Der Vertrauensschutz im deutschen Straßenverkehrsrecht [1 ed.] 9783428446193, 9783428046195


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Der Vertrauensschutz im deutschen Straßenverkehrsrecht [1 ed.]
 9783428446193, 9783428046195

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 37

Der Vertrauensschutz im deutschen Straßenverkehrsrecht Von

Klaus Kirschbaum

Duncker & Humblot · Berlin

KLAUS

KIRSCHBAUM

Der Vertrauensschutz im deutschen Strafienverkehrsrecht

Strafrechtliche Abhandlungèn · Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäueer ormacht 8 0 . Wimmer selbst beschreibt „ m i t einer gewissen Ratlosigkeit" das bunte B i l d solcher Definitionsversuche: „ M a n f ä h r t : vorbildlich, intelligent, k l u g u n d weise, innerlich bereit, aufmerksam, wach, konzentriert, behutsam, vorsichtig u n d vorausschauend, umsichtig-gekonnt u n d überlegen, überlegt, vorbeugend, charaktervoll, selbstbeherrscht, gelassen, geduldig, abtastend, dynamisch-elastisch, nach76

So verträgt sich das v o n Wimmer häufig beschworene Idealbild des „defensiven" Kraftfahrers schlecht m i t dem Negativbild, das sich dieser von allen übrigen Verkehrsteilnehmern zu machen hat. Das f ü h r t zu der paradoxen Situation, daß m a n dem K r a f t f a h r e r nicht n u r untadeliges Verhalten i m Straßenverkehr zumutet bzw. „zutraut", sondern daß i h m auch f ü r die Fehler anderer K r a f t f a h r e r „die naturgegebene volle M i t v e r a n t w o r t u n g " (Wimmer, Ausdehnung, S. 374) auferlegt w i r d , gerade w e i l m a n davon ausgeht, daß die K r a f t f a h r e r allzumal Sünder bzw. „ I d i o t e n " (vgl. Erster Teil, A n m . 206) sind, denen m a n zu „mißtrauen" hat. 77 Dazu oben S. 40, 95. 7 ® Wimmer, Ausdehnimg, S. 373. 7β Wimmer, ebenda, S. 374; vgl. dazu Lange, Defensives Fahren, S. 170. 8® Vgl. Beine, Defensives Fahren, S. 184 f. u n d die dort zitierten u n t e r schiedlichen Auffassungen zum Begriff des „defensiven Fahrens".

III. Vorschläge zur Beschneidung des „Vertrauensgrundsatzes"

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giebig, verhalten, angepaßt an Gefahrmöglichkeiten, die sich ankündigen, die bevorstehenden Verkehrsbewegungen u n d das Verkehrsbild i m k r i tischen Moment voraussehend (Bewegungssehen), an Rechte anderer denkend, den Partner sorgfältig beobachtend, seine Absichten frühzeitig erkennend, vorausdenkend, w i e das eigene Verhalten von anderen verstanden w i r d u n d w i e diese darauf reagieren werden, offensichtlich falschem Verhalten anderer begegnend, m i t Fehlern u n d sogar Torheiten anderer rechnend, i n kritischen Lagen nicht auf eigenen Rechten bestehend, sondern zurückstehend, gefährliche Fahrmanöver richtig machend, aber a u d i möglichst durch ungefährliche ersetzend, i m ganzen mehr tuend als m a n muß u n d auch einmal verzichtend, ohne zu müssen» 1 ."

Die Vielfalt dessen, was alles unter „defensivem Fahren" verstanden werden kann und die dadurch verursachte Unschärfe des Begriffes hat offenbar auch den Gesetzgeber zur Zurückhaltung genötigt. Denn während, wie schon gesagt, i m ersten StVO-Entwurf dem „defensiven Fahren" noch ein eigener Abschnitt gewidmet w a r 8 2 , kommt dieser Begriff i n der Begründung zur StVO 1970 nur i n einem einzigen kurzen Satz vor. Die Begründung zu § 5 Abs. 1 StVO („Wer zum Überholen ausscheren w i l l , muß auf den nachfolgenden Verkehr achten") lautet: „ S a t z l ist eine Konsequenz aus dem Grundprinzip des ,defensiven F a h rens', das i n § 11 StVO seinen normierten Ausdruck f i n d e t 8 8 . "

Schon dieser kurze Hinweis stellt zwei recht verschiedene Sinngebungen des Begriffes „Defensives Fahren" unverbunden nebeneinander. Wenn dem, der zum Überholen ausscheren w i l l , aufgegeben wird, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten, so gehört dies zu den Fällen der „doppelten Sicherung", welche die StVO bei besonders gefährlichen Verkehrsvorgängen vorschreibt 84 . Denn beim Überholen ist es zwar i n erster Linie Sache des überholenden — also des nachfolgenden — Verkehrsteilnehmers den Vorausfahrenden, der ja seinerseits zum Überholen ausscheren könnte, sorgfältig zu beobachten. Wenn aber der vorausfahrende Fahrzeugführer ebenfalls vor dem Ausscheren auf den nachfolgenden Verkehr achtet, dürfte es auch dann nicht zu einem Unfall kommen, wenn einer der beiden Fahrer seine Beobachtungspflichten versäumt. Das Prinzip der „doppelten Sicherung" w i r d von Wimmer als ein „besonders eindrucksvoller" Anwendungsfall des „defensiven Fahrens" beschrieben 85 . M a r t i n hat jedoch anhand zahlreicher Beispiele nachgewiesen, daß das Strukturprinzip der doppelten Sicherung „nichts 8i Wimmer, Unterbau, S. 170. es E n t w u r f zur StVO, Abschnitt b) „Defensives Fahren", S. 48. S3 Begründung zu § 5 Abs. 4 StVO, S. 804. 84 Mühlhaus, StVO, A n m . 4 a) zu § 1 StVO; vgl. a u d i die doppelte Umschaupflicht des Linksabbiegers, § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO, dazu oben S. 86. 85 Wimmer, Rechtspflicht, S. 42.

7*

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3. Teil: „Vertrauensgrundsatz" und „defensives Fahren"

sensationell Neues besagt" und i n Gesetzgebung und Rechtsprechung längst praktiziert wurde, bevor je vom „defensiven Fahren" die Rede war 8 6 . Demgegenüber hat es § 11 StVO, der i n der Begründung zur StVO 1970 als der „normierte Ausdruck" des Prinzips vom defensiven Fahren, bezeichnet wird, m i t ganz anderen Fallgestaltungen zu tun. Wer trotz Vorfahrt oder grünem Lichtzeichen nicht i n eine verstopfte Kreuzung einfährt oder auf einen anderweitigen Vorrang verzichtet, „wenn die Verkehrslage es erfordert" (§11 Abs. 2 1. Halbsatz StVO), dient damit i n der Regel weder der eigenen Sicherheit noch der Sicherheit der übrigen Verkehrsteilnehmer, sondern lediglich deren besserem Fortkommen, allgemein der Flüssigkeit des Verkehrs 8 7 . Ob man dies als einen Unterfall des „defensiven Fahrens" ansieht oder als ein Postulat der „Billigkeit" i m Straßenverkehr, ähnlich dem Gebot von Treu und Glauben i m Zivilrecht 8 8 , ist eine Frage der Terminologie 8 9 . Das Beispiel zeigt jedenfalls die ganze Spannweite, aber auch die Verschwommenheit des Begriffes vom „defensiven Fahren". Dieser „Slogan" paßt auf Verhaltensweisen, die von der notwendigen doppelten Absicherung eines besonders gefährlichen Verkehrsvorganges bis zu einem lediglich den Geboten von Höflichkeit und Anstand entsprechenden Benehmen reichen 90 . Aber auch wenn es gelänge, den Begriff vom „defensiven Fahren" eindeutig zu umschreiben, bliebe die von Wimmer postulierte „Defensivität als Rechtspflicht" noch aus einem anderen Grund problematisch. Obwohl Wimmer immer wieder betont, er sei gegen eine Abschaffung des „Vertrauensgrundsatzes" 91 , so läuft die von i h m befürwortete „restriktive Anwendung des Vertrauensgrundsatzes" aufgrund einer „Rechtspflicht zum defensiven Fahren" 9 2 doch i m Ergebnis darauf hinaus 9 3 . Wimmer hat sich gegen diesen Vorwurf verwahrt. Nach seiner A n sicht liegt hier ein Mißverständnis vor: Er habe nie gefordert den „Vertrauensgrundsatz" abzuschaffen oder durch das „defensive Fahren" «β Martin, Defensives Fahren, S. 304. 87 Möhl, Defensives Fahren, S. 74; so auch B a y O b L G V e r k M i t t 1970, Nr. 118 unter Bezugnahme auf den damaligen E n t w u r f zu § 11 StVO. 88 Möhl, Defensives Fahren, S. 86. 8» Das O L G Düsseldorf ( V e r k M i t t 1977, Nr. 96) spricht i n diesem Z u sammenhang von „sachbezogener Fahrvernunft". 90 Möhl, Defensives Fahren, S. 74; kritisch zu § 11 Abs. 2 StVO dagegen Beine, Die neue Straßenverkehrsordnung aus der Sicht der Länder, S. 19 (35 ff.). 91 Wimmer, Ausdehnung, S. 374 ; Unterbau, S. 173, A n m . 4. 92 Wimmer, Rechtspflicht, S. 40. 93 So m i t Recht Martin, Defensives Fahren, S. 302.

III. Vorschläge zur Beschneidung des „Vertrauensgrundsatzes"

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zu ersetzen, sondern nur die Problematik, die Gefahren und die Grenzen des „Vertrauensgrundsatzes" aufzeigen wollen. „Defensivität" und „Vertrauensgrundsatz" hätten sich „auf einer mittleren Linie" zu treffen 9 4 . Bei der Bestimmung dieser „mittleren Linie" verwickelt sich W i m mer jedoch in Widersprüche. Die von ihm aufgestellten 6 Defensivregeln „des verpflichtenden Unterbaues" — also rechtlicher Verpflichtung i m Gegensatz zu einem „Oberbau" von Empfehlungen — w i l l er i n einem Zusatz zur Grundregel des § 1 StVO folgendermaßen zusammenfassen: „Schon jedes f ü r den Verkehr riskante T u n oder Unterlassen ist u n t e r sagtes."

Bei einer solchen Formulierung ist kaum zu sehen, wie sich „Defensivität" und „Vertrauensgrundsatz" noch auf einer „mittleren Linie" treffen sollen. Hier wäre der „Vertrauensgrundsatz" i n der Tat „durch den Mißtrauensgrundsatz rechtlich ausgehöhlt"»«.

im

Gewände

des defensiven

Fahrens

Damit ist dargetan, daß die Verrechtlichung des „Slogans" vom „defensiven Fahren" nicht geeignet ist, die von Wimmer gewünschte „restriktive Anwendung des Vertrauensgrundsatzes" 97 zu bewirken. U m das „defensive Fahren" ist es auch i n den letzten Jahren recht still geworden. Ihren Höhepunkt hatte die Diskussion u m das „defensive Fahren" und den „Vertrauensgrundsatz" Mitte der 60er Jahre i m Anschluß an die StVO-Entwürfe von 1963 und 1964 erreicht 98 . Aus neuerer Zeit ist dagegen nur noch ein Aufsatz Möhls zu nennen, der sich näher m i t dem Problem des „defensiven Fahren" beschäftigt 99 . Wimmer, Unterbau, S. 173 A n m . 4. »5 Ebenda, S. 173. 96 Lange, Defensives Fahren, S. 172; vgl. auch Martin, Defensives Fahren, S. 303; Mühlhaus, Defensives Fahren, S. 92; Möhl, Defensives Fahren, S. 77. Z u Recht meint Baumann (Zum E n t w u r f einer Straßenverkehrsordnung, D A R 1966, 29 [38]): „Es k a n n nicht schon jedes für den Verkehr riskante T u n u n d Unterlassen untersagt werden. Hier würde es an einer sicheren Grenzziehung zur Teilnahme am Verkehr überhaupt fehlen. Jede Teilnahme am Straßenverkehr ist riskant, u n d ein Verbot riskanten Tuns oder U n t e r lassen w ü r d e bedeuten, den Verkehr überhaupt zu vermeiden." »7 Wimmer, Rechtspflicht, S. 40. 98 Vgl. aus den Jahren 1963 - 1965 die Beiträge von Kleinewefers; Martin, K i n d e r ; Wimmer, Ausdehnung (alles 1963); Clauß; Martin, Defensives Fahren; Möhl, E n t w u r f ; Mühlhaus, Defensives Fahren; Wimmer, Rechtspflicht (alles 1964); Beine, Defensives Fahren; Lange, Defensives Fahren; Lidi; Wimmer, Unterbau; Winnefeld (alles 1965). 99 Auch Möhl k o m m t übrigens zu dem Ergebnis, daß es sich bei dem Gebot des „defensiven Fahrens" i n erster L i n i e u m eine „Redensart" handele, die sich für den Fahrschulunterricht u n d die Verkehrserziehung eigne (Möhl, Defensives Fahren, S. 73).

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3. Teil: „Vertrauensgrundsatz" und „defensives Fahren"

Ähnlich steht es m i t dem „Vertrauensgrundsatz". Wimmers Prophezeiung ist wahr geworden, dieser Grundsatz werde i n vernünftigen Grenzen angewandt, „ e i n unauffälliges u n d als selbstverständlich hingenommenes Dasein f ü h ren"ioo.

Die Vermutung liegt nahe, daß sich die Diskussion u m das „defensive Fahren" und den „Vertrauensgrundsatz" durch eine veränderte Haltung der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz i m Straßenverkehr erledigt hat. Es sei an die Übersicht der i n den letzten 24 Jahren i n der Zeitschrift „Verkehrsrechtliche Mitteilungen" veröffentlichten Entscheidungen zum Vertrauensschutz erinnert. Danach hat sich die Rechtsprechung offenbar die an ihrer Haltung zum „Vertrauensgrundsatz" geübte K r i t i k zu Herzen genommen, zumindest scheint inzwischen eine Tendenz zur Versagung des Vertrauensschutzes vorzuherrschen 101 . Jedoch mag es auch heute noch einige „neuralgische Anwendungsfälle des Vertrauensgrundsatzes" 102 geben, denen nachzuspüren sich lohnt. Dabei kann das Wort von der „Defensivität i m Straßenverkehr" durchaus eine nützliche Hilfe sein, indem es stets daran erinnert, daß den Belangen der Verkehrssicherheit gegenüber dem Streben nach schnellem Vorankommen der Vorrang gebührt 1 0 3 . A u f der anderen Seite darf davon ausgegangen werden, daß inzwischen die „Abschaffung des Vertrauensgrundsatzes" nicht mehr ernsthaft gefordert wird. Selbst ein so engagierter Vertreter des „defensiven Fahrens" wie Wimmer war ja bereit gewesen, den „Vertrauensgrundsatz" zu akzeptieren, „soweit ohne i h n Sinn u n d Zweck des modernen Verkehrs zunichte gemacht oder unerträglich beeinträchtigt w ü r d e n " 1 0 4 .

Nach Wimmers Auffassung sollte darin allerdings schon eine „restriktive Anwendung des Vertrauensgrundsatzes" zu sehen sein 1 0 5 , dem too Wimmer, Ausdehnung, S. 374; aus den letzten Jahren sind zu Problemen des Vertrauensschutzes i m Straßenverkehr lediglich zwei Aufsätze, wiederum von M ö h l (Voraussehbarkeit der Folgen verkehrswidrigen Verhaltens u n d der Vertrauensgrundsatz, D A R 1972, 57; „Generalklauseln" der Straßenverkehrs-Ordnung, D A R 1975, 60) u n d ein Aufsatz von Böhmer (Mißtrauensgrundsatz statt Vertrauensgrundsatz?, D A R 1977, 212) zu nennen. Bezeichnend ist, daß i m Gegensatz zu den Untersuchungen v o n Meyer! Jacobi ! Stiefel, aus dem Jahre 1961 i n der neuen großangelegten U n t e r suchung des HUK-Verbandes (Ursachen u n d Begleitumstände der V e r kehrsunfälle m i t schwerem Personenschaden i n der Bundesrepublik Deutschland, 8 Bände, H a m b u r g 1971 - 1973, dazu Cramer, Unfallprophylaxe) v o m „Vertrauensgrundsatz" überhaupt nicht m e h r die Rede ist. ιοί Vgl. oben S. 88. 102 Martin, Defensives Fahren, S. 305. 103 Möhl, Defensives Fahren, S. 78; B G H S t 16, 145 (149 f.). 104 Wimmer, Ausdehnung, S. 374. io» Wimmer, Rechtspflicht, S. 40.

III. Vorschläge zur Beschneidung des „Vertrauensgrundsatzes"

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hatte M a r t i n widersprochen, denn nach diesen oder ähnlichen Maßstäben sei der Geltungsbereich des „Vertrauensgrundsatzes" schon seit jeher abgesteckt worden: Stets habe die Rechtsprechung dessen A n wendbarkeit auf einzelne Verkehrsvorgänge allein unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit geprüft 1 0 6 . Inwieweit dies für die Rechtsprechung des Verkehrsstrafsenats vor dem Beschluß der Vereinigten Großen Senate zum Sichtfahrgebot auf Autobahnen vom 1. J u l i 1961 107 zutraf, mag auf sich beruhen 1 0 8 . Inwieweit dies für die heutige Rechtsprechung zutrifft, soll i m nun folgenden Teil der Arbeit anhand positiver und negativer Entscheidungen zum Vertrauensschutz i m Straßenverkehr geklärt werden. Dabei soll gleichzeitig der Versuch unternommen werden, durch eine systematische Ordnung der negativen Entscheidungen zum Vertrauensschutz Aufschluß darüber zu gewinnen, inwieweit es sich hier überhaupt u m „Ausnahmen" 1 0 9 von einem mehr oder weniger feststehenden Vertrauens-„Grundsatz" handelt 1 1 0 .

ιοβ Martin, Defensives Fahren, S. 303. io? B G H S t 16, 145. ιοβ v g l . dazu oben S. 80 ff.; vgl. aber auch den grundlegenden Beschluß des Verkehrsstrafsenats v o m 25. M a i 1959 zum Verhalten von K r a f t f a h r e r n an Omnibushaltestellen, dazu ausführlich unten S. 189. ιοβ Martin, Defensives Fahren, S. 304. no Vgl. oben S. 59.

Vierter

Teil

Die Reichweite des Vertrauensschutzes im Straßenverkehr Eine Übersicht über den Stand der Rechtsprechung I. Positive Entscheidungen zum Vertrauensschutz und der Gedanke der Verkehrssicherheit Zunächst soll eine Reihe von Entscheidungen daraufhin untersucht werden, ob sie bei der Bejahung des Vertrauensschutzes auch die Belange der Verkehrssicherheit berücksichtigen, also die Mahnung der Vereinigten Großen Senate beherzigen, wonach das Menschenleben und das Bedürfnis nach rascher Fortbewegung, von Notfällen abgesehen, keine vergleichbaren Werte sind 1 . A u f den Beschluß der Vereinigten Großen Senate zum Vertrauensschutz des Vorfahrtberechtigten gegenüber noch nicht sichtbaren wartepflichtigen Verkehrsteilnehmern 2 , besonders auf die i n diesem Beschluß vertretene Auffassung, wonach die Verkehrssicherheit i m innerstädtischen Verkehr auch von dessen Flüssigkeit abhänge, wurde bereits ausführlich eingegangen 3 . Es bleibt noch nachzutragen, was die Vereinigten Großen Senate über die vom Vorfahrtberechtigten einzuhaltende Geschwindigkeit zu sagen haben. Gleich am Anfang der Entscheidung heißt es: „Insbesondere ist darauf hinzuweisen, daß schon das Gebot der Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer gerade i m städtischen Verkehr i n der Regel eine starke Drosselung der Geschwindigkeit erforderlich machen w i r d . Auch der Gesichtspunkt, daß dem aus den Seitenstraßen kommenden Fahrer eine Überquerung der Vorfahrtstraß e möglich sein muß u n d daß er durch übermäßige Geschwindigkeiten des Vorfahrtberechtigten überrascht u n d getäuscht werden könnte, zwingt zur Einhaltung einer maßvollen Geschwindigkeit. Die Auffassung, das Vorfahrtrecht stelle den vorfahrtberechtigten Fahrzeugführer i n der W a h l seiner Fahrgeschwindigkeit mehr oder weniger frei, k a n n nicht ernsthaft vertreten werden 4 ."

Dementsprechend verlangt die Rechtsprechung von einem Vorfahrtberechtigten, der sich einer unübersichtlichen Kreuzung nähert, ent1 B G H S t 16, 145 (149). 2 B G H S t 7, 118. s Oben S. 72. 4 B G H S t 7, 118 (120).

I. Vertrauensschutz und Verkehrssicherheit

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weder seinen Abstand vom Fahrbahnrand so zu bemessen, wie i h n ein sich i n die Vorfahrtstraße „hineintastender" Wartepflichtiger zur Gewinnung ausreichender Sicht benötigt, oder, wenn er diesen Abstand nicht wahren kann, seine Geschwindigkeit soweit herabzusetzen, daß er notfalls einen Zusammenstoß m i t einem sich i n die Vorfahrtstraße hineintastenden Wartepflichtigen noch durch Ausweichen oder Bremsen vermeiden kann 5 . Das Gleiche gilt für den Benutzer einer Vorfahrtstraße, der links an einer zum Stillstand gekommenen Fahrzeugkolonne vorbeifährt. Der wartepflchtige Einbieger kann darauf vertrauen, daß die Benutzer der Vorfahrtstraße seiner Berechtigung sich bis zur Sichtgewinnung i n die Vorfahrtstraße „hineinzutasten", Rechnung tragen. Das Gericht begründet dies ausdrücklich m i t dem „Interesse an der Flüssigkeit des Verkehrs und der gegenseitigen Rücksichtnahme®. Wer dagegen i n einer mehrreihigen, dicht aufgeschlossenen Kolonne den rechten Fahrstreifen benutzt, braucht, solange die Kolonne noch i m ganzen i n Bewegung ist, nicht damit zu rechnen, daß ein von links kommender Fahrzeugführer durch eine Lücke der Kolonne die Fahrbahn vor i h m zu überqueren suchen wird. Das Gericht führt dazu aus: „Solange sich die Kolonne i n Bewegung befindet, ist es — anders als bei einer stehenden Kolonne — nicht üblich, daß ein Fahrzeugführer der l i n k e n Fahrzeugreihe anhält, u m einem aus der Gegenrichtung gekommenen L i n k s abbieger die Durchfahrt durch die i m Fluß befindliche Kolonne zu ermöglichen. Gerade i m geballten Großstadtverkehr dient es der Sicherheit u n d Flüssigkeit des Verkehrs, daß die Fahrzeuge, die während der Grünphase einer Verkehrsampel durchgefahren sind, zügig bis zur nächsten Lichtanlage weiterfahren u n d daß die Linksabbieger aus der Gegenrichtung u n d der Querverkehr die Straße erst überqueren, w e n n der geradeausfließende V e r kehrsstrom abgeflossen ist. Eine Unterbrechung dieses Verkehrsstromes durch Verkehrsteilnehmer, die die Straße kreuzen, behindert u n d gefährdet hier den reibungslosen Verkehrsablauf 7 ."

Aus ähnlichen Überlegungen heraus braucht der Fahrzeugführer, der sich einer Grün zeigenden Ampel nähert, mit baldigem Farbwechsel auf Gelb auch dann nicht zu rechnen, wenn er infolge seiner genauen Kenntnis der örtlichkeit und der Dauer der einzelnen Lichtphasen nicht sicher sein kann, die Kreuzung noch bei Grün oder dem i h m folgenden Gelb durchfahren zu haben. Die Gegenmeinung würde nämlich zur Folge haben, daß ein m i t den örtlichen Verhältnissen vertrauter Fahrer seine Fahrgeschwindigkeit bei Annäherung an die Ampel i n immer größerem Maße zu verringern hätte, während alle ortsunkunß BayObLG, V e r k M i t t 1959, β O L G Hamburg, V e r k M i t t 7 BayObLG, V e r k M i t t 1967, zum Stillstand gekommenen sprechung.

Nr. 115. 1968, Nr. 115; vgl. dazu auch unten S. 200. Nr. 131; vgl. dagegen f ü r den F a l l einer schon Kolonne die unten Anm. 234 zitierte Recht-

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

digen Fahrer einer solchen Anforderung nicht unterliegen würden, also auf „freie Fahrt" vertrauen könnten. Eine derart unterschiedliche Behandlung der einzelnen Fahrzeugführer würde zu „unerträglichen" Verkehrsbehinderungen führen, den m i t der Einrichtung von Verkehrsampeln erstrebten Zweck einer Kanalisierung der Verkehrsströme vereiteln und wegen der dadurch heraufbeschworenen Gefahr von Verkehrsstockungen auch die Verkehrssicherheit beeinträchtigen 8 . Eine unterschiedliche Behandlung ortskundiger und ortsunkundiger Verkehrsteilnehmer wurde auch abgelehnt, als es u m das Verhalten an Straßeneinmündungen ging, die wie Grundstückseinfahrten über abgesenkte Bürgersteige führen und daher als Straßeneinmündungen nicht ohne weiteres erkennbar sind 9 . Das Gericht w i l l solche Einmündungen genererell wie Grundstückseinfahrten behandeln und ihrem Benutzer eine aus § 1 StVO 1937 (heute § 1 Abs. 2 StVO) zu entnehmende Sorgfaltspflicht auferlegen, die i n ihrem Inhalt praktisch m i t der i n § 17 StVO 1937 (heute § 10 StVO) vorgeschriebenen „besonders erhöhten Sorgfaltspflicht" übereinstimmt. Umgekehrt bedeutet das für den i m fließenden Verkehr befindlichen Kraftfahrer, daß er auf die sich daraus ergebende Rechtslage vertrauen darf. Er braucht nicht damit zu rechnen, bei einer wie eine Grundstückseinfahrt erscheinenden Zufahrt könne es sich möglicherweise u m eine uneinsehbare Straßeneinmündung handeln. Er braucht weiter nicht damit zu rechnen, aus der vermeintlichen Grundstückseinfahrt werde ein den fließenden Verkehr der Durchgangsstraße überquerendes Kraftfahrzeug auftauchen, dessen Fahrer allenfalls die an Straßeneinmündungen erforderliche Sorgfaltspflicht walten läßt. Das Gericht führt dazu aus: „ U m einer der Grundregeln des Straßenverkehrsrechts Genüge zu tun, nämlich für jedermann klare u n d eindeutige Rechtsverhältnisse zu schaffen, k a n n es keine Rolle spielen, ob der Benutzer der Durchgangsstraße, der sich der überführten Zufahrt unter den genannten Bedingungen nähert, i m Einzelfall weiß, daß dort eine Straße mündet. Eine rechtlich unterschiedliche Behandlung der ortskundigen u n d der ortsunkundigen Verkehrsteilnehmer w ü r d e schon deshalb zu Unzuträglichkeiten führen, w e i l ein dem ortskundigen nachfolgender ortsunkundiger K r a f t f a h r e r möglicherweise darauf β O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1962, Nr. 113; zum Verhalten an Ampelanlagen n o d i zwei weitere Entscheidungen: Der Vorausfahrende darf sich darauf verlassen, daß der Führer eines nachfolgenden Fahrzeugs ganz allgemein die Möglichkeit eines Lichtwechsels e i n k a l k u l i e r t u n d daher genügend Abstand hält (BayObLG, V e r k M i t t 1959, Nr. 78); jeder K r a f t f a h r e r darf darauf vertrauen, daß sein Vordermann, auch w e n n er ortsfremd ist, i m Verkehr die Verkehrszeichen erkennt u n d sich nach ihnen richtet. B e i m Überqueren v o n ampelgesicherten Kreuzungen braucht er m i t einem plötzlichen Bremsen des Vordermannes bei „ G r ü n " nicht zu rechnen ( K G [Z], V e r k M i t t 1974, Nr. 74). ® O L G Hamm, V e r k M i t t 1968, Nr. 120.

I. Vertrauensschutz und Verkehrssicherheit

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vertrauen dürfte, der Vorausfahrende habe keinen Anlaß zum Bremsen oder A n h a l t e n an der vermeintlichen Grundstücksausfahrt wegen eines dort plötzlich herankommenden Fahrzeugs, so daß i h n bei einem A u f f a h r u n f a l l möglicherweise k e i n Verschulden t r ä f e 1 0 . "

Aus Gründen der „allgemeinen Verkehrssicherheit" muß daher beim Herausfahren aus Einmündungen, die wie Grundstückseinfahrten über abgesenkte Bürgersteige führen, auf ein etwaiges Vorfahrtrecht verzichtet und durch vorsichtige Fahrweise Rücksicht auf den fließenden Verkehr sowie auf Fußgänger und Kinder auf dem Bürgersteig genommen werden. Die übrigen Verkehrsteilnehmer müssen sich „zur Vermeidung von Mißverständnissen und den sich daraus ergebenden Gefahren" auf die Beobachtung der erhöhten Sorgfaltspflicht durch die den Bürgersteig überquerenden Fahrzeugführer verlassen können. Der sehr lesenswerte Beschluß des Verkehrsstrafsenats zum Rechtsüberholen auf Autobahnen stellt i n ähnlicher Weise darauf ab, daß der Verkehr „einfache, klare und unmißverständliche Verhaltensregeln" verlange. Versuche, das Rechtsüberholverbot aufzulockern, würden „eine einfache, klare u n d allgemein bekannte Verhaltensregel aufweichen u n d ihre Anwendbarkeit dem unsicheren Ermessen des einzelnen K r a f t fahrers überlassen" 1 1 .

Bei der heutigen Verkehrsdichte, der A r t der Motorisierung, dem Stande der Verkehrsrechtsgesetzgebung, dem Ausbau der Bundesautobahnen und nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Gefahren ist es nach Ansicht des Gerichts i m allgemeinen nicht vertretbar, das Uberholen einer links fahrenden Kolonne durch einzelne Fahrzeuge auf der Normalspur der Autobahn zu gestatten. Daß die grundsätzliche Regelung i m Einzelfall zu Unbequemlichkeiten für den Kraftfahrer führen könne, müsse i m Interesse der Verkehrssicherheit i n Kauf genommen werden. Es lag kein Anlaß vor, i n dieser Entscheidung näher auf Fragen des Vertrauensschutzes einzugehen, da es zu keinem Unfall gekommen war und sich die Verurteilung des Angeklagten lediglich auf § 10 StVO 1937 (heute § 5 Abs. 1 StVO) stützte. Wenn der Senat jedoch betont, es dürfe nicht von der persönlichen Einstellung des einzelnen Kraftfahrers abhängen, ob und wann rechts überholt werden dürfe, sondern es müsse aus Gründen der Verkehrssicherheit bei einer „unmißverständlichen Vorschrift" bleiben, dann bedeutet dies, daß sich der auf der Überholspur befindliche Kraftfahrer auch i n der Regel auf die Einhaltung dieser „unmißverständlichen" Vorschrift w i r d verlassen dürfen, m i t einem verbotswidrigen Rechtsüberholen also nicht zu rechnen braucht. i« O L G Hamm, a.a.O. 11 B G H S t 22, 137; vgl. die entsprechenden Ausführungen i n B G H S t 16, 145 (151), w o die Vereinigten Großen Senate davor warnen, „die K l a r h e i t u n d Unbedingtheit" des Gebotes, auf Sicht zu fahren, aufzugeben.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Anderenfalls wäre er nämlich gezwungen, vor jedem Wiedereinordnen nach rechts die Normalspur daraufhin zu beobachten, ob dort gerade ein Kraftfahrer zum Rechtsüberholen ansetzt. Eine solche Forderung wäre nach Ansicht des Senats jedoch gerade nicht m i t den Geboten der Verkehrssicherheit vereinbar. Es heißt dazu i m Urteil: „ Z w a r muß auch der Fahrer d e r aus der auf der Uber holspur fahrenden Kolonne heraus auf die Normalspur zurückkehren w i l l , bei diesem Spurwechsel die gebotene Vorsicht w a l t e n lassen (§ 1 StVO). Das ist i h m aber erschwert. Der auf der Überholspur fahrende Fahrer, der auf die rechte Fahrspur zurückkehren möchte, hat keine ausreichende technische Möglichkeit, die auf der Normalspur sich bewegenden Fahrzeuge i m Auge zu behalten oder etwa gar auf etwaige Anzeichen für ein beabsichtigtes Rechtsüberholen zu beobachten. Die Kraftfahrzeuge sind i n der Bundesrepublik üblicherweise n u r m i t einem Innenspiegel u n d m i t einem Außenspiegel auf der l i n k e n Seite ausgerüstet. E i n rechter Außenspiegel fehlt den weitaus meisten F a h r zeugen. Deren Führer sind also rein optisch nicht i n der Lage, den sich rückwärts bewegenden Verkehr genau zu beobachten, w e n n sie sich nicht umdrehen; das aber ist beim Fahren i n einer Kolonne u n d wegen der hohen auf den Autobahnen gefahrenen Geschwindigkeiten besonders gefährlich 1 2 ."

Der Beschluß des Verkehrsstrafsenats zum Rechtsüberholen auf Autobahnen ist vor allem deshalb interessant, weil er scharf zwischen der Verkehrsflüssigkeit als einem Element der Verkehrssicherheit und dem Wunsch des einzelnen nach raschem Vorwärtskommen unterscheidet. Der Senat w i l l zwar generell das Rechtsüberholen nicht zulassen, w e i l dies „ v o n rücksichtslosen Fahrern mißbraucht u n d zu einem unbekümmerten, gefährlichen Vorwärtsdrängen ausgenutzt werden k ö n n t e " 1 3 .

Er ist aber bereit, „ i m Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs" hiervon Ausnahmen zu machen, die sich aus dem Charakter der Autobahnen als Massenverkehrsstraßen ergeben. Stockt der Verkehr auf der Überholspur, so sollen wenigstens die Benutzer der Normalspur weiterfahren können, damit der fließende Verkehr nicht ganz zum Erliegen kommt und der zur Verfügung stehende Straßenraum ausgenutzt wird. Dieses Vorbeifahren an den links auf der Überholspur stehenden Fahrzeugen muß jedoch „ m i t äußerster Vorsicht" erfolgen. Von den Benutzern der Normalspur w i r d dabei „ständige Reaktionsund Bremsbereitschaft" verlangt und vor allem eine so niedrige Geschwindigkeit, daß sie noch rechtzeitig anhalten können, wenn ein auf der Überholspur zum Stehen gekommenes Fahrzeug selbst i n kurzer Entfernung vor ihnen auf die Normalspur zurückkehren w i l l . Wenn die auf der Uberholspur fahrende Kolonne noch nicht zum Stehen gekommen ist, aber nur „dahinschleicht", muß der Fahrer auf der Normalspur eine Geschwindigkeit einhalten, welche die Geschwindig12 BGH, a.a.O., S. 141 f. (BGHSt 22, 137). ™ Ebenda, S. 142.

I. Vertrauensschutz und Verkehrssicherheit

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keit der auf der Überholspur fahrenden Kolonne um höchstens 20 k m / h übersteigt 14 . Der Bundesgerichtshof geht sicher zu Recht davon aus, daß sich durch wechselseitiges Aufrücken der beiden Kolonnen die Verkehrslage am schnellsten wieder entwirrt. Anderenfalls würden bei einem Verkehrsstau die Benutzer der Normalspur alle auf die Uberholspur drängen, weil sie nur dort Aussicht haben voranzukommen. Dadurch würde der Verkehrsfluß der linken Kolonne immer wieder unterbrochen, und es könnte zu Auffahrunfällen, plötzlichen Ausweichbewegungen usw. kommen. Ähnliche Überlegungen waren offenbar für das OLG K ö l n maßgebend, wenn es von einem Kolonnenfahrer nicht verlangt, bei der Bemessung seines Sicherheitsabstandes zu berücksichtigen, daß der i n der Kolonne Vorausfahrende zu seinem Vordermann nicht den erforderlichen Abstand einhält. Selbstverständlich, so führt das Urteil aus, ist ein Kolonnenfahrer verpflichtet, sich auf eine verkehrswidrige Fahrweise seines Vordermannes einzustellen, wenn er sie erkennt oder doch bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen müssen. War dem aber nicht so, kann er sich „kraft des Vertrauensgrundsatzes" auf das verkehrsgerechte Verhalten des Vorausfahrenden verlassen 15 . N u n werden gerade beim Kolonnenfahren die erforderlichen Sicherheitsabstände häufig nicht eingehalten 16 . Es fragt sich also, ob Vertrauensschutz gegenüber einer so „typischen" Verkehrswidrigkeit überhaupt infrage kommen kann 1 7 . Das Gericht geht darauf nicht ein, offenbar weil es das Kolonnenfahren nicht über Gebühr erschweren will. Müßte nämlich jeder Kolonnenfahrer i n seinen Sicherheitsabstand zum Vorausfahrenden noch einen „Zuschlag" für dessen möglicherweise fehlerhaftes Verhalten einbauen, bestünde die Gefahr, daß dieser freie Raum das Ziel von „Kolonnenspringern" würde. Dadurch würde der Verkehrsfluß der Kolonne immer wieder unterbrochen, und die Gefahr von Auffahrunfällen wäre größer als bei Einhaltung des „normalen" Sicherheitsabstandes innerhalb der Kolonne. Den engen Zusammenhang von Verkehrsflüssigkeit, Verkehrssicherheit und Vertrauensschutz macht schließlich ein Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichtes deutlich, dem ein Zusammenstoß zwischen einer nach links abbiegenden Straßenbahn und einem entgegenkom14 B G H , a.a.O., S. 144; bestätigt f ü r die StVO 1970 durch BayObLG, V e r k M i t t 1978, Nr. 8 m i t A n m . Booß. is O L G K ö l n , V e r k M i t t 1963, Nr. 145; ebenso O L G Frankfurt, V e r k M i t t 1975, Nr. 137. 16 Vgl. BayObLG, V e r k M i t t 1964, Nr. 122. ι 7 Z u m Vertrauensschutz gegenüber „typischen Ver kehr sWidrigkeit en" vgl. unten S. 167 ff.

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4. T e i l : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

m e n d e n P e r s o n e n k r a f t w a g e n z u g r u n d e l a g . Das G e r i c h t entschied, d i e ü b e r eine K r e u z u n g g e r a d e a u s f a h r e n d e n V e r k e h r s t e i l n e h m e r seien grundsätzlich nicht verpflichtet, auf i h r e n V o r r a n g gegenüber einer n a c h l i n k s a b b i e g e n d e n S t r a ß e n b a h n z u v e r z i c h t e n . Sie d ü r f t e n auch i n d e r Regel d a r a u f v e r t r a u e n , daß d i e S t r a ß e n b a h n i h r V o r r e c h t achte 1 8 . „ E i n Vorrang der nach links ausbiegenden Straßenbahn gegenüber entgegenkommenden Fahrzeugen w ü r d e zu einer großen Unsicherheit u n d zu einer besonderen Gefährlichkeit des Linksabbiegens einerseits, andererseits zu Verkehrsstockungen führen. I n Straßen m i t Straßenbahnverkehr müßten die übrigen Fahrzeugführer ständig die Gegenfahrbahn daraufhin beobachten, ob etwa eine Straßenbahn entgegenkommt, u n d bei jeder Kreuzung prüfen, ob ein Straßenbahngleis über die v o n ihnen benützte Fahrbahnseite nach der Seite abzweigt. W e n n eine Straßenbahn, die abbiegen w i l l , an die Abzweigung herangekommen ist, so müßten i h r entgegenkommende F a h r zeugführer weiter prüfen, ob die Straßenbahn abbiegen k a n n oder etwa durch andere Verkehrsteilnehmer, die sich vor i h r auf oder nahe den Schienen eingeordnet haben, an der Ausübung des Vorrechts behindert ist. Weiter müßten sie prüfen, ob ihnen die Verkehrslage erlaubt, der Straßenbahn das Vorrecht einzuräumen, ob sie also sicher vor dem ihre Fahrbahn überquerenden Straßenbahngleis anhalten können u n d ob nicht durch dieses A n h a l t e n — der Vorgang spielt sich meistens i m dichten städtischen Verkehr ab — von ihnen beobachtete nachfolgende Verkehrsteilnehmer, die ihren Abstand v o m Vordermann zu knapp bemessen haben, i n die Gefahr des Auffahrens auf den Vordermann gebracht werden. W e n n diese Prüfung, die den K r a f t f a h r e r nach Auffassung des Senats überfordern würde, zugunsten des Vorrechts der Straßenbahn ausgefallen wäre, müßte der Führer des Kraftfahrzeugs zunächst die Straßenbahn durchfahren lassen. D a n n wären die Fahrzeuge seiner Richtung a m Zuge. Erst dann dürften die übrigen aus der Gegenrichtung gekommenen Verkehrsteilnehmer, die sich auf der anderen Fahrbahnseite zugleich m i t der Straßenbahn zum L i n k s abbiegen eingeordnet hatten, nach links abbiegen. Daß eine solche Zerlegung des Abbiegeverkehrs i n zwei voneinander getrennte Abschnitte den V e r kehrsfluß hemmen würde, k a n n nicht zweifelhaft sein. . . . Die Verkehrssicherheit spricht daher f ü r die Auslegung, daß sich die Vorfahrt — auch zwischen Straßenbahn u n d übrigem Fahrverkehr — n u r nach den allgemeinen Vorfahrtregeln abspielen darf u n d daß n u r der vorfahrtberechtigte Verkehrsteilnehmer, nicht aber der wartepflichtige Straßenbahnführer darauf v e r trauen darf, daß i h m der übrige Verkehr den V o r t r i t t lassen w e r d e 1 9 . " Daß d i e G e w ä h r u n g des Vertrauensschutzes d u r c h d i e G e r i c h t e g e r a d e aus G r ü n d e n d e r V e r k e h r s s i c h e r h e i t g e b o t e n sein k a n n , k o m m t e i n d r u c k s v o l l i n e i n e m U r t e i l des O L G H a m m z u m A u s d r u c k , das sich m i t einem bei Nebel durch ein überbreites Fahrzeug verursachten U n f a l l z u befassen h a t t e 2 0 . " BayObLG, V e r k M i t t 1965, Nr. 62; es ging u m die Auslegung des § 8 Abs. 6 StVO 1937, wonach die übrigen Verkehrsteilnehmer Schienenfahrzeugen „soweit möglich" Platz zu machen u n d ungehinderte Durchfahrt zu gewähren hatten (vgl. heute § 2 Abs. 3 StVO). 19 BayObLG, a.a.O. «ο O L G Hamm, V e r k M i t t 1963, Nr. 144.

I. Vertrauensschutz und Verkehrssicherheit

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I m Urteil heißt es: „ M u ß der K r a f t f a h r e r bei Straßen m i t Gegenverkehr die Fahrbahnmitte überschreiten, w e i l die Straße zu schmal u n d (oder) sein Fahrzeug zu breit ist, so muß er wegen der damit verbundenen schweren Gefährdung des Gegenverkehrs die äußerste Sorgfalt w a l t e n lassen. Das g i l t erst r e d i t bei Nebel . . . Z w a r muß ein etwa entgegenkommender K r a f t f a h r e r seine Geschwindigkeit seiner Sicht derart anpassen, daß er i n der Lage ist, sein Fahrzeug innerhalb der Sichtweite anzuhalten. E r braucht aber bei f ü r Normalverkehr genügender Straßenbreite seine Geschwindigkeit nicht darauf einzustellen, daß i h m auf seiner Fahrbahn ein Hindernis entgegenkommt, das i h m durch seine eigene Geschwindigkeit den Anhalteweg verkürzt. Deshalb k a n n der Fahrer eines wegen außerordentlicher Breite über die Straßenm i t t e erheblich hinausragenden Fahrzeuges, das die Gegenfahrbahn sehr stark einengt, gehalten sein, bei Nebel die F a h r t ganz zu unterlassen oder bei unterwegs auftretendem Nebel von der Straße herunterzufahren, sofern das möglich i s t 2 1 . "

Hier hat also das Gericht gerade durch die Bejahung des Vertrauensschutzes eine gefährliche Verkehrssituation zu entschärfen gesucht, ja, indem es dem Führer eines überbreiten Fahrzeuges i m Interesse der Verkehrssicherheit zumutet, bei starkem Nebel die Straße zu räumen, schon ihrer Entstehung vorbeugen wollen. Der Unfall wäre zwar auch dann vermieden worden, wenn beide Fahrzeugführer nur „auf halbe Sicht" gefahren wären 2 2 . Eine solche Fahrweise hat das Gericht jedoch von dem Führer des normalbreiten Fahrzeugs m i t Recht nicht verlangt 2 3 . Ganz abgesehen von der Schwierigkeit, i n dichtem Nebel die halbe Sichtweite festzustellen, würde eine solche Forderung wahrscheinlich bei den betroffenen Kraftfahrern auf Unverständnis stoßen und kaum einmal befolgt werden. Die Gefahr von Unfällen zwischen überbreiten und normalbreiten Fahrzeugen bei dichtem Nebel wäre damit nicht gebannt. Wenn es also nicht sinnvoll schien, von beiden Fahrzeugführern die gleiche Vorsicht zu verlangen, mußte notwendigerweise das Mehr an Vorsicht vom Führer des gefährlicheren, also des überbreiten Fahrzeugs gefordert werden. Dieses Mehr an Vorsicht hatte dem den anderen Fahrzeugführern zuzubilligenden Vertrauensschutz zu entsprechen, also dem Vertrauen darauf, die eigene Fahrbahn frei von entgegenkommenden Hindernissen zu finden 24. I m übrigen hat der Führer eines normalbreiten Fahrzeugs aber natürlich die Verpflichtung, seine Geschwindigkeit und damit seinen Anhalteweg der Sichtweite anzupas21

Ebenda. 22 Vgl. § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO. 23 Dazu i m einzelnen Mühlhaus, StVO, A n m . 3. a) zu § 3 StVO. 24 O L G Bamberg (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 135; O L G Hamm, V e r k M i t t 1977, Nr. 111.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

sen 25 . Für die Strecke jenseits der Sichtweite kommt deshalb kein Schutz eines „Vertrauens" auf hindernisfreie Fahrbahn infrage 2 6 . Danach hätte es genügen müssen, wenn der Führer des überbreiten Fahrzeugs auf der Straße angehalten hätte, denn auch i n diesem Falle wäre — verkehrsgerechtes Verhalten des Entgegenkommenden vorausgesetzt — der Unfall vermieden worden. Wenn das Gericht darüber hinaus von dem Führer des überbreiten Fahrzeugs verlangt, die Straße zu räumen, so läßt sich dies nicht, wie i m Urteil geschehen, m i t der Notwendigkeit des Vertrauensschutzes begründen. Es handelt sich hier vielmehr u m eine vom Wortsinn her nicht mehr gedeckte „Erweiterung des Vertrauensgrundsatzes" 27 , die allerdings dem Gedanken der „doppelten Sicherung" besonders gefährlicher Verkehrsvorgänge 28 und damit den Geboten der Verkehrssicherheit entspricht. Uberhaupt dürften die bisher zitierten, den Vertrauensschutz bejahenden Entscheidungen die Auffassung Martins, wonach die Rechtsprechung die Anwendbarkeit des „Vertrauensgrundsatzes" immer erst unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit prüfe 2 9 , bestätigt haben. Dabei mag man die Bedeutung eines „reibungslosen Verkehrsablaufs" für die Verkehrssicherheit teilweise weniger hoch veranschlagen, als dies i n einzelnen Urteilen geschieht. Entscheidend bleibt, daß die Gerichte nur dann zur Gewährung des Vertrauensschutzes bereit sind, wenn sie glauben, damit zur Hebung der Verkehrssicherheit beizutragen 30 . I n diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Bedeutung des Vertrauensschutzes für das Recht des „Schwächeren", besonders des wartepflichtigen Verkehrsteilnehmers, hingewiesen 31 . Die Tatsache, daß sich der Wartepflichtige zumindest nicht auf ein „grob verkehrswidriges" Verhalten des Vorfahrtberechtigten einzustellen braucht, führt „ i m Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs und der gegenseitigen Rück25 § 3 Abs. 1 Satz 3 StVO. 26 Vgl. oben S. 78 f. 27 Krumme, S. 1. 28 Dazu Möhl, Defensives Fahren, S. 78. 29 Martin, Defensives Fahren, S. 304. so I n diesem Sinne auch O L G Braunschweig, V e r k M i t t 1976, Nr. 53: „Der Beschleunigungsstreifen dient der Flüssigkeit des Straßenverkehrs." . . . [Es] „darf dort sogar schneller gefahren werden als auf der angrenzenden durchgehenden Fahrspur, die der Einfahrende erreichen w i l l . W i r d aber durch diese Regelung dem Einfahrenden i m Interesse der Flüssigkeit des Verkehrs eine Fahr weise auf dem Beschleunigungsstreifen gestattet, die gelegentlich vielleicht schon riskant sein kann, dann muß i h m hierzu auch ein besonderer Schutz dadurch geboten werden, daß der Beschleunigungsstreifen f ü r i h n freigehalten w i r d , . . . denn alles andere wäre überaus gefahrenträchtig u n d müßte zu einem Verkehrschaos führen." 3i Dazu oben S. 47.

II. 1 Erkennbar verkehrswidriges Verhalten

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sichtnahme" 32 zur Disziplinierung des Vorfahrtberechtigten und damit zur Unterbindung eines u m die Verkehrssicherheit unbekümmerten „Drauflosfahrens". I I . Negative Entscheidungen zum Vertrauensschutz Daß die Versagung des Vertrauensschutzes ebenfalls nur m i t dem Ziel erfolgen kann, den Verkehrsteilnehmer — vor allem den K r a f t fahrer — zu einem besonders vorsichtigen, „verkehrssicheren", Verhalten zu veranlassen, bedarf keiner Frage. Es w i r d jedoch zu untersuchen sein, inwieweit bei einer allzu starken Einschränkung des Vertrauensschutzes noch einer der „Grundregeln des Straßenverkehrsrechts" Genüge getan werden kann, nämlich — gerade i m Interesse der Verkehrssicherheit — „ f ü r jedermann klare und eindeutige Rechtsverhältnisse zu schaffen" 33 . 1. Kein Vertrauensschutz bei erkennbar verkehrswidrigem Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer

Als die wichtigste „Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz" w i r d allgemein angesehen, daß kein Verkehrsteilnehmer mehr auf verkehrsgemäßes Verhalten eines anderen vertrauen darf, sobald er bemerkt, daß sich dieser verkehrswidrig verhält 3 4 . Jedoch w i r d man, i n solchen Fällen kaum von „Ausnahmen" sprechen dürfen. Denn schon vom Wortsinn her kann es ja kein „Vertrauen" auf das Unterbleiben von Verkehrswidrigkeiten mehr geben, wenn diese bereits offen zutage getreten sind 3 5 . So einleuchtend dies klingt, so ergibt sich i n diesem Zusammenhang doch manche Zweifelsfrage. Einmal gilt es zu bestimmen, ab wann ein Verkehrsverstoß „offen" zutage getreten ist. Zum anderen lassen leich32 O L G Hamburg, V e r k M i t t 1968, Nr. 115. 33 O L G Hamm, V e r k M i t t 1968, Nr. 120. 34 So schon Gülde, Straßenverkehrsrecht, S. 1466; Martin, Defensives Fahren, S. 304. 35 Eine andere Frage ist es, i n w i e w e i t auf die Beibehaltung eines bestimmten verkehrswidrigen Verhaltens „ v e r t r a u t " , dem dadurch betroffenen Verkehrsteilnehmer also aus einer entsprechenden, sich letztlich als falsch erweisenden, Reaktion k e i n V o r w u r f gemacht werden kann. Erweckt beispielsweise der Führer eines nach links abbiegenden Kraftfahrzeugs durch sein Fahrverhalten bei dem i h m entgegenkommenden Geradeausfahrer die irrige Vorstellung, er werde dem Geradeausfahrer die Durchfahrt versperren, dann k a n n es eine richtige Reaktion sein, w e n n dieser bremst u n d nach l i n k s lenkt, u m hinter dem Abbieger vorbeizufahren. K o m m t es dann doch zum Unfall, w e i l der Linksabbieger den Einbiegevorgang nicht fortsetzt, sondern das Fahrzeug abstoppt, so t r i f f t den Geradeausfahrer k e i n V e r schulden (OLG Saarbrücken [Z], V e r k M i t t 1976, Nr. 90). U m der terminologischen K l a r h e i t w i l l e n sollte allerdings das W o r t „vertrauen" i n solchen Konstellationen nicht verwendet, sondern auf Fälle beschränkt bleiben, i n denen es u m das Sich-Verlassen auf Verkehrs gerechtes Verhalten geht. 8 Kirschbaum

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4. Teil : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

tere Verkehrsverstöße einen anderen Verkehrsteilnehmer möglicherweise noch nicht ganz und gar „vertrauensunwürdig" erscheinen. Davon w i r d bei der Abgrenzung zwischen „unklarer" und durch fremde Verkehrswidrigkeiten gekennzeichneter Verkehrslage noch zu reden sein 36 . 2. Kein Vertrauen auf das Unterbleiben verkehrsgerechter Verhaltensweisen

Daß ein Verkehrsteilnehmer nicht mehr „vertrauen" darf, wenn „offensichtlich" Mißtrauen am Platz ist, ist nicht die einzige Grenze, die dem Vertrauensschutz i m Straßenverkehr schon vom Wortsinn her gezogen ist. Wer darauf „vertrauen" darf, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsgerecht verhalten, hat sich andererseits auf jedes Verhalten einzustellen, das noch innerhalb der Grenzen des Erlaubten liegt oder doch liegen könnte. Dies soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden: Wer bei grünem Licht i n eine Kreuzung einfährt, darf dies nicht „blindlings" tun, sondern muß darauf achten, ob sich noch Fahrzeuge des Querverkehrs i n der Kreuzung befinden. Denn erfahrungsgemäß kommt es, besonders bei weiträumigen Kreuzungen, nicht selten vor, daß sich dort Nachzügler des Verkehrs aus der Querrichtung aufhalten. Diese Nachzügler brauchen sich beim Einfahren i n die Kreuzung durchaus nicht verkehrsw i d r i g verhalten zu haben. Häufig sind es langsame Verkehrsteilnehmer (ζ. B. Traktoren, Radfahrer oder Handwagen), die entweder noch i n der letzten Grünphase i n die Kreuzung eingefahren sind, oder kurz nach dem Wechsel von „Grün" auf „Gelb" nicht mehr vor der Kreuzung anhalten konnten und daher genötigt waren, zügig durchzufahren 37 . Genausowenig kann ein Kraftfahrer, der eine durch Verkehrszeichen gesperrte Straße überqueren w i l l , darauf „vertrauen", daß diese überhaupt nicht befahren wird. Denn zumindest bei einer nur teilweisen oder vorübergehenden Sperre muß er damit rechnen, daß einzelne Fahrzeuge, insbesondere Anlieger oder Baustellenfahrzeuge von dem Verkehrsverbot freigestellt sind 3 8 . 36 Vgl. unten S. 158 ff. 37 O L G K ö l n (Z), V e r k M i t t 1959, N r . 10; B G H (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 82; HansOLG Bremen (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 133; B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 16; dasselbe g i l t f ü r den Linksabbieger nach Erscheinen des grünen Pfeils h i n sichtlich des Gegenverkehrs (KG, V e r k M i t t 1960, Nr. 108); anders natürlich w e n n der Entgegenkommende zweifelsfrei bei Rot i n die Kreuzung eingefahren w a r ( K G [Z], V e r k M i t t 1975, Nr. 59); dazu unten S. 118. 38 B G H (Z), VRS 24, S. 175; BayObLG, V e r k M i t t 1974, Nr. 45; vgl. auch K G (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 88: E i n K r a f t f a h r e r darf nicht darauf „vertrauen", daß dieselbe Vorfahrtregelung, die er auf der von i h m befahrenen Straße bisher vorgefunden hat, an der n u n folgenden Kreuzung gelten w i r d .

II.2 Unterbleiben verkehrsgerechter Verhaltensweisen a) Vertrauensschutz

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und Sichtfahrgebot

Erinnert sei noch einmal an den Beschluß der Vereinigten Großen Senate zum Sichtfahrgebot auf Autobahnen: Dort w i r d betont, daß ein Kraftfahrer sich nicht darauf verlassen könne, daß die vor i h m liegende Strecke frei von Hindernissen sei, denn es gebe auch auf der Autobahn Hindernisse, die entweder ohne menschliches Zutun entstanden oder von Menschen unter Umständen verursacht worden seien, die keinen oder nur einen geringen Schuldvorwurf begründeten 3 9 . A n einem Beispiel aus der Rechtsprechung 40 soll gezeigt werden, wo i n solchen Fällen der Bereich des Vertrauensschutzes beginnt: Der Angeklagte befuhr bei starkem Verkehr den linken Fahrstreifen der Autobahn. Plötzlich kam es auf diesem Streifen zu einer Verkehrsstauung, die dann zu einem Kettenunfall führte: Der Vordermann des Angeklagten fuhr nämlich auf das letzte Fahrzeug der Kolonne auf und kam dadurch aus einer Geschwindigkeit von 90 k m / h heraus auf wenigen Metern zum Stehen. Auch der Angeklagte konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und stieß auf diese beiden Fahrzeuge. N u n ist der Führer eines nachfolgenden Fahrzeugs nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO verpflichtet, einen solchen Abstand von dem Vorausfahrenden zu wahren, daß er einen Zusammenstoß vermeiden kann, auch wenn dieser seine Geschwindigkeit stark herabsetzt oder plötzlich hält 4 1 . Der Vorausfahrende darf zwar nach § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht ohne zwingenden Grund stark bremsen, aber ein solch zwingender Grund kann jederzeit eintreten, ζ. B. durch Hineinlaufen eines Kindes oder Fußgängers i n die Fahrbahn oder durch plötzliches Bremsen anderer Fahrzeuge. Plötzliches Bremsen des Vorausfahrenden kann also verkehrsgerecht sein, der nachfolgende Verkehrsteilnehmer kann daher nicht darauf vertrauen, daß es unterbleibt 4 2 . Es handelt sich dabei nicht u m eine „Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz", sondern um einen Fall, der schon vom Wortsinn her außerhalb des vom Vertrauensschutz umfaßten Bereichs liegt 4 3 . 3» B G H S t 16, 145 (148). 40 O L G Hamm, V e r k M i t t 1963, Nr. 45. 41 Mühlhaus, StVO, A n m . 2 a ) zu § 4 StVO; O L G Hamburg, V e r k M i t t 1963, Nr. 59. 42 I n w i e w e i t ein K r a f t f a h r e r wenigstens dann darauf vertrauen kann, sein Vordermann werde nicht unversehens stark bremsen, w e n n er h i n reichende Übersicht auf die vor diesem liegende Fahrbahn hat u n d daher annehmen darf, daß k e i n begründeter Anlaß zum Bremsen gegeben sein werde, ist zweifelhaft; vgl. dazu O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1966, Nr. 9 u n d BayObLG, V e r k M i t t 1970, Nr. 115. 43 Etwas u n k l a r spricht Kleineweiers, S. 202, davon, es handele sich „ w e niger u m eine Einschränkung" als u m eine „Bestimmung des Inhalts des

8*

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Der vom OLG Hamm entschiedene F a l l zeigte nun die Besonderheit, daß der Vordermann nicht durch ein — wenn auch plötzliches — Abbremsen, sondern durch Auffahren auf ein anderes Fahrzeug fast auf der Stelle zum Stehen gekommen war. Das Gericht war überzeugt davon, daß es nicht zum Zusammenstoß gekommen wäre, wenn es der Vordermann nicht an der nötigen Aufmerksamkeit hätte fehlen lassen. Andernfalls hätte nämlich sein Bremsweg noch mindestens 30 m betragen, die wiederum dem Angeklagten für das Abbremsen seines Fahrzeugs zur Verfügung gestanden hätten. Damit kam es auf die Frage an, ob ein Kolonnenfahrer, der zum Vorausfahrenden den „normalen" Sicherheitsabstand einhält 4 4 , sich darauf verlassen darf, daß auch seine Vordermänner ihren Pflichten nachkommen und ihrerseits m i t dem gebotenen Abstand und der erforderlichen Aufmerksamkeit fahren. Das Gericht hat diese Frage bejaht und daraus den Schluß gezogen, auch wer auf der Autobahn i n einer Kolonne fahre, brauche nicht damit zu rechnen, daß sein Vordermann durch Auffahren auf den i h m Vorausfahrenden ruckartig zum Stehen komme 4 5 . b) Vertrauensschutz

und Einsatzfahrzeuge

Der Satz, daß auf das Unterbleiben verkehrsgerechter Verhaltensweisen nicht „vertraut" werden darf, gilt für sämtliche von der StVO normierten Verhaltensweisen. Wie aber steht es, wenn ein anderes Fahrzeug i n Notstandssituationen berechtigterweise Vorschriften der StVO mißachtet? Muß ein Kraftfahrer seine Fahrweise so einrichten, daß er jederzeit einem plötzlich auftauchenden Feuerwehrauto oder einem Krankenwagen ausweichen kann? Das würde allerdings prakVertrauensgrundsatzes", w e n n demjenigen Verkehrsteilnehmer die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz „versagt" werde, der sich darauf verlassen habe, der andere werde ein gesetzlich zulässiges Verhalten unterlassen. 44 Der Abstand muß deutlich die Strecke übersteigen, die der K r a f t f a h r e r selbst i n einer Sekunde zurücklegt; B G H , N J W 1962, 1166. 4 5 O L G Hamm, a.a.O.; ebenso O L G K ö l n , V e r k M i t t 1963 Nr. 145 (vgl. die Besprechung dieser Entscheidung oben S. 109); O L G Frankfurt, V e r k M i t t 1975, Nr. 137. Es sei allerdings darauf hingewiesen, daß i n der Regel ein Kolonnenfahrer n u r darauf w i r d vertrauen dürfen, daß sein Vordermann m i t der erforderlichen Aufmerksamkeit fährt. Denn davon, ob sein Vordermann den gebotenen Abstand zu dem Vorausfahrenden einhält, w i r d sich der Nachfolgende häufig selbst überzeugen können (und müssen), sei es, daß er durch die Scheiben des i h m vorausfahrenden Fahrzeugs oder seitlich an i h m vorbeiblickt. M i t Recht weist das O L G K ö l n die Auffassung zurück, den Nachfahrenden gehe der Abstand zwischen den Vorausfahrenden g r u n d sätzlich nichts an. Auch das O L G H a m m w ü r d e es dem Angeklagten als Verschulden anrechnen, w e n n er bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit die Stauung u n d das A n h a l t e n der vor seinem unmittelbaren Vordermann fahrenden Wagen so rechtzeitig hätte bemerken können, daß er noch hinter diesem hätte anhalten können.

II.2 Unterbleiben verkehrsgerechter Verhaltensweisen

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tisch die Aufhebung des Vertrauensschutzes gegenüber noch nicht sichtbaren motorisierten Verkehrsteilnehmern bedeuten, denn dann müßte sich jeder Kraftfahrer, der eine Kreuzung bei Grün oder als Vorfahrtberechtigter überqueren w i l l , erst vergewissern, ob nicht aus einer Seitenstraße ein Sonderfahrzeug herannaht, das i h m gegenüber „bevorrechtigt" ist. Eine solche Verpflichtung t r i f f t den Kraftfahrer jedoch nicht. Er braucht nicht jederzeit m i t der Annäherung eines nach § 35 Abs. 1 StVO von der Beachtung der Verkehrsvorschriften freigestellten Sonderrechtsfahrzeuges zu rechnen. Nach § 35 Abs. 8 StVO darf nämlich ein Sonderrecht nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, d.h. unter Beachtung der zur Vermeidung von Unfällen gebotenen „gesteigerten Vorsicht" ausgeübt werden 4 6 . § 35 Abs. 1 StVO gewährt den Sonderrechtsfahrzeugen kein Vorrecht, sondern gestattet ihnen nur, von Vorschriften der StVO abzuweichen, also beispielsweise an Stoppstraßen nicht anzuhalten, Einbahnstraßen i n entgegengesetzter Richtung zu befahren, Bürgersteige und Fahrradwege m i t Kraftfahrzeugen zu benutzen, Verkehrsregelungen durch Polizei oder durch mechanische Einrichtungen nicht zu beachten oder dem bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer die Vorfahrt zu „nehmen". Wenn der Fahrer eines Einsatzfahrzeugs die Vorfahrt anderer Verkehrsteilnehmer „mißachten" w i l l , muß er dies jedoch rechtzeitig und deutlich anzeigen. Darauf dürfen die übrigen Verkehrsteilnehmer vertrauen, denn sie sind zur Gewährung freier Bahn verkehrsrechtlich nur nach Bemerken der besonderen Zeichen verpflichtet 47 . Andernfalls würde die Flüssigkeit des Verkehrs beseitigt und eine Quelle völliger Unsicherheit über die einzuhaltende Fahrweise bei Begegnungen m i t nach § 35 StVO bevorrechtigten Fahrzeugen geschaffen 4 8 . Für den Führer eines Einsatzwagens bedeutet dies, daß er sich nicht „blindlings" 4 9 darauf verlassen darf, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer die von ihm gegebenen Warnsignale schon bemerken werden. „Vielmehr muß sich der Fahrer i n geeigneter u n d ausreichender Weise vergewissern, ob die durch seine Fahrweise gefährdeten übrigen Verkehrsteilnehmer seine durch Blaulicht u n d Martinshorn kundgetane Absicht erkannt haben u n d sich demgemäß verhalten . . . N u r w e n n er nach den Umständen annehmen darf, daß alle i m Gefahrenbereich befindlichen V e r kehrsteilnehmer seine Warnzeichen wahrgenommen haben, darf er darauf vertrauen, daß sie ihrer Pflicht nachkommen, freie B a h n zu schaffen . . . 4β BayObLG, V e r k M i t t 1974, Nr. 45; O L G Bamberg (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 135. 47 B G H (Z), V e r k M i t t 1956, Nr. 98; B G H (Z), V e r k M i t t 1975, Nr. 33. 48 B G H (Z), V e r k M i t t 1958, Nr. 58. 49 O L G H a m b u r g (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 27.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Dabei k o m m t es darauf an, w i e sich i h m die Verkehrslage tatsächlich darbietet. Je gefährlicher sie ist u n d je stärker der Einsatzfahrer v o n den Vorschriften der StVO abweicht, u m so sorgfältiger muß er prüfen, ob er durch seine Fahrweise andere Verkehrsteilnehmer gefährdet, ob also diese seine Warnzeichen erkannt haben 6 0 ."

Andernfalls handelt der Fahrer Verkehrs widrig 5 1 . Er wäre dann nicht anders zu behandeln als ein „normaler" Vorfahrtberechtigter, der einen Wartepflichtigen erst „ v o r w i n k t " , also auf die Vorfahrt verzichtet, dann aber plötzlich doch losfährt. M i t einem solchen Verhalten braucht kein Verkehrsteilnehmer zu rechnen. Die Fälle eines übergesetzlichen bzw. für Einsatzfahrzeuge i n § 35 StVO geregelten Notstandes lassen sich also lösen, ohne die Geltung des Satzes, daß auf das Unterbleiben verkehrsgerechter Verhaltensweisen nicht vertraut werden kann, infrage zu stellen. 3. Kein Vertrauensschutz bei eigenem verkehrswidrigem Verhalten

a) Verantwortlichkeit

für die Folgen fremden

Fehlverhaltens

Daß auf das Unterbleiben verkehrsgerechter Verhaltensweisen nicht vertraut werden darf, ist vor allem deshalb bedeutsam, weil es i n bestimmten Fällen sogar dem verkehrswidrig Handelnden zugutekommen kann. „Zugutekommen" allerdings nur i n dem Sinn, daß er am Unfall nicht allein-, sondern „ n u r " mitschuldig ist. Der Ausgangspunkt dieser Überlegung ist folgender: Wer so fährt, daß er auch einen sich verkehrsgemäß verhaltenden Verkehrsteilnehmer i n Gefahr gebracht hätte, soll sich nicht darauf berufen können, daß der andere Verkehrsteilnehmer sich i n Wahrheit verkehrswidrig verhalten hat. Das kommt m i t aller Deutlichkeit i n einer Entscheidung des OLG Stuttgart zum Ausdruck, wo es heißt: „ M i t Recht macht der Amtsrichter dem Angeklagten den V o r w u r f , er sei zu schnell u n d ohne Rücksicht darauf i n die Kreuzung eingefahren, daß i m Kreuzungsbereich noch Verkehrsteilnehmer sein konnten, die wegen des Lastzugs nicht zu sehen w a r e n . . . Denn er konnte, da i h m die Sicht verdeckt war, nicht wissen, ob es sich bei den etwa noch i n der Kreuzung befindlichen Verkehrsteilnehmern u m solche handeln werde, die noch bei Gelblicht, aber langsam eingefahren waren, oder u m sogenannte ,Rot'fahrer. Ob Verkehrsteilnehmer dieser oder jener Kategorie i n die Quere kommen, w i r d erst v o n Belang, w e n n der Einfahrende die Kreuzung übersieht, er also erkennen kann, ob diese frei ist von räumenden Fahrzeugen. Ist das der Fall, braucht er sich freilich nicht auch noch auf etwaige ,Rot'fahrer einzustellen. I n dem eo B G H , V e r k M i t t 1969, Nr. 1; die übrigen Verkehrsteilnehmer, die nicht ständig m i t dem Auftauchen eines Einsatzfahrzeugs rechnen müssen, haben aber doch soweit Vorsorge zu treffen, daß sie ganz allgemein Verkehrssignale wahrnehmen können; O L G Hamm, V e r k M i t t 1972, Nr. 37; vgl. auch O L G K ö l n (Z), V e r k M i t t 1977, N r . 67. B G H (Z), V e r k M i t t 1958, Nr. 58; K G (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 71.

II. E e n

verkehrswidriges Verhalten

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hier zu entscheidenden F a l l konnte der Angeklagte aber gerade nicht erkennen, ob der Kreuzungsbereich frei w a r 5 2 . "

Die an Kreuzungen gegenüber dem Querverkehr gebotene Rücksichtnahme kommt also zwangsläufig auch dem vorschriftswidrig Eingefahrenen zugute, weil der m i t „fliegendem Start" i n einen unübersichtlichen Kreuzungsraum Hineinfahrende regelmäßig nicht zuverlässig unterscheiden kann, ob die dort befindlichen Teilnehmer am Querverkehr verkehrswidrig i n diesen Raum eingefahren sind oder nicht 5 3 . Die hier angestellten Erwägungen lassen sich auch' auf andere Verkehrssituationen übertragen. Vom Verkehrsstrafsenat stammt folgender Leitsatz: „ F ä h r t jemand an eine Kreuzung gleichgeordneter Straßen so schnell heran, daß er seiner Wartepflicht gegenüber einem von rechts kommenden Verkehrsteilnehmer nicht genügen kann, so ist er auch f ü r einen dadurch m i t herbeigeführten Zusammenstoß m i t einem von links kommenden u n d i h m gegenüber wartepflichtigen Fahrzeug v e r a n t w o r t l i c h 5 4 . "

Wer sich so verhält, kann sich also seiner Mitverantwortung für einen Unfall m i t dem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer nicht unter Hinweis darauf entziehen, es wäre ja nichts passiert, wenn der andere seiner Wartepflicht genügt hätte. Genausowenig wie es darauf ankommen kann, ob der andere Verkehrsteilnehmer noch bei Gelb oder erst bei Rot i n die — unübersichtliche — Kreuzung eingefahren ist, spielt es eine Rolle, ob der andere von rechts oder von links kam: I n beiden Fällen hatte es der Angeklagte pflichtwidrig versäumt, sich auf ein verkehrsgemäßes Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers einzustellen. Sein eigenes verkehrswidriges Verhalten läßt also i n diesen Fällen sein „Vertrauen" auf verkehrsgemäßes Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer als nicht schützenswert erscheinen. K a n n man nun aus dem Gesagten den Schluß ziehen, daß dem sich verkehrswidrig Verhaltenden grundsätzlich der Vertrauensschutz zu versagen ist? Das ist i n der Tat der Standpunkt der Rechtslehre 56 , und auch i n der Rechtsprechung w i r d dies immer wieder betont 6 6 . Jedoch kann man sich 52

O L G Stuttgart, V e r k M i t t 1967, Nr. 111. m Vgl. B G H , V e r k M i t t 1968, Nr. 81. 54 B G H S t 17, 299; i n jüngerer Zeit noch einmal bestätigt durch B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 108; vgl. auch O L G Celle ( V e r k M i t t 1975, Nr. 78), dort w a r das Unfallopfer ein K i n d , das plötzlich über die Kreuzung lief. 65 Vgl. Stratenwerth, A T , Rz. 1160: „Der Vertrauensgrundsatz . . . besagt nicht, daß man, i m Vertrauen auf die Sorgfalt anderer, sorgfaltswidrig handeln dürfe"; Jagusch, Rz. 22 zu § 1 StVO; Mühlhaus, StVO, A n m . 4 b) zu § 1 StVO; Drees / Kuckuk / Werny, Rz. 9 zu § 1 StVO; Martin, Straßenverkehrsrecht, S. 165; i m Ergebnis ebenso Krumme, S. 2 u n d Möhl i n Müller, Rz. 38 zu § 1 StVO; einschränkend Schroeder, L K , § 59 Rz. 195.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

des Eindrucks nicht erwehren, daß über den Grund dieser „Ausnahme" 5 7 vom „Vertrauensgrundsatz" offenbar wenig Klarheit herrscht. Daher finden sich auch i n der Rechtsprechung immer wieder Unsicherheiten und Hilfserwägungen, wenn es um die Frage „eigenes verkehrswidriges Verhalten und Vertrauensschutz" geht. b) Vertrauensschutz als „Prämie für eigenes Wohlverhalten im Verkehr" Als Begründung für den Ausschluß des Vertrauensschutzes bei eigenem verkehrswidrigen Verhalten w i r d i n der Regel angeführt, wer selbst die Verkehrsvorschriften nicht beachte, sei nicht befugt, ihre gewissenhafte Befolgung durch andere zu erwarten 5 8 . Nach Krumme, die sich eingehend m i t diesem Problem auseinandersetzt, stellt der Vertrauensschutz die „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m Verkehr" dar. Aus dem Inhalt des dem Vertrauensschutz zugrundeliegenden „Gleichheitsprinzips des § 1 StVO" ergebe sich folgendes: „ W e r selbst verkehrswidrig fährt, genießt keinen Vertrauensschutz, w e i l er von anderen nicht mehr Rücksichtnahme verlangen darf, als er selbst übt. Er k a n n sich nicht darauf verlassen, daß andere sich auf Verkehrsverstöße von seiner Seite gefaßt machen u n d die v o n i h m heraufbeschworenen V e r kehrsgefahren schon abwenden werden; denn auch die anderen, sich v e r kehrsgerecht verhaltenden Verkehrsteilnehmer dürfen sich i m Rahmen der Verkehrsregeln ebenso frei bewegen w i e er selbst u n d können ebenfalls den Schutz ihres Vertrauens auf das vorschriftswidrige" [richtig: vorschriftsgemäße] „Verhalten der übrigen beanspruchen^".

Es ist gewiß richtig, daß kein Verkehrsteilnehmer von anderen ein Mehr an Rücksicht verlangen darf, als er selber zu üben bereit ist. Z u eng ist allerdings die von Krumme für den Ausschluß des Vertrauensschutzes bei eigenem verkehrswidrigen Verhalten gegebene Begründung, kein Verkehrsteilnehmer dürfe sich darauf verlassen, daß die anderen die von ihm heraufbeschworenen Gefahren schon abwenden würden. Dies t r i f f t zwar auf die Fälle zu, i n denen es zu einem Unfall gekommen ist, obwohl die anderen Verkehrsteilnehmer sich verkehrsrichtig verhalten haben. Wie aber steht es, wenn der Unfall darauf zurückzuführen ist, daß sich auch der andere Verkehrsteilnehmer verkehrswidrig verhalten hat 6 0 ? Soll dann beiden Verkehrsse B G H S t 9, 92; B G H (Z), N J W 1965, 1178; B G H , V e r k M i t t 1959, Nr. 51; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1968, Nr. 61; O L G Hamm, V e r k M i t t 1974, Nr. 8. «7 Jagusch, Rz. 20 zu § 1 StVO. es B G H , V e r k M i t t 1959, Nr. 51; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1968, Nr. 61; O L G Hamm, V e r k M i t t 1974, Nr. 8; Martin, Straßenverkehrsrecht, S. 165. 5® Krumme, S. 2. eo Vgl. die oben auf S. 118 f. aufgeführten Fälle.

II. E e n

verkehrswidriges Verhalten

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sündern wenigstens ein „eingeschränkter Vertrauensschutz" zugutekommen, soll also jeder darauf vertrauen dürfen, der andere werde durch sein Verhalten die Situation nicht noch verschlimmern? Die Problematik sei an einem Beispiel erläutert: A n einer unübersichtlichen Stelle kommt es zu einem Unfall zwischen zwei Kraftfahrern, A und B, weil A das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 S. 1 StVO nicht eingehalten hat. Der Unfall wäre vermieden worden, wenn Β von vornherein — für ein Ausweichen war es zu spät — unter M i t benutzung des rechts neben der Fahrbahn liegenden Seitenstreifens gefahren wäre. Zweifellos kann A bei dieser Fallgestaltung keinen Vertrauensschutz beanspruchen, denn er kann nicht erwarten, daß andere Verkehrsteilnehmer die von i h m durch das Nichteinhalten des Rechtsfahrgebots heraufbeschworene Unfallgefahr durch ein „Übersoll" an Vorsicht abwenden. Angenommen, nicht nur A, sondern auch Β verletzt das Rechtsfahrgebot. Es wäre aber aufgrund der Breite des von Β gefahrenen Wagens (Lkw) auch zu dem Unfall gekommen, wenn Β möglichst weit rechts gefahren wäre. Auch jetzt kommt für A kein Vertrauensschutz i n Betracht, aber hier erweist sich schon die von Krumme für die Versagung des Vertrauensschutzes herangezogene Begründung als zu eng. A hat ja nicht darauf vertraut, daß Β durch ein besonders vorsichtiges Verhalten die von i h m — A — heraufbeschworene Gefahr schon abwenden werde, sondern einfach darauf, daß i h m an dieser Stelle kein so breites Fahrzeug entgegenkommen würde. Aber natürlich ist ein solches „Vertrauen" nicht schutzwürdig: Wer so fährt, daß er auch einen verkehrsmäßig Handelnden i n Gefahr gebracht hätte, dem kann es nicht zugutekommen, daß der andere sich i n Wirklichkeit Verkehrs w i d r i g verhält 6 1 . Die dritte Variante des Falles ist die, daß es nicht zum Unfall gekommen wäre, wenn Β vorschriftsmäßig rechts gefahren wäre. A hätte also einen verkehrsmäßig Handelnden nicht in Gefahr gebracht. Selbstverständlich bleibt sein Verhalten verkehrswidrig, denn „eine Fahrweise, die geeignet ist, den Gegenverkehr zu beeinträchtigen, ist . . . nicht schon deshalb zulässig, w e i l sie bei pflichtgemäßem Verhalten entgegenkommender Fahrzeugführer nicht zu einem U n f a l l führen k a n n " 6 2 .

Aber die Versagung des Vertrauensschutzes gegenüber A läßt sich nicht damit rechtfertigen, ihm könne nicht zugutekommen, daß sich Β verkehrswidrig verhalten habe, da er — A — auch einen verkehrsgemäß Handelnden i n Gefahr gebracht hätte. ei Vgl. die schon zitierten Urteile B G H S t 17, 299; B G H , V e r k M i t t 1968, Nr. 81; O L G Stuttgart, V e r k M i t t 1967, Nr. 111. « 2 B G H , V e r k M i t t 1970, Nr. 39.

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4. Teil : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Hier trägt die Qualifizierung des Vertrauensschutzes als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m Verkehr" 6 3 entscheidend zur Lösung dieser Fallvariante bei. N u r wer sich verkehrsgemäß verhält, „darf" dies auch von anderen erwarten. Wer jedoch selbst nicht bereit ist, sich i m Verkehr einzuordnen, w i r d den übrigen Verkehrsteilnehmern dieses „Recht" ebenfalls zugestehen müssen. Verkehrsgemäßes Verhalten ist eine A r t „Vorleistung", die man erbringen muß, um sich den Vertrauensschutz zu verdienen. Wer alles tut, u m die ihm von der Rechtsprechung i m Straßenverkehr gestellten Anforderungen zu erfüllen, der soll von seinen i h m durch die StVO eingeräumten Rechten auch Gebrauch machen dürfen, ohne jederzeit m i t Verkehrs Widrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer rechnen zu müssen 64 . Wie schon gesagt, ist partnerschaftliches Verhalten i m Straßenverkehr nicht möglich, ohne dem anderen ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenzubringen 65 . Bei eigenem nichtpartnerschaftlichem — also verkehrswidrigem — Verhalten gibt es keinen Grund, ein solches „Vertrauen" zu schützen 66 . c) Die Ansicht von der „Teilbarkeit

des Vertrauensgrundsatzes"

I m Gegensatz zu der hier vertretenen Auffassung, wonach dem verkehrswidrig Handelnden i n keinem Fall Vertrauensschutz zu gewähren ist, geht Krumme von der „Teilbarkeit des Vertrauensgrundsatzes" aus. Dieser soll nur insoweit entfallen, als der „Vertrauende" selbst die Verkehrsregeln mißachtet hat, wobei er m i t einem „grob unvernünftigen" Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer nicht zu rechnen braucht 67 . Die Ansicht von der „Teilbarkeit des Vertrauensgrundsatzes" läßt sich m i t den zuvor zitierten Entscheidungen nicht vereinbaren. Danach macht es keinen Unterschied, ob der blindlings i n eine unübersichtliche Kreuzung Einfahrende dort auf „Gelb-" oder „Rot"fahrer stößt. Dabei ist anerkannt, daß ein Fahrer, der bei Grün i n eine Übersichtw Krumme, S. 1. V o n Lange (Defensives Fahren, S. 177) als die „ G a r a n t i e - F u n k t i o n " der Grundregel f ü r das Verhalten i m Straßenverkehr bezeichnet; vgl. oben S. 39. es Vgl. oben S. 61 f. «6 a. A . Schönke-Schröder, Rz. 195 zu § 59 S t G B : „Grundlage der Versagung k a n n nicht eine Sanktion f ü r die eigene Verkehrswidrigkeit sein, sondern n u r die Tatsache, daß das verkehrswidrige Verhalten den anderen Verkehrsteilnehmer zu einem Abweichen von dem vorschriftsmäßigen Verhalten veranlaßt." A u f diese Weise begäbe sich die Rechtsordnung der Möglichkeit, durch einen gezielten, d . h . verkehrserzieherisch wirkenden, Einsatz des Vertrauensschutzes eine „Hebung der Verkehrsgesittung" (Begründung zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 800 f.) u n d damit ein M e h r an Verkehrssicherheit zu erreichen; dazu unten S. 174 ff. Krumme, S. 2. 64

II. E e n

verkehrswidriges Verhalten

liehe Kreuzung einfährt, sich nicht auf „Rot"fahrer braucht 6 8 , denn die Mißachtung des Rotlichts ist eine

123 einzustellen

„besonders grobe u n d leicht zu vermeidende Verkehrswidrigkeit, die auch nicht allzuoft vorkommt"«®.

Obwohl also das Verhalten eines „Rot"fahrers i n der Regel als „grob unvernünftig" 7 0 bezeichnet werden kann, kommt die Rechtsprechung nicht auf den Gedanken, dem einen Verkehrssünder — dem „Blind"fahrer — gegenüber dem anderen — dem „Rot"fahrer — Vertrauensschutz zu gewähren. Dem ist zuzustimmen. Gerade wenn man wie Krumme den Vertrauensschutz als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m Verkehr" versteht 71 , sollte alles vermieden werden, was zu einer risikoreichen oder sogar verkehrswidrigen Fahrweise ermuntern könnte. Dabei hat die hinter der Formulierung von der „Teilbarkeit des Vertrauensgrundsatzes" stehende Überlegung, daß ein Verkehrsteilnehmer nicht i n jedem Falle für sämtliche Folgen einer kleinen Unbedachtsamkeit verantwortlich gemacht werden sollte, einiges für sich. N u r läßt sich dies Problem nicht auf der Ebene des Vertrauensschutzes lösen. Das soll anhand des von Krumme gewählten Falles und weiterer Beispiele aus der Rechtsprechung deutlich gemacht werden. d) Vertrauensschutz

und Vorhersehbarkeit

Wer falsch überholt, braucht nach Ansicht Krummes aufgrund der „Teilbarkeit des Vertrauensgrundsatzes" darum noch nicht m i t Vorfahrtverletzungen zu rechnen, die nicht i m Zusammenhang m i t seiner eigenen Zuwiderhandlung stehen 72 . Diesem Gedankengang liegt offenbar eine früher einmal vom Verkehrsstrafsenat gebrauchte, etwas mißverständliche Formulierung zugrunde. Es heißt dort: „Der Angeklagte hatte das Vorfahrtrecht, das auch durch Benutzung der falschen Straßenseite nicht beseitigt wurde u n d nicht etwa auf den Wartepflichtigen überging. E r durfte sich deshalb darauf verlassen, daß sein Vorfahrtrecht beachtet werde, u n d zwar ohne Rücksicht darauf, ob er rechts oder i n der M i t t e der Hauptverkehrsstraße f u h r . . . Die Verletzung des Vorfahrtrechts i n so grober Weise, w i e es i m vorliegenden F a l l geschehen ist, brauchte der Angeklagte als Folge seines Linksfahrens nicht vorauszusehende."

Die Wendung, wonach sich der Vorfahrtberechtigte auf die Beachtung seines Vorfahrtrechtes „verlassen" durfte, scheint für die Geltung «8 Jagusch, Rz. 45 zu §37 StVO; Mühlhaus, β® BayObLG, V e r k M i t t 1968, Nr. 129. 70 Vgl. Krumme, S. 2. 71 Ebenda, S. 1. 72 Ebenda, S. 2. 73 BGH, VRS 6, S. 200.

StVO, A n m . 3 a zu §37 StVO.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

des „Vertrauensgrundsatzes" trotz eigenen verkehrswidrigen Verhaltens zu sprechen, und so w i r d das Urteil auch von M a r t i n 7 4 verstanden. Der letzte Satz zeigt jedoch, daß es dem Bundesgerichtshof u m die Frage ging, ob der Angeklagte vorhersehen konnte, daß es aufgrund seines eigenen verkehrswidrigen Verhaltens zu einem Unfall kommen würde. Strafrechtlich handelte es sich hier u m ein fahrlässiges Erfolgsdelikt, wie es für den Straßenverkehr typisch ist 7 5 und bei dem sich der Schuldvorwurf aus zwei Elementen zusammensetzt: dem (subjektiv) pflichtwidrigen Handeln (oder Unterlassen) und der Vorhersehbarkeit des später eingetretenen Erfolges. A u f die Frage, inwieweit der eingetretene Erfolg nur i m Ergebnis vorhersehbar gewesen sein muß, also nicht auch der Ablauf der Ereignisse, wie er sich i m Einzelfall zugetragen hat, braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden 7 6 . Jedenfalls w i r d die Frage, ob ein aufgrund verkehrswidrigen Handelns eingetretener Erfolg vorhersehbar war, weit seltener zu verneinen sein, als die Frage, ob der sich verkehrsgerecht Verhaltende darauf vertrauen durfte, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer es ebenso halten würden. Soweit auf verkehrsgerechtes Verhalten anderer vertraut werden darf, w i r d eben nicht geprüft, ob ein Fehlverhalten denkbar — und deshalb vorhersehbar —, sondern nur, ob es nach den Umständen zu erwarten war. Die Vertrauenswürdigkeit der übrigen Verkehrsteilnehmer w i r d hier erheblich höher eingeschätzt als bei der Prüfung der Verantwortung für einen durch fehlerhaftes Verhalten herbeigeführten Erfolg 7 7 . Die Feststellung, daß der Vertrauensschutz nur dem verkehrsgemäß Handelnden zugutekommt und bei verkehrswidrigem Verhalten allenfalls die „Vorhersehbarkeit" fremden Fehlverhaltens ausgeschlossen sein kann, ist also nicht nur eine Frage der Terminologie. aa) Vertrauensschutz und „Ursächlichkeit" des Verkehrsverstoßes Der eben dargestellte Unterschied zwischen „Vertrauen-Dürfen" und „Vorhersehen-Müssen" würde allerdings erheblich an Bedeutung verlieren, wenn dem Täter nur solche Folgen seines Verkehrsverstoßes zu74 Martin, Einschränkung, S. 140 Ziff. 5 a. E. 75 Gundermann, Untersuchungen zu der Frage, ob sich aus § 1 StVO das i m Straßenverkehr zu beachtende Verhalten eindeutig bestimmen läßt u n d diese Vorschrift i n Verbindung m i t § 49 StVO dem Grundsatz „ n u l l u m crimen sine lege" entspricht, S. 56. 7β Dazu m i t zahlreichen Beispielen aus der Verkehrsrechtsprechung u n d weiteren Nachweisen Mühlhaus, Fahrlässigkeit, S. 45 ff.; Möhl, Voraussehbarkeit, S. 59; O L G Saarbrücken V e r k M i t t 1975, Nr. 15. 77 Möhl, Voraussehbarkeit, S.58; BayObLG, V e r k M i t t 1974, Nr. 45.

II. E e n

erkehrswidriges Verhalten

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gerechnet werden könnten, für die gerade dieser Verkehrsverstoß — überhöhte Geschwindigkeit, zu geringer Seitenabstand beim Überholen — „ursächlich" i m Rechtssinne war. Eine solche „Ursächlichkeit" ist nach Auffassung der Rechtsprechung dann nicht gegeben, wenn sich der Unfall auch bei verkehrsgerechtem Verhalten — angemessene Geschwindigkeit, ausreichender Seitenabstand beim Überholen — ereignet hätte. Der Angeklagte soll i n diesem Fall strafrechtlich nicht für die Unfallfolgen zur Verantwortung gezogen werden können 78 . Auch die Rechtslehre spricht sich hier fast einhellig gegen eine Verurteilung aus, allerdings m i t unterschiedlicher Begründung 7 9 . Damit w i r d jedoch der Verkehrssünder — zumindest i m Ergebnis — nicht anders behandelt als derjenige, der sich verkehrsgerecht verhält und damit Vertrauensschutz genießt. Daß der Verkehrssünder nämlich, wie oben dargelegt, den Vertrauensschutz verliert, also i n der Regel mit fremdem Fehl verhalt en rechnen, es „vorhersehen" muß, w i r d dadurch relativiert, daß bei der anschließenden sog. „zweiten Ursachenprüfung" 8 0 das verkehrsgerechte Verhalten — die zulässige Geschwindigkeit, der ausreichende Seitenabstand — wieder mit Hilfe des „Vertrauensgrundsatzes" bestimmt wird, der dem Verkehrssünder doch gerade nicht zugutekommen soll. Soweit ersichtlich sind i m Rahmen der weitgefächerten Diskussion über die Berücksichtigung hypothetischer Erfolgsursachen i m Strafrecht die damit verbundenen Auswirkungen auf den „Vertrauensgrundsatz" noch kaum beachtet worden 8 1 . Das ist um so verwunderlicher, als i n der Praxis der Strafrechtspflege die mit der Berücksichtigung hypothetischer Erfolgsursachen einhergehende Problematik meist bei Verkehrsunfällen auftaucht 82 . Sedes materiae ist damit § 222 bzw. 230 StGB. Danach erfolgt eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung bzw. fahrlässiger Körperverletzung (nur) dann, wenn der Tod oder die Verletzung „durch Fahrlässigkeit" herbeigeführt worden ist. Welcher A r t nun diese Verbindung zwischen fahrlässiger Handlung — 78 Grundlegend B G H S t 11, 1. 7» Vgl. die Übersichten über den Meinungsstand bei Burgstaller (Das Fahrlässigkeitsdelikt i m Strafrecht, S. 133 ff.), Schünemann (Moderne Tendenzen i n der Dogmatik der Fahrlässigkeits- u n d Gefährdungsdelikte, J A 1975, StR S. 149), Schlüchter (Grundfälle zur Lehre von der Kausalität, JuS 1976, 312 u n d JuS 1977, 104); s t r i t t i g ist wiederum, w i e zu entscheiden ist, w e n n sich nicht klären läßt, ob es bei verkehrsgerechtem Verhalten ebenfalls zum U n f a l l gekommen wäre; dazu unten S. 139. so Mühlhaus, Fahrlässigkeit, S. 26 f. 81 Vgl. Schünemann, StR S. 135, der auf der einen Seite vor einer A u s höhlung des „Vertrauensgrundsatzes" warnt, w e i l dies „ohne Zweifel ein Verkehrschaos zur Folge haben würde", auf der anderen Seite jedoch sogar dann freisprechen w i l l , w e n n es durch den Verkehrsverstoß (nur!) zu einer „unerheblichen" Risikosteigerung gekommen ist; dazu unten S. 142. 82 Burgstaller, S. 130, m i t Beispielen aus der Rechtsprechung.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Verkehrsverstoß — und dem eingetretenen Erfolg — Körperverletzung oder Tötung eines Menschen — zu sein hat, u m eine Bestrafung nach §222 bzw. 230 StGB zu rechtfertigen, das ist i m einzelnen umstritten. Einigkeit besteht selbstverständlich darüber, daß der Täter nicht bestraft werden kann, wenn seine fahrlässige Handlung folgenlos geblieben, es also zum Unfall gekommen ist, ohne daß sein Verkehrsverstoß dafür eine Ursache i m mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinne gesetzt hat. Unbestritten ist auch, daß der Erfolg für den Täter vorhersehbar gewesen sein muß. Es gibt i m geltenden Strafrecht kein versari i n re illicita, also keine Haftung für sämtliche (auch zufällige) Folgen seines verbotenen Tuns 8 5 . Die Schwierigkeiten beginnen, wenn man für eine Bestrafung eine darüber hinausgehende spezielle „Verknüpfung" zwischen fahrlässiger Handlung (Pflichtwidrigkeit) und eingetretenem Erfolg postuliert, also darauf abhebt, ob sich der Unfall gleichermaßen auch bei rechtmäßigem Verhalten des Täters zugetragen hätte. A u f eine kurze Formel gebracht lautet der Ausgangspunkt aller derartigen Überlegungen: „Fahrlässige Verursachung ist nicht gleich Verursachung + Fahrlässigkeit 8 4 ." Z u r Einführung seien einige Urteile zitiert, i n denen die Anwendung des „Vertrauensgrundsatzes" trotz eigenen verkehrswidrigen Verhaltens bejaht wird, und zwar auf Grund mangelnder „Ursächlichkeit" des Verkehrsverstoßes. Dabei w i r d sich zeigen, daß es sich hier durchaus nicht immer u m die gleichen Fallkonstellationen handelt, die Rechtsprechung demgemäß trotz formal gleichlaufender Argumentation auf Grund unterschiedlicher Erwägungen zum Freispruch kommt. I n einer älteren Entscheidung vertritt das Bayerische Oberste Landesgericht unter Berufung auf M a r t i n 8 0 die Ansicht, ein Kraftfahrer, der plötzlich nach links ausgebogen war, ohne auf den nachfolgenden 83

A u d i Spendel (Conditio-sine-qua-non-Gedanke u n d Fahrlässigkeitsdelikte — B G H S t 11, 1, JuS 1964, 14 [20]) h ä l t an der subjektiven V o r h e r sehbarkeit des Erfolges eindeutig fest; so zutreffend Schünemann, StR S. 167, u n d Burgstaller, S. 136 f., gegen den V o r w u r f Roxins (Pflichtwidrigkeit u n d Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74, 411 [432]). Die Vorhersehbarkeit des durch den Pflichtenverstoß herbeigeführten Erfolges w i r d i m Rahmen der folgenden Ausführungen zur „Ursächlichkeit" der fahrlässigen H a n d l u n g i m m e r stillschweigend unterstellt. 84 So die einprägsame Formulierung Georg Baumanns (Kausalzusammenhang bei Fahrlässigkeitsdelikten, D A R 1955, 210 [211]); die L i t e r a t u r weist darauf hin, daß es sich hier nicht u m ein Kausalproblem, sondern u m ein Problem der „ n o r m a t i v e n Erfolgszurechnung" handele (Burgstaller, S. 132); Schünemann (StR S. 186) u. a. sprechen davon, daß Pflichtwidrigkeit u n d Erfolg i n einem speziellen „Risikozusammenhang" stehen müßten; dazu i m einzelnen unten S. 136 ff. 85 Martin, Straßenverkehrsrecht, S. 165.

II.3 Eigenes erkehrswidriges Verhalten

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Verkehr zu achten, könne sich dennoch auf den „Vertrauensgrundsatz" berufen. Sein Hintermann, der ihn gerade hatte überholen wollen, hatte nämlich noch rechtzeitig anhalten können. Erst dessen Hintermann hatte den Auffahrunfall verursacht. Das Gericht meint, die Verletzung der Sorgfalt gegenüber dem i m Überholen begriffenen P k w bewirke nicht, daß der Schutz des Vertrauens auf Einhaltung des nötigen Sicherheitsabstandes durch diesem P k w nachfolgende Fahrzeuge entfalle, denn durch seinen Fahrfehler habe der Ausbiegende keine „Ursache" für die Vernachlässigung des Sicherheitsabstandes gesetzt 86 . Das OLG Hamm hat einen Kraftfahrer freigesprochen, der i m innerstädtischen Verkehr bei einer Geschwindigkeit von 5 5 - 5 8 k m / h ein 11 jähriges K i n d angefahren hatte, das am Fahrbahnrand stand und i h m dann plötzlich i n den Weg lief. Nach Ausführungen darüber, daß weder das Verhalten des Kindes noch die Unfallörtlichkeit eine Verkehrswidrigkeit besorgen ließen, fährt das Gericht fort: „Die A n w e n d u n g des Vertrauensgrundsatzes entfällt entgegen der Ansicht des Schöffengerichts auch nicht deswegen, w e i l der Angeklagte zu schnell gefahren ist. Denn auch w e r sich verkehrswidrig verhält, k a n n sich auf den Vertrauensgrundsatz berufen, w e n n das verkehrswidrige Verhalten f ü r den U n f a l l nicht ursächlich w a r S V

Unter Berufung auf dieses U r t e i l hat das OLG K ö l n einen K r a f t fahrer freigesprochen, der m i t einem Radfahrer zusammengestoßen war. Das Gericht ist der Ansicht, ein Pkw-Führer brauche nicht damit zu rechnen, daß der i h m vorausfahrende Kraftwagen beim Überholen einen Radfahrer streife und diesen dadurch unvermittelt i n seine, des Nachfolgenden, Fahrbahn schleudere. A n diesem Ergebnis ändere sich auch nichts, falls der Nachfahrende den zum vorausfahrenden P k w an sich gebotenen Abstand erheblich unterschritten habe, denn sein Fehlverhalten sei für den Unfall nicht „ursächlich" gewesen. Er könne sich daher auf den „Vertrauensgrundsatz" berufen 88 . Die Ansicht, daß nicht jede Verletzung einer Verhaltensvorschrift den Vertrauensschutz für den gesamten Bereich des Verkehrsgeschehens beseitige, sondern nur solches Fehlverhalten, das für den Unfall „mitursächlich" geworden sei, w i r d auch von M ö h l vertreten 8 9 . Nach seiner Auffassung kann ein Kraftfahrer, dem plötzlich ein Fußgänger vor den Wagen läuft, mit Erfolg geltend machen, er habe auf 8® BayObLG, V e r k M i t t 1955, Nr. 63, m i t abl. A n m . Booß. 87 O L G Hamm, VRS 36, S. 358 (360) unter Berufung auf Floegel-Hartung, Straßenverkehrsrecht, 17. Aufl., Rz. 22 zu § 1 StVO; ähnlich heute Jagusch, Rz. 22 zu § 1 StVO. 88 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1971, Nr. 39. 8» Möhl, Voraussehbarkeit, S. 61.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

verkehrsgemäßes Verhalten des Fußgängers vertrauen dürfen, zwar auch dann, wenn er

und

„zwar fehlerhafterweise nicht möglichst w e i t rechts, sondern mehr i n der M i t t e der Fahrbahn fuhr, vorausgesetzt allerdings, daß der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot f ü r den U n f a l l ohne Bedeutung w a r " 9 0 .

Das von M ö h l herangezogene Beispiel ist nicht glücklich gewählt: Es ist anerkannt, daß trotz des Gebotes, „möglichst weit rechts zu fahren" (§ 2 Abs. 2 Satz 1 StVO), der Fahrer vom rechten Fahrbahnrand einen Sicherheitsabstand einhalten darf, dessen Größe von der A r t des Fahrzeugs, der Geschwindigkeit und der Fahrbahnbreite abhängt, jedoch auch auf schmalen Straßen i m allgemeinen einen Meter betragen darf 9 1 . Es ist daher schwer vorstellbar, daß ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot für einen Unfall zwischen Kraftfahrer und Fußgänger „ohne Bedeutung" ist: Entweder fährt der Kraftfahrer immerhin noch so weit rechts, daß kein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot vorliegt, oder er fährt so weit links, daß gerade darin die Unfallursache zu suchen ist 9 2 . Auch ein weiteres von Möhl für die Geltung des „Vertrauensgrundsatzes" trotz eigenen Fehlverhaltens angeführtes Beispiel vermag nicht zu überzeugen. Zwar ist der Fall i m Ergebnis richtig entschieden: Wer darauf vertraut, daß der Wartepflichtige i h m die Vorfahrt läßt, dessen Vertrauen ist gewiß auch dann schützenswert, wenn er sein Vorrecht „zwar zutreffend, aber ohne zuverlässige Prüfung" annimmt 9 3 . Möhl führt dies darauf zurück, daß die Pflichtverletzung „ f ü r den Unfall" nicht ursächlich gewesen sei, da ja dem Fahrer die Vorfahrt tatsächlich zugestanden habe. Richtigerweise w i r d man schon die Ursächlichkeit des Fehlverhaltens für die Fahrweise des Vorfahrtberechtigten verneinen. Von einem Vorfahrtberechtigten kann nicht mehr und nicht weniger verlangt werden, als daß er sich wie ein Vorfahrtberechtigter verhält. Tut er dies, handelt er verkehrsgemäß. A u f welche Weise er sich vom Bestehen seines Vorrechtes überzeugt, interessiert so lange nicht, als auch eine „zuverlässige Prüfung" nicht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Da sich der Vorfahrtberechtigte hier also von vornherein gegenüber dem anderen Verkehrsteilnehmer verkehrsgemäß verhalten hat, ist i h m Vertrauensschutz zu gewähren 94 . »o Ebenda. 91 Vgl. Mühlhaus, StVO, A n m . 5 c zu § 2 StVO m i t Rechtsprechungsnachweisen; am Rosenmontag sollte übrigens dieser Abstand tunlichst größer sein (OLG Düsseldorf, V e r k M i t t 1975, Nr. 108); vgl. auch O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1978, Nr. 42. 92 Eine andere Frage ist, i n w i e w e i t das Rechtsfahrgebot dem Schutz des Querverkehrs zu dienen bestimmt ist; dazu unten S. 132 ff. »3 Möhl i n Müller, Rz. 38 zu § 1 StVO.

II.3 Eigenes verkehrswidriges Verhalten

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I n der Regel w i r d jedoch die Frage, ob ein Verkehrsverstoß für einen Unfall „ursächlich" war, nicht beantwortet werden können, ohne sich mit dem Problem „Vertrauensschutz trotz eigenen verkehrswidrigen Verhaltens" auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür bildet die schon zitierte Kinderunfall-Entscheidung des OLG Hamm 9 6 . Der angeklagte Kraftfahrer hatte die innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten. Er wurde freigesprochen, da sich der Unfall nach Ansicht des Gerichts auch dann ereignet hätte, wenn der Angeklagte m i t der nach der Verkehrssituation zulässigen Geschwindigkeit von 50 k m / h gefahren wäre. Eine solche Geschwindigkeit hielt das Gericht i n diesem Fall für zulässig, w e i l nichts i m Verhalten des 11jährigen Kindes darauf hindeutete, es werde plötzlich über die Straße laufen. Das Gericht stellt damit, u m die „Ursächlichkeit" des Verkehrsverstoßes für den Unfall zu klären, dem wirklichen einen hypothetischen Geschehensablauf gegenüber, bei dem von einem vorschriftsgemäßen Verhalten des Täters ausgegangen wird. K a n n aber, so ist zu fragen, i m Rahmen dieses hypothetischen Geschehensablaufes eine Geschwindigkeit von 50 km/h überhaupt noch als vorschriftsgemäß angesehen werden? M i t dieser Geschwindigkeit darf sich ja ein Kraftfahrer, der einen Fußgänger am Straßenrand erblickt, nur dann bewegen, wenn er auf dessen verkehrsgerechtes Verhalten vertrauen darf. Fährt er dagegen m i t überhöhter Geschwindigkeit, so soll i h m dieser Vertrauensschutz gerade versagt sein. M ö h l möchte diese Frage dennoch bejahen. Er ist der Ansicht, der dem tatsächlichen Geschehensablauf gegenüberzustellende hypothetische Ablauf müsse auch die Rechtsfolge einbeziehen, die sich aus dem verkehrsgemäßen Verhalten ergeben hätte. Der Angeklagte dürfe sich zwar i n einem solchen F a l l nicht darauf verlassen, der Fußgänger werde die Fahrbahn nicht leichtsinnig überqueren, denn er habe j a durch sein eigenes verkehrswidriges Verhalten den Vertrauensschutz verloren. „ A b e r v o n i h m konnte i n diesem . . . Z e i t r a u m nichts weiter gefordert werden, als daß er seine Geschwindigkeit auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit herabsetzte. Sobald er diese erreichte, i n unserem F a l l also m i t 50 k m / h fuhr, verhielt er sich nicht mehr verkehrswidrig u n d durfte weiter auf verkehrsgerechtes Verhalten des Fußgängers vertrauen 9 8 ."

Möhls Argumentation ist nicht zwingend. Faßt man den Vertrauensschutz m i t Krumme als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m Ver94 Das müßte auch dann gelten, w e n n ein K r a f t f a h r e r trotz A l k o h o l genusses oder fehlender Fahrerlaubnis sich äußerlich, d. h. den anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber, verkehrsgerecht verhält; dazu Roxin, Z u m Schutzzweck der N o r m bei fahrlässigen Delikten, S. 241 (242). »5 O L G Hamm, a.a.O. (VRS 36, S. 170). ·· Möhl, Voraussehbarkeit, S. 57 f.

9 Kirschbaum

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4. Teil : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

kehr" 9 7 , oder wie M ö h l selbst als „Spielregel für alle Teilnehmer am modernen Straßenverkehr" 9 8 auf, so ist nicht einzusehen, daß diese „Prämie" zumindest i m Ergebnis auch einem Verkehrsteilnehmer zugutekommen soll, der die „Spielregeln" nicht eingehalten hat. Versagt man allerdings dem Verkehrssünder konsequent den Vertrauensschutz, so würde (schuldhaftes) Fehlverhalten i m Straßenverkehr i n aller Regel auch zur (Mit)Verantwortung für den darauf folgenden Unfall führen. Denn bei der Gegenüberstellung von wirklichem und hypothetischem Geschehensablauf hätte dann das OLG Hamm nicht eine Geschwindigkeit von 50 k m / h als vorschriftsmäßig ansehen dürfen, sondern — i n Konsequenz des fehlenden Vertrauensschutzes — eine Geschwindigkeit, wie sie derjenige einzuhalten hat, der „auf alles . . gefaßt" sein muß 9 9 . Ein Kraftfahrer, der innerorts die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht beachtet und dem plötzlich ein Fußgänger i n den Weg läuft, wäre hiernach regelmäßig für den Unfall verantwortlich, da es wohl kaum zum Zusammenstoß gekommen wäre, wenn er von vornherein m i t Schrittgeschwindigkeit gefahren wäre. Damit würde eine Gegenüberstellung von wirklichem und hypothetischem Kausalverlauf praktisch ihren Sinn verlieren, denn zugunsten des Täters ließe sich daraus nichts mehr herleiten. Die Rechtsprechung hat sich, wie die Entscheidung des OLG Hamm zeigt, gegen eine derart rigorose Verantwortlichkeit für die Folgen eigenen Fehlverhaltens entschieden. Auch der Bundesgerichtshof zieht bei der „zweiten Ursachenprüfung" den „Vertrauensgrundsatz" zur Bestimmung des verkehrsgemäßen Verhaltens heran. I n der bekannten Entscheidung des 11. Bandes w i r d die Unfallursächlichkeit des von dem Lkw-Fahrer begangenen Verkehrsverstoßes — er hatte zu dem verunglückten Radfahrer einen zu geringen Seitenabstand eingehalten — verneint, „ w e i l der U n f a l l sich m i t hoher Wahrscheinlichkeit i n gleicher Weise zugetragen haben würde, falls der Angeklagte beim Überholen einen genügenden Zwischenraum v o n 1 bis 1,50 m eingehalten hätte" 10 ®.

Ein Seitenabstand von 1 bis 1,50 m kann für das Überholen eines Radfahrers jedoch nur dann als „genügend" angesehen werden, wenn der Kraftfahrer auf dessen verkehrsgerechtes Verhalten vertrauen «7 Krumme, S. 1. »8 Möhl, Voraussehbarkeit, S. 58. »» Also ganz i m Sinne des „Vorgarten-Urteils", RGSt 65, 135 (141). io» B G H S t 11, 1 (5), „Lastzugfall"; so genannt i m Gegensatz zum „Radfahrerfall", RGSt 63, 392; die Besonderheit des „Lastzugfalles" lag darin, daß der Radfahrer — f ü r den L k w - F ü h r e r unerkennbar — betrunken w a r u n d daher „ m i t hoher Wahrscheinlichkeit" auch zu F a l l gekommen u n d überfahren worden wäre, w e n n dieser m i t genügendem Seitenabstand an i h m vorbeigefahren wäre.

II.3 Eigenes verkehrswidriges Verhalten

131

darf 1 0 1 . Diesen Vertrauensschutz, der einem sich verkehrsgemäß verhaltenden Kraftfahrer zukommt, hält der Bundesgerichtshof i m Rahmen der „zweiten Ursachenprüfung" nun auch dem Lkw-Fahrer zugute, der verkehrswidrig den Seitenabstand zu gering bemessen hatte. Daß er damit den Unterschied zwischen den Sorgfaltsanforderungen an den Verkehrssünder und an den sich verkehrsgemäß Verhaltenden verwischt, kommt i h m offenbar nicht zum Bewußtsein. Die Frage, ob das verkehrswidrige Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers für den Angeklagten „vorhersehbar" war, oder ob er auf dessen Unterbleiben vertrauen durfte, stellt sich nämlich für den Bundesgerichtshof gar nicht erst, wenn schon die „Ursächlichkeit" des Verkehrsverstoßes für den Unfall zu verneinen ist 1 0 2 . Bevor nun der Standpunkt bzw. die Standpunkte der Rechtslehre zu dieser Frage dargestellt werden, sollen die drei vorstehend zitierten Urteile daraufhin überprüft werden, inwieweit sie auf der Linie der BGH-Rechtsprechung liegen. Dabei ergibt sich, daß i n zwei Urteilen die Anwendung des „Vertrauensgrundsatzes" — vom Standpunkt der Rechtsprechung aus konsequent — nur i m Rahmen der „zweiten U r sachenprüfung" erfolgt. Das OLG Hamm ist der Ansicht, daß auch ein gewissenhafter Fahrer angesichts des immerhin schon 11 Jahre alten Kindes eine Geschwindigkeit von 50 k m / h nicht hätte zu unterschreiten brauchen, weil keine Anzeichen auf dessen Fehlverhalten hindeuteten, und daß der Unfall auch bei dieser Geschwindigkeit nicht hätte vermieden werden können 1 0 3 . Das OLG K ö l n ist davon überzeugt, daß es i n gleicher Weise zu dem Unfall gekommen wäre, wenn der Angeklagte den gebotenen Abstand zu seinem Vordermann eingehalten hätte. Wie groß i n diesem Falle der gebotene Abstand hätte sein müssen, bestimmt es nach dem „Vertrauensgrundsatz" 1 0 4 . ιοί Der K r a f t f a h r e r muß zwar damit rechnen, daß der Überholte sein Rad nicht stets i n derselben Richtung halten k a n n u n d gelegentlich u n w i l l k ü r l i c h nach der Seite abweicht. U m diese technisch bedingten Richtungsänderungen abzugleichen, bedarf es des genannten Zwischenraumes von 1 bis 1,50 m (OLG K ö l n , V e r k M i t t 1964, Nr. 36). I m übrigen darf sich jedoch der K r a f t fahrer darauf verlassen, daß ein Radfahrer nicht „plötzlich u n d ohne ersichtlichen G r u n d stark nach links v o n seiner Fahrtrichtung abweicht" (so schon B a y O b L G [Z], D A R 1930, Sp. 107). ιοί Ganz k l a r B G H (Z), N J W 1965, 1177 (1178): „ M i t dem Vertrauensgrundsatz hat die Frage des ursächlichen Zusammenhangs . . . nichts zu tun. Der Vertrauensgrundsatz w i l l dem Verkehrsteilnehmer eine Richtschnur f ü r seine Verhaltensweise i m Straßenverkehr geben . . . Hier geht es aber nicht darum, w i e der Beklagte i m H i n b l i c k auf das zu erwartende Verkehrsverhalten anderer seine Fahrweise gestalten durfte, sondern u m die Frage, f ü r welche Folgen sein verkehrswidriges Verhalten ursächlich geworden ist. 44 los O L G H a m m a.a.O. (VRS 36, S. 358). 104 O L G K ö l n a.a.O. ( V e r k M i t t 1971, Nr. 39).

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

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Das OLG Hamm und das OLG K ö l n haben also, legt man die Judikatur des Bundesgerichtshofes zugrunde, zu Recht freigesprochen, da sich auf Grund der „zweiten Ursachenprüfung" herausgestellt hatte, daß das Fehlverhalten des angeklagten Kraftfahrers nicht „ursächlich" für den Unfall gewesen w a r 1 0 5 . bb) Vertrauensschutz und „Schutzzweck" der verletzten Norm Das Bayerische Oberste Landesgericht kommt jedoch aus einem anderen Grunde zum Freispruch. Die Besonderheit des Falles lag darin, daß es durch das plötzliche Ausbiegen des Angeklagten nach links nicht etwa zu einem Zusammenstoß m i t dem unmittelbar folgenden, i m Uberholen begriffenen P k w gekommen war, sondern daß erst dessen Hintermann den Auffahrunfall verursacht hatte. Hier stand es außer Frage, daß das Fehl verhalten des Angeklagten für den Unfall „ursächlich" geworden war. I m U r t e i l heißt es allerdings recht mißverständlich: „ N u r w e n n der Angeklagte durch diesen Fehler eine Ursache f ü r die Vernachlässigung des Sicherheitsabstandes" [durch den zweiten Hintermann!] „gesetzt hätte, versagte der Vertrauensschutz" 1 0 6 .

M i t dieser Erwägung kann natürlich nicht die „Ursächlichkeit" des vom Angeklagten begangenen Fahrfehlers für den Unfall ausgeschlossen werden. A n anderer Stelle des Urteils w i r d auch deutlich, daß etwas ganz anderes gemeint ist. Es heißt dort: „Die Vergewisserung des Fahrers, der zum Zweck des Überholens oder Umfahrens ausbiegt, über den rückwärtigen Verkehr dient der V e r h ü t u n g eines Zusammenstoßes m i t dem Zweitüberholenden . . . Dieser Zusammenstoß ist aber dadurch vermieden worden, daß der überholende P k w entsprechend dem V o r t r i t t des Angeklagten hielt . . . M i t schädigenden Folgen der ordnungsgemäßen Maßnahme des überholenden P k w brauchte der Angeklagte nicht zu rechnen 10 ?."

Das Gericht w i l l damit zum Ausdruck bringen, daß dem Täter nur solche Folgen seines verkehrswidrigen Verhaltens zuzurechnen sind, welche die verletzte Schutzvorschrift gerade verhüten w i l l 1 0 8 . Die da105 Die i n beiden U r t e i l e n gebrauchte Wendung, wonach damit auch dem verkehrswidrig Handelnden der „Vertrauensgrundsatz" zugutekomme, ist zwar v o m Standpunkt des Bundesgerichtshofes aus überflüssig, da es hier nicht auf den Vertrauensschutz, sondern allein auf den „Ursachenzusammenhang" ankommen soll; vgl. oben A n m . 102. Die Formulierung der Oberlandesgerichte zeigt jedoch, daß sie das Verhältnis zwischen „Vertrauensgrundsatz" u n d „zweiter Ursachenprüfung" nicht ganz so unproblematisch sehen w i e der Bundesgerichtshof; dazu i m einzelnen unten S. 136 ff. 100

BayObLG, a.a.O. ( V e r k M i t t 1955, Nr. 63). ? Ebenda. 108 v g l . dazu Mühlhaus, Fahrlässigkeit, S. 54 ff. m i t Rechtsprechung; das Bayerische Oberste Landesgericht den Schutzbereich der N o r m w o h l zu eng gefaßt. Die ausbiegenden Fahrers über den rückwärtigen Verkehr 10

Beispielen aus der hat hier allerdings Vergewisserung des dient nicht n u r der

II.3 Eigenes Verkehrs widriges Verhalten

133

m i t erhobene Forderung nach einer „Identität von geschütztem und verletztem Interesse" 1 0 9 w i r d als die Lehre vom „Schutzzweck der Norm" bezeichnet 110 . Sie hat erst i n jüngerer Zeit stärkere Berücksichtigung i m Strafrecht gefunden 1 1 1 , daher kann von einer eigentlichen Dogmengeschichte der Schutzzwecklehre heute noch nicht die Rede sein. „Die Landkarte der Schutzbereichsdogmatik" . . . [bietet] „ein äußerst buntscheckiges B i l d " 1 1 2 . Gemeinsam ist den verschiedenen Spielarten der Schutzzwecklehre, daß sie für eine Verurteilung nicht die Verursachung des Erfolges i m mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinne genügen lassen, sondern eine darüber hinausgehende „Verknüpfung" zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg verlangen 1 1 3 . Damit berührt sich die Lehre vom „Schutzzweckzusammenhang" m i t der eben dargestellten Lehre vom „Risikozusammenhang" 1 1 4 , die nur dann zur Verurteilung des Täters kommt, wenn der Unfall bei' verkehrsgemäßem Verhalten vermieden worden wäre 1 1 5 . Teilweise w i r d daher die Lehre vom Risikozusammenhang als ein Teil der Lehre vom Schutzzweckzusammenhang angesehen 116 . Das ist sicher i n erster Linie eine Sache der Terminologie, festzuhalten bleibt jedoch, daß es sich, bei aller Verwandtschaft der Problembereiche, u m unterschiedliche Fallkonstellationen handelt: Bei fehlendem Risikozusammenhang nützt die i n abstracto gebotene Sorgfalt dem Rechtsgutobjekt i n concreto nichts — der Radfahrer wäre auch bei genügendem Seitenabstand überfahren worden 1 1 7 —, während bei fehlendem Schutzzweckzusammenhang die i n concreto nützliche Sorgfalt das Rechtsgutobjekt Verhütung eines Zusammenstoßes m i t dem Zweitüberholenden, sondern allgemein der V e r h ü t u n g v o n Auffahrunfällen m i t nachfolgenden F a h r zeugen; vgl. heute § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO: „ W e r zum Überholen ausscheren w i l l , muß auf den nachfolgenden Verkehr achten." io» Schünemann, StR S. 185. no Dazu Schlüchter, JuS 1977, 106 m. w. Nachw. m Vgl. etwa Rudolphi (Vorhersehbarkeit u n d Schutzzweck der N o r m i n der strafrechtlichen Fahrlässigkeitslehre, JuS 1969, 549) m i t Hinweisen auf den zivilrechtlichen Ursprung der Schutzzwecklehre; Roxin (Gedanken zur Problematik der Zurechnung i m Strafrecht, S. 133 [140]). h 2 Schünemann, StR S. 186; teilweise w i r d dem Schutzzweckgedanken wegen seines „Leerformelcharakters" sogar jegliche dogmatische Fruchtbarkeit abgesprochen (vgl. etwa Otto, Grenzen der Fahrlässigkeitshaftung i m Straf recht, JuS 1974, 702 [706, Fußnote 30]; Schroeder, L K , §59, RdNr. 203; zurückhaltend auch Schmidhäuser, 9/40). na Die Vorhersehbarkeit des Erfolges i m m e r unterstellt. U4 Schünemann, StR S. 186. h 5 I n der Terminologie der Rechtsprechung: Wenn das pflichtwidrige Verhalten f ü r den eingetretenen Erfolg „ursächlich" w a r ; dazu i m einzelnen unten S. 136 ff. no Vgl. Schlüchter, JuS 1977, 106 f., die v o n „Sonderfällen" spricht; Rudolphi, S. 557. i n B G H S t 11, 1.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

i n abstracto gar nicht schützen soll — die Vergewisserung des nach links ausbiegenden Kraftfahrers über den rückwärtigen Verkehr dient, jedenfalls nach Ansicht des Bayerischen Obersten Landesgerichts, nur der Verhütung eines Zusammenstoßes m i t dem Zweitüberholenden 1 1 8 —. U m das hier Gesagte zu verdeutlichen, seien aus der Rechtsprechung einige weitere Fälle fehlenden Schutzzweckzusammenhanges zitiert: Das Rechtsfahrgebot soll nicht dem Schutz des Querverkehrs, sondern nur des Gegen- und Uberhol Verkehrs dienen 1 1 9 ; an einer Einmündung darf der Wartepflichtige nur dann darauf vertrauen, daß vorfahrtberechtigte Fahrzeugführer das Rotlicht an einem Fußgängerübergang beachten, wenn die Einmündung i n den „Schutzbereich" der Fußgängerampel einbezogen ist 1 2 0 . Wer die linke Fahrbahnseite mitbenutzt, muß seine Geschwindigkeit so einrichten, daß er nötigenfalls bereits vor der Mitte der übersehbaren Strecke anhalten kann. Diese Pflicht dient jedoch nur dazu, einen Zusammenstoß m i t etwa entgegenkommenden Fahrzeugen zu vermeiden, nicht zur Verhinderung eines Auffahrens auf ruhende Hindernisse 121 . Ein Kraftradfahrer, der zwischen den beiden Reihen einer i n Bewegung befindlichen Fahrzeugkolonne hindurch nach vorn fährt, handelt verkehrswidrig, wenn der Zwischenraum zwischen den beiden Reihen nur 1,20 m beträgt. Die Pflicht, von den beiden Fahrzeugreihen einen ausreichenden Seitenabstand einzuhalten, dient jedoch nicht der Vermeidung eines Zusammenstoßes m i t verkehrswidrig die Fahrbahn überschreitenden Fußgängern 122 . „Leading case" i n der Diskussion u m die Schutzzweckproblematik i m Straßenverkehrsrecht ist eine Entscheidung des OLG Karlsruhe, der (etwas vereinfacht) folgender Sachverhalt zugrundelag: Ein Kraftradfahrer war innerorts m i t überhöhter Geschwindigkeit auf eine Kreuzung zugefahren, hatte vor der Kreuzung jedoch seine Geschwindigkeit ermäßigt. Es kam zum Unfall m i t einem Fußgänger, der die Kreuzimg überquerte und auf Grund der dort herrschenden besonders schlechten Sichtverhältnisse von dem Kraftradfahrer erst auf kürzeste Entfernung wahrgenommen werden konnte. Hätte dieser schon vor der Kreuzung die erlaubte Geschwindigkeit eingehalten, wäre der Unfall vermieden worden, denn der Fußgänger wäre zu dem Zeitpunkt, an dem das Kraftrad die Unfallstelle passierte, bereits auf der anderen Straßenseite und damit i n Sicherheit gewesen 125 . ne Ii® 120 «ι 122 123

BayObLG, V e r k M i t t 1955, Nr. 63; dagegen oben A n m . 108. O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 18. O L G Hamburg, V e r k M i t t 1975, Nr. 64. BayObLG, V e r k M i t t 1963, Nr. 27. BayObLG, V e r k M i t t 1970, Nr. 4. O L G Karlsruhe, N J W 1958, 430.

II.3 Eigenes erkehrswidriges Verhalten

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Das O L G Karlsruhe hat m i t dieser Begründung verurteilt, das OLG Stuttgart i n einem ähnlichen Fall freigesprochen, allerdings m i t der „ i n teleologischer Hinsicht undurchsichtigen" 1 2 4 Argumentation: „ I n jedem Falle beginnt die strafrechtlich erhebliche Kausalität eines fahrlässigen Verhaltens erst i n dem Zeitpunkt, i n dem die kritische V e r kehrssituation eintritt, die unmittelbar zu dem Schaden f ü h r t 1 2 5 . "

Auch die Rechtslehre plädiert i n einem solchen Fall auf Freispruch, begründet dies jedoch nicht m i t mangelnder „Kausalität", sondern m i t dem Schutzzweckgedanken. Schünemann weist darauf hin, daß Sinn und Zweck der Geschwindigkeitsbeschränkungen „ a l l e i n i n der Steigerung situationsbedingter Reaktionsmöglichkeiten besteht, nicht aber i n der Verzögerung der A n k u n f t an einem bestimmten Ort" 1 2 «.

Das ist gewiß richtig. Allerdings weist dieser Sachverhalt eine Besonderheit auf, die i h n aus dem Rahmen der vorher erörterten „Schutzzweck-Fälle" hinaushebt. Es ist die zeitliche Komponente, wie sie auch i n den Formulierungen „ E i n t r i t t der kritischen Verkehrssituation" bzw. „situationsbezogene Reaktionsmöglichkeiten" zum Ausdruck kommt. Hier verhielt sich der Kraftfahrer ja kurz vor dem Unfall (schon wieder) verkehrsgemäß: Er fuhr nicht schneller als erlaubt. Deshalb stand i h m — i m Gegensatz zu den Fahrzeugführern, bei denen Verkehrsverstoß und Unfall unmittelbar aufeinander folgen — auch der „Vertrauensgrundsatz" zur Seite, denn eine „Langzeitwirkung" eines Verkehrsverstoßes und damit eine A r t (befristeter?) Sperre des Vertrauensschutzes auch bei späterem verkehrsgemäßem Verhalten würde diesen i n seiner verkehrserzieherischen Bedeutung 1 2 7 entwerten. Anders ausgedrückt: Hier hat sich eben nicht die unerlaubte Gefährdung des vorangegangenen Fahrens, sondern die erlaubte Gefährdung des Fahrens an der Unfallstelle realisiert 1 2 8 . Welche Bedeutung dem Schutzzweckgedanken i m Straßenverkehrsrecht zukommt, w i r d die Zukunft lehren. Die Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO, die jeden Verkehrsteilnehmer, über die Einhaltung der Verhaltensvorschriften der §§ 2 ff. StVO hinaus, zu einem „gefahrvorbeugenden Verkehrsverhalten" 1 2 9 verpflichtet, steht einer allzu starren Eingrenzung der von den Verhaltensvorschriften der §§ 2 ff. StVO geschützten Bereiche entgegen. Nach Möhl soll der Schutzzweck jeder *24 Schünemann, StR S. 185. 125 O L G Stuttgart, N J W 1959, 351. 12 « Schünemann, StR S. 185. 12 7 Dazu unten S. 144 ff., 175 f. 128 So Schmidhäuser, 8/78, der darauf hinweist, daß der U n f a l l durch noch schnelleres Fahren vor der Kreuzung genausogut w i e durch noch langsameres hätte vermieden werden können. 129 Wimmer, Unterbau, S. 174.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Verhaltensvorschrift i m Straßenverkehr sogar soweit reichen, als dam i t zu rechnen ist, daß sich andere — zu Recht oder zu Unrecht — auf die Beachtung der Vorschrift verlassen 130 . I n diese Richtung weist auch ein Urteil des Bundesgerichtshofes, i n dem es u m das Gebot ging, an eine schwer einsehbare, nicht durch Verkehrszeichen geregelte Kreuzung nur m i t mäßiger Geschwindigkeit heranzufahren. Es heißt dort: „ A n solchen Kreuzungen vertraut auch der jeweils v o n links kommende Verkehrsteilnehmer darauf, daß sich der i h m gegenüber Bevorrechtigte verkehrsgerecht verhält u n d m i t mäßiger Geschwindigkeit fährt, die i h m die Beachtung seiner Verpflichtungen nach rechts (Abs. 2 Satz 1 des § 8 StVO) h i n ermöglicht. E r w i r d sich i n seiner Fahrweise darauf einstellen. Deshalb k a n n i h m auch nicht der E i n w a n d versagt werden, der i h m gegenüber Vorfahrtberechtigte habe den Kreuzungszusammenstoß durch überhöhte Geschwindigkeit mitverschuldet. I m Ergebnis dient deshalb das Gebot, n u r m i t der einem Wartepflichtigen angepaßten Fahrgeschwindigkeit an die unübersichtliche Kreuzung heranzufahren, nicht n u r dem Schutz des bevorrechtigten Verkehrs, sondern auch allgemein dem Zweck, Zusammenstöße an der gefährlichen Kreuzung zu verhindern, u n d schützt insoweit auch den Wartepflichtigen 1 » 1 . "

Der Bundesgerichtshof hat hier den Schutzbereich der Norm also nicht zu eng gezogen. Das ist angesichts der Vielfältigkeit des Verkehrsgeschehens, das der Verordnungsgeber m i t einer beschränkten Anzahl an Normen i n den Griff bekommen muß, zu begrüßen. Die Normen der StVO haben generell zum Ziel „abstrakt gefährliches Fehl verhalten i n breiter Front zu verhindern" 1 3 2 , u m so „dem Verkehrstod . . . zu begegnen" 133 . Daß diese Absicht sich nicht m i t einer verhältnismäßig engen Eingrenzung des jeweils durch die einzelnen Verhaltensvorschriften geschützten Kreises von Verkehrsteilnehmern verträgt, bedarf keiner weiteren Begründung 1 3 4 . cc) Vertrauensschutz und rechtmäßiges Alternativverhalten Bedeutsamer und auch umstrittener als die eben dargestellte Fallgruppe, bei der es u m den „Schutzzweckzusammenhang" zwischen Normverletzung und Erfolg ging, sind die Fälle, i n denen eine Bestrafung des pflichtwidrig Handelnden davon abhängen soll, daß sein Verhalten m i t dem Erfolg i m „Risikozusammenhang" steht, anders, !30 Möhl, Voraussehbarkeit, S. 60. 131 B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 108. 132 Begründung zur StVO, Abschn. I I 2. a), S. 798. 133 Ebenda. 134 Vgl. ausführlich zum Schutzbereich des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO unten S. 242; O L G Celle, V e r k M i t t 1975, Nr. 78: Die Vorschrift hat ganz allgemein den Zweck, Zusammenstöße m i t jeder A r t von Verkehrsteilnehmern an gefährlichen u n d unübersichtlichen Stellen zu verhindern.

II.3 Eigenes

erkehrswidriges Verhalten

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d . h . m i t d e n W o r t e n d e r Rechtsprechung, ausgedrückt, gerade die v o n i h m begangene V e r k e h r s w i d r i g k e i t f ü r d e n U n f a l l „ u r s ä c h l i c h " g e w o r d e n ist. „ L e a d i n g case" i s t h i e r die schon e r w ä h n t e E n t s c h e i d u n g des Bundesgerichtshofes i m 11. B a n d , d e r „ L a s t z u g f a l l " . D i e w e s e n t l i c h e n Sätze d e r B e g r ü n d u n g l a u t e n : „ N a t ü r l i c h w a r die Fahrweise des Angeklagten eine Bedingung i m mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinn für den Tod des Radfahrers. D a m i t ist aber nicht gesagt, daß die i n seinem Verhalten steckende Verkehrsw i d r i g k e i t , das zu knappe Überholen, f ü r die Herbeiführung des Tötungstatbestandes gemäß §222 StGB i m strafrechtlichen Sinne ursächlich war. Das v o m Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht m i t einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, u m die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache u n d Erfolg zu beantworten. F ü r eine das menschliche Verhalten wertende Betrachtungsweise ist vielmehr wesentlich, ob die Bedingung nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben f ü r den Erfolg bedeutsam war. Dafür ist entscheidend, w i e das Geschehen abgelaufen wäre, w e n n der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten hätte. Wäre auch dann der gleiche Erfolg eingetreten oder läßt sich das auf G r u n d von erheblichen Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen, so ist die v o m Angeklagten gesetzte Bedingung f ü r die W ü r d i g u n g des Erfolges ohne strafrechtliche Bedeutung. I n diesem Falle darf der u r sächliche Zusammenhang zwischen Handlung u n d Erfolg nicht bejaht werden135." Das U r t e i l h a t W i d e r s p r u c h g e f u n d e n , d e r z u m T e i l d e m E r g e b n i s — F r e i s p r u c h des L k w - F ü h r e r s — , i n erster L i n i e aber seiner B e g r ü n dung gilt136. V o r a l l e m w i r d e i n g e w a n d t , eine V e r k n ü p f u n g v o n P f i i c h t w i d r i g k e i t u n d Erfolg i m Bereich der Kausalität laufe bei Fahrlässigkeitsdelikten „auf die Etablierung eines besonderen Kausalbegriffs . . . hinaus, der sich lediglich damit begründen läßt, daß ein bestimmtes erwünschtes Ergebnis aus i h m ableitbar ist" 1 ^ 7 . B e i e i n e r k o n s e q u e n t k o n k r e t e n B e t r a c h t u n g s w e i s e des U n f a l l geschehens 1 3 8 w i r d n ä m l i c h d e u t l i c h , daß o h n e das p f l i c h t w i d r i g e T ä t e r verhalten nicht der „gleiche", sondern jeweils ein anderer konkreter E r f o l g e i n g e t r e t e n w ä r e 1 3 9 . V o n d e r K a u s a l i t ä t des T ä t e r v e r h a l t e n s 135 B G H S t 11, 1 (7); dazu oben S. 130 f. 136 v g l . die Übersichten über den Meinungsstand bei Burgstaller, S. 133 ff. ; Schünemann, StR S. 149; Schlüchter, JuS 1976, 312 u n d JuS 1977, 104. 137 Bockelmann, Straf recht, §13 A V 4 d ; i l l u s t r a t i v f ü r die hier herrschende Begriffsverwirrung O L G Stuttgart, V e r k M i t t 1979, Nr. 28: „ § 4 Abs. 2 Satz 2 StVO verpflichtet . . . den Vorausfahrenden dazu, den nachfolgenden Verkehr nicht ohne zwingenden G r u n d durch scharfes Bremsen zu überraschen . . . F ü h r t sein starkes Bremsen, ohne als solches dafür ursächlich zu werden, zu Beeinträchtigungen f ü r Nachfolgende, so liegt die Ursache dafür allein darin, daß das Fahrzeug — w i e jeder sonstige große Gegenstand auf der Straße auch — zum Hindernis w i r d . " 138 Dazu Schlüchter, JuS 1976, 520. 139 I m „Lastzugfall" wäre der Radfahrer an anderer Stelle — i n weiterem Abstand von dem Lastzug — überfahren worden.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

gerade für diesen konkreten Erfolg ist demnach auch dann auszugehen, wenn der Erfolg (in abstracto) selbst bei pflichtgemäßem Verhalten nicht hätte vermieden werden können 1 4 0 . V e r w i r f t man die nach dem eben Gesagten unbefriedigende K o n struktion einer „Kausalität i m Rechtssinne", so liegt es nahe, für eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung allein auf die (pflichtwidrige) Verursachung des konkreten Erfolges i m mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinne abzustellen 141 . Der Lastzugführer wäre demgemäß nach §222 StGB zu bestrafen, w e i l er den Tod des Radfahrers durch Überholen i n zu geringem Seitenabstand und damit „durch Fahrlässigkeit" herbeigeführt hatte. Diese Auffassung w i r d auch von Spendel i n einer Rezension des „Lastzugfalles" vertreten 1 4 2 . Er schließt jegliche hypothetische Betrachtungsweise aus und hält es daher für unbeachtlich, ob der Erfolg (in abstracto) auch durch andere Umstände (bei pflichtgemäßem Verhalten) eingetreten wäre. Nach Spendel ist die rechtswidrige Verursachung des tödlichen Unfalles nicht nur, psychologisch betrachtet, „ i m wesentlichen vorhersehbar", sondern auch, normativ betrachtet, „vorwerfbar". Denn die Einhaltung des verkehrsüblichen Abstandes als „Sicherheitsgrenze" zur Verhütung von Unfällen sei „das wenigste", was man von dem K r a f t fahrer verlangen könne und i h m i n jedem Falle „zuzumuten". Selbst wenn das Überholen i n üblicher Distanz m i t Sicherheit ebenfalls zum Tode des Radfahrers geführt hätte, könne dies nicht die Schuld des zu knapp und verkehrswidrig überholenden Kraftfahrers ausschließen, sondern umgekehrt nur die des verkehrsüblich vorbeifahrenden Täters ausnahmsweise dann begründen, wenn er die Unzulänglichkeit des normalen Abstandes hätte erkennen können. „Die gegenteilige A n s i c h t . . . l ä u f t i n A b w a n d l u n g der berüchtigten M a x i m e ,Was fällt, das soll m a n auch noch stoßen' auf die bedenkliche Regel hinaus: Wer schon i n Gefahr ist, den darf m a n auch noch (objektiv) gefährden u n d (subjektiv) vernachlässigen, d. h. dem gegenüber darf m a n subjektiv gleichg ü l t i g sein, w e i l die falsche u n d die übliche Handlung f ü r das Endergebnis o b j e k t i v »gleich gültig* (da gleichermaßen gefährlich) s i n d 1 4 8 . "

Obwohl Spendeis Lösung als „dogmatisch am konsequentesten" bezeichnet w i r d 1 4 4 , stößt sie doch durchgehend auf Ablehnung. Es w i r d !40 Burgstaller, Ss. 92 ff., 132. 141 Seine Vorhersehbarkeit natürlich unterstellt. 142 Spendel, Conditio, S. 14. 148 Ebenda, S. 19 f.; der Frage, ob der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre, m i ß t Spendel allenfalls bei der Strafbemessung Bedeutung zu (Der Conditio-sine-qua-non Gedanke als Strafmilderungsgrund, S. 509 [523]). 144 Schlüchter, JuS 1977, A n m . 35; vgl. auch Schünemann, StR S. 168.

II.3 Eigenes erkehrswidriges Verhalten

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eingewandt, die Verbotsnorm des Erfolgsdeliktes habe „ihrer generellen Struktur nach" die Rechtsguterhaltung zum Inhalt und könne diesen Zweck „durch ihre spezifische Wirkungsweise" — die Motivierung des Rechtsunterworfenen zu normgemäßem Verhalten — n u r dann erreichen, wenn die Rechtsgutverletzung „planvoll vermeidbar" sei. Und von einer solchen planvollen Vermeidbarkeit der Rechtsgutverletzung könne dann keine Rede sein, wenn gerade die ex ante sorgfaltsgemäße Handlung für das Rechtsgut i n gleicher Weise verderblich gewesen wäre wie die ex ante sorgfaltswidrige Handlung 1 4 5 . Entscheidet man sich jedoch grundsätzlich, entgegen Spendel, für die Berücksichtigung hypothetischer Erfolgsursachen, so taucht alsbald ein weiteres Problem auf: Wie ist i n den Fällen zu entscheiden, i n denen sich nicht feststellen läßt, ob die ex ante sorgfaltsgemäße Handlung für das Rechtsgut die gleichen Risiken geborgen hätte wie der Sorgfaltsverstoß 146 ? Hier gehen die Meinungen auseinander. Die wohl (noch) herrschende Meinung sieht für den Ausschluß der Strafbarkeit schon die Möglichkeit des Erfolgseintritts auch bei pflichtgemäßem Verhalten als ausreichend an, bejaht also die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zumindest i m Ergebnis 1 4 7 . Die Lehre von der „Risikoerhöhung" hält dagegen vor allem aus kriminalpolitischen Erwägungen heraus die bloße Möglichkeit des Erfolgseintrittes auch bei pflichtgemäßem Verhalten zum Ausschluß der Strafbarkeit nicht für ausreichend. Der Lkw-Führer i m „Lastzug-Fall" hätte danach wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden müssen, da, wie schon gesagt, nicht sicher feststand, daß der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Roxin, auf den die Lehre von der „Risikoerhöhung" begründet seine Auffassung folgendermaßen:

zurückgeht,

„ W e n n b e i m Überholen ein Mensch zu Tode kommt, dann beruht das i m einen w i e i m anderen Falle" [verkehrsüblicher oder zu knapper Abstand] „auf der m i t diesem Verkehrsvorgang verknüpften Gefahr. Der Gesetzgeber könnte, u m i h r vorzubeugen, deshalb theoretisch das Überholen ganz v e r bieten. U m einen reibungslosen A b l a u f des Verkehrs zu ermöglichen, t u t er das jedoch nicht; vielmehr gestattet er es dem Verkehrsteilnehmer dort, w o 145 Schünemann, StR S. 168; dazu Schlüchter, JuS 1977, 106, jeweils m i t weiteren Nachweisen; der systematische Standort solcher Überlegungen zur Verknüpfung zwischen Pflichtwidrigkeit u n d Erfolg ist äußerst kontrovers: „Sämtliche Verbrechensstufen (Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld u n d objektive Strafbarkeitsbedingungen) werden bis heute als systematische Heimstatt des Zusammenhangproblems namhaft gemacht . . . von der u n t e r schiedlichen Einordnung i m einzelnen (z.B. bei der Kausalität, bei der Erfolgszurechnung u. a. m.) ganz zu schweigen." (Schünemann, StR S. 167.) 14 « So ließ sich i m „Lastzugfall" gerade nicht klären, ob der zu geringe Seitenabstand f ü r den Tod des Radfahrers „ursächlich" gewesen war. 147 Schlüchter, JuS 1977, 107 m. w . Nachw.

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4. T e i l : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

die Gefahr generell u n d ex ante gesehen sehr gering ist, dieses Risiko einzugehen. T r i t t der Erfolg trotzdem ein, so muß der Gesetzgeber, w e i l er dieses Risiko i n K a u f genommen hat, auf eine Bestrafung verzichten. Es wäre aber ganz unrichtig anzunehmen, daß die Erfolgsbewirkung durch eine Handlung, die ein höheres, nicht mehr gestattetes Risiko i n sich birgt, n u r deshalb straflos sein sollte, w e i l der Erfolg vielleicht auch sonst eingetreten wäre. Was der Gesetzgeber i m einen Falle u m der allgemeinen Erfordernisse des Verkehrs w i l l e n ungeahndet läßt, braucht er bei einer gefahrsteigernden Überschreitung der von i h m gezogenen Grenze nicht mehr hinzunehmen. Das erlaubte Risiko ist i m m e r das Produkt einer A b w ä g i m g zwischen den Verkehrserfordernissen u n d den individuellen Schutzbelangen. Die Erhöhung der gerade noch hingenommenen Gefahr läßt die Waagschale zugunsten des Rechtsgüterschutzes sinken u n d die Erfolgsherbeiführung, die sonst nicht hätte beanstandet werden dürfen, als fahrlässig erscheinen 1 4 8 ." Es ist k a u m z u b e s t r e i t e n , daß d i e L e h r e v o n d e r R i s i k o e r h ö h u n g m a t e r i e l l ü b e r z e u g e n d e r e Ergebnisse l i e f e r t als d i e v o m B u n d e s g e r i c h t s h o f u n d d e m ü b e r w i e g e n d e n T e i l d e r Rechtslehre v e r t r e t e n e A u f f a s s u n g 1 4 9 . G e g e n sie w i r d j e d o c h e i n g e w a n d t , daß U n k l a r h e i t e n b e z ü g l i c h des h y p o t h e t i s c h e n K a u s a l v e r l a u f s n i c h t p r o reo, s o n d e r n c o n t r a r e u m w i r k t e n . D a m i t verstoße d i e L e h r e v o n d e r R i s i k o e r h ö h u n g gegen d e n f u n d a m e n t a l e n Rechtsgrundsatz „ i n d u b i o p r o r e o " 1 5 0 . S c h ü n e m a n n versucht, diesem V o r w u r f d u r c h eine „ n o r m a t i v e B e t r a c h t u n g s w e i s e " z u begegnen. E r w i l l d i e R i s i k o e r h ö h u n g s l e h r e i n s o w e i t a u f eine neue Basis stellen, „als nicht der naturalistisch-statistische Vergleich des realen u n d des hypothetischen Verhaltens, sondern n u r der axiologische (wertbezogene) Vergleich der ex ante konstruierten Norm m i t den vor dem e x - p o s t - U r t e i l standhaltenden Sorgfaltsmaßregeln darüber entscheiden kann, ob die ex-anteN o r m noch als eine i n concreto sinnvolle (d. h. das Erfolgsrisiko reduzierende) Verhaltensrichtlinie akzeptiert werden k a n n ; nicht zwei statistische Risiken, sondern zwei auf jeweils unterschiedlicher Wissenbasis konstruierte Normen sind zueinander i n Beziehung zu setzen" 1 5 1 ! 148 Roxin, Pflichtwidrigkeit, S. 433; auch Schmidhäuser, 9/38, A n m . 52, hält jedenfalls i m „Lastzugfall" den Gesichtspunkt der Risikoerhöhung f ü r „ a n gemessen". 14 » Vgl. Schünemann, StR S. 171: „Die h. M . " [würde nämlich] „führte die Rechtsprechung ihre D i r e k t i v e n n u r getreulich aus, zu einer k r i m i n a l politisch v ö l l i g untragbaren I n e f f e k t i v i t ä t der fahrlässigen Erfolgsdelikte führen, w e i l es überall dort, w o der Maßstab der verkehrserforderlichen Sorgfalt ein erlaubtes Risiko (und d . h . doch: die Möglichkeit des Erfolgseintritts auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten) einschließt, an dem von der h. M. geforderten sicheren Ausbleiben des Erfolgs bei dem rechtmäßigen A l t e r n a t i v v e r h a l t e n schon per definitionem fehlt." 150 Baumann, A T , S. 284: [Es] „soll j a nicht wegen Risikoerhöhung (Gefährdung), sondern wegen Verletzung bestraft werden. F ü r Gefährdungshandlungen müßten besondere Tatbestände geschaffen werden"; Samson, Hypothetische Kausalverläufe i m Straf recht, S. 47; Ulsenheimer, Erfolgsrelevante u n d erfolgsneutrale Pflichtverletzungen i m Rahmen der F a h r lässigkeitsdelikte, J Z 1969, 364 (368); a. A. vor allem Roxin, Pflichtwidrigkeit, S. 434; vgl. auch Burgstaller, S. 143. 151 Schünemann, StR, S. 172.

II.3 Eigenes erkehrswidriges Verhalten

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Es t r i f f t zu, daß das in-dubio-Problem bei dieser „normativen Reformulierung des Risikogedankens" nicht auftaucht, denn eine offene Beweislage gibt es nur i n tatsächlicher, nicht i n rechtlicher Hinsicht. Wenn jedoch die Vertreter der Risikoerhöhungslehre eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung nur dann mit dem Sinn der normierten Sorgfaltsregel für vereinbar halten, wenn zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg eine besondere, über die conditiosine-qua-non hinausgehende „Verknüpfung" besteht, dann kommen sie um die Frage nicht herum, ob der Erfolg durch Überschreiten des erlaubten Risikos, eben „durch Fahrlässigkeit" 1 5 2 überhaupt erst herbeigeführt worden ist 1 5 3 . Die Frage nach der Verknüpfung zwischen Risikosteigerung (Pflichtwidrigkeit) und Erfolg berührt aber wieder die Tatsachenebene. Fragen auf der Tatsachenebene unterliegen dem in-dubio-Grundsatz. Wenn also die Risikoerhöhungslehre auch i n der von Schünemann vertretenen „normativen Fassung" das in-dubio-Problem noch nicht gelöst hat, die herrschende Meinung aber zu kriminalpolitisch bedenklichen Ergebnissen führt, so drängt sich die Frage auf, ob das vom Bundesgerichtshof aufgestellte Postulat einer über die conditio-sinequa-non hinausgehenden „Verknüpfung" zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg zu halten ist. Würde, u m beim „Lastzugfall" zu bleiben, mit der Verurteilung des Lkw-Führers wegen fahrlässiger Tötung wirklich nur ein „kriminalpolitisch zweckloses Exempel" 1 5 4 statuiert? Erscheint nicht vielmehr der durch den Verkehrsverstoß verursachte tödliche Unfall als „normativ gesehen, vorwerf b a r " 1 5 5 , ohne Rücksicht darauf, was sich bei rechtmäßigem Verhalten des Lkw-Führers zugetragen hätte? U m die Problematik noch deutlicher zu machen, soll der „Lastzugfall" dahingehend abgewandelt werden, daß der Radfahrer auch beim Überholen i m verkehrsüblichen Abstand m i t Sicherheit (also nicht nur „ m i t hoher Wahrscheinlichkeit") unter die Räder des L k w geraten wäre. Eine weitere Abwandlung des Falles geht dahin, daß der Radfahrer beim Überholen i m verkehrsüblichen Abstand m i t Sicherheit unter die Räder des L k w geraten wäre, bei einem Vorbeifahren m i t äußerst knappem Abstand jedoch Aussicht gehabt hätte, beim Umkippen gegen !52 Z u r Einordnung des Vertrauensschutzes i m Rahmen des „erlaubten Risikos" u n d des Fahrlässigkeitsbegriffes vgl. unten S. 213 ff. 153 Vgl. Schlüchter, JuS 1977, 107: „Gerade die K l ä r u n g dieser Frage . . . ist ein Gebot des Gesetzes. Das Gesetz definiert den Erfolg jeweils ganz k l a r (so etwa i n §222 StGB als ,Tod eines anderen'), so daß er nicht mehr i m Wege der Auslegung i n eine bloße Risikoerhöhung umgedeutet werden kann." i5* Schünemann, StR S. 168. 155 Spendel, Conditio, S. 19.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

die Bordwand des L k w zu geraten und dadurch aus dem Bereich der Räder weggeschleudert zu werden. I m letztgenannten Fall hätten sich die Uberlebenschancen des Radfahrers durch den Verkehrsverstoß des Lkw-Führers gegenüber dem „Normalfall" sogar noch erhöht. Schünemann hält, was die letztgenannte Fallvariante angeht, eine Bestrafung für „kriminalpolitisch ungereimt", denn wenn die Beachtung der Sorgfaltsregel die Situation des Rechtsgutes sogar verschlechtere, werde die Erbringung der Sorgfalt „sinnwidrig" und die Vernachlässigung von sinnwidrigen Anforderungen als ein fahrlässiges Erfolgsdelikt zu bestrafen, wäre „ohne Zweifel ebenfalls sinnwidrig" 1 5 6 . Das Gleiche „muß" nach Schünemann aber auch dann gelten, wenn das hypothetische Verhalten die Rettungschancen nicht verringert, sondern gänzlich unberührt gelassen hätte, also der Radfahrer wie i n der ersten Fallvariante infolge seiner Trunkenheit genauso sicher unter die Räder des L k w geraten wäre wie beim Überholen i m verkehrsüblichen Abstand 1 5 7 . Nicht genug damit: Freigesprochen werden soll auch bei nur „ m i n i malen" Risikosteigerungen. Wenn beispielsweise die Rettung eines betrunkenen Radfahrers bei 1 m Abstand „ i n 1000 Fällen nur ein einziges M a l öfter vorkäme als bei einem Abstand von V2 m", hält es Schünemann bei einer „wertenden Betrachtungsweise" für „wenig sinnvoll . . . die Handlungsfreiheit der Kraftfahrer wegen einer so minimalen Risikosteigerung einzuschränken" 158 . Angesichts derartiger Formulierungen fragt man sich, ob hier noch der gemeinsame Ausgangspunkt der Diskussion über die Bedeutung rechtmäßigen Alternativverhaltens gesehen w i r d : Das Überholen m i t zu geringem Seitenabstand stellt nun einmal eine Verkehrswidrigkeit dar, die i m „Lastzugfall" leider nicht folgenlos geblieben ist 1 5 9 . Aber auch wenn man die Fälle der nur (!) „minimalen Risikosteigerung" aus der weiteren Betrachtung ausklammert und sich auf Sachverhalte beschränkt, i n denen der Erfolg (in abstracto) m i t Sicherheit auch bei verkehrsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, so geht es hinsichtlich des von der Risikoerhöhungslehre verfochtenen Ergebnisse Schünemann, StR S. 168. m Ebenda. " 8 Ebenda, S. 173; ähnlich Jeschek, Lehrbuch, S. 474, der die objektive Zurechnung des Erfolges „schon dann, aber auch erst dann" bejahen w i l l , wenn die Verletzung der Sorgfaltspflicht „nachweisbar eine gegenüber der Normalgefahr erheblich höhere Gefährdung" des Handlungsobjekts m i t sich gebracht hat. 159 Vgl. Burgstaller, S. 131: „Diese simple Tatsache stets i m Auge zu behalten, ist überaus wichtig, w i l l m a n sich nicht den Zugang zu einer sachgerechten Lösung . . . v o n vornherein versperren."

II.3 Eigenes erkehrswidriges Verhalten

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ses — Freispruch des Lkw-Führers — durchaus nicht „ohne Zweif e l " 1 6 0 ab. Daß die Risikoerhöhungslehre zu handfesten Friktionen m i t dem „Vertrauensgrundsatz" führt, ist schon dargetan worden 1 6 1 . Der gezielte — d. h. verkehrserzieherisch wirkende — Einsatz des Vertrauensschutzes i m Rahmen einer „gerechten Risikoverteilung" 1 6 2 würde vereitelt, wenn nach einem durch einen Verkehrsverstoß verursachten Unfall rechtmäßigem Alternativverhäiten dieselbe Bedeutung zugesprochen würde wie (ex ante) verkehrsgemäßem Verhalten. Die Hoffnung über eine „Hebung der Verkehrsgesittung" 16 ® ein Mehr an Verkehrssicherheit zu erreichen, w i r d sich kaum erfüllen, wenn Beteuerungen, wonach der Vertrauensschutz nur dem verkehrsgemäß Handelnden zugutekommen soll 1 6 4 , bloße Lippenbekenntnisse bleiben. Als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m V e r k e h r " 1 6 5 hätte der „Vertrauensgrundsatz" damit ausgedient. N u n müßte diese Einschränkung des Vertrauensschutzes i n seiner verkehrserzieherischen Funktion hingenommen werden, wenn sich der von den Anhängern einer besonderen „Verknüpfung" zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg aus dem Normzweck abgeleiteten Grundüberlegung nichts entgegensetzen ließe. Sie sei noch einmal m i t den Worten Burgstallers wiedergegeben: „Auszugehen ist davon, daß alle Sorgfaltsnormen, die fahrlässigen Erfolgsdelikten zugrundeliegen, evidentermaßen das Z i e l verfolgen, den E i n t r i t t des i m jeweiligen Tatbestand umschriebenen Erfolges zu verhindern. K o n frontiert m a n n u n diese Zielsetzung m i t der Konstellation des rechtmäßigen Alternativverhaltens, so zeigt sich, daß sie i n einem bestimmten Bereich ins Leere geht. Wenn m a n angesichts der Tatsache, daß der v o m Täter o b j e k t i v sorgfaltswidrig herbeigeführte Erfolg genauso auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, m i t F u g u n d Recht sagen kann, die i n Rede stehende Sorgfaltsnorm habe k r a f t der besonderen Umstände des Einzelfalles ihren Verhütungszweck i n concreto verfehlt u n d i n diesem Sinne »versagt 4, dann — aber auch n u r dann! — ist es i n der Tat geboten, den Verstoß gegen diese N o r m als f ü r den E i n t r i t t des Erfolgs irrelevant zu e r k l ä r e n d e . "

Es leuchtet ein, daß sich die Frage, ob der Erfolg „genauso" auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, sich einzig und allein ioo Schünemann, StR S. 168; das i m folgenden Gesagte g i l t natürlich gleichermaßen gegenüber der h. M., die f ü r einen Freispruch bereits die bloße Möglichkeit des Erfolgseintritts auch bei rechtmäßigem Verhalten genügen läßt. ιοί Oben S. 125. 162 Dazu i m einzelnen unten S. 182 ff. 103 Begründimg zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 800 f. 164 Beispiele aus der Rechtsprechung unten S. 150; vgl. auch Schünemann, StR S. 189. 165 Krumme, S. 1. ιοβ Burgstaller, S. 138.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

bei einer uneingeschränkten ex-post-Betrachtung des Unfallgeschehens beantworten läßt. N u r wenn der Richter alle Umstände verwerten kann, die er i m Zeitpunkt der Urteilsfällung kennt, ist eine gesicherte Aussage darüber möglich, ob das sorgfaltswidrige Täterverhalten i m konkreten Fall eine Risikoerhöhung bewirkt hat oder nicht 1 6 7 . Wieder auf den „Lastzugfall" bezogen bedeutet dies, daß „ v o m ex-post-Standpunkt aus die ex ante erkennbare N o r m (»Überhole nicht m i t einem Abstand v o n weniger als 1 m') n u r dann sinnvoll bleibt, w e n n sie auch gegenüber Betrunkenen zu einer . . . Gefahrreduzierung f ü h r t " 1 6 8 .

Die Frage ist, ob eine solche Betrachtungsweise die Bedeutung der i n der StVO normierten (bzw. von der Rechtsprechung aus der StVO entwickelten) Verhaltensvorschrift v o l l ausschöpft. Daß durch eine solche nachträgliche Relativierung des Gebotes „Überhole nie m i t einem Abstand von weniger als 1 m " diesem viel von seiner generellen Verbindlichkeit genommen würde, dürfte auf der Hand liegen. Ein Gebot, das für „irrelevant" 1 8 9 erklärt wird, wenn der Erfolg (in abstracto) auch bei verkehrsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, ist wohl kaum noch geeignet, dem Verkehrsteilnehmer als „plakative Verhaltensrichtl i n i e " 1 7 0 zu dienen und i h n dadurch zu einem bestimmten objektiv sorgfältigen T u n zu motivieren. Bei der Neufassung der StVO i m Jahre 1970 ging es dem Verordnungsgeber aber gerade darum, dem Verkehrsteilnehmer i m einzelnen zu sagen, wie er sich i n unfallträchtigen Verkehrssituationen zu verhalten habe, u m i h n vom gefährlichen „Problemfahren" zu entbinden 1 7 1 . „Dem Verkehrstod gilt es zu begegnen" 172 . Der Verordnungsgeber w i l l vor allem erreichen, daß schon „abstrakt gefährliches Fehlverhalten" unterbleibt, der Verkehrsteilnehmer sich generell den Verhaltensnormen der StVO unterwirft, w e i l deren Nichtbeachtung erfahrungsgemäß zu Unfällen führt. U m den Verkehrsteilnehmer zur Befolgung dieser Normen anzuhalten, gibt es ein durchgreifendes M i t t e l : Die Rechtsordnung muß i h m klarmachen, daß er, wenn er sich nicht an die Verkehrsregel hält, „auf eigenes Risiko" handelt, also für sämt167 Dies k l a r herausgearbeitet zu haben, ist v o r allem das Verdienst Stratenwerths (Bemerkungen zum Prinzip der Risikoerhöhung, S. 227). les Schünemann, StR S. 173. 16

» Burgstaller, S. 138. Schünemann, StR S. 134. 171 Begründung zur StVO, I I 2. a), S. 798: „ W i l l m a n Ernst m i t dem dringenden Anliegen machen, die Bekämpfung der Unfallgefahren sogar vorzuverlegen u n d schon abstrakt gefährliches Fehlverhalten i n breiter Front zu verhindern, so muß die StVO . . . durch die Schaffung weiterer Gebots- u n d Verbotstatbestände ergänzt werden; diese müssen besonders unfallträchtiges Fehlverhalten fest umreißen u n d dürfen eine konkrete Gefährdung oder Behinderung nicht voraussetzen." Ebenda, S. 798. 176

II.3 Eigenes verkehrswidriges Verhalten

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liehe (vorhersehbaren) Folgen seines Verkehrsverstoßes verantwortlich gemacht w i r d 1 7 3 . Die A n t w o r t auf die Frage, ob der Unfall auch bei verkehrsgemäßem Verhalten eingetreten wäre oder nicht, ist i n diesem Zusammenhang „irrelevant". Auch wenn die Beachtung der Norm den Unfall nicht hätte verhindern können, vermag dies den Verkehrsteilnehmer, der sich von vornherein über sie hinweggesetzt hat, nicht zu entlasten. Wäre dies anders, so hätte sich der Verordnungsgeber m i t dem (konkreten) Gefährdungsverbot des § 1 Abs. 2 StVO begnügen können 1 7 4 . Wenn er darüber hinaus Vorschriften erläßt, die schon „abstrakt gefährliches Fehlverhalten" verhindern und dadurch den Unfallschutz vorverlegen sollen, so müssen diese ernstgenommen werden, nicht nur als reine Ordnungsvorschriften, deren Übertretung (allein) als Ordnungswidrigkeit geahndet wird, sondern auch i n ihrer Funktion als Unfallverhütungsgebote, deren Verletzung die Verantwortlichkeit für den dadurch herbeigeführten Erfolg nach sich zieht. Die Vorschriften der StVO sind i n ihren Anforderungen ja nicht überzogen, sondern stellen schon einen Kompromiß dar zwischen dem Streben nach möglichst umfassender Verkehrssicherheit und dem Wunsch des einzelnen, schnell voranzukommen 1 7 5 . Daß eine Verhaltensvorschrift i n bestimmten Verkehrssituationen „ins Leere geht" 1 7 6 — dann nämlich, wenn nur eine über die dort niedergelegten Anforderungen hinausgehende Vorsicht den Unfall hätte verhindern können —, w i r d also vom Verordnungsgeber i m Interesse einer zügigen Verkehrsabwicklung von vornherein hingenommen. Diese sorgsam austarierte Gewichtung 1 7 7 würde zu Lasten der Verkehrssicherheit verschoben, wenn aus der Tatsache, daß die Anforderungen der Verhaltensvorschrift für diesen Fall (noch) nicht streng genug waren, geschlossen wird, dann sei es für die Rechtsordnung auch einerlei, ob der Verkehrsteilnehmer sich bemüht habe, diesen Anforderungen nachzukommen oder nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade dadurch, daß die Rechtsordnung i m Straßenverkehr Verhaltensvorschriften vorgibt, die das Unfallrisiko herabmindern, es aber nicht auszuschließen vermögen, macht sie 173 V o n den nicht allzu häufigen Fällen fehlenden „Schutzzweckzusammenhanges" einmal abgesehen; dazu oben S. 135 f. i™ Es sei daran erinnert, daß die RStVO 1934 neben dem § 1 (damals § 25) n u r fünf weitere das Verhalten der Verkehrsteilnehmer regelnde Normen kannte. 175 Vgl. Spendel, Conditio, S. 19: Die E i n h a l t u n g des verkehrsüblichen Abstandes als „Sicherheitsgrenze" zur V e r h ü t u n g von Unfällen ist „das wenigste, was m a n v o m K r a f t f a h r e r verlangen kann". i™ Burgstaller, S. 138. 1 7 7 Vgl. Begründung zur StVO, I I . 2. b), S. 798 a. E.

10 Kirschbaum

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

deutlich, daß die Bedeutung dieser Normen sich nicht darin erschöpft, der jeweils konkreten Gefahr zu begegnen. Die Verhaltensvorschrift dient vielmehr dazu, sowohl das m i t dem Straßenverkehr verbundene Unfallrisiko herabzusetzen, als auch — durch die Gewährung von Vertrauensschutz — das Risiko auszuschließen, für die Folgen eines Unfalles verantwortlich gemacht zu werden, vorausgesetzt, daß man sich verkehrsgerecht verhalten hat. Dieser „Garantie-Funktion" 1 7 8 des Tatbestandes w i r d eine Betrachtungsweise nicht gerecht, welche die Relevanz der Verhaltensvorschrift allein nach ihrer Tauglichkeit bestimmt, das Risiko eines Unfalls i n einer ganz bestimmten Verkehrssituation zu vermindern. Uber dem Bemühen, den „Besonderheiten" der jeweiligen Verkehrslage gerecht zu werden, träte dabei die Verpflichtung der Rechtsordnung, eine klare Grenze zwischen „erlaubtem und verbotenem Wagnis" 1 7 9 zu ziehen, allzusehr i n den Hintergrund 1 8 0 Der schon von Bockelmann beklagte „Mangel an Ernstlichkeit" 1 8 1 i m Verkehrsstrafrecht fände i n folgendem „Appell" des Verordnungsgebers an den Verkehrsteilnehmer beredten Ausdruck: „ D u mußt die Vorschriften der Straßenverkehrsordnung einhalten, denn sie sind dazu bestimmt, erfahrungsgemäß besonders unfallträchtigem V e r kehrsverhalten vorzubeugen u n d setzen daher, abgesehen v o n § 1 Abs. 2, keine konkrete Gefahr voraus. Tust D u dies nicht u n d k o m m t es daraufhin zu einem Unfall, so hast D u auf G r u n d der v o n D i r begangenen Ordnungsw i d r i g k e i t eine Geldbuße zu vergegenwärtigen 1 8 2 . Was allerdings Deine V e r a n t w o r t u n g f ü r die Unfallfolgen angeht, so ist die Tatsache, daß D u Dich verkehrswidrig verhalten hast, ohne Bedeutimg. Zunächst muß geprüft werden, ob es auch dann zum U n f a l l gekommen wäre, w e n n D u die vorgeschriebene Geschwindigkeit bzw. den vorgeschriebenen Abstand eingehalten hättest. Denn D u darfst keinesfalls schlechter gestellt werden als die Verkehrsteilnehmer, welche sich von vornherein verkehrsgerecht verhalten. Erst w e n n feststeht, daß dieser U n f a l l gerade auf den v o n D i r begangenen Verkehrsverstoß — das Übermaß an Geschwindigkeit, den zu geringen Seitenabstand — zurückzuführen ist (bzw. daß dieser die Unfallgefahr erhöht hat), kannst D u wegen der Unfallfolgen belangt werden."

Man w i r d sich nach dem Gesagten entscheiden müssen: Entweder für die Relevanz der Fragestellung: Was wäre gewesen, wenn ...?, m i t der Konsequenz, daß man dem schon Gefährdeten gegenüber sub178

Lange, Defensives Fahren, S. 177; dazu oben S. 39. Mühlhaus, Fahrlässigkeit, S. 30; dazu unten S. 209 ff. 180 Ähnlich, allerdings m i t umgekehrten Vorzeichen, verfährt die Rechtsprechung, w e n n sie, die „Besonderheiten" des Einzelfalles überbetonend, den Vertrauensschutz versagt; dazu unten S. 155. 181 Bockelmann, Risiko, S. 1282. 182 w i r d aber nicht schon diese leichteste F o r m der A h n d u n g hier fragwürdig? Erinnert ein wegen Übertretung einer — wenigstens f ü r die U n f a l l folgen — als „ i r r e l e v a n t " erklärten N o r m verhängtes Bußgeld nicht fatal an Sanktionen, w i e sie m i t dem Nicht-Grüßen v o n Geßler-Hüten verbunden zu sein pflegen?; vgl. dazu Begründung zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 801. 170

II.3 Eigenes verkehrswidriges Verhalten

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jektiv „gleichgültig" sein darf, da die falsche und die übliche Handlung für das Endergebnis objektiv „gleich gültig" (da gleichermaßen gefährlich) sind 1 8 3 oder für eine stärkere Betonung generalpräventiver Gesichtspunkte, die den Vertrauensschutz als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m V e r k e h r " 1 8 4 auffaßt und eine StVO-Norm nicht deshalb für „irrelevant" erklärt, weil der Erfolg auch bei verkehrsgerechtem Verhalten eingetreten wäre. Dem „Hauptanliegen" der Verordnung gemäß, eine „Hebung der Verkehrsgesittung" 1 8 5 zu bewirken, fällt die Entscheidung hier für die letztgenannte, m i t der Ansicht Spendeis übereinstimmende, Alternative. Das bedeutet: Kein Vertrauensschutz bei verkehrswidrigem Verhalten, auch nicht über den Umweg der „zweiten Ursachenprüfung" bzw. der Berücksichtigung von Folgen rechtmäßigen Alternativverhaltens 1 8 6 . dd) Vertrauensschutz und verkehrswidriges Verhalten des Vorfahrtberechtigten Die letzte i n diesem Zusammenhang zu erörternde Fallgruppe befaßt sich m i t der Gewährung von Vertrauensschutz bei verkehrswidrigem Verhalten eines i m Straßenverkehr Bevorrechtigten. Möhl, der hier eine Ausnahme von der Hegel sieht, daß der „Vertrauensgrundsatz" nur dem verkehrsgemäß Handelnden zugutekomme, läßt allerdings nicht erkennen, nach welchen Kriterien er den Kreis der so Begünstigten abgrenzen w i l l . I n dem 1971 erschienenen Straßenverkehrsrechts-Kommentar heißt es noch: „ W e r auf G r u n d einer Bestimmung der § 2 f f StVO gegenüber einem anderen bevorrechtigt ist, darf i m allgemeinen auf die Beachtung seines V o r rechts auch dann vertrauen, w e n n er sich selbst nicht verkehrsgemäß verhält. iss Spendel, Conditio, S. 19 f. im Krumme, S. 1. 185 Begründung zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 800 f. ΐ8β i n w i e w e i t die hier angestellten Überlegungen über den Bereich des Straßenverkehrsrechts hinausreichen, k a n n i m Rahmen dieser A r b e i t nicht weiter verfolgt werden. Daß beispielsweise der A r z t ( „ K o k a i n f a l l " ) oder der Unternehmer („Ziegenhaarfall") bei der E r f ü l l u n g ihrer Aufgaben andere Personen dem Risiko aussetzen, i h r Leben zu verlieren, k a n n sicherlich von der Rechtsordnung n u r insoweit hingenommen werden, als versucht w i r d , dies Risiko lege artis zu begrenzen. Wie zu entscheiden ist, w e n n eine solche Begrenzung fahrlässigerweise unterblieb, die Risikofaktoren sich aber i n jedem F a l l als stärker erwiesen hätten, w i r d davon abhängen, ob m a n v o r allem das „lege artis" betont, oder i n erster L i n i e auf die Begrenzbarkeit des Risikos i m konkreten F a l l abhebt. Gewiß ist die Übertragung v o n i n bestimmten Rechtsgebieten gefundenen Lösungen auf andere Lebensbereiche schwierig; Zweifel hinsichtlich der Übertragbarkeit des „Vertrauensgrundsatzes" auf Vorgänge außerhalb des Straßenverkehrs beispielsweise bei Schmidhäuser, 9/42, u n d Schönke-Schröder, § 59, Rz. 196; zur Begrenzung des „erlaubten Risikos" i m Straßenverkehr u n d bei ärztlicher Teamarbeit unten S. 209 ff. 10»

148

4. T e i l : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

So erlischt das Vorfahrtrecht dadurch nicht, daß der Bevorrechtigte zu schnell oder nicht w e i t genug rechts fährt. Umgekehrt darf der Wartepflichtige nicht schlechthin darauf vertrauen, daß der Bevorrechtigte die Verkehrsregeln beachtet. Allerdings gibt es Grenzen, über die hinaus das Vertrauen dem Bevorrechtigten genommen u n d dem Wartepflichtigen gewährt wird 187." I n seiner n u r e i n J a h r später erschienenen, i n diesem Z u s a m m e n hang bereits mehrfach

zitierten, A b h a n d l u n g

zur

Vorhersehbarkeit

d e r F o l g e n v e r k e h r s w i d r i g e n V e r h a l t e n s z i e h t M ö h l d e n K r e i s d e r so B e g ü n s t i g t e n b e r e i t s w e s e n t l i c h enger: „Dabei ist . . . zu beachten, daß zwar systemwidrig, aber der Flüssigkeit des Verkehrs förderlich der Vorfahrtberechtigte sein Vorfahrtrecht durch Verletzung der i h m obliegenden Pflichten nicht ohne weiteres einbüßt u n d daß er dementsprechend auch dann auf die Beachtung seines Vorranges vertrauen darf, w e n n er durch eigenes Fehlverhalten einen Zusammenstoß m i t dem Wartepflichtigen verursacht (ζ. B. durch überhöhte Geschwindigkeit). Diese Ausnahme g i l t aber n u r f ü r den Vorfahrtberechtigten, nicht f ü r sonstige Bevorrechtigte. Gegenüber dem v o m Fahrbahnrand Einfahrenden darf sich der m i t überhöhter Geschwindigkeit Fahrende nicht damit entschuldigen, er habe darauf vertrauen dürfen, daß der Anfahrende sein Vorrecht beachte. Es wäre bedenklich, w e n n m a n die beim Vorfahrtberechtigten erträgliche Ausnahme auf alle Fälle ausdehnen würde, i n denen der Bevorrechtigte sich selbst verkehrswidrig v e r h ä l t 1 8 8 . " A u c h diese A u s f ü h r u n g e n v e r m ö g e n d i e G e l t u n g des Satzes, daß d e r V e r t r a u e n s s c h u t z ausschließlich d e m sich v e r k e h r s g e r e c h t V e r h a l t e n d e n z u g e w ä h r e n ist, n i c h t i n f r a g e z u stellen. M ö h l g e h t o f f e n b a r v o n d e r A n n a h m e aus, daß jedes V o r r e c h t , oder doch z u m i n d e s t das Vorfahrtrecht, nicht v o n dem m i t i h m verbundenen Vertrauensschutz z u lösen sei. Dies t r i f f t j e d o c h n i c h t zu. N a t ü r l i c h e r l i s c h t das V o r f a h r t r e c h t eines V e r k e h r s t e i l n e h m e r s n i c h t d a d u r c h , daß er sich v e r k e h r s w i d r i g v e r h ä l t 1 8 9 . Es i s t aber eine andere Frage, ob er i n diesem F a l l noch a u f die B e a c h t u n g seines V o r r e c h t s v e r t r a u e n d a r f . M ü h l h a u s h a t die b e i e i n e m U n f a l l zwischen V o r f a h r t b e r e c h t i g t e m u n d W a r t e p f l i c h t i g e m m ö g l i c h e n Rechtspositionen i n f o l g e n d e m Schema v e r d e u t l i c h t : 1. Vorrecht f ü r A , m i t Vertrauensgrundsatz f ü r A : Alleinschuld des Β 2. Vorrecht des A , jedoch ohne Vertrauensgrundsatz f ü r A : Schuld beider Beteiligter 3. Vorrecht des B, jedoch ohne Vertrauensgrundsatz f ü r B : Schuld beider Beteiligter 4. Vorrecht des B, m i t Vertrauensgrundsatz f ü r B : Alleinschuld des A 1 9 0 . 187 Möhl i n Müller, Rz. 38 zu § 1 StVO. 188 Möhl, Voraussehbarkeit, S. 61; ebenso „Generalklauseln", S. 64. 189

BayObLG, V e r k M i t t 1968, Nr. 129. Mühlhaus, StVO, A n m . 4 b zu § 1 StVO.

II.3 Eigenes erkehrswidriges Verhalten

149

Fährt der Bevorrechtigte A also an einer Kreuzung zu weit links und stößt er dabei m i t dem wartepflichtigen Β zusammen, der seinerseits zu weit i n die Kreuzung eingefahren war, sind beide Beteiligten für den Unfall verantwortlich (Punkt 2 des obigen Schemas). Dem steht nicht entgegen, daß der Bundesgerichtshof einmal beiläufig erklärt hat, der Bevorrechtigte verliere die Vorfahrt nicht etwa dadurch, daß er selbst verkehrswidrig fahre, insoweit werde der „Vertrauensgrundsatz zugunsten des Vorfahrtberechtigten eingeschränkt" 101 . Denn aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich, daß hier nicht der „Vertrauensgrundsatz" allgemein, sondern nur der Vertrauensschutz des Wartepflichtigen gemeint ist. Dieser muß m i t leichteren Verkehrsverstößen des Vorfahrtberechtigten rechnen, kann sich also nur i n beschränktem Umfange auf den „Vertrauensgrundsatz" berufen 1 9 2 . Das bedeutet aber für den Vorfahrtberechtigten selbstverständlich keinen Freibrief, es handelt sich vielmehr u m einen Fall der „doppelten Sicherung". Weder darf sich der Vorfahrtberechtigte Verstöße gegen die StVO erlauben, noch der Wartepflichtige in vollem Umfange darauf vertrauen, daß solche Verkehrswidrigkeiten unterbleiben. I n vorbildlicher Klarheit kommt dies i n einem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts zum Ausdruck: „Entgegen der Meinung der Revision k a n n sich der Angeklagte nicht darauf berufen, daß i h m die V o r f a h r t auf der ganzen Vorfahrtstraße, nicht n u r auf ihrer rechten Seite zustand u n d daß er auf die Beachtung seines Vorfahrtrechtes vertrauen durfte. Diese Rechtsgrundsätze besagen f ü r den Bereich ihrer A n w e n d b a r k e i t nicht etwa, daß der Vorfahrtberechtigte an einer Kreuzung oder Einmündung i m Vertrauen auf seine Vorfahrt . . . die l i n k e Fahrbahnseite grundlos benutzen dürfe, sondern nur, daß der Wartepflichtige m i t der Annäherung eines Vorfahrtberechtigten auf der ganzen Breite der bevorrechtigten Straße rechnen muß, solange er noch keinen Einblick i n diese erlangt hat, u n d daß er seine Verkehrspflicht verletzt, w e n n er die Vorfahrt eines l i n k s fahrenden Vorfahrtberechtigten mißachtet. Der Vorfahrtberechtigte, der ohne berechtigten Grund, also verkehrswidrig, gegen das Rechtsfahrgebot verstößt, ist aber f ü r einen dadurch herbeigeführten Zusammenstoß m i t einem Wartepflichtigen ebenso verantwortlich w i e f ü r einen Zusammenstoß m i t einem sonstigen, etwa einem entgegenkommenden Verkehrsteilnehmer. Eine etwaige Verletzung des V o r f a h r t rechtes durch den Wartepflichtigen k a n n daher regelmäßig i n einem solchen F a l l n u r ein mitwirkendes Verschulden des Wartepflichtigen begründen, nicht aber den Tatanteil des Vorfahrtberechtigten an der Herbeiführung des Unfalls beseitigen 1 » 3 .« B G H , VRS 22, S. 134 (135). i» 2 Nachweise bei Mühlhaus, StVO, A n m . 8 zu § 8 StVO. i» 3 BayObLG, V e r k M i t t 1966, Nr. 34; vgl. auch BayObLG, V e r k M i t t 1968, Nr. 129 u n d O L G Hamm, V e r k M i t t 1969 Nr. 102; mißverständlich dagegen O L G Hamm, V e r k M i t t 1975, Nr. 83: „ D a der Vorfahrtberechtigte sich, w e n n

150

4. T e i l : Die Reichweite des Vertrauensschutzes

D a m i t i s t d a r g e t a n , daß auch z u g u n s t e n des V o r f a h r t b e r e c h t i g t e n k e i n e A u s n a h m e v o n d e m Satz i n f r a g e k o m m t , daß n u r d e r sich v e r kehrsgerecht V e r h a l t e n d e V e r t r a u e n s s c h u t z genießt. e) Unsicherheiten hinsichtlich

in der

der Folgen

eigenen

Rechtsprechung Fehlverhaltens

Angesichts m a n c h e r U n g e n a u i g k e i t e n i n d e r L i t e r a t u r , w a s d e n U n t e r s c h i e d zwischen V o r h e r s e h b a r k e i t d e r F o l g e n eigenen v e r k e h r s w i d r i g e n V e r h a l t e n s u n d d e m V e r t r a u e n a u f das U n t e r b l e i b e n f r e m d e n F e h l v e r h a l t e n s a n g e h t 1 9 4 , n i m m t es n i c h t w u n d e r , daß diese B e reiche auch i n d e r Rechtsprechung h ä u f i g n i c h t k l a r g e n u g auseinandergehalten werden 195. D i e U n s i c h e r h e i t d e r Rechtsprechung zeigt sich v o r a l l e m d a r a n , daß manches U r t e i l sich n i c h t m i t d e r V e r s a g u n g des Vertrauensschutzes a u f g r u n d eigenen v e r k e h r s w i d r i g e n V e r h a l t e n s b e g n ü g t , s o n d e r n daß z u r A b s i c h e r u n g des Ergebnisses n o c h H i l f s e r w ä g u n g e n a n g e s t e l l t w e r d e n . Das f ü h r t d a n n z u F o r m u l i e r u n g e n w i e : „Abgesehen davon, daß der Angeklagte seiner Verpflichtung aus § 1 StVO zuwiderhandelte u n d sich schon deshalb nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann, w ü r d e der Vertrauensgrundsatz f ü r i h n aber auch darum nicht gelten, w e i l er aus dem Verhalten des Getöteten entnehmen k o n n t e . . . 1 9 e . u „ T r i f f t den Angeklagten aber ein Verschulden nach § 1 StVO, so hat er selbst verkehrswidrig gehandelt, so daß alle Ausführungen der Strafkammer, i n w i e w e i t er auf ein andersartiges Verhalten des H. vertrauen durfte, ins Leere gehen . . . Auch aus einem weiteren G r u n d versagt der Vertrauensgrundsatz . . W „ D i e Berufung der Revision auf den Vertrauensgrundsatz i m Verkehr geht fehl. Abgesehen davon, daß eigenes Fehlverhalten ohnehin diese Ber u f u n g unmöglich macht . . . k a n n vorliegend der Vertrauensgrundsatz überhaupt nicht zur A n w e n d i m g kommen, w e i l . . . 1 β β . " er einen Linksabbieger l i n k s überholt, selbst verkehrswidrig verhält, k a n n er sich nicht v ö l l i g damit entlasten, daß er auf die Beachtung seiner V o r fahrt vertraut habe." im v g l . Mühlhaus, Fahrlässigkeit, S. 61 f. im Beispiele dafür bei B G H (Z) VRS 3, S. 182; B G H , VRS 6, S.200; B G H , V e r k M i t t 1955, Nr. 63; O L G Hamm, VRS 36, S.358; BayObLG, V e r k M i t t 1963, Nr. 104; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1971, N r . 39; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1972, Nr. 49; O L G F r a n k f u r t , V e r k M i t t 1976, Nr. 131; Beispiele f ü r klare Unterscheidung zwischen Vertrauensschutz u n d Vorhersehbarkeit dagegen bei BayObLG, V e r k M i t t 1961, Nr. 26; BayObLG, V e r k M i t t 1964, N r . 122; BayObLG, V e r k M i t t 1966, Nr. 34; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1968, Nr. 61; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1968, Nr. 64; B G H , V e r k M i t t 1968, N r . 81; B G H , V e r k M i t t 1968, Nr. 93. im O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1971, Nr. 77. «7 O L G Celle, V e r k M i t t 1969, Nr. 99. 198 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1963, Nr. 62; weitere Beispiele bei B G H (Z), V e r k M i t t 1956, Nr. 15; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1961, Nr. 67; O L G N ü r n -

II.4 „Besondere Verkehrslagen"

151

I n allen diesen Fällen hätte es solcher Hilfserwägungen nicht bedurft, die Feststellung, daß nur der Vertrauensschutz genießt, der sich selbst verkehrsgerecht verhält, hätte vollauf genügt 1 9 9 . Die zuletzt zitierten Entscheidungen sind gleichzeitig ein Beispiel für die schon von Martin betonte Zurückhaltung der Gerichte bei der A u f stellung und Anwendung allgemeiner Sätze auf dem Gebiet des Vertrauensschutzes 200 . Heute noch gilt, was das Reichsgericht dazu i m „Vorgarten-Urteil" ausführte: „Die Grenze, innerhalb deren sich i m einzelnen F a l l nach dessen besonderer Beschaffenheit ein K r aft wagenführ er auf . . . Unzulänglichkeiten i m Verhalten anderer Wegebenutzer einrichten muß, läßt sich bei der V e r schiedenheit der Sachlagen nicht allgemein u n d bindend ziehen. H i e r k o m m t es i m besonderen Grade auf die Lage des einzelnen Falles an 2 » 1 ." 4. Kein Vertrauensschutz in „besonderen Verkehrslagen"

Daß die Rechtsprechung die eben zitierte Mahnung des Reichsgerichts beherzigt hat, zeigen die vielen Urteile, i n denen das Maß des Vertrauendürfens ausdrücklich nach den „Besonderheiten" der Verkehrslage bestimmt wird. Was darunter zu verstehen ist, soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden. So hat ein Kraftfahrer natürlich auf örtliche Besonderheiten zu achten. Wenn er seinen Wagen rechts von i n der Mitte der Fahrbahn verlaufenden Straßenbahnschienen parkt, muß er damit rechnen, daß „die gefahrlose Ausweichmöglichkeit v o n rückwärts überholender Radfahrer durch die Straßenbahnschienen beschränkt w a r u n d es deshalb auch möglich u n d wahrscheinlich war, daß diese dann dicht an seinem Wagen vorbeifahren würden" 2 » 2 .

Wer aus einer Seitenstraße i n eine durchgehende Straße einbiegt, darf nicht auf die Beachtung seiner i h m gegenüber von links kommenden Benutzern dieser Straße zustehenden Vorfahrt vertrauen, wenn sich die von i h m befahrene Straße jenseits der anderen Straße nicht fortsetzt und vom Wartepflichtigen nicht eingesehen werden kann 2 0 8 . Das gleiche gilt für einen Kraftfahrer, der aus einer Straße berg (Z), V e r k M i t t 1963, Nr. 48; B G H (Z) N J W 1965, 1177; O L G Bamberg (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 103. 199 Manchmal w i r d auch trotz eindeutig verkehrswidrigen Verhaltens der Vertrauensschutz (nur) m i t der Erwägung versagt, der Angeklagte habe eine „ u n k l a r e Verkehrslage" geschaffen, so O L G Schleswig, V e r k M i t t 1961, Nr. 88; O L G Hamm, V e r k M i t t 1966, Nr. 39; dazu noch unten S. 158. 200 Martin, Straßenverkehrsrecht, S. 168. 2 1 » RGSt 65, 135 (137). 2 2 » O L G Schleswig, V e r k M i t t 1956, Nr. 130; einem Kraftfahrer ist es dagegen w o h l zuzumuten, zum Überholen eines parkenden Fahrzeugs auf i n der M i t t e der Fahrbahn verlaufende Straßenbahnschienen auszuweichen ( B G H [Z], V e r k M i t t 1956, Nr. 88). 203 BayObLG, V e r k M i t t 1960, Nr. 68; dazu unten S. 194 f.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

„ohne jede Verkehrsbedeutung" in eine durchgehende Fahrstraße einbiegen w i l l 2 0 4 . Hält ein Omnibus kurz vor einem Fußgängerüberweg, ist für einen nachfolgenden Kraftfahrer ganz besondere Vorsicht geboten. Er muß damit rechnen, daß Fußgänger, auf die Schutzwirkung des Uberweges vertrauend, die Fahrbahn unachtsam und eilig überqueren werden 2 0 5 . Wer m i t einem P k w auf übersichtlicher Landstraße einen zwölfeinhalbj ährigen Radfahrer überholt, braucht i n aller Regel nicht damit zu rechnen, daß dieser plötzlich nach links ausbiegt. Anders ist es jedoch, wenn links von der Straße die Einfahrt zu einem Sportplatz oder Schwimmbad liegt 2 0 6 . Neben solchen örtlichen Besonderheiten kommt es für das Ausmaß des Vertrauensschutzes auch auf den jeweiligen Straßenzustand an. So kann sich der Kraftfahrer nicht darauf verlassen, daß andere Verkehrsteilnehmer eine Fahrstreifenbegrenzung (weiße ununterbrochene Linie) respektieren, wenn diese abgefahren ist 2 0 7 . Auch Witterungseinflüsse spielen eine Rolle: Wer unterwegs nur streckenweise Glatteis angetroffen hat, kann nicht darauf vertrauen, daß ein ihm auf vereister Straße begegnender Kraftfahrer ebenfalls schon Glatteis angegetroffen und seine Geschwindigkeit bereits den erschwerten Bedingungen einer Fahrt auf vereister Straße angepaßt hat 2 0 8 . Bei stark böigem Seitenwind muß der Kraftfahrer damit rechnen, daß ein Radfahrer von Windstößen zur Fahrbahnmitte h i n getrieben wird, und daher beim Überholen einen größeren als den normalen Seitenabstand einhalten 2 0 9 . Der Kraftfahrer, der wegen Sonnenblendung einen Teil des Fußgängerüberwegs nicht übersehen kann, darf sich an diesen nur m i t Schrittgeschwindigkeit herantasten 210 . A u f Besonderheiten des eigenen Fahrzeugs hat ein Verkehrsteilnehmer stets Rücksicht zu nehmen: So kann der Führer eines besonders langen und langsamen Lastzug verpflichtet sein, vor dem Überqueren 204 B G H (Z) V e r k M i t t 1963, Nr. 68; vgl. heute § 8 Abs. 1 Satz 2 StVO, der aus einem Feld- oder Waldweg kommenden Fahrzeugen grundsätzlich die Vorfahrt n i m m t ; dazu oben S. 86 f. 205 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1972, Nr. 14; ähnliche Vorsicht ist während der Vorbeifahrt an einem haltenden Schulbus geboten (OLG Stuttgart, V e r k M i t t 1972, Nr. 61); vgl. heute § 20 Abs. 1 a StVO. 20β O L G K ö l n , V e r k M i t t 1964, Nr. 36; beim Befahren einer Spielstraße besteht ebenfalls k e i n Vertrauensschutz ( B G H [Z], V e r k M i t t 1967, Nr. 83). 207 BayObLG, V e r k M i t t 1974, Nr. 45; zur Frage, ob der K r a f t f a h r e r darauf vertrauen kann, daß ein nichtbefahrbares Bankett als solches gekennzeichnet ist, vgl. B G H (Z), V e r k M i t t 1962, Nr. 99. 208 B G H (Z), V e r k M i t t 1965, Nr. 94. 209 O L G Schleswig, V e r k M i t t 1966, Nr. 98; vgl. auch O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1975, Nr. 92 (Fußgänger bei Gewitterregen). 210 O L G F r a n k f u r t , V e r k M i t t 1977, Nr. 95.

II.4 „Besondere Verkehrslagen"

153

eines Bahnüberganges m i t dem Bahnwärter Verbindung aufzunehmen, und zwar auch dann, wenn sein Transport von Polizei begleitet w i r d 2 1 1 . Dagegen ist ein Lastwagenfahrer, der vor einer Rot zeigenden Verkehrsampel anhält, nicht verpflichtet, sich vor dem Wiederanfahren durch Aussteigen oder Aufstehen zu vergewissern, ob sich etwa ein gebückt auf Grünlicht wartender Radfahrer unbemerkt i n den toten Blickwinkel vor die Motorhaube seines Fahrzeugs begeben hat. Etwas anderes gilt bei Sonderfahrzeugen, etwa Panzern oder Erdbewegungsmaschinen, weil hier der tote Blickwinkel besonders groß ist 2 1 2 . Eine gesteigerte Sorgfaltspflicht ist auch zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten geboten: Erreicht ein Kraftfahrer den Werksausgang einer Fabrik gerade bei Schichtwechsel, so ist er verpflichtet, seine Geschwindigkeit erheblich herabzusetzen, besonders wenn gleichzeitig auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Linienomnibus hält. Denn „gerade bei einem Schichtwechsel u m 6 U h r morgens muß erfahrungsgemäß m i t eiligen Fußgängern gerechnet werden, die ihren Arbeitsplatz pünktlich antreten müssen oder bei Schichtende den Omnibus zur Heimfahrt noch erreichen w o l l e n u n d es, von der Nachtschicht ermüdet, besonders i n v o r gerücktem A l t e r , eher als sonst an der bei Überquerung der Fahrbahn gebotenen Aufmerksamkeit fehlen lassen" 2 1 3 .

Ein Kraftfahrer, der am Neujahrsmorgen gegen 4 Uhr innerhalb einer Ortschaft Fußgänger bemerkt, muß damit rechnen, daß sie A l k o hol getrunken haben und sich deshalb nicht verkehrsgerecht verhalten werden 2 1 4 . Nach größeren Veranstaltungen hat der Kraftfahrer besondere Vorsicht walten zu lassen: I n einer älteren Entscheidung des Kammergerichts heißt es zwar, daß ein Kraftfahrer m i t verkehrsgemäßem Verhalten von Kinobesuchern rechnen dürfe, da es i n erster Linie deren Sache sei, einer durch die Nachwirkungen der Vorstellung bedingten etwaigen Beeinträchtigung ihrer Verkehrstüchtigkeit entgegenzuwirken 2 1 5 . Demgegenüber betont jedoch das OLG Düsseldorf, daß beispielsweise nach großen Sportveranstaltungen i n dem hektischen Getriebe und Gedränge der durch das Spielgeschehen noch erregten und abgelenkten Menschen m i t Unbesonnenheiten i m abfließenden Straßenverkehr ganz allgemein gerechnet werden müsse 216 . 211

B G H (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 42. O L G Köln, V e r k M i t t 1964, Nr. 126; dazu i m einzelnen unten S. 224 f. 213 B G H (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 4. 21 * B G H (Z), V e r k M i t t 1968, Nr. 126; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1975, Nr. 132; allein die Tatsache, daß sich ein Fußgänger Sonntag nachts i n der Nähe einer beleuchteten Gaststätte auf der Straße befindet, gibt jedoch noch keinen Anlaß zu der Befürchtung, dieser ordnungsgemäß gehende Fußgänger könnte ein Betrunkener sein (BGH, V e r k M i t t 1976, Nr. 12). 21 ® K G , V e r k M i t t 1957, Nr. 116. 212

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Ob das Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer verkehrsgerecht ist, läßt sich häufig nur nach den Besonderheiten des Einzelfalles beurteilen. So darf ein Kraftfahrer jedenfalls auf Straßen, die sich wegen ihrer geringen Breite zur etappenweisen Überschreitimg nicht eignen, nicht darauf vertrauen, daß ein Fußgänger, der die Fahrbahn von links betreten und nur nach links h i n Ausschau gehalten hat, rechtzeitig nach rechts beobachten w i r d 2 1 7 . K a n n der Kraftfahrer das Verhalten der Führer zweier i h m entgegenkommender Kraftfahrzeuge, besonders ihre Geschwindigkeit zueinander, auch bei erhöhter Aufmerksamkeit nicht deutlich erkennen, so muß er i n Rechnung stellen, daß das zweite der i h m entgegenkommenden Fahrzeuge, das vorausfahrende überholen werde 2 1 8 . Wenn an einer weiträumigen Kreuzung keine der vorhandenen Lichtsignalanlagen i n Betrieb ist, muß der Kraftfahrer m i t Unvorsichtigkeiten eines 8jährigen Jungen rechnen, auch wenn dieser zuvor i n die Richtung des herankommenden Fahrzeugs geblickt hat. „Denn es ist eine Erfahrungstatsache, daß der Ausfall der Lichtzeichenanlage an einer verkehrsreichen, großen Kreuzung während der Zeiten m i t dem stärksten V e r k e h r . . . nicht n u r häufig zu Stockungen führt, sondern auch weitere Gefahren m i t sich bringt, die darauf beruhen, daß die V e r kehrsteilnehmer einschließlich der Fußgänger durch die plötzlich veränderte Situation beunruhigt werden*!·."

Geschwindigkeitsüberschreitungen des Vorfahrtberechtigten, die sich zu verkehrsarmer Zeit eingangs einer kleinen Stadt auf einer sie durchquerenden Bundesstraße zutragen, können selbst bei beträchtlichem Ausmaß noch zu den vom Wartepflichtigen von vornherein i n Rechnung zu stellenden Verkehrswidrigkeiten gehören, während eine viel geringere Geschwindigkeitsüberschreitung die sich zu derselben Zeit i m K e r n einer Großstadt ereignet, schon außerhalb dessen liegen mag, worauf sich der Wartepflichtige einzustellen h a t 2 2 0 . 2ie O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1970, Nr. 83; vgl. auch O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 117: „Es ist . . . eine Erfahrungstatsache, daß Fußgänger sich allgemein schon dann, w e n n sie i n größeren Mengen auftreten, häufig leichtsinnig verhalten u n d auf den Straßenverkehr nicht die gebührende Rücksicht nehmen . . . Dies g i l t besonders, w e n n Jugendliche i n Gruppen auftreten, w e i l sie sich dann stark fühlen u n d aus verschiedenen jugendpsychologisch zu erklärenden Gründen dazu neigen, sich über die Ordnungsregeln hinwegzusetzen." 217 BayObLG, V e r k M i t t 1963, Nr. 132; anders auf einer über 10 m breiten Straße, O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1976, Nr. 91; vgl. a u d i B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 62. 218 B G H , V e r k M i t t 1964, Nr. 16; hier handelte es sich offenbar u m eine „ u n k l a r e Verkehrslage"; dazu unten S. 156 ff. 219 O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 97. 220 O L G Hamm, V e r k M i t t 1969, Nr. 102; dazu ausführlich unten S. 177 ff.

II.4 „Besondere Verkehrslagen"

155

Auch das eigene — durchaus verkehrsgerechte — Verhalten eines Verkehrsteilnehmers kann zu einer „besonderen Verkehrslage" führen. So muß ein Vorfahrtberechtigter, der verkehrsbedingt kurz anhält, so daß ein Teil der kreuzenden Fahrbahn vor seinem Fahrzeug freibleibt, die „Versuchung", welche dieser freie Raum für einen Wartepflichtigen bietet, i n Rechnung stellen und darf nur noch i n beschränktem Maße auf die Beachtung seines Vorfahrtrechtes vertrauen 2 2 1 . Auch wer erst ganz kurz vor der Stelle, an der er m i t kreuzendem Verkehr zusammentrifft, i n die i h m Vorfahrt gewährende Straße eingebogen ist, darf sich nicht ohne weiteres darauf verlassen, daß der an sich wartepflichtige andere Verkehrsteilnehmer, dem die Vorfahrtstraße bis zu diesem Zeitpunkt als frei erschien, sein Herankommen beachten und i h m die Vorfahrt überlassen w i r d 2 2 2 . Die genannten Beispiele zeigen wohl zur Genüge, i n wie ausgedehntem Maße die Rechtsprechung bereit ist, das Vertrauen-Dürfen i n einer konkreten Verkehrssituation nicht nach einem abstrakten „Vertrauensgrundsatz" zu bemessen, sondern dabei auf die Besonderheiten des einzelnen Falles abzustellen. Für den Kraftfahrer ist demgemäß häufig nicht vorhersehbar, ob ein Gericht später einmal sein Verhalten als durch den „Vertrauensgrundsatz" gedeckt oder aufgrund „besonderer" Umstände als verkehrswidrig ansehen mag. Gewiß kann i h m vom „Vertrauenfahren" 2 2 3 i m Sinne eines Sich-Verlassens auf eine feste, i n jeder Situation anwendbare Rechtsregel, nur abgeraten werden. Wenn Wimmer die Gefahr sieht, daß die Rechtsprechung „ u m des Vertrauensgrundsatzes willen, also um eine allgemeine Regel durchzuhalten", den Kraftfahrer von der Pflicht zur Vorsicht und Rücksichtnahme entbinden könne 2 2 4 , so ist eine solche Befürchtung angesichts der zitierten Urteile sicher unbegründet. Ja, es w i l l mitunter scheinen, als ob die Rechtsprechung die „Besonderheiten" des Einzelfalles überbetont und dabei allgemein verkehrserzieherischen Gesichtspunkten zu wenig Raum gibt. Man w i r d jedoch zu berücksichtigen haben, daß die Instanzgerichte natürlich bestrebt sind, i n ihren Entscheidungen den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Solange sich die Rechtsprechung an einen allgemein geltenden „Vertrauensgrundsatz" gebunden glaubt, w i r d sie danach trachten, „Ausnahmen" von diesem Grundsatz soweit wie möglich auf gerade diesen Fall kennzeichnende „Besonderheiten" zurückzuführen. Damit bleibt natürlich, wie schon Martin erkannt hat, Auslegung und 221 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1956, Nr. 50. 222 BayObLG, V e r k M i t t 1964, Nr. 69. 223 Wimmer, Ausdehnung, S. 375. 224 Ebenda, S. 375; dazu oben S. 59.

156

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Anwendung des „Vertrauensgrundsatzes" i m wesentlichen Tatfrage, die der rechtlichen Nachprüfung und Weiterbildung durch die Revisionsgerichte weitgehend entzogen ist 2 2 5 . 5. K e i n Vertrauensschutz i n „ u n k l a r e n Verkehrslagen"

Der Vertrauensschutz entfällt nicht nur in „besonderen", sondern auch i n „unklaren" Verkehrslagen. Eine Verkehrssituation w i r d dann „unklar", wen zwar (noch) keine Verkehrswidrigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer erkennbar sind, jedoch schon Anzeichen dafür bestehen, daß die übrigen Verkehrsteilnehmer keine freie Durchfahrt einräumen werden 2 2 6 . Das Schulbeispiel für eine „unklare Verkehrslage" ist eine aus dem Rahmen fallende Massierung von Menschen oder Fahrzeugen auf der Fahrbahn: Wer sich einer solchen Stelle nähert, muß damit rechnen, daß hier ein Unfall passiert ist und aufgeregte Unfallbeteiligte oder Zuschauer die Fahrbahn unvorsichtig überqueren werden 2 2 7 . Das Gleiche gilt, wenn während eines Schneetreibens ein haltendes Polizeifahrzeug sichtbar wird, dessen Blaulicht i n Betrieb ist. Jedem Kraftfahrer muß sich dann die Wahrscheinlichkeit aufdrängen, daß in unmittelbarer Nähe ein Unfall oder sonstige Umstände einen Polizeieinsatz erforderlich machen. Es ist auf Anhaltegeschwindigkeit herunterzugehen 228 . „Unklare Verkehrslagen" sind weiter angenommen worden: Bei Vorbeifahrt an einem nicht m i t Sicherheit als verlassen erkannten Kraftfahrzeug wegen den m i t Türöffnen und Aussteigen verbundenen 225 Martin, Straßenverkehrsrecht, S. 167; selten einmal w i r d die „Besonderh e i t " einer Verkehrslage von einem Revisionsgericht m i t so klaren Worten verneint w i e hier (BayObLG, V e r k M i t t 1976, Nr. 75): „Der aus einer untergeordneten Straße nach rechts i n die bevorrechtigte Straße Einbiegende wäre überfordert, w e n n m a n von i h m verlangen wollte, er müsse nicht n u r den Verkehr auf der bevorrechtigten Straße beobachten u n d seine eigenen Sichtmöglichkeiten überprüfen, sondern sich auch noch i n die Lage eines von rechts kommenden Benutzers der bevorrechtigten Straße versetzen u n d Überlegungen darüber anstellen, ob dieser durch die f ü r i h n bestehenden besonderen Sichtverhältnisse zu einem — i n jedem Falle verkehrswidrigen — Überhol versuch verleitet werden könnte." 22e Mühlhaus, StVO, A n m . 5 a) zu § 3 StVO; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1976, Nr. 96; vgl. auch §5 Abs. 3 Satz 1 StVO, der das Überholen bei „ u n klarer Verkehrslage" verbietet. 227 O L G K ö l n , VRS 27, S. 111; vgl. auch B G H (Z) VersR 1960, 737 u n d B G H (Z), V e r k M i t t 1964, Nr. 103: Geht ein Fußgänger auf der A u t o b a h n den Kraftfahrzeugen m i t winkenden A r m e n entgegen, so ist das ein typisches Zeichen dafür, daß sich ein Hindernis auf der Fahrbahn befindet. K r a f t fahrzeugführer können dann nicht darauf vertrauen, daß das Hindernis erst hinter dem winkenden Fußgänger auftauchen werde. 228 B G H (Z), V e r k M i t t 1969, Nr. 72.

II. „ n r e Verkehrslagen"

157

Gefahren 229 , bei Wahrnehmung eines auf den ersten Blick als ungefährlich eingestuften Hindernisses, das dann zu spät als ein auf der Straße liegender Betrunkener erkannt wurde 2 3 0 , beim Anblick eines am Straßenrand kauernden Menschen, der sich dann plötzlich zur Straßenmitte h i n bewegte 2 3 1 . Wenn ein Fußgänger mitten auf der Straße stehenbleibt, jedoch nicht nach dem herannahenden Fahrzeug blickt, schafft das für den Kraftfahrer eine „unklare Verkehrslage" 2 3 2 . Das gleiche gilt, wenn eine Fahrzeugreihe vor einer Einmündung ins Stocken kommt. Wer diese Reihe überholen w i l l , muß m i t dem Vorhandensein für ihn unsichtbarer Hindernisse rechnen 233 . Eine „unklare Verkehrlsage" kann nicht nur durch fremdes, sondern auch durch eigenes Verhalten entstehen. Wer scharf nach rechts i n eine enge Grundstückseinfahrt einbiegen w i l l und zu diesem Zweck, durchaus sachgerecht, nach links ausholt, muß sich, auch bei eingeschaltetem rechten Blinklicht, vor dem Einbiegen durch einen Blick nach hinten vergewissern, daß er nicht rechts überholt wird. Ein solches Fahrmanöver weist nämlich für nachfolgende Verkehrsteilnehmer keineswegs eindeutig auf den beabsichtigten Bogen nach rechts hin, so daß der Fahrzeugführer sich nicht allein auf die Wirkung seines Blinkzeichens verlassen darf. Z u Recht legt daher das Gericht das Risiko des aus dem Rahmen fallenden Fahrmanövers dem Einbiegenden auf. Es heißt i m Urteil: „Die A n w e n d u n g des Vertrauensgrundsatzes erfordert als Mindestvoraussetzung, daß die v o n dem Abbieger geschaffene Situation klar, eindeutig u n d unmißverständlich i s t 2 3 4 . "

So muß auch ein Kraftfahrer, der zweimal kurz hintereinander nach links einbiegen will, zwischen dem ersten und dem zweiten Einbiegen die Anzeige der beabsichtigten Fahrtrichtungsänderung deutlich unterbrechen, weil sonst die ihm nachfolgenden Verkehrsteilnehmer irregeführt werden 2 3 5 . 22

» B G H (Z), V e r k M i t t 1956, Nr. 88. 0 B G H S t 10, 3. 23 1 BayObLG, V e r k M i t t 1961, Nr. 33. 232 O L G Hamburg, V e r k M i t t 1966, Nr. 51. 233 B G H (Z), V e r k M i t t 1969, Nr. 110; K G (Z), V e r k M i t t 1975, Nr. 43; anders bei Lichtzeichenregelung, K G (Z) V e r k M i t t 1975, Nr. 44; dazu unten S. 200. 234 O L G Hamburg, V e r k M i t t 1966, Nr. 72; ebenso O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1970, Nr. 60 u n d V e r k M i t t 1976, Nr. 97; vgl. auch K G (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 100: K a n n der Führer eines 14 m langen Sattelkraftfahrzeugs auf einer Fahrbahn m i t drei Fahrstreifen wegen der Länge seines Fahrzeugs nicht von der äußersten l i n k e n Fahrspur aus nach links abbiegen, so schafft er eine „ u n k l a r e Verkehrslage" w e n n er es von dem m i t t l e r e n Fahrstreifen aus versucht u n d dazu vor einer Kreuzung den l i n k e n Fahrtrichtungsanzeiger betätigt u n d die Fahrgeschwindigkeit deutlich herabsetzt. 235 O L G Schleswig, V e r k M i t t 1961, Nr. 88. 23

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes a) Abgrenzungsprobleme

I n dem zuletzt aufgeführten Beispiel erscheint das Verhalten des Kraftfahrers schon als verkehrswidrig, so daß allein aus diesem Grunde ein Vertrauensschutz entfällt. Auch bei einer durch andere Verkehrsteilnehmer geschaffenen „unklaren Verkehrslage" kann man oft i m Zweifel sein, wo die Grenze zwischen fremdem erkennbar verkehrswidrigem oder nur unklarem Verhalten verläuft. Überschreitet beispielsweise ein Fußgänger zügig und ohne auf den Fahrzeugverkehr zu achten, eine mehr als 10 m breite Fahrbahn, so kann ein K r a f t fahrer nicht damit rechnen, daß der Fußgänger seinen Weg m i t gleicher Geschwindigkeit fortsetzt, sondern muß sich auf unüberlegte Reaktionen des Fußgängers gefaßt machen. Diese Verpflichtung t r i f f t den Kraftfahrer nicht etwa deshalb, w e i l durch das Verhalten des Fußgängers eine „unklare Verkehrslage" geschaffen worden wäre 2 3 6 , sondern w e i l das schon gezeigte verkehrswidrige Verhalten des Fußgängers weitere Verkehrswidrigkeiten besorgen läßt. Auch die Abgrenzung zwischen „unklarer Verkehrslage" und „besonderer Verkehrslage" ist nicht immer eindeutig. So verwendet das von Mühlhaus i m Abschnitt „unklare Verkehrslage" 2 8 7 zitierte U r t e i l des O L G Saarbrücken diesen Begriff überhaupt nicht. Wenn es vom Führer eines Kraftfahrzeuges verlangt, an einer Unfallstelle m i t Unvorsichtigkeiten aufgeregter Unfallbeteiligter oder Zuschauer zu rechnen, stützt es sich auf die „Lebenserfahrung" 2 3 8 . I n der Tat liegt hier die Annahme einer „unklaren Verkehrslage" fern, da für den K r a f t fahrer von vornherein erkennbar war, daß er sich einer Unfallstelle näherte 2 8 9 . Trotz möglicher Abgrenzungsschwierigkeiten 240 sollte jedoch auch über den Bereich des § 5 Abs. 3 Satz 1 StVO hinaus aus verkehrserzieherischen Gründen an dem Ausdruck „unklare Verkehrslage" fest2»e so aber O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1970, N r . 47. 237 Mühlhaus, StVO, A n m . 5 a) zu § 3 StVO. 238 O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1966, N r . 12. 28» U m eine „ u n k l a r e Verkehrslage" hätte es sich dagegen gehandelt, w e n n die von i h m beobachtete Massierung von Fahrzeugen auf der Fahrbahn auf verschiedenen Gründen — „normale" Verkehrsstockung, U n f a l l usw. — hätte beruhen können. D a n n muß der K r a f t f a h r e r jeder dieser Möglichkeiten m i t ihren spezifischen Gefahren Rechnung tragen; vgl. dazu O L G H a m m , V e r k M i t t 1970, Nr. 84: „ W e r sich auf einer Autobahn, auf der wegen einer Großbaustelle der Verkehr auf verengten Fahrstreifen über die Gegenfahrbahn geleitet w i r d , einem dort haltenden Lastkraftwagen nähert, muß damit rechnen, daß dieser wegen eines Schadens hält u n d sein Fahrer oder dessen Beifahrer die Fahrbahn überqueren w i r d , u m v o n der Baustelle H i l f e zu holen." 240 v g l . O L G Hamm, V e r k M i t t 1977, Nr. 97.

II. „ n r e Verkehrslagen"

159

gehalten werden. Der Begriff ist recht plastisch und daher geeignet, dem Kraftfahrer klarzumachen, „daß er nicht i n eine ungeklärte, i h m als gefährlich erkennbare Verkehrslage hineinfahren u n d lediglich darauf vertrauen darf, daß sie sich noch rechtzeitig als gefahrlos gestalten w e r d e " 2 4 1 .

Gleichzeitig bietet sich dieser Begriff der Rechtsprechung nicht i n demselben Maße als Leerformel an wie der Begriff der „besonderen Verkehrslage". Praktisch jede Verkehrssituation, die zu einem Unfall geführt hat, weist Eigentümlichkeiten auf, die vom Richter i m Nachhinein unter dem Begriff der „besonderen Verkehrslage" subsumiert werden können. Die Annahme einer „unklaren Verkehrslage" bedarf demgegenüber eingehenderer Begründung. Das w i r d an einer Reihe von Urteilen deutlich, i n denen das Vorhandensein einer „unklaren Verkehrslage" zwar erörtert, i m Ergebnis aber verneint wird. So schaffen zwei Kraftwagen, die sich auf einer breiten, geraden und übersichtlichen Straße ordnungsgemäß rechts halten, jedoch ohne ersichtlichen Grund unüblich langsam fahren, allein dadurch noch keine „unklare Verkehrslage" 2 4 2 . Das gleiche gilt, wenn der Führer eines Lastzuges auf der Autobahn über eine nicht unbeträchtliche Strecke hinweg gleichbleibend zwar auf der rechten Fahrbahnhälfte, jedoch hart an der Mittellinie fährt 2 4 3 . Auch die Tatsache, daß i n der Mitte einer städtischen Einbahnstraße ein Personenkraftwagen ohne Angabe von Richtungszeichen langsam vorausfährt, schafft für den nachfolgenden schnelleren Verkehr i m allgemeinen noch keine „unklare Verkehrslage", die ein Linksüberholen nicht oder nur unter besonderen Vorsichtsmaßregeln zuließe 244 . b) Erkennbar

verkehrswidriges

Verhalten

Dritter

Die Fallgestaltung der beiden zuletzt genannten Urteile hätte es nahegelegt, nachfolgenden Fahrzeugführern Vertrauensschutz schon deshalb zu versagen, w e i l sowohl der Lkw-Fahrer auf der Autobahn als auch der des P k w i n der städtischen Einbahnstraße sich dadurch erkennbar verkehrswidrig verhielten, daß sie das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 Satz 1 StVO nicht befolgten. Während das Bayerische Oberste 241

O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1970, Nr. 47. O L G F r a n k f u r t (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 127; vgl. auch BayObLG, V e r k M i t t 1975, N r . 38: Solange an einem vorausfahrenden Fahrzeug der l i n k e Fahrtrichtungsanzeiger nicht eingeschaltet ist, ist ein Überholen g r u n d sätzlich nicht deshalb unzulässig, w e i l sich dieses Fahrzeug einem noch langsameren Vordermann nähert. 243 B G H (Z), V e r k M i t t 1964, Nr. 105. 244 BayObLG, V e r k M i t t 1964, Nr. 48; vgl. auch O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1976, Nr. 96. 242

160

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Landesgericht auf diese Frage nicht weiter eingeht, führt der Bundesgerichtshof dazu aus: „Eine fraglos wahrnehmbare Fahrt des Lastzuges hart entlang der M i t t e l l i n i e ergab f ü r sich allein keinen Hinweis auf die Überholungsabsicht des Führers dieses Lastzuges . . . Erfahrungsgemäß verhalten sich gerade L a s t zugfahrer auf der A u t o b a h n häufig so, ohne ein Hinüberlenken auf die l i n k e Fahrbahn zu beabsichtigen. Wenn diese Fahrweise auch nicht zu b i l l i g e n ist, so vermag sie doch f ü r sich allein, ohne das Hinzutreten der geringsten sonstigen Anzeichen f ü r eine Überholungsabsicht den Vertrauensgrundsatz f ü r den nachfolgenden, schnelleren Verkehrsteilnehmer noch nicht außer K r a f t zu setzen 2 4 5 ."

Dem Urteil ist sicher i m Ergebnis zuzustimmen. Würde jede noch so unbedeutende Verkehrswidrigkeit eines Verkehrsteilnehmers ihn sofort als nicht mehr „vertrauenswürdig" erscheinen lassen, müßte dies zu einem allgemeinen gegenseitigen Mißtrauen i m Straßenverkehr führen. Jeder Kraftfahrer wäre gezwungen, einen anderen Fahrzeugführer unverzüglich auch auf den kleinsten Fahrfehler hinzuweisen und müßte darüber hinaus danach trachten, das eigene Fahrzeug bis zur Behebung dieses Fehlers möglichst rasch aus dem Verkehr zu ziehen. Es w i r d aber keinem Kraftfahrer zuzumuten sein, ein auf einer breiten Straße entgegenkommendes Fahrzeug, das nicht soweit rechts wie möglich, sondern ein wenig zur Mitte der Fahrbahn h i n versetzt fährt, durch sofortiges Hupen wieder „auf den rechten Weg" zu bringen und selbst solange anzuhalten oder gar i n den Straßengraben zu fahren 2 4 6 . Auch der Verkehrssicherheit wäre nicht damit gedient, wenn dem Kraftfahrer i n solchen Fällen jeglicher Vertrauensschutz und damit die Möglichkeit genommen würde, auf leichte Fehler oder Unvorsichtigkeiten anderer Verkehrsteilnehmer angemessen — beispielsweise nur durch „Gaswegnehmen" oder angespannte Beobachtung — zu reagieren. Licht- und Schallzeichen würden eher Verwirrung stiften als zur Korrektur des Fahrfehlers beitragen, plötzliche für den Nachfolgenden undurchsichtige Bremsmanöver die Gefahr von Auffahrunfällen heraufbeschwören 247 . Schließlich würden ständige Hinweise auch auf leichteste 245 B G H , a.a.O., ( V e r k M i t t 1964, Nr. 105). 24β Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß sich gerade leichtere Verstöße gegen das Rechtsfahrgebot häufig n u r schwer feststellen lassen. So genügt dem Rechtsfahrgebot jedenfalls noch, w e r i m Straßenverkehr einen Abstand v o n einem Meter zum rechten Fahrbahnrand einhält (OLG Saarbrücken [ZI, V e r k M i t t 1974, Nr. 113); vgl. dazu oben S. 128 u n d zur Frage, i n w i e w e i t auf die Beibehaltung eines bestimmten Verkehrs w i d r i g e n Verhaltens „ v e r t r a u t " werden kann, oben A n m . 35. 247 Ähnliches g i l t auch i m Verhältnis K r a f t f a h r e r — Fußgänger; vgl. B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 62: Unnötiges Betätigen der Lichthupe gegenüber einem sich verkehrsgerecht verhaltenden Fußgänger, der dies als Aufforderung zum Weitergehen mißversteht; dazu i m einzelnen unten S. 234, A n m . 61.

II.5 „Unklare Verkehrslagen"

161

Fahrfehler gewiß häufig als schikanös empfunden werden und damit einen äußerst unvorteilhaften „Klimawechsel i m Verkehr" zur Folge haben. Wenn also auch i n der Regel daran festzuhalten ist daß nur solchen Verkehrsteilnehmern „vertraut" werden kann, die sich verkehrsgemäß verhalten, so gibt es doch Verkehrswidrigkeiten, die „erfahrungsgemäß" auch von verantwortungsbewußten Fahrern so häufig begangen werden, daß sie i m Straßenverkehr kaum mehr als Verkehrswidrigkeiten empfunden werden und daher den „Täter" insgesamt gesehen durchaus noch als „vertrauenswürdig" erscheinen lassen. Dazu gehören beispielsweise geringe Abweichungen vom Rechtsfahrgebot (§ 2 StVO) oder von der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 StVO) 2 4 8 . Aus der Fülle der Rechtsprechung zum Einfluß fremden verkehrswidrigen Verhaltens auf den Vertrauensschutz seien einige Beispiele herausgegriffen: Dem nachfolgenden Fahrer kann nicht zugemutet werden, von einem an sich möglichen Linksüberholen Abstand zu nehmen, solange er keinen besonderen Anlaß hat, an der verkehrstreuen Haltung des Vorausfahrenden i n jeder Beziehung, vornehmlich hinsichtlich der A r t eines etwaigen Linkseinbiegens zu zweifeln. Ein solcher Anlaß ist regelmäßig nicht schon deshalb gegeben, w e i l der Vorausfahrende es beim Einordnen zur Straßenmitte unterließ, die Änderung seiner Fahrtrichtung anzuzeigen; denn dies ist jedenfalls so lange kein besonders auffallender und schwerer Verstoß, als i m Hinblick auf den Abstand der beiden Fahrzeuge und ihre gleichbleibenden Geschwindigkeiten keine naheliegende Gefahr eines Zusammenstoßes besteht 2 4 9 . Daß sich ein Kraftfahrer während einer Begegnung auf gerader, übersichtlicher Straße nicht an das Rechtsfahrgebot hält, ist so regelwidrig und selten, daß der Entgegenkommende diese Gefahr auch dann nicht ins Auge zu fassen braucht, wenn sich der andere vorher nicht streng auf die Benutzung seiner Fahrbahnhälfte beschränkt hat, sondern ein- oder zweimal kurz auf die Fahrbahnseite des Entgegenkommenden geraten ist 2 5 0 . Bemerkt dagegen ein Motorradfahrer, der sich einer unübersichtlichen Kurve nähert, daß ein anderer Motorradfahrer zu i h m aufschließt und keine Anstalten trifft, seine Geschwindigkeit zu ermäßigen, so muß er sich auf dieses 248

Eine geringe u n d kurzfristige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit braucht noch nicht einmal auf Fahrlässigkeit zu beruhen, denn auch f ü r einen sorgfältigen K r a f t f a h r e r ist es nicht möglich, länger m i t einer genau gleichbleibenden Geschwindigkeit zu fahren. E r ist dabei jedoch nicht verpflichtet, v o n der an sich zulässigen Höchstgeschwindigkeit einen „Sicherheitsabstand" einzuhalten (BayObLG, V e r k M i t t 1977, Nr. 21; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1976, N r . 85). 2« B G H S t 12, 162. 250 B G H , V e r k M i t t 1963, Nr. 5. 11 Kirschbaum

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

verkehrswidrige Verhalten einstellen 251 . Bemerkt der Linksabbieger, der durch rechtzeitiges Blinken, Einordnen und Herabsetzen der Geschwindigkeit seine Absicht vorschriftsmäßig angezeigt hat, daß ein anderer Kraftfahrer ihn vorschriftswidrig links zu überholen versucht, darf er nicht darauf „vertrauen", daß dieser andere den Überholvorgang abbrechen werde 2 5 2 . Die Rechtsprechung läßt sich mit den Worten des Bundesgerichtshofes dahin zusammenfassen, daß verkehrswidriges Verhalten eines anderen Verkehrsteilnehmers den Vertrauensschutz nicht völlig, sondern nur insoweit ausräumt, „als gerade i m Hinblick auf den begangenen Fehler eine damit zusammenhängende weitere Verkehrswidrigkeit erwartet werden m u ß " 2 5 3 .

aa) Die Reaktion auf Verkehrswidrigkeiten i m zeitlichen Ablauf Unter Umständen hat sich der Kraftfahrer allerdings sogar auf Verkehrswidrigkeiten i n statu nascendi einzustellen. Wenn ihm bei Dunkelheit ein Fahrzeug m i t aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkommt, das sich i n einer Kurve noch jenseits des Kurvenscheitelpunktes nähert, muß er damit rechnen, daß dieses Fahrzeug nicht rechtzeitig abblenden wird. Er muß also schon jetzt, obwohl sich der entgegenkommende Fahrzeugführer (noch) nicht verkehrswidrig verhält, — von seinem Fahrzeug geht i m Augenblick keinerlei Blendwirkung aus — die Geschwindigkeit erheblich herabsetzen, wenn nötig, bis nahe der Schrittgeschwindigkeit 254 . Ähnlich weit geht eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes, die dem Kraftfahrer fast hellseherische Fähigkeiten abverlangt. Kann er nämlich das Verhalten der Führer zweier i h m entgegenkommender Kraftfahrzeuge, besonders ihre Geschwindigkeit zueinander, auch bei erhöhter Aufmerksamkeit nicht deutlich erkennen, so muß er i n Rechnung stellen, daß das zweite der i h m entgegenkommenden Fahrzeuge, das vorausfahrende überholen werde 2 5 5 . 2 * i O L G Nürnberg (Z), V e r k M i t t 1963, Nr. 48; keinesfalls ist er berechtigt, den herannahenden Motorradfahrer von einem unzulässigen Überholen dadurch abzuhalten, daß er i h m durch Schneiden der K u r v e die Überholfahrbahn versperrt. 252 O L G Oldenburg (Z), V e r k M i t t 1968, Nr. 15. 253 B G H (Z), VRS 26, S. 331 (332). 254 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1967, Nr. 74. 255 BGH, V e r k M i t t 1964, Nr. 16; Booß bemerkt dazu i n der Urteilsanmerkung, daß dieser Grundsatz, allgemein angewendet, als Überspannung der v o m K r a f t f a h r e r zu fordernden Sorgfaltspflicht bezeichnet werden müßte: Nicht darauf dürfe es ankommen, ob das Verhalten der Entgegenkommenden deutlich erkennbar gewesen sei, sondern n u r darauf, ob auf ausreichende Entfernung Anzeichen f ü r ein mögliches Fehlverhalten bestanden hätten.

II.5 „Unklare Verkehrslagen"

163

Einige Fälle, i n denen es u m verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern beim Uberqueren der Fahrbahn geht, sollen zeigen, wie differenziert die Rechtsprechung hier das Verhältnis von verkehrswidriger A k t i o n und notwendiger (verkehrsgemäßer) Reaktion beurteilt. So muß sich ein Kraftfahrer nicht allein deshalb, weil ein Fußgänger i n einer Parklücke oder unmittelbar hinter einer Reihe parkender Fahrzeuge die Fahrbahn betritt, ohne dabei nach rechts oder links zu blicken, auf die Möglichkeit einstellen, der Fußgänger werde die Fahrbahn auch über die Fluchtlinie der parkenden Fahrzeuge hinaus ohne Beachtung des Fahrverkehrs überqueren. Denn solange i h m diese Fahrzeuge Deckung geben, handelt er nicht verkehrswidrig, wenn er sich auf diese Weise über das Herannahen von Fahrzeugen auf der Fahrbahn vergewissert 256 . Als verkehrswidrig wurde dagegen das Verhalten eines Fußgängers angesehen, der nur ca. 60 m vor einem m i t 50 k m / h herannahenden Kraftfahrzeug sich anschickte, die Straße zu überqueren. Dabei bestand zu diesem Zeitpunkt durchaus noch die Möglichkeit, daß der Fußgänger i n der Mitte der Straße stehenbleiben würde, u m den Wagen vorbeizulassen. Nach Ansicht des Gerichts boten jedoch weder die Verkehrs- noch die Straßenverhältnisse für einen Fußgänger einen „vernünftigen Anlaß", die Fahrbahn i n Etappen zu überqueren 2 5 7 . Hier hätte es wohl näher gelegen, die Schaffung einer „unklaren Verkehrslage" durch den Fußgänger aufgrund seines zumindest nicht zweifelsfrei verkehrsgemäßen Verhaltens anzunehmen. Die Frage, von welchem Zeitpunkt an (wieder) m i t verkehrsgemäßem Verhalten eines Fußgängers gerechnet werden kann, der auf Warnzeichen reagiert hat, w i r d dahingehend beantwortet, daß es nicht genügt, wenn der Fußgänger auf das Warnzeichen h i n kurz stehenbleibt und auf das sich nähernde Fahrzeug schaut. Es darf erst dann vor ihm vorbeigefahren werden, wenn der Kraftfahrer sicher damit rechnen kann, daß der Fußgänger auch nach Uberwindung eines etwaigen Erschreckens stehenbleiben wird. Z u dieser Annahme reicht jedoch eine Beobachtungszeit von ca. 1 Sekunde nicht aus, denn diese Zeit braucht der Fußgänger, u m sich überhaupt erst einmal darüber klarzuwerden, wie er sich angesichts des auf ihn zukommenden Wagens verhalten soll. Es besteht dann immer noch die Möglichkeit, daß der Fußgänger, durch die Abgabe der Warnzeichen erschreckt oder verw i r r t , kopflos handelt 2 5 8 . 2δβ BayObLG, V e r k M i t t 1971, Nr. 46. 257 O L G Oldenburg, V e r k M i t t 1972, Nr. 35; vgl. dazu oben A n m . 217. 258 B G H S t 14, 97; das g i l t nach Ansicht des O L G Düsseldorf ( V e r k M i t t 1971, Nr. 74) sogar dann, w e n n der Fußgänger auf das Schallzeichen des Kraftfahrers h i n einen Schritt zurücktritt. K e i n V o r w u r f traf dagegen einen Kraftfahrer, der rechts an einem Mopedfahrer vorbeizufahren suchte, nach11'

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

War i m letztgenannten Fall eine „unklare Verkehrslage" dadurch entstanden, daß der Fußgänger noch nicht „erkennbar verkehrsgemäß" reagiert hatte, so spielt der zeitliche Ablauf häufig auch eine große Rolle bei der Frage, ob ein Verhalten sich als „erkennbar verkehrswidrig" erweist. Der Vorfahrtberechtigte braucht Vorkehrungen zur Verhütung eines Zusammenstoßes nicht schon bei jedem zügigen Herannahen eines wartepflichtigen Fahrzeugs an die Kreuzung oder Einmündung, sondern erst dann zu treffen, wenn Anzeichen auf eine bevorstehende Vorfahrtverletzung hindeuten. Solange der wartepflichtige Fahrer noch die Möglichkeit hat, sein Fahrzeug vor dem Schnittpunkt der beiderseitigen Fahrlinien anzuhalten oder seine Geschwindigkeit so zu ermäßigen, daß er diesen Schnittpunkt erst nach dessen vollständiger Räumung durch den Vorfahrtberechtigten erreicht, kann dieser davon ausgehen, daß der andere seiner Wartepflicht auch genügen wird. Der früheste Zeitpunkt, von dem ab sich der Vorfahrtberechtigte auf eine Verletzung seiner Vorfahrt einstellen muß, ist erst erreicht, wenn der Wartepflichtige sich dem Schnittpunkt der Fahrlinien soweit genähert hat, daß ein ausreichender Bremsweg nicht mehr zur Verfügung steht. Selbst i n diesem Zeitpunkt ist für den Vorfahrtberechtigten normalerweise noch gar nicht erkennbar, ob der Wartepflichtige sich verkehrswidrig verhält, denn möglicherweise hat dieser den Bremsvorgang bereits eingeleitet. Dem Vorfahrtberechtigten w i r d daher noch mindestens eine Sekunde Beobachtungszeit zugebilligt, u m festzustellen, ob das Fahrzeug des Wartepflichtigen seine Geschwindigkeit vermindert hat oder nicht. Erst dann ist der Vorfahrtberechtigte verpflichtet, von der Inanspruchnahme seines Vorrechts Abstand zu nehmen und die zur Vermeidung eines Zusammenstoßes erforderlichen Maßnahmen zu treffen 2 5 9 . Da seine Gegenmaßnahmen erst nach Ablauf einer gewissen Reaktions- und Bremsansprechzeit wirksam werden können, w i r d er zu diesem Zeitpunkt nur noch selten i n der Lage sein, einen Unfall zu verhüten. Es gibt aber auch Fälle, i n denen die Rechtsprechung dem Vorfahrtberechtigten einen früheren Reaktionszeitpunkt zumutet. So wurde einem Mopedfahrer, der an einer nicht beschilderten Kreuzung m i t einem von links kommenden Kraftwagen zusammengestoßen war, dem dieser v o n l i n k s unter Mißachtung der Vorfahrt auf die Hauptstraße eingebogen w a r u n d dann langsam i n der Fahrbahnmitte i n derselben Richtung w i e der Vorfahrtberechtigte weiterfuhr. Hier, so meinte das Gericht, habe der K r a f t f a h r e r das Verhalten des Mopedfahrers dahin deuten dürfen, daß er i h m n u n pflichtgemäß die Vorfahrt überlassen, d. h. noch eine Weile i n der M i t t e der Hauptstraße bleiben u n d i h n rechts vorbeifahren lassen werde (BayObLG, V e r k M i t t 1970, Nr. 5). 25» O L G H a m b u r g (Z), V e r k M i t t 1956, N r . 71; K G , V e r k M i t t 1957, Nr. 8; vgl. auch B G H , V e r k M i t t 1964, Nr. 83.

II. „ n r e Verkehrslagen"

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vorgeworfen, von seinem Vorfahrtrecht Gebrauch gemacht zu haben, obwohl er aus einer verkehrsarmen Straße kam. Er hätte, nach Meinung des Gerichts, wissen müssen, daß an dieser Kreuzung häufig die auf der verkehrsreichen Straße fahrenden Verkehrsteilnehmer durchführen, ohne auf die aus der verkehrsarmen Straße kommenden Fahrzeuge zu achten 260 . Zur Stützung seiner Ansicht, daß der Vertrauensschutz hier gegenüber der dem Angeklagten bekannten „besonderen Gefährdungslage" zurücktreten müsse, zieht das Gericht ein Urteil des Bundesgerichtshofes heran, wonach der Benutzer einer offensichtlich bedeutungslosen Nebenstraße bei der Einfahrt i n eine dem Durchgangsverkehr dienende Provinzialstraße trotz seines Vorfahrtrechts besondere Vorsicht beobachten muß 2 6 1 . Diese Rechtsprechung läßt sich jedoch nicht auf den innerstädtischen Verkehr übertragen. Es w i r d selten einmal eine innerstädtische Kreuzung von Straßen m i t gleich dichten Verkehrsströmen geben. Wollte man i n allen diesen Fällen stets eine „besondere Verkehrslage" annehmen, würde das für den Benutzer der belebteren Straße geradezu eine Aufforderung bedeuten, es m i t seinen Beobachtungspflichten hinsichtlich des kreuzenden Verkehrs nicht so genau zu nehmen. Die damit verbundene Aushöhlung des Vorfahrtrechts würde der Verkehrssicherheit auf die Dauer wenig dienlich sein 2 6 2 . Solche Konsequenzen seiner Entscheidung w i r d sich das Gericht kaum vor Augen geführt haben. Es ging ihm i n Wahrheit wohl nur darum, den Zeitpunkt, von dem an der vorfahrtberechtigte Kraftfahrer auf das Verhalten des Wartepflichtigen hätte reagieren müssen, vorzuverlegen. Offenbar wurde es als unbefriedigend empfunden, daß der Vorfahrtberechtigte erst von einem Zeitpunkt ab zur Gefahrabwendung verpflichtet sein soll, in dem es dafür i n der Regel bereits zu spät ist. Die „besondere Gefährdungslage" gerade an dieser Kreuzung eröffnete dem Gericht die willkommene Möglichkeit, die von ihm als angemessen empfundene Risikoverteilung zwischen Vorfahrtberechtigtem und Wartepflichtigem als allein durch die örtlichen Verhältnisse bedingte „Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz" darzustellen 2 6 3 . 2βο O L G Stuttgart, V e r k M i t t 1959, Nr. 120. 2βι B G H (Z), V e r k M i t t 1956, Nr. 98; vgl. heute § 8 Abs. 1 Nr. 2 StVO. 202 Abzulehnen auch O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 80; danach muß der Vorfahrtberechtigte bei der Annäherung an eine zwar nicht f ü r ihn, aber f ü r den Wartepflichtigen unübersichtliche Einmündung durch Herabsetzung seiner Geschwindigkeit einer „möglicherweise drohenden" Verletzung seiner V o r f a h r t vorbeugen; dazu unten S. 181. 203 Z u r Gewährung u n d Versagung von Vertrauensschutz auf G r u n d einer „gerechten Risikoverteilung" vgl. unten S. 182 ff.

166

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes bb) Die Schreckzeit

Eine Möglichkeit zu differenzierter Risikoverteilung — bei grundsätzlicher Bejahung des Vertrauensschutzes — bietet sich der Rechtsprechung noch, indem sie das Verhalten des von einem verkehrswidrig i n seine Fahrbahn gelangten Hindernis Überraschten daraufhin untersucht, ob ihm für seine Reaktion eine „Schreckzeit" zuzubilligen ist. Das wurde für einen Fall verneint, i n dem eine Fußgängerin bei Fußgänger-Rot einen Überweg betreten hatte und angefahren worden war. Das Gericht billigte dem Kraftfahrer zwar zu, er habe darauf vertrauen dürfen, daß bei Grün für den Fahr- und Rot für den Fußgängerquerverkehr das Wartegebot vom Fußgänger beachtet werde. Dies habe jedoch nicht zur Folge, daß dem Kraftfahrer eine Schreckzeit zugebilligt werden könne, wenn dennoch eine Fußgängerin die Fahrbahn überschreite, „denn man dürfe sich durch Derartiges nicht erschrecken lassen" 264 . Wer eine bevorrechtigte Bundesstraße außerhalb geschlossener Ortschaften befährt, ist nicht verpflichtet, sofort nach dem Abblenden seine Geschwindigkeit der Reichweite des Abblendlichtes anzupassen, auch nicht wenn innerhalb der vorher ausgeleuchteten Strecke eine untergeordnete Seitenstraße i n die Bundesstraße einmündet. Denn auf gekennzeichneten Vorfahrtstraßen außerhalb geschlossener Ortschaften darf der Benutzer der Vorfahrtstraße „ i n erhöhtem Maße" auf das Unterbleiben von Vorfahrtverletzungen vertrauen. Wenn der Vorfahrtberechtigte jedoch seine Geschwindigkeit der Reichweite seines A b blendlichtes (noch) nicht angepaßt hat, muß er an die Einmündung dieser untergeordneten Seitenstraße m i t „erhöhter Bremsbereitschaft" heranfahren. Fährt ein für ihn zunächst nicht sichtbarer Wartepflichtiger unter Verletzung der Vorfahrt aus der Seitenstraße i n die Bundesstraße ein, steht dem Vorfahrtberechtigten keine Schreckzeit zu 2 6 5 . Eine Schreckzeit hat dagegen der Bundesgerichtshof einem K r a f t fahrer zugebilligt, dem ein vorher verdeckter Fußgänger plötzlich vor den Wagen getreten war, weil es sich hier u m eine plötzlich und unerwartet eingetretene Gefahr gehandelt habe 2 6 6 . Anders ist die Sachlage jedoch zu beurteilen, wenn der Kraftfahrer Fußgänger auf der Straße sieht, die auf sein Warnzeichen h i n „Unschlüssigkeit" zeigen. 2β4 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1973, Nr. 98 unter Berufung auf BGH, V e r k M i t t 1964, Nr. 83. 265 BayObLG, V e r k M i t t 1965, Nr. 45. 266 B G H (Z), VersR 1962, 164; vgl. auch K G , V e r k M i t t 1976, Nr. 76 u n d O L G F r a n k f u r t / M a i n , V e r k M i t t 1976, Nr. 89: „Ergreift ein Kraftfahrer, der unverschuldet i n Gefahr, Schrecken u n d Bestürzung geraten ist, i n der i h m zur Abwendung oder M i n d e r u n g der Gefahr verbleibenden kürzesten Frist eine falsche Maßnahme, so k a n n i h m Fahrlässigkeit i n der Regel nicht v o r geworfen werden."

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

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Von diesem Zeitpunkt an kann er nicht mehr m i t ordnungsgemäßem Verhalten der Fußgänger rechnen, es steht ihm also auch keine Schreckzeit zu 2 6 7 . Die Zubilligung oder Versagung einer Schreckzeit erweist sich dam i t für die Rechtsprechung als ein Mittel, die Verantwortlichkeit eines Verkehrsteilnehmers für einen Unfall zu verneinen oder zu bejahen, ohne sich i m einzelnen m i t Problemen des Vertrauensschutzes auseinandersetzen zu müssen. Der Vertrauensschutz reicht eben nicht weiter als bis zu dem Zeitpunkt, von dem an der Geschützte hätte reagieren müssen. T u t er dies nicht, verhält er sich von diesem Augenblick an selbst verkehrswidrig und verliert damit den Anspruch auf Vertrauensschutz 268 . 6. Kein Vertrauensschutz gegenüber „typischen Verkehrswidrigkeiten"

Der Vertrauensschutz findet allgemeiner Ansicht nach dort seine Grenze, wo m i t „typischen Verkehrswidrigkeiten" gerechnet werden muß, also m i t Verkehrsverstößen, die so häufig sind, daß auf ihr Unterbleiben nicht vertraut werden kann 2 6 9 . a) Die „Verkehrs-

und Lebenserfahrung"

Ob eine Verkehrswidrigkeit so häufig ist, daß sie als „typisch" angesehen werden kann, bestimmt die Rechtsprechung nun allerdings nicht aufgrund von nachprüfbaren, etwa der Unfallstatistik entnommenen Kriterien. Sie stützt sich vielmehr dabei auf so wenig eindeutige Begriffe wie die „allgemeine Verkehrserfahrung" bzw. die „Le267 BGH, V e r k M i t t 1956, Nr. 24. 268 Anders bemißt sich die Schreckzeit, w e n n es nicht — w i e hier — u m die Reaktion auf fremdes verkehrswidriges Verhalten geht, sondern w e n n plötzlich am Kraftfahrzeug Betriebsstörungen auftauchen, vgl. O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1977, Nr. 56: „Der Schreck rührte hier nicht von einem unvermutet eintretenden V e r kehrsereignis oder einem plötzlich auftauchenden Hindernis auf der F a h r bahn her, was wegen der i m Stadtverkehr erforderlichen gesteigerten A u f merksamkeit unter Umständen zum Wegfall oder zur A b k ü r z u n g der Schreckzeit führen kann. . . . Das i n Betracht kommende Erschrecken des Betroffenen hat vielmehr seine Ursache darin, daß die vermeintlich mühelose Reaktion auf das Ampelzeichen durch plötzliches Bremsversagen mißlang. Die hierdurch ausgelöste Bestürzung eines Kraftfahrers, der seinen Wagen ohne großes Nachdenken routinemäßig zu beherrschen gewohnt ist, greift tiefer u n d w i r k t anhaltender als der Schrecken über eine plötzlich gefährliche Verkehrslage. . . . Während bei der letzteren i n der Regel die automatische Handlungsabfolge weiterläuft oder doch alsbald wieder einsetzt, muß der K r a f t f a h r e r bei plötzlichem Bremsversagen erst durch überlegtes Ausweichen auf andere Möglichkeiten reagieren." 269 Cramer , StVO, Rz.44 zu § 1 StVO; Mühlhaus, StVO, A n m . 4 b ) zu § 1 StVO; Jagusch, Rz. 23 zu § 1 StVO; B G H S t 13, 169 (173); aus neuerer Zeit vgl. O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1978, Nr. 50; a. A. Gülde, Verkehrssicherheit, S. 261; vgl. auch Stratenwerth, Arbeitsteilung, S. 392 f.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

benserfahrung". Daß diese beiden Begriffe austauschbar sind, zeigt sich i n einem Urteil des O L G Hamburg, das vom Kraftfahrer verlangt, an Fußgängerüberwegen stets auf verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern gefaßt zu sein. Es heißt dort: „ H i e r b e i h a n d e l t es sich u m eine Verhaltensweise, m i t der nach der allgemeinen V e r k e h r s e r f a h r u n g zu rechnen ist . . . u n d die n i c h t außerhalb der gewöhnlichen E r f a h r u n g des Lebens l i e g t . . . , also u m eine »typische V e r k e h r s w i d r i g k e i t 1 , m i t der zu rechnen e i n K r a f t f a h r e r i m großstädtischen V e r k e h r b e i verständiger W ü r d i g u n g a l l e r gegebenen Umstände t r i f t i g e Veranlassung hat 2 70."

Durch die Verquickung von positiven („nach der allgemeinen Verkehrserfahrung") und negativen („nicht außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung des Lebens") Definitionselementen w i r d ein kaum übersehbarer Bereich abgesteckt 271 . Zum Schluß verwendet dann das Gericht noch die altehrwürdige Formel des Reichsgerichts von den Verkehrswidrigkeiten, m i t denen zu rechnen der Kraftfahrer „bei verständiger Überlegung aller gegebenen Umstände triftige Veranlassung hat"272. Damit bewegt sich das Gericht wieder auf vertrautem Boden; es ist bewiesen, was zu beweisen war. Allerdings besteht die Gefahr, daß die Rechtsprechung es sich auf diese Weise m i t der Annahme einer „typischen Verkehrswidrigkeit" zu leicht macht und darüber die vorrangige Frage außer acht läßt, ob sich die Versagung des Vertrauensschutzes nicht schon aus anderen Gründen, beispielsweise aufgrund deutlich zutage getretenen fremden oder eigenen Fehlverhaltens, herleiten läßt. Das soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden. aa) „Typische Verkehrswidrigkeiten" und erkennbar verkehrswidriges Verhalten Dritter Es mag richtig sein, daß „ i n einer sehr großen Z a h l v o n Fällen, w i e j e d e r erfahrene K r a f t f a h r e r weiß, a m Ortsbeginn u n d Ortsende i n der Nähe des Ortsschildes unzulässigerweise m i t höherer Geschwindigkeit ü b e r h o l t w i r d u n d m a n sich d a r a u f einstellen muß" 2 ™. 270 O L G H a m b u r g (Z), V e r k M i t t 1961, N r . 10. 271 Ä h n l i c h schon R G , J W 1936, 425, N r . 13: „ D e r K r a f t f a h r e r m u ß n u r m i t solchen Unbesonnenheiten rechnen, die nicht außerhalb der allgemeinen E r f a h r u n g liegen, also nach der allgemeinen E r f a h r u n g e r w a r t e t w e r d e n können." 272 Vgl. R G S t 70, 71 (74); Martin (Straßenverkehrsrecht, S. 166) h a t t e dies U r t e i l u . a . deshalb begrüßt, w e i l es den „ n i c h t ganz eindeutigen" B e g r i f f der „ L e b e n s e r f a h r u n g " vermeide u n d stattdessen auf die Verhältnisse der j e w e i l i g e n Verkehrslage abstelle. W i e das eben zitierte U r t e i l des O L G H a m b u r g deutlich macht, sieht die Rechtsprechung h i e r jedoch offenbar k e i n e n Unterschied. 273 O L G Schleswig, V e r k M i t t 1966, N r . 49.

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

169

Wenn das Gericht aber meint, aus eben diesem Grunde hätte der Angeklagte vor dem Fahrbahnwechsel nach links gehörig prüfen müssen, ob er keinen m i t mehr als 50 k m / h herannahenden Verkehrsteilnehmer gefährde, so begegnet dies Bedenken. Die Pflicht des nach links Ausscherenden, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten (vgl. heute § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO) besteht unabhängig davon, ob er sich am Ortsrand oder i m Ortskern befindet und ob er selbst schon m i t der zulässigen Höchstgeschwindigkeit fährt oder nicht. Ebensowenig ist von Interesse, ob der Verstoß eines Lastzugführers gegen ein an bestimmter Stelle der Autobahn bestehendes L k w Überholverbot „außerhalb der allgemeinen Verkehrserfahrung" liegt oder nicht 2 7 4 . Vorher hätte nämlich geprüft werden müssen, ob die verkehrswidrige Fahrweise des Lastzugführers von anderen gleichfalls zum Überholen ansetzenden Kraftfahrern durch einen Blick i n den Rückspiegel hätte erkannt werden können. Ein anderes Urteil versagt dem vorausfahrenden Kraftfahrer, der unter Verstoß gegen § 1 StVO 1937 (heute §4 Abs. 1 Satz 2 StVO) plötzlich ohne zwingenden Grund angehalten und dadurch einen A u f fahrunfall verursacht hatte, den Vertrauensschutz m i t der Begründung, es gehöre zu den „typischen Verkehrswidrigkeiten", daß ein Nachfolgender keinen genügenden Sicherheitsabstand einhalte 2 7 5 . Dabei kam hier ein „Vertrauensschutz" schon deshalb nicht infrage, weil sich der vorausfahrende Kraftfahrer durch sein unvermitteltes, aufgrund der Verkehrslage nicht gebotenes Bremsen selbst verkehrswidrig verhalten hatte. Allenfalls wäre noch zu erörtern gewesen, ob es für den Bremsenden vorhersehbar war, daß der Hintermann sein Fahrzeug nicht mehr rechtzeitig werde zum Halten bringen können 2 7 6 . bb) „Typische Verkehrswidrigkeiten" und Sichtfahrgebot Die umgekehrte Frage, ob nämlich i n einer Fahrzeugschlange der Hintermann m i t plötzlichem Bremsen des Vorausfahrenden rechnen muß, hat die Rechtsprechung ebenfalls m i t dem Begriff der „ t y p i schen Verkehrswidrigkeit" zu klären versucht. Die Frage wurde bejaht, da es beim Kolonnenfahren durch verkehrswidriges Verhalten Dritter „erfahrungsgemäß" sehr leicht zu unerwarteten Behinderungen des Verkehrs und zu Auffahrunfällen komme. Demzufolge wurde ein Kraftfahrer verurteilt, der den plötzlichen Stopp einer vor i h m fahrenden Fahrzeugkolonne infolge von Unachtsamkeit zu spät bemerkt 274 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1965, Nr. 108. 275 BayObLG, V e r k M i t t 1964, Nr. 122. 27β Dazu oben S. 123 f.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

hatte und auf einen bereits zum Halten gekommenen Wagen aufgefahren w a r 2 7 7 . Auch i n diesem Urteil bestand kein Anlaß zur Annahme einer „ t y pischen Verkehrs Widrigkeit", denn das Fehlverhalten des Angeklagten lag klar zutage. Der Begriff paßt darüber hinaus überhaupt nicht in diesen Zusammenhang, denn für das unvermutete Stocken einer Kolonne lassen sich viele Ursachen denken, die nicht auf dem verkehrswidrigen Verhalten dritter Personen beruhen müssen, ζ. B. plötzliches Umspringen einer Ampel, unvermutete Hindernisse auf der Fahrbahn usw. Die Pflicht, sich beim Fahren i n der Kolonne auf deren plötzliches Stocken einzurichten, ergibt sich daraus, daß jeder Fahrer i n der Regel nur die Strecke bis zu seinem Vordermann als frei erkennen kann, beruht also auf dem Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 Satz 3 StVO und nicht auf Erfahrungssätzen über „typische Verkehrswidrigkeiten" 2 7 8 . Anders wäre es, wenn i n dem geschilderten Fall der Bremsweg des vorausfahrenden — und damit auch des nachfahrenden — Wagens dadurch verkürzt worden wäre, daß dessen Fahrer infolge eigener Unachtsamkeit oder zu geringen Abstandes auf seinen Vordermann aufgefahren war. Dann könnte die Frage geprüft werden, ob nicht das Einhalten eines zu geringen Abstandes beim Kolonnenfahren eine „typische Verkehrswidrigkeit" darstellt und jeder Fahrer bei der Bemessung seines Abstandes zum Vordermann dies einzukalkulieren hat 2 7 9 . cc) „Typische Verkehrswidrigkeiten" — Einzelfälle Weitere Beispiele für die Annahme „typischer Verkehrswidrigkeiten" aufgrund von „Erfahrungssätzen" sind: Z u schnelles Fahren innerhalb geschlossener Ortschaften zu verkehrsarmen Zeiten 2 8 0 , bei Dunkelheit 2 8 1 oder strömendem Regen 282 , das Schneiden von Linkskurven durch entgegenkommende Fahrzeuge 283 , unzulässiges Uberholen eines Linksabbiegers durch nachfolgende Verkehrsteilnehmer 2 8 4 , Vor277 O L G Schleswig, V e r k M i t t 1964, Nr. 51 : „Der Vertrauensgrundsatz greift bei allen Verkehrslagen nicht ein, für die bestimmte Regelwidrigkeiten typisch u n d so häufig sind, daß erfahrungsgemäß m i t i h r e m Eintreten zu rechnen ist. Eine derartige durch bestimmte Verkehrsverstöße gekennzeichnete Verkehrssituation ist das Fahren i n einer Fahrzeugschlange." 278 v g l . den Beschluß der Vereinigten Großen Senate zum Sichtfahrgebot auf Autobahnen (BGHSt 16, 145 [148]). 279 Dazu O L G K ö l n , V e r k M i t t 1963, Nr. 145 und oben S. 109. 280 O L G Hamm, V e r k M i t t 1964, Nr. 21. 281 B G H (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 29; B G H , V e r k M i t t 1968, Nr. 96. 282 BayObLG, V e r k M i t t 1964, Nr. 4. 283 BGH, V e r k M i t t 1965, Nr. 133. 284 B G H S t 21, 91.

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

171

fahrtverletzungen durch den durchfahrenden Verkehr an sog. T-Einmündungen 2 8 5 , Nichtabgabe von Richtungszeichen an Kreuzungen m i t abknickender Vorfahrt 2 8 6 . Es findet sich in der Rechtsprechung gelegentlich sogar die Umkehrung der für die Annahme einer „typischen Verkehrswidrigkeit" geforderten Voraussetzungen: Nicht mehr die Häufigkeit bestimmter Verkehrsverstöße, sondern schon die Tatsache, daß ein Rechtssatz nicht „Allgemeingut der Verkehrsteilnehmer" ist, soll das Vertrauen auf seine Beachtung ausschließen 287 . Recht häufig beruft sich die Rechtsprechung auch auf „Erfahrungssätze" wenn es u m das Verhalten gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern geht. So muß der Führer eines Lastzuges, der nach rechts abbiegen w i l l und m i t eingeschaltetem rechtem Fahrtrichtungsanzeiger vor einem für ihn roten Lichtzeichen „nicht unmittelbar am rechten Fahrbahnrand" wartet, damit rechnen, daß ein Radfahrer ihn vorschriftswidrig rechts überholen wird, denn solche Verkehrswidrigkeiten „sind täglich zu beobachten" 288 . Wer mehrere jugendliche Radfahrer überholen will, muß sich nach der „Lebenserfahrung" darauf gefaßt machen, daß sie einander zu überholen versuchen und dabei zu Unbesonnenheiten neigen 2 8 9 . Als „Erfahrungstatsache" w i r d auch angesehen, daß Fußgänger sich häufig schon dann, wenn sie i n größeren Mengen auftreten, leichtsinnig verhalten und auf den Straßenverkehr nicht die gebührende Rücksicht nehmen 2 9 0 . So muß ein Kraftfahrer m i t unachtsamem Überschreiten der Fahrbahn rechnen, wenn er bemerkt, daß Fußgänger auf beiden Bürgersteigen nur auf das Umspringen der Fußgängerampel warten, u m ihren Weg fortzusetzen. „Denn dann liegt es f ü r einen aufmerksamen Kraftfahrer handgreiflich nahe, daß mindestens einige Fußgänger . . . keine Gefahr durch den Querverkehr mehr vermuten werden, w e n n sie unbesehen die Fahrbahn betreten. Jede andere Betrachtungsweise ginge an der täglichen Verkehrserfahrung vorbei u n d würde die Gefahr von Unfällen m i t schweren u n d schwersten 285 BayObLG, V e r k M i t t 1960, Nr. 68. 286 BayObLG, V e r k M i t t 1975, Nr. 53; anders an „normalen" Kreuzungen, O L G Celle, V e r k M i t t 1971, Nr. 88. 287 BayObLG, V e r k M i t t 1967, Nr. 94; eine andere Auffassung hält das Gericht f ü r unvereinbar „ m i t der i n diesem Zusammenhang bedeutungsvollen Verkehrswirklichkeit". 288 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1970, Nr. 107; vgl. aber O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1966, Nr. 14 f ü r einen Fall, i n dem der Abstand des Lastkraftwagens zur rechten Fahrbahnbegrenzung n u r 70 cm betrug: „Die Lücke w a r so schmal, daß die Einfahrt u n d Durchfahrt eines Radfahrers i n hohem Maße gefährlich u n d nach dem Vertrauensgrundsatz nicht zu erwarten war." 289 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1965, Nr. 151. 290 O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 117.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Folgen i n unerträglicher Weise erhöhen, die i m Interesse der Verkehrssicherheit nicht hingenommen werden könnteSöi."

Verkehrswidriges Verhalten von Fußgängern beruht jedoch nicht nur auf Leichtsinn oder Unachtsamkeit. Es entspricht „ständiger Verkehrserfahrung", daß ein Fußgänger als „schwächerer Verkehrsteilnehmer" i n wirklicher oder vermeintlicher Gefahr unsicher und unüberlegt etwas Falsches t u t 2 9 2 , und der Bundesgerichtshof meint sogar generell, bei Fußgängern könne „vernünftiges Verhalten i m Verkehr erfahrungsgemäß nicht immer vorausgesetzt werden" 2 9 3 . Immer wieder stützt sich die Rechtsprechung auf die „Lebenserfahrung" wenn es darum geht, den Kraftfahrer zu besonderer Vorsicht auch noch gegenüber größeren Kindern anzuhalten 294 . So ist es eine „Erfahrungstatsache und eine häufige Unfallursache", daß Kinder i m A l t e r von 8 - 1 0 Jahren i n Überschätzung ihrer eigenen Kräfte oder auch aus einem gewissen Anlehnungsgefühl heraus einem anderen Verkehrsteilnehmer, sei er Radfahrer oder Pkw-Fahrer, beim Überqueren einer Fahrbahn oder beim Linksabbiegen folgen, ohne sich zu fragen, ob sie auch imstande sein werden, die Straße ungefährdet zu überqueren 295 . Ist an einer weiträumigen Kreuzung keine der vorhandenen Lichtzeichenanlagen i n Betrieb, so ist es eine i n Rechnung zu stellende „Erfahrungstatsache", daß ein am Fahrbahnrand stehender achtjähriger Junge selbst dann i n unvorschriftsmäßiger Weise die Fahrbahn überqueren wird, wenn er i n Richtung des herankommenden Fahrzeugs blickt 2 9 6 . Steigen acht- bis neunjährige Schulkinder aus einem Schulbus aus oder i n diesen hinein, so muß ein Kraftfahrer m i t unüberlegtem Verkehrsverhalten einzelner Kinder rechnen und seine Fahrweise darauf einstellen. Denn es entspricht der „Lebenserfahrung", daß Schulkinder nicht nur dann ihrem natürlichen Spieltrieb und Betätigungsdrang leicht nachgeben, wenn sie längere Zeit i n der Schule oder auch nur i m Schulomnibus still sitzen mußten, sondern daß allein schon das Zusammentreffen gleichaltriger Schulkinder m i t ihren Klassenkameraden Anlaß zu lebhaften Spielen, zum Greifen und Jagen bietet, wobei die Beachtung des Straßenverkehrs sehr schnell vergessen w i r d 2 9 7 . 2»i O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 96. 202 O L G Hamburg, V e r k M i t t 1966, Nr. 51. 293 B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 62. 294 Die altersmäßige Abgrenzung zwischen K l e i n k i n d , bei dem stets m i t unüberlegtem Handeln geredinet werden muß, u n d größerem K i n d , von dem Verkehrstorheiten n u r zu erwarten sind, w e n n sein Verhalten auf oder an der Straße darauf hinweist, ist streitig. Üblicherweise w i r d die Grenze bei etwa 7 Jahren gezogen; vgl. dazu i m einzelnen unten S. 246 ff. 295 B G H (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 56. 296 O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 97.

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

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Der „Lebenserfahrung" folgt die Rechtsprechung auch schon einmal entgegen dem Gutachten eines Sachverständigen. So wurde die Verurteilung eines Kraftfahrers, der seine Geschwindigkeit nicht ermäßigt hatte, als er auf dem Gehweg ein Öjähriges, möglicherweise unaufmerksames K i n d erblickte, i m Revisionsverfahren bestätigt. Ein i m Strafverfahren erstattetes Gutachten, wonach von einem K i n d dieses Alters erwartet werden dürfe, daß es sich vor dem Überqueren einer Straße erst umsehe und nicht blindlings loslaufe, hielt das Gericht für unbeachtlich, denn „hier handelt es sich weniger u m eine Frage des psychiatrischen Fachwissens als vielmehr u m eine Frage der Lebenserfahrung, m i t der unter den hier gegebenen Umständen die Meinung des Gutachters nicht i n E i n k l a n g steht"*»».

dd) „Typische Verkehrswidrigkeiten" und die „zunehmende Verkehrserziehung" Die angeführten Beispiele zeigen wohl zur Genüge, daß die Rechtsprechung nicht gerade zimperlich ist, wenn es darum geht, die Versagung des Vertrauensschutzes m i t der „Lebenserfahrung" zu begründen. Dabei muß sie notgedrungen i n Kauf nehmen, daß eine von ihr manchmal recht apodiktisch statuierte „Verkehrs- oder Lebenserfahrung" sich plötzlich als der Rechtsfortbildung hinderlich erweist und daher „hinwegdisputiert" werden muß. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des Verkehrsstrafsenats vom 17. September 1958, wonach der Kraftfahrer nicht damit zu rechnen braucht, daß ein m i t Abblendlicht Entgegenkommender vorzeitig aufblendet 2 9 9 . Noch vor wenig mehr als einem Jahr, am 11. J u l i 1957, hatte derselbe Senat anders entschieden, da es immer wieder zu beobachten sei, daß bei Nacht Kraftfahrer, die m i t Abblendlicht führen, vor einem ihnen begegnenden Fahrzeug plötzlich aufblendeten und dessen Fahrer dadurch erheblich störten oder gefährdeten 300 . Die Abkehr von dieser seiner früheren Rechtsprechung begründet der Senat jetzt wie folgt: „Das verkehrswidrige Aufblenden ist . . . nicht mehr so häufig, daß v o n jedem Fahrer verlangt werden könnte, m i t einem solchen Verstoß zu rechnen. Die Regel bildet erfahrungsgemäß, jedenfalls seit einiger Zeit infolge der zunehmenden Verkehrserziehung, daß der K r a f t f a h r e r m i t dem Aufblenden wartet, bis er an dem Gegenfahrzeug vorbeigefahren i s t 8 0 1 . " 2»7 O L G Stuttgart, V e r k M i t t 1972, Nr. 61; ähnlich O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1961, Nr. 39; vgl. auch O L G K ö l n , V e r k M i t t 1969, Nr. 10: „Es ist eine Erfahrungstatsache, daß ein K i n d häufig m i t anderen K i n d e r n zusammen spielt u n d daß ein K i n d oft n u r der »Vorläufer 1 f ü r weitere K i n d e r ist." 298 B G H (Z), V e r k M i t t 1968, Nr. 100. 299 B G H S t 12, 81. 300 B G H , V e r k M i t t 1958, Nr. 12, unter Berufung auf B G H S t 1, 309. soi B G H , a.a.O. (BGHSt 12, 81 [83]).

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Die hier bemühte „zunehmende Verkehrserziehung" hat der Senat auch i n seinem Beschluß vom 6. A p r i l 1960 herangezogen, m i t dem er den Linksabbieger von der Pflicht zur nochmaligen Rückschau unmittelbar vor dem Linksabbiegen freistellte. Eine solche Pflicht vertrug sich nicht m i t der vom Senat „schon i n anderer Hinsicht mehrfach ausgesprochenen Erweiterung des Vertrauensgrundsatzes . . . die ihre Rechtfertigung i n der allgemeinen Besserung der Verkehrserziehung f i n d e t " 3 0 2 .

Der Versuch, einen nach links abbiegenden Fahrzeugführer, der zur Mitte eingeordnet fahre und sich unter Anzeige seiner Abbiegeabsicht langsam auf die einmündende Straße zu bewege noch i m letzten A u genblick vorschriftswidrig links zu überholen, war nach Ansicht des Senats zum Zeitpunkt des Beschlusses schon „selten geworden". I n den folgenden Jahren muß sich die Verkehrsmoral verschlechtert haben, denn m i t Beschluß vom 20. J u l i 1966 hat der Senat diese Rechtsprechung wieder aufgegeben. Es heißt dort: „ M i t Recht ist bezweifelt worden, daß die v o n dem Senat vorausgesetzte Verkehrserziehung unter den K r a f t f a h r e r n w i r k l i c h vorhanden ist . . . T a t sächlich läßt sich auch heute noch häufig beobachten, daß schnelle F a h r zeugführer die Fahrt verlangsamung eines sich vor ihnen an der Straßenm i t t e m i t Richtungsanzeige nach links bewegenden Fahrzeugs benutzen, u m es noch eilig links zu überholen . . . 8 0 3 . " b) Die Kritik

Jaguschs

an der

Rechtsprechung

Eine so schwankende Rechtsprechung muß naturgemäß auf K r i t i k stoßen. Jagusch w i r f t ihr vor, sie sei nicht „folgerichtig". Je häufiger gewisse Verkehrsverstöße vorkämen, desto weniger erlaube sie i m Prinzip die Berufung auf den „Vertrauensgrundsatz", ohne jedoch die notwendigen Ausnahmen „immer" an der Häufigkeit des Verstoßes zu messen. So unterstütze sie immer noch das Vertrauen des Vorfahrtberechtigten trotz häufiger Wartepflichtverletzungen 304 , halte andererseits jedoch das Vertrauen auf hindernisfreie Fahrbahn trotz recht seltener Fahrbahnhindernisse für unbeachtlich 305 . Nach Jaguschs Ansicht müßte „die Kasuistik des Vertrauensgrundsatzes . . . m i t einer fachgerechten Stat i s t i k der Ursachenhäufigkeit ü b e r e i n s t i m m e n " 3 0 6 . 302 B G H S t 14, 201 (210 f.). 3°3 B G H S t 21, 91. 3°4 B G H S t 7, 118. 305 B G H S t 16, 145. 3 °6 Jagusch, 22. Aufl., Rz. 20 zu § 1 StVO; seit der 23. Auflage ist zwar der Hinweis auf die „fachgerechte Statistik" weggelassen. Es heißt jetzt an der betreffenden Stelle: „Die Kasuistik des Vertrauensgrundsatzes sollte jedoch m i t der Ursachenhäufigkeit übereinstimmen." Sachlich bedeutet dies aber

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

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Diese Auffassung hat auf den ersten Blick einiges für sich. M i t ihrer Hilfe, so scheint es, könnte der schwankende Boden der „Verkehrsund Lebenserfahrung" verlassen und der Bereich des Vertrauensschutzes mittels i m einzelnen nachprüfbarer Kriterien bestimmt werden. Der von Jagusch vertretenen Ansicht kann dennoch nicht gefolgt werden, ohne daß es eines Eingehens auf die Schwierigkeiten bedarf, welchen die Erstellung einer i n diesem Sinne „fachgerechten" Statistik der Unfallursachen begegnen würde. Eine dermaßen aufgebaute „Kasuistik des Vertrauensgrundsatzes" würde geradewegs bewirken, was Lange die „Züchtung des Rechthabers" nennt 3 0 7 . Wenn die Rechtsprechung zum Vertrauensschutz nämlich auf diese Weise „durchsichtig" gemacht werden soll, so kann das nur bedeuten, daß dieser nun w i r k lich i n Form eines festen „Grundsatzes" dem Verkehrsteilnehmer als Richtschnur seines Verhaltens zu dienen hätte. Ein solcher Vertrauens„Grundsatz" würde damit i n der Tat zu einem „Fundament des Verkehrsrechts" 808 , jedoch i m Sinne einer starren Regelung, die dem Verkehrsteilnehmer i n bestimmten Situationen von vornherein entweder Recht oder Unrecht gibt. Es darf dann nicht wundernehmen, wenn der Verkehrsteilnehmer auf „sein gutes Recht" pocht und dies unter allen Umständen durchzusetzen gewillt ist. Ein weiterer Einwand wiegt jedoch noch schwerer: Auch dem „ U n rechthaber" würde ein solcher Vertrauens-„Grundsatz" zugutekommen. Eine Rechtsprechung, welche die Versagung des Vertrauensschutzes nur nach der Häufigkeit bestimmter Übertretungen bemessen dürfte, erkennt damit auf dem Gebiet des Straßenverkehrsrechts an, daß das Recht dem Unrecht grundsätzlich zu weichen hat. Die Rechtsprechung begäbe sich damit jeder Möglichkeit, auf den Verkehrsteilnehmer erw o h l keinen Unterschied, denn w i e w i l l m a n die „Ursachenhäufigkeit" von Verkehrsunfällen ohne sachgerechte statistische Erhebungen feststellen? A n anderer Stelle (Rz. 49 zu § 8 StVO) führte Jagusch bis zur 23. Auflage aus: „ O b w o h l Vorfahrt Verletzungen häufige u n d gefährliche Unfallursachen sind . . . u n d die Rechtsprechung anerkennt, daß typische (häufige) Verstöße den Vertrauensgrundsatz ausschließen, w i r d diese Folgerung bei der V o r fahrt, offenbar aus Gründen der Verkehrsflüssigkeit, nicht i m m e r gezogen . . . Die gegenteilige Beurteilung mag zu Schwierigkeiten führen, doch ist die jetzige inkonsequent." I n der 24. Auflage heißt es an derselben Stelle n u r noch: „Vorfahrtverletzungen sind häufig u n d oft folgenreich . . . Der V e r trauensgrundsatz spielt deshalb eine besondere Rolle . . . I m Zweifel ist rücksichtsvolles Zurückstehen geboten." Auch Jakobs (Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, S. 89, A n m . 170) sieht i m „Vertrauensgrundsatz" ein „statistisches Problem" u n d spricht sich daher f ü r seine Aufhebung i n Situationen aus, „ i n denen der andere die Gefahrenquelle beherrschen k a n n u n d soll, erfahrungsgemäß aber häufig nicht beherrschen w i r d " . 3 °7 Lange, Defensives Fahren, S. 179. 308 Mühlhaus, Defensives Fahren, S. 92.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

zieherisch einzuwirken 3 0 0 . Jagusch erkennt zutreffend, daß eine Entscheidung wie der Beschluß der Vereinigten Großen Senate zum Vorfahrtrecht 3 1 0 unter den von i h m befürworteten Voraussetzungen unmöglich wäre — die „Einstellung der Fahrpraxis auf den Verkehrssünder" 3 1 1 wäre damit auf dem Gebiet der Vorfahrt perfekt. Wahrscheinlicher ist es allerdings, daß die Auswertung der Unfallstatistik zu neuer Kasuistik führen würde: Die Rechtsprechung würde zu unterscheiden haben zwischen der Vorfahrt an einer Kreuzung m i t und ohne vorfahrtregelnde Zeichen, an einer Kreuzung m i t Ampelschaltung, an inner- oder außerörtlichen Kreuzungen, usw. 3 1 2 . Die von Jagusch angestrebte Klarheit würde damit i n i h r Gegenteil verkehrt, es bestünde die Gefahr, daß sich der Kraftfahrer auf die i h n am wenigsten belastende Regelung auch i n Verkehrssituationen beriefe, die ganz anders gelagert sind31®. Die dem vorfahrtberechtigten oder sonstwie m i t Vorrang ausgestatteten Kraftfahrer entstehenden Belastungen würden auch nicht dadurch aufgewogen, daß er nach der Auffassung Jaguschs nicht mehr m i t seiner Sicht entzogenen Hindernissen auf der Fahrbahn zu rechnen brauchte. Dabei kann wieder davon abgesehen werden, daß wahrscheinlich auch hier zwischen städtischen Straßen, Dorfstraßen, Landstraßen und Autobahnen zu unterscheiden wäre und so eine generelle Regelung erschwert würde. Schon i m eigenen Interesse muß der K r a f t fahrer auf Autobahnen jederzeit m i t solchen Hindernissen rechnen. Die Vereinigten Großen Senate weisen i n ihrem Beschluß zum Sichtfahrgebot auf Autobahnen m i t Recht darauf hin, daß sich infolge U n falls oder Betriebsschadens liegengebliebene Fahrzeuge, verunglückte Menschen oder herabgefallenes Ladegut auf der Autobahn befinden können. Der Vertrauensschutz kann sich jedoch, wie immer wieder zu betonen ist 3 1 4 , nur auf das Unterbleiben verkehrswidrigen Verhaltens beziehen, nicht jedoch darauf, daß jenseits des Sichtbereichs die gleichen Verkehrsverhältnisse angetroffen werden wie innerhalb desselben. so® Z u dieser Aufgabe der Rechtsprechung vgl. O L G K ö l n , V e r k M i t t 1976, N r . 2 6 : „ E i n verkehrswidriges Verhalten . . . w i r d nicht dadurch rechtmäßig, daß a u d i andere . . . die Vorschrift verletzen. I n einem derartigen F a l l ist es vielmehr Aufgabe der Gerichte u n d der m i t der Verkehrserziehung befaßten Institutionen, auf eine Beachtung der Verkehrsregel hinzuwirken." 310 B G H S t 7, 118. su Ebenda, S. 125. 312 Ä h n l i c h schon Siemens; vgl. oben S. 50 f. 313 Vgl. B G H S t 16, 145 (151): Die Vereinigten Großen Senate hatten eine Durchbrechung des Sichtfahrgebots auf Autobahnen u. a. deshalb abgelehnt, w e i l diese Regel damit der Gefahr der Mißdeutung u n d Mißachtung auf anderen Verkehrswegen ausgesetzt sei. 314 Vgl. oben S. 79.

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

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Die Tatsache, daß solche Unfälle i m Autobahnverkehr glücklicherweise selten sind, w i r d aufgewogen durch die meist schwereren Folgen von Auffahrunfällen auf Autobahnen, aus denen sich zudem leicht Kettenunfälle entwickeln können. Schwere und schwerste Unfälle müssen aber unter allen Umständen bekämpft werden, auch wenn sie verhältnismäßig selten sein sollten 3 1 6 . Aus alledem ergibt sich, daß die Rechtsprechung nicht auf den gezielten — das heißt verkehrserzieherisch wirkenden — Einsatz des Vertrauensschutzes verzichten kann, w i l l sie die „Hebung der Verkehrsgesittung" 3 1 6 bewirken. Sie w i r d jedesmal abzuwägen haben, ob der Verkehrssicherheit besser gedient ist, wenn i n bestimmten „erfahrungsgemäß" häufig zu Unfällen führenden Situationen der Vertrauensschutz versagt wird, oder ob an i h m festzuhalten ist, u m nicht die Grenze zwischen Recht und Unrecht zu verwischen. Wie ein solches Abwägen zu geschehen hat, soll zunächst an einigen Entscheidungen verdeutlicht werden, die sich m i t der Frage beschäftigen, inwieweit auf die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften vertraut werden darf (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO). c) „Typische Verkehrswidrigkeiten" und der „Kernbereich" der Verkehrsordnung

aa) Vertrauensschutz und 50 km/h-Grenze Wer i n geschlossenen Ortschaften schneller als m i t 50 km/h fährt, handelt verkehrswidrig und verdient daher keinen Vertrauensschutz 317 . Es fragt sich nur, ob die übrigen Verkehrsteilnehmer jederzeit auf Geschwindigkeitsüberschreitungen gefaßt sein müssen, herannahende Fahrzeuge also solange zu beobachten haben, bis sie sich über deren Geschwindigkeit zweifelsfrei i m klaren sind, oder ob i n der Regel davon ausgegangen werden darf, daß ein herannahendes — unter Umständen auch noch nicht sichtbares — Fahrzeug die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschreitet. Das OLG Schleswig w i l l ein solches Vertrauen durchgehend schützen und nur „geringfügige" Überschreitungen der gesetzlich zugelassenen Höchstgeschwindigkeit davon ausnehmen, denn „ w o l l t e m a n den Vertrauensgrundsatz, der heute das Fundament des gesamten Verkehrs ist, wegen solcher grober vorkommender Verkehrsverstöße nicht gelten lassen, so w ü r d e m a n dadurch geradezu ermutigen, sich über die Geschwindigkeitsbegrenzung hinwegzusetzen" 3 1 8 . 3ΐδ BGH, a.a.O., S. 150. 31 « Begründung zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 800 f. 31 ? Vgl. oben S. 129 ff. 318 O L G Schleswig, V e r k M i t t 1958, Nr. 115. 12 Kirschbaum

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Schon vorsichtiger spricht der Bundesgerichtshof davon, ein die Fahrbahn überschreitender Fußgänger dürfe darauf vertrauen, „daß das von rechts sich nähernde Fahrzeug nicht, jedenfalls nicht wesentlich, schneller als m i t der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 k m / h fuhr" 319.

Das OLG K ö l n schließlich ist der Ansicht, der wartepflichtige Linksabbieger müsse i m Stadtverkehr damit rechnen, daß ein entgegenkommendes Fahrzeug die zulässige Geschwindigkeit „mäßig" überschreite. Die Grenze dessen, womit der Wartepflichtige nicht mehr zu rechnen brauche, liegt nach Auffassung des Gerichts bei Geschwindigkeitsüberschreitungen von 60 °/o und mehr 3 2 0 . Bei einer unter 60 °/o liegenden Geschwindigkeitsüberschreitung soll also i n der Regel ein Vertrauensschutz des Wartepflichtigen nicht i n Betracht kommen. I n der Urteilsanmerkung bestreitet Booß sicher zu Recht, daß i m Stadtverkehr eine Geschwindigkeitsüberschreitung um 30 km/h (80 k m / h statt 50 km/h) noch als „mäßig" bezeichnet werden könne. Unter Verkehrssicherheitsgesichtspunkten ist nach seiner A n sicht eine starre Grenze, i n Prozenten ausgedrückt, sowieso abzulehnen. I n der Tat ist da die Ansicht des OLG Schleswig zumindest konsequenter. Wenn es aus verkehrserzieherischen Gesichtspunkten das Vertrauen auf die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unter allen Umständen schützen will, mag dies allerdings gelegentlich zum Freispruch eines Verkehrsteilnehmers führen, der seiner Beobachtungspflicht nicht bis zum letzten nachgekommen ist. Glaubt man, der Verkehrssicherheit besser zu dienen, indem man die Pflicht betont, sich über die Geschwindigkeit eines herannahenden Fahrzeugs so genau wie möglich zu vergewissern, kann sich die Intensität einer solchen Beobachtungspflicht sicherlich nur nach der jeweiligen Verkehrssituation richten. Es genügt dann nicht, wie das OLG K ö l n es tut, mehr oder minder pauschal eine Einstellung auf die höchstzulässige Geschwindigkeit + 60 °/o zu fordern. Ein solcher M i t t e l wert erscheint i n fast allen Fällen zu hoch, ob er i n extremen Situationen einmal zutreffen oder sogar überschritten werden kann, mag dahinstehen. Die notwendige Differenzierung genommen werden:

könnte i n folgender Weise vor-

„Geschwindigkeitsüberschreitungen, die der Nacht eingangs einer kleinen Stadt Bundesstraße zutragen, können selbst bei den v o m Wartepflichtigen von vornherein si» B G H (Z), V e r k M i t t 1970, Nr. 89. 820 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1971, Nr. 108 m i t V e r k M i t t 1976, Nr. 131.

sich zu verkehrsarmer Zeit i n auf einer sie durchquerenden beträchtlichem Ausmaß noch zu i n Rechnung zu stellenden V e r abl. A n m . Booß; O L G F r a n k f u r t ,

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

179

kehrswidrigkeiten gehören, während eine v i e l geringere Geschwindigkeitsüberschreitung, die sich zu derselben Zeit i m K e r n einer Großstadt ereignet, schon außerhalb dessen liegen mag, worauf sich der Wartepflichtige einzustellen h a t 3 2 1 . "

Inwieweit solche m i t einer Einschränkung des Vertrauensschutzes verbundene Differenzierungen der Verkehrssicherheit dienen, ist allerdings streitig. Bockelmann beklagt i n diesem Zusammenhang einen „Mangel an Ernstlichkeit" i m Verkehrsrecht, der das strafrechtliche Risiko des einzelnen Verkehrsteilnehmers erhöhe 322 . Booß ist gerade i m Hinblick auf die 50-km/h-Grenze der Ansicht, die StVO 1970 müsse als Gegenleistung für strenge, unabdingbare und detaillierte Vorschriften i n stärkerem Maße als von der früheren Rechtsprechung zugelassen, das Vertrauen honorieren, daß diese Vorschriften — m i t geringen Toleranzgrenzen — auch eingehalten würden 3 2 3 . Ein solch strenges Festhalten am Vertrauensschutz w i r d sich jedenfalls dort empfehlen, wo es gilt, grundlegende Ordnungsprinzipien des Verkehrsrechts durchzusetzen. Schützenswert erscheint so das Vertrauen des Vorfahrtberechtigten auf Respektierung seines Vorranges durch noch nicht sichtbare wartepflichtige Verkehrsteilnehmer 3 2 4 , schützenswert das Vertrauen auf Beachtung des Rotlichts durch den kreuzenden Verkehr 3 2 6 , schützenswert das Vertrauen auf Einhaltung des Rechtsfahrgebots durch entgegenkommende Fahrzeugführer 3 2 6 , schützenswert das Vertrauen des Geradeausfahrenden gegenüber dem Linksabbieger auf ungehinderte Durchfahrt 3 2 7 , schützenswert das Vertrauen des Kraftfahrers auf verkehrsgerechtes Verhalten eines Fußgängers, der sich noch auf dem Bürgersteig befindet 328 . Ein geregelter Verkehrsfluß wäre nicht mehr möglich, wenn die Rechtsprechung nicht dem Verkehrsteilnehmer i n diesem „Kernbereich" der Verkehrsordnung Sicherheit geben würde. Hinzu kommt, daß Verstöße gegen die genannten Gebote sich i n der Regel als „besonders grobe und leicht zu vermeidende Verkehrswidrigkeiten" darstellen 3 2 9 , 821 O L G Hamm, V e r k M i t t 1969, Nr. 102; ähnlich O L G Schleswig, V e r k M i t t 1966, Nr. 49 u n d O L G Saabrücken (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 132. 322 Bockelmann, Das strafrechtliche Risiko des Verkehrsteilnehmers, N J W 1960, 1277 (1282). 323 Booß i n A n m . zu O L G Hamm, a.a.O. 324 B G H S t 7, 118.

825 BayObLG, V e r k M i t t 1968, Nr. 129; an Fußgängerüberwegen: O L G Koblenz, V e r k M i t t 1976, Nr. 16. 3 26 B G H , V e r k M i t t 1963, Nr. 5; O L G Saarbrücken, V e r k M i t t 1976, Nr. 124. 827 BayObLG, V e r k M i t t 1975, Nr. 77. 828 RGSt 70, 71; vgl. f ü r den umgekehrten F a l l (Schutz des Fußgängers auf dem Gehweg vor Kraftfahrzeugen) O L G München (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 48. 829 So das BayObLG, a.a.O. ( V e r k M i t t 1968, Nr. 129) hinsichtlich der M i ß achtung des Rotlichts.

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4. T l :

i Reichweite des Vrtruensschutzes

so daß um so weniger Grund besteht den „Unrechthaber" zu privilegieren, indem man die Risiken seines Verkehrsverstoßes auf die sich ordnungsgemäß verhaltenden Verkehrsteilnehmer abwälzt. Anders steht es mit der Begrenzimg der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 50 k m / h innerhalb geschlossener Ortschaften (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO). Obwohl diese Vorschrift nachweisbar zur Hebung der Verkehrssicherheit beiträgt 3 3 0 , w i r d man sie nicht dem „Kernbereich" der Verkehrsordnung zurechnen können. Die Vorschrift könnte sogar ganz entfallen, wenn alle Kraftfahrer dem Gebot des § 3 Abs. 1 StVO nachkämen und ihre Geschwindigkeit den „Straßen-, Verkehrs-, Sichtund Wetterverhältnissen" anpaßten. Damit soll die 50-km/h-Regelung nicht abgewertet, sondern nur dargetan werden, daß ein Unterschied besteht zwischen Verkehrsregeln wie dem Rechtsfahrgebot, dem Gebot „Rechts vor Links", usw., ohne die ein geordneter Straßenverkehr gar nicht denkbar wäre, und anderen Vorschriften wie der 50-km/h-Regelung, der doppelten Umschaupflicht des Linksabbiegers, usw., die bestimmte Verkehrsvorgänge „ n u r " zusätzlich absichern sollen. Solche Vorschriften stellen eben eine A r t „Sicherheitsventil" dar, dessen Sicherungseffekt gerade darauf beruht, daß sich andere Verkehrsteilnehmer nicht von vornherein auf sein Funktionieren verlassen dürfen. Was das Risiko eines fremden Verkehrsverstoßes und damit den Vertrauensschutz betrifft, w i r d man also unterscheiden müssen, ob die verletzte Vorschrift dem „Kernbereich" der Verkehrsordnung angehört oder nicht. Von einem Kraftfahrer oder Fußgänger kann verlangt werden, sich nicht „immer und überall", sondern nur nach sorgfältiger Beobachtung des herannahenden Verkehrs auf die Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu verlassen. Allerdings w i r d man bei erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitungen auch das Risiko von Fehlschätzungen i n erster Linie dem „Geschwindigkeitssünder" anlasten. Sehr zu Recht meint das OLG Frankfurt, daß „selbst auf einer breiten Straße der Wartepflichtige m i t einer Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit u m 60 °/o i n der Regel nicht zu rechnen b r a u c h t " 3 3 1 .

bb) Vertrauensschutz i n Vorfahrtfällen Wie sich die Unterscheidung zwischen dem „Kernbereich" des Straßenverkehrsrechts zuzurechnenden besonders „vertrauensschutzwürdigen" und anderen Vorschriften, deren Befolgung je nach den Umständen des Einzelfalles m i t größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit 330 Bundesanstalt für Straßenwesen, S. 73, B i l d 7 b ; vgl. auch Lange, V e r kehrserziehung, S. 92. 331 O L G F r a n k f u r t , V e r k M i t t 1975, Nr. 85; ähnlich i n V e r k M i t t 1976, Nr. 131.

II.6 „Typische Verkehrswidrigkeiten"

181

erwartet werden darf, praktisch auswirkt, soll noch an einigen Beispielen aus dem Vorfahrtrecht gezeigt werden. Das OLG Saarbrücken hat von einem vorfahrtberechtigten fahrer verlangt

Kraft-

„bei der Annäherung an eine zwar nicht f ü r ihn, aber f ü r einen Wartepflichtigen unübersichtliche Einmündung durch Herabsetzung seiner Geschwindigkeit einer möglicherweise drohenden Verletzung seiner Vorfahrt vorzubeugen" 3 3 2 .

Der Entscheidung kann nicht zugestimmt werden. Dem Wartepflichtigen ist zwar erlaubt, sich i n eine für i h n unübersichtliche Kreuzung bis zur Erlangung freier Sicht „hineinzutasten" 3 3 * und darauf hat sich der Vorfahrtberechtigte auch einzustellen. Solange der Kreuzungsbereich jedoch für ihn übersichtlich bleibt und keine drohende Vorfahrtverletzung erkennbar wird, braucht er nicht m i t einer „möglicherweise drohenden" Verletzung seiner Vorfahrt zu rechnen 3®4. Es ist Sache des Wartepflichtigen, nicht des Vorfahrtberechtigten, „ m i t Mißtrauen" an eine Kreuzung heranzufahren 335 . Die mit dem Wort „Mißtrauen" umschriebene besondere Vorsicht hat der Wartepflichtige jedoch nur i m Verhältnis zum Vorfahrtberechtigten zu beobachten. Das Bayerische Oberste Landesgericht hat dazu folgenden Leitsatz aufgestellt: „Der Wartepflichtige muß grundsätzlich nicht deshalb, w e i l i h m ein Fahrzeug entgegenkommt, dessen Führer nach links abbiegen w i l l , davon Abstand nehmen, i n die bevorrechtigte Straße einzufahren, u m diese noch vor Herankommen eines genügend w e i t entfernten Vorfahrtberechtigten zu ü b e r q u e r e n ^ . "

Z u dem Unfall m i t dem i m Augenblick des Einfahrens noch „genügend weit entfernten Vorfahrtberechtigten" war es nur deshalb gekommen, weil der Wartepflichtige unvorhergesehenerweise mitten auf der Kreuzung anhalten mußte. Der Grund dafür war, daß der i h m entgegenkommende Fahrzeugführer seine Vorbeifahrt nicht abwartete, sondern entgegen § 9 Abs. 3 Satz 1 StVO plötzlich vor i h m nach links abbog. 332

O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 80, m i t abl. A n m . Booß. B G H S t 12, 58. * I m H i n b l i c k auf § 11 Abs. 2 StVO mag der Vorfahrtberechtigte i n A u s nahmefällen einmal verpflichtet sein, auf sein Vorfahrtrecht zugunsten eines Wartepflichtigen zu verzichten, dem sonst ein Einbiegen i n die V o r fahrtstraße unmöglich wäre; vgl. Booß i n der Urteilsanmerkung. H i e r hätte der Wartepflichtige jedoch, als er des Vorfahrtberechtigten ansichtig wurde, „bei zügiger Fahrweise noch gefahrlos einbiegen können" (OLG Saarbrücken a.a.O.). 33 ® B G H S t 7, 118 (122); daß damit für den Wartepflichtigen kein „ M i ß trauensgrundsatz" aufgestellt werden soll, versteht sich von selbst, vgl. die S. 48 f. zitierte Rechtsprechimg u n d BayObLG, V e r k M i t t 1976, Nr. 75. 33 « BayObLG, V e r k M i t t 1975, Nr. 77. 333

33

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

A u f die Beachtung seines Vorrechts gegenüber dem Linksabbieger durfte der Wartepflichtige jedoch vertrauen. Es war i h m daher kein V o r w u r f daraus zu machen, daß er i n einem Zeitpunkt, als noch nichts auf die bevorstehende Verkehrswidrigkeit des Linksabbiegers hindeutete, i n die Kreuzung eingefahren war. Der Senat führt dazu aus: „ Z w a r t r i f f t den Wartepflichtigen bei der Einfahrt i n eine bevorrechtigte Straße eine erhöhte Sorgfaltspflicht, die den sog. Vertrauensgrundsatz erheblich zu seinen Lasten e i n s c h r ä n k t . . . Dies bedeutet jedoch i n erster L i n i e , daß der Wartepflichtige n u r i n beschränktem Maße auf ein verkehrsgerechtes Verhalten i h m gegenüber bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer vertrauen darf. Dagegen v e r w e h r t die den Wartepflichtigen treffende erhöhte Sorgfaltspflicht diesem grundsätzlich nicht, seine Fahrweise auf ein verkehrsgerechtes Verhalten solcher Verkehrsteilnehmer einzustellen, die ihrerseits i h m gegenüber wartepflichtig sind337.«

Das Vorfahrtrecht ist also, wie sich an den zitierten Entscheidungen gezeigt hat, von zwei Seiten her zu schützen. Zum einen braucht der Vorfahrtberechtigte i n der Regel nicht m i t Verkehrswidrigkeiten des Wartepflichtigen zu rechnen 338 . Das Vertrauen des Wartepflichtigen auf verkehrsgerechtes Verhalten des Vorfahrtberechtigten w i r d dagegen nur i n beschränktem Umfang als schützenswert anerkannt. Diese zugunsten des dem „Kernbereich" der Verkehrsordnung zuzurechnenden Vorfahrtrechts eingebaute „doppelte Sicherung" könnte noch zu einer „dreifachen" Sicherung erweitert werden, indem dem Wartepflichtigen i n Vorfahrtfällen der Vertrauensschutz gegenüber sämtlichen, also auch den i h m gegenüber wartepflichtigen Verkehrsteilnehmern, beschnitten würde. Dies würde jedoch die Risiken zwischen wartepflichtigem und vorfahrtberechtigtem Verkehrsteilnehmer zu ungleich verteilen und hätte überdies i n dem vom Bayerischen Obersten Landesgericht entschiedenen Fall die Preisgabe einer ebenfalls dem „Kernbereich" der Verkehrsordnung zuzurechnenden Regel bedeutet: Der Geradeausfahrende muß darauf vertrauen können, daß ein Linksabbieger ihn ungehindert durchfahren läßt. Der Entscheidung ist daher i n vollem Umfang zuzustimmen. I I I . Vertrauensschutz u n d „gerechte Risikoverteilung"

M i t der Unterscheidung zwischen dem besonders schützenswerten „Kernbereich" der Verkehrsordnung zuzurechnenden und anderen Verhaltensvorschriften ist für die Bemessung des Vertrauensschutzes ein erster Anhaltspunkt gewonnen, von dem aus es weiter zu differenzieren gilt. 337 BayObLG, V e r k M i t t 1975, Nr. 77. 338 v g l . allerdings B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 91: A n „gefährlichen u n d unübersichtlichen Kreuzungen" k a n n sich der Vorfahrtberechtigte „nicht i m m e r " auf den „Vertrauensgrundsatz" berufen. Dies soll aber „ i m wesentlichen n u r nach besonderer Warnung" gelten.

III. Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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Sicherlich w i r d man bei der Zurechnung einer Verhaltensvorschrift zum „Kernbereich" der Verkehrsordnung Zurückhaltung üben müssen. Anderenfalls käme man einem nur auf die „Verbindlichkeit des Gesetzesbefehls" 339 gegründeten „100%igen Vertrauensgrundsatz" bedenklich nahe. Nicht jeder Vorrang eines Verkehrsteilnehmers hat für die geordnete Abwicklung des Straßenverkehrs die gleiche Bedeutung wie das Vorfahrtrecht. Ob ein seinen Fahrstreifen beibehaltender K r a f t fahrer gegenüber dem Fahrstreifenwechsler auf die Respektierung seines Vorranges vertrauen darf (§ 7 Abs. 1 Satz 2 StVO) w i r d beispielsweise i n starkem Maße von den Umständen des Einzelfalles abhängen. Schützenswert erscheint ein solches Vertrauen dann, wenn vorher nichts i m Verhalten des den Fahrstreifen Wechselnden auf diese seine Absicht hindeutete, ein plötzlicher Wechsel also sowohl gegen § 7 Abs. 1 Satz 2 als auch gegen Satz 3 der Vorschrift verstieße. War der Fahrstreifenwechsler jedoch schon eine ganze Weile blinkend nebenhergefahren, w i r d dem Geradeausfahrenden eher zuzumuten sein, m i t einem bevorstehenden Fahrstreifenwechsel zu rechnen, obwohl allein durch das Blinken und Nebenherfahren sicher noch keine „unklare Verkehrslage" entstanden ist. Dabei kann die Frage, ob nach der allgemeinen „Verkehrs-" oder „Lebenserfahrung" ein Sichhineindrängen i n die Fahrspur des Geradeausfahrenden zu den „typischen Verkehrswidrigkeiten" zu rechnen ist. getrost außer Betracht bleiben. Es war schon die Rede davon, daß die Rechtsprechung manchmal allzu schnell eine allgemeine „Verkehrs-" oder „Lebenserfahrung" statuiert, um die Versagung des Vertrauensschutzes zu rechtfertigen 340 . I n Wirklichkeit steht hinter solchen Ausführungen häufig das Bestreben, die einer bestimmten Verkehrssituation innewohnenden Risiken „gerecht", d. h. durch einen an der Grundregel des § 1 Abs. 2 orientierten Einsatz des Vertrauensschutzes zu verteilen. So wirken sich „Erfahrungstatsachen" häufig zugunsten schwächerer Verkehrsteilnehmer aus, versagen gegenüber groben Verkehrswidrigkeiten usw. Derartige Überlegungen kommen allerdings kaum einmal m i t der den Beschlüssen der Vereinigten Großen Senate von 1954 und 1961 eigenen Klarheit zum Ausdruck, sondern werden — wenn überhaupt — nur i n Form von Hilfserwägungen ausgesprochen. Z u stark ist offenbar das mit der Vorstellung von einem Vertrauens„Grundsatz" verbundene Regel-Ausnahme-Denken, als daß die Gerichte sich dazu verstehen könnten, die Frage nach der Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes i n erster Linie unter dem Gesichtspunkt einer „gerechten Risikoverteilung" zu prüfen. 339 Martin, Einschränkung, S. 139. 340 v g l . oben S. 168 ff.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes 1. Die Entscheidung für die doppelte Umschaupflicht des Linksabbiegers

Ein Beispiel dafür bildet der schon zitierte Beschluß des Verkehrsstrafsenats, m i t dem die doppelte Umschaupflicht des Linksabbiegers wiederhergestellt wurde. Erst ganz am Ende heißt es dort: „Diese Pflicht entspricht zudem einer gerechten Risikoverteilung. Es ist zwar richtig, daß dem Vorausfahrenden der örtliche u n d zeitliche ,Vortritt 4 gegenüber dem nachfolgenden Verkehr gebührt . . . Jedoch legt § 11 Abs. 1 Satz 2 StVO auch dem Einbiegenden Verpflichtungen gegenüber dem Nachfolgenden auf . . . die sich auf § 1 StVO gründen. Die Sorgfaltspflicht dessen, der seine Fahrtrichtung ändern w i l l , ist u m so größer, je schneller sich der Verkehr abwickelt; denn ein schnellerer Verkehr b r i n g t größere Gefahren m i t sich u n d erfordert eine größere Vorsicht. Je stärker der Vorausfahrende infolge der Verkehrslage den Voraus-, Gegen- u n d Seitenverkehr beobachten muß, desto weniger mag von i h m verlangt werden können, auch noch auf den rückwärtigen Verkehr zu achten. A u f offener Landstraße w i r d aber der Vorausfahrende i m allgemeinen durch den Voraus-, Gegen- u n d Seitenverkehr nicht so stark beansprucht sein, daß er den nachfolgenden Verkehr nicht i m Auge behalten kann. I h m ist also eine Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs noch u n m i t t e l b a r vor dem Abbiegen durchaus zumutbar . . .341."

Man sollte sich durch die vom Senat gewählte Form einer Hilfserwägung („zudem") nicht täuschen lassen: Das Streben nach einer „gerechten Risikoverteilung" dient nicht nur der Erhärtung eines bereits auf rein quantitativem Wege, also auf Grund von Feststellungen über die Häufigkeit bestimmter Verkehrsverstöße, gewonnenen Ergebnisses, sondern ist tragender Grund der gesamten Entscheidung. Der Senat ist nämlich genausowenig i n der Lage, die eingangs des Beschlusses getroffenen Aussagen über die Häufigkeit bestimmter Verkehrswidrigkeiten zu begründen wie i n seiner 6 Jahre zuvor ergangenen — anderslautenden — Entscheidung®42. Das Unbefriedigende eines solchen Vorgehens w i r d dem Senat sicher vor Augen gestanden haben, als er sich zu dieser „Hilfserwägung" entschloß, die dadurch i m Rahmen des Beschlusses einen ganz anderen Stellenwert gewinnt. Eine „gerechte Risikoverteilung" verlangt, wie aus dem Beschluß des Verkehrsstrafsenats hervorgeht, eine Entscheidung darüber, welches Verhalten jedem Verkehrsteilnehmer zur Vermeidung eines Unfalls „zumutbar" ist 3 4 3 . Der Senat bestimmt das Maß des dem Linksabbieger „Zumutbaren" danach, ob ihm, dem ja der „örtliche und zeitliche V o r t r i t t " gebührte, dessen Fahrmanöver jedoch ganz erheblich zur Gefährlichkeit der Situation beitrug, ein besonders vorsich341 B G H S t 21, 91 (100). 342 v g l . dazu oben S. 85 f. 343 Vgl. BGH, a.a.O., am Ende des Zitats.

III. Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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tiges Verhalten gegenüber dem von hinten herannahenden Verkehr ohne „Überforderung" möglich war. Der Senat bejaht dies, begrenzt also den dem Linksabbieger einzuräumenden Vertrauensschutz, indem er für ihn eine doppelte Umschaupflicht statuiert. Dahinter steht offenbar der Gedanke einer „doppelten Sicherung" besonders gefährlicher Verkehrs Vorgänge: Wer sich ordnungsgemäß nach links eingeordnet hat, darf nicht mehr links überholt werden, der Linksabbieger muß aber trotzdem vor dem endgültigen Abbiegen noch einmal i n den Rückspiegel schauen (vgl. heute § 5 Abs. 7 und § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO)®44. 2. „Gerechte Risikoverteilung" und „Zumutbarkeit" a) Qualitative Gesichtspunkte der „Verkehrsund

bei der Bestimmung Lebenserfahrung"

Daß Erkenntnisse über „typische Verkehrswidrigkeiten" i n der Regel nicht auf der „Verkehrs- und Lebenserfahrung", sondern auf Erwägungen über eine „gerechte Risikoverteilung" bzw. das dem einzelnen Verkehrsteilnehmer i n einer bestimmten Situation „Zumutbare" beruhen, soll noch an weiteren Entscheidungen dargetan werden. Damit könnte der Beweis erbracht werden, daß die Rechtsprechung auch auf dem Felde der „typischen Verkehrs Widrigkeiten" nicht einfach vor dem Verkehrssünder bzw. dem „Gesetz der großen Zahl" kapituliert, sondern auch i n diesen Fällen zur „Hebung der Verkehrsgesittung" 3 4 0 beizutragen sucht. Eine Parallelschaltung von „Verkehrs- und Lebenserfahrung" und „Zumutbarkeit" zeigt sich, ähnlich wie i m Beschluß des Verkehrsstrafsenats zur doppelten Umschaupflicht des Linksabbiegers, wenn es u m das Ausmaß des einem Fußgänger gegenüber dem Kraftfahrer zuzubilligenden Vertrauensschutzes geht. Danach ist es eine „häufige Erfahrung, die auch einem erwachsenen Fußgänger geläufig sein muß", daß Kraftfahrer bei Dunkelheit immer wieder unbeleuchtete Hindernisse auf ihrer Fahrbahn zu spät bemerken und daher nicht mehr rechtzeitig anhalten oder ausweichen können. Demgemäß verlangt das Gericht von einem Fußgänger, der die Lichter eines ihm entgegenkommenden Kraftfahrzeugs bemerkt, schon i m Interesse der eigenen Sicherheit das zu tun, „was ein verständiger Mensch i n einer solchen Situation zur A b w e n d u n g der i h m drohenden Gefahr getan hätte, nämlich rechtzeitig etwas nach links 344 Die doppelte Umschaupflicht g i l t übrigens auch für Rechtsabbieger, die vor dem Abbiegen halten müssen. Sie müssen nämlich damit rechnen, daß sich Zweiradfahrer rechts zwischen ihre Fahrzeuge u n d den Bürgersteig setzen (HansOLG Bremen, V e r k M i t t 1976, Nr. 33); vgl. allgemein zu den „Lückenfällen" unten S. 236 ff. 345 Begründung zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 800 f.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

beiseite zu treten, notfalls neben den Fahrbahnrand; das w a r . . . nach den örtlichen Gegebenheiten ohne jede Schwierigkeit u n d Gefahr möglich, somit durchaus z u m u t b a r " 3 4 6 .

I n der folgenden Entscheidung hat sich jedoch die „Verkehrserfahrung" schon nach der „Zumutbarkeit" zu richten. Ein Grundsatz dahingehend, der an einer stehenden Fahrzeugkolonne Vorbeifahrende müsse stets damit rechnen, daß andere Fahrzeuge unter Verletzung seines Vorrechtes durch Lücken i n der Kolonne seine Fahrspur kreuzen, kann „nicht anerkannt werden". Darin läge nach Ansicht des Gerichts eine „unzumutbare Beeinträchtigung" des fließenden, bevorrechtigten Verkehrs 3 4 7 . Schon die Wendung, daß ein diesbezüglicher Erfahrungssatz nicht „anerkannt" werden könne, macht deutlich, daß das Gericht nicht bereit ist, das Vorliegen einer „typischen Verkehrswidrigkeit" nach rein quantitativen Gesichtspunkten zu bestimmen 3 4 8 . I m umgekehrten Fall w i r d die Rechtsprechung noch deutlicher. Hier war das Vorrecht des an der Kolonne Vorbeifahrenden nicht verletzt worden. Dieser hatte es vielmehr versäumt, den Seitenabstand so zu bemessen, daß dem durch eine Lücke i n der Kolonne Einbiegenden wenigstens Platz zur Sichtgewinnung verblieb. Z u der Frage, ob nach der „Lebenserfahrung" ein solches Vorbeifahren an der haltenden Kolonne zu erwarten gewesen sei, oder ob sich der Einbiegende auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Vorbeifahrenden habe verlassen können, führt das Gericht aus: „ Z u erwarten w a r jedenfalls nicht, daß diese Vorbeifahrt ohne Rücksichtnahme auf den G r u n d des Anhaltens der Kolonne i n einer Seitenentfernung erfolgte, welche dem Einbieger i n die Vorfahrtstraße den Platz zur G e w i n nung der Sicht i n diese schmälerte. Die Unsitte, daß Fahrzeuge noch überholen, w e n n das zu überholende Fahrzeug aus berechtigter Rücksichtnahme auf den Querverkehr angehalten hat, darf die Rechtsprechung nicht sanktionieren, sondern muß i h r entgegentreten 3 4 9 ."

Hier geht es dem Gericht offenbar darum, den „Unrechthaber" nicht dadurch zu ermutigen, daß man sein Verhalten als „typische Verkehrs346 B G H (Z) V e r k M i t t 1968, Nr. 96; ein Fußgänger ist dagegen auch auf schmaler Landstraße nicht verpflichtet, über einen 60 cm breiten Straßengraben zu springen, u m die ungehinderte Begegnung zweier Kraftfahrer zu ermöglichen ( B G H [Z]), V e r k M i t t 1967, Nr. 85). 34 7 K G (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 38; vgl. dazu auch K G (Z), V e r k M i t t 1975, Nrn. 43, 44 u n d V e r k M i t t 1976, Nr. 105. 34 ® Vgl. auch O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1967, Nr. 10: „Es mag zutreffen, daß die versehentliche Abgabe einer Fahrtrichtungsanzeige, insbesondere das Versäumnis der Ausschaltung des Anzeigers, nicht selten vorkommt. Es k a n n jedoch nicht anerkannt werden, daß eine solche Verkehrs Widrigkeit so häufig begangen w i r d , daß ein gewissenhafter Fahrer verständigerweise m i t i h r rechnen müßte . . . soll der Vertrauensgrundsatz f ü r Fälle der v o r liegenden A r t nicht praktisch entwertet werden." 349 O L G Köln, V e r k M i t t 1966, Nr. 28.

III. Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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Widrigkeit" bagatellisiert. Es leuchtet ein, daß ein Verkehrsverstoß i m Prinzip um so weniger Aussicht hat als „typische Verkehrswidrigkeit" eingestuft zu werden, je schwerer er ist. Demzufolge ist „die Mißachtung des Rotlichts . . . eine besonders grobe u n d leicht zu vermeidende Verkehrswidrigkeit, die auch nicht allzuoft v o r k o m m t " 3 5 0 .

Hier ist die Aussage über die Häufigkeit des Verkehrsverstoßes deutlich von seiner Qualifikation als „besonders grobe und leicht zu vermeidende Verkehrswidrigkeit" beeinflußt 351 . Angesichts der Schwere eines Verkehrsverstoßes kann eine „gerechte Risikoverteilung" sogar zur Verneinung einer „typischen Verkehrs Widrigkeit" führen, obwohl der i n Rede stehende Verkehrsverstoß nicht eben selten ist. So heißt es i n einer Entscheidung des Kammergerichts: „Der Linksabbieger . . . braucht trotz einer leider nicht selten zu beobachtenden entsprechenden Unsitte i n der Regel nicht damit zu rechnen, daß Fahrzeuge i m Gegenverkehr noch zu einem solchen Z e i t p u n k t i n den Kreuzungsbereich einfahren, zu dem ihre Fahrtrichtung eindeutig durch rotes Lichtzeichen gesperrt i s t 3 5 2 . " b) Fußgängerverkehr

und

Kraftverkehr

Die Schwere des Verkehrsverstoßes ist nicht das einzige i m Rahmen einer „gerechten Risikoverteilung" bedeutsame Kriterium. Welche anderen Gesichtspunkte das einem Verkehrsteilnehmer i n einer bestimmten Verkehrssituation „Zumutbare" bestimmen, soll abschließend an einigen Entscheidungen zum Thema Fußgängerverkehr und Kraftverkehr verdeutlicht werden. Es geht dabei u m die Frage, inwieweit der Kraftfahrer darauf vertrauen kann, daß i h m ein — erwachsener — Fußgänger nicht plötzlich vor den Wagen läuft. aa) Betreten der Fahrbahn vom Bürgersteig oder von einer Haltestelleninsel aus Es war schon gesagt worden, daß sich Kraftfahrer und Fußgänger auf den ihnen zugewiesenen Räumen vor Beeinträchtigungen durch den anderen Verkehrsteilnehmer sicher fühlen müssen. Z u m „ K e r n bereich" der Verkehrsordnung gehört es, daß der Fußgänger auf dem Bürgersteig und der Fahrverkehr auf der Straße einander respektieren, 350 BayObLG, V e r k M i t t 1968, Nr. 129. 351 Vgl. auch O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1959, Nr. 107: „Das Verhalten des Kradfahrers . . . stellt einen so schwerwiegenden Verkehrsverstoß dar, daß sich der Angeklagte darauf nicht einzustellen brauchte . . . Der Verkehrsverstoß des Kradfahrers ist kein so häufiger, daß sich der Angeklagte v e r ständigerweise hätte auf i h n einrichten müssen"; ähnlich O L G F r a n k f u r t , V e r k M i t t 1976, Nr. 131 : „Eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 60 °/o oder darüber innerhalb geschlossener Ortschaften ist schon extrem u n d k o m m t auch erfahrungsgemäß nicht häufig vor." 352 K G (Z), V e r k M i t t 1975, Nr. 59.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

der Kraftfahrer sich also darauf verlassen kann, daß ein Fußgänger die Fahrbahn nur unter Beachtung des fließenden Verkehrs betritt 3 6 9 . Etwas anders sieht es schon aus, wenn sich der Fußgänger nicht auf dem Bürgersteig, sondern auf einer Haltestelleninsel befindet. Zwar ist diese vom Fahrverkehr auf ähnliche Weise abgegrenzt wie der Bürgersteig. Jedoch befindet sich der Fußgänger auf der Haltestelleninsel nicht i n derselben Lage wie auf dem Bürgersteig. Dieser ist der „Lebensraum" des Fußgängers, er hat i n der Regel keinen Grund, i h n zu verlassen, außer um an einer anderen Stelle wieder auf den Bürgersteig zu gelangen. Wenn er den i h m zugewiesenen Raum verläßt und sich i n den dem Kraftfahrer vorbehaltenen Fahrraum begibt, kann von ihm Vorsicht erwartet werden. Der Fußgänger auf einer Haltestelleninsel hingegen w i l l nach dem Aussteigen ersichtlich nicht dort verweilen, sondern strebt dem Bürgersteig zu. Er befindet sich — wenn auch geschützt — mitten i m Fahrraum und ist damit der Aufmerksamkeit des Kraftfahrers viel nähergerückt als der Fußgänger auf dem Bürgersteig. Dennoch soll der Kraftfahrer, nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes, bei der Annäherung an eine Haltestelleninsel regelmäßig darauf vertrauen dürfen, daß die auf eine Straßenbahn wartenden Personen das Vorrecht des Verkehrs auf der Fahrbahn beachten. Eine „gegenteilige Verkehrserfahrung", so meint das Gericht, sei nicht zu verzeichnen, denn „ v o n Fahrgästen, die von einer solchen Insel die Straßenbahn besteigen oder verlassen, k a n n verlangt werden, daß sie sich beim Betreten der Fahrbahn ebenso sorgfältig verhalten w i e Fußgänger, die den F a h r d a m m von einem gesicherten Bürgersteig herab b e t r e t e n " 8 5 4 .

Eine „gerechte Risikoverteilung" muß hier i n der Tat zuungunsten des Fußgängers ausgehen. Dem Kraftfahrer ist i m Interesse eines flüssigen Verkehrsablaufes nicht zuzumuten, an Haltestelleninseln stets nur i m Schrittempo vorbeizufahren, u m auf jede Verkehrswidrigkeit eines dort befindlichen Fußgängers rechtzeitig reagieren zu können. Vom Fußgänger kann dagegen „verlangt" werden, daß er die seiner Sicherheit dienenden Einrichtungen auch „annimmt", also die Möglichkeit nutzt, von der Haltestelleninsel aus ungefährdet den Verkehr zu beobachten, bevor er die Straße betritt 3 5 5 . 353 v g l . RGSt 70, 71 (74) f ü r den K r a f t v e r k e h r ; auf der anderen Seite O L G Hamm, V e r k M i t t 1968, Nr. 120: „Der Fußgänger darf sich m i t Recht auf dem Bürgersteig abgeschirmt v o m Straßenverkehr f ü h l e n " ; O L G M ü n chen (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 48: „Fußgänger müssen auf Gehwegen g r u n d sätzlich nicht m i t einer Gefährdung durch Fahrzeuge rechnen." 354 B G H (Z), V e r k M i t t 1967, Nr. 42. 355 Das Hinuntertreten v o n der Haltestelleninsel stellt f ü r i h n einen ähnlichen „Weckruf" dar w i e das Hinuntertreten von einem Bürgersteig; vgl. O L G Hamm, V e r k M i t t 1968, Nr. 120.

I I I . Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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bb) Das Verhalten des Kraftfahrers an Omnibushaltestellen Eine von den bisher betrachteten Fällen deutlich abweichende Lage ist hingegen gegeben, wenn der Fußgänger die Straße schon betreten hat. Dann liegt eine Gefahrensituation vor, auf die sich nach den Grundsätzen der „gerechten Risikoverteilung" auch der Kraftfahrer einzustellen hat35®. Seinen klassischen Ausdruck hat dies i n der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Verhalten des Kraftfahrers an Omnibushaltestellen gefunden. Der grundlegende Beschluß des Verkehrsstrafsenats stammt vom 25. Mai 1959 357 . Danach ist der K r a f t fahrer zwar regelmäßig verpflichtet, seine Fahrweise darauf einzurichten, daß hinter einem haltenden oder wartenden Omnibus hervor Fußgänger einige Schritte — möglicherweise unachtsam — i n die Fahrbahn treten, um sich einen Überblick über die Verkehrslage zu schaffen. Er braucht sich jedoch nicht darauf einzustellen, daß Fußgänger i n einer solchen Lage die gesamte Fahrbahn unachtsam zu überqueren suchen. Freilich können aus dem nicht einsehbaren Raum hinter einem haltenden Omnibus immer auch verkehrsungewandte Personen hervorkommen. Darauf hat sich der Kraftfahrer jedoch nur einzurichten, wenn besondere Umstände (etwa die Nähe einer Schule, eines Kinderspielplatzes, eines Altersheimes oder die Verwendung des Omnibusses zur Schülerbeförderung) dafür sprechen. Der Senat verkennt nicht, daß auch erwachsene Fußgänger, die verdeckt von einem haltenden Omnibus die Straße überqueren wollen, sich „ i n einer etwas schwierigen Lage" befinden, denn sie müssen meist ein wenig i n den freien Raum hinaustreten, u m überhaupt Sicht auf die Fahrbahn zu bekommen. Es entspricht, wie der Senat meint, daher der „Lebenserfahrung", daß dieses Hinaustreten oft nicht m i t der gebotenen Vorsicht geschieht, daß insbesondere Fußgänger hierbei nicht selten einige Schritte weiter nach vorn tun, als es zur Erreichimg eines freien Uberblicks über die Fahrbahn erforderlich ist. Deshalb müsse der Kraftfahrer genügenden seitlichen Abstand vom Omnibus halten 3 5 8 , sei i h m das nicht möglich, müsse er auf Anhaltegeschwindigkeit heruntergehen. Auch die „schwierige Lage" eines Fußgängers an Haltestellen kann nach Ansicht des Senates jedoch nicht jede Verkehrswidrigkeit entschuldigen. Wenn der Fußgänger hinter einem haltenden Omnibus ohne Berücksichtigung des Verkehrs die gesamte Fahrbahn zu über356

Vgl. dazu die auf S. 163 zitierte Rechtsprechung. 857 B G H S t 13, 169. ses E t w a 2 m ; vgl. BayObLG, V e r k M i t t 1960, Nr. 76; BGH, V e r k M i t t 1968, Nr. 93; Mühlhaus, StVO, A n m . 4 zu § 6 StVO m i t weiteren Rechtsprechungsnachweisen.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

schreiten suche, so sei dies m i t der durch den Omnibus hervorgerufenen Sichtbehinderung nicht mehr zu erklären, sondern stelle eine „grobe Verkehrswidrigkeit" dar. Bei der Entwicklung, die der Straßenverkehr genommen habe, sowie bei der fortgeschrittenen Verkehrserfahrung und Verkehrserziehung könne ein solches Verhalten auch nicht mehr als „typische Verkehrswidrigkeit" angesehen werden, denn es komme „verhältnismäßig selten" vor 3 5 9 . M i t diesen Rechtsgrundsätzen, so meint der Senat, seien für den Pflichtenkreis der Verkehrsbeteiligten tunlichst klare Grenzen gezogen. Die Anforderungen an den Kraftfahrer würden nicht überspannt, wie es der Fall gewesen wäre, wenn man von ihm verlangt hätte, seine Fahrgeschwindigkeit bei Erreichen eines haltenden Omnibusses grundsätzlich auf Schrittgeschwindigkeit herabzusetzen. Durch ein solches Ansinnen wäre der Verkehrsfluß — namentlich i n größeren Städten m i t zahlreichen Haltestellen für Linienomnibusse — „unerträglich" beeinträchtigt worden, was wiederum andere Gefahren hätte heraufbeschwören müssen. Aber auch der Fußgänger finde so den erforderlichen Schutz. Etwaige Unzuträglichkeiten, die m i t dieser Regelung für den Fußgänger verbunden seien, müßten „ i m Interesse des reibungslosen Ablaufes des Gesamtverkehrs" hingenommen werden, solange sich die Verkehrsbehörden nicht i n der Lage sähen, zur Erleichterung des Fußgängerverkehrs wenigstens neben einem Teil der Haltestellen Fußgängerüberwege zu schaffen 360 . M a r t i n setzt sich mit der Entscheidung kritisch auseinander. Er sieht darin ein „weitgehendes Zugeständnis an die Verkehrsflüssigkeit" und betont, daß das Unfallopfer eine 8jährige Schülerin gewesen sei 3 6 1 . Abschließend meint er, der Verkehrsstrafsenat habe hier dem „Vertrauensgrundsatz" i n einem Umfange und Maße Anerkennung verschafft, die für manche Verkehrslagen „einer Ausdehnung kaum mehr zugänglich" sei, wolle man nicht von den tatsächlichen Verkehrsverhältnissen abstrahieren und nur auf das „rechtliche Sollen" abstellen 362 . Eine solche Einstellung zum Vertrauensschutz läßt sich der Entscheidung des Verkehrsstrafsenats schwerlich entnehmen. Z u Beginn ist zwar von der „steigenden Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes i m neuzeitlichen Straßenverkehr" die Rede. Der Verkehrsstrafsenat bewegt sich jedoch durchaus i n gewohnten Bahnen, wenn er i m Anschluß daran klarstellt, daß ein Verkehrsteilnehmer nur auf 3δβ 3βο 3«i 3«2

B G H a.a.O., S. 176 (BGHSt 13, 169). Ebenda, S. 177. Martin, Vertrauensgrundsatz, S. 24. Ebenda, S. 26.

III. Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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„das Unterbleiben solcher Verkehrswidrigkeiten vertrauen darf, m i t denen zu rechnen bei verständiger Würdigung aller Umstände k e i n Anlaß bestelltes.

Ob solche Umstände vorliegen, bestimmt der Senat wie gewohnt nach der „Lebenserfahrung". Danach träten Fußgänger häufig unachtsam aus dem durch einen haltenden Omnibus verdeckten Raum einige Schritte i n die Fahrbahn hinein, selten jedoch versuchten sie dabei dank „fortgeschrittener Verkehrserfahrung und Verkehrserziehung", die gesamte Fahrbahn zu überqueren. Die Entscheidung stellt also gerade nicht auf das „rechtliche Sollen" ab, u m damit einem „100 °/oigen Vertrauensgrundsatz" zum Durchbruch zu verhelfen. Der Senat gibt vielmehr seiner Uberzeugung Ausdruck, daß ein bestimmtes Verhalten nicht (mehr) als „typische Verkehrswidrigkeit" angesehen werden könne. Ob „fortgeschrittene Verkehrserfahrung und Verkehrserziehung" ein solches Verhalten w i r k lich haben „verhältnismäßig selten" werden lassen, muß wie stets eine offene Frage bleiben 3 6 4 . Der Senat begründet diese seine Ansicht nicht weiter, und ohne exakte statistische Erhebungen ist, wie schon gesagt, eine solche Begründung auch nicht möglich. W i l l man dem Senat nicht unterstellen, nur nach der Devise, daß „nicht sein kann, was nicht sein darf" entschieden zu haben, w i r d man die den Beschluß tragenden Gründe an anderer Stelle suchen müssen. Dabei fällt ins Auge, daß der Senat ein unachtsames Uberqueren der gesamten Fahrbahn als eine „grobe Verkehrs Widrigkeit" ansieht, eben weil ein solches Verhalten m i t der durch den Omnibus hervorgerufenen Sichtbehinderung nicht mehr erklärt werden kann. Der Senat lehnt also eine „Einstellung der Fahrpraxis auf den Verkehrssünder" 3 6 5 ab, während er ohne weiteres geneigt ist, die durch die „etwas schwierige Lage" der Fußgänger hinter einem Omnibus bedingte (leichtere) Verkehrswidrigkeit, eines Hineintretens i n die Fahrbahn als „typische Verkehrswidrigkeit" anzuerkennen. Ob, wie M a r t i n anzunehmen scheint, der Verkehrssicherheit besser gedient gewesen wäre, wenn der Senat an den Kraftfahrer noch weises B G H , a.a.O., S. 172 f. unter Hinweis auf RGSt 70, 71. 364 interessanterweise heißt es an anderer Stelle des Beschlusses, es sei als Überspannung der v o m K r a f t f a h r e r zu beobachtenden Sorgfaltspfiicht anzusehen, w e n n m a n „grundsätzlich" von i h m verlangte, sich darauf einzustellen, daß aus einem neben seiner Fahrbahn liegenden, f ü r i h n nicht einsehbaren Raum Fußgänger unachtsam auf die Straße träten. E i n derartiges Verhalten Erwachsener könne „ i m allgemeinen . . . nicht mehr als häufig bezeichnet werden" (BGH, a.a.O., S. 173). H i e r zeigt sich das bei der Definition der „typischen Verkehrswidrigkeit" immer wieder zu beobachtende Schwanken zwischen positiven („verhältnismäßig selten") u n d negativen ( „ i m allgemeinen nicht mehr häufig") Definitionselementen; vgl. oben S. 168. ses B G H S t 7, 118 (125).

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

tergehende Anforderungen gestellt hätte, muß bezweifelt werden. Vom Kraftfahrer zu verlangen, sich an Omnibushaltestellen auf jedes noch so Verkehrs widrige Verhalten eines Fußgängers einzurichten, also „auf alles . . . gefaßt zu sein" 3 6 6 , hätte eine Rückkehr zur Rechtsauffassung des „Vorgarten-Urteils" bedeutet. Auch die Tatsache, daß es sich bei dem Unfallopfer um ein achtjähriges K i n d handelte, könnte eine derart weitgehende Aufhebung des Vertrauensschutzes nicht rechtfertigen 3 6 7 . Sie ließe sich überdies psychologisch kaum auf den Haltestellenbereich beschränken, der Fußgänger würde es bald auch i n anderen Fällen „darauf ankommen lassen" und sich so verhalten, als ob i h m der Fahrverkehr jederzeit das Überqueren der Straße zu ermöglichen hätte. Eine solche Haltung würde Gefahren sowohl für den verkehrsgewandten als auch für den verkehrsungewandten Fußgänger nach sich ziehen. Demgegenüber erscheint es als ein i m Interesse der Verkehrssicherheit tragbarer Kompromiß, wenn der Kraftfahrer m i t dem Auftauchen verkehrsungewandter Personen nur bei bestimmten A n zeichen (Schulbus, Nähe eines Kinderspielplatzes oder Altersheimes) zu rechnen braucht 3 6 8 . Dabei ist auch das Anliegen des Senats zu würdigen, i m Interesse der Verkehrssicherheit „ f ü r den Pflichtenkreis der Verkehrsbeteiligten tunlichst klare Grenzen zu ziehen" 3 6 9 . Von einem haltenden Omnibus entweder 2 m Abstand zu halten, oder, wo dies nicht möglich ist, auf Anhaltegeschwindigkeit herunterzugehen, ist ein Gebot, das wegen seiner Bestimmtheit bessere Aussichten hat, vom Kraftfahrer befolgt zu werden, als eine weitergehende, jedoch nicht so eindeutige Verpflichtimg 3 7 0 . Wenn der Senat schließlich davon überzeugt ist, die von i h m gestellten Anforderungen überspannten den Pflichtenkreis des K r a f t fahrers nicht, gewährten andererseits aber auch dem Fußgänger den erforderlichen Schutz, so ist damit ein weiterer Aspekt einer „gerechten Risikoverteilung" angesprochen. Ein Gebot an den Kraftfahrer, 366 Vgl. RGSt 65, 135 (144). 367 Das K i n d w u r d e f ü r den K r a f t f a h r e r erst sichtbar, als es f ü r ein Bremsen bereits zu spät war. 368 B G H , a.a.O., S. 176 (BGHSt 13, 169); vgl. auch die seit dem 1. Januar 1976 gültige Neufassung des §20 StVO: „(1) A n öffentlichen Verkehrsmitteln, die an Haltestellen (Zeichen 224 oder 226) halten, darf n u r vorsichtig vorbeigefahren werden . . . (1 a) A n gekennzeichneten Schulbussen, die halten u n d W a r n b l i n k l i c h t (§ 16 Abs. 2) eingeschaltet haben, darf n u r m i t mäßiger Geschwindigkeit u n d i n einem solchen Abstand vorbeigefahren werden, daß eine Gefährdung der Schulkinder ausgeschlossen ist." see Ebenda, S. 177. 370 vgl. B G H S t 23, 313 (315): „Der Straßenverkehr erfordert einfache u n d klare Regeln."

III. Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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vor oder hinter haltenden Omnibussen ebenfalls anzuhalten, würde nach Ansicht des Senats durch die damit verbundene Beeinträchtigung des Verkehrsflusses „andere Gefahren hervorrufen" 3 7 1 . Welcher A r t diese Gefahren sind, führt der Senat nicht weiter aus, offenbar ist aber an Auffahrunfälle, unzulässige Überholversuche noch kurz vor und nach dem Halten des Omnibusses sowie Behinderungen des Gegenund Querverkehrs gedacht. M i t Recht führen die Vereinigten Großen Senate i n ihrem Beschluß von 1954 aus: „Stellt die Rechtsprechung Anforderungen f ü r das Verhalten i m Verkehr, die sich von der Auffassung der Verkehrspraxis w e i t entfernen u n d deren tatsächliche Durchsetzung von vornherein als sehr zweifelhaft erscheinen muß, so sind hiergegen grundsätzliche Bedenken zu erheben^."

Die „2-m-Regel" mag zwar zu einer gewissen Behinderung des Verkehrsflusses und damit — wenn auch i n abgeschwächter Form — zu den eben erwähnten Gefahren für die Verkehrssicherheit führen. Es besteht jedoch die unbedingte Notwendigkeit, dem Fußgänger, der sich an Omnibushaltestellen i n einer „schwierigen Lage" befindet, ausreichenden Schutz vor dem Kraftverkehr zu gewähren. Dem Kraftfahrer ist ohne weiteres „zuzumuten", i n einer derart unklaren und gefährlichen Situation langsam zu fahren, bzw. einen genügenden Sicherheitsabstand einzuhalten. Die Entscheidung des Verkehrssenats beruht demnach auf einer „gerechten", d. h. an der Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO und dem Vermögen der einzelnen Verkehrsteilnehmer gemessenen Risikoverteilung. Der Senat hat die von i h m selbst eingangs des Beschlusses ausgesprochene Mahnung beherzigt, der Wunsch, schnell zu fahren, müsse i n den Erfordernissen der Sicherheit des Verkehrs seine Grenze finden 373. 3. Die Appellfunktion von Entscheidungen

Allerdings findet sich gegen Ende des Beschlusses eine Wendung, die Zweifel an der Bereitschaft des Senats aufkommen lassen könnte, bei der Abwägung der von den Verkehrsteilnehmern zu tragenden Risiken der Verkehrssicherheit Vorrang vor allen anderen Überlegungen einzuräumen. Es handelt sich u m den Satz, daß „etwaige Unzuträglichkeiten", die mit dieser Regelung für den Fußgänger verbunden seien, „ i m Interesse des reibungslosen Ablaufs des Gesamtverkehrs" hingenommen werden müßten 3 7 4 . Diese Worte hat M a r t i n offenbar i m 371 B G H , a.a.O., S. 177 (BGHSt 13, 169). 372 B G H S t 7, 118 (124); vgl. auch Begründung zur StVO, Abschnitt I I . „Leitgedanken", S. 798: „Schon ungewohnte Verhaltensweisen ließe sich der Verkehr allenfalls w i d e r w i l l i g aufzwingen. Verhaltensvorschriften, die i h m zuviel zumuten, w ü r d e er nicht respektieren." 373 B G H , a.a.O., S. 172 (BGHSt 13, 169). 374 Ebenda, S. 177. 13 Kirschbaum

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Auge, wenn er sich über ein der Entscheidung zu entnehmendes „sehr weitgehendes Zugeständnis an die Verkehrsflüssigkeit" besorgt zeigt 3 7 5 . I n der Tat könnte man, ganz i m Gegensatz zu den zuvor vom Senat gemachten Ausführungen, darin eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den sich hier für den Fußgänger als den schwächeren Verkehrsteilnehmer ergebenden Problemen sehen. Jedoch darf man diese Wendung nicht isoliert betrachten. Der Senat ist zwar bereit, die sich aus der von ihm aufgezeigten Regelung ergebenden Unzuträglichkeiten hinzunehmen, aber nur „solange sich die Verkehrsbehörden nicht i n der Lage sehen, zur Erleichterung des Fußgängerverkehrs wenigstens neben einem T e i l der Haltestellen v o n Omnibussen, insbesondere an Umsteigestellen u n d Haltestellen i n der Nähe von Bahnhöfen, Schulen u n d dgl. Fußgängerüberwege zu schaffen" 3 ™.

Der Senat richtet damit einen Appell an die Verwaltungsbehörden, von sich aus etwas zur Entschärfung der sich beim Ein- und Aussteigen an Omnibushaltestellen ergebenden gefährlichen Verkehrssituationen beizutragen. Gerade die Hervorhebung der „Unzuträglichkeiten", die m i t der vom Senat getroffenen Regelung verbunden sind, bedeutet keine Gleichgültigkeit gegenüber den Schwierigkeiten des Fußgängers, sondern soll die Verwaltung dazu bewegen, dem Fußgänger wirksamer zu helfen als es der Rechtsprechung möglich ist. Solche Appelle an die Verwaltung finden sich auch i n anderen Entscheidungen. So heißt es gegen Ende des Beschlusses der Vereinigten Großen Senate zum Vorfahrtrecht: „Angesichts der berechtigten Sorge der Gegenmeinung u m die Sicherheit des städtischen Verkehrs ist darauf hinzuweisen, daß es die Straßenverkehrspolizeibehörden i n der H a n d haben, die besonderen örtlichen Sicherheitserfordernisse dadurch zu berücksichtigen, daß sie Straßen ganz oder teilweise den Vorrang nehmen oder die Überschreitung bestimmter F a h r geschwindigkeiten durch Verbotszeichen v e r b i e t e n 3 7 7 . "

I n einem Urteil des OLG Hamm, das sich mit der „täglichen Verkehrserfahrung", was Verkehrswidrigkeiten an Fußgängerüberwegen betrifft, auseinanderzusetzen hatte, findet sich folgende Bemerkung: „Der vorliegende F a l l ist i m übrigen geradezu ein Musterbeispiel f ü r einen unzweckmäßig angebrachten Fußgängerüberweg m i t A m p e l n f ü r die Fußgänger, aber ohne abschirmendes Rotlicht f ü r den Kraftfahrzeug v e r k e h r 3 7 ^ "

I n diesen Zusammenhang gehört auch die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, welche dem aus einer sogenannten T-Einmündung Einbiegenden den Vertrauensschutz auf Beachtung sei375 Martin, 3

Vertrauensgrundsatz, S. 24.

™ BGH, a.a.O., S. 177. 377 B G H S t 7, 118 (126). 37 ® O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 96.

III. Vertrauensschutz und „gerechte Risikoverteilung"

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ner Vorfahrt durch von links kommende Benutzer der durchgehenden Straße m i t der Begründung versagt: „ A n solchen Einmündungen mißachten erfahrungsgemäß Benutzer der durchgehenden Straße besonders häufig die Vorfahrt der aus der einmündenden Straße kommenden u n d i n die geradeaus verlaufende Straße einbiegenden Verkehrsteilnehmer, sei es, daß sie sich aus Rechtsunkenntnis f ü r vorfahrtberechtigt halten, sei es, daß sie sich darauf verlassen, der Einbiegende, der j a ohnehin verhältnismäßig langsam fahren w i r d , werde i n die durchgehende Straße nicht ohne Rücksicht auf den dort befindlichen Verkehr einfahren u n d seinerseits einen Zusammenstoß v e r m e i d e n 3 7 9 . "

Bockelmann ist der Ansicht, daß ein solche Judikatur i m Ergebnis die Verläßlichkeit des Verkehrsrechts beeinträchtigen müsse. Das Bayerische Oberste Landesgericht habe einer häufig an T-Einmündungen festzustellenden Mißachtung der gesetzlichen Vorschrift des § 13 Abs. 1 (heute § 8 Abs. 1) StVO nachgegeben und damit nicht nur den „Vertrauensgrundsatz" eingeschränkt, sondern i m Grunde genommen die gesetzliche Vorschrift selbst modifiziert. Hierdurch habe die Vorfahrtregelung der StVO weithin die Eignung verloren, dem Kraftfahrer als Richtschnur zu dienen 3 8 0 . Sicher ist Bockelmann zuzustimmen, wenn er die Rechtsprechung davor warnt, i n so rigoroser Weise die Vorfahrtregelung, die zum „Kernbereich" des Straßenverkehrs gehört, anzutasten. Bockelmann übersieht jedoch, daß die Ausführungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts i n erster Linie als Appell an die Verwaltung gedacht sind, einem allseits als unbefriedigend empfundenen Zustand ein Ende zu machen. Dieser Appell hat Erfolg gehabt: Nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 8 Abs. 1 StVO soll allen Einmündungen von rechts die Vorfahrt grundsätzlich genommen werden 3 8 1 . I n ähnlicher Weise wie an die Verwaltung richtet die Rechtsprechung mitunter den Appell an den Gesetzgeber, gefährliche Verkehrssituationen, i n denen sich nach den Grundsätzen einer „gerechten Risikoverteilung" generell die Versagung des Vertrauensschutzes empfehlen würde, durch eindeutige Regelungen zu entschärfen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des Verkehrsstrafsenats zur Ausübung des Vorfahrtrechts durch einen aus einem Feldweg auf eine gut ausgebaute und stark befahrene Straße Einbiegenden. Dem Senat geht die von der Vorinstanz vertretene Auffassung, der Einbieger müsse sich so verhalten, als ob i h m die Vorfahrt nicht zustünde, zu weit. Richtig sei nur, daß er dem auf der „Hauptverkehrsstraße" von links Herankommenden nicht unversehens i n den Weg fahren dürfe. Der Senat meint dazu: 379 BayObLG, V e r k M i t t 1960, Nr. 68. 880 Bockelmann, Verkehrsstrafrecht, S. 105 f. 381 V w V - S t V O , V k B l . 1970, S. 758 (759). 13*

196

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

„ I s t etwa die Übersicht von einer gutausgebauten u n d v i e l befahrenen, aber nicht als Bundesstraße oder sonst als Vorfahrtstraße bezeichneten Straße i n einen v o n rechts einmündenden Feldweg nicht möglich, so darf aus diesem Feldweg heraus ein Fahrzeug nicht i n die Straße einfahren, solange sich sein Lenker nicht überzeugt hat, daß sich — auch v o n l i n k s — nicht ein möglicherweise schnellfahrendes Fahrzeug nähert, dessen Lenker durch das unvermutete Einfahren so überrascht werden könnte, daß er nicht mehr die notwendige Zeit u n d Gelegenheit hat, dem aus dem Feldweg einfahrenden Fahrzeug die Vorfahrt zu lassen . . . K a n n jedoch derjenige, der aus dem Feldweg i n die Straße einfahren w i l l , den Umständen nach zuverlässig annehmen, der Lenker eines v o n links herankommenden F a h r zeugs müsse sowohl den Vorgang des Einbiegens als auch die besonderen dabei bestehenden Verhältnisse so rechtzeitig bemerken, daß er sich gefahrlos darauf einrichten könne, so braucht er dessen Vorbeifahrt nicht abzuwarten382."

Der Bundesgerichtshof ist i n seiner Entscheidung glimpflicher m i t dem Vorfahrtrecht umgegangen als das Bayerische Oberste Landesgericht. Er hat es nicht zum nudum ius erklärt, es aber m i t so vielen „Wenns" und „Abers" behaftet, daß jetzt eigentlich weder Vorfahrtberechtigter noch Wartepflichtiger so recht wissen, woran sie sind. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß diese Verunsicherung vom Bundesgerichtshof bewußt i n Kauf genommen wurde, u m hier den Gesetzgeber zum Eingreifen zu veranlassen. Das ist inzwischen geschehen: Bekanntlich nimmt § 8 Abs. 1 Satz 2 StVO Fahrzeugen, die aus einem Feld- oder Waldweg auf eine andere Straße kommen, generell die Vorfahrt. M i t deutlichen Worten w i r d das Eingreifen des Gesetzgebers auch i n einem U r t e i l des OLG K ö l n gefordert. Es heißt dort: „Es w i r d zu überlegen sein, ob nicht auch i m Güternahverkehr . . . die M i t n a h m e eines Beifahrers gesetzlich verlangt werden muß, solange nicht die optischen Einrichtungen derartiger Fahrzeuge technisch so v e r v o l l kommnet werden können u n d eingerichtet sind, daß es einen . . . toten W i n k e l nach rechts vorwärts/seitwärts/rückwärts v o m Führersitz aus einfach nicht mehr gibt u n d geben kann. Mindestens bedarf § 56 StVZO i n dieser Richtung vielleicht einer Ergänzung 3 8 3 ."

Solche Appelle an den Gesetzgeber und die Straßenverkehrsbehörden zeigen, wie sehr sich die Gerichte der Tatsache bewußt sind, daß ihre Bemühungen um eine Erhöhung der Verkehrssicherheit auf den Straßen i n von Gesetzgebung und Verwaltung zu treffenden Schutzmaßnahmen ihre sinnvolle Ergänzung finden müssen. Was die Effizienz solcher Maßnahmen angeht, so sind Gesetzgebung und Verwaltung den Gerichten gegenüber sicherlich i m Vorteil, weil sie sich nicht i n demselben Maße m i t den „Besonderheiten" des Einzelfalles auseinanderzusetzen haben und daher zu großzügigeren Lösungen kommen können. 382 383

B G H , V e r k M i t t 1961, Nr. 123. O L G K ö l n , V e r k M i t t 1974, Nr. 83.

IV. Einzelprobleme

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Der Straßenverkehr aber erfordert, wie immer wieder zu betonen ist, „einfache und klare Regeln". Daß die Aufstellung solcher Regeln auch auf Grund subtiler Erwägungen bezüglich einer „gerechten Risikoverteilung" möglich ist, hat die Entscheidung des Verkehrsstrafsenats über das Verhalten des Kraftfahrers an Omnibushaltestellen erwiesen. I V . Einzelprobleme des Vertrauensschutzes

A m Ende des Uberblicks über den Stand der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz soll eine A n t w o r t auf die eingangs dieses Abschnitts gestellten drei Fragen versucht werden: Gibt es noch „neuralgische Anwendungsfälle" des „Vertrauensgrundsatzes" 384 ? Ist es überhaupt gerechtfertigt, von einem Vertrauens-„Grundsatz" zu sprechen, oder ist der neutralere Ausdruck „Vertrauensschutz" sachgerechter? Berücksichtigt die Rechtsprechung bei der Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes i n genügendem Maße die Belange der Verkehrssicherheit? 1. Vertrauensschutz und Verkehrssicherheit

A m leichtesten läßt sich wohl auf die zuletzt gestellte Frage eine A n t w o r t finden. Martins Behauptung, wonach die Rechtsprechung die Anwendbarkeit des „Vertrauensgrundsatzes" auf einzelne Verkehrsvorgänge stets unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit prüfe 3 8 5 , hat sich i m wesentlichen bestätigt. Schon die zu Beginn des 4. Teils zitierten positiven Entscheidungen zum Vertrauensschutz hatten dieses Bestreben der Rechtsprechung deutlich gemacht 386 , dasselbe muß für die Urteile und Beschlüsse gelten, welche die Gewährung von Vertrauensschutz auf Grund eigenen oder fremden (erkennbaren) Fehlverhaltens, „besonderer" oder „ u n klarer" Verkehrslagen und gegenüber „typischen Verkehrs Widrigkeiten" ausschließen. Ja, i n manchen Entscheidungen w i r d sogar eine Tendenz sichtbar, die „Besonderheiten" des Einzelfalles überzubetonen, bzw. allzu schnell eine „unklare Verkehrslage" oder eine „typische Verkehrswidrigkeit" anzunehmen. Inwieweit hochgespannte Anforderungen an das Fahrverhalten und das Reaktionsvermögen der motorisierten Verkehrsteilnehmer der Verkehrssicherheit dienlich sind, oder inwieweit hier „Unzumutbares" verlangt wird, ist dabei nicht immer zweifelsfrei zu entscheiden 387 . Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß die 384 Martin, Defensives Fahren, S. 305. 385 Ebenda, S. 303. 38β v g l . oben S. 104 ff. 387 I m m e r h i n sei darauf hingewiesen, daß der Rechtsprechung auch der Topos von der „Überforderung des Kraftfahrers" nicht fremd ist, vgl. z.B. B G H (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 56; O L G Hamburg, V e r k M i t t 1970, Nr. 98; O L G

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Rechtsprechung die Gebote der Verkehrssicherheit durchweg sehr ernst nimmt. 2. „Neuralgische Anwendungsfälle" bei der Bemessung des Vertrauensschutzes?

Damit ist teilweise auch schon die erste Frage beantwortet. „Neuralgische Anwendungsfälle" des „Vertrauensgrundsatzes" — i m Sinne einer unzureichenden Berücksichtigung von Forderungen der Verkehrssicherheit — lassen sich zumindest seit dem Beschluß der Vereinigten Großen Senate zum Sichtfahrgebot auf Autobahnen 8 ® 8 kaum einmal nachweisen 389 . Besonders der von M a r t i n kritisierte Beschluß des Verkehrsstrafsenats zum Verhalten an Omnibushaltestellen stellt sich nicht als ein „weitgehendes Zugeständnis an die Verkehrsflüssigkeit" 3 9 0 , d. h. i n Wahrheit an den Schnellverkehr, sondern als Musterbeispiel für eine „gerechte Risikoverteilung" dar. Überhaupt dürften die zitierten Entscheidungen gezeigt haben, daß die Rechtsprechung die Bedeutung der Verkehrsflüssigkeit für die Verkehrssicherheit durchaus realistisch einschätzt 391 . a) Abgrenzungsschwierigkeiten

in

Einzelfällen

Versteht man jedoch das Wort von den „neuralgischen Anwendungsfällen" des „Vertrauensgrundsatzes" als Umschreibung für gelegentlich auftretende Unsicherheiten bei der Entscheidung über die Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes, so ist i h m eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen. Die i n manchen Entscheidungen anzutreffenden Unklarheiten, was die Folgen eigenen Fehlverhaltens für den Vertrauensschutz angeht, sind ausführlich erörtert worden 3 9 2 . Das gleiche gilt für die m i t der Abgrenzung zwischen „unklaren", „besonderen" und durch das verkehrswidrige Verhalten Dritter bestimmten Verkehrslagen einhergehenden Schwierigkeiten 3 9 3 . Was die m i t dem Maß des Vertrauensschutzes gegenüber verkehrsungewandten Personen, insbesondere kleiHamburg, V e r k M i t t 1970, Nr. 97; B G H (Z), V e r k M i t t 1970, Nr. 61; O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1970, Nr. 58; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1967, Nr. 120; O L G Hamburg, V e r k M i t t 1966, Nr. 116; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1966, Nr. 28; BayObLG, V e r k M i t t 1965, Nr. 62; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1964, Nr. 126; O L G H a m b u r g (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 36; BayObLG, V e r k M i t t 1959, Nr. 78. 388 B G H S t 16, 145. 389 Zumindest was den Vertrauensschutz gegenüber erwachsenen V e r kehrsteilnehmern (auch gegenüber Fußgängern, dazu unten S. 232) angeht; zum Vertrauens schütz gegenüber K i n d e r n vgl. unten S. 239 ff. 390 Martin, Vertrauensgrundsatz, S. 24. 391 Vgl. dazu besonders die auf S. 108 ff. zitierten Entscheidungen. 392 v g l . oben S. 150 f. 393 v g l . oben S. 158 ff.

IV. Einzelprobleme

199

nen Kindern und alten Leuten, verbundenen Zweifelsfragen angeht, so w i r d davon i m 5. Teil der Arbeit die Rede sein 3 9 4 . b) Vertrauensschutz, und

„typische

„gerechte

Verkehrswidrigkeiten"

Risikoverteilung"

Deutliche, durch ein Überhandnehmen von Hilfserwägungen gekennzeichnete Unsicherheiten zeigt die Rechtsprechung vor allem, wenn es um die Frage geht, wie die Zubilligung von Vertrauensschutz gegenüber Verkehrswidrigkeiten, die so häufig sind wie beispielsweise Vorfahrtverletzungen, sich damit verträgt, daß der Vertrauensschutz doch gegenüber „typischen Verkehrswidrigkeiten" versagen soll. Liegt hier nicht, wie Jagusch erkannt zu haben glaubt 3 9 5 , ein Grundwiderspruch i n der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz vor? Und läßt sich dieser Widerspruch allein m i t der Erwägung, daß die Rechtsprechung auf den gezielten Einsatz des Vertrauensschutzes nicht verzichten kann, auflösen? Nun dürfte allerdings m i t den zu diesem Problemkreis zitierten Entscheidungen 396 der Beweis erbracht sein, daß die Bejahung einer „typischen Verkehrs Widrigkeit" nicht schlechthin m i t einer „Einstellung der Fahrpraxis auf den Verkehrssünder" 3 9 7 gleichzusetzen ist, sondern daß sich die Rechtsprechung dabei vor allem Gedanken über eine „gerechte Risikoverteilung" macht. Wenn das häufig nicht deutlich wird, so liegt das daran, daß die Rechtsprechung das m i t einer solchen Entscheidung verbundene „Risiko" scheut und sich lieber hinter unbeweisbaren — und damit auch unangreifbaren — Sätzen zur „Verkehrs» und Lebenserfahrung" verschanzt. Dabei lassen sich für die Zuordnung des aus dem Verhalten verschiedener Verkehrsteilnehmer fließenden Risikos stets genügend verläßliche Anhaltspunkte gewinnen, die dann bei der Bemessung des in einer bestimmten Situation gebotenen Vertrauensschutzes zum Tragen kommen. Als Grundregel mag gelten, daß ein Verkehrsteilnehmer sich insoweit nicht auf andere verlassen darf, als es i h m selber „zumutbar" 3 9 8 ist, zur Entschärfung einer gefährlichen Situation beizutragen 399 . 394 v g l . unten S. 223 ff. 395 Jagusch, Rz. 20 zu § 1 StVO; vgl. auch Jakobs, S. 89. A n m . 170. 39β Oben S. 184 ff. 397 B G H S t 7, 118 (125). 398 Vgl. den letzten Satz des Zitates aus B G H S t 21, 91 (oben S. 185 f.). 399 Möhl i n Müller, Rz. 37 zu § 1 StVO: „Das Maß der v o m Verkehrsteilnehmer zu fordernden Sorgfalt w i r d danach zu bemessen sein, welche Sorgfalt er billigerweise bei den übrigen Verkehrsteilnehmern voraussetzen darf."

200

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Wer also einen besonders gefährlichen Verkehrsvorgang einleitet, w i r d sich, was dessen ungefährdete Durchführung angeht, nur i n geringem Maße auf andere Verkehrsteilnehmer verlassen dürfen. Schon die StVO gibt hier Anhaltspunkte, indem sie bei der Ausführung besonders gefährlicher Fahrmanöver ein Verhalten vorschreibt, das die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausschließt" 400 . A n zwei Entscheidungen des Kammergerichts w i r d deutlich, wo hier die Grenze des Vertrauensschutzes verläuft. I n beiden Fällen w a r es zum Unfall gekommen, weil ein Fahrzeug eine auf dem rechten Fahrstreifen zum Stillstand gekommene Fahrzeugkolonne überholte, während ein anderes Fahrzeug durch eine Lücke i n der Kolonne nach links abbiegen wollte und dabei den Fahrstreifen des Überholenden überquerte. I n einem Fall kam der (wartepflichtige) Einbiegende aus einer Nebenstraße, i m anderen Fall aus einem Grundstück, hatte also die erhöhte Vorsicht des § 10 Satz 1 StVO zu beobachten. Daran anknüpfend hat das Kammergericht (in beiden Fällen der 22. Zivilsenat) den Vertrauensschutz des Überholenden wie folgt bestimmt: Falli „ W e r eine wartende Fahrzeugschlange überholt, muß sich, auch w e n n er die Vorfahrt hat, auf Querverkehr aus f ü r i h n erkennbaren Verkehrslücken an Kreuzungen u n d Einmündungen einstellen u n d darf daher n u r i n geräumigem Seitenabstand u n d m i t verminderter Geschwindigkeit die F a h r zeugreihe ü b e r h o l e n 4 0 1 . "

Fall 2 „ W e r eine wartende Fahrzeugreihe l i n k s überholt, braucht nicht damit zu rechnen, daß aus einer v o r einer Grundstücksausfahrt freigelassenen Lücke Querverkehr versuchen werde, sich i n den Fahrstreifen des Überholenden hineinzutasten 4 0 2 ."

I m ersten Fall statuiert das Gericht eine „Ausnahme" von dem bei Kreuzungen und Einmündungen sonst zugunsten des Vorfahrtberechtigten geltenden „Vertrauensgrundsatz". Es zieht eine Parallele zu den Pflichten des Kraftfahrers bei der Vorbeifahrt an haltenden Omnibussen 4 0 3 und führt aus: 400 v g l . § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO, wonach beim Überholen sogar jede „ B e hinderung" des Gegenverkehrs „ausgeschlossen" sein m u ß ; §7 Abs. 4 Satz 1 StVO (Wechsel des Fahrstreifens); §9 Abs. 5 StVO (Abbiegen i n ein G r u n d stück, Wenden u n d Rückwärtsfahren); § 10 StVO (Einfahren u n d Anfahren); §14 Abs. 1 StVO (Ein- u n d Aussteigen); §18 Abs. 4 StVO (Überholen auf Autobahnen); §20 Abs. 1 a Satz 1 StVO (Vorbeifahrt an einem haltenden Schulbus); §26 Abs. 3 Satz 1 StVO (Überholen an Fußgängerüberwegen). 4

° i K G (Z), V e r k M i t t 1976, N r . 106. °2 K G (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 105. 4 °3 B G H S t 13, 169; vgl. dazu oben S. 189 ff.

4

IV. Einzelprobleme

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„Die besondere Sorgfaltspflicht beim Vorbeifahren an einer ins Stocken geratenen Kolonne i m dichten Verkehr ist ein Gebot der Rücksichtnahme auf zwingende Verkehrsbedürfnisse derjenigen Kraftfahrer, welche die bevorrechtigte Fahrtrichtung kreuzen wollen; ihnen muß Gelegenheit gegeben werden, m i t der gebotenen Vorsicht Lücken i n der Kolonne auszunützen. Andernfalls wäre es gerade i m geballten innerstädtischen Verkehr den kreuzenden oder abbiegenden wartepflichtigen Fahrzeugführern häufig auf unzumutbare Zeit verwehrt, i n der beabsichtigten Fahrtrichtung w e i t e r zukommen404."

I m zweiten Fall weist das Gericht darauf hin, daß den Benutzer einer Grundstücksausfahrt gegenüber den Teilnehmern des fließenden Verkehrs wesentlich strengere Sorgfaltspflichten treffen als beispielsweise den Wartepflichtigen (§ 8 StVO) oder den Abbieger (§ 9 Abs. 1 bis 4 StVO). Bei erheblichem Verkehrsaufkommen sei es ihm daher ohne weiteres „zuzumuten" von einem Einfahren i n die Fahrbahn nach links Abstand zu nehmen und eine etwaige Lücke i m zum Stillstand gekommenen gestauten Verkehr dazu zu benutzen, um sich zunächst nach rechts i n den Verkehrsstrom einzuordnen und dann später die gewünschte Fahrtrichtung bei erster sich bietender Gelegenheit, zum Beispiel durch mehrfaches Abbiegen nach rechts oder links zu ereichen. Nach dem Sinn des § 10 Satz 1 StVO sei ihm ein sofortiges Gelangen i n die Gegenrichtung, unmittelbar nach dem Einfahren auf die Fahrbahn wegen der damit zwangsläufig verbundenen Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer bei dichtem Verkehrsaufkommen durch gestaute Kolonnen hindurch in der Regel gar nicht möglich „und daher untersagt". M i t einem „derartig verkehrswidrigen" Verhalten des Benutzers einer Grundstücksausfahrt brauche der an langsamer fahrenden oder zum Stillstand gekommenen Kolonnen vorbeifahrende Kraftfahrer — anders als an Kreuzungen oder Einmündungen — daher auch nicht ohne weiteres zu rechnen. Eine andere Verteilung der Sorgfaltspflichten würde „jedenfalls auf stark befahrenen Durchgangsstraßen i n einer Großstadt, wo . . . nahezu jedes der Häuser eine Ausfahrt auf weist, den Verkehrsfluß 404 K G (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 106; zur Absicherung seiner Entscheidung gibt das Gericht noch zu bedenken, daß i n derartigen Situationen die Gefahr von Vorfahrtverletzungen besonders naheliege. Es komme nämlich „ i m m e r wieder" vor, daß sich die durch die Lücke fahrenden Kraftfahrzeugführer auf Winkzeichen der vor der Straßeneinmündung haltenden Fahrer v e r ließen u n d es deshalb an der gebotenen Sorgfalt gegenüber dem Verkehr auf den übrigen Spuren fehlen ließen. „ D e m muß der Vorfahrtberechtigte i n dieser besonderen Situation bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen, ohne daß damit ein Freibrief für verkehrswidriges Verhalten des Wartepflichtigen geschaffen w i r d . " Diese ein wenig gewunden wirkende Hilfserwägung macht wieder einmal deutlich, m i t welchen Schwierigkeiten die Rechtsprechung zu kämpfen hat, wenn sie m i t der Rechtsfigur der „typischen Verkehrswidrigkeit" arbeitet.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

zum Erliegen bringen oder doch zumindest i n unzumutbarer Weise behindern, was m i t Rücksicht auf die i n § 10 StVO normierten höchsten Sorgfaltspflichten des aus einem Grundstück Ausfahrenden nicht zu rechtfertigen ÌSt405."

Das Gericht hat also i n beiden Fällen auf das dem Kraftfahrer „ Z u mutbare" abgestellt und dabei berücksichtigt, daß den aus einem Grundstück Ausfahrenden höhere Sorgfaltspflichten treffen als den an einer Kreuzung oder Einmündung Wartepflichtigen. Jedoch w i r d es auch einem Kraftfahrer, der sich so zu verhalten hat, daß eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausgeschlossen" ist, i n aller Regel nicht „zuzumuten" sein, sich auf ein „grob verkehrswidriges" Verhalten eines anderen einzurichten. Zwar trägt er für das m i t seinem Fahrmanöver verbundene Risiko „nahezu die alleinige Verantwortung" 4 0 6 , doch gilt damit für ihn nicht etwa ein „Mißtrauensgrundsatz", auch i h m ist ein — allerdings durch strenge Sorgfaltspflichten eingegrenzter — Vertrauensschutz zuzubilligen 4 0 7 . Beispielsweise braucht der aus einem Grundstück bei einer Sicht von nur 50 m auf eine Bundesstraße Einfahrende sich nur dann eines Einweisers zu bedienen, wenn sein Fahrzeug eine über die normalen Verkehrsgefahren hinausgehende Gefahr schafft, auf die andere Verkehrsteilnehmer entweder nicht gefaßt zu sein brauchen oder die sie nur schwer erkennen können (ζ. B. langes und schwerfälliges Fahrzeug, geringe Beschleunigungskraft) 408 . Es leuchtet ein, daß ein Kraftfahrer besondere von seinem Fahrzeug ausgehende Gefahren durch ähnliche Vorsicht abzugleichen suchen muß wie durch ein besonders riskantes Fahrmanöver heraufbeschworene Gefahren. Dasselbe gilt, wenn Witterungseinflüsse, erkennbar gefährliche oder „unklare" Verkehrslagen das allgemeine Risiko des Straßenverkehrs erhöhen. Die Tatsache, daß von einem motorisierten Verkehrsteilnehmer infolge der Wucht seines Fahrzeuges größere Risiken ausgehen als von Radfahrern oder Fußgängern schlägt sich i n zahlreichen zugunsten dieser Gruppe von Verkehrsteilnehmern statuierten „Erfahrungssätzen" nieder 4 0 9 . Daß die Rechtsprechung dem Wartepflichtigen zumutet, sich in gewissem Maße auf Verkehrswidrigkeiten des Vorfahrtberechtigten einzustellen, während sie zu dessen Gunsten rigoros am Vertrauensschutz festhält, hat seinen Grund darin, daß es dabei eines der grund405 K G (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 105. 4oe O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 132. 407 O L G Frankfurt, V e r k M i t t 1976, Nr. 131. 408 O L G Frankfurt, V e r k M i t t 1976, Nr. 70; vgl. auch O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 132; BayObLG, V e r k M i t t 1977, Nr. 20: Beobachtungspflichten des Rückwärtsfahrenden zur Seite hin. 409 Vgl. oben S. 171 f.; unten S. 229 ff.

IV. Einzelprobleme

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legenden Ordnungsprinzipien des Verkehrsrechts zu schützen gilt. Es erscheint deshalb gerechtfertigt, das Risiko solcher Begegnungen im wesentlichen dem Wartepflichtigen aufzuerlegen 410 . Selbstverständlich w i r d die Rechtsprechung bei einer „gerechten Risikoverteilung" auch berücksichtigen dürfen, daß es Verkehrslagen gibt, die besonders häufig zu Fehlreaktionen Anlaß geben. Jedoch nötigt dies nicht dazu, i n solchen Fällen gleich das schwere Geschütz der „typischen Verkehrswidrigkeit" aufzufahren. Wie schon dargetan, bieten sich viele Möglichkeiten, um bei der Bemessung des von jedem Verkehrsteilnehmer zu tragenden Risikos den Umständen des Einzelfalles Rechnung zu tragen. Die Rechtsprechung mag dartun, aus welchen Gründen es sich hier u m eine „besondere" oder „unklare" Verkehrslage handelt. Sie mag das Verhalten der an einem Unfall Beteiligten genauer daraufhin untersuchen, ob die Versagung des Vertrauensschutzes nicht schon deshalb gerechtfertigt ist, weil nicht rechtzeitig auf eine bereits zutage getretene Verkehrswidrigkeit reagiert wurde 4 1 1 . Sie w i r d schließlich nicht mehr zu Hilfserwägungen Zuflucht zu nehmen brauchen, wenn von vornherein die Versagung des Vertrauensschutzes aufgrund eigenen verkehrswidrigen Verhaltens geboten erscheint 412 . Nach alledem sollte die Rechtsprechung den M u t haben, auf den durch „Verkehrs- und Lebenserfahrung" nur unzulänglich abgesicherten Begriff der „typischen Verkehrs Widrigkeit" zu verzichten. Wenn die Gerichte die Bejahung oder Verneinung des Vertrauensschutzes i n Situationen, denen sie heute noch m i t der „Verkehrs- und Lebenserfahrung" beizukommen suchen, aufgrund von Erwägungen über eine „gerechte Risikoverteilung" vornehmen würden, könnte die Handhabung des Vertrauensschutzes endlich nach einheitlichen Gesichtspunkten erfolgen. Die von Jagusch gerügte und offenbar auch von der Rechtsprechung empfundene Zweigleisigkeit beim Einsatz des Vertrauensschutzes wäre dann auch nach außen h i n überwunden. Die „tragenden Urteilsgründe" brauchten nicht mehr i n die Form von Hilfserwägungen gekleidet zu werden, und die gewiß ärgerliche Tatsache, daß über die Häufigkeit mancher Verkehrsübertretungen ohne nähere Begründung „par ordre du m u f t i " entschieden wird, wäre aus der Welt geschafft 413 . 410 Oben S. 181; m i t „groben Verkehrsverstößen" des Vorfahrtberechtigten braucht der Wartepflichtige dagegen nicht zu rechnen (BayObLG [Z], V e r k M i t t 1976, Nr. 6). 411 Vgl. die oben auf S. 158 ff., 170 angeführten Fälle. 412 Dazu oben S. 150. 413 Einschränkend zum Begriff der „typischen Verkehrswidrigkeit" auch Schönke-Schröder, Rz. 149 zu §15 StGB; danach sollen „Ausnahmen v o m Vertrauensgrundsatz" n u r gemacht werden gegenüber solchen Verstößen,

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Gleichzeitig könnte der Vertrauensschutz in seiner Bedeutung für die „Verkehrsgesittung" und damit für die Verkehrssicherheit klarer herausgearbeitet werden. M i t dem Begriff einer „gerechten Risikoverteilung" können i m Gegensatz zum Slogan vom „defensiven Fahren" sowohl die Rechtsprechung als auch der Kraftfahrer etwas anfangen. Selbstverständlich kann von einem Kraftfahrer nicht erwartet werden, daß er innerhalb von Sekundenbruchteilen ähnlich tiefgreifende Überlegungen anstellt, wie sie die Rechtsprechung ex post vorzunehmen hat. Jedoch sollte die Vorstellung, daß sein Verhalten einmal unter dem Gesichtspunkt einer „gerechten Risikoverteilung" beurteilt werden mag, geeignet sein, den allzu forschen Kraftfahrzeugführer zu zügeln, dem allzu Ängstlichen jedoch die Gewißheit zu geben, daß er gegenüber dem „Unrechthaber" nicht alleingelassen wird. 3. Verzicht auf den Vertrauens-„Grundsatz"

Die Bemessung des Vertrauensschutzes nach den Prinzipien einer „gerechten Risikoverteilung" unter Verzicht auf die Rechtsfigur der „typischen Verkehrswidrigkeit" würde gleichzeitig den Blick dafür freimachen, daß die Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes nicht einfach nach einem Regel-Ausnahme-Verhältnis erfolgt. Daß die Annahme eines Vertrauens-„Grundsatzes", von dessen „grundsätzlicher" Geltung nach allen Richtungen h i n „Ausnahmen" zulässig sein sollten, nicht recht überzeugen w i l l , wurde schon dargetan 414 . Die in vielen Entscheidungen anzutreffende Betonung der „Besonderheiten" des Einzelfalles spricht dafür, daß auch die Rechtsprechung die Tauglichkeit eines allgemeinen Vertrauens-„Grundsatzes" zur Lösung der bei der Handhabung des Vertrauensschutzes i m Straßenverkehr auftauchenden Probleme i n Zweifel zieht. Symptomatisch für die Haltung der Rechtsprechung ist die Mahnung des OLG Hamm an den Kraftfahrer, nicht „von einem allgemeinen Vertrauensgrundsatz ausgehend" eine konkrete und auch ihm bewußt gewordene Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer außer Acht Nachlässigkeiten u n d Unachtsamkeiten „ w i e sie auch dem verantwortungsbewußten Verkehrsteilnehmer angesichts ihrer relativen Ungefährlichkeit (ζ. B. geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen) oder der subjektiven Ü b e r forderung durch den modernen Straßenverkehr (z.B. zu spätes Einordnen an unübersichtlicher Kreuzung) unterlaufen". Auch Stratenwerth, Arbeitsteilung, S. 392, A n m . 31, spricht sich gegen die Außerkraftsetzung des Vertrauensschutzes allein auf G r u n d der Häufigkeit des Sorgfaltsverstoßes aus, da es allein der Charakter des anderen als einer „verantwortlichen Person" sei, der zu der E r w a r t u n g berechtige, daß er seiner Verantwortung gemäß handeln, also seine Sorgfaltspflichten erfüllen werde; zu Stratenwerths „Abgrenzung der Verantwortungsbereiche" vgl. unten S. 209. 414 v g l . oben S. 56 ff.

IV. Einzelprobleme

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zu lassen. Umfang und Maß seiner Sorgfaltspflicht richteten sich nämlich i n erster Linie „nach den Notwendigkeiten der Gefahrabwendung i m konkreten Einzelfall" 4 1 5 . Das ist gewiß richtig, nur darf darüber nicht vergessen werden, daß nicht allein die „Besonderheiten" des Einzelfalles für die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes maßgebend sein sollten. Eine „gerechte Risikoverteilung" hat vor allem auch die Belange der allgemeinen Verkehrssicherheit zu berücksichtigen, denen nicht selten m i t einem Festhalten am Vertrauensschutz besser gedient sein mag als m i t einer durch die Betonung der i m Einzelfall gegebenen „Besonderheiten" verschleierten „Einstellung der Fahrpraxis auf den Verkehrssünder" 4 1 6 . Solange sich die Rechtsprechung allerdings an das durch das Wort vom „Vertrauensgrundsatz" suggerierte Regel-Ausnahme-Verhältnis gebunden glaubt, w i r d sie es nur selten wagen, solchen übergreifenden Gesichtspunkten Raum zu geben. Das führt dann zu dem i m Grunde paradoxen Ergebnis, daß Auslegung und Anwendimg des doch so festen Vertrauens-„Grundsatzes" i m wesentlichen Tatfrage bleiben und — sicher nicht zum Vorteil der Verkehrssicherheit — der rechtlichen Nachprüfung durch die Revisionsgerichte weitgehend entzogen sind 4 1 7 . Nicht nur die Rechtsprechung, auch die Rechtslehre zeigt gegenüber dem „Vertrauensgrundsatz" Vorbehalte, die sich nicht allein m i t dem Eintreten mancher Autoren für das „defensive Fahren" erklären lassen. Gerade Autoren, welche die Notwendigkeit von Vertrauensschutz i m Straßenverkehr bejahen, drücken sich, was die rechtliche Tragweite des „Vertrauensgrundsatzes" angeht, äußerst vorsichtig aus. Bockelmann beklagt, daß i m Verkehrsrecht „ein immer dichter werdendes Gespinst von Richterrecht" die Normen des Gesetzesrechts überlagert habe, so daß niemand mehr „durch bloßes Nachdenken" darauf kommen könne, i n welchen Situationen „der Vertrauensgrundsatz versagt" 4 1 8 . Martin hält „Wesen und Anwendung des Vertrauensgrundsatzes" nicht für eindeutig und allgemeingültig bestimm- und abgrenzbar" 4 1 9 . Möhl weist darauf hin, daß der „Vertrauensgrundsatz" 415 O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 96; Wimmer, Ausdehnung, S.375. 4ie B G H S t 7, 118 (125); ganz i n diesem Sinne O L G K ö l n , V e r k M i t t 1976, Nr. 26: „ E i n verkehrswidriges Verhalten eines Kraftfahrers w ü r d e nicht dadurch rechtmäßig, daß auch andere K r a f t f a h r e r die Vorschrift verletzen. I n einem derartigen F a l l ist es vielmehr Aufgabe der Gerichte u n d der m i t der Verkehrserziehung befaßten Institutionen auf eine Beachtung der V e r kehrsregel hinzuwirken." 417 Martin, Straßenverkehrsrecht, S. 167. 418 Bockelmann, Verkehrsstrafrecht, S. 103 f. 4i» Martin, Einschränkung, S. 139.

206

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

kein „starrer Rechtssatz" sei 4 2 0 . Lange rechnet den „Vertrauensgrundsatz" zu den „wertausfüllungsbedürftigen Klauseln, die ein Stück Selbstverantwortung dem Fahrer u n d ein Stück Ermessensfreiheit dem Richter überlassen" 4 2 1 .

Baumann schließlich sieht i m „Vertrauensgrundsatz" nichts weiter „als die Behauptung der Geltung der Straßenverkehrsnormen". Die Tatsache, daß jeder Verkehrsteilnehmer von der Annahme ausgehen dürfe, daß der andere nach den gleichen Spielregeln fahre, hält er für so selbstverständlich, daß i h m beispielsweise eine gesetzliche Normierung des „Vertrauensgrundsatzes" geradezu „absurd" erschiene. Schließlich sei, so meint Baumann, ja auch noch niemand auf die Idee gekommen, i n das Schuldrecht eine Vorschrift einzufügen, wonach man sich bei seinen eigenen Rechtsgeschäften auf das vertragsgemäße Verhalten des anderen verlassen könne 4 2 2 . Gerade Baumanns auf den ersten Blick befremdlich wirkenden Ausführungen machen das Dilemma des „Vertrauensgrundsatzes" deutlich: Dieser „Grundsatz" gewinnt Kontur erst durch seine „Ausnahmen", die Reichweite des Vertrauensschutzes i m Straßenverkehr w i r d rechtlich faßbar erst, wenn man ihn den Prinzipien einer „gerechten Risikoverteilung" unterwirft. So befaßt sich auch § 3 der österreichischen Straßenverkehrsordnung 423 i m wesentlichen nur m i t den „Ausnahmen vom Vertrauensgrundsatz", wobei es sich fast von selbst versteht, daß dem Gesetzeswortlaut noch nicht einmal sämtliche Einschränkungen zu entnehmen sind 4 2 4 . Man sollte sich also nicht damit zufriedengeben, daß sich das Wort vom „Vertrauensgrundsatz" inzwischen „eingebürgert" hat 4 2 5 , sondern diesen Ausdruck, der ein i n Wirklichkeit nicht bestehendes RegelAusnahme-Verhältnis vortäuscht, meiden. Er sollte, und damit ist die letzte der drei eingangs dieses Teils gestellten Fragen beantwortet, durch die farblosere aber treffendere Bezeichnung „Vertrauensschutz" ersetzt werden. D a ß das W o r t v o m „ V e r t r a u e n s g r u n d s a t z " um

den Vertrauensschutz

e n t b e h r l i c h ist, w e n n es

zwischen d e n V e r k e h r s t e i l n e h m e r n

geht,

d ü r f t e diese A r b e i t gezeigt haben. Gerade die Rechtsprechung w ü r d e o f t d u r c h d i e V e r m e i d u n g des W o r t e s „ V e r t r a u e n s g r u n d s a t z " z u s a d i co Möhl i n Müller, Rz. 36 zu § 1 StVO. 421 Lange, Verkehrserziehung, S. 97. 422 Baumann, Straßenmängel, S. 244 f. 423 Z i t i e r t oben 1. Teil, A n m . 7. 424 Vgl. die über 12 Seiten gehende Kommentierung dieser Vorschrift bei Dittrich / Veit / Schuchlenz, österreichisches Straßenverkehrsrecht, I. T e i l : Straßenverkehrsordnung. 425 Möhl i n Müller, Rz. 36 zu § 1 StVO.

I V . Einzelprobleme

207

gerechteren u n d besonders auch d e m L a i e n v e r s t ä n d l i c h e r e n F o r m u l i e r u n g e n gelangen. D i e f o l g e n d e n A u s f ü h r u n g e n des B a y e r i s c h e n O b e r s t e n Landesgerichtes s i n d j e d e n f a l l s n i c h t dazu angetan, e i n e m m i t d e n E i g e n h e i t e n j u r i s t i s c h e r Sprachgepflogenheiten n i c h t V e r trauten „grundsätzlich" etwas klarzumachen: „Es ist von der Rechtsprechung anerkannt, daß sich die Vorfahrt grundsätzlich auf die gesamte Breite der Fahrbahn erstreckt. . . . Insoweit erfährt der Vertrauensgrundsatz zu Lasten des Wartepflichtigen eine wesentliche Einschränkung . . . Der Wartepflichtige darf . . . zwar grundsätzlich auf ein verkehrsgerechtes Verhalten des Vorfahrtberechtigten nicht vertrauen. Er braucht sich aber nicht auf ein v ö l l i g atypisches Verkehrsgeschehen oder auf grobe Verkehrsverstöße des Vorfahrtberechtigten einzustellen. So darf der Wartepflichtige grundsätzlich, darauf vertrauen, daß der V o r f a h r t berechtigte, der die rechte Straßenseite einhält, auf dieser v e r b l e i b t 4 2 6 . " W e n n schon R e c h t s p r e c h u n g 4 2 7 u n d R e c h t s l e h r e 4 2 8 es schwer haben, sich d e r v o m W o r t „ V e r t r a u e n s g r u n d s a t z " ausgehenden F a s z i n a t i o n z u entziehen, so i s t d i e G e f a h r sicherlich n i c h t v o n d e r H a n d z u w e i sen, daß d e r j u r i s t i s c h u n v e r b i l d e t e K r a t f a h r e r e i n e n solchen „ G r u n d satz" i m S i n n e eines v o n R ü c k s i c h t e n a u f andere V e r k e h r s t e i l n e h m e r f r e i e n „ V e r t r a u e n f a h r e n s " 4 2 9 auslegt, d e r F u ß g ä n g e r sich sogar d a z u v e r l e i t e t f ü h l e n k ö n n t e , „ i n sein U n g l ü c k z u l a u f e n " 4 3 0 . A u c h aus diesem G r u n d e e m p f i e h l t es sich also, das W o r t v o m „ V e r t r a u e n s grundsatz" durch die Bezeichnung „Vertrauensschutz" zu ersetzen431. D i e Rechtsprechung s o l l t e alles v e r m e i d e n , w a s d e n „ R e c h t h a b e r " i m S t r a ß e n v e r k e h r z u e i n e m sich oder andere g e f ä h r d e n d e n V e r h a l t e n ermutigen könnte. 426 B a y O b L G (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 6; der Verordnungsgeber selbst vermeidet das W o r t „grundsätzlich". Er hat sich insoweit die K r i t i k Möhls am S t V O - E n t w u r f 1963 zu Herzen genommen (Möhl, Gedanken, S. 3) : „Der E n t w u r f verwendet an mehreren Stellen das W o r t »grundsätzlich 4 , u m zum Ausdruck zu bringen, daß eine Regel nicht ohne Ausnahme gelten soll. Dies ist aus sprachlichen Gründen bedenklich. Das W o r t »grundsätzlich' w i r d i m täglichen Leben gerade dann verwendet, w e n n eine Ausnahme ausgeschlossen werden soll. . . . Allerdings t r i f f t es zu, daß die Rechtsprechung i m diametralen Gegensatz hierzu das W o r t »grundsätzlich* i n dem v o m E n t w u r f gebrauchten Sinn verwendet. Die Begründung des Entwurfs . . . weist sogar ausdrücklich darauf hin, daß der E n t w u r f den Begriff g r u n d sätzlich' der Verkehrsrechtsprechung entnommen hat. Die Kommission meint deshalb, die Rechtsprechung könne seinen Sinn nicht mißverstehen. Das mag sein. A b e r damit setzt sich die Kommission i n Widerspruch zu i h r e m eigenen Leitgedanken, grundsätzlich' die Sprache des Volkes u n d nicht die der Juristen zu gebrauchen." 42 7 Vgl. B G H (Z), N J W 1965, 1177 (1178): „Der Vertrauensgrundsatz w i l l dem Verkehrsteilnehmer eine Richtschnur f ü r seine Verhaltensweise i m Straßenverkehr geben." 4 28 Vgl. oben S. 58 f. 429 Wimmer, Ausdehnung, S. 375. «ο Clauß, S. 207. 431 Z u den dadurch bedingten syntaktischen Änderungen vgl. oben S. 59 f.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes V. Rechtsnatur und systematische Stellung des Vertrauensschutzes im Straßenverkehr

Äußerungen über die Rechtsnatur und systematische Stellung des „Vertrauensgrundsatzes" sind selten und erfolgen nur i n sehr vorsichtiger Form 4 3 2 . 1. Rechtsnatur des „Vertrauensgrundsatzes"

Der Bundesgerichtshof hat einmal beiläufig die auf dem „Vertrauensgrundsatz" — bzw. die auf einer „gerechten Risikoverteilung" i m Rahmen des Vertrauensschutzes — beruhende „2-m-Regel" für die Vorbeifahrt an haltenden Omnibussen als „Rechtssatz" bezeichnet43®. Ob das Gericht damit auch gleichzeitig den „Vertrauensgrundsatz" als „Rechtssatz" bezeichnen wollte 4 3 4 , ist fraglich. Etwas ausführlicher läßt sich das O L G Hamburg zum „Vertrauensgrundsatz" aus. Es heißt dort: „Der Angeklagte hat sich auch nicht i n einem möglicherweise unverschuldeten I r r t u m über die Anwendbarkeit des Vertrauensgrundsatzes befunden, w i e die Staatsanwaltschaft meint u n d w o m i t sie ihren Antrag, das U r t e i l aufzuheben, begründet. Der Vertrauensgrundsatz ist keine Rechtsnorm (und ein I r r t u m darüber k e i n Verbotsirrtum) ; indem er besagt, daß ein Verkehrsteilnehmer m i t verkehrsgerechtem Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer rechnen darf, gibt er lediglich Anhaltspunkte f ü r die Beurteilung des tatsächlichen Sachverhaltes, nämlich der Vorhersehbarkeit 4 8 «."

Abgesehen davon, daß das Wort „Vorhersehbarkeit" hier nicht recht paßt43®, bleibt unklar, wie denn nun das Gericht den „Vertrauensgrundsatz" gewertet wissen w i l l . Ist es nicht gerade Aufgabe einer Rechtsnorm, „Anhaltspunkte für die Beurteilung des tatsächlichen Sachverhaltes" zu geben? Oder ist hier der „Vertrauensgrundsatz" als „reines Erfahrungsurteil über die Erkennbarkeit" 4 3 7 auf gefaßt? I n Wahrheit geht es auch hier wieder u m den Gegensatz zwischen einem abstrakten „Vertrauensgrundsatz" und dem Vertrauen-Dürfen i m konkreten Einzelfall. Das Gericht hält einen I r r t u m über die Tragweite des „Vertrauensgrundsatzes" deshalb für unbeachtlich, w e i l es sich bei diesem Begriff u m eine „wertausfüllungsbedürftige Klausel" handelt 4 3 8 , deren Umfang sich i n erster Linie nach den Gegebenheiten 4

»2 Dazu schon oben S. 205. «3 B G H , V R S 17, S. 446, (447) unter Berufung auf B G H S t 13, 169 (vgl. oben S. 189). 434 Wie Booß, StVO, A n m . 3 zu § 49 StVO annimmt. 4 35 O L G Hamburg, V e r k M i t t 1967, Nr. 113. 43 « Dazu oben S. 123 f. 437 Schönke-Schröder, § 59 Rz. 189. 438 Lange, Verkehrserziehung, S. 97. 4

V. Rechtsnatur und systematische Stellung

209

des Einzelfalles bestimmt 4 3 9 . Ein Verbotsirrtum könnte daher allenfalls i n den wenigen Fällen i n Betracht kommen, i n denen eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung zum Vertrauensschutz aufgegeben wurde, so bei der „Wiedereinführung" der doppelten U m schaupflicht des Linksabbiegers 440 . 2. Vertrauensschutz und „erlaubtes Risiko"

Gibt man den Begriff des „Vertrauensgrundsatzes" auf, wie i n dieser Arbeit vorgeschlagen, so erübrigen sich auch Spekulationen über die „Rechtsnatur des Vertrauensgrundsatzes". Z u fragen ist dann nur nach dem systematischen Standort der Entscheidung über die Gewährung oder Versagung von Vertrauensschutz. Daß diese Entscheidung nach den Prinzipien einer „gerechten Risikoverteilung" zu erfolgen hat 4 4 1 , deutet schon darauf hin, daß damit Umfang und Grenzen des i m Straßenverkehr „erlaubten" bzw. „sozialadäquaten" Risikos bestimmt werden 4 4 2 . Bei Mühlhaus heißt es geradezu: „Der Vertrauensgrundsatz zieht die Grenze zwischen dem erlaubten u n d dem verbotenen Wagnis i m Straßenverkehr 4 4 ^." a) Vertrauensschutz

und das Prinzip

der

„Eigenverantwortlichkeit"

Demgegenüber spricht sich Stratenwerth für eine Trennung zwischen „erlaubtem Risiko" und „Vertrauensgrundsatz" aus, da dieser nicht auf der „Vorhersehbarkeit", sondern auf der „Verantwortungsteilung" beruhe. Dabei geht es Stratenwerth allerdings i n erster Linie um die rechtliche Eingrenzung der durch das arbeitsteilige Zusammenwirken eines Teams — beispielsweise i m Krankenhaus — gegebenen Verantwortungsbereiche 444 . Es heißt dazu: „Die ärztliche Behandlung erschöpft sich nicht i n einer Summe k u n s t gerechter technischer Verrichtungen, sondern fordert die persönliche H i n wendung des Arztes zum Patienten, die durch keine Routine ersetzt werden 43® A u f ähnlichen Gedankengängen beruhen Formulierungen, wonach der „Vertrauensgrundsatz" k e i n „starrer Rechtssatz" sei (Möhl i n Müller, Rz. 36 zu § 1 StVO), daß der K r a f t f a h r e r nicht „ v o n einem allgemeinen Vertrauensgrundsatz ausgehend" eine konkrete Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer außer acht lassen dürfe (OLG Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 96), usw. 44 0 B G H S t 21, 96, nachdem zuvor B G H S t 14, 201 den K r a f t f a h r e r von der doppelten Umschaupflicht i m Zuge einer „ E r w e i t e r u n g des Vertrauenagrundsatzes" (dazu oben S. 85 f.) entbunden hatte. 441 Vgl. oben S. 199 ff. 442 Dazu Schönke-Schröder, RdNr. 143, 147 zu §15 StGB; Jakobs, S. 88, A n m . 170 bezeichnet den „Vertrauensgrundsatz" als „ U n t e r f a l l des erlaubten Risikos". 443 Mühlhaus, Fahrlässigkeit, S. 30. 444 v g l . schon den T i t e l seines Beitrages „Arbeitsteilung u n d ärztliche Sorgfaltspflicht", i n Festschrift f ü r Eberhard Schmidt, S. 383 ff. 14 Kirschbaum

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

kann. Soll dies persönliche Engagement auch unter den erschwerten Bedingungen des modernen Krankenhausbetriebes wenigstens möglich bleiben u n d nicht von Rechts wegen verhindert werden, so muß der A r z t sich i n gewissen Grenzen auf die M i t a r b e i t von Kollegen, Schwestern u n d Pflegern verlassen dürfen. E i n Arzt, der sich u m alles u n d jedes kümmert, w i r d sich zwar nicht dem strafrechtlichen V o r w u r f des Sorgfaltsmangels aussetzen, ein guter A r z t w i r d er aber schwerlich s e i n 4 4 5 . "

Der Gedanke des „erlaubten Risikos" könne zwar dazu dienen, „die m i t der ärztlichen Heilbehandlung als solcher" notwendig verbundenen Gefahren zu rechtfertigen; die spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung seien aber auf solche Weise nicht angemessen einzuordnen. Auch die Parallele zum „Vertrauensgrundsatz" i m Straßenverkehr führe nicht weiter. Sehe man i n diesem Grundsatz nur einen Spezialfall des „erlaubten Risikos", so laufe er wiederum auf eine bloße Interessenabwägung hinaus. Stratenwerth bezweifelt freilich, ob sich der „Vertrauensgrundsatz" auf diese Weise „ v o l l verständlich" machen lasse. Ausgehend von seiner Prämisse, daß der Gesichtspunkt der Interessenabwägung „bei den Problemen der Arbeitsteilung jedenfalls unzureichend" sei, versucht er, das der „Tatherrschaft" bei Vorsatzdelikten korrespondierende dogmatische Erfordernis auf dem Gebiet der fahrlässigen Delikte, nämlich das der „Beherrschbarkeit" eines Geschehensablaufs 4 4 6 , entsprechend zu begrenzen. Dies bedeutet, daß jedenfalls die unmittelbare strafrechtliche Verantwortung ausscheidet, wenn der Geschehensablauf von einer anderen Person, die i h n ihrerseits zu beherrschen vermag, weitergeführt wird. „ W o sich i m sozialen Leben die Verhaltensweisen mehrerer Personen berühren, muß i n der Regel jeder der Beteiligten darauf vertrauen dürfen, daß die anderen sich sorgfaltsgemäß verhalten, w e i l auch sie unter den Anforderungen der Rechtsordnung stehen 4 4 7 ."

Das habe nichts mit statistisch begründeten Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungssätzen zu tun. Die Erfahrung lehre vielmehr, daß Sorgfaltsverstöße i n erheblichem Umfange vorkämen. Es sei allein der Charakter des anderen als einer verantwortlichen Person, der zu der Erwartung berechtige, daß er seiner Verantwortung gemäß handeln, also seine Sorgfaltspflichten erfüllen werde. Infolgedessen könnten „sekundäre (abgeleitete) Sorgfaltspflichten" nur auftreten, sofern die Erwartung sorgfaltsgemäßen Verhaltens durch konkrete, i n der Situation oder i n der Person des anderen liegende Umstände entkräftet würden. Bei der genannten Einschränkung sekundärer Sorgfaltspflichten gehe es jedenfalls nicht um eine Frage der „Vorhersehbarkeit". 4

« Ebenda, S. 388. 6 Ebenda, S. 389 f. 447 Ebenda, S. 392; vgl. auch Stratenwerth, 44

A T , Rz. 1155.

V. Rechtsnatur und systematische Stellung

211

Daß man sich i n aller Regel auf das sorgfaltsgemäße Verhalten anderer verlassen dürfe, beruhe auf deren „Eigenverantwortlichkeit" 4 4 8 . Zuzustimmen ist Stratenwerth, wenn er den Vertrauensschutz i m Straßenverkehr nicht auf Grund von „statistisch begründeten Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungssätzen", sondern nur auf Grund konkreter, i n der Situation oder i n der Person des anderen liegender Umstände einschränken w i l l 4 4 9 . Wenn Stratenwerth betont, daß es bei der Einschränkung des Vertrauensschutzes nicht u m eine Frage der Vorhersehbarkeit gehe, so stimmt das m i t dem hier Gesagten insofern überein, als damit der Unterschied zwischen „Vertrauen-Dürfen" und „Vorhersehen-Müssen" angesprochen ist 4 5 0 . Gerade dieser Unterschied bleibt aber gewahrt, wenn man die Entscheidung über den Vertrauensschutz als Entscheidung über das i m Straßenverkehr „erlaubte Risiko" auffaßt 4 5 1 . Eine solche Betrachtungsweise bewegt sich nicht nur i m Bereich „dogmatisch bereits weithin gesicherter Grundsätze" 4 6 2 , sondern erlaubt auch, über die reine Interessenabwägung hinaus, den Gesichtspunkten einer „gerechten Risikoverteilung" Raum zu geben 455 . Damit w i r d es auf dem Gebiet des Straßenverkehrs möglich, die erforderliche Eingrenzung des „erlaubten Risikos" nach den spezifischen Erfordernissen gerade dieses Rechtsgebietes vorzunehmen. Ein allein nach der „Eigenverantwortlichkeit" sämtlicher (tauglichen) Verkehrsteilnehmer sich bestimmender Vertrauensschutz käme einem „Vertrauensprinzip" Güldescher Prägung 4 5 4 bedenklich nahe und würde damit den von der StVO aufgestellten differenzierten Sorgfaltserfordernissen schwerlich gerecht 455 . 448 Stratenwerth, Arbeitsteilung, S. 392. 44» Dazu oben S. 174 ff.; a. A . Jakobs, S. 89, A n m . 170, f ü r den der „ V e r trauensgrundsatz" i m Straßenverkehr „ein statistisches Problem" darstellt. Unter den von Jakobs zur Stützung seiner Ansicht aufgeführten Beispielen aus der Rechtsprechung fehlt bezeichnenderweise die Entscheidung der V e r einigten Großen Senate zum Vorfahrtrecht (BGHSt 7, 118); dazu oben S. 72. Natürlich k o m m t auch Stratenwerth ohne gewisse Generalisierungen nicht aus, so soll es gegenüber „jugendlicher Unerfahrenheit, gegenüber Gebrechlichkeit oder Körperbehinderung" keinen Vertrauensschutz geben, ohne daß zusätzlich noch konkrete Anzeichen auf eine bevorstehende V e r kehrswidrigkeit hindeuten müßten (ebenda, S. 392). 450 Dazu oben S. 124. 451 M e i n t dies i m Grunde nicht auch Stratenwerth (Arbeitsteilung, S. 391), w e n n er von der „Vorhersehbarkeit — m i t den durch das erlaubte Risiko bedingten Einschränkungen — " spricht? 452 Ebenda, S. 388. 453 Dazu oben S. 199 ff. 454 Oben S. 57. 455 Es sei daran erinnert, daß die StVO bei der Ausführung besonders gefährlicher Fahrmanöver ein Verhalten vorschreibt, das die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausschließt". Wer einen solchen Verkehrsvorgang einleitet, w i r d sich, was dessen ungefährdete Durchführung angeht, 14*

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Stratenwerths Überlegungen können ihre Ausrichtung am Vorsatzdelikt, begangen durch „bewußtes und gewolltes Zusammenwirken", nicht verleugnen. Sein Versuch, das der „Tatherrschaft" korrespondierende dogmatische Erfordernis der „Beherrschbarkeit" eines Geschehensablaufs sinngemäß zu begrenzen, mag dort überzeugende Ergebnisse liefern, wo wiederum ein bewußtes und gewolltes Zusammenwirken — beispielsweise i m Operationssaal — zu fahrlässigen Verletzungen führen kann. Hier dürfte es i n der Tat geboten sein, ein rein rechnerisch erhöhtes Risiko zuzulassen, um „gegenseitige Gängelei" 45 ® auszuschließen. Wenn jedoch Stratenwerth meint, die m i t dem Geschehensablauf als solchem notwendig verbundenen Gefahren und die Gefahr fremder Sorgfaltsmängel lägen „ i n verschiedenen Ebenen" 4 5 7 , so ist dem entgegenzuhalten, daß diese jedenfalls i m Straßenverkehr — anders als bei der Zusammenarbeit i m Team — praktisch ununterscheidbar i n einander übergehen 458 . Uberhaupt sind die Unterschiede zwischen den beiden Bereichen so gewichtig, daß der Umfang des jeweils erforderlichen Vertrauensschutzes sich kaum auf ein gemeinsames „Vertrauensprinzip" w i r d zurückführen lassen, wenn dies nicht konturlos bleiben soll. I m Straßenverkehr, am Steuer eines Kraftfahrzeugs, ist — anders als beim Arzt — starkes „persönliches Engagement" gewiß vom Übel, zumindest darf es nicht auf Kosten einer sorgfältigen Beobachtung des Verkehrsgeschehens gehen. Dem Verkehrsteilnehmer steht eben kein Team m i t festgelegten Verantwortungsbereichen zur Seite, er hat es i n aller Regel m i t völlig unbekannten und nur i n ihrer Eigenschaft als „AuchVerkehrsteilnehmer" faßbaren Personen zu tun. Dabei ist, wiederum anders als beim Arzt, ein „Mehr an Vorsicht" i m Sinne defensiven Fahrens, also eine über das rechtlich Gebotene hinausgehende Kontrolle fremder Aktionen und Reaktionen i m Sinne der Verkehrssicherheit durchaus erwünscht 4 5 9 . Festzuhalten bleibt, daß Stratenwerth, was den Umfang des Vertrauensschutzes i m Straßenverkehr angeht, i n manchen Punkten zu durchaus ähnlichen Ergebnissen gelangt, wie sie i n dieser Arbeit vertreten werden. Inwieweit sich der Umfang des Vertrauensschutzes i n den verschiedenen Lebensbereichen generell nach dem Prinzip der n u r i n geringem Maße auf andere Verkehrsteilnehmer verlassen dürfen (dazu i m einzelnen oben S. 200 ff.); andere Sorgfaltserfordernisse gelten beispielsweise f ü r den Vorfahrtberechtigten (dazu oben S. 48 f., 181). 4 " Jakobs, S. 88, A n m . 170. 457 Stratenwerth, Arbeitsteilung, S. 391, A n m . 26. «β Jakobs, S. 88, A n m . 170. \ 459 Dazu oben S. 96 f.

V. Rechtsnatur und systematische Stellung

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„Eigenverantwortlichkeit" bestimmen läßt, bleibe dahingestellt 4 ® 0 . A u f dem Gebiet des Straßenverkehrs, wo es darum geht, bei der Bemessung des Vertrauensschutzes die unterschiedlichen Sorgfaltsanforderungen der StVO zu berücksichtigen, läßt sich dies jedenfalls überzeugender m i t einer „gerechten Risikoverteilung" i m Rahmen des „erlaubten Risikos" erreichen als durch eine Berufung auf die „Eigenverantwortlichkeit" eines jeden Verkehrsteilnehmers, die doch infolge der durch die StVO gebotenen Differenzierungen an Prägnanz verlieren müßte. b) Vertrauensschutz

und verkehrsgerechtes

Verhalten

N u r wer den Rahmen des „erlaubten Risikos" nicht überschreitet, sich also verkehrsgerecht verhält, hat als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m V e r k e h r " 4 6 1 Anspruch auf Vertrauensschutz. Damit hat die Entscheidung über die Gewährung von Vertrauensschutz i m Straßenverkehr Teil am Meinungsstreit über die rechtliche Qualifikation eines Verhaltens, das eine Rechtsgutverletzung hervorgerufen hat, obwohl sich der Handelnde „verkehrsrichtig" bzw. „verkehrsgerecht" verhalten hat. Einigkeit besteht darüber, daß ein K r a f t fahrer, der die Verkehrsregeln einhält, beispielsweise m i t einer der Sichtweite angepaßten Geschwindigkeit fährt und dem plötzlich ein Fußgänger vor den Wagen läuft, nicht wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft werden kann. Ob das Verhalten des Kraftfahrers jedoch als nicht tatbestandsmäßig, nicht rechtswidrig oder nicht schuldhaft zu qualifizieren ist, darüber herrscht Streit, dessen eingehende Darstellung außerhalb des Rahmens dieser Arbeit liegt. Erinnert sei nur an den Beschluß des Großen Senats für Zivilsachen vom 4. März 1957. Es heißt dort: „ I n d e m die Rechtsordnung den gefahrvollen Verkehr zuläßt u n d den Teilnehmern an diesem Verkehr i m einzelnen vorschreibt, w i e sie i h r Verhalten einzurichten haben, spricht sie auch aus, daß sich ein Verhalten unter Beachtung dieser Vorschriften i m Rahmen des Rechts hält. Es geht nicht an, ein Verkehrsverhalten, das den Ge- u n d Verboten der Verkehrsordnung v o l l Rechnung trägt, trotzdem m i t dem negativen W e r t u r t e i l der Rechtswidrigkeit zu versehen. H i e r f ü r gibt der eingetretene Erfolg keinen ausreichenden G r u n d her, da das U r t e i l der Rechtswidrigkeit . . . die zum Erfolg führende Handlung nicht unberücksichtigt lassen kann. Es ist daher der Satz aufzustellen, daß bei verkehrsrichtigem (verkehrsgemäßem) V e r 4βο v g l . Exner, S. 577, der ganz allgemein die Frage stellt: „ U n t e r welchen Umständen ist es pflichtwidrig, darauf zu vertrauen, daß der andere seine Pflicht t u n werde?" Das w a r i m Jahre 1930. Inzwischen hatte der K r a f t verkehr ein halbes Jahrhundert Zeit, sich zu entwickeln u n d zu wachsen, sowohl nach der Z a h l der Kraftfahrzeuge, als auch nach der Z a h l der Unfälle u n d Urteile, Kommentare u n d Paragraphen. 4®1 Krumme,

S. 1; dazu oben S. 120.

214

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

halten eines Teilnehmers am Straßen- oder Eisenbahnverkehr eine rechtsw i d r i g e Schädigung nicht vorliegt 4 « 2 ." D e r Beschluß des G r o ß e n Z i v i l s e n a t s h a t durchaus n i c h t e i n h e l l i g e Z u s t i m m u n g g e f u n d e n 4 6 3 . U b e r w i e g e n d sieht j e d o c h d i e Rechtslehre auch a u f d e m G e b i e t des Strafrechts i n z w i s c h e n i n e i n e m V e r h a l t e n , das „ d e n G e - u n d V e r b o t e n d e r V e r k e h r s o r d n u n g v o l l R e c h n u n g t r ä g t " , sich d a m i t i m R a h m e n des „ e r l a u b t e n R i s i k o s " b e w e g t , n i c h t n u r e i n e n b l o ß e n S c h u l d a u s s c h l i e ß u n g s g r u n d 4 6 4 , s o n d e r n q u a l i f i z i e r t e i n solches V e r h a l t e n als n i c h t r e c h t s w i d r i g b z w . als n i c h t t a t b e s t a n d s m ä ß i g 4 6 5 . D e r Große Zivilsenat hat nicht näher ausgeführt, was u n t e r einem „ V e r k e h r s v e r h a l t e n , das d e n G e - u n d V e r b o t e n d e r V e r k e h r s o r d n u n g v o l l Rechnung t r ä g t " , zu verstehen ist u n d dadurch zu der „nicht e n d e n w o l l e n d e n K o n t r o v e r s e " 4 6 6 u m diesen Beschluß beigetragen. W e n n n ä m l i c h d i e V e r k e h r s r i c h t i g k e i t des V e r h a l t e n s auch a n d e m G e f ä h r d u n g s v e r b o t des § 1 A b s . 2 S t V O z u messen ist, so s t i m m t das n i c h t d a m i t z u s a m m e n , daß gerade d e r e i n g e t r e t e n e E r f o l g k e i n e n « 2 Β GHZ 24, 21 (26). Übersichten bei Hirsch, Soziale Adäquanz u n d Unrechtslehre, ZStW 74, 78; Kienapfel, Das erlaubte Risiko i m Straf recht, S. 17 ff. Die v o m Großen Zivilsenat unternommene K o n s t r u k t i o n eines besonderen Rechtfertigungsgrundes des verkehrsgerechten bzw. verkehrsrichtigen V e r haltens ist i n der Tat v o m System unseres Strafrechts her problematisch. E i n solcher Rechtfertigungsgrund stünde recht beziehungslos neben den „klassischen" Rechtfertigungsgründen w i e der Notwehr, den rechtfertigenden Notständen usw., denn er hätte es, anders als diese, nicht m i t „festumrissenen Ausnahmesituationen", sondern m i t der „gänzlich unbestimmten N o r m a l situation" zu tun. E r bedürfte wiederum der Eingrenzung durch generalklauselartige Begriffe w i e den des „erlaubten Risikos" bzw. der „Sozialadäquanz". Die Zulassung eines n u r m i t H i l f e solcher Generalklauseln näher zu bestimmenden Rechtfertigungsgrundes neben den profilierten Rechtfertigungsgründen unseres Strafrechts würde diese i n letzter Konsequenz nurmehr zu unselbständigen Ausprägungen des allumfassenden Rechtfertigungsgrundes v o m „verkehrsrichtigen Verhalten" u n d damit eigentlich überflüssig machen (dazu Kienapfel, S. 20; Engisch, Der Unrechtstatbestand i m Strafrecht, S. 417, A n m . 42; Glässing, Vorschriftswidriges, aber verkehrsrichtiges Verhalten i m Straßenverkehr, S. 116 ff.; Gundermann, S. 67 ff.). 464 So w o h l noch Binding (Die Normen u n d ihre Übertretungen, 4. Bd., Die Fahrlässigkeit, Leipzig 1919, S. 446); Binding hatte den Gedanken des „maßvollen Risikos" dahingehend formuliert, daß „ j e unentbehrlicher eine Handlung i m Rechtssinne, desto größer das Risiko, das ohne rechtliche M i ß b i l l i g u n g bei i h r gelaufen werden k a n n " (ebenda, S. 440). Während das „gefährliche Unternehmen" (Bergwerk, Steinbruch, Munitionsfabrik) auch heute noch das Schulbeispiel f ü r „erlaubtes Risiko" darstellt, ist inzwischen der Schienen- u n d Straßenverkehr „ z u m eigentlichen Prüffeld f ü r den Gedanken des erlaubten Risikos geworden" (Kienapfel, S. 7). 4β5 F ü r Tatbestandsausschluß (im Gegensatz zur 17. Auflage: Rechtfertigungsgrund) beispielsweise Cramer i n Schönke-Schröder, Rz. 143 zu § 15 StGB m. w . Nachw.; a. A. Schmidhäuser, 9/31, m i t der Bemerkung: „Gewiß ist dies eine Frage auch der Terminologie." 4 06 Lange, Defensives Fahren, S. 177. 463

V. Rechtsnatur und systematische Stellung

215

ausreichenden Grund dafür hergeben soll, das Verhalten als rechtswidrig zu qualifizieren. Wenn der Beschluß weiter darauf abstellt, daß die Rechtsordnung das Verkehrsverhalten im einzelnen vorschreibe und daher ein Verhalten unter Beachtung eben dieser Vorschriften auch rechtmäßig sein müsse, so liegt es nahe, verkehrsrichtiges Verhalten m i t vorschriftsgemäßem Verhalten i m Sinne der §§ 2 ff. StVO gleichzusetzen. Eine solche Auffassung würde jedoch der Bedeutung der Grundregel des § 1 Abs. 2 StVO nicht gerecht. Zwar ist der Kraftfahrer i n erster Linie zum „Vorschriftsfahren", also zur Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften der §§ 2 ff, StVO verpflichtet 4 6 7 , und es ist i h m grundsätzlich kein V o r w u r f daraus zu machen, daß er sich an die Regel hält 4 6 8 . Das gilt jedoch nicht „ w e n n ganz offensichtlich die Beachtung einer Verkehrsregel die Gefahr eines Unfalls hervorrufen könnte u n d durch die Außerachtlassung der Regel die Gefahr vermieden w ü r d e " 4 6 9 .

Der Kraftfahrer ist also über die Einhaltung der Verhaltensvorschriften der §§ 2 ff. StVO hinaus durch § 1 Abs. 2 StVO zu einem „gefahrvorbeugenden Verkehrsverhalten" 4 7 0 verpflichtet. Das gilt selbst dann, wenn der Kraftfahrer eine Verkehrsregel der §§ 2 ff. StVO, wie beispielsweise das Rechtsfahrgebot (§ 2 StVO), übertreten muß, u m dadurch eine Gefahr abzuwenden. M i t u m so größerem Nachdruck kann von i h m verlangt werden, auf Vorrechte, wie beispielsweise die Vorfahrt (§ 8 StVO), zu verzichten, wenn ihre Ausübung Gefahr m i t sich bringen würde. Dadurch treten die Vorschriften der §§ 2 ff. StVO zur Vorschrift des § 1 Abs. 2 StVO i n ein gewisses Spannungsverhältnis. Denn § 1 Abs. 2 verbietet jegliches Verhalten, das die konkrete Gefährdung eines Rechtsgutes bewirken kann, ohne zu sagen, wie man sich denn i m einzelnen verhalten soll, um solchen Gefährdungen vorzubeugen, während die §§ 2 ff. StVO zur Vermeidung von Rechtsgutgefährdungen bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben, ohne jedoch Rechtsgutgefährdungen auf Grund dieser Verhaltensweisen ausschließen zu können. Dieses Spannungsverhältnis ergibt sich daraus, daß § 1 Abs. 2 StVO aus einem anderen Rechtsbereich stammt als die i h m folgenden Vorschriften: „§ 1 ist nichts Geringeres als die Verkörperung des Naturrechtssatzes ,neminem laede'. Dahinter steht die fundamentale Idee der materiellen Ge467 wimmer, Rechtspflicht, S. 39 bezeichnet das Vorschriftsfahren einmal als „Kernstück der Defensivität". 46 ® BayObLG, VRS 17, S. 232. 469 Ebenda, S. 233; Bockelmann, Straf recht Allgemeiner Teil, S. 152. 4 ?o Wimmer, Unterbau, S. 174.

216

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

rechtigkeit, die den Schutz der höchst substantiellen Werte w i e Leib u n d Leben verbürgt. Die §§2 f f stehen auf einer anderen Ebene. Sie sind positivistisches Recht, sie fordern Gehorsam zwar nicht u m ihrer selbst willen, aber u m des Rechts wertes der unverbrüchlichen Ordnung willen47i." S o m i t b e s t i m m t sich das v e r k e h r s g e r e c h t e V e r h a l t e n als e i n V e r h a l t e n , das d e n O r d n u n g s c h a r a k t e r d e r i n d e n §§ 2 ff. S t V O g e t r o f f e n e n R e g e l u n g e n r e s p e k t i e r t , z u d e m j e d o c h das G e f ä h r d u n g s v e r b o t des § 1 Abs. 2 S t V O beachtet. Daß d a m i t eine E i n s c h r ä n k u n g des i n § 1 A b s . 2 S t V O n o r m i e r t e n s t a r r e n G e f ä h r d u n g s v e r b o t s v e r b u n d e n sein m u ß , w i l l m a n n i c h t das v ö l l i g e E r l i e g e n des m o t o r i s i e r t e n S t r a ß e n v e r k e h r s i n K a u f n e h m e n , i s t schon d a r g e t a n w o r d e n 4 7 2 . Diese E i n s c h r ä n k u n g i s t d e m Rechtsgedanken des „ e r l a u b t e n R i s i k o s " z u e n t n e h m e n , d e r sich i m S t r a ß e n v e r k e h r s r e c h t i n e i n e r „ g e r e c h t e n " , d. h. d e n D i f f e r e n z i e r u n g s g e b o t e n d e r S t V O entsprechenden R i s i k o v e r t e i l u n g a u s d r ü c k t . c) Vertrauensschutz

und die „im

Verkehr

erforderliche

Sorgfalt"

Verkehrsgerechtes (verkehrsrichtiges) V e r h a l t e n i s t m i t d e r E i n h a l t u n g der „ i m V e r k e h r erforderlichen Sorgfalt" identisch475. M i t der Frage, ob diese S o r g f a l t beobachtet oder v e r s ä u m t w o r d e n ist, i s t d i e o b j e k t i v e Seite des F a h r l ä s s i g k e i t s b e g r i f f e s a n g e s p r o c h e n 4 7 4 . 471

Lange, Defensives Fahren, S. 176 f. 472 v g l . oben S. 38 f. 473 Dunz, Das verkehrsrichtige Verhalten, N J W 1960, 507 (508). 474 Schon der Große Zivilsenat hatte bei seinen Ausführungen zur rechtlichen Einordnung des verkehrsrichtigen Verhaltens offengelassen, „ob nicht dasselbe Ergebnis auch dadurch zu gewinnen ist, daß auf die neuere A u f fassung der strafrechtlichen Dogmatik zurückgegriffen w i r d , die den F a h r lässigkeitsbegriff aufspaltet, indem sie die Prüfung der Einhaltung der o b j e k t i v erforderlichen Sorgfalt zur Rechtswidrigkeit rechnet u n d n u r die Frage der Zurechnung des m i ß b i l l i g t e n Verhaltens an den einzelnen Täter als Schuldprüfung versteht". (BGH, a.a.O., S. 27 [ B G H Z 21, 24].) Ausgehend von den Arbeiten Engischs (Untersuchungen über Vorsatz u n d Fahrlässigkeit, B e r l i n 1930, S. 343 f.; Die Kausalität als M e r k m a l der strafrechtlichen Tatbestände, Tübingen 1931, S. 53, A n m . 2) w i r d der Fahrlässigkeitsbegriff heute überwiegend „zweistöckig" gesehen, also die objektive Sorgfaltsversäumung zum Tatbestand, bzw. w i e v o m Großen Zivilsenat angedeutet, zur Rechtswidrigkeit gerechnet, jedenfalls nicht (mehr) als Schuldmerkmal angesehen. „Das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikts" [liegt] „ i n der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung durch den Täter". CSchänke-Schröder, Rz. 122 zu §15 StGB m. w . N a c h w . ; vgl. auch oben A n m . 465). Begründet w i r d dies damit, daß es nicht Sinn der Rechtsordnung sein könne, alles menschliche Handeln zu verbieten, das möglicherweise irgendw a n n einmal einen schädlichen Erfolg nach sich ziehen könnte, w e n n die Rechtsordnung nicht i n weiten Bereichen, gerade auch auf dem Gebiet des Straßenverkehrs, jegliche menschliche Betätigung überhaupt unmöglich machen wolle. Die Rechtsnormen könnten n u r den begrenzten Sinn haben, dem einzelnen dasjenige Maß an Sorgfalt aufzuerlegen, das i m gesellschaftlichen Zusammenleben zu erwarten sei, u m Rechtsgutverletzungen zu v e r meiden.

V. Rechtsnatur u n d systematische Stellung

217

N u n w i r d d i e A n s i c h t v e r t r e t e n , b e i d e r P r ü f u n g d e r Frage, ob d i e i m V e r k e h r e r f o r d e r l i c h e S o r g f a l t beobachtet w o r d e n sei, k ö n n e m a n a u f e i n e n g e n e r a l k l a u s e l a r t i g e n B e g r i f f w i e d e n des „ e r l a u b t e n R i s i k o s " ganz verzichten, d e n n d i e G r e n z e n d e r Sorgfaltspflichten, d e r e n E i n h a l t u n g v o n e i n e m T ä t e r v e r l a n g t w e r d e n müsse, dessen r i s k a n t e s T u n oder U n t e r l a s s e n e i n e n s t r a f r e c h t l i c h e r h e b l i c h e n E r f o l g g e z e i t i g t habe, b e s t i m m t e n sich „nicht aus irgendwelchen, gar nicht verifizierbaren allgemeinen Maßstäben eines erlaubten Risikos . . [ s o n d e r n ] . . . „stets aus dem konkreten Pflichtenkreis u n d aus den durch die konkrete Situation gebotenen U m s t ä n d e n " 4 7 5 . Z w a r möge m a n die Fälle, deren G e s a m t w ü r d i g u n g dazu führe, die F a h r l ä s s i g k e i t z u v e r n e i n e n , auch w e i t e r h i n als „ e r l a u b t e s R i s i k o " bezeichnen, doch sei d a m i t w e n i g g e w o n n e n . „Das erlaubte Risiko ist auch auf der Ebene der Fahrlässigkeit n u r K u r z formel für ein bestimmtes Ergebnis, nicht aber Wegweiser u n d noch weniger Lösungsmethode 47 ®. " D e m g e g e n ü b e r i s t schon b e t o n t w o r d e n , daß sich d i e G r e n z e n d e r i m ( S t r a ß e n - ) V e r k e h r e r f o r d e r l i c h e n S o r g f a l t z w a r nach d e m „ k o n k r e t e n P f l i c h t e n k r e i s " u n d d e n „ d u r c h die k o n k r e t e S i t u a t i o n gebotenen U m s t ä n d e n " z u r i c h t e n haben, daß es f ü r d i e E r k e n n t n i s des h i e r n a c h G e b o t e n e n j e d o c h sehr w o h l eines „ W e g w e i s e r s " b e d a r f , d e r das M a ß d e r i m E i n z e l f a l l e r f o r d e r l i c h e n , d. h. v o n d e r R e c h t s o r d n u n g z u f o r d e r n d e n , S o r g f a l t a u f das E n d z i e l , d i e H e b u n g d e r allgemeinen Verkehrssicherheit h i n ausrichtet 477. „Diese generelle i m Verkehr erforderliche Sorgfalt ist deshalb zugleich die v o m R e d i t geforderte Sorgfalt, u n d n u r w e n n sie nicht beachtet w i r d , ist auch die Verletzung des Rechtsguts, auf dessen Schutz die Sorgfaltspflicht bezogen ist, rechtswidrig. T r i t t dagegen i m Gefolge einer den rechtlichen Sorgfaltsanforderungen entsprechenden H a n d l u n g eine Rechtsgutverletzung ein, so g i l t der bekannte Satz, daß dies zwar Unglück, aber nicht Unrecht ist." (Lenckner, Technische Normen u n d Fahrlässigkeit, S. 493). Sieht m a n die Tatbestände der fahrlässigen Delikte als „offene", also u m das L e i t b i l d der i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt ergänzungsbedürftige Tatbestände an (Welzel, Fahrlässigkeit u n d Verkehrsdelikte, S. 14 f.; Das Deutsche Strafrecht, S. 131), so ist die Frage, ob ein Verkehrsunfall auf einer Sorgfaltsverletzung beruht, oder ob sich das zum U n f a l l führende Verhalten als verkehrsgerecht (verkehrsrichtig) erweist, schon i m Rahmen der T a t bestandsmäßigkeit zu prüfen. Die sehr lebhafte Diskussion u m die Strukturprobleme der fahrlässigen Erfolgsdelikte k a n n m i t diesen wenigen Sätzen natürlich n u r angedeutet werden. Eine eingehende Darstellung liegt außerhalb des Rahmens dieser A r b e i t (zum Meinungsstand vgl. Schünemann, J A 1975, StR S. 149 ff.; Roeder, Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos u n d i h r systematischer Standort i m Verbrechensaufbau, S. 65 ff.; Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko i m Strafrecht, S. 31 ff.). *7δ Kienapfel, S. 28. 47 « Ebenda, S. 28. 477 Oben S. 205.

218

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Dies gilt vor allem für die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes, denn i n aller Regel hängt von dieser Entscheidung die Bestimmung der i m Verkehr, d. h. i n der konkreten Verkehrssituation, erforderlichen Sorgfalt ab. Es ist schon dargetan worden, daß nur dem, der diese Sorgfalt einhält, sich also verkehrsgerecht verhält, Vertrauensschutz zu gewähren ist 4 7 8 . Das bedeutet zuallererst, daß jedenfalls dem Vertrauensschutz zu versagen ist, dessen Verkehrsverstoß von vornherein feststeht. Diese Fälle sind, zumindest auf der Ebene der rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichung, nicht weiter problematisch: Wer die gebotene Höchstgeschwindigkeit überschreitet, die Vorfahrt mißachtet, trotz eines Verbots überholt, bei Rot über eine Ampel fährt, der handelt nun einmal objektiv verkehrswidrig 4 7 9 , so daß sich allenfalls die Frage stellt, ob die Folgen seines Fehlverhaltens für i h n „vorhersehbar" waren, nicht jedoch, ob er auf verkehrsgerechtes Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer „vertrauen" durfte 4 8 0 . Das von i h m heraufbeschworene Risiko überschreitet die Grenze des Erlaubten, weil er sich gerade über Vorschriften hinwegsetzt, die der Eindämmung der m i t dem Straßenverkehr verbundenen Gefahren dienen. Wenn es jedoch nicht darum geht, ob ein Kraftfahrer, der an einem durch fremdes Fehlverhalten ausgelösten Unfall beteiligt war, vorher die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte (§ 3 Abs. 3 StVO), sondern ob er versäumt hatte „seine Geschwindigkeit . . . den Straßen-, Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzupassen" (§ 3 Abs. 1 StVO), so läßt sich die Frage nach der Einhaltung der i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt, und damit nach der Verkehrsrichtigkeit seines Verhaltens nicht auf Anhieb beantworten. Die Angemessenheit der von i h m eingehaltenen Fahrgeschwindigkeit bestimmt sich i n aller Regel danach, inwieweit er i n der gegebenen Situation auf verkehrsgerechtes Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer vertrauen durfte 4 8 1 . 478 v g l . dazu oben S. 118 ff. 47» U n d subjektiv i n der Regel m i t „ungetrübtem Unrechtsbewußtsein" (Bockelmann, Straßenverkehr, S. 293). 480 Dazu oben S. 123 f. 481 Z w a r läßt sich die Verkehrsrichtigkeit eines Verhaltens i n manchen Fällen auch beurteilen, ohne die „Vertrauensfrage" stellen zu müssen, m a n denke an die Verletzung von Kraftfahrzeuginsassen, Auffahren auf ein parkendes Fahrzeug, die Gefährdung von NichtVerkehrsteilnehmern durch A b i r r e n eines Kraftwagens von der Fahrbahn, an Unfälle auf G r u n d von Fahrzeugmängeln. Die dabei verletzten Personen hatten von vornherein keine Möglichkeit, auf das Verkehrsgeschehen einzuwirken, der K r a f t f a h r e r brauchte seine Fahrweise daher auch nicht auf unter Umständen von ihnen ausgehende Verkehrswidrigkeiten einzurichten.

V. Rechtsnatur und systematische Stellung

219

I n diesem Sinne bezeichnet Wimmer den „Vertrauensgrundsatz" als „Anwendungsfall des verkehrsrichtigen Verhaltens" 4 8 2 . Die „Vertrauensfrage" ist allerdings nur ein Teilabschnitt der Prüfung, ob sich ein i n einer bestimmten Verkehrslage gezeigtes Verhalten als verkehrsgerecht darstellt oder nicht. Wenn die Feststellung, daß der Verkehrsteilnehmer hier auf verkehrsgerechtes Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer vertrauen durfte, die Feststellung impliziert, daß auch sein Verhalten verkehrsgerecht war, so liegt das einfach daran, daß die Prüfung des Vertrauen-Dürfens am Ende der Prüfskala steht. Sie kann erst erfolgen, nachdem sich das infragestehende Verhalten unter anderen Gesichtspunkten jedenfalls als nicht offensichtlich verkehrsw i d r i g erwiesen hat, beispielsweise keine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit vorlag. Das Maß der i m (Straßen-)Verkehr erforderlichen Sorgfalt und damit die Anforderungen an ein verkehrsrichtiges Verhalten bestimmen sich nun allerdings nicht nach einem festumrissenen „Vertrauensgrundsatz". Wie i n dieser Arbeit versucht wurde nachzuweisen, existiert ein solcher „Grundsatz" nicht 4 8 3 . Wenn Welzel meint, der „Vertrauensgrundsatz" bewirke „eine wichtige materiale Konkretisierung des Sorgfaltsbegriffes" und jeder Verkehrsteilnehmer gewinne dadurch „eine feste Grundlage, wie er sein eigenes Verhalten sachgerecht zu gestalten habe" 4 8 4 , so vermitteln solche Formulierungen ein Bdld trügerischer Sicherheit und lassen die von der Rechtsprechung i m Bereich des Vertrauensschutzes vorgenommenen Differenzierungen außer acht. Das zeigt sich schon an den von Welzel zur Stützung seiner Ansicht herangezogenen Entscheidungen4®5. Sowohl der Beschluß der Vereinigten Großen Senate zur Bemessung der vom Vorfahrtberechtigten an unübersichtlichen Kreuzungen einzuhaltenden Geschwindigkeit 4 8 6 , als auch die Entscheidungen des Verkehrsstrafsenats zum Verhalten gegenüber mit Abblendlicht entgegenkommenden Fahrzeugführern 4 8 7 und zu den Umschaupflichten des Linksabbiegers 488 lassen sich nicht unter Meist geht es i m Straßenverkehr jedoch u m die Reaktion auf fremdes Verhalten. U m die eigene richtige Maßnahme treffen zu können, muß jeder Verkehrsteilnehmer das Verhalten der übrigen Straßenbenutzer beobachten. Wenn sein Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten anderer i n der gegebenen Situation als schützenswert erscheint, erweist sich damit auch sein eigenes Verhalten als verkehrsgerecht. 482 Wimmer, Ambivalenz der verkehrsrichtigen Gefahrenhandlung, ZStW 75, 420 (421). 483 Vgl. oben S. 204. 484 Welzel, Fahrlässigkeit, S. 19. 485 Welzel, Strafrecht, S. 134. 48β B G H S t 7, 118; dazu oben S. 72. 487 B G H S t 12, 81; dazu oben S. 84. 488 B G H , VRS 5, S. 551; überholt durch B G H S t 14, 201; teilweise wiederhergestellt durch B G H S t 21, 91; vgl. heute §9 Abs. 1 Satz 4 StVO; dazu i m einzelnen oben S. 85 u n d 184.

220

4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

Berufung auf einen festen „Vertrauensgrundsatz", sondern nur aus der Notwendigkeit einer „gerechten Risikoverteilung" i m Straßenverkehr m i t Hilfe einer gezielten Gewährung oder auch Versagung des Vertrauensschutzes erklären 4 8 9 . Daß es bei der Bemessung des Vertrauensschutzes auf eine „gerechte Risikoverteilung" ankommt, macht auf der anderen Seite jedoch deutlich, daß sich die i m (Straßen-)Verkehr erforderliche Sorgfalt (auch) aus „allgemeinen Maßstäben" und nicht nur „aus den durch die konkrete Situation gebotenen Umständen" 4 9 0 herzuleiten hat. Wäre es anders, so bestünde die Gefahr, daß die jeweils gebotene Handlungsweise allein am Erfolg gemessen würde, unfallursächliches Verhalten also i n aller Regel m i t verkehrswidrigem Verhalten gleichzusetzen wäre. Damit wäre einem durch die Bezugnahme auf die „Besonderheiten" des Einzelfalles nur mühsam kaschierten „Mißtrauensgrundsatz" Tür und Tor geöffnet. A u f den gezielten — d. h. verkehrserzieherisch wirkenden — Einsatz des Vertrauensschutzes, der über eine „Hebung der Verkehrsgesittung" 4 9 1 ein Mehr an Verkehrssicherheit erstrebt, kann also nicht verzichtet werden 4 9 2 . Die Feststellung, daß sich ein Verhalten i m Rahmen des „erlaubten Risikos" bewegt bzw. — auf den Straßenverkehr bezogen — den m i t Hilfe einer „gerechten Risikoverteilung" zu ermittelnden Geboten der i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt entspricht, hat also durchaus ihre Bedeutung i m Rahmen der Fahrlässigkeitsprüfung. Hiermit w i r d deutlich, daß die Rechtsprechung den gutwilligen Verkehrsteilnehmer gegenüber dem „Unrechthaber" nicht allein läßt und keine „Einstellung der Fahrpraxis auf den Verkehrssünder" 4 9 3 zu dulden bereit ist. Ein am Leitbild einer „gerechten Risikoverteilung" ausgerichteter Vertrauensschutz muß damit die Mitte halten zwischen einem starren „Vertrauensgrundsatz" und nur an den „Besonderheiten" des Einzelfalles orientierten — häufig unerfüllbaren — Sorgfaltsgeboten. Welche Gesichtspunkte dabei zu beachten sind, wurde i n diesem Teil der Arbeit i m einzelnen dargestellt 4 9 4 . 3. Vertrauensschutz und „gerechte Riskoverteilung"

Wenn bisher von einer gerechten Risikoverteilung „ i m Rahmen des erlaubten Risikos" gesprochen wurde, so war dies als Hinweis darauf 489 Dazu i m einzelnen oben S. 199 ff.

Kienapfel,

S. 28.

« ι Begründung zu § 1 Abs. 1 StVO, S. 800 f. 492 w i e schon oben, S. 155, dargelegt, neigt die Rechtsprechung manchmal zu einer Uberbetonung der „Besonderheiten" des Einzelfalles. «3 B G H S t 7, 118 (125). v g l . insbesondere oben S. 182 ff.

V. Rechtsnatur und systematische Stellung

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gedacht, daß dieser Begriff nicht etwa neben den des erlaubten Risikos tritt, sondern i h n präzisiert 4 9 5 . Nun kann auf diesen Hinweis verzichtet werden. Eis w i r d vorgeschlagen, i m Straßenverkehrsrecht statt vom „erlaubten Risiko" nur noch von einer „gerechten Risikoverteilung" zu sprechen 496 . Dieser Terminus macht deutlich, daß es nicht damit getan ist, irgendwelche m i t der modernen Technik einhergehenden Gefährdungen schlechthin für „erlaubt" zu erklären, sondern daß es Aufgabe der Rechtsordnung ist, auf die spezifischen Gegebenheiten (Risiken) eines Lebensbereiches ausgerichtete Sorgfaltserfordernisse zu bestimmen. Er ist damit prägnanter als der generalklauselartig verschwommene Begriff „erlaubtes Risiko" 4 9 7 . Die Rechtsprechung, die i n einer bestimmten Verkehrssituation eine „gerechte Risikoverteilung" vorzunehmen hat, w i r d so gezwungen, ihre Bewertungsmaßstäbe offenzulegen, die tragenden Entscheidungsgründe können nicht hinter „Besonderheiten" des Einzelfalles versteckt werden. Gewiß sollte man das Ausmaß des von dem Begriff „gerechte Risikoverteilung" ausgehenden Begründungszwanges nicht überschätzen. Erinnert sei jedoch an einen weiteren terminologischen Vorschlag, nämlich den Ausdruck „Vertrauensgrundsatz" durch „Vertrauensschutz" zu ersetzen. Es wurde schon gesagt, daß der Terminus „Vertrauensschutz" die Frage, nach welchen Kriterien er denn gewährt oder versagt wird, geradezu herausfordert 498 . Und ebenso wie der wenig prägnante Begriff des „erlaubten Risikos" das notwendige — w e i l relativierende — Korrelat zum allzu anspruchsvollen Begriff „Vertrauensgrundsatz" darstellt, macht der Begriff der „gerechten Risikoverteilung" die Spannweite des neutralen Ausdrucks „Vertrauensschutz" deutlich. N u n wäre allerdings terminologisch wenig gewonnen, wenn der Begriff der „gerechten Risikoverteilung" auf einen Lebensbereich — den Straßenverkehr — beschränkt bliebe, i m übrigen aber der Begriff des „erlaubten Risikos" beibehalten würde. Möglicherweise kann jedoch der Ausdruck „gerechte Risikoverteilung" auch auf anderen Gebieten 495 Der Begriff der „gerechten Risikoverteilung" sich also i m Rahmen „dogmatisch w e i t h i n gesicherter Grundsätze" h ä l t (Stratenwerth, Arbeitsteilung, S. 388; zur dogmengeschichtlichen E n t w i c k l u n g des „erlaubten Risikos" vgl. Preuß, S. 31 ff.). 49β w i e es auch der Bundesgerichtshof i n seiner Entscheidung f ü r die doppelte Umschaupflicht des Linksabbiegers t u t (BGHSt 21, 91); dazu oben S. 184. 4®7 v g l . die Vorbehalte bei Kienapfel, oben S. 217; daß der Begriff des „erlaubten Risikos" k a u m anschaulich darzustellen ist, k o m m t i n der Definition v o n Preuß (S. 27) zum Ausdruck: „Der Täter bleibt straflos, w e n n bei einem Erfolgsdelikt zwar die nicht siòher den Erfolg verursachende gefährliche Handlung nicht m i ß b i l l i g t w i r d , w o h l aber der dadurch eintretende Erfolg." 4®8 Oben S. 59 f.

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4. Teil: Die Reichweite des Vertrauensschutzes

dazu dienen, die Kriterien, nach denen die Verantwortlichkeit für einen durch die Gefahren moderner Technik und Arbeitsteilung (mit)bedingten Unfall bestimmt wird, deutlicher hervortreten zu lassen. Z u denken wäre hier an den Bereich der Arbeitsunfälle (gefährliche Betriebe), an Sport- und militärische Unfälle. Ein weiteres Gebiet wurde bereits kurz erwähnt: Es ging dabei u m die Verantwortung für Risiken, wie sie m i t der ärztlichen Teamarbeit, besonders bei Operationen, verbunden sind. Dabei wurde auf die Unterschiede zwischen der Situation des Verkehrsteilnehmers und des operierenden Arztes hingewiesen: Der Arzt muß sich i n hohem Maße auf sein Operationsteam verlassen können, weil er sonst kaum i n der Lage wäre, sich auf seine eigentliche Aufgabe — zügige Durchführung der Operation — zu konzentrieren. Vom Verkehrsteilnehmer dagegen kann erwartet werden, daß er andere Straßenbenutzer sorgfältig auf fehlerhaftes Verhalten h i n beobachtet. Eine i n beiden Fällen m i t dem Prinzip der „Verantwortungsteilung" begründete weitgehende Freistellung von der Verantwortung für fremdes Fehlverhalten würde den Verkehrsteilnehmer über Gebühr entlasten, würde vor allem den differenzierten Sorgfaltsgeboten der StVO nicht gerecht 499 . Auch darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Risiken i n beiden Fällen durchaus unterschiedlicher Natur sind: Der Verkehrsteilnehmer läuft Gefahr, durch fremdes Fehlverhalten selbst Schaden an Leib und Leben zu nehmen. Maßnahmen des Arztes bergen Risiken nur für den Patienten 5 0 0 . Das schließt jedoch nicht aus, auch hier nach den Prinzipien einer „gerechten Risikoverteilung" zu fragen. Eine Risikoverteilung w i r d dann „gerecht" genannt werden können, wenn sie, bei aller Beachtung der i m Einzelfall auftretenden Besonderheiten, das Ziel einer bestmöglichen (operativen und postoperativen) Betreuung des Patienten voranstellt 5 0 1 . Z u r Erreichung dieses Zieles w i r d es i n der Tat geboten sein, dem Arzt i m Verhältnis zu seinen Mitarbeitern i n weit stärkerem Maße Vertrauensschutz zu gewähren als dem Verkehrsteilnehmer gegenüber anderen Straßenbenutzern. Inwieweit der Begriff einer „gerechten Risikoverteilung" noch i n anderen durch die moderne Technik und Arbeitsteilung geprägten Bereichen von Nutzen sein kann, indem er zur Offenlegung der für die Abstufung von Sorgfaltsgeboten maßgeblichen Entscheidungsgründe nötigt, wäre durch weitere Untersuchungen zu klären. 4»» Dazu i m einzelnen oben A n m . 455. boo Der A r z t trägt n u r insofern ein Risiko, als er befürchten muß, f ü r Kunstfehler zur Verantwortung gezogen zu werden. soi Stratenwerth, Arbeitsteilung, S. 393: „Der Sinn der Arbeitsteilung liegt . . . darin", [den A r z t ] . . . „ f ü r die qualifizierte E r f ü l l u n g seiner spezifischen Aufgaben freizustellen".

Fünfter Teil

Vertrauensschutz gegenüber Fußgängern, Radfahrern und anderen Gruppen „schwächerer" Verkehrsteilnehmer I m letzten Teil der Arbeit geht es um das Maß des Vertrauensschutzes gegenüber bestimmten Gruppen „schwächerer" — d. h. i n der Regel nichtmotorisierter — Verkehrsteilnehmer. Es soll untersucht werden, inwieweit die Rechtsprechung hier nach den Prinzipien einer „gerechten Risikoverteilung" versucht hat, dem „Recht des Schwächeren" 1 zum Durchbruch zu verhelfen und inwieweit die dem Kraftfahrer i n diesem Zusammenhang auferlegten Pflichten ausgewogen erscheinen. Dabei besteht allgemeine Einigkeit darüber, daß der Kraftfahrer gegenüber verkehrsungewandten Personen besondere Vorsicht walten lassen muß 2 . Wer jedoch alles zum Kreis der „bloß o b j e k t i v sich unrichtig verhaltenden, i m Prinzip jedoch loyalen u n d gutwilligen, w e n n auch unvorsichtigen Verkehrsteilnehmer"»

zu rechnen ist und inwieweit sich der Kraftfahrer auch auf ein „völlig unvernünftiges" Verhalten solcher Personen einstellen muß, ist streitig. I. Einschränkung des Vertrauensschutzes gegenüber schwächer motorisierten Verkehrsteilnehmern? Gelegentlich wurde das „Recht des Schwächeren" niicht nur i m Verhältnis zwischen Radfahrer und Fußgänger auf der einen und dem Kraftfahrer auf der anderen Seite, sondern sogar für das Verhalten der Kraftfahrer untereinander propagiert. Dabei wurde darauf hingewiesen, daß an Kreuzungen der Schwerpunkt der Schadensverursachung bei den großen Fahrzeugen, der Schwerpunkt der Verkehrsopfer dagegen bei den kleinen und mittleren Fahrzeugen liege. Beim Kraftfahrer müsse daher das Bewußtsein geweckt werden: Je stärker, je gefährlicher das Fahrzeug ist, das ich fahre, je mehr Raum es auf der Straße einnimmt, je schneller es ist, um so vorsichtiger, um so „defensiver" muß ich fahren 4 . ι Meyer, S. 32. So schon Gülde, Verkehrsteilnehmer, S. 424; anders noch Gülde, Straßenverkehrsrecht, S. 1466. 3 Lange, Defensives Fahren, S. 172. 4 Meyer, S. 32. 2

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5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Wenn hiermit gemeint ist, daß die Führer schwerer Fahrzeuge sich freiwillig, unter Zurückstellung eigener Rechte, eines „Übersolls an Vorsicht" 5 befleißigen sollten, kann dem vorbehaltlos zugestimmt werden. Wenn jedoch allein aus der Tatsache, daß die kinetische Energie eines Fahrzeugs größer ist als die eines anderen, eine Einschränkung des dem Fahrzeugführer zukommenden Vertrauensschutzes abgeleitet werden soll, so sind dagegen Bedenken anzumelden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Kraftfahrer auch durch das verkehrswidrige Verhalten von Fußgängern gefährdet werden kann 6 . Das muß i n noch höherem Maße bei Zusammenstößen m i t anderen Fahrzeugen gelten. Die kinetische Energie seines eigenen Fahrzeugs kann sich auch gegen den Fahrer selbst richten, sei es, daß er durch den A n p r a l l ins Schleudern gerät, sei es, daß er bei einem Ausweichversuch gegen ein anderes Fahrzeug stößt. Die Größe oder Schwere eines Fahrzeugs erweist sich damit als ein wenig tauglicher Ansatzpunkt für eine generelle Versagung oder Beschneidung dés Vertrauensschutzes, zumal hiermit erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden sein dürften. Der Straßenverkehr erfordert jedoch möglichst einfache und klare Regeln 7 . Es wäre bedenklich, wollte man eine Gruppe von motorisierten Verkehrsteilnehmern anders behandeln als die übrigen. Selbstverständlich ist es hingegen, daß überschwere, überbreite oder besonders langsame Fahrzeuge sich i m Straßenverkehr nur unter Beachtung besonderer Vorsichtsmaßnahmen bewegen dürfen. So bedarf nach § 29 Abs. 3 StVO der Verkehr m i t Fahrzeugen und Zügen, deren Abmessungen, Achslasten oder Gesamtgewichte die gesetzlich allgemein zugelassenen Grenzen überschreiten, einer Erlaubnis. Das Gleiche gilt für den Verkehr m i t Fahrzeugen, deren Bauart dem Führer kein ausreichendes Sichtfeld läßt. I m Erlaubnisbescheid kann polizeiliche Begleitung vorgeschrieben werden 8 . Diese entbindet den Fahrzeugführer jedoch nicht von seinen allgemeinen Verkehrspflichten: So kann der Führer eines besonders langsamen Straßenzuges verpflichtet sein, vor dem Überqueren eines Bahnüberganges m i t dem Bahnwärter Verbindung aufzunehmen, auch wenn sein Transport von Polizei begleitet wird9. A u f Besonderheiten des eigenen Fahrzeugs hat ein Fahrer stets Rücksicht zu nehmen 10 . Gerade bei schweren Fahrzeugen besteht A n » Wimmer,

Rechtspflicht, S. 39.

Vgl. dazu oben S. 62. BGHSt, 23, 313 (315). Allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 29 Abs. 3 StVO, V k B l . 1970, S. 766. B G H (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 42. 10 Vgl. die oben S. 152 f. zitierten Entscheidungen.

β 7 8 •

II. Vertrauensschutz und nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer

225

laß darauf hinzuweisen, daß es keine erlaubte Fahrweise gibt, bei der die Gefährdung schuldloser Verkehrsteilnehmer von vornherein i n Kauf genommen werden dürfte 1 1 . So hat ein Kraftfahrer, der beim Einbiegen aus technischen Gründen einen Teil des nicht für Kraftfahrzeuge bestimmten Straßenraumes i n Anspruch nehmen muß, sich von der Ungefährlichkeit seines Fahrmanövers eindeutig zu überzeugen 12 . Ist der Führer eines Lastzuges beim Abbiegen nach rechts genötigt, zunächst nach links auszuscheren, dann ist er vor Beginn des Rechtsabbiegens zu erhöhter Vorsicht gegenüber nachfolgendem Verkehr verpflichtet 13 . Erinnert sei auch an die Vorschrift des § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO. Danach muß ein Fahrzeug, das mehr als die Hälfte der Straßenbreite einnimmt, so daß entgegenkommende Fahrzeuge gefährdet werden könnten, auf „halbe Sichtweite" fahren. Die Rechtsprechung verlangt sogar, daß ein solches Fahrzeug bei starkem Nebel die Straße räumt 1 4 . A l l dies macht wohl genügend deutlich, daß sich Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung bemühen, den von überbreiten, überschweren, besonders langsamen oder die Sicht beschränkenden Fahrzeugen ausgehenden Gefahren zu begegnen. Darüber hinaus besteht keine Notwendigkeit, den Führern solcher Fahrzeuge den Vertrauensschutz zu versagen. I I . Einschränkung oder Versagung des Vertrauensschutzes gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern? 1. Forderungen nach Versagung des Vertrauensschutzes gegenüber Fußgängern und Radfahrern

Die RStVO 1934 hatte sich bemüht, die „Entthronung seiner Majestät des Fußgängers" zu bewirken 1 5 , indem sie diesen i n die „echte Gemeinschaft aller Verkehrsteilnehmer" m i t einbezog 16 . Seitdem geht auch die Rechtsprechung von einer „grundsätzlichen" Gleichstellung motorisierter und nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer aus 17 , hat also den Gedanken eines „Vorrechts ungenügenden Verhaltens einzelner" 1 8 aufgegeben. Es fällt jedoch auf, daß die Gerichte das Risiko eines Zusammentreffens zwischen motorisierten und nichtmotorisier« B G H (Z), V e r k M i t t 1966, Nr. 132. 12 Ebenda. 13 O L G Düsseldorf (Z), V e r k M i t t 1976, Nr. 97. 14 O L G Hamm, V e r k M i t t 1963, Nr. 144; dazu oben S. 110 f. ι« Müller, Videant consules, S. 2. 16 Vorspruch zur RStVO 1934, S. 457; dazu i m einzelnen oben S. 37 f. 17 Vgl. RGSt 70, 71. is Müller, Neue Wege, S. 808. 15 Kirschbaum

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5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

ten Verkehrsteilnehmern häufig „den stärkeren Schultern aufbürden" 1 9 , indem sie dem Kraftfahrer den Vertrauensschutz m i t der Begründung versagen, es habe sich u m eine „besondere Verkehrslage" 2 0 oder um eine „unklare Verkehrslage" 2 1 gehandelt. Auch die „Verkehrs- und Lebenserfahrung" w i r d oft zugunsten des Vertrauensschutzes bemüht, wenn es u m das Verhalten von Fußgängern geht 2 2 . Manchen Autoren geht dies jedoch nicht weit genug. Sie wollen, was die vom Kraftfahrer gegenüber Fußgängern und Radfahrern zu beobachtende Vorsicht angeht, mehr oder minder auf den Stand des „Vorgarten-Urteils" 2 3 zurückgehen. Eine generelle Versagung des Vertrauensschutzes gegenüber dieser Gruppe von Verkehrsteilnehmern w i r d beispielsweise von Meyer / Jacobi / Stiefel befürwortet: „Die Tatsache, daß viele Fußgänger u n d Radfahrer nicht bzw. gemindert verkehrstüchtig sind, nötigt den K r a f t f a h r e r zu entsprechender Rücksicht u n d sollte die Rechtsprechung veranlassen, den sogenannten Vertrauensgrundsatz einer Revision zu unterziehen 2 4 ."

Diesen Personengruppen gegenüber wollen Meyer / Jacobi / Stiefel dem Kraftfahrer ein „rein defensives Fahren" zur Pflicht machen. „Immer und überall" sei hier m i t Verkehrswidrigkeiten zu rechnen, denn der Kraftfahrer könne i n der Regel gar nicht erkennen, ob die i h m begegnenden Fußgänger und Radfahrer überhaupt „verkehrstauglich" seien. Allerdings hält Meyer gleichzeitig eine „bessere Kanalisierung" des Fußgängerverkehrs für notwendig, damit auf der Straße Zustände entstünden, die es gerechtfertigt erscheinen ließen, dem Kraftfahrer ein „rein defensives Fahren" zur Pflicht zu machen. Bei dem derzeitigen Zustand unseres Verkehrs müßte eine „Überstürzung bei der Beseitigung des Vertrauensgrundsatzes" zum Erliegen des Verkehrs führen. Es gelte daher, beides miteinander i n Einklang zu bringen 2 5 . Es fragt sich jedoch, inwieweit sich eine „Kanalisierung" der verschiedenen Verkehrsströme m i t einer Aufhebung des Vertrauensschutzes gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern vereinbaren läßt. Zweifellos würde durch eine strikte Trennung von motorisiertem und nichtmotorisiertem Verkehr die Gefahr von Unfällen zwischen Fußgängern und Kraftfahrern herabgesetzt, doch läßt sich eine 19

Krumme, S. 4. Beispiele oben S. 151. 2 * Beispiele oben S. 156. 22 Beispiele oben S. 171. 2 3 RGSt 65, 135; vgl. oben S. 21. 24 Meyer / Jacobi / Stiefel, Bd. I I I , S. 45; demgegenüber w a r n t Sanders (S. 15) v o r einer „Einschränkung der A n w e n d u n g des Vertrauensgrundsatzes gegenüber dem Fußgänger". 2 * Meyer, S. 32 f. 2

II. Vertrauensschutz und nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer

227

totale Kanalisierung immer nur auf Teilbereichen durchführen, sei es i m Uberlandverkehr durch dem Kraftverkehr vorbehaltene Schnellstraßen, sei es i m Stadtverkehr durch Fußgängerzonen, Fußgängerbrücken usw. Innerhalb solcher Teilstrecken w i r d der zu ihrer Inanspruchnahme berechtigte Verkehrsteilnehmer sich gewiß sicher fühlen und darauf vertrauen dürfen, daß eine Benutzung durch Unbefugte unterbleibt. Dies kann er i n der Regel auch: Weder braucht der K r a f t fahrer auf der Autobahn m i t nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern zu rechnen 26 , noch brauchen Radfahrer oder Fußgänger sich darauf einzurichten, daß Kraftfahrer auf für den Kraftverkehr gesperrten Wegen auftauchen. Wäre dies anders, könnten sich gerade die schwächsten Verkehrsteilnehmer auf der nur ihnen eingeräumten Verkehrsflächen nicht mehr sicher fühlen. Gleiches muß für Fußgänger und Radfahrer gelten, die sich auf Radund Gehwegen aufhalten. Zwar ist hier schon gelegentlich einmal m i t Kraftverkehr zu rechnen, mag es sich nun u m parkende oder aus einer Einfahrt hervorkommende Fahrzeuge handeln. Jedoch dürfen die nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer, für die Rad- und Gehwege ja i n erster Linie geschaffen sind 2 7 , jedenfalls darauf vertrauen, daß Kraftfahrer bei solchen Fahrmanövern eine Vorsicht walten lassen, bei der eine Gefährdung anderer „ausgeschlossen" erscheint (§10 StVO). Erforderlichenfalls müssen sie sich eines Einweisers bedienen. Genauso wie sich der Fußgänger auf dem Bürgersteig „abgeschirmt vom Straßenverkehr" fühlen darf 2 8 , muß aber der Kraftfahrer darauf vertrauen können, daß ein Fußgänger die Fahrbahn nur unter Beachtung des fließenden Verkehrs betritt 2 9 . Wollte man vom Kraftfahrer verlangen, jederzeit „auf alles . . . " , also auf jede noch so ausgefallene Verkehrstorheit, gefaßt zu sein 30 , würde man nicht nur den Verkehrsfluß i n unerträglicher Weise hemmen 3 1 , sondern das gesamte Ordnungsgefüge des Straßenverkehrsrechts über den Haufen werfen 3 2 . Fußgängerverkehr und Fahrverkehr müssen einander respektieren, das ist die Voraussetzung für eine — i m Interesse der Verkehrssicherheit zu begrüßende — „Kanalisierung der Verkehrsströme". 2β B G H S t 16, 145 (147); anders n u r i n „ u n k l a r e n Verkehrslagen", vgl. oben 4. Teil, A n m . 227. 27 Z u m Verhältnis v o n Radfahrer u n d Fußgänger auf einem gemeinsamen Rad- u n d Gehweg vgl. K G (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 90. 28 O L G Hamm, V e r k M i t t 1968, Nr. 120; vgl. auch O L G München, V e r k M i t t 1977, Nr. 48 (Kinderfahrrad auf dem Gehweg). 2» RGSt 70, 71 (74); erhöhte Vorsicht ist dann am Platze, w e n n der Fußgänger die Fahrbahn schon betreten hat, dazu oben S. 157, 189. 30 RGSt 65, 135 (141). 31 Dazu oben S. 25 f. 32 Dazu oben S. 39 f., 215 f. 15*

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5. Teil : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Der Versuch einer möglichst weitgehenden Trennung zwischen motorisiertem und nichtmotorisiertem Verkehr — durch Geh- und Radwege, Uber- und Unterführungen, Fußgängerüberwege, Ampelanlagen, Absperrungen usw. — wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn nicht davon ausgegangen werden dürfte, daß Fußgänger und Radfahrer von diesen ihrer Sicherheit dienenden Einrichtungen auch Gebrauch machten. Natürlich w i r d sich der Kraftfahrer weiterhin darauf einzurichten haben, daß Fußgänger und Radfahrer die Straße dort zu überqueren suchen, wo es für sie am bequemsten und nicht, wo es für sie am sichersten ist. Er w i r d aber jedenfalls darauf vertrauen dürfen, daß dies nicht „immer und überall" geschieht, also beispielsweise nicht direkt neben einer Fußgänger-„Rot" zeigenden Verkehrsampel 33 . Wenn demgegenüber zugunsten der nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer das „Recht des Schwächeren" beschworen wird, so ist zu fragen, was es m i t dieser ebenso eingängigen wie vieldeutigen Formulierung auf sich hat. Sind Fußgänger und Radfahrer wirklich die schwächeren Verkehrsteilnehmer? Wenn das Wort i m Sinne von „ungeschützt" verstanden wird, ist dies natürlich der Fall 3 4 . Wenn damit jedoch ausgedrückt werden soll, daß Fußgänger i n der Regel verkehrsungewandte Personen sind, so begegnet eine solch pauschale Feststellung Bedenken. Natürlich ist i n diesem Zusammenhang nicht von Kindern und alten Leuten die Rede, auf deren verkehrsgerechtes Verhalten nach gefestigter Rechtsprechung nur m i t großen Einschränkungen vertraut werden darf 3 5 , sondern vom „normalen" Fußgänger. Ein großer Teil dieser Personengruppe w i r d den Führerschein besitzen, ja es mag sich häufig sowieso nur u m „Interims-Fußgänger" handeln, die ihren Wagen irgendwo geparkt haben und jetzt zu Fuß weitergehen. Besteht ein Grund, diese Personen generell für nicht „vertrauenswürdig" zu halten? Wie w i r d sich ein solcher Verkehrsteilnehmer, der sich als Fußgänger nach der Devise „erlaubt ist, was gefällt", i m Straßenverkehr bewegen durfte, später am Steuer seines »a Vgl. B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 52: „ D i e . . . angestrebte Bündelung des Fußgängerquerverkehrs an Kreuzungen, Einmündungen u n d markierten Fußgängerüberwegen, die sowohl dem Interesse der Fußgänger als auch der Sicherheit u n d Flüssigkeit des Fahrverkehrs dient, beruht auf der Erwägung, daß K r a f t f a h r e r an diesen Stellen ohnehin langsamer u n d m i t gesteigerter Aufmerksamkeit fahren, und, da sie m i t querenden Fußgängern zu rechnen haben, auf diese besondere Rücksicht nehmen müssen. Infolgedessen ist aber die Aufmerksamkeit der K r a f t f a h r e r an anderen Stellen der Fahrbahn nicht i n erster L i n i e auf Fußgänger eingestellt." 34 Dazu Hosse, Die Beteiligung von Fußgängern an Straßenverkehrsunfällen, ZVerkS 1965, 23 (25 f.). 35 Dazu unten S. 239 ff.

I I Vertrauensschutz und Fußgänger

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Wagens verhalten? W i r d er sich jetzt wieder nach allen Ge- und Verboten richten, die er eben noch ungestraft mißachten durfte? W i r d umgekehrt auch der gutwillige Kraftfahrer geneigt sein, jemanden als „Partner i m Verkehr" zu akzeptieren, den er als völlig unzuverlässig empfinden muß 36 ? W i r d sich beim Kraftfahrer nicht eine gewisse Resignation breitmachen, wenn er sich sagen muß: Ganz egal, was passiert, du bist doch der Schuldige? W i r d eine solche Haltung möglicherweise sogar seine Bereitschaft, sich dem Geschehen neben der Fahrbahn zu widmen, beeinträchtigen? Die besondere Schutzbedürftigkeit von Fußgängern und Radfahrern soll nicht verkannt werden. Sie folgt jedoch heute weniger aus sozialen Erwägungen 3 7 und läßt sich auch nicht mehr generell m i t mangelnder Verkehrsgewöhnung rechtfertigen 38 . Sie ergibt sich aus der Tatsache, daß der motorisierte Verkehr inzwischen zum Massenverkehr geworden ist und i n weiten Bereichen allein durch seine Dichte dem übrigen Verkehr das Leben schwer macht. a) Fußgänger im Straßenverkehr aa) Die Stellung der Rechtsprechung zum Vertrauensschutz gegenüber Fußgängern Zweifellos befindet sich der nichtmotorisierte Verkehrsteilnehmer, insbesondere der Fußgänger, heute i m Gegensatz zu der Zeit um 1930 in einer „Verteidigungsstellung", und es mag Grund bestehen, den „Übermut der Kraftfahrer einzudämmen" 39 . Die Rechtsprechung hat die häufig „etwas schwierige Lage" des Fußgängers 40 auch längst erkannt. Sie zwingt den Kraftfahrer i n vielen Situationen, z. B. an Omnibushaltestellen 41 , an Bahnhofsvorplätzen 42 , i n der Nähe von Fußgänger36 Dazu oben S. 62. 37 Vgl. dazu noch Gülde, Gefährdungshaftung, S. 227. 38 Dazu RGSt 65, 135 (136); Bundesanstalt für Straßenwesen, S. 10; nicht sehr glücklich daher die Formulierung des V I . Zivilsenats, wonach bei Fußgängern „vernünftiges Verhalten i m Verkehr erfahrungsgemäß nicht immer vorausgesetzt werden k a n n " (BGH [Z], V e r k M i t t 1977, Nr. 62). 3» Möhl i n Müller, Rz. 36 zu § 1 StVO; w e n n i m folgenden v o m „ K r a f t fahrer" die Rede ist, ist dabei nicht n u r an den P k w - F a h r e r , sondern auch an den Omnibus- u n d Straßenbahnfahrer zu denken; dazu B G H (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 15: A n Fußgängerüberwegen k a n n der „Vertrauensgrundsatz" zugunsten der Führer von Schienenfahrzeugen n u r sehr eingeschränkt angewendet werden. 40 Der Ausdruck stammt aus B G H S t 13, 169 (174); vgl. dazu die ausführliche Besprechung des Beschlusses, oben S. 189. 41 Ebenda. 42 O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 117.

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5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Überwegen 43 bei besonders schlechten Witterungsverhältnissen 44 , nach dem Ende größerer Veranstaltungen 45 oder zu bestimmten Zeiten 4 6 zu erhöhter Vorsicht. Jedoch muß die Rechtsprechung, auch i m Verhältnis FußgängerKraftfahrer deutlich machen, daß der Straßenverkehr nach festen Regeln abzulaufen hat und daß eine „Einstellung der Fahrpraxis auf den Verkehrssünder" 47 gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern nicht infrage kommen kann. Wenn es heißt, das Verkehrsrisiko sei „möglichst den stärkeren Schultern", also den Kraftfahrern, aufzubürden 4 8 , es gelte das „Recht des Schwächeren" durchzusetzen usw. 4 9 , so darf das nicht i n dem Sine verstanden werden, als ob damit alle Verantwortung nur noch den Führern von Kraftwagen und K r a f t rädern aufzuerlegen wäre. Sehr zu Recht heißt es i n einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs: „Jeder Verkehrsteilnehmer ist Glied einer größeren, zu gegenseitiger Rücksicht verpflichteten u n d auf verkehrsgemäßes Verhalten eines jeden angewiesenen Gefahrengemeinschaft 5 0 ."

Allerdings w i r d man i m Rahmen einer „gerechten Risikoverteilung" berücksichtigen dürfen, daß sich der Fehler eines Kraftfahrzeugführers für andere Verkehrsteilnehmer i n der Regel weit verhängnisvoller auswirkt als der des Fußgängers oder Radfahrers 51 und damit „derjenige Verkehrsteilnehmer, der die höhere Gefahr setzt, auch das höhere Maß an Sorgfalt zu beachten hat"* 2 . « O L G H a m b u r g (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 10; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1967, Nr. 65; O L G F r a n k f u r t , V e r k M i t t 1977, Nr. 95. 44 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1975, Nr. 92. 45 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1970, Nr. 83. 46 Während des Schichtwechsels, B G H (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 4; am Neujahrsmorgen, B G H (Z), V e r k M i t t 1968, Nr. 26; nachts i n einer Gegend, i n der sich zahlreiche Gaststätten u n d sonstige Vergnügungsstätten befinden, K G (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 75. 47 B G H S t 7, 118 (125). 48 Krumme, S. 4. 49 Meyer, S. 32. 50 B G H S t 10, 369 (371). 51 Unfallverhütungsbericht-Straßenverkehr 1971, S. 21. 52 Ebenda S. 21; davon geht die Rechtsprechung übrigens schon i m V e r hältnis Fußgänger — Radfahrer aus, vgl. O L G München (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 48: „Fußgänger müssen auf Gehwegen grundsätzlich nicht m i t einer Gefährdung durch Fahrzeuge rechnen, auch nicht durch (Kinder-)Fahrräder. . . . Es geht nicht an, den Schutz einer bestimmten Gruppe von Verkehrsteilnehmern vor besonderen Verkehrsgefahren — hier der K l e i n k i n d e r auf Kinderfahrrädern vor der Gefährdung auf der Fahrbahn — dadurch zu verwirklichen, daß dafür eine andere Gruppe von Verkehrsteilnehmern einer besonderen Gefährdung ausgesetzt w i r d . " K G (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 90: „ A u f einem gemeinsamen Rad- u n d Gehweg unterliegen Fußgänger nicht den gleichen Sorgfaltspflichten w i e auf oder

I I Vertrauensschutz und Fußgänger

231

A n einem Urteil des OLG Saarbrücken soll gezeigt werden, m i t welcher Strenge die Rechtsprechung die Pflichten des Kraftfahrers gegenüber Fußgängern bemißt. Der Leitsatz der Entscheidung lautet: „ W e r einen Bahnhofsvorplatz, auf dem sich mehrere Omnibushaltestellen befinden, zu einer Zeit befährt, zu der erkennbar zahlreiche Fußgänger, u n d zwar v o r allem Schüler, ihren Zügen oder Omnibussen zustreben, muß m i t erhöhter Reaktionsbereitschaft u n d so langsam fahren, daß er sein Fahrzeug auf kürzeste Entfernung zum Stehen bringen k a n n 5 3 . "

Unfallopfer war ein Untertertianer, also ein wohl 13 bis 14jähriger Junge, der aus einer Schülergruppe heraus dem m i t knapp 40 k m / h fahrenden Fahrzeugführer vor den Wagen gelaufen war. Das Gericht hält die von dem angeklagten Kraftfahrer eingehaltene Geschwindigkeit für zu hoch und zwar aufgrund folgender Erwägungen: Z u r Unfallzeit hätten sich i n der Umgebung des Bahnhofs zahlreiche Fußgänger, und zwar vor allem Schüler, aufgehalten. Es sei aber eine „Erfahrungstatsache", daß Fußgänger sich allgemein schon dann, wenn sie i n größeren Mengen aufträten, leichtsinnig verhielten und auf den Straßenverkehr nicht die gebührende Rücksicht nähmen. „ A u f Hauptgeschäftsstraßen, i n der Nähe von Festplätzen, nach dem Schluß von Veranstaltungen und bei ähnlichen Gelegenheiten" sei „regelmäßig" zu beobachten, daß Menschen „einzeln oder i n Gruppen" noch kurz vor herannahenden Fahrzeugen die Fahrbahn zu überqueren versuchten. „Erst recht" sei ein solches Verhalten auf Bahnhofsvorplätzen und i m Bereich der Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel festzustellen. Für den Angeklagten habe aber die Verpflichtung zu „besonderer Vorsicht" nicht allein deshalb bestanden, weil generell auf der von i h m befahrenen Straße m i t unbesonnenen Fußgängern zu rechnen gewesen sei. Denn der starke Verkehr zur Unfallzeit habe i m wesentlichen von Schülern hergerührt. Auch wenn, wie das Gericht einräumt, heute davon ausgegangen werden könne, daß zumindest höhere Schüler die Verkehrsregeln beherrschten und sich verkehrsrichtig verhielten, so sei doch bei ihnen eher als bei Erwachsenen m i t leichtsinnigem und unbedachtem Verhalten zu rechnen. Das gelte besonders, wenn Jugendliche i n Gruppen aufträten, w e i l sie sich dann stark fühlten und aus „verschiedenen jugendpsychologisch zu erklärenden Gründen" dazu neigten, sich über die Ordnungsregeln hinwegzusetzen. am Rande einer dem allgemeinen Fahrverkehr eröffneten Fahrbahn. . . . Das Recht des Radfahrers, durchfahren zu können, k o m m t erst dann zum Tragen, w e n n der Weg schmal ist, oder eine Fußgängergruppe die Wegbreite ausfüllt. D a n n müssen die Fußgänger dem Radfahrer eine Passage lassen, wobei sie allerdings darauf vertrauen können, daß der Radfahrer durch Glockenzeichen rechtzeitig auf sich aufmerksam macht." m O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1973, Nr. 117.

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5. Teil : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Eine gesteigerte Sorgfaltspflicht habe sich für den Angeklagten zudem noch daraus ergeben, daß er sich einer „Gruppe" von Fußgängern genähert habe und nicht habe feststellen können, ob sämtliche Personen dieser Gruppe sein Herannahen bemerkt hätten. I n einer Fußgängergruppe könnten sich aber stets verkehrsungewandte, leichtsinnige oder unaufmerksame Menschen befinden, die dann aus einer verdeckten Stellung heraus und ohne genügende Sicht nach links m i t dem Überqueren der Fahrbahn begännen. Da es sich um einen belebten Bahnhofsvorplatz m i t mehreren Omnibushaltestellen gehandelt habe und sich dort Schüler bewegten, die durch den vergangenen Unterricht hätten „ermüdet" sein können, habe der Angeklagte „erst recht" befürchten müssen, daß Schüler aus der von i h m bemerkten Fußgängergruppe heraus auf die Fahrbahn laufen würden. U m einer solchen Situation zu begegnen, genüge es nicht, m i t erhöhter Bremsbereitschaft zu fahren. Der Fahrzeugführer müsse vielmehr seine Geschwindigkeit soweit herabsetzen, daß er auch vor Personen, die kurz vor i h m m i t dem Überschreiten der Fahrbahn begönnen, noch anhalten könne. Hier ist die Grenze zum „Mißtrauensgrundsatz" gegenüber dem Fußgänger schon fast erreicht. Es fragt sich allerdings, ob das Gericht ähnlich streng geurteilt hätte, wenn es sich bei dem Unfallopfer nicht um einen Schüler, sondern u m einen erwachsenen Fußgänger gehandelt hätte. Die Entscheidungsgründe sprechen dafür, denn die „Verpflichtung zu besonderer Vorsicht" ergab sich schon daraus, daß nach Ansicht des Gerichts generell auf einem Bahnhofsvorplatz m i t unbesonnenen Fußgängern zu rechnen ist. Trotzdem mag das Bestreben, gerade den Jugendlichen vor den Gefahren des Straßenverkehrs zu bewahren, auf die Entscheidung nicht ohne Einfluß geblieben sein. bb) Das Verhalten von Kraftfahrern gegenüber Fußgängern unter dem Gesichtspunkt einer „gerechten Risikoverteilung" Zusammenfassend sei zum Verhältnis Kraftfahrer — Fußgänger folgendes gesagt: Beide Gruppen von Verkehrsteilnehmern haben „grundsätzlich" die gleichen Rechte und Pflichten, was einen ordnungsgemäßen Verkehrsablauf angeht. Das ergibt sich aus der für alle Verkehrsteilnehmer geltenden Grundregel für das Verhalten i m Straßenverkehr (§ 1 Abs. 2 StVO). Die Tatsache, daß Fußgänger i n besonderem Maße unfallgefährdet sind, hat allerdings die Rechtsprechung dazu bewogen, diese Gruppe von Verkehrsteilnehmern i m Rahmen einer „gerechten Risikoverteilung" ein wenig „gleicher" zu behandeln als die Gruppe der motorisierten Verkehrsteilnehmer. Das vom Kraftfahrer geforderte „höhere Maß an Sorgfalt" 5 4 darf jedoch nicht zu einem „Miß5 4 Unfallverhütungsbericht-Straßenverkehr

1971, S. 21.

II. Vertrauensschutz und Fußgänger

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trauensgrundsatz" gegenüber dem Fußgänger und damit zu einer A r t „strafrechtlicher Gefährdungshaftung" 55 führen. Was den Fußgänger angeht, so darf er nicht den Eindruck gewinnen, i h m sei nun „alles erlaubt", da der Kraftverkehr von ihm ja „auf alles . . . gefaßt sein" 5 6 müsse. Der Fußgänger muß wissen, daß er für seine eigene Sicherheit selbst verantwortlich bleibt. Er ist nämlich „ k e i n großes K i n d , das als passives Objekt vor der eigenen D u m m h e i t und Hilflosigkeit zu schützen w ä r e " 5 7 .

Was damit gemeint ist, soll abschließend an einem Beispiel aus der Rechtsprechung erläutert werden. Ein Fußgänger hatte versucht, die Fahrbahn nur wenige Meter neben einer Rot zeigenden Fußgängerampel zu überschreiten. Er kam auch noch glücklich über die Straße, aber nur, weil einem herannahenden Motorradfahrer i m letzten Augenblick ein Ausweichmanöver gelang. Dieser geriet dadurch auf die linke Fahrbahn und stieß dort mit einem entgegenkommenden P k w zusammen. Gegenüber dem an die Adresse des Fußgängers gerichteten Vorwurf, nicht den ampelgesicherten Uberweg benutzt zu haben, machte die Rechtsbeschwerde geltend, „es sei Aufgabe der Rechtsprechung, die Position des Fußgängers i m neuzeitlichen Straßenverkehr zu wahren, w e n n nicht sogar auszubauen, u n d so den Fußgänger davor zu schützen, daß er zum »Prügelknaben der V e r kehrsgemeinschaft' werde."

Dazu führt das Gericht aus: „Richtig ist sicherlich, daß der Schutz des Fußgängers Anliegen der Verkehrssicherheit ist, das bei der Auslegung der Verkehrsvorschriften i n gebührender Weise berücksichtigt werden muß. Hier w a r es aber gerade der Betroffene selbst, der eines geringen Zeitgewinns wegen die zum Schutz der Fußgänger geschaffene Verkehrseinrichtung, nämlich den ampelgesicherten Übergang, unbenutzt gelassen u n d statt dessen eine f ü r i h n selbst u n d den Fahrzeugverkehr äußerst gefährliche Übergangsstelle gewählt hat58."

Diese Ausführungen machen das eben Gesagte deutlich: Eine zu starke Beschneidung des Vertrauensschutzes gegenüber dem Fußgänger würde auf dessen Verhalten nicht ohne Einfluß bleiben. Er würde sich darauf verlassen, daß die Kraftfahrer i h m an jeder Stelle das Überqueren der Straße ermöglichten, und „ u m eines geringen Zeitgewinns willen" zu seinem Schutz erstellte Verkehrsanlagen wie beampelte Überwege, Fußgängerunterführungen und Absperrungen ignorieren. Die Gefahr, daß der Fußgänger auf diese Weise „ i n sein Un55

Martin, Aufgaben u n d Problematik der Verkehrsrechtsprechung, D A R 1958, 296 (303). ββ RGSt 65, 135 (144). 57 Schöllgen, Der Fußgänger: Verkehrsmodelle u n d Rechtsgefühl i m K o n flikt, ZVerkS 1965, 3. s» BayObLG, V e r k M i t t 1972, Nr. 22.

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5. T e i l : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

g l ü c k l ä u f t " 5 9 , l i e g t a u f d e r H a n d . V o r e i n e r „ B a g a t e l l i s i e r u n g " 6 0 solcher u n f a l l t r ä c h t i g e r V e r h a l t e n s w e i s e n k a n n d a h e r n i c h t e i n d r i n g l i c h genug gewarnt werden 61. b) Radfahrer

im

Straßenverkehr

aa) D i e S t e l l u n g d e r Rechtsprechung z u m V e r t r a u e n s s c h u t z gegenüber R a d f a h r e r n Daß d e r K r a f t f a h r e r sich a u f verkehrsgerechtes V e r h a l t e n v o n R a d f a h r e r n i n a l l e r R e g e l verlassen k a n n , h a t d i e Rechtsprechung schon v e r h ä l t n i s m ä ß i g f r ü h entschieden 6 2 . S e l b s t v e r s t ä n d l i c h m u ß sich d e r K r a f t f a h r e r aber a u f d i e v o n e i n e m z w e i r ä d r i g e n F a h r z e u g ausgehend e n besonderen G e f a h r e n einstellen, z. B . b e i m U b e r h o l e n d a m i t rechnen, daß d e r Ü b e r h o l t e sein R a d n i c h t stets i n d e r s e l b e n R i c h t u n g h a l t e n k a n n u n d g e l e g e n t l i c h u n w i l l k ü r l i c h nach d e r Seite a b w e i c h t 6 3 . Bei stark böigem Seitenwind k a n n ein Radfahrer von Windstößen zur Fahrbahnmitte h i n getrieben werden 64. B e i m Türöffnen muß ein K r a f t f a h r e r d a r a u f gefaßt sein, daß e i n R a d f a h r e r i n g e r i n g e m A b s t a n d a n s e i n e m F a h r z e u g v o r b e i f ä h r t , w e n n sich i n n u r 1,15 m A b s t a n d z u r s» Clauß, S. 207. eo Lange, K r i m i n a l i t ä t , S. 131. 61 Daß auch — u n d gerade — dem sich verkehrsgerecht verhaltenden Fußgänger m i t übergroßem Mißtrauen seitens des Kraftfahrers nicht gedient ist, zeigt der folgende F a l l ( B G H [Z], V e r k M i t t 1977, Nr. 62): Eine Fußgängerin überquerte eine breite Straße u n d blieb i n deren M i t t e stehen, u m ein Kraftfahrzeug vorbeizulassen. Dessen Führer betätigte die Lichthupe als Warnsignal, die Fußgängerin mißverstand dies als Aufforderung zum Weitergehen u n d geriet unter das Auto. Der Bundesgerichtshof f ü h r t dazu aus, daß „die Abgabe eines Leuchtzeichens durch den beklagten K r a f t f a h r e r i n der gegebenen Situation mindestens nach der objektiven Verkehrslage nicht geboten war. . . . Fehlreaktionen von Fußgängern infolge unnötiger u n d unter Umständen verwirrender Warnzeichen sind f ü r den K r a f t f a h r e r oft voraussehbar u n d begründen dann sein Verschulden an dem nachfolgenden Zusammenprall m i t dem Fußgänger. Jedenfalls darf sich der Kraftfahrer dann nicht darauf verlassen, sein Leuchtzeichen werde n u r als, w e n n auch vielleicht o b j e k t i v nicht gebotene Warnung verstanden werden, w e n n keine eindeutige Gefährdung des Gewarnten vorliegt." «2 Vgl. B a y O b L G v o m 16. J u l i 1929, D A R 1930, Sp.107: Der K r a f t f a h r e r braucht nicht damit zu rechnen, daß ein Radfahrer plötzlich u n d ohne ersichtlichen G r u n d nach l i n k s v o n seiner Fahrtrichtung abweicht; R G v o m 27. Oktober 1930, D A R 1930, Sp. 363: E i n K r a f t f a h r e r braucht nicht damit zu rechnen, daß i h m ein Radfahrer v ö l l i g unvermutet i n die Fahrbahn fährt. Demgegenüber stellte das am 13. Februar 1931 ergangene „ V o r g a r t e n - U r t e i l " (RGSt 65, 135) i m Verhältnis K r a f t f a h r e r — Fußgänger noch erheblich strengere Anforderungen. 63 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1964, Nr. 36; besonders — i m Gegensatz zu einem Mofa-Fahrer — bei Bergfahrten (OLG Düsseldorf, V e r k M i t t 1975, Nr. 109). 64 O L G Schleswig, V e r k M i t t 1966, Nr. 98.

I I Vertrauensschutz und

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Mitte der Straße h i n Straßenbahnschienen befinden 65 . Infolge der fortschreitenden Motorisierung sind allerdings Urteile, die sich mit dem Vertrauensschutz gegenüber Erwachsenen als Radfahrer befassen, selten geworden. Meist sind heute bei einem Zusammenstoß zwischen K r a f t - und Radfahrer die Unfallopfer Kinder, so daß das Problem, inwieweit auf das verkehrsgemäße Verhalten von Radfahrern vertraut werden darf, sich mit der Frage überschneidet, inwieweit von — meist älteren — Kindern schon die Befolgung der Verkehrsregeln erwartet werden kann. I m ganzen scheint hier die Rechtsprechung etwas strengere Maßstäbe anzulegen als bei gleichaltrigen Fußgängern, offenbar weil sie bei Radfahrern eine größere Verkehrserfahrung voraussetzt 66 . So darf ein Kraftfahrer, dem zwei 8jährige Radfahrer, der eine auf einem Kinderfahrrad, entgegenkommen, darauf vertrauen, daß diese das Rechtsfahrgebot kennen und nicht ohne Grund auf die für sie linke Fahrbahnseite überwechseln 67 . Wer m i t einem P k w auf übersichtlicher Landstraße einen 12jährigen Radfahrer überholt, braucht i n der Regel nicht damit zu rechnen, daß dieser plötzlich u m 2 m nach links von seiner Fahrspur abweicht 68 . Andererseits entspricht es der „Lebenserfahrung", daß mehrere jugendliche Radfahrer, die hintereinander fahren, einander zu überholen suchen und dabei zu Unbesonnenheiten neigen 6 *. M a r t i n meint, es gebe gute Gründe sowohl für die Bejahung als auch für die Verneinung der Frage, ob grundsätzlich m i t Verkehrswidrigkeiten eines — i n dem von i h m geschilderten F a l l — 6jährigen Radfahrers zu rechnen sei 70 . Für die Bejahung der Frage könne vorgebracht werden, daß 6jährige Kinder häufig noch nicht die nötige Einsicht i n die Verkehrsregeln hätten und Gefahrenlagen noch nicht überlegt zu begegnen wüßten. Für eine Verneinung der Frage könne angeführt werden, daß eine Verpflichtung des Kraftfahrers, sich ohne weiteres auf Unbesonnenheiten kindlicher Radfahrer einzustellen, die Verkehrsflüssigkeit erheblich beeinträchtigen würde und daß es letzten Endes i n der Verantwortung der Eltern liege zu entscheiden, ob ihre es O L G Schleswig, V e r k M i t t 1956, Nr. 130. 66 Vgl. schon RGSt 65, 135 (136), wonach Radfahrer, Motorradfahrer u n d Kraftwagenführer unter den Verkehrsteilnehmern „eine gewisse Auslese" darstellen, bei denen „eine höhere Rüstigkeit u n d Verkehrsgewandtheit u n d ein besseres Verständnis f ü r die Bedürfnisse des Verkehrs" erwartet werden kann. β7 B G H , V e r k M i t t 1967, Nr. 84. «8 O L G Köln, V e r k M i t t 1964, Nr. 36. 60 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1965, Nr. 151. 70 Martin, Kinder, S. 119, unter Hinweis auf B G H , VRS 23, S.273.

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5. Teil : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Kinder schon die nötige Verkehrseinsicht und -gewandtheit besäßen, u m allein Rad zu fahren. Ob aus der Tatsache, daß ein kleines K i n d mit dem Rade fährt, immer schon auf eine entsprechende Einwilligung der Eltern geschlossen werden kann, ist jedoch fraglich. Vielleicht benutzt das K i n d nur das Rad eines Spielkameraden, dürfte von den Eltern aus nur i m Hofe fahren usw. Einem Kraftfahrer ist daher zu raten, sich generell nicht auf verkehrsgerechtes Verhalten eines 6jährigen Kindes zu verlassen, ob es nun zu Fuß geht oder m i t dem Rade fährt 7 1 . bb) Lkw-Verkehr und Radfahrer: Die „Lückenfälle" Ein besonderes Problem i m Verhältnis Kraftfahrer-Radfahrer stellen die „Lückenfälle" dar. Es kommt immer wieder vor, daß Radfahrer ungesehen i n enge Lücken neben oder vor einem bei Ampelrot haltenden Lastkraftwagen einfahren und dann beim Start verunglücken. Daher vermag es kaum zu überzeugen, wenn dem Führer eines Lastkraftwagens, der m i t einem Abstand von ca. 70 cm zur rechten Fahrbahnbegrenzung vor einer Ampel angehalten hatte, bescheinigt wird, er habe nicht damit zu rechnen brauchen, daß i n diese Lücke neben seinem Fahrzeug ein Radfahrer einfahren werde. Wenn das Gericht meint: „Die Lücke w a r so schmal, das die Einfahrt u n d Durchfahrt eines Radfahrers i n hohem Maße gefährlich u n d nach dem Vertrauensgrundsatz nicht zu erwarten war"72

so verkennt es die Tragweite des Vertrauensschutzes. Gerade weil die durch das — durchaus verkehrsgerechte — Verhalten des L k w - F a h rers geschaffene Verkehrslage so gefährlich war, hätte dieser nach den Grundsätzen einer „gerechten Risikoverteilung" die Pflicht zu besonderer Vorsicht gehabt 73 . I m übrigen ist die Rechtsprechung nicht einheitlich. So rechnet es der Bundesgerichtshof einer 12jährigen Radfahrerin als „grobe Unauf71 Vgl. dazu unten S. 246 ff. 72 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1966, Nr. 14. 73 Ä h n l i c h rigoros bejaht das O L G Oldenburg ( V e r k M i t t 1959, Nr. 45) den Vertrauensschutz gegenüber einer 64jährigen Radfahrerin, die auf einer Landstraße ein Linksabbiegen nicht angezeigt hatte: „Denn ein Erfahrungssatz . . . daß bei älteren Angehörigen der L a n d bevölkerung das Linksabbiegen an einer Kreuzung ohne Anzeigen der Fahrtrichtungsänderung eine so häufige Erscheinung sei, daß sich auch ein K r a f t f a h r e r hierauf einstellen müsse, besteht tatsächlich nicht. Bei der Ausbreitung des heutigen Verkehrs, seiner Dichte u n d den damit auch für die Bewohner des platten Landes begründeten Gefahren muß v i e l mehr davon ausgegangen werden, daß die grundlegenden Verkehrsregeln auch dort bekannt sind u n d Beachtung finden." Hier handelt es sich, ähnlich w i e i m eben zitierten U r t e i l des O L G Düsseldorf, doch w o h l u m eine petitio principii.

II. Vertrauensschutz und

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merksamkeit an", daß sie an einer Kreuzung, an der sie selber geradeaus fahren wollte, das Rechtsabbiegen eines Sattelschleppers nicht bemerkte, obwohl dessen Führer frühzeitig die beabsichtigte Richtungsänderung angezeigt hatte. Dem Umstand, daß die Radfahrerin sich bis zur Kreuzung auf einem Radweg befand und sich deshalb besonders sicher fühlen konnte und daß der Führer des Lastzuges vor dem Rechtsabbiegen erst einmal nach links ausholen mußte, maß das Gericht keine Bedeutung bei. Der Führer des Lastzuges habe darauf vertrauen dürfen, daß die Radfahrerin seine Richtungszeichen beachten und ihrerseits den Umstand berücksichtigen werde, „daß er von seinem Führerhaus sie möglicherweise nicht sehen konnte, zumal auch alle Fahrzeugführer verpflichtet sind, langen u n d schweren Lastzügen die Bewältigung schwieriger Verkehrslagen, besonders beim E i n biegen, möglichst zu erleichtern" 7 4 .

Schließlich hält das Gericht die Ansicht für unzutreffend, der Führer des Lastzuges habe nicht ohne Begleiter fahren dürfen, denn das Gesetz schreibe auch den Führern schwerer Lastzüge keine Mitnahme eines Beifahrers vor. Eine ähnliche Auffassung vertritt der 1. Strafsenat des OLG K ö l n für einen Fall, i n dem sich ein Radfahrer vor einen Lastkraftwagen, Baujahr 1954, gesetzt hatte, der vor einer Rot zeigenden Ampel — und zwar wegen des toten Winkels vor seiner hohen Motorhaube etwa 2 m vor dem Fußgängerüberweg — angehalten hatte 7 5 . Beim Anfahren des L k w war der Radfahrer hängengeblieben und verunglückt. Das Gericht ist der Ansicht, m i t einem „derart unvernünftigen und gefährlichen" Verhalten des Radfahrers habe der Lastzugführer nicht zu rechnen brauchen. Es könne auch nicht etwa von i h m verlangt werden, vor dem Anfahren auszusteigen oder vom Fahrersitz aufzustehen, um den toten Blickwinkel vor seinem Fahrzeug zu überprüfen. Ein solches Verlangen würde den fließenden Verkehr zum Erliegen bringen und alle folgenden Verkehrsteilnehmer unzumutbar behindern. Ein A u f stehen vom Fahrersitz möge bei Sonderfahrzeugen, etwa Panzerwagen oder Erdbewegungsmaschinen angebracht sein, weil da der tote Blickwinkel besonders groß sei 76 . Hier habe es sich aber um ein serienmäßiges, wenn auch älteres Fahrzeug gehandelt, für dessen Betrieb besondere Vorsichtsmaßnahmen nicht gefordert werden könnten. I n einer späteren Entscheidung hat der Senat seine Ansicht modifiziert 77. Wer m i t einem Schwerlastfahrzeug zum — spitzwinkligen — Rechtsabbiegen m i t 50 - 70 cm Seitenabstand vom Bordstein vor einer 74

BGH, V e r k M i t t 1964, Nr. 118. O L G K ö l n , V e r k M i t t 1964, Nr. 126. ™ Vgl. dazu oben S. 152 f., 224 f. 77 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1974, Nr. 83. 75

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5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Ampel anhält, muß jedenfalls dann m i t dem Sichvorschieben von Radfahrern i n diese Lücke und m i t ihrer Gefährdung beim Anfahren und Abbiegen rechnen, wenn er kurz zuvor radfahrende Kinder von höchstens 10 Jahren überholt hat. Das Gericht führt dazu aus: „ M i t der Anforderung des Strafkammerurteils, der Angeklagte hätte bei der Gesamtsituation Anlaß u n d die Pflicht gehabt, auch auf die Gefahr hin, dabei die Grünphase zu versäumen u n d einen A m p e l t a k t länger halten bleiben zu müssen, v o m Führersitz nach rechts rutschen u n d v o m rechten Fenster des Führerhauses aus i n den toten W i n k e l rechts seitwärts/vorwärts/ rückwärts Einblick nehmen müssen, ist bei den Umständen des konkreten Falles das dem K r a f t f a h r e r zumutbare Sorgfaltsmaß nicht überspannt. Die Revisionsmeinung, dies Verlangen lege praktisch den Verkehr m i t schweren Lastfahrzeugen lahm, übersieht, daß derartiges sich leicht vermeiden ließe, w e n n die — durchweg gewerblichen — Halter soldier Fahrzeuge sie entweder generell oder wenigstens auf Strecken, w o m i t derartigen erhöhten Gefährdungsmöglichkeiten f ü r andere Verkehrsteilnehmer zu rechnen ist, n u r m i t Beifahrer i n den Verkehr schickten 7 8 ."

Wenn das Gericht bei seiner Entscheidung auch die „Umstände des konkreten Falles" betont und dabei sogar auf sein früheres Urteil verweist, so w i r d doch deutlich, daß nun die Akzente anders gesetzt werden: Die Befürchtung, der fließende Verkehr werde bei solchen Anforderungen zum Erliegen kommen, w i r d zurückgewiesen, denn anders als noch der Bundesgerichtshof 79 w i l l sich das Gericht nicht damit zufriedengeben, daß das Gesetz i n solchen Fällen keinen Begleiter vorschreibt 80 . Wenn der Schutz des Menschenlebens wirklich Vorrang vor dem Wunsch des einzelnen nach besonders raschem Vorwärtskommen haben soll 8 1 , kann es i n der Tat keine erlaubte Fahrweise geben, bei der die Gefährdung schuldloser oder verkehrsungewandter Verkehrsteilnehmer von vornherein i n Kauf genommen werden dürfte 8 2 . Dies muß auch gelten, wenn die Erfüllung dieser Forderung bei der technischen Ausrüstung mancher Fahrzeuge nur unter Schwierigkeiten möglich ist. Die anderslautende frühere Rechtsprechung des OLG K ö l n und des Bundesgerichtshofes dürfte damit überwunden sein. Dafür spricht auch, daß i n jüngerer Zeit ein ähnlicher Fall, i n dem ein Fußgänger 78 Ebenda. 7® B G H , a.a.O. ( V e r k M i t t 1964, Nr. 118). 80 Es sei i n diesem Zusammenhang noch einmal darauf hingewiesen, daß auch für den Rechtsabbieger i n manchen Fällen eine doppelte Umschaupflicht besteht, dann nämlich, w e n n er vor dem Abbiegen hatte anhalten müssen. I n dieser Zeit können sich Zweiradfahrer zwischen das Fahrzeug u n d den Bürgersteig gesetzt haben (HansOLG Bremen, V e r k M i t t 1976, Nr. 33). 81 B G H S t 16, 145 (149). 82 Vgl. B G H (Z), V e r k M i t t 1966, Nr. 132.

II.2 Vertrauensschutz und

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das Unfallopfer war, i n gleichem Sinne entschieden wurde. Danach muß sich der Führer eines Lastkraftwagens, der wegen einer Verkehrsstockung auf einem Fußgängerüberweg wartet, bevor er wieder anfährt, davon überzeugen, daß sich i n dem nicht einsehbaren Raum vor seinem Fahrzeug kein Fußgänger befindet. Er darf nicht darauf vertrauen, daß Fußgänger die Fahrbahn nur hinter seinem Lastkraftwagen überschreiten 85 . 2. Vertrauensschutz und verkehrsungewandte Personen

a) Kinder im Straßenverkehr Eine umfangreiche Rechtsprechung beschäftigt sich m i t der Frage, inwieweit der Kraftfahrer auf verkehrsgerechtes Verhalten verkehrsungewandter Personen vertrauen darf. Gegenüber kleinen Kindern und gebrechlichen Erwachsenen kann offensichtlich — wenn überhaupt — nur ein stark eingeschränkter Vertrauensschutz infrage kommen. Wo i m einzelnen die Grenze zu ziehen ist, vor allem von welchem A l t e r ab sich ein K i n d i n das Verkehrsgeschehen soweit integriert hat, daß es für „ v o l l " genommen werden kann, ist streitig 8 4 . aa) Plötzliches Auftauchen von vorher verdeckten Kindern Zunächst gilt es die Frage zu beantworten, inwieweit der K r a f t fahrer m i t Verkehrsverstößen von Kindern zu rechnen hat, die er auf Grund der örtlichen Verhältnisse erst i m letzten Augenblick bemerkt. Die Rechtsprechung hat sich hier, wie schon dargestellt 85 , von der i m „Vorgarten-Urteil" 8 6 zum Ausdruck gekommenen starren Haltung des Reichsgerichts abgewandt und verlangt nicht mehr, ein Kraftfahrer, der an nicht einsehbaren Vorgärten oder an die Straße grenzenden Häusern vorbeifährt, müsse „auf alles . . . gefaßt sein" 8 7 . Er braucht nur dann seine Geschwindigkeit auf das plötzliche Auftauchen von Kindern einzurichten, wenn er „besonderen Anlaß oder t r i f t i g e Veranlassung zu der Besorgnis hat, es könne plötzlich ein K l e i n k i n d auf die Straße l a u f e n d e . 83 O L G Saarbrücken (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 96. 84 Über die Rechtsprechung i m einzelnen vgl. Fischer / Schleusener in K V R „ K i n d e r " , Erl. 1 u n d „Gebrechliche", Erl. 1; Schnitzerling, Die Gefährdung u n d Verletzung des Kindes i m Straßenverkehr i n der Rechtsprechung ab 1972, D A R 1977, 57; zu den einzelnen U n f a l l t y p e n Stürtz / Weber, U r sachen kindlicher Fußgängerunfälle, der Verkehrsunfall 1978, 43 (44). 85 Vgl. oben S. 25 ff. 8β RGSt 65, 135. 87 RG, a.a.O., S. 144. 88 O L G Karlsruhe, V e r k M i t t 1975, Nr. 16.

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5. Teil : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Das ist der Fall, wenn der Kraftfahrer ein Kleinkind i n eine Hofeinfahrt laufen sieht, aus der es alsbald wieder hervorkommen könnte 8 9 , wenn rechts und links der Fahrbahn je eine Gruppe von Kindern steht, weil ein K i n d unbesonnen auf die Fahrbahn treten mag, u m zu der anderen Gruppe zu gelangen 90 , wenn dem Kraftfahrer bekannt ist, daß sich unmittelbar an einer Omnibushaltestelle ein Kinderspielplatz befindet 91 , oder daß an einer Einmündung eines Schulweges häufig Kleinkinder spielen 92 , wenn er eine Spielstraße 93 oder einen verkehrsarmen Siedlungsbereich 94 durchfährt, wo i n verstärktem Maße mit spielenden Kindern gerechnet werden muß. Weiterhin hat der Kraftfahrer m i t dem plötzlichen Auftauchen von Kleinkindern zu rechnen, wenn i h m beiderseits der Fahrbahn Scharen von größeren Schulkindern begegnen, die möglicherweise Kleinkinder verdecken 95 , oder wenn schon ein K i n d plötzlich über die Straße gelaufen ist, w e i l dessen noch nicht sichtbarer Spielgefährte nachfolgen könnte 9 6 . Gewiß läßt sich der Rechtsprechung bescheinigen, daß die von ihr für das Verhalten von Kraftfahrern gegenüber noch nicht sichtbaren Kleinkindern aufgestellten Regeln „einen erträglichen Ausgleich zwischen dem Schutz der K i n d e r u n d den Bedürfnissen des Verkehrs erstreben" 9 7 .

Ob dies immer gelingt, ist eine andere Frage. So kann man sehr wohl der Meinung sein, daß schon das Warnzeichen „ K i n d e r " den Kraftfahrer dazu nötigt, mit dem plötzlichen Auftauchen von Kindern zu rechnen 98 , und daß es dazu nicht erst des Hinzutretens weiterer Umstände, beispielsweise eines auf der gegenüberliegenden Fahrbahnseite haltenden Omnibusses bedarf 9 9 . Auch einige neuere Entscheidungen zur Beobachtungspflicht des Kraftfahrers nach der Seite h i n und zur Vorhersehbarkeit kindlichen Fehlverhaltens geben zu Bedenken Anlaß. So wurde ein Kraftfahrer freigesprochen, der bei der Annäherung an einen Fußgängerüberweg ein 12jähriges K i n d angefahren hatte, ββ BGH, V e r k M i t t 1963, Nr. 6. 90 B G H (Z), V e r k M i t t 1963, Nr. 19. 91 K G (Z), V e r k M i t t 1965, Nr. 109. 92 O L G Celle, V e r k M i t t 1967, Nr. 37. 93 B G H (Z), V e r k M i t t 1967, Nr. 83. 94 B G H (Z), V e r k M i t t 1970, Nr. 90. 95 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1968, Nr. 108. 96 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1969, Nr. 10. 9 7 O L G K ö l n , V e r k M i t t 1968, Nr. 116 m.Nachw. aus der Rechtsprechung. 98 a. A . O L G K ö l n , a.a.O. 99 O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1974, Nr. 115; sehr zu Recht meint Möhl, Defensives Fahren, S. 81, hier könne „die Verteidigungslinie ohne Schaden f ü r die Flüssigkeit des Verkehrs getrost etwas vorverlegt werden".

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das aus einer von rechts einmündenden Nebenstraße auf den Fußgängerweg gelaufen war. Der Angeklagte hatte das K i n d erst i m letzten Augenblick bemerkt, als er nur noch 2 m vom Fußgängerüberweg entfernt war. Er hätte es aber schon auf eine Entfernung von mindestens 10 m sehen können, da die Straße, aus der es gelaufen kam, auf 10 - 15 m überschaubar war. Das Gericht war der Ansicht, ein K r a f t fahrer genüge seiner Beobachtungspflicht nach § 26 Abs. 1 Satz 1 StVO schon dann, wenn er den vor i h m liegenden Fußgängerüberweg und den an i h n angrenzenden Raum des Bürgersteigs i n einer Breite von 2 m bis 3 m i m Auge behalte. Ein Kraftfahrer sei „überfordert", wolle man von i h m verlangen, auch noch die vor einem Ubergang einmündenden Seitenstraßen daraufhin zu beobachten, ob dort Fußgänger angelaufen kämen, die möglicherweise ohne nach rechts und links zu schauen, ihren Weg über die Fahrbahn fortsetzten 100 . Es fragt sich, ob eine weitergehende Beobachtungspflicht den K r a f t fahrer wirklich überfordern würde, da ja eine Bewegung gerade i n der Gesichtsfeldperipherie leichter wahrgenommen w i r d als i n der Mitte des Gesichtsfeldes 101 . Man w i r d allerdings die durch den Unfalltod eines kleinen Kindes hervorgerufene Erschütterung auch nicht zum Anlaß nehmen dürfen, an den Kraftfahrer Forderungen zu stellen, welche dieser als unerfüllbar empfinden muß. So hat sich der Verkehrsstrafsenat i n seiner grundlegenden Entscheidung zum Verhalten des Kraftfahrers an Omnibushaltestellen 1 0 2 bei seinem Bemühen u m eine „gerechte Risikoverteilung" nicht von der Tatsache bestimmen lassen, daß das Unfallopfer ein achtjähriges K i n d war. Eine über die „2-m-Regel" hinausgehende gesteigerte Vorsicht fordert der Senat zu Recht nur, wenn besondere Umstände (etwa die Nähe einer Schule, eines Kinderspielplatzes, eines Altersheimes oder die Verwendung des Omnibusses zur Schülerbeförderung) das plötzliche Auftaudien verkehrsungewandter Personen nahelegen 103 . Hinsichtlich der Vorhersehbarkeit eines Unfalls m i t einem kurz zuvor noch nicht sichtbaren K l e i n k i n d sollte die Rechtsprechung einen ioo O L G Celle, 1. Strafsenat, U r t e i l v o m 18. Februar 1975, V e r k M i t t 1975, Nr. 94; derselbe Senat hat w e n i g später noch einmal ähnlich entschieden: Danach braucht ein Kraftfahrer, der sich innerhalb geschlossener Ortschaften auf einer bevorrechtigten Landesstraße der Kreuzung m i t einer schon aus einer Entfernung v o n mindestens 200 m (!) einsehbaren Gemeindestraße nähert, die kreuzende Straße nicht auf Fußgänger zu beobachten, die sich der v o n i h m befahrenen Straße nähern. Unfallopfer w a r hier ein 3jähriges K i n d , das schon etwa 50 m auf der Gemeindestraße i n Richtung Landesstraße gelaufen w a r (OLG Celle, 1. Strafsenat, U r t e i l v o m 8. A p r i l 1975, V e r k M i t t 1975, Nr. 95). ιοί Dazu Böcher, S. 28 f. 102 B G H S t 13, 169. ι 0 3 a. A . offenbar Martin, Vertrauensgrundsatz, S. 24; vgl. zu der E n t scheidung i m einzelnen oben S. 191 f. 16 Kirschbaum

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sehr strengen Maßstab anlegen, was den Schutzzweck der verletzten Vorschrift angeht 1 0 4 , vor allem dann, wenn der Kraftfahrer m i t überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist 1 0 5 . Z u begrüßen ist daher ein U r t e i l des OLG Celle, das den Schutzbereich des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO dementsprechend weit faßt. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte fuhr innerhalb einer geschlossenen Ortschaft auf eine i h m bekannte Kreuzung zu. Die Einsicht i n die von rechts einmündende, bevorrechtigte Straße war durch einen Lattenzaun und ein Gebäude stark beeinträchtigt. Trotzdem behielt der Angeklagte seine Geschwindigkeit von 60 k m / h bei. U m seiner Wartepflicht gegenüber einem etwa von rechts kommenden Fahrzeug genügen zu können, hätte er höchstens m i t 40 k m / h fahren dürfen. Plötzlich lief ein vierjähriges K i n d aus einer Hof einfahrt i n den Kreuzungsbereich und wurde vom Fahrzeug des Angeklagten erfaßt. Die Verurteilung des Angeklagten nach §222 StGB stützt das Gericht auf folgende Erwägung: Wer an eine unübersichtliche Kreuzung gleichgeordneter Straßen so schnell heranfahre, daß er seiner Wartepflicht gegenüber dem möglicherweise von rechts kommenden Verkehr nicht genügen könne, sei auch für einen dadurch m i t herbeigeführten Zusammenstoß m i t einem von links kommenden und i h m gegenüber wartepflichtigen Fahrzeug verantwortlich. Das abstrakte Gefährdungsverbot des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO habe nämlich nicht n u r den Zweck, den bevorrechtigten, von rechts kommenden, sondern den gesamten Verkehr auf Kreuzungen vor Gefahren zu schützen, die allgemein bei Geschwindigkeitsüberschreitungen i m Bereich der Wahrscheinlichkeit lägen 1 0 6 . Der Schutzbereich dieser Vorschrift gehe aber darüber noch hinaus. § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO habe ganz allgemein den Zweck, Zusammenstöße m i t jeder A r t von Verkehrsteilnehmern, auch m i t Fußgängern, an gefährlichen und unübersichtlichen Stellen, wie sie Kreuzungen ohne hinreichende Sicht i n die Seitenstraßen immer darstellten, zu verhindern. Das plötzliche Auftauchen eines Verkehrsteilnehmers, insbesondere eines Kindes, i m Bereich der Kreuzung sei demnach „ k e i n atypisches, außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegendes Ereignis, sondern, w e i l i n den Schutzbereich des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO fallend, für jeden verständigen Kraftfahrer voraussehbar" 107. io* Dazu i m einzelnen oben S. 132 ff. Dabei ist natürlich davon auszugehen, daß die Geschwindigkeitsüberschreitung einwandfrei nachgewiesen ist. Stürtz / Weber, S. 43, berichten, daß die Analyse von Zeugenaussagen zu Verkehrsunfällen bei der Schätzimg der Fahrzeuggeschwindigkeit hochsignifikante Unterschiede zwischen K i n d e r und Erwachsenenunfällen ergeben habe: Waren Erwachsene an einem Unfall beteiligt, so wurde die Pkw-Geschwindigkeit u m 24,3 °/o zu hoch angegeben waren Kinder beteiligt, so lag die Überschätzung der Fahrzeuggeschwindigkeit bei 74,1 °/o. 106 Ständige Rechtsprechung seit BGHSt 17, 299; vgl. dazu oben S. 136. io? OLG Celle, V e r k M i t t 1975, Nr. 78.

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Die Vorhersehbarkeit eines Unfalls m i t einem plötzlich auftauchenden Kleinkind wurde dagegen i n einem anderen Fall trotz überhöhter Geschwindigkeit verneint. Hier hatte der Kraftfahrer eine Gruppe von kleinen Kindern am Straßenrand zwar bemerkt, seine Geschwindigkeit von 50 k m / h jedoch nicht ermäßigt. Er „vertraute" darauf, daß die Kinder sich verkehrsgemäß verhalten würden. Plötzlich lief ein weiteres Kind, das nicht zu dieser Gruppe gehörte, aus einem nicht einsehbaren Durchgang zwischen zwei Häusern hervor auf die Straße und wurde vom Wagen des Angeklagten erfaßt. Nach Auffassung des Gerichts hätte der Angeklagte ohne weiteres vorhersehen können und müssen, daß aus der rechts neben seiner Fahrbahn befindlichen Kindergruppe heraus, die für i h n ja rechtzeitig sichtbar war, ein K i n d unbesonnen auf die Straße laufen würde. Mangels konkreter Anhaltspunkte habe der Angeklagte jedoch nicht damit zu rechnen brauchen, daß aus dem nicht einsehbaren Durchgang ein weiteres K i n d hervorlaufen und auf die Fahrbahn springen werde. Die vermeidbare Gefährdung der am Fahrbahnrand stehenden Kindergruppe könne also nicht dazu führen, den Angeklagten auch für den Unfall eines nicht zu dieser Gruppe gehörenden — einstweilen noch unsichtbaren — Kindes verantwortlich zu machen 108 . Das Gericht geht nicht auf die Frage nach dem Schutzzweck des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO ein, obwohl es nahegelegen hätte, danach die Vorhersehbarkeit des Unfalls zu bestimmen. Die Verpflichtung, an einer Gruppe kleiner Kinder nur langsam vorbeizufahren, bezweckt sicher i n erster Linie den Schutz dieser — sichtbaren — Kinder. Jedoch muß der Kraftfahrer stets damit rechnen, daß sich innerhalb einer Kindergruppe auch Kinder aufhalten, die er i m Augenblick seines Herannahens noch nicht sehen kann, sei es, daß sie durch andere — größere — Kinder verdeckt sind 1 0 9 , sei es, daß von mehreren hintereinander herlaufenden Kindern bisher nur das vorderste i n das Gesichtsfeld des Kraftfahrers geraten ist 1 1 0 . Daß nun plötzlich i n der Nähe einer Kindergruppe weitere Kinder auftauchen, die zwar i m Augenblick noch keine Beziehungen zu dieser Gruppe haben, vielleicht aber m i t anderen aus der Gruppe spielen wollen, oder auch nur vor ihnen weglaufen usw., liegt weder außerhalb der allgemeinen Lebenserfahrung, noch sind solche Kinder weniger schützenswert als Gruppenmitglieder. Der Schutzbereich des § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO sollte daher i n solchen Fällen nicht zu eng gezogen, sondern es sollte einfach davon ausgegangen werden, daß eine Gruppe von Kindern am Straßenrand einen Anziehe ιοβ Mitt no 1*

O L G Karlsruhe, V e r k M i t t 1975, Nr. 16. O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1968, Nr. 108; O L G Saarbrücken (Z), V e r k 1973, Nr. 117. O L G K ö l n , V e r k M i t t 1969, Nr. 10.

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hungspunkt für weitere — sich möglicherweise unvorsichtig verhaltende — Kinder darstellt. Das Gericht hätte m i t diesen Erwägungen die Vorhersehbarkeit des Unfalls bejahen können, ohne daß es noch auf die sicher nur unter Schwierigkeiten zu beantwortende Frage angekommen wäre, „ob der Angeklagte Veranlassung hatte, damit zu rechnen, daß zu der von i h m erkannten Gruppe v o n K l e i n k i n d e r n , f ü r die k e i n Bürgersteig v o r handen war, etwa zu gemeinsamem Spiel ein weiteres K i n d herbeilaufen u n d anschließend auf die Dorfstraße springen w e r d e " 1 1 1 .

bb) Verhalten gegenüber rechtzeitig vorher sichtbaren Kindern verschiedenen Alters Ein besonders schwieriges Problem stellt das Verhalten des K r a f t fahrers gegenüber auf der Fahrbahn oder am Straßenrand sichtbaren Kindern dar. Die Rechtsprechung unterscheidet hier zwischen Kleinkindern, d. h. Kindern bis etwa zum 7. Lebensjahr, denen gegenüber ein Vertrauensschutz überhaupt nicht infrage kommt, und älteren Schulkindern, denen gegenüber er nur i n eingeschränktem Maße gilt. Dabei ist Vertrauen i n die Verkehrsgewandtheit eines Kindes u m so weniger angebracht, je näher es dem Kleinkindalter steht und je schwieriger sich die von i h m zu bewältigende Situation darstellt. Erst von Jugendlichen ab 14 Jahren kann ein Verkehrsverhalten erwartet werden, das dem Erwachsener gleichkommt 1 1 2 . Der — wenn auch eingeschränkte — Schutz des Vertrauens auf verkehrsgerechtes Verhalten von Kindern über 7 Jahren w i r d m i t der i n diesem Lebensalter einsetzenden „immer stärkeren Verkehrs Verbundenheit und Verkehrsgewandtheit" begründet, hervorgerufen i n erster Linie durch die m i t dem Schulbesuch verbundene Verkehrserziehung und Verkehrspraxis (Schulweg) 113 . N u n ist es gewiß richtig, daß auch jüngere Schulkinder sich häufig schon recht sicher und vorsichtig i m Straßenverkehr bewegen, nicht selten sogar m i t einer Gewandtheit, die vielen — besonders älteren — Erwachsenen abgeht. Es fragt sich jedoch, ob ein solches Verhalten wirklich die Regel ist, oder ob der Kraftfahrer nicht ständig darauf gefaßt sein muß, daß es von einem zum anderen Augenblick „umschlägt". Z u berücksichtigen ist dabei nämlich, daß das Wahrnehmungsvermögen kleinerer Kinder anders ausgebildet ist als beim Erwachsenen, daß sie sich nur kurze Zeit auf 111

O L G Karlsruhe a.a.O. ( V e r k M i t t 1975, Nr. 16). Martin, Kinder, S. 177; Mittelbach, S. 315: Mühlhaus, StVO, A n m . 4 d zu §25 StVO; Cramer , RdNr. 66 - 72 zu § 3 StVO; Fuhrmann, S. 91 ff.; Schnitzerling, S. 57 ff., jeweils m i t Rechtsprechungsnachweisen; O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 97; O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1976, Nr. 84; O L G S t u t t gart (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 32. " 3 Mittelbach, S. 317. 112

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ein und dieselbe Aufgabe zu konzentrieren vermögen und daß sie von einem starken Spieltrieb beherrscht werden, den zu unterdrücken sie nur selten i n der Lage sind 1 1 4 . Kinder dürfen danach i m Verkehr nicht wie „kleine Erwachsene" behandelt werden, die nur graduell fehlsamer reagieren als diese. Sie stellen vielmehr eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern dar, die aus anderen Voraussetzungen heraus handelt als die der Erwachsenen. Demzufolge darf auch die Bedeutung des Verkehrsunterrichts für das kindliche Verhalten nicht überschätzt werden 1 1 5 . Man w i r d sich nicht darauf verlassen dürfen, daß ein Kind, das einen noch so guten Verkehrsunterricht genossen hat, seine Kenntnisse i n allen Situationen vernünftig anwenden wird. Verkehrsunterricht benötigt — wie anderer Unterricht auch — lange Zeit, u m voll wirksam zu werden. Die Verhaltensweise der Kinder hängt deshalb i n erster Linie von dem Grade ihrer Entwicklung ab. Weiter kann ein K i n d auch bei noch so intensivem Unterricht nicht kommen 1 1 6 . Eine diesen Gegebenheiten Rechnung tragende Beurteilung kindlichen „Fehl"verhaltens i m Straßenverkehr kommt erfreulicherweise i n einer Reihe von Entscheidungen zum Ausdruck. So verneint ein Zivilsenat des Kammergerichts das Mitverschulden eines siebenjährigen Jungen (§ 828 Abs. 2 BGB), der während einer Schneeballschlacht vom Bürgersteig auf die Straße gelaufen war, m i t folgender Erwägung: i,Es muß . . . dem Umstand Rechnung getragen werden, daß die Sorgfalt, die v o n einem K i n d e zu fordern ist, nicht i m m e r m i t den Maßstäben gemessen werden darf, die an das Verhalten von Erwachsenen anzulegen sind; v i e l mehr sind die seiner Altersgruppe eigentümlichen Besonderheiten zu berücksichtigen, darunter auch ein gesteigerter Spieltrieb, die Bewegungsfreude u n d die Neigung zur triebmäßigen A b w e h r von A n g r i f f e n . . . Spieltrieb u n d 114 Dazu i m einzelnen Sandels, K i n d e r i m Straßenverkehr, ZVerkS 1971, 79 (82 ff.); zu den alterstypischen Lernbefähigungen von K i n d e r n auch Winkler, Lebensalter u n d Verkehrsverhalten, S. 228 ff. 115 So nennen Stürtz / Weber, S. 46, als Hauptursachen kindlichen F e h l verhaltens i n den von ihnen untersuchten Verkehrsunfällen unzureichend ausgeprägtes Leistungsvermögen (49 °/o) u n d zu geringe Verhaltenskontrolle (37 °/o). N u r 14 °/o der Unfälle beruhten dagegen auf mangelndem Verkehrsverständnis der K i n d e r . 116 Sandels (Ss. 80, 85) berichtet von einem Erlebnis m i t einem siebenjährigen Kinde, das schon während eines Jahres i m Kindergarten einen recht intensiven Verkehrsunterricht genossen hatte u n d i n der Theorie die Verkehrsregeln gut beherrschte. A l s das K i n d gegen Abschluß des A r b e i t s jahres eines Morgens zum Kindergarten gebracht wurde u n d v o m gegenüberliegenden Bürgersteig aus seine K i n d e r g ä r t n e r i n am Eingang stehen sah, riß es sich von der H a n d des Vaters los, u m über die Straße auf die K i n d e r gärtnerin zuzulaufen. Die Freude darüber, eine Person zu sehen, die es sowieso jeden Tag traf, hatte das K i n d jegliche „eingelernte" Vorsicht vergessen lassen. Sandels bemerkt dazu m i t Recht, daß ein solches Verhalten einem Erwachsenen als „ v o l l k o m m e n absurd" erscheinen müsse.

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Bewegungsfreude können so stark sein, daß alle »vernünftigen* Erwägungen hinweggespült werden . . . Der Kläger w a r i n einer Schneeballschlacht begriffen u n d . . . befand sich hiernach i n einer Situation, die von i h m Beweglichkeit u n d schnelle Reaktion verlangte. Die v o n dem Geschehen ausgehenden Handlungsreize nehmen K i n d e r seiner Altersstufe erfahrungsgemäß v ö l l i g i n Anspruch, so daß sie i n dem Spiel aufgehen, der U m w e l t so gut w i e keine Beachtung schenken u n d sich n u r zögernd aus den sie gefangen nehmenden Vorgängen lösen können; es bedarf i n aller Regel erst eines von außen kommenden Eingriffs oder Ereignisses, u m die Aufmerksamkeit der K i n d e r von dem Spiel a b z u l e n k e n . . . Die auf den Kläger zufliegenden Schneebälle mußten Ausweich- u n d Fluchtinstinkte auslösen, die es einem Jungen seines Alters u n d seiner Entwicklungsstufe sehr schwer machten, ihnen nicht nachzugeben u n d bei einer darauf beruhenden, automatisch-reflexhaften Reaktion darauf zu achten, weder andere noch sich selbst zu gefährden 1 1 7 ."

Daß bei Kindern Spieltrieb und Bewegungsfreude stärker sein können als alle „vernünftigen" Erwägungen gilt nicht nur i m Falle einer Schneeballschlacht. Für den Kraftfahrer w i r d häufig nur schwer zu erkennen sein, ob Kinder am Straßenrand m i t irgendwelchen Spielen beschäftigt sind, ob sie auf andere Kinder warten, ihnen bei ihrem Erscheinen also möglicherweise entgegenlaufen werden, ob sie versunken vor sich hinträumen, oder ob sie ihre volle Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr richten. Auch i m letztgenannten Fall kann er jedoch nicht sicher sein, daß diese Aufmerksamkeit anhält und i h m ein ungefährdetes Vorbeifahren ermöglicht. Der Kraftfahrer w i r d daher gut daran tun, sich auf mögliche Verkehrswidrigkeiten kleinerer Kinder auch dann gefaßt zu machen, wenn bisher noch nichts i n deren Verhalten darauf hindeutet. Die Frage, bis zu welchem A l t e r grundsätzlich m i t Unbesonnenheiten von Kindern zu rechnen ist, läßt sich dabei kaum allgemeingültig beantworten. Jede generelle Altersabgrenzung muß notwendig w i l l kürlich bleiben, denn die Integration i n das Verkehrsgeschehen erfolgt bei Kindern nur allmählich m i t wachsender körperlicher und geistiger Reife. Was ein Zweijähriger i n einer bestimmten Verkehrslage erlebt, ist nicht das Gleiche, was ein Vier-, Sechs-, Acht- oder Zehnjähriger i n der gleichen Situation durchmacht 118 . Hinzu kommt, daß manche Kinder i n der Entwicklung weiter sind als andere desselben Alters, eine Altersabgrenzung also schon von daher auf Schwierigkeiten stößt. A u f der anderen Seite ist zu bedenken, daß das ungefähre A l t e r i h m begegnender Kinder für den Kraftfahrer i n der Regel der einzige 117 K G (Z), V e r k M i t t 1975, Nr. 3; ähnlich B G H (Z), V e r k M i t t 1970, Nr. 50, angesichts eines auf einen etwas über 7 Jahre alten Jungen zufliegenden Balles. ue Sandels, S. 80.

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Anhaltspunkt ist, u m auf i h r zukünftiges Verhalten zu schließen und danach seine Fahrweise einzurichten. Auch wenn man von i h m verlangen wollte, ständig m i t Verkehrswidrigkeiten sowohl kleiner als auch größerer Kinder zu rechnen, w i r d man u m die Bestimmung einer Altersgrenze, von der an auf verkehrsgerechtes Verhalten Heranwachsender vertraut werden darf, nicht herumkommen. Die Altersgrenze sollte dabei nicht zu hoch angesetzt werden, denn sonst bestünde die Gefahr, jugendliche „Unrechthaber" heranzuziehen und den K r a f t fahrer i n eine Haltung von Resignation und Trotz hineinzutreiben, die auch dem schuldlos fehlenden Kinde und Jugendlichen stets nur böse Absichten unterstellen würde. Eine solche Haltung würde das Empfinden für die Schwierigkeiten, m i t denen Kinder und Jugendliche i m Straßenverkehr fertig werden müssen, abstumpfen und wäre damit der Verkehrssicherheit wenig dienlich 1 1 9 . Die Altersgrenze darf jedoch auch nicht zu tief angesetzt werden. Wenn schon von einem siebenjährigen K i n d — m i t gewissen Einschränkungen — verkehrsgerechtes Verhalten erwartet wird, so scheint hier eine Uberschätzung des m i t Hilfe einer nur einjährigen schulischen Verkehrserziehung Erreichbaren vorzuliegen. Die Unfallstatistik zeigt, wie gefährdet gerade auch die Kinder von über 7 Jahren sind. Während nämlich die Zahl der als Fußgänger verunglückten K i n der i m 7. Lebensjahr ihren Höhepunkt erreicht und danach verhältnismäßig rasch abnimmt, steigt die Zahl der als Radfahrer verunglückten Kinder bis zum 13. Lebensjahr noch an. Die Zahl der als Fußgänger und Radfahrer verunglückten Kinder ist i m 7. Lebensjahr am höchsten und geht bis zum 10. Lebensjahr nur verhältnismäßig langsam zurück 1 2 0 . Diese i m Laufe der Jahre verhältnismäßig konstant gebliebenen Unfallzahlen 1 2 1 zeigen, i n wie geringem Maße von Kindern i m A l t e r zwischen 7 und 10 Jahren verkehrsgerechtes Verhalten erwartet werden darf. Die Sieben-Jahres-Grenze entspricht offenbar eher einem 119 a. A . Clauß, S. 209, der zwischen älteren u n d K l e i n k i n d e r n nicht u n t e r scheiden w i l l , da „5 - 15jährige K i n d e r " zwar die erforderliche Einsicht, ihrem N a t u r e l l nach aber nicht durchweg die Fähigkeit besäßen, sich dieser Einsicht entsprechend verkehrsrichtig zu verhalten. 120 Statistisches Bundesamt, Straßenverkehrsunfälle 1976, S. 44, Tabelle 7; auf die Unfallursachen k a n n hier nicht i m einzelnen eingegangen werden. Es sei n u r darauf hingewiesen, daß bei K i n d e r n die Unfallursache „ A l k o h o l einfluß", die nach Hosse (S. 28) bei Fußgängern i m m e r h i n zweithäufigste Unfallursache, wegfällt. Das ist bei einer Gegenüberstellung der Unfallzahlen kindlicher u n d erwachsener Verkehrsteilnehmer zu berücksichtigen. Soweit K i n d e r an Verkehrsunfällen „schuld" sind, ist dies also jedenfalls i n stärkerem Faße auf eine Uberforderung durch das Verkehrsgeschehen zurückzuführen als bei Erwachsenen, die nicht selten ihre Verkehrstauglichkeit durch A l k o h o l herabsetzen. 121 Vgl. Statistisches Bundesamt, Straßenverkehrsunfälle 1972 u n d 1974, S. 44, Tabelle 7.

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gewissen Wunschdenken als der Realität. Wahrscheinlich ist sie durch die Bestimmung des § 828 Abs. 2 BGB beeinflußt. Die Zivilgerichte sind gezwungen, schon bei einem siebenjährigen K i n d i m Rahmen des M i t verschuldens zu prüfen, ob das K i n d fähig ist einzusehen, daß man sich selbst vor Schaden zu bewahren hat. Dabei kommt es nur auf die verstandesmäßige Fähigkeit des Kindes an, die Gefährlichkeit seines Tuns oder Unterlassens zu erkennen und sich seiner Verantwortlichkeit für die Folgen bewußt zu werden. Sollte etwa die Willenskraft des Kindes, seiner Einsicht gemäß zu handeln, hinter dem Durchschnitt seiner Altergenossen zurückbleiben, würde dies die zivilrechtliche Verantwortung unberührt lassen 122 . Natürlich berührt die Frage nach dem Mitverschulden seitens des Kindes auch das Maß des dem Kraftfahrer zuzubilligenden Vertrauensschutzes. Es steht ja i n der Regel fest, daß das über 7 Jahre alte K i n d „die i m Verkehr erforderliche Sorgfalt" des § 276 BGB nicht beobachtet hat. Das Gericht hat also darzutun, aus welchen Gründen die von dem Kinde i n dieser Situation zu fordernde Sorgfalt nicht m i t dem Maßstab gemessen werden kann, der an das Verhalten von Erwachsenen anzulegen ist12®. Daraus darf sich jedoch nicht generell der Umkehrschluß ergeben, daß, wenn keine besonderen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, von einem über sieben Jahre alten K i n d die „ i m Verkehr erforderliche Sorgfalt" erwartet, d.h. unter zivil- und strafrechtlichen Gesichtspunkten auf sein verkehrsgerechtes Verhalten vertraut werden darf. Dieser Schluß ist auch durchaus nicht zwingend, wie das eben zitierte Urteil des Kammergerichts gezeigt hat 1 2 4 . Eine so verständnisvoll auf die Besonderheiten kindlichen Verhaltens eingehende Entscheidung sollte für den Strafrichter Vorbild sein. Solche Ausführungen sind geeignet, den Kraftfahrer stärker zu beeindrucken, als eine feststehende und daher dann i m U r t e i l nicht weiter zu begründende Verpflichtung, m i t Verkehrstorheiten von Kindern dieser Altersstufe zu rechnen. Es wäre deshalb unbefriedigend, wenn die Strafgerichte eine andere Altersgrenze, etwa 8, 9 oder 10 Jahre, festsetzten, unterhalb derer Vertrauensschutz gegenüber Kindern generell ausgeschlossen wäre. Abgesehen davon, daß hier jede Grenzziehung notwendig w i l l k ü r l i c h bleiben muß 1 2 5 , sollte die Gefahr vermieden werden, daß die Frage nach dem Vertrauensschutz bei einem Unfall m i t Kindern dieser Alters122 123 124 125

B G H (Z), N J W 1970, 1038. Vgl. K G (Z), V e r k M i t t 1975, Nr. 3. K G (Z), V e r k M i t t 1975, Nr. 3; vgl. oben S. 245 f. Vgl. oben S. 246.

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stufe i m Z i v i l - und i m Strafverfahren von vornherein unterschiedlich beurteilt würde. Die Zivilrechtsprechung steht, was die Vorhersehbarkeit kindlichen Fehlverhaltens angeht, bei Kindern über 7 Jahren unter einem heilsamen Begründungszwang. Dieser bringt sie dazu, sich eingehend m i t den Voraussetzungen kindlichen Verhaltens zu beschäftigen. Z i v i l - und Strafgerichte sollten auf diesem für die Verkehrssicherheit so wichtigen Gebiet von den gegenseitigen Erkenntnissen profitieren. Wenn hier also vorgeschlagen wird, durchaus i m Interesse der Verkehrssicherheit formell an der Sieben-Jahres-Altersgrenze auch i m Strafrecht festzuhalten, so sollte doch i m Ergebnis die Versagung des Vertrauensschutzes bei 7 - 10jährigen Kindern die Regel und seine Bejahung eine seltene Ausnahme darstellen. Hier spricht die Unfallstatistik eine zu deutliche Sprache. Dem Kraftfahrer muß vor Augen geführt werden, daß er allgemein auf das Auftauchen von Kindern dieser Altersstufe „ m i t Mißtrauen" zu reagieren hat. Der Rechtsprechung stehen gewiß genügend M i t t e l zur Verfügung, u m eine solche Einstellung als die einzig geratene erscheinen zu lassen. Mögen es nun die „Besonderheiten" oder „Schwierigkeiten" einer Verkehrslage, mag es die „Nähe zum Kleinkinderalter" bei 7 - 8jährigen sein 1 2 6 , die Versagung des Vertrauensschutzes müßte sich i n der Regel unschwer aus den Umständen des Einzelfalles herleiten lassen. Leitbild sollte dabei der Gedanke der „doppelten Sicherung" sein: Eine Begegnung m i t einem K i n d i m A l t e r bis zu 10 Jahren ist i n der Regel so gefährlich, daß der Kraftfahrer, unabhängig vom mutmaßlichen Verhalten des Kindes, von sich aus alles t u n muß, u m einen Unfall zu verhüten. Es kann dabei keinen Unterschied machen, ob ein K i n d i n diesem Alter als Fußgänger oder Radfahrer auftritt, denn es ist durchaus nicht gesagt, daß die bei über 7jährigen zu Fuß gehenden Kindern fallende Unfallkurve wirklich auf die zunehmende Verkehrsgewandtheit dieser Kinder zurückzuführen ist. Diese mag schon eine Rolle spielen, es ist aber auch zu bedenken, daß sich nun die A r t der Verkehrsteilnahme gewandelt hat: Kinder bis zu 4 Jahren erleiden natürlich kaum einmal einen Unfall als Radfahrer, einfach w e i l sie noch fast ausschließlich zu Fuß gehen. Je älter sie werden, u m so häufiger benutzen sie das Rad, wie an den steigenden Radfahrerunfällen deutlich w i r d 1 2 7 . Daß Kinder über 7 Jahre seltener von Fußgängerunfällen betroffen werden als kleinere Kinder, w i r d daher zum guten Teil darauf zurückzuführen sein, daß sie auch seltener als Fußgänger am Verkehrsgeschehen teilnehmen. ΐ2β O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 97. 127 Statistisches Bundesamt, Straßenverkehrsunfälle 1976, S. 44, Tabelle 7.

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Gegenüber mehr als 10 Jahre alten Kindern käme ein Vertrauensschutz mit ähnlichen Einschränkungen i n Betracht, wie sie die Rechtsprechung bisher bei Kindern ab 7 Jahren ausgesprochen hat: Ein Vertrauen i n die Verkehrsgewandtheit eines solchen Kindes ist u m so weniger angebracht, je schwieriger sich die von i h m zu bewältigende Verkehrssituation darbietet 1 2 8 . Schon jetzt läßt sich eine Tendenz i n der Rechtsprechung beobachten, einen weitgehenden Schutz von 7 - 10jährigen Kindern m i t Hilfe von „Erfahrungssätzen" 1 2 9 oder durch Betonung der m i t einem Verkehrsvorgang für die Kinder verbundenen Schwierigkeiten zu bewirken 1 3 0 . Teilweise w i r d dem Kraftfahrer gegenüber Kindern i m Alter von 7 - 1 0 Jahren sogar generell der Vertrauensschutz versagt 1 3 1 . Es gibt jedoch auch Urteile, die einen — wenn auch eingeschränkten — Vertrauensschutz schon bei Kindern unter 7 Jahren gelten lassen wollen. Danach soll ein Kraftfahrer deren verkehrswidriges Verhalten dann nicht i n Rechnung zu stellen brauchen, wenn die konkreten Umstände eine solche Befürchtung als ganz fernliegend erscheinen lassen. Das OLG Saarbrücken bringt dies auf folgende Formel: „ A u f ein unbesonnenes, die Gefahr einer Verletzung oder Tötung begründendes Verhalten eines unbeaufsichtigten u n d infolge seines Alters noch nicht hinreichend verkehrserfahrenen Kindes muß sich ein K r a f t f a h r e r dann ausnahmsweise nicht einstellen, w e n n das konkrete Verhalten bei verständiger Würdigung hinreichenden Anlaß f ü r die Annahme eines verkehrsgerechten Verhaltens bietet; w i e der Vertrauensgrundsatz ausnahmsweise nicht gilt, w e n n ein bevorstehendes, verkehrswidriges Verhalten erkennbar ist, so ist von dem gegenüber kleineren unbeaufsichtigten K i n d e r n geltenden ,Mißtrauensgrundsatz' dann eine Ausnahme zu machen w e n n — abweichend von der allgemeinen Regel — auf G r u n d der konkreten Situation an einem verkehrsgerechten Verhalten vernünftigerweise nicht zu zweifeln i s t 1 3 2 . "

Hier fühlt man sich an das Wort vom „schrecklichen Vertrauensgrundsatz" erinnert 1 3 9 . Es ist zu fragen, i n welchen Fällen denn an iss Vgl. O L G Hamm, V e r k M i t t t 1973, Nr. 97 u n d O L G Stuttgart (Z), V e r k M i t t 1977, Nr. 32: „Schon die Tatsache, daß zwei knapp 12 Jahre alte Mädchen auf dem Gehweg i n der Nähe der Fahrbahn m i t Rollschuhen fahren, nötigt einen sorgfältigen K r a f t f a h r e r zu erhöhter Wachsamkeit. Bewegt sich eins der Mädchen i n Richtung auf die Fahrbahn, muß sich der K r a f t f a h r e r auf rechtzeitiges A n h a l t e n oder Ausweichen vorbereiten." 12 ® Vgl. dazu die oben S. 172 aufgeführten Beispiele. iso Vgl. B G H (Z), V e r k M i t t 1974, Nr. 56 u n d O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 97, jeweils zum Verhalten eines 8- bzw. 9jährigen Kindes beim Ausfall einer Ampelanlage; nicht ganz so weitgehend O L G Düsseldorf, V e r k M i t t 1976, Nr. 84. « ι Vgl. O L G Hamm, V e r k M i t t 1973, Nr. 20, f ü r 8 - 9jährige; O L G K ö l n , V e r k M i t t 1974, Nr. 61, für 10jährige; weitere Nachweise O L G Saarbrücken, V e r k M i t t 1975, Nr. 15. O L G Saarbrücken, V e r k M i t t 1975, Nr. 15 m i t Rechtsprechungsnachweisen.

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dem verkehrsgerechten Verhalten einer Gruppe von Verkehrsteilnehmern, die sich gerade durch ihre Irrationalität und Spontaneität auszeichnet, „vernünftigerweise" nicht zu zweifeln sein soll. Daß es überhaupt zu einer gerichtlichen Entscheidung kommen mußte, zeigt ja gerade, wieviel „vernünftiger" es gewesen wäre, wenn der Kraftfahrer nicht von der Regel abgewichen wäre und gegenüber den Kindern Mißtrauen gezeigt hätte. Es kann auch keine Rede davon sein, daß der angeklagte Kraftfahrer i n dem vom OLG Saarbrücken entschiedenen F a l l durch ein entsprechend vorsichtiges Verhalten überfordert gewesen wäre. Er näherte sich m i t einer Geschwindigkeit von 40 k m / h zwei am Rand des rechten Bürgersteigs stehenden Kindern, einem 6jährigen Mädchen und dessen 4jährigem Bruder, der die Hand seiner Schwester hielt. Beide Kinder blickten i n Richtung des herankommenden Fahrzeuges, offenbar w o l l ten sie die Straße überqueren. Als der Wagen nur nodi wenige Meter entfernt war, lief das Mädchen plötzlich auf die Fahrbahn und wurde tödlich verletzt. Der Fall zeigt m i t aller Deutlichkeit, wie wenig auf verkehrsgerechtes Verhalten von kleinen Kindern Verlaß ist, mögen sie sich auch bemühen — dafür spricht, daß sie i n Richtung des sich nähernden Fahrzeugs blickten — i m Straßenverkehr alles richtig zu machen. Es wäre dem Kraftfahrer ohne weiteres möglich und „zumutbar" gewesen, sich auf Verkehrswidrigkeiten der beiden Kinder einzustellen. Wenn ihr Verhalten i h n zu der Annahme verleitete, sie würden seine Vorbeifahrt abwarten, und er deshalb seine Geschwindigkeit nicht ermäßigte, so geht dies v o l l zu seinen Lasten. Z u Unrecht zieht das OLG Saarbrücken zur Stützung seiner Entscheidung ein Urteil des Bundesgerichtshofes heran, dem die Wendung entstammt, ein Kraftfahrer brauche nicht „immer und unter allen Umständen" m i t vernunftwidrigem Verhalten eines kleinen Kindes zu rechnen 134 . Diesem Urteil lag ein völlig anderer Sachverhalt zugrunde: Ein Tanklastzug war vom Beklagten auf der rechten Fahrbahnseite einer 6,50 m breiten Straße abgestellt worden. A u f dem anstoßenden Gehweg, der m i t einer Breite von 8,10 m den Charakter eines länglichen Platzes hatte, spielte die viereinhalb jährige Klägerin m i t einem anderen Kinde. Als der Lastzug wieder anfuhr und gerade m i t einer Geschwindigkeit von etwa 15 k m / h zur Vorbeifahrt an einem 20 m vor seinem ursprünglichen Standort haltenden Personenkraftwagen ansetzte, lief die Klägerin, durch einen Hund erschreckt, plötzlich auf die «a Booß, Reform, S. 144. 134 B G H (Z), V e r k M i t t 1961, Nr. 32.

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5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Fahrbahn und wurde trotz sofortigen Bremsens von dem Lastzug erfaßt. Der Bundesgerichtshof hielt die Ansicht des Berufungsgerichts, der Beklagte habe die Kinder einer „ständig anhaltenden sorgfältigen Beobachtung" unterziehen müssen, für zu weitgehend. Der Senat weist darauf hin, daß sich die Klägerin nicht auf der Fahrbahn selbst oder an ihrem Rande, sondern auf der Mitte des platzartig erweiterten B ü r gersteiges aufgehalten habe, also über 4 m vom Straßenrand entfernt. Zwar habe der Beklagte, „soweit dies den Umständen nach möglich war", auf die dort spielende Klägerin Rücksicht nehmen müssen: „ I n erster L i n i e mußte er aber auf die v o r i h m liegende Fahrbahn achten u n d sich vor der Vorbeifahrt an dem haltenden Personenwagen auch davon überzeugen, ob er durch sein Ausbiegen nach links nicht vielleicht einem Fahrzeug den Weg verlegte, das von h i n t e n nahte. Die Feststellungen des Berufungsgerichts schließen die Möglichkeit nicht aus, daß die K l ä g e r i n gerade i n dem Moment losgerannt ist, i n dem die Aufmerksamkeit des Beklagten durch diese Obliegenheiten i n Anspruch genommen w a r , u n d daß er ihren L a u f zur anderen Straßenseite schuldlos nicht früher bemerkt hat135."

Wenn der Senat abschließend meint, ein Kraftfahrer brauche sich „nicht immer und unter allen Umständen" darauf gefaßt zu machen, daß ein K i n d sich und ihn unversehens i n Gefahr bringen werde, so w i r d diese Wendung auf Grund des geschilderten Sachverhalts verständlich. Hier ist wirklich das manchmal vielleicht allzu schnell gebrauchte Wort von der „Überforderung des Kraftfahrers" am Platze. Dabei nimmt der Senat die Beobachtungspflichten des Kraftfahrers durchaus ernst, wenn er fordert, der Lastzugführer müsse, „soweit dies den Umständen nach möglich war", auf die immerhin über 4 m vom Straßenrand entfernt spielende Klägerin Rücksicht nehmen 1 3 6 . Da der Beklagte nun aber gewiß „ i n erster Linie" auf die vor i h m liegende Fahrbahn zu achten hatte, konnte er einfach nicht zugleich die spielenden Kinder einer „ständig andauernden, besonders sorgfältigen Beobachtung" unterziehen, wie es das Berufungsgericht gefordert hatte. Es ist zu begrüßen, daß der Bundesgerichtshof i n seinem U r t e i l nicht der „verständlichen, aber nicht gerechtfertigten Tendenz" nachgegeben hat, für diesen tragischen Unfall einen Sündenbock zu suchen 137 . 135

B G H , a.a.O. ® Erinnert sei an Entscheidungen, wonach ein K r a f t f a h r e r den Raum seitlich der Fahrbahn n u r auf eine Breite von 2 - 3 m i m Auge behalten muß, vgl. dazu oben S. 240 f. 137 Vgl. Lange, Sonderstraf recht, S. 19 (30); vgl. auch BayObLG, V e r k M i t t 1977, Nr. 20 hinsichtlich der seitlichen Beobachtungspflichten eines langsam zurücksetzenden Kraftfahrers: „Nicht verlangt werden k a n n hierbei, daß der K r a f t f a h r e r gleichzeitig sowohl nach rechts w i e nach links u n d nach hinten eine Annäherung an den Gefahrenraum i m weiteren Sinne w a h r n i m m t . Hätte der Angeklagte hier sein Augenmerk nur auf den rechts 13

II.2 Vertrauensschutz u n d

ner

253

V o n e i n e r „ Ü b e r f o r d e r u n g des K r a f t f a h r e r s " k o n n t e j e d o c h i n d e m v o m O L G S a a r b r ü c k e n entschiedenen F a l l k e i n e Rede sein. D i e b e i d e n a m Straßenrand stehenden K i n d e r i m A u g e zu behalten, w a r dem K r a f t f a h r e r o h n e w e i t e r e s m ö g l i c h . E i n e rechtzeitige H e r a b s e t z u n g seiner G e s c h w i n d i g k e i t — e r f u h r i m m e r h i n m i t 40 k m / h , also fast d r e i m a l so schnell w i e d e r F a h r e r des T a n k l a s t z u g e s — h ä t t e auch k e i n e r l e i S c h w i e r i g k e i t e n gemacht. D i e S a c h v e r h a l t e b e i d e r U r t e i l e s i n d so w e n i g v e r g l e i c h b a r , daß k a u m v e r s t ä n d l i c h scheint, w i e das O L G S a a r b r ü c k e n die v o m B u n d e s g e r i c h t s h o f g e b r a u c h t e W e n d u n g , e i n K r a f t f a h r e r b r a u che n i c h t „ i m m e r u n d u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n " a u f v e r k e h r s w i d r i g e s V e r h a l t e n v o n k l e i n e n K i n d e r n gefaßt z u sein, f ü r diesen F a l l h e r a n ziehen k o n n t e 1 3 8 . Es b l e i b t dabei, daß d e r g e g e n ü b e r k l e i n e n u n b e a u f s i c h t i g t e n K i n dern geltende „Mißtrauensgrundsatz" keine A u s n a h m e n zuläßt. K i n d liches V e r h a l t e n i s t einfach n i c h t „ v e r n ü n f t i g " , es k a n n d a h e r auch k e i n e S i t u a t i o n geben, i n d e r a n e i n e m v e r k e h r s g e r e c h t e n V e r h a l t e n kleinerer K i n d e r „vernünftigerweise" nicht zu zweifeln wäre. „Daran ändert nichts der Umstand, daß die heutigen Schulkinder infolge des ihnen zuteil werdenden Verkehrsunterrichts m i t den Verkehrsregeln u n d den bei deren Nichtbeachtung ihnen drohenden Verkehrsgefahren w e i t gehend vertraut sind, also auch wissen, w i e sie sich verkehrsgerecht v e r halten müssen. I h r gleichwohl i m m e r wieder zu beobachtendes verkehrswidriges Verhalten beruht nicht auf einer Unkenntnis der Verkehrsregeln u n d -gefahren, sondern ist Ausfluß der dem K i n d e eigenen Psyche, einen gefaßten Gedanken sofort u n d ohne weitere Überlegungen i n die Tat umzusetzen. Dieser Tatsache muß Rechnung getragen werden, u n d zwar ohne Rücksicht darauf, daß dadurch die Verkehrsflüssigkeit i m einzelnen Falle gehemmt w i r d , die Verkehrssicherheit hat nämlich den unbedingten Vorrang vor der Verkehrsflüssigkeit 1 3 0 ." h i n t e n 2 m v o m Gefahrenraum entfernt befindlichen Durchlaß . . . gerichtet, so wäre i h m möglicherweise zum V o r w u r f gereicht, w e n n i n dieser Zeit zum Beispiel ein spielendes K l e i n k i n d von der l i n k e n Seite unbemerkt i n den Gefahrenraum geraten wäre." iss W e n n Entscheidungen des Bundesgerichtshofes derart mißverstanden werden, ist dies gerade bei Kinderunfällen eine ernste Sache, w e i l damit die motorisierten Verkehrsteilnehmer zu „forschem" Fahren verleitet werden können. So hat der Bundesgerichtshof einmal ausgesprochen, ein K r a f t f a h r e r brauche „auch i n ländlichen Gegenden" nicht mehr ohne weiteres darauf gefaßt zu sein, daß i h m ein K i n d u n v e r m i t t e l t i n die F a h r bahn laufe (BGH, VRS 20, S. 132). Dabei ging es allein u m die Frage, ob dem Fahrer, als er plötzlich des vorher f ü r i h n verdeckten Kindes ansichtig wurde, vor Ergreifen der zur V e r h ü t u n g eines Zusammenstoßes notwendigen Maßnahmen eine Schreckzeit zuzubilligen w a r (vgl. die ausführliche D a r stellung des Sachverhalts bei Martin, Kinder, S. 117 f.). Das O L G Oldenburg (DAR 1963, 194) berief sich auf dieses Urteil, obwohl i n dem v o n i h m entschiedenen F a l l das K i n d von vornherein f ü r den K r a f t f a h r e r sichtbar gewesen w a r u n d auf ein Hupsignal h i n keine erkennbare Reaktion gezeigt hatte. 139 so das O L G Düsseldorf ( V e r k M i t t 1961, Nr. 39), Unfallopfer w a r ein 9jähriges Mädchen.

254

5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer b) Ältere Fußgänger im Straßenverkehr aa) Verhalten gegenüber rechtzeitig vorher sichtbaren älteren Fußgängern

Eine andere „Problemgruppe" i m Straßenverkehr ist die der älteren Fußgänger. A l t e Leute, „zum Teil noch aufgewachsen i m Zeitalter der Pferdedroschken" 140 , haben es naturgemäß schwer, sich i m modernen Massenverkehr zurechtzufinden. Sie werden deshalb auch relativ häufig Opfer von Verkehrsunfällen 1 4 1 . Bemerkenswert ist jedoch, daß dies offenbar nur für ältere Fußgänger gilt, denn Kraftfahrer von 65 Jahren und darüber werden signifikant seltener i n Unfälle verwickelt als der Durchschnitt der kraftfahrenden Bevölkerung 1 4 2 . Von einem generellen altersbedingten Abbau körperlicher und geistiger Fähigkeiten kann also offenbar nicht die Hede sein. Thomae und Mathey weisen darauf hin, daß die Unterschiede i n Leistungsfähigkeit und Wendigkeit zwischen verschiedenen alten Leuten weit größer sind als i m Jugendalter. Gesunde ältere Personen erreichen i n den meisten Leistungs- und Intelligenztests die gleichen Werte wie weit jüngere Altersgruppen. Darüber hinaus entscheiden Begabung, Beruf, A n regungsgrad der Umgebung usw. über das Ausmaß, i n dem geistige und körperliche Beweglichkeit erhalten bleiben. „ V o n diesen durch zahlreiche Untersuchungen belegten Fakten aus, erscheint es problematisch, pauschal von den ,Alten* zu sprechen 1 4 8 ."

Natürlich t r i t t i m A l t e r eine Verlangsamung der Aufnahme von Reizen (Informationen) sowie ihrer Verarbeitung und Beantwortung ein. Insbesondere kann es auch bei sonst gut angepaßten und geistig regen älteren Menschen unter Zeitdruck zu unangemessenen Reaktionen kommen 1 4 4 . Es fragt sich jedoch, ob dies allein schon die stärkere 140 Lange, Verkehrskriminalität, S. 208. 141 Dazu Thomae / Mathey, Verhaltensgewohnheiten, Motivationen u n d Einstellungen älterer Fußgänger, S. 49 (52) m. w. Nachw.; Meyer ! Jacobi ! Stiefel, Bd. I I I , S. 222 ff. 142 Das g i l t zumindest i n den USA. Schweisheimer (Alte Autofahrer fahren sicherer, ZVerkS 1971, 30) zitiert aus einer Untersuchimg, die sich auf 30 Staaten der amerikanischen U n i o n erstreckte. Danach machte die Gruppe der über 65jährigen i n den untersuchten Staaten 7,4% aller K r a f t f a h r e r aus, w a r aber n u r an 4,8 °/o aller Autounfälle beteiligt. Manches spricht dafür, daß es sich i n Deutschland ähnlich verhält. B e i einem Vergleich der an Unfällen m i t Personenschaden beteiligten Führer von P k w / K o m b i schneiden die 18 - 21jährigen am schlechtesten, die über 65jähngen am besten ab. Allerdings findet i n den einschlägigen Statistiken die Fahrleistung der einzelnen Altersgruppen keine Berücksichtigung. E i n über 65 Jahre alter Führerscheininhaber, der nicht mehr selbst am Steuer sitzt, damit auch keine Unfälle verursacht, „schönt" also das B i l d seiner Altersgruppe (ADAC, Unfallentwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland 1969 - 1976, Tabelle 42). 143 Thomae / Mathey, 144 Ebenda, S. 52.

S. 50 m. w . Nachw.

II.2 Vertrauensschutz und ältere Fußgänger

255

Beteiligung von älteren Fußgängern an Verkehrsunfällen erklärt. Denn man w i r d doch wohl davon auszugehen haben, daß ein älterer Mensch als Kraftfahrer auf Grund der Geschwindigkeit seines Fahrzeugs viel eher i n Situationen kommt, die eine schnelle Reaktion erforderlich machen, als ein älterer Fußgänger. Es ist deshalb zu erwägen, ob die über dem Durchschnitt liegende Unfallhäufigkeit bei älteren Fußgängern nicht (auch) auf einer überproportionalen Beteiligung am Verkehrsgeschehen beruht. Repräsentative Erhebungen über die Verkehrsbeteiligung von Fußgängern, bezogen auf die einzelnen Lebensjahre, sind, soweit ersichtlich, noch nicht angestellt worden. Man ist also bei der Auswertimg der Unfallstatistik auf Vermutungen angewiesen, die nur darauf beruhen können, daß ein Mensch während der verschiedenen Abschnitte seines Lebens auch i n unterschiedlicher Weise als Verkehrsteilnehmer i n Erscheinung tritt. So wurde schon die Vermutung ausgesprochen, daß Kinder von sieben Jahren an nur deshalb seltener als Fußgänger verunglücken, weil sie jetzt häufiger das Rad benutzen 146 . Dagegen sind ältere Leute, die nicht mehr i m Berufsleben stehen und demgemäß über mehr freie Zeit verfügen, möglicherweise wieder häufiger zu Fuß unterwegs als vor ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben, vorausgesetzt natürlich, daß sie dazu körperlich noch i n der Lage sind. Für eine solche Annahme sprechen die von Thomae und Mathey erhobenen Daten, die allerdings auf Grund der geringen Fallzahl der durchgeführten Befragungen — nur 33 Interviews — nicht als repräsentativ angesehen werden können 1 4 6 . A u f der Basis einer eingehenden Schilderung des Tageslaufs und ergänzender Fragen nach Zeitpunkt von Spaziergang, Einkauf und dergleichen wurde versucht, die Verteilung der Teilnahme am Straßenverkehr zu unterschiedlichen Zeiten festzustellen. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, daß nicht nur i n den relativ ruhigen Zeiten zwischen 9 und 16 Uhr, sondern auch i n den Zeiten zwischen 16 und 18 U h r ein hoher A n t e i l der Befragten am Verkehrsgeschehen beteiligt war. Es heißt weiter: „Relativ hoch erscheint auch der A n t e i l älterer Personen, die nach 20 U h r noch an mehreren Tagen i n der Woche sich außerhalb ihrer Wohnung aufhalten. Es muß naturgemäß überprüft werden, i n w i e w e i t das Ergebnis durch die Jahreszeit u n d die günstige Witterungslage, unter deren Eindruck die Befragung stattfand, beeinflußt wurde. I m m e r h i n w u r d e n als Begründung der außerhäuslichen A k t i v i t ä t Besuche von Vereinsabenden, Vorträgen, von Dies w i r d an den zu diesem Zeitpunkt ansteigenden Radfahrerunfällen deutlich; vgl. oben S. 247. ΐ4β v g l . Thomae / Mathey, S. 67 f.; i m m e r h i n bezeichnen die Verfasser ihre Stichprobe als „ i n etwa repräsentativ" f ü r eine untere Mittelschicht, die den größten A n t e i l an der Bevölkerung aufweise.

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5. Teil : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Verwandten u n d Bekannten u n d zum T e i l v o n k u l t u r e l l e n Veranstaltungen angegeben, die nicht durch die genannten Jahreszeit-Faktoren beeinflußt sein dürften. Die Teilnahme am Straßenverkehr schließt nach den Angaben der B e fragung i n der Regel die Uberquerung von Straßen m i t starkem Verkehr ein. Zusammenfassend darf festgestellt werden, daß die Gruppe der v o n uns befragten älteren Personen eine sehr aktive Teilnahme a m Straßenverkehr als Fußgänger erkennen läßt, u n d zwar u . a . auch i n Zeiten des Spitzenverkehrs 147."

Wie schon gesagt, die Ergebnisse dieser Untersuchung sind nicht repräsentativ und zudem nicht vergleichbar, w e i l Daten über die A r t der Verkehrsbeteiligung der Befragten vor ihrem Ausscheiden aus dem Berufsleben nicht erhoben wurden 1 4 8 . Dennoch w i r d man sie als ein Indiz dafür ansehen dürfen, daß die höhere Unfallhäufigkeit älterer Fußgänger nicht allein auf altersbedingter Unsicherheit, sondern, vielleicht sogar i n überwiegendem Maße, auf aktiverer Teilnahme am Straßenverkehr beruht. Daraus folgt jedoch, daß nicht schon aus der Tatsache, daß ein Fußgänger älter als 65 Jahre ist, auf seine Verkehrsungewandtheit geschlossen werden müßte und dem Kraftfahrer somit der Vertrauensschutz gegenüber Personen dieser Altersgruppe generell zu versagen wäre 1 4 9 . Dies ist auch der Standpunkt der Rechtsprechung. I m allgemeinen braucht ein Kraftfahrer m i t sinnlosem oder unerwartet verkehrswidrigem Verhalten älterer Fußgänger nicht zu rechnen. Anders ist es bei ersichtlich gebrechlichen oder körperbehinderten Personen. Hohes Alter eines Verkehrsteilnehmers kann auf Gebrechlichkeit hindeuten und verpflichtet deshalb den Kraftfahrer zu besonderer Vorsicht, vorausgesetzt natürlich, daß es nach der ganzen Sachlage erkennbar ist 1 5 0 . Einschränkend heißt es allerdings i n der zuletzt genannten Entscheidung, daß der i m Straßenverkehr maßgebende Grundsatz des Vertrauens auf verkehrsgemäßes Verhalten anderer eine Durchbrechung gegenüber alten oder gebrechlichen Personen erleide. Unfallopfer war 147

Ebenda, S. 68; das Durchschnittsalter der Befragten lag bei 72 Jahren. Aus der verkürzten Wiedergabe des Untersuchungsberichts geht nicht einmal hervor, ob die befragten Fußgänger noch einem Beruf nachgingen oder nicht. Bei einem Durchschnittsalter v o n 72 Jahren w i r d dies jedoch i n der Regel nicht mehr der F a l l gewesen sein. 14 ® Es steht sowieso n u r das Verhalten des Kraftfahrers gegenüber älteren Fußgängern oder allenfalls noch Radfahrern zur Debatte. Denn es ist noch niemand auf die Idee gekommen, den Vertrauensschutz gegenüber älteren K r a f t f a h r e r n i n Frage zu stellen; dazu oben A n m . 142. ißo B G H S t 3, 49, 51 (72jährige Fußgängerin); so i m Ergebnis schon RG, D A R 1938, Sp. 311, Nr. 213 (70jähriger Fußgänger); vgl. auch B G H , VRS 17, S. 204 (89jährige Fußgängerin); O L G Hamburg, V e r k M i t t 1966, Nr. 81 (70jährige Fußgängerin); B G H , V e r k M i t t 1956, Nr. 87 (79jähriger Fußgänger); O L G Schleswig, V e r k M i t t 1976, Nr. 56 (78jährige Fußgängerin). 148

Π.2 Vertrauensschutz und ältere Fußgänger

257

ein 79jähriger am Stock gehender Fußgänger, der noch vor einem herannahenden Kraftfahrzeug die Straße betreten hatte und trotz eines Hupzeichens weiterging. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes durfte sich der Kraftfahrer i n dieser Situation nicht m i t der Abgabe eines Warnzeichens begnügen und i m übrigen seine Geschwindigkeit beibehalten, da er „ m i t Rücksicht auf das A l t e r des verkehrsunsicheren Fußgängers" damit habe rechnen müssen, daß dieser das Warnzeichen nicht beachten und die Fahrbahn weiter überschreiten werde. Offenbar war es aber weniger das A l t e r des Fußgängers, das hier den Kraftfahrer zu besonderer Vorsicht hätte veranlassen müssen, sondern die „unklare Verkehrslage", die dadurch entstanden war, daß der Fußgänger nach Betreten der Straße ohne Rücksicht auf das herannahende Kraftfahrzeug und dessen Hupzeichen dem gegenüberliegenden Bürgersteig zustrebte. Auch bei einem Jüngeren hätte sich jetzt der Kraftfahrer nicht mehr auf (künftiges) verkehrsgerechtes Verhalten verlassen und sich m i t der Abgabe weiterer Warnzeichen begnügen dürfen 1 5 1 . Daß der Bundesgerichtshof i n Wahrheit nicht auf das Alter, sondern auf das Verhalten des Fußgängers abstellt, ergibt sich schon daraus, daß er sich auf die schon genannte Entscheidung i n BGHSt 3, 49 beruft und dabei ausdrücklich die Ansicht des Berufungsgerichts verw i r f t , wonach der Kraftfahrer seine Geschwindigkeit schon hätte ermäßigen müssen, als er erstmals des Fußgängers ansichtig wurde 1 5 2 . Z u diesem Zeitpunkt war die Verkehrslage noch nicht unklar, da der Fußgänger, wenn auch i n Richtung zur Fahrbahn, noch auf dem Bürgersteig ging. Gegen den Standpunkt der Rechtsprechung w i r d vorgebracht, das Alter beginne nicht erst mit 60 Jahren, sondern bei vielen Menschen schon früher. Die Möglichkeit, daß ein Fußgänger den Anforderungen des Verkehrs geistig oder körperlich nicht v o l l gewachsen sei, liege keineswegs so außerhalb aller Erfahrung, daß man dem Kraftfahrer erlauben dürfe, auf die Verkehrstüchtigkeit des Fußgängers zu vertrauen. Der Einwand, der Kraftfahrer könne oft nicht rechtzeitig erkennen, daß er einen alten Menschen vor sich habe, dem es vielleicht an Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsvermögen fehle, gehe deshalb am Problem vorbei. Gerade w e i l dem so sei, müsse der K r a f t fahrer bei jedem Fußgänger m i t solchen Mängeln rechnen 153 . ι " Vgl. dazu die oben auf S. 163 angeführten Fälle. «2 B G H , a.a.O. ( V e r k M i t t 1956, Nr. 87). 153 Meyer / Jacobi / Stiefel, Bd. I I I , S. 223 f. ; ähnlich Camenzind / Hürlimann / Kägi, Konfliktstelle Fußgängerstreifen (Teil 2), ZVerkS 1978, 52 (56), die v i e l mehr ältere Leute als i m allgemeinen angenommen i m Straßenverkehr f ü r aufs Äußerste gefordert, j a zum T e i l f ü r überfordert halten. Die Verfasser werfen i n diesem Zusammenhang die Frage auf, „ob heute u n d i n s k ü n f t i g ein normaler, durchschnittlich begabter Mensch die i m m e r komplexer werdenden Verkehrssituationen noch sicher bewältigen kann". 1 Kirschbaum

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5. Teil: Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Diese Ansicht führt zu einem allgemeinen „Mißtrauensgrundsatz" gegenüber dem Fußgänger und ist deshalb abzulehnen. Der Schutz einer Gruppe von Verkehrsteilnehmern kann sich nicht durchweg nach ihren schwächsten Mitgliedern richten. Damit erzöge man die Mehrheit der zu verkehrsgerechtem Verhalten durchaus fähigen und bereiten Fußgänger zu „Unrechthabern", die nicht mehr bereit wären, sich i n die „Gefahrengemeinschaft" 154 aller am Verkehr Beteiligten einzuordnen. Durch eine solche Einstellung würden sich die Fußgänger letzten Endes nur selbst gefährden 155 . Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Vertrauensschutz gegenüber Älteren w i r d aber auch von manchen Autoren als zu weitgehend empfunden, die einen allgemeinen „Mißtrauensgrundsatz" gegenüber dem Fußgänger ablehnen. Nach dieser Ansicht wären nicht nur Hochbetagte und Gebrechliche, sondern sämtliche älteren Leute als „unzuverlässige Verkehrsteilnehmer" 1 5 6 einzustufen, da sie sich auf Grund nachlassender Konzentrationsfähigkeit oft unberechenbar verhielten 1 5 7 . Eine generelle Aufhebung des Vertrauensschutzes gegenüber älteren Fußgängern begegnet jedoch Bedenken. Zum einen mag, wie schon gesagt 158 , die über dem Durchschnitt liegende Unfallhäufigkeit dieser Gruppe von Verkehrsteilnehmern weniger mangelnder Konzentrationsfähigkeit als überproportionaler Beteiligung am Verkehrsgeschehen zuzuschreiben sein. Zum anderen sind die Unterschiede i n Leistungsfähigkeit und Wendigkeit zwischen älteren Leuten so groß, daß die Festsetzung einer „Unzuverlässigkeitsschwelle" — etwa bei 65 Jahren — notwendig w i l l k ü r l i c h bleiben müßte, erheblich willkürlicher jedenfalls als bei Kindern 1 5 9 . Wie soll der Kraftfahrer außerdem erkennen können, ob ein Fußgänger oder eine Fußgängerin die 65-Jahres-Grenze bereits überschritten hat? Wenn der Bundesgerichtshof schon Zweifel hat, inwieweit einem Fußgänger — zumindest wenn man i h n nur von hinten sieht — hohes Alter oder Gebrechlichkeit anzumerken ist 1 6 0 , u m wieviel schwieriger ist es dann, einem sich i m Verkehrsgeschehen m i t aller Sicherheit bewegenden Fußgänger anzusehen, ob er i n der ersten oder der zweiten Hälfte des siebten Lebensjahrzehnts steht. Auch gutgemeinte Empfehlungen, nämlich besonders auf Fußgänger „ m i t dunkler, langer 154 B G H S t 10, 367 (372). iss Vgl. dazu oben S. 232 f. ΐ5β B G H , VRS 17, S. 204. 157 Clauß, S. 209; vgl. auch Martin, 158 Oben S. 255 f. 15» Dazu oben S. 246 ff. 160 B G H S t 3, 49 (52).

Kinder, S. 122 f.

II.2 Vertrauensschutz und ältere Fußgänger

259

Kleidung und grauem Haar" zu achten, nützen da nicht viel. Und wenn es i n dieser Empfehlung weiter heißt, „ebenso typisch" für über 65jährige sei „ i h r etwas schleppender Schritt oder ein gebeugter Gang" 1 6 1 , so ist das i n dieser Allgemeinheit wohl kaum richtig. Bemerkenswerterweise w i r d i n demselben A r t i k e l von einer A k t i o n „Sicherheitskleidung schützt vor Verkehrsunfällen" berichtet, die das Ziel hat, ältere Menschen zum Kauf von heller, auffälliger Kleidung anzuregen 1 6 2 . Man w i r d daher der Rechtsprechung, die einen „erträglichen Ausgleich" 1 6 3 zwischen dem Schutz älterer Leute und den Bedürfnissen des Verkehrs erstreben muß, i m wesentlichen folgen können und eine Aufhebung des Vertrauensschutzes nur gegenüber erkennbar Hochbetagten oder Gebrechlichen befürworten. Dabei sollte allerdings allein schon die Tatsache, daß über 65jährige Fußgänger häufiger i n Unfälle verwickelt werden als Fußgänger i n mittleren Jahren jeden Kraftfahrer zu einem „Ubersoll an Vorsicht" gegenüber dieser Gruppe von Verkehrsteilnehmern veranlassen, ganz i m Sinne Martins: „Der bessere Schutz der ,Alten 4 soll . . . nicht so sehr unter dem Gesichtsp u n k t einer Verschärfung der Strafpraxis als vielmehr m i t dem Ziele einer Hebung des Verantwortungsbewußtseins des einzelnen Kraftfahrers zur Erörterung gestellt sein. Je dichter u n d schneller der Verkehr w i r d , desto unentbehrlicher w i r d die persönliche, von formalen Vorrechten gelöste Rücksichtnahme auf den anderen, vorab den besonders schutzbedürftigen Verkehrsteilnehmer^. «

bb) Plötzliches Auftauchen vorher verdeckter älterer Fußgänger Bisher war nur vom Verhalten des Kraftfahrers gegenüber schon geraumer Zeit vor dem Unfall sichtbaren älteren Fußgängern die Rede. Es ist nur natürlich, daß die Frage, inwieweit ein Kraftfahrer auf das plötzliche Auftauchen eines i m Augenblick zuvor noch verdeckten älteren Fußgängers gefaßt sein muß, bei dieser Personengruppe nicht die Rolle spielt wie bei der Gruppe der kleineren Kinder 1 6 5 . Alte Leute bewegen sich nun einmal nicht so schnell wie kleine Kinder, pflegen auch nicht plötzlich über die Straße zu laufen. iei A D A C - M o t o r w e l t , Heft 4/1974, S. 40. 162 i n w i e w e i t es einer solchen Anregung überhaupt bedarf, bleibe dahingestellt. Winkler, S. 223, berichtet von einer Untersuchung aus dem Jahrs 1961, wonach 87 °/o der beobachteten Personen i m A l t e r von über 55 Jahren eine K l e i d u n g trugen, die sie jünger erscheinen ließ, als es ihrem A l t e r entsprach. les Vgl. O L G K ö l n , V e r k M i t t 1968, Nr. 116. i*4 Martin, Kinder, S. 123. ιβδ Dazu oben S. 239 ff. 17*

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5. Teil : Der Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer

Der Bundesgerichtshof hat vom Kraftfahrer einmal beiläufig verlangt, nicht nur i n der Nähe von Schulen und Kinderspielplätzen, sondern auch i n der Nähe eines Altersheimes m i t dem plötzlichen A u f tauchen verkehrsungewandter Personen zu rechnen1*® U m die Rücksichtnahme auf alte und möglicherweise behinderte Personen ging es auch i n folgendem Fall: Während des Zurücksetzens stieß der A n geklagte m i t seinem Tankwagen gegen einen 89jährigen Fußgänger, der sich i n den toten Winkel hinter dem Fahrzeug begeben hatte. Der Fußgänger hatte den rückwärtsfahrenden Wagen offenbar deshalb nicht bemerkt, w e i l er nur noch schlecht hörte und auf einem Auge nicht mehr die volle Sehkraft besaß. Der Bundesgerichtshof w i r f t dem Angeklagten vor, sich bei seinem Fahrmanöver nicht eines Einweisers bedient zu haben. Er habe sich nämlich nicht darauf verlassen dürfen, daß ein anderer Straßenbenutzer das „sehr laute" Geräusch seines Dieselmotors hören oder die Lichter des rückwärtsfahrenden Wagens bemerken werde 1®7. Ein Kraftfahrer, der aus irgendwelchen Gründen gezwungen ist, eine gewisse Strecke nicht auf Sicht zu fahren, muß sich i n der Tat darüber vergewissern, daß sich kein verkehrsungewandter Verkehrsteilnehmer i m toten Winkel seines Fahrzeugs befindet, mag es sich m m u m ein K i n d l e 8 oder u m einen älteren Fußgänger handeln. Dem Risiko, daß ein anderer Verkehrsteilnehmer sein Fahrmanöver auf Grund körperlicher Gebrechen nicht durchschaut, muß der Kraftfahrer auf geeignete Weise begegnen, denn die Straße ist für alle da. Daß den Kraftfahrer nicht die Verpflichtung trifft, sich generell auf verkehrsungewandte Personen einzustellen, ist nur solange erträglich, wie nichts auf eine bevorstehende Verkehrswidrigkeit hindeutet. Das bedeutet aber auf der anderen Seite, daß der Kraftfahrer sich seiner Beobachtungspflicht auf keine Weise entziehen darf, sich notfalls also sogar eines Einweisers bedienen muß, wenn er selbst nicht i n der Lage ist, die i n Fahrtrichtung seines Kraftfahrzeugs liegende Strecke zu überblicken.

ιββ B G H S t 13, 169; Unfallopfer w a r allerdings auch hier ein K i n d . B G H , V e r k M i t t 1965, Nr. 129. M Vgl. die oben auf S. 153, 237 f. zitierten Urteile.

Zusammenfassung Der i n der Straßenverkehrs-Ordnung bewußt nicht ausdrücklich erwähnte, aber i n §11 Abs. 2 StVO angedeutete „Vertrauensgrundsatz" besagt, daß jeder Teilnehmer am Straßenverkehr sich „grundsätzlich" auf verkehrsgerechtes Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer verlassen darf. Dieser „Grundsatz" erleidet jedoch so viele Ausnahmen, daß die neutralere Bezeichnung „Vertrauensschutz" dem Ausdruck „Vertrauensgrundsatz" vorzuziehen ist. Der Vertrauensschutz w i r d versagt i n bestimmten Situationen, wie „unklaren" und „besonderen" Verkehrslagen, auf Grund bestimmter Verhaltensweisen — eigenem oder fremdem Fehlverhalten —, gegenüber „typischen" Verkehrswidrigkeiten und hinsichtlich bestimmter, besonders schützenswerter Gruppen von Verkehrsteilnehmern. Unsicherheiten zeigt die Rechtsprechung vor allem, wenn es u m die Versagung des Vertrauensschutzes bei eigenem verkehrswidrigen Verhalten geht. Hier w i r d häufig nicht klar genug zwischen dem Vertrauen-Dürfen des sich selbst verkehrsgerecht Verhaltenden auf verkehrsgerechtes Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer und den strengeren Anforderungen hinsichtlich der Vorhersehbarkeit fremder Verkehrswidrigkeiten bei eigenem Fehlverhalten unterschieden. Macht man m i t dieser Unterscheidung ernst, sieht man also den Vertrauensschutz als „Prämie für eigenes Wohlverhalten i m Verkehr" an, die dem Verkehrssünder zu versagen ist, so hat dies Folgen für die Bewertung rechtmäßigen Alternativverhaltens: Wer eine Verkehrswidrigkeit begeht, ist damit — abgesehen von den Fällen fehlenden Schutzzweckzusammenhanges — für deren (vorhersehbare) Folgen verantwortlich, selbst wenn sich der Unfall auch bei verkehrsgerechtem Verhalten zugetragen hätte. Da sich die Rechtsprechung hinsichtlich des „Vertrauensgrundsatzes" an ein Regel-Ausnahme-Verhältnis gebunden glaubt, neigt sie dazu, die Versagung des Vertrauensschutzes durch eine Uberbetonung von „Besonderheiten" des Einzelfalles möglichst revisionssicher zu begründen. Ähnliches gilt für die Figur der „typischen Verkehrswidrigkeit": Anstelle exakter statistischer Erhebungen ist es die unbewiesene und unbeweisbare „Verkehrs- und Lebenserfahrung", welche die für eine „typische Verkehrswidrigkeit" charakteristische Häufigkeit bestimmter

262

Zusammenfassung

Verkehrsverstöße und damit die Notwendigkeit einer „Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz" dartun soll. Eine Analyse einschlägiger Entscheidungen zeigt allerdings, daß die Bejahung oder Verneinung einer „typischen Verkehrswidrigkeit" i n Wahrheit nicht so sehr von der Häufigkeit des Verkehrsverstoßes abhängt, sondern auf dem Bestreben nach einer „gerechten Risikoverteilung" beruht. Es w i r d daher vorgeschlagen, den durch die „Verkehrs- und Lebenserfahrung" nur unzulänglich abgestützten Begriff der „typischen Verkehrswidrigkeit" fallenzulassen und den Vertrauensschutz i m Straßenverkehr durchgehend den Prinzipien einer „gerechten Risikoverteilung" zu unterstellen. Dabei ist von den Ordnungsvorstellungen des Gesetzgebers auszugehen: I m „Kernbereich" der Verkehrsordnung, beispielsweise i m Vorfahrtrecht, muß die Rechtsordnung dem Verkehrsteilnehmer die Sicherheit geben, daß seine Rechte auch respektiert werden; anders wäre ein geordneter Straßenverkehr unmöglich. Hier ist also ein möglichst umfassender Vertrauensschutz zu gewähren. A u f die Einhaltung von Vorschriften, die nicht diesem „Kernbereich" der Verkehrsordnung angehören, w i r d sich ein Verkehrsteilnehmer dagegen nur dann verlassen dürfen, wenn er das Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer bei fortlaufender Beobachtung als verkehrsgemäß erkennen kann. So ist beispielsweise der Linksabbieger verpflichtet, nicht nur vor dem Sich-Einordnen, sondern noch ein weiteres M a l vor dem Abbiegen den rückwärtigen Verkehrs zu beobachten, obwohl er schon nach Setzen des linken Blinkers nicht mehr überholt werden darf. Wem die StVO bei der Einleitung besonders gefährlicher Verkehrsvorgänge ein Verhalten vorschreibt, das die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausschließt", der w i r d sich bei seinem Fahrmanöver nur i n geringem Maße auf verkehrsgerechtes Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer verlassen können. Dies gilt beispielsweise für den Verkehrsteilnehmer, der sich aus einer Grundstücksausfahrt kommend i n den fließenden Verkehr einordnen w i l l . Rechtsdogmatisch stellt die Entscheidung über die Gewährung oder Versagung des Vertrauensschutzes eine A n t w o r t auf die Frage nach Umfang und Grenzen des i m Straßenverkehr „erlaubten Risikos" dar. Ein am Leitbild einer „gerechten Risikoverteilung" ausgerichteter Vertrauensschutz muß dabei die Mitte halten zwischen einem starren „Vertrauensgrundsatz" und nur an den „Besonderheiten" des Einzelfalles orientierten — häufig unerfüllbaren — Sorgfaltsgeboten. Was die Einschränkung des Vertrauensschutzes gegenüber „schwächeren" Verkehrsteilnehmern — Radfahrern, Fußgängern, kleinen K i n -

Zusammenfassung d e m und alten Leuten — angeht, ist die Rechtsprechung i m großen und ganzen ausgewogen. Die immer wieder vertretene Ansicht, daß der Kraftfahrer stets mit Verkehrswidrigkeiten nichtmotorisierter Verkehrsteilnehmer zu rechnen habe, ist schon deshalb zurückzuweisen, weil diese dadurch zu sorglosem Verhalten ermutigt werden könnten und sich so nur selbst gefährden würden. Jedoch sind an das Verhalten des Kraftfahrers gegenüber nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmern strenge Anforderungen zu stellen. Gegenüber kleinen Kindern und Gebrechlichen kommt kein Vertrauensschutz infrage. Die Rechtsprechung w i r k t hier uneinheitlich, insbesondere die Altersgrenze, von der ab ein — wenn auch eingeschränktes — Vertrauen auf verkehrsgerechtes Verhalten kleinerer Kinder möglich wird, ist strittig. Es w i r d vorgeschlagen, hier an der für das Zivilrecht verbindlichen 7-Jahres-Grenze auch i m Strafrecht festzuhalten. Es ist aber i n jedem Fall sorgfältig zu untersuchen, inwieweit das K i n d zu verkehrsgemäßem Verhalten i n der Lage war. I n etwas schwierigeren Verkehrssituationen ist diese Frage bei K i n dern bis zu 10 Jahren zu verneinen.

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