Unter „Aufhebung“ versteht Lyotard eine Form der Darstellung, „die etwas beisei108 te schafft und (er)hebt.“ Jede Form der Darstellung, die eine solche Aufhebung in sich berge, arbeite, insofern sie etwas „beiseite schafft“, dem Vergessen zu. Lyotard sieht hier eine dialektische Verschränkung von Erinnern und Vergessen wirken. Sie beinhalte, dass ein Veräußerlichen des Erinnerten die Auslöschung dieses Erinnerten als Erinnerung mit sich bringe. Sprechen als Erinnern wird von ihm auf diesem Hintergrund als spezifische 109 Form des Vergessen identifiziert, ja in gewisser Weise sogar denunziert. Für Lyotard gilt: „ ‚Auschwitz‘ in Bildern und Worten wiederzugeben, ist 110 eine Weise, dies zu vergessen.“ Es handele sich daher um etwas, was „un104 105 106 107 108 109 110
Vgl. auch M. BRUMLIK: Shoah, 123ff. Vgl. W. BIALAS: Shoah, 112f. Vgl. oben II. 1. F. LYOTARD: Le differénd, 1983 (dt.: Der Widerstreit, 1987). F. LYOTARD: Widerstreit, 177. F. LYOTARD: Heidegger, 16. Vgl. hierzu D. KIMMICH: Kalte Füße, 102. F. LYOTARD: Heidegger, 37.
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darstellbar bleiben“ müsse, um nicht „als das Vergessene selbst(,) vergessen 111 zu werden.“ Seine logisch anmutende Folgerung: Die passende Antwort auf Auschwitz müsse ein Schweigen sein. Nur so könne einer „Aufhebung“ der Shoah entgangen werden. Aber: Kann Schweigen eine mögliche Antwort der Opfer sein? Liegt damit nicht das Gesetz des Handelns in Form von Sprechen zum wiederholten Male bei den Tätern – jetzt bei ihren Nachfolgern, den Leugnern von Auschwitz? Lyotard reizt diese Frage bis an die Grenzen epistemologischer Zuspitzung aus und führt dabei die Logik der Unsagbarkeit auf radikale Weise vor: „ ‚Tatsächlich und mit eigenen Augen eine Gaskammer gesehen 112 zu haben‘ wäre die Bedingung für die Autorität, ihre Existenz zu behaupten und den Ungläubigen zu belehren. Zudem muss man beweisen, dass sie in dem Augenblick todbringend war, als man sie sah. Der einzig annehmbare Beweis für ihre tödliche Wirkung besteht darin, dass man tot ist. Als Toter aber kann man nicht bezeugen, dass man in einer Gaskammer umge113 kommen ist.“ Mit diesen Sätzen paraphrasiert Lyotard die Logik der Revisionisten, hier ausdrücklich die des in Frankreich prominenten Vertreters der Leugner von Auschwitz, Faurisson. Für Lyotard wird an dieser Stelle der „Widerstreit“ offenbar. Die Opfer treten als Kläger gegen die Täter auf. Sie können dieses nur im Widerstreit tun, weil sie ihrer Beweismittel beraubt sind. Widerstreit heißt für Lyotard: Es gibt keine Verhandlungsebene. Es komme zum Widerstreit, weil die Modi, in denen der Konflikt ausgetragen werde, den Gegensatz zwischen den kommunikativen Welten der Konfliktparteien reproduziere, statt sie durch ein gemeinsames Drittes überbrücken zu können. Der Zeuge stehe als Kläger selber gegen seine eigene Klage, er stehe im Widerstreit. In ihm – durch dessen Logik Lyotard selbst in eine fatale Nähe zu den HolocaustLeugnern rückt – bleibt Sprechen eine Unmöglichkeit. Lyotard erklärt: „Reden wäre eine Profanisierung des in Worten nicht zu Fassenden, eine Entweihung des Todes der Vielen durch die wenigen Überlebenden, die durch ihr Zeugnis, ungeachtet des Inhalts ihrer Berichte von den Stätten des Grauens doch immer nur die eine Botschaft verkündeten: Es war mög114 lich, der Tötungsmaschinerie zu entkommen und zu überleben.“ Kehren wir zur obigen Frage zurück: Bleibt doch nur die Möglichkeit zu schweigen, mit der Folge, dadurch das Täter-Opfer-Verhältnis zu reproduzieren? Die Schwierigkeit liegt darin, dass Schweigen uneindeutig ist. Lyotard entwickelt deshalb zwei Möglichkeiten, dieses Schweigen nicht seiner Uneindeutigkeit zu überlassen, sondern zu deuten: Zum einen ließe sich Schweigen als Durchgangsstation zum Entwickeln neuer Diskursarten im Widerstreit verstehen. Zum zweiten müsse Schweigen nicht unbedingt als 111 Ebd. 112 Zitat R. Faurisson, „prominenter Vertreter der revisionistischen ‚Gaskammerlüge‘ “, vgl. W. BIALAS: Shoah, 116. 113 F. LYOTARD: Widerstreit, 17f. 114 A.a.O., 119.
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Aussage gegen seinen Referenten verstanden werden. Es sei als Substitut von Sätzen mehrdimensional zu begreifen. Mit dem Schweigen als Satzsubstitut werde mindestens eine der vier Instanzen, die ein Satz-Universum entwerfen, Empfänger, Referent, Bedeutung und Sender negiert. D.h.: Ein Schweigen „sagt nicht notwendigerweise zugunsten der Nichtexistenz der Gaskammern aus, wie Faurisson glaubt oder zu glauben vorgibt. Es kann auch gegen die Autorität des Empfängers aussagen (wir sind Faurisson keine Rechenschaft schuldig), gegen die Autorität des Zeugen selbst (wir, die Davongekommenen, sind nicht befugt, darüber zu sprechen), schließlich gegen die Fähigkeit der Sprache, die Gaskammern (eine unausdrückbare 115 Absurdität) zu bezeichnen.“ Schweigen sei dann eine Art Entbergung des Verborgenen, eine Erinnerung an das Vergessen. In dem „Entzug“, der dem Schweigen innewohne, kündige sich das „widersprüchliche Gefühl“ einer Präsenz an, die „vergessen werden muss, um repräsentiert zu werden, die 116 aber gleichzeitig wohl dargestellt werden muss.“ Lässt sich in Anlehnung an Flusser sagen: „Trotz Auschwitz“ müssen wir weiterreden, so ließe sich im Anschluss an Lyotard formulieren: Nach und wegen Auschwitz müssen wir schweigen lernen. Hat sich bei Flusser die Kultur in ihrem Schrecken vollständig gezeigt, so ist für Lyotard der Versuch der totalen Vernichtung der Kehrseite dieser Kultur gescheitert. Diese Differenz erklärt sich aus ihrer jeweiligen Bestimmung von Kultur. Flusser fasst Kultur als jüdisch-christliche Verbindung, Lyotard behauptet einen „jüdischen Widerstreit“ mit der christlich-abendländischen Kultur. Für ihn kann deshalb das „Vergessene“ nicht zerstört werden, auch nicht durch ein Erinnern, dass in Wahrheit Vergessen zum Ziel habe. Er führt auf diese Weise die Erinnerung an den Holocaust aus ihrem paradoxen Selbstwiderspruch heraus. Er führt sie zunächst ins Schweigen, in dem man – so möchte ich in Anlehnung an Flusser formulieren – über die Hohlheit der Kultur nicht reden muss, weil man sie hört. Und in dem man sie zu hören vermag, weil man – in Anlehnung an Lyotard – zu schweigen gelernt hat. 4. Überwindung und Missachtung der Grenzen der Erinnerung „Trotz Auschwitz“ reden und „wegen Auschwitz“ schweigen – das ist das Paradox, mit dem die von mir so genannte Falle im Umgang mit Auschwitz wahrgenommen wird. Wie kann das aussehen: Trotz Auschwitz reden und wegen Auschwitz schweigen? Die Suche nach möglichen Formen, wie dieses Paradox aufzulösen ist, kann in zwei Richtungen gehen. Zum einen geht es – im Nachgang zu Lyotard – darum, im darstellenden Erinnern von Auschwitz die verborgene Seite des Vergessens als Grenze der Erinnerung wahrzunehmen. Wie das aussehen könnte, verdeutlicht Brumlik für den 115 A.a.O., 35f. 116 F. LYOTARD: Heidegger, 13.
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Bereich der künstlerischen Ästhetik in seinem Begriff des Erhabenen. Zum anderen geht es darum, im Schweigen, im scheinbaren Vergessen Auschwitz zu erinnern. Wie das aussehen kann, soll an Hand des Begriffs vom bewahrenden Gedenken verdeutlicht werden. Brumlik weist in einer kurzen Analyse der Trauerrituale nach der Shoah in der Bundesrepublik darauf hin, dass die Erinnerungsformen, die notwendig im Erinnern an die Shoah gewählt werden müssen, ihrem Gegenstand nicht wirklich angemessen sein können. Die moderne Ästhetik stelle jedoch eine Kategorie zur Verfügung, „die der Erfahrung der Unfasslichkeit 117 wenigstens annähernd entspricht: das Erhabene!“ Bei diesem Begriff des Erhabenen rekurriert Brumlik auf Kants Kritik der Urteilskraft, in der Kant jene Gegenstände erhaben nennt, die das Gefühl im Betrachter wecken, dass sie „der Form nach zwar zweckwidrig für unsere Urteilskraft, unangemessen unserem Darstellungsvermögen und gleichsam gewaltig für die Ein118 bildungskraft erscheinen.“ Erhabenheit sei weniger eine Charaktereigenschaft der Gegenstände als vielmehr die „Erfahrung des Scheiterns unserer 119 Urteilskraft.“ Mit dieser Unterscheidung von Darstellung und Angemessenheit ist der Grundstein zur Überwindung des Paradoxes gelegt, erinnern zu wollen, auf Grund der Unangemessenheit jeder Form der Erinnerung an den Holocaust aber nicht erinnern zu können. Dabei räumt Brumlik ein, dass mit einem solchen Konzept des Wissens um das eigene Scheitern in der Darstellung noch nicht die Frage beantwortet ist, wie denn nun eine künstlerische Gestalt im Gedenken an den Holocaust aussehen soll. Noch immer könne aus dem „trotz Auschwitz“ ein bestätigendes „wegen Auschwitz“ in der Darstellung werden, das zu einer Affirmation der rezipierenden Gruppe statt zu einem Eingestehen des Scheiterns der eigenen Urteilskraft führe. Für Kant sei die Erfahrung des schlechthin Bösen, wie es in der Vernichtungspraxis 120 der Nationalsozialisten zutage trat, noch unvorstellbar gewesen. Deshalb müsse die Kantsche Ästhetik des Erhabenen „negativistisch“ ergänzt werden. Das heißt: Eine künstlerische Darstellung der Erinnerung an den Holocaust sei so zu gestalten, dass sie sich im Vorstellen selbst schon dem Betrachter entziehe. Auf diese Weise gehe von ihr keine affirmative, sondern eine den Betrachter erschütternde Wirkung aus. Brumlik: „Dies bedeutet freilich nichts anderes, als dass die machtgestützten Rituale des Staates – seien sie auch noch so gut gemeint – zugunsten einer nicht mehr schönen, nicht mehr erbaulichen, nicht mehr tröstenden Kunst zurücktreten müs121 sen.“ Der durch die Unmöglichkeit, die Opfer der Massenvernichtung authentisch zu betrauern, erzwungene Übergang vom gängigen Erinnerungsritual zur Kunst finde seine einzige Form in einer sich selbst zurück117 118 119 120 121
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M. BRUMLIK: Trauerrituale, 207. Ebd. (Zitiert nach I. KANT: Urteilskraft, 330). Ebd. Vgl. a.a.O., 208. Ebd.
nehmenden, „negativistischen Inszenierung“ des Erhabenen. Damit entgehe die Darstellung einer Art Unangemessenheitsparadox. Zwar entgehe auch sie nicht jenem Darstellungsparadox, dass die Darstellung in ihrer Festlegung dem Vergessen mehr diene als dem Erinnern. Dennoch werde in einer negativistischen Ästhetik eine Umsetzungsmöglichkeit für ein darstellendes Erinnern von Auschwitz gefunden. Denn in dessen Durchführung könne die Wahrnehmung der Doppelbödigkeit der Erinnerung mitschwingen. Die sich dem Betrachter selbst entziehende Darstellung eröffne in der Erinnerung den Raum für ihre komplementäre Rückseite, das Vergessen. Das Vergessen, das Erinnerung mitkonstituiert und zugleich gefährdet‚ wird so in der negativistischen Inszenierung des Erhabenen wahrgenommen statt verdrängt. Es wird in der Erinnerung sichtbar und kann so die Grenzen der Möglichkeiten der Erinnerung markieren. Wo hingegen nicht wahrgenommen wird, dass die Erinnerung an den Holocaust in ihren Möglichkeiten Grenzen hat, lauert die Gefahr einer Verdrängung der Erinnerung, die sich mitunter des Erinnerns bedient. Die Holocaust-Forschung beschreibt in diesem Zusammenhang drei Phänomene, die Beachtung verdienen. Die Mechanismen lassen sich mit den Stichworten Abdrängung (a), Medialisierung (b) und Universalisierung (c) charakterisieren. a) Abdrängung Die Gefahr der Abdrängung besteht besonders bei den an den Geschehnissen direkt oder indirekt schuldhaft Beteiligten. Der Historiker Matthias Heyl weist auf die biographische und geschichtliche „Leere“ im überlieferungsgeschichtlichen Horizont eines jeden einzelnen der sogenannten „Ersten Generation“ der Täter und Zuschauer hin. Für die nächste Generation bedeute das, dass die hinter der Leere verborgene Wut ebenso weitergegeben werde wie „ein Teil des Motivzusammenhangs, der die Abdrängung 122 erst notwendig erscheinen“ lässt. Heyl folgert, es gehe „weniger um das Phänomen notwendiger Selektivität, sondern um die Beschneidung existentieller Grundlagen für die Ausbildung einer eigenen, nicht mehr nur ge123 borgten Identität.“ Er macht diesen Zusammenhang an zwei Beispielen deutlich. Als erstes führt er das Phänomen einer phantasierten oder realen Konversion zum Judentum an. Dem Konversionswunsch von Nichtjuden infolge einer Anrührung durch die Schoa steht er misstrauisch gegenüber: „Ist es der Versuch, einen Bruch mit der eigenen Identität zu vollziehen, um die bereits vordem gebrochene Identität scheinbar zu kitten, oder ist es ein Bruch innerhalb der eigenen Identität, der mit den eigenen Brüchen umzugehen 124 weiß?“ Im Blick auf die Dialektik, dass „Aneignung von Geschichte im122 Vgl. M. HEYL: Jews, 33. 123 Ebd. 124 A.a.O., 35.
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mer auch Geschichte zum Verschwinden“ bringt, konstatiert Heyl: „Schließlich erscheint manche Konversion wie die Fortführung der elterlichen Delegation, nicht nur die Erinnerung an die Juden und an die ihnen zugefügten Verbrechen, sondern die Juden selbst zum Verschwinden zu bringen, indem man sich an ihre Stelle setzt, sie verdrängt.“ Diesen Vorgang belegt er mit dem Stichwort der „Arisierung“. So würde „die Vernichtung der Juden durch Aneignung und Wegnahme ihres Judentums vollen125 det.“ Als zweites Beispiel führt er Statements der Organisatoren des zentralen Mahnmals für die Ermordung der europäischen Juden in Berlin an. Heyl wirft den Auslobern des Mahnmals eine Art „imperiale“ In-Besitz-Nahme der Erinnerung an die Geschichte des Holocaust vor. Provozierend formuliert er die zynische Folgerung: „Die nichtjüdischen Deutschen nehmen den Holocaust wieder in Besitz. [...] Schluss mit der nur mühsam über Jahrzehnte erduldeten Hegemonie jüdischer Überlebender, der Juden, der Ho126 locaust wird re-‚arisiert‘.“ Erinnerung ist zwangsläufig selektiv. Heyl bestreitet das nicht. Er hebt im Gegenteil den im dialektischen Sinne aufhebenden Charakter des Erinnerns hervor. Seine Schlussfolgerung: Die Erinnerung an den Holocaust werde von deutscher nichtjüdischer Seite bisweilen im Sinne aufhebender Nichtung vollzogen. Die Ausprägungen hierfür könnten vielfältig sein. Die entscheidende Akzentsetzung Heyls ist hierbei: Die Ausprägungen bestünden nicht allein in einer eventuellen Leugnung jüdischer Existenz, sondern in ihrer Aneignung, die eine Form der Enteignung darstelle, wenn jegliche Differenzen verschleiert und aufgehoben würden. In der Konversion sei es die Differenz von jüdischer und nichtjüdischer Identität, im Konzept der Mahnmalerrichtung die Differenz von nichtjüdischer und jüdischer Geschichte, die negiert werde. In zwei Worten ausgedrückt: Man finde, so 127 Heyl, eine „enteignende Aneignung“ meist da, wo „es jüdelt.“ Hiergegen setzt Heyl das Konzept einer reflektierten Kontextualisierung: „Die Derealisierung aufzuheben, das ‚Wirkliche‘ zu erkunden, [...] von ihm ausgehend die eigene Position zu bestimmen, erscheint mir die vordringliche Aufgabe einer Kontextualisierung des Holocaust in Deutschland heu128 te.“ Damit werde eine Abdrängung, eine enteignende und so vernichtende Aufhebung der Vergangenheit im Erinnern verhindert. Sonst drohe, dass im phantasierten oder teilweise auch realisierten (Grenz-) Übertritt das Judentum nicht als Gegenüber geachtet werde, sondern in dieser Form des Erinnerns angeeignet und zum Verschwinden gebracht werde.
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Alle Zitate ebd. M. HEYL: Jews, 39. A.a.O., 48. A.a.O., 62.
b) Medialisierung Bei der Analyse der bundesrepublikanischen Gedenkkultur stellt der Historiker und Politologe Detlev Claussen fest: „Auschwitz verschwindet, obwohl oder vielleicht gerade weil vom Holocaust überall und ständig die Rede 129 ist.“ Ursächlich ist nach Claussen eine massenmediale Kultur, die das Verbrechen Auschwitz am Bewusstsein vorbei in Sentimentalität verwandele. Publikumswirksame Produktionen gäben post factum einen Sinn vor, 130 der durch Auschwitz gerade dementiert worden sei. Mit dem „Code Holocaust“ werde auf dem Wege medialer Vermittlung „eine zerbrochene 131 Erfahrungswelt zu einer sinnstiftenden Einheit verklebt.“ Was mit der Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ begonnen habe, finde seinen vorläufigen Höhepunkt in der Produktion des Spielfilms „Schindlers Liste“: Hier werde die Suggestion eines jederzeit reproduzierbaren Verwandlungsprozess von Barbarei in Kultur aufgeführt. Durch den Artefakt Holocaust, wie ihn die massenmediale Kultur produziere, werde Auschwitz letztlich zum Verschwinden gebracht. Es werde die Illusion allseitiger Kommunizierbarkeit vorgegaukelt, ebenso die Rationalisierung vollendeter Sinnlosigkeit. Die Methoden, mit denen diese Rationalisierung in Form von Sinngebung und vernunftorientierter Einordnung vonstatten gehe, typisiert Claussen wie folgt: Es gäbe erstens eine „Rationalisierung von Auschwitz durch Emotionalisierung“: Dazu zählt neben der für Cineasten bekannten temporären „Wiederverzauberung der Welt, die von einer Zufallsgemeinschaft, dem Publikum, als emotionale Befreiung hemmungsloser Identifikation mit exemplarischen Heroen oder einer Gruppe nach den Möglichkeiten der 132 Massenpsychologie empfunden werden kann“, die Verwandlung der Erfahrung von Ohnmacht und Sinnlosigkeit in eine Erfolgsstory von Überleben. Diese Form der „Sinngebung“ finde sich bereits in den 1950er Jahren als Grundstruktur für die Inszenierung der Auftritte von Überlebenden in TV-Fernsehshows in den USA. Als zweites nennt er eine „Rationalisierung durch Nationalisierung“: Auschwitz werde in die Vorgeschichte der jeweiligen staatlichen Gegenwart integriert. Die Erinnerung werde dabei im Hinblick auf eine säkularisierte Erlösungshoffnung des politischen Kollektivs funktionalisiert, sei dieses Kollektiv nun Israel, die Bundesrepublik oder die USA. Die universale „Message“, die, so Claussen, „fast wie ein Evangelium erfahren werden kann, lautet: Als Mitglied eines glücklichen Kollektivs kann jeder, von wem auch immer er abstammt, erlöst werden – eine triviali133 sierte Gnadenwahl.“ 129 D. CLAUSSEN: Vergangenheit, 77. 130 Vgl. a.a.O., 77. D. Claussen zitiert hier die zynische Parole „there is no business like Shoah-business.“ 131 A.a.O., 78. 132 A.a.O., 81. 133 A.a.O., 83.
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Wie für Heyl wird auch für Claussen die Erinnerung an den Holocaust ihres Kontextes und so ihrer Realität beraubt. Die durch Auschwitz sichtbar werdende Tatsache, dass Erfahrung ihre Kommunizierbarkeit verliert – eine Tatsache, die sich nur brechen lasse, indem man den Kommunikationsstrom unterbreche – werde von der kultur-industriellen Kommunikation zugedeckt. Letztere beweise ihre unendliche Machtfülle darin, „dass ihr Reservoire an Kommunizierbarkeit allumfassend und unerschöpflich 134 scheint.“ Claussen konstatiert für den kulturellen Kontext eine Aufhebung der Erinnerung durch ihre massenmediale Reproduktion. Durch die „totale“ Medialisierung wird, so will ich im Anschluss an Claussen formulieren, eine Grenze überschritten: die Grenze von Gegenstand und Medium. Der Gegenstand wird ins Medium hinein aufgelöst. Dieser Grenzübertritt erscheint angesichts der Problematik der Darstellungsfalle nachvollziehbar. Wo der mediale, öffentliche Weg der Erinnerung verschlossen scheint, lockt eine totale Verkehrung der Verhältnisse. Um der Gefahr zu entgehen, dass zu wenig öffentliche Erinnerung stattfindet, werden alle erdenklichen Wege der Erinnerung beschritten. Die im Undarstellbaren gesetzte Grenze der Erinnerung wird vermeintlich einfach übersprungen. Dabei wird sie getilgt. Statt Erinnerung entsteht Verdrängung auf dem Wege der Medialisierung. c) Universalisierung Ein Verschwinden der Vergangenheit in einer bestimmten Form von Erinnerung wird auch von Hanno Loewy beobachtet. Ein Grundproblem sieht er dabei in der universalisierenden Interpretation des Holocaust: „In der Universalisierung von Auschwitz, in der Metaphorisierung der Realität, die sich hinter diesem Wort verbirgt, zur politischen Allzweckwaffe zur Erwe135 ckung von Betroffenheit, liegt ein gehöriges Maß an Entlastung.“ Durch Universalisierung werde das Geschehene bis zur Unkenntlichkeit banalisiert. Provokant bemerkt Loewy: „Wenn man den Holocaust schon nicht vergessen darf, und man weist zuweilen freundlich darauf hin, von der ‚Erinnerungskultur‘ der Juden gelernt zu haben, dann kann man ihn wenigs136 tens solange interpretieren, bis ihn keiner mehr erkennt.“ Was meint die Rede von der Universalisierung der Erinnerung? Loewy legt seine Antwort am Beispiel der Vermarktung des Schicksals von Anne 137 Frank dar. Anne Franks Werk werde zur Botschaft universeller Verständigung. Ihre vermeintliche Botschaft werde zu einem universal einsetzbaren Allgemeinplatz. Loewy konstatiert: „Ihr Thema ist nicht der Holocaust, sondern ihr Kampf um ihr 134 135 136 137
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A.a.O., 87. H. LOEWY: Gedenktag, 10. H. LOEWY: Bewusstsein, 323. H. LOEWY: Kind, 12.
Selbst im Angesicht einer Welt, in der die Erwachsenen die Moral, die sie predigen, fortwährend verraten.“ Otto Frank, der Vater von Anne Frank, habe bei der Herausgabe des Tagebuches seiner Tochter signifikante Kürzungen und Retuschen vorgenommen. Ihre Botschaft umfasste hernach: „Internationale Zusammenarbeit, wechselseitiges Verständnis, Toleranz, die moderne Erziehung, Jugendprobleme, moderne Kunst, die Rassenfrage und die Bekämpfung des Analphabetismus“. Daraus sei im Laufe der Jahre mittels der populären Bühnenfassung die Botschaft der Anne Frank geworden. Sie sei im Bewusstsein der Menschen identisch mit der Schlusszeile des Stückes, einem – in dieser Form – verkürzten Ausspruch Anne Franks: „Trotz allem glaube ich noch an das Gute im Menschen.“ Auf dem Hintergrund dieser Entwicklung erklärt Loewy: „Die ‚Universalisierung‘ Anne Franks [...] verrät den Universalismus, mit dem Anne Frank selbst in ihrem Tagebuch ringt.“ Mit der Zurichtung der Person Anne Frank zu einem Spiegel für jedermann, auch für ihre Mörder und deren Nachkommen, setze ein scheinbarer Humanismus „die Auslöschung des Gesichtes, das ihn anschaut, bereitwillig oder unfreiwillig fort, anstatt ihr zu widersprechen.“ Loewys Schlussfolgerung: „So ist die ‚Universalisierung‘ der Anne Frank nicht bloße Lei138 chenfledderei; sie ist die Vollendung ihrer Vernichtung.“
In der Universalisierung sieht Loewy nicht nur die Gefahr der Umdeutung und Unkenntlichmachung der realen Geschichte und einer Erinnerung an sie. Er erkennt in ihr zugleich die Nachahmung und Weiterführung der Methode nationalsozialistischer Stigmatisierung der Juden. Universalisiert, „freilich als das Böse schlechthin, nämlich als die angeblichen Erfinder des Gewissens, hatten schon die Nazis, hatte von jeher der Antisemitismus die 139 Juden.“ Indem man in den Juden ein abstraktes, allgemeines Gegenprinzip, einen die Welt bedrohenden Universalismus zu erkennen glaubte, wurden sie auf die eigenen inneren Konflikte, das eigene schlechte Gewissen 140 projiziert. Diese Projektion der westlichen Zivilisation auf ein Gegenüber, das doch in Wirklichkeit eine seiner Wurzeln darstellt, und der Versuch der Überwindung dieser eigenen Wurzeln durch ihre Vernichtung, stehen für Loewy am Anfang des Holocaust: „Die Juden wurden nicht ermordet, weil sie ‚anders‘, weil sie ‚Fremde‘, weil sie ‚Immigranten‘ waren, sondern weil sie an etwas erinnerten, was untrennbar zu einem selbst, zur Geschichte der eigenen Zivilisation gehörte. Aus Ausgrenzung und Vertreibung wurde Massenmord, weil es eine andere Form der Trennung dazwischen nicht 141 geben konnte.“ So wenig der Versuch der Auslöschung der eigenen kulturellen Substanz zu seinem Ende habe kommen können, so wenig könne nun „die Erinnerung an sie [sc.: die Auslöschung, CS] zu einem Ende 142 kommen.“ Hierin sieht Loewy das Motiv derer, die dieser Erinnerung entkommen wollen. Es handele sich um die Erinnerung an eine Geschichte, 138 139 140 141 142
Alle Zitate ebd. Ebd. Vgl. H. LOEWY: Bewusstsein, 332; vgl. auch DERS.: Holocaust, 9. H. LOEWY: Gedenktag, 13. H. LOEWY: Bewusstsein, 323.
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die in ihrer Sinnlosigkeit und in ihrem Durchbrechen aller Werte, Ideologien und Sinndeutungen eine ständige Irritation, ja Bedrohung für den, der sie erinnert, darstellen müsse. Welcher Methoden bedient sich nach Loewy die Universalisierung? Neben der bereits angesprochenen Metaphorisierung und der damit meist einhergehenden Banalisierung oder Trivialisierung sind zwei Formen zu nennen: Die Identifikation mit den Opfern des Holocaust und die Instrumentalisierung des Geschehens unter dem Stichwort: „Lehren des Holocaust“. Zum Ersten: Die Identifizierung mit den Opfern. Für Loewy ist eine solche Identifizierung die nachvollziehbare Konsequenz einer vorangegangenen Universalisierung. Denn ihr folge die Ausblendung der Täter und ihrer Geschichte, bis schließlich nur noch unspezifisch von Betroffenen die Rede 143 sei. „Und ‚betroffen‘, das sind wir schließlich doch alle.“ Beispielhaft für ein solches Austauschen der Opfer sei, dass gelegentlich Bombenangriffe der Alliierten auf deutsche Städte unter dem Stichwort Holocaust behandelt 144 würden. Ein Erinnerungsritual berge nicht selten die heimliche oder offene Identifizierung mit den jüdischen Opfern in sich. Dieser Mechanismus der „unerträglichen Verstrickung von jüdischer und deutscher Geschichte“, die „heuchlerische Instrumentalisierung jüdischer Traditionen durch die um sich greifende ‚Gedenkkultur‘ “ verweise auf ein Paradox: „Die Täter, denen die vollständige Auslöschung nicht gelang, sie sind an ihren Opfern in einer noch gar nicht wirklich zur Kenntnis genommenen Weise ‚hängen145 geblieben‘.“ Zum Zweiten: Die Instrumentalisierung der Rede von den „Lehren des Holocaust“. Wer Lehren aus Auschwitz ziehen wolle, der instrumentalisiere in den allermeisten Fällen. Die Erklärungen für Auschwitz und die daraus gezogenen Lehren wiederholten letztlich nur, was schon jeder zu wissen glaube. Dieses Phänomen sei Folge der Universalisierung. Jeder schaffe sich „sein“ Auschwitz, seine Metapher Auschwitz, mit deren Hilfe er dann Ursachen, Folgen und Lehren aus Auschwitz benennen könne. So verbinde sich mit Auschwitz statt eines Zweifels an der jeweiligen Deutung der Geschichte ein gleichsam endgültiger Beweis. Die eigene Deutung werde mit einer 146 Art Letztbegründung versehen. 143 H. LOEWY: Bewusstsein, 331. 144 Ebd; vgl. auch H. Loewy im Interview mit der taz vom 26.1.1993: „In Dachau sieht man das Martyrium von Christen, in Buchenwald ein Heldendrama, in Neuengamme einen Lernort der Demokratie... . Immer wieder wird versucht, dem Leiden einen identifikatorischen Gehalt abzugewinnen.“ 145 Alle Zitate H. LOEWY: Holocaust, 12. 146 Ob es sich dabei um die Verteidigung der liberalen Demokratie oder des Sozialismus, des Pazifismus oder der wehrhaften Verfasstheit eines Staates handelt, spielt eine untergeordnete Rolle. Es kann sogar – wie Loewy an Hand der Gedenkreden zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau ausführt – alles zusammen in einer einzigen Gedenkveranstaltung als Lehre herangezogen werden, vgl. H. LOEWY: Gedenktag, 9.
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Zentrales Motiv für derartige Formen der Entledigung der Vergangenheit im Gedenken sieht Loewy in einer angestrebten Entlastung. Es gehe um die Entlastung von einer Beunruhigung durch die Vergangenheit und damit um Entlastung von der Vergangenheit selbst. So kommt Loewy schließlich zu der provozierenden Behauptung: „Im deutschen Bewusstsein 147 gibt es keinen Holocaust.“ Gegen dieses Konzept der Universalisierung stellt Loewy seine These, dass man aus Auschwitz nichts lernen könne. An Auschwitz zu erinnern, heißt für ihn, „unermüdlich gegen jene Deutungen und Indienstnahmen von Auschwitz anzukämpfen, die das Trauma von Auschwitz in beruhigende Sätze einzusperren versuchen, die mit ‚wegen 148 Auschwitz‘ anfangen.“ Loewy deckt eine Aufhebung der Vergangenheit durch die Universalisierung ihrer einzelnen Elemente auf. Hierbei gehe es um die Entlastung von einer beunruhigenden Vergangenheit. Die Entlastung geschehe durch Identifizierung mit den Opfern oder durch die Instrumentalisierung so genannter Lehren aus Auschwitz für die eigenen Ziele. Eine Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust, so formuliere ich im Anschluss an Loewy, hebt die Grenzen, die im Erinnern des Undarstellbaren zu Tage treten, auf. Statt die Schwierigkeit dieser Erinnerung wahrzunehmen, wird sie aufgelöst, indem sie auf alle anderen Übel dieser Welt ausgedehnt wird. So verschwindet Auschwitz zu einem Allerweltsübel. Das gegenwärtige Übel, für das durch die Erinnerung an Auschwitz Lehren gezogen werden soll, wird auf diese Weise überhöht, Auschwitz aber relativiert. 5. Bewahrendes Gedenken zwischen Erinnern, Schweigen und Lernen Die Erinnerung an den Holocaust ist, wie die Beispiele der Abdrängung, Medialisierung und Universalisierung zeigen, im kulturellen Kontext eine durch Verdrängung gefährdete Erinnerung. Der Terminologie und der Gedankenlogik Lyotards folgend zeigen die Beispiele, wohin eine Missachtung der Grenzen der Erinnerung führt. Formen der Erinnerung, die das Vergessen als Moment des Erinnerns nicht bewahren, die das Unsagbare der Erinnerung an den Holocaust in vielfältiger Weise meinen aussprechen zu können, arbeiten, so der französische Philosoph, unwillentlich dem Vergessen zu. Lyotard setzt dagegen eine Erinnerung, die im vorgängigen Schweigen einem wahrhaftigen Gedenken an den Holocaust und einem möglichen veränderten Verhalten dienen will. Die Schwierigkeiten, in die die Erinnerung an den Holocaust führt, sind auf gängige Weise nicht zu bewältigen. Eine Historisierung, eine „Normali147 Vgl. den gleichnamigen Titel eines Aufsatzes von H. Loewy. 148 H. LOEWY: Gedenktag, 15.
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sierung“, eine Einordnung des Holocaust, eine einheitliche Perspektive scheinen ausgeschlossen. Darstellung, Vermittlung und Erinnerung geraten in einen paradoxen (Selbst-) Widerspruch. Flusser spricht in diesem Zusammenhang von der Hohlheit, auf der die westliche Kultur fußt und derer sie sich nicht erinnern kann, ohne sich selbst verwerfen zu müssen. Von Lyotard ausgehend rückt die Grenze jeder Erinnerung ins Zentrum. Eine Grenze, die sich vor allem ex negativo durch ihre Gefährdungen und Missachtungen in Form von Verdrängungen beschreiben lässt. Lyotard beschreibt diese Grenze durch den Begriff des Vergessens. Wie bereits mehrfach angedeutet, ist dieser Begriff im Zusammenhang mit dem Holocaust missverständlich und deshalb problematisch. Die dialektische Figur, die im Hintergrund steht, könnte leicht überhört werden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle mit einem Hinweis auf Überlegungen von Auchter und Brumlik den Begriff des Gedenkens einführen. a) Gedenken Thomas Auchter macht in einem kurzen Aufsatz unter dem Titel „Jenseits des Versöhnungsprinzips“ jene Grenzen des Erinnerns deutlich, die bereits angesprochen wurden. Er zählt die verschiedenen Konfliktpotentiale auf, die bei der Erinnerung an den Holocaust virulent werden, und die je für sich an die Grenzen dieser Erinnerung führen: Da sei zum einen der Verstehenskonflikt: „Auschwitz sprengt die Grenzen alles Fassbaren und schreit gleichzeitig nach Verstehen, weil das Unbegreifliche noch schrecklichere 149 Angst in uns auslöst.“ Da sei zum zweiten der Konflikt nicht vermittelbarer Perspektiven von Tätern und Opfern. Hinzu trete der Sachverhalt, dass von der Erinnerung an Auschwitz eine Erschütterung der Grundfesten zivilisatorischen Selbstbewusstseins ausgeht, die nur schwer ertragen werden könne. Auchter erklärt: „Eine bewusste Konfrontation mit Auschwitz würde uns nicht nur mit einer erdrückenden Vergangenheit, sondern zugleich mit einer unerträglichen Gegenwart und einer erschreckenden Zukunftsperspektive weiterer, ‚zivilisatorischer‘ Entwicklung konfrontieren. Die Schoa umfasst die absolute Erschütterung des Sicherheitsgefühls und den unwiederbringlichen Verlust an Urvertrauen in die menschliche Zivilisation, Kul150 tur und Vernunft.“ Von dieser Erschütterung selbstverständlichen Selbstverstehens ist das Erinnern mitbetroffen. Im Blick hierauf zitiert Auchter Primo Levi: „Die Erinnerung selbst kann zum Widerstand gegen das Erin151 nern werden.“ So kommt, wie Auchter betont, auch die Kraft psychoanalytischer Erinnerungskonzeption hier an ihre Grenze. Als maßloses, monst152 röses Ereignis erscheine Auschwitz scheinbar „nicht erinnerbar.“ 149 150 151 152
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T. AUCHTER: Jenseits des Versöhnungsprinzips, 177. A.a.O., 179f. A.a.O., 180. T. AUCHTER zitiert a.a.O., 181, den Psychoanalytiker Haas.
Auchters Lösung dieser Problematik lautet: Wir können des Geschehens gedenken. Unter Gedenken versteht Auchter eine Absage an das Versöhnungsprinzip: Eine Versöhnung mit der Vergangenheit, eine Versöhnung von Tätern und Opfern, eine Versöhnung ihrer Perspektiven, schließlich eine Versöhnung mit der Zivilisation und ihren Mechanismen sei auf 153 Grund der Paradoxien ausgeschlossen – auch und gerade im Erinnern. Gedenken heiße deshalb: Einsicht in die Grenzen der Erinnerung gewinnen, Einsicht in das mit ihr verbundene Paradox bekommen, gerade das nicht erinnern zu können, was genau deshalb in unserem Gedächtnis bewahrt bleiben müsse. So stellt Auchter schließlich die Frage: „Wie kann es uns gelingen, uns der Realität dieser Heillosigkeit in uns zu stellen, ohne in Verzweiflung und Resignation zu verfallen und ohne uns andererseits in irgendwelche illusionären vertröstenden Rettungs- oder Versöhnungsphan154 tasien zu flüchten?“ Die Antwort hierauf ist bereits gegeben: Die Fähigkeit zur Erinnerung des Holocaust und ihre Glaubwürdigkeit hängen an 155 einer Einsicht in die eigenen Grenzen. Des Holocaust gedenken heißt so zunächst, die eigenen Grenzen wahrzunehmen. Diese werden von den Grenzen der Vergangenheit gesetzt. Der Opfer zu gedenken dient jener Grenzwahrnehmung, hinter der der andere, auch der tote andere, überhaupt erst „lebendig“, gegenwärtig wird. Hierin ist der Akt des Gedenkens begründet: „Das Eingedenken an die Abgeschiedenen, an die Opfer des historischen Prozesses erhält diese vielmehr selbst in gewisser Weise im Leben. Solches Gedenken ist zweckfrei, ist sich selbst Grund genug und nicht interessiert, nur deshalb zu erinnern oder zu trau156 ern, damit sich in Zukunft ein weiteres Auschwitz nicht mehr ereigne“, so Brumlik. Er konzediert, dass die Konzeption eines solchen zweckfreien Gedenkens sich nicht mit der klassischen Konzeption des Gedenkens im Rahmen politischen Lernens aus Auschwitz in Einklang bringen lasse, obwohl gerade jenes zweckfreie Gedenken die Voraussetzung jeder lernenden Gedenkpraxis sein müsse. Brumlik: „Daran, dass sich das moderne Bewusstsein vor dem Gedanken sträubt, Trauer nur um der Abgeschiedenen willen zu vollziehen, wird deutlich, wie sehr auch wir uns daran gewöhnt haben, das mögliche Interesse jener, die von den Nationalsozialisten umgebracht 157 wurden, überhaupt nicht mehr zu berücksichtigen.“ Die Wahrnehmung der eigenen Grenzen ist auf diesem Hintergrund eine (Wieder) Geburt der Unterscheidung des Anderen vom gedenkenden Ich. Zwei Aspekte werden in diesem Begriff des Gedenkens bewahrt: Zum einen die Erinnerung an das kaum Erinnerbare. Sie wird hier, das sei in Anlehnung an Lyotard angemerkt, bewahrt in der Dialektik einer Erinnerung, die an ihre eigene Grenze stößt und die diese Grenze miterinnern kann. 153 154 155 156 157
Vgl. a.a.O., 182. Ebd. Vgl. a.a.O., 177. M. BRUMLIK: Trauerrituale, 210. Ebd.
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Zum anderen wird in diesem Gedenken die Wahrnehmung des anderen als anderen bewahrt. Ich spreche deshalb von einem bewahrenden Gedenken. Für den einen Aspekt des bewahrenden Gedenkens, den ich in Analogie zu dem von Schmitz beschriebenen einheilenden Erinnern verstehe (s.o. I. 4), gibt Lyotard den Hinweis auf das Schweigen als möglicher, adäquater Ausdrucksform. Der zweite Aspekt des bewahrenden Gedenkens, die zweckfreie Wahrnehmung des anderen als lebendiges Gegenüber, scheint mir treffend mit dem Begriff Lernen umschrieben. Auch für Brumlik ist das zweckfreie Gedenken die Voraussetzung eines lernenden Gedenkens. Wird im zweckfreien Gedenken der andere jenseits der Grenze des Todes ansichtig, so zeigt sich die Wahrnehmung dieser Grenze im Erlernen einer veränderten Wahrnehmung jenes anderen. Lernen ist ein Oberbegriff für ganz verschiedene Prozesse. Hierzu zählt Gert Otto den „Modus der Erziehung“, die Form des Unterrichtetwerdens sowie jene Prozesse, die im Wege der Verarbeitung von Erfahrungen ablaufen. Auf letzteren Prozess beziehe ich mich, wenn ich im Zusammenhang der Verarbeitung von Erinnerungen von Lernen spreche. Für den Lernbegriff ist in der modernen Lerntheorie der Aspekt der Veränderung charakteristisch: „Lernen bedeutet: Der 158 Mensch ist veränderungsfähig.“ Die Veränderungen sind vor allem im Verhalten des Lernenden sichtbar. Klaus Foppa spezifiziert: „Von L.[ernen] wird dann gesprochen, wenn sich bestimmte Verhaltensweisen ändern, diese Änderungen relativ dauerhaft sind und nur auf die besondere Art der Organismus-Umwelt159 Beziehung zurückgeführt werden können.“ Lernen basiert dabei auf einem ambivalenten Begründungszusammenhang. Es geht immer um einen Prozess von Anpassung an Bestehendes und von Kritik am Überkommenen. Das dialektische Verhältnis zwischen der Reproduktion des Bestehenden und der Chance auf neue 160 Möglichkeiten für die lernenden Subjekte bestimmt den Lernprozess.
Im Sinne der oben beschriebenen Dialektik von Erinnern, Vergessen und Bewahren hebe ich mit dem Lernbegriff auf folgenden Zusammenhang ab: Im Lernen wird die Erfahrung bzw. Erinnerung an den Holocaust bewahrt, dessen lernend auf diese Weise gedacht wird: in der Veränderung einer Wahrnehmung des anderen. In dieser Veränderung ist die Erinnerung impliziert. Im lernenden Gedenken wird so bestehende, auf die Verhaftung an die Vergangenheit gebundene Wahrnehmung aufgebrochen. Die Wahrnehmung des anderen bringt einen derartigen Aufbruch mit sich, wie Ingrid Schoberth im Rekurs auf Levinas darlegt: „Der Andere und Fremde bleibt einer, der betroffen macht, der Perspektiven einbringt, die nicht die eigenen sind und gerade dadurch die eigene Bestimmtheit und auch Lebensform befragen kann. Solche Erfahrung des Fremden führt darum weg von einer das Leben gefährdenden Gleichgültigkeit oder aber Suche nach Sicherheit,
158 G. OTTO: Lernen, 16. 159 K. FOPPA: Lernen, 246. 160 Vgl. G. OTTO: Lernen, Religionspädagogik, 1218f.
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die Neues und Unerwartetes nicht mehr zulässt und darin gerade der Hoff161 nung des Glaubens keinen Ausdruck mehr verleihen kann.“ Dem Lernen, der Aufgabe einer veränderten Wahrnehmung als Ausdruck der schwierigen Erinnerung an den Holocaust dient die Analyse in den Kapiteln IV und V. Dort soll ein homiletischer Lernprozess in der veränderten Wahrnehmung des Gegenübers Judentum beschrieben werden. b) Schweigen Das Stichwort Schweigen ist an dieser Stelle genauer zu untersuchen, um den Möglichkeiten und Grenzen dieser Form bewahrenden Gedenkens nachzugehen. Schweigen im Zusammenhang mit einem Gedenken an den Holocaust erscheint problematisch. Funktion und Gehalt von Schweigen sind – wie schon oben dargelegt – nicht von vornherein eindeutig bestimmt. Schweigen kann verbinden, aber auch isolieren. Schweigen kann heilen, aber auch verletzen. Schweigen kann Zustimmung ausdrücken, aber auch Ablehnung. Schweigen kann auf Aktivität, aber auch auf Inaktivität hindeuten. Schließlich kann Schweigen offenbaren, aber auch verdecken. Schweigen ist deshalb zunächst zu unterscheiden von einem Verschwei162 gen oder Verstummen, das als Ausdruck des Verdrängens gilt. Fritz Stern spricht im Blick hierauf ironisch und in Anlehnung an Nietzsche vom „feinen Schweigen“. Das lange Schweigen der Täter und der bundesdeutschen Gesellschaft sei eine leidvolle Geschichte. Und mit den Worten Hubert Markls kritisiert er jeden Ansatz zu einer Wiederaufnahme solchen Schweigens: „Wer meint, mehr als 50 Jahre nach Kriegsende und totalem Zusammenbruch sei die Zeit für solche Selbsterforschung vorbei, täuscht sich meines Erachtens sehr. Im Gegenteil: Vorbei ist nur die Zeit schamvollen Schweigens wie des reuelosen Verschweigens, des schonenden Beschweigens 163 wie des Vergessenwollens in der unmittelbaren Nachkriegszeit.“ Solches Schweigen kann selbstverständlich in unserem Zusammenhang nicht gemeint sein. Auch Lyotard kennt entsprechend dieser Kritik am Schweigen ein Schweigen, das der Vernichtung der Erinnerung zuarbeitet. Andererseits erkennt Stern, ähnlich wie in den oben dargestellten Untersuchungen zur Missachtung der Grenzen der Erinnerung, dass eine Form der Trivialisierung des Holocaust, besonders in den Medien, zum Betrug an den Opfern wird und dass „in der heute gepflegten Erinnerungswelt der historische 164 Kontext oft völlig vergessen“ werde. Kann also das Schweigen zum Verschweigen und Vergessen führen, so gilt dieses gleichermaßen für eine bestimmte Form des Redens.
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I. SCHOBERTH: Glauben-lernen, 21. Vgl. A. BELLEBAUM: Schweigen, 152ff. F. STERN: Schweigen, 172. Ebd.
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Mit anderen Worten: Schweigen ist im Kontext der Erinnerung an den Holocaust entschieden abzugrenzen vom Verschweigen oder Verstummen. So ist gerade in psychoanalytischen und theologischen Zusammenhängen die Überwindung eines Verstummt-seins der Anfang eines Aufarbeitens 165 verdrängter Schuld. Es wäre also abwegig, das Schweigen in dem angesprochenen Kontext an die Stelle des Redens zu setzen. Dennoch kommt sowohl in der Psychoanalyse als auch in der Theologie Schweigen in bestimmten Formen und Zusammenhängen positive Bedeutung zu. So spricht Werner Kemper vom „produktiven Schweigen“ im psychoanalytischen Therapiegespräch. Er meint damit jenes Schweigen, bei dem sich im Bewusstsein des Patienten ein Wandel im Rahmen des analytischen Pro166 zesses vollzieht. Kemper differenziert über 30 Arten des Schweigens und nennt unter ihnen mit positivem Sinngehalt das staunende, das andächtige, das ergriffene, das beglückte, das ehrfürchtige und das erhabene Schwei167 gen. Um diese Formen der Ausdifferenzierung verstehen und um den Mechanismus begreifen zu können, dass bekanntlich Sprechen auch Verschweigen und Schweigen auch Sprechen sein kann (beredtes Schweigen), bedarf es einer kurzen Einordnung des Kommunikationsvorgangs Schweigen: Erstens: Schweigen ist eine Kommunikationsform. Der Soziologe Alfred Bellebaum stellt diesen Zusammenhang auf dem Hintergrund der Watzla168 wickschen These „Man kann nicht nicht kommunizieren“ dar. Ausdrücklich bezieht er die Formen des „einfachen Stillseins“ bzw. das Schweigen im religiösen Zusammenhang in seine Definition des kommunikativen Schweigens mit ein. Analog weist Stephanie Dietrich darauf hin, dass sowohl in der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins als auch in der Transzendentalpragmatik Karl Otto Apels die Vorstellung einer reinen Privatsprache als sinnlos zurückgewiesen werde. Alle Sprache sei immer auf ein Gegenüber ausgerichtet. Auch Schweigen sei Schweigen gegenüber einem Du. Das Schweigen-Können sei dem einzelnen Menschen als Sprachspiel deshalb zugänglich, weil die Gemeinschaft es vorher bereits als sinnvolle 169 Kommunikationsform definiert habe. Mit der Einordnung als Kommunikationsform hängt ein zweiter Aspekt des Schweigens zusammen: Schweigen ist eine Form von Sprache und somit als Korrelat zur Rede zu verstehen. Das heißt: Schweigen ist im Rahmen der Strukturganzheit Sprache in gegenseitiger Abhängigkeit von Reden dem Reden entsprechend zu verstehen. Drittens: Als Teil des Gesamtzusammenhanges Sprache ist Schweigen – wie alle Sprachzeichen – durch unterschiedliche, kontextuelle Faktoren mitbestimmt. Bellebaum führt als Faktoren auf: Die Situation (wann und wo wird geschwiegen?), die Beteiligten (wer schweigt wem gegenüber?), der 165 166 167 168 169
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Vgl. L. BENDEL-MAIDL: Erinnern, 208. Vgl. W. KEMPER: Patient, 519. Vgl. a.a.O., 519. A. BELLEBAUM: Schweigen, 12ff. Vgl. S. DIETRICH: Gebet, 20.43.
Typ (welche Art des Schweigens liegt vor?), der Inhalt (worüber wird geschwiegen?), die Ursache (warum wird geschwiegen?) und die Funktion bzw. das Ziel (welche Folgen/Wirkungen hat das Schweigen bzw. sollen mit 170 dem Schweigen erreicht werden?). In der Anwendung dieser Ausdifferenzierung ergeben sich zahlreiche Schweigeformen. Um die Vielfalt zu vergegenwärtigen, will ich eine kurze, nicht vollständige Liste unterschiedlichen Schweigens geben: Individuelles, kollektives, verletztes, profanes, religiöses, langfristiges, kurzfristiges, freiwilliges, unfreiwilliges, zulässiges, unzulässiges, menschliches, göttliches, berufliches, öffentliches, literarisches, therapeutisches, krankhaftes, konversationelles, konventionelles, eisiges, ängstliches, bedeutungsloses, angekündigtes, rückwirkend erklärtes, unterbrochenes, übereinstimmendes, mehrdeutiges, interaktionelles, psycholinguistisches, soziokulturelles 171 Schweigen.
Viertens: Schweigen kann – in Analogie zur Vorstellung des Sprechaktes bzw. der Sprechhandlung – als bewusste menschliche Handlung verstanden werden. Bernhard Dauenhauer unterscheidet drei Arten der „Sprechhandlung Schweigen“: Zum einen das „intervenierende Schweigen“, das einen Lautstrom abschließt und einen neuen vorbereitet, zum zweiten das „Davor- und Danach-Schweigen“, das den Hintergrund für die lauthafte Ausdrucksweise bietet und ohne das der lauthafte Raum nicht denkbar wäre, und zum dritten das „Tiefenschweigen“. Letzteres ist zwar wie die anderen auf einen Laut bezogen, allerdings in indirekter Weise. Zu diesem Schweigen zählt Dauenhauer das „liturgische bzw. religiöse Schweigen“ und das 172 „Schweigen des zu Sagenden.“ Jener letzte Schweigetypus ist ein besonders in der Seelsorge bekanntes Phänomen. So betont Ellen Stubbe die Kraft des Schweigens bei der Suche nach dem einen richtigen Wort: „Menschen, die ihr Leben im Schweigen eingerichtet haben, werden zu einer Art innerem Resonanzraum für den anderen. [...] Solche Seelsorger können in 173 hoher Geistes-Gegenwart genau das eine, richtige Wort ‚finden‘.“ Und auch für Wunibald Müller kann das Wort, „das aus dem Schweigen geboren wurde, Ausdruck einer tiefen Überlegung, eines tiefen Gefühls oder 174 Empfindens sein.“ Der Terminologie vom Tiefenschweigen entsprechend führt für Müller das Schweigen in die Tiefe, in der das Vorhandene freigelegt, in der aber auch Neues, Erahntes und Unerahntes sich enthüllt. Dies geschieht dadurch, dass die unendliche Kette von Reiz und Wirkung durch das Schweigen unterbrochen wird. In dieser seelsorgerlichen Dimension kann das Tiefenschweigen nicht nur im religiösen Zusammenhang aufgesucht, sondern auch religiös gedeutet werden. So sieht Müller die entschei170 171 172 34. 173 174
Vgl. A. BELLEBAUM: Schweigen, 18f. Vgl. a.a.O., 19–28. Vgl. B. DAUENHAUER: Silence, 11ff, 21ff; vgl. S. DIETRICH: Gebet, 24f. Anm. E. STUBBE: Worte, 52f. W. MÜLLER: Ohr, 111.
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dende Verknüpfung darin, dass Seelsorger und Ratsuchende in das „liebende Schweigen“ Gottes einträten und in diesem Raum auf das heilende Wort Gottes warteten. Stubbe deutet eine konkrete Seelsorge-Erfahrung dahin, dass im „Verschmelzungserlebnis“ Schweigen etwas geschah, das den „Schimmer einer anderen Welt“ in Form behutsamer Anklänge an Sterben 175 und Auferstehen aufscheinen lässt. Neben einer Tradition des Schweigens in der Seelsorge findet Schweigen besonders im liturgischen Kontext seinen Ort. Ihn verfolgt Stephanie Diet176 rich in ihrer Untersuchung des schweigenden Gebets. Auch für Dietrich Bonhoeffer ist das Gebet durch Schweigen und Schreien gekennzeichnet. Schweigen ist Ausdruck der demütigen Haltung des Menschen vor Gott. In dieser Haltung erkennt der Mensch an, dass Gott alle menschlichen Strukturen sprengt, auch die sprachlichen. Für Bonhoeffer ist das Schweigen die Grundlage christlichen Sprechens. Aufgabe der Theologie sei es, dem aus dem Schweigen hervorgegangenen Wort nachzudenken. Dabei bleibe das göttliche Geheimnis Geheimnis, dem gegenüber zunächst nur das mensch177 liche Schweigen angemessen sei. Zugleich finde in diesem Schweigen, das seinem Wesen nach ein Hören auf Gottes Wort ist, eine Verwandlung durch dieses Wort statt, die zum Reden befähige. In paradoxer Zuspitzung kann Bonhoeffer formulieren: „Von Christus reden heißt schweigen, von Christus schweigen heißt reden. Rechtes Reden der Kirche aus rechtem 178 Schweigen ist Verkündigung des Christen.“ Für Rudolf Otto vollzieht sich im Schweigen im liturgischen Kontext ein sakramentaler Wandlungsvorgang. Die Distanz zwischen Transzendenz und Immanenz werde hier überbrückt. Eine Konvergenz von göttlichem und menschlichem Handeln finde ihren Ort, so dass im Schweigen eine Begegnung mit dem Heiligen 179 möglich werde. Diese grundsätzlichen Hinweise zur Einordnung der Kommunikation Schweigen mögen genügen. Es hat sich gezeigt, dass Schweigen zwar ein in mancherlei Hinsicht uneindeutiger Vorgang ist. Zugleich erweist sich das Schweigen als ausdrucksstarke Kommunikationsform, die als solche nie richtungslos ist. Die Möglichkeiten, die sich hieraus im Rahmen eines Gedenkens an den Holocaust ergeben, sollen nun kurz skizziert werden. Sie basieren alle darauf, dass ein gedenkendes Schweigen eindeutig von einem Verschweigen, Verdrängen oder Verstummen gegenüber dem Holocaust abgegrenzt wird. 175 176 177 178 179
E. STUBBE: Worte, 62f. Vgl. S. DIETRICH: Gebet, 68. Vgl. a.a.O., 67. D. BONHOEFFER: Gesammelte Schriften III, 167. Vgl. R. OTTO: Schweigen, passim; vgl. K. WIEFEL-JENNER: Gottesdienst, 72. K. WIEFEL-JENNER stellt zu diesem Programm abschließend fest, ebd.: „Die Vorstellung, das Schweigen als Sakrament zu verstehen, war bzw. ist so unwahrscheinlich, dass man es gar nicht für möglich hielt.“
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Im Schweigen bietet sich die Möglichkeit, eine ununterbrochene Kette vermeintlich verstehender, tatsächlich aber möglicherweise verdrängender Rede vom Holocaust zu unterbrechen. Schweigen kann in dieser Weise intervenierendes Schweigen sein. Als solches wird es immer ein DavorSchweigen sein. Es muss ein Sprechen folgen, das ein verändertes, vertieftes Gedenken an den Holocaust darstellt. Aus dem Schweigen heraus werden neue Worte möglich. Es kommen die entscheidenden, wichtigen Worte zur Sprache. Ohne solche folgenden Worte stünde das Schweigen allerdings in der Gefahr, zum verletzenden Verschweigen zu werden. Im Schweigen ist die Möglichkeit angelegt, die Grenze und Begrenzung der eigenen Worte wahrzunehmen, insbesondere derer, die die Erinnerung an den Holocaust wiedergeben sollen. Das Schweigen als Schweigen vor dem Reden stellt eine Anerkennung dieser Grenze dar. Im Schweigen wird nachvollzogen, dass das Belegen der Erinnerung mit Worten in sich selbst einen problematischen Akt darstellt, wie Elie Wiesel schreibt: „Bevor ich schreibe, muss ich das Schweigen ertragen, dann bricht das Schweigen aus. Im Anfang war das Schweigen – keine Worte. Das Wort selbst ist ein Ausbruch. Das Wort selbst ist ein Akt der Gewalt; es bricht das Schweigen. Wir können dem Schweigen nicht ausweichen, wir müssen es auch nicht. Was 180 wir tun können ist, die Worte mit Schweigen zu beladen.“ Hier wird noch einmal der unlösliche Zusammenhang von Schweigen und Reden her181 ausgestellt. Indem durch ein vorgängiges Schweigen die Worte mit Schweigen „beladen“ werden, wie Wiesel sagt, wird – im Sinne Lyotards – in der Erinnerung das hinter ihr Verborgene, das Unbegreifliche, das im Erinnern als Vergessenes zu Bewahrende, mitgesagt. In literarischen Zeugnissen, die das Geschehen des Holocaust in Sprache zu fassen versuchen, hat die Dialektik eines entbergenden Schweigens in vielfältiger Weise Gestalt gewonnen. Alvin H. Rosenfeld beschreibt solche „literarischen Reaktionen 182 auf den Holocaust“ in seinem Buch „Ein Mund voll Schweigen“. Er zitiert ein Gedicht des jiddischen Dichters Jacob Glatstein „Rauch“ (im jiddischen Original „Roikh“), das auf der Gewissheit des Autors basiere, „dass wir in der Lage sind, das Verbrechen zu identifizieren, das sich hinter den Worten oder noch davor 183 verbirgt, in dem Schweigen, das dieses Gedicht durchbrechen soll“. Im Schweigen sei es verborgen, weil das Verbrechen des Holocaust in diesem Gedicht den ungenannten, aber eben nicht zu verkennenden Untergrund bilde. Im Blick auf Paul Celan und Nelly Sachs spricht Rosenfeld von einer Poetik des Aushauchens. Die Sprache, das Wort selbst verhalte sich in Krisensituationen so, dass das Wort, so Celan, „kein Wort mehr [ist], es ist ein furchtbares Ver184 stummen, es verschlägt ihm – und auch uns – den Atem und das Wort.“ Entsprechend erklärt Rosenfeld für die Dichtung Celans: „Wenn wir den Weg, den 180 181 182 183 184
E. WIESEL, zitiert nach C. MÜNZ: Gedächtnis, 82, Anm. 97. Vgl. auch V. FLUSSER: Gesten, 44. Titel und Untertitel des Buches von A. Rosenfeld. Vgl. A. ROSENFELD: Mund, 33. A.a.O., 88.
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der Atem nimmt, bis an sein Ende verfolgen – und Celans Dichtung zwingt uns dazu – stehen wir in der Regel vor dem ‚Nicht mehr zu Nennende[n]‘: dem 185 Schweigen.“ Als Beispiel dient ihm Celans Gedicht „Niemandes Stimme“. Das Schweigen, von dem hier die Rede ist, ist keineswegs stumm oder bedeutungslos. Es ist im Gegenteil der Moment der Atemwende. Es trägt in sich die versammelte Stille. Wenn wir diese versammelte Stille, die auf die Schreie der Opfer folgte, 186 wirklich hören könnten, so die Warnung Wiesels, „die Welt würde ertauben.“
Der Theologe Hans Jürgen Luibl entdeckt bei seinen „Sprechversuchen nach Auschwitz“ eine „Hermeneutik des Stummen Schreis“. Sie beschreibe vor allem sein Scheitern. Ich zitiere eine längere Passage: „Die folgenden Zeilen sind Ausdruck meines Scheiterns, eines doppelten sogar. Geplant war es nicht, es geschah ungewollt. Was ich wollte, war, Genese und Metamorphose der Wendung ‚nach Auschwitz‘ rekonstruieren. Was ich dabei lernte, war: Wer sich auf ‚nach Auschwitz‘ einlässt, der muss sich auf ‚Auschwitz‘ einlassen, und das bedeutet allemal das Scheitern. Es gibt einen ‚harten, dunklen Kern‘ in der Wendung nach Auschwitz, der einem die Sprache verschlägt. Bei mir geschah dies, als ich in der Einleitung des Buches ‚Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen‘ von der nüchternen Beschreibung des alltäglichen Lagerterrors, der zur Gewohnheit gewordenen Massenvernichtung, las, oder besser: nicht mehr weiterlesen konnte. [...] Zur Hilfe genommen habe ich/zur Hilfe gekommen ist mir/dabei eine Zeichnung eines 15-jährigen jüdischen Mädchens, gemalt in Deutschland im Jahre 1936. Dieses Bild wurde zum Sinnbild für das Scheitern des Scheiterns meiner Rede ‚nach Auschwitz‘. Das Bild ist so stumm wie der Schrei, den es darstellt. Und doch spricht dieser Stumme Schrei an, provoziert zur Rede, drängt auf Aussprache, ruft in die Ver-Antwortung. Was dabei Laut werden konnte, ist hier nachzulesen; die Unlesbarkeit von ‚Auschwitz‘ allerdings erforderte ein Lesen zwischen den Zeilen, erforderte die Fähigkeit, den Ab187 grund zwischen zwei Buchstaben wahrzunehmen.“
Ich halte fest: Schweigen ist eine Voraussetzung des Gedenkens, das als bewahrendes Gedenken eine ihrer eigenen Grenzen bewusste Erinnerung an Auschwitz zum Ziel hat. Denn Schweigen ist zu verstehen als Annahme der Grenze jeglichen Redens und Darstellens und als Aufhebung jenes Vergessens, das durch alles Reden im Erinnern nicht ausgeschlossen werden kann. Schweigen ist, das wird in dieser Darstellung deutlich, nicht das letzte, sondern „das erste Wort“ des Gedenkens, dem weitere zu folgen haben. Es ist der Ausgangspunkt eines Gedenkens an den Holocaust, das sich im Bewusstsein der Mechanismen des Erinnerns und der Abgründigkeit der Erinnerung an den Holocaust als lernfähig erweisen kann, weil es nicht „totreden“ oder „totzeigen“ muss, sondern zum Schweigen und damit zum neuen Reden befähigt. Mit anderen Worten: Schweigen ist der Ausgangspunkt eines Gedenkens, das Pausen –z.B. Sprechpausen, Bilderpausen oder 185 Vgl. a.a.O., 90. 186 Vgl. a.a.O., 97. 187 H.-J. LUIBL: Sprechversuche, 403f.
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Erinnerungspausen – kennt, in denen das Schwierige der Erinnerung, aber auch ihre Notwendigkeit im Gedenken immer wieder bewusst wird. Diese Untersuchung will, insofern das Schweigen „das erste Wort“ des Gedenkens ist, nicht dafür plädieren, beim Schweigen stehen zu bleiben. Ich will an dieser Stelle nur am Rande auf die Selbstverständlichkeit des Schweigens im Zusammenhang von Gedenken hinweisen. An dem seit 1951 jährlich in Israel begangenen JomHaSchoa wird als zentrale Handlung eine landesweite Schweigeminute begangen. Dieses das gesamte öffentliche Leben unterbrechende Schweigen hat grenzwahrnehmenden, vertiefenden und schließlich öffnenden Charakter. Der Tag hat davor und danach in Gesellschaft und Erziehung den öffentlichen Diskurs der Erinnerung an den Holocaust zum Inhalt. Im öffentlichen Schweigen wird in der Trauer über die Opfer die Grenze dieser Erinnerung deutlich. Der Opfer wird in aller Tiefe und in aller Zweckfreiheit um ihrer selbst willen gedacht. So eröffnet die Wahrnehmung der Grenze aller Erinnerung im Schweigen die Möglichkeit eines Gedenkens, das aus dem Schweigen heraus zu einem lernenden Gedenken werden kann. 6. Vom Scheitern einer Sonntagsrede – Die Walser-Bubis-Debatte Die Probleme, die in diesem Kapitel bedacht wurden – Vergangenheit, die nicht vergehen will, Grenzen der Erinnerung und des Verstehens, historische und persönliche Perspektiven, die Falle der Erinnerung an den Holocaust, Gedenken und unterlassenes Schweigen – finden sich wie durch ein Brennglas gebündelt in der so genannten Walser-Bubis-Debatte. Zum Hintergrund: Am 11. Oktober 1998 hält der Schriftsteller Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels eine Rede, deren zentrales Thema der aus Walsers Sicht problematische Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust in der Bundesrepublik ist. Insbesondere der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, bringt bereits unmittelbar im Anschluss an die Rede seinen Widerspruch zum Ausdruck, indem er – während sich der Saal mit Bundespräsident Herzog an der Spitze zum Beifall erhebt – sitzen bleibt. Bubis wirft Walser „geistige Brandstiftung“ vor. In einem Gespräch zwischen Bubis und Walser im Beisein des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher und des Mitglieds des Zentralrates der Juden, Salomon Korn, nimmt Bubis zwei Monate nach der Rede diesen Vorwurf zurück. Bis in die letzten Worte dieses Gespräches hinein ist zu vernehmen, dass die Differenzen zwi188 schen Walser und Bubis nicht ausgeräumt sind. Die Härte und Schmerzhaftig188 Vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 464: „BUBIS: ‚Ich darf Ihnen mein Fazit sagen. Ich kann so viel sagen: Nachdem Sie in diesem Gespräch Ihren Standpunkt erläutert haben, nehme ich den Ausdruck geistiger Brandstifter zurück.‘ WALSER: ‚Das brauchen Sie nicht. Ich bin keine Instanz, vor der man was zurücknimmt. Ich bin kein Offizier aus dem Casino. Ich brauche das nicht.‘ BUBIS: ‚Neh-
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keit der Auseinandersetzung sind im Schlusssatz Walsers zu spüren: „Jetzt gehen 189 wir hinaus, finde ich, weil wir jetzt noch lebendig sind.“ Die Debatte ist, wie die von Schirrmacher herausgegebene, umfangreiche Dokumentation zeigt, mit diesem Gespräch nicht zu Ende. Schirrmachers Sammlung von Beiträgen zur Diskussion reicht bis zum 1. Juli 1999. Öffentliche Äußerungen Walsers werden von nun an im Lichte dieser umstrittenen Rede in der Paulskirche interpretiert. Seine Rede am 8. Mai 2002 im Willy-Brandt-Haus in Berlin ist fast nur in ihrem Rückbezug auf die Kontroverse von 1998 zu begrei190 fen. Die im Jahre 2002 ausgebrochene Diskussion um das Buch „Tod eines Kritikers“ von Walser wirft, soweit es hier um den Vorwurf des Antisemitismus gegen Walser geht, auf die Rede von 1998 neues Licht (bzw. Schatten). Offenbar ist die Auseinandersetzung um Walsers Position – anders als der Historikerstreit oder die Historisierungsdebatte – noch nicht abgeschlossen.
Der Horizont, in den Walser seine Rede durch den Titel „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ gestellt hat, ist zunächst nur für eine säkulare „Predigt“ gedacht, kann aber auch zur Erhellung homiletischer Probleme dienen. Ich greife die Punkte auf, die geignet sind, von den bisher behandelten humanwissenschaftlichen Erkenntnissen zu den folgenden homiletischen Überlegungen überzuleiten. 6.1 Absichten und ihre Verkehrung Wir begegnen in der Walser-Rede und in der sich anschließenden Debatte der Perspektivvermischung und der Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses (a), der Medialisierung des Holocaust (b) und der Instrumentalisierung der Erinnerung (c).
a) Walser selbst fragt, ob bestimmte Formen der Erinnerungspraxis in der Bundesrepublik nicht eine Perspektivvermischung zwischen Tätern und Opfern zur Folge haben: „Könnte es sein“, so Walser, „dass die Intellektuellen, die sie [sc.: die geschichtliche Last; CS] uns vorhalten, dadurch, dass sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entge191 gengesetztheit von Tätern und Opfern.“ Der These der Perspektivvermischung im Erinnern an den Holocaust wird in der anschließenden Debatte kaum widersprochen. Im Gegenteil: Henryk M. Broder sieht diese wie auch andere Überlegungen Walsers als me ich den Ausdruck eines geistigen Brandstifters zurück. Ich muss aber dabei bleiben, dass durch die Wirkung Ihrer Rede... .‘ “ 189 Vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 465. 190 Vgl. M. WALSER: Geschichtsgefühl. 191 M. WALSER: Erfahrungen, 11.
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bekannt und akzeptiert an. Als problematisch erweist sich aber, dass Walsers Beispiele für die „Vorhaltungen der Intellektuellen“ im Unbestimmten bleiben. Namentliche Nennungen und eindeutige Konkretionen unterlässt 193 er und öffnet dadurch den Raum für missverständliche Deutungen. Ein besonderes Problem entsteht dadurch, dass Walser selber so etwas wie eine Verkehrung der Opferrolle vornimmt. So spricht Walser vom „absichtlichen Wehtun“, vom „Verletzen durch Beschuldigen“, von dem Gefühl, unablässig von „einer Beschuldigung attackiert zu werden“. Klaus M. Bogdahl und Michael Brocke konstatieren deshalb in einem offenen Brief an Walser: „In ihrer Rede erscheinen die Deutschen, [...], als Opfer von Denkern, Wissenschaftlern, Journalisten und Schriftstellerkollegen, die sie mit ihren Erinnerungen und moralischen Bekenntnissen an der Verwirklichung ihrer 194 Zukunft hindern.“ Walser verwahrt sich gegen den Vorwurf der Verkehrung von Täter- und Opferrolle, den Bogdahl und Brocke hier erheben. Er verweist auf sein klares Diktum in der Frankfurter Rede: „Ich habe es nie 195 für möglich gehalten, die Seite der Beschuldigten zu verlassen.“ Gleichwohl: Es bleibt der Eindruck, dass die dauernde Beschuldigung, von der Walser redet, und die viel beschworene befreiende Wirkung, von 196 der in Briefen an Walser die Rede ist, die Vorstellung Walsers in sich bergen, im Blick auf die Erinnerung an den Holocaust Opfer zu sein. Marcel Reich-Ranicki weist auf diese sonderbare Verkehrung hin, indem er einen Ausspruch Walsers zitiert, in dem ein derartiger Rollenwechsel explizit vollzogen wird. So habe Walser erklärt: „ ‚Die Autoren sind die Opfer, und er [sc.: Reich-Ranicki, CS] ist der Täter. Jeder Autor, den er so behandelt, könnte zu ihm sagen: Herr Reich-Ranicki, in unserem Verhältnis bin ich 197 der Jude.‘ “ Reich-Ranicki erklärt diese Form der sachlich unsinnigen Analogie von Romankritik einerseits und Vergasung von Menschen andererseits mit der Verletztheit Walsers. Ihm sei im Zorn eine törichte Formulierung entschlüpft. Und doch bleibt die Frage, die Reich-Ranicki stellt: „Walser spricht von ‚Meinungssoldaten‘, die den Schriftsteller mit vorgehaltener Pistole in den ‚Meinungsdienst‘ nötigen. Wo sind diese Meinungssoldaten – in der ‚Zeit‘, im ‚Spiegel‘ oder der ‚Frankfurter Allgemeinen Zei198 tung‘? Ich kann sie nicht ausmachen.“ Mit anderen Worten: Wo sind die, die als Täter Walser zum Opfer machen? Fazit: Walser nimmt unterschwellig eine Verkehrung von Täter- und Opferrolle vor. Und das, obwohl er selbst zu Recht davor warnt, die Perspektiven unzulässig zu vermischen oder gar zu verwechseln. 192 193 251. 194 195 196 197 198
Vgl. H.M. BRODER: Halbzeit, 213f. Vgl. M. STÖHR: Vergangenheit, 104; vgl. auch F. SCHIRRMACHER: Seelenarbeit, K.M. BOGDAHL/M. BROCKE: Brief, 120. M. WALSER: Erfahrungen, 11. Vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 447ff. Vgl. M. REICH-RANICKI: Das Beste, was wir sein können, 324. Vgl. a.a.O., 324f.
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b) Als zweite Problematik im Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust spricht Walser die Medialisierung an: Walser spricht von einer „Dauerrepräsentation unserer Schande“ bzw. von „unaufhörlicher Präsentation“, die ihn zum Wegschauen verleite. Er konstatiert: „Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwan199 zigmal weggeschaut.“ Im Unterschied zu obiger Analyse der Grenzverletzung durch Medialisierung der Erinnerung geht es bei Walser zunächst um den Aspekt der Permanenz von Darstellung und Präsentation, weniger um eine subtile Sinnverschiebung bzw. Sinnherstellung, die in der Regel durch die Medien vorgenommen wird (s. o. II. 4). Walser spielt auch nicht auf jenes Paradox an, dass das, was andauernd erinnert wird, gerade dadurch verdrängt werden könnte. Verdrängung ist bei Walser allenfalls die abwehrende Reaktion. Seine Kritik an dem zu dieser Zeit noch in der Planung befindlichen Holocaust-Mahnmal in Berlin richtet sich nicht gegen das Medium an sich, sondern gegen dessen konkrete Gestalt, in der er eine „Monumentalisierung der Schande“ sieht. Walser zielt in seiner Kritik nicht auf die Formgebung der Erinnerung an sich, sondern auf die vermeintliche öffentliche Darstellung eines „guten Gewissens“, die er hinter dieser Formgebung vermutet. Mit der Art der Darstellung, generell mit den Formen der medialen Öffentlichkeit, werde einer sinnvollen, das heißt individuellen Vorstellung von Gewissen widersprochen. Walser erklärt mit Verweis auf Heidegger und Hegel: „Ein gutes Gewissen ist keins. Mit seinem Gewissen ist jeder allein. Öffentliche Gewissensakte sind deshalb in der Gefahr, symbolisch zu werden. Und nichts ist dem Gewissen fremder als Symbolik, wie gut sie auch gemeint sei. Diese ‚durchgängige Zurückgezogenheit in sich selbst‘ ist nicht 200 repräsentierbar. Sie muss ‚innerliche Einsamkeit‘ bleiben.“ Walser problematisiert an der Frage der Erinnerungsmedien die Öffentlichkeit von Gewissen. Im Kern geht es ihm nicht um das Dilemma des Gedenkens, das sich im „Widerspiel von Erinnern und Vergessen, Ge201 dächtnis und Verdrängung“ zeigt, wie Assheuer sagt. Es geht Walser um einen zunächst ganz persönlichen Hinweis. Mit dem nicht öffentlichen Charakter von Gewissen rechtfertigt Walser, die öffentliche Erinnerung an den Holocaust häufig wegzudrängen, ja zu verdrängen. Hierzu fühlt sich Walser durch die Art der Präsentation provoziert, weil er sie als eine widersinnige, symbolische Darstellung des öffentlichen Gewissens wahrnimmt. Walser: „Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“ Dass das Wort „Wegschauen“ in diesem Zusammenhang selbst eine Provokation darstellt, dürfte Walser bewusst sein. Die Vokabel Wegschauen erinnert an das Verhalten der schweigenden Mehrheit im Nationalsozialismus gegenüber den Verbrechen an den 199 M. WALSER: Erfahrungen, 11. 200 A.a.O., 14. 201 Th. ASSHEUSER: Staat, 135.
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Juden. Wegschauen hat deshalb als geschichtsträchtiger Terminus einen geradezu explosiven Kern. In die gleiche Richtung zielt die Vokabel „Wegdenken“ bzw. der – nur im schriftlichen Manuskript der Rede befindliche – Satz Walsers: „An der Disqualifizierung des Verdrängens kann ich mich 202 nicht beteiligen.“ Es sind diese Worte und Sätze, die Bubis’ Reaktion hervorrufen. Er wirft Walser den Versuch vor, „Geschichte zu verdrängen beziehungsweise die 203 Erinnerung auszulöschen.“ Walser plädiere „für eine Kultur des Wegschauens und Wegdenkens, die im Nationalsozialismus mehr als üblich 204 war.“ Walser beruft sich in seiner Rechtfertigung des Wegschauens und Verdrängens darauf, dass ihm gerade nicht an einem dahinter vermuteten 205 Vergessen oder Leugnen des Holocaust gelegen sei. Ihm gehe es um das Verhältnis von öffentlicher Präsentation und individueller, persönlicher Möglichkeit, mit dieser medialen Präsentation umzugehen. Im Hinblick auf 206 diese Möglichkeit erklärt er: „Unerträgliches muss ich nicht ertragen.“ Im Gespräch mit Bubis führt Walser diesen Satz näher aus. Walser: „Das Wegschauen hieß: Ich habe mindestens zwanzigmal weggeschaut, wenn das Fernsehen Konzentrationslagerszenen zeigte. Warum? Weil ich sie nicht ertrage. Es ist mir physisch, psychisch unmöglich, in diesem Falle hinzusehen. Daraus habe ich geschlossen, dass diese Szenen vielleicht – was mich 207 angeht – zu oft vorkommen.“ Wenn Walser ausschließlich auf diesen Unterschied medialer Überpräsentation und persönlicher Erinnerungsfähigkeit in seiner Rede abgehoben hätte, wäre an dieser Stelle keine Kontroverse entstanden. Walser verkürzt aber die Problematik, die ich mit dem Stichwort Medialisierung beschrieben habe, in mehrfacher Weise. Zum einen führt er seine Begründung für das Wegschauen innerhalb der Rede nicht im unmittelbaren Kontext an, sondern lässt sie nur kurz in anderem Zusammenhang anklingen. Zum zweiten nimmt er dem Gedanken seine dialektische Pointe und verschiebt auf diese Weise die Thematik von der Frage der Medialisierung hin zur Frage des öffentlich vorgeführten Gewissens. Die ursprünglich dialektisch angelegte Pointe des Gedankens hat Walser einige Jahre früher an anderer Stelle formuliert: „Ich möchte immer lieber wegschauen von diesen Bildern. Ich muss mich zwingen hinzuschauen. Und ich weiß, wie ich mich zwingen muss. Wenn ich mich eine Zeitlang nicht gezwungen habe hinzuschauen, merke ich, wie ich verwildere. Und wenn ich mich zwinge hinzuschauen, 202 M. WALSER: Erfahrungen, 8. 203 I. BUBIS: Rede, 108. 204 A.a.O., 111. 205 M. WALSER: Erfahrungen, 11: „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum.“ 206 A.a.O., 8. 207 I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 441.
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merke ich, dass ich es um meiner Zurechnungsfähigkeit willen tue.“ Indem Walser nun 1998 in seiner Rede dem Wegschauen nicht mehr das Hinschauen gegenüber stellt, wird aus dem Dilemma der notwendigen und zugleich problematischen Medialität der Erinnerung ein Topos, in dem es ihm nur noch mittelbar um die Medien und die Formgebung der Erinnerung an den Holocaust geht. Statt dessen geht es ihm jetzt um das Gefühl des Beschuldigtseins durch die Art der Präsentation. Es geht ihm nicht (mehr) um ein Gedenkdilemma, sondern um ein Gewissensdilemma. Deshalb verbindet er die Frage der Medialisierung der Erinnerung mit dem 209 Vorwurf, sie werde instrumentalisiert. Fazit: Walser verkürzt die Problematik einer Medialisierung der Erinnerung an den Holocaust auf provokante Weise und verschiebt sie von der Frage des Erinnerns zur Frage der Öffentlichkeit von Gewissen. c) Eine dritte von mir beschriebene Form der Grenzverletzung nennt Walser in seiner Rede: Die Instrumentalisierung der Erinnerung. Die Erinnerung an Auschwitz werde instrumentalisiert, wenn Auschwitz gegen die Überwindung der deutschen Teilung ins Feld geführt werde. Auschwitz werde instrumentalisiert, wenn unter dem Stichwort „Verharmlosung von Auschwitz“ auf unsachliche Weise die Diskreditierung eines Buches und seines Autors vorgenommen werde. Auschwitz und die Erinnerung an Auschwitz werde letztlich dazu instrumentalisiert, Deutschland daran zu hindern, „ein 210 ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft“ zu sein. Walser verknüpft den Gedanken der Instrumentalisierung mit dem des Beschuldigtseins und mit seiner Frage nach Gewissen, Öffentlichkeit und individueller Persönlichkeit. Im Zusammenhang mit der Instrumentalisierungsproblematik fallen die wohl umstrittensten Sätze der Paulskirchenrede: „Das fällt mir ein, weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: Auschwitz eignet sich nicht dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur 208 Zitat nach F. SCHIRRMACHER: Seelenarbeit, 250. 209 M. Walser selbst bestreitet im Gespräch mit Bubis diese Akzentverschiebung, vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 441: „Aber jetzt dazu: Wegschauen und Beschuldigtsein. Sie bringen jetzt zwei Sätze und Themengebiete zusammen, die bei mir so nicht zusammenstehen. Es gibt bei mir den Satz: Es war mir nie möglich, die Seite der Beschuldigten zu verlassen. So, das ist eins. Das Wegschauen hatte einen vollkommen anderen Sinnzusammenhang.“ Gegen diese Sätze Walsers sprechen hier die Worte seiner Rede, Erfahrungen, 11: „Manchmal, wenn ich nirgends mehr hinschauen kann, ohne von einer Beschuldigung attackiert zu werden, muss ich mir zu meiner Entlastung einreden, in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden. [...] wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerrepräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“ Hier werden eben doch eindeutig die Themen Wegschauen und Beschuldigtsein zusammengeführt. 210 M. WALSER: Erfahrungen, 13.
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Pflichtübung.“ Hier erweist es sich als besonders misslich, dass Walser zwar sehr provokative Worte wählt, aber im Blick auf eine klare Zuordnung, wer gegenüber wem instrumentalisiert, in vagen Andeutungen verbleibt. Reich-Ranicki beklagt dieses Manko: „Ich sehe in seiner [sc.: Walsers; CS] Rede keinen einzigen wirklich empörenden Gedanken. Aber es wimmelt in ihr von unklaren und vagen Darlegungen und Formulierungen, die missverstanden werden können und von denen manche – das war doch vorauszusehen – missverstanden werden müssen. [...] Er protestiert gegen die ‚Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken‘. Wer instrumentalisiert und zu welchen Zwecken? Walser bleibt die Antwort 212 schuldig.“ So deutet Bubis beispielsweise den Vorwurf der Instrumentalisierung auf die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Verhandlungen über die 213 Ansprüche von ehemaligen Zwangsarbeitern auf Entschädigung. Walser weist diese Interpretation zurück und spezifiziert dabei seine Kritik in der bereits angedeuteten Richtung. Er meine zuallererst die Instrumentalisierung, die in der Kritik an der Praxis der Wiedervereinigung zum Ausdruck gekommen sei. Den Vorwurf, den gesellschaftspolitischen Kontext der Diskussion um die Ansprüche der ehemaligen Zwangsarbeiter nicht mitbedacht zu haben, kann er nur schwer entkräften. Hierbei zeigt sich eine Eigenart in der Walserschen Argumentation, die eine zutiefst egozentrische Wahrnehmung der Problematik verrät. Auf die Nachfrage, ob Walser zu den offensichtlich entstandenen Missverständnissen und dem damit einhergehenden Beifall von rechtspopulistischer Seite nicht klärende Worte hätte finden können, entgegnet er: „Entschuldigung, nein, ich nehme das nicht zur Kenntnis. Ich spreche nicht für die Nationalzeitung. Für mich existiert 214 die Nationalzeitung nicht.“ Eine ähnlich individualistisch verengende Wahrnehmung öffentlicher und veröffentlichter Wirklichkeit hatte Walser bereits in seiner Rede selbst vorgenommen, als er seine Reaktion auf die Berichterstattung eines brennenden Asylantenheims und die Sympathiebekundungen der Bevölkerung hierzu schildert: „Meine nichts als triviale Re215 aktion auf solche schmerzhaften Sätze: Hoffentlich stimmt’s nicht.“ Die Schwierigkeit, die durch diese egozentrische Verengung entsteht, spiegelt sich in der Walserschen Verwendung des Instrumentalisierungsbegriffs wieder: Im Unterschied zu der bei Loewy herausgearbeiteten Problematik von Instrumentalisierung des Holocaust zum Zwecke der eigenen, in der Regel unbewussten Entlastung von der Leere, die von Auschwitz ausgeht, nimmt Walser die Instrumentalisierung als Beschuldigung, als Anklage, als Belastung wahr. Es wird mit dem Begriff der Instrumentalisierung bei ihm nicht die Problematik dargestellt, dass durch allgemeine Lehren mittelbar 211 212 213 214
A.a.O., 13. M. REICH-RANICKI: Das Beste, was wir sein können, 324. Vgl. I. BUBIS: Ich bleibe dabei, 158. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 460. Vgl. auch M. STÖHR: Vergangenheit, 116. 215 M. WALSER: Erfahrungen, 11.
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die Leere von Auschwitz verdrängt und zum Verschwinden gebracht werden könnte. Walser geht es darum, dass mit der Instrumentalisierung von Auschwitz Deutsche mutwillig und vorsätzlich belastet würden. Mit dieser Verengung der Instrumentalisierung auf die so genannte„Moralkeule“ bzw. „Drohroutine“ aber verkürzt Walser abermals die von mir beschriebene Gefährdung der Erinnerung um ihre dialektische Pointe, dass die Instrumentalisierung aus sich selbst heraus zur Verdrängung führen könnte. So erklärt sich, dass Walser zwar für den Topos der Instrumentalisierung von Ausch216 witz in den Medien von verschiedenen Seiten Zustimmung bekommt. Aber weil er den Vorgang der Instrumentalisierung nicht von seiner inneren Problematik des Verdrängens im Erinnern her begreift, sondern lediglich von seiner moralischen Instrumentalität aus wahrnimmt, muss er sich vorwerfen lassen, selber den Holocaust zu instrumentalisieren. Diesen Vorwurf Walser gegenüber erhebt Moshe Zuckermann: „Er [sc.: Walser; CS] mag die durch andere praktizierte Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung noch so empathisch anprangern, er selber macht sich einer solchen Instrumentalisierung ja nicht weniger schuldig! Denn das Reden über Instrumentalisierung erweist sich unweigerlich als instrumentell, wenn in ihm etwas mit den deutschen Intellektuellen bzw. den Medien ausgetragen werden soll, ohne dabei Rechenschaft über das Instrumentalisierte abzule217 gen.“ Zu welchem Zweck instrumentalisiert Walser? Im Mittelpunkt seiner Gedanken steht die Legitimität der Überwindung der deutschen Teilung. Walser scheint es darum zu gehen, dass es den Deutschen erlaubt sein soll, ein „ganz normales Volk“ zu sein. Auf Grund dieser Begrifflichkeit ist an Walser wiederholt der Vorwurf gerichtet worden, er wolle einen Schluss218 strich unter die Vergangenheit ziehen. Patrick Bahners weist in diesem Zusammenhang auf die „Normalitätsfalle“ hin: „Es macht die simple Para219 doxie der Normalität aus, dass ihre Bekräftigung ihr eigenes Dementi ist.“ In diese Falle sei Walser gegangen. Die Frage Walsers, in welchen Verdacht man gerate, wenn man von den Deutschen als „ganz normalem Volk“ reden wolle, beantwortet Bahners: „In den Verdacht, es sei einem einfach lästig 220 und langweilig, dauernd von Auschwitz zu reden und hören zu müssen.“ Im Einfordern der Normalität wird bei Walser eine Instrumentalisierung des Instrumentalisierungsvorwurfs sichtbar. Im Zusammenhang der von mir beschriebenen Gefährdung der Erinnerung durch die Grenzverletzung der Instrumentalisierung heißt das: Walser gefährdet die Erinnerung an den Holocaust, indem er die Gefährdungen der Erinnerung selbst zu seinen Zwecken instrumentalisiert. Im Gedenken an Auschwitz ist aber gerade die 216 Vgl. M. ZUCKERMANN: Erinnerungsnot, 265; vgl. auch K. Friedensrede, 149. 217 M. ZUCKERMANN: Erinnerungsnot, 264. 218 Vgl. E. DISCHEREIT: Wie ich hinsehe, 333f. 219 P. BAHNERS: Total normal, 99. 220 A.a.O., 100.
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VON
DOHNANYI:
Wahrnehmung des anderen zu lernen. Diese Wahrnehmung des anderen als Gegenüber erfordert einen Perspektivwechsel, dessen Notwendigkeit Walser wegen seiner egozentrischen Verengung auf „sein“ Gewissen, „un221 ser“ Auschwitz und „die deutsche Normalität“ nicht sehen kann. Wir halten fest: Perspektivvermischung, Medialisierung und Instrumentalisierung werden zwar bei Walser als Gefährdungen der Erinnerung an den Holocaust wahrgenommen, doch verkürzt Walser die dialektische Problematik der Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht vergeht, auf eine egozentrisch-moralische Perspektive. Seine Klagen über Medialisierung und Instrumentalisierung erscheinen selbst als Instrumente im Streit für die Anerkennung des eigenen Gewissens. Die Forderung nach Normalität erweckt den Eindruck, dass die Vergangenheit nun doch vergangen sein soll. Der Impuls eines lernenden Gedenkens, das in der Wahrnehmung des jüdischen Gegenüber seine Erinnerung bewahrt, wird durch die egozentrische Perspektive verhindert. Das Gegenüber wird nicht in seiner Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit wahrgenommen, sondern auf die Vergangenheit festgelegt. Anschaulich wird dieser Zusammenhang in Walsers Vorhaltung an Bubis und dessen Auftreten nach dem Brand an einem Asylheim in Rostock-Lichtenhagen: „[...] Wenn Sie auftauchen, dann ist das sofort rückge222 bunden an 1933.“ Für Walser bleibt der Jude Bubis in der Wahrnehmung stets „rückgebunden“ an die Vergangenheit. Dass Walser dabei den Anschein erweckt, Bubis sei für die Rückbindung verantwortlich und habe sich deshalb von bestimmten Ereignissen wie dem in Rostock fernzuhalten, zeigt, wie Walser auf subtile Weise eine Verkehrung von Täter- und Opferrolle vornimmt. Nicht Bubis ist es, der auf dieser Rückbindung an die Vergangenheit beharrt, die angeblich den Weg in die Normalität versperrt, sondern Walser, der, indem er in der Wahrnehmung des anderen diese Rückbindung vornimmt und diese zusätzlich als Beschuldigung seiner selbst 223 begreift, von der Vergangenheit nicht loskommt. Bewahrendes Gedenken als Wahrnehmung des lebendigen, aktuellen, gegenwärtigen Gegenüber wird so nicht möglich.
221 Der Aufsatz von M. Walser „Unser Auschwitz“ aus dem Jahre 1979 wird in der Diskussion häufig zitiert. 222 I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 452. 223 Vgl. H.M. BRODER: Halbzeit, 215: „Man muss es Walser und seinen Freunden zugute halten, dass sie an Deutschland leiden. Was man ihnen anlasten muss, ist der ständig wiederholte Versuch, sich für ihre Leiden an den Juden schadlos zu halten. [...], denn jeder lebende Jude provoziert die Erinnerung an die Millionen, die ermordet wurden. Und die Erinnerung führt nicht zur Erlösung, sondern weckt den Wunsch, die Erinnerer für den Schrecken zur Verantwortung zu ziehen.“
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6.2 Die Frage nach der angemessenen Sprache Neben den Differenzen hat sich in der Auseinandersetzung um Walsers Rede ein gemeinsames Anliegen herausgeschält, das es festzuhalten gilt: Die Aufgabe, nach einer der Erinnerung in öffentlicher Rede angemessenen Sprache und Ausdrucksform zu suchen. Roman Herzog hat diese Aufgabe zu einem frühen Zeitpunkt der Auseinandersetzung formuliert: „Ich bin mir nicht sicher, ob wir die rechten Formen des Erinnerns für die Zukunft schon gefunden haben. Wir brau224 chen eine lebendige Form der Erinnerung.“ In dieselbe Richtung weist auch die Zusammenfassung der Problematik von Korn, der das Gedenkdilemma zwischen eskapistischer Opferzentrierung und nicht weniger problematischer Täterzentrierung beschreibt: „Als Ausweg wird seit jeher der kleinste gemeinsame Nenner gesucht: Ein in floskelhaften Redewendungen kanalisierter Jargon der Betroffenheit und appellierende Inhalte, auf deren 225 Harmlosigkeit man sich unausgesprochen längst verständigt hat.“ Walser beruft sich im Gespräch mit Bubis wiederholt auf diesen Ausdruck Korns vom „kanalisierten Jargon“, um sein Anliegen einer nicht ritualisierten, nicht der Routine verhafteten, nicht nur vom „Charakter eines Lippengebe226 tes“ zeugenden Weise der Erinnerung hervorzuheben. So weit es eben möglich ist, herrscht in der Suche nach einer angemessenen Erinnerungs227 form und -sprache Einigkeit zwischen Bubis und Walser. Hier liegt das eigentliche Ziel von Walsers Rede: Er will ein Angebot machen, das Angebot literarischer Sprache. Sie sei eine Sprache, die von allen Zwängen unangemessener, instrumentalisierender und routinierter, damit letztlich unernster Rede befreit: „Gibt es außer der literarischen Sprache noch eine, die mir nichts verkaufen will? Ich kenne keine. Deshalb: 228 Nichts macht so frei wie die Sprache der Literatur.“ Sie „mache frei“, weil hier individuell, subjektbezogen und subjektorientiert die menschliche Existenz in ihren Schwierigkeiten „buchstabiert“ werde: „Es sind Lebensschwierigkeiten. Sie werden nicht durch Rednerpulte geweckt, sondern durch Ausund Einatmen. Was daran Not ist, führt zur Sprache, zur unkommandier229 baren.“ Und: „Frei mache“ diese Sprache, weil sie als „zielloses Instrument“ den Sprachfähigen zu sich selbst führe bzw. in entbergender und zugleich verhüllender Weise den Sprechenden den Zuhörenden entziehe und sie dadurch – hoffentlich – berühre. Walser: „Mein Vertrauen in die Sprache hat sich gebildet durch die Erfahrung, dass sie mir hilft, wenn ich nicht glaube, ich wisse etwas schon. [...] Der Ehrgeiz 224 225 226 227 228 229
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R. HERZOG: Rede, 114; vgl. auch a.a.O., 115. S. KORN: Es ist Zeit, 306. Vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 446.454. Vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 461. M. WALSER: Erfahrungen, 16. Ebd. Diese Sätze stehen nur im Manuskript der Rede.
des der Sprache vertrauenden Redners darf es sein, dass der Zuhörer oder die Zuhörerin den Redner am Ende der Rede nicht mehr so gut zu kennen glaubt wie davor. Aber eine ganz abenteuerliche Hoffnung kann der Redner dann doch nicht unterdrücken, sozusagen als apotheotischen Schlenker: dass nämlich der Redner dadurch, dass man ihn nicht mehr so klipp und klar kennt wie vor der Rede, dem Zuhörer oder der Zuhörerin eben dadurch vertrauter geworden ist. [...] Es soll einfach gehofft werden dürfen, man könne einem anderen nicht nur dadurch entsprechen, dass man sein Wissen vermehrt, seinen Standpunkt stärkt, sondern, von Sprachmensch zu Sprachmensch, auch dadurch, dass man sein Dasein streift auf 230 eine nicht kalkulierbare, aber vielleicht erlebbare Art.“
Walser deutet hier ein sprachphilosophisches Konzept zur Lösung der Problematik an. Dieses Konzept ist nur am Rande der Diskussion wahrgenommen worden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Da ist zum einen das Problem, dass hier eine von der individuellen Persönlichkeit des Schriftstellers Walser abhängige Konzeption in den Raum der politischen Öffentlichkeit gestellt wird. Georg Pfleiderer hat auf diese immanente konzeptionelle Schwäche hingewiesen: „Als politisches Konzept ist es unterbestimmt und darüber hinaus von seinem Protagonisten kaum ablösbar; es ist hochgradig 231 milieuspezifisch: Hier politisiert ein Schriftsteller, ein ‚homme de lettre‘.“ Da ist zum anderen das Problem, dass diese Konzeption in hohem Maße sprachliche Ausdrucksfähigkeit voraussetzt. Deshalb ist das Konzept in bedenklicher Weise elitär. Pfleiderer weist darüber hinaus nach, dass dem Walserschen Konzept von Öffentlichkeit als Sprachöffentlichkeit eine bestimmte Zuordnung von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre zugrunde liegt: „Es ist der Versuch, die Sphäre der Öffentlichkeit nicht einfach negativ gegen eine Privatsphäre zu bestimmen, sondern als den Auslegungs- und 232 Gestaltungsraum freier Kommunikationsverhältnisse.“ Deshalb führe Walser in der Rede eine öffentliche Introspektion durch, eine beispielhafte Selbsterkundung, die eben solche Selbsterkundungsbewegungen bei den Zuhörern freisetzen solle. Von hier aus sei Walsers Insistieren auf den „1000 Briefen“ zu begreifen, die ihn erreicht haben. Der Brief könne als das literarische Ausdruckmedium einer solchen privat-öffentlichen Kommunikation begriffen werden. Die Schwierigkeit, in die Walser mit dieser Öffentlichkeitskonzeption gerate, sei eine doppelte: Er stehe im Widerspruch zu dem herrschenden, liberal-pragmatischen Konzept politischer Öffentlichkeit, in dem dem politisch-moralischen Diskurs „– in welchem Umfang auch immer – eine Domestizierungsfunktion zugeschrieben“ werde und der deshalb öffentlich-ritualisierte und sprachlich-standardisierte Formen an233 nehmen dürfe und müsse, so Pfleiderer. Und Walser stehe in der Gefahr, dass seine öffentliche Introspektion als Rettung einer abstrakten Innerlichkeit und Privatsphäre verstanden werde, weil ihre symbolische Präsentation 230 231 232 233
A.a.O., 17. G. PFLEIDERER: Gewissen, 255. Ebd. Vgl. a.a.O., 252f.
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in Form einer öffentlichen Rede weitgehend unverstanden bleiben müsse. Dieses Missverständnis, hier werde Erinnerung vor allem privatisiert, wird durch die egozentrische Darstellung der sprachphilosophischen Konzeption unterstützt. Walser sagt: „Zuständig ist er [sc.: der Schriftsteller; CS] aber nur für sich selbst, und auch das nur, wenn er sich das nicht ausreden lässt; [...] Der Roman und das Gedicht wenden sich niemals zuerst an einen an234 deren.“ Hier scheint – diesen Eindruck unterstreicht Walser im Gespräch mit Bubis – vor allem ein Dichter auf der Suche nach seiner Sprache. Diese Suche, so Walsers Konzept, könnte allerdings auch andere ihrer eigenen Sprache näher bringen. Walser: „Da ist zum Beispiel meine Sprache. [...] Ich habe nur gesagt, wie es mir geht. Und darin haben andere gesehen, wie 235 es ihnen geht.“ Dass eine solche Konzeption öffentlicher Rede zu Missverständnissen führt, womöglich führen muss, könnte als Teil des Konzeptes begriffen werden: Im sprachlichen Austausch und im Gewahrwerden von Verstehen und Missverstehen finden Menschen ihre Ausdrucksmöglichkeiten, an den Holocaust zu erinnern. Mehrfach ist betont worden, dass die Kontroverse 236 über die Rede Walsers einen wichtigen Klärungsprozess ausgelöst habe. Auch aus dem Blickwinkel eines liberal-pragmatischen Konzeptes von Öffentlichkeit lässt sich die Debatte als notwendig begreifen: „Die sprachlichen Ritualisierungen der politisch-moralischen Elite müssen immer wieder von solchen katalysatorischen Aktionen wie einer Walserrede aufgebrochen 237 werden, sonst funktioniert ihr Authentizitätsanspruch nicht.“ Eine derartig funktionalistische Sicht gerät allerdings in die Gefahr, den für die „katalysatorischen Aktionen“ bezahlten Preis zu übersehen: die tiefen, gegenseitigen Verletzungen. Zudem ist das anvisierte Ziel, das Erreichen einer angemessenen Sprach- und Ausdrucksform für die Erinnerung durch diese Aktionen noch nicht erreicht. Gleichwohl: Aus diesem Scheitern lässt sich lernen. 6.3 Konsequenzen für die Sonntagsrede Predigt Lernen lässt sich deshalb aus der Kontroverse um Walsers Rede, weil hier Probleme angesprochen werden, die auch für die Verfertigung der „Sonntagsrede“ Predigt von Bedeutung sind. Auch Predigt ist öffentliche Rede, die sich im Erinnern an den Holocaust der Frage zu stellen hat, wie diesen Erinnerungen Ausdruck zu verleihen ist. Aus dem Scheitern der Rede Walsers zu lernen heißt dabei: 234 M. WALSER: Erfahrungen, 16. 235 I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 456. 236 Vgl. z.B. R. SELIGMANN: Endlich streiten wir uns, 199; vgl. F. SCHIRRMACHER: Ein Gespräch, 436f; vgl. I. BUBIS/S. KORN/F. SCHIRRMACHER/M. WALSER: Gespräch, 461. 237 G. PFLEIDERER: Gewissen, 256.
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a) Es bedarf großer Sensibilität, eine Vermischung von Täter- und Opferperspektive in der Erinnerung an den Holocaust und eine Verkehrung der Opferrolle zu vermeiden. Hinter solcher Vermischung steht häufig eine gewisse Perspektivlosigkeit bei der Erinnerung an das unvorstellbare Unheil. Klaus Berger hat auf die Chance hingewiesen, die religiöse Rede in diesem Zusammenhang haben kann. Die Rede von Sünde und Vergebung eröffne die über den säkularen Rahmen hinausgehende Perspektive eines „Dritten im Bunde“: Gott. Indem religiöse Rede Gott ins Spiel bringe, könne aus theologischer Perspektive eine unsachgemäße Vermischung oder Verkehrung vermieden werden. Es geht nicht darum, durch ein vorschnelles Reden von Vergebung der Last der Verantwortung auszuweichen: „Im Blick auf Gott wird Schuld nicht kleiner, sondern im Kontrast zu seiner Heiligkeit erst in ihrer ganzen 238 Schändlichkeit erfassbar.“ Vergebung gelte es deshalb auch nicht – weder jetzt noch in Zukunft – von Juden zu verlangen. Das „ist unsere Rolle gera239 de nicht“, so Berger. Vergebung, in diesem Falle womöglich menschenunmöglich, wie auch Erlösung, die Restitution der Opfer, schließlich auch Rache, all das liege allein bei Gott. Diese Einsicht beinhalte jene Entlastung, die die Möglichkeit eröffnet, die verschiedenen Perspektiven auseinander zu halten und so auch auszuhalten. b) Predigt im Gedenken an den Holocaust hat sich der Medialität aller Erinnerung und der Gefahr der Verdrängung durch Medialisierung bewusst zu sein. Zur angemessenen Erinnerung an den Holocaust gehört es, sich der Problematik ihrer Formgebung bewusst zu sein. Bestimmte Formen der Medialisierung unterlegen nicht vorhandenen Sinn, der zur Verdrängung 240 der Erinnerung an das Geschehen führt. Auch eine falsche „Dosierung“ der Erinnerung gefährdet die Erinnerung selbst. Hier droht das verschie241 dentlich beschworene „wortreiche Schweigen“ sich an die Stelle des Gedenkens zu setzen. Demgegenüber mögen weniger Worte im Blick auf die Erinnerung bisweilen mehr bewirken. Ein gezieltes Schweigen kann im Kontext einer Predigt im Gedenken an den Holocaust die Unsagbarkeit des Unsäglichen ausdrücken. Über Auschwitz müsse durchdringender geschwiegen werden, hat Walser an anderer Stelle gesagt. Er hat dabei nicht ein Verschweigen des Holocaust im Blick gehabt, sondern ein Gedenken, das im Bewusstsein der Problematik, die passenden Worte zu finden, sich schweigend ausdrückt: „Er [sc.: Walser; CS] schrieb es fragend, zweifelnd, und schrieb es dennoch, weil ihn
238 K. BERGER: Dritter im Bunde, 400f. 239 A.a.O., 401. 240 Vgl. R. HERZOG: Rede, 115: „Auch über die richtige Dosierung werden wir noch reden müssen.“ 241 Vgl. P. AMBROS: Was heißt ‚Gedenken‘, 652ff.
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die Angst überkam, die Erinnerung an das Entsetzen und der Respekt vor 242 den Opfern könnten in Grund und Boden gepredigt werden.“ Im Blick auf das Schweigen als Form des Gedenkens im Kontext von Gottesdienst und Predigt besteht wie im säkularem Raum das Paradox, „dass jemand, der für Auschwitz mehr das schweigende Gedenken wünscht 243 als das Orchester, dieses Anliegen einmal zur Sprache, in Sätze bringen“ muss. In dieser Dialektik liegt die Problematik aller Medialität der Erinnerung an den Holocaust. Sie sollte deshalb nicht auf das Problem der „Dosierung“ reduziert werden. Und sie sollte nicht, wie bei Walser, dazu provozieren, verletzende Worte zu wählen, die den Eindruck erwecken, ein Wegschauen, ein Verdrängen führe zur Lösung. Die Worte sind im Horizont des Mediums Sprache ein wesentlicher Teil des Problems. Wer dies, so wie Walser in Teilen seiner Rede, nur beklagt und sich dabei als Opfer geriert, für den wäre es womöglich besser, wie Klaus Harpprecht sagt, „er 244 schwiege über Auschwitz“. In der Wahrnehmung der Problematik, die richtigen Worte für die Erinnerung zu finden, liegt die Chance der Predigt, die aus Gottes Wort ihre Sprache schöpfen, ihr Schweigen ausdrücken und ihre im Gedenken veränderte Sichtweise formulieren kann. c) Die Gefährdung der Erinnerung an den Holocaust gilt es wahrzunehmen. Das Problem der Instrumentalisierung sollte nicht zur eigenen Entlastung instrumentalisiert werden. Instrumentalisierung gefährdet die Erinnerung an den Holocaust. Ein bewahrendes Gedenken in der Wahrnehmung und Anerkennung jüdischer Gegenwart darf nicht hinter verkürzenden, den eigenen Interessen dienenden Lehren verschwinden. Der Gedanke der Instrumentalisierung kann, wie sich bei Walser zeigt, instrumentalisiert werden. Hierbei kommt die aller Instrumentalisierung immanente egozentrische Perspektive zum Vorschein. Die Wahrnehmung des Gegenübers und ein Perspektivwechsel schließen eine derartige Instrumentalisierung aus. Ein solcher Blickwechsel zum Gegenüber kann als nicht-instrumentalisierende Lehre des Holocaust begriffen werden. Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in diesem Zusammenhang bedeutet, das Judentum in Gegenwärtigkeit, Lebendigkeit und Vielfältigkeit wahrzunehmen und nicht auf die Opferrolle der Vergangenheit zu beschränken. Umgekehrt sollte die Wahrnehmung des Judentums nicht dazu instrumentalisiert werden, die eigene, verunsicherte christliche Identität von hier aus mit Leben zu füllen.
242 K. HARPPRECHT: Wen meint Martin Walser, 51. 243 M. MEYER: Martin Walser, 67. 244 K. HARRPRECHT: Wen meint Martin Walser, 53.
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d) Es gilt, eine Sprache zu finden, die jenseits von „kanalisiertem Jargon“ und „standardisierten Formulierungen“, im Bewusstsein der möglichen Fallen der Erinnerung, im Schweigen und jenseits dieses Schweigens im Reden, der Erinnerung an den Holocaust den Raum des bewahrenden Gedenkens zu geben vermag. Predigt als Sprachgeschehen wird sich auf die Suche nach einer Sprache begeben, die in repräsentativer Weise Menschen bei ihrer eigenen Suche helfen kann. In dieser Hinsicht kann die Predigt dem Impuls Walsers folgen, den authentischen, persönlichen Ausdruck auch im öffentlichen Raum zu suchen. Die Predigt muss dabei nicht die problematische Vorstellung von Öffentlichkeit bzw. den elitären Zug Walserscher Sprachphilosophie übernehmen. Sie kann darauf vertrauen, dass die Mittlerschaft zwischen den persönlichen Worten und dem Anstoß, den diese bei den Hörenden auslösen, nicht bei ihr liegt. Das enthebt die Predigenden nicht von der Verantwortung, angemessene Ausdrucksformen im Gedenken an den Holocaust zu finden. Aber es entlastet im Blick auf das Sprachgeschehen Predigt, das durch seine Worte neue Wirklichkeit zu schaffen vermag. Es entlastet einerseits von „kanalisiertem Jargon“, in dem die Erinnerung entleert scheint. Und es entlastet andererseits von dem Gebrauch verletzender Worte, denen ein Schweigen vorzuziehen gewesen wäre. Predigt, die begriffen wird als Sprach- und – im Blick auf ihre Wirkung bei den Hörenden – als 245 Resonanzgeschehen, wird sich auf die Suche nach den Worten oder dem Schweigen machen, das in den Hörenden bewahrendes Gedenken freizusetzen vermag. Durch die Rede Walsers wird nicht allein mit Nachdruck die Frage nach der angemessenen Erinnerungsform im Blick auf die Sonntagsrede Predigt gestellt. Es wird auch nach der Aufgabe der Predigt im Zusammenhang der Erinnerung an den Holocaust gefragt. Das wird in Walsers Verständnis des Predigtgeschehens als einem wirkungslosen Kritisieren von Wirklichkeit 246 und Moral deutlich. Walser: „Klar, von ihm [sc.: Walser; CS] wurde die Sonntagsrede erwartet. Die kritische Predigt. Irgend jemandem oder gleich 247 allen die Leviten lesen.“ Hiergegen setzt er seinen Wunsch: „Fünfundzwanzig oder gar dreißig Minuten lang nur Schönes sagen, das heißt Wohl248 tuendes, Belebendes, Friedenpreismäßiges.“ Walsers Missverständnis des Predigtgeschehens weist indirekt auf die doppelte Aufgabe der Predigt hin: 245 Vgl. A. GRÖZINGER: Ideen, 39; vgl. auch M. JOSUTTIS: Predigt als Resonanzgeschehen, passim. 246 Vgl. M. WALSER: Erfahrungen, 16: „Etwa um eine kritische Rede zu halten, weil es Sonntagvormittag ist und die Welt schlecht und diese Gesellschaft natürlich besonders schlecht und überhaupt ohne ein bisschen Beleidigung alles fade ist; wenn ich ahne, dass es gegen meine Empfindung wäre, mich ein weiteres Mal dieser Predigtersatzfunktion zu fügen, dann liefere ich mich der Sprache aus, überlasse ihr die Zügel, egal, wohin sie mich führe.“ 247 A.a.O., 7 248 Ebd.
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Gesetz und Evangelium in Unterscheidung und Bezogenheit aufeinander zu verkündigen. Hier schließt sich der Kreis zur Predigt als Verkündigungsgeschehen im Zusammenhang mit der Erinnerung. In der Erinnerung an die Sünden der Vergangenheit nimmt die Predigt die Aufgabe wahr, als Predigt des Gesetzes auf das Evangelium vorzubereiten. Im Gedenken an den Holocaust wird eine Verkündigung des Evangeliums als die Erinnerung an Gottes Erbarmen möglich, eine Verkündigung, die die Erinnerung bewahrt und zugleich die Chancen einer veränderten Wahrnehmung des Gegenübers eröffnet.
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III. Wahrnehmung des Judentums – Praktisch-theologische Perspektiven Predigt in Erinnerung an den Holocaust ist öffentliche Rede in dem Problemhorizont, den die erfahrungswissenschaftliche und kulturphilosophische Betrachtung aufgewiesen hat. Predigt steht im Gedenken an den Holocaust – wie alles öffentliche Reden, das sich auf den Holocaust bezieht – in der Gefahr, die für die Erinnerung bestehenden Grenzen zu missachten. Die Missachtung kann in Perspektivvermischung, unsachgemäßer Medialisierung, Universalisierung, Instrumentalisierung, Banalisierung oder Trivialisierung des Geschehens sichtbar werden. Predigt im Gedenken an den Holocaust kann demgegenüber seinen Ausdruck in bewusst eingesetztem Schweigen und in einer veränderten Wahrnehmung des anderen finden. Die Erinnerung wird so mit Blick auf ihre eigenen Grenzen, Gefährdungen und Rückseiten implizit bewahrt, aber auch als Veränderung der Wahrnehmung nach außen wirksam und sichtbar. Mir geht es im Folgenden um dieses grenzwahrnehmende Gedenken, das sich in einer bestimmten Veränderung ausdrückt: der neuen Wahrnehmung des anderen als gegenwärtigem Gegenüber. Diese Veränderung – Merkmal und Ergebnis eines Lernprozesses – soll in nach 1945 entstandenen homiletischen Entwürfen aufgesucht werden. Zunächst ist die Bedeutung darzustellen, die das Gedenken an den Holocaust für die Predigt als Verkündigung von Gottes Wort hat. Dazu gehören die theologischen Voraussetzungen und der praktisch-theologische Horizont, in dem die veränderte Wahrnehmung des Judentums als Gegenüber analysiert wird. Inwieweit diese Veränderung der Wahrnehmung gelingt, ist der homiletische Maßstab der Untersuchung. Diese Zuspitzung beruht einerseits auf der historischen Bewertung des Holocaust als der – versuchten – Vernichtung des europäischen Judentums. Sie ist andererseits theologisch begründet in der vorgängigen Bezogenheit des Christentums auf das Judentum. Der Zusammenhang dieser Gesichtspunkte soll zunächst dargestellt werden (III. 1). Im Anschluss daran werden die Gefährdungen der Beziehung zwischen Christentum und Judentum beschrieben. Diese Gefährdungen bestehen auch für eine homiletische Umsetzung eines bewahrenden Gedenkens (III. 2). Christliche Existenz ist Existenz im Gegenüber, in der Wahrnehmung des anderen und des Judentums als eines für das Christentum besonderem, lebendigen Gegenüber. Hierfür ist eine theologische Standortbestimmung wichtig (III. 3). Christliche Predigt ist Verkündigung des Wortes Gottes in Form öffentlicher Rede. Der praktischtheologische Horizont für diesen Zusammenhang soll beschrieben werden. Eine
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Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers und ihre Bedeutung für die christliche Theologie findet in anderen praktisch-theologischen Entwürfen Aufnahme (III. 4). Im Anschluss daran wird die homiletische Fragestellung der folgenden Untersuchung der homiletischen Theorien im Gedenken an den Holocaust nach 1945 dargelegt und mit dem Stichwort des „Homiletischen Lernprozesses“ verbunden (III. 5)
1. Die radikale Anfrage des Holocaust an die christliche Theologie Der Holocaust ist die versuchte Vernichtung der jüdischen Existenz. Er ist dadurch auch eine fundamentale theologische Anfrage an das Verhältnis des Christentums zum Judentum. Die Tatsache, dass das Judentum eine „Wurzel“ des Christentums darstellt, war dem christlichen Bewusstsein weithin verloren gegangen. Nach dem Holocaust deutet sich eine erneuerte theologische Wahrnehmung des Judentums an. Die Wahrnehmung der Bedeutung des Holocaust als radikaler Anfrage an die christliche Theologie und die sich von hier erneuernde Verhältnisbestimmung zum Judentum soll an dieser Stelle dargelegt werden. Ich beginne mit der Problematik der Benennung der nationalsozialistischen Judenvernichtung, weil hierin die implizite theologische Deutung und Bedeutung des Geschehens erkennbar wird (a). Im Anschluss werde ich die Bedeutung des Holocaust für die christliche Beziehung zum Judentum darstellen (b). a) Der Begriff Holocaust als theologische Anfrage In historischer Perspektive wird unter dem Begriff Holocaust die fast vollständige Vernichtung des europäischen Judentums durch den nationalsozialistischen Staat zwischen 1933 und 1945 verstanden. Der Begriff Holocaust als Benennung dieses Geschehens ist umstritten. Warum ich ihn dennoch durchgehend in dieser Arbeit verwende, wird bei einer Gegenüberstellung mit den konkurrierenden Begriffen Schoa (je nach Schreibweise auch 1 Shoa/Shoah) und Auschwitz verständlich. Ich gehe von lexikalischen Beobachtungen aus. Holocaust: Noch 1974 hat Meyers Enzyklopädie keine Eintragung unter dem Stichwort „Holocaust“. Der Brockhaus von 1969 kennt nur die allgemeine Definition: „Holokaustum (griech.-lat. ‚völlig verbrannt‘) das, Brandopfer.“ Eine Dekade später vermerkt Meyers Enzyklopädie im Nachtragsband die Geschichte des Begriffes Holocaust von seiner ursprünglichen Bedeutung über seine abgeleitete Verwendung „zur Kennzeichnung der von den Nationalsozialisten betriebenen Vernichtung des jüd.[ischen] Volkes“ bis hin zur Übertragung des Wortes, das 1 Weitere Literatur zu diesem Komplex: N. FREI: Auschwitz, 101–109; J.E. YOUNG: Holocaust, 139ff; C. MÜNZ: Gedächtnis, 100ff; zu weiteren Begriffen wie z.B. Akedah vgl. MÜNZ: Gedächtnis, 100ff.
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„neuerdings [...] auch allgemein auf die Massenvernichtung menschlichen Lebens 2 3 bezogen“ werde. Diese Entwicklung wird auch in anderen Lexika beschrieben. Der Begriff Holocaust weist im Blick auf seine Entwicklung eine besondere Problematik auf: Er stellt sich als ausgesprochen wandlungsfähig dar. Er wird in der Gegenwart für verschiedene historische Phänomene verwendet. Daneben hatte er bereits vor der Übertragung auf das Geschehen der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden seine eigene Bedeutung, darunter eine theologische. Im Kirchlichen Handlexikon von 1907 wird der theologische Bezug von „Holo4 kaustum“, „jene Opfer, wobei das Tier ganz in Flammen aufging“, mit Verweisen auf Ps 51 und 1. Sam 7 unterstrichen. Für die Bezeichnung des nationalsozialistischen Massenmordes an den Juden wird der Begriff „erstmals im Jahr 1944 von einem amerika.[nisch]-jüd.[ischen] 5 Publizisten“ verwendet. In den späten 1950er und 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts wird er in den USA und von dort ausgehend „zum weltweiten Kennzei6 chen der nationalsozialistischen ‚Endlösung der Judenfrage‘.“ Zu seiner universa7 len Akzeptanz hat dem Begriff Elie Wiesel verholfen. Er ist sich bei der Übertragung des Begriffes auf die versuchte Vernichtung des europäischen Judentums der religiös-sakralen Konnotation des Wortes Holocaust bewusst. Er will mit seiner Verwendung die Verbindung zu einer ganz bestimmten Opferszene ziehen, der Bindung Isaaks, im Judentum Akedah genannt. Wiesel: „Ich nenne Isaak den ersten Überlebenden des Holocaust, weil er die erste Tragödie überlebte. Isaak war auf dem Weg, ein korban olah zu sein, was wirklich ein Holocaust 8 ist.“ Die theologischen Implikationen machen den Gebrauch des Begriffes strittig. 9 Er ist im Grunde „schon ein Stück ‚Theologie nach Auschwitz‘.“ Als solcher wird er als gotteslästerlich empfunden, denn mit ihm ist in der Wortgenealogie die „freiwillige Anerkennung einer göttlichen Ordnung symbolisiert, in der auch der10 jenige, der das Opfer bringt, sich in Gottes Obhut weiß.“ Es wird ein Ideologierahmen gesetzt, der für das Ereignis der Massenvernichtung gänzlich unangemessen erscheint. Er verstösst gewissermaßen gegen die eigene Definition dessen, was er beschreiben soll: „Dieser Massenmord bleibt ein unauflösbares Rätsel. Jeder Erklärungsversuch birgt in sich den Keim einer Rechtfertigung dieses teuflischen 11 Geschehens.“
2 Meyers Enzyklopädie, Bd. 26, Nachtrag 2. Auflage 1980, 448. 3 Ähnlich, aber verwirrender, notiert die 21. Auflage des Duden 1991, 343: „der; [griech.-engl.] (Tötung einer großen Zahl von Menschen, bes. der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus).“ 4 F. SCHÜHLEN: Holokaustum, 2006. 5 W. JASPER: Holocaust, 201. 6 W. SCHEFFLER: Holocaust, 557. 7 E. WIESEL wird allerdings später zu einem der entschiedensten Gegner der Verwendung der Begriffes; vgl. C. MÜNZ: Gedächtnis, 103ff. 8 Zitiert nach C. MÜNZ: Gedächtnis, 106. 9 Vgl. P. MASER: Holocaust, 492. 10 Vgl. P. MASER: Holocaust, 201. 11 Vgl. R. PFISTERER: Holocaust, 928.
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Schoa: Schoa heißt wörtlich übersetzt „Katastrophe“, „Vernichtung.“ In Verbindung mit dem hebräischen Artikel ha wird das Wort HaSchoa zum „Synonym für 13 ‚die Katastrophe‘ in der jüd.[ischen] Geschichte.“ Mit der Einführung des JomHaSchoa in den 1950er Jahren wird der Begriff zur offiziellen Bezeichnung für die Judenvernichtung in Israel. Er wird dort parallel zum Wort Holocaust verwendet. Der religiös wie säkular geprägte Begriff wertet das Geschehen vor allem aus der Perspektive der Erfahrung der Opfer. Seit einigen Jahren lässt sich eine verstärkte Verwendung des Begriffes im außerisraelischen Kontext verzeichnen, ähnlich wie bei dem Begriff Holocaust angestoßen durch einen Film: „Shoa“, von Claude Landsmann. Das Wort Schoa gilt nun verschiedentlich als bessere, weil speziellere Bezeichnung für die jüdische Katastrophe unter der NS-Herrschaft. Auf diesem Hintergrund setzt sich Schoa als Alternative zu Holocaust im deut14 schen Kontext durch. Die Gründe dafür dürften auch in der Abwehr des schwierigen Begriffes Holocaust zu finden sein. Meine Vorbehalte gegen die Verwendung des Begriffes Schoa beziehen sich auf die wenig beachtete Kontextverschiebung, die der Begriffswechsel mit sich bringt. Ein speziell der jüdischen Perspektive des Ereignisses entstammender Begriff wird universalisiert, obwohl er gerade der speziellen Perspektive seine Bildung verdankt. Gewiss ist die im Deutschen so genannte „Endlösung“ auch für Deutsche der verschiedenen Generationen etwas Katastrophales, aber wohl kaum in Analogie zu der Existenzbedrohung und Vernichtung, wie sie durch HaSchoa im jüdischen Kontext ausgedrückt wird. Die Gefahr einer Universalisierung des Begriffes Schoa im deutschen Kontext liegt in einer Aufhebung seiner eigentümlichen Betonung einer Teil-Perspektive, und zwar der Opfer-Perspektive. Die Problematik der Universalisierung dieser Perspektive wird in Israel durch ein gewisses Unverständnis zum Ausdruck gebracht, warum Deutsche ein hebräisches Wort für ein deutsches Verbrechen verwenden wollen. Bis in die Sprache hinein wird eine Okkupation der jüdischen Perspektive wahrgenommen. Diesen Einwand halte ich für sachlich und sprachethisch richtig. Deshalb verzichte ich weitgehend auf die Verwendung des Wortes Schoa. Auschwitz: Auschwitz ist der deutsche Name jener polnischen Stadt, in deren Nähe die SS 1940 ein Konzentrationslager einrichtete, das sie 1941 zum ersten und größten Vernichtungslager erweiterte. Zugleich ist Auschwitz ab Ende der 1950er Jahre vor allem im bundesrepublikanischen Kontext zu Begriff, Symbol und Synonym für den Mord an den europäischen Juden im zweiten Weltkrieg geworden, also – wie Norbert Frei betont – noch bevor „ein dreiteiliger amerikanischer Fern15 sehfilm 1979 die Vokabel Holocaust lehrte.“ Die hohe Zahl der in AuschwitzBirkenau vergasten und verbrannten Juden, ihre dort fabrikmäßig durchgeführte Ausrottung als wesentliches Kennzeichen des Gesamtgeschehens, sowie der für das öffentliche Bewusstsein in der Bundesrepublik epochale, so genannte „große Auschwitz-Prozess“ sind für die Begriffsbildung grundlegend. 12 Vgl. A.E. SCHOSCHAN: HaMilon haIvri hamerukas, 700, der z.B. auch eine Pluralbildung kennt. 13 G.B. Ginzel, zitiert nach P. MASER: Holocaust, 492. 3 14 In LThK Bd.5, 242, wird unter dem Stichwort „Holocaust“ auf „Schoa“ verwiesen; vgl. auch B. PETERSEN: Theologie, 18 Anm. 5. 15 N. FREI: Auschwitz, 101.
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Prägend für den allgemeinen Sprachgebrauch ist neben der begrifflichen Synonymität „Auschwitz = Gesamtgeschehen des nationalsozialistischen Massenmordes“ die Formel nach Auschwitz. Bereits aus dem Jahre 1949 stammt das Diktum Theodor W. Adornos, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben, das in dieser verfälschenden Verkürzung stilbildend für die gesellschaftliche 16 Auseinandersetzung in der Bundesrepublik geworden ist. Mit dem Begriff „nach Auschwitz“ wird die Bezogenheit gegenwärtiger Existenz und Kultur auf Auschwitz zum Ausdruck gebracht. Die Intention, mit der der Begriff „(nach) Auschwitz“ in der Diskussion verwendet wird, ist zumeist doppelter Natur. Zum einen wird durch die exemplarische Nennung des zum Inbegriff der industriellen Vernichtung gewordenen Lagers Auschwitz die historische Singularität in der Metonymisierung des Namens festgehalten. Zum anderen wird die unhistorische Geschichtlichkeit des singulären Ereignisses durch seine Auswirkung auf alle nachfolgende Geschichte betont. „Nach Auschwitz“ heißt: Auschwitz ist Geschichte, aber Auschwitz ist nicht Vergangenheit.
Ich verwende trotz seiner höchst problematischen theologischen Konnotationen (– die Vorstellung eines „Ganzopfers“ ist als Übertragung auf das Geschehene unsäglich und abzulehnen –) den Begriff Holocaust. Er ist gewiss nicht zur bestmöglichen Verständigung über das Geschehene geeignet. Aber mit seiner Verwendung werden zwei Aspekte betont, die in dieser Arbeit im Vordergrund stehen: Unter Holocaust wird – mit Wiesel – die Vernichtung jüdischen Lebens durch die Nazis sowie die hierin liegende, totale Vernichtungsandrohung gegen das Judentum, gegen jeden einzelnen Juden und jede einzelne Jüdin verstanden. Neben dem Totalitätsaspekt ist damit zugleich die Frage nach der „Bedeutung“ des Geschehens angesprochen. Mit anderen Worten: Als historisch-deskriptiven Begriff halte ich Holocaust für wenig geeignet. In seiner ursprünglichen theologischen Konnotation lehne ich ihn selbstverständlich als Übertragung auf das Geschehene ab. Das historische Ereignis der Judenvernichtung war zum Glück nicht total. Und es war in jedem Sinne sinn- und zwecklos. Gleichwohl hat das Geschehen auf diesem Hintergrund Bedeutung. Es gewinnt sie aus der totalen Vernichtungsandrohung gegenüber dem Judentum. Sie stellt eine An17 frage für die christliche Theologie und für die Homiletik dar. b) Die Bedeutung des Holocaust für die Beziehung zum Judentum Bei der Frage nach der Bedeutung des Holocaust im theologischen Sachzusammenhang geht es um die radikale Anfrage, die die versuchte Vernichtung der jüdischen Existenz an das Verhältnis des Christentums zum Judentum stellt. Das Verhältnis zum Judentum ist ein wesentlicher Teil der Selbstbestimmung des christlichen Glaubens. Die Bezugnahme des Chris16 Vgl. D. CLAUSSEN: Vergangenheit, 88; vgl. Th.W. ADORNO: Kulturkritik, 30. 17 Im theologischen Sprachgebrauch hat es sich eingebürgert, von einer „Theologie 4 nach dem Holocaust“ zu sprechen, vgl. den Eintrag zum Stichwort Holocaust in RGG , Bd. 3, der diese Entwicklung wiederspiegelt.
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tentums auf das Judentum ist eine selbstverständliche Voraussetzung christlicher Existenz. Ein nicht auch auf das Judentum bezogenes Christentum ist kein Christentum. Die theoretische Klärung dieser Beziehung ist Aufgabe christlicher Theologie. Im Sinne Dietrich Ritschls handelt es sich bei den vorstehenden Aussagen um regulative Sätze im Gesamtzusammenhang christlicher Theologie. Ritschl formuliert den von mir dargelegten Sachverhalt so: „Der Satz von der Erwählung Israels durch Jahwe und der Erwählung der Kirche aus Juden und Heiden in Jesus Christus ist der zentralste (sic!) Satz aller Theolo18 gie.“ Begründet ist die Bezogenheit des Christentums auf das Judentum in der Entstehungsgeschichte des Christentums. Die Leugnung einer zumindest historischen Beziehung zwischen Christentum und Judentum ist unmöglich. Bezweifelt wird hingegen bisweilen, dass es eine sinnvolle Verknüpfung zwischen der Einsicht in die historische Genese des Christentums aus dem Judentum und der Frage nach der Bedeutung des Holocaust für das Christentum gibt. Ein solcher Zweifel liegt offenbar einer heilsgeschichtlich argumentierenden Theologie zugrunde, die im Christentum das „wahre Israel“, den legitimen und alleinigen Nachfolger des Volkes Gottes sieht und daher die Kontinuität zwischen dem Volk Israel des Alten Testaments, jenem von Gott erwählten Volk, und dem Judentum des 20. Jahrhunderts in Abrede stellt. Wer auf diese Weise die Einheit des Judentums innerhalb der Geschichte theologisch bestreitet, für den kann der Holocaust allenfalls eine moraltheologische Frage sein. Nur unter der Voraussetzung einer nicht nur historischen, sondern auch theologischen Kontinuität zwischen Israel und Judentum ist das gegenwärtige, lebendige Judentum eine theologisch relevante Größe für das christliche Selbstverständnis. Mit anderen Worten: Der Holocaust – als die versuchte Vernichtung des Judentums – hat nur dann eine Bedeutung für die Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum, wenn der Begriff Judentum das Israel des Alten Testaments und das gegenwärtige Judentum einschließt. Bei dieser Kontinuitätsannahme geht es aus theologischer Perspektive um die Frage der bleibenden Erwählung Israels. In den letzten Jahrzehnten hat sich in den deutschen evangelischen Kirchen die 19 Annahme einer „bleibenden Erwählung“ Israels durchgesetzt. So erklärt die EKD-Studie Christen und Juden II unter der Überschrift „Der bisher erreichte Konsens“: „Eine Auffassung, nach der der Bund Gottes mit dem Volk Israel gekündigt und die Juden von Gott verworfen seien, wird nirgends mehr vertreten. Die Erwählung des jüdischen Volkes bleibt bestehen, sie wird durch die Erwäh20 lung der Kirche aus Juden und Heiden nicht aufgehoben oder ersetzt.“ Es wird 18 D. RITSCHL: Logik, 161. 19 Diese Entwicklung ist keineswegs auf die Bundesrepublik beschränkt, vgl. hierzu den Artikel von J.T. PAWLIKOWSKI: „Judentum und Christentum“ in der TRE und von 3 C. THOMA: Jüdisch-christlicher Dialog, im LThK . 20 Vgl. Christen und Juden II, 18.
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resümiert: „Für das Verhältnis von Christen und Juden ist es ein theologisch entscheidender Punkt, dass die bleibende Erwählung Israels heute zu den allgemein 21 anerkannten christlichen Überzeugungen zählt.“
Neben der systematisch-theologischen Bedeutung der bleibenden Erwählung Israels sehe ich praktisch-theologische Gründe für die Bedeutung des gegenwärtigen Judentums als Bezugspunkt theologischer Reflexion und kirchlicher Wirklichkeit. Die Gegenwart religiöser, synagogaler jüdischer Glaubens- und Lebensgemeinschaft macht es unabweisbar, dass eine praxisrelevante Auseinandersetzung mit dem Judentum unter Wahrnehmung jüdischer Gegenwart und deren selbstverständlicher Selbstbestimmtheit stattfinden muss. Kirchliches Handeln findet im Horizont jüdischer Gegenwart statt. Eine theologische Reflexion, die praktisch werden will, wird an kirchlicher Realität nicht vorbeigehen, die neben ihrem eigenen Bekenntnis als Zugang zum Verstehen dieser Welt auch das Bekenntnis anderer zu respektieren hat – zu respektieren im Wortsinne: als Spiegel eigener Grenzen. Ich halte fest: Unter Holocaust verstehe ich die mit der teilweisen Vernichtung des europäischen Judentums verbundene angedrohte und versuchte totale Vernichtung der jüdischen Existenz. Ich frage explizit nach der Bedeutung, die diesem Sachverhalt im theologischen Kontext zukommt. Mit der Wendung „nach Auschwitz“ wird der Zusammenhang von gegenwärtiger Kultur und ihrer Bezogenheit auf die nationalsozialistischen Verbrechen ausgedrückt. Diese Bezogenheit wird von mir durch die Wendung „Gedenken an den Holocaust“ aufgenommen. Das Christentum ist auf das Judentum in dem Sinne fundamental bezogen, dass das Judentum historisch und theologisch das Fundament – bei der Entstehung – des Christentums bildet. Wegen dieser fundamentalen Bezogenheit betrifft der Holocaust als versuchte Vernichtung des Judentums auch das Christentum und die christliche Theologie. Für die christliche Theologie ist vor allem eine Reflexion der Beziehung zum gegenwärtigen Judentum unter der Perspektive der bleibenden Erwählung Israels von Bedeutung. In praktisch-theologischer Hinsicht bedeutet eine Reflexion der christlichen Bezogenheit auf das Judentum eine Wahrnehmung jüdischer Gegenwart in ihren praktisch-religiösen Lebensäußerungen. Judentum wird durchgehend verstanden als selbstbestimmtes Gegenüber. Die Annahme der bleibenden Erwählung wird als Bestandteil der Selbstbestimmung des Judentums, ausgedrückt in christlicher Sprache, und nicht als Fremdbestimmung jüdischer Identität gedeutet.
21 Ebd. Ähnlich auch Christen und Juden III, 55. Dass sich mit der Erklärung der bleibenden Erwählung Israels für die christlich-theologische Reflexion neue Aufgaben der Verhältnisbestimmung ergeben ist offensichtlich. J.T. PAWLIKOWSKI: Judentum, verdeutlicht die Problematik und mögliche Lösungsansätze, a.a.O., 391f; vgl. auch Christen und Juden III, 19ff.44ff.47ff.
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2. Die christliche Beziehung zum Judentum und ihre Gefährdungen durch Antijudaismus und Philojudaismus Aus der historischen und theologischen Bezogenheit des Christentums auf das Judentum resultiert eine Beziehung, die durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede charakterisiert ist. Besonders eng ist die Verbindung im Glauben an die Berufung und Erwählung durch den Gott Abrahams und Jesu. Den Ehrentitel „Israel“ führen zu dürfen hat christliche Gemeinschaft wiederholt für sich reklamiert. Die gewichtigste Unterscheidung findet sich in der Bewertung der Person Jesu Christi. Diese Unterscheidung war ursächlich für die Trennung von Christentum und Judentum, von Kirche und Synagoge. Soziologisch betrachtet besteht jede Beziehung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die zu Verbindendem und Trennendem führen. Die Charakterisierung einer Beziehung als soziale Kategorie findet sich bereits in der älteren Beziehungslehre des Soziologen Leopold von Wiese. Er beschreibt das Wesen einer Beziehung: „Das Normale und Häufigste ist ein gewisses Angenähertsein und ein ge22 wisser Abstand.“ Wiese begreift das Phänomen Beziehung im Rahmen seiner soziologischen Systematik formal: Bei einer Beziehung handele es sich um „einen durch einen sozialen Prozess oder (meist) durch mehrere soziale Prozesse herbeigeführten labilen Zustand verhältnismäßiger Verbundenheit oder Getrenntheit 23 zwischen Menschen.“ Quantifizieren und hierarchisieren will Wiese die je verschiedenen Beziehungen durch den ihnen innewohnenden „Abstandsgrad“. Unter 24 Abstand versteht er die „Differenz von Zueinander und Auseinander.“ Tendenzen zur Vereinigung und Tendenzen zur Entfernung wohnten, so Wiese, jeder sozialen Beziehung inne. Die Veränderungen innerhalb der Beziehung ließen sich in „Distanzverschiebungen“ beschreiben. Distanzierung (im Sinne derartiger Ver25 schiebungen) sei „das zwischenmenschliche Leben überhaupt.“ In Anlehnung an die Wiesesche Terminologie lässt sich formulieren: Das „Normalste“ und „Häufigste“ christlicher Beziehung zum Judentum ist ein „gewisses Angenähertsein“ und ein „gewisser Abstand.“ Nähe und Distanz können dabei als theologisch formulierte Verbindung einerseits und trennende Unterscheidung vom Judentum andererseits verstanden werden. Distanzierungen können im Sinne Wieses als Verschiebungen innerhalb des Geflechts von Nähe und Distanz verstanden werden. Als Versuch, günstige Abstandsänderungen vorzunehmen, können die theologischen Anstrengungen christlich-jüdischer Auseinandersetzung begriffen werden.
Mit der Beschreibung des christlich-jüdischen Verhältnisses unter dem Oberbegriff Beziehung will ich verdeutlichen: Eine Charakterisierung der 22 L.VON WIESE: System, 161. 23 A.a.O., 150f. L.VON WIESE bezieht an anderer Stelle Gruppen und Gebilde ausdrücklich in die Beziehungslehre und ihre Definitionen ein. 24 A.a.O., 150. „Zueinander“ und „Auseinander“ sind die zwei grundlegenden Bewegungsrichtungen im sozialen Raum, vgl. a.a.O., 151. 25 A.a.O., 162.
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Beziehung durch Verbindendes und Trennendes ist für sich genommen nicht problematisch, sondern Ausdruck dessen, dass es sich um eine Beziehung handelt. Eine Beziehung wird nicht durch die Wahrnehmung und Benennung von Unterschieden gefährdet. Es wäre irreführend, die Benennung von Unterschieden zwischen Christentum und Judentum an sich als 26 Ausdruck antijüdischer Haltung zu verstehen. Eine Gefährdung der Beziehung liegt dann vor, wenn heimlich oder offen eine Aufhebung der Beziehung angestrebt wird. Der Holocaust stellt den furchtbarsten Versuch dar, die Beziehung aufzuheben. Er ist deshalb Ausdruck eines vernichtenden Antijudaismus bzw. Antisemitismus (s.u.). Daneben existieren andere Gefährdungen der Beziehung. Dorothee C. von Tippelskirch weist auf die Gefahr hin, die im Gegensatz zur Vernichtung von der „Umarmung“ ausgehen kann. In einer christlichen Umarmung der Juden vermag sie „nicht wirklich eine Umkehr der Christen im Sinne einer Abwendung von vorangegangener Feindseligkeit gegen ‚die Juden‘ zu 27 erkennen.“ Die ihrer Meinung nach vollzogene Umarmung von Christen gegenüber Juden im Anschluss an den Holocaust setzt sie allerdings nicht mit Philosemitismus (s.u.) gleich. Sie begreift diese in Worten, Begegnungen, Gesten und Gedanken vollzogenen Umarmungen als Erfahrungen am Rande des Abgrunds, „der die Landschaft durchzieht, in der Christen und 28 Juden sich seit 1945 insbesondere in Europa begegnen.“ Aber: Der Abgrund, der durch die versuchte Vernichtung aufgebrochen sei, lasse sich durch eine solche Umarmung nicht überbrücken. Die Umarmung sei, noch nicht begreifend, was tatsächlich geschehen ist, ein Akt der Demonstration gegenüber der Verfolgung und Vernichtung. Denn: „Bedeutete die Verfolgung und Vernichtung einen Ausschluss des ‚Anderen‘, so beruhte die Umarmung vor allem auf einer wieder entdeckten Gemeinsamkeit: Entdeckt wurde die gemeinsame Zugehörigkeit zur Gattung der Menschheit und – spezifisch im christlichen Bereich – die ‚gemeinsame jüdisch-christliche 29 Tradition‘, die ‚gemeinsame Bibel‘, der ‚gemeinsam angebetete Gott‘.“ Die Umarmung berge dabei die Gefahr in sich, dass der andere, das Gegenüber, in diesen Gemeinsamkeiten aufgehoben wird. Von Tippelskirch verdeutlicht diesen Zusammenhang am Begreifen des Gebotes der Nächstenliebe. Das Gebot der Nächstenliebe meine nicht den, der mir gleicht, sondern gerade den, „der Gott gegenüber ganz anders dran ist als ich“. Mit einer Umarmung gerate man in diesem Zusammenhang auf eine Ebene, in der man sich dem anderen durch die Umarmung gerade entziehe, weil die Fremdheit des anderen geleugnet werde. Von Tippelskirch 30 resümiert: „Der Verrat kann immer wieder mittels des Kusses stattfinden.“ 26 27 28 29 30
Vgl. Christen und Juden II, 22. D.VON TIPPELSKIRCH: Vernichtung, 147. A.a.O., 149. A.a.O., 150. Alle Zitate a.a.O., 157.
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Versuche der Vernichtung bzw. der Umarmung beschreiben im soziologischen Zusammenhang die Gefährdung der Beziehung von Christen zu Juden. Sie machen deutlich, dass die Beziehung durch ihre Aufhebung, nicht durch die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Frage gestellt wird. Diese Schwierigkeiten werden theologisch in der Regel durch die Begriffe Antisemitismus/Antijudaismus/antijüdisch und Philosemitismus/Philojudaismus zur Sprache gebracht. Die Denkmuster dieser Phänomene sollen hier eingehender untersucht werden. Dabei wird jeweils zuerst eine allgemeine Charakterisierung vorgenommen, bevor auf die christlich-theologische Problematik eingegangen wird. 2.1 Antijudaismus/Antisemitismus/antijüdisch a) Allgemeine Charakteristik Antisemitismus ist der eingebürgerte Begriff für das individuell wie gesellschaftlich auftretende Phänomen der Judenfeindschaft. Eine präzise, kon31 sensfähige Definition des Begriffes Antisemitismus liegt bisher nicht vor. Eine ähnliche Problematik findet sich beim Begriff Antijudaismus wieder. Mit ihm wird in der Regel der religiöse Teilaspekt des Phänomens in den Vordergrund gestellt. Der Begriff Antisemitismus ist ursprünglich selbst auf einen Teilaspekt beschränkt gewesen, auf den aus heutiger Sicht problematischsten Teilaspekt der „rassisch-biologischen“ Judenfeindschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Durch einen diesen Teilaspekt übersteigenden, alle Gesichtspunkte des Phänomens umfassenden Sprachgebrauch hat sich der 32 Terminus schließlich im säkularen Kontext durchgesetzt. Das Phänomen 33 des Antisemitismus ist seit der Antike bekannt, obwohl der Begriff selbst erstmals 1879 in einer Schrift Wilhelm Marrs auftaucht. Es ist also sinnvoll, zunächst den Begriff Antisemitismus zu untersuchen. Antijudaismus kann dann davon abgeleitet und als spezifisch religiöse Konkretion des 34 Antisemitismus verstanden werden. Für diese Vorgehensweise spricht die Absicht, „zugleich nach den Brüchen und Kontinuitäten der Judenfeindschaft zu fragen und nicht begrifflich auseinanderzureißen, was auf seine Konsistenz hin zu 35 prüfen ist“, wie Jürgen Ebach erklärt. Es gehöre zum Wesen des Antisemitismus, dass er als Ausdruck für die mit ihm beschriebene Sache unzutreffend sei, „da“, wie Edmond Jacob bereits 1928 ausführt, „das semitische Wesen keine Einheit ist 31 Vgl. M. WEINRICH: Antisemitismus, 32. 32 Vgl. J. EBACH: Antisemitismus, 495f. 33 Vgl. a.a.O., 498ff; vgl. auch L. POLIAKOV: Geschichte des Antisemitismus, Worms 1978ff, passim. 34 Vgl. O. PFISTERER: Quellen, 13. 23; vgl. auch M. WEINRICH: Antisemitismus, 32. 35 J. EBACH: Antisemitismus, 496.
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und in Wahrheit nur die Juden gemeint sind.“ Schon in dem unpräzisen Ausdruck dessen, was gesagt werden soll, spiegele sich die „Unschärfe der Sache 37 selbst“, so Ebach. Am Beispiel des Antisemitismus zeige sich, „dass Irrationales 38 Realität zu erzeugen vermag.“ Hieraus ergebe sich für die Erforschung des Antisemitismus eine doppelte Aufgabe. Einerseits dürfe es nicht genügen, es bei einem Verweis auf das Rätsel der antisemitischen Irrationalität zu belassen. Andererseits dürften (mono-) kausale Erklärungen und begriffliche Entflechtungen nicht den Totalitätszusammenhang Antisemitismus verharmlosen.
Kurzdefinitionen betonen das Wesen des Antisemitismus als einer Juden gegenüber feindlichen Gesinnung und eines daraus resultierenden feindlichen Verhaltens. Eine genauere Bestimmung der Motivlage sowie der Ausdrucksformen erscheint dagegen schwieriger. Aus sozialpsychologischer Per39 spektive heißt es: „Der Antisemitismus ist ein Vorurteil“, was „die Abwesenheit von Sachkenntnis“ bei gleichzeitig starrer, stereotyp argumentierender, die Umwelt und das Gegenüber verzerrt wahrnehmender Hal40 tung bedeutet. Mit dem Begriff des Vorurteils als sozialpsychologischem Raster können so zwar Rahmenbedingungen für die Entstehung von Antisemitismus als gesellschaftlichem Phänomen erfasst und benannt werden, das Phänomen der Judenfeindschaft bekommt dabei aber einen scheinbaren Realitätsbezug, weil es mit der gesellschaftlichen Realität in einen – vorgeblichen – Zusammenhang gebracht wird. Dagegen steht die Analyse Parkes’, dass im Unterschied zu anderen Gruppenvorurteilen der Antisemitismus oft keine Beziehung zur tatsächlichen Umwelt hat, „sondern aus einem Gewebe der Phantasie erwächst, das fortwährend durch weitere Fäden verstärkt 41 wird.“ Wie dem sozialpsychologischen Erklärungsversuch des Antisemitismus ergeht es auch anderen Erklärungsmodellen. Wird der Antisemitismus in einen größeren Zusammenhang eingeordnet und von dort definiert, verschwindet seine Eigentümlichkeit. Wird seine Eigentümlichkeit betont, 42 erscheint er unerklärlich. So liegt es näher, Antisemitismus in seiner Entstehung als zusammengesetztes Gemisch darzustellen, „als komplexes Gebilde aus psychischen und individual-gesellschaftlichen Konditionierun43 gen“, „als Ausdruck der Frustration und Opposition gegen schlechter
36 Zitiert nach N. LANGE/C. THOMA: Antisemitismus, 114. 37 J. EBACH: Antisemitismus, 496. 38 Ebd. 39 S. LEHR: Antisemitismus, 7. 40 Vgl. ebd. 41 J.W. PARKES: Antisemitismus, 94. 42 Vgl. die Definitionskarikatur von H.M. Broder in DERS.: Antisemit, 23: „Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es an sich natürlich ist.“ 43 J. EBACH: Antisemitismus, 497, mit Bezug auf M. HORKHEIMER/TH.W. ADORNO.
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werdende Lebensbedingungen“, „auf der Basis eigener Angst als Ausweis der Überlegenheit“, „auf der Grundlage längst ausgebildeter Stereotype des Judenhasses als Fremdenhass, angefüllt mit den antijüdischen Traditionen der Kirchengeschichte“, schließlich als „wahnhafte Vorstellung von Rassen45 eigenschaften.“ Mit anderen Worten: Soziale, analytische und religiöse Erklärungsansätze mischen sich bei dem Versuch, den Antisemitismus zu verstehen und begrifflich zu fassen. Das verbindende Element ist die antisemitischen Äußerungen gemeinsame Funktion der abgrenzenden und herabsetzenden Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden. Die Funktion der eigenen Identitätsbildung, die bei der Herabsetzung zum Vorschein kommt, erklärt Ebach zum „Wesen“ des Antisemitismus: „Im Juden manifestiert sich nicht irgendein Fremder, sondern der nahe Fremde.“ Deshalb, weil „der Jude“ – sozial: als Mitbewohner, der anders lebt, analytisch: als Zeuge der eigenen Herkunft, der anders geworden ist, religiös: als Leser derselben Bibel, der anders liest, als Verehrer desselben Gottes, der anders feiert, usw. – nah und zugleich fremd sei, sei die Frage nach der Identität „des Juden“ immer (auch) die nach der eigenen. Ebach: „Das Nicht-Jüdische wird zur unterstellten Synthesis der eigenen Identität. Deshalb konstituiert der Antisemitismus nicht nur den Ju46 den, sondern auch den Antisemiten.“ Ich möchte zwei Strukturmerkmale antijüdischer Einstellung als Summe dieser Überlegungen herausstellen: Falsche Wahrnehmung von Juden und Unkenntnis des Judentums einerseits, Funktionalisierung der falschen Wahrnehmung zur eigenen Identitätsbildung bzw. Identitätsstabilisierung andererseits. Diese Merkmale kennzeichnen eine Herabsetzung von Juden und Judentum, die als Manifestation von Antisemitismus verstanden werden kann. Antisemitismus wird so von seinen funktionalen Komponenten her verstanden. Diese Beschreibung ist auf die verschiedenen Bereiche des sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Lebens übertragbar. b) Christlich-theologische Problematik Antijudaismus kann, wie oben angedeutet, als religiöse Konkretion von Antisemitismus verstanden werden, darf dabei aber nicht von seinen geschicht47 lichen, sozialen und politischen Kontexten her isoliert werden. Christlicher Antijudaismus ist als die theologisch bzw. religiös motivierte Herabsetzung, Entstellung oder Ablehnung des Judentums zu definieren. Der christliche Antijudaismus stellt durch die Herabsetzung eine Gefähr44 So jedenfalls ist der Antisemitismus nach J. Ebach in seiner geschichtlichen Entstehungszeit einzuordnen, ebd.: „als einzig erlaubte Opposition z.B. im Kaiserreich, daher besonders verbreitet bei staatstreuen Beamten.“ 45 Ebd. 46 Zitate J. EBACH: Antisemitismus, 498. 47 Vgl. N. LANGE/C. THOMA: Antisemitismus, die die Begriffe Antisemitismus und 3 Antijudaismus synonym verwenden; vgl. auch LThK , 748ff.
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dung, nicht selten auch die Leugnung bzw. Aufhebung der Beziehung zum Judentum dar. Im Antijudaismus wird das Judentum zur Herausstellung der eigenen, christlichen Identität instrumentalisiert und abgewertet. Nicht als Antijudaismus sollte demgegenüber die Benennung von Unterschieden zwischen Christentum und Judentum gelten. Eine (Grenz-) Markierung zwischen den beiden Größen Judentum und Christentum, die nicht auf die Instrumentalisierung oder Abwertung des Gegenübers zielt oder diese unbewusst bewirkt, ist kein Antijudaismus. Die spezielle Problematik bei der Erfassung von christlichem Antijudaismus ist die Grenzziehung zwischen einer selbstverständlichen Unterscheidung einerseits und einer Herabwürdigung andererseits. Diese Problematik stellt sich für die gesamte christliche Tradition, angefangen bei den Texten des Neuen Testaments. Seit Mitte der 1960er Jahre wird verstärkt die Frage 48 nach Antijudaismus im Neuen Testament gestellt. Als häufigste Belege 49 werden 1 Thess 2,14–16, Mt 27,24f und Joh 8,43f angeführt. Unterschieden wird in diesem Zusammenhang zwischen einem tradierten antiken Antijudaismus nicht-christlicher Prägung, der im NT Aufnahme gefunden 50 habe (z.B. in 1 Thess 2,15 ), und einem spezifisch christlich geprägten Antijudaismus, der im Vorwurf des Gottesmordes (Mt 27) und der Satanskindschaft (Joh 8) zum Ausdruck komme. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern es Sinn hat, den Begriff Antijudaismus auf Stellen des NT anzuwenden. Bis zum Ende des 1. Jahrhunderts waren die frühchristlichen Gemeinden sowohl in der Fremdwahrnehmung als auch in ihrem Selbstverständnis Teil der jüdischen Glaubens- und Lebenswelt. Die Verfasser der neutestamentlichen Schriften waren in ihrem Selbstverständnis Juden. So erklärt Berndt Schaller: „Hier von Judenfeindschaft, Antijudaismus oder gar Antisemitismus zu sprechen, ist historisch gesehen ein Anachro51 nismus.“ An den genannten Stellen finde im Kern keine Verhältnisbestimmung zu einem jüdischen Gegenüber statt, sondern eine binnenjüdische Auseinandersetzung, die sich in Inhalt und Form von anderen 52 innerjüdischen Auseinandersetzungen der Zeit nicht unterscheide. Gleichwohl: Die angeführten Texte haben eine enorme antijüdische Potenz in ihrer Wirkungsgeschichte entwickelt. Diese Wirkungsgeschichte ist es, die eine Bestimmung des Umgangs mit den Textstellen und eine Klärung ihrer
48 Vgl. vor allem W.P. ECKERT/N.P. LEVINSON/M. STÖHR: Antijudaismus, passim. 49 Vgl. G. THEISSEN: Aporien, 537; vgl. auch T.C. DE KRUIJF: Antisemitismus, 123f. 50 Vgl. B. SCHALLER: Antisemitismus, 558, der hier von einem paganen Antijudaismus spricht. Die bisweilen vorgetragene Hypothese, es handele sich bei 1 Thess 2,13–16 um eine Interpolation, entlastet zwar Paulus, aber verschiebt das Problem „nur auf einen etwas jüngeren christlichen Anonymus“, vgl. E. STEGEMANN: Polemik, 56. 51 B. SCHALLER: Antisemitismus, 558; vgl. auch T.C. DE KRUIJF: Antisemitismus, 123. 52 Vgl. B. SCHALLER: Antisemitismus, 558.
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Aussageabsicht für heutige Rezipienten nötig macht. Hierin liegt der Sinn, 53 im Zusammenhang dieser Passagen von Antijudaismus zu sprechen. 54 Es gibt verschiedene hermeneutische Strategien, die „antijudaistischen“ Passagen des Neuen Testaments einzuordnen, um so einen Umgang mit 55 ihnen zu ermöglichen. Den stärksten Nachhall hat die Strategie der historischen Erklärung erfahren. Hierbei werden die problematischen Stellen – insbesondere die des Matthäusevangeliums – als Reflex auf die Trennung des Christentums vom Judentum interpretiert. Im „Auseinandergehen der 56 Wege“ liege der Grund antijüdischer Polemik, so Ulrich Luz. Wir würden in den neutestamentlichen Dokumenten Zeugen eines schmerzhaften Abgrenzungsprozesses, weniger eines erst sekundär hineingetragenen Ablehnungsurteils. M.E. ist es sachgemäß, gerade im Blick auf den Hintergrund des Matthäusevangeliums von einem „Geschwisterkonflikt“ zwischen Juden 57 und Judenchristen zu sprechen. Dieser Hinweis scheint mir im Blick auf den Umgang mit der Aussage der Texte allerdings ergänzungsbedürftig. Die Textstellen müssen heute in den veränderten Kontext einer vollzogenen Trennung vom Judentum hinein ausgelegt werden. Sachkritik ist deshalb nötig, um hermeneutisch reflektiert in die Tiefenstruktur der Texte und 58 ihrer Aussagen eindringen zu können. Für den allgemeinen Umgang mit neutestamentlichem Antijudaismus bleibt das Dilemma, im Kern mit Texten konfrontiert zu werden, die eine ursprünglich innerjüdische Auseinandersetzung mit Worten beschreiben, die im Lichte der Trennung zum Judentum nun zur Verhältnisbestimmung dienen sollen. Dabei wird die aus dem Selbstverständnis der frühen Christen gewachsene Identitätskonkurrenz gegenüber Juden zum Problem. Das Selbstverständnis der Kirche als „wahres Israel“ oder „Volk Gottes“ unter Berufung auf Matthäus birgt in der kirchlichen Tradition die Gefahr der 59 Negierung des jüdischen Volkes. Hier liegt der Ansatzpunkt der Problematik, die systematisch-theologisch unter dem Stichwort christlicher Antijudaismus diskutiert wird. Christlicher Glaube gründet in dem Anspruch, im Juden Jesus Christus den Retter aller Menschen zu kennen. Das Problem, das sich damit für die Artikulation christlichen Selbstver53 Die Unschärfe, die mit dieser Redeweise in die Diskussion getragen wird, sollte in Erinnerung behalten werden; vgl. U. LUZ: Antijudaismus, 310 Anm. 1: „Der Begriff ‚Antijudaismus‘ ist in dieser Skizze eine Notlösung, die die Sache nicht voll trifft.“ 54 Zum Adjektiv „antijudaistisch“ siehe unten am Ende dieses Abschnitts. 55 G. THEISSEN hat diese verschiedenen Strategien in seinem Aufsatz „Aporien im Umgang mit den Antijudaismen des Neuen Testaments“ systematisiert und zusammengefasst. 56 U. LUZ: Antijudaismus, 310ff; vgl. auch DERS.:‚Auseinandergehen der Wege‘, passim. 57 Vgl. U. LUZ: Antijudaismus, 320–322. 58 Vgl. G. THEISSEN: Aporien, 550f; vgl. ähnlich, aber zurückhaltender: Christen und Juden III, 102; vgl. zuletzt K. WENGST: Johannesevangelium, 26f. 59 Vgl. Christen und Juden I, 12.20.
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ständnisses stellt, formuliert der kanadische Theologe Gregory Baum: „Der antijüdische Zug ist tiefer im Christentum verwurzelt als man zunächst meinte. – Es ist nämlich schwer, die Verkündigung des Evangeliums von der Negierung des jüdischen Volkes zu trennen. Denn wenn wir Jesus als den Messias verkündigen, in dem alle göttlichen Verheißungen in Erfüllung gegangen sind, dann lassen wir keinen geistigen Raum für eine Religion, die es nicht glaubwürdig findet, in einer hasserfüllten und gewalttätigen Welt von der Gegenwart des Messias zu sprechen 60 und die nun noch weiter auf das messianische Zeitalter warten will.“ Baum fragt, ob die christliche Botschaft deshalb für immer judenfeindlich bleiben müsse, oder ob die Negation eines jüdischen Gegenübers letztlich eine Verzerrung der Heilsweisheit darstelle, die zu entdecken der Kirche erst nach Auschwitz gelungen sei. Die Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Ulrich Wilckens gibt die klassische Position christlicher Theologie wider, für die ein Widerspruch zum Judentum konstitutiv ist. Für ihn hat sich Jesus mit seiner ReichGottes-Verkündigung in Gegensatz zur jüdischen Lehrtradition gebracht. Zudem mache der „christliche Rekurs auf die Auferstehung Jesu als Ausgangspunkt aller verschiedenen christologischen Entwürfe [...] einen elementaren Differenzpunkt zwischen Christen und Juden“ aus. Schließlich sei die paulinische Rechtfertigungslehre und mit ihr die These einer grundsätzlich heilsgeschichtlichen Gleichstellung aller Völker vor Gott für den „Juden [...] wohl letztlich doch unvollzieh61 bar.“ Demgegenüber haben in den letzten Jahren die Versuche, eine nicht 62 antijüdische Christologie zu entwerfen, zugenommen. Die theologischen Grundentscheidungen liegen im Kern – wie bei der fundamentalen Wahrnehmung des Judentums – an der Beantwortung der Frage nach der bleibenden Erwählung Israels sowie der Antwort auf die Frage der soteriologischen Bedeutung 63 Jesu für Israel, wie Wolfgang Kraus darlegt. Eine Klärung dieser Sachfragen löst allerdings die Problematik nicht. Denn die Formulierung einer zentralen theologischen Differenz zum Judentum muss nicht dessen faktische Negation beinhalten. In diese Richtung weist die Differenzierung des jüdischen Theologen Michael Wyschogrod. Er unterscheidet einen „projüdischen Antijudaismus“, der in der „hohen Christologie“ bestehe und die jüdische Ablehnung derselben beklage, gegenüber einem „antijüdischen Antijudaismus“, der eine Verallgemeinerung der „Blindheit Israels“ gegenüber Jesus bedeu64 te. Wyschogrod dürfte auf diesem Hintergrund einer der Zentralaussagen von „Christen und Juden II“ zustimmen: „Antijudaismus ist also nicht schon die Feststellung von Unterschieden und Trennendem zwischen Christentum und Judentum, sondern die Interpretation solcher Unterschiede im Sinne der Herabsetzung 65 des jüdischen Lebens und Glaubens.“ 60 G. BAUM: Geleitwort, 8. Zitiert auch bei M. JOSUTTIS: Heft, 501, und W. KRAUS: Christologie, 21. 61 U. WILCKENS: Das Neue Testament, 610. Die Frage eines möglichen Antijudaismus in der Rechtfertigungslehre hat zur Auseinandersetzung zwischen M. BRUMLIK und H.C. KNUTH geführt, vgl. DS vom 26.11.1999, 23. 62 Vgl. S. VASEL: Christologie, passim. 63 W. KRAUS: Christologie, 28ff. 64 M. WYSCHOGROD: Christologie, 6ff. 65 Christen und Juden II, 22.
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Nicht der theologische Gegensatz ist das Wesen eines christlichen Antijudaismus, sondern die aus einem solchen Gegensatz folgende Selbstdefinition des Christentums bei gleichzeitiger Herabwürdigung des Judentums. Eine spezielle Form dieser Herabwürdigung ist es, das Judentum als Antithese zum Christentum begreifen zu wollen. In dem Moment, in dem das christliche Selbstverständnis sich hermeneutisch exklusiv als Antithese zum Judentum begreift, geht diese Selbstbestimmung notwendig mit der „Bemächtigung dessen [einher], was das Judentum für sich selbst als Gottesvolk 66 beansprucht hat.“ Aus der Abgrenzung vom Judentum wird eine Ausgrenzung, die die Negation des jüdischen Gegenübers zur Folge hat. Auf dem Weg der Reduktion des Judentums auf eine funktionale Opposition bleibt das jüdische Gegenüber christlicher Wahrnehmung entweder fremd, oder es 67 wird vollkommen einverleibt. Um diese Form christlicher Hermeneutik zu vermeiden, bedarf es eines theologisch-hermeneutischen Perspektivwechsel. Ein solcher wird in der Forderung Peter von der Osten-Sackens nach einem „theologischen Besitzverzicht“ intendiert. Es geht von der Osten-Sacken weniger, wie oft unterstellt, um einen teilweisen Verzicht auf die Christologie, als vielmehr darum, das Problem des christlichen Antijudaismus als Prinzip christlicher Hermeneutik wahrzunehmen, das überwunden werden 68 müsse. Rolf Rendtorff fasst die Problematik so zusammen: „Die Christen haben ein Selbstverständnis entwickelt, in dem für die Existenz des jüdi69 schen Volkes kein Raum mehr war.“ Ein Perspektivwechsel sei nötig. Dabei entscheidend sei die Fragerichtung: „Wir sind gewohnt, von unserem Standpunkt als Christen auszugehen und von dort aus bestimmte Fragen zu stellen. Das heißt dann etwa, zu fragen: Welche Bedeutung hat das Judentum aus unserer christlichen Sicht, oder: für uns als Christen? Anders ausgedrückt: Wir versuchen, dem Judentum einen bestimmten Platz in unserem christlichen Denkgebäude zu geben. Aber eben dies ist nicht mehr möglich, wenn wir anfangen, die Fragen in der Grundsätzlichkeit und Radikalität zu stellen, die jetzt unausweichlich geworden ist. Denn nun müssen wir zunächst einige Grundpfeiler dieses christlichen Denkgebäudes in Frage stellen. Ja noch mehr: Wir müssen die Frage umdrehen: Es geht jetzt nicht mehr darum, aus christlicher Sicht Israel zu definieren, sondern es kommt darauf an, angesichts des 70 Weiterbestehens des jüdischen Volkes das Christentum neu zu definieren.“
Auf diese Weise wird das jüdische Gegenüber und dessen Wahrnehmung in die christliche Hermeneutik eingeholt. Die Benennung von Unterschieden 66 S. VOLLENWEIDER: Antijudaismus, 48. 67 Vgl. R. RENDTORFF: Christen, 33: „Hier stoßen wir auf eine andere Variante einer falschen Bestimmung unseres Verhältnisses zum Judentum, nämlich dass wir uns Elemente der jüdischen Tradition gleichsam aneignen und sie damit, bewusst oder unbewusst, den Juden wegzunehmen versuchen.“ Vgl. auch R. RENDTORFF: Wurzeln, 47. 68 Vgl. P. VON DER OSTEN-SACKEN: Notwendigkeit, 246. 69 R. RENDTORFF: Wurzeln, 47. 70 Ebd. Vgl. so auch K. KRIENER: Israel, 522.
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und theologischen Gegensätzen dürfte unter dieser Maßgabe nicht länger zu einer Herabwürdigung oder gar Negation des Gegenübers führen. Günter Klein weist darauf hin, dass der Begriff des Antijudaismus im christlichen Diskurs in der Gefahr stehe, instrumentalisiert zu werden und 71 so eine innertheologische Verständigung zu erschweren drohe. Es ist in diesem Zusammenhang zutreffend, dass theologische „Angebote einer Reduktion der Christologie“ oder anderer christlich-theologischer Differenzen zum Judentum am zentralen Problem „der nichtverarbeiteten Fremdheit 72 oder Andersheit jüd.[ischen] Bekenntnisses und jüd.[ischer] Lebensweise“ vorbeigehen. Ich halte es für sinnvoll, dass von christlichem Antijudaismus vor allem da gesprochen werden sollte, wo die hermeneutische Logik der christlichen Theologie eine Herabwürdigung oder faktische Negierung des jüdischen Gegenübers mit sich bringt. Wo hingegen die Benennung von Differenzen zwischen Christentum und Judentum als Antijudaismus bezeichnet wird, droht eine Instrumentalisierung des Begriffs. Ein möglicher Weg zur Überwindung christlichen Antijudaismus deutet sich da an, wo – infolge eines grundlegenden Perspektivwechsels – die christliche Verhältnisbestimmung zum Judentum, das heißt die Benennung von Gemeinsamkeiten und Differenzen, von Verbindendem und Trennendem, von einer vorgängigen Wahrnehmung der Beziehung zum jüdischen Gegenüber gerahmt wird. Es sei an dieser Stelle abschließend darauf hingewiesen, dass die Semantik des Begriffs Antijudaismus problematisch ist. Vor allem das zugehörige Adjektiv „antijudaistisch“ müsse, wie Wolfgang Reinbold angemerkt hat, „in den Ohren der mit der Wissenschaft vom Judentum, der ‚Judaistik‘ be73 fassten Kollegen und Kolleginnen merkwürdig“ klingen. Als Adjektiv ver74 wende ich deshalb antijüdisch. Das Substantiv Antijudaismus bleibt die allgemein verwendete begriffliche Notlösung (s.o.), die ich übernehme. 2.2 Philosemitismus/Philojudaismus a) Allgemeine Charakteristik Philosemitismus ist ein schillernder Begriff, der ebenso wie der Begriff Antisemitismus einer allgemein anerkannten Definition entbehrt. In seltenen Fällen wird unter Philosemitismus positiv eine freundliche, angemessene 75 Haltung zum Judentum verstanden. Häufiger ist eine Haltung gemeint, 71 Vgl. G. KLEIN: Antijudaismus, 429.450. 72 C. FREY: Antisemitismus, 573. 73 W. REINBOLD: Text, 131 Anm. 1. 74 Vgl. ebd. Vgl. F. CRÜSEMANN: Reichtum, 14. 75 Vgl. S. BEN-CHORIN: Philosemitismus, zitiert nach: R. PFISTERER: Quellen, 290: „Das bedeutet eine theologische Wendung um 90 Grad, und diese Art von christlichem Philosemitismus (im Gegensatz zum christlichen Antisemitismus) hat Aussicht auf Be-
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die trotz einer aus subjektiver Sicht positiven Einstellung zu Juden und Judentum analoge Fehler wie der Antisemitismus begeht. Beide enthalten vor allem Elemente emotionaler Übertreibung, wie Fer76 dinand Dexinger herausstellt. Dabei wurzelt der Philosemitismus ähnlich wie der Antisemitismus in „sehr verschiedenen realen, manchmal auch nur aus Vorurteilen resultierenden, angeblichen Charakteristika des Juden77 tums.“ In solcher polaren, zugleich parallelisierenden Gegenüberstellung wird Philosemitismus häufig als umgekehrter Antisemitismus verstanden. So betont Paul Tillich, es handele sich um „Antisemitismus mit umgekehrtem Vorzeichen.“ Antisemitismus wie Philosemitismus kämen aus derselben Quelle, „nämlich aus einer Aggression, die sich überschlagen hat und nun 78 in ihr Gegenteil verkehrt wird, im Grunde aber Aggression bleibt.“ Frank Stern, der eine umfangreiche Untersuchung zur Entwicklung des Philosemitismus im bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschland durchgeführt hat, beschreibt ihn als eine Haltung zu Juden, die als gesellschaftliches Phänomen den Charakter eines unterschiedslos, ja stereotyp alles Jüdi79 sche positiv wertenden Habitus in sich trage. Der Philosemitismus berge in sich vor allem Stereotypisierungen, die auf selektierenden und idealisierenden Überhöhungen fußen. Besonders die Umwidmung des ökonomischen und des politischen antijüdischen Stereotyps hin zu einer nicht minder stereotypen Aufwertung der Juden zeige, wie sehr gerade in der Nachkriegszeit der Philosemitismus im Grunde einer „subtilen Instrumen80 talisierung“ gehorche. Eine typische, instrumentalisierende Umkodierung antijüdischer Einstellung ist die Annahme, „gerade Juden könnten aufgrund ihrer besonderen ökonomischen ‚Veranlagung‘ oder aufgrund ihres Zugangs zum ‚internationalen jüdischen Kapital‘ zur wirtschaftlichen Gesundung 81 Deutschlands beitragen.“ Stern spricht im Blick auf diese Zusammenhänge von der Ambivalenz, von dem dualen Charakter des Philosemitismus, 82 der im Grunde auf einer Kontinuität zum Antisemitismus fuße. Eine grundlegende Schwierigkeit bei der Charakterisierung von Philosemitismus ist die Unterscheidung derartiger Überhöhungen und Idealisierungen von dem, was Stern als die „humanistische Tendenz“ bestimmter Haltungen gegenüber Juden bezeichnet. Diese Tendenz bilde den Versuch, stand. Wenn die Millionen Christen in Deutschland (und in der Welt) sich ihrer jüdischen Wurzel wieder bewusst werden, bahnt sich sachlich, geschichtlich ein neues, besseres Verhältnis zwischen Judentum und Christentum an.“ S. BEN-CHORIN verwendet den Ausdruck Philosemitismus an anderer Stelle weniger positiv, a.a.O., 287: „Ich warne vor Philosemitismus contra Antisemitismus. Man idealisiere die Juden nicht, wie es in den Bestsellern a la ‚Exodus‘ von Leon Uris geschieht.“ 76 Vgl. F. DEXINGER: Philosemitismus, 246. 77 Ebd. 78 P. TILLICH: Judenfrage, 42. 79 Vgl. F. STERN: Philosemitismus, 53. 80 Vgl. F. STERN: Auschwitz, 17. 81 F. STERN: Philosemitismus, 55. 82 Vgl. F. STERN: Auschwitz, 345.357.
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auf die fehlende Humanität und auf das Ungleichheitspostulat des Antisemitismus zu antworten. Stern erwähnt beispielgebend die Gründer und Mitglieder der christlich-jüdischen Gesellschaften. Hier sei im Blick auf die Nachkriegsepoche zwischen individueller Motivation einerseits und gesellschaftlicher Funktionalisierung zum Zwecke der moralischen und demokra83 tischen Legitimation andererseits zu unterscheiden. Das Grundproblem ist, dass eine freundlich gesinnte Wahrnehmung des Judentums bzw. einzelner Gruppen oder Personen, eine Herausarbeitung und Betonung von Gemeinsamkeiten oder von positiv erfahrenen Eigenheiten einerseits von Idealisierungen, Stereotypisierungen und Überhöhungen andererseits zu unterscheiden sind. Deshalb halte ich das Moment der Funktionalisierung und Instrumentalisierung – ähnlich wie beim Antisemitismus – für maßgeblich bei der Charakterisierung von Philosemitismen. Für die individuell-persönliche wie gesellschaftliche Entwicklung im Nachkriegsdeutschland beschreibt Stern – neben politischer und gesellschaftlicher Instrumentalisierung – eine „kathartische Funktion“ des Philosemitismus. Es sei vielfach eine Funktionalisierung der Sichtweise von Juden anzutreffen, die nicht der Wahrnehmung von Juden, sondern der eigenen Identitätsstabilisierung gelte. So bringe die von Illusionen bestimmte philosemitische Denkform zu jener Zeit vor allem Erleichterung. Sie schaffe Distanz zum (antisemitischen) Kollektiv von gestern und zur eigenen Verqui84 ckung in die antisemitischen Handlungsnormen im Dritten Reich. Auch auf christlicher Seite sieht Stern eine Neigung zur Funktionalisierung einer idealisierenden Sichtweise: „Der abstrakte Jude, fast eine metaphysische Idee, wurde einerseits zum religiösen Gegenstand, zum Objekt christlicher Nächstenliebe. Andererseits wurde die Shoah zu einer Art Opfergang des jüdischen Volkes stilisiert und mit einem höheren heilsgeschichtlichen Sinn versehen. Es erfolgte sozusagen eine religiöse Monumentalisierung der Juden als leidendes ‚auserwähltes Volk‘, was in Debatten der protestantischen 85 und katholischen Theologie bis heute anhält.“ Stern formuliert zugespitzt: „In solchen Aussagen wird der Philosemitismus letztlich zu einer perspekti86 vischen Negierung des Judeseins in einer christlichen Umwelt.“ Hier wird die Grundstruktur des Philosemitismus und die entscheidende Analogie zum Antisemitismus sichtbar. Durch die Funktionalisierung bzw. 87 Instrumentalisierung einer überhöhenden Wahrnehmung des Gegenübers wird die Beziehung zum Gegenüber Judentum gefährdet und in letzter Konsequenz negiert.
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Vgl. F. STERN: Philosemitismus, 60; vgl. auch DERS.: Auschwitz, 17. Vgl. F. STERN: Auschwitz, 346f. F. STERN: Philosemitismus, 59; vgl. auch DERS.: Auschwitz, 296. F. STERN: Auschwitz, 296. Vgl. auch F. DEXINGER: Philosemitismus, 247.
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b) Christlich-theologische Problematik Eine Problematik bei der Definition christlichen Philojudaismus ergibt sich daraus, dass – ähnlich wie beim Antijudaismus, nur mit umgekehrtem Vorzeichen – eine Benennung und Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Juden nicht schon als philojudaistisch gelten kann. Christlicher Glaube und Theologie sind durch ihre Genese auf das Engste mit dem Judentum und jüdischen Vorstellungen verbunden. Es wäre widersinnig, die hieraus resultierende Nähe und die fundamentale Bezogenheit des Christentums auf das Judentum als Philojudaismus im abwertenden Sinne zu verstehen. Es geht – analog zum Begreifen von christlichem Antijudaismus – bei der Definition von Philojudaismus als der religiös begründeten Form von Philosemitismus darum, diesen als eine das jüdische Gegenüber instrumentalisierende Form christlichen Selbstverständnisses zu verstehen. Dabei arbeitet der Philojudaismus nicht mit dem Instrument der herabwürdigenden Abgrenzung, sondern mit dem Instrument einer funktionalisierenden Herausstellung von Gemeinsamkeiten in der Gestalt, dass die Identitäten verwischt und eine Beziehung zwischen Christen und Juden als eigenständigen Partnern gefährdet oder gar negiert wird. Im Philojudaismus wird häufig das Judentum idealisiert mit der erwünschten Folge einer damit verbundenen christlichen Selbsterhöhung. Angesichts der erwähnten Identitätsverwischung überrascht es nicht, dass der Philojudaismus schließlich die Konversion zum Judentum oder – sehr viel häufiger – die philojudaistisch begründete Judenmission propagiert. Auf diese Weise wird eine Beziehung zwischen Christen und Juden unmöglich gemacht. Unter den fünf Typen des Philosemitismus, die Hans-Joachim Schoeps unterscheidet, lässt sich der Mechanismus der funktionalisierenden, die Grenzen aufhebenden Betonung der Gemeinsamkeiten für die drei religiösen Typen aufweisen. Den ersten Typ nennt Schoeps den „christlichmissionarischen Typus“, dem das Judentum Gegenstand positiver Schätzung und Ziel der Annäherung sei. Der zweite Typus, von Schoeps als „biblisch-chiliastisch“ gekennzeichnet, bemühe sich um Juden, „weil sie im letz88 ten Akt des Weltdramas eine Rolle spielen werden“. Eine daneben von Schoeps allgemein als religiöser Typus charakterisierte Form des Philosemitismus mündet in einer Annäherung an das Judentum, deren Konsequenz der Übertritt sei. Als schillerndes Beispiel aus der Epoche des Barock, die als das Zeitalter des Philosemitismus gelten kann, beschreibt er Johann Peter Späth, der sich nach vollzogener Konversion Moses Germanus nennt. In diesen Typisierungen kommt als verbindendes Moment das der Vereinigung bzw. des Identitätswechsels zum Tragen. Die Beziehung wird einseitig aufgelöst. Auch bei der Beschreibung der philosemitischen Epoche des Spätbarock von Wolfgang Philipp treten diese Charakteristika hervor. So geht es neben dem 88 Vgl. H.-J. SCHOEPS: Philosemitismus, 1.
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Übertritt zum Judentum um den Vorrang der Juden im kommenden Reich, um die damit einhergehende Identifikation mit jüdischen Hoffnungen, um messianisch oder durch Rekurs auf mystische Innerlichkeit vermittelte Ineinssetzung und Vereinigung von Juden und Christen und schließlich um die Aufforderung an Juden, zum Christentum überzutreten, damit das Kommen des gemeinsamen 89 Messias nicht weiter aufgehalten wird. Unter dem sogenannten „Judenzen“ wird in jener Zeit die Übernahme jüdischer Lebensweise in Form von Annahme der Beschneidung und Beachtung der jüdischen Riten (Speisegebote, Sabbatheiligung) verstanden. Der vielfach vollzogene Identitätswechsel wird in den gebräuchlichen Selbstbezeichnungen bzw. Namenswechseln anschaulich. So erscheint die Aufstellung der Cromwellarmee unter Benutzung der alttestamentlichen Genealogie und ihrer Namen. In dieser Identitätsübernahme negiert der Philojudaismus nicht anders als der Antijudaismus die Existenz eines in Verschiedenheit und Selbstbestimmtheit bestehenden Judentums. Das Judentum wird stattdessen vollständig einverleibt. Die Existenz von Juden jenseits dieser christlich-jüdischen Symbiose wäre nicht nachvollziehbar. Als Erklärung für den Philosemitismus nennt Philipp gesellschaftliche Verunsicherung, kosmologische Katastrophe, Zerbrechen des antik-mittelalterlichen Welthauses, ein Ausgesetztsein an den Ufern einer alle Dimensionen auflösenden Unendlichkeit. Die Versuche der Kompensation finden ihren Ausdruck darin, dass die verunsicherte Identität gegen die Grenzauflösung abgesichert wird. Oder der „elementare Hunger 90 nach Geborgenheit“ wird durch die Suche nach neuer Identität gestillt, die bedrohlich erscheinende Diffusität durch die Behauptung umfassender Vereinigung abgewendet. Auf diesem Hintergrund erscheint der Philojudaismus als Instrument christlicher Selbstbehauptung.
Schoeps, der das 17. Jahrhundert als Übergang zur Moderne mit all ihren Verunsicherungen begreift, konstatiert: „Freilich sind die modernen Versuche zur jüdisch-christlichen Annäherung aber gar nicht so modern, wie mit 91 diesem Buche aufgezeigt wird.“ Auch in der Moderne sei Philosemitismus ein Faktor, wenn das Judentum zum idealen, d.h. idealisierten Moment eigener Selbstfindung missbraucht werde und für diesen Mechanismus die fraglos großen Gemeinsamkeiten von Christentum und Judentum als Vehikel dienten. Die Problematik eines solchen Mechanismus im gegenwärtigen praktisch-theologischen Kontext beschreibt Frauke Büchner in ihrer Analyse 92 von Schabbatfeiern im christlichen Religionsunterricht. Sie warnt vor einer Idealisierung jüdischer Schabbattraditionen im Unterricht und wirbt für eine Darstellung, die das gleichermaßen vorhandene Ringen von Juden und Christen um eine lebensfreundliche Unterscheidung zwischen Alltäglichem und Heiligem zum Ziel habe. Eine Idealisierung der jüdischen Schabbatfeier und eine daraus resultierende Vereinnahmung des Judentums auf dem Wege unreflektierten Hineingehens und Imitierens der Schabbatri89 90 91 92
Vgl. W. PHILIPP: Spätbarock, 76; vgl. auch a.a.O., 27.28.58.62 und passim. A.a.O., 23. Vgl. H.-J. SCHOEPS: Philosemitismus, Vorwort (ohne Seitenangabe). Vgl. F. BÜCHNER: Schabbatfeiern, passim.
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tuale gründet nach Büchner oft in der eigenen „Unzufriedenheit mit den 93 kirchlichen Traditionen.“ Mangelgefühle, Neid, auch Eifersucht könnten implizit eine Rolle spielen oder gar geweckt werden und damit schließlich antijüdischen Reflexen in die Hände spielen. Vor allem aber müsse der Einspruch von jüdischer Seite gegen eine solche Praxis wahrgenommen werden. Die Imitation des Schabbatrituals zum Zwecke religiöser Unterrichtserfahrung werde auf jüdischer Seite als verletzend, ja als Sakrileg wahrgenommen. Büchner will mit ihrer Analyse keineswegs einer fundamentalistisch selbstgewissen christlichen Theologie das Wort reden, „die sich – unter 94 neuen Vorzeichen – vom Judentum abgrenzt.“ Im Sinne einer christlichen Theologie und Praxis, die um ihre Bezogenheit auf das Judentum weiß, das heißt, die beim Thema Schabbat um die Wurzeln der christlichen Überlieferung weiß und diese nachvollziehen möchte, gehe es nicht in erster Linie darum, sich gegen jüdische Schabbattraditionen abzugrenzen. Wichtig sei, im Schnittbereich der Religionen die Grenzen des (didaktischen) Erfahrungsbezugs wahrzunehmen. Der gut gemeinte, häufig politischem Verantwortungsbewusstsein entspringende Wunsch nach Versöhntheit und Geschwisterlichkeit dürfe ebenso wenig wie die Mangelerfahrungen im Blick auf die eigene Tradition zu einer ungefragten Vereinnahmung des jüdischen Gegenübers führen. Dazu gehöre auch, dass die jüdische Pluralität wahrgenommen und nicht durch idealisierende Stereotype ersetzt wird. Verwandtschaft, so schließt Büchner, solle genossen, Freundschaft gepflegt, aber auch Fremdheit ausgehalten werden. Philojudaismus, so zeigt sich, ist charakterisiert durch eine instrumentalisierende, funktionalisierende und schließlich idealisierende Wahrnehmung des Judentums. Die Gemeinsamkeiten von Christentum und Judentum werden zur Stabilisierung und Füllung der eigenen Identität herausgestellt. Eine Vereinnahmung des Gegenübers ist die Folge. Der jüdische Einspruch hiergegen zeigt, wie derartiger Philojudaismus die Beziehung zwischen 95 Christen und Juden gefährdet. Abhilfe schafft eine Form der Wahrneh93 F. BÜCHNER: Schabbatfeiern, 362. 94 A.a.O., 365. 95 Ein anderes Beispiel dieses gefährlichen Philojudaismus klingt bei F. Büchner nur am Rande an, a.a.O., 363: „Doch auch die immer beliebter werdenden Sederfeiern vor dem Osterfest in christlichen Studentengemeinden und über das Aufstellen von siebenarmigen Leuchtern in den Kirchen wäre nachzudenken.“ Im Hintergrund dürfte hier unter anderem die „christliche Sederfeier“ stehen, wie sie am Gründonnerstag des Jahres 1995 in der Evangelischen Studierendengemeinde Göttingen gefeiert wurde. Unter Inanspruchnahme eines bei H.-J. THILO: Funktion, 187ff, abgedruckten Textes einer „christlichen Sederfeier“ feierte hier eine Gruppe von Christen ein äußerlich als Sederfeier anmutendes Ritual. Im Anschluss daran kam es zu Protesten der Jüdischen Gemeinde Göttingen und zu einer öffentlichen Auseinandersetzung. Ich stimme F. Büchner zu, die insofern in den Schabbatfeiern im christlichen Unterricht nur die Spitze eine breiteren Konfliktfeldes vermutet. Was in den Schulen geschehe, stehe in der Öffentlichkeit und
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mung, die das Judentum als selbstständiges und pluriformes Gegenüber sieht, so dass vermieden wird, dass die eigenen Eindrücke und Interpretationen zum Maßstab dafür werden, was und wie Judentum zu sein hat. Ich fasse zusammen: Die erneuerte Wahrnehmung des Judentums ist gefährdet durch eine Leugnung, Aufhebung oder Negierung des Verhältnisses von Christentum und Judentum als selbständigen Partnern. Derartige Gefährdungen treten als Antijudaismus bzw. Philojudaismus auf. Falsche Wahrnehmung und mangelnde Kenntnis von Juden zum einen, Funktionalisierung zur eigenen Identitätsbildung bzw. Stabilisierung zum anderen kennzeichnen Antisemitismus und Antijudaismus. Die Benennung von theologischen Differenzen und Gegensätzen zwischen Judentum und Christentum ist hiervon zu unterscheiden. Philosemitismus ist in Analogie zum Antisemitismus die Funktionalisierung bzw. Instrumentalisierung einer überhöhenden Wahrnehmung des Gegenübers zum Zwecke der eigenen Identitätsfüllung und mit der Folge einer Aufhebung der Beziehung. Im Philojudaismus als religiöser Konkretion von Philosemitismus wird zur Füllung christlicher Identität eine instrumentalisierende und schließlich idealisierende Wahrnehmung des Judentums vorangetrieben, die Vereinnahmung zur Folge hat. Die Benennung und Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum ist hiervon zu unterscheiden. 3. Standortbestimmung und Wahrnehmung des Gegenübers a) Allgemeine Standortbestimmung Ein Gegenüber wahrnehmen und ein Gespräch führen zu können erfordert einen eigenen Standort. Das gilt, wie Peter Schmid sagt, erst recht für ein fundiertes Gespräch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Christen und Juden. Der Verzicht auf einen eigenen Standort könne zu einer falschen Festlegung oder zu einer Instrumentalisierung anderer Standpunkte führen. Er warnt vor einer Festlegung jüdischen Lebens auf eine 96 „Opferrolle“, die möglicherweise auch noch idealisiert werde. Deshalb ist, so Christina Kurth, die Formulierung „einer nicht vereinnahmenden, eigenständigen christlichen Identität eine wichtige Aufgabe christlicherseits im 97 ‚christlich-jüdischen Gespräch‘.“ Bei der Standortbestimmung kommt es darauf an, aus den zwei Gefährdungen der christlich-jüdischen Beziehung zu lernen. Nicht die Nennung von Unterschieden und Differenzen ist für die Beziehung und das Gegenüber problematisch, sondern eine damit verbundene Herabwürdigung und sei daher auch schneller in der Kritik, als das, a.a.O., 363, „was verborgener in kirchlichen Gruppen geschieht.“ 96 Vgl. P. SCHMID: Standortbestimmungen, 17f. 97 C. KURTH: Einleitung, 12.
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eine Instrumentalisierung des Gegenübers zur Selbstbestimmung. Nicht die Benennung und Betonung von Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Judentum ist für die Beziehung problematisch, sondern eine damit verbundene Idealisierung, die das Gegenüber zum Zwecke der eigenen Identitätsfindung instrumentalisiert und hierbei zum Verschwinden bringt. Jede Gemeinschaft, so betont Rendtorff, „muss ihre Identität behalten und 98 die der anderen respektieren.“ Kollektive Konversions- oder Missionswünsche treten hier – unbeschadet der für einzelne Christen oder Juden bestehenden Möglichkeiten – zurück. Die christliche Standortbestimmung im jüdisch-christlichen Gespräch ist komplex, weil sie einerseits eine Abgrenzung vom Judentum beinhalten und andererseits die Bezogenheit auf das Judentum zum Ausdruck bringen muss. Der schwierige, durchaus besondere Prozess der christlichen Identitätsbildung wird von Edna Brocke hervorgehoben. Jede Identitätsbildung im religionsgeschichtlichen Kontext stelle einen Abgrenzungsprozess dar. Auch das Judentum sei – in religionsgeschichtlicher Perspektive – durch 99 Abgrenzung entstanden, „nämlich den Götzendienern gegenüber.“ Im Unterschied zum Judentum aber, das sich bei seiner Identitätsbildung von anderen Gruppen abgegrenzt habe, habe sich das Christentum „– wollte es Bestand haben – vom ‚Eigenen‘ abgrenzen“ müssen, nämlich vom Judentum. Die dauerhafte Bezogenheit des Christentums auf das Judentum gründet in der Person des Juden Jesus Christus. Jede christliche Theologie wird ihre Christologie im Bezug auf Jesu Jude-sein formulieren müssen. „Der Glaube Jesu einigt uns, [...] der Glaube an Christus trennt uns“, lautet ein eingän100 giges Diktum Schalom Ben-Chorins. Das gilt, selbst wenn dieses Diktum zu relativieren wäre, weil, wie Klaus Wengst betont, nicht schon der Glaube an die Auferweckung Jesu die ersten Christen aus dem Judentum herausgeführt, sondern erst das Hinzukommen der Völker ohne Beschneidung religionsgeschichtlich zum Bruch geführt habe. Zwar ist dann ei101 nerseits das „Christusbekenntnis als Lob des Gottes Israels“ zu begreifen, andererseits gelte auch hier: „Die Besonderheit Israels muss festgehalten und respek102 tiert werden.“ Ebenso sei die „von Jesus unabhängige Praxis der Versöhnung im 103 Judentum“ wahrzunehmen und zu respektieren. 104
So unterschiedlich die christologische Position bestimmt werden mag, sie hat in jedem Fall mit dem Faktum zweier voneinander getrennter, je selb98 R. RENDTORFF: Wurzeln, 51. 99 E. BROCKE: Nein, 188. 100 S. BEN-CHORIN: Jesus, 12. 101 K. WENGST: Jesus, 82. 102 A.a.O., 137. 103 Ebd. 104 Vgl. die sehr unterschiedlichen Entwürfe von F.-W. Marquardt und J. Ringleben, in: Loccumer Protokolle 0/93, 43–66.
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ständiger Größen Judentum und Christentum zu rechnen, von denen die eine Größe, das Christentum, mittels ihrer christologischen Position auf die andere Größe, das Judentum bezogen bleibt. Die nicht umkehrbare Bezogenheit des Christentums auf das Judentum bedingt ein Gefälle in der christlich-jüdischen Auseinandersetzung, das in seiner Problematik für die Beziehung nicht zu übersehen ist. Brocke macht dieses Gefälle an dem „jüdischen Nein“ zu Jesus Christus deutlich. Auch da, wo dieses Nein die christlich-jüdische Annäherung nicht behindert, werde eine Verhältnisbestimmung von Juden und Christen vorausgesetzt, die von jüdischer Seite so nicht nachzuvollziehen sei. Die Wahrnehmung innerjüdischer Pluralität von Einstellungen gebiete es festzustellen, dass es ein aktives jüdisches Nein zu Jesus nicht gegeben habe, sondern vielmehr ein passives Nicht105 Annehmen. Festzuhalten ist: Die jüdische Position bestimmt sich selbst – selbstverständlich – nicht als Verneinung christlicher bzw. christologischer Position, selbst wenn die christliche Position die jüdische Position als ein Nein begreifen mag. Zur Wahrnehmung des Judentums von christlicher Seite gehört deshalb beides: Die Vergewisserung über die selbstverständliche Bezogenheit auf das Judentum und die Wahrnehmung, sich in dieser Bezogenheit vom Judentum zu unterscheiden. Die innere Pluralität und Selbständigkeit des Judentums begrenzt hierbei die Definitionen christlicher 106 Theologie im Blick auf das Judentum. Nur wenn die christliche Seite diesen Sachverhalt vorbehaltlos akzeptiert, hat sie im christlich-jüdischen Gespräch ein echtes Gegenüber und kann die Funktionalisierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden unterlassen. b) Standort der praktisch-theologischen Wahrnehmung des Gegenübers Eine praktisch-theologische Wahrnehmung des Judentums hat sich zunächst an der Wahrnehmung des lebendigen, gegenwärtigen jüdischen Gegenübers zu orientieren. Zur Vermeidung von Missverständnissen im Blick auf mögliche negative Konnotierungen des Begriffs Gegenüber sei auf Folgendes hingewiesen: Der Begriff schließt als substantivierte Form einer adverbialen Bestimmung des Raumes die Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit der sich zueinander verhaltenden Größen ein. Zudem beinhaltet er die Beziehungsintention gleicher Größen, deren Verhältnis nicht wie in den Begriffen Gegenteil oder Gegensatz bereits qualifiziert ist. Der Vorteil liegt in einer Betonung der vorgängigen Faktizität eines gleichberechtigten Verhältnisses zweier selbständiger Größen. Es ist zwar möglich, aber weder beabsichtigt noch nahe 105 Vgl. BROCKE: Nein, 192f. 106 E. BROCKE deutet in diesem Zusammenhang die Schlussfolgerung an, dass man möglicherweise aufgeben müsse, a.a.O., 194, „grundlegend das Verhältnis ins Lot zu bekommen, weil ein solch radikaler Eingriff – ernstgenommen – nicht möglich, jedenfalls nicht realistisch ist.“
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liegend, den Begriff Gegenüber im Sinne eines „gegen“ bzw. „gegeneinander“ aufzufassen. Vielmehr geht es um die Etablierung eines „vis-a-vis oder eines en face“ im wissenschaftlichen Kontext, von der auch Folker Siegert 107 spricht. Für ihn geht es nach all der Literatur, die gegen und über Israel veröffentlicht worden ist, um Forschung aus dem Gegenüber von Christen und Juden. Diese Zielsetzung gilt auch für den hermeneutischen Ausgangspunkt meiner Untersuchung. Die Situation des Gegenübers ist wahrzunehmen und, so auch Siegert in Abwehr vorschneller Harmonisierungsversuche, auszuhalten. Neben der fundamentalen, vorgängigen Anerkennung des anderen, die im Begriff des Gegenübers ausgedrückt wird, ist ein weiterer Vorteil die Offenheit, mit der die ausstehende Qualifizierung des Verhältnisses vorgenommen werden kann. In den 25 Studien zur Geschichte eines wechselvollen Zusammenlebens, die unter der Überschrift „Israel als Gegenüber“ von Siegert herausgegeben wurden, finden sich entsprechend vielgestaltige Verhältnisbestimmungen. Da ist im Blick auf die historischen Konkretionen des Gegenübers von Christen und Juden vom unabgeschlossenen Gespräch, von Miteinander und Nebeneinander, von Partnern, Kontrahenten, Konkurrenten und Konvergenten die Rede. Schließlich muss auch von der Hauptgefährdung des Gegenübers die Rede sein: dem Antisemitismus. Mit ihm, wie mit der Symbiose, gerät der Begriff des Gegenübers an die Grenzen seiner Offenheit. Denn der Begriff des Gegenübers impliziert ein und, das sowohl als faktische als auch als theologische Qualifizierung verstanden werden muss: Die Kirche und Israel, Christen und Juden. Sie haben, wie Siegert erklärt, „das Und zwischen sich noch zu 108 entdecken.“ Der Begriff der Wahrnehmung fügt sich in diesen Begriffszusammenhang: Wahrnehmen umschließt von je her das „acht geben auf etwas“ wie auch die Ehrerbietung, die Achtung, die man einer Sache entgegenbringt. Zwei Jahrzehnte vor Albrecht Grözinger, der den Begriff der Wahrnehmung zu einem Schlüsselbegriff der Praktischen Theologie erklärt hat, hat Rudolf Bohren dessen fundamentale Bedeutung für die Praktische Theologie herausgestellt. In der Doppeldeutigkeit von Erkennen und Tun beschreibe Wahrnehmung im umfassenden Sinne das geistbegabte Umgehen 109 des Menschen mit der Schöpfung. Eine theologische Ästhetik – eine theologische Lehre von der sinnlichen Erkenntnis, der Wahrnehmung – werde deshalb zum Schlüssel praktisch-theologischen Verstehens. Solche Ästhetik umfasse auch die Ethik, ohne in ihr aufzugehen. Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers hat hermeneutische Konsequenzen, weil sie mit der christlichen Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung untrennbar verbunden ist. Die Forderung, das jüdische Gegenüber wahrzunehmen, impliziert also einen theologisch-hermeneutischen Perspek107 F. SIEGERT: Einleitung, 13. 108 F. SIEGERT: Nachwort, 555. 109 Vgl. R. BOHREN: Dass Gott schön werde, 135.
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tivwechsel. Indem die Kirche Israel wahrnimmt, muss sie sich selbst im Blick auf das Fortbestehen Israels wahrnehmen. Ein derartiger hermeneutischer Perspektivwechsel ist dem christlichen Glauben nicht fremd. Er ist Ausdruck seiner Kernbotschaft. Diese These, die die Forderung nach Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers im Zentrum des christlichen Glaubens verankert, soll im Folgenden begründet werden. c) Perspektivwechsel – Praxis christlichen Glaubens Die Bestimmung vom anderen her, der einem selbst gegenüber steht und mit dem man in Beziehung tritt, findet sich im Zentrum christlichjüdischen Selbstverstehens. Das Fremdsein gehört zum Credo Israels (Dtn 26,5). Es taucht als Motiv in der Verarbeitung des Grunddatums der Geschichte Israels, des Auszugs aus Ägypten, auf. Das Erleben, selbst fremd gewesen zu sein, spiegelt hier „nicht Resignation wider, sondern die Erfahrung, dass man sich dem Leben zuwenden kann, ohne seine Brüchigkeit zu 110 übersehen.“ Wer sich als Fremder versteht, wer sich notwendig im Gegenüber zu anderen begreift, braucht die Distinktion um seiner eigenen Identität willen. Fremdsein, Anderssein steht zunächst für Trennung und damit für Wahl. Denn: „Wählen heißt: Grenzen ziehen, scheiden, unterschei111 den; für die Bibel ist das Inbegriff des Lebendigen.“ Gott wählt, um zu erschaffen. Erschaffen ist grundlegend mit Scheidung und Unterscheidung verbunden: „Das, was mich konstituiert, trennt mich von dem ande112 ren.“ Wie durch Gottes Scheiden die Erde geworden und die Menschen 113 geschaffen sind, so konstituieren Menschen sich in der Unterscheidung von anderen. Im Kern dieser Vorstellung liegt nicht eingrenzende Starrheit, sondern Lebendigkeit, wie sie Gott, der ganz Andere, der Fremde, repräsentiert: „Im Fremden bricht immer etwas von Gottes Fremdheit ein, d.h. von seiner Heiligkeit, die in unseren Erfahrungskategorien nicht aufgeht, son114 dern den Menschen auf Neues und Unerwartetes einstimmt.“ Gehört das Dasein von unterschiedlichen Menschen, die miteinander in Beziehung treten, zum Verständnis eigener Geschöpflichkeit dazu, so erwächst das Verständnis für die Ermöglichung von Beziehung für Christen aus der Versöhnungstat Christi. Weil menschliche Existenz geprägt ist von Entfremdung von Gott und dem Mitmenschen, kommt Gott in Jesus Christus als Mensch zur Welt. Hier ist und bleibt er der Fremde. Seine Menschwerdung ist Entäußerung, ist Kenosis (Phil 2,5ff). Durch ihn voll 110 T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 202f. 111 F.W. MARQUARDT: Was dürfen wir hoffen, 364; vgl. den programmatischen Titel des Aufsatzes von W. STEGEMANN: „Am Anfang war die Unterscheidung“. 112 T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 133. 113 Juden erinnern an diese Unterscheidungen im Schöpfungsakt mit dem Ritus der Havdala (wörtlich: Scheidung). 114 T. SUNDERMEINER, Den Fremden verstehen, 207.
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zieht sich der Wechsel, durch den dem Menschen Freiheit zum Leben geschenkt wird. Ein für den Menschen durch und durch fröhlicher Wechsel, 115 wie Martin Luther feststellt. Im Zentrum des Glaubens steht ein Wechsel, der als Perspektivwechsel radikaler Natur beschrieben werden kann. Gott nimmt die Natur des Menschen, seine Perspektive, an. Dem Menschen wird Gottes Blick zuteil. Dieser Wechsel lässt sich als Kern menschlicher Rechtfertigung vor Gott begreifen: Das Geschenk eines Lebens, in dem der Mensch „angenommen ist und in eine Gemeinschaft inkorporiert wird, die 116 ihm im Zusammenleben Freiheitserfahrungen gewährt.“ Hieraus folgt eine Ethik, die sich am Fremden, am anderen orientiert, denn der Fremde ist der „Christus präsens“: „Den Fremden einladen – das kennzeichnet das 117 frühe Christentum.“ Der allgemeine Sinn einer Beziehung zum anderen als Konstitutivum christlichen Glaubens lässt sich auf das Verhältnis von Christentum und Judentum als Paradigma solcher Beziehung in Unterscheidung übertragen. Im Zentrum der Beziehung steht Jesus Christus. Den verbindenden wie trennenden Juden Jesus beschreibt Friedrich-Wilhelm Marquardt als „Christus peregre proficiscens“. Das Motiv des „Jesus außer Landes“, wie es an den entscheidenden Stellen in den Evangelien begegne, zeige einen Jesus, der niemandem gehören kann, weil er „uns nicht nur in der Weise der Nähe“ begegne, sondern auch in „einer spürbaren Ferne, die Befremdung in 118 uns auslöst, uns auch richtet.“ Der „Jesus außer Landes“ stehe zu Israel wie zur Kirche in Spannung, bereichere und gefährde beide. Vor allem lasse er Juden und Christen „zusammenrücken, auch wenn sie um seinetwillen 119 ihre Probleme miteinander haben.“ In der Begegnung mit Jesus, wie sie durch den „Christus peregre proficiscens“ präfiguriert werde, liege die Chance zur „Entfremdung von der Selbstverständlichkeit unserer Bekennt120 nisse und ererbten Erkenntnisse.“ Solche Entfremdung sei „Krisis aus 121 dem Extra-nos.“ Sie sei Jesu Ruf an uns von draußen. Diesen Ruf zu hören und ihn als den Ruf des uns im Gegenüber zu ihm und zu anderen rechtfertigenden Gottes zu begreifen, darin liegt die grundlegende Bedeutung, das christlich-jüdische Verhältnis bestimmen und als Element homiletischen Nachdenkens begreifen zu wollen.
115 M. LUTHER: De libertate christiana, 276f, beschreibt den Wechsel so: „So hatt Christus alle gu(e)tter vnd seligkeit/die seyn der seelen eygen. So hatt die seel alle vntugent vnd sund auff yhr/die werden Christi eygen. Hie hebt sich nu der fro(e)lich wechßel vnd streytt.“ 116 T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 209. Sundermeier spricht hier auch von der „fremden Gerechtigkeit“, der „iustitia aliena“, a.a.O., 210. 117 A.a.O., 209. 118 F.W. MARQUARDT: Bekenntnis, 97. 119 A.a.O., 96. 120 A.a.O., 97. 121 Ebd.
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Wir halten fest: Die unerlässliche christliche Standortbestimmung im jüdisch-christlichen Gespräch ist komplex. Sie beinhaltet Abgrenzung vom Judentum einerseits und vorgängige Bezogenheit auf das Judentum andererseits. Zur Standortbestimmung gehört die Wahrnehmung eines spezifischen, asymmetrischen Gefälles des Dialogs: Jüdische Positionen bestimmen sich nicht notwendig in Abgrenzung zu christlichen Positionen. Anders als christliche Positionen sind sie nicht selbstverständlich auf ein christliches Gegenüber bezogen. Ein christlicher Standort im christlichjüdischen Gespräch ist in Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers aufzusuchen. Dabei ist die Erkenntnis von Bindendem und Trennendem leitend, eine Funktionalisierung dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede hingegen zu vermeiden. Praktisch-theologische Wahrnehmung des Judentums hat sich an der Wahrnehmung des lebendigen, gegenwärtigen jüdischen Gegenübers zu orientieren. Im Begriff Gegenüber wird die vorgängige Faktizität eines gleichberechtigten Verhältnisses zweier selbständiger Größen betont. Der Begriff Gegenüber zielt auf das und, das es zwischen Juden und Christen zu entdecken gilt. Die Aufforderung zur Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers beinhaltet einen ästhetischen, hermeneutischen und ethischen Aspekt. Sie impliziert die Anerkennung des anderen sowie dessen Bedeutung für das eigene Selbstverständnis. Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers erfordert einen hermeneutisch verankerten Perspektivwechsel. Dieser Perspektivwechsel kann aus dem Kern christlichen Glaubens heraus begriffen werden. Christliche Identität und die Möglichkeit zu fruchtbarer Beziehung konstituiert sich durch Gottes Handeln im Perspektivwechsel Jesu Christi. Diesen Perspektivwechsel gilt es in der Beziehung zwischen Christen und Juden nachzuvollziehen, um so die Bedeutung des Gegenübers in der Glaubenspraxis zu entdecken. 4. Praktisch-theologische Konzeptionen der Wahrnehmung des Judentums Die christliche Wahrnehmung des Gegenübers Judentum im christlichjüdischen Gespräch bedarf einer christlichen Standortbestimmung. Im praktisch-theologischen Zusammenhang ist festzuhalten, von welchem Standort aus die Bezogenheit auf das Judentum wahrgenommen und die Unterschiedenheit vom Judentum respektiert wird. In den letzten Jahren sind einige praktisch-theologische Untersuchungen erschienen, die sich im Sinne der im vorigen Abschnitt formulierten Desiderate auf das Judentum der Gegenwart beziehen. Ich stelle drei religionspädagogisch orientierte Entwürfe vor, deren Ansätze die Legitimität sehr unterschiedlicher Wahrnehmungen des Judentums demonstrieren.
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a) Gemeinsame Zeugenschaft durch Erinnerung In Michael Wermkes Untersuchung „Jugendliteratur über den Holocaust“ wird die Struktur des jüdischen Gedächtnisses zum Modell für die Bildung der eigenen, respektive christlichen Identität. Im Blick auf die Erinnerung 122 an den Holocaust, die im Judentum heilige Pflicht sei, gelte es, dass sich 123 Schülerinnen und Schüler als „Erben“ der Erinnerung verstehen lernen. Bei der Grundlegung dieser Theologie (und Pädagogik) der Erinnerung steht eine religionssoziologische Darstellung der Struktur des jüdischen Gedächtnisses im Vordergrund. Das Individuum konstituiere seine Identität durch die Einbindung in das Volk Israel als einer Gedächtnisgemeinschaft. Vollzogen werde dieser Prozess auf dem Wege existentieller Repräsentation in Liturgie und Ritual. In diese Form jüdischer Identitätskonstitution lasse sich die Erinnerung an den Holocaust 124 integrieren, indem sie in die Liturgie der Pessach-Feier aufgenommen werde. Auf diese Weise gehöre die Erinnerung an den Holocaust zur Identitätskonstitution. Eine christliche Beziehung zu dieser Identitätskonstitution meint Wermke christologisch vermitteln zu können. Durch die für das Christentum konstitutive Erinnerung an die Passionsgeschichte Jesu werde die Sicht auf die in der jüdischen Leidensgeschichte bezeugte Gotteserfahrung eröffnet. Wermke rekurriert hier auf die Konzeption Bertold Klapperts. Für Klappert besteht eine grundlegende Angewiesenheit christlicher Theologie auf das Judentum nach Auschwitz. Diese Angewiesenheit basiere darauf, dass das Zeugnis der jüdischen Erfahrung des Entsetzens Gottes, der Einsamkeit und der „Kreuzigung Gottes“ am Galgen in Auschwitz dem Zeugnis der neutestamentlichen Gotteserfahrung hinzugefügt 125 werde. Sie werde durch das Zeugnis jüdischer Zeugen erhellt und erläutert. Im Nachvollzug christlicher Kreuzestheologie und ihrer grundlegenden Angewiesen126 heit auf die „jüdische Gotteserfahrung in Auschwitz“, im Eingedenken der Passionsgeschichte Jesu als Öffnung für die Sicht jüdischer Leidensgeschichte wird so eine Verbindung von christlicher zu jüdischer Erinnerungskonzeption und Identitätskonstitution hergestellt. Diese Verbindung findet ihren Ausdruck im Modell der „gemeinsamen Zeugenschaft“. Mit Rekurs auf Ernst Ludwig Ehrlich erklärt Wermke, dass das alte Modell der Zeugenschaft jetzt in aktualisierter Weise als 127 „Zeugenschaft ohne Rache“ die jüdische Aufgabe für Generationen sei. Die 122 Vgl. M. WERMKE: Jugendliteratur, 79. 123 Vgl. a.a.O., 203. 124 Vgl. a.a.O., 79: „Neben der Erinnerung am Yom HaShoah bedeutet die Integration der Erinnerung an den Holocaust in die Liturgie der Pessach-Feier, dass das jüdische Gedächtnis sich des Holocaust auf unabsehbare Zeit erinnern wird.“ Als Beleg für diese Integration führt er einen Text Irving Greenbergs an, a.a.O., 66. Es gibt einige, möglicherweise auch etliche jüdische Stimmen, mit denen eine mögliche Integration der Erinnerung an den Holocaust in die Pessach-Liturgie aufgewiesen werden kann. Dieses Vermögen ist aber nachdrücklich von der Behauptung zu unterscheiden, die Integration in die Liturgie der Pessach-Feier sei damit vollzogen. Die jüdische Pessach-Liturgie wird, das wird M. Wermke nicht bestreiten, vielerorts und wohl in der Regel ohne die explizite Einfügung der Erinnerung an den Holocaust gefeiert. 125 Vgl. a.a.O., 75ff. 126 Vgl. a.a.O., 80. 127 Vgl. a.a.O., 75.
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Zeugenschaft werde für die – in das Eingedenken göttlichen Heilshandelns hineingenommenen – Christen zu einer Aufgabe, die im „demütigen Hören“ auf die jüdische Gotteserfahrung im Holocaust zu einer gemeinsamen Zeugenschaft von Juden und Christen werden könne. Die „gemeinsame Zeugenschaft“ ist das erklärte Ziel bei Wermke, wenn es darum geht, dass Schülerinnen und Schüler sich nicht nur als Erben der Erinnerung verstehen lernen sollen, sondern darin „theo128 logisch formuliert: als ‚Zeugen‘ der ‚jüdischen Gotteserfahrung in Auschwitz‘ “ zu verstehen seien.
Wermke zielt darauf, den Begriff der Erinnerung in seiner grundlegenden Bedeutung für christliche und jüdische Identitätsbildung herauszustellen. Er tut dies, indem er seinen Blick in besonderer Weise auf die Erinnerung an den Holocaust lenkt. Der Holocaust erscheint als das christliche und jüdische Identität betreffende Ereignis. Aus dieser Verbindung von Identitätsbildung durch Erinnerung und Erinnerung an den Holocaust zieht Wermke praktisch-theologische Schlüsse für die Religionspädagogik. An diese Konzeption sind gewichtige Anfragen zu richten: Gelingt es der Gefahr zu entgehen, sich mit der Erinnerung der Opfer zu identifizieren? Damit meine ich weniger die einzelne, konkrete Erinnerung als die konzeptionelle Anlage der Erinnerungsstruktur und der damit einhergehenden Identitätskonstitution. Sie wird exklusiv am Modell des jüdischen Gedächtnisses gewonnen. Ich sehe nicht, wie man die Sinnlosigkeit von Auschwitz mit einer „heilsgeschichtlichen Bedeutung“ von Auschwitz vermitteln könn129 te. Schließlich ist die Rede von der „jüdischen Gotteserfahrung in Auschwitz“ mehr als problematisch. Sprachlich könnte so verwischt werden, dass es sich hierbei um eine Erfahrung von Gottes Abwesenheit handelt, also um eine Nicht-Erfahrung. Die von Wermke anvisierte umfassende Gemeinschaft von Christen mit Juden marginalisiert gewichtige Unterschiede. Dass ein solches Übergehen von Differenzen auch verletzend für das Gegenüber sein könnte, wird am 130 Rande erwähnt, gewinnt aber keine Bedeutung für die Konzeption. Auch die Wahrnehmung des Judentums bei Wermke bedarf kritischer Beleuchtung. Die Art der Darstellung legt das Judentum fest. An den Schlüsselstellen der Konzeption jüdischer Identität der Zeugenschaft werden Ernst L. Ehrlich, Schalom Ben-Chorin und Elie Wiesel zitiert. Mit diesen Stimmen wird das Judentum auf seine Aufgabe der „Zeugenschaft ohne Rache“ festgelegt. Mit Verweis auf Klappert wird das Judentum sogar zum „Zeugen des parteilich-universalen Dienstes für die leidende Menschheit in der messianischen Perspektive einer gerechten Weltgesellschaft“. Es wird zum Zeu131 gen schlechthin. Hierin sehe ich eine problematische, selektive und 128 Vgl. a.a.O., 203. 129 Vgl. aber a.a.O., 77. 130 Vgl. ebd.: „Durch eine an die Erfahrung von Auschwitz anknüpfende Theologie des Holocaust wird eine Theologie des Kreuzes nicht ersetzt, wie auch die jüdische Gotteserfahrung in Auschwitz nicht christologisiert wird.“ 131 Vgl. a.a.O., 75.
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schließlich funktionalisierende Wahrnehmung des Gegenübers Judentum. Es stellt sich die Frage, ob hier Judentum aus christlicher Perspektive und auf dem Hintergrund christlicher Wunschvorstellungen definiert wird. b) Jüdische Kultur des Lernens als Modell der Identitätskonstitution Bei Ingrid Schoberths Grundlegung einer katechetischen Theologie erhält die jüdische Kultur des Lernens eine Schlüsselfunktion. Sie sei beispielhaft für gelingendes Lernen und damit für Glauben-Lernen in der Kirche, weil Lernen im Judentum als die Lebensform erscheine, in der die Identität des 132 Glaubens erfahren und weitergegeben werde. Ihren gestalterischen Ausdruck findet die Lebensform des Lernens nicht allein, aber in vorzüglicher, charakteristischer Weise in der Institution des Lehrhauses. In ihr entdeckt Schoberth das Modell einer tragfähigen Antwort auf den Traditionsabbruch als der Problematik des Glauben-Lernens in der Gegenwart. So wie die Einrichtung des Freien Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt eine Antwort auf die Krise der Moderne darstellen konnte, so könnte auch ein evangelisches Lehrhaus – Schoberth rekurriert hier auf Anstöße von Kornelis H. Miskotte und Rudolf Landau – das Glauben-Lernen in der Zeit des Traditionsabbruches in der Kirche auf eine neues Grundlage stellen. Mit der Anlehnung an das Freie Jüdische Lehrhaus und die Ideen Franz Rosenzweigs wird herausgestellt, dass sich die Lebensform Lernen jetzt nicht mehr nur an der eigenen Tradition erweisen könne, sondern der Lernende in der Begegnung mit dem anderen, insbesondere mit dem anderen Fremden, seine eigene Identität ausbilde. Das Freie Jüdische Lehrhaus und die hiermit verbundenen Anstöße zu einem „evangelischen Lehrhaus“ stehen bei Schoberths Bild der Kirche als einem „Haus 133 des Lernens“ Modell, ohne dass sie im weiteren Verlauf der Untersuchung auf den Begriff des Lehrhauses explizit wieder zurückgreift. Bei der Rückfrage, wie die Lebensform jüdischen Lernens als Grundstein christlicher Theologie begründet und vermittelt wird, fällt die selbstverständliche Bezogenheit des Christentums auf das Judentum der Gegenwart auf. Schoberth stützt sich hier auf die theologische Konzeption Ritschls. In dessen Anwendung des sogenannten StoryKonzeptes auf die Logik christlicher Theologie liegt die unhintergehbare Gemeinsamkeit christlicher und jüdischer Identität verborgen. Sie bildet sich jeweils im Gewahrwerden und Erzählen der Geschichte, die Gott mit Juden und mit Christen eingegangen ist. Insofern ist für Schoberth der Begriff des Volkes Gottes aus Juden und Heiden, die eine Erzählgemeinschaft bilden, von herausragender Be134 deutung. Die Vermittlung dieser Verbundenheit im Volk Gottes führt für Christen über die „story“ Jesu. In seiner Geschichte wird Kontinuität zwischen 135 der Geschichte Israels und der Geschichte der Kirche hergestellt.
132 Vgl. I SCHOBERTH: Glauben-lernen, 110. 133 A.a.O., 276ff. 134 Vgl. hierzu I. SCHOBERTH: Glauben-lernen, 23.30f.61f; vgl. auch I. SCHOBERTH: Erinnerung, 89ff.170ff. 135 Vgl. I. SCHOBERT: Glauben-lernen, 312 Anm. 77.
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Schoberth begreift die Bezogenheit auf das gegenwärtige Judentums in seiner verbindenden sowie unterscheidenden Weise. So wird einerseits die LehrhausTradition des modernen Judentums als Modell dargestellt, von dem die Kirche selbstverständlich lernen könne, andererseits kommen auch die Differenzen in den Blick. Sie seien zum einen durch die tragische Geschichte des Antisemitismus bedingt, zum anderen aber bereits im Ursprung des Christentums angelegt. Die Erfahrung des Fremden im Gegenüber Judentum beginne im Matthäusevangeli136 um „with those Jews who did not recognize Jesus as the Messiah.“ Insofern bleibe die Geschichte Israels eine für die Kirche fremde Geschichte. Gerade als fremde Geschichte, das ist die entscheidende, dialektische Wendung des Gedankens, ist sie aber konstitutiv für die Identität der Kirche, insofern auch deren 137 Identitätskonstitution in der Begegnung mit dem Fremden vollzogen werde. Ihren Grund finde die christliche Identität allerdings in der Erfahrung des Heils in Christus. Durch ihn wird die Erfahrung der Gegenwart als erfüllte Zeit qualifiziert. In Jesus Christus bricht das Reich Gottes an. Hier zeigen sich Differenzen im Gegenüber zum Judentum, die allenfalls in eschatologischer Perspektive als 138 vermittelt gedacht werden können. Insofern kann man sagen: Die Bezogenheit auf das Judentum ist bei Schoberth nicht nur im Kern christologisch vermittelt, sie wird letztlich auch christologisch qualifiziert.
Die Konzeption Schoberths kommt an verschiedenen Punkten meiner eigenen Darstellung nahe. Einige kritische Rückfragen erscheinen mir allerdings erforderlich. Schoberth bezieht sich wiederholt auf die jüdische Identitätskonstitution bzw. das Judentum. Gleich der erste Satz im Kapitel über die Kultur des Lernens im Judentum lautet: „Das Judentum lässt sich als eine Gemeinschaft des Lernens bestimmen, die in diesem Lernen bleibt und darum eine Kultur und damit eine spezifische Praxis des Lernens ausgebil139 det hat.“ Diese Bestimmung des Judentums wird im Rekurs auf Abraham Jehoschua Heschel und Elie Wiesel näher ausgeführt. Daneben kommen Leo Prijs, Schalom Ben-Chorin und Gershom Scholem mit ihrer Auslegung der Tradition des Lernens im Judentum zu Wort. Der möglichen Anfrage, ob das Judentum hier nicht einschränkend, ob es auf bestimmte Perspektiven im Blick auf Moderne und Postmoderne nicht verengt dargestellt wird, begegnet Schoberth mit der Studie Michael A. Meyers zur jüdischen Identität. Für ihn begründet sich jüdische Identität trotz Aufklärung, Antisemitismus und Zionismus im Wissen, das eine Volk Israel zu sein, das sich den äußeren Veränderungen dadurch stelle, dass es die Veränderungen im Blick auf die Grundprinzipien der jüdischen Tradition prüfe und sich gegebenenfalls entsprechend wandle. Schoberth resümiert: „Weil das Judentum konstitutiv durch seine Tradition bestimmt ist, bleibt es Gemeinschaft der Lernenden; doch verlangt gerade diese Identität des Volkes Israel die stets neue Bemühung um die kritische Einübung seiner Tradition in der Praxis des 136 137 138 139
Vgl. a.a.O., 252. I. SCHOBERTH zitiert hier S.E. Fowl/L.G. Jones. Vgl. a.a.O., 253. Vgl. a.a.O., 305f. A.a.O., 110.
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immer anfänglichen Lernens.“ So sehr diese Konzeption aus christlichtheologischer Perspektive nachvollzogen werden kann, so kritisch muss gefragt werden, ob hier nicht das Selbstverständnis des jüdischen Gegenübers von außen bestimmt wird. Die fast bruchlose Anlage, mit der hier jüdische Identitätskonstitution modellhaft dargestellt und auf christliche Identitätsbildung übertragen wird, stellt die Frage, ob die vorliegende Sichtweise des Judentums nicht davon bestimmt ist, wie christliche Identität in Analogie 141 dazu konstituiert sein sollte. Die Gefahr der Idealisierung mit anschließender Funktionalisierung des Judentums ist nicht zu übersehen. c) Wahrnehmung von Nähe und Verschiedenheit beim Gegenüber Die Untersuchung von Bernd Schröder zur jüdischen Erziehung im modernen Israel reflektiert Form, Gehalt und Methode der Wahrnehmung des 142 jüdischen Gegenübers in überzeugender Weise. Seine Studie verfolgt drei Ziele: Zum einen soll die Methodik des religionspädagogischen Vergleichs als fruchtbar erwiesen werden. Zum zweiten soll das Gespräch zwischen Christentum und Judentum auf dem Gebiet der Praktischen Theologie intensiviert werden. Und schließlich soll gezeigt werden, wie religiöse Erzie143 hung und ihre Theorie auf die Herausforderungen der Moderne reagiert. Im Blick auf die Wahrnehmung des Judentums klärt Schröder dabei mehrere Problemhorizonte vorab. So stellt er im Blick auf den religionspädagogischen Vergleich zunächst die Frage nach der wissenschaftlichen Gesprächspartnerin. Als solche benennt er die Judaistik, die er in einem spezifisch weiten Sinne verstanden wissen will als „verschiedene Wissenschaftszweige israelischer Universitäten, angesichts des hier gewählten Themas namentlich Pädagogik, Soziologie, teilweise Geschichtswissenschaft 144 und ‚Wissenschaft des Judentums‘ (Madaei Hajehadut).“ In dieser Beschreibung von Judaistik zeigt sich die regionale und kulturelle Konzentration auf den Staat Israel, die Schröder vornimmt. Die kulturelle Konzentration wird dabei noch einmal spezifiziert im Blick auf jüdische Erziehung in Israel. Schröder ist weit davon entfernt, den Anspruch zu erheben, einen religionspädagogischen Vergleich mit der jüdischen Religionspädagogik oder mit der israelischen Erziehungswissenschaft durchzuführen. Indem diese erste Einordnung unter das Stichwort der interreligiösen Perspektive gestellt wird, wird das Judentum zunächst als selbständige, selbstbestimmte Gestalt im Gegenüber zum Christentum wahrgenommen. 140 A.a.O., 122. 141 Man könnte sogar fragen, ob hier nicht ganz traditionell die christliche Identität im Rahmen der formalen Struktur jüdischer Identität bestimmt wird, deren inhaltliche Füllung schließlich mit der christologischen Qualifizierung der Identität erfolgt. 142 Der Begriff des Gegenübers wird von B. Schröder explizit verwendet: B. SCHRÖDER: Erziehung, 51. 143 Vgl. B. SCHRÖDER: Erziehung, 13–18. 144 Vgl. a.a.O., 17.
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Schröder behält dabei im Blick, dass die interreligiöse Perspektive auch irreführend sein könnte, weil mit dem Judentum jenes Gegenüber zum Vergleich gewählt wird, „das sich von seiner Geschichte und in seiner faktischen Vielfalt nicht ausschließlich als Religion, sondern auch als Kultur 145 sowie als Volk bzw. Nation versteht.“ Das Ziel des Vergleiches zwischen beiden wird als „Dialog initiierend“ 146 bestimmt. Es handele sich um einem Dialog, der prinzipiell auch mit anderen Ländern, Religionen und Kulturen möglich und hilfreich sei. Eine derartige Einordnung fordert die Klärung der Frage, warum hier gerade Christentum und Judentum verglichen werden. Schröder beantwortet diese Frage so: „Allerdings meine ich, dass der Vergleich mit dem Judentum aufgrund der einzigartigen Nähe zwischen Christentum und Judentum sowie aufgrund der Besonderheiten ihrer spezifischen Geschichte gerade in Deutschland besonders nahe liegt und eine spezifisch theologische Dring147 lichkeit hat.“ Zwei Gründe und ein Anlass seien es, die das christlichjüdische Gespräch aus christlicher Perspektive auch für praktisch-theologische bzw. religionspädagogische Themen erstrebenswert machen: Zum einen die aufschreckende Einsicht in den eigentümlichen Antijudaismus christlich-kirchlicher Praxis und Theologie in der Vergangenheit, zum zweiten die besondere theologische Nähe von Christentum und Judentum. Den Anlass schließlich für den aktuellen hermeneutischen Horizont des Gesprächs von Christen und Juden bilde der Holocaust und die Staatsgrün148 dung Israels. In diesem Begründungszusammenhang entfaltet Schröder die möglichen Impulse, die von der Praktischen Theologie für das christlich-jüdische Gespräch ausgehen bzw. umgekehrt von diesem Gespräch aufgenommen werden können. Die Handlungsfelder Praktischer Theologie könnten dazu dienen, „den christlich-kirchlichen Umkehrprozess im Verhältnis zum Ju149 dentum zu vermitteln.“ Und sie könnten angesichts der Verwandtschaft von Judentum und Christentum dazu verhelfen, sich „beim jeweiligen Ge150 genüber wie in einem Spiegel“ zu betrachten. Dabei diene, das unterstreicht Schröder in Anlehnung an Manuel Goldmann, gerade die Unterschiedlichkeit und Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition der wechselseitigen Bereicherung. Der Unterschiedlichkeit von Denk151 weise und Praxisorientierung wohne „positiv Herausforderndes inne.“ Die Wahrnehmung von Nähe und Verschiedenheit, von wechselseitigem Gegenüber und gegenseitiger Möglichkeit zur Befruchtung und die über145 146 147 148 149 150 151
A.a.O., 41. Vgl. a.a.O., 36. A.a.O., 15. Vgl. a.a.O., 46–48. A.a.O., 50. Ebd. Vgl. a.a.O., 52. B. Schröder zitiert hier M. GOLDMANN: Frage, 8.
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greifende Konzeption des religionspädagogischen Vergleichs führen dazu, dass Schröder die Frage der Selbstbestimmung der Identität des Gegenübers eingehend reflektiert. Die Frage, was von jüdischer Seite als Jude-sein definiert wird, sei selbst bei einer regionalen Eingrenzung auf den Staat Israel nicht einfach zu beantworten und somit erst recht nicht von außen zu entscheiden. Als Alternativen stünden hauptsächlich eine nicht-religiöse, bür152 gerliche Selbstdefinition und eine der Halacha entsprechende gegenüber. Schröder konstatiert: „Zwar ist die – halachisch geregelte! – Zugehörigkeit zum Judentum Grundlage aller jüdischen Selbstverständnisse [d.h.: die halachisch tradierte Zugehörigkeitsvoraussetzung: Abstammung von einer jüdischen Mutter oder Konversion; CS], doch zugleich stellt das jeweilige Verhältnis zur Halacha das zentrale Kriterium bzw. den wichtigsten Indika153 tor ihrer Unterscheidung voneinander dar.“ In diese Differenzierung bindet Schröder seine Entscheidung ein, was er mit Blick auf das jeweilige Gegenüber unter jüdischer Erziehung verstanden wissen will. Judentum wird so in seiner inneren Vielfalt wahrgenommen und eine methodisch begründete und transparente Entscheidung im Blick auf die Darstellung dieses Gegenübers getroffen. So wird eine instrumentalisierende Wahrnehmung bereits im Ansatz vermieden. 5. Fragestellung der Untersuchung: Homiletischer Lernprozess Die erfahrungswissenschaftliche Analyse des Phänomens Erinnerung, speziell der Erinnerung an den Holocaust, hat dazu beigetragen, eine grundlegend veränderte Wahrnehmung des Judentums als eine angemessene Form des Gedenkens zu begreifen. Merkmal der grundlegenden Veränderung ist die Wahrnehmung des Judentums als selbstbestimmtes Gegenüber. Die Analysen in den Kapiteln IV und V sind der Aufgabe gewidmet, zu prüfen, ob sich eine Veränderung der beschriebenen Art in der Entwicklung der homiletischen Theorie nach 1945 feststellen lässt. Anders gefragt: Hat die homiletische Theorie aus dem Holocaust – im Sinne eines bewahrenden Gedenkens – gelernt? Die Frage nach dem Lernprozess evoziert einen Seitenblick auf die Entwicklung des „Lernprozesses Christen Juden“ in der Religionspädagogik der 1980er und 1990er Jahre. Ende der 1970er Jahre ist in Freiburg von katholischer Seite ein Forschungsprojekt begonnen worden, das eine grundlegende Verbesserung der Behandlung des Judentums im Religionsunterricht anstrebt. Hieraus ist der „Lernprozess Christen Juden“ entstanden, der in vielfältiger Weise einen Weg beschreiben will, an des152 Vgl. a.a.O., 78. 153 A.a.O., 80. J. Leibowitz diskutiert die Problematik dieser innerjüdischen Unterscheidung bei der Frage der Selbstdefinition unter dem Stichwort Meta-Halachisches Problem, vgl. J. LEIBOWITZ: Gespräche, 107.
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sen Ende eine veränderte Wahrnehmung des Judentums steht. Im Zentrum des Lernprozesses steht die Didaktik einer veränderten Wahrnehmung des Judentums. Günter Biemer fordert in den „Leitsätzen“ des „Lernprozesses Christen Juden“ eine „anthropologische Übersetzung“, bei der „die theologischen Kategorien zur biographischen Ebene der Lernenden und Lehrenden in Verbindung gesetzt 154 werden, so dass der existentielle und subjektive Anteil der Adressaten“ vorkomme. Drei Grundprinzipien sollen bei der „anthropologischen Übersetzung“ beachtet werden: a) Überwindung des dominierenden Kontrastmodells: Das Beharrungsvermögen antijüdischer Stereotypen und antithetischer Wertungsmuster sei zu brechen, indem dominierende Kontrastmodelle von Judentum und Christentum ersetzt werden. Vor allem Martin Rothgangel nimmt auf der Basis von Röm 9–11 eine veränderte Verhältnisbestimmung als Richtziel für den Unterricht vor: „Schülerinnen und Schüler sollen eine jüdisch-christliche Verhältnisbestimmung erfahren, die von der Verwurzelung des Christentums im Judentum, von der in der Christologie begründeten Verschiedenheit sowie von der Christen und Juden ge155 meinsamen Zukunftshoffnung geprägt ist.“ Auf diese Weise werde eine Struktur entworfen, in der die christliche Identität nicht verleugnet, „aber auch nicht wie bei den zweigliedrigen Kontrastmodellen auf Kosten des Judentums profi156 liert“ wird. Der zweite wesentliche Vorteil der Struktur bestehe darin, dass „das Trennende vom Gemeinsamen umgriffen“ werde. Hiermit ist das zweite Grundprinzip der Umsetzung des Lernprozesses angesprochen: b) Wahrnehmung statt Stereotypisierung: Lernpsychologische Erkenntnisse bieten Ansatzpunkte, eine Stereotypisierung zu unterlaufen. Die Erforschung der Entstehung von Vorurteilen hat zwei für den didaktischen Zusammenhang bemerkenswerte Ergebnisse erbracht. Erstens: „Je mehr Ähnlichkeiten zwischen der eigenen und einer anderen Gruppe wahrgenommen werden, desto geringer wird das Vorurteil.“ Zweitens: „Je günstiger die Selbsteinschätzung einer Person, desto stärker die Anzahl der akzeptablen ethnischen Zielobjekte und desto positiver die 157 Einstellung der Person ihnen gegenüber.“ Hieraus folgt: Eine Stärkung der christlichen Identität ist bei der anvisierten Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers wichtig. Eine didaktische Umsetzung, die die Wahrnehmung des Gegenübers anstrebt, verzichtet deshalb sowohl auf eine Überbetonung als auch auf eine Vernachlässigung der Unterschiede, um nicht der identitätsstiftenden Funktion des Vorurteils und einer damit einhergehenden Stereotypisierung Vorschub zu leisten. c) Wahrnehmung des Gegenüber als Subjekt statt Festlegung auf eine Opferrolle: Eine in der Vergangenheit häufig angewendete Verobjektivierung des jüdischen Gegenübers ist die Reduktion auf eine Opferrolle. Thomas Lange hat diesen Mechanismus für die Darstellung jüdischer Geschichte in Schulbüchern aufgewiesen. Juden würden „nur als Opfer von Verfolgung und Vertreibung, als 158 Objekte der Geschichte“ dargestellt. Unterschwellig werde dabei vermittelt, dass 154 155 156 157 158 kers.
G. BIEMER: Didaktische Leitsätze, 58. M. ROTHGANGEL: Antisemitismus, 305; vgl. auch DERS.: Überlegungen, 140. M. ROTHGANGEL: Überlegungen, 140. H. KOHLER-SPIEGEL: Juden, 263. T. LANGE: Judentum, 19. T. Lange beruft sich hier auf die Analyse C. Schatz-
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Juden „schlicht als die ‚Schwächeren‘, die ‚Verlierer‘ “ zu gelten haben, mit denen man sich ungern beschäftigen und noch weniger identifizieren will. Im Extremfall könne es passieren, dass Schüler „Juden mit den Augen der Nationalsozialisten zu 159 sehen“ lernen. Jugendliche ließen sich von der Faszination der Stärke eher einnehmen als von der Schwäche der Opfer. Daraus resultiere das Kernproblem, dass identifikables jüdisches Leben so nicht wahrnehmbar werde. Es entstehe eine depersonalisierte Perspektive, die durch eine lückenhafte und eher zufällige Beschäf160 tigung mit der jüdischen Geschichte im Unterricht verstärkt werde.
Der von mir angestrebte Aufweis eines homiletischen Lernprozesses unterscheidet sich von dem in der Religionspädagogik initiierten Lernprozess von seinem Ansatz her. In meiner Untersuchung der homiletischen Entwürfe nach 1945 versuche ich, einen historischen Prozess zu beschreiben, der eine veränderte Wahrnehmung des Judentums dokumentiert. Der Freiburger „Lernprozess Christen – Juden“ stellt dagegen das Modell eines didaktischen Lernprozesses dar. Zwar konvergieren didaktischer und historischer Lernprozess in vielerlei Hinsicht. Die Einsichten des religionspädagogischen Lernprozesses können jedoch nicht als Leitraster bei der Untersuchung der Entwicklung in der Homiletik dienen. Der Unterschied zwischen der religionspädagogischen Situation, in der Lernen in jedem Fall konstitutive Zielbestimmung ist, und der homiletischen Situation, für die die Aufgabe der Verkündigung konstitutiv ist, verbietet ein solches Vorgehen. Im Versuch, Veränderungen in der Geschichte der homiletischen Entwürfe nach 1945 (historischer Lernprozess) aufzuweisen, geht es um die Frage der Veränderung der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers als Ausdruck bewahrenden Gedenkens an den Holocaust. Die Wahrnehmung des Judentums lässt sich im Sinne eines solchen Prozesses genauer fassen: Es geht um die Wahrnehmung der eigenen, christlichen Beziehung zum Judentum und um die Wahrnehmung des Judentums als eines selbstbestimmten Gegenübers. Für die Analyse der homiletischen Theorien sind folgende Fragen leitend: Lässt sich eine Veränderung der Wahrnehmung des Gegenübers und der Bezogenheit auf dieses Gegenüber Judentum erkennen? Welche Vorschläge für die Umsetzung dieser veränderten Wahrnehmung werden gemacht? In diesem Zusammenhang können die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung, die sich in der Religionspädagogik gezeigt haben, durchaus hilfreich sein: So lässt sich fragen, ob es in der homiletischen Theorie eine Entwicklung gibt, in der im Sinne einer veränderten Wahrnehmung Stereotypisierungen des jüdischen Gegenübers aufgebrochen werden. Lassen sich Veränderungen im Blick auf Verobjektivierungen wahrnehmen?
159 Ebd. 160 Vgl. C. SCHATZKER: Juden, 38. W. LASSMANN: Gestalt, 92, formuliert zuspitzend: „Da Maimonides von Hitler nicht verfolgt wurde, konnte er auch keine Aufmerksamkeit im Geschichtsunterricht für sich beanspruchen.“
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Wird Juden eine Rolle zugewiesen? Erscheinen sie ausschließlich als Opfer, oder werden sie als Subjekte wahrgenommen? Daneben stellt sich eine weitere Frage, die mit der Verkündigungssituation der Predigt verbunden ist: Welche Konsequenzen für die Aufgabe der Verkündigung von Gottes Wort als Gesetz und Evangelium ergeben sich aus der Wahrnehmung eines selbstbestimmten jüdischen Gegenübers? Wie kann ein bewahrendes Gedenken an den Holocaust homiletisch realisiert werden? Unter Verweis auf die Predigtlehre Bohrens (s.o. Einleitung 2.) hatte sich die Erinnerung an die Sünde als Aufgabe einer Predigt des Gesetzes zeigen lassen, die im Rahmen einer von Gott geschenkten Erinnerung an sein Erbarmen – Predigt des Evangeliums – vollzogen werden kann. Eine Zuordnung von Gesetz und Evangelium und der Aufgabe des Gedenkens steht noch aus. Im Brennpunkt der Untersuchung steht eine christlichtheologische Fragestellung. In der Untersuchung sollen für die Homiletik die beziehungsgefährdenden sowie die beziehungsstiftenden Prozesse herausgearbeitet werden. Ziel ist, durch die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die Beziehung zu fördern.
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IV. Homiletische Entwürfe im Gedenken an den Holocaust zwischen 1945 und 1980 Der Gegenstand der Untersuchung ist die protestantische homiletische Theorie nach 1945 unter der Leitfrage: Gibt es im Rahmen der Erinnerung an den Holocaust eine Veränderung in der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers? Untersucht werden die homiletischen Theorieentwürfe, in denen an den Holocaust erinnert wird. Im Rahmen der Homiletik erscheinen die theoretischen Entwürfe als ein für die Untersuchung geeigneter Ausschnitt, weil sie einen exemplarischen Ausdruck christlicher Selbstvergewisserung darstellen. Dabei ist auf die pragmatische Begrenzung der Materials hinzuweisen. Es werden nur diejenigen Predigttheorien und Predigtmeditationen untersucht, in denen der Holocaust explizit erwähnt bzw. erinnert wird, und nicht Entwürfe, aus denen indirekt das ihnen zugrunde liegende Verhältnis zum Holocaust erschlossen werden müsste. Die Literatur zum Thema „Theologie nach dem Holocaust“ hat in den letzten Jahren derart zugenommen, dass der Versuch einer erschöpfenden Darstellung zum Scheitern verurteilt sein müsste. Beiträge zu diesem Thema in homiletischer Perspektive sind demgegenüber rar, auch wenn man die gesamte Bandbreite theologischer und kirchlicher Äußerungsformen einbezieht. Einige Hinweise finden sich in kirchlichen Verlautbarungen, zum Beispiel ein eigener Unterabschnitt in der EKD-Studie Juden und Christen II. Unter der Überschrift „Predigen in Israels Gegenwart“ skizziert die Studie Leitlinien, die eine Umsetzung dieser Maßgabe ermöglichen sollen. Daneben finden sich konzeptionelle Einleitungen zu Predigtsammlungen bzw. Predigtmeditationen, die mit der Absicht, eine veränderte Predigtpraxis darzustellen, zusammengestellt wurden. In unmittelbarer Nähe zur EKD-Studie stehen hier die Meditationssammlungen von Arnulf H. Baumann und Ulrich Schwemer. Sie sind in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entstanden. Als Vorläufer dieser praktisch orientierten Sammlungen können die dialogisch gehaltenen Textmeditationen auf den Kirchentagen der 1970er Jahre angesehen werden. Einen weiteren Schwerpunkt stellen die systematisch-homiletisch orientierten Überlegungen zum Thema „Judentum/Israel in der Predigt nach dem Holocaust“ dar. Die Reflexionen kulminieren in der klassischen Frage, wie über Texte des Alten Testaments zu predigen ist. Hier finden sich sowohl Abschnitte in homiletischen Lehrbüchern wie der Predigtlehre Rudolf Bohrens als auch Einzeldarstellungen, so beispielsweise in Horst D. Preuß’ Monographie „Altes Testament in christlicher Predigt“ (s.u. IV. 2.3). Homiletisch-praktisch ausgerichtete Entwürfe, die ausschließlich der Thematik 168
gewidmet sind, finden sich kaum. Ausnahmen sind das Buch Axel Deneckes „Als Christ in der Judenschule“ (s.u. V. 4.1), Gerhard Raus Aufsatz „Die antijüdische Predigt“ und die Untersuchung von Christoph D. Müller zum Predigtklischee Pharisäer (s.u. V. 3.2). Schließlich gibt es einige Untersuchungen, die sich der bestehenden Predigtpraxis zuwenden. Hier sind die Arbeiten Adam Weyers (s.u. V. 3.1) und Helmut Baries (s.u. V. 3.3) aus dem Jahre 1988 zu nennen. Abgerundet werden soll die Darstellung durch das „homiletische Exerzitium“ von Kristlieb Adloff „Die Predigtwoche“ (s.u. V. 4.2). Adloff widmet sich eingehend der Frage nach der Bedeutung von Holocaust und christlich-jüdischem Verhältnis für die Predigt. Die Darstellung des Materials lehnt sich an die historische Entwicklung an. Am Ende jeder historischen Phase werden Predigtmeditationen dieser Zeit vorgestellt, die das historisch-systematische Bild ergänzen bzw. korrigieren. Als repräsentative Grundlage werden die „Göttinger Predigtmeditationen“ herangezogen. Sie sind noch immer die verbreitetste Vorbereitungshilfe für Predigende und zudem die einzige Reihe, die kontinuierlich im untersuchten Zeitraum erschienen ist. Es werden ausschließlich Meditationen zum Israelsonntag (10. nach Trinitatis), dem „Kasus-Sonntag“ der Thematik, herangezogen. Auffallend bei der historischen Sichtung des Materials ist, dass zwei Drittel der genannten Beiträge aus den Jahren nach 1980 stammen. Die Aufgabe einer Theologie nach dem Holocaust ist lange Zeit nicht in ihrer praktisch-theologischen Dimension reflektiert worden. Die Zunahme der verschiedenen Formen von Gedenkveranstaltungen und Gottesdiensten sowie das Anwachsen theoretischer Überlegungen zeugen davon, dass die Thematik ihren praktisch-theologischen Ort inzwischen gefunden hat. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowie mit dem Gegenüber Judentum ist im Rahmen der protestantischen Theologie in Deutschland mit zwei Einrichtungen verbunden, an denen kirchliche und wissenschaftliche Bemühungen miteinander verwoben sind. Auf der einen Seite steht der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) mit der „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen“, auf der anderen Seite die Studienkommissionen der EKD und ihrer Gliedkirchen. Zwei Ereignisse verdienen bei einem Bericht über die Geschichte des christlich-jüdischen Gesprächs nach 1945 besonderer Erwähnung: Zum einen der DEKT von 1961 in Berlin, auf dem erstmals „der christlichen Gemeinde durch einen 1 Rabbiner das Selbstverständnis der jüdischen Gemeinde dargelegt“ wurde. Dieser Kirchentag brachte die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft Juden 2 und Christen“ mit sich. Zum zweiten der Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ der Rheinischen Landessy1 D. GOLDSCHMIDT/H. GOLLWITZER: Bund, 10. 2 Vgl. zum Gründungsablauf D. GOLDSCHMIDT: Arbeitsgemeinschaft, 608ff. Erster Vorsitzender der Arbeitsgruppe war H.J. Kraus. Jüdische Mitglieder waren: R.R. Geis, E. Reichmann, E.L. Ehrlich und S. Ben-Chorin.
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node aus dem Jahre 1980, dessen Inhalt zwar nicht unumstritten ist, dessen 3 nachhaltige Folgewirkungen aber unübersehbar sind. Seine Bedeutung erhält das Geschehen durch den Charakter der Synodalerklärung. Es handelt sich um einen „formellen Beschluss einer Synode, des höchsten und ver4 antwortlichsten Gremiums einer Kirche.“ Hierauf gründet das starke Echo „in der theologischen und kirchlichen Öffentlichkeit“, so Rolf Rendtorff, der erklärt: „Man kann sagen, dass erst seither das Verhältnis von Christen und Juden innerhalb der EKD zum Thema einer öffentlichen Diskussion 5 über den Kreis der ‚Experten‘ hinaus geworden ist.“ Der Kirchentag 1961 und die Erklärung der Rheinischen Synode 1980 bilden die Eckpfeiler eines Drei-Phasen-Modells, das zuletzt von Birte Petersen dargestellt wurde. Mit marginalen Variationen kann es als konsensfähig bei der Einteilung der Geschichte der christlich-jüdischen Verständigung seit 1945 gelten: 1. Die Nachkriegsphase: Moralische Betroffenheit 2. Neuansätze in den 1960er Jahren: Beginnender Dialog mit dem Judentum 6 3. Seit Beginn der 1980er Jahre: Konfessorische Phase. An diesen drei Phasen werde ich mich bei der Analyse des Materials orientieren. Mit dieser historisch orientierten Vorgehensweise ist die Hypothese eines homiletischen Lernprozesses verbunden. Am Ende eines jeden Kapitels soll nach den Veränderungen bei der Wahrnehmung des Judentums – im Sinne eines bewahrenden Gedenkens – gefragt werden.
3 Der Beschluss ist abgedruckt u.a. in: B. KLAPPERT/H. STARCK: Umkehr, 264– 266. Verbindungen zwischen den Ereignissen Kirchentag 1961 und Synodalbeschluss 1980 werden öfter gezogen, vgl. z.B. H. KREMERS: Weg, 7. 4 R. RENDTORFF: Volk, 71. 5 A.a.O., 72. In dem formellen Charakter der Rheinischen Synodalerklärung ist auch begründet, dass ihre Verabschiedung öfter in einem Zuge mit dem herausragenden Ereignis auf katholischer Seite genannt wird, der Erklärung „Nostra Aetate“ Art. 4, des II Vatikanischen Konzils vom Oktober 1965; vgl. J.T. PAWLIKOWSKI: Judentum, 391. Literatur zum Synodalbeschluss bei T. KRIENER: Bibliographie, 287–299. 6 B. PETERSEN: Theologie, 34, die sich auf Modelle von R. Rendtorff und E. Bethge beruft. In vier Phasen unterteilen J.B. METZ: Juden, 385 und H.H. HENRIX: Dialog, 71. E. VOLKMANN: Judensonntag, unterteilt dagegen: „Nachkriegszeit“, „1960er Jahre“, „1970er und 1980er Jahre“ und „1990er Jahre“. Die damit einhergehende Nivellierung der Bedeutung des rheinischen Synodalbeschlusses ist für mich nicht nachvollziehbar. Die Einteilung „1990er Jahre“ scheint mir schwierig, weil die notwendige Distanz zu einer Klassifikation der Position fehlt.
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1. Die erste Phase – Moralische Herausforderungen 1.1 Allgemeine Entwicklung im christlich-jüdischen Verhältnis: Schuld und Mission Die erste Phase ist geprägt von Schuldbekenntnissen verschiedenster Art, von der Stuttgarter Schulderklärung 1945, die die Judenvernichtung nicht 7 erwähnt, aber wohl „intentional [...] einschließen sollte“, bis zu dem konkreten, in entscheidenden Passagen allerdings passivisch formulierten Schuldbekenntnis der Synode der EKiD in Berlin-Weißensee aus dem Jahre 8 1950. Wichtigstes Thema ist das Bekennen der eigenen Schuld sowie der Kampf gegen den Antisemitismus. So erklärt die Synode von Weißensee: „Wir bitten alle Christen, sich von jedem Antisemitismus loszusagen und ihm, wo er sich neu regt, mit Ernst zu widerstehen und den Juden und Ju9 denchristen in brüderlichem Geist zu begegnen.“ In den 1950er Jahren entsteht ein wachsendes Informationsbedürfnis, zu erfahren, „wer die Juden eigentlich sind, wie sie leben und beten, warum ihre Geschichte verlief, wie sie lief, wie sich die Kirchen, die Bekennende Kirche und die Ökumene 10 verhalten hatten.“ Dieses Informationsinteresse ist unterlegt von diffusem Wohlwollen, das, wie Johann Baptist Metz behauptet, „seinerseits wenig stabil und krisenfest ist, leicht anfällig und verdrängbar und das sich kaum Rechenschaft darüber gibt, dass solch diffuser Philosemitismus leicht eine 11 verkappte Form von Antisemitismus sein und bleiben kann.“ Mit diesem „diffusen Philosemitismus“ hängt das dritte beherrschende Thema dieser Phase zusammen: die Judenmission. Es scheint so, „als habe es“, wie Paul Gerhard Aring konstatiert, „im Missionsdenken – im ‚Sendungsbewusst12 sein‘ – des deutschen Protestantismus nach 1945 keinen Bruch gegeben.“ In nahezu allen protestantischen Dokumenten aus dieser Zeit findet sich der Topos, „dass das christliche Zeugnis für Israel eine dringende Aufgabe sei, und dass das Versagen der Christen gegenüber den Juden vor allem auch darin liege, dass man ihnen nicht eindrücklich genug und überzeu13 gend genug das Evangelium verkündigt habe.“ Man hält Judenmission für 14 den Ausdruck einer „geschuldeten Liebe“ zum Judentum, einer Liebe, die man – spätestens seit der Annahme des Arierparagraphen – in der Zeit des 7 E. BETHGE: Holocaust, 95. 8 „Wort zur Judenfrage vom April 1950“ der Synode der EKiD, in: R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 549. 9 R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 549; vgl. auch die Stellungnahme des ÖRK von 1946, abgedruckt in R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 327. 10 E. BETHGE: Holocaust, 96f. 11 J. B. METZ: Juden, 385; vgl. F. STERN: Philosemitismus, passim; s.o. III. 2. 12 P.G. ARING: Judenmission, 227. 13 R. RENDTORFF: Dialog, 43. 14 Vgl. z.B. H. SCHMIDT: Judenfrage, 34.
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Nationalsozialismus vernachlässigt habe. Es erscheint folgerichtig, dass sich eine Kirche, die bis 1933 eine Hinwendung zum Judentum selten anders als auf dem Weg der Mission gekannt hat, sich diesem Element wieder zuwendet. Judenmission ist gewissermaßen das Vehikel, sich mit Juden und Judentum zu beschäftigen. Für die erste Phase nach dem Krieg hat die Aktualität der Judenmission eine innere Logik, gerade in der ungebrochenen Form, in der Aring diesen Sachverhalt vorführt. Mit Rendtorff lässt sich resümieren: „Die Juden werden im wesentlichen unter den genannten Gesichtspunkten – der Schuld für die Schoa, des Kampfes gegen den Antisemitismus und der Judenmission – gesehen. Es gab sehr wenig jüdische Gesprächspartner, und es gab überhaupt keine neu16 en theologischen Denkansätze.“ Keine neuen Denkansätze, das heißt: Wiederaufnahme der Judenmission mit allen Stereotypen und Herabwürdigungen des Judentums in der sogenannten „Judenfrage“. In der Thematik der Judenmission zeigt sich, wie in dieser Phase Philojudaismus und Antijudaismus miteinander verzahnt sind. So erklärt Frank Stern: „Die von evangelischer Seite nach der Shoah unter überlebenden Juden betriebene Missionstätigkeit ist – auch angesichts der religiösen Not zahlreicher Juden, die in den ersten zwei Nachkriegsjahren nur zu oft auf keinen Gemeinderabbiner zurückgreifen konnten – als organisierter christlicher Antisemitis17 mus zu charakterisieren.“ Es sind pragmatische Gründe, die dazu führen, dass die Frage der Judenmission in den folgenden Jahren in den Hintergrund tritt: Es gibt kaum noch Juden in Deutschland. Über Mission im Gegenüber zum neu gegründeten Staat Israel zu sprechen erscheint wenig 18 opportun. Weder die zum Philojudaismus neigende Grundstimmung noch die Wiederaufnahme der Judenmission als christliche Aufgabe noch ihre stereotypen antijüdischen Begründungszusammenhänge schließen ein19 ander in der ersten Phase nach dem Holocaust aus. Zu einem ernsthaften Prüfstein wird das Thema Judenmission erst mit Beginn der zweiten Phase, deren Merkmal der Dialog mit jüdischen Gesprächspartnern ist.
15 Belege bei P.G. ARING: Judenmission, 227ff; vgl. E. KÜPPERS: Arbeitshilfe, 40ff. 46. 16 R. RENDTORFF: Dialog, 43. 17 F. STERN, Auschwitz: 278. 18 Vgl. P.G. ARING: Judenmission, 242, der kritischer formuliert: „Diese reaktivierte Judenmissionstheologie und Judenmissionspraxis entsprach (und entspricht) durchaus allgemeinen Denk- und Verhaltensweisen im deutschen Protestantismus nach 1945, wenn auch aus naheliegenden Gründen der in geistigen und politischen Umbruchzeiten immer – gerade auch in Deutschland! – vorhandene Opportunismus bis hin zu peinlichen Formen neuer Philosemitismen der Begriff der ‚Judenmission‘ in den einschlägigen Kreisen ebenso wie der breiteren kirchlichen Öffentlichkeit untertauchen ließ.“ 19 Vgl. das „Darmstädter Wort“ in: R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 541f; vgl. Beschluss zur Judenmission, a.a.O., 549f.
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1.2 Homiletische Entwicklung: Gewahrwerden von Antisemitismus Literatur in praktisch-theologischer oder homiletischer Absicht gibt es zum Thema Antisemitismus in dieser Phase, so weit ich sehe, nicht. Wenn von Verkündigung die Rede ist, ist nicht der Verkündigungsakt, die Predigt, gemeint, sondern die Verkündigung im prinzipiellen Sinne als nota ecclesiae. So taucht die so genannte „Judenfrage“ zwar in den Überlegungen zur 20 Lage der Kirche in ihrer Verkündigung auf, wird dabei aber nicht unter dem Aspekt der konkreten Predigtaufgabe behandelt. Eher am Rande findet sich eine Formulierung wie die Heinz Schmidts von „unserer Schuld als 21 Prediger.“ Tenor bleibt die generelle Forderung der „Verkündigung der 22 Christusbotschaft an Israel.“ Konstatiert wird in dieser Phase eine allgemeine Predigtnot für die Jahre zuvor. Es gibt nachdrückliche Bemühungen, „eine neue Predigttheorie als 23 Anleitung zum guten Predigen zu entwickeln.“ Soweit es um konkrete Verwerfungen geht, stehen die Ereignisse des Krieges und der militärischen und politischen Niederlage im Vordergrund. Im Blick auf die politischmoralische Katastrophe wird eine Predigtschuld benannt und zur Predigtumkehr aufgefordert. So erklärt Gunter Dehn 1946: „Es muss jetzt wiederum politisch gepredigt werden zur Bekehrung der Verstockten, Ressentimenterfüllten, Hartgesottenen, die ja nun zu gleicher Zeit so betont kirchlich sind und unter unseren Kanzeln sitzen, damit sie endlich begreifen, dass es so, wie es bisher gegangen ist, nun einfach nicht mehr weitergehen darf, wenn wir nicht Gottes Zorn ganz und gar auf uns herabziehen wollen. Es darf die alte christlich-nationale Predigt unter uns nicht mehr 24 ertönen.“ Erstaunlich ist, dass die Verwerfungen der nationalsozialistischen Ära nicht in den Blick geraten, wo es um die Formen der alttestamentlichen Predigt geht. Hier wird lediglich vor allzu simplifizierenden Identifizierungen gewarnt, wobei die so genannte Substitution, die Verdrängung Israels 25 durch die christliche Gemeinde, außer Frage zu stehen scheint. Es gibt eine Untersuchung, die aus dieser allgemeinen Tendenz herausfällt. Sie stammt aus dem nichttheologischen Bereich und widmet sich der Problematik auf indirektem Wege. Ino Arndt hat als Historikerin Ende der 1950er Jahre eine Untersuchung zum Thema „Die Judenfrage im Lichte der evangelischen Sonntagsblätter von 1918–1933“ durchgeführt. Sie hat zunächst einen Beitrag zur Geschichte der evangelischen Publizistik leisten wollen. Die Sonntagsblätter bestehen jedoch ihrem Selbst- wie ihrem Fremdverständnis nach zu einem nicht unerheblichen Teil aus geistlichen 20 21 22 23 24 25
Vgl. H. SCHMIDT: Judenfrage, passim; vgl. H.A. HESSE: Judenfrage, passim. H. SCHMIDT: Judenfrage, 57. H. SCHMIDT: Judenfrage, 59; vgl. auch G. JASPER: Pfarramt, 776f. A. WEYER: Neuanfang, 166. G. DEHN: Predigt, 36f. Vgl. z.B. J. SCHIEDER: Predigt, 72f.
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Beiträgen. Deshalb kann Arndts Untersuchung als Beitrag zum Thema angesehen werden. Ihr Untersuchungsergebnis lautet: „Festzuhalten ist also eine starke Mitverantwortlichkeit – um nicht zu sagen Mitschuld – der evangelischen Publizistik an der Bereitung des Bodens, auf dem die nationalsozialistische Ideologie aufgehen konnte, ihr Versäumnis, rechtzeitig eine klare Stellung zu beziehen, ihre Anfälligkeit den nationalsozialistischen Ideen gegenüber und ihr Denken schließlich in dem engen Rahmen des deutschen und christlichen Nationalsozialismus. Dadurch stempelte sie zwangsläufig die Juden in Deutschland zu einer artfremden, nicht nationalen Minderheit, zu einer minderen, degenerierten Rasse und zeichnete so mit zunehmend schärferen Konturen ein Zerrbild des Judentums, das in der Vorstellung der vielen Leser der Sonntagsblätter haften blieb, sodass der Nationalsozialismus ohne Frage in vielen Fällen 26 keine erheblichen ethischen Widerstände mehr fand.“
1.3 Göttinger Predigtmeditationen – Korrektiv und Innovation Da in dieser Phase keine ausgeführten homiletischen Theorieentwürfe vorliegen, kommt den Predigtmeditationen eine besondere Bedeutung zu. Als Aufweis theologischer Theorie in praktischer Absicht ermöglichen sie an der Schnittstelle der Predigtvorbereitung einen Einblick in vorhandene Theorievorstellungen sowie deren praktische Intentionen. a) Bestandsaufnahme Unter den 13 Göttinger Predigtmeditationen zwischen 1947/1948 und 1960/1961 zum 10. Sonntag nach Trinitatis sind in den frühen Jahren mehrere der Bußthematik gewidmet. Es wird dabei, wenn auch in allgemeiner Form, der Kasus des Sonntags aufgenommen. So erklärt Robert Frick 1949/50 im Blick auf Lk 19,41–48: „Martin Luther hat sich nicht gescheut, dies Gerichtswort über Israel direkt und ausdrücklich auf das deutsche Volk anzuwenden. Israel hat die Stunde seiner Heimsuchung versäumt. Lasst uns wachen, dass wir nicht in die gleiche Verdammnis fallen! Diese Warnung ergeht zuerst und vor allem an die 27 Gemeinde.“ In der Sache analog, in den Worten deutlicher formuliert H.P.Ehrenberg zwei Jahre später in seiner Auslegung zu Mt 23,34-39: „Mit dem gerechten Blut, das vergossen ist, sind wir alle ‚mit drin‘. Wir sind die Sünde der Welt! Aber so schwer ist das zu verstehen, wenn man noch ein wenig moralisch und nicht pneumatisch gesinnt ist, dass man den Ruf, der Deutsche sollte nun, um seine Buße ganz ernst zu nehmen, Buße wegen seiner Sünde gegen sich selber tun, nicht erfasste, noch heute kaum. [...]
26 I. ARNDT: Judenfrage, 221. 27 R. FRICK: GPM 1949/50, 226.
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Wir sind die Sünde der Welt, das ist unser Kollektivschuldbekenntnis; ein 28 anderes darf es nicht geben.“ Die Thematik Schuld und Buße kommt hier allgemein in den Blick, ohne dass Auswirkungen auf das Verhältnis zu Israel formuliert würden. Erst in den späten 1950er Jahren wird dieses Verhältnis selbst thematisiert. Dabei gerät zunächst das Problem des Antisemitismus in den Mittelpunkt der Auslegung. Walther Fürst weist im Blick auf den Predigttext Apg 13,42–52 auf diese Problematik hin. Er konzediert: „Soll der Text am 10. Trinitatissonntag 1958 gepredigt werden, dann wird es einiger Umsicht bedürfen, um solche Tendenz [sc.: Unglaubwürdigkeit und Verkehrtheit der Juden herauszustellen, Christen dagegen als unschuldig hinzustellen; CS] nicht 29 kurzschlüssig zu übernehmen.“ Eine solche Übernahme käme, so Fürst, „nur zu leicht den antisemitischen Stimmungen und Affekten entgegen, die heute durchaus nicht ausgestorben, sondern in einem beschämenden und 30 erschreckenden Maß lebendig sind.“ Hier wird erstmals im praktischtheologischen Kontext das Problem antijüdischer Auslegung und unbewusster Weitergabe einer solchen Auslegung in der Predigt reflektiert. Die im Hintergrund stehende Frage nach dem Umgang mit entsprechenden neutestamentlichen Texten wird nicht ausdrücklich thematisiert. Das Problem wird in zweierlei Weise gelöst: Zum einen wird auf den Holocaust verwiesen, auf dessen Hintergrund sich Antisemitismus in jeder Form verbietet und theologisch als Sünde zu qualifizieren ist: „Auch unreflektierte Animosität gegen die Juden ist heute nach Auschwitz und Theresienstadt nicht mehr harmlos noch erträglich; schon sie bedeutet Verspielen der Gnade 31 und Anschlag auf das eigene ewige Leben.“ Zum anderen wird Sachkritik am Text geübt, durch die eine antijüdische Auslegung gegen sich selbst gewendet wird. Der Text dürfe nicht Antijudaismus transportieren, durch ihn müsse Antijudaismus verurteilt werden: „Antisemitismus in jeder Form stellt das Judaisieren dar, das im Text aufs Korn genommen wird. Es ist der Brudermord Kains, der als Selbstmord die eigene Existenz an der Wurzel bedroht und entleert. Der Text wird es dem Prediger kaum ersparen, das in aller Deutlichkeit zusagen. Es ist in sich selbst, wie oben gezeigt, Korrektiv 32 genug gegen diese Verirrung, und als solches muss er zu Wort kommen.“ Abschließend benutzt Fürst eine für seine Zeit erstaunliche theologische Denkfigur, die als Raster für die gesamte Auslegung dienen soll: „Die Überlegung, dass Israels Versagen der Preis ist, um den wir Heidenchristen zu Christus kommen konnten, muss die üblichen und üblen Anklagen gegen 33 die Juden aus christlichem Mund im Keim ersticken.“ Hier wird die theologische Figur eines „jüdischen Nein um unseretwillen“, wie sie später bei 28 29 30 31 32 33
H. P. EHRENBERG: GPM 1951/52, 187. W. FÜRST: GPM 1957/58, 211. Ebd. Ebd. A.a.O., 211f. A.a.O., 212.
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Marquardt formuliert wird, vorweggenommen. Mit dieser Denkfigur wird theologischer Antijudaismus explizit ins Visier genommen. Wesentliche Elemente späterer Überlegungen zur homiletischen Problematik werden demnach formuliert, aber es entsteht bisweilen der Eindruck, dass diese Elemente in ihrer systematisch-theologischen und praktischtheologischen Tragweite noch nicht voll erfasst sind. So werden in altbekannter Weise das „Judaisieren“ oder die „Synagoge“ als Synonyme, gleichsam als Symbole für „den falschen Weg“ verwendet. Fürst: „Man predige also nicht gegen die Juden in Antiochien und anderswo, sondern man achte auf die Hilfe, die der Text der Gemeinde gibt, dass sie nicht zur Synagoge 34 werde.“ Der Weg einer symbolischen Exegese, wie er sich hier andeutet, ist ein problematischer Umgang mit Antijudaismus. An dieser Stelle zeigt sich, dass zwar die Herabwürdigung des jüdischen Gegenübers wahrgenommen wird. Das Gegenüber aber bleibt Objekt innerhalb der eigenen Theorie. Der Systematiker Karl Gerhard Steck weist in seinen Predigtmeditationen 1958/59 sowie 1960/61 auf die homiletische Problematik einer Auslegung am 10. Sonntag nach Trinitatis hin. 1958/59 richtet er bei der Auslegung des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33ff) den Blick auf die protestantische Auslegungsgeschichte bei der Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge. Dabei erklärt Steck zunächst allgemein: „Nun ist diese Gegenüberstellung ebenso unvermeidlich wie gefährlich. Sie war es immer, wie das ganze oft höchst bedrückende Gespräch zwischen Kirche und Synagoge beweist. Auch Luthers Beitrag dazu ist alles andere als ein35 deutig vorbildlich und heilsam.“ Die neuere und neueste Geschichte spielt für Steck in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle: „Und wenn wir heute, im tiefen Schatten der Geschehnisse nach 1933, aber auch nach der Gründung des Staates Israel 1948 und angesichts der Bemühungen, in der Breite und Tiefe dem Verhältnis von Kirche und Synagoge in der Gegenwart von neuem auf die Spur zu kommen, das Thema des 10. p. Trin., ganz gewiss das Thema unseres Gleichnisses, in der Predigt aufnehmen und ent36 falten, so nicht ohne Zittern und Zagen.“ Zittern und Zagen sollen dabei vor der Selbsttäuschung einer allzu selbstgefälligen oder allzu selbstbewussten Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge bewahren, mit anderen Worten: vor jedweder Form von christlichem Triumphalismus. Als besonders problematisch sieht er den Beitrag Adolf Schlatters, aus dessen Überschrift die triumphale Abwertung des jüdischen Gegenübers spreche: „A. Schlatters Überschrift über seinen an sich sehr wertvollen Beitrag zur Auslegung des Textes, die ich oben zitierte (A. Schlatter: „Wer soll geehrt werden, der Jude oder Gott?“), war nicht nur im Jahr 1938, sondern wäre auch heute eine beachtliche Fehlleistung. Es spricht für die Echtheit J.T. Becks, dass er seine ganze Predigt unter den Titel stellt: ‚Gegen die Selbsttäu34 Ebd. 35 K.G. STECK: GPM 1958/59, 207. 36 Ebd.
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schung‘, und dass er jede selbstgefällige oder auch nur selbstbewusste Ge37 genüberstellung von Kirche und Synagoge zu vermeiden weiß.“ Für Steck ist die „fatale Überschrift Schlatters“ eine Warnung vor Instrumentalisierung oder Funktionalisierung des jüdischen Gegenübers. Man solle sich davor hüten, „die an diesem Sonntag unvermeidliche Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge zu missbrauchen oder so missverständlich auszudrücken, dass des Paulus Warnung und Mahnung vergessen wird: Sei nicht 38 stolz, sondern fürchte dich (Röm 11,20).“ Die Intention der Textstelle Mt 21,33–45 wird entsprechend kirchenkritisch gewendet, wobei – hier deutet sich Sachkritik an – „auf die im Text liegende ‚heilsgeschichtliche‘ Systematik“ verzichtet werden müsse. Die gleiche kirchenkritische Wendung entfaltet Steck bei der Auslegung der Perikope Lk 19,41–48 zwei Jahre später: „Aber das Geschehen zwischen Jerusalem und Jesus soll wirklich wie ein Spiegel benutzt, d.h. nicht in sich und als solches betrachtet werden, sondern der Selbsterkenntnis der Christenheit und nur ihr dienen. Denn das Israel in der Zerstreuung ist inzwischen zum offenkundigsten Kreuzträger geworden und hat eben das auferlegt bekommen, was Jesus von seinen Jüngern verlangt und erwartet. Die Christenheit aber hat oft genug das Passionsgeschehen dazu benutzt, um das Israel in der Zerstreuung zu schmähen und zu plagen. Die Rollen sind vertauscht worden, wofür wir uns kaum auf das Neue Testament berufen 39 können.“ Wiederum wird eine Funktionalisierung des Textes im Sinne christlicher Heilsgewissheit und christlichen Triumphalismus über die Juden abgelehnt. Erneut weist Steck auf die Umkehrung der Verhältnisse zwischen Juden und Christen im Laufe der Geschichte hin. Die Verkehrung der an dieser Stelle anvisierten Rollenzuschreibung von Erwählten und Verworfenen – für Steck ist aus dem verworfenen Israel als dem „offenkundigen Kreuzträger“ der erwählte Christusnachfolger geworden, aus den erwählten Jüngern sind die verworfenen Verweigerer einer wahren Nachfolge geworden – lässt sich mit Hilfe der Barthschen Erwählungslehre als christologische Spitze des Textes deutlich machen. Im Blick auf diesen Rollentausch werde, so Steck, „K. Barths Erkenntnis besonders wichtig und hilfreich, wenn er Erwählung und Verwerfung Israels aus ihrer Isolierung löst und zum Spiegelbild dessen macht, was dem ewigen Wesen nach Jesus als 40 der Erwählte und Verworfene selbst ist, leidet und tut.“ Hieraus folge: „Nur Jesus selbst kann zu Jerusalem so sprechen, wie es hier bezeugt wird; die Christenheit und also auch wir als Prediger werden gut daran tun, nicht 41 in die Rolle des prophetischen Jesus zu schlüpfen.“ Für eine Einordnung dieser Meditation Stecks bedeutet das: Die homiletische Problematik im Gegenüber zum Judentum wird christologisch veror37 38 39 40 41
Ebd. A.a.O., 208. K.G. STECK: GPM 1960/61, 231. Ebd. Ebd.
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tet. Steck ist in seinem Bemühen, eine theologische Qualifizierung der Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge auf dem Hintergrund der jüngsten Geschichte zu erreichen, seiner Zeit weit voraus. b) Auswertung Die Predigtmeditationen der ersten Phase bestätigen die an Hand der allgemeinen Theoriebildung gemachten Beobachtungen: Die Schuldthematik spielt nur in einem sehr allgemeinen Sinn eine Rolle, die Frage der Judenmission kommt in der homiletisch-praktischen Orientierung nicht zu Wort. Dennoch: Bedingt durch den Kasus Israelsonntag und die damit verbundene Lenkung der Auslegung der biblischen Texte wird der Blick auf Israel und auf die jüngste, katastrophale christlich-jüdische Vergangenheit gerichtet. In diesem Zusammenhang kommt es zu bemerkenswerten Entwürfen. Sie diskutieren die Frage des christlichen Antijudaismus theologisch. Sie entlarven Antijudaismus als eine Weise christlicher Funktionalisierung des jüdischen Gegenübers. Diese Entdeckung wird in selbstkritischer Weise auf die christliche Kirche gewendet. Die Wahrnehmung antijüdischer Einstellungen bedingt dabei nicht automatisch eine Wahrnehmung des Gegenübers Judentum. Die Frage des Umgangs mit Antijudaismus wird einerseits symbolisch, andererseits christologisch-erwählungstheologisch aufgehoben und so zum Spezialfall einer allgemeineren Problematik gemacht. Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers im Gespräch, wie sie sich in der zweiten Phase vollzieht, ist nicht im Blick. Es bleibt zu betonen, dass die Überlegungen zur homiletischen Problematik und ihre Lösungsansätze beachtliches innovatives Potential zeigen, das sich in der Theoriebildung dieser Zeit nicht abgezeichnet hatte. 2. Die zweite Phase: Dialogische Herausforderungen 2.1 Entwicklung im christlich-jüdischen Verhältnis: Gespräch statt Mission Die zweite Phase ist mit der von Petersen gewählten Überschrift „Neuansät42 ze in den 60er Jahren: Beginnender Dialog mit dem Judentum“ treffend charakterisiert. Eberhard Bethge nennt diese Zeit die „dialogische Phase“. Der Neuansatz ist zuallererst der Dialog, das Gespräch mit Juden, dessen Bedeutung Bethge so beschreibt: „Nun wurde nicht mehr in ihrer Abwesenheit über die Juden, sondern mit ihnen geredet, wurde hier und da sogar versucht, sie nicht mehr zu definieren, ohne sie selbst zu hören. Nun wurde die Voraussetzung akzeptiert, dass man in den Dialog eintrat, ohne das sog. 42 B. PETERSEN: Theologie, 35; vgl. auch R. RENDTORFF: Dialog, 46ff.
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Judenproblem noch mit der Taufe lösen zu wollen.“ Auf diesem Hintergrund hat der Übergang zur zweiten Phase viel mit dem bereits in der ersten Phase virulenten Thema der Judenmission zu tun. Der Dialog wird als Absage an die Mission in der Begegnung mit Juden verstanden. Das schließt einzelne Übertritte nicht aus. Nur sind sie nicht mehr das erklärte (oder heimliche) Ziel des christlich-jüdischen Gesprächs. Hans Hermann Henrix: 44 „Die Absicht der Proselytenmacherei ist im Dialog ausgeschlossen.“ Vor diesem Horizont wird die Heftigkeit des sogenannten „Purim-Streits“ in der 45 Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim DEKT 1964 verständlich. Es geht um die Durchsetzung jener fundamentalen Wende in der Form christlicher Auseinandersetzung mit dem Judentum: Nicht mehr Gespräch zur Mission, sondern Gespräch statt Mission. Diese Wende hatte sich zwar beim Kirchentag 1961 in Berlin angekündigt, war aber noch keineswegs etabliert. Die Krise innerhalb der AG, eingeleitet durch massive Kritik von Vertretern der Judenmission an der Arbeit der AG, wird schließlich durch eine Trennung von den Vertretern der Judenmission überwunden. In Gollwitzers Rückblick wird der Kern der Problematik deutlich: „Ganz anders wurde die Judenmission auf jüdischer Seite gesehen. Die Bestrebungen, die Juden für das Christentum zu gewinnen, konnten nur als Ausdruck der gleichen Haltung verstanden werden, mit der ihnen die christianisierten Völker von jeher begegnet waren. Der Jude als Jude soll nicht sein. Er soll nicht anders sein als die anderen, er soll werden wie die anderen. Ob die Ausrottungspolitik der Nazis oder das Christuszeugnis der Judenmission, alles zielte auf das Verschwinden des Judentums. [...] Den Judenmissionaren war nicht zu glauben, dass sie ihnen aufrichtig aus ‚Sorge um das Heil Israel‘ wohl wollten. Man 46 sah nur, dass etwas genommen werden sollte: das Jude-sein.“ Erst durch den Protest von jüdischer Seite setzt sich durch, was forthin unter christlich-jüdischem Gespräch verstanden werden soll: Ein Gespräch, in dem das Ziel nicht die Bekehrung des Gegenübers zu eigenen Positionen ist, auch nicht, wenn es sich um die scheinbar wohlmeinendsten Absichten bei der Bekehrung handeln sollte.
Die Themen, auf die sich der dialogische Austausch bezieht, sind vielfältig. Keine theologische Disziplin und kaum eine dogmatische Wendung bleiben im Dialog ausgeklammert. In dieser thematischen Breite zeigt sich: Christlich-jüdisches Gespräch ist eine eigene Zugangsweise zu den Themen der Kirche, der Theologie und der Zeit. Dabei gibt es zentrale Fragestellungen in der Diskussion, deren Plausibilität für ihre dialogische Betrachtung unabweisbar sind wie z.B. das christliche Verhältnis zum Alten Testament. Das Zentrum der Diskurse ist das Jude-sein Jesu in seiner Bedeutung für Judentum und Christentum. Zum einen, weil hier die Verbundenheit von Christentum und Judentum begründet ist. Zum anderen, weil christliche Theologie in einem übergreifenden Sinne christozentrisch ist. Das Jude-sein 43 E. BETHGE: Holocaust, 97. 44 H.H. HENRIX: Dialog, 71. 45 Vgl. die Dokumentation der Auseinandersetzung in: D. GOLDSCHMIDT: Leiden, 225–275. 46 Ebd.
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Jesu und der daraus resultierende christliche Bezug zum Judentum strahlen auf jedes einzelne Thema christlicher Theologie aus. Die christlich-jüdisch geprägten, theologischen Auseinandersetzungen bleiben in dieser Zeit nicht auf Außenseiter theologischer Wissenschaft beschränkt. Allein die Dialoge des Juden Pinchas Lapide mit evangelischen und katholischen Theologen des deutschsprachigen Raumes, die zwischen 1976 und 1981 in Buchform erschienen sind, zeugen von dem Stellenwert, den die dialogische Beschäftigung mit dem Judentum als gegenwärtigem Gegenüber bekommt. Evangelische Neutestamentler wie Ulrich Luz, Peter Stuhlmacher und Ulrich Wilckens, Systematiker wie Helmut Gollwitzer, Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg nehmen an diesem Gespräch teil; daneben die nicht weniger bekannten katholischen Theologen Hans Küng und Franz Mussner. Die große Zahl von Gesprächen mit Lapide dokumentiert ein wiederholt benanntes Dilemma des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland nach 1945: Jüdische Gesprächspartner gibt es aus naheliegenden Gründen nur wenige. Daneben ist nicht zu übersehen, dass die am Gespräch beteiligten Personen vornehmlich jener Generation entstammen, die die Zeit des Nationalsozialismus als Wendepunkt ihres Lebens erfahren hat. Aus dieser Erfahrung heraus nehmen sie das christlichjüdische Gespräch auf. Die dialogische Phase ist in dieser Hinsicht nicht nur eine Zeit der systematisch-theologischen Reflexionen, sondern zugleich geprägt von den Erfahrungen der Vergangenheit, von Fragen der Schuld und von der Erinnerung an die zurückliegenden Schrecken. Im Blick auf die persönliche, biographische Aufarbeitung haben die Ausstrahlung des Films „Holocaust“ 1978 und der 40. Jahrestag der Reichspogromnacht eine Wende bewirkt. Eine breitere, intensivere Beschäftigung mit 47 der Vergangenheit wurde angestoßen. Gunter Bernd Ginzel schreibt 1979: „Der Durchbruch des christlich-jüdischen Dialogs erfolgte im November 1978. Seit den Veranstaltungen anlässlich der vierzigsten Wiederkehr des Novemberpogroms, der ‚Reichskristallnacht‘, ist der christlich-jüdische Dialog nicht mehr auf die Ebene der Akademietagungen und der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit beschränkt, sondern wird verstärkt in den Kirchengemeinden und Schulen praktiziert. Der Fernsehfilm ‚Holocaust‘ hat dieses Interesse, insbesondere junger Menschen, an jüdi48 scher Geschichte, Religion etc. noch verstärkt.“ Die umfangreiche persönliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit ist als ein Merkmal dieser zweiten Phase anzusehen. Ein weiteres Merkmal ist geradezu als Kennzeichen einer sich langsam etablierenden Denkrichtung zu verstehen: Man entdeckt die Geschichte für sich neu, erkennt, dass bestimmte Gedanken vergessen wurden und „nur“ neu erinnert werden müssen. Konkret: Man entdeckt in dieser Zeit die Ge47 Zur Bedeutung der Spanne von 40 Jahren im kommunikativen Gedächtnis s.o. I. 2. 48 G.B. GINZEL: Christen, 246f.
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schichte des jüdisch-christlichen Gespräches und man erinnert sie als eine vergessene Geschichte. Im Sinne Lachmannscher Theorie beginnt die Resemiotisierung (s.o. I. 2) der inaktiv gewordenen „Zeichen“ des christlichjüdischen Austausches. Den Anfang macht das im Jahr 1961 erscheinende Buch von Wolf-Dieter Marsch und Karl Thieme „Christen und Juden. Ihr Gegenüber vom Apostelkonzil bis heute“, das sich – im Bewusstsein, nicht 49 unbescheiden zu sein – eine „Revision des Geschichtsbildes“ zum Ziel setzt. In den Jahren 1968 bis 1970 folgt das umfängliche „Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden“ unter dem Titel „Kirche und Synagoge“, herausgegeben von Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch. Ursprünglich sollte es eine kleine Auftragsarbeit im Dienste der EKD werden, mit dem Ziel, „für die evangelischen Gemeinden eine 50 kurze ‚Handreichung‘ über den Antisemitismus“ zu erstellen. Entstanden ist „der erste Versuch, alle Teile der Christenheit in ihrer Begegnung mit 51 dem Judentum durch die Zeiten hin darzustellen.“ Der Grund für diesen Umschwung in der Zielorientierung liegt in der anvisierten Revision der Geschichtsbildes: Alle Facetten jüdisch-christlicher Auseinandersetzung sollen gezeigt werden, gerade auch jene hellen Seiten, die in Vergessenheit geraten waren. Die sich aus der umfassenderen Perspektive neu öffnende Geschichte bietet Anknüpfungsmöglichkeiten für gegenwärtige Begegnungen. Begegnungen stehen im Zentrum des Buches von Hans-Joachim Kraus und Robert R. Geis, die zwei Jahre nach dem „Purim-Streit“ um die Judenmission gemeinsam die „Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918–1933“ unter der Überschrift „Versuche des Verstehens“ herausgeben. Die Herausgeber erklären im Vorwort: „Wer heute aufs neue Versuche des Verstehens wagt, wird der Gesprächspartner der Jahre 1918– 1933 nicht entraten können. Ihr Bemühen, sei es auch mitunter monologisch und verkrampft, erheischt Aufmerksamkeit, warnt, mahnt, lehrt und 52 gibt Fingerzeige. Darum wurden die Dokumente zusammengestellt.“ Mochte es 1961 auf dem Kirchentag noch so aussehen, als täte man im Dialog mit dem Judentum etwas ganz und gar Neues, so ist man sich 1966 der Tradition bewusst, in der man steht. Die Aporien des christlich-jüdischen Gesprächs zeigen sich im Inhalt und in den verschiedenen Auflagen des Buches „Jüdisch-christliches Religionsgespräch in 53 neunzehn Jahrhunderten“ von Hans Joachim Schoeps. Es erscheint nach 1937 und 1949 im Jahre 1961 in dritter Auflage. Die Geschichte der verschiedenen Auflagen ist kennzeichnend für die verschiedenen Phasen und ihre Übergänge. Als Schoeps das Buch schreibt, ist er 27, die Nationalsozialisten sind seit vier Jahren an der Macht. 1937 erscheint das Buch deshalb „unter Ausschluss der Öf49 W. MARSCH/K. THIEME: Begegnung, 10. 50 K.H. RENGSTORF/S. v. KORTZFLEISCH: Kirche, 17. 51 A.a.O., 18. 52 R.R. GEIS/H.J. KRAUS: Versuche, 7. 53 H.J. SCHOEPS: Jüdisch-christliches Religionsgespräch in neunzehn Jahrhunderten, 2 1 München/Frankfurt a.M. 1961 ( 1949; 1937).
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fentlichkeit, denn die damaligen Machthaber ließen nicht zu, dass es anders als in 54 jüdischen Buchhandlungen und an Juden verkauft werden durfte.“ Als Schoeps es 1949 erneut auflegen lässt, vermerkt er einleitend: „Ich habe die Widmung dieses Buches für die neue Auflage erweitern müssen, da mein Vater in dem Konzentrationslager Theresienstadt am 27. Dezember 1942 verstorben und meine Mutter im Juni 1944 in Auschwitz vergast worden ist. Angesichts dieser Erfahrung frage ich mich heute, ob nicht die Zeit der Religionsgespräche überhaupt 55 vorüber ist und mit diesen sinnlosen Ausrottungen ganz etwas Anderes beginnt.“ Die zweite Auflage verschwindet bald in der Versenkung. Erst 1961 findet das Buch ein gebührendes Echo. Es scheint sich ein Bewusstsein für das einzustellen, was Schoeps schon 1937 an das Ende seiner Geschichtsdarstellung setzte: die Gemeinsamkeit von Judentum und Christentum in ihrer Erwartung des Kommenden: „Beide [sc.: Judentum und Christentum; CS] eint eine gemeinsame Erwartung, dass das Eigentliche, das wir nicht kennen, das wir nur ahnen können, erst noch kommen wird, in jener Stunde, da sich der Anfang verschlingt in das 56 Ende.“ Als das Buch 1984 in seiner Fassung der dritten Auflage nachgedruckt wird, ist Schoeps seit vier Jahren tot. Die Themen der Auseinandersetzung haben sich gewandelt, nicht aber die Einschätzung des Buches von Schoeps, von dem 57 Edna Brocke erklärt, dass „es seiner Zeit mehr als einmal voraus war.“ Die Lektüre erscheint Anfang der 1980er Jahre, zu Beginn der sogenannten konfessorischen Phase, besonders angezeigt, weil nach einer Phase bisweilen euphorischen 58 Dialogisierens das „Bekenntnisbuch eines Siebenundzwanzigjährigen“ nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern in aller Klarheit auch die Unterschiede benennt. „Indem das unbekannt gewordene Zeugnis der Jahrhunderte zur Kenntnis unserer Tage gebracht wird, tritt deutlich hervor, dass das Judentum heute so wenig wie in früheren Epochen seiner Geschichte in der Lage ist, irgendetwas Einmaliges als die endgültige Offenbarung Gottes anzunehmen. Somit ist die Unterschiedlichkeit des jüdischen und des christlichen Weges durch die Weltgeschichte von vorn 59 herein gegeben.“
2.2 Homiletische Entwicklung: (Wieder-) Entdeckung des Judentums In der zweiten Phase stoßen wir – wie in der ersten – nur selten auf systematisch-homiletische Reflexionen oder praktisch-theologische Überlegun60 gen im engeren Sinne. Dieser Zurückhaltung in der theoretischen Erfassung des Gegenstandes steht eine zunehmend dialogische Praxis gegenüber. Zu ihr gehören die auf Kirchentagen von Juden und Christen gemeinsam 54 H.J. SCHOEPS: Religionsgespräch, Vorwort zur 2. Auflage, 13. 55 A.a.O., 13. 56 H.J. SCHOEPS: Religionsgespräch, 199. 57 E. BROCKE: Nachwort, 208. 58 K. THIEME: Israel und Christenheit, 599. 59 H.J. SCHOEPS: Religionsgespräch, Vorwort zur 3. Auflage, 15f; vgl. auch a.a.O., 18f.20. 60 Eine Ausnahme stellt das katechetische Interesse an der Thematik dar; vgl. FrRu 20 (1968), Iff. S.o. III. 5.
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veranstalteten Bibelarbeiten, gemeinsame Gottesdienste, Predigten und 62 Gedenkfeiern. Dialogische Theorie bzw. Theorie, die den Dialog mit dem Judentum für die Praxis reflektiert, gibt es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in dieser Phase kaum. Die vom Internationalismus der frühen Nachkriegszeit geprägten kirchlichen Verlautbarungen, die sich vorsichtig zu der Thematik äußern, stehen noch in der Tradition der ersten Phase. Man bemüht sich vor allem um die Vermeidung von antisemitisch/antijüdischen Tönen in der Predigtpraxis. Die ersten umfangreicheren Auseinandersetzungen mit der Frage einer veränderten kirchlichen Verkündigungspraxis entstehen fast zeitgleich. 1966 beklagt Ernst E. Wittekindt, das begonnene Gespräch zwischen Kirche und Synagoge habe noch kaum Wirkung gezeitigt. Er fragt: „Können wir für die Predigt darauf warten, bis das geschieht?“ Seine Antwort auf diese eher rhetorische Frage: „Ich meine nicht. Die Verbrennungsöfen von Auschwitz und alles, was damit zusammenhängt, bedrängen uns. Wir kön63 nen nicht so predigen als sei nichts geschehen.“ Ähnlich äußert Alfred de Quervain, der am Anfang seiner Schrift „Das Judentum in der Lehre und Verkündigung der Kirche heute“ feststellt: „Nicht nur aus Beschämung, aus Reue über das Geschehene reden wir über die Juden und unser Verhältnis 64 zu ihnen.“ Er fordert eine Veränderung innerhalb der kirchlichen Verkündigung: „Es genügt nicht, dass an einem oder an einigen Sonntagen im Jahr der Juden im Gottesdienst gedacht wird. Dieses Umdenken im Blick auf die Juden bedeutet ein Umdenken auf der ganzen Linie, ein neues Predigen, ein neues Bekennen, eine neue Verantwortung für den Juden und 65 den Nichtjuden, ein neues Handeln und Helfen.“ Wittekindt und de Quervain sind in ihren Überlegungen homiletisch-systematisch orientiert. Ihre Frage lautet: Wie kann eine Predigt recht von Israel reden? Hinter dieser Frage steht für beide die fundamentale Überzeugung: Nur eine Predigt, die recht von Israel redet, kann rechte christliche Bezeugung des gnädigen Gottes bzw. seiner Treue und frohen Botschaft sein. In seiner Predigtmeditation hat de Quervain ausdrücklich das gegenwärtige jüdische Gegenüber im Blick. Er spricht bereits im Vorwort seiner Schrift von der Wahrnehmung des Judentums als einem Prozess „langsamen Umlernens“. Er beginnt unmittelbar mit der Begründung, warum das 61 Vgl. A.H. BAUMANN/U. SCHWEMER: Gottesdienste, 5. 62 Vgl. z.B. die Kirchentage in: Frankfurt 1975: Bibelarbeiten im Dialog mit E. Brocke und G. Bauer sowie mit S. Ben-Chorin und C. Bartels (DEKT 1975, 97–106. 119– 131); Berlin 1977: Bibelarbeit zum Hohen Lied Salomos im Dialog mit Pinchas Lapide und H. Gollwitzer (DEKT 1977, 103–114); Hamburg 1981: Bibelarbeit im Dialog mit A.H. Friedlander und Martin Stöhr (DEKT 1981, 52–68); Hannover 1983: Bibelarbeit im Dialog mit E. Brocke und H. Gollwitzer (DEKT 1983, 105–113); und auf allen weiteren Kirchentagen. 63 Zitate E.E. WITTEKINDT: Synagoge, 241. 64 A. de QUERVAIN: Judentum, 7. 65 A.a.O., 32.
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gegenwärtige Judentum seine Bedeutung für die Christen habe: „Von den 66 Juden, die immer noch Gottes Volk sind“ sei deshalb, weil sie immer noch Gottes Volk sind, zu reden. Die christliche Bezogenheit auf das Judentum in seiner Gesamtheit sowie dessen Einheit und Kontinuität zum erwählten Volk Gottes stellt er wiederholt heraus. Von den Juden als Volk Gottes zu reden, sei Aufgabe der christlichen Gemeinde. Dabei unterscheidet er einerseits „die Juden als Volk Gottes“ von einer Identifizierung dieses Merkmals mit jedem einzelnen Juden. Verheißung und Erwählung ließen sich „nicht 67 einfach in eine Eigenschaft dieses Volkes und seiner Glieder verwandeln.“ Sonst hätten Philosemitismus und Antisemitismus recht, die die Tat Gottes verkennten und statt dessen eine Gegebenheit in den Mittelpunkt rückten. Andererseits bemüht er sich um ein differenziertes Bild des gegenwärtigen jüdischen Gegenübers. Er tut dies unter Bezugnahme auf jüdische Selbstbe68 schreibungen. Zwei stellt er genauer vor: Zvi Rudy und Franz Rosenzweig. De Quervain entwirft auf diese Weise ein Bild, das Engführungen entgeht und die Bedeutung der Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums für die theologische Reflexion herausstellt. So kann er jüdische Stimmen als gewichtige Anfragen an die eigene Position verstehen. Und er kann Juden als Adressaten seiner Überlegungen begreifen. In zwei markanten Wendungen de Quervains findet die Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums ihren Ausdruck: Er entwirft eine Theologie, 69 die sich „angesichts der Juden heute“ zu artikulieren habe. Und er entwirft ein Bild der Gemeinde „im Gegenüber“ zum Judentum. In beiden Wendungen drückt sich die Bezogenheit der christlichen Gemeinde auf das gegenwärtige Judentum aus. Im Zentrum der Beziehung von Christen und Juden steht für ihn die bezeugende Begegnung. Zentraler Inhalt des christlichen Zeugnisses ist das Bekenntnis, „dass Gott die Juden als sein Volk be70 zeichnet, sie als sein Volk festhält.“ De Quervain weiß um die Zumutung dieses Bekenntnisses: „Es ist also Bekenntnis der Gemeinde und nicht ohne weiteres eine Erkenntnis, die die Gemeinde, bei allem Gegensatz zu den Juden, mit den Juden teilt. Aber angesichts der Juden bekennt es die Gemeinde; sie verkündigt es auch ihnen, redet sie damit an und hört sie an.“ In der Begegnung entsteht gemeinsames Erforschen der Tragweite dieser Aussage: „Wir merken dann, dass die Glieder der Gemeinde, dass auch die christlichen Theologen nicht ganz selbstverständlich wissen, was dieses Bekenntnis enthält. Vielleicht müssen wir es gerade im Gespräch mit den Ju71 den, sagen wir bescheidener im Gespräch mit einzelnen Juden lernen.“ In diesem Lernen gelte es, auf die Kritik des Judentums zu hören. Nur wenn nach ihr gefragt werde, gebe es „eine ernsthafte, eine echte Begegnung zwi66 67 68 69 70 71
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A.a.O., 5. A.a.O., 7. Vgl. a.a.O., 33ff. Vgl. z.B. a.a.O., 13. A.a.O., 11. Alle Zitate ebd.
schen Gemeinde Jesu Christi und Synagoge, Judentum“. Diese Begegnung, die „mehr ist als ein Geltenlassen des Anderen“ berge in sich die Bezeugung 72 dessen, „was die Einheit der Bibel macht.“ Wo es um die praktische Umsetzung dieser Wahrnehmung des Gegenübers Judentum geht, schränkt de Quervain die Offenheit in der Begegnung durch bestimmte Rollenzuschreibungen ein. So seien die Juden im Hinblick auf die christliche Lektüre des AT die Warner, die die Gemeinde Jesu Christi dazu zwingen, „neu zu prüfen, ob sie das Alte Testament recht liest, recht hört“. Gleiches gilt auch für die Predigt: „Die Juden, die Jesus Christus ablehnen, sind die Warner, die die Christen zwingen, ihre Predigt, 73 die schriftgebunden sein will, zu überprüfen.“ Der Gegensatz von Juden zu Christen, für de Quervain signifikant in der Ablehnung Jesu durch die Juden, ist hierbei eingebunden in die vorgängige Bezogenheit aufeinander: „Dass die Glieder der Gemeinde von den Juden sich nicht trennen können“ sei in einer von Gott gestifteten Gemeinschaft begründet: „Sie [sc.: die Juden; CS] sind, wie kein anderer kirchlicher und theologischer Gegensatz, die Unruhe im Leben der Gemeinde. Das ist gesagt unter der Vorausset74 zung, dass Gott sein Volk Israel, die Juden, nicht loslässt.“ Aus dieser Verhältnisbestimmung de Quervains ergibt sich seine eigentümliche Stellung zur Judenmission. De Quervain spricht von einem „doppelten Sinn der Begegnung“: Einerseits überprüften die Glieder der Gemeinde „als durch das Evangelium Gebundene, in diesem Gegenüber zu den Juden“ Verkündigung und Lehre. Andererseits ergehe durch dieses „Hören auf die Juden“ an 75 sie „die Aufforderung zum Mithören, die Aufforderung zur Mitfreude.“ Judenmission stehe nicht im Vordergrund. Sie habe Ignoranz gegenüber den Juden nicht verhindern können. Sie sei umgekehrt in der Begegnung nicht auszuschließen. Explizites Ziel ist sie nicht: „Ob Juden sich zu uns gesellen, das ist nicht die erste Frage. Treuere Zeugen der Taten Gottes sol76 len wir sein.“ Fünf Aspekte erscheinen mir in de Quervains Konzeption im Blick auf den Fortgang der Untersuchung bemerkenswert: a) Das Judentum wird als vielstimmiges, lebendiges Gegenüber wahrgenommen. De Quervain zeigt sich als Kenner jüdischer Religionsphilosophie. Martin Buber, Franz Rosenzweig, Abraham Heschel, Andre Neher, Hermann Cohen u.a. werden wiederholt ausführlich dargestellt. b) Das Judentum wird als Gegenüber zur christlichen Gemeinde wahrgenommen, auf dass die Gemeinde bezogen bleibt: „Sie [sc.: die Gemeinde; CS] weiß, dass das, was ihr Gegenüber, das 77 Judentum, trifft, auch sie trifft.“ c) Die Stimmen des jüdischen Gegenübers haben theologisches Gewicht. Deutlich wird das in der Forderung, 72 73 74 75 76 77
Alle Zitate a.a.O., 15. A.a.O., 11. A.a.O., 11f. A.a.O., 6. A.a.O., 5. A.a.O., 33.
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die Predigt alttestamentlicher Texte habe sich mit dem jüdischen Selbstverständnis des Alten Testaments als Hebräischer Bibel konfrontieren zu lassen. In diesem Zusammenhang habe sich die christliche Gemeinde zu fragen: „Was haben wir aus der Kritik des Judentums zu lernen, was sollen wir 78 darauf antworten?“ d) Das jüdische Gegenüber wird nicht allein als Opfer, sondern in seinem Selbstbewusstsein, in seiner Stärke wahrgenommen. De Quervain unterschlägt keineswegs die Katastrophe von Auschwitz. Im Gegenteil: Dieses Ereignis steht im Hintergrund der Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum. Aber Juden als lebendiges Gegenüber werden nicht auf die Rolle des zu bemitleidenden Opfers festgelegt: „Die Studentin, die im Seminar einmal meinte, dass die Juden heute sicher und stark seien – und sie sagte das mit einer gewissen Bewunderung und Sehnsucht –, hatte recht. Es wäre verständlich, wenn Christen sich von dieser Stärke, vom Judentum als machtvollem Zeichen in dieser Welt beeindrucken ließen. Es 79 wären nicht die schlechtesten unter ihnen.“ Die Stärke ist in der Aufgabe begründet, als kleine Minderheit Gottes erwählter Zeuge zu sein. Von dieser Wahrnehmung eines starken Gegenübers unberührt ist die christliche Aufgabe, mit jüdischer Bedrängnis solidarisch zu sein, und das Bekenntnis, gegenüber den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus versagt zu haben. e) De Quervain spricht von einem langsamen Umlernen im Prozess der Wahrnehmung des Gegenübers, einem Umlernen, das wesentlich vom Hören auf das jüdische Gegenüber bestimmt ist. Dabei hat auch Schweigen 80 seinen Ort. De Quervains Überlegungen können als typisch für die dialogische Phase begriffen werden. Es geht um die Begründungszusammenhänge für den Dialog mit dem Judentum. Praktische Folgerungen, z.B. für Verkündigung und Predigt, ergeben sich aus de Quervains Erwägungen nicht unmittelbar. Zugleich ist die Wucht zu spüren, mit der sich der Prozess des Umlernens in der Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums niederschlägt. Dass es sich hierbei um eine Wiederentdeckung handelt, klingt am Rande an, wenn de Quervain davon spricht, schon einmal, 40 Jahre zuvor, von jüdischen Denkern bewegt gewesen zu sein. 2.3 Hermeneutik des Alten Testaments und christlich-jüdische Auseinandersetzung – Modelle der Zuordnung im Dialog In de Quervains Schrift wird auf einen Bereich verwiesen, in dem es seit alters her eine Wahrnehmung des Gegenüber Judentum gibt: Die christliche Hermeneutik des Alten Testaments. Ursache dieser selbstverständlichen Wahrnehmung ist das Vorfinden einer faktischen Konkurrenzsituation von 78 A.a.O., 15. 79 Vgl. a.a.O., 40f. 80 Vgl. a.a.O., 24.
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Judentum und Christentum bei der Deutung derselben Schrift. Christliche Hermeneutik des AT fragt nach dem Sinn des Alten Testaments für Christen. Sie reflektiert dabei die Bedeutung, die die gleiche Schrift für jüdische Leser und deren Verkündigungspraxis hat. Herbert Schmid fasst diesen Sachverhalt zusammen: „Die christlich-jüdische Auseinandersetzung um das Alte Testament hat ihren Grund darin, dass dieses Buch für Synagoge und Kirche verbindlich ist. Das Selbstbewusstsein der beiden Gemeinschaften wirkt sich im Verständnis der Schrift aus. Kirche und Synagoge bzw. ‚jüdisches Volk‘ sind hermeneutische Beziehungsgrößen, die nicht nur die jeweiligen Differenzierungen in sich, wie katholisch-evangelisch, sondern auch durch ihre Konkurrenz, wie vor allem zwischen Judentum und Christen81 tum, bestimmt sind.“ Entsprechend begegnet die Frage nach der angemessenen Auslegung des AT unter Wahrnehmung eines jüdischen Gegenübers in zwei Gebieten theologischer Theoriebildung, die ich im Folgenden phasenübergreifend darstellen will: Alttestamentliche Hermeneutik (a) – die Darstellung endet mit einer Vorstellung verschiedener Zuordnungsmodelle im christlich-jüdischen Gegenüber (b) – und Homiletische Hermeneutik des AT (c). a) Alttestamentliche Hermeneutik und jüdisches Gegenüber im 20. Jahrhundert In manchen Überlegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint das Bewusstsein für ein jüdisches Gegenüber selbstverständlich. So stellt der Alttestamentler Eduard König nacheinander die „Geschichte der Auslegung bei 82 den Juden“ und die „bei den Christen“ dar. Auch bei seinen „negative(n) Direktive(n) für die richtige Auslegung des Alten Testaments“ kommt es zu einer symmetrischen Würdigung jüdischer und christlicher Auslegung: 83 „§29 Das AT ist nicht zu judaisieren“ ; „§30 Christianisierung des AT ist 84 zu vermeiden.“ Maßstab für diese Direktiven ist ein dezidiert historischkritischer und zugleich antidogmatischer Standpunkt des Verfassers. Unter „judaisierender“ Auslegung versteht König nicht eine auf jüdische Elemente abzielende christliche Deutung des AT, sondern jüdische Auslegung unter 85 der hermeneutischen Vorgabe eines „jüdischen Dogmas.“ Das Judentum erscheint bei König als selbstverständliche, parallel existierende Leserschaft – und Forscherschaft – des AT. Die selbstverständliche Beziehung zwischen Judentum und AT führt während der Herrschaft der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Angriffe auf das Judentum gewissermaßen „natürlich“ auch zu Angriffen auf 81 82 83 84 85
H. SCHMID: Auseinandersetzung, 169. E. KÖNIG: Hermeneutik, 6ff. A.a.O., 152–156. A.a.O., 156–166. Vgl. a.a.O., 153.
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das AT als Teil der christlichen Bibel. Das AT sei eine durch und durch jüdische – gerade nicht genuin christliche – Schrift. Die christliche Abwehr derartiger Angriffe nimmt in dieser Zeit zumeist eine zweifache Unterscheidung vor: Erstens habe das Israel des AT nichts gemein mit dem gegenwär86 tigen Judentum. Zweitens sei die Botschaft des AT nicht jüdisch. In der 87 Überwindung des Jüdischen im NT komme sie zu ihrem Ziel. So wird eine Ausstoßung des AT aus der christlichen Kirche erfolgreich verhindert, allerdings um den Preis einer Aufgabe der Beziehung zum damals gegenwärtigen Judentum. Die christliche Haltung gegenüber dem Judentum in ihrer doppelten Bezugnahme von Gemeinsamkeit und Unterscheidung wird in Richtung einer vollständigen Trennung radikalisiert. Auf diesem Hintergrund muss die Verfolgung und Vernichtung des Judentums keine Anfrage 88 für die alttestamentlichen Wissenschaftler mehr darstellen. Die ersten größeren Veröffentlichungen nach 1945 stehen im Zeichen jenes – letztlich doch verlorenen – Ringens um das AT. So schreibt Walter Zimmerli 1956: „Die christliche Gemeinde hat viel Boden verloren in ihrem Kampf um den Besitz des Alten Testaments. Dieses ist nach der Wissenschaftsbewegung der letzten zwei Jahrhunderte in der evangelischen Kirche (trotz Kirchenkampf) weithin zum Fremdling oder doch zu einer Verlegenheit geworden. Die Rückgewinnung für die Kirche, die sich, wenn sie redlich geschieht, unmittelbar zum Gespräch mit Israel öffnen muss, wird nur in engster Fühlung mit der konkreten Textauslegung geschehen 89 können.“ Hier kommt das Bewusstsein für ein notwendiges Gespräch mit dem gegenwärtigen Israel zum Ausdruck. Zimmerli formuliert daneben die von Schmid konstatierte Konkurrenzsituation als zwingenden Ausgangspunkt bei der Hermeneutik des AT: „Zwar kann man kaum sagen, dass die Kirche schon ernsthaft aufgescheucht wäre durch den aufregenden ParallelVorgang der Rückgewinnung des Alten Testaments durch Israel, der sich in unseren Tagen vollzieht, und durch den sich die Kirche ganz neu zum Gespräch mit der Synagoge gerufen wissen müsste. Man kann nur hoffen 90 [...].“ Während Zimmerli im Dialog mit dem gegenwärtigen Judentum die Konkurrenzsituation ins Zentrum rückt – „Die Kirche wird der Frage immer weniger ausweichen können, was es um diesen Israelanspruch ist, wo 91 sein Recht, seine Grenzen, seine Verführung liegen“ –, hat Kraus mehr 86 Vgl. J. HEMPEL: Fort mit dem Alten Testament?, 19; vgl. auch H. SCHUSTER: Das Alte Testament heute, 10f. 87 Vgl. H. SCHUSTER: Das Alte Testament heute, 105ff; vgl. J. HEMPEL: Fort mit dem Alten Testament?, 25ff; vgl. E. SELLIN: Das Alte Testament im christlichen Gottesdienst und Unterricht, Gütersloh 1936. Zu E. Sellin vgl. U. KUSCHE: Religion, 158ff. 88 Vgl. U. KUSCHE: Religion, 163. 89 W. ZIMMERLI: Anrede, 5. Was das „verlorene Ringen“ angeht, so fragt W. Zimmerli an anderem Orte (DERS.: Verheißung, 59) „ob sie [sc.: die Kirche; CS] bei der Antwort Harnacks bleiben will [...].“ 90 W. ZIMMERLI: Anrede, 5; vgl. auch W. ZIMMERLI: Anrede, 88. 91 W. ZIMMERLI: Verheißung, 59.
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den gegenseitigen Austausch und die mögliche Befruchtung von Christentum und Judentum miteinander im Blick. Im Abschreiten der Veröffentlichungen M. Bubers zur Auslegung des Alten Testaments will er ein Gespräch suchen, „das zwischen Kirche und Synagoge nicht verstummen 92 darf.“ Eine noch größere Bedeutung für das Verstehen des Alten Testaments schreibt der reformierte holländische Theologe Arnold A. van Ruler dem Dialog mit Israel zu. Seine Schrift „Die christliche Kirche und das Alte Testament“ ist berühmt geworden mit der zuspitzenden These „Das Alte Tes93 tament ist und bleibt die eigentliche Bibel.“ Van Ruler geht in seiner hermeneutischen Einbeziehung des Dialogs noch einen Schritt weiter als Kraus. In die Entscheidung, „wie man das Alte Testament sehen muss – ob allein als Buch der christlichen Kirche oder auch immer noch als das Buch 94 des Volkes Israel“ – werde man den Gedanken aufnehmen müssen, „dass alle apostolische Arbeit der christlichen Kirche gegenüber den Juden unter dem entscheidenden Gesichtspunkt stehen muss, dass sie ein Gespräch mit 95 Israel ist“. Van Ruler verankert dieses Gespräch mit Israel in methodischer Hinsicht als Grundlage christlicher Erkenntnis: „Nur hier, d.h. im Verhältnis zu Israel, darf die christliche Kirche die mäeutische Methode handhaben, die voraussetzt, dass die Wahrheit bereits beim und im Gesprächspartner sei, so dass diese nur noch – in der Form eines Gespräches, rein dialogisch – aus ihm zum Vorschein gebracht werden brauche. In Israel ist 96 die Wahrheit: Es hat das Alte Testament.“ Von daher komme Israel eine Sonderrolle zu, ein besonderer Platz in Gottes Plan mit der Welt. Er konstatiert: „Falls man das Alte Testament ausschließlich auf Christus bezieht und das Volk Israel allein im Corpus Christi wiederfindet, weiß man die Juden, die Synagoge und den Staat Israel nicht in seine theologische Syste97 matik einzuordnen.“ Solcher theologischen Einordnung voran geht bei van Ruler die Wahrnehmung einer faktischen jüdischen Existenz, nicht zuletzt im neugegründeten Staat Israel. Hinzu tritt die Wahrnehmung, dass „das Alte Testament auch anders als durch das Neue Testament“ interpretiert werden könne und werde, z.B. durch „den Talmud oder die moderne jüdische Religionsphilo98 sophie.“ Van Ruler stellt fest: „Dass diese Möglichkeit [sc.: der anderen Auslegung; CS] geschichtlich-faktisch besteht, ist ohne weiteres deutlich. Ob sie aber auch geschichtlich im vollen Sinne des Wortes, ob sie auch
92 93 94 95 96 97 98
H.J. KRAUS: Gespräch, 59–72, hier: 59f. A. VAN RULER: Kirche, 68; vgl. auch ebd. die erläuternde Anmerkung 125. A.a.O., 91. Ebd. Ebd; vgl. hierzu auch ebd, Anm. 70. A.a.O., 33. A.a.O., 92.
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theologisch besteht, das ist gerade die Frage, die mit großer Dringlichkeit 99 auf uns zukommt.“ Dieser Frage haben sich die Alttestamentler verschiedenster Prägung angenommen. Besonders den Vertretern der sogenannten Biblischen Theologie wird der Austausch mit dem jüdischen Gegenüber ein fundamentales 100 Anliegen. Aufschlussreich ist hier der umfassende Exkurs Henning Graf Reventlows zum Thema „Israel und die Kirche“ im Rahmen seiner Darstel101 lung der Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert. Sein Resümee beinhaltet ein Bekenntnis zum christlich-jüdischen Gespräch: „So mündet auch das christlich-jüdische Gespräch in die Biblische Theolo102 gie, oder vielmehr, es ist innerhalb dieser eine unaufgebbare Perspektive.“ 103 Der Heidelberger Alttestamentler Rendtorff fordert in zahlreichen 104 Veröffentlichungen einen gleichberechtigten Dialog von Christen und Juden. Die Koexistenz impliziere eine theologische Voraussetzung: „Wenn wir die Forderung aufstellen, die Tatsache, dass die Hebräische Bibel die heilige Schrift der Juden ist, ohne Einschränkung anzuerkennen, dann setzt das die Anerkennung der Dignität und des selbständigen Wertes der jüdi105 schen Religion voraus.“ Allerdings bleibt es bei einer theologischen Anerkennung eines geschichtlichen Faktums und der Forderung nach Toleranz und Engagement, wie es in den folgenden Worten Rendtorffs anklingt: „Es gibt zwei Traditionen des Lesens und der Auslegung der Hebräischen Bibel. Keine von beiden hat ein Monopol; keine von beiden darf geringgeachtet 106 oder gar ausgeschlossen werden.“ Die entscheidende Frage nach der theologischen Bedeutung der Existenz zweier „Nachfolgegeschichten des bibli107 schen Israel“, Judentum und Christentum, die beide in ihrem Selbstverständnis legitime Leser und Hörer des Wortes Gottes im AT sind, bleibt
99 Ebd. 100 Vgl. Jahrbuch für Biblische Theologie Bd. 6: Altes Testament und christlicher Glaube, hier vor allem die Aufsätze von K. KOCH: Ausgang, 215–242, und P. VON DER OSTEN-SACKEN: Wille, 243–268; vgl. auch C. DOHMEN/T. SÖDING (Hg.): Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn 1995. 101 H. GRAF REVENTLOW: Hauptprobleme, 67–125. 102 A.a.O., 122. 103 Auf katholischer Seite ähnlich herausragend ist E. Zenger. Vgl. E. ZENGER (Hg.): Die Tora als Kanon für Juden und Christen, Freiburg 1996; vgl. E. ZENGER: Das 4 Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 1994; vgl. seine programmatischen „Thesen zu einer Hermeneutik des Ersten Testaments nach Auschwitz“, in: C. DOHMEN/T. SÖDING (Hg.): Bibel, 143–158, besonders 145f. 104 Vgl. R. RENDTORFF: Kanon und Theologie, passim; vgl. auch die Literaturangaben bei H. GRAF REVENTLOW: Hauptprobleme, 56ff. 105 R. RENDTORFF: Wege, 44; vgl. auch a.a.O., 45.48. 106 A.a.O., 53; vgl. auch den programmatischen Titel der Festschrift für R. Rendtorff: „Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Auslegung“, hg, v. E. BLUM u.a., Neukirchen-Vluyn 1990. 107 R. RENDTORFF: Wege, 45.
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offen. Eine theologische Zielbestimmung über die gegenseitige Wahrnehmung und Gemeinschaftlichkeit hinaus wird nicht definiert. Den Schritt van Rulers, im Gegenüber auch die eigene Wahrheit zu sehen, geht Rendtorff nicht. Es bleibt bei einer Konkurrenzsituation, in der die Gegensätze hinter der Partnerschaftlichkeit zurückstehen sollen – um des einzel109 nen exegetischen Fortschritts und um der Existenz des jeweils anderen willen. Diese Form von Ergebnisoffenheit ist ein immanentes Moment und ein typisches Kennzeichen der dialogischen Phase. Rendtorff fordert diese Offenheit vehement. In einer Auseinandersetzung wirft er Zimmerli vor, das jüdische Selbstverständnis nicht ernst zu nehmen, weil es ihm nur darum gehe, „die christliche Auslegung des Alten Testaments als die einzig richtige 110 zu erweisen und dafür die Zustimmung der Juden zu erlangen.“ In dem Aufsatz, auf den Rendtorff sich bezieht, erkennt Zimmerli an, dass die Syn111 agoge in einer „Traditionskontinuität zum Alten Testament steht.“ Zimmerli wendet sich – um eines Ernstnehmens des Gegenübers Judentum willen – gegen ein Nebeneinanderstehenlassen der „zwei geschichtlichen 112 Traditionsstränge im Sinne pluralistischen Religionsverständnisses.“ Er will auf die Wahrheitsfrage auf keinen Fall verzichten: „Es wird um die tiefere Wahrheitsfrage gehen müssen: Kommt nicht das Alte Testament und 113 mit ihm Israel im Christusgeschehen erst zu seiner eigentlichen Ehre?“ An diesem Punkt sieht Rendtorff das Ernstnehmen des jüdischen Gegenübers verletzt. Zwar erklärt auch er, dass es nicht so sei, „dass die christliche Inanspruchnahme des Alten Testaments weniger legitim und weniger gut be114 gründet sei.“ Aber der christliche Gebrauch des AT könne den jüdischen Gebrauch nicht aufheben und dürfe auch nicht darauf abzielen. Der Konflikt zwischen Rendtorff und Zimmerli, in dem zur Diskussion steht, ob Offenheit zugleich Pluralismus, Absolutheitsanspruch zugleich Negation des anderen oder erst eigentlich dessen Ernstnahme auch im Hinblick auf den jeweiligen Absolutheitsanspruch bedeutet, kann entschlüsselt werden, wenn die Parameter Dialogauftrag und religiöses Selbstverständnis in ihrer inneren Widersprüchlichkeit bedacht werden. Die Offenheit der Konzeption Rendtorffs hat ihren Preis in einer schwierigen Zuordnung. Es entsteht der Eindruck einer ungeklärten und unvermittelten Koexistenz. Der Absolutheitsanspruch Zimmerlis hat seinen Preis in einer begrenzten Dialog- und, so der Vorwurf, womöglich auch begrenzten Toleranzfähig108 Vgl. a.a.O., 45: „Unsere Aufgabe wird [Hervorhebung: CS] es sein, diese Tatsache anzuerkennen und einfühlsam und klar die theologische Bedeutung dieses ‚und‘ zu definieren.“ 109 Vgl. a.a.O., 53. 110 R. RENDTORFF: Bibel, 115. 111 W. ZIMMERLI: Gültigkeit, 201. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 R. RENDTORFF: Bibel, 115.
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keit. Es kristallisiert sich eine fundamentale, hermeneutische Problematik heraus. In konfessorischer Hinsicht – ich greife aus Gründen sachlicher Geschlossenheit auf die dritte Phase vor – ergibt sich ein Dilemma, das bei Horst Dietrich Preuß wiederzufinden ist. Preuß betont in seiner Monographie zur christlichen Hermeneutik des Alten Testaments die fundamen115 tale Bedeutung des jüdischen Gegenübers bereits im Vorwort: „Wer sich mit christlicher Predigt befasst, muss die jüdische Auslegung und Predigt der hebräischen Bibel zur Kenntnis nehmen. Dies geschieht nicht nur um des notwendigen jüdisch-christlichen Dialogs, sondern um eben dieser bei116 derseitigen Rückbeziehung auf die gemeinsame Schrift selber willen.“ Weite Teile des Abschnitts „Jüdisch-christliche Auslegung des Alten Testaments“ in seinem Buch sind als Plädoyer für die Wahrnehmung jüdischchristlicher Gemeinsamkeiten sowie für den Respekt vor den Unterschieden zu verstehen. Zu den Unterschieden zählt Preuß die grundverschiedenen hermeneutischen Perspektiven von Christentum und Judentum auf das AT, die sich aus der unterschiedlichen Weiterführung desselben ergäben. Auch dass beide, Judentum und Christentum, diese je eigene Weiterführung als Offenbarung qualifizierten, ist für Preuß eine selbstverständliche, religionsgeschichtlich nachvollziehbare Einsicht. Die Weiterführungen seien als hermeneutische Perspektiven derselben Schrift absolut gleichberechtigt: „Das NT als ‚Brille‘ für das Lesen des AT oder der Talmud als ‚Brille‘ für das Lesen der Tora [...] sind als Brillen in sich nicht wertverschieden, sondern müssen sich erst im Lesen und Verstehen selber als möglicherweise ange117 messener erweisen.“ Preuß proklamiert hier gewissermaßen einen freien Wettbewerb im Dialog. Er verteidigt diesen Wettbewerb gegen alle konfessorischen Festlegungen, die von vornherein die Freiheit in der Auseinandersetzung beschneiden wollen. An diesem Punkt gerät Preuß in ein Dilemma. Ohne Verzicht, ohne Aufgabe bestimmter elementarer Glaubenspositionen, beinhaltet der Wettbewerb notwendig einander widerstreitende Konkurrenz. Preuß selbst macht das deutlich, wenn er aus christlicher Glaubensgewissheit heraus – und nicht aus dem Postulat religionskritischer Toleranz – argumentiert: „Christliche Auslegung des AT ist kein antijüdisches Unterfangen, ist nicht antijüdisch sondern christusbezogen. Die christliche Auslegung des AT geschieht nicht in selbstzufriedener Gewissheit, nicht abgesehen vom Leben, und dies gilt gerade auch im Blick auf das Judentum, auf sein Geschick wie auf die christliche Schuld daran. Sie geschieht aber sehr wohl in der Glaubensgewissheit, in Christus durch Gott zusammen mit Israel (!) ‚weitergeführt‘ worden zu sein [...]. So bleibt das AT zwar weiterhin die fortbestehende Grundquelle für den Glauben Israels. 115 Vgl. auch den Schluss des Buches von H.D. PREUSS: Predigt, 222, wo er ein Wort Luthers und einen Auszug aus einem jüdischen Gebet nebeneinander stellt. 116 H.D. PREUSS: Predigt, 8. 117 A.a.O., 150.
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[...] Diese Grundquelle wurde aber durch das Christusgeschehen in ein neues Flussbett gelenkt und durch einen neuen Zufluss entscheidend ergänzt und korri118 giert (vgl. Hebr 1,2).“
Im Blick auf die eigenen Vorgaben hätte Preuß von „zwei Flüssen aus einer Quelle“ sprechen müssen. Das Konzept der gegenseitigen Toleranz kommt hier theologisch an seine Grenze, gerade weil es sich um theologische Aussagen von zwei verschiedenen Seiten über ein und dieselbe heilige Schrift handelt. Christliche Auslegung des AT ist nicht antijüdisch, aber sie ist nicht-jüdisch, insofern sie christusbezogen ist. Aus der Position des Glaubenden ist die Auslegung auf diese Weise eindeutig bestimmt. Preuß resümiert folgerichtig: „So mögen dann Schriftauslegung gegen Schriftausle119 gung [...], Selbstverständnis gegen Selbstverständnis stehen [...].“ Gegen, nicht neben, ist ein semantisches Indiz für das Dilemma der Position, das durch die zweite Hälfte dieses Satzes komplettiert wird: „[...], aber sie tun dies im Dialog, in gemeinsamem Fragen und Suchen und ohne theologi120 schen Verzicht oder Abbau an falscher Stelle.“ Der Dialog ist freier Wettbewerb, ist ergebnisoffen. Zugleich steht fest, dass Christen nicht auf ihre Interpretation des AT verzichten können oder dürfen. Das Engagement, das aus solchen Worten spricht, ist Ausdruck des Dilemmas, in dem Preuß sich zwischen freiem Wettbewerb aus religionsgeschichtlicher Perspektive einerseits und Glaubensgewissheit aus der Position des bekennenden Christen andererseits befindet. Das beschriebene Problem einer Positionalität im offenen Dialog hat Erich Zenger im Blick. Er konstatiert eine prinzipiell verschiedene Leseweise von Juden und Christen bei der Lektüre des AT. Letztere läsen und aktualisierten das „Erste Testament“ im „Dialog mit dem Zweiten Testament und im Kontext ihrer je spezifischen christlichen Gemeinschaften“, erstere hingegen läsen und aktualisierten „die gleichen Texte im Dialog mit dem Talmud (und der Responsenliteratur) und im Kontext ihrer je spezifischen jü121 dischen Gemeinschaften.“ Zengers Fazit: „Streng genommen lesen Juden und Christen deshalb gar nicht die gleichen Texte, wenn sie diese als Juden und als Christen lesen, um aus ihnen in ihrer Gegenwart Gottes berufende 122 und rettende Anrede zu hören – [...].“ Diese Erkenntnis tut einem Gespräch mit dem Gegenüber keinen Abbruch, aber sie hindert Zenger an der Illusion, durch das Gespräch könne der trennende Graben zwischen Juden 123 und Christen überwunden werden. So beinhaltet das Dass des Dialogs, seine Bejahung, zwangsläufig eine Abkehr vom Absolutheitsanspruch. Da118 A.a.O., 152. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 E. ZENGER: Thesen, 155. 122 Ebd. 123 Vgl. a.a.O., 158: „Der Tanach bzw. das Erste Testament ist Graben und Brücke zugleich ... .“
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bei gilt es im Auge zu behalten, dass die eigene Glaubensposition und die daraus resultierende Hermeneutik in einem letzten Sinne unvermittelbar bleiben. Eine christlich-jüdische Position, sozusagen neutral in der Mitte, ist unzugänglich. b) Modelle des Dialogs mit dem jüdischen Gegenüber Das entscheidende Problem, der Gewinn einer angemessenen Hermeneutik alttestamentlicher Texte im Gegenüber zum Judentum, will ich im Blick auf die Parameter Positionalität und Dialog zu systematisieren versuchen. Der Parameter Positionalität lässt sich aus subjektiver Sichtweise als Wahrheitsfrage, als die Frage nach der richtigen, wahren Auslegung bezeichnen. Es ergeben sich folgende vier Modelle: (i) Die Wahrheit der Auslegung liegt bei einer der beiden Positionen, der christlichen oder der jüdischen. Der Dialog findet statt, um diese Wahrheit zu vermitteln. Das Gegenüber soll überzeugt werden. Diese Form eines konkurrierenden Dialogs ist das klassische Modell der alttestamentlichen Wissenschaft bis 1960, vertreten beispielsweise durch Zimmerli. Judenmission ist in diesem Modell als Ziel nicht ausgeschlossen. (ii) Die Wahrheit der Auslegung wird durch das Gegenüber zur Sprache gebracht. Die christliche Wahrheit bei der Auslegung des Alten Testaments hören Christen von Juden. In einem solchen konsequent dialektisch gedachten Dialog gilt umgekehrt: Die Wahrheit des Tanach hören die Juden von den Christen. Dieses Modell eines konsequenten, radikalen oder dialektischen Dialogs findet sich bei van Ruler angedeutet. Es wird theologisch in letzter Konsequenz kaum vertreten. Es ist das oppositionelle Modell zum konkurrierenden Dialog. (iii) Die Wahrheitsfrage wird zugunsten eines offenen Dialoges zurückgestellt. Die Vermittlung des eigenen und des jeweils anderen Selbstverständnisses lassen eine absolute Wahrheitsfrage für einen wirklichen Austausch im Dialog als hinderlich erscheinen. Dieses Modell des vermittelnden Dialogs wird bei Rendtorff sichtbar. Es ist das Modell der dialogischen Phase nach 1960, wie es von den Vertretern des christlich-jüdischen Dialogs verfochten wird. Hierzu gehört die Absage an jede Form von Judenmission. (iv) Jede Position beansprucht für sich Wahrheit. Der Dialog als Erweis eines Gegenübers stellt die Wahrheit der jeweiligen Position unter Vorbehalt. Das Gegenüber hält die letztgültige Wahrheit noch offen. Dieses Modell des hermeneutischen Dialog findet sich in Zengers Überlegungen wieder. Das Dass des Dialoges führt zur Einsicht in den Gehalt und die Grenzen der Wahrheit der eigenen Auslegung, ohne dass diese Wahrheit aufgehoben wird. Mission ist weder intendiert noch ausgeschlossen. Sie kann eine Begleiterscheinung sein, ohne dass die Beseitigung des Gegenübers als Gegenüber dabei in Betracht gezogen wird. Dieses Modell birgt in sich die Möglichkeit, Dialog und Selbstverständnis, Gegenüber und eigene Position miteinander verbinden zu können. 194
c) Homiletische Hermeneutik alttestamentlicher Texte und jüdisches Gegenüber Mit der Diskussion um die exegetische Hermeneutik des Alten Testaments ist die Frage der homiletischen Hermeneutik alttestamentlicher Texte unmittelbar verbunden. Im Blick auf die Predigt gewinnt die alttestamentliche Hermeneutik erst ihre spezifisch christliche Fragestellung: In welcher Form 124 wird in den alttestamentlichen Texten auch Christen Heil verkündigt? Ich will deshalb hier einen kurzen Abschnitt zur Darstellung des Problems in homiletischen Beiträgen, insbesondere in homiletischen Lehrbüchern, anschließen. Es wird sich zeigen, dass die besprochenen Problemkonstellationen in ähnlicher Weise anzutreffen sind. Dabei ist das Problembewusstsein in der exegetischen Diskussion ausgeprägter. Die Predigt alttestamentlicher Texte scheint in der Regel nicht dadurch in Frage gestellt zu werden, dass sie Texte zum Inhalt hat, die zur gleichen Zeit von anderen Hörern anders verstanden und anders verkündigt werden. Die Problematik christlicher Predigt alttestamentlicher Texte rührt historisch wie begründungslogisch aus der Trennung von Kirche und Synagoge 125 her. Es stellt sich infolge der Trennung die Frage nach Grund, Aufgabe und Proprium christlicher Predigt über alttestamentliche Texte. Leonhard Fendt stellt dar, wie der dogmatischen Figur der Verdrängung und Ersetzung des Judentums als Hörer und Leser des AT durch die Kirche erstmals durch die moderne wissenschaftliche Exegese des Alten Testaments wider126 sprochen wird. Die Exegeten legten Wert darauf, „das A.T. als Buch des 127 auserwählten Volkes Israel zu studieren.“ Eine christologische Tendenz konnten und wollten sie in diesem Buch nicht aufweisen. Zu einem Verzicht der „kirchlichen Anwendung“ des AT müsse es deshalb nicht kommen, so Fendt, sobald „man erkannt hat, dass die kirchliche ‚Anwendung‘ 128 des A.T. Ausübung des Christentums ist.“ Die Anwendung müsse allerdings begründet werden. Häufig genannte Begründungen der kirchlichen Anwendung sind: (i) Die hermeneutische Notwendigkeit, das Neue Testament nur auf dem 129 Hintergrund des AT verstehen zu können, (ii) die strukturanaloge Entsprechung der Darstellung und Wahrnehmung des Verhältnisses von 130 Mensch zu Gott in AT und NT einschließlich der gemeinsamen Zu124 Die Monographie H.D. Preuß’, die Beiträge W. Zimmerlis, A. van Rulers und anderer, sind im Blick auf christliche Verkündigung geschrieben. 125 Vgl. W. TRILLHAAS: Predigtlehre, 83: „Die Problematik des Alten Testaments ist so alt wie die Auseinandersetzung der Kirche mit der Synagoge und überdies so alt wie das kritische Nachdenken über die Autorität des biblischen Kanons.“ Vgl. auch zuletzt H.M. MÜLLER: Homiletik, 222. 126 L. FENDT/B. KLAUS: Homiletik, Berlin 1970, 77. 127 A.a.O., 78. 128 Ebd. 129 Vgl. H.M. MÜLLER: Homiletik, 224. 130 Vgl. a.a.O., 226.
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kunftshoffnung und (iii) die Identität Gottes in beiden Testamenten. Keine Schwierigkeiten ergäben sich, sofern auf diese Weise eine doppelte Leserschaft des AT – Christen und Juden – vorausgesetzt wird, die einander unberührt lassen kann oder könnte. Von einer solchen Unberührtheit kann aber aus verschiedenen Gründen keine Rede sein: Zum einen besteht aus der frühesten Zeit des Christentums das schon im Neuen Testament bezeugte Selbstverständnis der Christen, in Kontinuität, ja in Identität zu den Adressaten des Alten Testament zu stehen. Wolfgang Trillhaas: „So sehr das alttestamentliche Gottesvolk ein wirkliches ‚Volk‘ im geschichtlichen Sinne war und so geistlich der Begriff des Gottesvolkes im Neuen Testament verstanden sein will [...], so besteht doch zwischen beiden eine geheime, unan133 schauliche Identität.“ Auf dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses ist eine Verhältnisbestimmung zu dem „wirklichen Volk“ unerlässlich. Zum zweiten wird eine unberührte parallele Lesung desselben Buches in dem Moment problematisch, wo die eine Lesart in Widerspruch zur anderen tritt. Ein treffendes Beispiel gibt hierfür Hans Martin Müller: „Vom Evangelium her ergibt sich ein anderes Verständnis des Gesetzes als aus dessen 134 Selbstauslegung.“ Zum dritten zeigt die historische Erfahrung, dass jener christliche Widerspruch nicht folgenlos geblieben ist. Diese Erkenntnis kommt in der homiletischen Theorie – wenn auch mit unterschiedlicher Bewertung – verschiedentlich zum Ausdruck. Rudolf Bohren betont den hierin begründeten moralischen Imperativ für Predigt und Predigtlehre: „Nur unheiliger Egoismus wird das heutige Judentum von den Verheißungen der Propheten ausklammern und damit dem stets latenten Antisemi135 tismus Nahrung geben.“ Müller hingegen will einen Kausalzusammenhang zwischen Predigt und geschichtlichem Ereignis, der einen Automatismus suggeriert, abwehren: „Dass die Kreuzespredigt im Verlauf der Kirchengeschichte immer wieder in eine Kreuzzugspredigt mit mörderischen Folgen umgeschlagen ist, stellt einen nicht wieder gut zu machenden Verrat am Evangelium dar. Daraus darf aber nicht die Folgerung gezogen 136 werden, auf die Kreuzespredigt zu verzichten.“ In beiden Fällen rückt die Erfahrung des Holocaust im Blick auf die Predigt alttestamentlicher Texte in den Horizont homiletischer Theorie. Zugleich wird der Blick für das jüdische Gegenüber geöffnet. Bohren ist einer der wenigen Verfasser eines homiletischen Lehrbuches, im deutschsprachigen Raum m.W. der einzige, der die Relevanz eines gegenwärtigen Judentums im Rahmen dieser Problematik erkannt und in seine „Predigtlehre“ aufgenommen hat. Konsequent verfolgt er den Gedanken des Verständnisses der Schrift als einer Altes und Neues Testament umfas131 132 133 134 135 136
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Vgl. W. TRILLHAAS: Predigtlehre, 87f. Vgl. a.a.O., 86. W. TRILLHAAS: Predigtlehre, 87. H.M. MÜLLER: Homiletik, 223. R. BOHREN: Predigtlehre, 121. H.M. MÜLLER: Homiletik, 225. Anm. 391.
senden Einheit. Um jedweder Trennung der Testamente zu wehren erklärt er: „Jede Predigt muss alttestamentliche Predigt sein, insofern nämlich jeder 137 neutestamentliche Text mit dem Schriftganzen zusammen zu sehen ist.“ Dabei gilt die eindeutige Prämisse, die sich schon bei Trillhaas findet: „Die 138 Predigt über alttestamentliche Texte kann nur christliche Predigt sein.“ Die Schrift als ganze verstehen, das heiße für Christen: Das Alte Testament von Christus her lesen und das Neue Testament vom Alten Testament her 139 verstehen. Bemerkenswert ist, dass durch diese dialektische Beziehung nicht das „Plus“, der Überschuss, den das AT in sich birgt, in die Dialektik hinein „aufgehoben“ wird. Bohren betont ein Sonderkerygma des Alten Testaments: „Predigt über alttestamentliche Texte darf nicht vom Alten Testament selbst abstrahieren. Das Sonderkerygma, das Einmalige und Besondere des Textes, darf nicht durch die Idee des Schriftganzen plattgewalzt 140 werden.“ Die Einheit der Schrift hebe den Unterschied der beiden Testamente nicht auf. Anders als bei Müller, bei dem die „Diskontinuität der 141 beiden Testamente“ einen „religiös unversöhnlichen Gegensatz(es)“ widerspiegelt, ist die Verschiedenheit für Bohren zunächst Warnung vor unheiligem Egoismus. Es gelte, die Besonderheit dieser Texte in Inhalt und Adressierung wahrzunehmen: „Zur Besonderheit dieser Texte gehört, dass 142 sie von dem Gott Israels reden [...].“ Christliche Predigt könne nicht davon unberührt sein, dass es noch andere Leser und Hörer dieser Schrift gibt, die sich ebenfalls darauf berufen, dieses Israel zu sein. Bohren: „[...] und eine Predigt über alttestamentliche Texte wird nicht davon absehen dürfen, dass es nicht nur ein neues Israel in der Kirche gibt, sondern auch ein Israel 143 nach dem Fleisch, dem Gott die Treue hält.“ Indem das AT die Kirche daran erinnere, dass Synagoge und Kirche durch den einen Gott zusammengehörten und die Kirche von der Synagoge nicht einfach absehen könne, ohne ihre Verheißungen zu verlieren, werde sie vor Hochmut und Ignoranz bewahrt. Der Prediger könne und solle ruhig vom Rabbiner lernen. So fasst Bohren als Leitsatz für die Kanzel zusammen: „Soll der Prediger nicht 144 reden wie ein Rabbiner, so soll er nicht ohne den Rabbiner predigen.“ In der homiletischen Diskussion stellt sich das hermeneutische Problem unvermittelter als in der exegetisch-systematischen Perspektive, weil situationsbedingt die Wahrheitsfrage der eigenen Auslegung nicht hintangestellt werden kann. So stehen vor allem das konkurrierende und das hermeneutische Modell für die Predigtpraxis zur Disposition. Die klassische Predigt137 138 139 140 141 142 143 144
R. BOHREN: Predigtlehre, 120. Ebd. A.a.O., 121. Vgl. auch K.P. HERTZSCH: Predigt, 10. R. BOHREN: Predigtlehre, 121. H.M. MÜLLER: Homiletik, 224. R. BOHREN: Predigtlehre, 121. Ebd. (zweite Hälfte des zuvor zitierten Satzes). Ebd.
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lehre wendet das Konkurrenzmodell an. Im Laufe der Predigt wird der Text in seiner Gänze zu eigen gemacht. Auch wenn keine Identität von „altem“ und „neuem“ Volk Gottes behauptet wird, eine zumindest strukturanaloge Identität von altem Volk Gottes und Hörerschaft wird vorausgesetzt. Bei Bohren hingegen bleibt ein Rest Unvermittelbares, ein Sonderkerygma, das nicht christlich gepredigt werden kann. Dieses Sonderkerygma kann nur mit und von einem Rabbiner erklärt werden. Indem es auf den Rabbiner bezogen bleibt, geht es nicht in den „Besitz“ christlicher Hörer über. 2.4. Göttinger Predigtmeditationen – Vorgriff auf die homiletische Theorie Die zweite Phase bringt noch keine eigene praktisch-theologische Theorie im Blick auf das Gegenüber Judentum hervor. Die Problematik wird aber sehr wohl in der beginnenden Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers im christlich-jüdischen Dialog thematisiert. An einem klassischen Punkt der Homiletik – der Frage nach der Predigt über alttestamentliche Texte – bereiten erste systematische Überlegungen die Theoriebildung vor. Kennzeichnend ist der Umgang mit dem entscheidenden Impuls der zweiten Phase: dem Dialog. In dieser Hinsicht ist die unmittelbar auf Praxis hin orientierte Homiletik der Göttinger Predigtmeditationen ein Spiegelbild der Diskussion. Zugleich wird hier bereits sehr viel weitergehender als in der systematisch-homiletischen Theorie die Einbeziehung des Gegenübers homiletisch bedacht. a) Bestandsaufnahme Johann Haar, 1961/62: Die erste Predigtmeditation zum Israelsonntag der zweiten Phase von Haar vollzieht einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung der Thematik. So vermerkt Haar gleich in den Präliminarien: „Als Hilfe [sc.: zur Auslegung von Röm 9,1–5; 10, 1–4; CS] sind die bekannten Kommentare, aber auch dogmatische Betrachtungen und auch einzelne Bei145 träge aus dem deutsch-jüdischen Gespräch heranzuziehen.“ Erstmals wird in die homiletische Betrachtung auch das gegenwärtige jüdische Gegenüber einbezogen. Dem entspricht, dass Haar im Blick auf die Vergangenheit nicht nur allgemein Antisemitismus beklagt, sondern sowohl das jüdische Gegenüber als auch das eigene Fehlverhalten konkret ins Auge fasst: „Wir evangelischen Theologen sehen heute weithin mit Scham und Bestürzung, dass wir uns in den Jahren vor 1933 kaum mit den Männern beschäftigt haben, die damals um eine Erneuerung jüdischer Theologie und jüdischen 146 Gemeindelebens bemüht waren.“ Haar verweist dabei auf Martin Buber, 145 J. HAAR: GPM 1961/62, 264f. 146 A.a.O., 269.
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Hermann Cohen, Leo Baeck und Franz Rosenzweig. Deren Beitrag im Gegenüber zum Christentum spitzt er mit Blick auf die Wahrheitsfrage in der Verkündigung folgendermaßen zu: „Wir können die Gedanken der letzten großen jüdischen Theologen einfach nicht länger ignorieren, wenn wir der 147 Frage nach der Wahrheit unserer Verkündigung standhalten wollen.“ Haar betont, dass es sich hier um eine extistentielle Frage des christlichen Glaubens handele, mit der die Fragen von Gesetz und Evangelium und Rechtfertigung verbunden seien. Er fragt: „Leiden wir noch an der Not der Fragen, um die es hier geht, ‚Gesetz und Evangelium‘ und ‚Rechtfertigung‘? Haben wir die Antworten nicht viel zu sicher in der Hand? Sind wir dazu bereit, gerade im Blick auf das Heil der ganzen Welt sie mit ganzem Ernst von jenem ‚Mysterium Israel‘ her, an das doch auch wir gebunden sind, neu 148 zu durchdenken?“ Weil Haar Israel nicht als eine vergangene Größe betrachtet, sondern als gegenwärtiges Gegenüber in den Blick nimmt, gilt der Auftrag des neu Durchdenkens. Er erwachse aus dem Dialog, aus dem fak149 tischen und unumgänglichen „Nebeneinander von Kirche und Synagoge“ heraus. Hinter diesem Ansatz treten Aspekte wie die Vermeidung von Antisemitismus oder eine Absage an die Judenmission, die sich bei Haar andeu150 tet, zurück. Der Dialog als Impuls zu einer Revision der Theologie und die Wahrnehmung des Gegenübers Judentum als gegenwärtiger Größe, mit der man verbunden ist, stehen im Mittelpunkt und verdrängen die Überle151 gungen der ersten Phase. Helmut Gollwitzer, 1963/64: Fortgesetzt wird diese Intention in der Predigtmeditation Gollwitzers aus dem Jahr 1963, ebenfalls zu einem Text aus den bei dieser Thematik so wichtigen Kapiteln des Römerbriefes: Röm 11,25–32. In den ersten Sätzen formuliert Gollwitzer die Wende im theologischen Denken von der ersten zur zweiten Phase: „Es beginnt uns sichtbar zu werden, dass nicht nur die Bekämpfung der antisemitischen Vorurteile zu den Aufgaben der Kirche und ihrer Verkündigung gehört (zumal sie sie mitverschuldet hat), sondern dass Zusammengehörigkeit von Kirche und Israel zum Wesen der christlichen Botschaft gehört und dass ohne sie 152 das Neue Testament nicht richtig verstanden werden kann.“ So werde der 10. Sonntag nach Trinitatis zum Prüfstein dieser neuen theologischen Einsichten. Es ist deutlich zu spüren: Hier schreibt der Mitbegründer und Initiator der AG Juden und Christen des DEKT, die 1961 auf dem Berliner 147 Ebd. 148 A.a.O., 270. 149 Ebd. 150 A.a.O., 270: „Problematisch erscheint im Licht dieses Abschnittes auch die ‚Judenmission‘.“ 151 Bei der Predigtmeditation im folgenden Jahr (1962/63), die wiederum von J. HAAR ist, warnt dieser erneut vor Antisemitismus und Selbstüberhebung, vgl. J. HAAR: GPM 1962/63, 285. 152 H. GOLLWITZER: GPM 1963/64, 274.
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Kirchentag die neue Zeit auf den Weg gebracht hat. So weist Gollwitzer auf die an Zahl und Gewicht gewinnende Literatur systematisch-theologischer Herkunft zur Thematik hin sowie auf für Besprechungen in Gemeindekreisen geeignete systematisierende Werke, darunter die Dokumente der AG Juden und Christen. Systematisch orientiert sind zunächst auch die Ergebnisse, die Gollwitzer in seiner Auslegung für die Predigt herausstellt. Dabei betont er den Perspektivwechsel, der sich zwischen Paulus und heutigen Hörern ergebe: „Der Römerbrief gehört in diejenige Lebensperiode des Apostels, in der er mit der Wiederkunft Christi und also mit dem Ablauf all dessen, was ihr vorhergeht, noch in seiner Lebenszeit rechnet. Hat er diese kurzfristige Erwartung auch später aufgegeben, so hat er doch niemals an eine langfristige Dauer der gegenwärtigen Haltung des Judentums und an ein Verschwinden des Judenchristentums gedacht. Daraus folgt, dass wir seine Worte nicht einfach nachsprechen können; sie hängen aufs engste mit 153 dieser Fristsetzung zusammen.“ Gollwitzer beschließt diese Überlegung mit der Einsicht: „Ein heutiger Römerbrief würde jedenfalls in seinem 11. 154 Kapitel sehr anders lauten.“ Dieses „Anderslautende“ müsse die Kirche heute versuchen zu sagen. Unter dieser Prämisse wird die Geschichte, in der „die hochmütige Haltung [...] durch den christlichen Antijudaismus weit 155 und entsetzlich überboten“ wurde, zu einem wesentlichen Faktor für die Verkündigung. Gollwitzer gelangt hierbei zu Formulierungen, die dem Modell des konsequenten oder dialektischen Dialogs nahe kommen: „Wenn der Pilgerweg der beiden Teile des Gottesvolkes durch die Geschichte vieler Jahrhunderte geht, und wenn sie auf diesem Wege sich wahrhaftig nicht wie schwarz und weiß, wie wahr und falsch, wie gehorsam und ungehorsam, wie gläubig und verstockt zueinander verhalten, sondern beide immer wieder Wahrheit und Irrtum, Treue und Untreue mischen, wie steht es 156 dann mit dem Grundsatz von Vers 29?“ In der Tradition der Entwicklung seit dem Kirchentag 1961 steht die in Frageform formulierte Absage an die Judenmission. Sie wird mit einer bemerkenswerten Kritik an dem Begriff Judenmission artikuliert: „Ist es dann nicht von der Sache her geboten, den Begriff der ‚Judenmission‘ fallenzulassen (wie es heute ja auch weithin schon geschehen ist), weil er so unziemlich und so unrichtig ist, wie es der der ‚Katholikenmission‘ oder der ‚Protestan157 tenmission‘ wäre?“ An die Stelle der Mission setzt Gollwitzer das Konzept der „Verantwortung für Israel“, eine Verantwortung, die er als die „des jüngeren, des verlorenen Sohnes nach seiner Heimkehr für den älteren Bru158 der“ charakterisiert. Dieser Verantwortung nachzukommen bedeutet für Gollwitzer, in Buße und Demut gegenüber Israel die Gnade und Barmher153 154 155 156 157 158
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A.a.O., 281. Ebd. Ebd. A.a.O., 282. Ebd. A.a.O., 283.
zigkeit Gottes zu bezeugen. Für die Predigt stelle sich folgende Kriteriumsfrage: „Könnte sie [sc.: die Predigt; CS] ein Jude, der noch die Tätowierung des KZ an seinem Arm trägt, ungekränkt als ein Wort seines verlorenen und vom Vater vergebend wiederangenommenen Bruders hören und zur 159 Mitfreude an dem Erbarmen über allen dadurch gereizt (V. 11) werden?“ 160 Gegenüber der späteren Konzeption „Predigen in Israels Gegenwart“ fällt zweierlei auf: Die Intentionalität des Kriteriums von Gollwitzer und dessen historische Konkretion, die einerseits eine Verschärfung, andererseits eine Eingrenzung bedeutet. Zum einen zielt Gollwitzers Kriterium – anders als das der EKD-Studie – auf eine qualifizierte Beziehung von Christentum und Judentum, die über das Maß gegenseitiger Anerkennung hinausgeht. Im Hintergrund klingt das „Zueinandergehören von Heiden und Juden“ in 161 dem „einen Gottesvolk“ und die „Verheißung, dass sie sich vereinigen werden zum Lob und zum Zeugnis ihres gekreuzigten und auferstandenen 162 Herrn“ an. Die Intention des gegenseitigen „Reizens“ kann als „Zeugnis geben“ begriffen werden. Eine Intention, die in anderer Form die Fragen der Mission neu artikuliert. Zum anderen wird die Notwendigkeit des Kriteriums unmittelbar aus den geschichtlichen Ereignissen heraus begründet. Das Bewusstsein, dass es um Predigen nach dem Holocaust geht, findet sich in der Formulierung der Kriteriumsfrage wieder. Ich halte es für bemerkenswert, dass hier eine homiletische Konzeption in ihrer hermeneutischen Grundanlage vorformuliert wird, die gut 15–20 Jahre später mit großer Wirkung aufgegriffen wird. Nach Gollwitzers Kriterium wird das jüdische Gegenüber unmittelbar in den Predigtprozess integriert. Seine vorgestellte Gegenwart verändert die Predigt. Johann Haar, 1964/65: Haar, der im folgenden Jahrgang erneut die Meditation zum Israelsonntag zu verantworten hat, nimmt die Kriteriumsfrage Gollwitzers in seine Auslegung auf. Daneben betont Haar die Absage an bisherige antijüdische Auslegungstendenzen des Gleichnisses von den bösen Weingärtnern und stellt demgegenüber die jüdische Identität Jesu heraus: „Ein Schriftgelehrter fragt Jesus nach dem höchsten Gebot. Der Heiland antwortet mit dem ‚Sch`ma Jissrael‘, das die Opfer in Auschwitz und anderswo anzustimmen pflegten, wenn sie den Todesweg gingen (5. Mose 163 6,4f.).“ Hier blitzt in einer homiletischen Überlegung erstmals die neue Tendenz auf, nicht nur Jesu Jude-Sein wahrzunehmen, sondern in ihm auch das jüdische Gegenüber des Dialogs und damit das jüdische Gegenüber der Gegenwart zu erkennen.
159 160 161 162 163
Ebd. S.u. V. 3.2. H. GOLLWITZER: GPM 1963/64, 282. Ebd. J. HAAR: GPM 1964/65, 295.
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Friedrich-Wilhelm Marquardt, 1967/68: Marquardt nimmt in seiner Predigtmeditation zu Röm 9,1–5 im Jahr 1967 ein gutes Stück seiner Dogmatik aus den 1980er und 1990er Jahren vorweg. Er holt die Frage nach dem „Verständnis des natürlich-empirischen Judentums“ in die homiletischen Überlegungen hinein. Marquardt fragt: „Hat es [sc.: das natürlichempirische Judentum; CS] nur dialektische Bedeutung für die christliche Gemeinde, als ihr historischer und sachlicher Gegenspieler – so dass etwa ‚Judaismus‘ oder ‚Judaisieren‘ als die Gegensatzweisen des evangelischen, befreienden Glaubens der Gemeinde immer wieder eingeschärft werden müssen? Oder hat das Judentum als ‚natürliche Umgebung Jesu Christi‘ (K. 164 Barth) noch eine ganz eigene, selbständige, nicht nur dialektische, theologische Bedeutung: Als erwähltes empirisches Volk, ‚empirisches Gottesvolk‘ also, mit allen historischen und politischen Implikationen, die das bedeuten 165 müsste?“ Marquardt will keiner „natürlichen Theologie“ das Wort reden. Er kann deshalb so zuspitzend formulieren, weil er den Ansatz seiner Überlegungen streng christologisch beschreibt: „Dass Christus biologisch von den Juden herstammt und geschichtlich von den Juden herkommt, das ist der sachliche Grund dafür, dass die Wahrheit über die Juden schon im Anfang ‚Wahrheit in Christus‘ ist. Die Judenfrage ist unter allen Umständen christologisch anzusetzen und nicht abstrakt heilsgeschichtlich, geschichtstheologisch oder gar als Vehikel für irgendeine undisziplinierte natürliche Theologie – so wahr gerade ‚Fleisch‘ und Natur der Juden von Paulus chris166 tologisch ins Spiel gebracht werden.“ Aus diesem christologischen Ansatz heraus entfaltet sich die gesamte Thematik des christlichen Verhältnisses gegenüber dem Judentum für Marquardt als eine existentielle Frage. Mar167 quardt: „Was ist das Existential dieser Wahrheit [sc.: in Christus; CS]?“ Bei dem neuen Verhältnis zum Judentum gehe es nicht nur um eine neue Einsicht, sondern „auch um eine neue Leidenschaft, Erfahrung, Bedeutung, einen unmittelbaren und nicht nur ethisch-praktisch vermittelten Sinn, einen Anspruch der neu gesehenen Juden an den eigenen Glauben.“ Nur dann werde nicht sinnlos, irrelevant, philojudaistisch oder auch „antijudaistisch“ gelehrt und gepredigt. Marquardt beschreibt das Existential der Wahrheit in Christus als eine in diesem jüdischen Christus begründete Empfindlichkeit und Leidenschaft für den anderen, die mit Solidarität in einem oberflächlichen, rein ethischen Sinne zu kurz beschrieben wäre: „Es gibt eine soziale, sich dem anderen gewährende Empfindlichkeit, die bis in das Tiefste, ja bis in das Gottesverhältnis des anderen hinein reichen kann, ohne doch Triumph über den anderen zu sein, weil sie empfänglich ist für die Eigenart, das Besondere des 164 Hier offensichtlich nicht mit der Bedeutung komplementär, sondern im Sinne des Gegensatzes von These und Antithese gemeint. 165 F.W. MARQUARDT: GPM 1967/68, 343. 166 A.a.O., 344. 167 Ebd.
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anderen – die ist hier gemeint.“ Die Wahrheit in Christus sei, so Marquardt, eine Herzenssache. Sie sei das Gegenteil vom „psychologischen Syn169 drom der Selbstbefangenheit, das gerade für den Antisemiten typisch ist.“ Statt dessen gebe es in dieser Wahrheit „Erkenntnis nur in Solidarität, Denkakt nur als Lebensakt, ‚Wahrheit in Christus‘ nur in Empfänglichkeit 170 für die anderen, die Juden.“ Obwohl Marquardt keine expliziten Folgerungen für die praktische Umsetzung anschließt, setzt er dennoch mit der existentiellen Verankerung der Thematik einen entscheidenden Hinweis für die homiletische Theorie und ihre Praxis. Es bedarf einer theologischen und existentiellen Antwort auf die Frage, warum die Menschen, die eine Predigt hören, die Gegenwart des Judentum angeht. Darauf weist Marquardt mit Nachdruck hin. Er warnt, „diesen Sonntag [sc.: 10. nach Trinitatis; CS] ad infinitum zum Sonntag unserer unbewältigten Vergangenheit zu machen. Das Juden-Thema stellt sich uns aus der Bibel, nicht aus unserer Geschichte allein, und die Wahrheitsfrage dieses Sonntags ist nicht allein die Frage nach der Wahrheit unse171 rer Schuld an den Juden [...].“ Man würde Marquardt Unrecht tun, wenn man ihm unterstellte, er wolle von dem Thema der Vergangenheit ablenken oder die Schuldfragen relativieren. Im Sinne eines bewahrenden Gedenkens bleibt die Gegenwärtigkeit des jüdischen Gegenübers und seine existentielle Bedeutung der über die Erinnerung hinaus reichende Impuls für die Predigt. Darauf weist Marquardt mit seiner Betonung der Wahrheit in Christus hin. Gyula Groo, 1972/73: In den 1970er Jahren verschiebt sich der Akzent in den Predigtmeditationen. In den Vordergrund tritt die Betonung des christlich-jüdischen Gespräches als Ziel praktisch-theologischer Bemühungen. Groo erklärt in seiner Meditation zu Lk 19 im Jahre 1972: „Die Kirche, konkret: die Gemeinde, auch die einzelnen Gemeindeglieder sollen das freundliche Gespräch mit Israel, mit dem jüdischen Menschen aufnehmen, suchen und praktizieren und auf alle mögliche Weise die Solidarität mit 172 Wort und Tat ihnen bezeugen und realisieren.“ Groo fordert dies auf dem Hintergrund der bleibenden Erwählung Israels. So stünden Kirche und Synagoge unter demselben Gericht und unter derselben Verheißung und Gnade ihres Bundesgottes. Im „freundlichen Gespräch“ gehe es für Christen darum, „immer wieder – mit Wort und Tat – davon zu zeugen, dass wir die gnädige Heimsuchung Gottes, eben in Jesus, wahrgenommen haben und versuchen, dementsprechend, d.h. also im Glauben – zu le-
168 169 170 171 172
A.a.O., 345. Ebd. Ebd. A.a.O., 343f. G. GROO: GPM 1972/73, 377f.
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ben.“ Hinter dieser Auslegung scheint das Modell des vermittelnden Dialoges durch. Henning Graf Reventlow, 1974/75: Dem Modell des hermeneutischen Dialogs zuneigend ordnet Reventlow die Problematik in seiner Meditation zu Jer 7 zwei Jahre später, 1974, so ein: „Dieses Verhältnis [sc.: der Kirche zum Judentum; CS] sollte in der gegenwärtigen Situation weniger vom Gedanken der Mission her, als von dem gegenseitigen Selbstverständnis aus durchdacht werden. Eine simplifizierende Abwertung jüdischen Glaubens wird heute nicht mehr möglich sein, und auch der Vorwurf des Legalismus kann nur mit bedachtsamer Differenzierung geäußert werden. Dass der Wille Gottes außerhalb der Kirche möglicherweise entschieden ernster genommen wird als in ihr selbst, ist als gewichtiger Anlass zur Buße zu erkennen. Wenn diese Grundvoraussetzungen des Gesprächs berücksichtigt sind, müsste dann allerdings mit ganzem Nachdruck gefragt werden, worin das Proprium der christlichen Botschaft hinsichtlich des Inhaltes des Willens 174 Gottes zu finden ist.“ In dieser Darlegung finden sich die wesentlichen Merkmale der zweiten Phase: Absage an die Mission von Juden als theologischer Zielvorgabe, Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers aus seinem Selbstverständnis heraus und Ermöglichung eines christlich-jüdischen Gesprächs. Daneben wird die Abwehr von Antijudaismus aufgenommen und dieser als simplifizierende Abwertung jüdischen Glaubens qualifiziert. Schließlich drängt sich durch die hermeneutisch verankerte Hereinnahme des Selbstverständnisses des Gegenübers und der Zielvorgabe Gespräch die Frage nach dem christlichen Proprium auf. b) Auswertung Von den 20 Predigtmeditationen zum 10. Sonntag nach Trinitatis zwischen 1961 und 1980 beschäftigen sich 14 dezidiert mit dem Kasus. Sie erklären sich zum Verhältnis Kirche und Judentum und stellen ihre Überlegungen explizit auf dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen an. In der ersten Phase bis 1961 sind es noch drei Meditationen unter 13. Es sind in gewisser Weise hier wie dort theologische Einzelstimmen. Wie weit sie repräsentativ sind, lässt sich an Hand des untersuchten Materials nicht sagen. War es Ende der 1950er Jahre zweimal Steck, der das Thema im Rahmen der GPM einbrachte, so ist zwischen 1960 und 1971 allein viermal Haar der Ausleger, der die Akzente setzt. In den 1970er Jahren mehren sich die Stimmen, die vor einer Überbetonung der Thematik oder vor einem falschen Zungenschlag warnen. So vermerkt Hans-Peter Müller 1970, es gebe „neben der Gefahr verantwortungsloser Selbstgerechtigkeit die der
173 A.a.O., 378. 174 H. GRAF REVENTLOW: GPM 1974/75, 364.
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175
selbstgerechten Zerknirschung.“ Werner Scheidacker setzt sich in seiner Meditation 1976 ausdrücklich von den Auslegungen Haars ab. Scheidacker betont: „Es muss aber davor gewarnt werden, die paulinische Sicht der bleibenden (!) Bedeutung Israels einfach überall ins Neue Testament und also 176 auch ins Matthäusevangelium einzutragen.“ Keinesfalls dürften die „un177 geheuerlichen Verzeichnungen und Praktiken der Zeit des Faschismus“ gewissermaßen zur hermeneutischen Richtschnur werden, nach denen die Aussagen des Neuen Testaments umgedeutet würden. Ebenso formuliert Gerd Schunack 1979 bei seiner Meditation zu Röm 11,25–32 seine Vorbehalte: „Soll es auch in der Predigt um Israel gehen, um das Verhältnis zwischen Israel und christlicher Kirche, zwischen Juden und Christen, zwischen Juden und deutschen Christen? Wer es kann oder wer nicht anders kann, wird sich in der Predigt diesem von Sünde überwältigten Verhältnis wohl stellen müssen, der Verfolgung und Ermordung ungezählter Juden in der ‚Christentumsgeschichte‘, dem entsetzlichen Unrecht, das jüdischen Menschen im Dritten Reich von Deutschen angetan worden ist – wer es kann oder wer nicht anders kann. Ich finde allerdings, dass dies vom Pre178 digttext her nicht geboten ist.“ Dieser Überblick zeigt: Die Thematik hat Ende der 1970er Jahre derartiges Gewicht, dass sich auch jene, die ihr aus vielfältigen Gründen mit einer gewissen Distanz gegenüberstehen, ihre Haltung erklären. Das jüdische Gegenüber kommt in den Blick. Noch in der Verneinung einer hermeneutischen Relevanz der Thematik wird die Wahrnehmung des Gegenübers bestätigt. Daneben ist zu beobachten, dass profilierte Theologen der dritten Phase wie Marquardt hier erste Bausteine einer späteren Systematik in homiletischer Intention formulieren. Durch den Kasus der Predigtmeditation kommt dabei die existentielle Komponente der theologischen Fragestellung zum Vorschein. Diese existentielle Komponente, die eine Triebfeder bei der Bekenntnisbildung ist, stellt einen inhaltlichen Vorgriff auf die konfessorische Phase dar. Einmal mehr erweist sich der Bereich praktisch-theologischer Theoriebildung am Ort konkreter homiletischer Überlegungen als 179 Feld der tatsächlichen Neuformulierung theologischer Erkenntnis. 175 H.-P. MÜLLER: GPM 1970/71, 342 Anm. 22. 176 W. SCHEIDACKER: GPM 1976/77, 337. 177 Ebd. 178 G. SCHUNACK: GPM 1979/80, 325f. 179 Von den 12 Predigtmeditationen seit Erscheinungsbeginn der Predigtstudien 1969 widmen sich sieben der Thematik. Dabei wird in fünf Meditationen bei mindestens einem der Verfasser die Frage des Verhältnisses von Juden und Christen ausdrücklich angesprochen. Dieses Ergebnis überrascht, insofern die konzeptionelle Anlage der Studien mit ihrem „Zugang über die Situation und die konkrete Verkündigungsaufgabe“ (M. MEYER-BLANCK, Arbeitsbuch, 213) eine höhere Quote als bei den Göttinger Predigtmeditationen hätte erwarten lassen können. Heraus ragen in diesen Jahren die Überlegungen von H.M. Müller (1969) und H.W. Dannowski (1970). Während ersterer – den Merkmalen der zweiten Phase entsprechend – die Absage an die Judenmission, die Schuldanerkenntnis der Christen und die geistige Auseinandersetzung in gegenseitiger
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3. „Homiletischer Lernprozess“ in der ersten und zweiten Phase Am Ende der Darstellung der ersten und zweiten Phase frage ich nach den Veränderungen im Bereich der homiletischen Theorie. Lässt sich ein (historischer) homiletischer Lernprozesses erkennen, der im Sinne eines bewahrenden, grenzbewussten Gedenkens zu verstehen ist? Dazu seien hier zunächst die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst: Im Zentrum der allgemeinen Entwicklung des christlich-jüdischen Verhältnisses stehen in der Nachkriegszeit (erste Phase, 1945–1960) das Bekennen der eigenen Schuld sowie die Abwehr von Antisemitismus. Dabei zeigen sich keine neuen theologischen Denkansätze bei der Wahrnehmung des Judentums. Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers wird unter dem Aspekt der Judenmission thematisiert, an der ungebrochen festgehalten wird. In der homiletischen Theorie der ersten Phase wird die Frage nach einer veränderten Wahrnehmung des Judentums nicht gestellt. In den Predigtmeditationen zwischen 1947 und 1960 wird die Problematik vergangener antijüdischer Einstellungen und Auslegungen angesprochen und deren Funktionalisierung erkannt. An die Stelle christlichen Triumphalismus’ tritt Selbstkritik. Das Selbstverständnis des jüdischen Gegenübers wird nur am Rande wahrgenommen. In der zweiten Phase (ab 1961) tritt der Dialog mit dem Judentum in den Vordergrund. Die Aufgabe eines offenen Dialogs ersetzt die Absicht der Mission. Judenmission wird von den Vertretern des christlich-jüdischen Gespräches abgelehnt. Die Einsicht, dass das Gespräch eine theologischhermeneutische Dimension hat, setzt sich durch. Die Tradition jüdischchristlicher Gespräche wird neu entdeckt. In der homiletischen Theorie weisen einzelne Theologen darauf hin, dass die Erfahrung des Holocaust die Achtung fordert, konstatiert letzterer – in sehr differenzierter Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers: „Die an den Begriffen ‚Israel‘ und ‚Judentum‘ festgestellte Identitätskrise betrifft Juden und Deutsche in gleicher Weise. Dass Juden und Deutsche, Juden und Christen einander so zum Schicksal geworden sind, ist ein Grund mehr, sich der Aufgabe des 10. Sonntags n. Tr. nicht zu entziehen.“ (H.W. DANNOWSKI: Sonntag, 142). Dannowski denkt die Thematik von dieser Identitätskrise her. Er ist damit seiner Zeit in der Erfassung des Themas sowie der Einbeziehung des Gegenübers voraus. Wechselwirkungen zwischen den Meditationen lassen sich erkennen, wenn G. Wendland 1976 die Kriteriumsfrage H. Gollwitzers aus dem Jahre 1963 zitiert (G. WENDLAND: Sonntag, 169). In diesem Jahr formuliert M. Stöhr die Forderung, aus der sogenannten „Judenfrage“ müsse eine „Christenfrage“ werden (G. WENDLAND/M. STÖHR: Sonntag, 174). Besondere Aufmerksamkeit schließlich verdient der im Ergänzungsband Themenstudien erschienene Aufsatz von R. Rendtorff und B. Just-Dahlmann „Juden und Christen – Ausbruch eines Missverständnisses“. (R. RENDTORFF/B. JUST-DAHLMANN: Ausbruch, 215ff; s.u. V. 3.4). Fazit: In etwa gleichen Proportionen wie bei den GPM wird die Thematik auch in den Predigtstudien angesprochen. Besonders gegen Ende der 1960er und gegen Ende der 1970er Jahre ist ein Schwerpunkt festzustellen. Die Untersuchung der Predigtstudien weist keine Ergebnisse auf, die die GPM als nicht repräsentativ erscheinen ließen.
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Lehre und Verkündigung der Kirche verändern müsse. Konkrete Vorschläge für die homiletische Praxis werden aber nicht gemacht. Bei der Hermeneutik alttestamentlicher Texte hat die Wahrnehmung des Judentums ihren klassischen Ort im Rahmen christlicher Theologie. Hier wird intensiv Aufgabe und Ziel des christlich-jüdischen Dialogs für die Auslegung der Texte diskutiert. Dabei lassen sich verschiedene Modelle für die Wahrnehmung und den Umgang mit dem jüdischen Gegenüber unterscheiden, bei denen die Parameter Positionalität und Dialog zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Im Modell des vermittelnden Dialogs wird die mit der eigenen Positionalität verknüpfte Wahrheitsfrage zugunsten des offenen Gesprächs zurückgestellt. Der vermittelnde Dialog kann als das vorherrschende Modell der zweiten Phase gelten. Ihm verwandt sind Modelle eines dialektischen oder hermeneutischen Dialogs, in denen die eigene Positionalität und die Wahrnehmung ihrer Grenze durch das Gespräch mit dem anderen dialektisch bzw. hermeneutisch aufeinander bezogen werden. In der homiletischen Diskussion zur Predigt alttestamentlicher Texte spiegeln sich die Problemkonstellationen der exegetischen Auseinandersetzungen wieder. Bei Bohren wird eine dialektische Bezogenheit von alt- und neutestamentlichen Texten zueinander entworfen, die Raum lässt für ein Sonderkerygma des AT. Dadurch bleibt das Judentum als gegenwärtiges Gegenüber im Blick. In den Predigtmeditationen der zweiten Phase (1961–1980) wird das Gewicht deutlich, dass die Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit, der christlich-jüdische Dialog und die Wahrnehmung des Judentums inzwischen haben. Namhafte Theologen wie Gollwitzer und Marquardt entwerfen Leitlinien für die homiletische Umsetzung einer veränderten Wahrnehmung des Judentums. Insbesondere Marquardts Plädoyer für eine existentielle Beziehung zum jüdischen Gegenüber (in Folge und in Ablösung einer ausschließlichen Thematisierung der begangenen Schuld) kann als Ausdruck bewahrenden Gedenkens begriffen werden. Im Ergebnis deutet sich eine veränderte Wahrnehmung des Judentums an. Sie zeigt sich in der ersten Phase ausschließlich, in der zweiten in besonderem Maße in den Predigtmeditationen, die als treibende Kraft im Zusammenhang einer sich im Blick auf das Judentum wandelnden homiletischen Theoriebildung erscheinen. Ich will deshalb an ihnen exemplarisch zeigen, welcher konkrete Lernprozess im Sinne des bewahrenden Gedenkens stattgefunden hat. Dabei werde ich eine Antwort auf die Frage andeuten, warum der Lernprozess gerade an dieser Stelle stattfindet.
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3.1 Beispiele des Lernprozesses a) Vom der missbrauchenden Gegenüberstellung zum Gegenüber In den Meditationen von Steck aus den späten 1950er Jahren findet sich durchgehend eine Wahrnehmung des Judentums, die die in der antijüdischen Auslegung durchscheinende unsachgemäße Gegenüberstellung von Judentum und Christentum zu überwinden sucht. Steck betont die innerjüdische Tradition, aus der beispielsweise Jesu Gleichnis von den Weingärt180 nern verstanden werden müsse. Er weist darauf hin, dass zwischen Jesu Lehre und dem Judentum seiner Zeit Anknüpfungspunkte bestehen. Er betont die Kongruenzen zwischen rabbinischer Ethik und der ethischen Ausrichtung des Gleichnisses. Für die „Ablehnung“ Jesu durch die „Führer der Synagoge“ seiner Zeit wirbt er um Verständnis. Sie bleibe das „tiefe Geheimnis zwischen Israel und seinem Gott“, das „doch wohl auch die Folge 181 seines [sc.: Gottes, CS] langen Schweigens, seiner Abwesenheit“ sei. Von hier aus erklärt sich Stecks Ablehnung einer missbräuchlichen Gegenüberstellung von Kirche und Synagoge. Missbräuchlich sei sie, sofern in triumphalistischer Sichtweise Christen auf das Judentum herabschauten. Gleichwohl: Die Gegenüberstellung sei unvermeidlich. Kirche und Synagoge seien, erst recht im Schatten der katastrophalen Vergangenheit und im Lichte eines neuen Aufbruchs, aufeinander bezogen. In dieser von Steck als unvermeidlich bezeichneten Gegenüberstellung, die nicht missdeutet und zu einer Herabwürdigung des Judentums missbraucht werden dürfe, sehe ich einen Ansatz zum Verstehen des Judentums als eines selbstbewussten, gleichberechtigten Gegenübers. Zwar bleibt bei Steck das Judentum als Gegenüber auf die Rolle des „Spiegels“ für das Christentum verhaftet, wie seine Auslegung 1960 zeigt: „[...] das Geschehen zwischen Jerusalem und Jesus soll wirklich wie ein Spiegel benutzt, d.h. nicht in sich und als solches betrachtet werden, sondern der Selbsterkennt182 nis der Christenheit und nur ihr dienen.“ Aber dieser Spiegel soll kein „Zornspiegel“ mehr für Israel sein, aus dem die „spezifische Schuld der Ju183 den abzuleiten“ sei, sondern Mahnung für Christen. Die Rollen seien inzwischen vertauscht, Israel zum „offenkundigen Kreuzträger geworden“, während die Jünger eben dieser Aufforderung nicht nachgekommen sei184 en. Zwar bleibt das jüdische Gegenüber auf eine Rolle festgelegt, hinter der seine Selbstbestimmtheit zu verschwinden droht. Eine herabwürdigende
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Vgl. K.G. STECK: GPM 1958/59, 205f. A.a.O., 206. K.G. STECK: GPM 1960/61, 231; vgl. auch a.a.O., 233. A.a.O., 231. Vgl. a.a.O., 231.
Gegenüberstellung aber wird überwunden. In Ansätzen wird das Gegenüber sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart in dessen eigener 185 Sichtweise wahrgenommen. b) Vom Objekt zum Subjekt In der Predigtmeditation von Marquardt aus der zweiten Phase geht es um die Wahrnehmung des Judentums als einer christlichen „Herzensangelegenheit.“ Im Herz gründe die Fähigkeit, sich auf andere einzustellen, sich in 186 andere hineinzudenken. Es gelte, die Juden wahrzunehmen, und zwar nicht als „bloße Symbole“, nicht als „bloße Exemplare für jeden beliebigen 187 188 anderen.“ Es gehe nicht um das „Judentum, es geht um die Juden.“ Ihre Würde – Marquardt erklärt, ihnen gebühre der christliche Titel „Brüder“ – 189 ihre Präsenz, ihre Dignität gelte es in der ganzen Breite wahrzunehmen: „Grundsätzlich: Man sollte heute über Juden und Judentum nichts mehr sagen, ohne die reichlich vorhandene jüdische Literatur selbst mitsprechen zu lassen. Das Neue Testament ist nicht der einzige Zeuge des Juden190 tums.“ Marquardts Herzensanliegen ist es, Juden als selbstbewusste Men191 schen wahrzunehmen, auf die christlicher Glaube bezogen ist. Dabei werden aus den verobjektivierten Juden, zu denen man sich durch stereotypen Antijudaismus in einem abstrakten Gegensatz befindet, Subjekte, Individu192 en, zu denen es eine „seelische Beziehung des Glaubens“ gibt. Auf diese Weise wird nicht jedweder theologische Gegensatz aufgehoben – die Wahrheit und Einheit in Christus gehe „gegen das, was in dem Bewusstsein der 193 Juden bisher real ist.“ Unmöglich gemacht wird eine Wahrnehmung des jüdischen Partners, die diesen auf einen solchen Gegensatz hin abstrahiert und die besondere Dignität jüdischer Herkunft nivelliert. Zu der Subjektwerdung des Gegenübers trägt hier Marquardts Hinweis auf die kirchliche Verantwortung des Predigers für die Zukunft bei. Es gehe darum, Erkenntnis über die Juden und Verständnis für die Juden aufzubauen. Indem dabei nicht „ad infinitum“ die Vergangenheit im Zentrum steht, wird das jüdische Gegenüber nicht mehr nur als Opfer, sondern als selbstbestimmtes Subjekt wahrgenommen.
185 Vgl. a.a.O., 228. STECK zitiert vorab den Jerusalemer Professor J. Klausner. 186 F.W. MARQUARDT: GPM 1967/1968, 344. 187 A.a.O., 345. 188 A.a.O., 346. 189 A.a.O., 347. 190 A.a.O., 349. 191 Dass diese Bezogenheit eine Zumutung auch für Juden darstellt, verliert Marquardt nicht aus dem Blick, vgl. a.a.O., 348. 192 Vgl. a.a.O., 345. 193 A.a.O., 348.
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c) Der gesamte Prozess der 1. und 2. Phase: Von der Gegenüberstellung zum Subjekt Aus einer unsachgemäßen Gegenüberstellung wird in der ersten Phase die Wahrnehmung des Gegenübers. Das Gegenüber wird in der zweiten Phase nicht mehr als Objekt, als bloßer Spiegel oder abstrahierter Gegensatz angesehen, sondern als Vielzahl von Subjekten, von Menschen, mit denen man mitfühlen und in die man sich hineindenken kann. Hier zeigen sich in historischer Perspektive Veränderungen, die dem dargestellten didaktischen Lernprozess ähneln (s.o. III. 5). Zugleich werden die Eigenheiten des homiletischen Lernprozesses deutlich. Die theologische Bedeutung des jüdischen Gegenübers für die Verkündigung wird zunächst, wie im Kontext des didaktischen Lernprozesses, im Blick auf Gemeinsamkeit aber auch Verschiedenheit von Christen und Juden diskutiert. Der theologische Widerspruch zwischen christlichem und jüdischem Glauben wirkt im Rahmen christlicher Verkündigung als beständige Herausforderung an die Aufgabe der Predigt, weil hier – anders als im Zusammenhang unterrichtlicher Begegnung mit dem Gegenüber – die Wahrheitsfrage im Blick auf die eigene Position sowie bei der Verwiesenheit an das Gegenüber mitthematisiert wird. Dieser Herausforderung wird im Gebot, Gottes Ratschluss als Geheimnis anzuerkennen (Steck) bzw. in der Aufforderung zur Stellvertretung der Christen für Juden (Marquardt) begegnet. Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers gewinnt auf diese Weise eine eigene, homiletische Qualität. Sie findet ihren Ausdruck in einer Neuerschließung der zu predigenden Texte sowie in der Aufgabe, der Gemeinde die veränderte Wahrnehmung nahe zu bringen. Damit sind zwei der Faktoren angesprochen, die als immanente Bezugsgrößen der konkreten Predigtvorbereitung dafür verantwortlich sind, dass der Lernprozess sich – zumindest in den beiden ersten Phasen – wesentlich in den Predigtmeditationen abbildet. Hierauf will ich im Folgenden kurz eingehen. 3.2 Predigtvorbereitung als Ort der Subjektwahrnehumg Anhand der drei oben dargelegten Charakteristika von Predigen (s.o. Einleitung 1.) will ich im Folgenden andeuten, warum die Predigtvorbereitung (und ihre verschriftete Form in Gestalt von Predigtmeditationen bzw. Predigthilfen) als Ort eines homiletischen Lernprozesses besonders geeignet erscheint. a) Verkündigung des Wortes Gottes und das Subjekt des Predigtgeschehens Für Hans Joachim Iwand, Begründer der Göttinger Predigtmeditationen, ist das Subjekt der Predigtarbeit wie auch der Predigt das Wort Gottes 210
selbst: „Darum muss alle echte Bemühung um das Wort, die Meditation nicht minder wie die Predigt selbst, immer über sich hinausweisen, muss in sich jene Bewegung des Abnehmens sichtbar machen, die notwendig ist, 194 damit Christus wachsen kann.“ In der Beschreibung dieser Selbstbewegung des Wortes Gottes, die sich in der Meditation wie in der Predigt vollzieht, greift Iwand auf das von Barth geltend gemachte „Es predigt“ zurück: „Die Meditation, die wir bieten, macht den Versuch, von dem Standort aus, der der unsrige ist, hinzuhören auf dieses ‚es predigt‘, die Quelle zu finden, die auch für uns, wie für die vorangegangenen Generationen, uner195 schöpflich ist.“ Dem Text selbst kommt also höchste Bedeutung in diesem Verfahren zu. Predigt ist Verkündigung der Verheißung, die im Text „enthalten“ ist. Iwand: „Die Bewegung des Wortes Gottes wird immer wieder durch diese beiden, in sich relativ selbständigen Pole [sc.: Schrift und 196 Verkündigung; CS] angezeigt sein.“ Eine stimmige explicatio des Textes wird eine angemessene applicatio, d.h. eine konkrete Bezogenheit auf die Praxis mit sich bringen: „Denn auch die Richtung, in der das Wort Gottes uns trifft und anspricht, liegt in ihm selbst, das Wort behält sich auch in 197 seiner ‚Anwendung‘ selbst in der Hand.“ Im Prozess der Predigtvorbereitung verwandelt sich auf diesem Hintergrund der biblische Text zum Subjekt des Wortes Gottes, das vom Prediger zunächst passiv wahrgenommen wird. Es wird zu einem gegenwärtigen, aktuellen Ereignis. Iwand: „Wenn Sie predigen, ist heute, das Heute Gottes! Heute, jetzt haben Sie zu verkündigen. Was daraus wird, haben Sie Gott zu 198 überlassen.“ Dabei kommt es zu einer aktuellen Vergegenwärtigung des Textes, der in ihm enthaltenen Verheißung, die den Menschen hier und jetzt anspricht. Zur Verdeutlichung dieses Aspekts zitiere ich hier eine längere Passage aus Iwands Meditation zum 4. Advent 1950: „Der Herr ist nahe, das ist wahr sowohl von gestern wie von morgen her und eben damit fasst es unser Heute ein und relativiert alle seine Sorge! Nichts ist so nahe, Gott ist noch näher. Es ist, als ob wir in diesem Satz etwas spüren könnten von dem ‚euch‘ und ‚heute‘ aus Lk 2,11, von dem ‚jetzt‘ und der ‚angenehmen Zeit‘ aus 2 Kor 6,2. Nahe – das heißt, dass unser Glaube nicht mehr davon leben muss, sich einen Ideenhimmel (vielleicht auch einen christlichen Weltanschauungshimmel) zurechtzuzimmern, der sich hoch über diesem Jammertal wölbt, der uns vergessen lässt, dass es hier unten ‚fürchterlich ist‘, der uns das Jetzt und Hier ü199 bersehen und überspringen lässt.“ 194 H.J. IWAND: Predigt-Meditationen, 123. 195 A.a.O., 195. 196 A.a.O., 60. 197 A.a.O., 94. 198 Unveröffentlichtes Manuskript von Iwands Homiletik-Vorlesung im Predigerseminar Bloestau vom Sommersemester 1937; zitiert nach C. MÖLLER: Zeitansage, 498. 199 H.J. IWAND: Predigt-Meditationen, 249. Jüngst hat M. Josuttis den Aspekt der Vergegenwärtigung des Textgeschehens in der Predigt unterstrichen. Ziel des Predigens sei eine Vergegenwärtigung des Textes. Sie gelinge erst dann, so JOSUTTIS: Geheimnisse,
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Im Horizont der Aufgabe, dem Subjekt des Wortes Gottes Raum zu geben und den biblischen Text zu vergegenwärtigen, wird nachvollziehbar, dass die Predigtvorbereitung auf einen Text, der von Israel spricht, im Hinblick auf einen Sonntag, an dem das Verhältnis zu Israel Thema ist, zur Wahrnehmung des gegenwärtigen Judentums führt, ja führen muss. Auch da, wo der Unterschied zwischen der Situation des Textes und dem gegenwärtigen Horizont herauszustellen ist, wird die Frage nach den aktuellen Bezügen der im Text genannten Referenten (Israel, Judentum, Juden) angesprochen werden. Das Judentum ist auf seine Weise durch die Art der Wahrnehmung der Texte gegenwärtig. Unter dem Aspekt der Subjektstellung des Wortes Gottes und durch den Aspekt der Vergegenwärtigung der Texte wird nachvollziehbar, warum insbesondere Steck bei seiner Auslegung die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit anspricht. Die Perikope Lk 19 – Jesus weint über das zerstörte Jerusalem – vergegenwärtigt die Aspekte von Trauer und historischer Katastrophe. So erwächst die Aufgabe der Wahrnehmung des Judentums im Angesicht einer historischen Erfahrung, die im Text angestoßen wird. Gerade hier gilt es, die Differenzen der historischen Situation zu vergegenwärtigen, wie es Steck in seiner Beschreibung des Rollentausches von Christen und Juden tut. b) Predigt als menschliche Rede und die Hörer-Subjekte Predigt als menschliche Rede zielt auf Kommunikation mit Subjekten. Ist schon in der Bestimmung der Predigt als Selbstbewegung des Wortes Gottes der Hörerbezug konstitutiv für diese Bewegung, so tritt der Hörer erst recht in einer humanwissenschaftlich orientierten Einordnung des Predigtgeschehens in den Mittelpunkt. „Predigen heißt: Ich rede mit dem Hörer über sein Leben [...]. Er, der Hörer, ist mein Thema, nichts anderes; frei200 lich: er, der Hörer, vor Gott.“ Diese Sätze Ernst Langes begründen ein wichtiges Steuerungsmoment der Predigtvorbereitung, wie es beispielhaft im Verfahren der von Lange begründeten Stuttgarter Predigtstudien zum Ausdruck kommt. Zur Wahrnehmung des Predigthörers gehört die Wahrnehmung seiner Wirklichkeit. In seinem „Brief an einen Prediger“ begründet Lange dieses Element der Predigtvorbereitung unter dem Stichwort „Erwägungen zur homiletischen Situation“: „Die allgemeinen, zeitgeschichtlichen Lebensbedingungen und das einzelne kommunale Beziehungsfeld, der Erlebnisgehalt der ‚Stunde‘, das große politische und das individuelle gemeindliche Klima, das alles geht in die Rechenschaft über die 201 ‚homiletische Situation‘ ein.“ So entstünden einerseits bei der Arbeit am 13, „wenn der Text in einem wesentlichen Teil hier und jetzt noch einmal geschieht.“ Zentrale Leitfrage für die Predigtvorbereitung sei deshalb, ebd: „Was aus dieser Perikope soll und kann sich jetzt wiederholen?“ 200 E. LANGE: Predigen, 58. 201 E. LANGE: Brief, 15f; vgl. zum Stichwort „Homiletische Situation“ auch J. HERMELINK: Situation, 195ff.
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Text „neue Entdeckungen über meine Gemeinde“, andererseits würden die „Anfechtungen meiner Gemeinde“ zu neuen Entdeckungen am Text herausfordern. „Von daher ergibt sich als Aufgabe der Homiletik, Zeitdiagnostik zu treiben, die Implikationen der Moderne zu bedenken und mit christ202 licher Tradition zu vermitteln“, so Birgit Weyel in ihrer Beschreibung der Aufgabe der Predigtmeditationen unter Aufnahme des Verfahrens der Predigtstudien. Weyel fasst die Aufgabe der Predigt so zusammen: „Die Predigt leiste Deutungsarbeit. Mehr noch: Sie ermöglicht Erfahrung und legt sie offen. Indem sie Erfahrung versprachlicht, leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag zur intersubjektiven Kommunikation von Erfahrung: ‚Wo Brand203 markung war, soll Sprache entstehen‘.“ Zu den Implikationen der Moderne, zu ihren Erfahrungen, die es zu deuten gilt, ja zu ihren „Brandmarkungen“, gehört die Erfahrung des Holocaust als eines Zivilisationsbruches und als eines radikalen Angriffes auf die jüdische Existenz. Indem in der Predigtvorbereitung durch den biblischen Text die Gegenwart des Judentums und durch die Deutung der Wirklichkeit der Angriff auf das jüdische Gegenüber wahrgenommen wird, steht das Predigtgeschehen und seine Erarbeitung im Spannungsfeld dieser beiden Momente. So stellt sich schon in der Vorbereitung die Herausforderung, Erfahrung des Holocaust und gegenwärtiges jüdisches Gegenüber in deutender Perspektive aufzugreifen. Eine Einbeziehung des Gegenübers als Subjekt wird Juden dabei im Sinne eines bewahrenden Gedenkens in ihrer Aktualität wahrnehmen und sie nicht auf eine Rolle der Vergangenheit festlegen. Die Überlebenden des Holocaust werden zu Hörer-Subjekten der Predigt, wie es die Kriteriumsfrage Gollwitzers verlangt. c) Predigt als öffentliche Rede und die Person/die Subjektrolle des Predigenden Predigt als öffentliche Rede verpflichtet zu gesellschaftsbezogener Reflexion des Predigtgeschehens sowie zur Offenlegung vorausgesetzter Plausibilitätszusammenhänge. Die Person des Predigenden ist in diesem Zusammenhang das Subjekt, das die Wahrnehmung und Einbeziehung der unterschiedlichen Faktoren des Predigtgeschehens vollzieht. Wilfried Engemann versteht in seiner „Einführung in die Homiletik“ im Anschluss an Otto Haendler das „Subjekt des Predigers als Ausgangs- und 204 ständigen Orientierungspunkt“ in der Homiletik. Er fordert eine „Personale Kompetenz des Predigers.“ Er beschreibt diese Kompetenz als die Fähigkeit, „eine Predigt im Bewusstsein sowohl der Grenzen wie auch der Möglichkeiten seiner Persönlichkeitsstruktur erarbeiten zu können, und 202 B. WEYEL: Ostern, 239. 203 B. WEYEL: Ostern, 238. Weyel zitiert hier P. SLOTERDIJK: Das tätowierte Leben, in: DERS.: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen, Frankfurt am Main 1988, 17. 204 W. ENGEMANN: Einführung, 184f.
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dem Evangelium so einen der eigenen Person angemessenen, d.h. mit ihr 205 verbundenen Ausdruck zu geben.“ Zu dieser personalen Kompetenz gehöre das Bemühen um „echte Zeitgenossenschaft.“ Hierbei gehe es nicht „einfach um Zeitkritik, sondern um eine Auseinandersetzung mit der Gegen206 wart anhand der eigenen Person.“ In diesem Sinne gelte: „ ‚Wer ganz in der Offenbarung und zugleich ganz in der Zeit stünde, stellte die ideale Gestalt 207 des christlichen Verkündigers dar‘. Gerade dann, wenn man von der Predigt die Plausibilisierung auch ‚überzeitlicher Wahrheit‘ fordert, muss um einer angemessenen Verortung dieser Wahrheit willen erwartet werden, dass sich der Prediger mit seinen zeitlichen, begrenzten, biographischen Wurzeln 208 auseinandersetzt.“ Auf der kritisch-analytischen Ebene führe die Auseinandersetzung mit dem Persönlichkeitsprofil zu einer Klärung der die Predigtarbeit begleitenden und – häufig genug unbewusst – mitkonstituierenden Faktoren: „Wer sich seiner Verdrängungen oder seiner Prägung in diesem oder jenem Ichzustand bewusst geworden ist und über die Hintergründe seiner Lieblingsthemen Bescheid weiß, wird sich beispielsweise eher davor hüten können, seine Probleme der Gemeinde unvermittelt als Anfra209 gen Gottes unterzuschieben.“ Die Wahrnehmung des Judentums kommt im Zusammenhang mit der Subjektrolle des Predigenden in zweifacher Hinsicht in den Blick. Auf dem Hintergrund seiner eigenen Biographie wird der Prediger eventuelle antijüdische oder philojüdische Einstellungen aufspüren, um keine Verdrängungs- oder Instrumentalisierungsprozesse innerhalb der Predigt zu transportieren. Gerade vom Herausgeber der „Predigtmeditationen im christlichjüdischen Kontext“, Wolfgang Kruse, wird angemahnt, die Predigenden dürften die Texte nicht aus der Sicht ihres „Lieblingsthemas Kirche und 210 Israel“ instrumentalisieren. Zum anderen ist auf dem Hintergrund des gesellschaftlichen Kontexts öffentlicher Verkündigungsrede die kritische Beschäftigung mit antijüdischen Strukturen erforderlich. Der Predigende ist Teil einer Gesellschaft, deren eventuelle antijüdische Plausibilitätszusammenhänge nicht einfach übergangen werden können. Daneben gehört für Engemann zur Wahrnehmung des Subjektseins des oder der Predigenden auch „die Ausprägung einer konfessorischen Kompe211 tenz.“ Er kann stellvertretend als Glaubenssubjekt zum Zeugen der christlichen Bezogenheit und Differenz zum jüdischen Gegenüber werden. Er kann dabei sowohl dem eigenen christlichen Zeugnis verpflichtet sein als 205 A.a.O., 187. 206 A.a.O., 188. 207 W. ENGEMANN zitiert hier O. HAENDLER: Die Predigt. Tiefenpsychologie 2 Grundlagen und Grundfragen, Berlin 1949. 208 W. ENGEMANN: Einführung, 188. 209 A.a.O., 206. 210 Vgl. A. und W. KRUSE: Predigen, 211 mit der Anmerkung: „nicht jeder Text taugt zu einer Grundsatzerklärung über das Verhältnis von Kirche und Israel!“. 211 W. ENGEMANN: Einführung, 222.
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auch das jüdische Gegenüber wahrnehmen und anerkennen. Besonders in der Predigtmeditation Marquardts zeigt sich eine Wahrnehmung dieser Zusammenhänge im Rahmen der Predigtvorbereitung. Er weist auf die Selbstbefangenheit antijüdischer sowie philojüdischer Einstellungen hin. Wahrnehmung jüdischen Gegenübers fördere Erkenntnis, die sich in Solidarität ausdrücke. Die Selbstbezogenheit werde in Empfänglichkeit für den anderen überführt, ohne dass christliches Zeugnis verschwiegen werde. Fazit: Der in den Predigtmeditationen aufgewiesene Lernprozess berechtigt zu folgender Annahme: Weil in der Predigtvorbereitung das Wort Gottes in seiner anredenden Gestalt, die Hörer als Subjekte mit ihren Erfahrungen der Wirklichkeit und der Predigende in seiner Persönlichkeit sowie als Zeitgenosse der Gesellschaft wahrgenommen werden, werden zunächst die Predigtmeditationen zum Ort einer exemplarischen Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers. Die Theorie erwächst aus ihnen.
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V. Homiletische Entwürfe zwischen 1980 und 2000 – Konfessorische Herausforderungen 1. Allgemeine Entwicklung: Einordnung der christlich-jüdischen Beziehung Die dritte Phase setzt mit Beginn der 1980er Jahre ein. Ihren Namen – konfessorische Phase – verdankt sie dem sich durchsetzenden Sprachgebrauch in den verschiedensten Erklärungen, an deren Spitze der Synodalbeschluss der Evangelischen Kirche im Rheinland steht. Es dominiert eine 1 „konfessorische Sprache.“ Das Bekennen der Verfasser bezieht sich nicht allein auf eine Schuld- und Verantwortungsübernahme der Verbrechen der Vergangenheit im Sinne eines klassischen Confiteor. Auch Verhältnisbestimmungen im Blick auf das Judentum werden als Bekenntnis formuliert. Konfessorisch ist diese Phase also in doppelter Hinsicht: Einerseits wird Schuld, andererseits eine Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum bekannt. Die Berücksichtigung dieser Neuorientierung bei der christlichtheologischen Selbstbestimmung rückt ins Zentrum. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Erklärung der Synode als Wendepunkt betrachtet. Die Wende hin zu konfessorischen Aussagen und zu theologischen Entscheidungen ist im kirchlichen Kontext umstritten. Sie führt zu innertheologischen Auseinandersetzungen und Konflikten. Solange es um das Bekennen von Schuld (Erste Phase) oder um einen offenen Dialog (Zweite Phase) ging, konnte vieles als theologische Einzelposition behandelt, interessiert verfolgt oder beiseite geschoben werden. Indem die Verfasser der synodalen Erklärung konfessorisch formulieren, erheben sie auf protestantischer Seite erstmals im größeren Rahmen Anspruch darauf, mehr als nur eine theologische Ansicht zu vertreten. Gerade wegen dieses Anspruchs regt sich Wider2 stand. Der Dialog findet jetzt nicht mehr allein zwischen Juden und Christen statt, sondern er wird, wie Hans Hermann Henrix erklärt, „zum Dialog ‚auf der Ebene ihrer [sc.: Christentum und Judentum für sich; CS] je eige3 nen religiösen Identität‘.“ Es geht um das eigene, theologische wie kirchliche, Selbstverständnis. Es geht um „christliche[n] Identität im christlich-
1 B. PETERSEN: Theologie, 37. 2 Vgl. zur Problematik des Bekenntnischarakters vor allem M. HONECKER: Glaubensbekenntnis, 201ff; vgl. dazu auch N. SLENCZKA: Durch Jesus in den Sinaibund?, in: LuMo 1995, 17–20. 3 H.H. HENRIX: Dialog, 71. Henrix zitiert Johannes Paul II. vom März 1979
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jüdischen Gespräch“, um Selbst-Verstehen und um Christus-Bekennen im Gegenüber zum Judentum. Es geht um ein Glaubensbekenntnis im Gewahrwerden eines jüdischen Gegenübers. Im Zentrum steht dabei die Frage, „ob sich die Kirche in ihrem Selbstverständnis auch weiterhin durch die 5 Abgrenzung gegenüber dem Judentum definieren kann und muss.“ Die Artikulation christlichen Selbstverständnisses in Gestalt konfessorischer Sätze stellt eine hermeneutische Herausforderung an die Theologie dar. Sie leistet damit im Sinne des Wortes Hermeneutik die Aufgabe, die in Jesus Christus begründete Glaubenserkenntnis auszulegen und zu entfalten. Diese Entfaltung geschieht „in Entsprechung zu ihrem Grund, und zugleich in bezug auf die menschliche Daseins- und Wirklichkeitserfahrung der Zeit, 6 in der und für die die Theologie jeweils geschieht.“ Bekenntnisse können als Zusammenfassungen dieses Auslegungsvorgangs und damit auch als Auslegungskriterien für neue Auslegungen begriffen werden. Christlicher Glaube hat sich in statu nascendi im Horizont des (Selbst-) Verständnisses des Judentums artikuliert. Das Christusgeschehen wird im Neuen Testament im jüdischen Glaubens- und Lebenshorizont der Hebräischen Bibel (bzw. der Septuaginta) ausgelegt und verstanden. Weil es dabei um einen das werdende Christentum von den anderen Gruppen des damaligen Judentums unterscheidenden und schließlich trennenden Auslegungsvorgang geht, ist die Trennung von der jüdischen Gemeinschaft bei gleichzeitiger Bezugnahme auf dieselben heiligen Schriften ein Urdatum hermeneutischer Problematik innerhalb der christlichen Theologie. Die Reformulierung des Bekenntnisses 1980 und in den Jahren danach stellt sich der Aufgabe, Glaubenssätze entsprechend ihrem Grund, das heißt in verbindender und unterscheidender Bezugnahme auf das Judentum, und in Bezug auf die menschliche Daseins- und Wirklichkeitserfahrung der Zeit, das heißt in Bezug auf die Erfahrung des Holocaust zu formulieren. Die hermeneutische Auseinandersetzung ist dabei zentral an der Frage des christlichen Antijudaismus orientiert. Günter Klein weist darauf hin, dass „Christlicher Antijudaismus“ als eine hermeneutische Kategorie in der theologischen Diskussion 7 verstanden werden müsse. Erstes Anliegen einer theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum, wie sie beispielsweise die Studie Christen und Juden II des Rates der EKD geben will, ist daher eine Theologie ohne Antijudaismus. In dieser Phase ist nicht ein Dialog an sich das Ziel, sondern die Neuformulierung der Theologie und des Bekenntnisses als ihrer hermeneutischen Richtschnur. Entscheiden, neu Orientieren, Umsetzen sind die zentralen Forderungen. 4 Vgl. J. SEIM: Identität, 458–467. Vgl. J. Seims Auseinandersetzung mit E. KÄSEProtest! (EvTh 52, 177–178) und H. TRAUB: Nein, Herr Seim (EvTh 52, 178– 185); vgl. J. SEIM: Vorläufige Antwort (EvTh 52, 185–187). 5 M. JOSUTTIS: Heft, 501. 6 W. JOEST: Fundamentaltheologie, 175. 7 Vgl. G. KLEIN: Antijudaismus, 412.
MANN:
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In diesem Sinne werden zahlreiche theologische Erklärungen in immer kürzeren Abständen herausgegeben, denen der Doppelcharakter des klassischen Bekennt8 nisses – Bekenntnis der Sünde und Bekenntnis des Glaubens – zu eigen ist. Daneben entstehen vielfältige theologische Entwürfe, die sich der Themen des christlich-jüdischen Dialogs annehmen. Es bilden sich Kreise und Vereine, die die Thematik zu ihrer Aufgabe erklären. Tagungen und Kongresse führen zu programmatischen Veröffentlichungen. In einzelnen Landeskirchen werden Stellen eingerichtet, die der Pflege des Verhältnisses von Christentum und Judentum 9 dienen. Der „Arbeitskreis Studium in Israel“ wird gegründet, das „Institut Kirche und Judentum“ in Berlin beginnt Ende der 1970er Jahre unter der Leitung von Peter von der Osten-Sacken mit der Herausgabe verschiedener Veröffentlichungs10 reihen, die sich zu den schon früher entstandenen Reihen „Forschungen zum christlich-jüdischen Dialog“ sowie „Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog“ hinzugesellen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Vorhaben der konfessorischen Neuorientierung einen notwendigen Wandel von der Idee des Dialogs hin zur politischen, ökonomisch und gesellschaftlich sichtbaren Materialisierung einer neuen Theologie des christlich-jüdischen Dialogs bringt. Zugleich macht es eine Flut von Stellungnahmen und Veröffentlichungen unmöglich, von der (im Sinne einer einzigen) Theologie des christlichjüdischen Gesprächs zu sprechen. Die verbindende Aufgabe liegt in der Entwicklung einer Theologie ohne Antijudaismus. Die Maßstäbe für eine Theologie ohne Antijudaismus und dafür, wie sie zu erreichen ist, werden kontrovers diskutiert. Im Sinne eines Lernprozesses – auf der Grundlage bewahrenden Gedenkens – geht es um die hermeneutischen Vorgaben, unter denen die Wahrnehmung des anderen entfaltet und ihre Rückwirkung auf das eigene Selbstverständnis reflektiert wird. Die Darstellung der theologischen Diskussion in der dritten Phase orientiert sich an den sehr unterschiedlichen Aspekten, die das christlich-jüdische Gespräch einerseits und die innerchristliche Diskussion über dieses Gespräch andererseits bestimmen, sowie an den Kriterien der theologischen Neuorientierung.
8 Vgl. R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente; vgl. auch H.H. HENRIX/W. KRAUS: Dokumente II. 9 Vgl. den Aufsatzband von M. STÖHR (Hg.): Lernen in Jerusalem – Lernen mit Israel. Anstöße zur Erneuerung in Theologie und Kirche. 10 „Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum bei der Kirchlichen Hochschule Berlin“, 1.Titel: U. BERGER/U. BOHN/P. LÖFFLER/P. VON DER OSTENSACKEN (Hg.): Jerusalem – Symbol und Wirklichkeit. Materialien zu einer Stadt, Berlin 1976; „Studien zu jüdischem Volk und christlicher Gemeinde“, 1.Titel: P. LENHARDT: Auftrag und Unmöglichkeit, s.u. V. 2.
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2. Kriterien der theologischen Neuorientierung a) Auschwitz – Kriterium einer verantwortungsvollen Theologie Als ein erster Prüfstein bei der Entwicklung einer Theologie im christlichjüdischen Gespräch erweist sich die Erfahrung von Auschwitz selbst. Da diese Erfahrung im Hintergrund nahezu aller auf der Basis des christlichjüdischen Gespräches entstandenen Entwürfe nach 1945 steht, auch im Hintergrund meiner Konzeption eines bewahrenden Gedenkens, muss zunächst präzisiert werden, was Kriterium, was Prüfstein in diesem Zusammenhang bedeuten soll. Als Beispiel eines Entwurfs, in dem Auschwitz zum hermeneutischen Kriterium wird, kann die Arbeit von Johanna Kohn „Haschoah. Christlich-jüdische Verständigung nach Auschwitz“ dienen. Ein Blick auf den Aufbau des Buches zeigt, 11 dass die Erfahrung von Auschwitz Zugangskriterium für alle weiteren Fragen ist. Kohn selbst erklärt die Erfahrungen von Auschwitz zum „hermeneutischen Aus12 gangspunkt der Arbeit.“ Im Gefolge der politischen Theologie von Johann Baptist Metz und unter Aufnahme der Ansätze der Kritischen Theorie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwickelt sie eine Theologie, die aus der Erinnerung an Auschwitz ihre (gesellschafts-) kritische Intention bezieht. Auschwitz ist nicht nur Ausgangspunkt oder Kennzeichen für eine Neuorientierung im christlich-jüdischen Verhältnis, sondern zugleich Herausforderung für Verstehen und Handeln im allgemeinen Sinne. Maßstab ist die Forderung Adornos, dass 13 „ ‚Auschwitz nie wieder‘ sei.“ Für eine sich entsprechend dieser Forderung ver14 ändernde Praxis gehe es um „die Durchbrechung des Kreislaufs von Unheil.“ So verstanden kann Auschwitz nicht eine rein historische Perspektive sein. Kohn: „Ich schließe mich den jüdischen Dialogteilnehmern an, die den Kampf gegen Auschwitz im Kontext allgemeiner Weltverantwortung sehen und die Auschwitz 15 überall dort wieder erkennen, wo menschliche Unterdrückung stattfindet.“ Auschwitz wird so zum Ausgangspunkt einer „politischen Theologie des Subjekts“. Dabei erweisen sich Erinnerung und Erzählung als Instrumente, die dazu beitragen, dass „christliche und jüdische Identität angesichts der sprachzerstörenden und identitätsgefährdenden Erfahrungen von ‚Haschoah‘ gerettet werden 16 kann.“ – Kohn entwirft eine Theologie, in der Auschwitz, die Sorge vor dessen Wiederholung und der Aufweis von Traditionen, die Auschwitz hervorbrachten, 11 Vgl. die Gliederung der Arbeit KOHNS: Haschoah, 5f, in der die einzelnen Abschnitte folgende Untertitel tragen: 1. Warum Auschwitz ein Ende haben muss; 2. Warum Auschwitz noch kein Ende hat; 3. Die Gefahr, dass sich Auschwitz wiederholt; 4. Bedingungen, unter denen Auschwitz ein Ende haben kann; 5. Warum Auschwitz eine Wende herbeiführen muss. 12 J. KOHN: Haschoah, 22. 13 Vgl. a.a.O., 51. 14 Ebd. J. KOHN zitiert hier TH. W. ADORNO/M. HORKHEIMER: Erziehung nach Auschwitz. 15 Ebd. 16 A.a.O., 53.
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im Vordergrund stehen. Die Erinnerung an Auschwitz ebnet den Weg, Geschichte und Schuld aufzuarbeiten, für die Entstehungsbedingungen von Theologie aufmerksam zu werden, einer subjektlosen Theorie entgegenzuwirken und so schließlich der Bestimmung zur gemeinsamen christlich-jüdischen Weltverantwortung nachkommen zu können. Der ethische Impuls wird vermittelt durch die Kritische Theorie von Horkheimer und Adorno und deren Aufnahme in der politischen Theologie von Metz.
Mit der durch die Ausstrahlung der Fernsehserie „Holocaust“ und dem 40. Jahrestag der Reichspogromnacht anwachsenden Erinnerungskultur in der Bundesrepublik rückt die Erfahrung von Auschwitz auch in vielen anderen Veröffentlichungen in den Vordergrund. Im Blick auf die Thematik ist zwischen Zugang und Kriterium zu unterscheiden. Häufig ist die Erfahrung von Auschwitz und die Erinnerung an die Katastrophe ein Zugang zur Thematik des jüdisch-christlichen Verhältnisses. Bei Kohn ist die Erfahrung von Auschwitz nicht nur der Zugang, sondern zugleich der entscheidende 17 Prüfstein, das Kriterium theologischer Reflexion. Der ethische Impuls ist Ausgangspunkt einer Wahrnehmung des anderen und einer Selbstbestimmung im Gegenüber zum anderen. Zwar können die bei Kohn im Anschluss an die Kritische Theorie angestellten Überlegungen kaum als theoretische Grundlage der allgemeinen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik der 1980er und 1990er Jahre gelten. Dennoch dürfte in der Öffentlichkeit der ethische Impuls das wesentliche Motiv für die theologische Neuorientierung darstellen, das auch da im Hintergrund steht, wo die theologischen Ausführungen von Kohn oder Metz nicht geteilt werden oder unbekannt sind. Theologie steht nach Auschwitz in der Mitverantwortung, eine Wiederholung unmöglich zu machen. Das ist die elementare, vorgängige Dimension theologischer Neuorientierung und ihr erstes Kriterium. Kritisch zu bedenken ist hier die Gefahr der Instrumentalisierung oder gar Ideologisierung der Erinnerung an Auschwitz. Die Ausweitung der Bedeutung der Erinnerung macht Auschwitz allbedeutend, wenn, wie bei Kohn zu sehen, die „gegenwärtige Ausländer- und Kommunistenfeindlichkeit“ ebenso in die Kontextbestimmung gehören wie die „fundamentaltheologische Reflexion auf die Stellung der Bundesrepublik im Nord-Süd- und 18 Ost-West-Konflikt.“ Hier wird – unabsichtlich – eine Allgegenwart von Auschwitz heraufbeschworen. Die Macht der Erinnerung, wie sie von Kohn eindrücklich beschrieben wird und unter der die Opfer leiden, erscheint in furchtbarer Weise ungebrochen. Die geforderte Aufarbeitung der Geschichte geschieht weitgehend im Rahmen einer sozial-psychoanalytischen Konzeption. Es bleibt offen, in welcher Form die Erinnerung im Gedenken bewahrt, zugleich aber auch die Grenzen der Erinnerung wahrgenommen werden. Hierzu gehört, dass nicht etwa eine Wahrnehmung des jüdischen 17 Vgl. J. KOHN: Haschoah, 92. 18 A.a.O., 96. Zu beachten ist, dass J. Kohn sich selbst gegen eine Instrumentalisierung von Auschwitz wendet, a.a.O., 94f.
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Gegenübers ermöglicht, sondern sogleich eine Verallgemeinerung des Gegenübers vorgenommen wird. So steht das anzustrebende bewahrende Gedenken in der Gefahr, die Grenzen der Erinnerung zu übergehen und das jüdische Gegenüber aus dem Blick zu verlieren. b) Kein Antijudaismus Über die Forderung nach einer Theologie ohne Antijudaismus besteht ein umfassender Konsens im christlich-jüdischen Dialog. Als exemplarisch für eine theologische Aufarbeitung des Themas, die sich dieser Forderung verpflichtet weiß, kann die Studie der EKD „Christen und Juden II – Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum“ von 1991 gelten. Hier heißt es: „Die Erneuerung der Beziehungen zwischen Juden und Christen setzt die kritische Sichtung und Neuformulierung christlicher Glaubensaussagen und theologischer Überlieferung voraus [...]. Das beginnt mit der Überprüfung und Vermeidung falscher Gegenüberstellungen, die jüdische Glaubensinhalte verzeichnen und herabwürdigen (Antijudais19 mus).“ Es schließt sich eine Aufzählung falscher Denkschemata christlicher Theologie an, angefangen bei der Unterscheidung zwischen einem Gott des Alten Testaments und einem des Neuen Testaments bis hin zur antithetischen Gegenüberstellung jüdischer und christlicher Theologie in eschatologischer Perspektive. An der Forderung „kein Antijudaismus“ werden nahezu alle christlich-theologischen Aussagen gemessen und gegebenenfalls reformuliert. Ausgangspunkt antijüdischer Aussagen ist, so die Studie, die Negierung einer bleibenden Erwählung Israels als Volk Gottes: „Der wohl wichtigste Schritt gemeinsamer Erkenntnis war die Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels als Volk Gottes. Damit wird die Enterbungs- oder Substitutionstheorie abgewiesen, nach der die Kirche 20 durch Israel ersetzt sei.“ Eine nicht antijüdische Theologie zu entwickeln, die die Anerkennung der bleibenden Erwählung Israels in das Gespräch mit dem Gegenüber Judentum einbringt, war übereinstimmendes Ziel der unserem Thema gewidmeten christologischen und ekklesiologischen Bemühungen in den 1980er und 1990er Jahren. Der Entwurf eines Christusbekenntnisses ohne Antijudaismus und einer Bundestheologie ohne Absolutheitsanspruch wird in den verschiedenen Darstellungen gefordert und zu formulieren versucht. Die historische Erfahrung Holocaust ist in diesen Konzeptionen dem Kriterium „kein Antijudaismus“ insofern untergeordnet, als diese Erfahrung im Kontext der gesamten christlich-jüdischen Geschichte gesehen und unter den Primat theologischer Überlegungen subsumiert wird. Deutlich wird z.B. in der EKD-Studie von einer christlichen Mitverantwortung und Schuld am Holocaust gesprochen: „Die Christen und die Kirchen sind aber 19 Christen und Juden II, 24. 20 A.a.O., 20.
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auch durch ihre unheilvolle alte Tradition der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden hineinverflochten in die Vorgeschichte und 21 Geschichte des Holocaust.“ Die Schuld wird dabei ausdrücklich nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus und das konkrete Verhalten in jenen Jahren bezogen, sondern aus theologischen Entwicklungen heraus verstanden: „So verweist das Schuldbekenntnis nicht nur zurück in die Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Es geht vielmehr darum, das theologische Verständnis und die kirchliche Haltung, die das Verhältnis der Christen zu den Juden jahrhundertelang geprägt haben, aufzuarbeiten und 22 zu korrigieren.“ c) Gemeinschaft und Verschiedenheit als Richtschnur Das Kriterium „kein Antijudaismus“ erscheint einerseits konsensfähig. Andererseits ist seine Anwendbarkeit umstritten. Zum einen bedarf die Maßgabe „nicht antijüdisch“ einer konkreten theologischen Entfaltung: Wie sieht christliche Theologie „positiv“ aus, die nicht-antijüdisch ist? Zum anderen wird die Reduktion von Antijudaismus auf die Negierung einer bleibenden Erwählung Israels als problematische Vorgabe für die Darstellung des christlichen Glaubenszeugnisses im Dialog angesehen. Die Konflikte, die da aufbrechen, wo christliche Theologie ohne Antijudaismus positiv entfaltet werden soll, zeigen sich exemplarisch im Bereich der christologischen Reflexion. Im Folgenden sollen zwei Modelle vorgestellt werden, die sich der Problematik auf unterschiedliche Weise stellen. Im Modell der Teilhabe am Bunde Israels kommt es zu einer positiven Entfaltung von Theologie ohne Antijudaismus (i). Im Modell der dialektische Zuordnung wird der christologische Widerspruch in der Verhältnisbestimmung nicht aufgelöst (ii). (i) Teilhabe am Bund Israels als Modell der Zuordnung der Kirche zu Israel Die Erklärung der Rheinischen Synode ist im Rahmen kirchlicher Verlautbarungen der erste konfessorisch angelegte Versuch, eine nicht-antijüdische Theologie und hier speziell Christologie positiv zu entfalten. Federführend ist der Wuppertaler Theologe Bertold Klappert. Bereits der Untertitel seines 23 die Christologie des Synodalbeschlusses erläuternden Aufsatzes „Gegen eine Christologie der Trennung vom Judentum“ zeigt, dass es um mehr als den Abbau einer antijüdischen Gestalt christlicher Theologie geht. Für Klappert zeitigt das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Juden einen ekklesiologischen Folgesatz, der zum Vorsatz christologischer Reflexion wird. 21 A.a.O., 16. 22 A.a.O., 17. 23 B. KLAPPERT: Jesus Christus zwischen Juden und Christen, in: B. KLAPPERT/H. STARCK (Hg.): Umkehr, s.o., 138–166.
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Der ekklesiologische Folgesatz besagt, „dass die Kirche durch Jesus Christus 24 in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist.“ Klappert betont den Aspekt der Partizipation: Die Kirche habe in ihrer Behauptung, selbst das auserwählte Volk Israel zu sein, vergessen, dass sie durch Jesus Christus „am Bund und an den Verheißungen Israels teilnimmt und teilbe25 kommen hat, dass sie also nur in dieser Teilnahme das ist, was sie ist.“ Es sei die Erkenntnis „der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Kirche und Israel bzw. – noch präziser – der grundlegenden Zugehörigkeit der Kir26 che durch Jesus Christus zu Israel“ eine Folgeerkenntnis des christologischen Bekenntnisses. Das Christusbekenntnis sei deshalb, „in seinem Zentrum als eine Absage an eine Christologie der Trennung vom Judentum zu verste27 hen.“ Im Zentrum dieser Konzeption steht neben der Überwindung der Feindschaft die Überwindung der Trennung. Wegen der griffigen, positiven Formulierungen – Zugehörigkeit, Gemeinsamkeit, Teilhabe, Hinzuerwählung – findet sich dieses von Klappert selbst so genannte Partizipationsmodell in vielen Beiträgen zum christlich-jüdischen Verhältnis wieder. Es schafft eine Zuordnung, die das Ende der theologischen Konflikte und Unterscheidungen zu suggerieren versteht. Für seine Vertreter folgt es aus der Erklärung der bleibenden Erwählung Israels. Gerade unter dieser Voraussetzung bleibe kaum eine andere Wahl als die einer solchen positiven Verhältnisbestimmung. Die Probleme des Modells erwachsen aus seinem Anspruch, die Trennung zu überwinden. Es macht zwangsläufig Aussagen über das jüdische Gegenüber, die von Jüdinnen und Juden nicht unwidersprochen bleiben. Von jüdischer Seite abgelehnt wird vor allem der Satz aus dem Rheinischen Synodalbeschluss: „Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet.“ Pinchas Lapide verwahrt sich nachdrücklich gegen die Formulierung „Messias Israels“: „Was die Aussage betrifft, Jesus sei der Messias Israels, muss hier mit Deutlichkeit gesagt werden: In der Religionsgeschichte der Menschheit gibt es kein Beispiel dafür, dass eine Glaubensgemeinschaft einer anderen vorzuschreiben versucht, welche Rolle eine Person – und sei sie auch ein Heilsbringer – in der Heilsgeschichte der anderen 28 zu spielen habe.“ Lapide stellt gegen die Formulierung der Rheinischen 24 A.a.O., 146. Klappert zitiert hier den Synodalbeschluss. 25 Ebd; vgl. a.a.O., 148: „Die Kirche ist überhaupt nur Kirche, indem sie Israel nicht etwa die Verheißungen entwindet oder Israel in seiner Erwählung beerbt, sondern indem sie durch Jesus Christus teilnimmt oder Teilhabe bekommt an den Verheißungen und der Erwählung Israels.“ (Hervorhebungen, CS). Klappert hat diese Form der Christologie das „christologisch-eschatologische Partizipationsmodell“ genannt; vgl. DERS.: Israel, 32ff. 26 B. KLAPPERT: Jesus Christus, 148. 27 A.a.O., 155. 28 P. LAPIDE: Messias, 241.
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Synode fest: „Jesus war nicht der Messias Israels [...].“ Allenfalls im Sinne eines genitivus subjektivus sei die Formulierung der Synode nachzuvollziehen. Als genitivus objectivus widerspräche sie „nicht nur dem Konsens des gläubigen Judentums, sondern würde auch von neuem eine Hintertür für die uralten Unterstellungen des Antijudaismus eröffnen, nach denen die Juden ‚blind‘ und ‚verstockt‘ seien, da sie ihren eigenen Erlöser nicht aner30 kennen wollen.“ Der Widerspruch Lapides zeigt, dass die mit dem Partizipationsmodell angestrebte Überwindung der Trennung selber Konflikte heraufbeschören kann. Sie rühren daher, dass die christliche Seite dem jüdischen Gegenüber eine bestimmte Rolle zuweisen will (Fremdbestimmung in bester Absicht, aber eben Fremdbestimmung). Eine ähnliche Problematik zeigt sich bei der Änderung des Grundartikels der Kirchenordnung der EKiR 1996. Die Landessynode beschließt im Januar 1996 eine Ergänzung des Grundartikels mit folgendem Wortlaut: „Sie [sc.: die EKiR; CS] bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit 31 Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Diesen Sätzen, speziell der Formulierung „mit Israel“, liegt das Partizipationsmodell zu Grunde. Deutlich wird dies in den erklärenden Sätzen Johann Michael Schmidts: „Meine Leitfrage lautet: Was bedeutet unser Bekenntnis zur Treue Gottes und zur bleibenden Erwählung Israels für uns selbst, für unser Christsein, für unseren Glauben? [...] Der Segen, den wir empfangen, hat einen Namen, er trägt den Namen des Gottes Israels, der durch und in Jesus Christus auch unser Gott ist. Alles zusammen aber begründet die Hoffnung, die wir mit Israel teilen und die uns beide 32 zum heilvollen Handeln in unserer Welt befähigt.“ Die Einwände, die gegen die Grundartikeländerung vorgebracht werden, rühren an die gleiche Problematik wie bei der Formulierung „Messias Israels“ aus dem Synodalbeschluss von 1980. So wird in der Stellungnahme der Bonner Theologischen Fakultät gegen die Änderung eingewandt, die Hoffnung der Christen sei eindeutig christologisch qualifiziert. Mit Blick auf das jüdische Gegenüber wird deshalb gefragt: „Darf dann ohne weiteres gesagt werden, dass die Kirche ‚mit Israel‘ auf einen neuen Himmel und eine neue Erde hofft? Von den erheblichen Differenzen innerhalb des heuti33 gen Judentums gerade hinsichtlich seiner Erwartungen ganz abgesehen!“ Auch Horst Seebass weist in seiner theologische Zusammenfassung der Gemeinde- und Kreisvoten zur Änderung des Grundartikels auf diese Problematik hin. Seebass bezieht seine Bedenken ausdrücklich auf den Umstand, dass das Judentum mit der hier vorgenommenen Formulierung gemeinsamer Hoffnung weder sachge-
29 A.a.O., 242. 30 A.a.O., 242f. 31 Kirchengesetz zur Änderung des Grundartikels der Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 11.1.1996, in: K. KRIENER/J.M. SCHMIDT (Hg.): Gottes Treue, 81. 32 J. M. SCHMIDT: Einführung, 169. 33 Stellungnahme, in: K. KRIENER/J.M. SCHMIDT (Hg.): Gottes Treue, 84. Explizit auf das gegenwärtige Gegenüber verweist auch die Stellungnahme der Michaelsbruderschaft, a.a.O., 89f.
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mäß noch in seiner Breite wahrgenommen werde. Diese Problematik haben die Befürworter der Grundartikeländerung zwar erkannt, wenn sie in ihrer Handreichung für die Gemeinden formulieren: „Wer Israel ist, sollte nicht den Definitio35 nen von seiten der Kirche anheimgegeben werden.“ Das Partizipationsmodell führt aber dazu, dass aus der christlichen Bezogenheit auf das Judentum gleichsam automatisch die im Wort „mit“ ausgedrückte Gemeinschaft wird. Martin Honecker will mit seinem Gegenvorschlag zur Artikeländerung deshalb Sorge tragen, „dass Israel Subjekt seiner Geschichte bleibt, ihm seine Selbstdeutung nicht genommen wird und das jüdische Selbstverständnis nicht christlich überfremdet wird. Die Formulierung sollte außerdem auch zum Ausdruck bringen, was die Christenheit Israel verdankt und schuldet, ohne dabei die Bezeichnung ‚Israel‘ einzuen36 gen.“ Entscheidend sei, so Honecker, dass Jesus Christus Jude war und dies von christlicher Seite niemals vergessen werde. Hierin gründe die bleibende Bezogenheit auf und Verbundenheit mit Israel.
Ich halte fest: Das Partizipationsmodell birgt in sich die Problematik, bei der Überwindung einer falschen Gegenüberstellung allzu schnell eine Gemeinschaft von Christentum und Judentum zu postulieren. Es läuft dabei Gefahr, erneut einer einseitigen oder verzerrenden Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers Vorschub zu leisten. Bei einer Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers kann die Überwindung der Trennung zunächst nicht das erklärte Ziel sein. (ii) Dialektische Unterscheidung als Grundlage der Zuordnung Es scheint, wie gesehen, theologisch problematisch, das Christusbekenntnis als Akt verstehen zu wollen, durch den Gemeinschaft mit Menschen gestiftet wird, die dieses Bekenntnis nicht teilen. Auch Befürworter des Gesprächs weisen um des je eigenen Selbstverständnisses der Gesprächspartner auf diese Konstellation hin. In Aufnahme dieser Problematik entfaltet Hermann Dembowski seine „Anfangserwägungen zum christlich-jüdischen Dialog.“ Dabei besteht er auf der Durchführung einer christologischen Fundamentaldistinktion, die da lautet: „Jesus Christus verbindet Christen und 37 Juden. Jesus Christus trennt Juden und Christen.“ Dembowski wendet die in diesen zwei Sätzen ausgedrückte Dialektik auf die verschiedensten Bereiche christlich-jüdischer Reflexion an und zieht christologische und ekklesiologische Konsequenzen, gerade auch im Blick auf den Holocaust und die Schuld der Christenheit. Die dialektische Bezugnahme von Bindung und Scheidung der christlichen und der jüdischen Glaubensgemeinschaft hat dabei hermeneutischen Status: „Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus verbindet den Christen und den Juden. Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus trennt den Christen und den Juden. Beides ist wahr. Beides ist nur zusammen, in wechselseitigem Bezug wahr. Die damit gespannte Dialektik 34 35 36 37
Vgl. H. SEEBASS: Entscheidung, 177. Handreichung, in: K. KRIENER/J.M. SCHMIDT (Hg.): Gottes Treue, 60. M. HONECKER: Mit Israel, 205. H. DEMBOWSKI: Jesus Christus, 25.
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lässt sich nicht ‚aufheben‘. Sie ist richtig im Blick auf die Geschichte von 38 zwei Jahrtausenden. Sie ist wahr vom Evangelium her.“ Einen Ausstieg aus diesem dialektischen Bezug gibt es für Dembowski nicht. Im Blick auf das Verhältnis von Juden und Christen spricht er deshalb von einer „Wegge39 meinschaft der Getrennten.“ Die Trennung der Wege sei konfessorisch – durch das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus – bestimmt. Dembowski: 40 „Confessio steht gegen Confessio.“ Die jeweilige Confessio sei wechselseitig zuzumuten, sie diene der Provokation, die durch keine Theorie überwunden werden könne: „Es verbietet sich für beide, Juden wie Christen, die Flucht in Theoriebildungen, die sich über den Gegensatz erheben und damit den konfessorischen Charakter der Provokation hinter sich lassen wollen: Der Jude hat sich dem Christen in seinem Judesein, der Christ dem Juden in seinem Christsein so zuzumuten, dass man sich darin in seiner Gemeinsamkeit und in seinem Anderssein respektiert und provoziert, nicht 41 aber gegenseitig theoretisch ‚verrechnet‘.“ Je nach Interpretation wird von Dembowski hier ein Konzept entworfen, das zu konsequenter Aufeinander-Angewiesenheit im Dialog führen könn42 43 te, zu Koexistenz in gegenseitiger Toleranz oder zu gegenseitiger Missi44 on. Für alle drei Tendenzen lassen sich Hinweise bei Dembowski finden. Alle drei Richtungen werden in der theologischen Diskussion nebeneinander vertreten und entsprechen in ihrer Koexistenz dem, was Dembowski unter der Dialektik des Verhältnisses versteht. Die theoretisch denkbare vierte Möglichkeit der Intoleranz wird von Dembowski durch die Gleichsetzung von konfessorisch und diakonisch ausgeschlossen: „Der Christ hat dem Juden das Christusbekenntnis konkret und diakonisch zuzumuten, über das Gottesverhältnis des Juden hat er weder theoretisch noch praktisch 45 zu verfügen.“ Die von Dembowski ausgeschlossene Möglichkeit christli38 A.a.O., 25. 39 A.a.O., 45. 40 A.a.O., 35. Zur Problematik dieser Konstruktion s.u. 41 A.a.O., 35; vgl. auch a.a.O., 41f. 42 Vgl. a.a.O., 45: „Für diese Wahrheit als gegenwärtiger Wirklichkeit steht die Letztbindung, die der Jude wie der Christ in ihren Dialog einbringen.“ 43 Vgl. a.a.O., 44: „Das aber führt zum dialogischen Erörtern von Problemen, in denen Schuld auszusprechen, Missverständnisse abzutragen und konfessorische Bindung des Juden und des Christen auch im Gegensatz auszuhalten sind. Hier liegt wohl das erste und nächstliegende Feld des Gespräches, im Aushalten von Verbindendem und Trennendem zu klären, was denn nun wirklich trennt und was verbindet.“ 44 Vgl. a.a.O., 43f: „Hier ist jüdischem Vorwurf und jüdischer Anklage ebenso standzuhalten wie der verbreiteten Gleichgültigkeit von Juden gegenüber der Frage nach Jesus als dem Christus und dem Christentum. Hier ist dankbar zu vernehmen, dass Juden den Bruder Jesus als den Urjuden wieder zu sehen und zu lieben begonnen haben, und ebenso klar zu erkennen: Jesus als der Christus ist für jüdisches Selbstverständnis unannehmbar, auch wenn der Christ seine Zumutungen verzichtend zu entschärfen versucht.“ 45 A.a.O., 42.
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cher Intoleranz ist aus der Sicht jüdischer Existenz und Erfahrung des Christentums in Judenverfolgungen bis hin zum Holocaust real geworden. Die von Dembowski dargelegte Verhältnisbestimmung lässt kritisch fragen: Gibt es die vorausgesetzte Parallelität, die sich hinter Dembowskis Konzept verbirgt? Warum sollte sich ein Jude überhaupt in seinem Judesein dem Christen zumuten oder zuwenden? Mit dem Stichwort der vorausgesetzten Parallelität klingt ein hermeneutisches Problem an, auf das bereits oben (s.o. III. 3) hingewiesen wurde: die Asymmetrie des christlichjüdischen Verhältnisses. Zwar erwähnt Dembowski diese Problematik kurz, die Infragestellung, die von dieser Asymmetrie für seine Überlegungen ausgeht, ignoriert er allerdings. Seine Durchführung des dialektischen Verhältnisses setzt stillschweigend ein symmetrisches Gegenüber voraus. Dem ist zu widersprechen. Jüdischer Glaube muss nicht auf christlichen Glauben bezogen sein, weder dialektisch noch undialektisch. Jüdischer Glaube versteht sich möglicherweise gar nicht als „Confessio“. Das Verhältnis zum 46 Christentum ist nicht Ja und Nein, es „ist lediglich nicht.“ Jüdisches Leben kann als religiöses Leben ohne Verhältnis zum christlichen Glauben begriffen werden. Darauf weist mit Nachdruck der jüdische Philosoph Je47 schajahu Leibovitz hin. Symmetrie – oder Gleichheit – besteht in der wechselseitig anerkannten Verschiedenheit, Asymmetrie im Verhältnis der Aufeinander-Bezogenheit. Die Wahrnehmung der beschriebenen Asymmetrie schließt nicht aus, dass das christlich-jüdische Gespräch auch von jüdischer Seite als wichtig, herausfordernd oder theologisch bedeutend für das jüdische Selbstverständnis eingeschätzt wird. So fordert Michael Wyschogrod im Namen des Judentums zum jüdisch48 christlichen Dialog auf. An anderer Stelle zieht Wyschogrod Bilanz, „welchen 49 Einfluss der Dialog auf mein Selbstverständnis als Jude gehabt hat“, wobei er nicht ohne Ironie anfügt: „Es ist nicht ungefährlich zuzugeben, dass er [sc.: der Dialog; CS] einen Einfluss gehabt hat; denn es gibt kaum eine wirksamere Weise, einen orthodox-jüdischen Selbstmord zu begehen, als zuzugeben, dass irgendein Bestandteil meines Verständnisses des Judentums das Ergebnis eines Kontakts mit 46 Vgl. E. BROCKE: Nein, passim. S.o. III. 3. 47 Vgl J. LEIBOWITZ: Gespräche, 74: „Einerseits ist das Erscheinen Jesu das größte Ereignis in der Geschichte der Menschheit – die Inkarnation Gottes in einem Menschen, im jüdischen Volk und unter ausdrücklicher Beziehung auf das Judentum, die Tora und die Propheten. Andererseits zeigt sich, dass für das reale Judentum – das heißt für jene Juden, die am Versöhnungstag in ihrer Synagoge beten – dieses Ereignis gewissermaßen nicht stattgefunden hat. Es gibt noch nicht einmal eine Verneinung des Christentums innerhalb des Judentum. Das Christentum existiert einfach nicht. Das ist selbstverständlich richtig und wundervoll. Der Ritus des Jom-Kippur bleibt genau der gleiche Ritus, ohne Änderung eines Buchstabens, mit oder ohne Jesu Erscheinen. Das Schicksal des jüdischen Volkes wäre anders verlaufen, wenn die Welt nicht christlich geworden wäre, aber nicht das Schicksal des Judentums, für das das Christentum eigentlich nicht existiert.“ 48 Vgl. M. WYSCHOGROD: Dialog, 179. 49 M. WYSCHOGROD: Auswirkungen, 135.
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dem Christentum ist.“ Ernst Ludwig Ehrlich merkt zum Topos der Asymmetrie an: „Dennoch hat sich auch das Judentum nicht ohne Beziehung zum Christentum entwickelt, einmal abgesehen von den geschichtlichen Situationen, die Juden und Christen miteinander oder gegeneinander erlebten.“ Allerdings schließt er: 51 „Die Relation ist freilich hier anders.“ Mit der Betonung der Asymmetrie geht es mir nicht darum, eine historische Wechselwirkung zwischen Judentum und Christentum in Abrede zu stellen, die auch theologisch für beide Seiten von Bedeutung sein dürfte. Die Asymmetrie ergibt sich zwangsläufig aus den Entstehungsbedingungen des Christentums im Unterschied zum Judentum. Als Herausentwicklung aus dem Judentum und durch die Gestalt des Juden Jesus Christus bleibt das Christentum in vorgängiger Weise auf das Judentum bezogen. Anders als für das Judentum gibt es die Möglichkeit der Beziehungslosigkeit für das Christentum im Blick auf das jüdische Gegenüber nicht. Eine Wahrnehmung und Wertschätzung des Dialogs mit dem Christentum von jüdischer Seite aus ist erfreulich und zu begrüßen. Sie zu fordern oder für das jüdische Selbstverständnis als wesentlich, gar ebenso wesentlich wie für das Christentum zu behaupten, halte ich für sachlich falsch und für eine Anmaßung gegenüber dem jüdischen Partner.
d) Unmöglichkeit und Auftrag als hermeneutische Kriterien Die fundamentale, häufig benannte Einsicht einer Asymmetrie im christlich-jüdischen Verhältnis hat Pierre Lenhardt zum Ausgangspunkt und zum methodischen Leitfaden seiner bereits 1970 erschienenen, allerdings erst 1980 in Deutschland veröffentlichten „Untersuchung zum theologischen Stand des Verhältnisses von Kirche und jüdischem Volk“ gemacht. Die Untersuchung trägt den programmatischen Titel „Auftrag und Unmöglichkeit 52 eines legitimen christlichen Zeugnisses gegenüber den Juden.“ Lenhardt setzt mit seinen Überlegungen ein bei der Frage, was einen „wahren Dialog“ zwischen Juden und Christen ausmache. Unter Hinzuziehung einer Definition de Goedts beschreibt er den „religiösen Dialog“ – der niemals „rein religiös“ im Sinne von nicht auch politisch, sozial, etc. sein 53 könne – als „Geschehen, in dem die einzelnen durch die Handlungen und 54 die Worte, die sie miteinander austauschen, engagiert sind.“ Ein solcher Dialog religiös Engagierter sei „offen für die Transzendenz des göttlichen Wortes, das mit dem von ihm herkommenden menschlichen Wort nicht 55 auf gleicher Stufe steht.“ Weil der Dialog offen sei für das, was er selbst nicht erreichen oder erwirken kann, bleibe er „dem dringenden Verlangen
50 Ebd. 51 E.L. EHRLICH: Dialog, 81. 52 P. LENHARDT: Auftrag und Unmöglichkeit eines legitimen christlichen Zeugnisses gegenüber den Juden, Berlin 1980. 53 P. LENHARDT: Auftrag, 16. 54 A.a.O., 15. 55 A.a.O., 15f.
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nach Anerkennung durch den anderen unterworfen.“ Dieses Verlangen – durch keine teilweise Anerkennung zu befriedigen – gebe dem Dialog seine „treibende Kraft“. Lenhardt fasst die von ihm so genannte religiöse Gestimmtheit des Dialoges mit folgenden Worten zusammen: „Es ist indessen ganz evident, dass es die Religion oder genauer der Glaube als Gehorsam gegen den sich offenbarenden Gott ist, der dem Dialog zwischen Juden und 57 Christen seine Gestalt gibt [...].“ Um zu verstehen, was Lenhardt mit dieser Definition eines Dialogs aus und in Glaubensgehorsam meint, sind seine Ausführungen zum selbstverständlichen christlichen Zeugnis – auch gegenüber Juden – zu betrachten: „Gerade aufgrund ihres Glaubens müssen Christen den Juden gegenüber Zeugnis ablegen. Diese Forderung ist auf den Befehl gegründet, den die Tradition auf den Herrn zurückführt, ein Befehl, der keine Abstriche duldet (Mt 28,18–20; Mk 16,14f) und dem jeder Christ so wie einst Paulus ge58 horchen muss (1.Kor 1,23f; 9,16.20).“ Über dieses christliche Zeugnis ist Lenhardt seiner Logik folgend nicht bereit zu diskutieren, versäumt allerdings nicht zu konstatieren, „dass es seit der Regierung Konstantins die Christen sind, die die hauptsächliche, um nicht zu sagen ausschließliche 59 Verantwortung für die jüdische Ablehnung tragen.“ Der Dialog, den Lenhardt hier fordert, ist einerseits Auftrag, erweist sich andererseits als unmöglich. Warum? Lenhardt begründet die Unmöglichkeit nicht – wie häufig vertreten – aus einer strukturellen Verschiedenheit von Christentum und Judentum, sondern weil der Gegensatz, der sich aus der Anerkennung und Nicht-Anerkennung ein und desselben Heilsereignisses ergebe, einen Dialog unmöglich mache, in der die jeweiligen Dialogpartner willens sind, „sich gegenseitig in Frage zu stellen und gegebenenfalls nicht allein die Ebene, sondern das Wesen ihres jeweiligen Engagements zu 60 verändern.“ Lenhardt nennt diese Gegebenheit den „unreduzierbaren Ge61 gensatz“ auf dogmatischer Ebene. Keine Seite könne nach ihrem Selbstverständnis in den Dialog eintreten, ohne nicht vorher auszuschließen, „die 62 Überzeugung des anderen in umfassendem Sinne anzunehmen.“ Bei der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung handele es sich nicht zuerst, wie Lenhardt ausführt, um die Ablehnung einer anderen Idee oder einer anderen Auslegung des Dialogpartners zur selben Frage, sondern um die Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung eines Heilsereignisses, dessen sekundäre Folge eine je für sich eigene positive Erfahrung sei. Dies gelte gerade auch für „die jüdische Ablehnung“ der „christlichen ‚Idee‘ “, die zunächst vor allem „der negative Ausdruck einer positiven Zustimmung zum Dogma der 56 57 58 59 60 61 62
A.a.O., 16. A.a.O., 16. A.a.O., 2. A.a.O., 2f. A.a.O., 21f. Vgl. auch a.a.O., 104, wo Lenhardt von einer „totale(n) Unmöglichkeit“ spricht. A.a.O., 130.
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Einzigartigkeit Gottes“ sei. Wisse sich „der Christ“ an Jesus Christus (als „seinem“ Heilsereignis) gebunden, so sei „der Jude“ der ihm offenbarten Einheit und Einzigkeit Gottes (als „seinem“ Heilsereignis) verpflichtet. Damit behauptet Lenhardt nicht implizit die Existenz einer „jüdischen Dogmatik“, sondern er versteht unter Dogmatik die Totalität der Haltung eines im Gehorsam auf Gott in eben dieser Haltung (Glauben und Tun, Tun und Glauben) antwortenden Menschen (Juden oder Christen). Lenhardt: „Dies sind also zwei lebensmäßige Haltungen, zwei Typen positiver Erfahrung, zwei dogmatische Feststellungen, die im Dialog zwischen Juden und Christen einander begegnen. Die dogmatische Ablehnung, die Juden und Christen sich wechselseitig zuteil werden lassen, ist nicht zentraler Inhalt ihres Glaubens, vielmehr im Verhältnis zu dessen eigenständiger Be64 deutung sekundär.“ Von hier aus wird verständlich, wie Lenhardt zwischen einer Symmetrie auf der formalen Ebene – Lenhardt spricht von der Ebene der „gegenseiti65 gen Negation“ – im Verhältnis von Juden und Christen und einer Asymmetrie auf der Ebene des Glaubensverständnisses differenzieren kann. Symmetrie bestehe in der wechselseitigen Ausschließung, d.h. in der gegenseitigen, unmittelbar und selbstverständlich aus der dem je eigenen positiven Glaubensverständnis folgenden Negation des anderen. Asymmetrie hingegen bestehe auf der Ebene der Beziehung: „Auf dieser Ebene ignoriert der jüdische Glaube den Gegenstand des christlichen von Grund auf, während der christliche Glaube den jüdischen nicht allein wahrnimmt, sondern 66 sein Ziel von Grund auf mit einschließen soll.“ Neben einer unreduzierbaren wechselseitigen Negation auf der Ebene des religiösen Dialogs ergibt sich für Lenhardt eine tiefer liegende unreduzierbare Asymmetrie, die er wie folgt beschreibt: „Auf der Ebene der Bestätigung bleibt der christliche Glaube für den jüdischen zum mindesten theoretisch offen, da er ihn zu erfüllen beansprucht, während der jüdische Glaube den christlichen ignoriert. Auf dieser Ebene also, die am tiefsten reicht, ist die Unmöglichkeit auf 67 jüdischer Seite asymmetrisch und unreduzierbar.“ Warum aber könnte oder sollte es unter diesen Voraussetzungen einen Dialog zwischen Juden und Christen geben? Zunächst einmal – hier erweist sich das Kriterium von der „unreduzierbaren Unmöglichkeit“ als hermeneutische Vorgabe –, um die Unmöglichkeit selbst zum Vorschein zu bringen. Hierzu bedürfe es, so Lenhardt, der Aufdeckung einer Anzahl wechselseiti68 ger Missverständnisse und tiefer Unkenntnis. Zum zweiten, – hier rekurriert Lenhardt auf seine dogmatische Vorgabe –, weil das Zeugnis gegenüber Juden christliche Aufgabe sei, von der es keinen Dispens geben 63 64 65 66 67 68
230
A.a.O., 20. Ebd. A.a.O., 21. A.a.O., 21. A.a.O., 130. Vgl. a.a.O., 130f.
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könne. Auf dieser Ebene gehe es darum, nicht nur „mit Sympathie den positiven Wert zu erwägen, den die jüdische Existenz in der Zeit der Kirche behält“. Sondern: „Man muss vielmehr nach Wegen suchen, das frühere und das heutige Judentum in einem Verhältnis der Verwandtschaft und loyalen Freundschaft zu den Juden von heute auf christliche Weise zu le70 ben.“ Der Aspekt der Legitimierung des Zeugnisses auf der Ebene des christlichen Lebensvollzuges wird von Lenhardt besonders hervorgehoben. Mit anderen Worten: Das aufgetragene Zeugnis, das der Christ angesichts unreduzierbarer dialogischer Unmöglichkeit im Gegenüber zum Judentum zu leisten habe, wird er genau so leisten, dass weder die – in der unreduzierbaren Unmöglichkeit begründete – legitime, ja geradezu notwendige – jüdische Ablehnung in Frage gestellt, noch seine im Zeugnis aufgegebene Hoff71 nung auf die Einheit des Volkes Gottes verschwiegen wird. Das christliche Zeugnis wird in Anerkennung der symmetrischen, wechselseitigen Negation und in Anerkennung der tiefen Asymmetrie in der Beziehung der Glaubensverständnisse genau dieser Asymmetrie folgend gegeben, aber nicht aufgezwungen. Es stellt sich die Frage: Wie kann ein solches christliches Zeugnis konkret aussehen? Lenhardt ist sich der Schwierigkeit einer Antwort hierauf bewusst und formuliert sehr vorsichtig. Es gehe darum, die Begegnungen zu suchen, „in denen Christen und Juden zueinander von dem sprechen, was Gott ihnen sagt, und in denen sie sich gegenseitig ermutigen, sich zu Gott zu be72 kehren, der zu ihnen spricht.“ Lenhardt nennt diese Art von Begegnung in Anlehnung an Levinas einen „unmöglichen, aber echten Dialog“. Denn „jen73 seits des unmöglichen Dialoges gibt es eine Möglichkeit des Suchens.“ Zur Beschreibung zitiert er Levinas: „Die Suche nach einer Nähe jenseits der Ideen, die man austauscht, einer Nähe, die dauert, selbst wenn der Dialog 74 unmöglich wird.“ Der „unmögliche, aber echte“ Dialog, der von Lenhardt beschrieben wird, nimmt die Problematik des hermeneutischen Dialogs auf (s.o. IV. 2.3). Im Unterschied zum hermeneutischen Dialog wird das Modell des „unmöglichen, aber echten“ Dialogs nicht unter dem Primat des Dialogs (Zweite Phase), sondern unter dem Primat des Bekenntnisses (Dritte Phase) entwickelt.
69 A.a.O., 3. 70 A.a.O., 132. 71 Vgl. a.a.O., 132: „Niemand könnte tatsächlich glauben oder glaubhaft machen, dass der Platz der Juden in der Kirche von anderen als von Juden selbst eingenommen werden könnte. Die Freude der in Christus schon gelebten Einheit muss auf die Verwirklichung der vom heiligen Paulus prophezeiten Einheit gerichtet bleiben (Röm. 11, 12.15.).“ 72 A.a.O., 132. 73 A.a.O., 19. 74 Ebd. Zitiert nach E. LEVINAS: Par-delà le dialogue, 11–16.
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e) Auswertung Die fünf verschiedenen Antworten auf die Frage, was die christliche Auseinandersetzung mit dem Judentum grundlegend strukturiert, weisen auf die verschiedenen Ebenen einer anvisierten Neuorientierung des christlichjüdischen Verhältnisses hin. Der zuletzt vorgestellte Entwurf Lenhardts ist zeitlich der früheste. Er ist genaugenommen noch nicht der dritten Phase zuzurechnen. Dennoch trägt gerade dieser Entwurf dem Charakteristikum dieser Phase, der Entwicklung einer christlichen Hermeneutik in der Wahrnehmung eines jüdischen Gegenübers, Rechnung. Die dargestellten Konzeptionen zeichnen in ihrer Abfolge die historische Entwicklung des jüdisch-christlichen Beziehungskonflikts nach. Sie stellen Formen christlicher Selbstfindung dar. Indem der Selbstfindungsprozess bewusst nach Auschwitz stattfindet, nimmt er das Judentum als gegenwärtige Größe wahr. Die Erinnerung an den Holocaust ist getragen von einer neuen Aufmerksamkeit für das Gegenüber, dessen Existenz im Vergessen bedroht war. Es ist ein Merkmal der dritten Phase, dass die Erinnerung an den Holocaust in Theorie und Praxis der Kirche immer stärker in den Vordergrund rückt und zwar unter der expliziten Aufnahme jenes selbstreflexiven Moments Erinnern. Es geht nun auch um die Bedeutung des Erinnerns für das christliche Selbstverständnis als Moment der Entdeckung des anderen. Die Forderung „Kein Antijudaismus/nicht antijüdisch“ dient zunächst der Absicherung jener neu entdeckten Existenz des jüdischen Gegenübers von christlicher Seite aus. Ein Prozess der „Selbstreinigung“ soll unter dieser Maßgabe auf christlicher Seite eine erneuerte Bezugnahme auf das jüdische Gegenüber ermöglichen. Die verlorene Beziehung wird in einem fundamentalen Confiteor bestätigt. Zu ihm gehört notwendig die Anerkennung der Integrität des jüdischen Gegenübers, die unter dem Stichwort „bleibende Erwählung Israels“ theologisch formuliert wird. Die Beziehungen, die mit den strukturierenden Leitmotiven „Teilnahme/Partizipation“ und „Dialektik“ aufgenommen werden, stellen den Prozess der Wahrnehmung des Gegenübers in Frage. Es zeigt sich, dass das Modell offener, dialogischer Zuordnung zur Aufhebung dieser Offenheit neigt, insofern die Beziehung in einer – wenn auch vorläufigen – Endgültigkeit beschrieben wird. Im Hintergrund steht dabei, so der Hinweis Lenhardts, dass eine heimliche Sehnsucht nach Aufhebung der Trennung zum religiösen Gegenüber vorhanden ist. Ein sinnvoller Umgang mit der Tendenz, die Trennung aufzuheben, wird möglich, wenn eine Einsicht in die komplexe Problematik der Beziehung hergestellt werden kann. Das Kriterium „Unmöglichkeit und Auftrag“ im Bewusstsein von Symmetrie und Asymmetrie in der christlichjüdischen Beziehung, das Lenhardt einführt, und in dessen Konsequenz es eine Suche nach Nähe jenseits des Dialogs gibt, erscheint als angemessener – Lenhardt sagt in Anlehnung an Levinas „erwachsener“ – Umgang mit der Beziehungsstruktur, weil es den destruktiven Mechanismen des religiösen Dialogs nicht blind ausgeliefert ist. 232
Kaum eines der vorgestellten hermeneutischen Leitmotive findet sich in den unterschiedlichen Entwürfen einer Theologie im christlich-jüdischen Gespräch isoliert wieder. Die Literatur rankt sich in der Phase des sich neu formulierenden Selbstverständnisses um die verschiedenen hermeneutischen Zugänge. Geht es in der Theologie nach Auschwitz um reflexive Fragen nach Vergangenheit und eigenen Schuldanteilen, stehen bei den Entwürfen um eine Theologie ohne Antijudaismus die hermeneutisch-exegetischen Themen im Mittelpunkt. Der Dialog mit dem Ziel der Teilhabe oder der dialektischen Konkurrenz konzentriert sich auf Fragen der Ekklesiologie und Christologie. Die Wahrnehmung des Dialogs unter der Maßgabe von Unmöglichkeit und Auftrag bezieht sich auf die Fragen grundsätzlichen und praktischen Selbstverstehens zurück. Alle Leitmotive stellen hermeneutische Kriterien dar. Andere theologische Fragestellungen werden automatisch von ihnen tangiert. 3. Homiletische Entwürfe im Gefolge der Neuorientierung Die dritte, konfessorische Phase steht im Zeichen der Umsetzung der neuen Erkenntnisse. Die Neuorientierung gegenüber dem Judentum wird einerseits kirchlich-hermeneutisch verankert (Bekenntnis). Andererseits wird versucht, sie in der kirchlichen Praxis umzusetzen. So fordert die EKD-Studie Christen und Juden II Konsequenzen „auch in der Breite der kirchlichen 75 Arbeit.“ Die Studie leistet dazu ihren Beitrag mit den Kapiteln „Predigen 76 77 in Israels Gegenwart“ und „Unterrichten in Israels Gegenwart.“ Nahezu alle Verlautbarungen der 1980er und der 1990er Jahre nehmen die Umsetzung in Predigt und Katechese in den Blick. Erstmals geschieht dies in der Erklärung der Kirchenleitung der VELKD zum Verhältnis von Christen und Juden im Jahre 1983. Hier wird allgemein angemahnt, dafür Sorge zu tragen, „dass die christliche Verkündigung in Predigt und Unterricht die Juden und Christen so darstellt, dass es nicht zur Verfestigung immer noch bestehender Vorurteile, son78 dern zu ihrer Überwindung kommt.“ Ebenfalls 1983, drei Jahre nach dem epochalen Synodalbeschluss, beklagt die Rheinische Synode, „dass es noch kaum gelungen ist, die Absichten des Synodalbeschlusses von 1980 in Theologie, Predigt, 79 Unterricht und Seelsorge umzusetzen.“
75 Christen und Juden II, 8. 76 A.a.O., 58ff. 77 A.a.O., 61ff. 78 Kirchenleitung der Vereinigten Ev.-luth. Kirche Deutschlands. Erklärung zum Verhältnis von Christen und Juden vom 3. Juni 1983, in: R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 608. 79 Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland: Erklärung zum Verhältnis von Christen und Juden vom Januar 1983, in: R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 605f.
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Auch in der katholischen Kirche erscheint der homiletische Akt als ein Ausführungs- und Bewährungsort für die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse. Der 80 Erklärung „Nostra aetate“ von 1965 folgen im Abstand von jeweils 10 Jahren zwei Verlautbarungen der „Kommission für die religiösen Beziehungen zum Ju81 dentum“, deren Charakter mit dem Wort Ausführungsbestimmungen umrissen 82 werden kann. 1995 nimmt der Synodalbeschluss der Hannoverschen Landeskirche das Leitmotiv in Israels Gegenwart in seine auf die gottesdienstliche Praxis zielenden Richtlinien auf. Die Gottesdienste mögen so sein, „dass jüdische Besucherinnen und Besucher in ihnen nicht herabgesetzt oder beleidigt werden“. Daneben wird dazu aufgefordert, „dass die Gottesdienste im Reden über Israel die Treue und Barmherzigkeit Gottes wiedergeben, von der wir [sc.: Christen und Juden; CS] 83 gemeinsam leben.“ Der Synodalerklärung der Evangelischen Kirche von Westfalen vom November 1999 liegt eine Hauptvorlage zu Grunde, in der die Impulse für die Arbeit in 84 der Gemeinde eine wesentliche Rolle spielen. Der Begriff des Lernprozesses wird aufgegriffen. Es werden Vermittlungs- und Aneignungsprozesse angedeutet, die eine sachgerechte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers ermöglichen sollen. Unter den Überschriften „Vorurteile verlernen“, „Judentum anschaulich machen“, „Das Verbindende erkennen“, „Jesus in seinem Judesein wahrnehmen“ und „Das Judentum nicht benutzen“ werden einzelne Schritte des Lernprozesses vorgeführt. Insbesondere im letzten Punkt wird auf die Gefahr einer „Funktionalisierung“ jüdischen Glaubens und jüdischer Tradition hingewiesen, die dann bestehe, wenn ausschließlich Verbindendes zwischen Christen und Juden betont werde. So gehöre zum Lernprozess auch die Wahrnehmung der Unterschiede: „Von daher dürfen wir die Eigenständigkeit des jüdischen Weges auch im Unterricht nicht verdecken; wir müssen uns im Gegenteil bemühen, jüdische Tradition möglichst authentisch und vielgestaltig zu vermitteln und auch die Unterschiede 85 zwischen beiden Glaubensweisen nicht zu verschleiern.“
Der kurze Blick auf die Entwicklung in den kirchlichen Verlautbarungen zeigt, dass im Laufe der dritten Phase die praktisch-theologische Reflexion zunimmt. Zugleich verschieben sich die Akzente bei der Betonung einzelner Elemente des Lernprozesses. Neben der Wahrnehmung der Verbundenheit zum Judentum gilt auch die Wahrnehmung von Unterschieden als Aufgabe einer sachgemäßen Umsetzung. Das bewahrende Gedenken, aus dem heraus der Lernprozess stattzufinden hat, erweist sich erst so als grenzbewusst gegenüber seiner Aufgabe sowie gegenüber dem jüdischen Gegenüber. Ich 80 Vgl. R. RENDTORFF/H.H. HENRIX: Dokumente, 39ff. 81 Vgl. a.a.O., 48ff.92ff. 82 Vgl. den Titel des Dokumentes von 1974, a.a.O., 48: „Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung ‚Nostra aetate‘, Art. 4 vom 1. Dezember 1974.“ 83 Vgl. Arbeitsergebnis des von der 21. Landessynode berufenen Sonderausschusses „Kirche und Judentum“ vom 29. November 1995, in: H. GROSSE u.a. (Hg.): Bewahren ohne Bekennen?, 485; auch in: H.H. HENRIX/W. KRAUS: Dokumente II, 741. 84 Vgl. H.H. HENRIX/W. KRAUS: Dokumente II, 850ff. 85 Vgl. a.a.O., 852.
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werde bei der folgenden Darstellung der verschiedenen praktischtheologisch und speziell homiletisch orientierten Beiträge der dritten Phase auf die im vorigen Abschnitt herausgestellten hermeneutischen Kriterien und deren Bedeutung für die christlich-jüdische Beziehung Bezug nehmen. Die innere Systematik dieser Gliederung weist dabei auf die Stufen des homiletischen Lernprozesses bei der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers hin. Dabei wird stets zu bedenken sein, inwieweit sich eine Veränderung im Sinne des bewahrenden Gedenkens zeigt oder eventuelle Grenzverletzungen zu beobachten sind. 3.1 Homiletik nach der Erfahrung von Auschwitz Alle von mir herangezogenen Untersuchungen enthalten das Element der bewussten (Erinnerungs-) Reflexion, Homiletik nach Auschwitz zu betreiben. Das ist logisch, weil es sich um das – anfangs begründete – Auswahlkriterium der Untersuchungen handelt. Keine macht das Element „nach Auschwitz“ in der Gestalt zum Hauptkriterium der Predigtaufgabe, dass Ausgang, Durchführung und Zielvorstellung von hier aus formuliert würden. Das wäre für eine Homiletik auch ungewöhnlich. Aufgabe der Predigt ist die Verkündigung des Wortes Gottes. Eine Umsetzung des Kriteriums „nach Auschwitz“ liegt in der (Wieder-) Entdeckung und Wahrnehmung des Gegenübers Judentum. In allgemein-theologischer und in systematischhomiletischer Perspektive ist dies in der ersten und zweiten Phase deutlich geworden. Die einzelnen Reflexionen zur Umsetzung der Neuorientierung vollziehen diese Entdeckung in verschiedenen Formen nach. In homiletisch-historischer Perspektive an einer Hermeneutik „nach Auschwitz“ orientiert ist die Untersuchung Adam Weyers. Er analysiert zunächst die evangelische Predigtpraxis zwischen 1945 und 1949 unter dem Aspekt „Die Juden in evangelischen Predigten nach 1945.“ Die Frage, wie Juden dargestellt werden, ist für Weyer das Beispiel, an dem er eine weitere Frage messen will: Inwieweit ist die Kirche ihrer zugewiesenen Rolle als „moralischer Instanz für die Deutschen“, als „Rettungsanstalt in der Stunde 86 der Not“ nach dem Krieg gerecht geworden, indem sie durch ein Schuldeingeständnis einem wirklichen Neuanfang den Weg bereitet hat? Von dieser Fragestellung ausgehend untersucht er das öffentliche Reden über Juden in Predigten. Denn: Kirche habe „ihre Öffentlichkeitsfunktion von jeher in der öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes, in der Predigt 87 wahrgenommen.“ Im Zentrum von Weyers Analyse steht somit der dritte von mir eingangs beschriebene Aspekt von Predigen: Predigt als öffentliche Rede.
86 A. WEYER: Neuanfang, 164. 87 Ebd.
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Weyers Antwort auf die Frage nach der kirchlichen Wahrnehmung dieser öffentlichen Funktion fällt negativ aus. Die Kirche sei ihrer genuinen Aufgabe, das Wort vom Kreuz zu verkündigen, was wiederum das Eingeständnis eigener Schuld einschließe, in den Nachkriegsjahren nicht ausreichend nachgekommen. Eine „gewisse Schuld“ werde zwar anerkannt, bleibe aber schließlich im Allgemeinen verborgen, weil eher allgemeine Sündhaftigkeit gepredigt denn die konkrete Sünde aufgewiesen werde. Dieses Merkmal der Predigtpraxis zeige sich auch in der homiletischen Theorie jener Zeit. Einerseits werde eingefordert, umzukehren und zur Umkehr aufzurufen, andererseits absorbiere die eigene Not die Aufmerksamkeit so sehr, dass das Leid anderer und das verübte Unrecht nahezu vollständig verblasse. Für Weyer steht deshalb nachdrücklich in Zweifel, ob in den Predigten nach 1945 tatsächlich ein Neuanfang gemacht wurde. Für seine Analyse zieht Weyer sowohl theoretische Ausführungen als auch Predigtbeispiele aus den Jahren 1945–1949 zur „Judenfrage“ heran. Nur in Ausnahmefällen werde hier die Schuld der Kirche, ihre antijüdische Haltung, thematisiert. Auch die Predigten beschäftigten sich nur wenig und meist eher am Rande mit Juden. Aus diesen Predigten heraus entwickelt Weyer eine Typisierung der homiletischen Praxis jener Zeit: „Der eine Typus ist eine belehrend-erklärende Predigt, die die im Neuen Testament aufgegriffene religiöse Praxis des Alten Testaments für die Gemeinde erläutert 88 und dabei auch über die Juden predigen muss.“ Mit anderen Worten: Juden werden zur hermeneutischen Hilfe beim Verstehen des eigenen Glaubens. „Der andere Typus stellt als Textauslegung eine Parallele her zwischen dem Geschick des Volkes Israel oder Jerusalems und dem Los der Gegen89 wart.“ Hier wird die Geschichte der Juden zur hermeneutischen Hilfe beim Verstehen der eigenen Geschichte bzw. der eigenen Gegenwart. Beide Typen hält Weyer in ihrer Praxis für unsachgemäß und gefährlich. Der erste Typus arbeite vornehmlich mit Klischees, die dazu führten, dass die Juden als Vorläufer der Christen aus dem Versöhnungs- und Heilsgeschehen herauserklärt würden. Beim zweiten Typus werde Israel – „bei aller historischen Korrektheit“ – doch nur „als abschreckendes Beispiel“, als „Versager90 volk“, „das von Gott weg in die schlimmere Katastrophe gelaufen ist“ wahrgenommen. Nach diesem negativen Fazit im Blick auf die Hauptfrage „Neuanfang?“ blickt Weyer über den Zeitraum 1945–1959 hinaus in die jüngste Vergangenheit. Ein Neuanfang habe sozusagen mit Verzögerung im Zuge des Rheinischen Synodalbeschlusses 1980 eingesetzt. Erst jetzt komme es sowohl zu einem „eindeutige[n] Bekenntnis christlicher Schuld am Leid des jüdischen Volkes“ als auch zum „Eingeständnis des Versagens der Kirchen angesichts des durch die ‚Erben des Christentums‘ verübten Holocaust“; 88 A. WEYER: Neuanfang, 170. 89 Ebd. 90 A.a.O., 174.
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erst jetzt komme es zu einer „Kenntnisnahme jüdischen Glaubens, die tief91 verwurzelte Vorurteile ausräumen half.“ Die Verzögerung des Neuanfangs, der sich nach dem Krieg nur sehr vereinzelt angekündigt habe, erklärt Weyer mit dem Stichwort der Verdrängung. Die „Judenfrage“ sei in der homiletischen Theorie sowie Praxis verdrängt worden. Weyer verknüpft in seiner Argumentation die Fragen nach Schuld, Neuanfang nach 1945 und Darstellung von Juden/Judentum in Predigten. Das Kriterium für den anvisierten Neuanfang ergibt sich aus dem Umgang mit der eigenen Schuld und dem öffentlichen Schuldeingeständnis. Das Schuldeingeständnis wiederum drückt sich in Veränderungen im Wahrnehmen und Darstellen des Judentums aus. So lautet das Fazit über den ersten Typus Predigt: „Statt der vom Versöhnungstagstext ausgehenden Frage, wie die Christen denn von der neuerlichen Blutschuld gegen die Juden freikommen könnten, wird ein Zerrbild des historischen Juden gemalt, 92 das leicht Judenfeindschaft nähren kann.“ Auch beim zweiten Typus finde eine Ausblendung des gegenwärtigen Judentum statt. Eine Wahrnehmung und Einbeziehung desselben wäre aber nötig, um „nach 1945 ein neues Verständnis von ‚Gottes Judenfrage‘ in der evangelischen Christenheit zu 93 wecken.“ Der Holocaust einerseits und „Gottes Judenfrage“ andererseits, deren „Beantwortung“ die Kirche schuldig geblieben sei, stünden in direktem Zusammenhang, sowohl, was die Verantwortung für das eigene kirchliche Reden und Handeln betrifft, als auch die Kriterien für eine angemessene Verkündigung. Juden dürften in der Predigt weder zu unwirklichen Vorläufern der Christen noch zu negativen Beispielen eigener Selbstbefragung funktionalisiert werden, weil auf diese Weise für das Judentum als gegenwärtigem 94 Gegenüber kein Platz bleibe. Weyer fordert deshalb – dem historischen Ausgangspunkt „nach Auschwitz“ entsprechend – ein Ende der Verdrängung der Juden als lebendiges Gegenüber. 3.2 Strategien zur Vermeidung antijüdischer Predigt Die Umsetzung der Maßgabe, ohne Antijudaismen zu predigen, nimmt in der homiletischen Diskussion breiten Raum ein. Die Vorgabe „nichtantijüdisch“ ist Ausgangspunkt und Kriterium zahlreicher Überlegungen. Durch dieses Strukturelement hindurch wird das Gegenüber Judentum wieder lebendig, ohne es verbleibt es bei starren Stereotypisierungen. Von christlich-konfessorischer Warte aus formuliert: Durch den „Selbstreini91 A.a.O., 175. 92 A.a.O., 172. 93 A.a.O., 175. 94 Vgl. a.a.O., 172 bei der Analyse einer Predigt: „Für die Juden ist in dieser Predigt eigentlich kein Platz.“
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gungsprozess“, der mit dem Programm der Vermeidung von Antijudaismus verbunden ist, erhält der christliche Prediger die Möglichkeit, jüdisches Gegenüber wahrnehmen zu können. Die Umsetzung der Maßgabe in den homiletischen Konzeptionen, die ich im folgenden darstelle, erfolgt auf verschiedenen Wegen. So wird zum einen die sachgerechte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers (a), zum anderen die Aufdeckung verborgener Plausibilitätszusammenhänge des Predigtprozesses gefordert (b). Beide Wege sollen die Wahrnehmung der Gegenwärtigkeit des jüdischen Gegenübers ermöglichen. Aus ihnen ergeben sich Strategien zur Vermeidung antijüdischer Predigt, die abschließend dargestellt werden (c). a) Israels Gegenwart und die sachgerechte Wahrnehmung des Gegenübers Die EKD-Studie Christen und Juden II und die Predigtmeditationen „Predigen in Israels Gegenwart“ sind bei der Verwirklichung der Aufgabe, nicht antijüdisch zu predigen, an erster Stelle zu nennen. Herausgeber der Predigtmeditationen sind Arnulf H. Baumann und Ulrich Schwemer. Die EKD-Studie, an deren Entstehen Baumann ebenfalls maßgeblich beteiligt war, stellt folgende Kriterien für eine Predigt auf, die weder „antijüdische Vorurteile“ weitergeben noch christliche Glaubensaussagen preisgeben 95 will: Zum einen solle die Predigt „sachgerecht“ in ihren Aussagen über jüdischen Glauben und jüdische Existenz sein. Ermöglicht werde eine sachgerechte Wahrnehmung durch eine Hermeneutik von Neuem und Altem Testament, die neben der tiefen „Verwurzelung des christlichen Glaubens 96 im Judentum“ auch das jüdische Verständnis alttestamentlicher Texte zur Kenntnis nehme und als Anfrage verstehe. Zum zweiten müsse die Predigt die Spannung zwischen verbindenden Gemeinsamkeiten und trennenden Unterschieden aushalten. Mit dieser Maßgabe werden vor allem dogmatische Implikationen verbunden: Die Einheit Gottes als Gott der Juden und der Christen dürfe nicht in Frage gestellt werden. Umgekehrt dürfe nicht verdrängt werden, „dass Juden und Christen unterschiedlich zu Jesus ste97 hen.“ Der Vorgabe „keine antijüdischen (Vor)Urteile“ wird das Kriterium „in Israels Gegenwart“ zugeordnet, dem Auftrag „keine Preisgabe christlicher Glaubensaussagen“ entspricht die Aufforderung, Trennendes und Verbindendes zu benennen und auszuhalten. Auf diesem Hintergrund wird zu einem behutsamen Umgang mit jüdischer Tradition aufgerufen, der davor bewahren soll, „eine Austauschbarkeit der Glaubensaussagen vorzutäu-
95 Vgl. Christen und Juden II, 58. 96 A.a.O., 59. 97 Ebd.
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98
schen.“ Zugleich wird vor einer Fortführung unguter Traditionen gewarnt, wie sie z.B. die „typische“ Karfreitagspredigt darstelle, die das Vorur99 teil lebendig halte, „die Schuld am Tode Jesu liege bei den Juden.“ Das umfassende Kriterium, das in der Regel mit dem Stichwort „Predigen in Israels Gegenwart“ verbunden wird, lautet schließlich im Wortlaut so: „Was die christliche Predigt über Juden und ihren Glauben aussagt, sollte sachgerecht sein, so dass ein im Gottesdienst anwesender jüdischer Hörer sich darin wiedererkennen könnte. Dieses Kriterium gilt auch dann, wenn kein Ju100 de gegenwärtig ist.“ Die eigentümliche Problematik der Maßgabe „Predigen in Israels Gegenwart“ besteht darin, dass in christlicher Predigt die Spannung „von Ver101 bindendem und Trennendem zwischen Juden und Christen“ ausgehalten werden muss. Die Problematik liegt darin, dass da, wo von trennenden Unterschieden gesprochen wird, ein „anti“ – im Sinne von „gegen“ – in den Blick kommen könnte. Es geht aber nicht um eine Herabsetzung oder Herabwürdigung oder gar ein „an die Stelle setzen“, sondern um die Wahrnehmung verschiedener Positionen im Gegenüber. Mit anderen Worten: Zumindest in einem Punkt, im Reden von Christus, ist christliche Rede vom jüdischen Gegenüber getrennt und unterschieden. Hier steht christliches Predigen im Gegen(über) zu jüdischer Rede. Wegen der in christlicher Rede notwendigen, vom Judentum unterscheidenden Sprachform gilt es, das Augenmerk auf die Bewahrung der Spannung von Verbindendem und Trennendem zu richten. „Predigen in Israels Gegenwart“ als Kriterium für die homiletische Praxis muss deshalb in Aufnahme der Intention der EKD-Studie heißen: Predigen in der rechten Auslegung von Trennendem und Verbindendem zwischen Judentum und Christentum. Das bedeutet: Sachgerechte Wahrnehmung des Gegenübers statt unsachgemäßer Konfrontation und Herabsetzung einerseits und sachgemäße Auslegung der Position des anderen statt Enteignung oder Einverleibung seiner Positionen andererseits. Die Studie Christen und Juden II führt für Letzteres als Warnung die missbräuchliche Aufnahme jüdischer Traditionen im Gottesdienst an: „Vielfach wird heute versucht, der besonderen Beziehung von Christen und Juden Ausdruck zu verleihen, indem man jüdische Gebete oder andere Elemente jüdischer Tradition im Gottesdienst aufnimmt. So gut diese Versuche gemeint sind, bergen sie doch die Gefahr in sich, eine Austauschbarkeit der Glaubensaussagen vorzutäuschen. Christen können z.B. nicht ohne weiteres Texte der jüdischen Passaliturgie für ihren Gottesdienst übernehmen. Sie sollten respektieren, dass das Passafest für die Juden Erinnern und Vergegenwärtigung
98 A.a.O., 60. 99 Ebd. 100 Vgl. a.a.O., 58. 101 Vgl. a.a.O., 59.
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der eigenen Verfolgungs- und Befreiungsgeschichte bedeutet. Diese Erfah102 rung ist nicht beliebig übertragbar.“ Festzuhalten ist, dass zur Vermeidung von Antijudaismus die Abwehr unsachgemäßer Konfrontation und Herabsetzung (die eo ipso unsachgemäß ist) im Vordergrund stehen muss. Umgekehrt kann auch das Übergehen von Unterschieden oder die mangelnde Wahrnehmung der christlichen Position im Gegenüber zum Judentum zu einer verzerrten Wahrnehmung des Gegenübers führen. Es gilt, die Spannung, in die das Kriterium „Predigen in Israels Gegenwart“ führt, zu bewahren. Die Spannung, von der hier die Rede ist, lässt sich am Prozess der Entstehung der Programmatik „Predigen in Israels Gegenwart“ ablesen. Fünf Jahre vor der EKDStudie geben Baumann und Schwemer erstmals Predigtmeditationen unter der Überschrift „Predigen in Israels Gegenwart“ heraus. Sie sollen einer faktischen Not abhelfen, denn: „Trotz vieler Versuche engagierter Einzelner vollzieht sich die Predigtarbeit [...] noch wenig im Horizont des christlich-jüdischen Ge103 sprächs.“ Deshalb habe sich die Studienkommission Kirche und Judentum der 104 EKD vorgenommen, „eine konkrete Hilfe zu erarbeiten.“ Dabei – so dokumentiert es die Einleitung zu den Predigtmeditationen – ist es zu mehr Schwierigkeiten gekommen als erwartet. Es sind die gleichen Probleme, die sich später in der EKD-Studie Juden und Christen II wiederfinden: Antijüdische Hermeneutik als Gefahr für die Predigt auf der einen Seite, Verlust christlicher Eigenaussage als Schwierigkeit auf der anderen Seite. Für die Aufgabe der Predigt bedeute das: „Der Hörer muss am Ende der Predigt erkennen können, dass er Christ und kein Jude ist, so wie er auch erkennen soll, dass er zu seinem Selbstverständnis als 105 Christ nicht der Überholung des ‚alten Israel‘ bedarf.“ Mit anderen Worten: 106 Ziel muss es sein, nicht antijüdisch, aber auch nicht jüdisch zu predigen.
Ein weiteres Problem, das sich hinter dem Stichwort „Predigen in Israels Gegenwart“ verbirgt, wird ebenfalls in der Einleitung der Predigtmeditationen von Baumann und Schwemer angesprochen. Hier ist der Begriff „in Israels Gegenwart“ noch nicht Synonym einer homiletischen Hermeneutik, sondern wird ganz wörtlich verstanden: „Ein Grundproblem der christlichen Predigt, die das christlich-jüdische Gespräch einbeziehen will, ist die fast immer gegebene Abwesenheit des jüdischen Partners bei der Predigt selbst. Es kann nicht erwartet werden, dass Juden einen christlichen Gottesdienst besuchen – zumal in Deutschland, wo die Zahl der Juden als Folge einer schrecklichen Vergangenheit auf etwa 30 000 geschrumpft ist (die zudem noch überwiegend auf wenige Städte konzentriert wohnen). Diese Feststellung klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Mit der vorauszusetzenden Abwesenheit von jüdischen Hörern bei christlichen Predigten ist jedoch die Versuchung gegeben, sich mit einer sachlichen und fairen Beschreibung der Juden, ihres 102 103 104 105 106
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A.a.O., 59f. A.H. BAUMANN/U. SCHWEMER: Predigen 1.8. Ebd. A.a.O., 12. Vgl. A.H. BAUMANN/U. SCHWEMER: Predigen 1.11f.
Glaubens und Lebens keine besondere Mühe zu machen. Demgegenüber muss aufs stärkste betont werden, dass nach dem Holocaust ein Jude in Deutschland jeden christlichen Gottesdienst besuchen können müsste, ohne sich durch die Aussagen des Predigers verzeichnet, herabgesetzt oder gar beleidigt fühlen zu müs107 sen!“
Die Aufgabe „Predigen in Israels Gegenwart“ kann demnach in verschiedener Hinsicht verstanden werden: Zum einen ist mit dem Konzept eine pädagogische Stoßrichtung verbunden: Die vorgestellte Anwesenheit von jüdischen Hörerinnen und Hörern soll vor gedankenlosem Antijudaismus bewahren. Zweitens versteht „Predigen in Israels Gegenwart“ sich als Antwort auf die Schuld der Vergangenheit und als verantwortlicher Umgang mit ihr. Aus homiletischer Perspektive geht es dabei um den Öffentlichkeitscharakter der Predigt. Predigt ist ein öffentliches Geschehen, das auch denen gilt, die ihr nicht beiwohnen. „Predigen in Israels Gegenwart“ bedeutet auf diesem Hintergrund: Christliches Zeugnis in öffentlicher Rede, im Bewusstsein der schuldhaften Vergangenheit und im Gewärtig-Sein gegenwärtiger Verantwortung. Zu dieser Verantwortung gehört die Wahrnehmung und Achtung des jüdischen Gegenübers. Zum dritten, hierauf weisen die Formulierungen der ersten Hälfte des obigen Zitates hin, könnte „Predigen in Israels Gegenwart“ in einer Perspektive verstanden werden, die von den Verfassern nachdrücklich abgelehnt wird. Predigt als öffentliche Verkündigung des Wortes Gottes ist missionarische Rede. Hier versuchen die Verfasser einen Spagat: Juden sollen kommen, sollen kommen können, sollen zuhören, sollen zuhören können. Aber sie sollen auf keinen Fall angezogen, begeistert oder gereizt werden. Nun ließe sich polemisch rückfragen, was denn dann der Grund ihres Kommens sein soll: Warum sollen Juden kommen und zuhören? Und was bereitet den Verfassern Sorge, was passieren könnte, wenn Juden kommen und zuhören? Anders: Wenn im christlichen Gottesdienst der von Christen bekannte Gott tatsächlich gegenwärtig erfahren wird, welche „Gefahr“ besteht dann für Nicht-Christen, wenn nicht die, dass sie von diesem Gott ergriffen werden könnten? Einerseits läuft die gesamte Argumentation – mindestens in ihrer wörtlichen Intention – darauf hinaus, Juden und Jüdinnen die Anwesenheit im christlichen Gottesdienst zu ermöglichen, andererseits soll diese Anwesenheit in dem Sinne folgenlos bleiben, dass der christliche Glaube keinesfalls für einen jüdischen Hörer attraktiv erscheint. „Predigen in Israels Gegenwart“ soll also eigentlich heißen: Predigen in Israels virtueller Gegenwart. Dass die Anwesenheit nur virtuell sein muss, um die pädagogische und hermeneutische Funktion zu erfüllen, setzt das Konzept der Gefahr aus, die Vorstellung von Juden zu instrumentalisieren. Offen bleibt die Frage, was geschieht, wenn die Anwesenheit des jüdischen Partners real ist. Die zwei Möglichkeiten, die sich als Antworten auf107 A.a.O., 10.
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drängen, decken die Problematik der Konzeption und ihre eigentümliche Spannung noch einmal von einer anderen Seite auf: Wenn man von der religionskundlichen Information, die ein Gottesdienst für Nicht-Christen geben kann, absieht, bleibt die Möglichkeit gemeinsamer Feier des gemeinsamen Gottes einerseits oder die Möglichkeit christlichen Zeugnisses (Mission) andererseits. Die Behauptung der gemeinsamen Feier erübrigt zwar einerseits die Diskussion der Missionsproblematik. Die These der gemeinsamen Feier offenbart zugleich, welche Gefahren der Vereinnahmung und Aufhebung des Gegenübers hinter der Behauptung theologischer Gemeinschaft stecken. Ein Außerachtlassen der missionarischen Dimension des christlichen Gottesdienstes beraubt den Aspekt der Öffentlichkeit des gottesdienstlichen Geschehens umgekehrt seiner Pointe: Was im Namen des Herrn aller Herren gesagt wird, geht jeden an – Christen und NichtChristen. Die Konzeption „Predigen in Israels Gegenwart“ hat keine Lösung für dieses Problem. Wir halten fest: Die Vergegenwärtigung von Israels Gegenwart ist in der Konzeption von Baumann und Schwemer das hermeneutische Kriterium zur Umsetzung christlicher, nicht-antijüdischer Rede im Gottesdienst. Der Öffentlichkeitscharakter der Predigt gebietet einerseits, dass hier so geredet wird, dass auch die nicht-anwesenden Juden sachgerecht wahrgenommen und als selbständiges Gegenüber geachtet werden. Zur sachgerechten Wahrnehmung gehört dabei die Vermeidung von Herabsetzung und Herabwürdigung, die sachgemäße Auslegung von Verbindendem und Trennendem sowie die Respektierung des jüdischen Gegenübers, das auch da, wo Gemeinsamkeiten und Verbindungen zum christlichen Glauben bestehen, nicht nur als ein verlorener und wieder einzuverleibender Teil eines corpus christianum zu verstehen ist. Aus der Perspektive des christlichen Selbstverständnisses und aus der Perspektive der Achtung des Gegenübers bedarf die sachgerechte Wahrnehmung unbedingt der Darstellung von Verbindendem und Trennendem. Der Öffentlichkeitscharakter der Predigt beinhaltet daneben eine missionarische Dimension christlicher Rede im Gottesdienst. Sie wird in der Konzeption von Baumann und Schwemer bewusst zurückgestellt. Es gilt, bei der Vorstellung von Juden im christlichen Gottesdienst weder konzeptionelle Vereinnahmung noch missionarische Ziele zu betreiben. Die Widersprüchlichkeit, die hier entsteht, führt dazu, dass es bei der Vergegenwärtigung von Israels Gegenwart im Gottesdienst in der Regel bei einer Vorstellung bleiben soll. Gerade als solche erfüllt sie den Sinn der hermeneutischen und pädagogischen Intention des Kriteriums der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers. Damit es hier nicht zu Instrumentalisierungen von imaginierten, möglicherweise lediglich illustrierenden oder gar illusionären Vorstellungen vom Gegenüber kommt, wird eine Wahrnehmung und Begegnung mit dem jüdischen Gegenüber außerhalb des Gottesdienstes anzustreben sein. Mit anderen Worten: Der homiletische Lernprozess muss an dieser Stelle in vielfältige andere Elemente gemeindlicher Arbeit 242
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und Predigtvorbereitung integriert werden. Zu diesen anderen Elementen gehört die gemeinsame Bibelarbeit, wie sie in dialogischer Weise auf den evangelischen Kirchentagen seit den 1970er Jahren praktiziert wird (s.o. V. 3.1). Daneben ist unter anderem die Form der Ausstellung zu nennen, die seit einigen Jahren beispielhaft in der Hannoverschen Landeskirche mit der 109 Wanderausstellung „Blickwechsel: Juden und Christen“ praktiziert wird. b) Israels Gegenwart und die „Reinigung“ der Predigt von antijüdischen Strukturen Gerhard Rau hat 1980 einen explizit an der homiletischen Theorie ausgerichteten Beitrag unter dem Titel „Die antijüdisch-antisemitische Predigt“ 110 veröffentlicht. Rau führt zunächst anhand einiger Predigtbeispiele aus der Zeit vor 1933 vor Augen, was er unter Antijudaismus in Predigten versteht. Kern sei die bereits vor der Judenvernichtung der Jahre 1942–1945 vollzogene Aufhebung des Judentums als existierendes Gegenüber in christlichen 111 Predigten. Rau sieht diese Aufhebung auf zweierlei Weise in Predigten Gestalt gewinnen: Zum einen in Form einer ideellen Tötung durch Abspre112 chen jeglicher positiver Seinsbestimmung, zum anderen in Form einer vollständigen Funktionalisierung und Instrumentalisierung der „Judenfrage“ für die eigene Identitätsbestimmung, die durch Abgrenzung zu „den Juden“ gewonnen werde. Von hier aus fragt Rau nach dem Zusammenhang von antijüdischer Predigtpraxis und homiletischer Theorie. Ausgehend von der Feststellung, dass der vor 1933 aufzuweisende Antijudaismus in den Predigten weitgehend unabhängig von theologischen oder kirchlichen Richtungen aufzufinden ist, fragt er, was in diesen Predigten „eigentlich“ geschehe. Zur Beantwortung dieser Frage geht er von der psychoanalytisch begründeten Einsicht aus, dass der Predigt als Kommunikationsgeschehen
108 Vgl. zu einem möglichen Missverstehen der Konzeption „Predigen in Israels Gegenwart“ E. VOLKMANN: Verhältnis, XIf; vgl. zur Problematik auch A.H. BAUMANN/U. SCHWEMER (Hg.): Gottesdienste, passim. 109 Vgl. U. RUDNICK: Blickwechsel, passim. 110 G. RAU: Die antijüdisch-antisemitische Predigt. 111 Vgl. G. RAU: Predigt, 28f: „Stimmt, er [sc.: der Prediger; CS] hat sie ja gar nicht erwähnt – die Juden waren für ihn seit 1830 Jahren tot, mit dem Ende des jüdischen Krieges ausgelöscht als Volk und religiös durch das Heidenchristentum abgelöst. [...] Selbst bei einem solchen Text wie Römer 9,1ff, wo von niemandem anders die Rede ist als von wirklichen Juden, muss man nicht mehr von ihnen reden, weil es sie so nicht mehr gibt, zumindest nicht im Horizont protestantischer Pfarrer.“ 112 Vgl. a.a.O., 29: „Und damit bin ich zu einer ersten These aufgrund der Beobachtungen an den Predigtdokumenten gekommen: Die Juden waren ideell längst getötet, als man sich anschickte, sie in die Konzentrationslager zu schicken, und zwar deshalb, weil ihnen keinerlei positive Attribute der Zeit zukamen, Attribute, die damals alle im Begriff des Volk-Seins gipfelten.“
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neben einer Oberflächenstruktur eine eigene „Plausibilitätsstruktur“ als Tiefenstruktur eignet, die ihr durch die Situation und die beteiligten Personen vorgegeben ist. Das Predigtgeschehen beschreibt Rau folgendermaßen: „Die Plausibilität einer Lebensgemeinschaft wird von der Predigt repräsentiert und neu befestigt, und – wenn auch geringfügig – in Modifikationen 114 fortentwickelt.“ Rau spricht in diesem Zusammenhang von einer religionssoziologisch aufweisbaren Funktion der Predigt, die durch Repräsentation, Stabilisation und Modifikation eine identitätsstiftende und identitätsbildende Aufgabe im kultisch-religiösen Kontext wahrnehme. Er vergleicht das Predigtgeschehen auf diesem Hintergrund mit einem Kultopfer und nennt es in Analogie dazu ein „Sprechopfer“: Hier wie dort vollziehe sich die „Reinigung als eine Gewinnung von Identität in der negativen Abgren115 zung von Fremdem.“ Der „kultische Vollzug“ Predigt in der evangelischen Kirche vollziehe sich aber so, dass die Prediger sich dieses Umstands nicht bewusst seien. Deshalb könne die Predigt, die „den religiösen Kultge116 setzen mit unterliegt“, von diesen pervertiert werden. Die vorherrschende Plausibilitätsstruktur – in diesem Falle der von allen anerkannte oder vorausgesetzte Antisemitismus – könne so in der Predigt transportiert werden, ohne dass auch nur eine einzige Silbe zum Thema Juden/Judentum explizit gesagt werden müsse. Weil die Plausibilität, kurz der Erfahrungs- und Lebenszusammenhang, auf den hin alles geordnet wird, für das 19. Jahrhundert und bis 1933 durch nationale Parameter geprägt war, und zwar „in der 117 spezifischen Färbung deutsch-christlich-protestantischer Kultur“, habe sich als innere Plausibilitätsstruktur für die Predigt ein Antijudaismus erge118 ben, „der die Juden in ihrer Antitypik als Menschen entpersönlichte.“ Kritische Predigttheorie sei gefragt, um Abhilfe zu schaffen. Dem Debakel einer faktisch antisemitischen Predigt lasse sich nicht mit einer „einfachen 119 Veränderung theologischer Gedanken, mit einer anderen Theologie“ allein beikommen. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen befragt Rau die Predigten nach 1945: „Wo und wie kommen die Juden, das jüdische Schicksal nach 120 dem Holocaust denn in der Predigt vor“? Dabei gelte es nun zu berücksichtigen, dass die Frage nach der antisemitischen Predigt nicht allein eine nach den inhaltlichen Aussagen der Predigten über das Judentum sei, sondern zugleich eine Frage nach der Hermeneutik, die der Predigt zu Grunde 121 liegt. Werde lediglich „ein Segnungsopfer für den status quo“ vollzogen? 113 114 115 116 117 118 119 120 121
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A.a.O., 34. Ebd. A.a.O., 35. Ebd. A.a.O., 34. Ebd. A.a.O., 36. A.a.O., 43. A.a.O., 42.
Werden weiterhin die Juden aus dem Erfahrungs- und Wissenszusammenhang hinausdefiniert? Der Gradmesser zur Beantwortung dieser Fragen sei, in welchem Verhältnis Textaussage und gegenwärtige Situation in Predigten zu stehen kommen, mit anderen Worten, in welcher Form die Plausibilität eigener Lebenszusammenhänge als Tiefenstruktur der Textauslegung reflektiert werde. Drei Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung von Tiefenstruktur und Predigt sieht Rau hier gegeben: Erstens: Der Text wird zum Instrument, mit dem die Plausibilität des Lebenszusammenhanges bestätigt wird. D.h. der Text wird ohne Umschweife auf die vorhandene Situation angewendet und die bestehende Ordnung wird auf diese Weise mehr oder weniger bestätigt und religiös legitimiert. Zweitens: Der auf dem Wege der Abstraktion gewonnene „geistliche Extrakt“ eines Textes wird der gegenwärtigen Situation appliziert. D. h., dass nicht der Text oder seine Situation, sondern ein abstrahierter Kernsatz, eine Leitidee oder ähnliches, auf die Situation der Hörenden übertragen wird. Auch dieses Verfahren trägt nach Rau im wesentlichen zur Bestätigung der bestehenden Plausibilitätsstrukturen bei. Drittens: Die gegenwärtige Situation und der Text und dessen historische Situation werden nicht selbstverständlich miteinander vermittelt. Auf diese Weise, so Rau, ließen sich Plausibilitätsstrukturen aufbrechen. Während der erste Typ im Blick auf die Juden nach 1945 kaum noch 122 zur Geltung komme – auf dem Wege der „Sündenbockidentifizierung“ sei es allerdings das gängige Verfahren bis 1945 gewesen –, sei der zweite Typ sehr wohl im Rahmen dieser Thematik nach 1945 vorzufinden. Im Übergang von der zweiten zur dritten (hermeneutischen) Typcharakteristik sieht Rau positive Ansätze zu einer veränderten homiletischen Praxis nach dem Holocaust. Durch die so gestaltete Textauslegung würden „die Juden in die Geschichte der Christen zurückgeholt“, weil „Differenzierungen zwischen den einzelnen Juden möglich“ und diese aus ihrer „Kollektivexistenz 123 im Gegenüber zu den Christen befreit“ würden. Der Lebenszusammenhang im Hintergrund könne dabei nur einer sein, der „mit realen Juden in einer Welt, die nur noch eine ökumenische Hoffnung haben kann oder gar 124 keine“, rechnet. Entscheidend sei: Die Plausibilität des eigenen Lebenszusammenhanges dürfe nicht unhinterfragt mit dem auszulegenden Text vermittelt und dieser so zur Selbstbestätigung funktionalisiert werden. Sorge hierfür trage im Blick auf die Juden „[d]ie Erfahrung der Christenheit, Diaspora in der Welt zu sein, und die Erfahrung des Verrats an Gottes Barm125 herzigkeit beim Holocaust.“ Durch die Reflexion dieser Bußerfahrung und durch ihre Einbeziehung in die gegenwärtige Situation könne Antisemitismus in der Predigt überwunden werden. 122 123 124 125
A.a.O., 43. A.a.O., 44. A.a.O., 45. A.a.O., 46.
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Die Einforderung kritischer Reflexion jedweder Selbstbegründung der Existenz in vorgegebenen Strukturen der gegenwärtigen Situation und ihrer überkommenen Traditionen, die zum hermeneutischen Primat einer kritischen – nicht antisemitischen – Homiletik wird, verankert Rau in einer exklusiv theozentrischen Begründung menschlicher Existenz. Sie gründe „allein im Geschöpfsein, das auf Gott den Erlöser angewiesen ist. Und diese Erlösung vollzieht sich als die Rechtfertigung von gottesfernen Juden und 126 gottesfernen Christen.“ Hier, das ist die Pointe in Raus Überlegungen, unterscheiden sich Christen und Juden nicht. Hier liege aber der Kardinalfehler jeder antisemitisch/antijüdischen Predigtrhetorik, die die Identitätsfindung nicht allein „auf Christi Kosten“, sondern „auf Kosten“ der Juden betreibe. Wir halten fest: Die sozialpsychologisch begründete Analyse des Wesens antijüdisch/antisemitischer Predigt nimmt eine Verknüpfung von homiletischer Theorie, Erfahrungsbezogenheit des Glaubens und christlicher Selbstvergewisserung vor. Dabei verweist die Erfahrung von Schuld den Menschen auf Gott. Der von Gott losgesprochene Mensch wird frei von der Gefahr, die ontologischen Voraussetzungen und Ordnungen seiner Existenz zu verabsolutieren und damit zu pervertieren. Die Lebenswelt stellt sich nicht mehr als Funktion des allein auf sich selbst bezogenen Menschen dar. Der Mensch wird statt dessen frei, den anderen als Gegenüber in einer gemeinsamen Welt wahrzunehmen. Christoph D. Müller beschreibt antijüdische Klischees in Predigten sowie 127 die Möglichkeit ihrer Vermeidung. Sein Ausgangspunkt ist dabei ähnlich wie bei Rau eine sozialpsychologische Wahrnehmung immanenter Mechanismen des Predigtgeschehens. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Kategorie des – antijüdischen – Klischees. Als Beispiel dient das Klischee „Pharisäer“. An ihm wird exemplarisch die Struktur antijüdischer Redeweise in christlicher Predigt vorgeführt. Für Müller ist ein Klischee durch folgende Merkmale bestimmt: „Die bestimmte Sicht und Interpretation eines Phänomens (z.B. ‚Pharisäer‘) erscheint als selbstverständlich, wird also ideologisiert und der Kritik entzogen. Die Geschichtlichkeit des Phänomens und seiner Interpretation wird unsichtbar gemacht. Die zeitliche und kulturelle Distanz wird ignoriert, die historischen Sachverhalte werden nicht zur Kenntnis genommen [...]. Es wird eine Schein-Gleichzeitigkeit vorgespiegelt: andere – oder auch ‚wir‘ 128 sind Pharisäer.“ In dieser Beschreibung klingt die von Rau unterstrichene Funktionalisierung des Textes durch dessen unvermittelte Übertragung an. Der Mechanismus eines Klischees diene, so Müller, ebenso der Stabilisierung der eigenen Identität wie die mit dem Klischee verbundene emotio126 A.a.O., 47. 127 C.D. MÜLLER: Die Pharisäer. Zu einem Klischee christlicher Predigtpraxis. 128 C.D. MÜLLER: Pharisäer, 127.
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nale Komponente: „Das Klischee ist emotional hoch aufgeladen, transportiert Wertungen und Urteile, die als gegeben erscheinen. Klischees in der Gestalt von Vorurteilen machen sich stark durch die Entwertung anderer 129 Menschengruppen.“ Das Zusammenspiel von sachlicher Verzerrung und emotionaler Aufladung führe zu einer Verzerrung in der Wirklichkeitswahrnehmung: „In der Anwendung des Klischees brauchen die Gegenwartsphänomene, auf die das Klischee angewendet wird, nicht mehr wirklich wahrgenommen zu werden. Die Wirklichkeit und das Klischee sind 130 eins. Das Zerrbild erscheint als die wahre Realität.“ Als ein derartiges Klischee erweise sich die Rede vom „Pharisäer“ in der Predigt. Müller weist bei der Begründung dieser These zunächst auf die 131 Genese des „Phänomens ‚Pharisäer-Klischee‘ “ hin. Er nimmt die von Ulrich Luz im Blick auf das Matthäusevangelium dargelegte Analyse auf, dass die Auseinandersetzung zwischen Pharisäern und Jesus-Jüngern einen „Ge132 schwisterkonflikt“ darstelle. Es spiegele sich hierin das endgültige Auseinandergehen der Wege von zwei sehr nahestehenden Gruppen bzw. ihrer Nachfolger, den Judenchristen einerseits und dem rabbinischen Judentum andererseits. Müller merkt an, dass die Pharisäer diese Auseinandersetzung im wesentlichen gewonnen hätten. Die Judenchristen seien „bis auf kleine Minderheiten untergegangen“. Müller: „Anders gesagt: Den Pharisäern, respektive ihren rabbinischen Nachfolgern, glückte es wirklich, über sich selbst Israel zu definieren. Die Christen dagegen konnten nur sich selbst als 133 Israel definieren.“ Aus diesem „Streit um die Erwählung“ und seinen theologischen, sozialen sowie politischen Implikationen resultiere das Klischee des Pharisäers als Muster antijüdischer Denkweise. Verantwortlich dafür sei die veränderte politische Situation: „Die heftige und aggressive Äußerung einer minoritären Gruppe, die damit in einer für sie gefährlichen geschichtlichen Situation ihre Identität zu wahren versuchte [sc.: die Christen/Judenchristen um 70. n.; CS] wurde mit der Kanonisierung zu einem 134 Wesensmerkmal des nun herrschenden Christentums verkehrt.“ Die historisch bedingte Verteidigungshaltung verselbständigt sich zu einem Klischee im Rahmen von Selbstdefinition und Selbstlegitimation. Müller: „Das Judentum, nun für viele Christinnen und Christen repräsentiert in den pharisäischen Gesetzeshütern und im Verräter Judas, wurde zur dunklen Folie, dergegenüber sich das christliche Licht umso glanzvoller abheben und die christliche Identität umso deutlicher profiliert werden konn135 te.“ So kann am Klischee des Pharisäers die Genese von Antijudaismus beschrieben werden. 129 130 131 132 133 134 135
Ebd. Ebd. A.a.O., 128. So U. LUZ bereits 1993, in: DERS.: Antijudaismus, 320ff. C.D. MÜLLER: Pharisäer, 130. Ebd. Ebd.
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Am Klischee „Pharisäer“ zeigt Müller eine „Kanonisierung des Antijudaismus“ und dessen wirkungsgeschichtliche Mächtigkeit in Form eines 136 „(durch die Pharisäer repräsentierten) negativen Judenbildes.“ In den Predigten komme das Klischee nun in doppelter Weise zum Tragen: „Ei137 nerseits offensichtlich, direkt und unverblümt als Urteil über sie.“ Neben dieser offenen Wiedergabe des Stereotyps gebe es eine zweite, indirekte Form. Das Klischee werde auch dadurch transportiert, „dass bestimmte Christen oder (oh, wie kritisch klingt das!) auch wir, wir alle als Pharisäer 138 bezeichnet werden.“ Zu einem anthropologischen Grundphänomen ausgeweitet würden „die Pharisäer“ so erst recht disqualifiziert: „Alles, was an Menschen kleinkariert, verlogen und gottlos ist, ist bereits in dieser repräsentativen jüdischen Frömmigkeit inkarniert. Erlösung ist dann auch 139 Erlösung von diesem im Judentum inkarnierten Negativen.“ Für diesen Einsatz des antijüdischen Klischees nennt Müller etliche typische Verwendungen in den von ihm herangezogenen Predigten, unter ihnen die „Pau140 141 schalisierung“, die „Generalisierung“, die „Instrumentalisierung“ und 142 die „Projektion.“ Sie stehen – gerade in der anthropologisch geweiteten Form der Verwendung – für bestimmte Funktionsmechanismen in den Predigten, die des Einsatzes eines Klischees bedürfen. Zu diesen Funktionsmechanismen zählt Müller die Stärkung von in Frage gestellten Plausibilitäts- und Evidenzzusammenhängen: „Wo in Predigten überzeugende Argumente (z.B. zur besonderen Bedeutung Jesu) fehlen, wo Plausibilität und Evidenz dünn geworden sind, rekurriert man auf eine unbefragbare Autorität. Wo man diese unbefragbare Autorität nicht unverblümt ausspielen 143 möchte, greift man zum Klischee.“ Daneben sei ein starkes Motiv zur Suggerierung einer Klischee-Wirklichkeit dort zu finden, wo negative Erfahrungen wie z.B. Konflikte, Aggression, Trauer, Frustration oder Ohnmacht, also die Erfahrungen eigener Schattenseiten, verdeckt oder verzerrt wahrgenommen würden. Die offene Suche nach Schutz und Stabilisierung durch das Klischee werde „durch negative Projektionen, Disqualifikationen, 144 Entwertungen und Pauschalisierungen“ substituiert. Bei diesem Mechanismus weist Müller, ähnlich wie Rau, auf die eigentümliche Komponente der Religion hin. Sie trage zu einer Überhöhung bei der Anwendung der „Schutzmaßnahmen“ zur Stabilisierung von Plausibilität und Evidenz eigener Lebenszusammenhänge bei.
136 137 138 139 140 141 142 143 144
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A.a.O., 131. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 132. A.a.O., 133. A.a.O., 135. A.a.O., 137. Ebd.
Dem sozialpsychologischen Ansatz gemäß sieht Müller die Möglichkeiten zur Vermeidung antijüdischer Redeweise in der Predigt vor allem im Aufbrechen der das Klischee begründenden und begleitenden Funktionalisierungen. Hierzu gehöre das Wahrnehmen eigener Aggression sowie einer jahrhundertealten kirchlichen Aggressionszensur, die das Problem ambivalenter menschlicher Grunderfahrungen in unbewusste und verzerrte Feindbilder abdränge. Dieselben Mechanismen könnten aufgebrochen werden, wenn die Ambivalenzen von Liebe und Hass, von Macht und Ohnmacht wahrgenommen und eingestanden würden. So könne verhindert werden, dass „eine vermeintlich ‚reine‘ Liebe und ein angeblich nur sanfter Gott gepredigt wird, die abgespaltenen Gefühle dafür auf andere projiziert oder in Klischees deponiert werden“ bzw. dass „Macht verdeckt ausgespielt wird und Ohnmachtserfahrungen in Klischees und Vorurteilen nach außen ge145 wendet werden.“ In diesem Zusammenhang gelte es, neutestamentliche Sequenzen wie die Streitgespräche Jesu mit seinen Kontrahenten nicht als existentielle Bedrohung christlicher Identität zu begreifen, sondern als Ausdruck einer Streitkultur, in der Differenzen offengelegt und verschiedene Positionen profiliert werden können, ohne dass das Gegenüber instrumentalisiert werde. In diesem Zusammenhang erhebt Müller die Forderung, dass die Rede vom eigenen Angenommensein, theologisch die Figur des sola gratia, nicht ein bloß verbales, uneingelöstes Postulat bleiben dürfe. Vielmehr müssten vom sola gratia aus der Umgang mit den eigenen Schatten ermöglicht, abwehrende Projektionen hingegen verhindert werden können. An die Stelle abwertender Abgrenzungen könnte die gemeinsame Vision des Gottesreiches von Gerechtigkeit und Frieden treten. Das Offenlegen eigener Schattenseiten (inclusive eigener Klischees) könne durch ein Unterbrechen der Klischees realisiert werden. Einen wesentlichen Beitrag könne hierbei eine durch die Selbstannahme ermöglichte Selbstrelativierung leisten, die im Humor zum Ausdruck komme: „Im Humor relativieren wir die Welt, ohne sie zu verachten. So wird im Humor von Grund auf die Behauptung in Frage gestellt, die jeweilige Sicht der Wirklichkeit oder die vorfindliche Wirklichkeit (die ‚Welt‘) sei die Wirklichkeit. Klischees haben dann keine Chance. Wahrscheinlich sind die Kirchen auch dort den antijudaistischen Klischees so kritiklos auf den Leim gekrochen, wo sie unfähig zur Selbstrela146 tivierung und damit unfähig zum Humor waren.“ Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen ist die Übereinstimmung in den Überlegungen Raus von 1980 und denen Müllers von 1998 deutlich. Hier wie dort wird der Antijudaismus als Funktion in den Legitimationsprozessen christlicher Identität wahrgenommen. Die Möglichkeit zur Vermeidung
145 A.a.O., 139. 146 A.a.O., 142.
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antijüdischer Redeweise wird im Bewusstmachen und Aufbrechen dieser Funktionalisierungen gesehen. Auffallend ist, dass diese Konzeptionen, die mit unbewussten und emotionalen Faktoren rechnen, ein Lösungsangebot machen, das auf der kognitiven Ebene liegt. Eine Umsetzung der emotionalen Komponente in den Entwürfen nicht-antijüdischer Predigtrede wird nicht geleistet. Die Kritische Theorie als theoriegeschichtlicher Hintergrund der Entwürfe erweist sich in diesem Zusammenhang als aufklärerisch-idealistisches Konzept, das eine kritische Bewusstmachung und Wahrnehmung bestimmter Zusammenhänge propagiert. Die sozialpsychologische Ausrichtung könnte daneben den Anschein einer möglichen Enttheologisierung der Problematik antijüdischer Redeweise in der Predigt erwecken. Für ein sozialpsychologisches Verständnis der „Funktion“ Antijudaismus mag das der richtige Weg sein. Im Blick auf das Verhältnis zu Israel stößt die Konzeption allerdings an ihre Grenzen. Es werden weder theologische Modelle der Verhältnisbestimmung entworfen noch eine mögliche Vergegenwärtigung Israels und ihre Bedeutung für die Predigt homiletisch eingeholt. Im Gegenteil: Hier, wo es um eine positive Bestimmung im Bezug zum Judentum geht, besteht in den sozialpsychologisch argumentierenden Entwürfen die Gefahr, das jüdische Gegenüber als anthropologische Grundkategorie zu verstehen und zu verallgemeinern. So wird für Rau das Judentum zum Repräsentanten des anderen als eines Gegenübers in der Welt. Die Stärke der hier dargelegten Überlegungen von Rau und Müller birgt in sich zugleich eine Schwäche: Die sozialpsychologisch bestimmte Analyse besticht durch ihre Betonung der Selbstbezüglichkeit des Phänomens Antijudaismus. Eine solche Analyse stösst jedoch an ihre Grenze, wenn es gilt, eine veränderte Wahrnehmung der Beziehung zum jüdischen Gegenüber zu entwerfen und diese in die Homiletik einzubeziehen. c) Wege zur Vermeidung antijüdischer Predigt Es sind vor allem zwei Wege, auf denen versucht wird, antijüdische Predigtweise aufzudecken und zu vermeiden. (i) In der Konzeption von „Predigen in Israels Gegenwart“ soll die – vorgestellte – Anwesenheit jüdischer Hörerinnen und Hörer die Predigenden vor einer Herabwürdigung des jüdischen Gegenübers bewahren. Der in Israels Gegenwart Predigende werde sachgemäß die Beziehung des christlichen Glaubens, charakterisiert durch Verbindendes und Trennendes, zum Judentum darstellen und so Raum für das jüdische Gegenüber wahren. (ii) Neben dem Merkmal unsachgemäßer Darstellung kann als zweites Merkmal antijüdischer Predigt die Funktionalisierung des Gegenübers gelten. Eine solche Funktionalisierung wird durch das Kriterium des Predigens 250
in Israels Gegenwart noch nicht ausgeschlossen. Hier verbirgt sich eine grundlegende Problematik christlich-theologischer Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers. Die Artikulation christlichen Selbstverständnisses findet in Verbindung und Abgrenzung zum Judentum statt. Problematisch wird es, wenn diese Aufgabe so gelöst wird, dass das Gegenüber – durch Abgrenzung oder Verbindung – nur noch als Funktion des eigenen Selbstverständnisses begriffen wird. Das jüdische Gegenüber verschwindet so in den Plausibilitätszusammenhängen christlichen Glaubens. Diese Problematik greifen Rau und Müller in sozialpsychologischer Begrifflichkeit für den Predigtzusammenhang auf: Antijüdisch ist nach ihrer Darstellung eine Predigtpraxis, die „die Juden“ in identitätsstabilisierender Instrumentalisierung mit gegenwärtigen Gegebenheiten unreflektiert vermittelt und identifiziert. Als antijüdisch wird so über die unsachgemäße Wahrnehmung des Judentums hinaus eine bestimmte Form praktisch-theologischer Hermeneutik verstanden. Die Selbstbezüglichkeit antijüdischer Redeweise macht eine differenzierte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers nötig, bei der zunächst die Selbstbezüglichkeit des Antijudaismus durchbrochen werden muss. Zur Vermeidung antijüdischen Predigens ist deshalb – über die von Rau und Müller dargelegte Wahrnehmung der Mechanismen hinaus – eine differenzierte Wahrnehmung jüdischer Gegenwart geboten. Es geht dabei um eine Wahrnehmung, die sich von ihrem eigenen Vermittlungs- und Integrationszwang im Blick auf das Judentum frei machen muss. Ich halte fest: Die Auseinandersetzung mit antijüdischen Einstellungen ist durch die vorgängige Beziehung des Christentums zum Judentum vor eine besondere Problematik gestellt. Die Aufgabe der Abgrenzung gegenüber dem Judentum im Rahmen christlicher Bezogenheit auf das Judentum ist von einer Funktionalisierung dieser Abgrenzung zur eigenen Identitätsstabilisierung zu unterscheiden. Sachgemäß erscheint deshalb jene Definition antijüdischer Denkweise, die auf die mangelnde und falsche Wahrnehmung des Gegenübers und dessen Funktionalisierung rekurriert. Beides lässt sich im theologischen Diskurs nur dann vermeiden, wenn dem Gegenüber Israel ein vorgängiger Ort im eigenen theologischen Denken eingeräumt wird. Für die homiletische Praxis können diese Einsichten angewendet werden, wenn eine homiletische Texthermeneutik entwickelt wird, die die eigenen Plausibilitätszusammenhänge auf immanente Funktionalisierungen des Gegenübers befragt und so das jüdische Gegenüber im homiletischen Prozess entdeckt und wahrnimmt. Im Sinne einer Wahrnehmung dieses Gegenübers als selbständiger Größe rechnet eine derartige homiletische Hermeneutik mit unvermittelbaren Textinhalten im Blick auf den Predigtprozess. An die Stelle einer identitätsstabilisierenden Instrumentalisierung eines herabgewürdigten Gegenübers sollte eine in der Rechtfertigung begründete Fähigkeit zur eigenen Distanznahme treten, die die eigenen Schattenseiten wahrnimmt und sich selbst im Gegenüber begreift. Die erneuerte Selbst- und Fremdwahrnehmung zeigt sich in der Möglichkeit, überkommene antijüdische Predigtklischees aufbrechen zu können. 251
3.3 Homiletische Perspektiven auf der Grundlage positiver Verhältnisbestimmung Das Element der Teilhabe und Gemeinschaft mit dem Judentum findet sich in besonderem Maße in den Sammlungen homiletischer Praxis, deren Herausgabe vornehmlich in die dritte Phase der Entwicklung christlichjüdischer Beziehungen fällt. Hier wird die gemeinsame Praxis und die in dieser Praxis zum Ausdruck kommende Gemeinschaft betont. Zugleich scheint sich ein Weg zu öffnen, der auf dem Wege der Praxis selbst die antijüdischen Verwerfungen bisheriger Theorien hinter sich lassen kann. Die Anforderung, in der jeweiligen konkreten Situation die richtigen Worte zu finden, wirkt dabei unmittelbarer und überzeugender als eine bisweilen ort147 lose Suche nach richtigen Verhältnisbestimmungen. Eine Reduktion der komplexen Zusammenhänge von Verschiedenheit und Verbundenheit hin zur reflektierten, aber klaren und nachvollziehbaren Betonung der Gemeinsamkeit erscheint häufig genug einfach praktischer. Mir geht es an dieser Stelle nicht um eine Abwertung derartiger Praxis. Ich will die im Hintergrund stehenden Überlegungen auf ihre homiletischen Kriterien befragen. Dabei steht, wie bisher, die Frage nach den Möglichkeiten der Vermeidung antijüdischer Redeweise im Vordergrund. Die zentrale Gemeinsamkeit der folgenden Konzeptionen besteht darin, dass hier die positive Verhältnisbestimmung zum Judentum die antijüdische Redeweise verhindern soll. a) Israel im christlichen Gottesdienst Eine erste größere Sammlung von Predigten unter dem Blickwinkel einer veränderten Wahrnehmung des Judentums hat Peter von der Osten-Sacken 1980 unter dem Titel „Israel im christlichen Gottesdienst“ herausgebracht. Von der Osten-Sacken selbst bezeichnet die Sammlung als „einseitig“, denn: „Sie gibt keine Beispiele dafür, wie nicht mehr von Israel geredet 148 werden kann.“ Ihr Ziel ist es, Information, Orientierungshilfe und Ermutigung für die „nach ihrer Verbundenheit mit dem Volk Israel suchenden oder auch dieser Verbundenheit gewissen Hörer und Prediger in ihrem Hö149 ren und Reden“ zu sein. Predigen aus der Verbundenheit zu Israel wird sowohl im Blick auf den kirchlichen Alltag, den „alltäglichen“ Sonntag, als auch im Blick auf zu dieser Zeit zunehmende Gedenkveranstaltungen an den Holocaust vor Augen geführt. Einen besonderen Akzent stellt die Voranstellung der jüdischen Predigt von Yehoschua Amir aus Jerusalem dar: Sie soll, so von der Osten-Sacken, „zum Ausdruck bringen, dass von ‚Israel im christlichen Gottesdienst‘ im vollen Sinne erst dann gesprochen werden kann, wenn die Stimme des jüdischen Volkes selber in ihm authentisch er147 Vgl. P. VON DER OSTEN-SACKEN: Israel, 6: 148 P.VON DER OSTEN-SACKEN: Israel, 6. 149 Ebd.
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klingt.“ Insofern meint „Predigen in Verbundenheit zu Israel“ mit Blick auf die Zukunft für Osten-Sacken „Predigen mit und durch Israel“, denn: „Die Vorausstellung der (Umkehr-) Predigt soll markieren, in welchem 151 Zeichen die Hinwendung allein geschehen kann.“ Osten-Sacken entfaltet in seiner kurzen Einführung der Predigtsammlung kein eigenes homiletisches Konzept. Die Sammlung ist ein erster Versuch, Beispiele nicht antijüdischer Predigtform zu bieten. Als Anregung der eigenen homiletischen Kreativität ist dieser Anstoß wertvoll. Problematisch erscheint mir eine – von Osten-Sacken gewiss nicht intendierte – Simplifizierung der Programmatik „Israel im christlichen Gottesdienst.“ In der kirchlichen Praxis hat dieses Programm in den verschiedensten Formen – und nicht immer ohne Reibungsverlust – Wiederhall gefunden. Eine Vereinfachung der komplexen Problematik tritt dabei nicht selten dergestalt auf, dass an Gedenktagen oder am 10. Sonntag nach Trinitatis jüdische oder israelische Elemente unreflektiert in den christlichen Gottesdienst integriert werden. An die Stelle sachgemäßer Wahrnehmung der Verbundenheit zum Gegenüber tritt eine bisweilen folkloristisch angehauchte Verklärung des Gegenübers. Israel erscheint so zwar im christlichen Gottesdienst. Als selbständiges Gegenüber wird es aber nicht wahrgenommen, sondern einverleibt und enteignet. Beispielhaft weist diese instrumentalisierende Enteignung Karlheinz Müller anhand eines häufig zu beobachtenden Missbrauchs jüdischer Geschichten als „Predigt-Aufhänger“ nach. Er fordert deshalb: „Hören Sie auf, von den Kanzeln herunter jüdische Geschichten zu erzählen – als ‚Aufhänger‘ gewissermaßen! Denn es ist unschicklich, ja unmoralisch, jüdische Geschichten im Bewusstsein der Siegerreligion zum Besten zu geben, für die nichts mehr auf dem Spiel zu stehen braucht – und dabei das meistens knappe Überleben zu übersehen, das fast an allen guten jüdischen Ge152 schichten hängt. Sogar an den jüdischen Witzen.“ Müller führt anhand eines Beispiels vor, wie eine Erzählung aus der Psiqta de Rav Kahana in einer Kasualansprache einem „verschlafenen christlichen Publikum als HalloWach-Aufruf“ präsentiert wird. Müller nennt den unhistorischen, das Gegenüber in dieser Geschichte gerade ausblendenden Missbrauch schamlos. Für ihn stellt sich die Frage: „Werden wir denn dadurch ‚narrative‘ Theologen, dass wir den Fundus des Judentums plündern? Oder ist es nicht besser, von den Juden die Methoden und die Voraussetzungen ihrer narrativen 153 Theologie zu lernen?“ Diese Zuspitzung im Blick auf narrative Predigten lässt sich auf das Kriterium „Israel im christlichen Gottesdienst“ hin verallgemeinern: Israel sollte nicht so im Gottesdienst erscheinen, dass mit Hilfe des Verweises auf 150 151 152 153
Ebd. A.a.O., 6f. K. MÜLLER: Bedingungen, 49. A.a.O., 51.
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Verbundenheit und Gemeinsamkeit das Gegenüber und dessen theologischer und kultureller Fundus für die eigene Aussage instrumentalisiert wird. Erst recht nicht sollte es an Gedenktagen zu einer Verwechslung von Täterund Opferperspektive kommen, bei der das Bekenntnis zur Schuld hinter jüdischen Traditionen oder Stimmen gewissermaßen verschwindet. Die Tendenz zu einer Simplifizierung der Programmatik von „Israel im christlichen Gottesdienst“ wird da deutlich, wo aus christlich-jüdischer Verbundenheit eine die Differenzen überspielende Gemeinschaft wird, bei der die christliche Seite das jüdische Gegenüber nicht oder nur noch sehr begrenzt als eigenständig wahrnimmt. In der jüngsten Studie der EKD, Christen und Juden III, ist eine derartig verwischende Konzeption kritisch beleuchtet worden. Hier werden die Versuche, die gemeinsamen Wurzeln des jüdischen und des christlichen Gottesdienstes dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass jüdische gottesdienstliche Bräuche – und zwar besonders solche, die erst nach dem Auseinandergehen der Wege von Christentum und Judentum entstanden – in den christlichen Gottesdienst integriert werden, als problematisch bezeichnet. Es wird darauf hingewiesen, dass von jüdischer Seite hierin eine missbräuchliche, ja enteignende Verwendung eigener gottesdienstlicher Traditionen gesehen wird. Es gelte bewusst zu halten, dass bei aller ursprünglichen Nähe von christlichem und jüdischem Gottesdienst das „ ‚Wir‘ Israels nicht deckungsgleich ist mit dem ‚Wir‘ der 154 Kirche.“ b) Das Motiv der Treue Gottes in der christlichen Predigt Das Stichwort der Koexistenz von Kirche und Israel ist ein zentrales Element in den Predigtmeditationen Günter Harders, die Peter C. Bloth untersucht hat. Für Bloth stellt sich mit Blick auf Harders homiletisches Werk das Thema der Predigt von der Treue Gottes, ein in jeder Hinsicht nicht nur alt-, sondern auch neutestamentliches Thema. Die zentralen systematisch-theologischen Fragen „Wie weit reicht diese Treue Gottes? Wen meint, wen umgreift sie?“ führen ihn in homiletischer Perspektive zur Frage des christlich-jüdischen Verhältnisses. Seine These ist, „dass jegliche Predigt der Treue Gottes Israel einschließen muss, und dass sie gerade darin oder 155 gar zuallererst darin christliche Predigt wird.“ Im Rahmen des kurzen Aufsatzes kann und will Bloth diese These nicht umfassend begründen. Die von ihm unterstellte Voraussetzung eines in sich dialektisch aufeinander bezogenen Verhältnisses der beiden Testamente innerhalb einer biblisch-theologischen Einheit der Schrift wird durch den Verweis auf Bohrens Predigtlehre angedeutet. Dabei übernimmt Bloth von Bohren weniger dessen biblisch-theologische Hermeneutik als Grundlage homiletischer Theorie zur alttestamentlichen Predigt, sondern Bohrens Gel154 Vgl. Christen und Juden III, 91. 155 P.C. BLOTH: Treue Gottes, 149.
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tendmachung eines gegenwärtigen „Israel nach dem Fleisch“ für die Homiletik. Bloth: „Gottes Treue reicht also bis heute, und eben darin umgreift 156 sie das neue wie das alte Israel [sc.: nach dem Fleisch; CS].“ Die Konsequenzen, die dieser Satz für die homiletische Praxis in sich trägt, vollzieht Bloth an Hand von Harders Predigtmeditationen und Predigten nach. Dabei sei das christliche Zeugnis von Gottes Treue in Harders Predigten im Blick auf Israel und die Kirche weniger die Frage einer historischen als einer eschatologischen Perspektive. Bloth: „Das Ende also, das nach Gottes Ratschluss für Kirche und Israel gemeinsame Ende, ist die Perspektive, unter 157 der christliche Predigt geschieht.“ Aus dieser Prämisse filtert Bloth eines von zwei Strukturelementen heraus, das die homiletische Praxis in ihrer Verkündigung der Treue Gottes zu bestimmen habe: Die neue Struktur, die die christliche Predigt – ausgespannt auf Gottes Zukunft hin – „durch die Hoffnung aus Gottes Treue 158 bekommt, heißt nicht mehr Wenn-dann; sie heißt Noch-dann.“ Jede gesetzliche Predigt, gemeint ist eine Predigt, die einem Wenn-dann Schema folgt, erfahre von hier aus ihre Absage gerade im Blick auf Israel. Zeitpunkt und Gestalt der Einheit des Volkes Gottes aus Juden und Heiden sei keine Frage der Bedingung an Israel, sondern eine, die sich aus Gottes treuem Erbarmen heraus lösen werde. Eine so gestellte Zukunftsperspektive entfalte unter dem Blickwinkel des „Noch-dann“ kirchenkritische Kraft. Bloth: „Der kritische Maßstab für Kirche und Predigt – das lässt sich hier als gerade heute wichtige homiletische Regel lernen – ist nicht aus einem religiösen oder gesellschaftlichen Wenn-dann Schema zu gewinnen; der Christ findet ihn in der Treue Gottes, die Bedingungen, wie wir sie stellen, nicht kennt oder gar anerkennt, die aber unser aller Bedingtheiten und Unvollkom159 menheiten noch immer im Namen Jesu vergeben will.“ Das zweite Strukturelement, das Bloth für die christliche Predigt von der Treue Gottes geltend macht, lässt sich mit dem Stichwort „neben Israel“ beschreiben. Sowohl im homiletischen Umgang mit der Schrift als auch in der verbindenden eschatologischen Perspektive sei die Kirche in entscheidenden Momenten an die Seite Israels gewiesen. Im Blick auf den Schriftgebrauch heiße das, dass auf das AT nicht lediglich als den notwendigen hermeneutischen Bezugsrahmen zum Verständnis des NT verwiesen werden könne. Vielmehr werde in Harders Werk eine hermeneutische Einbeziehung der Zeitgenossenschaft mit Israel deutlich, die nicht punktuell, sondern programmatisch zu verstehen sei: „Will christliche Predigt die Treue Gottes über dem alten und dem neuen Israel zum Heil der ganzen Welt bezeugen, so bedarf sie ‚für die Zeit bis zum Ende‘ treuer Wahrnehmung 160 des ganzen Volkes Gottes aus dem Umgang mit der Schrift.“ Eine Wahr156 157 158 159 160
Ebd. P.C. BLOTH: Treue Gottes, 149f. A.a.O., 153. A.a.O., 154. A.a.O., 151.
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nehmung, die beim Einzelnen die Erkenntnis mit sich bringe, die Kirche stehe – gerade in ihrem Zeugnis von der Treue Gottes im Messias Jesus – 161 „neben Israel.“ Das sei keine blasse, ununterscheidbare „Neben-Position“, die die Kirche damit einnehme. Aus dem zu predigenden Wort Jesus Christus als dem In-Begriff der Treue Gottes ergehe der Ruf zum „Hinzutreten 162 zur Gemeinde“, hinter dem sich ein „Hinzutreten zu Gott“ offenbare. Von hier aus entfalte sich – in Abwehr jeder Gesetzlichkeit – erneut das „Noch-dann“ gegenüber Israel, das davor bewahre, dass die Kirche „neben Israel“ zu einer Kirche „als einzig wahres Israel“ hin aufgehoben werde. c) Die verpflichtende Gabe der Teilhabe Das Partizipationsmodell als Verhältnisbestimmung von Christentum und Judentum steht im Hintergrund der Untersuchung Helmut Bariés „Juden aus der Sicht junger Prediger“. In der Analyse von Predigten, die Barié vornimmt, schwingen deutliche Anklänge an die Theologie des Rheinischen Synodalbeschlusses mit. Barié befragt 773 Predigten von Vikarinnen und Vikaren aus dem Zeitraum zwischen 1980 und 1987: „Wo und wie kommen die Juden und das jüdische Schicksal in Predigten aus einer Zeit der intensivierten Bemühung um eine ‚Erneuerung des Verhältnisses zwischen 163 Christen und Juden‘, also ab 1980, vor?“ Der Hauptakzent der Untersuchung liegt, gewissermaßen in Fortsetzung der Untersuchung Weyers, im Aufsuchen eines erneuerten Verhältnisses von Christen gegenüber Juden in Predigten. In seiner Darstellung orientiert sich Barié an den einzelnen Themenbereichen des christlich-jüdischen Dialogs, angefangen bei einem eher allgemeinen Juden-Bild in den Predigten über exegetische, systematische bis hin zu praktisch-theologischen Aspekten Barié stellt keine Typisierungen auf. Grundsätzlich benennt er zwei Predigtarten. Jene, die Stellen enthalten, „in denen sich der Bazillus des AntiJudaismus einnisten und ausbreiten kann“. Und jene, die „wirklich ‚in Israels Gegenwart‘ predigen und die die in Texten des Neuen Testaments er164 wähnten Juden nicht zum ‚Typus‘ werden lassen.“ Welche Kriterien wendet er bei der Zuordnung zu diesen beiden Predigtarten an? Unter dem Stichwort antijüdisch führt er Beispiele auf, die mit „törich165 te(n) Verallgemeinerungen, die zu Klischees erstarrt sind“, operieren. Daneben gilt ihm die unsachgemäße Konfrontation zwischen Jesus und dem jüdischen Volk bzw. zwischen Jesu Jüngern und dem Volk Israel als antijüdisch. Schließlich eine scharfe, antithetische Trennlinie zwischen Pau161 Vgl. ebd: „Wieder steht jeder, der Leben will, neben Israel und dem Judentum, die um den ‚Inbegriff‘ des Lebens wissen.“ Vgl. auch a.a.O., 153. (Hervorhebung; CS) 162 Vgl. a.a.O., 152. P.C. Bloth zitiert hier G. Harder. 163 H. BARIÉ: Juden, 66. 164 A.a.O., 65. 165 A.a.O., 67.
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lus und dem Judentum. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wo der gemeinsame Zusammenhang und Zusammenhalt von Christentum und Judentum verschwiegen wird, „das gemeinsame Erbe [...] kaum bewusst zu sein“ 166 scheint, da werden laut Barié antijüdische Tendenzen offenbar. Demgegenüber benennt er Kriterien für eine angemessene Darstellung des Judentums in Predigten: Wenn der Zusammenhang historisch benannt 167 wird, wenn nicht haarsträubend falsch über Paulus gepredigt wird, sondern Paulus’ Liebe zum Judentum zum Ausdruck gebracht wird, wenn die Zusammengehörigkeit von Juden und Christen durch den Glauben an denselben Gott erinnert wird, wenn also die Gemeinsamkeiten in jedweder Hinsicht Erwähnung finden, dann werde sachlich richtig und angemessen vom Judentum in der Predigt geredet. Barié fasst seine Kriterien in 11 Selbstverpflichtungen am Ende seiner Dokumentation zusammen. Herausragend sind dabei zwei Vorgaben, die sich in den meisten Einzelpunkten wiederfinden lassen: Die erste Vorgabe ist ein dogmatisches Kriterium, das die Verbundenheit von Christentum und Judentum besagt: „Wir Christen 168 sind Teilhaber, sind Miterben am Reichtum Israels.“ Entscheidend ist hier das Wort „Mit-Erben“, das die christliche Partizipation im Blick auf Gnadenempfang und Gottesbeziehung ausdrücken soll. Die zweite Vorgabe folgt aus diesem ersten Kriterium: Es sollen keine Verallgemeinerungen gemacht werden, die eine unsachgemäße Konfrontation suggerieren könnten. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat – anders als bei Weyer – keinen Einfluss auf die Kriterien. Der Holocaust wird als Teil der Geschichte verstanden, als End- oder Höhepunkt der Verfolgungen, die das Judentum zu allen Zeiten hat erleiden müssen. Problematisiert 169 wird ein Verständnis, das jüdisches Leid „verwertet“, sei es als „Illustration der Theodizeefrage“, sei es als Aufweis der Erfüllung prophetischer Worte. Positiv wertet Barié die Bereitschaft zum Umdenken, zur Umkehr und zur Buße infolge des Gedenkens an die Judenverfolgung. Gnade dürfe hier aber nicht „billig“ zugesprochen werden, sondern „[d]ie Beschäftigung mit jüdischem Denken“ – gerade im Hinblick auf den Holocaust – könne zu 170 einer „größeren Tiefe der Christus-Erkenntnis“ führen. Die Beschäftigung mit der vergangenen Geschichte führt so zur Bestätigung des Hauptkriteriums: Die Gemeinsamkeit von Christen und Juden, die Christen von Juden nicht zuletzt durch den Blick in die Geschichte lernen lasse.
166 A.a.O., 75. 167 Vgl. a.a.O., 67: „[...] dass sich die ersten Christen selbst als Juden verstanden haben [...].“ 168 A.a.O., 78; vgl. auch, ebd.: „Wo ich davon spreche, dass Nicht-Juden Anteil bekommen haben an den Verheißungen Israels, will ich bis in meine Formulierungen hinein beachten, dass Gott gnädig gehandelt hat, als er den Heiden den glaubenden Zugang zu Israels Verheißungen eröffnete.“ Vgl. auch a.a.O., 79. 169 Vgl. a.a.O., 72. 170 A.a.O., 73.
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Mit anderen Worten: Das erneuerte Verhältnis zwischen Juden und Christen soll in den Predigten aufgespürt werden. Es besteht für Barié wesentlich in einer auf christlicher Seite zu vollziehenden Einsicht in die Gemeinschaft von Juden und Christen. Einsicht in christliche Teilhabe und Miterbenschaft an jüdischem Glauben, jüdischer Gottesbeziehung und jüdischer Glaubenspraxis wird zur Voraussetzung für eine Predigt in Israels Gegenwart. Umgekehrt gilt: Uneinsichtigkeit in diesen Zusammenhang provoziert antijüdische Einstellungen und Redeweisen. Indifferenz gegen171 über der Thematik wird von Barié explizit ausgeschlossen. „Achten und lieben sie die Juden“ lautet die Aufforderung. Zugespitzt ergibt sich bei Barié ein: Wer nicht für die Juden ist, ist gegen die Juden. Und „für“ heißt hier Anerkennung der Verbundenheit, „gegen“ hingegen Abgrenzung und Trennung. Wir halten fest: Die Impulse von Osten-Sacken, Bloth und Barié sind getragen vom Geist einer wieder entdeckten Gemeinschaft mit dem Judentum. Insofern sie aus der Praxis stammen, sind sie Anschauungsmaterial dafür, wie das Partizipationsmodell des Rheinischen Synodalbeschlusses umgesetzt werden kann. Die Stärke dieser Entwürfe liegt darin, dass homiletische Praxis analysiert und homiletische Vorgaben für nicht antijüdische Predigtweise formuliert werden. Diese Stärke scheint sich – zumindest in dieser Phase des homiletischen Lernprozesses bei der Wahrnehmung des Gegenübers Judentum – mit einer Schwäche in der Umsetzung zu verbinden. Es zeigt sich deutlich vor allem bei Barié die Gefahr, dass Simplifizierungen Vorschub geleistet wird. Mit einer Formulierung wie „achten Sie und lieben Sie die Juden“ wird eine Sichtweise empfohlen, die an philojudaistische Sprachformen anzuknüpfen scheint. Im Sinne der oben vorgenommen Definition von Philojudaismus (s.o. III. 2) besteht die Gefahr, dass das Gegenüber philojudaistisch für die eigene Identitätsbildung instrumentalisiert wird. Die Betonung der Gemeinschaft und Teilhabe am jüdischen Erbe erweckt dabei bisweilen den Eindruck, dass die Beziehung zum Gegenüber durch unsachgemäße Identifizierung aufgehoben wird. Diese Problematik kann als notwendiger Schritt im homiletischen Lernprozess gedeutet werden. An die Wiederentdeckung des jüdischen Gegenübers schließt sich die Entdeckung und Betonung der Gemeinsamkeiten an. Vor allem von diesen Gemeinsamkeiten und der verloren gegangenen Gemeinschaft soll christliche Predigt erzählen. Daneben erklärt sich die Problematik der durch Identifikation gefährdeten Beziehung durch eine – wiederum simplifizierende – Übernahme des Partizipationsmodells. Dieser Problematik der Beziehungsgefährdung entkommt der Entwurf Bloths. Mit seinem ekklesiologischen Entwurf einer Gemeinde „neben Israel“, die er in 171 Vgl. a.a.O., 77: „Ein Christ, der damit zufrieden ist, dass er kein Antisemit ist, sündigt.“
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den Horizont des eschatologischen „Noch-nicht“ stellt, bewahrt er die partnerschaftliche Bezogenheit christlichen Redens auf das jüdische Gegenüber und die dabei bleibende Verschiedenheit christlicher und jüdischer Gemeinde. Indem er diese ekklesiologische Zuordnung in der Treue Gottes verankert, vermag er Beziehung und Differenz christlicher Rede und jüdischem Gegenüber im Kern homiletischer Lehrbildung anzubinden. 3.4 Perspektiven homiletischer Vermittlungs- und Aneignungsprozesse Wiederholt ist im Blick auf die homiletischen Konzeptionen die Frage einer konkreten Vermittlung bzw. Aneignung der veränderten Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers im Predigtgeschehen angesprochen worden. Die Entwürfe, die ich im folgenden darstelle, scheinen für diese Frage besonders ergiebig, weil sie einzelne Schlaglichter werfen, die als praktische Schritte auf dem Weg der Veränderung begriffen werden können. Ich werde nicht versuchen, die Entwürfe in allen Einzelheiten darzustellen. Sie lassen sich weitgehend als integrative Konzepte begreifen, in denen die bisherigen Überlegungen aufgenommen und fortgeführt werden. Es sind – abgesehen von den Texten von Barbara Just-Dahlmannn und Rolf Rendtorff – sämtlich Veröffentlichungen jüngeren und jüngsten Datums. Es geht mir bei der Darstellung um die Perspektiven möglicher konkreter homiletischer Vermittlungsprozesse, die den Begriffen In-Frage-Stellung (a), Grenzwahrnehmung (b) und Standortbestimmung (c) zugeordnet werden können. a) In-Frage-Stellung Barbara Just-Dahlmann und Rolf Rendtorff haben 1978 und 1979 im Rahmen der „Themenstudien für Predigtpraxis und Gemeindearbeit“ zwei Beiträge zur Thematik veröffentlicht, in denen explizit Predigtziele benannt werden. Die homiletischen Perspektiven, die sie dabei entwickeln, enthalten wesentlich das Element der Infragestellung christlicher Predigt und ihrer Akteure. Just-Dahlmann und Rendtorff veröffentlichten zunächst 1978 die Studie „Juden und Christen – Ausbruch aus einem Missverständnis.“ Motivation zu dieser Studie ist ein alltäglicher gesellschaftlicher Antisemitismus, den Rendtorff eingangs beschreibt. Auf dem Hintergrund der mit dem Antisemitismus eng verwobenen Tradition des christlichen Antijudaismus stellen sich Just-Dahlmann und Rendtorff der Aufgabe einer veränderten Wahrnehmung des Judentums. Dabei geht es neben der Aufdeckung von unreflektierter, antijüdischer Tradition und ihrer Funktion im christlichen Selbstverständnis um die Wahrnehmung und Betonung des Verbindenden, „Einenden“ mit dem Judentum. In der Studie von 1979 „Leben im Angesicht des Todes“ wird die Frage nach der Aufgabe der Predigt dezidiert auf dem Hintergrund der Erfahrung von Auschwitz gestellt. Die Veröffentlichung steht ebenfalls unter dem Eindruck ge-
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sellschaftlicher Ignoranz jüdischer Leiderfahrung. Daneben wird diese Studie geprägt durch die vorangegangene Ausstrahlung des Films „Holocaust“. Hier scheint auch der Grund zu liegen, warum erst 1978 das Verhältnis von Juden und Christen und dann 1979 die Erfahrung des Holocaust zum Thema wird. Von der – auch in den Studien vertretenen – Logik der Thematik her wäre eine umgekehrte Reihenfolge zu erwarten gewesen. Die Ausstrahlung des Films verschafft der Thematik die gesellschaftliche Präsenz, aus der heraus die zweite Veröffentlichung entsteht. Beide Studien gehören nach ihrer Abfassungszeit nicht in die dritte Phase. Sie markieren allenfalls den Übergang von der zweiten zur dritten Phase, der Ende der 1970er Jahre beginnt. Dieser Übergang wird unter anderem daran deutlich, dass der Wechsel vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis in der Betonung eines „40 Jahre danach“ wahrgenommen wird. In diesem Sinne ist die Zeit des „bloßen“ Redens vorbei und es hat die Zeit der Veränderung begonnen.
Predigen im Angesicht der Erfahrung des Holocaust stellt für Rendtorff und Just-Dahlmann grundsätzliche Fragen an den Predigenden. Rendtorff: „Für den Prediger stellt sich die Frage, wie er die Impulse aufnehmen kann, die von dem Sichtbarmachen des Unvorstellbaren ausgegangen sind.“ Und – ins Grundsätzliche gewendet: „Wie sollen wir davon predigen? Können 173 wir das überhaupt? Müssen wir es tun?“ Just-Dahlmann fragt ähnlich: „Predigtziel angesichts des ‚Holocaust‘ müsste zentral die Lösung der (homiletischen) Frage sein: Wie können wir angesichts des Todes leben, den Menschen anderen Menschen zugefügt haben – christliche Menschen jüdischen Menschen? Muss sich unser Leben angesichts dieses Todes nicht radikal ändern? Den Juden gegenüber ändern? Müssen wir Christen angesichts dieses Todes, den christliche Menschen (unschuldigen) jüdischen Menschen zugefügt haben, uns nicht die Frage stellen: Tragen nicht der Messias und das jüdische Volk (das heute noch lebende jüdische Volk) tatsächlich die gleichen Züge? Und was hat das für uns Christen für Konsequenzen? Wie können wir angesichts dieses Todes, den Menschen Menschen – christliche Menschen jüdischen Menschen – zugefügt haben, leben und 174 von Gott reden?“
Die homiletische Fragestellung von Just-Dahlmann ist auf dem Hintergrund einer fundamentalen Infragestellung zu sehen: „Wäre sodann gemeinsam zu fragen: Glaube? Hoffnung? Liebe? Leben angesichts des Todes? Nach Auschwitz? Geht das überhaupt? Und wenn ja, dann wie? Kann ich verübeln, wenn Überlebende von Auschwitz nicht mehr glauben, hoffen, lie175 ben können? [...] Und wie steht es mit uns Christen?“ Predigen erfährt im Bedenken des Holocaust eine radikale Infragestellung seiner selbst. Diese 172 Vgl. B. JUST-DAHLMANN/R. RENDTORFF: Leben, 162: „Und keine 40 Jahre nach ‚Auschwitz‘ bringen es junge Menschen in Hannover fertig, auf Plakaten zu erklären: ‚Wir haben nichts gegen die Toten von Auschwitz, denn tote Juden sind gute Juden‘.“ 173 B. JUST-DAHLMANN/R. RENDTORFF: Leben, 174. 174 B. JUST-DAHLMANN/R. RENDTORFF: Leben, 169. 175 A.a.O., 168.
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Infragestellung muss zu einer veränderten Wahrnehmung des Gegenübers führen. Deutlich wird der Zusammenhang auch in der zweiten Studie von Rendtorff und Just-Dahlmann. Hier nimmt Rendtorff eine Zuspitzung der Fragestellung vor: „Man könnte darum die homiletische Schlüsselfrage so formulieren: ‚Muss man als Christ gegen die Juden sein?‘ Es ist offensichtlich, dass ein breiter Strang der christlichen Überlieferung, angefangen von Aussagen des Neuen Testaments, antijüdisch ist. Bindet uns das? Verpflichtet es uns, 176 als Christen gegen die Juden zu sein?“ Rendtorff verneint das mit dem Hinweis auf die Zeitbedingtheit des neutestamentlichen Antijudaismus und führt so zur rhetorischen Gegenfrage: „Man könnte – nicht zuletzt auch im Blick auf die eingangs skizzierte Problematik des akuten Antisemitismus – 177 die Gegenfrage stellen: Muss man als Christ nicht für die Juden sein?“ Rendtorff begreift diese Fragen ausdrücklich als Durchgangsstadien christlicher Predigt. Es solle im Blick auf die antijüdische Tradition zu einem Erschrecken der Predigthörer kommen: „Sind wir etwa ‚christliche Antisemi178 ten‘? Hat dieser christliche Antisemitismus etwas mit Auschwitz zu tun?“ Dann aber, so Rendtorff, solle die Predigt zur nächsten Frage führen: „Muss man als Christ gegen die Juden sein? Und sie sollte möglichst rasch fortschreiten zur positiven Wendung des Problems: Zu der Einsicht, dass uns 179 vieles mit den Juden verbindet [...].“ Unabhängig von den Antworten, die Rendtorff und Just-Dahlmann im Einzelnen geben, wird deutlich, wie das Element der Infragestellung als homiletische Weise der Vermittlung einer veränderten Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers begriffen werden kann. Die Infragestellung lenkt den Blick weg von den gewohnten Perspektiven. Neue, auch erschreckende Wahrnehmungen werden eröffnet. So fragt Just-Dahlmann: „Könnten die jungen Menschen in Hannover so von ‚guten Juden, weil toten Juden‘ reden, wenn die Predigt der Kirche sie erreicht hätte? Müsste eine durch solche Predigt geschärfte Wahrnehmung nicht erkennen, dass auch Jesus, der jüdische Zimmermannssohn aus Nazareth, für die Christen nur durch seinen Tod ein ‚guter Jude‘ geworden ist? Müsste diese Parallele – nähme man sie wahr – nicht heilsam erschrecken? Aber wir nehmen sie nicht 180 wahr.“
Zugleich wird im Erschrecken der gewohnte Blick auf den anderen in Frage gestellt. Veränderungen sind gefragt. Die Infragestellung gibt so den Impuls zum Beginn eines Lernprozesses.
176 177 178 179 180
R. RENDTORFF/B. JUST-DAHLMANN: Ausbruch, 220. A.a.O., 221. A.a.O., 221f. A.a.O., 222. B. JUST-DAHLMANN/R. RENDTORFF: Leben, 167.
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b) Grenzwahrnehmung Anne-Kathrin und Wolfgang Kruse haben jüngst eine Art Summe ihrer Erfahrungen mit „Predigen im christlich-jüdischen Kontext“ vorgestellt. Sie heben dabei hervor, welche Bedeutung die Wahrnehmung einer Grenze zum anderen für die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers hat. Wolfgang Kruse gibt seit 1995 die Reihe „Predigtmeditationen im christlichjüdischen Kontext“ heraus. Verfasser der Predigtmeditationen sind Theologinnen und Theologen, die am Programm eines einjährigen Studiums in Israel teilgenommen haben. Die Meditationen sind auf diese Weise unmittelbar von der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers geprägt. Unter der Rubrik „Kontexte“ werden in jeder einzelnen Meditation Passagen aus der jüdischen Tradition zitiert, die die Predigtperikope erhellen sollen. Der Aufsatz von A. und W. Kruse entwirft ein Konzept von Predigen im christlich-jüdischen Kontext, das zunächst auf der Integration der dargelegten Ansätze basiert. So wird die Intention Baumanns und Schwemers aufgenommen, indem auf die „Gleichzeitigkeit mit unseren jüdischen Geschwistern“ hingewiesen 181 wird, die es gelte, „in der Predigt ins Bewusstsein zu heben.“ Die Hermeneutik biblischer Theologie und der Predigtlehre Bohrens steht im Hintergrund, wenn vom „Eigenwert des Alten Testaments“ die Rede ist, so dass es gelte, „die Er182 kenntnisse jüdischer Auslegungen als erste und ursprüngliche wertzuschätzen.“ Mit der Beachtung der „Wirkungsgeschichte“ des Textes und der Anfrage an die Person des Predigers/der Predigerin nach eigenen, uneingestandenen, latenten 183 „Antijudaismen oder Philosemitismen“ geraten die Plausibilitätszusammenhänge in den Blick, von denen Rau und Müller sprechen und für deren kritische Enttarnung sie eintreten. Mit den zehn „Selbstverpflichtungen für Predigerinnen und 184 Prediger“ wird an Bariés Stilmittel angeknüpft. Inhaltlich finden sich in der Verhältnisbestimmung zum Judentum sowohl wörtliche Anleihen bei der Studie Christen und Juden II als auch die Aufnahme des Partizipationsmodells: „Wir Christinnen und Christen sind Teilhaberinnen, sind Miterben am Reichtum Isra185 els.“ Die Aufnahme dieser vielfältigen Ansätze zur Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers zeigt, dass im Blick auf das Ziel, die Übertragung der Ergebnisse des jüdisch-christlichen Gesprächs auf die Ebene der Gemeinden, eine Integration der diversen Positionen möglich scheint. Wichtig ist der Anstoß eines praktischen Lernprozesses, der die eigenen antijüdischen Denkschemata aufdeckt und die konstitutive Bedeutung des jüdischen Kontextes für den christlichen Glauben herauszuarbeiten vermag. Integrative Konzepte wie dieses bergen in sich Spannungen und innere Widersprüche, auf die ich hier nicht näher eingehen will. Daneben aber führen A. und W. Kruse ein zentrales Element ein, das bei der konkreten homiletischen Umsetzung der Wahrnehmung des jüdischen Gegen-
181 182 183 184 185
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A. und W. KRUSE: Predigen, 208. A.a.O., 209. A.a.O., 211. A.a.O., 215ff. A.a.O., 215.
übers die bisherigen Konzepte entscheidend modifiziert und verändert. Ich nenne es das Element: Grenzwahrnehmung lernen.
An wesentlichen Stellen ihrer Konzeption weisen A. und W. Kruse darauf hin, dass die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers mit Grenzwahrnehmungen verbunden ist. Der Ausdruck Grenze kommt dabei nur einmal explizit vor. So sei bei der Textauslegung darauf zu achten, dass innerjüdische Kritik, wie sie im AT und im NT anzutreffen sei, von „(außenstehenden) Christen“ nicht gegen das Judentum verwandt werden könne: „Gerade hier gilt es also, die Grenzen zwischen Judentum und Christentum zu res186 pektieren.“ Grenzwahrnehmung kommt daneben an Stellen in den Blick, wo angemahnt wird, die Predigerin oder der Prediger dürften nicht jeden Text für ihr „Lieblingsthema“ [sc.: Christen und Juden; CS] „instrumentalisieren (nicht jeder Text taugt zu einer Grundsatzerklärung über das Ver187 hältnis von Kirche und Israel!).“ Instrumentalisiert würde auf diese Weise nicht nur der Text, sondern auch das Gegenüber und dessen Traditionen. Daher die grenzwahrnehmende Selbstverpflichtung, die A. und W. Kruse formulieren: „Ich will die jüdische Tradition nicht als Steinbruch für meine Predigt verwenden, sondern behutsam mit dem Zitieren von jüdischen Geschichten und Erfahrungen, insbesondere auch aus der Zeit des Holocaust, 188 verfahren, denn es sind nicht meine Erfahrungen.“ Der andere als Gegenüber bleibt bei aller Gemeinsamkeit anders. Diese Grenze gelte es zu respektieren, Trennendes auszuhalten: „Dass Juden und Christen unterschiedlich zu Jesus stehen, müssen wir aushalten und können 189 wir auch aushalten.“ Aus dieser Einsicht entsteht der Entwurf eines hermeneutisch-dialektischen Dialogs in Anlehnung an Levinas: Es gehe um eine Form des Gesprächs, in der es gelte „a. die Andersheit des Anderen auszuhalten, b. der Andersheit des Anderen sich dergestalt zu fügen, dass wir uns c. selbst abhängig machen von ihr, und dies d. darin versuchen, dass wir sie mehr schützen als unser eigenes Leben und unsere eigene Identi190 tät.“ Die „Andersheit des Anderen“ bleibt in dieser Stellung zum Gegenüber bestehen, die Grenze wird bei der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers beachtet. Auf diese Weise wollen A. und W. Kruse vom anderen lernen, auf den anderen hören und sich vom anderen in Frage stellen lassen. Die Beziehung zum Gegenüber bleibt in Gemeinschaft und Verschiedenheit unangetastet und unaufgelöst in ihren Spannungen ein Geheimnis Gottes.
186 187 188 189 190
A.a.O., 209. A.a.O., 211; vgl. auch E. VOLKMANN: Verhältnis, IX. A. und W. KRUSE: Predigen, 216f. A.a.O., 216 (mit Verweis auf Christen und Juden II). A.a.O., 215.
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c) Standortbestimmung An die Grenzwahrnehmung als Schritt auf dem Weg zu einer veränderten Wahrnehmung knüpft die Standortbestimmung als weiteres Element unmittelbar an. Die Standortbestimmung als wesentliches Element homiletischer Praxis im Kontext der Wahrnehmung des Judentums findet sich in dem Aufsatz von Almut Jäckle-Stober „Der Ertrag eines Studiums in Israel für die Predigt“ sowie in der kurzen Einführung von Evelina Volkmann „Das christlich-jüdische Verhältnis in der kirchlichen Praxis.“ Jäckle-Stober und Volkmann haben beide – wie A. und W. Kruse – an einem einjährigen Studium in Israel teilgenommen. Auf diese Weise sind ihre theologische Entwürfe geprägt von der unmittelbaren Wahrnehmung eines selbstbewussten jüdischen Gegenübers. Die Bedeutung ihrer Erfahrungen im Studienjahr hebt Jäckle-Stober an mehreren Stellen hervor. So sagt sie z.B. im Blick auf eine neue Wahrnehmung des Gesetzes: „Im Jahr in Jerusalem lerne ich Menschen kennen, die das Gesetz kennen, die es lieb haben. Ich gewinne Einblick in die Freude an 191 der Tora und in die Diskussion um das Gesetz.“
Als Standort christlicher Verkündigung bestimmt Jäckle-Stober: „Predigt ist 192 notwendig Christusverkündigung.“ Diese Vorgabe, so erzählt sie, habe sie auf dem Hintergrund der Wahrnehmung des Judentums zunächst als Anfrage begriffen. Ihr sei bewusst geworden, dass sie jeden Text, auch den des Alten Testaments, von Christus her lese. Sie fragt: „Welcher Christus aber ist zu verkündigen?“ – Antwort: „Jesus Christus, der auferstandene Herr, 193 der Jude bleibt.“ Eine Predigt, so Jäckle-Stober, die diesen Christus verkündige, könne nicht dazu verkommen, Aussagen zu machen, die Juden 194 nicht gerecht werden. Der hier in aller Kürze vorgetragene Standpunkt findet sich in ähnlicher Ausrichtung bei Volkmann. Predigt sei Anrede an „heutige Christ/inn/en in 195 ihren alltäglichen Fragen und Problemen“, sie wolle Lebenshilfe leisten. Predigtarbeit sei auf der Grundeinsicht zu leisten, dass christliche Identität, „um die es in jeder Predigt wie in jeder Beschäftigung mit der Bibel geht, a 196 priori eine Relation zum Judentum besitzt.“ Hierbei handele es sich um eine Ursprungsrelation, die ihren Ausdruck im „Neben- und Miteinander 197 zweier verschiedener, aber gleichrangiger Partner“ finde. Abzulehnen sei deshalb eine Wahrnehmung des Judentums, die dieses zum Typos oder Gegensatz christlichen Glaubens in der Predigt stilisiere. Mit der Abweisung 191 A. JÄCKLE-STOBER: Ertrag, 259. 192 A.a.O., 260. 193 Ebd. 194 Christliche Standortbestimmung im hier behaupteten Sinn nimmt auch J. Roloff bei seiner Analyse von Predigten über Texte der Passionsgeschichte vor; vgl. J. ROLOFF: Die Predigt über Texte der Passionsgeschichte und der Antijudaismus, 107–118. 195 E. VOLKMANN: Verhältnis, IX. 196 A.a.O., X. 197 Ebd.
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der Gegensatz-Bildung im Gegenüber zum Judentum wird nicht in Abrede gestellt, dass es bleibende Verschiedenheiten und sachliche Gegensätze zwischen Christen und Juden gibt. Abgelehnt wird eine instrumentalisierende Weise unsachgemäßer antithetischer Gegensatz-Bildung, die das Judentum nicht als Gegenüber wahrnimmt. Wiederholt verweist Volkmann darauf, dass es um die Wirkung christlichen Glaubens als Ziel der Predigt gehe. Das Judentum als Gegenüber sei viel zu lebendig und dynamisch, um auf einen Typos reduziert werden zu können. So gelte es – hier greife ich über Volkmanns Aufsatz hinaus auf ihre Monographie „Vom Judensonntag zum Israelsonntag“ zurück –, die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den beiden Glaubensweisen bewusst zu halten und da, wo die Predigenden „in ihrer Predigtarbeit auf Grund von Kirchenjahr und Perikope auf die jüdischen Bezugspunkte der Tradition treffen, die Dialektik von Verbindendem und Trennendem zwischen Christentum und Judentum fruchtbar 198 und konstruktiv in die Predigtarbeit“ umzusetzen. Mit anderen Worten: Es geht bei der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in der Predigt um die Bildung christlicher Identität im Gewahrsein dieses Gegenübers. Antijüdische Muster sind hierbei zu vermeiden, eigene Standpunkte neu zu erschließen. Das bedeutet, dass jede Predigt so zu gestalten ist, dass ein angemessenes Bild vom jüdischen Gegenüber transportiert wird. Es bedeutet zugleich, dass nicht jede Predigt die Thematik expliziert. Zur Vermeidung jedweder Instrumentalisierung von Predigttext und jüdischem Gegenüber wird die veränderte Wahrnehmung am christlichen Standort für christliche Adressaten umgesetzt. Wir halten fest: Die Möglichkeiten der konkreten Vermittlung einer veränderten Wahrnehmung des Judentums in der Predigt – im Sinne eines bewahrenden Gedenkens – lassen sich verschiedenen Schritten eines homiletischen Lernprozesses zuordnen. a) Die Infragestellung der Predigt und der Predigenden durch die Erfahrung des Holocaust bewirkt eine Wahrnehmung des verdrängten Gegenübers. Diese Wahrnehmung wird im Spannungsfeld konkreter homiletischer Fragen nach dem Verhältnis zum jüdischen Gegenüber aufgedeckt. Die Fragen bewegen sich zwischen den Polen Gegensätzlichkeit und Gemeinschaft mit dem Gegenüber. Auf diese Weise wird ein Lernprozess angestoßen. b) Die Wahrnehmung einer Grenze zwischen jüdischem Gegenüber und christlichen Predigenden führt zur Vermeidung der Instrumentalisierung des Gegenübers. So wird beispielsweise jüdische Textauslegung und jüdische Tradition wahrgenommen, zugleich wird sie in ihrer Eigenart respektiert. c) Die Bestimmung des eigenen Standorts christlicher Predigt knüpft an die Grenzwahrnehmung an. Der angemessene Zeitpunkt, die Adressaten, der christologische Zugang zum Thema werden homiletisch so reflektiert, dass eine veränderte Wahrnehmung umgesetzt werden kann, ohne aufdringlich, unsachgemäß oder abstoßend thematisiert werden zu müssen. 198 E. VOLKMANN: Judensonntag, 261.
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4. Umfassende Konzepte homiletischer Verankerung einer Wahrnehmung des Judentums 4.1 Halacha und Aggada als homiletische Organisationskriterien – Axel Denecke a) Einführung Den wohl ambitioniertesten und vom Umfang her gewichtigsten Versuch, das Thema des christlich-jüdischen Verhältnisses (nach dem Holocaust) in der homiletischen Theorie selbst zu verankern, hat Mitte der 1990er Jahre Axel Denecke vorgelegt. Der Titel seines Buches „Als Christ in der Juden199 schule“, in dem verschiedene Arbeiten zur Thematik zusammengefasst sind, ist programmatisch zu verstehen. Denecke geht es darum, im Blick auf das Reden von Gott vom Judentum zu lernen. Neben der äußeren Faszination, die das Judentum in seinen lebendigen Lern- und Feierstunden zum Lobe Gottes ausstrahlt, führt er eine fundamentaltheologische Begründung an: Christen müssten vom Judentum lernen, um sich selbst (besser) verstehen zu können, weil das Christentum im Judentum äußerlich und innerlich 200 – Denecke sagt „geistlich“ – gegründet sei. Als zweites Motiv für sein Unternehmen nennt Denecke „Auschwitz“. Die Erfahrung von Auschwitz hat innerhalb der Systematik seiner Überlegungen eine zentrale Stellung. Sie ist Ausgangspunkt für die Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses und für ein neues theologisches Denken, wie es die Formulierungen „Theologie nach Auschwitz“ und „Glauben 201 nach Auschwitz“ implizieren. Auschwitz ist der „äußere Wendepunkt“ einer notwendigen inneren Bewegung zum Judentum, die für die meisten Christinnen und Christen treffend mit dem Wort Umkehr beschrieben sein dürfte. Für Denecke steht außer Frage, dass eine solche innere Bewegung hin zum Judentum nicht die Grenzen des Christ-Seins verlasse. Im Vorder202 grund steht aber zunächst die Umkehr-Bewegung hin zum Judentum. Denecke propagiert sie – wie der Untertitel seines Buches „Grundsätzliche und praktische Überlegungen zum christlich-jüdischen Gespräch und zur Rede von Gott“ sagt – sowohl in prinzipieller als auch in praktischer Hinsicht.
199 A. DENECKE: Als Christ in der Judenschule, Hannover 1996. 200 Vgl. a.a.O., 8f: „Unser christlicher Glaube ist nun einmal – das ist einfach nicht zu bestreiten und zu ändern – aus dem jüdischen Glauben, dem Weg des Wandelns auf dem Pfad der Tora, gewachsen.“ 201 Vgl. a.a.O., 26: „Auschwitz ist Endpunkt und Wendepunkt zugleich.“ 202 Vgl. a.a.O., 10.
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Deneckes Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden systematischtheologische Überlegungen angestellt, im zweiten Teil werden Folgerungen für die kirchliche Praxis gezogen. Hier geht Denecke „als Homiletiker in die Juden203 schule“. Wenn es eine Theologie und einen Glauben nach Auschwitz gebe, dann müsse es auch eine „Predigt nach Auschwitz“ geben. Die entscheidende Fra204 ge lautet: „Wie kann sie aussehen?“ Der dritte Teil gibt Beispiele aus der homiletischen und kirchlichen Praxis. Bevor ich Deneckes homiletische Konsequenzen in den Blick nehme (c), sollen zunächst seine systematisch-theologischen Thesen dargestellt werden (b). Daran anschließend werde ich eine Würdigung der Konzeption an Hand ihrer eigenen Maßstäbe vornehmen (d).
b) Systematisch-theologische Thesen Der Kern der systematisch-theologischen Überlegungen zum christlichjüdischen Verhältnis und seiner Bedeutung findet sich bei Denecke in dem Kapitel „Das Neue Testament als ‚Judenschule‘. Das Wort der Tora wurde Fleisch – Jesus, die ‚Halacha‘ für uns Christen?“. Deneckes Überlegungen nehmen ihren Ausgang bei dem, so wörtlich, „einen und einzigen wahrhaften Dissens: die Bedeutung der Person Jesu, den wir Christen als unseren 205 Christus, als alleinigen ‚Herrn und Heiland‘ bekennen.“ Zwar handele es sich in eschatologischer Perspektive um einen vorläufigen Dissens. Dennoch solle man sich durch diese Relativierung nicht von Wahrhaftigkeit, Klarheit und Prägnanz in der Arbeit des christlich-jüdischen Gespräches abbringen lassen. So fragt Denecke „bei allem bleibenden Unterschied im ‚Glauben an Jesus (Christus)‘ nach dem Gemeinsamen, ja Verbindendem in 206 diesem Dissens.“ Bei seiner Antwort greift Denecke auf einen Aufsatz von 207 Jacobus Schonveld aus dem Jahre 1991 zurück, in dem dieser den Johannes-Prolog programmatisch so auslegt, dass „Jesus Christus die Verkörpe208 rung der Thora“ sei, weil die „Identifizierung von Thora und Logos im 209 Prolog des Johannesevangeliums vertretbar“ sei. Die exegetischen Ausführungen, auf die sich Denecke damit stützt, sind – milde ausgedrückt – sehr anfechtbar. Schonveld kommt in seinem Aufsatz zu folgendem Schluss: „Wenn in Bezug auf die besprochene frühjüdische Literatur die Gleichsetzung von Weisheit mit Thora und von Weisheit mit Logos von namhaften Gelehrten bestätigt wird, kann man sehr wohl das Dreieck schließen und die Möglichkeit der Identifizierung von Thora und Logos anerkennen.“ Ich halte es für sehr bedenklich, eine traditionsgeschichtliche und religionsgeschichtliche Entwicklung, wie sie im Verhältnis von Weisheit- und Logos-Theologie stattge203 A.a.O., 84. 204 Ebd. 205 A.a.O., 62. 206 A.a.O., 63f. 207 J. SCHONVELD: Die Thora in Person. Eine Lektüre des Prologs des Johannesevangeliums als Beitrag zu einer Christologie ohne Antisemitismus. 208 J. SCHONVELD: Thora, 51; vgl. a.a.O., 40ff. 209 A.a.O., 42.
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funden hat, derartig zu verkürzen, wie es Schonveld tut. Ich verweise auf diese exegetische Problematik, weil Denecke in seiner weiteren Argumentation – bei aller Kritik, die auch er an Schonvelds Thesen hat – sich auf diese Gleichsetzung von Logos-Begriff und Tora Gottes stützt und auf dieser Gleichsetzung seine theologische Konzeption aufbaut.
Unter der Prämisse, „ein Stück mehr Verbindendes in allem vorerst bleibend Trennenden zu finden“, arbeitet Denecke in der Folge mit dem Grundsatz, „die Person Jesu Christi als leibhaftige Verkörperung, ja 211 Menschwerdung der Tora Gottes zu verstehen.“ Er sieht in dieser Identifizierung Kontinuität und Wandel im Toraverständnis abgebildet. Hier sei 212 „pointiert gesagt: der Übergang von der Schrift-Tora zur Person-Tora“ wiederzufinden. Kontinuität heiße in diesem Fall, dass in Jesus keine neue Tora erschienen sei. Wandel lasse sich darin erkennen, dass die Tora in Jesus „zu einer lebendigen Person geworden“ sei, in ihm „legitimerweise die In213 karnation der Tora gesehen“ werden könne und die Tora in seiner Person zur realen Erfüllung der Gesamtheit der Gebote und damit zu einer neuen Seinsqualität gekommen sei. Die Legitimität dieser Sichtweise sieht Denecke in der oboedentia activa Jesu begründet, in der vollkommenen Gesetzeserfüllung des irdischen Jesus bzw. in der vollständigen Erfüllung der Tora im Tun ohne Sünde. Von hier aus lasse sich sowohl die christologische Prädikation des vere homo verstehen – „Er ist der erste und einzige, der die lebensfreundlichen Weisungen der Tora zur Erfüllung gebracht hat. Das 214 eben macht die Qualität des ‚wahren Menschen‘ aus.“ – als auch, aus der Einsicht, dass Reden und Tun der Tora bei Jesus identisch sind, die Trans215 formation der Schrift-Tora in die Person-Tora. Denecke zieht aus den christologischen Überlegungen praktische Folgerungen. Sie sind für die homiletische Verarbeitung von zentralem Rang. Jesus Christus als Tora in Person sei die „einzige und alleinige Halacha 216 (bindendes Gebot) für uns Christen.“ Die Geschichten des NT seien demgegenüber „als aggadische freie und freibleibende Entfaltung des hala217 chisch bindenden, unzweideutigen Grund des Glaubens zu verstehen.“ Auf diesem Hintergrund definiert Denecke: „Christliche Halacha ist Jesus 218 Christus, die Tora in Person und Erfüllung der vielfältigen Tora alleine!“ Und: „Christliche Aggada ist in der Lebensgeschichte Jesu und darüber hinaus in der Geschichte der Weitererzählung des christlichen Glaubens, wie es 210 Vgl. dagegen S. SCHULZ: Evangelium, 27; siehe auch G.C. STEAD: Logos, 439. 211 A. DENECKE: Judenschule, 67. 212 Ebd. 213 A.a.O., 68. 214 Vgl. A. DENECKE: Judenschule, 73. 215 Vgl. ebd.: „Und dies ist die neue Qualität in der Person Jesu, die zu Recht dazu führt, ihn selbst die leibhaft gewordene Tora in Person zu nennen.“ 216 A.a.O., 79. 217 Ebd. 218 Ebd.
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in der verpflichtenden Bindung an die Halacha Jesus Christus selbst entstanden ist, in vielfältiger Weise über zweitausend Jahre Christentumsge219 schichte zu entdecken.“ In diesen Zuordnungen lässt sich eine Überführung des klassischen Begriffspaares Evangelium und Gesetz in einen neuen, jüdisch-christlichen Sprachhorizont erkennen. Anders ausgedrückt: Durch den Bezugspunkt Tora im Zentrum dieser Systematik wird das theologischbegriffliche Koordinatensystem verschoben. Diese Verschiebung zeigt sich in den zehn Thesen für die Homiletik, die Denecke aufstellt. c) Homiletische Thesen In Analogie zu der Terminologie von Manfred Josuttis und Christoph Bizer, von denen letzterer den Rechtfertigungsartikel als „operationalisierte 220 Christologie“ bezeichnet, wobei die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium das Instrumentarium zur Durchführung des Rechtfertigungsartikels in der homiletischen Praxis sei (s.u. V. 5), schlägt Denecke eine Art Operationalisierung des Rechtfertigungsartikels für den Sprach- und Verstehenszusammenhang christlich-jüdischer Auseinandersetzung vor. Grundlage ist dabei die Transformation der Kategorien Gesetz und Evangelium in ein neues, „Tora-zentriertes“ Koordinatensystem. Die Transformation deutet sich bereits in der ersten These an: „Die Tora ist nach jüdischem Selbst221 verständnis ‚Evangelium‘, reines Evangelium.“ Tora wird nicht, wie sonst üblich, mit Gesetz wiedergegeben, sondern mit Evangelium: „Sie [sc.: die Tora; CS] darf von uns Christen nicht im theologischen Sinn als ‚Gesetz‘ 222 qualifiziert werden.“ Das „Evangelium“ Tora erscheine in zweifacher Weise, als Halacha und als Aggada. Nur in dieser doppelten Weise könne Tora Evangelium sein. Im Hintergrund steht die protestantische Lehre, nach der das Wort Gottes in doppelter Weise als Evangelium und Gesetz (oder Gesetz und Evangelium) zu verkündigen sei und eine Verkürzung Schwärmerei oder Gesetzlichkeit nach sich ziehe (s.u. V. 5.1). Von diesen Verkürzungen spricht Denecke in These 4, wenn es um „Tora als ‚Halacha 223 pur‘ “ bzw. als „ ‚Aggada pur‘ “ geht. Bei jenen Verkürzungen drohe entweder – bei „Halacha pur“ – „gesetzliches Denken“, „reiner Legalismus“, „geistlicher Tod“, oder – bei „Aggada pur“ – „subjektivistische Frömmigkeit“, „skurrile Phantasien“, „eine vom realen Leben losgelöste Phantasie224 welt.“ 219 A.a.O., 80. 220 C. BIZER: Unterricht, 135; vgl. auch M. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit, 97; vgl. die Kritik am Begriff Operationalisierung bei A. QUADE: Ostern, 27: „Auf den Begriff der ‚Operationalisierung‘ kann m.E. im Kontext des von Bizer erarbeiteten Modells zugunsten des Terminus ‚katechetisch-theologische Vermittlung‘ verzichtet werden.“ 221 A. DENECKE: Judenschule, 134. 222 Ebd. 223 A.a.O., 137. 224 A.a.O., 137.
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In der negativen Konnotation des Begriffes Gesetz zeigt sich, dass mit der Verschiebung der Koordinaten eine Verdrängung des Gesetzes als grundlegender theologischer Kategorie zur Bestimmung des Evangeliums verbunden ist. Anliegen dieser Verdrängung dürfte die in der christlichen Tradition häufige Deutung der Tora als Gesetz, und zwar als ausschließlich lebensfeindliches, tötendes Gesetz, sein. Denecke bezeichnet dagegen eine missverständliche Verkürzung von Halacha bzw. von Aggada als „gesetzlich“. Deneckes explizit auf die Verkündigung bezogenen Aussagen beginnen mit der sechsten These: „Unsere christliche Verkündigung leidet darunter, dass wir meist weder gut halachisch noch gut aggadisch predigen, sondern 225 beides nur mit halbem Herzen tun und damit eben ‚gesetzlich‘ predigen.“ Er fordert dagegen eine „hundertprozentig[e]“ halachische Denk-, Handlungs- und Verkündigungsform, in den Formulierungen die erste These Barmens aufnehmend: „Wir haben unser Heil, den Sinn unseres Lebens 226 und unseres Sterbens allein und nur in Jesus Christus gewonnen.“ Daneben fordert er „hundertprozentig“ aggadisches Reden. Dies beinhalte, dass die „Halacha in Jesus Christus“ auch in anderen Religionen, Kulturen 227 „grenzenlos“ und „undogmatisch“ wiedergefunden werden könne, dürfe, ja geradezu müsse. Die nächsten Thesen dienen wiederum der Abwehr einer verkürzten Verkündigung der „Person-Tora Jesus Christus“. Die abschließende These 10 gilt den Bedingungen des Gelingens christlicher Verkündigung: „Christliche Verkündigung (Predigt) gelingt und kommt dann zu ihrem Ziel, wenn sie das Evangelium Jesu Christi in der jüdischen Tradition der 228 Schriftauslegung als Christus-Halacha und Jesus-Aggada verkündigt.“ Die Unterscheidung von Halacha und Aggada soll auf diese Weise an dem Namen Jesus und der Titulatur Christus verdeutlicht werden. d) Würdigung und Kritik Eine Kritik an Deneckes Konzept müsste zunächst im Blick auf die tatsächliche Predigtpraxis formuliert werden. Hier geschieht, so Denecke, die „ganz praktische 229 Probe aufs immer noch theoretische Exempel.“ Deshalb fügt Denecke als dritten Teil seines Buches praktische Beispiele an. Daneben erhebt er allerdings den Anspruch, homiletische Theorie zu formulieren. So müssen sich seine Überlegungen auch an den Kriterien messen lassen, die er selber verwendet. An erster Stelle ist hier die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu nennen. Auf sie rekurriert auch der Entwurf von Adloff (s.u. V. 4.2). Daher soll die Auseinandersetzung mit Deneckes Verwendung dieser Begrifflichkeit erst im Anschluss an die 225 226 227 228 229
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A. DENECKE: Judenschule, 138. A.a.O., 138f. Vgl. a.a.O., 139. A.a.O., 141. A.a.O., 12.
Behandlung des Adloffschen Entwurfes erfolgen (s.u. V. 5). An dieser Stelle will ich eine Würdigung nach Deneckes eigenen Maßstäben und Intentionen vornehmen.
Denecke stellt ein Konzept vor, das bis in seinen Entstehungsprozess hinein 230 dem christlich-jüdischen Gespräch verbunden ist. Mit seinem programmatischen Ansatz „Als Christ in der Judenschule“ geht es um mehr als eine bloß sachkundige Erhellung des neutestamentlichen Backgrounds. Unter der Voraussetzung, Christ-Sein sei geistlich im Judentum gegründet und habe dort seine geistliche Heimat, soll bis in die Sprache hinein ein Wechsel des Selbstverständnisses vollzogen werden. Christliches Selbstverständnis ist so zu formulieren, das auf „antijüdische Affekte“ verzichtet werden kann. Programmatisch rückt hierbei der Begriff „christliche Halacha“ ins Zentrum. An diesen Stichworten „antijüdischer Affekt“ (i) und „christliche Halacha“ (ii) orientiert sich meine Kritik an der Konzeption Deneckes. (i) „Antijüdischer Affekt“? Zunächst ist zu fragen, inwieweit christliche Selbstbestimmung in der vorliegenden Konzeption – dem eigenen Anspruch gemäß – ohne „antijüdi231 schen Affekt“ auskommt. Denecke stellt sich wiederholt selbst diese Frage, ohne m.E. eine widerspruchslose Antwort geben zu können. So erkennt er beispielsweise an, dass in dem Verständnis Jesu als „Tora in Person“ ein bleibender Anstoß für den jüdischen Glauben gegeben sei bzw. dass in diesem „vorerst bleibenden Dissens“ ein fundamentaler Widerspruch zum jüdischen Denken stecke. In einer Konzeption wie der Deneckes erscheint der Dissens klein und zugleich sehr groß. Diese Differenz steht so erst recht in der Gefahr, als antijüdisch verstanden zu werden. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch bei der Frage nach dem möglicherweise „antijüdischen Affekt“ in der Aneignung und Entfaltung der Begriffe aus der jüdischen Tra232 dition Halacha und Aggada. Denecke sieht die Problematik, ohne ihr entgehen zu können. Das „Nichts davon [sc.: Enterbung jüdischer Traditi233 on; christliche Vereinnahmung; CS] ist intendiert“ klingt entsprechend leicht apologetisch. (ii) „Christliche Halacha“? Denecke will die traditionelle Unterscheidung von Gesetz und Evangelium durch die Unterscheidung von Halacha und Aggada ergänzen, teilweise sogar ersetzen. Die hierbei leitenden Begriffspaare „christliche Halacha“ und „christliche Aggada“ sind – so weit ich sehe – in der deutschsprachigen Literatur singulär. Weil eine Ableitung von der Gestalt „Tora – Gesetz – Ge230 Vgl. die Einleitung zum Aufsatz „Dass Jesus unsere einzige ‚Halacha‘ ist ...“, A. DENECKE: Judenschule, 133. 231 A.a.O., 65. 232 Vgl. a.a.O., 75. 233 Ebd.
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setzlichkeit“ als Missverständnis jüdischen Glaubens vermieden werden soll, liegt der Hauptakzent der begrifflichen Neuschöpfung auf der Verwendung des Begriffes Halacha. Die Begriffe Halacha und Aggada haben innerhalb der jüdischen Tradition ähnlich fundamentale Bedeutung wie die Begriffe Gesetz und Evangelium im reformatorischen Christentum. Die Vielschichtigkeit, die diese Begriffe an verschiedenen Orten theologischer Systematik bedeutsam erscheinen lässt, macht sie zu einer Art Steuerungszentrum jüdischtheologischer Hermeneutik. Der Begriff Halacha dient sowohl zur Einordnung von Texten als auch als Bezeichnung der Prinzipien der Schriftauslegung als auch als Kennzeichnung des Inhalts des von Gott Gebotenen. Der Begriff kann sowohl ein formales als auch ein inhaltliches Kriterium darstel234 len. Auch Denecke verwendet ihn als inhaltliches Unterscheidungsmerkmal („Christus als Halacha“) sowie als formales Prinzip (Form der Schriftauslegung und des Redens von Gott). Denecke beruft sich in dieser Verwendung auf Chaijm Nachman Bialik und Abraham Jehoschua Heschel. Beide zitiert er mit längeren Passagen zur Begriffsbestimmung von 235 Halacha. Es stellt sich die Frage, ob Denecke nicht eine problematische Reduktion in der Übernahme der Begriffe von Heschel und Bialik vornimmt. Heschel nimmt eine existenzialistisch orientierte Ausweitung der Begriffe Halacha und Aggada in Richtung Glaube und Innerlichkeit einerseits und Gesetz 236 bzw. Buchstabe andererseits vor, die sich Denecke zu Nutze macht. Aus Glaubensweisen jüdischer Existenz werden übertragbare Prinzipien: Dogma und Erzählung, Freiheit und Gebot, Fleisch und Geist sind die Begriffspaare, die Denecke als entsprechende Übertragungen anbietet. So nutzt er einerseits die Ausweitung der Begriffe bei Heschel und Bialik. Andererseits büßen diese Begriffe durch den Wechsel des Kontextes von der jüdischen 237 Existenz hin zur christlichen Theologie die ursprüngliche Tiefe ein. Neben Heschel und Bialik dürfte bei der Begriffsschöpfung „christliche Halacha“, 238 so vermute ich, Friedrich Wilhelm Marquardt spiritus rector sein. In dessen Prolegomena zur Dogmatik „Von Elend und Heimsuchung der Theologie“ wird Halacha als zentraler Begriff christlicher Dogmatik verwendet. Im Unterschied zu Deneckes „christlicher Halacha“ spricht Marquardt von „Evangelischer Halacha“. Durch die Einführung des Begriffes Halacha soll „die bisher das wissenschaftliche 234 Vgl. G. STEMBERGER: Einführung, 26.44, der Halacha und Aggada einerseits hermeneutische Prinzipien nennt und andererseits Textsammlungen unter dem Titel „Halachot“ angibt. 235 A. DENECKE: Judenschule, 97ff.100ff. 236 Vgl. hierzu auch D. KROCHMALNIK: Heschel, 193. 237 Ähnlich, wenn auch in ganz anderem Kontext, lautet die Kritik T. KRIENERS: Ethik, 272f, an einer Entwicklung „christlicher Halacha“ im Rahmen christlicher Ethik; vgl. dazu auch M. VEIT: Thesen, 267–269. 238 A. Denecke selbst zitiert F.W. Marquardt mehrfach an herausgehobener Stelle, vgl. A. DENECKE: Judenschule, 18.86.139.
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Denken unserer Kultur prägende Ontologie des Seins der biblisch-jüdischen Ontologie eines ‚Seins in der Tat‘ “ untergeordnet und „das Gott-Mensch-Welt239 Verhältnis als ein Werkbund-Verhältnis“ gesehen werden. Bei der Umkehrung der klassischen Ontologie bildet die Verwendung des Begriffs Halacha den programmatischen Wechsel hinsichtlich der theologischen Methodik ab. Wie Denecke muss m.E. auch Marquardt notgedrungen eine Begriffsreduktion vornehmen, um gewissermaßen Platz zu schaffen für die Möglichkeit „Evangeli240 scher Halacha“. Marquardt spricht selbst vom „technischen Sinn“ der Halacha. Dabei ist der religionsgesetzliche Teil der Tora und dessen Weiterentwicklung gemeint. Beide Aspekte seien bei der Entwicklung „Evangelischer Halacha“ auszublenden. Es bleiben, weil es ausgeschlossen sei, dass evangelische Theologie Halacha werden könne, lediglich „wichtige Einzelmomente“, die es Marquardt erlauben, sich der weiteren Bedeutung dieses Wortes Halacha, wie er sagt, „zu 241 bedienen.“ So trifft die schon für Deneckes Gebrauch der Begriffe formulierte 242 Kritik auch auf die Marquardtsche Verwendung zu. Im Blick auf den Gebrauch der Begriffe Halacha und Aggada bei Denecke stellt sich die Frage, inwieweit hier – gemessen an den eigenen Ansprüchen: „ohne antijüdischen Affekt“ – eine sinnvolle Übertragung vorgenommen wird. Der Begriff Halacha in einem explizit nicht-jüdischen, weil übertragen christlichen Sinne verwandt, muss problematisch erscheinen. Hier zeigt sich, in welche Problematik eine dem Judentum ausdrücklich und auch eindrücklich zugewandte Konzeption geraten kann.
Die Nähe des christlichen Glaubens zu jüdischer Religion, die durch die Verwendung und Aneignung jüdischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden soll, steht in der Gefahr, das Gegenüber zu enteignen, wenn die Begriffe in Abgrenzung zum jüdischen Gegenüber umgedeutet werden müssen. Es ist nur ein schmaler Grat zwischen einfühlender Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers und enteignender Vereinnahmung der Begriffe (und Tradition) des Gegenübers. Selbstverständlich liegt eine Vereinnahmung und Enteignung weder in Marquardts noch in Deneckes Absicht. Er aktualisiert mit seinem back to the roots, wie seine Ausdeutung des Wortes 243 radikal(= jüdische Wurzeln) andeutet, in gewisser Weise die Problematik, auf deren Hintergrund auch die ersten Christen als Juden die Offenbarung in Jesus Christus im Rahmen ihrer jüdischen Tradition und Begrifflichkeit gedeutet und beschrieben haben. Hier wird deutlich, dass die Frage nach dem „antijüdischen Affekt“ zu den Grundfragen der Problematik zurückführt: Wie soll das Verhältnis vom Christentum zum Judentum beschrieben werden? Wie sollen die theologische Beziehung und die rechte Unterscheidung sowie die theologische Unterscheidung und die reale Beziehung miteinander vermittelt werden? 239 240 241 242 243
F.W. MARQUARDT: Elend, 166. A.a.O., 181. Ebd. Vgl. T. KRIENER: Ethik, 273 Anm. 5. Vgl. A. DENECKE: Judenschule, 16.
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4.2 Notwendiges Gegenüber und fruchtbares Nebeneinander – Kristlieb Adloff a) Einführung Die Darstellung der Entwürfe der dritten Phase soll eine Homiletik abschließen, die der chronologischen Ordnung nach nicht ans Ende gehört. Die „Predigtwoche“ von Kristlieb Adloff, entstanden in der ersten Hälfte 244 der 1980er Jahre, ist keine Homiletik im klassischen Sinne. Der Autor nennt seinen Entwurf ein homiletisches Exerzitium, in dem er der „rechtschaffenen Arbeit“ des Predigenden nachgehend den „Weg der Predigt“ abschreitet. Die Darstellung sei, so Adloff, von dem Willen bestimmt, weniger gängige systematische Gelehrsamkeit als vielmehr erfahrungsgesättigte Leidenschaft weiterzugeben. Die „Predigtwoche“ steht durchgehend im Zeichen der Bezugnahme auf Israel. Ich stelle diesen Entwurf als Schlusspunkt der dritten Phase vor, weil er zweierlei sichtbar macht. Zum einen finden sich auf dem Adloffschen Weg der Predigt die homiletischen Ansätze einer Wahrnehmung des Gegenübers Judentum wieder. Die verschiedenen Motive einer Homiletik nach dem Holocaust werden angesprochen und in die homiletische Theorie und deren praktische Forderungen integriert. Zum zweiten ist die weniger systematische, dafür aber permanente Integration der Thematik bei Adloff ein Hinweis darauf, dass dieses Thema, das in seiner hermeneutischen Dimension im Schatten von Auschwitz an die Grenzen des Denkens führt, (noch) nicht abschließend aufzuarbeiten ist. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass bei Adloff als einzigem Homiletiker das Motiv des Schweigens an hervorgehobener Stelle aufgenommen ist. Mit diesem Motiv soll die Darstellung des Entwurfs von Adloff beginnen (b). Es folgen die Konsequenzen, die Adloff für die homiletische Arbeit zieht (c), die Aufgabe, die antithetische Logik der homiletischen Kategorie von Gesetz und Evangelium zu überwinden (d) sowie Adloffs Zielbestimmung der Dialogeröffnung (e). In der abschließenden Würdigung wird die Wahrnehmung und Einbeziehung des jüdischen Gegenübers in den Predigtprozess unterstrichen (f). b) Das Schweigen im Angesicht des Todes und die Aufgabe der Erinnerung Adloff schreitet den Weg der Predigt als den Weg einer Woche ab. In diesem Rahmen bedenkt er am „Montag“ die Notwendigkeit der Predigt. Am Beginn der weltlichen, politischen Woche sieht er die Kirche zunächst ins Schweigen verwiesen. Denn: „Politik ist unser Schicksal, was seit Hitler auch der letzte ‚unpolitische‘ Deutsche wissen kann, und der Protest aus friedlichen Gelehrtenstuben gegen die Feststellung, dass Auschwitz für un244 Vgl. K. ADLOFF: Predigtwoche, 5.
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ser christliches Reden von Gott unabsehbare Bedeutung hat (nicht: haben 245 soll!), ohnmächtig.“ Die Notwendigkeit der Predigt werde auf diesem Hintergrund in Frage gestellt, nicht weil kirchliche Rede unpolitisch zu sein habe, sondern weil sie unter dieser Prämisse in die Gefahr gerate, zum schwachen Abklatsch eines viel elementareren Redens zu werden. Es drohe, zu einem Reden in der „Sprache der Tatsachen“ oder zu einem Reden von den sogenannten „Sachzwängen“ zu werden, „schlimmer: zum ungerührten Weiterreden da, wo uns schon aus Gründen des Anstands endlich Schwei246 gen geboten wäre.“ Vorläufig resümierend erklärt Adloff: „Man wäge viele gutgemeinte Ratschläge zur Verbesserung der Predigt an dieser Stelle ab: Angesichts einer uns ins Verstummen weisenden Notwendigkeit werden sie 247 schnell als zu leicht befunden.“ Erst im Abschreiten der Notwendigkeit des Todes und der daraus resultierenden Grenzen menschlichen Redens vermag sich die Predigt ihrer Aufgabe zu stellen, vom Jenseits dieser Grenze Tod aus die Verkündigung der Auferstehung der Toten zu leisten. Adloff fordert zweierlei für die Predigt: (i) Es gelte, auf Grund der Erfahrung von Auschwitz eine unüberbrückbare Kluft zwischen Gott und unserer Wirklichkeit des Todes bewusst zu halten. Die Predigt habe nicht, „wie auch ‚nach Hitler‘ uns immer noch scheinbar menschenfreundlich suggeriert wird, zu ‚vermitteln‘ zwischen Gott und ‚unserer Wirklichkeit‘, als ob diese, weil von Gott schon im Ansatz abstrahiert, nicht durch und durch eine Wirklichkeit des Teufels, der 248 Sünde und des Todes wäre, so dass hier nichts zu vermitteln ist.“ Adloff benutzt in diesem Zusammenhang die Redeform „nach Hitler“ im Unterschied zu „nach Auschwitz“. Damit wird zu Recht betont, dass es die Täter sind, die im Blick auf Auschwitz auch das Schweigen zu erlernen haben. An diesem Punkt der Frage nach Notwendigkeit und Situation der Predigt müsse es Ziel sein, sich – gänzlich ins unvermittelbare Verstummen (nicht Verschweigen) verwiesen – von Auschwitz in dem Sinne abzuwenden, dass eine Wiederholung ausgeschlossen wird. (ii) Daneben ergebe sich hier ein Abschreiten der kritischen Begegnung mit den Toten, mit der eigenen Tradition, mit der Schuld. An dessen Ende stehe – unableitbar – ein Überspringen der Grenzen und ein Verkündigen 249 der Wirklichkeit Gottes „Hitler zum Trotz.“ Ich halte fest: Mit den Stichworten Notwendigkeit und Situation wird hier die Erfahrung von Auschwitz in den Begründungszusammenhang der Predigt integriert. Im Moment des anfänglichen Schweigens und der Wahrnehmung der Unvermittelbarkeit tödlicher Wirklichkeit wird ein Weg für die Predigtpraxis aufgezeigt. 245 246 247 248 249
A.a.O., 45. Ebd. Ebd. A.a.O., 68. Ebd.
275
c) Predigtkonsequenzen – Kein Antijudaismus Der Situation der Predigt in ihrem Kontext nach Auschwitz/nach Hitler bewusst, warnt Adloff vor den Folgen antijüdischen Predigens. Er betont, wie „erfolgreich“ dieses Predigen gewesen sei. Er mahnt deshalb, die Folgen der Predigten dürften zu allen Zeiten nicht nur verwaltet, sie müssten auch verantwortet werden, „wobei man froh wäre, gewisse kirchliche Altlasten endlich los zu sein, von den so wirksamen Kreuzzugs- und Kriegspredigten bis hin zur nicht minder wirksamen Judenhetze auf den Kanzeln vor, durch 250 und nach Martin Luther“. Eine Erneuerung der Predigt sei über den Weg der Erinnerung an den Ursprung möglich, wenn dieser zu einem Weg der Abkehr von „alten (Ign Magn 9,1; Barn 15,8f) und neuen Antijudais251 men“ werde. Das Ziel der nicht-antijüdischen Predigt ist für Adloff nicht nur mit der Wahrnehmung und Abkehr von vulgären Antijudaismen in der kirchlichen Rede zu erreichen, wie er sie beispielhaft in der Auslegung von Offb 2,9; 3,9 vorfindet, wo das „antisemitische Klischee von den ‚kapital252 kräftigen Juden‘ “ historische Kenntnis bis in unsere Zeit verdränge. Unter den alten und immer wieder neuen Antijudaismen führt Adloff auch die klassische protestantische Hermeneutik von Gesetz und Evangelium als bestimmendem Organisationsprinzip der Predigt auf. Die Kritik an dieser Hermeneutik bestimmt seine Überlegungen zur Thematik. d) Sprache jenseits der Formel Gesetz und Evangelium Bereits im ersten Kapitel, der „sonntäglichen“ Frage nach dem Wesen der Predigt, legt Adloff seine Vorstellung von der Erneuerung der Predigt durch Umkehr zum Ursprung, zur Taufe, dar: „Das ‚Taufen‘ der Wörter ist ihr [sc.: der Predigt; CS] Element. Alles Prüfen, Unterscheiden, Verbinden und Trennen erhält seine Vollmacht von jenem (Tauf-) Himmel der Neuen Schöpfung, unter den immer wieder bußfertig zurückzukehren keine Reg253 ression ist, sondern ein Fortschreiten in der Liebe.“ Adloff sieht die Aufgabe der Predigt wesentlich im Lösen und Binden. Lösen und Binden als Strukturmerkmale gelte es reflexiv auch auf die Sprache der Predigt anzuwenden. Sie könne darauf vertrauen, dass ihr eine immer neue Sprache geschenkt werde. In der bußfertigen Umkehr ist für Adloff an dieser Stelle auch ein Verzicht auf die Sprachform von Gesetz und Evangelium denkbar, notfalls also auch eine Entscheidung gegen die eigene Tradition. Es gelte, so Adloff ähnlich wie Denecke, das Gesetz als Tora zu verstehen und so als Evangelium für Israel gelten zu lassen. In der Frage des richtigen Predigtaufbaus gewinnt für Adloff die Frage von Gesetz und Evangelium als Organisationskriterium der Homiletik an 250 251 252 253
276
A.a.O., 125. A.a.O., 28. K. ADLOFF: Sendschreiben, 14, vgl. auch DERS.: Predigtwoche, 55. K. ADLOFF: Predigtwoche, 27.
Bedeutung, weil „sich hinter der Formel ‚Gesetz und Evangelium‘ die unerledigte und dogmatisch unlösbare Frage nach dem Verhältnis von Israel 254 und Kirche verbirgt.“ An diesem Punkte werden Adloffs Überlegungen – vermutlich wegen der von ihm erklärten Unlösbarkeit der Frage – durchaus schillernd. Einerseits widerspricht er Josuttis und dessen Grundlegung der Formel „Gesetz und Evangelium“ als maßgebend für die Homiletik, ande255 rerseits will er „um des heuristischen Werts der Formel willen“ nicht hinter sie zurück. Mit Josuttis kritisiert er die Gesetzlichkeit der Predigt, „die, weil sie Israel und die Gottesgabe der Tora undankbar missachtet [...], die 256 rettende Notwendigkeit des Evangeliums überhört.“ Der problematische Aspekt der Formel „Gesetz und Evangelium“ liegt für Adloff in der aus ihr missgedeuteten, im Fahrwasser idealistischer Philosophie erwachsenen Antithetik von Gesetz und Evangelium. Sie sei fälschlich auf eine vermeintliche Antithetik von AT und NT bzw. von Judentum und Christentum übertragen worden. In dieser Antithetik sei schließlich der „verheerende Anspruch verborgen, mehr als Israel sein zu wollen, „das wahre Israel, die 257 wahren Juden, die wir doch nie und nimmer sind.“ Die Rechtfertigung der Welt und die bleibende Erwählung Israels gehörten als logische Konsequenz einer Ablehnung der Antithetik von Judentum und Christentum zusammen. Adloff: „Israel als das unübersehbare Zeichen dafür, dass die dogmatische und ethische Universalrechnung der HeidenKirche, dass zumal eine die Erwählung Israel hochmütig ignorierende Rechtfertigungslehre (anders: Paulus in Röm 9–11) nicht aufgeht, verweist die Christenheit zurück auf das Fundament ihrer Verkündigung: Auf die Liebe Jesu zu den Seinen, die als Liebe zu dem Gott Israels die bleibende 258 Erwählung Israels zum kritischen Dienst an den Völkern bezeugt.“ Mit der Aufhebung einer antithetischen Konstruktion von „Gesetz und Evangelium“ werden für Adloff auch die anderen unsachgemäßen Antithesen aufgehoben, sei es die Gegenüberstellung von Buchstabe und Geist, die Entgegensetzung von Fleisch und Geist oder von Wirklichkeit und Ideal. Die Widersprüche, die die Begriffspaare wiederspiegeln sollen, gelte es offen zu halten. Das Wort vom Kreuz verhindere, dass die christliche Predigt dogmatisch und ethisch „aufgehe“ (in der doppelten Bedeutung des Wortes 259 aufgehen). Auf das Offenhalten kommt es Adloff an, weil damit ein Raum geschaffen werde, in den die Umkehrenden sowie die kommenden Generationen eintreten werden.
254 255 256 257 258 259
A.a.O., 149. A.a.O., 28. A.a.O., 55. A.a.O., 49. A.a.O., 152f. Vgl. a.a.O., 150f.
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e) Dialogeröffnung als Moment christlicher Predigt Predigt ist für Adloff auf ihrem Weg zum Hörenden Dialogeröffnung. Diese von Dannowski stammende Formulierung wird so erklärt: „Es geht im 260 Verzicht auf das letzte um den Dienst des ersten Wortes [...].“ Dialog ernsthaft zu begreifen, heiße: Diese Verzichtsleistung existentiell zu realisieren. Aber: „Könnte es sein, dass die Probe auf die Ernsthaftigkeit alles christlichen Redens vom Dialog nicht erst heute am harten Widerspruch derer gemacht werden muss, die Paulus ‚nach dem Evangelium Feinde um euretwillen‘ (Röm 11,28) nennt? So dass wir mit dem ‚christlichen Antijudaismus‘ auch unsere tiefe Dialogunfähigkeit erst dann hinter uns bringen werden, wenn es uns theologisch gelingt, mit dem jüdischen Nein zu Jesus 261 Christus etwas Positives anzufangen‘ [...]?“ Auf dem gesamten Weg der Predigt müsse es deshalb Aufgabe sein, den Widerspruch des Gegenübers einzubeziehen und fruchtbar zu machen. Dass sich für Adloff die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Gegenüber Judentum im Blick auf die Predigt zunächst in der Auslegung und Anwendung des Mediums Bibel erweist, entspricht der dargelegten historischen Entwicklung christlicher Wahrnehmung des Judentums. Hier werde die Kirche in den „Dialog der Schrift hineingezogen“, hier müsse sie „selber 262 dialogfähig werden.“ Dieser Dialog könne zur kritischen Destruktion eines falschen Anspruchs auf die Bibel führen: „Werden in diesem [sc.: christlich-jüdischen; CS] Gespräch kirchliche Besitz- und Machtansprüche auch historisch-kritisch destruiert, so kann die Kirche die Bibel neu als unverdientes Geschenk zurückerhalten, als Gottes von jeder Fremdherrschaft befreiendes Wort für alle, die Juden zuerst und auch für die den Logos als ih263 ren Gott verehrenden Griechen, als Wunder.“ In ihrem Gang, in ihrem Wesen und in ihren Medien wird die Predigt von der Beziehung auf das jüdische Gegenüber und dem Einbeziehen dieses neben ihr bestehenden Gegenübers im Dialog bestimmt. In diesem Anliegen hat die Adloffsche Argumentation ihr Ziel. f) Würdigung und Kritik Adloff entwickelt in seinem homiletischen Exerzitium die These von der Notwendigkeit der Einbeziehung des jüdischen Gegenübers in den Prozess der Predigtarbeit. Er entwirft seine Gedanken in dialogischer Wahrneh264 mung des jüdischen Gegenübers. So kommen häufig Heschel und Rosen265 zweig, um nur zwei Namen zu nennen, zu Wort. Seine Überlegungen 260 261 262 263 264 265
278
A.a.O., 18. A.a.O., 19. A.a.O., 97f. A.a.O., 130. Vgl. a.a.O., 92.104.107.182. Vgl. a.a.O., 33.111.114.
zum Aufbau der Predigt schließt Adloff mit Worten aus dem Talmud. Er widmet der Frage Kirche und Israel nicht einen eigenen Abschnitt, sondern lässt alle Kapitel seiner Homiletik von diesen Gedanken durchtränkt sein. Das von ihm am stärksten betonte Moment ist das Offenhalten einer endgültigen Bestimmung des Verhältnisses von Israel und christlicher Kirche in heilsgeschichtlicher Perspektive. Der praktisch-theologische Besitzverzicht als Hermeneutik einer Theologie des Kreuzes kennzeichnet seine Überlegungen. Diese hermeneutische Grundlage bedeutet zugleich die Preisgabe eines eigenen, positiven Entwurfs der Verhältnisbestimmung. Adloff verfährt in seiner Analyse ideologiekritisch. Seine Überlegungen zu Gesetz und Evangelium zeigen dieses Verfahren beispielhaft. Am Ende der Kritik steht das Postulat der Wahrnehmung und Einbeziehung des jüdischen Gegenübers in den Predigtprozess. Von Anfang bis Ende des Predigtprozesses, vom Wesen über den Aufbau bis zu den Folgen der Predigt ist Israel neben und im Gegenüber der Kirche wahrzunehmen. Die Wahrnehmung des Gegenübers ist im Sinne eines konsequenten Dialogs fruchtbar zu machen. Dennoch: Die praktischen Forderungen verbleiben im Allgemeinen. Überlegungen zur Umsetzung treten hinter der hermeneutischen Analyse zurück. Das mag seinen Grund darin haben, dass letztlich ein positiver Entwurf, eine eigene Systematik, nicht zu erkennen ist bzw. bewusst darauf verzichtet wird. Am Anfang steht das Schweigen. Es folgt ein Erkennen und Abschreiten der eigenen Grenzen, an dessen Ende in der Rückkehr zum Kreuz das jüdische Gegenüber sichtbar wird. An dieses Gegenüber sind wir verwiesen. An den anderen, wie Adloff in Anlehnung an Levinas sagt. An den anderen, der in, mit und unter der Predigt aufscheinen soll. So stellt es sich in Adloffs homiletischem Exerzitium dar, das in Intention und Unabgeschlossenheit den Problemen und Lösungsansätzen der dritten Phase entspricht und zugleich über sie hinausführt. 5. Homiletik zwischen der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und der Bezogenheit auf das jüdische Gegenüber Denecke will die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium durch die von „christlicher Halacha“ und „christlicher Aggada“ ersetzen, um ein Missverstehen von Tora als „tötendem Gesetz“ und eine Gleichsetzung von Judentum und Gesetzlichkeit auszuschließen. Adloff kritisiert eine unsachgemäße Antithetik von Gesetz und Evangelium als einem Schlüsselelement antijüdischer Predigtpraxis. Auch er will unter „Gesetz“ Tora Gottes verstehen und als Evangelium für Israel begreifen. Im Blick auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mahnt er einen „theologischen Besitzverzicht“ innerhalb der eigenen Tradition an. Die Problematik, die die Umdeutung der Begriffe Halacha und Aggada bei Denecke mit sich bringt, ist oben erörtert worden. Mit ihrer Kritik stellen Denecke und Adloff eine weitreichende Frage: Wie verhält sich die 279
Thematik der Bezogenheit auf das Judentum zum Kern der Aufgabe des Predigens? Letztere war unter Verweis auf Müller (s.o. Einleitung 1) bereits am Anfang der Untersuchung so bestimmt worden, dass die Wahrnehmung des Wortes Gottes als Gesetz und als Evangelium durch die inhaltliche und formale Gestaltung der Predigt ermöglicht wird. Kann oder muss dieser Kern neu bestimmt oder zumindest neu formuliert werden, wie Adloff und Denecke es fordern? Oder geht mit einer Neuformulierung oder gar einem Verzicht auf die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als homiletischer Kategorie ein wichtiges, möglicherweise notwendiges Instrument zur Beschreibung der Predigtaufgabe verloren? Wie aber wäre das Verhältnis zwischen Gesetz und Evangelium einerseits und der Wahrnehmung und Bezogenheit auf das jüdische Gegenüber andererseits zu bestimmen, ohne dass durch eine falsche Identifikation von Tora mit einem dem Evangelium antithetisch gegenüberstehenden Gesetz antijüdische Homiletik betrieben 266 wird, wie es Peter Bukowski beklagt? Diesen Fragen will ich mich nähern, indem ich zunächst nach der Bedeutung der Unterscheidung Luthers von Gesetz und Evangelium für die Homiletik frage. 5.1 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als homiletische Kategorie „Is locus de discrimine legis et Evangelii scitu maxime necessarius est, quia continet summam totius Christianae doctrinae. Ideo quisque diligenter dis267 cernere legem ab Evangelio“ – die rechte Unterscheidung von Gesetz und Evangelium habe ein jeder gut zu lernen, denn, so Martin Luther, diese Unterscheidung beinhalte die Summe der christlichen Lehre. Recht zu unterscheiden sei „die höchste kunst jnn der Christenheit, die wir wissen sol268 len.“ Sie sei nicht allein kognitiv und verbal zu vollziehen, „sed etiam ipso 269 affectu et experientia, hoc est in corde et conscientia.“ Von der Erfahrung, in Herz und Kopf, sei die Unterscheidung einzuholen. Da die Predigtauf270 gabe für Luther zu einem guten Teil in der Lehre besteht, gilt die Notwendigkeit der rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Besonderen für die Predigt. Predigt als Lehre, als doctrina, deutet Erfahrung. Weil sie Erfahrung als Erfahrung von Gesetz bzw. als Erfahrung von Evangelium deutet, macht sie diese lehrhaft kommunizierbar. Sie lädt auf 271 diese Weise zu neuer Erfahrung des Evangeliums ein. Luther kennt auf diesem Hintergrund nur zwei Predigtweisen: „Es sind 2 predigt in terris nec 266 267 268 269 270 271
280
Vgl. P. BUKOWSKI: Predigt, 131. M. LUTHER: WA 40,I, 209,16f. M. LUTHER: WA 36, 9,28. M. LUTHER: WA 40,I, 209,18f. Vgl. WA 10,I, 2,2,19ff. Vgl. E. HAUSCHILDT: ‚Gesetz und Evangelium‘, 264.
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plures: Aut lex aut Evangelium.“ Die Predigt des Evangeliums handelt nach Luther von dem, was Gott tue, die Predigt des Gesetzes von dem Handeln der Menschen. Er führt diese Differenzierung mit folgenden Worten aus: „Ideo quisque praedicator vel de deo vel homine praedicat. Si de deo, est Evangelium, quia quid velit dare et dederit et porro possit, ista gloriosa praedicatio: remittit peccata, salvat et misit filium, ut homo fiererit, 273 moreretur. Ad ista opera nihil ficimus.“ Die Predigt des Gesetzes hingegen handele von dem, „quid nos facimus et facere. Das ist legis praedicatio, scilicet ut diligamus deum, nomes eius, ut Gottlich wort, ehren patrem et 274 matrem.“ Dabei erfülle das Gesetz folgende Aufgabe: „Lex indicat, quod 275 faciendum, sed finds sich in operibus, quod non possumus.“ Diese überführende Funktion des Gesetzes, secundus usus, usus elenchticus oder auch usus theologicus genannt, hat für Luther nicht zuletzt im Blick auf die Predigt herausragende Bedeutung. Die Aufgabe der Predigt des Gesetzes sei es, die Sünde des Menschen aufzudecken: „Hoc est legem praedicare, ostendere 276 peccatum.“ Dabei ist festzuhalten: Nicht die Predigt des Gesetzes ist das Ziel der Predigt, sondern die Verkündigung des Evangeliums. Die Predigt des Gesetzes ist nicht die Bedingung, wohl aber die notwendige Voraussetzung zur Evangeliumspredigt: „Alioqui nec per legem nec per Evangelium 277 datur Spiritus sanctus, nisi prius praeparata fuerit per legem materia.“ Der usus elenchticus legis dient der Präparation des Menschen für dessen Annahme des Evangeliums. Josuttis fasst diesen Zusammenhang zusammen: „Obwohl die Gesetzeserfüllung nicht die Bedingung der Rechtfertigung ist, muss das Gesetz auch in der Kirche gepredigt werden, weil die Gesetzespredigt die Voraussetzung der Verkündigung des Evangeliums ist und 278 bleibt.“ Weil das Gesetz in der Kirche um des Evangeliums willen gepredigt werden müsse, gelte es, im gleichen Maße den Zusammenhang von Gesetz und Evangelium zu bewahren. Das Gesetz sei nicht das letzte Wort Gottes an den Menschen, der Mensch solle nicht mit seiner Sünde allein gelassen werden. Josuttis in Aufnahme Luthers: „Christus, der im Neuen Testament ebenfalls das Gesetz predigt, adigit ad desperationem causa salu279 tis, non mortis.“ a) Der usus elenchticus des Gesetzes Es ist die auf den usus elenchticus zugespitzte Bedeutung des Gesetzes, die eine Verkürzung und ein verkehrtes, negatives Verständnis des Gesetzes 272 273 274 275 276 277 278 279
M. LUTHER: WA 46, 119,30f. M. LUTHER: WA 46, 119,33–120,1. M. LUTHER: WA 46, 120,1–3. A.a.O., 4–5. M. LUTHER: WA 39, I, 533,1. M. LUTHER: WA 39, I, 578,20. M. JOSUTTIS: Predigt des Gesetzes, 29f. A.a.O., 29. Josuttis zitiert hier M. LUTHER: WA 39,I, 426,17ff.
281
280
nach sich ziehen kann. Hieran stoßen sich Denecke und Adloff, wenn sie hervorheben, dass die Tora zunächst einmal als Gabe zum Leben, als Evangelium, zu begreifen sei. Gegen diese Kritik ist mit Verweis auf Luther zu unterstreichen, dass auch reformatorisches Verständnis daran festhält, dass das Gesetz dem Menschen zum Leben gegeben ist. Als Gottes Wille ist es heilig, gerecht und gut. Erst weil der Mensch diesen Willen nicht erfüllt und nicht erfüllen kann, gilt: „Lex non damnans est lex ficta et picta, sicut 281 chimera aut tragelaphus.“ Dass Gottes Gesetz eine Gabe zum Leben ist, zeigt sich im usus politicus (primus usus) legis – hier dient es zur Erhaltung des Lebens unter den Bedingungen der Sünde – sowie im – umstrittenen – tertius usus legis, „der die Geltung des göttlichen Gebotes für die Glauben282 den zum Inhalt hat.“ Die lebenspendende Gabe des Gesetzes zeigt sich aber auch im überführenden Gebrauch des Gesetzes, weil der Mensch erst so das Geschenk des Evangeliums in seiner Tragweite und Bedeutung begreift. Eine falsche Antithetik von Gesetz und Evangelium, die beide Größen auseinanderreißt, ist in diesem Zusammenhang zu vermeiden. Gesetz und Evangelium bleiben auch im secundus usus legis aufeinander bezogen. Diese Bezogenheit aufeinander setzt ein biblisches Verständnis des Gesetzes als Gesetz Gottes voraus. Der Verzicht auf die Kategorie des Gesetzes kann hingegen zu einem Verlust der Einsicht in die Sündenverfallenheit des Menschen führen. Die mit diesem Verlust einhergehende Verkürzung der evangelischen Botschaft lässt sich in der Verschiebung der Aspekte bei Denecke erahnen. Durch seine Unterscheidung von „christlicher Halacha“ und „christlicher Aggada“ wird eine strukturelle Analogie zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vollzogen, die inhaltlich nicht eingeholt werden kann. Die Unterscheidung von „christlicher Halacha“ und „christlicher Aggada“ bringt eine formale Reduktion mit sich. Deutlich wird dies am Verständnis von gesetzlich bei Denecke: Gesetzlich nennt er die halbherzige Form der Anwendung der Unterscheidung. Daneben kann es keinen „usus elenchticus der Halacha“ geben, denn die „christliche Halacha setzt bereits bei Christus und dessen Heilstat pro nobis ein. Die „christliche Halacha“ hat nicht hinführenden Charakter. Der Mensch wird auf diese Weise nicht in seiner Sündenund Todverfallenheit wahrgenommen; die Sünde wird aus der theologischen Unterscheidung herausverlegt. b) Die anthropologische Dimension der theologischen Unterscheidung Eberhard Hauschildt zeigt, wie bereits früh in der Geschichte des Protestantismus mit dem Begriff des Gesetzes zugleich der Anschluss an allgemein Erkennbares und Erfahrbares gesucht worden ist. Das Gesetz wurde hierbei 280 Vgl. E. WINKLER: Predigt, 348. 281 M. LUTHER: WA 39,I, 358,26f. 282 E. WINKLER: Predigt, 348.
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in seinem Gegensatz zum Evangelium auf die Frage der Erkenntnis der theologia naturalis konzentriert. Erst mit Barth vollziehe sich eine Wende, insofern dieser unter Gesetz keinen allgemeinen Imperativ, sondern das biblische Gesetz Gottes begreife und somit neben der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auch wieder deren Einheit betone. Hauschildt hebt im Unterschied zu Barth darauf ab, dass es gerade die Integration von Lehre und Erfahrung, spezifisch Christlichem und Allgemeinem gewesen sei, die die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium leisten soll: „Nur da, wo entsprechend der Fassung bei Luther einerseits der Gesetzesbegriff an die allgemeinen Gesetze des Lebens im Anschluss gehalten wird, andererseits der Begriff des Evangeliums deutlich von dem des Gesetzes abgesetzt 283 bleibt“, erweise sich die Unterscheidung als kritische und konstruktive Kategorie für die Predigt. Auf diesem Hintergrund ist es für die homiletische Arbeit entscheidend, den Begriff des Gesetzes in seiner biblischtheologischen Bedeutung als Gesetz Gottes zu bewahren und ihn zugleich für seine Deutungskompetenz im Blick auf anthropologische Erfahrungszusammenhänge offen zu halten. Für die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bedeutet das hinsichtlich der Verbindung von theologischer und anthropologischer Dimension: „Das Gesetz fordert, das Evangelium schenkt. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium stellt klar, dass der Verkehr zwischen Gott und Mensch erheblich gestört, aber um Gottes willen nicht zerstört ist. Gott kann fordern, weil er dem Menschen in der 284 Schöpfung alles zum Leben Notwendige gegeben hat.“ Auf diesem Grundverhältnis aufbauend entwickelt Josuttis die Vielgestaltigkeit des anthropologischen Sinns der theologischen Unterscheidung. Sie restituiere nicht nur die Struktur der gestörten Gottesbeziehung, sondern werde auch der „Ambivalenz der doppelbödigen Gotteserfahrung ge285 recht.“ Zugleich helfe die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, „die Zwiespältigkeit aller Lebenserfahrung auch und gerade in der Begeg286 nung mit Gott auszuhalten.“ So impliziere die Unterscheidung als Strukturelement neben der Beziehungspolarität von Nehmen und Geben und der Erfahrungspolarität von Gut und Böse auch die Einstellungspolarität von Angst und Wahn. Das Gesetz gelte es denen zu verkündigen, „die im Wahn der Selbstgerechtigkeit befangen sind; das Evangelium ist denen zu sagen, die voller Angst und Verzweiflung nach einem Wort verlangen, das ihnen 287 Lebensmut zuspricht und Lebenskraft schenkt.“ Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sei deshalb „eine theologische Aufgabe von höchster anthropologischer Dignität“. Die Theologie leiste mit der Kunst dieser Unterscheidung einen Beitrag zur Lebenserhaltung. Auf ihrer Basis vermag die Verkündigungspraxis der gebrochenen Wirklichkeit der Welt und der 283 284 285 286 287
Vgl. E. HAUSCHILDT: ‚Gesetz und Evangelium‘, 283. M. JOSUTTIS: Gesetz und Evangelium, 13. A.a.O., 14; vgl. auch E. JÜNGEL: Freiheit, 28ff. A.a.O., 15. A.a.O., 16.
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abgründigen Wirklichkeit Gottes gerecht zu werden, weil sie „Konflikte nicht verdrängt, Spannung nicht unterdrückt und zu einer permanenten 288 Auseinandersetzung in der Gottesbegegnung nötigt.“ Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist auf diesem Hintergrund ein theologischer Kunstgriff mit weitreichender, anthropologischer Bedeutung. Sie wird in Luthers Worten deutlich: „Sicut etiam duae res sunt, quae in verbo Dei nobis proponuntur, scilicet aut ira aut gratia Dei, peccatum aut iustitia, mors aut vita, infernus aut coelum. Haeque res certae et apertae sunt. […] Prior res, scilicet peccatum, mors, ira Dei, illa est agnata et cognita nobis per prium parentem. Altera, scilicet gratia, remissio peccatorum, iustitia, vita, illa quidem incepta est in nobis per Christi benefi289 cium […].” Insbesondere das Gesetz bzw. die Predigt des Gesetzes hat die 290 Aufgabe, „ut ostenderet, quales nos simus.“ Mit einer Preisgabe der homiletischen Kategorie von Gesetz und Evangelium droht ein Verlust der theologischen Erschließung der anthropologischen Dimension des Evangeliums. Die Unterscheidung vermag an die Erfahrungen des Menschen anzuknüpfen und eine sachgemäße Deutung zu leisten. Eberhard Jüngel zeigt, wie Luther mit Hilfe dieser Unterscheidung „sowohl einigermaßen komplizierte theologische Sachverhalte wie die einfachsten Vorgänge elementaren Lebens 291 zur Sprache zu bringen vermag.“ Letztlich gehe es mit ihr um die „eigentliche Differenz“, von der christliche Theologie zu handeln habe: „Das ist 292 die Unterscheidung von Gott und Mensch.“ Es gelte, mit der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium die Selbsttäuschung des Menschen wahrzunehmen, sich selbst zu kennen und für Gott zu halten. „Deshalb wurde Gott Mensch, damit der Mensch von Gott definitiv unterschieden und in dieser Unterscheidung die menschliche Rede von Gott selber defi293 niert würde.“ So kommt die Gabe der Unterscheidung dem Menschen zugute, denn die rechte Unterscheidung von Gott und Mensch ist selbst 294 „eine dem Menschen zugute kommende Unterscheidung.“ Dieser Fähigkeit zur Unterscheidung kommt bei der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers eine wichtige Funktion zu, weil sie Wahrnehmungsfähigkeit, Offenheit und Gesprächsbereitschaft freizusetzen vermag.
288 289 290 291 292 293 294
284
A.a.O., 21. M. LUTHER: WA 39,I, 361,4–8. M. LUTHER: WA 39,I, 558,2ff. E. JÜNGEL: Freiheit, 21. A.a.O., 23. A.a.O., 24f. A.a.O., 25.
5.2 Die homiletische Unterscheidung und die Bezogenheit auf das Judentum a) Abwehr eines falschen Schematismus Mit dem Insistieren auf der homiletischen Bewahrung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist die Aufgabe verbunden, jede falsche Antithetik und alle falschen schematischen Zuordnungen zu vermeiden. Adloff beklagt eine nicht nur simplifizierende, sondern falsche Zuordnung von „Gesetz – AT – Judentum“ einerseits und „Evangelium – NT – Christentum“ andererseits. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang, zwischen der „methodus“ der Abfolge von Gesetz und Evangelium und einer schematischen Verfälschung zu unterscheiden. Luther insistiert, wie Hauschildt erklärt, „entschieden auf dem ‚methodus‘ der Reihenfolge: Erst Ge295 setz, dann Evangelium.“ Daraus ein homiletisches Schema abzuleiten, wäre falsch. Die schematische Verwendung der Reihen- und Rangfolge von Gesetz und Evangelium ist über lange Zeit zu einem „homiletischen Schreckbild“ geworden, weil der Schematismus der Anwendung zu einer Psychologisierung der theologischen Begriffe und zu einer Rationalisierung 296 des Übergangs vom Gesetz zum Evangelium geführt hat. Gottes dialektisches Handeln erstarrte auf diese Weise in einem homiletisch praktikablen Schema. Gegen einen derartigen Schematismus steht Luthers Hinweis, dass beides, die Verkündigung des Gesetzes wie die des Evangeliums, je seine – unverrechenbare – Zeit habe: „Quare cum terret Lex et peccatum accusat et concutit conscientiam, tunc dicas: Est tempus moriendi, est tempus vivendi, Est tempus legem audiendi, est tempus legem contemnendi, Est tempus Evangelium audiendi, est tempus nesciendi Evangelium. Iam Lex abeat et Evangelium veniat, quia iam non est tempus audiendi Legem, sed Evange297 lium.“ Das heißt auch: Es kann Zeiten geben, in denen nur oder vor allem das Gesetz zu verkündigen ist, und Zeiten, in denen nur oder vor allem das Evangelium im Vordergrund stehen muss. Mit der Abwehr von Methodismus oder Schematismus einher geht die Abwehr einer falschen Zuordnung dessen, was als Gesetz bzw. als Evangelium in der Bibel zu gelten hat. Das Gesetz ist nicht auf bestimmte Teile der Bibel, etwa Altes Testament, Dekalog oder Bergpredigt beschränkt. Es ist auch nicht an bestimmte grammatische Formen wie etwa den Imperativ 295 E. HAUSCHILDT: ‚Gesetz und Evangelium‘, 265. 296 Vgl. M. JOSUTTIS: Gesetz und Evangelium, 14 ; vgl. DERS.: Predigt des Gesetzes, 22. 297 M. LUTHER: WA 40,I, 209,24–28. (Übersetzung: „Darum, wenn das Gesetz schreckt und die Sünde anklagt und das Gewissen zerschlägt, dann sollst du sagen: zu sterben hat seine Zeit und zu leben hat seine Zeit, das Gesetz zu hören hat seine Zeit und das Gesetz zu verachten hat seine Zeit; das Evangelium zu hören und das Evangelium nicht zu wissen hat seine Zeit. Jetzt gehe das Gesetz weg und das Evangelium komme herbei, denn es ist nicht Zeit, das Gesetz zu hören, sondern das Evangelium.“; nach E. HAUSCHILDT: ‚Gesetz und Evangelium‘, 264.)
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gebunden. Weil die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Sinne des usus elenchticus des Gesetzes von ihrer hermeneutischen Funktion her zu verstehen ist, kann jeder biblische Text einen Gesetzessinn haben, „so 298 gewiss das Evangelium immer das Gesetz bei sich und vor sich hat.“ Die dialektische Struktur des hermeneutischen Prinzips der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird so in ihrem inneren Verweisungszusammenhang deutlich: „Durch das Gesetz wird also der Mensch bei Christus gehal299 ten, indem er weiterhin auf seine Wirklichkeit verwiesen wird.“ So verbietet der recht verstandene Sinn der Unterscheidung eine falsche, antithetische Zuordnung des Gesetzes zu AT oder Judentum wie auch die umgekehrte Zuordnung von Evangelium zu NT oder Christentum. b) Leistungen und Gefahren der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers Gesetzlich, so hat Josuttis bereits Ende der 1960er Jahre definiert, sei „die Form der Verkündigung, die auf der Vermischung von Gesetz und Evangelium basiert und aus der die Ideologisierung des Evangeliums wie die Mora300 lisierung des Gesetzes“ resultiere. Bei einer unsachgemäßen Vermischung von Gesetz und Evangelium drohe, so auch Eberhard Winkler, zum einen eine Verkehrung des Gesetzes zum Evangelium, wenn menschliche Aufgabe und Möglichkeiten verabsolutiert werden. Zum anderen drohe die Verfälschung des Evangeliums zum Gesetz, wenn an Stelle der Befreiung durch Christus der Eindruck menschenmöglicher Selbstbefreiung in der Predigt 301 erweckt werde. Die theologische Leistung der Unterscheidung besteht also nicht zuletzt in einer rechten Zuordnung von menschlichem und göttlichem Handeln. Die Begriffe gesetzlich bzw. Gesetzlichkeit stellen für eine Homiletik in der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers ein Problem dar, wenn sie 302 eine Abwertung des Begriffes Gesetz assoziieren lassen. Bukowski stellt 298 M. JOSUTTIS: Predigt des Gesetzes, 39. 299 A.a.O., 32. 300 M. JOSUTTIS: Gesetzlichkeit, 97. 301 Vgl. E. WINKLER: Predigt, 349. 302 Um einer solchen falschen Abwertung zu entgehen, wollen ja, wie ausgeführt, A. Denecke und K. Adloff den Begriff Gesetz durch Tora ersetzen. Zugleich ist bei A. Denecke der Begriff Tora im Blick auf seine jüdische Bedeutung und seine jüdischen Adressaten als Evangelium zu verstehen. Äquivokationen sind m.E. auf diese Weise vorgezeichnet. Müsste eine sinnvolle Analogisierung nicht die Begriffe „Tora“ und „Wort Gottes“ gleichsetzen? Das „Wort Gottes“ erwiese sich dann in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium bzw. von Halacha und Aggada. Es wären – im Analogieschluss – halachische Verkürzungen der Aggada oder aggadische Verkürzungen der Halacha denkbar. Ich verzichte an dieser Stelle auf ein Fortschreiben derartiger Begriffsanalogien. Die Gefahr, in der begrifflichen An- und Enteignung unsachgemäße Spielerei mit den Kategorien des jüdischen Gegenübers zu betreiben, scheint mir deutlich. Die Betonung des Zusammenhanges von Gesetz und Tora weist zu Recht auf den biblischen Gehalt des
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den „Symptomen gesetzlicher Predigt“ die „Symptome enthusiastischer 303 Predigt“ zur Seite. So wird begrifflich der Eindruck vermieden, die gesetzliche Predigt resultiere ausschließlich aus einem Missverstehen des Gesetzes. Bukowski setzt darüber hinaus die Begriffe „Gesetz“ und „gesetzlich“ durchweg in Anführungszeichen, um deutlich zu machen, dass es ein Missverständnis wäre, „die in der Hebräischen Bibel bezeugte Offenbarung des 304 Willens Gottes mit ‚Gesetz‘ im hier verstandenen Sinne gleichzusetzen.“ Diese Gleichsetzung sei in der Wirkungsgeschichte der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vorgenommen worden, allerdings gegen die ursprüngliche Intention der Unterscheidung. So sei die Weiterverwendung der Terminologie „Gesetz und Evangelium“ eine „Verlegenheitslösung.“ Es handelt sich m.E. um eine notwendige „Verlegenheitslösung“, wenn die oben dargestellten Leistungen der Unterscheidung bedacht werden. Das Beklagen des missbräuchlichen Verständnisses der Unterscheidung, mit der ein unsachgemäßer, antithetischer Gegensatz von Christentum und Judentum transportiert werde, findet sich nicht nur bei Adloff, Denecke oder 305 306 307 Bukowski. Auch A. und W. Kruse, Volkmann oder Jäckle-Stober weisen explizit auf die Problematik hin. Dem Missverständnis wird m.E. nicht durch einen Verzicht auf diese Zuordnung oder durch die dargestellte Umformulierung im Sinne Deneckes abgeholfen. Vielmehr deckt sich die Forderung nach einer erneuerten Wahrnehmung des Judentums mit dem sachgemäßen Gebrauch der Unterscheidung. So betont Bukowski: „Die beiden Testamente reden uns an, sind von uns zu hören und auszulegen als 308 ‚Gesetz und Evangelium‘.“ Darüber hinaus ist auf der Basis dieser Unterscheidung auch der Eigenwert des Alten Testaments und der jüdischen Tradition und Lesart wahrzunehmen, wie es Bohren anmahnt. Eine solche Wahrnehmung ist eher zu realisieren, wenn Gesetz im Sinne der hermeneutischen Unterscheidung und Tora im Sinne der lebensspendenden Gabe Gottes nicht miteinander verrechnet werden. Gleichwohl ist zu beachten, dass Gesetz – auch im Sinne der Unterscheidung – immer auf Tora bezogen bleibt. Die Bezogenheit auf das Judentum findet Eingang in den Predigtprozess durch die Kunst der Unterscheidung von Gegenüber und eigenem Standort. Die Fähigkeit zur Unterscheidung begründet die Wahrnehmung des Begriffes Gesetz und auf die lebensspendende Gabe dieses Gesetzes hin. Ein Ersetzen oder Gleichsetzen der Begriffe beschwört hingegen terminologische Schwierigkeiten, die zu einer missbräuchlichen Entstellung jüdischer Begrifflichkeit oder zur Verkürzung der hermeneutischen Dimension der kategorialen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der christlichen Tradition führt. 303 Vgl. P. BUKOWSKI: Predigt, 132ff.139ff. 304 A.a.O., 131. 305 Vgl. A. und W. KRUSE: Predigen, 205.210f. 306 Vgl. E. VOLKMANN: Verhältnis, X. 307 Vgl. A. JÄCKLE-STOBER: Ertrag, 259. 308 P. BUKOWSKI: Predigt, 131.
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anderen in seiner Andersartigkeit. Sie stellt ein inhaerentes Moment nicht309 dogmatistischer Theologie dar: „Gerade Theologie hat zu zeigen, dass wir uns von uns selbst unterscheiden, sobald wir verantwortungsbewusst den310 ken, und wie wir uns von uns selbst unterscheiden, wenn wir glauben.“ Die theologische Einstellung der (Selbst-) Unterscheidung als Grundkonstitution christlichen Glaubens sollte die Lernfähigkeit gegenüber neuen Wirklichkeitsaspekten, die Gesprächsfähigkeit gegenüber anders denkenden 311 und anders lebenden Menschen sowie die Konfliktfähigkeit ermöglichen. Zugleich sollten die gegenteiligen Strategien verhindert werden, die an die Stelle dogmatistischer Abgrenzungen die vollständige Anpassung zur Identi312 tätssicherung verfolgen. In dogmatistischen Abgrenzungen sowie Anpassungen vollzieht sich eine Verdrängung des anderen. Auf die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers bezogen bedeutet das: Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als theologische Entschlüsselung und Wahrnehmung anthropologischer Grundkonstellationen kann die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers vom christlichen Standort aus befördern, weil sie gerade nicht zu einer theologischen Erkenntnisstruktur führt, die Spannungen und Beziehungskonflikte verdrängt. Offenheit gegenüber dem anderen, Fähigkeit zur Relativierung des eigenen Standortes und Verwiesenheit an den anderen sind in dieser Konzeption theologisch verankert. Auch Jüngel betont, um des Lebens willen müsse unterschieden werden: „zwischen Person und Werk, zwischen Glaube und Liebe, zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen Christperson 313 und Weltperson, zwischen Leben und Lehre usw.“ Ich füge an: Zwischen Tätern und Opfern. Ein Vermischung führt hier zur Verdrängung der eigenen Schuld und Verantwortung, wie oben dargestellt wurde. Und ich füge an: Zu unterscheiden ist zwischen Judentum und Christentum. Um des Lebens willen und um der Beziehung willen, um der bleibenden Bezogenheit der Christen auf Juden willen. 5.3 Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium und die Aufgabe der Erinnerung Bereits zu Anfang der Untersuchung (s.o. Einleitung 2) habe ich auf den Zusammenhang der Aufgabe der Predigt mit dem Stichwort der Erinnerung hingewiesen. Die Predigt des Gesetzes als Erinnerung an die Sünde ist notwendige Voraussetzung der Predigt des Evangeliums. Auf dem Hintergrund der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium muss dagegen 309 passim. 310 311 312 313
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Zum Begriff des Dogmatismus vgl. K.F. DAIBER/M. JOSUTTIS: Dogmatismus, E. FUCHS: Glaube, 189. Vgl. M. JOSUTTIS: Dogmatismus, 64. Vgl. M. JOSUTTIS: Dogmatismus und Theologie, 201. E. JÜNGEL: Freiheit, 22.
jene Predigtweise gesetzlich erscheinen, die den Eindruck erweckt, die Erinnerung selbst sei bereits das Evangelium. Aufgabe der Erinnerung ist nicht Selbstbefreiung. Die Aufgabe der Erinnerung an die Erfahrung des Holocaust und die Mitschuld an ihm ruft in der Predigt des Gesetzes zur Umkehr. In diesem Zusammenhang geht es um die Wirkmächtigkeit der Erinnerung im homiletischen Kontext und um eine angemessene Anwendung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Verstehen solcher wirkmächtigen Erinnerung. Josuttis weist auf die Problematik in einer Studie zu den „Tagen der Erinnerung“ hin: „Dass man die Untaten der Vergangenheit nicht vergessen darf, ist eine Forderung des Gesetzes. Dass Gott der Sünden der Jugend und der Väter nicht mehr gedenkt, ist die Botschaft des Evangeliums. Deshalb ist gerade an den Tagen der Erinnerung die reformatorische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für das Predigtge314 schehen unerlässlich.“ Denn beides gehöre zusammen: Die Erinnerung an die heilbringende Wirklichkeit Gottes und der Rückblick auf eigene Untaten. „Die göttliche Heilsgeschichte wird in ihrem Gnadencharakter überhaupt erst zugänglich, wenn sie auf die menschliche Unheilsgeschichte be315 zogen bleibt.“ Zugleich warnt Josuttis vor einem gesetzlichen Verständnis der Erinnerung an begangenes Unheil. Denn einerseits gilt: „Nur wenn das, was wirklich geschehen ist und was wirklich geschehen wird, nicht übergangen wird, wird die Geschichte von Gottes Gnade vergegenwärtigt.“ Andererseits gilt auch: „Nur weil Gott um Christi willen unserer Sünden nicht mehr gedenkt, sind wir an das heillose Gesetz der Erinnerung nicht mehr gebunden und dürfen die heilvolle Erinnerung an die Verheißung des ewi316 gen Lebens hören.“ Deutlich sind in dieser Differenzierung Anklänge an Bohrens Unterscheidung der Erinnerung an die Sünde und Gottes Selbsterinnern zu vernehmen (s.o. Einleitung 2). Josuttis ist nicht an einer Abwertung der Erinnerung für den religiösen Lebenszusammenhang gelegen, wenn er von dem „heillosen Gesetz der Erinnerung“ spricht. Er will das Gesetz der Erinnerung an begangenes Unheil vor einer gesetzlichen Ausweitung schützen. Welche Schwierigkeiten mit der Aufgabe der Erinnerung an den Holocaust im konkreten Predigtgeschehen verbunden sind, lässt sich anhand der Dimensionen narrativer Predigt zeigen. Der Kernsatz narrativer Homiletik kann so formuliert werden: „Weil das Heil in der Geschichte präsent geworden ist, kann es für die Gegenwart in Geschichten präsentiert wer317 den.“ Das Prinzip der Narrativität, das eine evangelische Dimension hat, gilt auch für die Predigt des Gesetzes, in der an die Sünde erinnert wird. Aufgabe der Predigt des Evangeliums muss es in diesem Zusammenhang 314 315 316 317
M. JOSUTTIS: Tage, 141. A.a.O., 158. A.a.O., 159. M. JOSUTTIS: Predigt des Evangeliums, 50.
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sein, „durch eine Erzählung Menschen aus bösen Geschichten [zu] lösen 318 und in gute Geschichten [zu] führen.“ Im Blick auf die Erfahrung des Holocaust stellen sich dabei zwei Probleme: Die Monstrosität der Erfahrung des Holocaust radikalisiert die Gefahr, die jedes Ausmalen des Elends in der Predigt in sich birgt: Die Überwältigung durch die Bilder des Todes, die ein Hören der Worte des Evangeliums nahezu verunmöglicht. Hinzu kommt, dass dem Holocaust – wie oben in der Analyse Diners gesehen (siehe II. 1.3) – das Narrativ fehlt. Der Behelf durch Ersatznarrative ist dagegen stets in der Gefahr, einer Instrumentalisierung der Geschichte zu verfallen. So stellt sich aus dieser Perspektive die Frage, wie überhaupt eine Erinnerung an den Holocaust in der Predigt möglich ist. Luther betont im Blick auf die Bilder von Hölle und Tod im Sermon von der Bereitung zum Sterben, was auch für die Predigt gelten dürfte: „Die kunst ists gantz und gar, sie fallen lassen unnd nichts mit yhn handeln. Wie geht aber das zu? Es geht alßo zu, Du must den tod yn dem leben, die sund yn der gnadenn, die hell ym hymell ansehen, und dich von dem ansehen 319 oder blick nit lassen treyben [...].“ Was „Nicht mit ihnen handeln“ im Blick auf die Erinnerung an den Holocaust heißen könnte, möchte ich hier wenigstens andeuten. Dabei kommen zunächst die Einsichten aus den Mechanismen der Erinnerung an den Holocaust zum Tragen (s.o. Kapitel I und II): „Nicht mit ihnen handeln“ könnte für die Predigt heißen: Bei der Erwähnung von Auschwitz nicht nur reden, sondern auch schweigen. Um das eigene Stottern in Ermangelung eines Narrativs wissen. Sich nicht die jüdischen Narrative der Opfer aneignen, um über Sprachlosigkeit hinwegzuhelfen. Die Struktur der Untat wahrnehmen statt die Monstrosität des Unheils auszumalen. „Nicht mit ihnen handeln“ heißt auch: Nicht den Eindruck völliger Vermittelbarkeit des Erinnerten erwecken. Nicht Täterund Opferperspektive des Geschehens miteinander vermitteln oder verwechseln. Keine direkte Brücke von der Erinnerung hin zur Versöhnung bauen. Das Geschehen auf diese Weise nicht verdrängen, aber auch nicht übermächtig werden lassen. Was es hingegen bedeutet, „den Tod im Leben“, „die Sünd in der Gnaden“ anzusehen, lässt sich mit der Aufgabe umreißen, in der Predigt des Evangeliums eine Lösung von der destruktiven Macht der Erinnerung und eine Befreiung zum bewahrenden Gedenken zu ermöglichen. Im bewahrenden Gedenken – im Sinne einer neuen Wahrnehmung der Predigt als Geschehen im Kontext christlicher Bezogenheit auf das Judentum und der Wahrnehmung eines jüdischen Gegenübers – wird die zerstörerische Macht der Erinnerung gebrochen. Die Aufgabe einer Erinnerung an die Sünde im Sinne einer Predigt des Gesetzes gewinnt auf diese Weise gewissermaßen
318 A.a.O., 55. 319 M. LUTHER: WA 2, 688,33–36.
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neue Gestalt in der Realisierung eines tertius usus legis. Aus der notwendigen Aufgabe der Erinnerung an den Holocaust wird die Realisierung eines bewahrenden Gedenkens in einer veränderten Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers. Auf diesem Hintergrund werden die konkreten homiletischen Vermittlungsschritte einer veränderten Wahrnehmung des Judentums wichtig (s.o. IV. und V.): Grenzwahrnehmung, Standortbestimmung, Wahrnehmung des Gegenübers, Wahrnehmung der Beziehung zum Gegenüber, Wahrnehmung der Bezogenheit auf das Gegenüber, unverrechenbarer Eigenwert des Gegenübers, Vermeidung von antijüdischen und philojüdischen Strategien. Ich halte fest: Ausgehend von der Kritik Deneckes, Adloffs und anderer stellt sich die Frage, ob die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium im Rahmen der Predigtarbeit einen antijüdischen Zug bei der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers nach sich ziehen muss, der die Fortführung dieser Unterscheidung in ihrer traditionellen Form nachhaltig in Frage stellt. Für Luther gehört die Kunst der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zur höchsten Kunst, „die Christen wissen sollen.“ Die Predigt des Gesetzes gilt ihm als Voraussetzung der Predigt des Evangeliums. Predigt des Gesetzes und Predigt des Evangeliums gehören um der Verkündigung des Evangeliums willen, die das Ziel der Predigt ist, zusammen. Hierbei spielt der hinführende Gebrauch (usus elenchticus) des Gesetzes eine herausragende Rolle. Ein Missverständnis des usus legis elenchticus wäre es, das Gesetz ausschließlich von dieser „tötenden“ Funktion her zu begreifen. Gottes Gesetz ist lebenspendende Gabe, wie Denecke und Adloff mit Hinweis auf das Verständnis von Tora betonen. Auch im usus elenchticus bleibt das Gesetz Gabe zum Leben. Eine Gesetz und Evangelium auseinanderreißende Antithetik ist unsachgemäß. Für die homiletische Arbeit wichtig ist es, den Begriff des Gesetzes in seiner biblisch-theologischen Bedeutung zu bewahren und ihn für seine Deutungsmöglichkeit hinsichtlich anthropologischer Erfahrungszusammenhänge offen zu halten. So wird die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu einer theologischen Aufgabe höchster Dignität, weil mit ihr die Verkündigungspraxis der gebrochenen Wirklichkeit der Welt und der abgründigen Wirklichkeit Gottes gerecht werden kann. Mit dem Begriff „gesetzlich“ darf keine Abwertung des Verständnisses von Gesetz einhergehen. Auf diesem Hintergrund ist der Hinweis auf den Zusammenhang von Gesetz und Tora als lebensspendender Gabe wichtig. Eine völlige Gleichsetzung der Begriffe führt aber zu terminologischen Schwierigkeiten, bei denen es zur missverständlichen Aneignung jüdischer Tradition oder zur Verkürzung der hermeneutischen Dimension der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der christlichen Tradition kommen kann. Die Weiterverwendung der traditionellen Terminologie Gesetz und Evangelium kann als notwendige „Verlegenheitslösung“ (Bukowski) begriffen werden. 291
Ein sachgemäßer Gebrauch der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium unterstützt die Forderung nach einer erneuerten Wahrnehmung des Judentums. Denn die Unterscheidung verhilft zur Wahrnehmung des Eigenwerts jüdischer Tradition, indem die hermeneutisch-christliche Dimension von Gesetz und jüdisches Verständnis von Tora aufeinander bezogen bleiben, ohne miteinander „verrechnet“ zu werden. So wird durch die sachgemäße Unterscheidung der Raum für ein Nebeneinander von Christentum und Judentum (im Sinne Adloffs) geschaffen. In anthropologischer Hinsicht ermöglicht die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium eine sachgemäße, offene Wahrnehmung des anderen als Gegenüber. Durch die Fähigkeit zur Unterscheidung und Selbstauslegung werden theologische Gesprächs- und Konfliktfähigkeit gestärkt, verabsolutierende Strategien der völligen Abgrenzung von dem anderen oder Anpassung an den anderen im Sinne einer Verdrängung des Gegenübers erschwert. Antijüdische oder philojüdische Strategien der Funktionalisierung des Gegenübers werden durch die Fähigkeit zur sachgemäßen Unterscheidung abgewehrt. Auf dem Hintergrund einer rechten Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ist eine Predigtweise als gesetzlich zu bezeichnen, die die Aufgabe der Erinnerung als Konzept zur Selbstbefreiung missversteht. Die Aufgabe, an den Holocaust zu erinnern, gehört zur Aufgabe, das Gesetz zu predigen. Die Predigt des Gesetzes ruft zur Umkehr und führt zum Evangelium. In der homiletischen Praxis einer Predigt des Gesetzes in Form der Erinnerung an den Holocaust stellt sich die Problematik der Monstrosität dieser Erinnerung. So droht in der Predigt einerseits die Überwältigung durch die Bilder des Todes, andererseits eine Verdrängung der Erinnerung durch Ersatznarrative. Hinweise zum Umgang mit der Erinnerung an den Holocaust in der Predigt lassen sich im Anschluss an Luther formulieren. Predigtkunst sollte es sein, ganz und gar nicht mit den Bildern des Todes (und damit mit den Opfern) zu „handeln.“ Für die Predigt könnte das heißen: Um das eigene Stottern wissen, Täter- und Opferperspektive nicht verwechseln, Sprachlosigkeit aushalten. „Den Tod im Leben ansehen“ (Luther) kann darüber hinaus heißen: Die destruktive Macht der Erinnerung brechen und eine Befreiung zum bewahrenden Gedenken ermöglichen. Hierzu gehört die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers, die Beziehung in Verbindendem und Trennendem, die Anerkennung von Grenzen untereinander und die Bezogenheit aufeinander. Hierzu gehören Offenheit, Gesprächsund Konfliktbereitschaft, Dialogeröffnung, Standortwahrnehmung und Bereitschaft zur Unabgeschlossenheit eigener Positionen.
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6. Göttinger Predigtmeditationen – Aufbruch und Erinnerung, Verunsicherung und Offenheit Die Predigtmeditationen während der dritten Phase stehen im Zeichen der konfessorischen Neuorientierung, die vom Synodalbeschluss der Rheinischen Kirche ausgeht. Dabei zeigt sich, dass die Wahrnehmung des Gegenübers Judentum jetzt in homiletischer Perspektive bei der Bestimmung des Selbstverständnisses Eingang findet. Daneben verraten die sehr unterschiedlichen Anlagen der Meditationen die bei Adloff gesehene Ambivalenz im Umgang mit der Thematik: So findet sich auf der einen Seite große Offenheit, andererseits werden Unsicherheit und Ratlosigkeit sichtbar. a) Bestandsaufnahme – Einzelne Predigtmeditationen der Zeit von 1981–2000 Klaus Künkel, 1981/82: Die erste Predigtmeditation der dritten Phase gibt das Bild des Aufbruches Anfang der 1980er Jahre wieder. Künkel stellt seiner Meditation in drei Zitaten den Anspruch des Kasus Israelsonntag, das 320 Programm einer „Theologie nach Auschwitz“ und einen Auszug aus dem Rheinischen Synodalbeschluss voran. Innerhalb der Meditation finden sich viele der bereits behandelten Aspekte wieder. Außerdem wird auf eine Reihe von Autoren Bezug genommen, die zu diesem Zeitpunkt mit der Thematik 321 verbunden sind. Künkel behandelt dabei die Frage, was in christlicher Theologie und christlichem Selbstverständnis legitimer oder illegitimer Antijudaismus bzw. Antisemitismus sein könnte. Dabei lässt er alle Dimensionen dieser Frage zu: „Solche Folgerungen [sc.: exegetischer Natur wie z.B. Erbarmen mit den Juden gibt es nur im Neuen Bund; CS], seien sie nun paulinisch oder schon theologische Konsequenzen aufgrund des Paulus, klingen für jüdische Ohren antisemitisch. Sind sie antisemitisch? Oder nur antijüdisch? Ist es legitim, zu sagen, Antisemitismus lehnen wir ab, das ist christlich verboten, Antijudaismus dagegen, wenn’s doch im Text steht, ist 322 erlaubt, muss sein, [...].“ Die Fragwürdigkeit, die mit dem Attribut antijüdisch/antisemitisch verbunden ist, stellt Künkel dabei in aller Schärfe heraus: „Das heißt auch, eine Rechtfertigungslehre, die antijüdisch ist, weil sie jüdische Religion als Gegentypus zur christlichen Gnadenreligion und Religion sola fide versteht, ist fragwürdig – fragwürdig im Blick auf ihre Impli323 kationen und Auswirkungen in Gesellschaft und Kirche hinein.“ 320 K. KÜNKEL bezieht sich hier auf J.B. METZ: Ökumene nach Auschwitz – Zum Verhängnis von Christen und Juden in Deutschland, 1979; vgl. K. KÜNKEL: GPM 1981/82, 344. 321 Unter anderen: F.-W. MARQUARDT/P. LAPIDE; vgl. die Literaturliste am Ende der Meditation, a.a.O., 357. 322 K. KÜNKEL: GPM 1981/82, 349. 323 Ebd.
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Künkel führt auf diese Weise energisch die Krise christlicher Identität im Blick auf ihre antijüdische Tradition vor. Für ihn ergibt sich aus ihr, dass die zeitbedingten Argumentationen und Urteile des Paulus nicht mehr ausreichen. Er erklärt: „Seine [sc.: Paulus; CS] ‚Lösung‘ ist angesichts des urchristlichen Irrtums, dass Parusie und Vollerlösung nicht eintraten und angesichts dessen, dass unsere Heidenkirche(n) nicht die von Paulus intendierte Endzeitgemeinde aus Juden und Heiden in Christus ist (sind), und angesichts der für Juden so leid- und für uns Christen so schmachvollen Zwischengeschichte nicht schon unsere Lösung für ein zu gewinnendes po324 sitives Verhältnis zwischen uns Christen und den Juden.“ Die paulinischen Überlegungen könnten allenfalls Orientierungshilfen für das sich mit der Perikope stellende Thema der Predigt sein, das da heiße: „Wir Christen 325 und die Juden.“ Es geht demnach um „uns“ im Gegenüber. Im Blick auf die Verhältnisbestimmung zum Judentum favorisiert Künkel dabei selbst eindeutig das Modell des Rheinischen Synodalbeschlusses, das ich als Partizipationsmodell bezeichnet habe. „Durch den Christus Jesus haben wir teil an dem einen Bund, in den Gott uns allein aus Gnaden allein im Glauben an Jesus, unsern Christus-Messias berief. [...] Juden und Christen haben 326 heute auf verschiedene Weise teil am gemeinsamen Bund und Auftrag.“ Wie diese Gedanken in der Predigt umgesetzt werden könnten, das bleibt in der Meditation offen. Die Vermittlung des neuen, krisenbewussten und deshalb offenen Selbstverständnisses erscheint als Lehraufgabe für die Predigt. Ziel ist ein Dialog mit dem Judentum, der schließlich in die Wahrnehmung der Gemeinsamkeiten münden soll. In dieser homiletischkatechetischen Umsetzung der Einsichten des Rheinischen Synodalbeschlusses deutet sich an, wie von diesem Ansatz aus eine Aufhebung der Trennung anvisiert wird. Die Trennung vom Judentum wird als Ursache des Leides und als Grund der gegenwärtigen Krise angesehen. In der Krise wird die Sehnsucht nach dem Urzustand – der der Endzustand sein soll – artikuliert. Antonius H.J. Gunneweg, 1983/84: Die Meditation von Gunneweg ist ein Beleg dafür, wie anders als in der zweiten Phase auch auf theologisch eher konservativer Seite die Thematik vorsichtig aufgenommen wird. So erklärt Gunneweg resümierend zu 2 Kön 25: „Nicht thematisiert wurde bisher das 327 Verhältnis Juden – Christen; es ist ja auch nicht Thema des Textes“, um dann fortzufahren, dass angesichts der exemplarischen Bedeutsamkeit des dargelegten Geschehens in der Predigt klargestellt werde müsse, dass nicht von einem Gericht nur über die Juden und von einem Heil exklusiv für die Christen die Rede sei. Gunneweg merkt zu dieser Klarstellung an: „[...] an324 325 326 327
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A.a.O., 356. Ebd. A.a.O., 356f. A.H.J. GUNNEWEG: GPM 1983/84, 338.
gesichts traditioneller Missverständnisse und Pervertierungen biblischer Wahrheiten schadet es gar nicht, wenn just an diesem Sonntag auch dies 328 einmal ausgesprochen wird.“ Im Blick auf die sich eventuell ergebenden Perspektiven des Textes für die gegenwärtige Staatlichkeit Israels mahnt Gunneweg zur Zurückhaltung auf christlicher Seite. Man möge sich davor hüten, „sich ungebeten als Dia329 logpartner aufzudrängen.“ Diese Art der Selbstbescheidung ist als homiletische Empfehlung neu. Sie zeugt von wachsender Sensibilität wie auch von einer gewissen Verunsicherung, die zur Zurückhaltung anhält. Hinter der Zurückhaltung steht die Wahrnehmung eines gegenwärtigen jüdischen Gegenübers, das nicht in dem historischen Geschehen, das die Perikope schildert, und auch nicht in der Deutung dieser Perikope in christlicher Verkündigung aufgeht. Christian Link, 1984/85: Mit der Meditation von Link zum Israelsonntag 1985 erreicht die zu Beginn der 1980er Jahre einsetzende Erinnerungs- und Gedenkkultur die Predigthilfeliteratur. Hierzu trägt das bereits in der ersten und zweiten Phase beobachtete Zusammenspiel von Predigttext und Wahrnehmung der homiletischen Situation bei (s.o. IV. 3.2). Der zu predigende 330 Text des „Gedenkjahres 1985“ ist die Perikope Lk 19,41–48. Link setzt bei einer unmittelbaren Übertragung des Textes ein: „Er [sc.: Jesus; CS] schaut auf die Trümmer Jerusalems zurück, so wie wir heute – 40 Jahre nach der Kapitulation – auf die Trümmer von Dresden, Berlin oder Essen 331 zurückschauen [...].“ Es gelte, den Text wörtlich zu nehmen, was so viel 332 heiße wie „ihn durch die Trümmer unserer eigenen Geschichte sprechen“ zu lassen. Dabei steht für Link die auch in der lukanischen Perikope enthaltene Frage nach Schuld und Verantwortung für die Zerstörung im Zentrum: „Bringen wir es fertig, Lukas darin zu folgen, dass es zwischen dem țĮȚȡȩȢ (V. 44), der Gelegenheit zu neuem Geschehen, die das Evangelium eröffnet, und dem politischen Schicksal eines (unseres!) Volkes einen Zusammenhang gibt, der sich nicht nur angesichts der historischen, sondern gleichermaßen angesichts der (in unserer eigenen Gegenwart vorbereiteten) 333 zukünftigen Trümmer eindeutig als Schuldzusammenhang erweist?“ Wie bereits in den Klammern angedeutet, überträgt Link die Antwort auf diese Frage auf die deutsche Geschichte: „Dann müssten Jesu Tränen über Jerusalem von der Gemeinde mit dem Bekenntnis beantwortet werden, ‚dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt 334 und nicht brennender geliebt haben‘ [...].“ Diese Aufnahme des Stuttgar328 329 330 331 332 333 334
Ebd. Ebd. C. LINK: GPM 1984/85, 382. A.a.O., 375. A.a.O., 382. A.a.O., 376. Ebd.
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ter Schuldbekenntnisses will Link nicht allein im Bezug auf die Vergangenheit verstanden wissen, sondern ebenso als Ermutigung, „mit der prophetischen Kraft des lukanischen Jesus auf die ungleich größeren Schrecken eines 335 künftigen Weltkrieges vorauszublicken.“ Von hier aus kommt das Ziel seiner Auslegung in den Blick: Die Kirche soll an ihre Aufgabe und an ihre Verantwortung für den Frieden gemahnt werden. Dass sie dieser Aufgabe bisher nicht ausreichend nachgekommen sei, daran erinnern die Trümmer der deutschen Vergangenheit. Die Auslegung Links nimmt beispielhaft die in der Erinnerungskultur der 1980er Jahre thematisierte Aufgabe des Lernens aus der Geschichte auf. Obwohl sich mit Bezug auf Lk 19 eine unmittelbare Übertragung auf die Problematik von Juden und Christen zu verbieten scheint, weil eine Umkehrung der geschichtlichen Verhältnisse stattgefunden hat, sei – gerade wegen dieser Umkehrung – eine derartige Anknüpfung lehrreich: „Es gibt nicht nur eine Blindheit der Juden gegenüber Christus, es gibt auch eine Blindheit der Christen gegenüber den Juden. Ob und wie wir dieser Blindheit begegnen: Daran entscheidet sich, ob wir ‚heute‘ (V. 42) – vierzig Jahre ‚danach‘ – begriffen haben, was zu unserm Frieden dient. Wir Deutsche 336 können ihn nicht ohne die Juden haben“, so Link mit Verweis auf die Handreichung der Rheinischen Synode. Die Problematik der Verhältnisbestimmung gegenüber dem Judentum verblasst in der Meditation hinter den politischen und gesellschaftlichen Aspekten. Deutlich wird, dass es aber auch bei der politisch-ethischen Einführung der Erinnerungsthematik um die Frage christlichen Selbstverständnisses und christlicher Identität im Gegenüber zum Judentum geht. Hans-Joachim Kraus, 1985/86: Die Predigtmeditation von Kraus zu Röm 11,25–32 stellt sich der Thematik „ ‚Israel und die Kirche‘ (mit allen Impli337 kationen des Verhältnisses der Ekklesia zur Synagoge).“ Kraus steckt zu Beginn den hermeneutischen Rahmen ab, in dem die Auslegung zu stehen habe. Im Kern gehe es um das Verhältnis der apostolischen Rechtfertigungslehre zur Erwählung Israels. Im Rahmen der Rechtfertigungslehre sei Israel gerade nicht als „Typus des in Unglauben und Nomismus“ Gefangenen zu begreifen. Vielmehr sei die Erwählung Israels das übergeordnete Moment, „in und mit welcher Gottes freie Gnade in die Geschichte der Völ338 kerwelt eintritt.“ Im Hintergrund steht ein Verständnis von Röm 9–11, das die Rechtfertigungslehre im Rahmen des Partizipationsmodells begreift. So verweist Kraus an diesem Punkt auf den Rheinischen Synodalbeschluss und zitiert Kernsätze aus der Theologie Klapperts: „Die Erwählung Israels und die Verheißung Gottes für Israel ist Israels Stellung zum Evangelium 335 336 337 338
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Ebd. A.a.O., 378. H.J. KRAUS: GPM 1985/86, 386. Ebd.
übergeordnet. Deshalb ist Israels Erwählung keine Projektion der allgemeinen Rechtfertigung auf Israel, sondern die Rechtfertigung des Gottlosen a) die Bedingung der Möglichkeit, auch die Völkerwelt in die Erwählungsgeschichte Israels einzubeziehen, und sie ist b) die Weise, wie sich die Erwählung Israels gegenüber der ‚Verstockung‘ Israels in der Gestalt der Rechtfertigung und des Erbarmens durchsetzt und also beide, Israel und die Völkerwelt, nicht unter das Allgemeine der Rechtfertigung sondern unter das Besondere 339 des Bundes des Gottes Israels zusammenschließt (B. Klappert).“ Im Zusammenhang dieser Verhältnisbestimmung entfalte sich eine ideologiekritische und kirchenkritische Intention des Textes, die es zu predigen gelte. Kein Mensch sei dazu ermächtigt, Israel zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn Heiden die Barmherzigkeit Gottes priesen, dann so, dass sie „die freie Erwählungsgnade, die Israel zuerst widerfuhr und die ihnen [sc.: den Heiden; CS] 340 durch Israel zuteil wurde“, preisen. Antijudaismus, aber auch Desinteresse an Israel schließen sich bei diesem Ansatz aus, denn: „Die Kirche lebt von dem göttlichen Erbarmen, das mit der Erwählung Israels in die Völkerwelt eintrat. Die Verkündigung dieses Erbarmens ist von Israel und vom Judentum unablösbar und darum auch stets auf das Alte Testament, auf die Verhei341 ßungsgeschichte bezogen.“ Die Predigtmeditation von Kraus bezieht den theologischen Erkenntnisgewinn aus der Diskussion um die Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel ein. Die Andeutung von Umsetzungs- und Vermittlungsmöglichkeiten im konkreten homiletische Geschehen oder eine existentielle Bezugnahme vom Standpunkt der Gemeinde treten hinter der Bemühung um ein systematisches Erfassen der Fragestellungen zurück. Christoph Hinz, 1986/87: Die Meditation von Hinz gehört zu den wenigen, die sich trotz des weniger zur Thematik fügenden Textes Joh 2,13–22 der Problematik des Verhältnisses von Christen und Juden stellt. Der Vorrang, der dem Kasus Israelsonntag bei Hinz zukommt, drückt sich bereits in der ersten Überschrift aus: „1. Das ‚Thema‘ des 10. Sonntags nach Trinitatis ist 342 das Gedenken an die Zerstörung Jerusalems 70 n.Chr.“ Hinz stellt zu Beginn die Geschichte der Thematik in homiletischer Perspektive dar und erwähnt unter anderem die Predigtmeditationen aus den 1960er Jahren von Steck, Haar und Gollwitzer. Gollwitzers homiletisches Kriterium für die Predigt gibt er unkommentiert wieder. Schließlich führt er das Gegenüber 343 Israel als „neben uns“ stehend ein. Dieses Gegenüber gewinnt bei ihm durch die Dokumentation rabbinischer und liturgischer Traditionen zum 9. Aw sowie durch eine assoziative Beleuchtung der Situation des gegenwärtigen, politisch-staatlichen Israel Gestalt. Hinz’ Exegese stellt sich der Frage 339 340 341 342 343
Ebd. A.a.O., 391. Ebd. C. HINZ: GPM 1986/87, 339. A.a.O., 340.
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der Stellung der Juden im Johannesevangelium. Sie mündet in die Wahrnehmung einer heute im Gegensatz zur Zeit des Evangelisten veränderten Beziehung von Judentum und Christentum: „Wir dürfen erleben, dass Einstellungen von Juden zu Jesus uns heute anders begegnen als im Joh beschrieben, auch wenn sie Juden bleiben, von Franz Rosenzweig bis zu David Flusser [...], Pinchas Lapide u.a.. Die Veränderungen aber kommen nicht 344 ohne neue Erfahrungen mit Christen.“ Deshalb gelte es, dem johanneischen Jesus aus Joh 4 gleich, das „Glaubensgespräch über den Vater mit seinen jüdischen Brüdern offen“ zu halten. Hinz beschäftigt die Frage, wie sich die schwierige Problematik der neuen Verhältnisbestimmung der Christen gegenüber den Juden homiletisch vermitteln lässt. Dabei merkt er an, dass der Text Joh 2,13–22 hierzu schwerlich geeignet ist, „da sich unsere Beziehung zu den Juden gegenüber 345 der der joh. Gemeinden am Ende des 1. Jh.s grundlegend verändert hat.“ Diese Veränderung, mitbegründet in einer Veränderung der geschichtlichen Umstände, sei in der Predigt zunächst zu explizieren und nicht zu überspringen. Daneben formuliert Hinz eine auf den Text hin modifizierte Form des Kriteriums „Predigen in Israels Gegenwart“: „Denkt die Predigt über Jesu Zeugnis vom Vater daran, dass die Brüder und Schwestern der Synagoge – abwesend/anwesend – sie mithören, werden wir Jesu ‚Vaters Haus‘ (2,16) und seinen Weg zum Vater (14,6) nicht einfach als Glaubens346 besitz auf unserer Seite wissen können.“ Das Kriterium der EKD-Studie Christen und Juden II „Predigen in Israels Gegenwart“ wird darauf hin ausgelegt, das Gegenüber Judentum wahrzunehmen und diese Wahrnehmung in ihrer konstitutiven Bedeutung zu erkennen. Ich halte das im Blick auf die angesprochenen Schwierigkeiten der Konzeption für eine sinnvolle Fortschreibung des Kriteriums. Dass die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers nicht nur stabilisierend, sondern auch verunsichernd wirken kann, macht Hinz an einer eigenen Erfahrung mit einem rabbinischen Gesprächspartner deutlich: „In einem sich sehr weit öffnenden Gespräch sagte der jüdisch-rabbinische Gesprächspartner plötzlich: ‚Ich weiß gar nicht, ob wir denselben ‚Gott‘ meinen, wenn wir zusammen beten ...‘ – Große Betroffenheit blieb im Raum und die Ahnung, auf diesen Zweifel antwortet kein Argument mehr, nur ein im gewagten Vollzug wachsendes Vertrau347 en.“ Offenheit und Verunsicherung gehören, das zeigt sich in dieser Meditation, bei der Wahrnehmung eines jüdischen Gegenübers zusammen. Die Frage nach einer möglichen Gemeinschaft wird deshalb vorsichtiger gestellt als in den vorangegangen Meditationen. Die Aufmerksamkeit für das jüdische Gegenüber und dessen Eigenheit verhindert eine leichthin anvisierte 344 345 346 347
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A.a.O., 343f. A.a.O., 345f. A.a.O., 346. Ebd.
Aufhebung der Trennung mit dem Ziel neuer Gemeinschaft. Hinz: „Darüber weckt Jesu Zeugnis vom Vater heute unter uns eine Aufmerksamkeit auf den Glaubensweg jüdischer Brüder und Schwestern, die wir bislang so nicht besaßen. Wird Er uns – den im Glauben Getrennten und oft im Verstehen Blockierten – einmal den Vater gemeinsam zeigen, in der Erwar348 tungsdimension von Röm 11?“ Schwierigkeit und Offenheit der Thematik werden hier im Blick auf den homiletischen Prozess beschrieben. Die Offenheit wird in den Predigtprozess einbezogen, indem ein sachkritischhomiletischer Umgang mit dem Text, die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers und die Bedeutung dieser Wahrnehmung artikuliert werden (s. auch u. Exkurs II). Ekkehard W. Stegemann, 1987/88: Stegemann setzt sich in seiner Meditation zu Röm 9,1–4.31–10,4 im ersten Abschnitt mit dem Kasus Israelsonntag und seiner Tradition auseinander. Ähnlich wie 1985 erscheint auch 1988 als Gedenkjahr, weil sowohl das vierzigjährige Bestehen des Staates Israel gefeiert als auch der 50. Jahrestag der Reichspogromnacht in diesem Jahr erinnert werden. Das eine Ereignis rückt für Stegemann die Wahr349 nehmung des „gegenwärtig unter uns lebenden jüdischen Volkes“ in den Vordergrund, vor dem sich eine Predigt zum Thema Israel zu verantworten habe. Das andere Datum erinnere daran, „dass unser gottesdienstliches Tun an diesem Israelsonntag in einem sehr bestimmten Kontext geschieht. An dessen Zustandekommen haben nicht zuletzt die christliche Predigt über die Juden und ihr entsprechende Taten – das heißt: Untaten – mitge350 wirkt.“ Stegemanns Konsequenz hieraus lautet, dass der Israelsonntag nicht mehr in traditioneller Weise – „d.h. im Gedenken insbesondere der 351 Katastrophe des Jahres 70 n.Chr. als des Gerichtes Gottes über Israel“ – zu begehen sei. Eine derartige geschichtstheologische Deutung des jüdischen Schicksals sei zum Bestandteil der christlichen Judenfeindschaft geworden und damit eine Ursache für die Verfolgung der Juden. Die Meditation Stegemanns verfolgt daher eine Revision des Verständnisses vom Israelsonntag. Das wird zum einen in der Exegese deutlich, in der Stegemann Röm 10,4, gewöhnlich mit „Christus ist das Ende des Gesetzes“ übersetzt und gedeutet, folgendermaßen auslegt: „Das Ziel nämlich der Tora 352 ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt.“ Im Hintergrund steht dabei eine modifizierte Form des Partizipationsmodells. Christus sei wie die Tora ein Zugang zu der Gerechtigkeit, „die ewiges Leben vermittelt“. Durch Christus sei so Zugang zu der Israel bereits in der Erwählung zuteil gewordenen Rechtfertigung möglich, ohne dass diese vormalige Erwählung aufgehoben würde. Zum anderen wird die Revision des Israelsonntags in 348 349 350 351 352
Ebd. E.W. STEGEMANN: GPM 1987/88, 347. Ebd. Ebd. A.a.O.,352.
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den zahlreichen liturgischen Hinweisen deutlich, die Stegemann für den Gottesdienst gibt. So warnt er vor einem „unreflektierten Gebrauch“ von Ps 74. Dieser sei zwar einerseits geeignet, die Verbrechen „des Novemberpogroms in biblischer Dimension sehen zu lehren“, könne aber andererseits „wie eine Enteignung der Opfer wirken“. Denn: „Allein beten kann ihn ja 353 doch eigentlich nur das jüdische Volk selbst.“ Hier ist Verunsicherung, auch Vorsicht zu spüren. Die Thematik rührt im Blick auf die christliche Identität an Selbstverständlichkeiten wie z.B. das Beten der Psalmen im Gottesdienst. Mit aller Vorsicht erklärt Stegemann: „Jedenfalls würde ich, bevor ich ihn [sc.: Psalm 74; CS] betete, ein solches mögliches Missver354 ständnis ansprechen.“ Die Verunsicherung führt dazu, (kognitive) Einordnungen und Belehrungen einem problematisch gewordenen liturgischen Verhalten voranstellen zu wollen. Dieser Ansatz des Umgangs mit der Problematik findet sich auch in der EKD-Studie Christen und Juden III wie355 der. Die Wirkung der hier vorgeschlagenen aufklärenden Präfamina steht 356 allerdings in Frage. Der Vorschlag, den Gottesdienst im Blick auf die Thematik im Vollzug zu kommentieren, kann als Symptom einer in die Krise geratenen christlichen Identität begriffen werden. Die Krise zu überwinden vermag der Vorschlag nicht. Johannes H. Friedrich, 1988/89: Mit der Wahrnehmung des Gegenübers Judentum nimmt das Bewusstsein dafür zu, dass innerjüdische Auslegung ihren Eigenwert hat und nicht in jedem Fall zur christlichen Übernahme geeignet ist. Damit wird die Einsicht Raus aufgenommen, dass gerade bei alttestamentlichen Texten der Gehalt in seiner ursprünglichen Intention bisweilen unvermittelt zu bleiben hat. Unter diesem Blickwinkel lese ich die Meditation des damaligen Propstes von Jerusalem Friedrich mit seiner Auslegung von Jer 7: „ [...] in der Predigt aber sollte die Zerstörung Jerusalems bzw. des Tempels nur soweit thematisiert werden, als ein jüdischer Prediger (Jeremia oder Deuteronomist) diese Zerstörung als ein Strafgericht Gottes versteht, das das Volk Gottes damals warnen und zur Umkehr aufrufen 357 wollte.“ In einer gewissen Selbstbezogenheit erklärt Friedrich: „Für uns mitteleuropäische Christen des Jahres 1989 ist die Frage unwichtig, ob Jerusalem, ob das Volk Israel diese Zerstörung verdient hatte und ob die historisch verifizierbare Zerstörung tatsächlich eine Strafe Gottes war. Wichtig ist für uns dagegen: Was will der Text uns Christen heute sagen? Was kann uns der jüdische Prediger dabei helfen, dass wir Gottes Willen über uns besser verstehen? Die ‚prophetische Israelkritik (kann) nur als Kirchenkritik 358 heute entfaltet werden‘ (Stöhr).“ 353 354 355 356 357 358
300
A.a.O., 353. Ebd. Christen und Juden III, 91f. Vgl. F. STEFFENSKY: Authentizität, 111. J.H. FRIEDRICH: GPM 1988/89, 318. Ebd.
Wie verschieden eine erste Wahrnehmung des Textes auf Grund unterschiedlicher Rezeptionskontexte sein kann, zeigt Friedrich anschaulich, indem er einen Palästinenser, einen Holländer und einen Deutschen vorab zu Wort kommen lässt. In dieser Einbeziehung der homiletisch-hermeneutischen Dialektik von Text und Situation zeigt sich eine Tendenz zur Auflösung fester thematischer Vorgaben. Friedrich, der sich als Propst von Jerusalem der Aufgabe der Wahrnehmung des Judentums in besonderem Maße bewusst ist, rät von einer Kasus-Predigt zu diesem Text am 10. Sonntag nach Trinitatis ab. Das Problem sieht er darin, dass stets die Gefahr bestehe, „das heutige Handeln Israels [...] einzubeziehen. Und das wäre gefährlich, weil dem Text nicht angemessen: Er soll seinen jeweiligen Hörer treffen, und nicht den Ausweg eröffnen, über Fehlverhalten anderer nachzuden359 ken.“ In diesen Worten wird deutlich, dass bei Friedrich das gegenwärtige Israel aus einer anderen Perspektive wahrgenommen wird als in den bisherigen Meditationen. Für Friedrich ist das gegenwärtige Gegenüber das in den politischen Konflikt mit den Palästinensern verstrickte Israel. Auf diesem Hintergrund nimmt er es einerseits als selbstverständliches und selbstbewusstes Gegenüber wahr, andererseits ist diese Wahrnehmung von negativen Erfahrungen bestimmt. So ist es zu erklären, dass ausgerechnet ein in Jerusalem lebender Ausleger die Stimmen eines Palästinensers, eines Holländers und eines Deutschen, nicht aber die eines Israelis/bzw. eines Juden notiert. Stärker als anderen Auslegern wird Friedrich auf dem Hintergrund einer selbstverständlichen Wahrnehmung jüdischer Gegenwart wichtig, dass christliches Predigen „Predigen in Gegenwart von Christen“ ist. Für Friedrich scheint dabei mehr die falsche Vermischung von christlicher und jüdischer Identität als eine überzogene Trennung das Problem zu sein. Die Meditation von Friedrich zeigt zweierlei: Zum einen wird im Angesicht der Selbstverständlichkeit gegenwärtigen, jüdischen Gegenübers die Frage des christlichen Verhältnisses zum Judentum neu gestellt. Aus der Frage nach der gemeinschaftlichen Beziehung wird die Frage nach der angemessenen Bezugnahme, die in Verbindung und Unterscheidung Gestalt gewinnt. Predigen in Israels Gegenwart auf diesem Hintergrund ernst zu nehmen heißt, dass Predigen – auch in Israels Gegenwart – ein Predigen für Christen bleibt. Dass damit der Eigenwert jüdischer Auslegung und Glaubenspraxis nicht in Frage gestellt wird, zeigt sich in der Einsicht, dass der auszulegende alttestamentliche Text einen unvermittelbaren Charakter und Anteil innerhalb der jüdischen Tradition behält. Zur Wahrnehmung eines selbständigen Gegenüber gehört die Anerkennung, dass nicht jedem alles zu 360 allen Zeiten übersetzt werden kann. 359 A.a.O., 319. 360 Vgl. E.W. STEGEMANN in seiner Meditation zu Lukas 19 aus dem Jahre 1990/91: GPM 1990/91, 328: „Die lukanische Geschichtstheologie ist für uns nicht nur aufgrund ihres inhumanen und überheblichen antijüdischen Gebrauchs problematisch geworden. [...] Insbesondere wird dieses Problem heute diskutiert im Zusammenhang geschichtstheologischer Deutungsversuche der Shoah. Schon die innerjüdische Debatte
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Zugleich mahnt die Meditation Friedrichs, dass die eigene Standortbestimmung im Gegenüber zum Judentum nicht zu einer neuen Israelvergessenheit führen darf. Zwar will Friedrich mit seiner Abwehr einer Kasuspredigt Israel vor einer Identifizierung mit einer theologischen Größe einerseits und vor einem negativen Erscheinungsbild im israelisch-palästinensischem Konflikt andererseits schützen und somit antijüdische Reaktionen verhindern. Diese Abwehr führt allerdings zu einer sonderbaren, das jüdische Gegenüber im Blick auf den homiletischen Prozess ausblendenden Wahrnehmung, wie es seine Auswahl der „Mithörer“ des Textes zeigt. So wird aus der Wahrnehmung des Gegenübers heraus zwar zu Recht der christliche Standort betont. Dabei wird allerdings eine Trennung gegenüber dem Judentum vollzogen, die zumindest problematisch, wenn nicht unsachgemäß erscheint. Die 1990er Jahre: Die Meditationen der 1990er Jahre führen über die Aspekte und Erkenntnisse der 1980er Jahre nur an einzelnen Stellen hinaus. Werner Lauff betont 1993 das Offenhalten der Problematik, wie es besonders bei Adloff anzutreffen war: „Gott nicht ins Wort zu fallen und alles besser wissen zu wollen, sondern im Eifer für ihn sein Wort gelten zu lassen, wird sich gerade auch am Verhalten Israel gegenüber erweisen müs361 sen.“ Rainer Stahl greift 1994 an Hand von Jer 7 die Frage nach den zu vermittelnden und den nicht zu vermittelnden Aspekten des Textes in der Auslegung auf: „Es gibt Aussagen der religiösen Tradition Israels, die von Christen nicht rezipiert werden können (z.B. Landverheißung). [...] Es gibt Aussagen der religiösen Tradition Israels, die von Christen anders rezipiert werden müssen, als von den jüdischen Partnern, ohne dass die Berechtigung der jüdischen Rezeption verneint werden kann (z.B. Fragen des Tempels, des 362 heiligen Ortes).“ Er stellt deshalb in den Mittelpunkt die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in Form eines Nachdenkens über das Verhältnis zur konkreten, der christlichen Gemeinde benachbarten Synagoge. Dass solche Beziehungsaufnahme nicht ohne ein Erinnern der schuldbehafteten Geschichte möglich ist, sei dabei selbstverständlich. Für Stahl legt sich auf diesem Hintergrund „der Besuch an der Gedenkstätte für die 1938 niedergebrannte benachbarte Synagoge, aber auch der in der nächsten gottes363 dienstlich genutzten Synagoge, oder der auf einem jüdischen Friedhof“ im Anschluss an den Gottesdienst am Israelsonntag nahe. Eine gewisse Verunsicherung im Zusammenhang des Themas schlägt sich bei ihm in etlichen „Tipps“ nieder. Vorsicht sei angebracht, wie Stahl ausdrücklich vermerkt: „Weil wir Jer 7 am Israel-Sonntag zu predigen haben, empfiehlt sich darüber zeigt im übrigen, dass jedenfalls die überkommenen Kategorien angesichts der zu deutenden Ereignisse schon insofern versagen, als sich ihr Geltungsanspruch kaum je über einen kleinen Kreis Gleichgesinnter hinaus vermitteln lässt.“ 361 W. LAUFF: GPM 1993/94, 323. 362 R. STAHL: GPM 1994/95, 328f. 363 A.a.O., 329.
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eine sehr genaue Vorbereitung des Gottesdienstes, denn antijudaistische 364 Gefahren lauern an vielen Stellen.“ Michael Weinrich nimmt 1996 die Erinnerungsthematik wieder auf, wobei er hilfreiche Distinktionen aus der Holocaustforschung aufgreift. Es gelte, die christliche und die jüdische Form des Erinnerns zu unterscheiden, um so den Versuchungen einer falschen Geschichtstheologie zu entkommen. Zum rechten Unterscheiden und damit Vermeiden falscher Übertragungen gehöre es, nicht durch geschichtstheologische Annäherungen letztlich unsachgemäße Verallgemeinerungen vorzunehmen. Es bleibe zu fragen, „ob Jerusalem sich einfach so austauschen lässt. Jerusalem ist nicht Tschernobyl, und doch geht es alle an, aber eben als Jerusalem und nicht, weil es 365 überall ist.“ Das Besondere der Thematik dürfe nicht aus dem Blick verloren werden, auch nicht in der homiletischen Anwendung. Hiervor bewahre ein richtiges – Weinrich nennt es ein „erwachsenes“ – Gedenken, wie es Israel vormache: „Und so gilt es auch für die christliche Predigt, Anschluss an den 9. Aw in der oben angedeuteten Richtung zu suchen, nicht weil es sonst nichts zu beklagen gäbe, sondern weil er uns daran erinnert, wie schnell geschichtstheologische Verallgemeinerungen das Besondere aus dem Blick verlieren, dem Lukas die Tränen Jesu gewidmet hat. Für die mit dem Schritt vom Besonderen zum Allgemeinen einhergehende Verrohung der 366 Christenheit legt das Gedenken am 9. Aw ein schreiendes Zeugnis ab.“ Ruthild Depke erinnert 1997 an die „Synodalbeschlüsse[n] in vielen Landeskirchen zur ‚Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Ju367 den‘ “ und an die Frage des christlichen Selbstverständnisses im Gegenüber zu Israel. Dieses Selbstverständnis müsse darauf angelegt sein, Israel nicht mehr für sich selbst zu instrumentalisieren. Depke betont hierfür die Verbindung mit Israel und verknüpft den christlichen Identitätsgewinn nahezu ausschließlich mit einem „mit“ von Christen mit Juden. Die simplifizierende Version des Partizipationsmodells lässt dabei zurückfragen, ob nicht so ebenfalls unzulässige Instrumentalisierungen des Gegenübers vorgenommen werden. Walter Schmithals formuliert in seiner Meditation für den Israelsonntag 2000 differenzierende Worte im Blick auf das jüdische Gegenüber. So konzediert Schmithals, man solle von Judenmission „nur mit Vorbehalt und nur dort sprechen, wo der Jude vom Glauben der Väter abgefallen ist und sich nur noch durch Geburt oder Geschichte als Jude weiß. Den frommen Israeliten dagegen kann, wenn Paulus im Recht ist, die christliche Botschaft nur zu dem hinführen, was seine eigene Glaubensüberlieferung inten368 diert.“ Auch wenn Schmithals mit dem Wort „intendiert“ hier einen letzten Spalt zur klassischen Lehre der Judenmission offenlässt, dürfte seine 364 365 366 367 368
A.a.O., 330. M. WEINRICH: GPM 1996/97, 349. A.a.O., 349. R. DEPKE: GPM 1997/98, 384. W. SCHMITHALS: GPM 1999/2000, 363f.
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Wahrnehmung des Juden Paulus und des gegenwärtigen jüdischen Gegenübers eher dazu führen, auf Judenmission praktisch zu verzichten. In seinen Ausführungen zeigt sich, dass die früher so strittige Frage der Judenmission stark an Gewicht verloren hat. Die Parameter Dialog und Position haben sich – bei zunehmender Komplexität und damit einhergehender Unsicherheit – hin zu einem selbstverständlichen Ansatz von christlichmissionarischer Existenz, wie ihn Adloff propagiert, verschoben: „So könnte auch für uns ‚Heidenchristen‘ der beste und jedenfalls ein allezeit möglicher Ansatz zur ‚Judenmission‘ darin bestehen, in Überzeugung und Toleranz, in 369 Liebe und Glaube beispielgebende Christen zu sein.“ Hierin besteht, wie Adloff und Lenhardt sagen, der christliche Auftrag, hierin gründet zugleich die Unmöglichkeit einer Mission im klassischen Sinne. b) Auswertung Von den 19 ausgewerteten Predigtmeditationen zwischen 1981 und 2000 beschäftigen sich 15 mit dem Kasus. Nur vier Meditationen nehmen keinen Bezug auf das Proprium des Sonntags. Von den 15 wiederum sind 12 Beiträge in Gänze der Thematik Juden und Christen gewidmet. Kritische Stimmen sind, anders als in der zweiten Phase, nur indirekt zu verneh370 men. Die Frage nach dem Verhältnis zum Judentum gehört zur bestimmenden Hermeneutik bei der Auslegung der Predigttexte am 10. Sonntag nach Trinitatis. Anders als noch in den Jahrzehnten vorher scheint dieser Eindruck als repräsentativ gelten zu können, da nicht nur einige wenige Ausleger die Meditationen zum 10. Sonntag nach Trinitatis verfasst ha371 ben. Die einsetzende Gedenkkultur am Anfang der 1980er Jahre findet ihren Niederschlag auch in diesem Bereich der Homiletik. Neben einer Aufarbeitung der theologischen Vergangenheit unter dem Stichwort Antijudaismus geht es dabei vermehrt um eine Reflexion der Größen Geschichte, Erinnerung, Theologie und Judentum in einem allgemeineren Sinne. Dabei setzt sich mehrheitlich eine vereinfachende Anwendung des Modells „Erinnern, um aus der Geschichte zu lernen“ durch. Komplexere Überlegungen im Sinne der in dieser Arbeit dargelegten Erkenntnisse der Holocaustforschung und Überlegungen zu den Schwierigkeiten dieser Erinnerung klingen lediglich bei Weinrich an. Bei der Umsetzung der inzwischen zum Konsens gewordenen Forderung, nicht antijüdisch zu predigen, findet vor allem das Teilhabe-Modell des Rheinischen Synodalbeschlusses Aufnahme in die Predigtmeditationen. Das dürfte sowohl mit der Eingängigkeit und Vermittelbarkeit des Modells zu tun haben, das sich auf einprägsame Formulierungen reduzieren lässt, als auch auf eine vermeintliche 369 A.a.O., 364. Vgl. auch C. HINZ oben. 370 So z.B. E. KOCH: GPM 1991/1992, 334ff. 371 Lediglich E.W. Stegemann hat in diesem Zeitraum zweimal, 1987 und 1990, eine Meditation verfasst.
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Lösung der Identitätskrise durch ein einfaches Beziehungspostulat zurückzuführen sein. In dieser Hinsicht hat der Rheinische Synodalbeschluss offensichtlich weitaus größere Bedeutung für die homiletische Praxis gewonnen als beispielsweise die drei EKD-Studien zum Verhältnis Christen und Juden, die in ihren Differenzierungen nicht so eingängige Formeln anbieten. Die Konzeption „Predigen in Israels Gegenwart“ und die Vermeidung von Antijudaismus in Gestalt von Instrumentalisierung und Funktionalisierung des Gegenübers werden in den Predigtmeditationen selten explizit angesprochen. Im Blick auf die Funktionalisierung ergibt sich zudem aus der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers heraus eine neue Problemlage. Je mehr es im Verhältnis zum Judentum um die Frage christlicher Identität geht, desto mehr besteht die Gefahr, das jüdische Gegenüber allein aus diesem Blickwinkel zu sehen. Schließlich ist eine nachdrückliche Verunsicherung festzustellen. Der Vorsatz, bestimmte Fragen in der christlichjüdischen Verhältnisbestimmung offen halten zu wollen, wird bisweilen von einer gewissen Hilflosigkeit im Blick auf den homiletischen und liturgischen Umgang mit dieser Offenheit begleitet. So ist anders als für die beiden ersten Phasen, in denen die Predigtmeditationen einen innovativen und kritischen Vorgriff auf die theoretischen Modelle darstellen und in der Umsetzung des homiletischen Lernprozesses ihrer Zeit oft voraus sind, in der dritten Phase ein solcher Zusammenhang nicht zu erkennen. Eher scheint es so, dass die verschiedenen Ansätze der Verarbeitung der Thematik in homiletischen Entwürfen nicht wahrgenommen werden. Die Vorschläge von Adloff, Denecke, Rau oder Bloth werden an keiner Stelle erwähnt. Der in diesen Entwürfen sich andeutende homiletische Lernprozess ist im Bereich der praktischen Homiletik noch nicht nachvollzogen. Grund hierfür könnte eine Vielstimmigkeit und Komplexität der Problematik sein, die zu Verunsicherung und Vorsicht bei der Einbeziehung der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers führen. Exkurs II: Die EPM und die Entwicklung in der ehemaligen DDR Nur einige Anmerkungen seien hier zu den „Evangelischen Predigtmeditationen“ zwischen 1972 und 1991 gemacht. Mit ihnen soll andeutungsweise die Entwicklung im betrachteten Zeitraum in der ehemaligen DDR in den Blick genommen werden. Eine ausführlichere Auseinandersetzung wäre 372 lohnend, kann an dieser Stelle aber nicht geleistet werden. 372 Sie findet ansatzweise bei Irena Ostmeyer statt, die im Rahmen ihrer Untersuchung zur Evangelischen Kirche und Juden in SBZ und DDR zwischen 1945 und 1990 explizit auch den Wandel der kirchlichen Verkündigung bedenkt; vgl. I. OSTMEYER: Schuld, 136–144: „Zum Wandel der kirchlichen Verkündigung (Predigt) 1945–1990“ Vgl. auch Quellenverzeichnis und umfassende Literaturliste zur Thematik bei Ostmeyer.
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Zum Bestand: Sechs Meditationen (Reventlow 1974/75, Scheidacker 1976/77, Dantine 1978/79, Demke 1980/81, Gunneweg 1983/84, Hinz 1986/87 – s.o. IV. 2.4 bzw. V. 6) sind mit denen der GPM aus dieser Zeit identisch und gehören 373 zu jenen, die – entsprechend den Überlegungen der Herausgeber von 1972 – zwischen GPM und EPM ausgetauscht wurden. Unter ihnen befindet sich auch die eindrückliche Predigtmeditation des Magdeburgers Christoph Hinz aus dem Jahre 1987 (s.o. V. 6). Von den übrigen beschäftigen sich in den 1970er Jahren wenige (vor allem Pahnke 1976 und Bassarak 1980), ab 1986 allerdings sämtliche Beiträge intensiv mit dem gegenwärtigen Verhältnis von Juden und Christen. Sucht man hierfür nach Gründen, so fällt zum einen auf, dass auch in Zeitschriften wie z.B. den einflussreichen „Zeichen der Zeit“ das Thema Judentum aus po374 litischen Gründen Anfang der 1970er Jahre verdrängt war, zum anderen, dass es durch die Gedenkjahre 1978 und 1988 zu einer intensiven Wahrnehmung des 375 Judentums kam.
Inhaltliche Beobachtungen: Es fällt auf, dass in den Meditationen, die sich dem Verhältnis Kirche und Judentum stellen, häufig der Nahostkonflikt als gegenwärtiger Anknüpfungspunkt der Predigthörer eingeschätzt und diskutiert wird. So erklärt beispielsweise Rudi Pahnke in seiner wiederholt zitier376 ten Meditation: „Weder mit theologischen Erwägungen noch mit historischen Reminiszenzen ist Israels Politik in der Gegenwart zu sanktionieren, für unantastbar zu erklären, wenn wir auch von Paulus und der schrecklichschuldbeladenen Vergangenheit her werden sorgsam urteilen müssen. Ohne Frage: Das Volk, dem das Leben genommen werden sollte, hat auf jeden Fall Anspruch auf den Raum zum Leben – wie die Palästinenser. Das ist auf 377 keinen Fall zionistisch begründbar.“ Neben diesem, immer wieder aus 378 theologischer Perspektive bedachten politischen Akzent sticht ins Auge, dass das Partizipationsmodell in seiner simplifizierenden Rezeption in den 379 Meditationen gänzlich fehlt. Deutlich und mit Nachdruck wird seit Mitte der 1980er Jahre statt dessen auf Nähe und Distanz, Kontinuität und Diskontinuität, Gemeinsames und Trennendes zwischen Christentum und
373 Vgl. B. WEYEL: Ostern, 179. 374 Vgl. I. OSTMEYER: Schuld, 105. 375 Vgl. I. OSTMEYER: Schuld, 299ff. Vgl. auch C. HINZ: Entdeckung, 15; vgl. W. SCHEIDACKER: Jüdisch-christliches Gespräch, 282f; vgl. eindrücklich auch G. BAUMBACH: Erneuerung, 194ff. 376 Vgl. G. BASSARAK: EPM 1979/80, 249. 377 R. PAHNKE: EPM 1975/76, 283; vgl. K.-H. BERNHARDT: EPM 1985/86, 235; 378 Vgl. G. BASSARAK: EPM, 1979/80, 252: „Macht nicht der moderne Staat Israel, dem man unbedingt das Recht zugestehen muss, das zerstreute, gequälte, misshandelte, verfolgte Volk der Juden in geschützten Grenzen zu sammeln, sich mit seinem Anspruch (...), das Reich Davids wieder aufzurichten, bei den Methoden, die es anwendet, sich selber und die Geschichte des jüdischen Leidens fragwürdig?“ 379 Der Synodalbeschluss der EKiR findet in den eingesehenen Predigtmeditationen keine nennenswerte Erwähnung.
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Judentum hingewiesen. So betont Karl-Heinz Bernhardt, Mitherausgeber der EPM, 1986: „Es geht ja nicht lediglich um das Auswechseln von unbewusst antisemitisch geprägten Anschauungen oder ihrer Restbestände durch prosemitische Orientierungen, sondern um das Selbstverständnis der christlichen Gemeinde in der Kontinuität und Diskontinuität zum israelitisch380 jüdischen Glauben, in dem ihre Wurzeln liegen.“ Und Johannes Kwa381 schik stellt 1988, verbunden mit der Ablehnung von Judenmission, fest: „Uns (sc. Christentum und Judentum; CS) verbindet mehr als uns trennt.“ Gerade unter dieser Prämisse gelte es darauf zu achten, „alle Gesten und Redeweisen, die vereinnahmend sind oder wirken zu unterlassen“, gleichwohl aber nicht darauf zu „verzichten, das Verständnis des Judentums zu 382 fördern.“ Von einem selbstverständlichen christlichen Standort aus wird wiederholt zur Buße im Blick auf die eigene, schuldbeladene antijüdische 383 Geschichte aufgerufen. Gemeinsamkeit und Solidarität mit dem jüdischen Gegenüber ergebe sich aus anteilnehmender Trauer sowie dem ge384 meinsamen Wissen um die Angewiesenheit auf Gottes Erbarmen. Ein Nebeneinander, verbunden mit gegenseitigem Wahrnehmen und Schätzen, 385 wird nachdrücklich betont und gefordert. Dieser offene, das Gegenüber wahrnehmende, den selbstverständlichen christlichen Standpunkt nicht verlassene Tenor ist um so bemerkenswerter, als eine Begegnung zwischen Christen und Juden in der DDR nur sehr ver386 einzelt möglich gewesen ist. Es könnte sein, dass eine solche Infragestellung der eigenen christlichen Position mangels gegenwärtigem, lebendigem Gegenüber nicht ausreichend erfolgen konnte. Auf der anderen Seite ist hervorzuheben, dass die Erneuerung des Verhältnisses zum Judentum sich in den Predigtmeditationen ohne grenzverletzende Vereinnahmungstendenzen darstellt. Ostmeyer betont, dass es sich bei den Vertretern des christlichjüdischen Gespräches in der DDR um Einzelstimmen handele. Diese Stimmen sind allerdings um so markanter und zu Unrecht bisher im Rahmen des christlich-jüdischen Gesprächs kaum wahrgenommen worden. 7. Zusammenfassung der dritten Phase Die konfessorische Phase wird bestimmt von Versuchen der Neuformulierung des christlichen Selbstverständnisses aus einer erneuerten Wahrneh380 K.-H. BERNHARDT: EPM 1985/86, 236. 381 Zur Ablehnung der Judenmission als erstem Wendepunkt vgl. I. OSTMEYER: Schuld, 299. 382 J. KWASCHIK: EPM 1988/89, 238. 383 Vgl. H.-J. KITTEL: EPM 1989/90, 255ff; vgl. L. WÄCHTER: EPM 1987/88, 243 ; vgl. K.-H. BERNHARDT: EPM 1985/86, 235f. 384 Vgl. H.-J. KITTEL: EPM 1989/90, 256f. 385 Vgl. L. WÄCHTER: EPM 1987/88, 246. 386 Vgl. I. OSTMEYER: Schuld, 193ff.
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mung der Bezogenheit auf das Judentum. Diese Neuformulierung erhält konfessorischen und somit hermeneutischen Rang. Entscheidenden Ausdruck findet sie im Synodalbeschluss der Rheinischen Kirche. Die Neuformulierung christlichen Selbstverständnisses richtet sich an unterschiedlichen Vorgaben aus. Man will Theologie nach Auschwitz treiben, alles Antijüdische vermeiden, Gemeinschaft mit dem jüdischen Gegenüber suchen, dabei aber Verschiedenheit respektieren. Leitgedanken sind die Partizipation christlichen Glaubens an jüdischer Gottesbeziehung sowie die dialektische Unterscheidung und gegenseitige Bezogenheit von Christentum und Judentum. Die Spannung zwischen einem (fast) unmöglichen, aber dennoch aufgegebenen Dialog wirkt auf die Neuformulierung des christlichen Selbstverständnisses ein. In der dritten Phase rückt die Aufgabe der praktischen Umsetzung der Neuorientierung verstärkt in den Blick. Im Rahmen der Aufarbeitung der Predigtgeschichte stellt Weyer heraus, dass es nach 1945 keinen homiletischen Neuanfang gegeben habe. Juden kämen in der Predigt der Nachkriegszeit entweder als hermeneutische Verstehenshilfe für den eigenen christlichen Glauben oder als Verstehenshilfe der eigenen deutschen Geschichte bzw. Gegenwart vor. Angemessene Verkündigung nach dem Holocaust habe Juden einen Platz einzuräumen, der sie weder zu unwirklichen Vorläufern der Christen noch zu negativen Beispielen eigener Selbstbefragung mache (s.o. V. 3.1). Im Vordergrund der homiletischen Beschäftigung mit der Thematik steht das Ziel, Strategien zur Vermeidung antijüdischer Predigt zu entwerfen. Baumann und Schwemer entwerfen im Rahmen der Arbeit an der EKD-Studie Christen und Juden II die Strategie eines Predigens in Israels Gegenwart. Zentrales Kriterium nicht antijüdischer Predigt ist dabei die sachgerechte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers und die Vermeidung unsachgemäßer Konfrontation. Hierzu soll die – vorgestellte – Anwesenheit jüdischer Hörerinnen und Hörer beitragen. Zugleich gelte es, die Spannung von Verbindendem und Trennendem auszuhalten. Ziel sei es, nicht antijüdisch, aber auch nicht jüdisch zu predigen. Die Konzeption von „Predigen in Israels Gegenwart“ vermag einerseits den Charakter der Predigt als öffentlicher Rede gerade im Blick auf diese Thematik bewusst zu machen. Andererseits läuft die Konzeption Gefahr, die nur imaginierte Vorstellung von Israels Gegenwart und damit ein bestimmtes Bild von Juden für die christliche Predigt zu instrumentalisieren (s.o. V. 3.2). Zu einer „Reinigung“ der Predigtpraxis von antijüdischen Strukturen gehört laut Rau und Müller die Wahrnehmung der sozialpsychologischen Funktion von Antijudaismus bei den Legitimationsprozessen christlicher Identität. Der Kern antijüdischer Predigt bleibe in der Tiefenstruktur christlicher Redeweise verborgen, solange es nicht zu einer Offenlegung wirksamer Plausibilitätsstrukturen bei Textauslegung und Predigtgestaltung komme. Für die praktische Umsetzung gilt hier, dass bei der Vermittlungsaufgabe mit Unvermittelbarem zu rechnen sei. Bei einer naiven oder spiri308
tuell-abstrahierenden Auslegung würden Juden im „Predigt-Ritual“ missbraucht. Dieser Missbrauch im Prozess der „Selbstreinigung vom Bösen“ lässt sich am Klischee des Pharisäers dokumentieren. Nur das Offenlegen und Eingeständnis eigener Schattenseiten ermögliche ein Aufbrechen der Klischees. Die sozialpsychologische Wahrnehmung der antijüdischen Predigt rückt – wie die Konzeption „Predigen in Israels Gegenwart“ – das Predigtgeschehen in seine öffentlich-gesellschaftliche Dimension. Indem dabei die Selbstbezüglichkeit des Phänomens Antijudaismus herausgestrichen wird, tritt zugleich die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers und die theologische wie homiletische Aufgabe der Verhältnisbestimmung zum Gegenüber zurück. Die Aufgabe der Abgrenzung gegenüber dem Judentum im Rahmen christlicher Bezogenheit auf das Judentum ist von einer Funktionalisierung dieser Abgrenzung zur Identitätsstabilisierung zu unterscheiden. Hier ist homiletische Wachsamkeit geboten (s.o. V. 3.2). Auf diesem Hintergrund finden die Modelle positiver Verhältnisbestimmung zur Vermeidung antijüdischer Predigt in der Praxis nachhaltigen Anklang. Hierbei kommt dem Partizipationsmodell in der Tradition des Rheinischen Synodalbeschlusses besondere Bedeutung zu, weil die Betonung der Verbundenheit mit dem jüdischen Gegenüber die Überwindung antijüdischer Einstellung erleichtert. Eine simplifizierende Anwendung dieses Modells steht allerdings in der Gefahr, das Trennende zwischen Judentum und Christentum zu übersehen und Möglichkeiten fruchtbarer Beziehung durch Grenzverletzungen aufzuheben. Bloths Entwurf einer Zuordnung der christlichen Gemeinde „neben Israel“ im Horizont des eschatologischen „Noch-nicht“ bewahrt dagegen eine partnerschaftliche Bezogenheit aufeinander, in der Beziehung und Differenz nicht ausgeblendet werden (s.o. V. 3.3). Die Möglichkeiten der homiletischen Umsetzung (Vermittlungs- und Aneignungsprozesse vergleichbar einer „Operationalisierung“ im Sinne katechetisch-theologischer Vermittlung) der verschiedenen Strategien zur Vermeidung antijüdischer Predigt kommen in den Entwürfen kaum in den Blick. An Hand der homiletischen Überlegungen von Rendtorff, JustDahlmann, A. und W. Kruse, Jäckle-Stober und Volkmann lassen sich erste Schritte einer Umsetzung der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers im Sinne eines bewahrenden Gedenkens erkennen. Mit der Infragestellung des Predigenden durch die Erfahrung des Holocaust kommt es zu einer Wahrnehmung des verdrängten jüdischen Gegenübers. Diese Wahrnehmung wird im Spannungsfeld konkreter homiletischer Fragen nach dem Verhältnis zum jüdischen Gegenüber zum Ausdruck gebracht. Die Wahrnehmung einer Grenze zum jüdischen Gegenüber bewirkt die Vermeidung einer Instrumentalisierung des Gegenübers. Konkret wird diese Grenzwahrnehmung in der Achtung der Eigenheit jüdischer Tradition und Textauslegung. Die Bestimmung des christlichen Standorts schließlich knüpft an die Grenzwahrnehmung an und bewahrt vor einer aufdringlichen, unsachgemäßen oder abstoßenden Thematisierung der Problematik in der Predigt (s.o. V. 3.4). 309
Die Entwürfe von Denecke und Adloff führen zu der Frage nach einer Zuordnung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als fundamentaler hermeneutischer sowie homiletischer Kategorie einerseits und der Einbeziehung der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in den Predigtprozess andererseits. In der traditionellen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium wird von Denecke, Adloff und anderen ein Stereotyp antijüdischer Homiletik gesehen, weil das hier vorliegende Verständnis von Gesetz (insbesondere im usus elenchticus) zu einer falschen Antithese gegenüber dem jüdischen Verständnis von Tora führe. Im traditionellen Gebrauch der Unterscheidung sei eine Herabwürdigung und Ausblendung jüdischen Selbstverständnisses und eine Vernachlässigung der christlichen Bezogenheit auf das Judentum angelegt. Gegen diese Kritik ist einzuwenden, dass eine sachgemäße, nicht methodisch oder schematisch verkürzende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als hermeneutische Kategorie eine Anknüpfung an anthropologische Erfahrungszusammenhänge zu leisten vermag. Der rechte Gebrauch der Unterscheidung bewahrt die Bezogenheit auf das Judentum, ja er eröffnet die Einsicht in die Richtigkeit der Forderung nach einer erneuerten Wahrnehmung des Judentums. Hierzu gehören die Wahrnehmung einer christlichen Gemeinde im fruchtbaren Nebeneinander zu Israel, die Anerkennung des unverrechenbaren Eigenwerts jüdischer Tradition sowie offene Gesprächs- und Dialogbereitschaft. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vermag darüber hinaus eine sachgemäße Zuordnung der Aufgabe zu bewirken, in der Predigt an die Erfahrung des Holocaust zu erinnern. Die Predigt sollte nicht mit den „Bildern des Todes handeln“. Hier gilt es, die Grenzen der Erinnerung und die Grenzen der Darstellung zu beachten. Zugleich soll Predigt aus den bösen Geschichten in die guten führen. Hierin besteht die eigentliche Aufgabe einer Wahrnehmung der Beziehung zum jüdischen Gegenüber – im Sinne eines bewahrenden Gedenkens (s.o. V. 4.–5.). In den Predigtmeditationen der dritten Phase zeigt sich der Aufbruch zu einer erneuerten Wahrnehmung des Judentums sowie die Aufgabe christlicher Standortbestimmung im Blick auf die Beziehung zum Judentum. Die Gedenkkultur der 1980er und 1990er Jahre findet Aufnahme. Zugleich wird eine gewisse Verunsicherung im Blick auf eine angemessene Umsetzung der neuen Einsichten deutlich (s.o. V. 6.).
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VI. Predigen aus dem Gedenken an den Holocaust – Konsequenzen Predigerinnen und Prediger, die sich heute ihrer Aufgabe stellen, predigen „nach dem Holocaust“. Was für die „Theologie nach dem Holocaust“ gilt, dass sie nämlich nicht nur zeitlich nach dem Holocaust betrieben wird, sondern sachliche Konsequenzen aus diesem Geschehen zu ziehen bereit ist, das muss auch – und gerade – für die Predigt gelten. Der Frage nach den richtigen Konsequenzen diente das Abschreiten verschiedener Problemhorizonte. Untersucht wurden – die humanwissenschaftlichen Implikationen einer Erinnerung an den Holocaust, – die Probleme säkularer Erinnerungsrede, – die praktisch-theologische Wahrnehmung des Judentums sowie – homiletische Entwürfe aus der Zeit zwischen 1945 und 2000 im Blick auf ihre Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers. Die Untersuchung hat den Prozess aufgezeigt, der in der homiletischen Theorie stattgefunden und in unterschiedlichen Ausprägungen zur Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers geführt hat. Dabei hat sich ergeben: Maßstab für die homiletische Theorie, ob die Geschehnisse von Auschwitz angemessen im Sinne eines bewahrenden Gedenkens erinnert werden, ist die richtige Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers, sei es kollektiv („Judentum“) oder individuell. Die Bedeutung der Erinnerung des Holocaust für das Predigtgeschehen soll nun unter den predigtrelevanten Aspekten Kommunikationsgeschehen (1), öffentliche Rede (2) und Verkündigung des Wortes Gottes (3) abschließend zusammengefasst werden. Die in der Untersuchung gewonnenen Einsichten werden dann durch Zuordnung zu einer Beziehungstypologie (4) geordnet und transparent gemacht. Den Abschluss (5) bilden Postulate für eine Predigt, die sich dem Gedenken an den Holocaust verpflichtet weiß. 1. Das Kommunikationsgeschehen Predigt und die Erinnerung an den Holocaust Predigt ist ein Kommunikationsgeschehen, das unter humanwissenschaftlichen Gesichtspunkten analysierbar ist. Wenn Predigt an den Holocaust erinnert, hat sie Teil an den aufweisbaren Schwierigkeiten dieser Erinne311
rung (a). Es bieten sich zwei Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen an: Schweigen (b) und bewahrendes Gedenken (c) a) Schwierigkeiten mit der Erinnerung Die Erinnerung an den Holocaust ist eine besondere Erinnerung. Im Erinnern des Holocaust selbst droht eine Verdrängung des Geschehens, wenn die Grenze, an die jede Erinnerung an den Holocaust stößt, nicht wahrgenommen wird (s.o. II. 1–3). Die Verdrängung kann auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommen, so z.B. in Medialisierungen, Instrumentalisierungen oder Trivialisierungen (s.o. II. 4). Auch die egozentrische Instrumentalisierung der Instrumentalisierungsproblematik selbst kann – wie bei Walser gesehen – der Verdrängung der Erinnerung dienen. Im besonderen Maße problematisch als Ausdruck von Verdrängung ist die Verwechslung der Täter- und Opferperspektive. In solcher Verwechslung zeigt sich, dass im Rahmen der Verdrängung der entscheidende Aspekt eines bewahrenden Gedenkens, die Wahrnehmung des Gegenübers, misslingen muss (s.o. II. 6). Die homiletische Praxis hat Anteil an den Schwierigkeiten, die mit der Erinnerung an den Holocaust verbunden sind. Bis heute ist die Frage drängend und bedrängend: Wie ist im Angesicht des Todes von Auschwitz zu predigen? Dabei ist zu bedenken, dass Erwähnung und Ausschmückung des Holocaust in der Predigt zum „Handeln mit den Bildern des Todes und der Hölle“ werden oder auf dem Wege der Trivialisierung, Rationalisierung oder Instrumentalisierung zur Verdrängung der Erinnerung führen können. Auch die Erzählung als das Medium der Erinnerung steht im Verdacht, Ersatznarrative zu transportieren oder eine distanzlose, alltägliche Nähe herstellen zu wollen, die jedoch das Geschehen als Perspektive verbietet. Die der Predigt sonst offen stehende Möglichkeit, durch Erzählung Menschen aus bösen Geschichten zu lösen und in gute Geschichten zu führen, ist nicht gegeben, weil die „böse Geschichte“ Holocaust nicht erzählt werden kann und auch die gute Geschichte des Evangeliums von hier aus radikal in Frage steht. Als Möglichkeiten, die Schwierigkeiten der Erinnerung an den Holocaust wenigstens teilweise zu überwinden, haben wir Schweigen und bewahrendes Gedenken erkannt (s.o. II. 5). b) Schweigen Mit Schweigen ist in diesem Zusammenhang natürlich nicht ein Verschweigen der Ereignisse gemeint. Schweigen soll, als bewusstes Kommunikationsmittel eingesetzt, die grenzbewahrende Erinnerung an den Holocaust zum Ausdruck bringen. Im Rahmen von Gedenktagen und Gedenkveranstaltungen ist die Schweigeminute – in eindrücklicher Weise am Jom Haschoa in Israel – gebräuchliche Praxis. Im Rahmen von Gottesdiensten und erst recht im Rahmen der Predigt handelt es sich um eine bisher wenig beachtete Form der Kommunikation. 312
Am Bußtag 1938, wenige Tage nach der Reichspogromnacht, hat Gollwitzer mit Blick auf die Geschehnisse die Möglichkeiten des Kommunikationsmittels Schweigen eindrücklich entfaltet. Ich zitiere einen längeren Abschnitt: „Liebe Gemeinde! Wer soll denn heute noch predigen? Wer soll denn heute noch Buße predigen? Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage? Können wir heute noch etwas anderes, als nur schweigen? [...] Was muten wir Gott zu, wenn wir jetzt zu ihm kommen und singen und die Bibel lesen, beten, predigen, unsere Sünden bekennen, so, als sei damit zu rechnen, dass er noch da ist und nicht nur ein leerer Religionsbetrieb abläuft! Ekeln muss es Ihn doch vor unserer Dreistigkeit und Vermessenheit. Warum schweigen wir nicht wenigstens? Ja, es wäre vielleicht das Richtigste, wie säßen heute hier nur schweigend eine Stunde lang zusammen, wir würden nicht singen, nicht beten, nicht reden, nur uns schweigend darauf vorbereiten, dass wir dann, wenn die Strafen Gottes, in denen wir ja schon mitten drin stecken, offenbar und sichtbar werden, nicht schreiend und hadernd herumlaufen: Wie kann Gott so etwas zulassen? – [...] Nicht weil ichs irgendwie möchte, sondern weil ich dem Auftrag nicht ausweichen kann, 1 darum rede ich zu euch [...].“
Gollwitzer sieht Schweigen als nahezu einzige Möglichkeit der Reaktion auf die radikale Infragestellung der eigenen Person durch das Geschehen der offensichtlichen Judenverfolgung und der brennenden Synagogen wenige Tage zuvor. Er nimmt Schweigen dabei als Kommunikationsmittel wahr, in dem sich Buße im Abbruch der bisher geübten Kommunikation Reden ausdrückt. Ich kann an dieser Stelle keine „Homiletik des Schweigens“ entfalten. Ich will nur einige Hinweise geben, wie eine Integration des Schweigens in die homiletische Praxis aussehen könnte. Zunächst ist zu bedenken, dass Schweigen einerseits Sprache begleitet – als „Davor- und Danach-Schweigen“–, andererseits Sprache unterbricht und kontrastiert – als „intervenierendes, dazwischenkommendes Schweigen“ (s.o. II. 5). Den ersten Aspekt verdeutlicht Josuttis, wenn er herausstellt, dass auf dem Höhepunkt einer Predigt diese durch die sprachliche Struktur von ganz kurzen Sätzen, oft nur einer Reihe von Worten, bestimmt ist: „Gerade wenn man das Zentrum eines Textes von verschiedenen Seiten umkreist hat und wenn die Zeit gekommen ist, dass das Geheimnis dieser sprachlichen Macht sich entbergen kann, sollte man auf Fixierungen jedweder Art verzichten. Ein Wort wird, so oder so, gesprochen. Es wird, so oder so gehört und, so oder so, 2 verstanden – und wirkt dann bei diesem oder bei jener auf seine Weise.“ Was Josuttis hier nicht sagt, was sich aber bei der Umsetzung dieser Einsicht in der Predigtpraxis einstellt, ist, dass die kurzen Sätze und Worte, deren Geheimnis sich entbergen soll, durch Schweigen, durch Pausen voneinander getrennt sind und sein müssen. Kommunikation des Evangeliums 1 H. GOLLWITZER: Zuspruch, 36f. 2 M. JOSUTTIS: Geheimnisse, 14.
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ist auf „Davor-“ und vor allem auf „Danach-Schweigen“ angewiesen, erst recht, wenn in der homiletischen Praxis die menschlichen Worte und das Wort Gottes nicht identifiziert werden sollen, zugleich aber den Worten zugetraut wird, das Geheimnis von Gottes Wort in sich zu bergen. Der zweite Aspekt, dass Schweigen „unterbrechendes Schweigen“ sein kann, lässt sich in den Überlegungen Thomas Kabels zu Pausen in der Predigt wiederfinden. „Die Pause dient dazu, dass er [sc.: der Predigende; CS] 3 innehalten und noch einmal überprüfen kann, wo er angekommen ist.“ Auch solle man auf der Kanzel das „Hängenbleiben“ während der (freien) Predigt nicht negativ sehen: „Sondern man sollte es wie im Leben als eine Station auf dem Weg ansehen. Vielleicht sagt mir meine Intuition: ‚Hier 4 muss ich noch für einen Moment bleiben ...‘.“ Kabel untermauert seine Wertschätzung der Pausen im Redefluss mit einem Verweis auf Jesu Praxis. Dessen Rede habe sich dann entwickelt, „wenn er vor den Menschen stand. Manchmal hat er eine Pause gemacht und mit den Fingern etwas in den 5 Sand geschrieben, wie wir wissen.“ Die Pause als bewusste Unterbrechung der Kanzelrede ist für Kabel ein wesentliches Moment der Predigtpraxis. Beide Aspekte, das begleitende Schweigen als Raum zur Entfaltung der Worte und das unterbrechende Schweigen als Station auf dem Weg des Predigens sind für das Kommunikationsmittel Schweigen von Bedeutung, gerade wenn an den Holocaust erinnert werden soll. Wie viele Worte nötig sind, um der Erinnerung Raum zu geben, wird der Adressatenkreis mitbestimmen. Predigt zu jungen Menschen und Nachgeborenen wird anders den Holocaust erinnern als die Predigt zu Zeitzeugen des Holocaust. Wenige, klare Worte, „beladen mit Schweigen“ (Elie Wiesel), begleitet von Pausen, die Raum zur Entfaltung geben, dienen der Erinnerung mehr als viele feierliche Worte, die das Grauen zu beschwören suchen. Möglicherweise reicht auch ein Wort, um ins Schweigen der Erinnerung an das kaum Erinnerbare zu rufen. Auf jeden Fall wird die Erinnerung an den Holocaust von unterbrechendem Schweigen umgeben sein, um zu verhindern, das Unsagbares sagbar erscheint. Auch Adloff verweist auf die Bedeutung des Schweigens. Für ihn verbietet sich im Angesicht des Todes eine „Sprache der Tatsachen“, die ungerührt über den Tod „hinwegredet.“ Statt dessen plädiert er für ein „Abschreiten“ der Erfahrung des Todes, an dessen Ende die Verwiesenheit an das Gegenüber steht. Für ihn sind Wahrnehmung des Gegenübers und Eröffnung eines Dialogs mögliche und erwünschte Folgen eines Schweigens, das ein ungerührtes Weiterreden verhindert (s.o. V. 4.2). Auch die Sprache, die diesem Schweigen in der Predigt folgt, muss die oben angedeuteten Schwierigkeiten der Erinnerung an den Holocaust be3 T. KABEL: Handbuch Liturgische Präsenz, 107. 4 Ebd. 5 Ebd. Vgl. zur Szene in Joh 8 die Predigt von M. JOSUTTIS: Geheimnisse, 98–103, besonders a.a.O., 101.
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rücksichtigen. Sie wird, wie Wiesel sagt, mit dem Schweigen der Erinnerung beladen sein. Sie wird Instrumentalisierungen, Trivialisierungen und Perspektivverwechslungen vermeiden. Sie wird sich vor allem nicht als Fort6 schreibung der Sprache der Täter präsentieren dürfen. Sie wird die Verletzungen der Opfer sprachlich nicht wiederholen. Die Rede vom „Wegschauen“ bei Walser ist hier ein beredtes Beispiel. Die Sprache der Predigt darf sich aber auch nicht der Worte der Opfer als ihrer vermeintlich eigenen Worte bemächtigen. Diese Problematik wurde bei der Erörterung des Begriffs Schoa schon angedeutet (s.o. III. 1). Statt dessen wird eine Sprache gesucht, die das eigene Stottern nicht verheimlicht. Auch in der Wahl der Sprache geht es darum, Offenheit für die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers zu vermitteln, ohne sich selbst mit diesem Gegenüber zu verwechseln. c) Bewahrendes Gedenken Der Begriff des bewahrenden Gedenkens versucht aufzunehmen, dass sich die Erinnerung an den Holocaust auf Grund seines gegenrationalen Ereignischarakters als schwierig und problembeladen erweist. Bewahrendes Gedenken soll – im Unterschied zu einem verdrängenden Erinnern – ein zweckfreies Gedenken an die Opfer sein. Ein solches Gedenken ermöglicht zum einen die Wahrnehmung der Grenze aller Erinnerung und zum anderen ein verändertes Verhalten als Ausdruck dieses Gedenkens, in dem die Erinnerung bewahrt wird, ohne ständig expliziert werden zu müssen. Auf diese Weise vermag das Gedenken sich der Erinnerung an den Holocaust zu stellen, zugleich aber seinen Fallen teilweise zu entkommen (s.o. II. 5). In der Homiletik wird bewahrendes Gedenken da realisiert, wo als Konsequenz aus der Erinnerung an den Holocaust das jüdische Gegenüber ohne herabsetzende Konnotation wahrgenommen und diese Wahrnehmung in der Predigt öffentlich gemacht wird. Die Wahrnehmung des Gegenübers wird zum maßgebenden Kriterium bei der Analyse der homiletischen Entwürfe (s.o. III. 2–5). 2. Predigt als öffentliche Rede und das Gedenken an den Holocaust Predigt ist ein öffentlicher Kommunikationsvorgang. Als solcher hat sie Teil an den beschriebenen Schwierigkeiten und Aufgaben der Erinnerung. Über den Einsatz des Kommunikationsmittels Schweigen (in der oben beschriebenen Weise) hinaus wird sie diesen Aufgaben im bewahrenden Gedenken durch eine veränderte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers gerecht. In dem Bemühen, die Konsequenzen aus dem Holocaust zu ziehen, ihn in 6 Hierin lag ein wesentliches Problem der „Jenninger-Rede“ – Vgl. L. HOFFÄußerungskritik, 6; vgl. B.-N. KREBS: Sprachhandlung, 134ff.
MANN/J. SCHWITALLA:
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rechter Weise zu erinnern, aus ihm zu „lernen“, haben die homiletische Theorie und Praxis einen Lernprozess vollzogen, der die veränderte Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers möglich gemacht hat. Die Ergebnisse dieses Lernprozesses und die mit ihnen verbundenen weiterführenden Konsequenzen sollen hier zusammenfassend dargestellt werden. a) Lernen der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers Schwerpunkt der Feststellung, dass sich bewahrendes Gedenken in der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers realisiert, ist die oben vollzogene Füllung des Begriffs Gegenüber. Mit ihm wird zum einen die gleichberechtigte, auf Dialog und Partnerschaftlichkeit angelegte Struktur der Beziehung zum Ausdruck gebracht, zum anderen die Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit des Beziehungspartners betont. Die Beziehung zum jüdischen Gegenüber ist durch antijüdische oder philojüdische Tendenzen gefährdet, die je für sich eine Herabsetzung, Instrumentalisierung und letztlich Aufhebung der Beziehung bedeuten. Die veränderte Wahrnehmung des jüdischen Partners ist eben dadurch gekennzeichnet, dass er als Gegenüber wahrgenommen wird, ein Gegenüber, auf das christlicher Glaube und christliche Theologie bezogen und von dem sie zugleich auch verschieden ist (s.o. III. 2–3). Die grundlegende Einsicht, dass rechte Erinnerung der Christen an den Holocaust sich darin beweist, dass sie Juden und Judentum neu wahrnehmen, ermöglicht Konsequenzen, die bisher erst ansatzweise realisiert sind. Zum Verständnis des Judentums als selbstbestimmtes Gegenüber gehört die Einsicht, dass diese Selbstbestimmtheit dem Gegenüber nicht lediglich zugestanden wird, sondern ihm aus eigenem Recht zukommt. Angesichts der Art und Weise, wie Christen Jahrhunderte lang mit Juden umgegangen sind, bedarf dieser Sachverhalt einer ausdrücklichen Erwähnung. Zur Anerkennung der Selbstbestimmtheit des jüdischen Gegenübers gehört es, diesem vorrangig und in erster Linie zu überlassen, welche christlichen Aussagen von ihm als antijüdisch verstanden werden. Eine konsequente Haltung in diesem Sinne könnte die oben referierte innerchristliche AntijudaismusDiskussion spürbar entlasten (s.o. III. 2). Dabei wird im Blick zu halten sein, dass die Formulierung von bleibenden Differenzen an sich nicht antijüdisch ist, sehr wohl aber die unsachgemäße Wahrnehmung, funktionalisierende und instrumentalisierende Herabwürdigung bzw. Idealisierung des jüdischen Gegenübers sowie schließlich auch ein Negieren der vorgängigen christlichen Bezogenheit auf das Judentum. b) Historischer homiletischer Lernprozess Etwa bis 1960 sind in der Homiletik keine oder höchstens ganz geringfügige Veränderungen in der Wahrnehmung des Judentums zu erkennen (s.o. IV. 1). Weyer führt dies – wohl zu Recht – darauf zurück, dass das Einge316
ständnis konkreter Schuld ausgeblieben und die Situation vor allem in der Perspektive eigenen Opfer-Seins wahrgenommen worden ist. Ohne Erkenntnis der Sünde gibt es keinen Neuanfang. Eine Ausnahme stellt Steck dar, der Ende der 1950er Jahre die Problematik einer missbräuchlichen Gegenüberstellung von Christentum und Judentum in der Predigt wahrnimmt und erstmals die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in die homiletischen Überlegungen einbezieht. Der Lernprozess, mit dem sich die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in der homiletischen Theorie verändert, nimmt seinen Ausgang auf der Ebene der Predigtmeditationen. Indem hier im Rahmen individueller Predigtarbeit die aktuellen Lebenserfahrun7 gen methodisches Gewicht erhalten , wird die Wahrnehmung eines realen jüdischen Gegenübers unabweisbar und erhält eine eigene Bedeutung (s.o. IV. 3.). Die Neuorientierung, die sich etwa ab 1960 anbahnt, ist dadurch gekennzeichnet, dass mit jüdischen Gesprächspartnern ein Dialog stattfindet und die Bezogenheit des Christentums auf das Judentum neu zum Thema und zum wirksamen Faktor der neuen Wahrnehmung wird (s.o. IV. 2.1). Die Hermeneutik alttestamentlicher Texte erweist sich als Ort, der ganz selbstverständlich die konkrete Einbeziehung des Judentums als gegenwärtiges Gegenüber herausfordert. Im Blick auf die fast uneingeschränkte Geltung des lutherischen hermeneutischen Grundsatzes „Was Christum treibet“ im protestantischen Raum ist die Wiederentdeckung des Eigenwerts alttestamentlicher Tradition, die Rede von einem „Sonderkerygma“, das nicht christlich gepredigt werden könne, ein geradezu revolutionärer Schritt in dem dargestellten Lernprozess. Das Umdenken, das hier stattfindet, manifestiert sich in Grundsätzen wie: Es gilt, nicht ohne den Rabbiner, aber nicht wie ein Rabbiner zu predigen (s.o. IV. 2.2 und 2.3). Für die Bewältigung der Aufgabe, in der Predigt alttestamentliche Texte auszulegen und gleichzeitig ein selbstbewusstes jüdisches Gegenüber, das die Texte anders liest, wahrzunehmen, werden verschiedene Modelle entwickelt, die Judentum, eigene Position und Verwiesenheit an das Gegenüber im Dialog aufeinander beziehen. Gemeinsam ist den verschiedenen DialogTypen die Einsicht, dass Bezogenheit auf das Judentum und Verschiedenheit von ihm die Einbeziehung des jüdischen Gegenübers in die Reflexion der eigenen Position und des eigenen Glaubens erfordert. So lässt sich von einem um Wahrheit konkurrierenden, von einem Positionen vermittelnden, von einem von dialektischer Bezogenheit aufeinander geprägten und von einem die Grenzen des Gesprächs in die eigene Hermeneutik einbeziehenden Dialog sprechen (s.o. IV. 3.2). Zur Wiederentdeckung des Judentums in dieser Phase gehört wesentlich die Wahrnehmung eines selbstbewussten, starken, streitbaren, vielstimmigen, nicht allein auf eine Opferrolle festzulegenden Gegenübers, ohne dass dabei die Erfahrung des Holocaust und die Bedrohung der jüdischen Exis7 Vgl. J. HERMELINK: Predigthilfen, 1608f.
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tenz verharmlost würde. Diese Einsicht wird – wie in der ersten Phase – zu einem guten Stück in der individuellen Predigtarbeit, in den Predigtmeditationen, nachvollzogen (s.o. IV. 2.4). In der Meditation Marquardts wird das Wahrnehmen des Gegenübers zu einer Herzensangelegenheit. Aus den Objekten eines jüdischen Gegenübers werden Subjekte, Menschen, zu denen eine Beziehung aufgebaut wird. Dabei wird zweierlei nicht unterschlagen: (i) Die Beziehung bringt für das jüdische Gegenüber die Zumutung mit sich, christliches Bekennen zu Jesus, dem Juden, als dem Christus wahrzunehmen. Jüdisches „Nein“ zu diesem Bekenntnis hebt für Marquardt weder die Dignität jüdischer Herkunft noch die Aufgabe christlichchristologischen Bekennens auf. (ii) Die Wahrnehmung des Gegenübers als selbstbewusste Subjekte entlässt die Wahrnehmung der Predigtaufgabe aus einer Fixierung auf die Vergangenheit, ohne dass diese unterschlagen wird. In der Wahrnehmung des Gegenübers wird sie bewahrt, eine destruktive Festlegung durch die Vergangenheit wird überwunden (s.o. IV. 3). In der erreichten Phase des Lernprozesses drängt sich die Aufgabe auf, den Einsichten aus der Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum eine verbindliche Form zu geben. Die Kirchen formulieren durch ihre kirchenleitenden Organe Grundsätze, die dem erneuerten Verständnis des Gegenübers zum Judentum und dem veränderten Selbstverständnis Rechnung tragen. Dabei bleibt der Artikulation christlichen Selbstverständnisses die spannungsvolle Aufgabe, im Darstellen von Verbindendem und Trennendem Abgrenzungen gegenüber dem Judentum vornehmen zu müssen, ohne mit dieser Abgrenzung – wie Jahrhunderte lang geschehen – eine Herabsetzung des Gegenübers zu verbinden. Die Abgrenzung darf auch nicht eine Funktionalisierung des Gegenübers für die eigene Position beinhalten. Sie ist nicht Ausdruck antijüdischer Haltung, sondern Voraussetzung einer Beziehung zwischen selbstbestimmten Partnern (s.o. V. 1–2). Das populärste, von Baumann und Schwemer entwickellte homiletische Konzept, das den dargestellten Grundsätzen entspricht, empfiehlt ‚Predigen in Israels Gegenwart‘. Die Vorstellung jüdischer Gegenwart soll die sachgemäße Wahrnehmung des Gegenübers sowie die angemessene Darstellung von Verbindendem und Trennendem gewährleisten. Es wird gefordert, dass christliche Predigt so über Juden und ihren Glauben redet, dass ein jüdischer Hörer im Gottesdienst sich darin wiedererkennen könnte. Auf die Problematik der virtuellen Gegenwart jüdischer Predigthörer wurde oben mehrfach hingewiesen (s.o. V. 3.2). Die sozialpsychologisch orientierten Strategien zur Vermeidung antijüdischer Predigt, wie sie von Rau und Müller dargelegt werden, nehmen die Selbstbezüglichkeit antijüdischer Stereotypisierungen und das Element der sozialpsychologischen Funktionalisierung innerhalb der antijüdischen Einstellung wahr und übertragen diese Einsichten auf den Predigtzusammenhang. Der Predigende hat sich und seine Predigt daraufhin zu prüfen, inwieweit er bestimmte Plausibilitätszusammenhänge voraussetzt. Die adäquate Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers ergibt sich erst aus einer 318
kritischen, die eigene Existenz relativierenden Perspektive, die beispielsweise in der Textauslegung Unvermittelbares zugesteht und so – wie schon von Bohren gefordert – nicht von jüdischer Gegenwart abstrahiert (s.o. V. 3.2). Eine positive christliche Verhältnisbestimmung zum jüdischen Gegenüber ist als Ergänzung der Strategien zur Vermeidung antijüdischer Predigt zu verstehen. Dabei setzen sich allerdings die Schwierigkeiten der Verhältnisbestimmung, Verbindendes und Trennendes sachgemäß wahrzunehmen, in den homiletischen Verarbeitungen dieser Verhältnisbestimmung beispielsweise auf der Grundlage des Partizipationsmodells fort: „Christen haben teil an den Verheißungen, sie sind durch Jesus Christus Miterben, hineingenommen in den Bund, den Gott dem Volk Israel zugesagt hat.“ Die Gefahr, im Rahmen einer solchen Verhältnisbestimmung das Trennende zu minimieren und das Gemeinsame bis hin zur Einheit von Christen und Juden auszudeuten, begleitet die homiletischen Bemühungen. Hier wird bisweilen eine Gemeinschaft mit dem jüdischen Gegenüber behauptet, die von diesem als bedrängend wahrgenommen werden kann oder auch ausdrücklich abgelehnt wird (s.o. V. 3.3). Homiletische Überlegungen, deren Ziel ein fruchtbares Nebeneinander ist, in dem Christen an das jüdische Gegenüber verwiesen bleiben, sind der Problematik angemessener. Bloth (s.o. V. 3.3) entwirft ein solches homiletisches Modell anhand des Theologumenons von der Treue Gottes, Adloff legt die Vorstellung eines „fruchtbaren Nebeneinanders“ seiner gesamten homiletischen Konzeption zu Grunde. Aus der Wahrnehmung antijüdischer Traditionen, aus dem Schweigen im Angesicht des Todes, aus der Abkehr von universalistischer Ideologie durch die Gründung christlicher Existenz im Ereignis von Kreuz und Auferstehung und aus der Verwiesenheit an das jüdischen Gegenüber auf dem Hintergrund dieser Erfahrung speist sich Adloffs These, Predigt als dialogisches Geschehen in der Wahrnehmung jüdischer Gegenwart zu begreifen (s.o. V. 4.2). Mit dem Stichwort des Dialogs ist erneut die Frage nach Vermittlungsund Aneignungsmöglichkeiten der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in der homiletischen Praxis gestellt. Besonders die integrativen Konzepte jüngeren Datums nehmen die verschiedenen homiletischen Impulse auf. Hieraus ergibt sich für die Predigtpraxis bei der Einbeziehung des jüdischen Gegenübers eine radikale Infragestellung christlichen Selbstverständnisses, durch die der Blick auf die Wahrnehmung des Gegenübers gelenkt wird. Eine homiletische Grenzwahrnehmung nimmt die Eigenheit der jüdischen Traditionen wahr und vermeidet jedwede Funktionalisierung bzw. „Ausschlachtung“ dieser Traditionen zur Ausschmückung christlicher Predigt. Die Standortwahrnehmung schließlich bezeugt Verbindendes und Trennendes aus christlicher Sicht (s.o. V. 3.4). Wir können festhalten, dass es zu einer vielfältigen Realisierung der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in der homiletischen Theorie gekommen ist. Die Bedeutung dieses Gegenübers, die christliche Bezogenheit auf und Verwiesenheit an das Judentum, wird in die homiletischen 319
Überlegungen aufgenommen. Die verschiedenen Entwürfe, so gut, praktikabel oder problematisch sie im einzelnen sein mögen, stehen stets in der Spannung, christliche Verkündigung in ihrer Bezogenheit auf das Judentum darzulegen und homiletische Strategien zu entwickeln, die die spezielle Beziehung zum Judentum nicht durch antijüdische oder philojüdische Einstellungen negieren, sondern jüdisches Gegenüber als Gegenüber in Widerspruch und Partnerschaft wahrzunehmen vermögen. 3. Die Verkündigung des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium In dem Bemühen, antijüdische Vermittlungsstrategien in der Predigtpraxis zu vermeiden, ist die fundamentale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als homiletische Kategorie immer wieder in die Kritik geraten, weil sie in der christlichen Predigttradition häufig antijüdische Haltungen gefördert habe. Kommt eine an der Aufgabe der Predigt orientierte Reflexion ohne diese Kategorie aus oder könnte die homiletische Theorie zumindest auf die Terminologie verzichten? Die oben beschriebenen Versuche Deneckes (s.o. V. 4.1) ermutigen nicht, sie machen eher misstrauisch, ob das Ziel, antijüdische Wirkungen zu vermeiden, durch Übernahme jüdischer Begrifflichkeit zu erreichen ist. Wenn als sachgemäße Beschreibung der Aufgabe christlicher Predigt anzusehen ist, die Wahrnehmung des Wortes Gottes als Gesetz und als Evangelium zu ermöglichen, so setzt dies voraus, dass dabei der Begriff Gesetz nicht mit Tora gleichgesetzt werden kann. Dieser Klarstellung bedarf es nicht deshalb, weil Gesetz negativ und Tora positiv konnotiert wäre. Dass im Verständnis christlicher Theologie das Gesetz „heilig, gerecht und gut“, seine usus unentbehrliche Bestandteile der Predigt sind und es gut biblisch auf Tora zu beziehen ist, ist wohl hinreichend klargestellt. Um aber das Wort Gottes wahrnehmbar zu machen, bedarf es in christlichem Verständnis des Evangeliums von Jesus Christus als Komplement zum Gesetz. Für jüdisches Verständnis ist die Tora die ganze Heilsgabe Gottes, also Gebot und gnädige Zuwendung Gottes in einem. Die gelegentlich benutzte Wendung, für Juden sei die Tora Gesetz und Evangelium, verunklart den Sachverhalt. Denn Evangelium ist im christlichen Sprachgebrauch immer Evangelium von Jesus Christus und deshalb nicht dazu geeignet zu verdeutlichen, was die Tora für Juden bedeutet (s.o. V. 5.). Eindeutig negativ konnotiert ist der Begriff „gesetzlich“. Diese negative Konnotation ist sachgemäß, da gesetzlich einen das Gesetz und seine Intention pervertierenden Gebrauch bezeichnet, der keineswegs speziell auf jüdisches Denken bezogen ist oder bezogen werden könnte. Christen kennen die Versuchung zu gesetzlichem Denken und Handeln vielmehr als innerchristliches Problem. Ich sehe unter diesen Umständen keinen Grund, die die Aufgabe der christlichen Predigt aufschließende Kategorie „Gesetz und Evangelium“ als antijüdisch einzustufen und sie der homiletischen Theorie 320
künftig vorzuenthalten. Im übrigen scheint mir die Beibehaltung der homiletischen Kategorie Gesetz und Evangelium nicht nur keinen begründeten Anlass für Befürchtungen hinsichtlich antijüdischer Auswirkungen zu geben, sie macht vielmehr die christliche Bezogenheit auf das Judentum in einem fundamentalen Sachverhalt deutlich. Wer als Christ das Wort Gottes als Gesetz und Evangelium verstehen gelernt hat, gewinnt einen Zugang zu jüdischem Denken, das die Tora als Weisung und alles einschließende Gabe Gottes begreift und annimmt. Die bleibenden, durchaus tiefgehenden Differenzen zu respektieren wird möglich durch die neu gewonnene Sicht des Judentums als eines selbstbestimmten Gegenübers, von dem man lernen kann, von dem man sich aber auch unterscheiden kann (s.o. V. 5.2). Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ermöglicht darüber hinaus auch eine Einordnung der Aufgabe der Erinnerung an den Holocaust in die homiletische Theorie. Die Erinnerung an den Holocaust ist zunächst im Rahmen der Aufgabe der Predigt des Gesetzes zu verstehen. Sie hat hinführenden Charakter. Sie findet ihre Gestalt in einer angemessenen Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers. Die Aufgabe der Predigt, Menschen schließlich aus ihren bösen Geschichten in gute Geschichten zu führen, mit anderen Worten: Menschen aus ihren schwierigen, bedrückenden Erinnerungen in den Raum der Selbsterinnerung Gottes an sein Erbarmen zu führen, realisiert sich dabei im Einmünden der Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in die Möglichkeit, – jenseits antijüdischer und philojüdischer Gefährdungen – Beziehungen und Begegnungen mit diesem Gegenüber zu realisieren. Es geht um eine Beziehung, die den anderen nicht enteignet, den eigenen Standpunkt aufdeckt und in gegenseitiger Verwiesenheit zu offenem Austausch anregt (s.o. V. 5.2 und 5.3). 4. Die homiletische Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers auf dem Hintergrund von Beziehungsmodellen Die Stadien in der Entwicklung der homiletischen Theorie, die ich beschrieben habe, spiegeln die Möglichkeiten wider, die in den christlichen Beziehungen zum jüdischen Gegenüber realisiert werden können. Die Art, wie die Beziehung wahrgenommen, respektiert und realisiert wird, hat, wie wir gesehen haben, entscheidenden Einfluss darauf, was und wie wir predigen. Ich nehme im Folgenden eine Zuordnung der beobachteten Arten der Beziehungsrealisierung zu einer Beziehungstypologie vor, die an Theo Sundermeiers praktische Hermeneutik angelehnt ist. Diese Zuordnung kann die Probleme, Vorzüge und Grenzen der Beziehungsmodelle verdeutlichen und so einen Überblick über das Erreichte und das noch nicht Erreichte vermitteln.
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a) Beziehungsaufnahme zwischen Selbstbezogenheit und Offenheit Ich greife als erstes ein Modell auf, in dem das Verstehen des anderen, des Gegenübers, phänomenologisch orientiert ist. Für diese Verstehensbemühung gilt: „Der andere, das bin ich gespiegelt, wie ich selbst meinerseits in 8 der Ur-Form nichts anderes bin als des anderen gespiegeltes Bewusstsein.“ Sundermeier nennt dieses Modell, das er auf Husserl zurückführt, das der „radikalen Egologie“: „Jedes Ich ist in sich monadenhaft unabhängig. Es bedarf des anderen nur zur Selbsterkenntnis und vice versa. Der andere 9 konstituiert meine Exteriorität.“ Bei der Untersuchung der Wahrnehmung des Judentums von christlicher Seite aus begegnet dieses Modell an verschiedenen Stellen. In der Tat profitiert das christliche Selbstverständnis von einem Gegenüber, durch das es sich selber besser versteht. Die Aufgabe des Blickwechsels, die ich oben beschrieben habe, der „Jesus außer Landes“, den Marquardt beschreibt und der einen neuen Blick von außen ermöglicht, ist eine Ausdrucksform dieses Modells (s.o. III. 3). Christliches Selbstverständnis lässt sich nicht formulieren ohne Verständnis für die jüdische Tradition, aus der heraus sich das Christentum entwickelt hat und mit dem sie einen Teil der Bibel teilt. Auf diesem Hintergrund ist christlicher Glaube um seiner selbst willen auf ein Verstehen des Gegenübers angewiesen, eines Gegenübers, das in ganz besonderer Weise nicht der „ferne Fremde“, sondern, wie Ebach formuliert, der „nahe Fremde“ ist (s.o. III. 2.). Die Offenheit für den anderen resultiert in diesem Modell aus dem Wunsch, sich selbst zu verstehen. Die Problematik dieses Beziehungstypus liegt in dessen eigentümlicher Selbstbezogenheit: Das „eigene Ich und alles, was ihm zugehört, gilt als 10 Vorlage, als Original für das Fremde“, so Sundermeier in Aufnahme der Charakterisierung der Husserlschen Phänomenologie durch Bernhard Waldenfels. Scharf formuliert Sundermeier selbst: „Eine Beziehung wird nicht 11 hergestellt.“ Auf dem Hintergrund dieser Einsicht wird deutlich, warum an so vielen Stellen dieser Untersuchung das beziehungsgefährdende Moment der Instrumentalisierung bzw. Funktionalisierung des Gegenübers zum Tragen kommt (s.o. z.B. II. 4; II. 6; III. 2; V. 3.2; V. 3.3). Aber: Das wichtige Moment des besseren Selbstverstehens darf und soll nicht auf Kosten des Gegenübers stattfinden. Die selbstverständliche Abwertung des Judentums in der christlichen Tradition zum Zwecke der Selbsterhöhung soll der Vergangenheit angehören. Dennoch stellt sich an verschiedenen Stellen der beschriebenen Neuorientierung eine Selbstbezogenheit ein, die zumindest 8 9 10 11
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T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 58. A.a.O., 60. A.a.O., 59. A.a.O., 60.
in der Gefahr steht, das jüdische Gegenüber zum Mediateur christlichen Selbstverstehens zu instrumentalisieren. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss aber betont werden: (i) Die Möglichkeit zu besserem Selbstverstehen durch die Wahrnehmung des Gegenübers ist ein wichtiges und legitimes Moment christlich-jüdischer Verständigung. Christliche Verkündigung nimmt in ihrer biblischen Hermeneutik den Sachverhalt wahr, dass das Verstehen jüdischer Tradition die Schrift für Christen besser erschließt. (ii) Die Offenheit für das Gegenüber, die sich dabei zeigt, bedeutet noch keine Beziehungsaufnahme und Beziehungsrealisierung. Dies klar zu sehen, erleichtert es, die Differenzen zum Gegenüber und dessen Eigenwert nicht über-, aber auch nicht unterzubewerten. b) Begegnungen zwischen Bereicherung und Enteignung Als zweites Modell beschreibt Sundermeier die „Begegnung“. Er charakterisiert dieses Modell unter Aufnahme einer „Ontologie der Beziehung“ von Martin Buber: „Sie [sc.: die Beziehung; CS] konstituiert beide, das Ich und das Du, und ermöglicht den Weltentwurf im Reich der Dinge, der Umwelt, der nicht-menschlichen Mitwelt.“ Im Rahmen dieses Beziehungsmodells gilt: „Der Mensch bedarf des anderen, um er selbst sein zu können, und zwar nicht nur im Sinne des reflexiven Selbstbewusstseins, sondern im Er12 fahrungs- und im Konstitutionshorizont.“ Im Beziehungsmodell der Begegnung wird der andere als Bereicherung erfahren. Diese Form der Wahrnehmung des anderen begleitet den christlichen-jüdischen Dialog seit Beginn der zweiten Phase (s.o. IV. 2). Die Wahrnehmung des Judentums wird als eine Bereicherung erfahren, die den Aspekt eines nur selbstbezogenen besseren Selbstverstehens übersteigt. Als Beispiel kirchlicher Praxis mag hier die Aufnahme von chassidischen Geschichten in die Predigt dienen, die in der Zusammenstellung Bubers rezipiert werden, oder die intensive Beschäftigung mit dem Werk Marc Chagalls. Chagalls Kunstwerk „Weiße Kreuzigung“ z.B. ist Kernstück vieler Predigten. Klaus Müllers Studie „Diakonie im Dialog mit dem Judentum“ ist von dem Modell der bereichernden Begegnung geprägt. Hier wird der reiche Schatz diakonischer Traditionen im Judentum aufgearbeitet. Müller plädiert schließlich für eine Bereicherung christlichen Diakonieverständnisses durch die „inklusivtheologische Begründung jüdischer Sozialtraditionen“: „Jenseits aller christlichen Bezugnahme auf diesen oder jenen Topos aus der Tradition des Judentums scheint mir gerade die weite theologische Horizontbeschreibung der tsedaqa- bzw. chässäd-Erweise auch für die [sc.:
12 A.a.O., 61.
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13
christliche; CS] Diakoniekonzeption wegweisend zu sein.“ Dass die Wahrnehmung des Gegenübers gerade in der Erfahrung seiner Eigenheiten die Begegnung reich und fruchtbar sein lässt, halte ich für ein wichtiges, ja entscheidendes Moment der Beziehungsrealisierung. Die Gefährdung der Beziehung, die in der Übernahme dieses Modells liegt, beschreibt Sundermeier so: „Zwar gilt, dass der andere immer er selbst bleibt und nicht als Feind erscheint und weder Kampf, Vereinnahmung noch Unterjochung möglich ist, dass er aber auch nicht als Fremder mehr 14 fremd bleibt.“ Und weiter: „Der andere ist niemals der Fremde. Die Alterität des Du ist keine echte Alterität, sondern durch das Gleiche verbrämt 15 und verschönt.“ Wenn es auch nicht zu einer Vereinnahmung des anderen kommt, so doch zu einer An- bzw. Enteignung jener bereichernden Elemente, die auf diese Weise ihre Fremdheit verlieren. Im Blick auf die christliche Verkündigungspraxis wird diese Problematik neuerdings beschrieben, wenn z.B. A. und W. Kruse davor warnen, jüdische Tradition als Steinbruch für die christliche Predigt zu missbrauchen (s.o. V. 3.4). Auch die „Umarmung“, so von Tippelskirch, kann zu einer Form der Erdrückung des anderen werden (s.o. III. 2). So steht eine Überbetonung der Gemeinschaft mit dem Judentum in der Gefahr, in der Begegnung mit dem jüdischen Gegenüber den Blick für dieses Gegenüber und dessen Selbständigkeit zu verlieren. Karlheinz Müller weist auf diese Problematik im Blick auf die chassidischen Geschichten in der Predigt hin. An verschiedenen Stellen der Arbeit wurde in diesem Zusammenhang von der Aufgabe der Grenzwahrnehmung gesprochen. Diese bewahrt vor einer Enteignung und Instrumentalisierung des Gegenübers gerade dann, wenn eine fruchtbare Begegnung stattfindet (s.o. V. 3.4). Bei einem Modell, das auf Begegnung und Dialog setzt, stellt sich die Frage, ob es tendenziell auf Mission ausgerichtet ist. Die intensive Begegnung und Beschäftigung mit dem anderen setzt bisweilen den Wunsch nach Standortwechseln frei. Konversion gehört zu den selbstverständlichen Begleiterscheinungen von Begegnungen, auch in der christlich-jüdischen Tradition. Mission kann hingegen im Zusammenhang einer christlichen Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers, bei der die Beziehung durch Verbindendes und Trennendes gekennzeichnet ist und bei der die Aufhebung der Beziehung als anti- bzw. philojüdische Gefährdung beschrieben wird, nicht das erklärte Ziel sein. „Unmöglichkeit und Auftrag“ christlichen Zeugnisses kennzeichnen hier das christliche Selbstverständnis, wie Lenhardt darlegt (s.o. V. 2.) und wie auch Adloff im Blick auf die kirchliche Praxis betont (s.o. V. 4.2). Zweierlei möchte ich in diesem Zusammenhang festhalten:
13 K. MÜLLER: Diakonie, 469. 14 T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 61. 15 A.a.O., 62.
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(i) Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers und die Erfahrung der Beziehung als Bereicherung des eigenen Glaubens ist grundlegendes Moment einer Öffnung für das Gegenüber und der Offenheit in der wechselseitigen Wahrnehmung. (ii) Es besteht die Gefahr, in der Übernahme bereichernder Elemente den Blick für die Andersheit des anderen zu verlieren und die Grenzen, die – sprichwörtlich – stets fließend sind, aus den Augen zu verlieren. Es droht dann eine – in der Regel instrumentalisierende – Perspektivverwechslung. c) Die Andersheit des jüdischen Gegenübers zwischen Gemeinschaft und Verschiedenheit Im Anschluss an Levinas formuliert Sundermeier ein Beziehungsmodell, dass von der Andersheit des anderen bestimmt ist: Die Begegnung mit dem anderen „ist kein Weg zur Selbstfindung, sondern ein Exodus ohne Heimkehr. Abraham ist das Vorbild. Der Weg zum anderen gründet nicht in einem Bedürfnis (besoin), denn das setzte ja voraus, dass das Ich unvollkommen ist und Ergänzung nötig hat, [...], sondern im Verlangen (désir), in der 16 ‚Begierde‘ nach dem anderen.“ Schon die Identifikation mit dem anderen stehe unter dem Verdacht der heimlichen Aneignung. Der andere begegne in reiner Alterität, die – weil dessen Andersein nicht durchdrungen werden könne – auf ein Aufleuchten seines Antlitzes reduziert sei. Die Differenz zum anderen werde nicht aufgelöst, er werde nicht zur heimlichen Selbsterkenntnis instrumentalisiert. Im Gegenteil: Vor diesem anderen sei das Ich 17 „unendlich verantwortlich.“ Die Beziehung hat von Anfang an ethischen Charakter. Sundermeier beschreibt Levinas Modell als eine Radikalisierung der Wahrnehmung des anderen zur absolut heteronomen Erfahrung. Als Beweggründe für diese Radikalisierung nennt er zum einen Levinas „Aufstand gegen die Egozentrik der Bewusstseinsphänomenologie Husserls und den abendländischen Idealismus, der mit seinem egologischen Speer auch den 18 fernsten Menschen herrscherlich“ erreiche. Zum anderen sei Levinas bestimmt vom Wissen um die Notwendigkeit solidarischen Handelns: „Denn erst ‚die Infragestellung meiner Selbst durch den Anderen macht mich dem 19 Anderen in unvergleichlicher und einziger Weise solidarisch‘.“ In der Spur des anderen begegne darüber hinaus die Spur des „ganz Anderen“, d.h. die Spur Gottes. Darin sei die Verwiesenheit an den anderen begründet. Das
16 A.a.O., 64. 17 E. LEVINAS: Die Spur des Anderen, 225. (Zitiert nach T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 64.) 18 T. SUNDERMEIER: Den Fremden verstehen, 66. 19 Ebd. (T. Sundermeier zitiert hier Levinas).
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Handeln für den anderen bekomme jene Qualität, „die als ‚Liturgie‘, als 20 ‚Diakonie‘ zu bezeichnen ist.“ Ohne Frage ist eine Theologie, die bewusst Theologie nach der Erfahrung des Holocaust sein will, von dem ethischen Impuls bestimmt, der in der Konzeption Levinas’ zum Ausdruck kommt. Bei Kohns Entwurf einer Theologie nach der Schoa (s.o. V. 2.), bei von Tippelskirchs Überlegungen zur Andersheit des Gegenübers (s.o. III. 2.), im Entwurf Schoberths, die im Lernen in der postmodernen Gesellschaft die Verwiesenheit an das Gegenüber als bestimmendes Moment entdeckt (s.o. III. 4.), sind wesentliche Elemente der Levinasschen Beziehungsbestimmung als solidarischer Verwiesenheit an den anderen enthalten. Auch Adloff, der diese Verwiesenheit ins Zentrum seines Entwurfes stellt, rekurriert auf Levinas (s.o. V. 4.2). Die Anlage der vorliegenden Untersuchung, die von vornherein das Judentum als selbstbestimmtes, selbstständiges Gegenüber annimmt und jegliche Vereinnahmung aus christlicher Perspektive als unzulässig ansieht (s.o. Einleitung 5.), lässt sich zu einem gewissen Grade von diesem Beziehungsmodell her verstehen. Es soll der Formung jüdischen Gegenübers nach einem Bilde christlicher Wünsche oder Vorstellungen gewehrt werden. Irritationen, die hierbei entstehen, sind gewollt oder werden zumindest in Kauf genommen. Vor allem aber soll eine Wahrnehmung und Begegnung mit dem Gegenüber auf diese Weise ermöglicht werden, die im anderen nicht nur sich selbst wiedererkennt. Die Kehrseite dieses Modells besteht darin, dass der andere, auch das jüdische Gegenüber, in gewisser Hinsicht unerreichbar bleibt: „Die Differenz 21 zum anderen ist irreduzierbar.“ Der Primat der Ethik und der Verantwortung für den anderen scheint die Verstehensbemühung zu ersetzen, die Herstellung einer auf Gemeinsamem und Unterscheidendem basierenden Beziehung bleibt letztlich unvermittelt. Diese Problematik wird ebenfalls in der Anlage der vorliegenden Untersuchung sichtbar. Die Frage ist berechtigt, ob es denn überhaupt zu der mit Nachdruck geforderten Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers kommt und ob nicht auf der Grundlage eines Modells, das die Andersheit des Gegenübers so stark betont, jegliche Form der Beziehung letztlich blass bleiben muss. Auf dem Hintergrund der besonderen Nähe von Christentum und Judentum muss diese „Blässe“ besonders problematisch erscheinen. Dagegen ist festzuhalten: Es ist bewusst eine Sichtweise gewählt und durchgehalten, die das Judentum nicht aus der Perspektive christlicher Theologie definiert, um so die Wahrnehmung eines lebendigen, von den eigenen Vorstellungen verschiedenen Gegenübers Judentum überhaupt erst zu ermöglichen. Der gewählte Ansatz zielt auf eine Beziehung zum jüdischen Gegenüber, in der Verbindendes und Trennendes wahrgenommen werden.
20 A.a.O., 66f. 21 A.a.O., 69.
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Die Gefahren, die sich aus einer solchen Anlage der Beziehung ergeben, zeigen sich in praktisch-theologischen Tendenzen zur Abgrenzung vom Judentum, die nicht in einer Geringschätzung, sondern in besonderer Wertschätzung gründen. Ein Verzicht auf die Psalmen im Gottesdienst weist in diese Richtung (s.o. V. 6.). Die Sorge vor Instrumentalisierung oder Enteignung führt hier zu einer Praxis, die in die Gefahr gerät, auch das Verbindende nicht mehr angemessen zum Ausdruck bringen zu können. Zwei Aspekte sollen deshalb festgehalten werden: (i) Die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in seiner Andersheit und die Anerkennung dessen, dass in erster Linie solidarisches Handeln die Differenz zu überbrücken weiß, gehört zu den wichtigen Impulsen einer Theologie nach Auschwitz, die die Gefährdung der Beziehung durch Vereinnahmung und Leugnung des Gegenübers im Blick hat. (ii) Notwendig ist eine Beziehung zum Judentum, die Trennendes wahrnimmt, aber Verbindendes nicht ablehnt. Bei der Wiederentdeckung gerade auch des Verbindenden in der Neuorientierung nach 1945 sollte das Unterscheidende nicht unterschlagen, aber das Verbindende nicht vernachlässigt werden. Die Offenheit für das Judentum gründet in seiner Andersheit, die Verwiesenheit an das Judentum im Wissen um eine vorgängige Verbundenheit. d) Austausch in wechselseitiger Verbundenheit und Verschiedenheit Ein viertes Begegnungsmodell entwickelt Sundermeier selbst. Die Beziehung basiert hier auf der Konstitution des Selbst im Gegenüber zum anderen. Wesenszüge einer Begegnung sind die gegenseitige Konstituierung des jeweils anderen und die Möglichkeit zum wechselseitigen Austausch ohne 22 Verschmelzung ineinander. Gegenseitiges Verstehen findet auf der Basis wechselseitiger Anerkennung des anderen als gleichberechtigtem Gegenüber statt. Es kommt zu einem gegenseitigen „osmotischen“ Austausch. Das dahinterstehende Prinzip der Homöostase verleiht dieser Form der Bezie23 hungsrealisierung ihren Namen: das „homöostatische Begegnungsmodell.“ Dieses Modell stellt deutlich eine Art Idealtypus von Begegnung und Beziehungsrealisierung dar. Instrumentalisierung, Vereinnahmung, Herabwürdigung oder Beziehungsauflösung werden ausgeschlossen. An verschiedenen Stellen der Untersuchung blitzt diese Form des Idealtypus auf, so in der Rede vom hermeneutischen Dialog als Modell, in dem das vom eigenen Standpunkt verschiedene Gegenüber und der offene Dialog mit diesem Gegenüber konstitutiv in das christliche Selbstverständnis integriert werden, ohne dass dieses Selbstverständnis dadurch an Konturen im Gegenüber verliert. Adloff führt diese Form der Einbeziehung einer Wahrnehmung des 22 Vgl. a.a.O., 134. 23 Vgl. a.a.O., 135.
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jüdischen Gegenübers vor. Die Konvivenz, auf die Sundermeier in diesem Modell als Zielperspektive abhebt – Adloff spricht von einem fruchtbaren Nebeneinander – wird in den gemeinsamen Bibelarbeiten auf den Kirchentagen der 1980er und 1990er Jahre anschaulich. Die Arbeitsgemeinschaft Christen und Juden des Deutschen Evangelischen Kirchentages kann als Ort begriffen werden, an dem Gesprächsbereitschaft, Offenheit, auch bisweilen notwendiger Streit zur Realisierung einer fruchtbaren Beziehung führen. Zugleich wird im Blick auf die Geschichte dieser Arbeitsgemeinschaft deutlich, wie gefährdet die Beziehung zwischen Christen und Juden immer noch ist. Das vierte Modell ist ein Idealtypus, der in der Realität nur selten zu erreichen ist. Zudem werden hier Grenzen der Übertragung einer in missionswissenschaftlichem Rahmen entwickelten Typologie auf die Homiletik sichtbar. Für Sundermeier ist das Ziel die Begegnung mit dem anderen, in der ein Verstehen des Fremden in seinen Möglichkeiten und Grenzen deutlich wird. Ziel christlicher Predigt bleibt auch nach dem Holocaust die Verkündigung des Wortes Gottes. Sie soll im Bewusstsein und in der Wahrnehmung eines lebendigen jüdischen Gegenübers geschehen. Dabei steht nicht die Begegnung im Vordergrund, sondern die Wahrnehmung einer Beziehung, die sich in der Regel im Spannungsfeld der ersten drei Modelle realisiert. Auf diesem Hintergrund kommen die genannten konkreten Vermittlungsstrategien homiletischer Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers in den Blick. So ist mit der Beziehungsaufnahme die Infragestellung eigener Positionen verbunden. Die Aufgabe der Grenzwahrnehmung soll den Reichtum der Begegnung mit dem jüdischen Gegenüber vor Aneignung und Enteignung bewahren. Die Standortbestimmung lässt die Andersheit des Gegenübers, aber auch die Verbundenheit deutlich werden (s.o. V. 3.4). 5. Predigen aus dem Gedenken an den Holocaust Die Überlegungen in dieser Arbeit galten mittelbar und unmittelbar der Frage, wie im Gedenken an den Holocaust gepredigt werden kann und soll. Der Gang der Untersuchung hat gezeigt: – Wir können gerade bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage bei den Humanwissenschaften lernen. Sie haben uns das Phänomen der Erinnerung und der Verdrängung der Erinnerung erschlossen und uns gelehrt, die Gefahr von Instrumentalisierungen, Täter-Opfer-Verwechslungen, Trivialisierungen und Rationalisierungen zu sehen und die Grenzen der Erinnerung wahrzunehmen. Eine homiletische Theorie, die der Predigt dienen will, wird dies bedenken und verarbeiten. – Die Vorbereitung der Predigt muss eine sozialpsychologische Wahrnehmung von Plausibilitätszusammenhängen leisten, die im Blick auf etwaige antijüdische oder philojüdische Implikationen befragt und notfalls aufgebrochen werden müssen. Hierzu gehört auch die kritische Befra328
gung christlicher Theologumena, die eine Herabwürdigung, Instrumentalisierung oder Aneignung des jüdischen Gegenübers und dessen Traditionen mit sich bringen. – Bewahrendes Gedenken an den Holocaust realisiert sich in der Predigt durch eine neue Wahrnehmung des Judentums als eines selbstbestimmten Gegenübers, eines Gegenübers, mit dem man verbunden und von dem man getrennt ist. Predigt im Gedenken an den Holocaust ist sensibel gegenüber allen antijüdischen Wertungen des Judentums, auch in Form philojüdischer An- und Enteignungen. – Predigt als Verkündigung des Wortes Gottes bleibt bei ihrer Sache, wenn sie durch die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium strukturiert und ihr Inhalt durch Gesetz und Evangelium bestimmt wird. Die Erinnerung an den Holocaust ist Teil der Predigt des Gesetzes. Es gilt, an die Sünde zu erinnern und Neuanfang in Form von Beziehungswahrnehmung zu ermöglichen. Die Erinnerung an die Sünde darf jedoch kein „Handeln mit den Bildern des Todes“ sein. Ein christliches Verständnis von Gesetz und Evangelium ist nicht antijüdisch. Im rechten Gebrauch der Unterscheidung wird vielmehr die Bezogenheit auf das jüdische Gegenüber festgehalten und die Verschiedenheit durch das spezifisch christliche Verständnis von Evangelium mitgesagt. Die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium stellt jüdische Identität nicht in Frage, sondern ermöglicht die Wahrnehmung des jüdischen Gegenübers durch seine zur Selbstunterscheidung anleitende Weise.
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Namenverzeichnis Adloff 169, 270, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 282, 285, 286, 287, 291, 293, 302, 304, 305, 310, 314, 319, 324, 326, 327, 328 Adorno 68, 86, 91, 133, 139, 219, 220 Albert 31 Ambros 125 Aring 171, 172 Arndt 173, 174 Assheuer 86, 116 Assmann 34, 35, 36, 37, 49, 50, 59, 62 Auchter 104, 105 Augustinus 48, 49 Bader 55, 56, 60 Bahners 120 Baltzer 50 Barié 256, 257, 258, 262 Barth 10, 12, 202, 211, 283 Bartlett 32 Bassarak 306 Bauer 183 Baum 143 Baumann, Arnulf 168, 183, 238, 240, 242, 243, 262, 308, 318 Baumann, Zygmunt 91 Baumbach 306 Bellebaum 107, 108, 109 Ben-Chorin 145, 152, 159, 161, 169, 183 Bendel-Maidl 108 Berg 69, 72, 73, 74, 82 Berger 125, 218 Bernhardt 306, 307 Bethge 170, 171, 178, 179 Bialas 93, 94 Bialik 272 Biemer 165 Bieritz 12
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Bizer 269 Bloth 254, 255, 256, 258, 305, 309, 319 Blum 190 Bogdahl 115 Bohren 10, 15, 16, 17, 18, 19, 28, 58, 154, 168, 196, 197, 198, 207, 254, 262, 287, 289, 319 Boltanski 87 Bonhoeffer 110 Bormann 31, 48, 49 Braun 86 Brocke, Edna 152, 153, 182, 183, 227 Brocke, Michael 115 Broder 114, 115, 121, 139 Broniatowski 87 Broszat 61, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79 Brumlik 71, 88, 93, 95, 96, 104, 105, 106, 143 Buber 185, 189, 198, 199, 323 Bubis 7, 113, 114, 115, 117, 118, 119, 121, 122, 124 Büchner 149, 150 Bukowski 280, 286, 287, 291 Celan 111, 112 Claussen 99, 100, 133 Crüsemann 145 Dahm 12 Daiber 288 Dannowski 12, 13, 205, 206, 278 Dantine 306 Dauenhauer 109 Dehn 173 Dembowski 225, 226, 227 Demke 306 Denecke 12, 169, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 276, 279, 282, 286, 287, 291, 305, 310
Depke 303 Dexinger 146, 147 Dietrich 108, 109, 110, 134, 192 Diner 20, 61, 66, 73, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 89, 93 Dischereit 120 Dohmen 190 Dohnanyi 120 Ebach 138, 139, 140, 322 Eckert 141 Eco 39 Ehrenberg 174, 175 Ehrlich 158, 159, 169, 228 Eliade 48, 52, 55 Engemann 11, 13, 14, 213, 214 Fackenheim 24, 25, 27, 28 Fendt 195 Fest 71 Flusser 20, 24, 25, 26, 27, 28, 66, 90, 91, 92, 93, 95, 104, 111 Foppa 106 Frei 130, 132 Freud 40, 41, 42, 43, 63 Frey 145 Frick 174 Friedländer 20, 61, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 83 Friedrich 156, 300, 301, 302 Fuchs 288 Fürst 175, 176 Gausebeck 44 Geis 169, 181 Gerz 86, 87 Ginzel 132, 180 Glatstein 111 Goldmann 163 Goldschmidt 169, 179 Gollwitzer 169, 180, 183, 199, 200, 201, 206, 207, 297, 313 Goschke 42 Groo 203 Grosse 234 Grözinger 57, 58, 59, 127, 154 Gunneweg 294, 295, 306 Haacke 87 Haar 198, 199, 201, 202, 205, 297 Habermas 70, 71, 76, 77 Haendler 213, 214
Halbwachs 33, 34, 35, 36 Harpprecht 126 Hauschildt 280, 282, 283, 285 Haverkamp 49, 50, 51 Heidegger 93, 95, 116 Hempel 188 Henrix 170, 171, 172, 179, 216, 218, 233, 234 Hermelink 212, 317 Hertzsch 197 Herzog 113, 122, 125 Heschel 161, 185, 272, 278 Hesse 173 Heyl 97, 98, 100 Hinz 297, 298, 299, 304, 306 Hoffmann 315 Hoheisel 87, 88 Honecker 216, 225 Iwand 16, 18, 210, 211 Jäckel 71 Jäckle-Stober 264, 287, 309 Jacob 138 Jasper, Gerhard 173 Jasper, Willi 131 Joest 217 Josuttis 12, 13, 14, 63, 127, 143, 211, 217, 269, 277, 281, 283, 285, 286, 288, 289, 290, 313, 314 Jüngel 283, 284, 288 Just-Dahlmannn 259, 260, 261, 309 Kabel 314 Kaminski 73 Kaniuk 32 Kant 96 Käsemann 217 Kemper 108 Kershaw 69 Kimmich 93 Kittel 68, 307 Klappert 158, 159, 170, 222, 223, 297 Klein 145, 217 Klessmann 33 Koch 190, 304 Kohler-Spiegel 165 Kohn 219, 220, 326
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König 187 Korn 113, 114, 115, 117, 118, 119, 121, 122, 124 Kortzfleisch 181 Kosellek 86 Kraus, Hans-Joachim 169, 181, 188, 189, 296, 297 Kraus, Wolfgang 143, 218, 234 Krebs 21, 315 Kremers 170 Kriener, Katja 144, 224, 225 Kriener, Tobias 170, 272, 273 Krochmalnik 272 Kruijf 141 Kruse 214, 262, 263, 264, 287, 309, 324 Künkel 293, 294 Küppers 172 Kurth 151 Kusche 188 Kwaschik 307 Lachmann 37, 38, 39, 40, 62, 181 Landsmann 89, 132 Lange, Ernst 12, 212 Lange, Nicholas 139, 140 Lange, Thomas 165 Lapide 180, 183, 223, 224, 293, 298 Laplanche 40, 42 Lassmann 166 Lauff 302 Lehr 139 Leibowitz 164, 227 Lenhardt 218, 228, 229, 230, 231, 232, 304, 324 Link 295, 296 Loewy 69, 100, 101, 102, 103, 119 Lohfink 50 Lübbe 53 Luibl 112 Luther 156, 174, 276, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 290, 291, 292 Luz 142, 180, 247 Lyotard 20, 66, 90, 93, 94, 95, 103, 104, 105, 106, 107, 111 Marquard 53
358
Marquardt 152, 155, 156, 176, 202, 203, 205, 207, 209, 210, 214, 272, 273, 293, 318, 322 Marsch 181 Maser 131, 132 Metz 48, 59, 170, 171, 219, 220, 293 Meyer 126 Meyer-Blanck 205 Miskotte 160 Mitscherlich 19, 63, 64 Möller 211 Moser 64 Müller, Christoph D. 169 Müller, Hans Martin 10, 11, 195, 196, 197, 205, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 262, 280, 308, 318 Müller, Hans Peter 204, 205 Müller, Karlheinz 253, 324 Müller, Klaus 323, 324 Müller, Wunibald 109 Münz 59, 60, 69, 111, 130, 131 Nancy 85 Neuhaus 55 Nietzsche 107 Nipperdey 74 Niroumand 88 Nolte 68, 70 Oexle 51, 52, 59 Osten-Sacken 144, 190, 218, 252, 253, 258 Ostmeyer 305, 306, 307 Otto, Gert 12, 13, 106 Otto, Rudolf 110 Pahnke 306 Parkes 139 Pawlikowski 134, 135, 170 Perels 68 Perlitt 50 Petersen 132, 170, 178, 216 Pfisterer, Otto 138 Pfisterer, Rudolf 131, 145 Pfleiderer 123, 124 Philipp 148, 149 Piper 12 Poliakov 138 Preuß/Preuss 168, 192, 193, 195
Quade 269 Quervain 183, 184, 185, 186 Rapaport 40, 41, 42 Rau 169, 243, 244, 245, 246, 248, 249, 250, 251, 262, 305, 308, 318 Reichel 9, 87 Reich-Ranicki 115, 119 Reik 41 Reinbold 145 Rendtorff 144, 152, 170, 171, 172, 178, 190, 191, 194, 206, 218, 233, 234, 259, 260, 261, 309 Rengstorf 181 Reuveni 74 Reventlow 190, 204, 306 Richter 64 Ritschl 56, 57, 58, 134, 160 Roloff 264 Rosenfeld 111 Rosenstock-Huessy 52, 53 Rössler 12, 13 Rothgangel 165 Rudnick 243 Ruler 189, 190, 194, 195 Sachs 111 Schaeffler 54 Schaller 141 Schapp 56 Schatzker 166 Scheffler 131 Scheidacker 205, 306 Schepank 40 Schieder 173 Schirrmacher 113, 114, 115, 117, 118, 119, 121, 122, 124 Schmid, Herbert 187, 188 Schmid, Peter 151 Schmidt, Heinz 171, 173 Schmidt, Johann Michael 224, 225 Schmithals 303 Schmitz 43, 44, 45, 46, 47, 48, 63, 65, 106 Schoberth 57, 106, 107, 160, 161 Schoeps 148, 149, 181, 182 Schonveld 267 Schoschan 132 Schröder 162, 163, 164
Schühlen 131 Schulz 268 Schunack 205 Schuster 188 Schwemer 168, 183, 238, 240, 242, 243, 262, 308, 318 Seebass 224, 225 Seim 217 Seligmann 124 Sellin 188 Siegert 154 Slenczka 216 Spiegel 63 Stahl 302 Stead 268 Steck 176, 177, 178, 204, 208, 209, 210, 212, 297, 317 Steffensky 300 Stegemann, Ekkehard 141, 299, 301, 304 Stegemann, Wolfgang 155 Stemberger 272 Stern 107, 146, 147, 171, 172 Stöhr 115, 119, 141, 183, 206, 218, 300 Stubbe 109, 110 Sundermeier 155, 156, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 328 Theißen/Theissen 141, 142 Thieme 181, 182 Thilo 150 Thoma 134, 139, 140 Tillich 146 Tippelskirch 137, 324, 326 Traub 217 Trillhaas 10, 195, 196, 197 Ullman 87 Vasel 143 Veit 272 Volkmann 22, 23, 170, 243, 263, 264, 265, 287, 309 Vollenweider 144 Volp 38 Wächter 307 Walser 7, 21, 29, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 127, 312, 315
359
Wehler 70 Weinert 31 Weinrich, Harald 63 Weinrich, Michael 138, 303, 304 Wendland 206 Wengst 142, 152 Wermke 158, 159 Westernhagen 64 Weyel 213, 306 Weyer 169, 173, 235, 236, 237, 257, 308, 316 Wiefel-Jenner 110 Wiese 136
360
Wiesel 111, 112, 131, 133, 159, 161, 314, 315 Wilckens 143, 180 Winkler 282, 286 Wintzer 12 Wittekindt 183 Wyschogrod 143, 227 Yerushalmi 49, 52, 53, 54 Young 72, 130 Zaban 89 Zenger 190, 193 Zimbardo 31, 32 Zimmerli 188, 189, 191, 194, 195 Zuckermann 120