Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft: Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich [1 ed.] 9783428507344, 9783428107346

Den Autoren der hier zusammengefassten Beiträge geht es darum, erste Elemente europäischer Zusammenhänge der Veränderung

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Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft: Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich [1 ed.]
 9783428507344, 9783428107346

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Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Harnburg

Band 41

Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich

Herausgegeben von Martin Kirsch Anne G. Kosfeld Pierangelo Schiera

Duncker & Humblot · Berlin

Die Übersetzung des Textes von Raffaella Gherardi aus dem Italienischen ins Deutsche erfolgte durch Wemer Daum, des Beitrages von Maria Serena Piretti aus dem Italienischen ins Englische durch Adrian Belton, des Artikels von Gülnihal Bozkurt aus dem Türkischen ins Deutsche durch Camilla Dawletschin-Linder

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Peinted in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-10734-9 Gedruck~ auf alterungsbeständigem

(säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort An der vom Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin in Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin und dem Italienischen Kulturinstitut Berlin im Januar 2000 veranstalteten Tagung beteiligten sich Historiker, Juristen, Politologen und Islamwissenschaftler aus Deutschland, Großbritannien, Italien, Österreich und der Türkei. Für die finanzielle Unterstützung der Veranstaltung danken wir ganz herzlich dem lstituto Italiano per gli Studi Filosofici Napoli, dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin, dem Istituto italiano di cultura in Berlin sowie der Volkswagen-Stiftung, die die Tagung innerhalb des Schwerpunktprogrammes "Recht und Verhalten" förderte. Schließlich sind wir Herrn Professor Dr. h.c. Norbert Sirnon vom Verlag Duncker & Humblot und den Herausgebern der "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" Reiner Schulze, Elmar Wadle und Reinhard Zimmermann zu vielfachem Dank verpflichtet. Es ist der vorerst letzte von drei Tagungs-Bänden zur europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, da die für alle Seiten gewinnbringende deutsch-italienische Zusammenarbeit der Herausgeber (erst als Duo, nunmehr zu Dritt) der letzten fünf Jahre eine Unterbrechung erfahrt, da Pierangelo Schiera nach seiner Tätigkeit als Direktor des Italienischen Kulturinstituts in Berlin nach Trento auf seinen Lehrstuhl zurückkehrt und die beiden anderen im Bunde sich in der nächsten Zeit vollständig dem Abschluss ihren Qualifikationsarbeiten zuwenden werden. Berlin, Juni 2001

Martin Kirsch Anne G. Kosfeld Pierangelo Schiera

Inhaltsverzeichnis Martin Kirsch/Anne G. Kosfeld/Pierangelo Schiera Fragen und Probleme des Konstitutionalismus in Europa um 1900

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I. Konstitutionalismus und politischer Massenmarkt: Verfassung, Parteien, Öffentlichkeit

35

Dominic Lieven Constitutional Democracy, Elitesand Empires: A Comparative View . . . . .

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Martin Kirsch Verfassungsrechtlicher Rahmen und politische Praxis - Parlamentarisierung und Parteiensystem Frankreichs im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . 45 Paolo Pombeni Politische Repräsentation und Konstitutionalismus in europäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Raffaella Gherardi Für eine Disziplinierung der Demokratie. Europäische Verfassungsmodelle und der ,,Mittelweg" des liberalen Italiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Monica Cioli Der deutsche und der italienische Liberalismus: zwei Bilder im Vergleich . 103 Robert v. Friedeburg Verfassungsstaat - Massendemokratie - Adel: Strategien des englischen und deutschen Konservativismus im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Jörg Requate Politischer Massenmarkt und nationale Öffentlichkeiten - Die Entstehung einer "Vierten Gewalt"? Deutschland, England und Frankreich im Vergleich 145 Alexander Schmidt-Gemig Die Presse als "vierte Gewalt"? - Politischer Skandal und die Macht der Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland, Frankreich und den USA . . . . . . . . 169

D. Wahlen und Wahlrechtsbewegungen

195

Markus Schacht Wahlen zwischen Recht und Beeinflussung: Zur Wahlkultur in Italien um die Jahrhundertwende im Vergleich mit Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

8

Inhaltsverzeichnis

Maria Serena Piretti The problern of electoral fidding and bribery in Italy and Prussia until the First World War............. .. ............................... .... .. 223 Birgitta Bader-Zaar Frauenwahlrechtsbewegungen und Verfassungsstaat: Deutschland, Großbritannien und Österreich im Vergleich, 1866-1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Brigitte Mazohl-Wallnig Frauenwahlrecht im Spannungsfeld von öffentlichem Recht und Privatrecht. Perspektiven und Probleme eines Vergleichs zwischen Deutschland, Österreich und Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

III. Rechtsdenken und Verfassungsstaat

277

Jörg Luther Vorstufen europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit um 1900 . . . . . . . . . . . . . 279 Anne G. Kosfeld Genossenschaft, Gemeindegedanke und Verfassungsstaat Historische Reflexion und moderne Gesellschaft bei Maitland und Gierke - ein deutsch-englischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Hans Boldt Selbstverwaltung als Alternative? Zur Frage der Organisation des Verfassungsstaates im Zeitalter der Massengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

IV. Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der nationalen und sozialen Frage

363

Dieter Gosewinkel Gleichheitsrechte und Nation. Der deutsche Konstitutionalismus im Zeichen des ethnischen Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Margarete Grandner Aspekte der Gleichbehandlung in der Entwicklung des Arbeitsrechts in Österreich und der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Maurizio Ricciardi Bürgerschaftsrecht des arbeitenden Individuums? Die Legitimation der Gesellschaft im deutschen sozialwissenschaftliehen Diskurs in Auseinandersetzung mit dem "englischen Modell'' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Pierangeta Schiera Gemeinwohl im Konstitutionalismus? Überlegungen zu Deutschland und Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Inhaltsverzeichnis

V. Der Blick anderer Rechtskulturen auf Europa

9 423

Gülnihal Bozkurt Europäisierung der Verfassung? Das Osmanische Reich zwischen 1876 und jungtürkischer Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Peter Heine Das Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme im islamischen Recht. Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Paul-Christian Schenck Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechtsund Verfassungswesens ( 1878-1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

Fragen und Probleme des Konstitutionalismus in Europa um 1900 Von Martin Kirsch, Anne G. Kosfeld und Pierangelo Schiera Innerhalb eines Tagungszyklus zur europäischen Verfassungsgeschichte des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert gehen die nachfolgenden Beiträge auf eine dritte Veranstaltung zurück, die sich, nachdem die vorherigen der ersten Jahrhunderthälfte bzw. der Zeit um 1848 gewidmet waren, 1 der Zeit zwischen 1870 und 1914/18 zuwendete. Die Situation des Verfassungsstaates um 1900 unterschied sich von seiner bisherigen Geschichte seit 1789, denn die vielen im 19. Jahrhundert immer wiederkehrenden, unterschiedliche Länder ergreifenden "Verfassungswellen" (um 1799, um 1815, nach 1830, um 1848, um 1870), die die Entwicklung des europäischen Konstitutionalismus so deutlich geprägt hatten, schienen in den 40 Jahren vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs abzuebben. Die Verrechtlichung der politischen Handlungsbedingungen mit Hilfe einer Konstitution hatte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Bulgarien, Russland), nicht nur in allen Ländern Europas durchgesetzt, sondern war auch in den Staaten mit einer längeren konstitutionellen Tradition zur Ruhe gekommen. Gleichzeitig setzte die vermehrte Rezeption des Konzepts des Konstitutionalismus im islamisch geprägten Osmanischen Reich und im fernöstlichen Japan ein. Innerhalb Europas gewann in der Zeit ab etwa 1870 bis 1914 die zuvor nur in Großbritannien vollkommen durchgesetzte, parlamentarische Ausformung des Konstitutionalismus mehr und mehr an Boden (Frankreich, Norwegen, mit gewissen Einschränkungen auch Italien und Belgien, später dann Dänemark), ohne dass hierbei der Text der Konstitution eine Änderung erfuhr, gleichwohl blieb die monarchische Variante des Verfassungsstaates noch die überwiegende Form in Europa. Bevor wir uns aber den Besonderheiten der Situation um 1900 zuwenden, ist es notwendig, den Kontext zur vorherigen Zeit und einige Überlegungen zur Begrifflichkeit des Konstitutionalismus voranzustellen. 1 Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1999 (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 28); dies. (Hg.), Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Berlin 2001 (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Bd. 38).

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Martin Kirsch, Anne G. Kosfeld und Pierangelo Schiera

I. Konstitutionalismus vom 18. zum 20. Jh. Die Analyse des Konstitutionalismus - wie sie etwa im Rahmen des oben angesprochenen Tagungszyklus durchgeführt wurde - ist ohne Zweifel ein kollektives und auch ein internationales Unternehmen. Diesen Umstand gilt es zu betonen, da er einer wesentlichen Besonderheit entspricht, die den Gegenstand der Forschung selbst - also den Konstitutionalismus - betrifft. Von Beginn an haben wir versucht, letzteren als an sich "europäisches" Phänomen und als eine nicht nur "unter europäischer Perspektive", sondern auf komparatistische Weise zu untersuchende Erscheinung zu betrachten, beginnend also bei einzelnen nationalen Fällen, die untereinander zu vergleichen sind.2 Was u.a. unser Interesse für eine Geschichte des modernen Konstitutionalismus geweckt hat, war die Annahme, dass die Durchsetzung der nationalen Konstitutionalismen in Buropa vom 18. zum 20. Jahrhundert abhängig sei von einem im homogenen historischen Raum des Okzidents weitverbreiteten und zirkulierenden ,,Bedürfnis" nach der kollektiven Ausrichtung des politischen Verhaltens an den Erfordernissen des organisierten Lebens, die sich in der neuen bürgerlichen Gesellschaft stellten. Wenn dies für die Anfangsphase des 18. Jahrhunderts dem europäischen Erfolg der Aufklärung und - in deren Ionern - des rationalen Naturrechts zuzuschreiben ist, gilt es, auch die enorme Rolle zu betonen, die im folgenden Jahrhundert im gleichen Sinne von der liberalen Bewegung wahrgenommen wurde, die richtigerweise in ihrer europäischen Dimension aufzufassen ist. 3 Dies führt sowohl auf dem Gebiet der politischen Doktrin als auch auf jenem der institutionellen Praxis zur Hypothese des Konstitutionalismus als Brücke zwischen Legitimitätsformen des Ancien regime auf naturrechtlicher Basis und anderen Legitimitätsarten auf bürgerlich-liberaler Grundlage. Dies impliziert, dass einer unserer Ansprüche auch darin besteht, im Konstitutionalisierungsprozess, der sich während der letzten drei Jahrhunderte über den Okzident ausgebreitet hat, ein Element der Kontinuität und nicht des Bruches innerhalb der Geschichte der europäischen Politik aufzufinden, um somit auf der einen Seite zu vermeiden, das konstitutionelle Phänomen auf allzu reduktionistische Weise mit jener Phase der europäischen Politik zu verbinden, die in ihren unterschiedlichen historischen Ausprägungen mit der Durchsetzung der verschiedenen Nationalismen zusammenfallt; wie es auch auf der anderen Seite zu vermeiden gilt, das Aufkommen der Konsti2 Zur Problematik des Vergleichs: H. Kaelble, Der historische Vergleich, New York-Frankfurt 1999. 3 G. Tarello, Storia della cultura giuridica moderna, 1: Assolutismo e codificazione del diritto, Bologna 1976; B. Croce, Storia d'Europa nel secolo decimonono, Bari 1925.

Fragen und Probleme des Konstitutionalismus in Europa um 1900

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tution als eine unumgängliche historisch-evolutionäre Notwendigkeit für die Durchsetzung jener europäischen Zivilisation darzustellen, die dann (häufig mit dem Mittel des Imperialismus) in die ganze Welt ausstrahlen wird. Das Phänomen des Konstitutionalismus auf diese Weise zu behandeln sollte also für uns sowohl eine Erweiterung seines semantischen Spektrums als auch eine Verengung seiner deontischen Tragweite bedeuten. Daraus ergibt sich seine Konnotation als fortgeschrittene Phase der geordneten Regulierung des kollektiven Lebens durch Individuen, die sich darüber im Klaren sind, ihre eigenen Angelegenheiten mit den ihnen eigenen Mitteln auf vorwiegend rationaler Basis zu verhandeln. Nach unserem Interpretationsmuster könnte man dies in eine Linie übertragen, die unter diachronischem Gesichtspunkt durch die aufeinanderfolgenden Momente der Politik, des Staates und der Konstitution zusammenfassend angegeben werden kann, während sie unter synchronischem Gesichtspunkt in den drei Komponenten der Legitimität, der Disziplin und der Institutionen auszumachen ist.4 In diesem weiten Rahmen der politischen Entwicklung muss der Konstitutionalismus jedoch einen präzisen und bedeutenden Platz einnehmen, wenn es richtig ist, dass ihm als Objekt der historiographischen Betrachtung eine besondere Eigenständigkeit zukommt. Diese Stellung zu bestimmen war von Anfang an unser Ziel, indem wir nach kennzeichnenden Elementen suchten, die möglichst den anfänglichen Interpretationsrahmen bestätigen oder ihm auf entschiedene Weise widersprechen würden, um uns somit dazu zu zwingen, auf eine Fortführung der Forschung wegen der offensichtlichen Falschheit ihrer Ausgangsthesen zu verzichten. Auch wenn natürlich jeder seine eigenen Überzeugungen und seine eigenen Erwartungen besitzt und man sicherlich nicht darauf rechnen darf, dass sich alles auf eine typologisierende oder modellbildende Einstimmigkeit reduzieren ließe, die keinen Sinn machen würde.

Es scheint jedoch bereits die Wirkung eines umfassenderen Verständnisses und vielleicht einer präziseren Definition des Themas wahrnehmbar zu sein. Blickt man auf die Entstehungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, so erscheint es sinnvoll, eine rückwärtige Erweiterung der Perspektive des Konstitutionalismus zu versuchen, indem dieser statt mit der tatsächlichen Verkündigung "geschriebener und geschlossener" Verfassungstexte eher mit der weitverbreiteten Durchsetzung einer nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch handlungsfähigen Mentalität in Verbindung gebracht wurde, die bereit war, eine programmatische und präventive Rege4 P. Schiera, Legitimacy, Discipline, and Institutions: Three Necessary Conditions for the Birth of the Modern State, in: J. Kirshner (Hrsg.), The Origins of the State in Italy 1300-1600, Chicago and London 1995 (it: 1994), S. 11-33.

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Jung der kollektiven Verhaltenskodexe zu akzeptieren oder geradezu einzufordern.5 In einem zweiten Schritt wurde das Thema auf seinem historischen Höhepunkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts behandelt, der zugleich einen Moment der erneuerten revolutionär-konstitutionellen Hoffnung und der bitteren Enttäuschung darstellte, angesichts der Unmöglichkeit, eine Ideologie in die Praxis umzusetzen. So wurde auch die gebührende Beziehung zwischen Konstitutionalismus und Liberalismus hergestellt, wobei auch das zweideutige Wesen des letzteren - zwischen dem Idealismus seiner Intentionen und dem Realismus seiner Handlungsweisen - verhandelt wurde. 6 In diesem Band soll die Analyse des Konstitutionalismus weiter in Richtung des 20. Jhs. ausgedehnt werden, um die Anwendung jenes alten konstitutionellen Bedürfnisses des 18. Jahrhunderts über die Abfassung der Statuten und Chartas hinaus in den dynamischeren Sektoren der neuen Realität zu ermitteln. Während wir den gleichzeitigen Spezialisierungsprozess verfolgen, würden wir gerne die Entdeckung und Regulierung homogener Sektoren, die zuerst wissenschaftlich, dann legislativ, in der Regel aber auf beiden Ebenen zusammen vollzogen wurden, unter konstitutioneller Perspektive betrachten. Die ,,konstitutionelle" Wirkung eines solchen Prozesses besteht nach unserer Hypothese aus einer Art Neutralisierung, die auf präventive und programmatische Weise mit den wesentlichen Mitteln der Wissenschaft und der Gesetzgebung gegen das anwachsende Konfliktpotential der neuen wirtschaftlichen, sozialen und administrativen Krisensituationen der Gesellschaft und des Staats zur Wirkung gelangt. All dies scheint uns in die Nähe der "materialen Konstitution" der europäischen Nationalgemeinschaften um die Jahrhundertwende rückbeziehbar zu sein. Es handelt sich somit für uns um einen weiteren Schritt bei dem Versuch, einen plausiblen .~verfassungsgeschichtlichen" Diskurs über den Konstitutionalismus vorzulegen. Wie bereits gesagt, verlangt dies zugleich die Erweiterung des Konstitutionalismus über seine zwar notwendigen und bedeutenden juristisch-formalen Eigenschaften hinaus, aber auch die Begrenzung seiner fast heiligen Bedeutung (die in Wirklichkeit aber als ideo5 Eingehender zu dieser Frage: Pierangelo Schiera, Konstitutionalismus, Verfassung und Geschichte des europäischen politischen Denkens. Überlegungen am Rande einer Tagung, in: Martin Kirsch/ders. (Hg.), Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern, S. 23-32. 6 Vgl. etwa: Pierangelo Schiera, Konstitutionalismus und Vormärz in europäischer Perspektive: politische Romantik, Integrationsbedarf und die Rolle des Liberalismus; Martin Kirsch, Verfassungswandel um 1848 - Aspekte der Rezeption und des Vergleichs zwischen den europäischen Staaten; Arthur Schlegelmi1ch, Das Programm der konservativ-liberalen Modemisierung und die Einführung konstitutioneller Systeme in Preußen und Österreich 1848/49; alle in: M. Kirsch/P. Schiera (Hg.), Verfassungswandel um 1848, S. 15-62, 155-177.

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logisch, natürlich im marxschen Sinne des Wortes zu bezeichnen ist, nämlich als "pars-pro-toto"-Darstellung, bei der das als geschlossene Lösung angeboten wird, was dagegen eine offene, partielle und notwendigerweise provisorische und eher zufallige Option darstellt) als Instrument zur Realisierung der "kulturellen" Berufung der fortgeschritteneren Völker. Bei all diesem spielt im Zeitraum vom Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts die Verflechtung zwischen der wissenschaftlichen Reflexion und Rechtfertigung (mit ihren verschiedenen und immer komplizierteren Spezialisierungen auch auf dem Gebiet der Regulierung des "Sozialen") sowie der deutlichen und systematischen Erweiterung der staatlichen Verwaltungstätigkeit eine zentrale Rolle. In beiden Richtungen schreitet in unserem Untersuchungszeitraum der praktische Verwirklichungsprozess des "Rechtsstaates" voran, in welchem der Konstitutionalismus um die Mitte des 19. Jahrhunderts sein tragendes Prinzip gefunden hatte. Doch dies geschieht natürlich unter Mitwirkung einer organisierten Erweiterung der "Ansprüche" auf Garantie, Fürsorge und Intervention seitens neuer sozialer Gruppen und dank einer professionellen Kapazität zur "Leistung" seitens der zu diesem Zweck bestimmten Staats- (bzw. Verwaltungs-)Organe. Wie man sieht, wäre dies bereits das Thema einer weiteren Tagung, die über die sich selbst beschränkenden Systeme zu organisieren sein müsste, die durch eine ähnlich zügellose Tendenz der Konsumgesellschaft, sich alles einzuverleiben, notwendig werden, um den Absturz in totalitäre Abgründe zu vermeiden; wie dieser sich gerade im Laufe des letzten Jahrhunderts bereits ereignet hat und dann nach dem Krieg erneut durch das konstitutionelle Instrument überwunden wurde ... Doch wirklich erneut durch den Konstitutionalismus? Dies ist ein Problem, das vorläufig offen bleiben muss, auch wenn die historisierende Sicht, in der wir bisher gearbeitet haben, vermuten lässt, dass auch der Konstitutionalismus ein Ende haben könne und müsse. Dies bedeutet aber nicht, dass seine Wirkungen nachlassen müssen, die auf so erstaunliche Weise seit zweieinhalb Jahrhunderten in immer verfeinerteren und vollkommeneren Verfassungsdokumenten kodifiziert wurden und nunmehr Teil der politischen Anthropologie nicht mehr nur des westlichen Menschen, sondern der globalisierten Welt sind. Doch auch dies ist eine andere Sache, die es vorläufig zu meiden oder zu vertagen gilt. Entwickelt man die Interpretation des Konstitutionalismus über seine im engeren Sinne ordnungsbezogenen Aspekte hinaus weiter, so stellt sich die folgende Frage: Auf welche Weise übertrugen sich die Ziele und Ideale, mit denen dieser sich Ausdruck verschafft und zum Teil auch verwirklicht hatte, in einen neuen Kommunikationskodex und in neue politische Praktiken? Wobei zugleich noch der legislative und exekutive Gesichtspunkt, und zwar

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in erster Linie in ideologischer Hinsicht, zu berücksichtigen wäre. Buropa unterlag offensichtlich einem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel, auch wenn dieser in seinen nationalen Ausformungen entsprechend von unterschiedlichem Ausmaß war. Steht erst einmal fest, wie sehr die konstitutionelle Reform zur Entwicklung der neuen Erfordernisse der Gesellschaft beigetragen hat, bleibt die Frage, ob die nachfolgenden Prozesse der Spezialisierung und ihrer Regelung sozusagen nur auf technischen Wegen und in technischen Begriffen in die Gebiete beispielsweise der Ökonomie und des Rechts eingegriffen haben, die auch durch das große Werk der wissenschaftlichen Systematisierung immer autonomer geworden sind und hier nur als die beiden hauptsächlichen Anziehungssektoren für die neuen sozialen Interessen des Unternehmens und der Arbeit genannt werden, oder ob etwa auch der alte Konstitutionalismus seine Fähigkeiten und Künste bereitgestellt hat, um diese Prozesse zu ermöglichen oder zu erleichtern. Unsere Antwort geht natürlich in diese letztgenannte Richtung. Es ist unsere Auffassung, dass mit dem Anwachsen der Unternehmerischen und sozialen Bedürfnisse auch die Fähigkeit des Konstitutionalismus zugenommen hat, sich sozusagen selbst wiederzuverwerten und aus sich selbst Formen und Materialien hervorzubringen, die den neuen Ansprüchen genügten. Der eingeschlagene Weg war wieder einmal jener des Gemeinwohls, von dem der Konstitutionalismus selbst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgegangen war, um zu dessen Formalisierung ein Ordnungsbegriff zu werden. Die inhaltliche Ausfüllung des Konstitutionalismusbegriffs blieb auf der Tagung umstritten: Soll hierbei stärker die formell- oder besser die materiellrechtliche Seite betont werden? Stellt man auf die formellrechtliche Ebene ab, so kann unter Konstitutionalismus die Machteinschränkung der politisch Herrschenden im Staat durch (geschriebenes) Verfassungsrecht verstanden werden. Er knüpft damit an den englischen, französischen oder auch italienischen Sprachgebrauch an und geht damit über die sprachliche Engfassung innerhalb der deutschen verfassungshistorischen Forschung, die ganz überwiegend nur das konstitutionelle Königtum des 19. Jahrhunderts als Konstitutionalismus bezeichnet, hinaus. In Weiterentwicklung von Überlegungen K. Loewensteins kann der Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Regierungsform in eine monarchische, eine parlamentarische (z. B. Großbritannien ab 1835/41, Frankreich ab 1871177, Norwegen ab 1884), eine präsidiale (z.B. Frankreich 1848) und eine direktoriale Variante (Schweiz 1848) unterschieden werden. Innerhalb des monarchischen Typs des Konstitutionalismus lassen sich hinsichtlich der Verfassung und deren Umsetzung drei Erscheinungsformen unterscheiden: der Verfassungsstaat 1. mit machtpolitischem Vorrang des Monarchen (z.B. Frankreich 1814-30, Dänemark 1849-1901,

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Preußen 1850, Österreich-Ungarn 1867, Deutsches Reich 1871, Russland 1906), 2. mit faktischer Dominanz des Parlaments (z.B. Norwegen 1814, Frankreich 1830-48, Belgien ab 1831, Piemont-Italien ab 1852) und 3. mit bonapartistischer Prägung (Frankreich 1852, Rumänien 1864-66). Von monarchischem Konstitutionalismus wird so lange gesprochen, wie ein rechtlicher und machtpolitischer Dualismus zwischen Monarch und Parlament zumindest im Bereich der Legislative oder Exekutive noch besteht, während im Parlamentarismus - hier als parlamentarische Form des Konstitutionalismus bezeichnet - allein der Mehrheitswillen der Volksvertretung über Wohl und Wehe von Exekutive und Legislative entscheidet, ohne dass der Monarch noch über einen größeren politischen Einfluss verfügt? Stellt man hingegen stärker auf den materiellrechtlichen Aspekt des Konstitutionalismus ab, so rücken die in der Verfassung (im weiteren Sinne) kodifizierten Werte mit kollektivem Geltungsanspruch in den Vordergrund: Welche Freiheit war gemeint? "Nur" die persönliche, also der Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Strafe, oder auch die Meinungs- und Pressefreiheit? Was bedeutete Freiheit im wirtschaftlichen Bereich? Vornehmlich den Schutz des Eigentums und der Vertragsfreiheit oder auch den Schutz der Arbeitskraft? Und für wen sollte der seit 1776/89 virulente Gleichheitssatz denn gelten? Allein für den gebildeten und wohlhabenden Eigentümer männlichen Geschlechts oder auch für die Mittellosen oder gar für die Frauen? Ungeachtet der inhaltlichen Ausfüllung des Konstitutionalismus-Begriffs gehen wir davon aus, dass die Verfassungsbewegung seit dem späten 18. Jahrhundert die staatlichen Organe kontrollieren und die Privatsphäre der Bürger schützen sollte, wie vielfaltig auch immer sich die formell und materiellrechtlichen Seiten des Konstitutionalismus in ihrer Entwicklung ausnahmen. Der Konstitutionalismus war auch daher mit der liberalen Bewegung verbunden, als dieser Schutz der Privatsphären der Bürger deren Verschiedenheit gerade unangetastet lassen sollte. Insofern erlaubte und ermutigte der Konstitutionalismus bei aller Unterschiedlichkeit seiner Entwicklungen die Ausdifferenzierung einer eigenen Sozial- und Wirtschaftssphäre jenseits staatlicher Regulierung und Bevormundung. Das Gemeinwohl sollte nicht mehr an den Normen traditioneller Rechtsbestände bemessen und durch die Regierung unmittelbar durchgesetzt werden, sondern sich nicht zuletzt auch durch die Interaktion freier Bürger in den von ihnen bestimmten Privatsphären ergeben. Es versteht sich, dass bei dieser Bestimmung liberale und Verfassungsbewegung fast deckungsgleich einander angenähert werden, obwohl es sich um verschiedene Dinge handelt. 7 Ausführlicher zu dieser Problematik: Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jh. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer VerfassungstypFrankreich im Vergleich, Göttingen 1999, S. 40 ff. 2 Kirsch

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Gleichwohl stützten sich Verfassungs- und liberale Bewegung in der ersten Jahrhunderthälfte gegenseitig. Besonders die Härten der industriellen Revolution ließen diese Vorstellung von der Durchsetzung des Gemeinwohls als ergänzungsbedürftig erscheinen. Bereits seit den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wirkte der preußische Staat beispielsweise keineswegs mehr so energisch auf die Teilung der Gemeinheiten und die Individualisierung der Feldflur hin, wie er das noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Agrarreform getan hatte. Nun erschienen die vermeintlich überholten traditionellen Institute kollektiver Feldnutzung aus sozialpolitischen Gründen erneut der Bewahrung wert. Konstitutionalismus bedeutetet daher auch die verfassungsrechtliche Ordnung der Politik bei gleichzeitiger Befreiung der Wirtschaftsgesellschaft von staatlichem Handeln. Die Zeitgenossen in verschiedenen europäischen Ländern begannen erneut über die Wiederaufnahme des Wirtschafts- und Soziallebens im weitesten Sinne in den Regelungskanon der Verfassung nachzudenken. Das Gemeinwohl erschien der aktiven Regelung bedürftig. Diese Entwicklung verlief parallel zu einer stark historisch ausgerichteten Selbstbesinnung in der Frage, wie Staat und Gesellschaft miteinander zu verbinden seien. Es ist bezeichnend, dass ein Rechtshistoriker wie Otto Gierke in seinem Werk die Frage nach den historischen Wurzeln der Verfasstheit der Gesellschaft und der nationalen Besonderheiten und die verfassungsrechtliche Antwort auf die sozialen Fragen der Gegenwart zu vereinen suchte. Wir treffen hier auf eine ganze Reihe besonderer Charakteristika der Behandlung von Verfassungsfragen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dazu gehören als Rahmenbedingungen ausdifferenzierte Einzeldisziplinen in den Geisteswissenschaften, die sich dieser Fragen annahmen. Dazu gehörte die bevorzugte Fokussierung auf spezifisch nationale historische Wurzeln gegenüber der Annahme allgemein waltender Naturgesetzlichkeiten und Menschenvernunft Dazu gehörte die Hinwendung zu Aspekten, die die Regelungsbedürfnisse insbesondere in den neuen Bereichen der städtischen Infrastruktur und Verwaltung der Kranken-, Armen- und Altersfürsorge, die jenseits des traditionellen Kanons der Verfassungsbewegung lagen, beantworteten, was manchen Liberalen ein Dom im Auge war. Rudolf Gneist unterstrich in seiner englischen Verfassungsgeschichte von 1882, es sei "ein schönes Zeugnis für die Macht des Christentums und der Nationalität für die regierende Klasse Englands insbesondere, wenn ... die englische Gesellschaft in ein Jahrhundert der Sozialreform und der Reformbills übertritt." 8 Er führte diese in seinen Augen erfolgreiche Weiterführung des Konstitutionalismus vor allem auf die im Verlauf der englischen Geschichte entstandene Nationalität zurück und schlussfolgerte, "die tausend Jahre englische Geschichte, welche hinter uns liegen, berechtigen zu dem Vertrauen, dass diese Nation die bevorstehenden Kämpfe be8

R. Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, Berlin 1882, S. 715.

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stehen und die besten Bausteine zum Wiederausbau ihres Staatswesens in ihrer eigenen Vergangenheit finden wird, ebenso wie die deutsche Nation"9 . So ist in Gneists Sicht von Verfassungsgeschichte und Verfassungswerden die Folge vernunftgemäßen menschlichen Handeins für das Gemeinwohl aber nicht mehr allein bemessen an allgemeinen Vernunftsätzen, sondern an den besonderen nationalen Vergangenheiten, der jede Nation verpflichtet war. 10 Man kann die Frage nach den dem Konstitutionalismus zugrunde liegen den Werten auch stärker aus der Perspektive der politischen Ideengeschichte betrachten: Welche Rolle spielte etwa der Wandel des Liberalismus für die Geschichte des Konstitutionalismus, oder inwieweit gelang es dem Konservativismus, seine Werte mit denjenigen des Verfassungsstaates zu verbinden? Blickt man etwa auf den Liberalismus, so verlor er gegenüber dem Aufstieg der sozialen Frage und der sozialen Monarchie in administrativer Form an Bedeutung. Und er verlor auch bei der Lenkung der konstitutionalistischen Erfahrung an Bedeutung, die sich sehr in den Händen der Regierung und der Verwaltung selbst konzentrierte, unter dem starken Druck der neuen Massenparteien, ob sie popular, links oder vom Zentrum waren. Der Konstitutionalismus verlor in Deutschland mit der "Zweiten Reichsgründung" seinen Kontakt zum Liberalismus, der doch zwischen 1830 und 1870 seine hauptsächliche, wenn nicht ausschließliche Triebkraft gewesen war, nicht zuletzt dank der ausgesprochen strategischen Fähigkeiten des Liberalismus, die aus einer geschickten und erfolgreichen Mischung zwischen der Forderung nach und Verfolgung von demokratischen Idealen sowie dem realen Modernisierungsanspruch bestanden. Auf diese Weise degenerierte sich in gewisser Weise der Liberalismus selbst, er verlor seine charakteristischen Züge (wenn er sie überhaupt jemals in dem so klassischen und ideologischen Sinne besessen hatte, in dem wir ihn zu betrachten gewohnt sind), wurde eklektisch und war zu allem bereit, nur um zu überleben und die Welt zu vertreten, bereit auch, wie in Italien, von der Rechten auf die Linke zu wandern und sich auf engste und zweideutigste Weise mit der Administration zu einem Interessenknäuel zwischen Peripherie (das heißt Provinz oder Kommune) und (politischem oder ministeriellen) Zentrum zu verbinden, dem man den Namen Transformismus ("trasformismo") gegeben hat. Diese Beobachtung gilt aber nicht für die englischen Liberalen. Denn in England wirkte die Fähigkeit des deutschen Staatswesens, erfolgreich regulierend in das Wirtschaftsleben einzugreifen, ohne dessen Ablauf zu beeinEbd., S. 724. Ausführlicher zu dieser Frage: Anne G. Kosfeld, Genossenschaft, Gemeindegedanke und Verfassungsstaat Historische Reflexion und moderne Gesellschaft bei Maitland und Gierke- ein deutsch-englischer Vergleich, in diesem Band, S. 307-337. 9

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trächtigen, inspirierend. Bei aller Skepsis gegenüber dem deutschen Obrigkeitsstaat avancierte das deutsche Modell zum Vorbild bei dem Versuch einer sozialen Reform von oben. Die Liberalen, die sich diesem Versuch in England verschrieben, werden auch unter den Begriff "New Liberalism" subsumiert. Ohne Frage entwickelte sich in Teilen der konservativen wie liberalen Gruppierungen in Deutschland wie England die Bereitschaft zur Umsetzung sozialer Anliegen in Gesetzgebungsprojekte. Die Frage wäre, inwieweit der Konstitutionalismus bei diesen Veränderungen an eigene eherne Grenzen stieß. War er zunächst angetreten, die Privatbürger vor den Interventionen des Staates zu schützen, machten sich nun die Regierungen anheischig, auf dem Wege der konstitutionellen Gesetzgebung die Fundamente für einen neuen Interventionsstaat zu errichten, der in vieler Hinsicht in die Privatsphären der Bürger erneut eingreifen sollte. Der "Konstitutionalismus" verlor damit seine klare Zielperspektive und drohte, in der Vielfalt gesetzgebenscher Maßnahmen und politischer Auseinandersetzungen um Steuern und Interventionen sein liberales Profil zu verlieren. Es wird eine Aufgabe der zukünftigen Forschung sein, die angesprochenen unterschiedlichen Aspekte des Konstitutionalismus miteinander zu verbinden. Und je nachdem welche Seite des Konstitutionalismus man betont, wird man für die Zeit zwischen 1870 und 1914/18 entweder von einem Versagen oder von einer bloßen Anpassung der bisherigen rechtlichen Steuerungsinstrumente des Konstitutionalismus gegenüber der entstehenden Massengesellschaft sprechen. Aber auch hier wird wieder inhaltlich und nach Ländern zu differenzieren sein, denn gegenüber dem Nationalismus als Zeichen der Fundamentalpolitisierung der Gesellschaft sah sich der Verfassungsstaat in Deutschland nicht gewappnet, denn die in der Konstitution vorgesehenen Verfahren verhinderten nicht eine ethnische Überformung des Nationsbegriffs im Staatsbürgerrecht, während in Österreich gerade die Formalisierung des Rechts als Lösung für die mit der Multinationalität verbundenen Probleme angesehen wurde. Es kam aber auch zur Übertragung von institutionellen Strukturen des Konstitutionalismus ins Arbeitsrecht und damit zu einer Umformung des Verfassungsstaates, ohne dass hierbei die verfahrensrechtliche Seite darunter gelitten hätte. Das beginnende Zeitalter der Massengesellschaft veränderte aber sicherlich das Verhältnis der möglicherweise in sich gespaltenen politischen Eliten gegenüber dem Konstitutionalismus, denn die weitergehenden politischen Mitbestimmungs- und sozialen Ansprüche in einer Atmosphäre des Nationalismus erschwerten den Machtausgleich im dualistischen Verfassungssystem. Wie stark das Gelingen eines derartigen Interessenausgleichs im Rahmen einer Konstitution von den sozialen Konfliktlinien bzw. Koalitionsmöglichkeiten in den jeweiligen Gesellschaften abhängig war und inwieweit sich hierbei bereits europäische Muster erkennen lassen, konnte auf der Tagung nur noch als Forschungsaufgabe benannt werden, zu deren Lösung eine engere Kooperation

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von vergleichend arbeitenden Verfassungs- und Gesellschaftshistorikern sicherlich nötig wäre. Zu Beginn wurde von einem "Bedürfnis" nach kollektiver Ausrichtung des politischen Verhaltens an den Erfordernissen des organisierten Lebens in der neuen bürgerlichen Gesellschaft gesprochen, um zu versuchen, den europäischen Konstitutionalismus in seinen Ursprüngen des späten 18. Jahrhunderts zu bestimmen und aufzuzeigen. Dasselbe Bedürfnis begleitet auch in der Folge die Erweiterung der Gesellschaft nach der industriellen und sozialen Revolution: Schließlich vollzieht sich der Übergang von der "bürgerlichen" zur "sozialen Gesellschaft" mit einer radikalen Zunahme der sozialen Konflikte nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern vor allem unter dem qualitativen Gesichtspunkt ihrer politischen Bedeutung und ihrer Legitimität. Vom wohlgepflügten Feld der sozialen oder industriellen Gesellschaft selbst, wie auch immer man sie nennen möchte, lässt sich sogar ein spontanes Aufkeimen der glühendsten Konflikte beobachten (nämlich sozialer oder auch Klassenkonflikte: Lorenz von Stein, Karl Marx). Es handelt sich um ein Bedürfnis, das sicherlich nicht bei der Erlangung von Verfassungstexten seitens "gnädiger" Monarchen, die mühsam um eine Erneuerung ihrer politischen Funktion ringen, zum Stillstand kommen kann. Und es wird nicht einmal gegenüber der Figur des Monarchen selbst innehalten. Lorenz von Stein ist sehr scharfsinnig in seiner Betonung des Charakters der Hohenzollern als "soziale Monarchie", und wenigstens für Deutschland (und in geringerem Maße auch für Italien) kann man wirklich sagen, dass es sich bei der Monarchie, die nach der nationalen Einigung weiterhin der Protagonist bleibt, nicht nur um die konstitutionelle, sondern und vor allem um die soziale Monarchie handelt. Im deutschen Fall könnte sie noch direkter, aber mit unbestreitbarer Präzision als .,Bismarcksche soziale Monarchie" definiert werden, um ihre wesentliche Regierungs-, Verwaltungsund Politikrolle zu betonen (von Polizeifunktion hätte noch wenige Jahre zuvor von Mohl gesprochen). Auf der anderen Seite war genau dies die Faszination, die das "deutsche Modell" für die Modernisierungsbestrebungen der Linken in Italien und insbesondere Crispis während der 1880er Jahre besaß. Man sollte in diesem Zusammenhang auch von einem Wandel der Rolle des Monarchen als Teil seiner allgemeinen Funktionalisierung 11 während des 19. Jahrhunderts sprechen. Veränderungen des sozialen Lebensgefüges und daraus resultierende rechtliche Probleme waren wie auch Legalitäts- und Legitimitätsbrüche, die das Erfordernis der Legitimitätsbeschaffung erzwangen, der Anlass zur Re11 Zur Funktionalisierung: Martin Kirsch, Die Funktionalisierung des Monarchen im 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich, in: Stefan Fisch/Fran~ois Roth (Hg.), Machtstrukturen im Staat: Organisationen und Personen - Deutschland und Frankreich im Vergleich, [vorauss. Frühjahr] 2003.

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konstruktion der eigenen nationalen Wurzeln und ihrer Rechts- und Verfassungstraditionen. Die Nation sollte durch eine Verfassung zusammengehalten werden, deren geschichtliches Wesen die wahren Wurzeln des nationalen Selbst zutage treten und damit den Herausforderungen der Massengesellschaft gewachsen sein ließ. An den Plänen und Gedanken über Genossenschafts- und Assoziationswesen lässt sich zugleich zeigen, dass der historisch argumentierende Liberalismus den Herausforderungen der sozialen Frage und der übermächtig erscheinenden Stärke staatlicher Intervention zur Sicherung des Gemeinwohls keineswegs hilflos gegenüberstand. Stattdessen hatte er in national je unterschiedlicher Weise mit Blick auf die Geschichte durchaus Modelle nichtstaatlicher Organisationsformen entwickelt, die auch für die Lösung sozialer Fragen bereitgestellt werden konnten. Dafür stehen Gierkes am mittelalterlichen Städte- und Korporationswesen geschulte Überlegungen zur städtischen Verwaltung und zum Sozialversicherungswesen. Ganz besonders die deutschen Liberalen verfügten seit dem frühen 19. Jahrhundert über eine historisch begründete und ebenso ausgerichtete Tradition der Konzentration ihrer Aktivitäten auf die städtische Verwaltung. Dort verfügten sie von Fall zu Fall über die Handlungsfülle, die ihnen so im Gesamtstaat nicht zukam. Die Stadt, die Regelung der städtischen Sphäre ragte so nicht nur praktisch in das staatliche Verfassungsleben hinein, sondern hier bot sich gerade für die deutschen Liberalen die Möglichkeit, durch die besondere Rückbesinnung auf die Stadt als Verfassungsmodell des Gesamtstaates eine attraktive Symbiose praktischer Politik für das Gemeinwohl vor Ort und theoretischer Verfassungsentwürfe für den Gesamtstaat herzustellen. 12

ß. Probleme des Konstitutionalismus um 1900 Der Konstitutionalismus sah sich seit 1870 verstärkt den Problemen der Entstehung einer Massengesellschaft ausgesetzt. Die Gesellschaft hatte sich in vielen europäischen Staaten im Verlaufe des 19. Jahrhunderts aufgrund der einsetzenden oder fortschreitenden Industrialisierung und Agrarreformen stark gewandelt, was mit einer schrittweisen Delegitimierung anfangs der ständischen Besitzstände, später der auf Besitz und Bildung beruhenden Privilegien einherging. Die damit verbundenen Schwierigkeiten des wechselseitigen Verhältnisses von Verfassungsstaat und Gesellschaft ließen sich mit dem formalrechtlichen Konzept einer Konstitution allein nicht mehr lösen, vielmehr musste mit weiteren rechtlichen Regeln versucht werden, 12 Anne G. Kosfeld, Politische Zukunft und historischer Meinungsstreit Die Stadt des Mittelalters als Leitbild des Frankfurter Bürgertums in der Verfassungsdiskussion der Restaurationszeit, in: Reinhart Koselleck/Klaus Schreiner (Hg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 375-454.

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die politische Struktur einer Gesellschaft zu beeinflussen, aber auch in der umgekehrten Richtung versuchten bestimmte gesellschaftliche Gruppen sich den Verfassungsstaat dafür nutzbar zu machen, ihre Interessen mit Hilfe des Rechts umzusetzen. Die europäischen Zusammenhänge des Konstitutionalismus um 1900 herauszuarbeiten und nicht die zumeist üblichen nationalstaatliehen Perspektiven zu untersuchen war das zentrale wissenschaftliche Anliegen der Tagung, denn die bisherige Forschung hat bislang nur in vorsichtigen Ansätzen die transnationalen Aspekte behandelt. Zwar enthält etwa Salvo Mastellones Untersuchung einen ausführlichen Abschnitt zu diesem Zeitraum, doch bleibt seine Analyse beinahe vollständig im Bereich der IdeengeschichteP Die entsprechenden Abschnitte in den unter europäischem Blickwinkel geschriebenen, allgemeinen historischen Überblickswerken können diese verfassungshistorische Lücke nicht auffüllen, 14 oder es fehlt sogar an einem entsprechenden, die Verfassungssituation näher beleuchtenden Kapitel. 15 Die uns hier interessierende Fragestellung ist auch in dem Tagungsband zu ,,Europa um 1900" nicht berücksichtigt, und Otto Büschs anregende Überlegungen zur vergleichenden Betrachtung des Konstitutionalismus können ebenfalls eine eingehendere Analyse der europäischen Verfassungsgeschichte vor dem Ersten Weltkrieg nicht ersetzen. 16 Für einzelne Aspekte der Verfassungssituation in Europa um 1900 gibt es indes wichtige vergleichende Untersuchungen, die teils wie G. A. Ritters und Breuillys deutsch-britische Analysen oder Schieras italienisch-deutsche Überlegungen zwei Länder in das Blickfeld nehmen 17, oder aber wie 13 Salvo Mastellone, Storia della democrazia in Europa. Da Montesquieu a Kelsen, Torino 1986, S. 181-298. 14 Lothar Gall, Buropa auf dem Weg in die Moderne 1850-1890, München 3 1997; Gregor Schöllgen, Das Zeitalter des Imperialismus, München 3 1994, Theodor Schieder, Buropa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäischen Weltpolitik bis zum I. Weltkrieg (1870-1918), in: ders. (Hg.), Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 6, Stuttgart 1968, S. 1-196, Hagen Schulze, Phoenix Europa. Die Moderne von 1740 bis heute, Berlin 1998, Rene Girault, Peuples et nations d'Europe au XIXe siecle, Paris 1996, S. 205-234. 15 Martin Pugh (Hg.), A Companion to Modern European History 1871-1945, Oxford 1997. 16 Fritz Klein/Karl Otmar von Arentin (Hg.), Buropa um 1900. Texte eines Kolloquiums, Berlin (DDR) 1989; Otto Büsch, Gesellschaftlicher und politischer Ordnungswandel in europäischen Ländern im Zeitalter des Konstitutionalismus. Ansatz und Appell zu einer vergleichenden europäischen Geschichtsschreibung, in: ders./ Arthur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Harnburg 1995 s. 7 ff. 17 Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich, in: Ders., Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentaris-

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Rokk:an und Luebbert aus einer soziologischen bzw. politologischen Perspektive deutlich mehr Länder miteinander vergleichen. 18 Auch die Studie Martin Kirschs behandelt aufgrund ihrer typologisch, diachron vergleichenden Anlage nur Teilaspekte der bestehenden Forschungslücke.19 Paolo Pombeni geht nur selten ausschließlich europäisch vor, aber er durchbricht die nationalgeschichtliche Perspektive doch immer wieder, indem er zu Einzelaspeklen manche Länder, wie z. B. Spanien und Italien, zusammenzieht.20 Die vergleichend angelegte Forschung hat sich am stärksten noch dem entstehenden politischen Massenmarkt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zugewandt und dabei das Interesse auf die damit verbundene Entwicklung des Parteiensystems gelenkt, welches auf die zunehmende Wahlrechtserweiterungen reagieren musste. Eine vergleichende Analyse des Parteiensystems kann auf M. Duvergers Studie zum "Janusgesicht des Westens" zurückgreifen und hat zudem die entsprechenden Abschnitte in Giorgio Gallis Werk zu beachten. 21 Differenziert man die parteiengeschichtlichen Untersuchungen nach politischen Richtungen, so scheint die komparatistimus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1976 S. 190-221; John Breuilly, Civil society and the labour movement, class relations and the law: a comparison between Germany and England, in: ders., Labour and liberalism in nineteenth-century Europe. Essays in comparative history, Manchester/New York 1992, S. 160-196; ; Pierangelo Schiera, Centralismo e federalismo nell'unificazione statal-nazionale italiana e tedesca. Spunti per una comparazione politologica, in: Oliver Janz/Hannes Siegrist/ders. (Hg.), Centralismo e federalismo tra Otto e Novecento. ltalia e Germania a confronto, Bologna 1997, S. 21-46 (dt. Version in: dies. (Hg.), Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000). 18 Stein Rokkan, Massendemokratie und Wahlen in den kleineren europäischen Ländern. Eine Entwicklungstypologie, in: Otto Büsch/Peter Steinbach (Hg.), Vergleichende europäische Wahlgeschichte. Eine Anthologie, Beiträge zur historischen Wahlforschung vornehmlich West- und Nordeuropas, Berlin 1983 S. 301-350; Gregory M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy. Social Classes and the Political Origins of Regimes in Interwar Europe, New York/Oxford 1991, S. 1-187; Serge Berstein, Democraties, nSgimes autoritaires et totalitarismes au XX:e siecle. Pour une histoire politique comparee du monde developpe, Paris 1992 S. 7-31. 19 M. Kirsch, Monarch und Parlament, S. 396 ff. 20 Paolo Pombeni, La politica nell'Europa del '900, Roma/Bari 1998, S. 3-53 (nur S. 3-14 "europäisch"). 21 Maurice Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter. Das Janusgesicht des Westens, München 1973; Giorgio Galli, Storia dei partiti politici europei, Milano 1990; vgl. auch die entsprechenden Beiträge von Biagini (Liberalism), Tanner (Socialist parties) und Feuchtwanger (Conservatism) in: M. Pugh (Hg.), Modern European History. Der Sammelband von Brigaglia enthält hingegen nur Fallstudien zu jeweils einem Land: Manlio Brigaglia (Hg.), L'origine dei partiti nell'Europa contemporanea 1870-1914, Bologna 1985.

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sehe Etforschung der Arbeiterbewegung bislang die umfassendsten Fortschritte gemacht zu haben, auch wenn Stefan Berger ausdrücklich betont, dass es bislang nur wenige detaillierte Vergleichsstudien zu den Arbeiterparteien Europas gäbe. 22 Für die vergleichende Geschichte des Liberalismus in den europäischen Ländern gilt es, die Forschungen von Langewiesehe und W. J. Mommsen zu beachten, über die Entwicklung von katholischen Parteien informieren J.-M. Mayeur und nunmehr auch E. L. Evans, und erste Ansätze eines deutsch-englischen Vergleichs des Konservativismus bietet R. v. Friedeburg. 23 Die vergleichende Etforschung der Rolle der Öffentlichkeit und auch der Entstehung einer Vetfassungsgerichtsbarkeit steht noch sehr in den AnHingen,24 während die komparatistische Untersuchung von Wahlen und Wählerbewegungen bereits weiter fortgeschritten ist: 25 So haben unabhängig 22 Stefan Berger, Ungleiche Schwestern? Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie im Vergleich. 1900-1931, Bonn 1997, S. 5 ff. mwN.; Jürgen Kocka, Die Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie im europäischen Vergleich. Fragestellungen und Ergebnisse, in: ders. (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 5-20. 23 Dieter Langewiesche, Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 360-394, ders., Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeptionen und Ergebnisse, in: ders. (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 11-19, sowie die entsprechenden britisch-deutschen Vergleiche in demselben Band; Wolfgang J. Mommsen, Gesellschaft und Staat im liberalen Zeitalter. Europa 1870-1890, in: ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt/M. 1990, S. 86-108; Jean-Marie Mayeur, Des partis catholiques a Ia democratie chretienne, Paris 1980; Ellen Lovell Evans, The cross and the ballot: Catholic political parties in Germany, Switzerland, Austria, Belgium and the Netherlands, 1785-1985, Boston, MA 1999; Robert v. Friedeburg, Konservativismus und Reichskolonialrecht Konservatives Weltbild und kolonialer Gedanke in England und Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: HZ 263 (1996), S. 345-393. 24 Raymond Huard, Opinione pubblica, suffragio e democrazia in Europa. Saggio di tipologia degli stati, in: Paolo Pombeni (Hg.), La trasformazione politica nell'Europa liberale 1870-1890, Bologna 1986, S. 283-307; einen allgemeinen Überblick über den Forschungsstand der Geschichte der Öffentlichkeit vermittelt: Jörg Requate, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-32; Jörg Luther, Idee e storie di giustizia costituzionale nell'ottocento, Torino 1990; Dominique Rousseau, La justice constitutionnelle en Europe, Paris 1992, S. 13-24. 25 Vgl. etwa die Beiträge in: Büsch/Steinbach (Hg.), Vergleichende europäische Wahlgeschichte; Otto Büsch (Hg.), Wählerbewegungen in der europäischen Geschichte. Ergebnisse einer Konferenz, Berlin 1980; Göran Therbom, The Right to Vote and the Four World Routes to/through Modemity, in: Rolf Torstendahl (Hg.), State Theory and State History, London usw. 1992 S. 62-92; Synthesen zur Wahlrechtspolitik und Darstellung der verschiedenen nationalen Forschungstraditionen in

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voneinander sowohl J. Kohl als auch M. Mattmüller auf die Einf"tihrung des allgemeinen Männerwahlrechts als eines gesamteuropäischen Vorgangs verwiesen, ohne dass aber ihre Befunde in der jüngeren deutschen Historiographie Aufnahme gefunden hätten. Seit kurzem liegt nun auch ein vergleichender Überblick zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts von G. Bock vor. 26 Die Geschichte der Verwaltung und der Bürokratisierung und deren rechtliche Aspekte ist relativ früh unter komparatistischer Perspektive analysiert worden. Dies steht u. a. im Zusammenhang mit den modernisierungstheoretischen Ansätzen, die sich bereits in den 1960170er Jahren für die Entstehung von Staatsstrukturen interessierten, hierbei jedoch die Fragen des Rechts vernachlässigten. 27 Diese Tradition ist von Historikern unter gewandelter Fragestellung weiter fortgeführt worden, 28 während die im engeren Sinne rechtshistorische und deswegen stärker von Juristen betriebene Forschung erst in den 1980/90er Jahren vergleichende Untersuchungen hervorgebracht hat. 29

Deutschland, Belgien, Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien bieten die diversen Beiträge in: Serge Noiret (Hg.), Political Strategies and Electoral Reforms: Origins of Voting Systems in Europe in the 19th and 20th Centuries, Baden-Baden 1990; siehe nunmehr auch: Raffaele Romanelli (Hg.), How did they become voters? The history of franchisein modern European representation, Den Haag 1998. 26 Jürgen Kohl, Zur langfristigen Entwicklung der politischen Partizipation in Westeuropa, in: Büsch/Steinbach (Hg.), Vergleichende europäische Wahlgeschichte, S. 396 f.; Markus Mattmüller, Die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts als gesamteuropäischer Vorgang, in: Beat Junker u. a. (Hg.), Geschichte und politische Wissenschaft. Festschrift f. Erich Gruner, Bern 1975 S. 213-236; Giseta Bock, Frauenwahlrecht - Deutschland um 1900 in vergleichender Perspektive, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt/New York 1999, S. 95-136; dies., Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000, S. 201 ff. 27 Vgl. etwa die entsprechenden Beiträge in: Charles Tilly (Hg.), The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975; Reinhard Bendix (Hg.) State and Society. A Reader in Comparative Political Sociology, Berkeley usw. 21973; vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in: Michael Mann, Geschichte der Macht, Bd. 3,1: Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt/New York 1998, s. 295 ff., 323 ff. 28 Rolf Torstendahl, Bureaucratization in Northwestern Europe, 1880-1985: Dornination and Governance, London/New York 1991 ; siehe auch die entsprechenden Beiträge in: ders. (Hg.), State Theory and State History, London u.a. 1992; Lutz Raphael, Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2000. 29 Vgl. die Beiträge in: Erk VolkmacHeyen (Hg.), Konfrontation und Assimilation nationalen Verwaltungsrechts in Europa (19./20. Jh.), Baden-Baden 1990 (=Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 2); ders. (Hg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Regime. Europäische Ansichten, Frankfurt/M. 1984.

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Innerhalb der auf der Tagung vorgesehenen Themen ist die vergleichende Forschung zur Geschichte des Sozialstaates sicherlich am stärksten vorangetrieben worden, denn insbesondere seit Beginn der 1980er Jahre sind die verschiedenen Elemente des Wohlfahrtsstaates untersucht worden: hierbei nehmen G. A. Ritter oder J. Alber einen Mehrländervergleich vor, die Analysen von bspw. H.-G. Haupt oder H. Kaelble konzentrieren sich dagegen auf zwei Staaten. 30 Auch die rechtlichen Dimensionen sind Gegenstand von Untersuchungen geworden. 31 Innerhalb der engeren verfassungshistorischen Forschung gibt es zwar wie oben gezeigt wurde - relativ wenige vergleichende Untersuchungen, jedoch verzeichnen die Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte des Rechts gerade in den letzten Jahren einen deutlichen Aufschwung. An dieser Stelle sei beispielhaft nur auf die beiden von R. Schulze und A. Mazzacane herausgegebenen Tagungsbände verwiesen, die sich dem Austausch zwischen der deutschen und italienischen Rechtskultur widmen, oder auf die Veröffentlichungen zur deutsch-englischen Rezeption. 32 Stärker noch als bei innereuropäischen Austauschbeziehungen wird die Frage der Rezeption von Verfassungselementen in anderen Rechtskulturen insbesondere in den Stu30 Einen umfassenden Überblick über die Forschungslage vermittelt: Christoph Conrad, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich: Historische und sozialwissenschaftliche Ansätze, in: H.-G. Haupt/J. Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/New York 1996, S. 155-180; Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 2 1991; Jens Alber, Vorn Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt/M 2 1987; für einen deutsch-französischen Vergleich: Hartmut Kaelble, Nachbarn arn Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 102-138; Heinz-Gerhard Haupt, Bemerkungen zum Vergleich staatlicher Sozialpolitik in Deutschland und Frankreich (1880--1920), in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 299-310. 31 Erk Volkrnar Beyen (Hg.), Bürokratisierung und Professionalisierung der Sozialpolitik in Buropa (1870--1918), Baden-Baden 1993 (= Jaltrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte 5); Peter A. Köhler/Hans F. Zacher (Hg.), Ein Jaltrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, Berlin 1981. 32 Reiner Schulze (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jaltrhunderts, Berlin 1990; Aldo Mazzacane/~einer Schulze (Hg.), Die deutsche und italienische Rechtskultur im ,,zeitalter der Vergleichung", Berlin 1995; Wolfgang Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vorn englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748-1914. Berlin 1995; Mathias Reirnann (Hg.), The Reception of Continental Ideas in the Cornrnon Law World, 1820--1920, Berlin 1993; Hans-Christof Kraus, Die deutsche Rezeption und Darstellung der englischen Verfassung im neunzehnten Jahrhundert, in: R. Muhs u. a. (Hg.), Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jaltrhundert, Bodenheim 1998, S. 89-126; für Nachweise zu weiteren europäischen Ländern s. M. Kirsch, Monarch und Parlament, S. 17 ff.

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dien zur Entwicklung des osmanisch-türkischen und auch japanischen Rechts beachtet. Gerade in jüngster Zeit sind zu dieser Problematik wichtige Analysen neu erschienen. 33 Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es zwar zu einzelnen Themen des vorliegenden Sammelbandes wichtige vergleichende oder rezeptionsgeschichtliche Forschung gibt, jedoch das zentrale Thema, nämlich die Situation des Verfassungsstaates in Europa um 1900, bislang noch nicht hinreichend untersucht worden ist. Angesichts des Forschungsstandes kann es bei den nachfolgenden Beiträgen nicht darum gehen, die bisherigen nationalen Einzelforschungen bereits zu europäischen Synthesen zusammenzuziehen, vielmehr konnten nur zu unterschiedlichen Problemfeldern vergleichend oder rezeptionsgeschichtlich angelegte Analysen präsentiert werden. Dementsprechend sollte die wechselseitige Durchdringung von Verfassungsstaat und Massengesellschaft in den Staaten Europas unter drei verschiedenen Gesichtspunkten untersucht werden: - erstens hinsichtlich der Entstehung eines politischen Massenmarktes im Rahmen des Konstitutionalismus, wobei das Wechselverhältnis von Verfassung, Wahlrecht, Parteien und Öffentlichkeit im Vordergrund stand; - zweitens unter dem Blickwinkel, wie gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen, die mit den Instrumentarien allein des Verfassungsrechts nicht greifbar waren, die Suche nach anderen rechtlichen Lösungen verursachten bzw. das Rechtsdenken im allgemeinen beeinflussten; - drittens schließlich in der Perspektive des Vergleichs und der Rezeption von Verfassungselementen innerhalb Europas, aber auch durch Rechtskulturen mit deutlich anderen Traditionen; denn in der Geschichte des Konstitutionalismus spielte die nachahmende oder aber auch ablehnende Orientierung an ausländischen Modellen eine wichtige Rolle. Die politische Kultur des Konstitutionalismus steht im ersten Abschnitt im Vordergrund, weil sich durch die immer stärkere Einbeziehung größerer Bevölkerungskreise mit Hilfe des Wahlrechts die Handlungsbedingungen der Politik im Rahmen der Verfassung grundlegend wandelten. Es bedurfte 33 Zu Japan: Paul-Christian Schenk, Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens. Deutsche Rechtsberater im Japan der Meiji-Zeit, Stuttgart 1997; Bernd Martiii (Hg.), Japans Weg in die Moderne. Ein Sonderweg nach deutschem Vorbild?, Frankfurt/New York 1987; ders., Japan and Germany in the Modern World, Providence/Oxford 1995; zum Osmanischen Reich/Türkei: Christian Rumpf, Die "Europäisierung" der türkischen Verfassung, in: Heinrich Scholler/Silvia Teilenbach (Hg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, Baden-Baden 1996, S. 51-84; Gülnihal Bozkurt, Bati Hukukunun Türkiye' deki Benimsenmesi, Ankara 1996; dies., AlmanIngiliz belgelerinin ve siyasi gelismelerin isigi altinda gayrimüslim Osmanli vantandaslarinin kukuki durumu (1839-1914), Istanbul 1989.

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einer stärkeren Vermittlung zwischen Wählermassen und dem weit entfernten Zentrum der politischen Macht mit Hilfe von Parteien, die entsprechend eine bedeutendere Stellung innerhalb des Regierungssystems erlangten. 34 Aber wie kamen hierbei das "moderne" Recht und die "traditionellen" Mechanismen der politischen Kultur (z.B. der Klientelismus) bei den Wahlen miteinander in Einklang?35 Gleichzeitig meldeten sich auch bislang von der Mitbestimmung ausgeschlossene gesellschaftliche Gruppen und forderten teils mit, teils ohne Erfolg das Recht zur politischen Partizipation ein?6 Zudem wuchs der nationalen Öffentlichkeit eine immer größere Bedeutung zu - entwickelte sie sich allmählich zur "vierten Gewalt" im Rahmen der Verfassung?37 Oder sollte man vielleicht besser sagen zu einer "dritten"? denn eine politikbestimmende Verfassungsgerichtsbarkeit bildete sich am Ende des 19. Jhs. nur langsam aus. Formelle, nämlich durch ein prozessuales Verfahren gesteuerte Lösungen von Verfassungskonflikten blieben damit in Europa um 1900 noch die Ausnahme. 38 Eine wichtige Rolle spielten in dieser Zeit der Hochblüte des Nationalismus auch das Nations- und Staatsverständnis: Dies lässt sich etwa an dem Umgang multinationaler Reiche mit dem Problem der Einbeziehung breiterer Bevölkerungskreise in den 34 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Dominic Lieven Constitutional Democracy, Elites and Empires: A Comparative View, S. 37-44, Martin Kirsch, Verfassungsrechtlicher Rahmen und politische Praxis - Parlamentarisierung und Parteiensystem Frankreichs im europäischen Vergleich, S. 45-70, Paolo Pombeni, Politische Repräsentation und Konstitutionalismus in europäischer Perspektive, S. 71-84, Raffaella Gherardi, Für eine Disziplinierung der Demokratie. Europäische Verfassungsmodelle und der "Mittelweg" des liberalen Italiens, S. 85-102, Monica Cioli, Der deutsche und der italienische Liberalismus: zwei Bilder im Vergleich, S. 103-122, Robert v. Friedeburg, Verfassungsstaat - Massendemokratie - Adel: Strategien des englischen und deutschen Konservativismus im Vergleich, S. 123-143. 35 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Markus Schacht, Wahlen zwischen Recht und Beeinflussung: Zur Wahlkultur in Italien um die Jahrhundertwende im Vergleich mit Preußen, S. 197-221 und Maria Serena Piretti, The problern of electoral fidding and bribery in ltaly and Prussia until the First World War, S. 223-229. 36 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Birgitta Bader-Zaar, Frauenwahlrechtsbewegungen und Verfassungsstaat Deutschland, Großbritannien und Österreich im Vergleich, 1866-1914, S. 231-253 und Brigitte Mazohl-Wallnig, Frauenwahlrecht im Spannungsfeld von öffentlichem Recht und Privatrecht- Perspektiven und Probleme eines Vergleichs zwischen Deutschland, Österreich und Großbritannien. S. 255- 276. 37 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Jörg Requate, Politischer Massenmarkt und nationale Öffentlichkeiten - die Entstehung einer "Vierten Gewalt"? Deutschland, England und Frankreich im Vergleich, S. 145-168, Alexander Schmidt-Gernig, Die Presse als "vierte Gewalt"? - Politischer Skandal und die Macht der Öffentlichkeit um 1900 in Deutschland, Frankreich und den USA, S. 169-193. 38 Vgl. die Beiträge in diesem Band von Jörg Luther, Vorstufen europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit um 1900, S. 279- 305 und M. Kirsch, Verfassungsrechtlicher Rahmen, S. 52-61.

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politischen Willensbildungsprozess ablesen, aber auch die Ausgestaltung der Gleichheitsrechte ist hierfür ein Gradmesser, denn es hing u. a. auch von der Definition des Staatsbürgers ab, wer in der Gesellschaft über Rechte verfügte und wer davon ausgeschlossen blieb.39 Mit dieser Fragestellung ist bereits der zweite Zugriff angesprochen, denn dieser verschiebt die Perspektive hin zu den rechtlichen Reaktionen des Staates auf gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen und seiner dabei einhergehenden Veränderung. Die Ansprüche nach stärkerer sozialer Partizipation und Berücksichtigung eigener Interessen von Seiten der Arbeiterschaft wurden je nach Land mit Hilfe des Zivilrechts in Form des Arbeitsrechts40 oder des öffentlichen Rechts berücksichtigt, wenn wie etwa in Deutschland die Probleme einer Sozialversicherung durch den Staat geregelt wurden. Hierbei rangen die Sozial- und Rechtswissenschaftler darum, wie die Rechte des arbeitenden Individuums gegenüber der Gesellschaft denn zu legitimieren seien. In der langfristigen Perspektive handelte es sich bei diesen diskutierten Lösungsansätzen möglicherweise um einen Rückgriff auf die dem 18. Jh. entstammende Idee des Gemeinwohls.41 Aber nicht nur die Sozialgesetzgebung, sondern auch die staatliche Regulierung der Wirtschaft waren Teil der anwachsenden Staatsaufgaben, die einerseits zu einer zunehmenden Bürokratisierung, andererseits zur Weiterentwicklung des Verwaltungsrechts führte. Dies warf zugleich die Frage auf, wie diese gewachsene Staatsmacht jenseits des Verfassungsrechts zu kontrollieren sei - hierauf bot die Diskussion um die Selbstverwaltung eine etwaige Antwort.42 Gleichzeitig setzte sich mit dem Positivismus auch im Bereich des Rechts eine neue Form des wissenschaftlichen Denkens durch, die aber die historische Bezugnahme in der Staatsrechtslehre nicht vollkommen verdrängen konnte. 43 Die dritte Herangehensweise ist vornehmlich eine methodi39 Vgl. die Beiträge in diesem Band von D. Lieven, Constitutional Democracy, S. 37-44 und Dieter Gosewinkel, Gleichheitsrechte und Nation. Der deutsche Konstitutionalismus im Zeichen des ethnischen Nationalismus, S. 365-373. 40 Vgl. den Beitrag in diesem Band von Margarete Grandner, Aspekte der Gleichbehandlung in der Entwicklung des Arbeitsrechts in Österreich und der Schweiz, S. 375-390. 41 Vgl. die Beiträge von Maurizio Ricciardi, Bürgerschaftsrecht des arbeitenden Individuums? Die Legitimation der Gesellschaft im deutschen sozialwissenschaftliehen Diskurs in Auseinandersetzung mit dem "englischen Modell", S. 391-406 und Pierangelo Schiera Gemeinwohl im Konstitutionalismus? Überlegungen zu Deutschland und Italien in diesem Band, S. 407-421. 42 Vgl. den Beitrag in diesem Band von Hans Boldt, Selbstverwaltung als Alternative? Zur Frage der Organisation des Verfassungsstaates im Zeitalter der Massengesellschaft, S. 339-361. 43 Vgl. den Beitrag in diesem Band von Anne G. Kosfeld, Genossenschaft, Gemeindegedanke und Verfassungsstaat Historische Reflexion und moderne Gesellschaft bei Maitland und Gierke- ein deutsch-englischer Vergleich, S. 307-337.

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sehe, die weiter unten noch näher erläutert werden soll. In inhaltlicher Hinsicht geht es dabei um das Problem, ob sich für die einzelnen Teilbereiche der hier aufgeworfenen Frage des Wechselverhältnisses von Konstitutionalismus und Massengesellschaft, wie z. B. Wahlrecht, Öffentlichkeit, Sozialgesetzgebung, gemeineuropäische Entwicklungsmuster erkennen lassen oder es hingegen zu spezifischen nationalen "Lösungen" kam, die sich in anderen Staaten nicht wiederfanden. Welche Rolle spielte hierbei die Rezeption als Teil der Transfergeschichte zwischen den einzelnen Staaten Europas? ID. Aspekte des Transfers und europäischer Gemeinsamkeiten Im Bereich der auf der Tagung behandelten Verfassungsproblematik konnten zwei Arten des Transfers unterschieden werden: 1. die ganz konkrete Rezeption von Rechtsnormen und 2. die Übernahme oder auch nur die Auseinandersetzung mit Ideen aus anderen Ländern. Zu dem ersten Komplex gehörte etwa die Rezeption der schweizerischen Arbeitsschutzregeln in Österreich, das Wechselverhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Föderalismus, das seinen Weg aus den USA über die Faulskirehe nach Österreich fand, oder auch die Regeln der Ministeranklage, die von der dänischen aus der norwegischen Konstitution übernommen wurden, in den jeweiligen Verfassungskonflikten um die Parlamentarisierung aber zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führten. 44 Es ließ sich aber auch der umgekehrte Fall berichten, dass trotz differierender rechtlicher Rahmenbedingungen der Transfer von erfolgreichen politischen Organisations- und Strategiemöglichkeiten - in der Frauenbewegung - zu ähnlichen Entwicklungsmustern führen konnte. Damit bewegen wir uns bereits im Bereich des Ideentransfers, der sich z. B. darin zeigte, wie das wissenschaftliche Konzept des Rechtspositivismus sich vor dem Hintergrund der Nationalitätenproblematik in Deutschland und Österreich unterschiedlich entwickelte oder wie die italienischen Liberalen versuchten, in der Auseinandersetzung mit dem englischen, französischen und deutschen Modell zu einer eigenen Konzeption zu finden - ob es sich etwa im letzten Fall um den Prozess einer nationalen Ausdifferenzierung oder aber um eine Europäisierung liberaler Politikvorstellungen handelte, bedarf vermutlich noch weiterer Diskussionen. Bei der Auseinandersetzung mit der Situation in anderen Ländern wurde häufig nur derjenige Ausschnitt als Fremdbild rezipiert, der für die eigene Diskussion für wichtig gehalten wurde, so dass etwa das "englische Modell" vielerlei Funktionen übernehmen konnte. 45 44 Aspekte dieser Problematik in den Beiträgen von M. Grandner, Aspekte der Gleichbehandlung, S. 384 ff., J. Luther, Vorstufen europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit um 1900, S. 279-305 und M. Kirsch, Verfassungsrechtlicher Rahmen, S. 56-

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Schließlich trat das Problem der Rezeption mit dem Blick anderer Rechtskulturen auf Buropa im dritten Tagungsabschnitt nochmals ausdrücklich in den Vordergrund. So lässt sich zeigen, wie etwa die osmanische Konstitution von 1876 vom belgiseben und maßgeblich vom preußischen Vorbild geprägt war, denn das letztere sicherte besser den Einfluss des Sultans auf die Politik. Die Stellung des Monarchen insbesondere im Hinblick auf das Militär war auch für die japanischen Verfassungsgeber von 1889 ein wichtiger Grund, warum man sich ebenfalls am preußischen Modell orientierte. In beiden Reichen erfolgte die Modernisierung des Staates aus der Defensive und sollte die Unabhängigkeit der entstehenden Nation stärken und traf dementsprechend auf Ablehnung der imperialistischen europäischen Mächte. Der Einfluss der Großmächte war im Osmanischen Reich aber sicherlich nur einer von mehreren Gründen, weshalb die erste konstitutionelle Phase bereits 1879 zu Ende ging, denn es gab auch erheblichen Widerstand gegen das Parlament von Seiten der Bürokratie, der um ihre Steuervorteile bangenden Bankiers und der Koranschulanhänger. Das große Problem der osmanischen Gesellschaft, die konkurrierenden Rechtssysteme in eine staatliche Rechts(einheit) umzuformen, sollte erst nach dem Ersten Weltkrieg durch die strikte Laizisierung des Staates und damit die Herausnahme des islamischen Rechts aus diesem Bereich gelingen.46 Ob die verfassungshistorische "Wahlverwandschaft" zwischen (Preußen-)Deutschland und Japan maßgeblich zu der Annäherung der beiden Länder in den 1930er Jahren beitrug, darf indessen bezweifelt werden, bildeten doch verfassungshistorisch gesehen die Jahre 1918 und 1933 in Deutschland im Vergleich zum Kaiserreich einen deutlichen Bruch. Inwiefern lassen sich nun für die einzelnen Teilbereiche des Wechselverhältnisses von Konstitutionalismus und Massengesellschaft (z. B. Wahlrecht, Öffentlichkeit etc.) "gemeineuropäische" Entwicklungsmuster erkennen, oder kam es eher zu spezifisch nationalen "Lösungen", die sich in anderen Staaten nicht wiederfanden? Die Beiträge in diesem Band versuchen in dreifacher Weise sich dem Problem der "europäischen" Strukturen zu nähern: einerseits durch einen Vergleich Europas mit anderen Teilen der Welt, andererseits mehrerer Einheiten innerhalb Europas und schließlich drittens mit Hilfe der Untersuchung des Transfers zwischen den europäi45 Siehe dazu die Beiträge von B. Bader-Zaar, Frauenwahlrechtsbewegungen und Verfassungsstaat, S. 231- 253, R. Gherardi, Disziplinierung der Demokratie, S. 85102, M. Ricciardi, Bürgerschaftsrecht des arbeitenden Individuums? S. 391-406. 46 Vgl. die Beiträge von Gülnihal Bozkurt, Europäisierung der Verfassung? Das Osmanische Reich zwischen 1876 und jungtürkischer Revolution, S. 425-438, Peter Reine, Das Nebeneinander unterschiedlicher Rechtssysteme im islamischen Recht. Ein Kommentar, S. 439-442, Paul-Christian Schenck, Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens (1878-1895), s. 443-459.

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sehen Staaten. Die erste Vorgehensweise kann im Falle eines Kontrastvergleichs die innereuropäischen Ähnlichkeiten besser erkennbar werden lassen, während der zweite Ansatz- ähnlich wie bei der deutschen, italienischen oder schweizerischen "nationalen" politischen Geschichte vor der Nationalstaatsgründung - aus dem Vergleich der verschiedenen Einzelstaaten gleichsam das "Europäische" herausdestilliert (aus der Perspektive des Zivilisationsvergleichs spricht H. Kaelble in diesem Zusammenhang vom "Außen-" bzw. "Binnenvergleich")47 . Damit ist aber noch nicht die Problematik gelöst, was für ein geographischer und inhaltlicher "Europa-Begriff' für den Vergleich zugrunde gelegt wird, denn an dieser Stelle beginnt die Konstruktion des "Anderen" und "Außereuropäischen". Werden also Japan oder das Osmanische Reich aufgrund des Transfers "europäisch" trotz ihrer kulturellen "Fremdheit" in Sprache, Religion und kollektiven Wertorientierungen, da sie nun in der Verfassungsstruktur einen hohen Grad an Verwandtschaft mit westlichen Ländern aufweisen?48 Der inhaltliche Europabegriff ist insofern nicht von dem geographischen trennbar und kann zudem je nach betrachteter Sachfrage wechseln, was an den nachfolgenden auf der Tagung vorgestellten Beispielen verdeutlicht werden kann. Hinsichtlich des Wechselverhältnisses von Regierung und Parlament war der monarchische Typ des Konstitutionalismus um 1900 der in Europa dominierende, gleichzeitig gewann die parlamentarische Variante an Boden, während die amerikanische Form des Präsidialsystems in den europäischen Ländern keine Verbreitung fand - aber die Rezeption des erstgenannten Typus des Verfassungsstaates in Japan, dem Osmanischen Reich und Russland wies gleichzeitig bereits über den geographischen Raum Europas hinaus, ohne dass sich dabei eine große Veränderung des inhaltlichen Konzepts des Konstitutionalismus vollzog. Rückt hingegen der Bereich der Öffentlichkeit und die Entstehung einer vierten Gewalt in den Vordergrund, so zeigten sich große Ähnlichkeiten zwischen Großbritannien und den USA, während Kontinentaleuropa eine davon unterschiedene Einheit bildete. Auch bei dem Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit zeigte sich innerhalb Europas eine Zweiteilung, denn in der Mehrheit der europäischen Länder bildete sich aufgrund der dualistischen Verfassungsstruktur eine derartige Justiz im 19. Jh. nicht aus, während in Staaten mit föderaler Tradition und 47 Hartmut Kaelble, Der historische Zivilisationsvergleich, in: ders./Jürgen Schriewer (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt/New York 1999, S. 29- 52, hier 46 ff.; Jürgen Kocka, Probleme einer europäischen Geschichte in komparativer Absicht, in: ders., Geschichte und Aufklärung. Aufsätze, Göttingen 1989 S. 21 ff. 48 Allgemein zu dieser Problematik: Jürgen Osterhammel, Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft, in: H.-G. Haupt/J. Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/New York 1996, S. 274 ff. 3 Kirsch

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einer damit verbundenen gebrochenen Souveränitätsvorstellung diese Institution in gewandelter Weise erhalten blieb - gleichzeitig konnte in diesem Zusammenhang an den amerikanischen Fall angeknüpft werden. Das Wechselverhältnis von inhaltlichem und geographischem Europabegriff gilt selbstverständlich auch für die zentrale Analyseeinheit "Konstitutionalismus", denn je nach deren sachlicher Konzeption wird man diese oder jene Länder als "europäisch" bezeichnen. Gerade die Einbeziehung des Transfers in den Vergleichsansatz zeigt also, wie schwierig es sein kann, das "Europäische" zu bestimmen. IV. Zusammenfassung

Das zentrale Ziel der Tagung - erste Elemente der europäischen Zusammenhänge des Konstitutionalismus um 1900 herauszuarbeiten und nicht die bislang zumeist üblichen nationalstaatliehen Perspektiven zu untersuchen konnte in dreifacher Weise erreicht werden. Angesichts des bisherigen Forschungsstandes standen hierbei erstens transnationale Vergleiche im Vordergrund, die insgesamt einen sehr großen Teil der Länder Europas (geographisch betrachtet von Großbritannien über Deutschland bis Russland bzw. von Skandinavien über Österreich-Ungarn und die Schweiz bis Italien) abdeckten. Die europäische Dimension ergab sich zweitens aber auch aus der Berücksichtigung des Transfers zwischen den Staaten, der in etwa der Hälfte der Vorträge in den Vordergrund rückte. Als besonders fruchtbar erwies sich hierbei der Blick von "außen" auf Europa durch die Einbeziehung der Entwicklungen im Osmanischen Reich und in Japan, die aufgrund der starken Rezeption zugleich das Konzept des "Europäischen" infrage stellten, insofern Europa nicht allein geographisch definiert werden sollte. Schließlich ließ sich drittens die gemeineuropäische Perspektive immerhin bei der Typisierung der Regierungsformen des Konstitutionalismus umsetzen. Eng mit dem letztgenannten Punkt war ein weiteres wichtiges Ergebnis der Tagung: Die vielen Diskussionen um die inhaltliche Dimension des Begriffs "Konstitutionalismus" führten zu einer wichtigen Differenzierung desselben, indem nunmehr eine formell- von einer materiellrechtlichen Seite unterschieden werden sollte. Je nachdem welchen der beiden Aspekte dieser zentralen Analyseeinheit der Tagung man betont, kommt man auch zu einer unterschiedlichen Einschätzung des Wechselverhältnisses von gesellschaftlichem Verhalten und Konstitutionalismus zur Zeit der entstehenden Massengesellschaft, denn formellrechtlich war sicherlich in vielen Ländern ein Steuerungsverlust zu beobachten, während sich materiellrechtlich der Verfassungsstaat den neuen sozialen Gegebenheiten nicht nur anzupassen wusste, sondern diesen teilweise auch aktiv gestaltete.

I. Konstitutionalismus und politischer Massenmarkt: Verfassung, Parteien, Öffentlichkeit

Constitutional Democracy, Elitesand Empires: A Comparative View Von Dominic Lieven At the turn of the twentieth century Britain, Austria and Russia all faced the difficult task of reconciling an increasingly literate, urban and demanding mass population to the existing political order. Simultaneously all three states faced the acute challenge of preserving their power and security in an imperialist age where weak powers often went to the wall. In 1900 empires with extensive territories, populations and raw materials were seen as essential to any state with pretensions to survive as a truly great power. Almost inevitably, however, extensive territory and population ensured that a great power would also be a multi-national polity, and therefore vulnerable to the challenge of nationalism. For the rulers of the British, Austrian and Russian empires the questions of democratisation, nationa1ism and power were tightly linked. The aim of this paper is to illustrate this link and to show its connection too to constitutional development in all three polities. Historically there was a sharp difference between the constitutional traditions of Britain and the Habsburg Iands on the one band, and Russia on the other. In many ways feudalism and its absence was the key to this difference. England, Austria and Hungary had deep-rooted feudal traditions: Russia did not. From the feudal era came a variety of autonomaus corporate and representative institutions which were the ancestors of modern parliaments. It is true that in the Austrian and Czech Iands these institutions were much weakened by the growth of the centralised bureaucratic state in the eighteenth century. But they were never destroyed and by the second half of the nineteenth century bad regained much of their significance. In Britain and Hungary feudal representative institutions survived the attacks of royal absolutism better than almost anywhere eise in Europe. Parliaments, civil rights and the ancient charters which embodied them became key elements in the national identity and the pride of the British and Hungarian elites. In the Hungarian case the elite's nationalist legitimacy was enhanced by its defence of historic Magyar independence and liberties against the encroachments of Habsburg absolutism, particularly in the 1848 revolution and the two subsequent decades.

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In tbe Englisb case the Whig story of a free, Protestant people's defeat of Stuart absolutism became one of tbe key myths on whicb Englisb and subsequently Britisb identity was built. Tbe story stressed that the free institutions created in the seventeenth century were the essential basis for England's rise to world power and leadersbip. Britain's wealth and power inevitably legitimised the polity and its institutions. In addition, key instruments of that power, both naval and financial, were inherently linked to the consolidation of constitutional liberalism. The rieb would lend mucb more money at mucb lower interest to a parliamentary state wbicb they controlled than to an absolute monarcb. Tbis was crucial to Britain's defeat of France in the competition for empire between 1688 and 1815. Meanwhile naval power used to win domination of world trade belped to legitimise an aristocratic polity in middle class eyes. The civil rigbts and political participation guaranteed to Britisb and Magyar elites (botb old and new) belped greatly to secure their loyalty to the two polities. On the otber band, Britain by 1900 bad gone far further than Hungary towards integrating tbe mass of the male population into political life. In tbe Hungarian case determination to preserve Magyar domination and tbe great estates of the Magyar nobility against socialism and non-Magyar nationalism resulted in tbe exclusion of tbe great majority of the population from the vote and tbe frequent infringement of tbeir civil rigbts. Nevertheless, liberal Hungary was in important respects a very different polity to absolutist Russia in 1900, not least perbaps in its success in integrating social elites into tbe polity and winning their allegiance. In Russia by contrast, the absence of a feudal tradition and of tbe parliamentary institutions whicb sprang from it contributed to the alienation of social elites from tbe tsarist state by 1900. Traditionally the tsarist polity rested on an alliance between absolute monarcb and the noble landowning dass. On this alliance was built wbat proved to be one of the most successful expansionist states in bistory. Success legitimised the polity and brougbt buge rewards to both the monarcbs and tbe aristocratic farnilies wbich dominated the court and administration for centuries. In the nineteenth century, however, tsarist Russia became increasingly backward and unsuccessful in comparison to its great power rivals. The demands of great-power competition forced the tsarist state to modernise Russia's society and economy, which also strained the traditional alliance between crown and landed nobility. In addition, as Russian elites became ever more European in culture and values, they learned to crave the rights and freedoms enjoyed by their European peers. The most important strain in nineteenth-century conservative political thought, slavophilism, stressed that the bureaucratic state was alien to the Russian land and its interests. In part this was a nativist response to

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a Westernising and modernising regime but it also reflected the fact that the dynastic state was not controlled by Russia's social elites. In both political and cultural terms this was in many ways a struggle between court and country, reminiscent for instance of conflicts between the Stuart Frenchified court and an indignant Protestant gentry in seventeenth-century England. Though the regime and slavophilism grew closer in tsarism's last decades, the fact that right down to 1917 the Russian political nation did not control the dynastic state helped to breed distrust and alienation. This helps to explain the paranoia about "dark forces" and pro-German court influences which helped to undermine the Russian war effort and de-legitimise the monarchy during the First World War. It is quite true that in tsarism's last two centuries the possibility of liberal constitutional evolution grew. Above all this was due to the Westernisation of Russian elites. In more concrete terms it was linked to the consolidation of property rights, the growth of a middle class and the creation from the reign of Alexander II (1855-1881) of a range of autonomaus legal, cultural and local self-government institutions. By 1900 most educated Russians not merely wanted the emergence of a liberal constitutional political order but believed in its probability in the near future.

The most obvious obstacle to constitutional liberalism was the tsarist regime itself, whose last two rulers opposed it in the name of national tradition and the supposed union of patemalist tsar and the loyal Orthodox masses. But there were also major socio-economic obstacles to the triumph of liberal constitutionalism in Russia. In some ways these were problems typical of peripheral "second-world" Europe, where private property and the social order were much less secure than in the continent' s richer and more developed core. It makes far more sense to compare Russia to Spain or Italy than to Britain or Germany, though in 1900 liberal and constitutional politics bad much deeper roots in these Mediterranean countries than in the tsarist empire. Nevertheless, subsequently in the twentieth century liberal constitutionalism was to collapse in both Italy and Spain, to be replaced by some version of right-wing authoritarianism. In both cases the key reason for this development was that the countries' elites believed that their property and interests, the social order and (in Spain) the territorial integrity of the realm were threatened by the invasion of the political arena by mass politics and the extreme socialist parties it spawned. Spain's fate in the twentieth century is in many ways the best mirror to hold up against Russia. lt too faced the challenge of minority nationalism (Catalan and Basque), of extreme socialist parties in the cities and of a major anarcho-socialist threat to the existence of the landowning class in southern Spain. Forty years of Franeoist rule greatly reduced the dangers of democratic politics to Spanish elites above all by modernising and enrich-

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ing the economy and society. In many ways Franeo achieved what Stolypin and Witte tried to do. Neither of these late tsarist statesmen believed that truly democratic politics was safe in Russia until socio-economic development bad created a richer society and a large middle dass with a commitment to property and to the existing social order. Stolypin's enemies on the right believed that even the semi-constitutional regime which he supported was undermining the authoritarian police state on which the tsarist social order depended for its survival. Because this state deprived the elites themselves and the middle classes of civil and political rights it forfeited much support even from groups it was designed to protect. Unlike in the Spain of the 1930s these groups bad not yet experienced the disadvantages of democratic and constitutional politics, nor bad they been terrified by the spectre of Bolshevik revolution. Nevertheless the case of conservative opponents of Stolypin who argued for the maintenance of the authoritarian police state certainly made more convincing by comparisons with Spain. Tsarist Russia before 1914 was considerably more vulnerable to social revolution than Spain. The key factors in the Spanish right' s victory in the 1930s - a politically sophisticated and powerful Catholic church, the conservative smallholding peasantry of northem Spain, and the professional Iong-service cadres of the colonial army - bad no equivalent in tsarist Russia. In 1900 all empires, the British, Russian and Austrian ones included, faced a similar basic dilemma: how in the era of nationalism and mass politics to legitimise a polity ruling the vast territories and multi-ethnic population which were essential to a great power' s military and economic might. In principle there were a number of possible answers to this dilemma. One could attempt, as the Soviet Union did, to create some new supra-ethnic identity and ideology with which to combat nationalism. The Ottoman sultan Abdul Hamid II attempted to use an old supra-ethnic faith, namely Islam, to bind together the Muslim peoples of bis empire. Alternatively one could try to consolidate as large as possible a core of the imperial population into a genuine nation. This was the aim of magyarisation and russification, and it was also the goal of British adherents of "empire federalism", who sought to create a Greater Britain by uniting the White colonies through common political institutions and through the consolidation of a common British identity. Consolidating a core nation could be attempted by policies of varying degrees of unpleasantness ranging from peaceful, voluntary assimilation at one extreme to genocide of inconvenient minorities at the other. The most interesting response to the dilemmas of empire was in many ways that of Habsburg Austria. By 1914 the Austrian half of the Dual Monarchy (i. e. Cisleithenia) was moving towards a multi-ethnic federation. lt

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was pioneering many of the ideas and arrangements by which multi-ethnicity is managed in contemporary democracies. These included maximum de-centralisation and autonomaus control by ethnic communities over cultural and educational matters, guaranteed quotas for minorities in local government and bureaucracy, policy-making on sensitive issues (e. g. language) by inter-cornmunal agreement not majority vote, and the protection affered to citizens against discrimination by genuinely impartial judicial bodies operating in a polity which adhered strictly to the rule of law. In these respects Habsburg Austria was vastly superior not just to Hungary and Russia, but also to the White colanies of the British empire and the United States, where the civil, property and political rights of non-Whites were routinely and grossly abused. In Habsburg Austria any equivalent to Russian-style pogroms or American racialist lynch mobs was inconceivable. Before 1914 the constant open disputes between the various Habsburg nationalities and the seeming paralysis of the central government convinced many observers that the empire was moribund. In retrospect matters Iook rather different. The policies and ideologies by which nations were legitirnised and created at that time stick in the contemporary gullet. By contrast, we are accustomed to the cacophony of democratic multi-culturalism. We have also seen the many, awful consequences of the Habsburg empire's collapse. In 1914 there was actually very little chance of the empire's disintegration for internal reasons or as a result of nationalist revolt. The empire's main problern was that at a time of ferocious military and political rivalry between the great powers it was unable to mobilise its potential resources for war. Unlike its rivals it could not use nationalism to sustain big defence budgets in peace-time or a conscript army's morale under the strain of prolonged total war. In a curious way an empire which appeared archaic in 1914 now in some respects Iooks more modern than its rivals. It was the Habsburgs' misfortune not to have survived into an era where economic prosperity generated by a single all-imperial market and multi-culturalism guaranteed by the rule of law were properly appreciated, and mass conscript armies bad become redundant. Of the three empires covered by this paper, it was undoubtedly the British one that seemed most modern, most democratic and most powerful to contemporary observers in 1900. Democratisation represented a big threat to the British empire's power and integrity, however. The rule of monarchs, aristocracies or mandarin elites over alien peoples can be legitimised by the same doctrines that sustain their right to govern their own kith and kin. A sovereign democratic people is barder pressed in the long run to justify its rule over other peoples, unless it adopts doctrines which stress the ineradicable superiority of some races over others. In more immediate terms a de-

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mocracy would be forced to divert resources from defence and capital formation to the welfare of the masses. This became a major source of conflict and worry in British domestic politics between the extension of the franchise to much of the male working class in 1885 and the outbreak of the First World War. Nor could the British mass electorate be persuaded of the need for conscription or protective imperial tariffs, which much of the Conservative Party elite was coming to see as essential to the empire's survival by 1914. The onset of democracy also had major implications for the preservation of political stability and British rule in lreland. The main support for the Union came from the Protestant landowning and professional elites whose position democracy undermined. In the century before 1914 Westminster made a range of concessions designed to buy the acquiescence of the Catholic church, middle class and peasantry to the Union. By 1914 this policy had been relatively successful and it was by no means clear that democracy was incompatible with the Union's survival. Democracy encouraged, however, the mobilisation of both religious communities in Ireland along sectarian lines and against each other. At certain times, and most crucially between 1911 and 1914, it gave the Irish nationalist party at Westminster the power to sustain or overthrow British govemments. The price of Irish support for the pre-war Liberal govemment was intemal autonomy (Horne Rule) for Ireland. In principle this was by no means necessarily a threat to the Union. If Horne Rule was to happen, it was, however, very much in Britain's imperial interests that the Ulster Protestants should be part of an autonomous Ireland, in which they would represent a permanent check and threat of secession to any Catholic and nationalist administration which attempted to weaken the link with London. Partly because it was operating in a democracy, however, the British govemment was unable to control or manipulate either the Irish Protestants or the Catholics, and was itself undermined by the tactics of the British Conservative Party opposition. By contrast, Francis Joseph was free to make his deal with the Hungarian elites in 1867, to ignore Czech opposition and to abandon the German minority in Hungary. He did so in large part because he believed that the compromise was essential to create domestic political stability and thereby clear the way for a renewed challenge to Prussian domination of Germany. Peoples could be sacrificed to the needs of empire without qualms or opposition precisely because the Emperor' s subjects at that time could not articulate or defend their own identities and interests in ways that democracy encouraged. The arrival of democracy in the White colonies also had major implications for the empire's future. Colonial self-govemment, confined wholly or almost wholly to Whites, was the worst possible scenario for indigenous

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native peoples, whose rights and whose land were far safer under the rule of bureaucrats appointed by London. Responsible, autonomous govemment in the White colonies originated in the mid-nineteenth century and was a consequence partly of major constitutional change in Britain itself after the 1832 Reform Act. As a consequence of electoral reform the British govemment ceased in anything but formal terms to be responsible to the monarch. The party which possessed a majority in the legislature automatically provided the cabinet. In parallel to this the govemor in a British colony became a constitutional figurehead with real power to form a govemment passing to the Ieaders of the majority party. When this development occurred, the creation of any form of imperial federation seemed inconceivable and unnecessary. Britain was at the peak of its power and, given communications and transport technology at the time, bringing colonial delegates together in a federal parliament was barely possible. By 1900 a Britain which faced major challenges to its global position bad much more need of colonial support and the steamship and telegraph made federation more conceivable. By then, however, colonial self-govemment and the creation of separate political identities bad many decades behind them. Handing over power to an imperial parliament was not something that colonial politicians were much inclined to do or colonial electorates to tolerate. It is the case that mere distance from Britain, emigration itself and the different colonial frontier environment all helped to breed distinct colonial identities. So too, and more crucially, did constitutional forms. A comparison with the Russian frontier underlines this point. The cultural and political distance between free-wheeling Cossack communities of runaway serfs and the aristocratic and dynastic tsarist polity of the seventeenth and eighteenth centuries was at least as wide as the gulf between London and the American colonies. The same was true of the Russian settlements in Siberia, where in fact significant autonomist movements did develop in the second half of the nineteenth century. Had Cossack or Siberian communities been allowed to preserve genuinely autonomous elected govemments and develop a separate political identity they might have gone the way of Britain's colonies. The tsarist govemment did not rely on mere geographical contiguity to ensure that this did not happen. Instead it resolutely undermined all autonomous institutions and used its authoritarian power to shape Cossack identity in ways acceptable to the consolidation of an all-Russian identity and imperial loyalty. The contrasting British and Russian policies on their colonial frontier is part of a basic difference between the two polities' traditions. Usually in Russia everything was sacrificed to the cause of military and geopolitical power. In twentieth-century Britain on the other band the interests of democracy did on the whole take precedence over those of empire and power.

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To some extent it is only fair to add that Russia's relative poverty and backwardness, together with the geopolitical challenges she faced, forced her rulers to put a high priority on military power. Interestingly, however, in the end both the tsarist and the Soviet empires were to be brought down less by the revolt of the non-Russians than by the refusal of the core Russian population to continue to pay the price of empire. This was evident both in the revolt of Russian peasants, soldiers and workers in 1917 against the sacrifices demanded by the First World War and by Russia's role in undermining the Soviet Union in 1990-91. In general for the Russian people the price of empire included not just the diversion of a vast percentage of Russian resources to the demands of great-power competition but also the maintenance of a ruthless authoritarian regime willing and able to squeeze these resources out of the Russian population.

Sources Firstly a word of thanks to Professor G. Stourzh both for sending me an exceptionally interesting article written by hirnself and for initially stimulating some of the ideas contained in this essay. It is pointless for me to attempt to provide footnotes for so short but so wide-ranging a summary. Readers interested in pursuing the ideas I outline in my paper and their sources should consult, firstly, my book, Empire: The Russian Empire and its Rivals, which was published by John Murray, London, in September 2000. This Iooks, for instance, at the link between democratisation and empire. As regards the implications of democratisation for traditional European social elites, see my Aristocracy in Europe, Macmillan, London, 1992, which is also available in German translation as Abschied von Macht und Würden. Specifically on the dilemmas of constitutionalism and the preservation of the existing regime and social order in Russia, see either my Russia's Rufers under the Old Regime, Yale U.P., London, 1988 or Nicholas li, John Murray, London, 1993. The latter in particular makes explicit and more detailed comparisons with Spain. All these books have many pages of bibliography and footnotes. Empire also contains a long bibliographical essay.

Verfassungsrechtlicher Rahmen und politische Praxis Parlamentarisierung und Parteiensystem Frankreichs im europäischen Vergleich Von Martin Kirsch I. Fragestellung und Probleme des Vergleichs Die Zeit zwischen etwa 1870 und dem Ende des Ersten Weltkriegs war für viele europäische Staaten dadurch gekennzeichnet, dass je nach Land um die Parlamentarisierung oder die Demokratisierung des konstitutionellen Systems heftig gerungen wurde. Frankreich war hierbei das erste europäische Land - sicherlich erst nach einer 80-90-jährigen Phase der raschen Regimewechsel mit insgesamt 12 verschiedenen Konstitutionen -, welches das parlamentarische System zugleich mit dem allgemeinen Männerwahlrecht verband. Insofern bietet sich im Folgenden Frankreich als Ausgangspunkt für den Vergleich an, ohne dass hierbei der französische Weg zum "Normalfall" deklariert werden sollte - der eigentliche Maßstab ist also letztlich das parlamentarisch-demokratische Regierungssystem innerhalb des Konstitutionalismus. Nach einigen einleitenden Überlegungen zu den Vorbedingungen des Vergleichs soll in einem zweiten Teil den Bedingungen des Übergangs vom monarchischen zum parlamentarischen Konstitutionalismus nachgegangen werden und welche Rolle hierbei das verfassungsrechtliche Normengefüge spielte. Hierbei gilt die Aufmerksamkeit zunächst dem merkwürdigen Schwebezustand der Verfassung und sodann der politischen Krise von 1877 in Frankreich, die mit den in zeitlicher Nähe liegenden Verfassungskonflikten und -krisen anderer Länder (Preußen, Norwegen, Dänemark) verglichen werden soll. Verfassungskonflikte bieten sich deshalb als Vergleichszugang an, weil in ihnen das für den monarchischen Konstitutionalismus typische dualistische Zusammenspiel von Monarch und Parlament am stärksten in Frage gestellt wurde. In einem dritten Abschnitt steht hingegen stärker die Problematik der Demokratisierung und damit die Rolle des Parteiensystems (insbesondere die Stellung der Liberalen) unter den Bedingungen des allgemeinen Männerwahlrechts im Vordergrund. In einem vierten und letzten Teil schließlich soll kurz auf die Konsequenzen dieser veränderten politischen Handlungsbedingungen auf die verschiedenen Formen des Konstitutionalismus eingegangen werden.

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In den meisten Studien von Historikern sind Vergleiche zwischen zwei oder mehr Ländern auf die Herausarbeitung von Kontrasten angelegt - in diesem Fall soll jedoch versucht werden, vornehmlich den Gemeinsamkeiten zwischen den Herrschaftsstrukturen Frankreichs und anderen Vergleichsfallen nachzugehen, ohne hierbei die Unterschiede der französischen Situation zu den anderen Beispielen auszublenden. Der Focus auf die "Gemeinsamkeiten" innerhalb dieses Vergleichs zielt bewusst auf etwaige "europäische" Strukturen. Die Beachtung von Unterschieden Frankreichs mit seinen Nachbarstaaten dient hingegen einerseits der Kontrolle vor einer vorschnellen "europa-euphorischen" Sicht, andererseits erfüllt sie damit gleichzeitig in gewisser Weise auch den Zweck einer Kontrastfolie, die die Ähnlichkeiten zwischen den anderen klarer erscheinen lässt. Es handelt sich also im Folgenden um eine Mischung aus "Kontrast"- und "Gemeinsamkeits"-Vergleich. 1 Die Frage nach Gemeinsamkeiten zieht umgehend das Problem nach sich, ob die Vergleichsfälle genügend "Gemeinsames" besitzen, was sie "vergleichbar" macht. Da die "Gemeinsamkeiten" für den Vergleich in methodischer Hinsicht mit Hilfe der analytischen Grundbegriffe konstruiert werden, ist es dringend erforderlich, deren Inhaltsbestimmung festzulegen und dabei kritisch zu hinterfragen. Es gilt also den Einstieg in den hermeneutischen Zirkel des Vergleichs vorab offen zu legen. Die zur Beurteilung des Verfassungssystems um 1900 hier zugrunde gelegten analytischen Schlüsselbegriffe sind Konstitutionalismus, Parlamentarismus und parlamentarisch-demokratisches Regierungssystem. Was soll im Folgenden unter diesen Stichwörtern verstanden werden? Der hier verwendete weite Begriffsinhalt des Konstitutionalismus sieht einen Verfassungsstaat dadurch gekennzeichnet, dass die politisch Herrschenden in ihrer Macht durch (geschriebenes) Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Hiermit wird stärker an den englischen, französischen oder auch italienischen Sprachgebrauch angeknüpft und damit die sprachliche Engfassung innerhalb der deutschen verfassungshistorischen Forschung vermieden, denn die letztere möchte ganz überwiegend nur das konstitutionelle Königtum des 19. Jahrhunderts als Konstitutionalismus verstanden wissen. Hierbei kann wie oben bereits näher ausgeführt - 2 der Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Regierungsform in eine monarchische, eine parlamentarische, eine präsidiale und eine direktoriale Variante unterschieden werden. Der monarchische Konstitutionalismus besaß in allen seinen drei Erscheinungsformen3 eine dualistische Struktur; je nach Erscheinungs1 Zu diesen methodischen Unterschieden vgl. jetzt grundlegend: Hartmut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1999, S. 22 ff. 2 Martin Kirsch/Anne G. Kosfeld/Pierangelo Schiera, Fragen und Probleme des Konstitutionalismus in Europa um 1900, in diesem Band, S. 16 f.

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form bestand ein rechtlicher und machtpolitischer Dualismus zwischen Monarch und Parlament zumindest im Bereich der Legislative oder (auch nur) der Exekutive. Im Unterschied zum Parlamentarismus - hier als parlamentarische Form des Konstitutionalismus bezeichnet -, wo allein der Mehrheitswillen der Volksvertretung über Richtung und Geschick von Exekutive und Legislative entscheidet, besaß der König innerhalb der Erscheinungsform des monarchischen Konstitutionalismus mit dominierendem Parlament noch einen größeren politischen Einfluss, indem etwa die Regierung eines "doppelten Vertrauens" - nämlich sowohl das des Königs als auch das des Parlaments - bedurfte. Im parlamentarischen System konnte der Monarch also nicht mehr aus eigener Kraft eine komplette Regierung, die das Vertrauen des Parlaments besaß, abberufen bzw. sich weigern, diese zu ernennen. Der Widerstand des Königs gegen einzelne Personen innerhalb einer Regierung, der bis zur Abberufung bzw. Nicht-Ernennung reichte, konnte dagegen auch im parlamentarischen System vorkommen, denn die politische Ausrichtung einer Regierung insgesamt war so nicht mehr zu beeinflussen.4 Als parlamentarisch-demokratisches System wird in diesem Text eine Verfassung dann bezeichnet, wenn der Parlamentarismus mit einem demokratischen Wahlrecht kombiniert wird. Demokratisch bedeutet für das 19. Jh. ein nicht beschränktes und nicht unterschiedlich gewichtetes, also ein allgemeines und gleiches Männerwahlrecht. Da sich bis zum Beginn des 20. Jhs. weder das Prinzip der geheimen Wahl noch die Einbeziehung der Frauen in die Wählerschaft durchgesetzt hatten, werden diese beiden Faktoren hier nicht herangezogen, obgleich sie aus der Perspektive der heutigen Zeit unbestritten mit dem Erfordernis des "demokratischen Prinzips" verbunden sind. 5

3 Innerhalb des monarchischen Typs des Konstitutionalismus können in Hinblick auf Verfassungsstruktur in Norm und Anwendung drei Erscheinungsformen unterschieden werden: und zwar der Verfassungsstaat l. mit machtpolitischem Vorrang des Monarchen, 2. mit faktischer Dominanz des Parlaments und 3. mit bonapartistischer Prägung. 4 Ausführlicher zu dieser Problematik: Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jh. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer VerfassungstypFrankreich im Vergleich, Göttingen 1999, S. 54 ff., 171 ff. 5 Zum Frauenwahlrecht: Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2000, S. 201-215; sowie die Beiträge von Birgitta Bader-Zaar, Frauenwahlrechtsbewegungen und Verfassungsstaat Deutschland, Großbritannien und Österreich im Vergleich, 1866-1914, und Brigitte Mazohl-Wallnig, Frauenwahlrecht im Spannungsfeld von öffentlichem Recht und Privatrecht - Perspektiven und Probleme eines Vergleichs zwischen Deutschland, Österreich und Großbritannien, beidein diesem Band, S. 231-253 bzw. 255-276.

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II. Verfassungsrecht und Parlamentarisierung am Beispiel von Verfassungskonflikten im Vergleich 1. Die Parlamentarisierung Frankreichs zwischen 1870 und 1877

Wie kam es in Frankreich zur endgültigen Durchsetzung des parlamentarischen Systems, nachdem das allgemeine Männerwahlrecht bereits seit 1848 zum festen Bestandteil des öffentlichen Rechts und der politischen Kultur Frankreichs geworden war? Im Gefolge der Niederlage von Sedan wurde von Paris aus am 04. September 1870 die (Dritte) Republik ausgerufen und damit das Zweite Kaiserreich beendet. Aber die Weichenstellung, welcher Regierungs- und Staatsform tatsächlich die Zukunft gehören würde, war damit noch nicht entschieden: Republik oder Monarchie, monarchischer, parlamentarischer oder präsidialer Konstitutionalismus, beinahe alle Varianten einer Verfassung, die Frankreich seit 1789 erprobt hatte, schienen möglich. Schließlich sollten aber mehr als vier Jahre bis zum Erlass einer neuen Verfassung vergehen, um deren faktische Anwendung zudem im Verlaufe des Jahres 1877 ein kurzer, aber brisanter Verfassungskonflikt entbrennen sollte. Der Wille der Republikaner, den Krieg gegen Deutschland weiterzuführen, erwies sich nicht nur in militärischer, sondern auch in innenpolitischer Hinsicht als Fehlschlag. Denn der allergrößte Teil der Bevölkerung war kriegsmüde, so dass bei der nach dem allgemeinen Männerwahlrecht durchgeführten Wahl zur Nationalversammlung vom Februar 1871 die Monarchisten einen erdrutschartigen Sieg davontrugen (von 657 Abgeordneten konnten 415 den Konservativen zugerechnet werden). Worauf beruhte dieser Erfolg? Als wahlentscheidend erwies sich das Verhalten der bäuerlich und kleinbürgerlich geprägten französischen Provinz, die sich in ihrem Wunsch nach einer Beendigung der militärischen Kämpfe und in ihrer Angst vor einem revolutionären Paris nicht den Republikanern, aber auch nicht den durch die militärische Niederlage bloßgestellten Bonapartisten zuwandte, sondern ihre Hoffnung auf die lokalen Notablen, den Klerus und das obere Bürgertum richtete. Bereits nach fünf Monaten war so die Dritte Republik eine "Republik ohne Republikaner", deren "Republikanisierung" sich als mühsam und langwierig erweisen sollte.6 6 Jean-Marie Mayeur, Les debuts de la Troisieme Republique 1871-1898, Paris 1973, S. 10, 13 f.; Rudolf v. Albertini, Frankreich: Die Dritte Republik bis zum Ende des I. Weltkriegs (1870-1918), in: Theodor Schieder (Hg.) Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 6, Stuttgart 1968, S. 232 f.; Pau1 Isoart, Le gouvernement provisoire (1870-1873) ou comrnent acclimater Ia Republique, in: ders. u. a. (Hg.), Des Republiques fran~aises, Paris 1988, S. 203 ff.; Martin Kirsch, Die Republikanisierung einer Nation. Frankreich im Übergang zum 20. Jahrhundert (1879/80-1914),

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Die Wiedereinführung der Monarchie schien bei derartigen Mehrheitsverhältnissen im Parlament eigentlich nur eine Frage der Zeit - aber aufgrund einer Erblast aus der ersten Hälfte des 19. Jhs. erhielt die Republik eine neuerliche Chance, denn die in Legitimisten und Orleanisten gespaltenen Monarchisten stritten sich, wer der beiden möglichen Thronprätendenten den Vorrang haben solle. Als dann der Comte de Chambord, der legitimistische Thronkandidat, auf den man sich geeinigt hatte, seinen an sich möglichen Regierungsantritt mit der selbst bei den Orleanisten nicht durchsetzbaren Forderung nach Wiedereinführung des bourbonischen Lilienbanners verband, löste sich die Hoffnung der Monarchisten auf eine sofortige Restauration im Juli 1871 in Luft auf. Stattdessen unterwarfen sie den provisorischen Staatschef Adolphe Thiers mit dem "loi Rivet" vom August 1871 einer parlamentarischen Kontrolle: Um die Einführung einer dualistisch strukturierten konstitutionellen Monarchie noch zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen, führten die Monarchisten das parlamentarische Prinzip ein, weil sie der Ansicht waren, den republikanischen Präsidenten in dieser Weise lenken zu können. In der Verfassungspraxis richtete sich Thiers bei der Auswahl seiner Minister aber nach eigenen Interessen und nicht notwendigerweise nach den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen. Die Entscheidung über die zukünftige Staatsform Monarchie oder Republik blieb in der Schwebe - Morabito hat diesen Zustand treffend als "neutralisation" der Republik bezeichnet.7 Die Bedingungen für eine Beibehaltung der Republik hatten sich aber zwischenzeitlich verbessert. Die Niederschlagung der revolutionär-republikanischen Pariser Commune im Mai 1871 führte zu einem Stimmungsumschwung innerhalb der französischen Bevölkerung gegenüber der Republik, denn sie verwandelte sich damit von einem Symbol der Revolution zu einer Staatsform, die fähig war, sowohl Freiheit und Gleichheit als auch die bisherige Eigentumsordnung zu garantieren. Dieser Symbolwandel der Republik ließ sich an den Nachwahlen zwischen Juli 1871 Februar 1875 ablesen, als die Republikaner 146 von 178 Sitzen für sich entscheiden konnten. 8 Die zunehmende Verringerung der Mehrheit auf der parlamentarischen Rechten und gleichzeitig die vermehrte Unzuverlässigkeit der extremen in: Otto Büsch/Artbur Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Harnburg 1995, S. 99. 7 Marcel Morabito/Daniel Bourmaud, Histoire constitutionnelle et politique de Ia France (1789-1958), Paris 3 1993, S. 287 f.; Maurice Deslandres, Histoire constitutionnelle de Ia France de 1789 a 1870, Bd. 3, Paris 1937, S. 91 ff. 8 Roger Magraw, France 1815-1914. The Bourgeois Century, London 3 1992, S. 212 f.; Michael Erbe, Die Verfassungsentwicklung in Frankreich seit 1789, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 30-31/87 (25.07.1987), S. 29; Jean-Marie Mayeur, La vie politique sous Ia troisieme Republique, 1870-1940, Paris 1984, S. 33 f. 4 Kirsch

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Rechten bei Abstimmungen führten zu einer Zusammenarbeit des Orleanistischen "centre droit" mit dem republikanischen "centre gauche" bei der Ausarbeitung einer Verfassung. Die erstmals in der französischen Verfassungsgeschichte seit 1789 nicht in einer einheitlichen Konstitution, sondern stattdessen in drei einzelnen Gesetzen verabschiedete Verfassung von 1875 spiegelt deutlich den Kompromiss zwischen den beiden parlamentarischen Gruppierungen wider: Sie legten statt der monarchischen zwar die republikanische Staatsform mit nur einer Stimme Mehrheit (353 zu 352) fest, indem beinahe beiläufig im Text vom "President de Ia Republique" gesprochen wurde. Doch betrachtet man die Strukturen der Institutionen genauer, so entwickelten die drei Gesetze ein noch von der Orleanistischen Gedankenwelt der 1830er Jahre bestimmtes, dualistisches Verfassungssystem: Das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament sollte mit Hilfe eines ZweiKammer-Systems ausbalanciert werden, und der republikanische Präsident nahm gleichsam die Stellung des Königs in einer konstitutionellen Monarchie ein, womit er zum "monarque sans l'heridite" wurde, wie Rene Remond in Anlehnung bei Louis Blanc treffend formuliert hat. 9 Das amerikanische Beispiel einer Präsidialrepublik spielte eine geringe Rolle - sieht man einmal von der beiden Systemen innewohnenden dualistischen Struktur ab, die sich verfassungshistorisch aus der republikanischen Verwandlung der britischen Verfassungsverhältnisse durch die amerikanischen Verfassungsväter nach 1776 erklären lässt. Der US-amerikanische Text wurde in Frankreich 1875 zwar diskutiert, indem ihn Laboulaye (1869 Mitbegründer der "Societe de legislation comparee") in seinem Bericht für die Verfassungskommission vorstellte, doch nach den französischen Erfahrungen von 1848/51, wo man schon einmal stark auf ihn zurückgegriffen hatte, wurde er bei der Gestaltung des Verfassungstextes derartig verändert, dass er mit der Verfassungssituation in den USA nur noch wenig Übereinstimmung besaß. So wurde der Präsident nicht direkt durch das Volk, sondern durch das Parlament gewählt. Auch von einer Übernahme des präsidialen Vetos, welches in den USA nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit des Kongresses überstimmt werden konnte, sahen die französischen Verfassungsgeber ab. 10 9 Maurice Duverger, Le systeme politique fran~ais. Droit constitutionnel et systemes politiques, Paris 19 1986 S. 122 f.; J.-M. Mayeur, La vie politique, S. 56 ff.; Serge Berstein, Les institutions republicaines au debut du XXe siede, in: ders. u. a. (Hg.), Le modele republicain, Paris 1992, S. 147 f.; M. Morabito/D. Bourmaud, Histoire constitutionnelle, S. 293 ff.; Rene Remond, La vie politique en France depuis 1789, Bd. 2, Paris 2 1969, S. 317 ff.; Dorninique Lejeune, La France des debuts de la Ille Republique, 1870-1896, Paris 1994, S. 43 ff. 10 Andre Mathiot, Les apports du droit compare au droit constitutionnel fran~ais de 1870 a 1940, in: Livre du centenaire de la Societe de 1egislation comparee. Un siede de droit compare en France (1869-1969): Les apports du droit compare au droit positif fran~ais, Paris 1969, S. 167 f.; den starken amerikanischen Einfluss betont dagegen: Odile Rudelle, De Jules Ferry a Raymond Poincare, ou l'echec du

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Der "Ersatz"-König im präsidialen Gewande verfügte aber über "Prärogativen", die die meisten Monarchen anderer europäischer Länder auch für sich in Anspruch nehmen konnten: die Gesetzesinitiative, das Auflösungsrecht für die Deputiertenkammer, den Oberbefehl über das Heer und das Ernennungs- und Entlassungsrecht für die Minister und alle anderen zivilen und militärischen Amtsträger. Er war - ähnlich wie der Monarch in der Verfassung von 1791 -in politischer Hinsicht unverantwortlich, und nur für den Fall des Hochverrats sah die Verfassung eine strafrechtliche Verantwortung vor. Die Texte von 1875 11 wiesen aber insofern über die Charte von 1830 hinaus und unterschieden sich auch hier deutlich vom Beispiel der USA, dass nunmehr die politische Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament ausdrücklich festgelegt wurde (Art. 6 d. G. v. 25.02. 1875). Auf der anderen Seite blieb es aber wie in der Zeit des Julikönigtums bei einer "doppelten Verantwortlichkeit" der Minister gegenüber Parlament und Staatschef. Die Kreierung einer derartigen "konstitutionellen Monarchie im Wartestand" sollte nach der Vorstellung der traditionellen politischen Kräfte Frankreichs deren bisherige Herrschaftspositionen weiterhin sichern. Der Präsident hätte in einem Revisionsverfahren, dessen Initiative gemäß dem Text der Verfassung (Art. 8 d.G. v. 25.02.1875) in dieser Zeit wohlweislich nur dem für sieben Jahre gewählten Monarchisten Mac Mahon zustand, bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen in den Kammern durch den Orleanistischen Thronanwärter, den Comte de Paris, als konstitutionellen König ersetzt werden können; was zudem nicht vollkommen unwahrscheinlich erschien, hatte sich doch der kinderlos gebliebene Comte de Chambord mit dem Comte de Paris ausgesöhnt und ihn zum legitimen Nachfolger erklärt- der erstere starb jedoch erst 1883 ... 12 Der Kampf um die Interpretation und damit um die diskursive Deutungsmacht der Verfassungsgesetze entwickelte sich zwischen der aufgrund von Nachwahlen seit 1876 mehrheitlich republikanisch ausgerichteten Deputiertenkammer und dem monarchistischen Ersatz-König im Mai 1877. Hierbei stand die Frage der alleinigen parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung im Mittelpunkt, womit zugleich die Beseitigung der letzten Relikte des monarchischen Konstitutionalismus auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Ganz wie in Großbritannien im Jahre 1835 und 1841 kämpften die französischen Kontrahenten um den Grundsatz, ob der politisch nicht verconstitutionnalisme republicain, in: S. Herstein u. a. (Hg.), Le modele republicain, s. 106. 11 Die Texte der drei Verfassungsgesetze v. 24.02., 25.02. und 16.07.1875 in französischem Original und deutscher Übersetzung bei: Günther Franz (Hg.), Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, Darmstadt 3 1975, S. 396-409. 12 Charles Bloch, Die Dritte Französische Republik. Entwicklung und Kampf einer Parlamentarischen Demokratie (1870-1940), Stuttgart 1972, S. 39 f., 44. 4•

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antwortliehe "Monarch" eine vom parlamentarischen Vertrauen getragene Regierung entlassen dürfe, um auf diesem Wege eine allein sein Vertrauen besitzende Minderheitsregierung zu bestellen. Als 363 Deputierte gegen die Ablösung des von der Kammermehrheit getragenen Ministeriums Sirnon durch die konservativ-monarchistisch ausgerichtete Kampfregierung de Broglie öffentlich protestierten, löste Mac Mahon daraufbin die widerspenstige Kammer auf. 13 Im Vorfeld der Wahlen setzte die neue Regierung ganz auf das seit dem Zweiten Kaiserreich so häufig eingesetzte Mittel, den Verwaltungsapparat zu Wahlkampfzwecken gefügig zu machen, indem massiv in dessen personelle Zusammensetzung eingegriffen wurde: So löste sie mehr als zwei Drittel der Präfekten und 1743 Bürgermeister ab und versetzte 140 Präfekte und Unterpräfekte sowie 373 Richter und leitende Beamte. Trotz dieses Vorgehens der Minderheitsregierung behaupteten die Republikaner ihre deutliche Mehrheit bei geringen Verlusten mit 323 gegen 208 Sitze, denn ihre Taktik ging auf, sich als die wahren Konservativen auszugeben und die Schuld an der politischen Krise der Regierung zuzuschieben - schließlich profitierten sie auch von den kulturkämpferischen Tönen, die kurz zuvor auch in der Schweiz die Liberalen begünstigt hatten. 14 Die in der frühen Staatstheorie als Mittel zur Lösung von Problemen gepriesene Auflösung der Kammer brachte keine Bewegung in die konstitutionalistische Blockade, denn nach diesem Abstimmungsergebnis standen sich das republikanisch bestimmte Parlament und der monarchistische "ErsatzKönig" weiterhin unversöhnlich gegenüber. Diese Verhärtung der Machtfronten in einem dualistisch strukturierten Verfassungssystem erinnerte in gewisser Weise an die Konstellation im preußischen (1862-66), dänischen (1884-94) oder norwegischen (1874-1884) Verfassungskonflikt 2. Veifassungskonflikte und ihre Bedeutung für die Parlamentarisierung

In Preußen 1862, aber auch in Dänemark 1872/84 (in früheren Zeiten auch in Frankreich 1830 und in gewisser Weise in Piemont 1849) stand 13 M. Morabito/D. Bourmaud, Histoire constitutionnelle, S. 304 f.; J.-M. Mayeur, La vie politique, S. 62 ff.; Jean-Yves Mollier/Jocelyne George, La plus longue des n!publiques 1870-1940, Paris 1994, S. 82 ff. 14 J.-M. Mayeur, ebd., S. 64 ff.; 0. Rudelle, La Republique, S. 56; zur Bedeutung des Laizismus und Antiklerikalismus als republikanischer Ideologie: Mona Ozouf, L'ecole, l'eglise et Ia Republique. 1871-1914, Paris 1982, S. 115 ff.; Gerard Cholvy/Yves-Marie Hilaire, Histoire religieuse de Ia France contemporaine, Bd. 2, Toulouse 2 1989, S. 123 ff.; Jean-Pierre Azema/Michel Winock, "Naissance et mort ...". La Ille Republique (1870-1940), Paris 1970, S. 144 f., 163 f.; M. Kirsch, Die Republikanisierung, S. 111 ff., 116 ff.

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eine starke oppositionelle Parlamentsmehrheit einer allein vom Vertrauen des Königs getragenen Kampfregierung gegenüber, denn der Monarch verfügte aufgrund des Verfassungstextes über den politischen Vorrang im Verfassungssystem, insbesondere über das Recht zur Einsetzung und Abberufung der Regierung. Auf die anhaltende Oppositionshaltung reagierte der Monarch in allen Fällen mit der Auflösung der Kammer, die nach den Wahlen aber (anfangs) keine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten erbrachte. Die verfassungsstrukturellen Ausgangsbedingungen in Frankreich unterschieden sich insoweit von denjenigen in Preußen und Dänemark, als der König in den beiden letzteren Ländern innerhalb des monarchischen Konstitutionalismus noch über eine politische Vormachtstellung verfügte, während Mac Mahon nur die zunehmend vage Hoffnung auf eine konstitutionelle Monarchie verkörperte, die zudem wie nach 1830 den politischen Vorrang des Parlaments vorsah. Der nötige Machtverlust des Staatschefs, der Frankreich noch vom parlamentarischen System trennte, war also bedeutend kleiner, als er in Preußen oder Dänemark gewesen wäre. Insofern ähnelte der französische Fall von 1877 stärker der britischen Situation von 1835 oder auch der norwegischen von 1884. Strukturen der Verfassung werden jedoch auch von Individuen ausgefüllt, die sich in ihrer Persönlichkeit in den hier betrachteten Ländern deutlich unterschieden, denn dem Duc de Broglie lag es ferne, die Rolle eines Bismarcks oder Estrups in einem nervenaufreibenden Kampf zu übernehmen, sondern er trat vielmehr im November zurück. Auch der Nachfolgeregierung Rochebouet gelang es nicht, eine Zusammenarbeit mit dem Parlament wiederherzustellen. Schließlich gab Mac Mahon seinen Widerstand im Dezember auf, nachdem die Deputierten mit der Nichtverabschiedung des Budgets gedroht hatten. Er versuchte also nicht einmal, eine "Lückentheorie" zu entwickeln oder wie später in Dänemark mit Hilfe von finanziellen Notverordnungen zu regieren - stattdessen ernannte er das allein nach dem Mehrheitswillen der Deputiertenkammer ausgewählte Kabinett. Er vervollständigte den Sieg der Kammer, indem er erklärte, zukünftig auf sein Auflösungsrecht als Politikinstrument gegen das Parlament zu verzichten, und betonte, fortan die Regeln des parlamentarischen Systems beachten zu wollen. Der Sieg des Parlaments in der Verfassungskrise besaß aber auch eine soziale Dimension: Die Weigerung der konservativen adlig-großbürgerlichen Notablen, die "nouvelles couches sociales" in dem inneren Zirkel der Macht zuzulassen, schlug fehl. Wie bereits bei den Beratungen um die Verfassungsgesetze von 1875 deutlich geworden war, etablierte sich nunmehr unter der Leitung von Ferry und Gambetta die neue republikanische Führungsschicht, welche in wichtigen Teilen dem mittleren und teilweise auch dem Kleinbürgertum entstammte. Während die großbürgerlichen Kreise ihren Frieden mit der Republik schlossen und sich im Verlaufe der Dritten Republik auf beinahe alle politischen Par-

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teiungen verteilten, erlebte der Adel aufgrund seines fortdauernden Antirepublikanismus den Verlust seiner letzten bedeutenderen politischen Macht, über die er bis dahin trotz der vielen Revolutionen noch verfügt hatte - nur in Teilen der Verwaltung, Armee und Diplomatie behauptete er auch nach 1877 noch eine stärkere Position. 15 Die Festigung des parlamentarischen Systems in Frankreich als Ergebnis der Maikrise von 1877 gelang den (liberalen) Republikanern mit dem Gewinn der beiden anderen Staatsorgane - Senat und Präsidentenamt - im Jahre 1879. Der neue Präsident Jules Grevy erklärte ein weiteres Mal, dass er sein Auflösungsrecht gegen den Willen des Parlaments nicht ausüben wolle - damit wurde die Interpretation des Verfassungstextes von 1875 im Sinne einer Präsidialrepublik zugunsten des parlamentarischen Systems endgültig aufgegeben. Der in den Verfassungsgesetzen vorgesehene präsidiale Typ des Konstitutionalismus, aber auch die eigentlich erwünschte Option für den monarchischen Typ des Konstitutionalismus wurden damit ohne eine ausdrückliche normative Verfassungsänderung beseitigt. Der verfassungsrechtliche Rahmen der Konstitution blieb unverändert, während sich die politische Praxis grundsätzlich gewandelt hatte. In der preußischen Situation von 1862-66 stand sicherlich noch nicht die Einführung des parlamentarischen Systems auf der Tagesordnung. Indem die Mehrheit der Abgeordneten auf der Einhaltung des in der Verfassung festgelegten parlamentarischen Budgetrechts bestanden, zielten sie in längerer Perspektive auf eine Anerkennung ihrer Machtposition innerhalb der Verfassung, dass der Monarch und seine Regierung nicht auf Dauer gegen die Mehrheit im Parlament Politik betreiben können sollte. Damit stand zwar noch nicht die alleinige Abhängigkeit der Regierung von der Kammer auf der Tagesordnung, aber zumindest doch die Herstellung eines "doppelten" - das heißt eines königlichen und eines parlamentarischen - Vertrau15 J.-M. Mayeur, ebd., S. 66 f.; 0. Rudelle, ebd., S. 58 ff.; der Text der Botschaft an die Kammer v. 14.12.1877 in: R. Remond, La vie politique en France, S. 358 f.; Christophe Charle, Histoire sociale de la France au XIXe siede, Paris 1991, S. 230 ff.; Ralph Gibson, The French nobility in the nineteenth century - particulary in the Dordogne, in: Jolyon Howorth u. a. (Hg.), Elites in France: Origins, Reproduction and Power, London 1981, S. 6 f.; Mattei Dogan, Les filieres de la carriere politique en France, in: Revue fran~aise de sociologie 8 (1967), S. 469 f.; Rainer Hudemann, Politische Reform und gesellschaftlicher Status quo. Thesen zum französischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Dieter Langewiesehe (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 339 f.; Hartmut Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 64 ff.; Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt/ M. 1989, S. 207, 211 ff.; ders., Der Adel in derentadelten Gesellschaft: Frankreich seit 1830, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, s. 289 ff.

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ens für die Regierung. Damit strebten die preußischen Liberalen letztlich nach einem Verfassungszustand, wie er in Großbritannien bis 1835, in Frankreich zwischen 1830 und 1848 praktiziert und beinahe zeitgleich in Baden seit 1860 erprobt wurde. Das Balancesystem der konstitutionellen Monarchie sollte zugunsten des Parlaments ausgerichtet werden. 16 Welche gesellschaftlichen Kräfte standen hinter diesen Auseinandersetzungen? Zugespitzt formuliert, versuchte in dieser Situation das gehobene Bürgertum dem preußischen Feudaladel den politischen Führungsanspruch streitig zu machen. Anders als ihre Österreichischen Kollegen um 1900, die nicht vor vehementer Obstruktion zurückschreckten, setzten die Liberalen alles daran, sich ganz im Rahmen der Legalität zu bewegen; dementsprechend arbeiteten sie trotz des Verfassungsbruchs durch die Kampfregierung mit ihr im Bereich der Wirtschafts- und Zollpolitik weiterhin zusammen. Nur allmählich gelang es Bismarck, sich aus der - auch für seine persönliche Stellung - prekären innenpolitischen Pattsituation zu befreien. In finanzieller Hinsicht kam die anhaltende Hochkonjunktur der Regierung zugute, denn so verfügte sie auf der Basis bereits früher genehmigter Steuergesetze über genügend Einnahmen, so dass aus dem fehlenden Budget nicht eine den Staatsbetrieb gefahrdende Finanzkrise erwuchs. Wichtiger für die Auflösung des kräftelähmenden verfassungspolitischen Zustandes war jedoch der Umschwung der öffentlichen Meinung zugunsten der Regierung. Dies gelang Bismarck jedoch nicht auf innenpolitischem Gebiet, sondern erst mit der Mobilisierung nationaler Gefühle im deutsch-dänischen Krieg von 1864. Nicht nur bei den Wählern, sondern auch bei einigen liberalen Politikern eröffnete diese Variante der bismarckschen Machtpolitik einen Weg für eine Annäherung, denn der Traum des Jahres 1848 vom Nationalstaat schien näher zu rücken, so dass in Betracht zu ziehen war, ob das Beharren auf der Idee der Freiheit nicht zugunsten des Wunsches nach Einheit zurückgestellt werden sollte. 17

16 Gerhard A. Ritter, Entwicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus, in: ders., Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus, Göttingen 1976, S. 162 f.; Hans Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, München 1990, S. 112 ff.; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, München 6 1993, S. 764 f. 17 T. Nipperdey, ebd.; Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988, S. 97 ff.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 297 ff.; Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806-1871, München 1995, S. 413 f.; Heinrich August Winkler, 1866 und 1878: Der Liberalismus in der Krise, in: Carola Stern/ders. (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990, Frankfurt/M. 2 1994, S. 45 ff.; Rainer Paetau, Einleitung, in: Die Protokolle des Preußischen Staatsministeriums 1817-1934/38, Bd. 5: 10. November 1858 bis 28. Dezember 1866, Hildesheirn/Zürich/New York 2001, s. 12 ff., 25 f.

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Trotz des Wahlsieges der Konservativen in der national aufgeheizten Stimmung des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 bewahrte der preußische Ministerpräsident den Blick dafür, dass für seine weitere Politik ein Bündnis mit den Nationalliberalen von Vorteil sein könnte. Vor diesem Hintergrund suchte er mit der "Bitte um Indemnität" den innenpolitischen Friedenschluss. Nach einem vierjährigen Verfassungskonflikt kehrten die Beteiligten damit zum für das Funktionieren der Verfassung der konstitutionellen Monarchie notwendigen Kompromiss zurück. Bismarck beugte sich damit zwar der Rechtsauffassung des Parlamentes von 1862, doch fehlte nunmehr die politische Konsequenz aus der Konfliktzeit, denn der politische Vorrang des Königs im monarchischen Konstitutionalismus und damit der vorherige Status quo blieb erhalten. Dieser Kompromiss beruhte nicht nur auf der dualistischen Verfassungsstruktur, sondern war gleichzeitig auch Ausdruck eines - wie Wehler es ausdrückt - "Dualismus der bürgerlich-liberalen und adlig-monarchischen Herrschaftsträger". 18 Wurde also durch dieses Pattergebnis im preußischen Konflikt langfristig die Parlamentarisierung in Deutschland verhindert, indem auch die Verfassung von 1871 dem Parlament noch keinen Vorrang einräumte? Ein Blick auf den dänischen Streit zwischen 1884 und 1894 lässt darüber Zweifel aufkommen. Gemeinsam hatte die dänische Juniverfassung von 1849 mit der preußischen Verfassung von 1848 auch den Rückgriff auf das französischbelgisehe Textvorbild von 1830/31, so dass die Konstitution zwei Wahlkammern vorsah, wobei seit der Verfassungsrevision von 1866 der nach Orten differenzierte komplizierte Wahlmodus für die Erste Kammer (Landsting) dafür sorgte, dass sich hier eine Vertretung der reichen Großgrundbesitzer herauskristallisierte, die damit letztlich eine dem preußischen Herrenhaus vergleichbare Position im Verfassungssystem einnahm. Ansonsten sicherte auch das dänische Grundgesetz den politischen Vorrang des Königs innerhalb der konstitutionellen Mächtebalance. 19 Aufgrund dieser rechts18 Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776--1866, Frankfurt 1988, S. 240; H.-U. Wehler, ebd., S. 299 ff. (Zitat S. 301). 19 Friederike Hagemeyer, Verfassungs- und Gesellschaftskonzepte liberaler Abgeordneter in Preußen und Dänemark um 1848, in: 0 . Büsch/A. Schlegelmilch (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels, passim, insbesondere S. 373 ff. ; Holger Küster, Verfassungspolitischer Immobilismus und gesellschaftliche Veränderung: Dänemarks "friedlicher Wandel" 1866--1915, in: Büsch/Schlegelmilch, ebd., S. 398 f.; C[arl] Goos/Henrik Hansen, Das Staatsrecht des Königreichs Dänemark, Tübingen 1913, S. 51 f., 72 ff., 94 f., der Text der Verfassung in deutscher Übersetzung auf S. 266--273 (Fassung v. 1866, die aber weitgehend der Version von 1849 entsprach); Wemer Kath, Die geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Gestalt des dänischen Regierungssystems. Eine staatsrechtsvergleichende Studie, Bonn 1938, S. 3 f.; Ditlev Tamm, Die dänische Verfassung vom 5. Juni 1849- Entstehung und Auswirkungen, in: Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hg.), Verfassungswandel um 1848 im europäischen Vergleich, Berlin 2001 , S. 209 ff.

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strukturellen Vorgaben besaßen die dänischen Linksliberalen (die "Venstre") nur bei den Wahlen zur Zweiten Kammer (Folketing) die Möglichkeit, einmal die Mehrheit der Abgeordneten zu stellen. Als ihnen das erstmals im Jahre 1872 gelang, versuchten die Politiker der Venstre sofort, daraus verfassungspolitisches Kapital zu schlagen, indem sie offensiv forderten, dass die Regierung nach den Mehrheitsverhältnissen im Folketing zu bilden sei - ein langer Verfassungskampf zeichnete sich ab. Für diesen politischen Führungsanspruch beriefen sich die Liberalen auf § 48 des dänischen Grundgesetzes, der an sich aber nur regelte, dass die Finanzgesetze zuerst dem Folketing vorzulegen seien. Diese Forderung ließ der König aber unbeachtet und ernannte die Minister nach seinem Gutdünken, wobei er sich hierbei mit den konservativen Politikern im Landsting abstimmte. Im Unterschied zu der preußischen Verfassung kannte die dänische Konstitution genauere Regeln zur Anklage der Minister vor dem Reichsgericht, die auf eine Rezeption ähnlicher Bestimmungen in der norwegischen Verfassung von 1814 zurückgingen, so dass im Unterschied zum südlichen Nachbarn an sich ein Konfliktregelungsmechanismus vorhanden war. Jedoch führten die von den Liberalen angestrengten verfassungsgerichtlichen Verfahren in zwei Versuchen 1877 nicht zu dem gewünschten politischen Erfolg, da sich die Richter nicht nur aus Berufsrichtern, sondern auch aus Mitgliedern des indirekt heftig bekämpften Landsting zusammensetzten - wie kaum anders zu erwarten, sprachen diese die wegen Budgetrechtverletzungen angeklagten Minister schon aufgrund ihrer politischen Überzeugungen frei. 20 Trotz eines verfassungsrechtlichen Konfliktregelungsmechanismus ging Dänemark den "preußischen" Weg in einen heftigen Verfassungskonflikt Die zentrale Forderung nach Ernennung einer den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen im Folketing entsprechenden Regierung wurde zudem mit einer Kritik an der Militärpolitik der königlichen Regierung verknüpft, die darauf abzielte, eine große Festungsanlage in der dänischen Hauptstadt zu errichten, um so den negativen Erfahrungen von 1864 Rechnung zu tragen. Im Gegensatz zur französischen Situation von 1877 fand sich in der Person des konservativen Politikers Estrup ein "dänischer Bismarck". Der Nichtverabschiedung des Budgets durch die Zweite Kammer begegnete er mit Hilfe von provisorischen Etatgesetzen, die aufgrund bewusster Verzögerungstaktiken allein vom Landsting genehmigt wurden. Nicht nur für die Verabschiedung der Haushaltsgesetze griff er für insge20 H. Küster, ebd.; S. 399 f., Roar Skovmand/Vagn Dybdahl/Erik Rasmussen, Geschichte Dänemarks 1830-1939. Die Auseinandersetzungen um nationale Einheit, demokratische Freiheit und soziale Gleichheit, Neumünster 1973, S. 235 f.; Tage Kaarsted, Denmark, a limited monarchy, in: Res Publica 1991, S. 41 f.; C. Goos/H. Hansen, ebd., S. 59, 65; zu Elementen einer Verfassungsgerichtsbarkeit in den europäischen Staaten im 19. Jh. vgl. den Beitrag von: Jörg Luther, Vorstufen europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit um 1900, in diesem Band, S. 279-305.

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samt 10 Jahre von 1885 bis 1894 auf den Notverordnungsparagraphen (§ 25) zurück, sondern er nutzte ihn auch dazu, verschiedene Gesetze zu erlassen, die unter anderem die Einschränkung der Pressefreiheit und die Aufstellung einer militärähnlichen Polizeieinheit bestimmten. Ein Sinneswandel setzte bei den Konservativen erst allmählich ein, so dass Estrup auf Betreiben der Gemäßigten in den eigenen Reihen 1894 zurücktreten musste. Damit war der Weg frei für einen dem dualistischen System entsprechenden Ausgleich zwischen den beiden Kammern: Die Liberalen im Folketing akzeptierten den fertiggestellten Festungsbau, erreichten aber im Ausgleich die Verringerung der jährlichen Einberufungen sowie die Abschaffung der bekämpften Polizeieinheit Mit auffallender Ähnlichkeit zum preußischen Beispiel endete der Verfassungskonflikt mit einer Wiederherstellung des vorherigen Status quo - die sich auf den reichen Großgrundbesitz und die Städte stützenden Konservativen verblieben an der Regierungsmacht (der sicherlich nicht zu unterschätzende Unterschied, dass der führende Politiker der Konfliktzeit seinen Hut nehmen musste, sollte dabei natürlich nicht vergessen werden, man male sich nur die Fortentwicklung der preußisch-deutschen Geschichte unter den Voraussetzungen eines Rücktritts Bismarcks im Jahre 1866 aus ... ). 21 Zwar stiegen die preußisch-deutschen Liberalen nach dem Verfassungskonflikt für gut zehn Jahre zur "Quasi-Regierungspartei" auf, doch fiel es ihnen seit der Wende von 1878/79 schwer, unter den neuen politischen Umständen des allgemeinen Männerwahlrechts und damit in Konkurrenz zu anderen Parteien wieder an die Schaltstellen der Macht zurückzukehren. Ihren dänischen Gesinnungsgenossen dagegen gelang es, auch unter den Bedingungen der erweiterten Partizipation ihre breite Verankerung in der bäuerlichen Bevölkerung und damit in der Folge ihre Mehrheit im Folketing zu erhalten. Als wichtiges kulturelles Verbindungselement diente ihnen die auf die Initiative F. S. Grundtvigs zurückgehenden Heimvolkshochschulen sowie die neu gegründeten ländlichen Freischulen. Zudem profitierte dieses liberal-demokratische bäuerliche Milieu von der in den 1880er Jahren aufkommenden Genossenschaftsbewegung, die sowohl die ländlichen Produzenten als auch die Konsumenten erfasste. Diese Massenbasis ermöglichte ihnen den erneuten Wahlsieg von 1901. In dieser Situation entschloss sich der König, das alte in der Konfliktzeit erprobte Machtdreieck Monarch - konservative Regierung - Landsting zu verändern, stattdessen ernannte er erstmals eine Regierung, die vom Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit im Folketing getragen wurde. Die Verteidigung der parlamentarischen Mehrheit durch die Liberalen in der Zweiten Kammer im Zusammenspiel mit dem Wandel der Meinung des Monarchen eröffnete in Dänemark trotz im Ver21 R. Skovmand/V. Dybdahl/E. Rasmussen, ebd., S. 264 ff., 268 ff., 276 f.; C. Goos/H. Hansen, ebd., S. 101 f., 149 f.; H. Küster, ebd., S. 402.

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gleich zu Preußen sehr ähnlicher struktureller Rahmenbedingungen am Ende des Verfassungskonflikts eine konfliktlose Machtverschiebung im Balancesystem der konstitutionellen Monarchie vom politisch starken König zum Vorrang des Parlaments. Auch die Verfassungsstruktur des Deutschen Kaiserreichs verfügte - so kann vorsichtig aus dem Vergleich geschlossen werden - über die Potentialität einer Weiterentwicklung des monarchischen Konstitutionalismus zugunsten des Parlaments, denn auch hier hätte ein Monarch, wie etwa Friedrich III., einen anderen Kurs einschlagen können. Sicherlich war die föderale Struktur einer allmählichen Parlamentarisierung nicht unbedingt förderlich, unterstützte aber andererseits auch das Kompromissdenken, das sich ohne weiteres mit einer Vorstellung eines "doppelten Vertrauens" für die Regierung gut verbinden ließ. Ob sich eine derartige Möglichkeit eher für die Spätzeit des Kaiserreichs abzeichnete, als neben der Stärkung des Reichstages auch die Wiedererlangung einer breiteren parlamentarischen Basis für die Liberalen im Zusammenspiel mit anderen Parteien wieder wahrscheinlicher erschien (man denke etwa an die Stichwahlabsprachen mit der SPD in Baden ab 1905 oder auch an die Zusammenarbeit von Zentrum und Liberalen bei Steuerfragen 1912/13), oder aber eher für die Frühzeit, da die fortschreitende Demokratisierung eine Parlamentarisierung um 1900 immer unwahrscheinlicher machte, ist in der Forschung umstritten. 22 Welche Bedeutung nahm nun in Norwegen der Verfassungskonflikt für die Parlamentarisierung ein und welche Rolle spielte hierbei das bestehende Verfassungsrecht? Der norwegische Fall unterscheidet sich insofern von den anderen drei Fällen, als der schwedische König das Nachbarland nicht direkt, sondern mit Hilfe eines Statthalters regierte, der die königlichen Interessen Schwedens in Norwegen wahrnahm. Diese fehlende direkte Konfrontation mit dem Monarchen erleichterte es Norwegen als einzigem Land Europas, für viele Jahrzehnte auf der Grundlage einer stark vom französi22 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, S. 382 ff., 405 ff.; D. Langewiesche, Liberalismus, S. 174 ff.; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 866-872; H. A. Winkler, 1866 und 1878, S. 55 f., 65 ff.; optimistischer bezüglich des Entwicklungspotentials der Kaiserreichsverfassung: Peter Brandt, War das Deutsche Kaiserreich reformierbar? Parteien, politisches System und Gesellschaftsordnung vor 1914, in: Karsten Rudolph u.a. (Hg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. FS f. Helga Grebing, Essen 1995, S. 203 ff.; Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1996, S. 136 ff.; vermittelnd: Artbur Schle~elrnilch, Konservative Modernisierung in Mitteleuropa. Preußen-Deutschland und Osterreich-Cisleithanien in der "postliberalen Ära" 1878/79 bis 1914, in: 0. Büsch/ders. (Hg.), Wege europäischen Ordnungswandels, 1995, S. 42 ff.; skeptisch: Christoph Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung. Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstages im sich demokratisierenden Kaiserreich, in: HZ 272 (2001), S. 623666.

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sehen Vorbild von 1791 geprägten Konstitution seine Politik zu gestalten, obgleich der König nur über ein suspensives Veto verfügte und auch kein Recht zur Kammerauflösung besaß - in Frankreich ( 1789-92), aber auch in Spanien (1812-14, 1821-23) scheiterten derartige Experimente. Dabei verzichtete der Monarch nicht wie etwa in Frankreich (1830--48) faktisch auf sein Recht, sondern nutzte sein Veto bis zur Trennung Schwedens und Norwegens im Jahre 1905 regelmäßig für die Verschiebung einfacher Gesetze. Anlass für einen grundsätzlichen Streit ergab sich aus einer weiteren Erblast der Rezeption des französischen Textes von 1791, denn auch die norwegische Konstitution hatte die Vorstellung einer strikten Gewaltenteilung übernommen und sah deshalb eine Inkompatibilität von Ministeramt und Abgeordnetenmandat vor. Als das norwegische Parlament nun eine die Kompatibilität erlaubende Verfassungsänderung beschloss, stellte sich die Frage, ob dem König doch jedenfalls hinsichtlich des Textes der Konstitution ein absolutes und nicht nur ein suspensives Veto zustand. Dieser Konflikt sollte sich von 1874 bis 1884 hinziehen. Letztlich konnten sich die von den Liberalen getragene Parlamentsmehrheit durchsetzen, dass der Monarch - wie bei einem suspensiven Veto üblich - nach jeweiliger Zustimmung zu einer Verfassungsänderung durch das Parlament in drei aufeinander folgenden Legislaturperioden (1874, 1877, 1880) seine Sanktion nicht verweigern dürfe. Da dieser aufgrund seiner in der Konstitution verbürgten Unverletzlichkeit nicht vor dem Hochgericht angeklagt werden konnte, ereilte dieses Schicksal seine Minister unter dem Vorwurf, sie hätten den König zur Verweigerung der Sanktion veranlasst und müssten wegen ihrer Gegenzeichnungspflicht nun die Verantwortung dafür übernehmen. Das mit Parlamentariern und Berufsrichtern bestellte Hochgericht bestätigte schließlich 1884 die Auffassung des Parlaments - anders als in Dänemark einige Jahre zuvor waren die im Gericht vertretenen Politiker keine Parteigänger des in diesem Fall schwedischen Monarchen. 23 Dieser Zeitpunkt gilt als Beginn des parlamentarischen Systems, denn da der König seine Minister nach der Verurteilung entlassen musste, kam er nach vergeblichem Bemühen um die Bildung einer Kampfregierung nicht umhin, den Führer der Linkspartei als Vertreter der Parlamentsmehrheit mit der Regierungsbildung zu betrauen. Abgesehen von der kurzen Periode 23 Georg-Christoph v. Unruh, Die Eigenart der Verfassung des Königreichs Norwegen, in: JöR N.F. 38 (1989) S. 280; Raymond Fusilier, Les monarchies parlementaires. Etudes sur les systemes de gouvemement (Suede, Norvege, Danemark, Belgique, Pays-Bas, Luxembourg), Paris 1960, S. 218 f., 273 ff.; Hans-Dietrich Loock, Norwegen, in: ders./Hagen Schulze (Hg.), Parlamentarismus und Demokratie im Europa des 19. Jahrhunderts, München 1982, S. 69 ff., 76 ff.; Klaus v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, München 2 1973, S. 284 ff.; Bredo Morgenstieme, Das Staatsrecht des Königreichs Norwegen, Tübingen 1911, s. 108 ff.

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1893-1895, unterwarf sich der König fortan diesem Prinzip. Dieser Weg Norwegens zum parlamentarischen System blieb innerhalb Europas insofern einzigartig, als in keinem anderen Land die Parlamentarisierung aus einer im monarchischen Konstitutionalismus vorgesehenen juristischen Ministeranklage und damit aus einem verfassungsgerichtlichen Verfahren erwuchs. Dass dies - trotz im Vergleich zu Dänemark bedeutender verfassungsstruktureller Ähnlichkeiten - gelang, hatte zumindest zwei Ursachen: dem norwegischen Monarchen fehlte einerseits das in der dänischen Verfassung verbürgte Recht zur Kammerauflösung, andererseits erhöhte der Wille zu vermehrter nationaler Unabhängigkeit - Norwegen und Schweden waren in Personalunion miteinander verbunden - die Bereitschaft, dem schwedischen König auf diesem Wege eine größere Eigenständigkeit abzuverlangen. Welche allgemeineren Schlussfolgerungen über das Verhältnis von Verfassungskonflikt im monarchischen Konstitutionalismus und den Chancen einer Parlamentarisierung lassen sich nun aus diesen vier Fällen für die europäische Verfassungsgeschichte ziehen? Gegen einen schwachen König in Norwegen oder gar nur einen "Ersatz-Monarchen" wie in Frankreich war eine Parlamentarisierung sicherlich einfacher durchzusetzen. In den verfassungsstrukturellen Konstruktionen mit einem machtvolleren Monarchen, wie in Preußen oder Dänemark, musste aber die Beendigung des Verfassungsstreits mit einer Bestätigung des Status quo des Kräfteverhältnisses zwischen Monarch und Parlament, wie der dänische Fall zeigt, keinesfalls eine weitreichende Vorentscheidung über eine künftige Parlamentarisierung sein, denn ohne die Rolle von Persönlichkeiten in der Geschichte überbewerten zu wollen, konnte doch ein Sinneswandel des Monarchen aufgrund seiner Stellung im dualistischen Verfassungsgefüge zu einer Dynamisierung des Balancesystems führen. Entscheidend für eine erfolgreiche Parlamentarisierung war - so lässt sich aus diesen vier Fällen vorsichtig schließen ein machtvoller Liberalismus, dem es wie in Frankreich nach der W ahlniederlage von 1871 oder in Dänemark 1894 sowie in Norwegen über die Dauer von zehn Jahren gelang, seine Stärke zu erneuern bzw. zu erhalten. Damit sind wir beim dritten Teil angelangt, nämlich dem Parteienwesen unter den Bedingungen einer erweiterten politischen Partizipation. 111. Das Parteienwesen und die erweiterte politische Partizipation Eine generelle Regel, ob für die Durchsetzung des parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaates eine "Demokratisierung ohne volle Parlamentarisierung" (Frankreich, Deutschland; mit gewissen Einschränkungen: Dänemark, Griechenland) oder eine "Parlamentarisierung ohne volle Demokra-

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tisierung" (Großbritannien, Italien, Norwegen u. a.) vorteilhafter war, lässt sich aus der europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht herauslesen. Eher kann eine Aussage über die Stellung der Liberalen in den verschiedenen Ländern getroffen werden, ohne dass man dabei der These von Langewiesehe folgen muss, der die Einzigartigkeit des deutschen Weges in Buropa im Hinblick auf die Schwächung des Liberalismus in der "Demokratisierung ohne volle Parlamentarisierung" sehen möchte, 24 obgleich sowohl die französischen Liberalen25 als auch ihre dänischen Gesinnungsgenossen unter ähnlichen Bedingungen ganz erfolgreich die Parlamentarisierung der Politik betrieben. Trotz schwacher Parteistrukturen übernahmen nämlich die Liberalen in Frankreich- anfangs die Opportunisten, nach der Jahrhundertwende die Radikalen - in sämtlichen Regierungen zwischen Dezember 1877 und August 1914 die politische Führung und wurden damit zur tragenden Stütze der parlamentarisch-demokratischen Republik. Die Liberalen beherrschten um 1900 auch in Italien und in der Schweiz (unter Führung des Freisinns) den politischen Schauplatz, während sie im Deutschen Kaiserreich nach 1878/ 79 ihre Stellung als "Quasi-Regierungspartei" verloren und stattdessen monarchisch-obrigkeitsstaatliche Tradition bewahrende, konservative Parteien regierten, die bei vielen Abstimmungen aber insbesondere auf den politischen Katholizismus angewiesen blieben und zudem vielfach auf die politischen Konstellationen in den deutschen Einzelstaaten Rücksicht nehmen mussten.26 24 Dieter Langewiesche, Liberalismus und Bürgertum in Europa, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3, München 1988, S. 372 f.; Wehler nimmt dieses Argument von Langewiesehe auf und spricht vom "massiven Doppeldruck", dem im "internationalen Vergleich .. . nur der deutsche Liberalismus seit 1867/71" ausgesetzt war; H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 870. 25 Wer zu den französischen Liberalen zählt - also auch möglicherweise die Radikalen/Republikaner - braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden, denn beide setzten sich für die Einführung des parlamentarischen Systems ein; zu dieser Problematik: R. Hudemann, Politische Refonn und gesellschaftlicher Status quo, S. 332 ff., 337 ff.; Arninzade hält das liberale Element innerhalb der radikalen Republikaner im Zweiten Kaiserreich für relativ bedeutend: Ronald Arninzade, Ballotsand Barricades. Class Fonnation and Republican Politics in France, 1830--1871, Princeton 1993, S. 47, 51 f.; in den meisten neuesten Veröffentlichungen wird diese Frage offen gelassen: Philip Nord. The Republican Moment. Struggles for Democracy in Nineteenth-Century France, Cambridge/London 1995; Judith F. Stone, Sons of the Revolution. Radical Democrats in France 1862-1914, Baton Rouge/ London 1996; Daniel Mollenhauer, Auf der Suche nach der "wahren Republik". Die französischen ,,radicaux" in der frühen Dritten Republik (1870--1890), Bonn 1998; zur späteren Zeit vgl. jetzt: Sabine Rudischhauser, Vertrag, Tarif, Gesetz. Der politische Liberalismus und die Anfänge des Arbeitsrechts in Frankreich 1890--1902, Berlin 1999.

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Insbesondere in Frankreich und Italien wirkte der Laizismus und der damit verbundene Kulturkampf stabilisierend auf die politische Position der Liberalen. Gleichzeitig entwickelten sich in beiden Ländern lange Zeit keine Parteien des politischen Katholizismus, die in Konkurrenz zu den Liberalen hätten treten können. In Frankreich lehnte die konservativ-klerikale Opposition die Republik anfangs in ihrer Gänze ab, was natürlich eine Mitarbeit im parlamentarischen System ausschloss. Noch radikaler waren die Ausgangsbedingungen in Italien, wo Papst Pius IX. mit seinem "Non expedit" das politische Engagement der Katholiken auf nationaler Ebene untersagte. Diese fehlende Integration eines politischen Katholizismus sollte sich dann in Italien bei der Wahlrechtsausdehnung kurz vor dem Ersten Weltkrieg aber als bedeutende Schwächung der Liberalen erweisen. Auch in der Schweiz stärkte der Kulturkampf den inneren Zusammenhalt des Freisinns und ermöglichte die Kompromisstindung mit den Kräften der demokratischen Bewegung für die Totalrevision von 1874. Aufgrund der gemischtkonfessionellen Struktur kam es hier aber ähnlich wie in Deutschland oder Holland zur Entstehung einer katholischen Partei. Diese wurde nach anfänglicher radikaler Ausgrenzung schließlich ab 1891 in das Konsensmodell des direktorialen und direktdemokratischen Konstitutionalismus eingebunden. In Deutschland jedoch hatte der Kulturkampf letztlich negative Folgen für die Liberalen, da das Zentrum sich zu einer wichtigen politischen Konkurrenz entwickelte, während die dänischen oder norwegischen Liberalen entweder ohnehin eng mit dem Protestantismus verbunden waren, aber doch jedenfalls aufgrund der anderen konfessionellen Struktur keine katholische Partei zu fürchten brauchten.27 26 Zu Deutschland: Gerhard A. Ritter, Die deutschen Parteien 1830--1914, Göttingen 1985, S. 14 ff., 29 ff., 85 ff., zum Verhältnis von Mehrparteiensystem und "Zweiparteien"-Ordnung: Otto Büsch, Parteien und Wahlen in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg, in: ders., Zur Rezeption und Revision der preußisch-deutschen Geschichte. Ausgewählte sozialhistorische Beiträge, Berlin 1988, S. 173 ff., 210 ff. 27 Hartmut Ullrich, Der italienische Liberalismus von der Nationalstaatsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, in: D. Langewiesehe (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, S. 379 f., 382 f.; Erich Gruner, Schweiz, in: Frank Wende (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Parteien in Europa, Stuttgart 1981 , S. 607 ff.; Peter Stad1er, Der Kulturkampf in der Schweiz. Eidgenossenschaft und Katholische Kirche im europäischen Umkreis 1848- 1888, Frauenfeld/Stuttgart 1984, S. 316 f.; zu Kulturkampf und Liberalismus: D. Langewiesche, Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeptionen und Ergebnisse, in: Ders. (Hg.), Liberalismus, S. 16 f.; KarlEgon Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986, S. 151 ff.; Gregory M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy. Social Classes and the Political Origins of Regimes in Interwar Europe, New York/ Oxford 1991, S. 107 ff.; Eugenio Biagini, The Dilemmas of Liberalism, in: Martin Pugh (Hg.), A Companion to Modem European History 1871-1945, Oxford/Malden 1997, S. 113 ff.; einen Vergleich katholischer Parteien bieten: Jean-Marie Mayeur, Des partis catholiques a Ia democratie chretienne, Paris 1980; Ellen Lovell Evans,

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Die Schwächung des deutschen Liberalismus als Folge einer frühen "Demokratisierung ohne Parlamentarisierung" war also im Vergleich zu Frankreich und Dänemark weniger durch die Verfassungsstruktur als maßgeblich durch die besondere gemischtkonfessionelle Struktur mitbedingt, die zudem nicht wie in der Schweiz aufgrund der direktdemokratischen Elemente zugunsten einer demokratischen politischen Kultur eingebunden werden konnte. In Holland, einem Land mit einer ähnlichen Konfessionsstruktur wie Deutschland, war die Parlamentarisierung bereits weiter fortgeschritten, als sich die katholische Partei auszubilden begann - in Belgien hatte es ohnehin seit der Staatsgründung innerhalb eines zensitären Wahlsystems und eines monarchischen Konstitutionalismus mit starker Stellung des Parlaments eine Konkurrenz zwischen Liberalen und Katholiken gegeben. Die gemischtkonfessionelle Struktur förderte in Deutschland, Holland und der Schweiz gleichzeitig eine politische Kultur des Konsens (unter Ausschluss der Sozialisten), die sich aber als kompatibel mit den unterschiedlichsten Varianten des Verfassungsstaates (monarchischer; parlamentarischer; direktdemokratisch-direktorialer) erwies. Diese der Segmentierung der Gesellschaft Rechnung tragende Konsenskultur förderte - darauf hat schon früh Stein Rokkan verwiesen - nicht eine Parlamentarisierung, die auf klaren Mehrheitsverhältnissen beruhte, sondern mit Hilfe von Proporz (Schweiz) oder Unterstützung von Minderheitsregierungen (Niederlande) gelang es kleineren Parteien, an der Regierungsmacht beteiligt zu werden.28 Hinzu trat zumindest in Preußen eine frühe Entfremdung der Liberalen von der Arbeiterbewegung (1860170er Jahre), da ein Teil der Arbeiterschaft aufgrund der nationalliberal-konservativen Allianz zur Nationalstaatsgründung und der weniger energisch betriebenen Freihandelspolitik das Vertrauen in die liberalen Politiker verlor und sich so eine erneute Annäherung für lange Zeit verzögerte. 29 Die französischen Liberalen hatten demgegenThe cross and the ballot: Catholic political parties in Germany, Switzerland, Austria, Belgium and the Netherlands, 1785-1985, Boston 1999. 28 Stein Rok:kan, Massendemokratie und Wahlen in den kleineren europäischen Ländern. Eine Entwicklungstypologie, in: Otto Büsch/Peter Steinbach (Hg.), Vergleichende europäische Wahlgeschichte. Eine Anthologie, Beiträge zur historischen Wahlforschung vornehmlich West- und Nordeuropas, Berlin 1983 S. 301-350 (erstmals 1968); vgl. nunmehr: Stein Rok:kan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rok:kans aus seinen gesammelten Werken rekonstruiert und eingeleitet von Peter Flora, Frankfurt/M. 2000, S. 313 ff. 29 Jürgen Kocka, Die Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie im europäischen Vergleich. Fragestellungen und Ergebnisse, in: ders. (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 12 ff., 17 f. ; Stefan Berger, Ungleiche Schwestern? Die britische Labour Party und die deutsche Sozialdemokratie im Vergleich. 1900-1931, Bonn 1997, S. 60 ff.; G. M. Luebbert, Liberalism, Fascism, or Social Democracy, S. 7 f.

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über keine gut organisierte Arbeiterpartei zu fürchten. Einerseits hatte die blutige Unterdrückung der Pariser Commune eine empfindliche Lücke in die sozialistische Linke geschlagen, andererseits gelang es den liberalen Republikanern, nach der "Zweiten Republiksgründung" von 1877/79 durch die Amnestie für Communekämpfer die verbliebenen Kräfte an die Republik heranzuführen. Auch aus den Revolutionstraditionen von 1789 und 1848 die beide das aus Arbeitern und Kleinbürgern bestehende "peuple" glorifizierten - speiste sich die Befürwortung der Republik, so dass dadurch die aus den sozialen Konflikten entstehende Ablehnung des politischen Systems etwas ausgeglichen werden konnte. Integrierend wirkten sich zudem der Antiklerikalismus (vor allem bis 1905) und - am Vorabend des Ersten Weltkriegs - der Nationalismus aus. 30 Der entscheidende Unterschied zwischen Frankreich und Italien hinsichtlich der politischen Rahmenbedingungen für die Vorherrschaft der Liberalen lag in der Ausdehnung des Wahlrechts, obgleich in der politischen Praxis des parlamentarischen Systems sich gleichzeitig auffallende Ähnlichkeiten ergaben: Instabilität der Kabinette, schwach ausgebildetes Parteiensystem und Klientelismus als Mittel der Politik - die Zeitgenossen sprachen vom "trasformismo" bzw. von der "Republique des camarades". Da sich Italien nach der Nationalstaatsgründung für die Übernahme des französischen Modells eines straffen Zentralismus in der Verwaltung entschieden hatte, standen beide Länder vor dem Problem, wie trotz fehlender Parteien die Interessen der Peripherie gegenüber der starken Zentrale eingebracht werden konnten. In beiden Ländern mussten die Abgeordneten für ihre Wiederwahl darauf achten, dass sie die Ansprüche ihrer lokalen Klientel verwirklichten. Ob man deswegen gleich von einer Schwäche des Liberalismus sprechen sollte, wie dies teilweise in der italienischen Literatur geschieht,31 scheint angesichts des dauerhaften Machterhalts etwas übertrieben. Jedoch musste sich die regierende politische Führungsgruppe Frankreichs regelmäßig Wahlen auf Grundlage des allgemeinen Männerwahlrechts stellen, die, wenn sie nicht sogar einen grundlegenden Wechsel zugunsten der Gegenpartei (1876177) auslösten, zumindest beständig eine starke - anfangs systemfeindliche - Opposition ins Parlament brachte. In Italien missachtete die "classe politica" häufiger den Wählerauftrag, da die Ablösung der Regierung dadurch scheiterte, dass einige Oppositionsgruppen in eine neue parteiübergreifende Regierungsmehrheit der politischen Mitte 30 Yves Lequin, La montee des antagonismes collectifs, in: ders. (Hg.), Histoire des fran~ais XIXe-xx:e siecles, Bd. 2: La societe, Paris 1983; S. 463; Heinz-Gerhard Haupt, Frankreich: Langsame Industrialisierung und republikanische Tradition, in: J. Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen, S. 56 ff., 62 f. 31 Vgl. etwa Monica Cioli, Der deutsche und der italienische Liberalismus: zwei Bilder im Vergleich, in diesem Band, S. 114, 118 ff. mwN.

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einbezogen - "trasformiert" - wurden. 32 Dieses Zusammengehen der linken und rechten Mitte ("conjonction des centres") zur Verhinderung eines politischen Richtungswechsels in der Regierung erfolgte in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg nur in kurzen Perioden (1887, 1896-98, 1912-14), erst in der Zwischenkriegszeit kam es vermehrt zu einer derartigen Deformierung des demokratischen Wählerwillens. Aber Italien war nicht das einzige Land, wo die herrschende politische Klasse die Wahlausgänge zu ihren Gunsten mit Hilfe von parlamentarischen Absprachen umformte, sondern auch in Spanien verhinderten die alternierend regierenden Liberalen und Konservativen die demokratischen Auswirkungen des in diesem Fall sogar allgemeinen Männerwahlrechts durch Manipulation und vorherige Absprache des Wahlergebnisses ("Pardo-Pakt" 1885). In dieses Bild einer (teilweise nur in oberflächlicher Weise) parlamentarischen und zugleich aber nicht demokratischen politischen Kultur gehört auch das rumänische Beispiel der "rotativa guvemamentala", da in dem südosteuropäischen Land mit seiner der belgiseben Konstitution nachgebildeten Verfassung von 1866 sich beide großen Parteien nach Absprache und unter Vermittlung des Königs in der Regierung abwechselten. 33 Zwar wies also auch das französische Regierungssystem grundlegende "trasformistische" Elemente auf und ähnelte damit dem südeuropäischen Muster, doch besaß das allgemeine Männerwahlrecht mittlerweile so viel politisches Gewicht, dass die parlamentarische Republik auch über eine demokratische Legitimität verfügte, deren etwaige Auswirkungen letztlich eben nicht in das Belieben der politischen Elite gestellt waren.

32 Zu den italienischen Verhältnissen: Peter Fritzsche, Die politische Kultur Italiens, Frankfurt/M.-New York 1987, S. 46 ff., 57 ff., H. Ullrich, Der italienische Liberalismus, S. 394, Alfio Mastropaolo, Electoral Processes, Political Behaviour, and Social Forces in Italy from the Rise of the Left to the Fall of Giolitti, 18761913, in: Otto Büsch (Hg.), Wählerbewegungen in der europäischen Geschichte. Ergebnisse einer Konferenz, Berlin 1980, S. 99 f.; Markus Schacht, Wahlen zwischen Recht und Beeinflussung: Italien und Preußen im Vergleich; Maria Serena Piretti, The problern of electoral fidding and bribery in Italy and Prussia until the First World War, beidein diesem BandS. 197-221 bzw. 223-229. 33 Zum "centrisme" in Frankreich - einem Zusammengehen von linker und rechter Mitte im Parlament- bei gleichzeitiger Zweiteilung bei den Wahlen: M. Duverger, Le systeme politique , S. 128 ff.; für die genaueren Nachweise, dass die parlamentarischen Koalitionen bis 1914 weitgehend die Wahlallianzen widerspiegelten: M. Kirsch, Die Republikanisierung, S. 104 f.; Reinhard Liehr, Spanien, in: H.-D. Loock/H. Schulze, Parlamentarismus, S. 98 ff.; Manfred Huber, Grundzüge der Geschichte Rumäniens, Darmstadt 1973, S. 100.

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IV. Parlamentarisierung und Demokratisierung in ihren Folgen für den Konstitutionalismus um 1900

Zum Schluss soll noch ausblickartig angedeutet werden, welche Konsequenzen die Demokratisierung und Parlamentarisierung für den Konstitutionalismus und hierbei insbesondere seine monarchischen Erscheinungsformen hatten. Christoph Schönherger hat in jüngster Zeit die pointierte These vorgetragen, die Entwicklung des Deutschen Kaiserreiches sei eine "überholte Parlamentarisierung" gewesen, denn die "fortschreitende Demokratisierung wirkte einer Parlamentarisierung entgegen"?4 Er erneuert damit in Anschluss an Langewiesehe die Vorstellung, dass die Erweiterung der Partizipation auf Grundlage des allgemeinen Männerwahlrechts ohne vorherige Parlamentarisierung im Unterschied zu Großbritannien, Italien und Frankreich eine "spezielle deutsche Fonn des Demokratisierungsprozesses" gewesen sei. Dabei relativiert er nur insofern diese vertraute Variante der Sonderwegsthese Deutschlands, indem er auf die Ähnlichkeiten des Reiches hinsichtlich konsensualer Konfliktlösungsmuster mit dessen kleineren europäischen Nachbarn verweist (Schweiz, Niederlande).35 Das Bild der "überholten Parlamentarisierung" ist zwar in seiner Griffigkeit faszinierend, trifft aber leider nicht wirklich den historischen Sachverhalt, da der Vorgang des Überholens die Vorstellung voraussetzt, dass das zu Überholende überhaupt vorhanden war; so weit will natürlich auch Schönherger nicht gehen, zielt doch seine Argumentation auf die zunehmende Demokratisierung, die den Übergang zum parlamentarischen System immer unwahrscheinlicher werden ließ - es handelte sich also eher, um noch einmal das Bild eines versuchten Überholvorgangs zu bemühen, um die immer stärker "zurückbleibende Parlamentarisierung". Erstaunlich an Schönhergers Interpretation - bei aller Plausibilität, die sie für den deutschen Fall mit gewichtigen Argumenten geltend machen kann ist aber, mit welcher Leichtigkeit damit der französische Fall der Variante einer Parlamentarisierung vor der Demokratisierung zugeordnet wird. Er verweist dabei auf die parlamentarische Tradition Frankreichs in der ersten Jahrhunderthälfte. 36 Dabei übersieht er aber drei Probleme: erstens ist es in der Forschung umstritten, ob die beiden konstitutionellen Monarchien 1814-30 und 1830-48 bereits parlamentarische Systeme waren. Die von Charles X mehrfach eingesetzten Kampfregierungen und das selbst in der Julimonarchie weiterhin notwendige "doppelte Vertrauen" für die Regierung 34 35

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C. Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung, S. 666. Ebd., S. 650 ff., 660 ff., (Zitat S. 655). Ebd., S. 651 f. m. Fn. 111.

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sprechen deutlich gegen eine derartige Einschätzung; auch die in den Verfassungstexten vorhandene Kompatibilitätsregelung erleichterte sicherlich einen Übergang zum parlamentarischen System, schuf es aber noch längst nicht. Zweitens blendet er zudem die Entwicklung des Wahlrechts in Frankreich vor 1814 aus, denn das allgemeine Wabirecht wurde bereits 1792 eingeführt und auch angewandt, und Napoleon Bonaparte nutzte es in seinen Plebisziten von 1799, 1802, 1804 und 1815 - selbst wenn wir also eine Parlamentarisierung ab 1814 unterstellten, ginge ihr die Demokratisierung voraus. Drittens bleibt bei einer derartigen Einordnung Frankreichs erklärungsbedürftig, wie es trotz einer derartigen parlamentarischen Tradition zum Zweiten Kaiserreich kommen konnte, das doch gerade in seiner Anfangszeit das allgemeine Männerwahlrecht mit großem Erfolg gegen das Parlament auszunutzen verstand (gerade für die letzte Konstellation - dies sei noch am Rande bemerkt - würde vielleicht das Bild von der "überholten Parlamentarisierung" taugen, falls man denn das Julikönigtum bereits für parlamentarisch hielte.)37 Deutschland gehörte also genauso wie Frankreich und etwa auch Dänemark - wie weiter oben gezeigt wurde - zu den Staaten Europas, in denen die Demokratisierung der vollen Parlamentarisierung vorausging. Ein wichtiger Unterschied bestand aber zwischen diesen drei Staaten dahin gehend, dass die Liberalen in Frankreich und Dänemark frühzeitig die Forderung nach einem demokratischen Männerwahlrecht akzeptierten und damit ähnlich wie der Freisinn in der Schweiz ihre parlamentarische Vorherrschaft auch in der Zeit einer beginnenden Massendemokratie sichern konnten. 38 Eine Demokratisierung vor der vollen Parlamentarisierung, so ließe sich aus einem diachronen Vergleich schließen, erleichterte sicherlich nicht die Parlamentarisierung, denn auch in Frankreich und in Dänemark brauchte es mehrere Jahrzehnte, bis sich der parlamentarisch-demokratische Verfassungsstaat durchsetzte, eine dauerhafte Auseinanderentwicklung beider Prozesse war damit aber gleichzeitig keineswegs angelegt (worauf aber eine Verallgemeinerung von Schönhergers These zum Deutschen Kaiserreich hinausliefe). Christoph Schönherger hat zu Recht auf die für ein Funktionieren eines parlamentarischen Systems zugrunde liegenden Konfliktlösungsmuster verwiesen. 39 Welche derartigen Muster lassen sich denn nun in Europa um 1900 erkennen? Das parlamentarische Wettbewerbsmodell Großbritanniens, M. Kirsch, Monarch und Parlament, S. 179 ff., 280 ff., 364 ff. Die gegenteilige Erfahrung machte dagegen der italienische Liberalismus, für den sich die verzögerte Demokratisierung (bis 1912) trotzfrühzeitiger Parlamentarisierung (in der Ära Cavours) nach dem Ersten Weltkrieg als große Schwäche erweisen sollte. 39 C. Schönberger, Die überholte Parlamentarisierung, S. 662 ff. 37

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das sich ja auf der Insel auch erst nach der Wahlrechtsreform von 1867 mit deren Folge eines relativ stabilen Zwei-Parteien-Systems entwickelte, blieb auf dem Kontinent eher die Ausnahme - am ehesten lässt sich hier noch der belgisehe Fall mit seiner Machtaufteilung in Liberale und Katholiken zuordnen sowie Dänemark nach 1901. Als einen Erklärungsansatz verweist Schönherger zumindest für Großbritannien auf die dort vorhandene, vergleichsweise homogene Struktur der Konfessionen; welche Rolle religiöse Zugehörigkeilen bei der parlamentarischen Entscheidungstindung tatsächlich spielten, bedürfte sicherlich noch einer eigenen Untersuchung - die Bedeutung der Irischen Frage in dieser Zeit und der Streit in Belgien zwischen laizistischen Liberalen und Katholiken um das Schulwesen lassen aber Zweifel an diesem Interpretationsansatz aufkommen. Häufiger fand sich auf dem Kontinent als Konfliktlösungsmuster jedoch ein Konsensmodell, wobei sich zumindest zwei Varianten erkennen lassen: das eine könnte zugespitzt als das "südeuropäisch-trasformistische" Muster bezeichnet werden und war bestimmt durch einen Elitenkonsens unter Einbeziehung lokaler klienteler Interessen, und hier wären Rumänien, Griechenland, Italien, Spanien und mit gewissen Einschränkungen auch Frankreich zuzurechnen; das andere ließe sich als das "mitteleuropäisch-versäulte" Beispiel bezeichnen, zu welchem Deutschland, die Schweiz, Holland und möglicherweise auch Österreich zu zählen wären und wo der Konsens zwischen teilweise gut organisierten Interessen größerer gesellschaftlicher Gruppen unter Ausgrenzung der Sozialisten ausgehandelt wurde. Auffaltig daran ist, dass hierbei aber beinahe alle unterschiedlichen Formen des Konstitutionalismus in den jeweiligen Mustern vertreten waren. Ein Hinderungsgrund für den Übergang vom monarchischen zum parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat lag also nur sehr bedingt im jeweiligen parlamentarischen Konfliktlösungsmuster. Der monarchische Konstitutionalismus mit seinen drei Erscheinungsformen war der dominierende Typ des europäischen Verfassungsstaates im 19. Jahrhundert, jedoch wurde er zum Ausgang des Jahrhunderts vermehrt vom parlamentarischen System abgelöst. Gleichzeitig erlangte das demokratische Prinzip einen so starken Legitimitätsanspruch, dass auf Seiten des Parlaments das Zensuswahlrecht oder letzte ständische Elemente wie der Einfluss eines nicht gewählten Oberhauses nicht mehr gerechtfertigt, im Hinblick auf den Monarchen ein Anspruch auf politischen Einfluss aufgrund des dynastischen Prinzips nicht mehr abgeleitet werden konnte. Für die Rolle des monarchischen Staatsoberhaupts hatte dies zur Konsequenz, dass er entweder im parlamentarischen System auf eine rein repräsentative Rolle zurückgedrängt oder durch einen von der gesamten Bevölkerung demokratisch gewählten oder vom Parlament bestellten Präsidenten ersetzt wurde - während im ersteren Fall die dualistische Machtaufteilung durch eine monistische ersetzt wurde, kam es im zweiten Fall zu einer vollständi-

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gen Demokratisierung der dualistischen Verfassungsstruktur. Langfristig betrachtet führte die Funktionalisierung40 der Monarchie im Rahmen des Verfassungsstaates des 19. Jahrhunderts aber gleichzeitig auch zu einer den Konstitutionalismus negierenden Verfassungsform, denn die Beseitigung der traditionalen Beschränkungen der Monarchie aufgrund von Parlamentarisierung und Demokratisierung machte sie zu einer bloßen "Einherrschaft", die - wenn das neue demokratische Kontrollprinzip für Parlament oder Herrscher nicht anerkannt wurde - den Weg zur Diktatur eröffnete. Die Dynarnisierung der Probleme der Massengesellschaft im Gefolge des Ersten Weltkriegs führte dazu, dass der monarchische Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts also nicht nur durch seine parlamentarisch-demokratische Form abgelöst, sondern auch durch die den Verfassungsstaat vollkommen beseitigenden, autoritären Regime des 20. Jahrhunderts ersetzt wurde.

40 Ausführlicher zur Frage der Funktionalisierung: Martin Kirsch, Die Funktionalisierung des Monarchen im 19. Jahrhundert im europäischen Vergleich, in: Stefan Fisch/Fran~ois Roth (Hg.), Machtstrukturen im Staat: Organisationen und Personen -Deutschland und Frankreich im Vergleich, [vorauss. Frühjahr] 2003.

Politische Repräsentation und Konstitutionalismus in europäischer Perspektive Von Paolo Pombeni Ich möchte gleich zu Beginn feststellen, dass ich Martin Kirschs Zusammenfassung teile, dass der monarchische Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts nicht nur der Übergang zum parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat, sondern ebenfalls zu den autoritären Regimen des 20. Jahrhunderts war.1 Allerdings muss ich sofort hinzufügen, dass ich auf etwas anderem Wege zu diesem Ergebnis komme als dieser interessante Beitrag; das gilt vor allem für die Zusammenfassung, wo der Autor die Meinung zu vertreten scheint, dass sich die alte monarchische Form dort in die moderne Diktatur verwandelt, wo das demokratische Prinzip der parlamentarischen Kontrolle über den "Herrscher" fehlt. Das Problem ist ohne Zweifel sehr komplex und reicht für die Historiker der politischen Systeme bis ins Zentrum der gegenwärtigen Legitimationskrise der westlichen Demokratien. Die gaullistische Verfassung ist eine äußerst wichtige Bestätigung dafür, und zwar wegen ihrer Rückkehr zur zentralen Dreiheit des Verhältnisses Souveränität - Regierung - Volksvertretung2. In seinem Beitrag geht Kirsch vom Scheitern des "monarchischen Modells" während der französischen Verfassungskrise von 1875-79 aus; es ist seiner Meinung nach ein Beispiel für das Übergewicht des parlamentarischen Modells über das traditionelle, von den gemäßigten europäischen Verfassungen von 1830 und 1848 festgeschriebene Modell, das dem König noch eine politisch bedeutsame Rolle zugestand. Dem stellt er den Sieg der monarchischen Zentralität in den Verfassungskrisen Preußens und Dänemarks gegenüber, um aufzuzeigen, dass die Auseinandersetzung Monarch1 Siehe den Beitrag von M. Kirsch, Verfassungsrechtlicher Rahmen und politische Praxis - Parlamentarisierung und Parteiensystem Frankreichs im europäischen Vergleich, in diesem Band, S. 70. 2 Vgl. L. Jaume, La sovranita nazianale in Francia dalla Rivoluzione a De Gaulle, in "Ricerche di Storia Politica" 5 (1990), S. 41-57. Für eine zeitgenössische Darstellung dieses Zusammenhangs, G. Burdeau, La conception du pouvoir selon Ia Constitution franyaise du 4 octobre 1958, in "Revue franyaise de science politique", 9 (1959), s. 87-100.

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Parlament trotz der Existenz beträchtlicher liberal-konstitutioneller Kräfte zu einem anderen Ergebnis als in Frankreich führen konnte. Anschließend untersucht er einige Fälle, die meines Erachtens völlig anders gelagert sind, wie etwa Norwegen und Italien, um schließlich zum Krisenpunkt zu kommen, den die Ausweitung der politischen Teilhabe darstellt, die von der neuen Organisation der Parteien getragen wird und zum Tag der Abrechnung der verschiedenen Systeme führt. Die erste Frage, die ich stellen möchte, lautet folgendermaßen: kann man sich mit einem Problem der vergleichenden Verfassungsgeschichte auseinandersetzen, ohne als zentralen Faktor das explizite und vom gesamten europäischen Konstitutionalismus akzeptierte Modell zu berücksichtigten, nämlich "das englische Modell"? Der französische Konstitutionalismus bezieht sich in dieser Zeit, wie schon in den früheren Phasen, ständig auf das englische Modell. Pierre Rosanvallon, aber auch viele andere haben das in ihren Untersuchungen eindeutig nachgewiesen3 : nicht nur die Verfassung von 1830, nicht nur Guizot und Thiers, sondern auch die lange und ausführliche Debatte in der Verfassungsversammlung von 1870, deren Protokolle vor etwa zwanzig Jahren komplett aufgefunden wurden, beziehen sich permanent auf dieses Modell. Ihr liegt die fixe Idee zugrunde, das "monarchische Problem" sei der entscheidende Punkt, der den Erfolg des englischen Modells gegenüber der Schwäche des französischen erkläre, weil es im britischen System eine institutionelle Figur gebe, die über den "Leidenschaften des Volkes" und den Intrigen der Politiker stehe, nämlich den König, der durch seine Macht zur Auflösung der gewählten Kammer eine eigene Möglichkeit hat, sich mit einem feierlichen "Appell an das Volk" zu wenden. Ich glaube, die europäische Krise des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts ist nicht umfassend zu verstehen, wenn man sich nicht diese Angst vor der "Demagogie" vergegenwärtigt, die in verschiedenem Gewand eine Konstante des politischen Denkens darstellt. Man findet das Thema in unterschiedlichen Formen, vom Problem des Cäsarismus4 bis zu dem der Manipulation der ungebildeten Massen5 , aber es ist immer das gleiche: das 3 Vgl. seine Bücher zum Wahlrecht (Le sacre du citoyen, Paris, Gallimard, 1992) und den von ihm herausgegebenen Band über die Chartas von 1814 und 1830, La monarchie impossible. Les Chartes de 1814 et de 1830, Paris, Fayard, 1994. 4 Zu diesem Punkt s. I. Cervelli, Cesarismo:alcuni usi e significati della parola (XIX secolo), in "Annali dell'Istituto Storico ltalo Germanico in Trento". 22 (1996), pp. 61-197. 5 Eine Zusammenfassung dieser Frage, die - wie bekannt - in der Polemik gegen die Partei mündet, gibt G. Quagliariello, Politics without Parties. Moisei Ostrogorski and the Debate on Political parties on the Eve of the 20th Century, Aldershot, Averbury, 1996.

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Missverhältnis zwischen den konkreten Momenten politischer Entscheidungen, die der doppelten Variante der Interessen der parlamentarischen "Parteiungen" und der Erregung der Massen unterliegen, und dem eigentlichen Interesse des Landes, das mittels geeigneter Mechanismen zutage gefördert werden muss. Dieses Thema liegt dem Konstitutionalismus viel stärker zugrunde, als man gemeinhin annimmt. Es ist nicht nur der Ausgleich zwischen den Staatsgewalten, entsprechend der angeblich auf Montesquieu zurückgehenden Lehre, sondern auch Appell und Anerkennung der "iura et libertates" des Volkes: das "we the People" am Anfang der amerikanischen Verfassung ist keine zufällige Formel6 . Ich habe dieses Thema in einer Studie zum Populismus7 untersucht, in der ich die Geschichte des europäischen Konstitutionalismus anband dieses Prinzips durchgegangen bin und die ich hier nur kurz rekapitulieren kann. Wenn die Anerkennung der Einheit zwischen Staat und Volk nicht mehr im feudalen Verhältnis des Vasallentums, noch in der "communitas communitatum" der ständischen Politik, noch im Verhältnis des Patrimonialstaats Ausdruck findet, dann setzt das "konstitutionelle" System die Einsetzung eines "Sakraments der Repräsentanz" voraus, das dieser Einheit zwischen Staat und Volk, die wir mit dem französischen Begriff auch "Nation" nennen können, Leben zu verleihen vermag. Wir sind zu sehr daran gewöhnt, "Repräsentanz" mechanisch mit "Parlamentarismus" zu verbinden, als wenn die Macht zu vertreten (ein äußerst komplexer Zusammenhang, wie gerade die politische Philosophie Deutschlands aufgezeigt hat8 ) nichts weiter als ein banales Nebenprodukt des Wahlmechanismus wäre. In Wirklichkeit wissen wir, dass dem nicht so ist: die "RepräsentationsRessource", die für jedes politische System entscheidend ist, verliert sich auf der einen Seite in den Mäandern seiner Komponenten, von denen jede irgendeinen Anspruch darauf erheben kann; auf der anderen Seite ist sie Gegenstand der Auseinandersetzung, denn jede Komponente empfindet eine Legitimationsschwäche, wenn es ihr nicht gelingt, sich der höchstmöglichen Repräsentations-Ebene zu bemächtigen (und würde auch die Monopolsteilung nicht verschmähen, falls das möglich wäre). 6 T. Bonazzi, Una logica della modemilli politica europea: dall'Inghilterra agli Stati Uniti, in, Logiche e crisi della modemita, hg. von C. Galli, Bologna, Il Mulino, 1991, S. 213-243; ders., Un costituzionalismo rivoluzionario. II "demos basileus" e Ia nascita degli Stati Uniti, in "Filosofia Politica", 5 (1991), S. 283-302. 7 Typologie des populismes en Europe (XIXe et xxe Siecle), in "Vingtieme Siecle", 56 (Ottobre Dicembre 1997), S. 48-76. 8 Hier sei natürlich verwiesen auf G. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin, De Gruyter, 1966.

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Die englische Verfassung hat Modellcharakter, weil sie - auch über ihre "republikanische" Variante in der Neuen Welt - als eine historisch geglückte Lösung des Repräsentations-Dilemmas galt. Sie hat die Form einer Dreiheit: das Volk wird vom "Hause of Commons" vertreten, die traditionell "politischen Klassen" vom "Hause of Lords" und der Monarch dessen Recht sich, nebenbei gesagt, aus der Bestätigung durch diese beiden repräsentativen Komponenten herleitet- ist das Zünglein an der Waage9 . Mir ist klar, dass das nicht sofort ersichtlich ist, denn dem Anschein nach hat die historische Entwicklung in England einen König hervorgebracht, der nach der bekannten französischen Interpretation "herrscht, aber nicht regiert": eine äußerst interessante Formel, die ich sofort näher analysieren möchte. Die beiden Begriffe, aus denen sie sich zusammensetzt, unterstreichen genau die beiden Komponenten der monarchischen Macht: die "Repräsentanz" und die "Verwaltung". Nach dieser Formel behält der Monarch die Repräsentanz, gibt jedoch die Verwaltung an eine besondere politische Klasse ab, deren Macht sich autonom und unabhängig von seiner Ernennung ableitet, und der gegenüber er gleichgestellt ist. Das Problem stellt sich natürlich in dem Moment, in dem diese "administrative" Funktion im weitesten Sinne des Wortes, also von Fragen der internationalen Stellung des Staates bis zum detaillierten Funktionieren der Staatsmaschine zur Aufrechterhaltung der alltäglichen Ordnung, im Interesse der "politischen Klasse" und nicht der Nation ausgeübt wird. Da in diesem Falle die "Verwaltung" schließlich eine "auflösende" Funktion hätte, kommt in unterschiedlicher Weise die Macht des "Herrschers" ins Spiel, das heißt die Macht dessen, der tatsächlich "der Hüter der Verfassung" ist, um Carl Schmitts berühmte Formulierung zu gebrauchen. Dies ist die grundsätzliche Frage: wie übt der Monarch (oder wer dessen Position vermittels eines nicht erblichen Mechanismus einnimmt, was aber das gleiche ist) dieses Recht und diese Pflicht aus? Ein Teil des europäischen Konstitutionalismus gleich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ist von der Illusion beherrscht, dies geschehe durch seine Macht, das Parlament aufzulösen: wenn der Herrscher feststellt, dass die politische Klasse nicht in der Lage ist, die Interessen der Nation wahrzunehmen oder Entscheidungen zu treffen, kann er sie dem Urteil des Volkes unterwerfen und über sie abstimmen lassen. Für viele versteht sich sogar von selbst, dass der Herrscher an die Verantwortlichkeit des Volkes appellieren kann, um es vor 9 Für eine zusammenfassende Darstellung dieses Themas s. J. W. Burrow, II dibattito costituzionale nella Gran Bretagna del diciannovesimo secolo, in, Potere Costituente e Riforme Costituzionali, hg. von P. Pombeni, Bologna, II Mulino, 1992, s. 13-32.

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der Gefahr zu warnen und auf diese Weise zu einem Urteil über den eventuellen Bruch zwischen dem Repräsentationsmechanismus und den Repräsentierten aufzufordern. Diese Theorie ist einer der Zentralpunkte von Prevost Paradols berühmtem Werk La France Nouvelle (1868). Die Spezialisten wissen, dass Walter Bagehot 1869 bei Veröffentlichung der französischen Übersetzung von The English Constitution in der Einleitung gegen Paradol polemisierte und ihn daran erinnerte, dass die Macht zur Auflösung nicht beim König, sondern beim Premierminister lag; außerdem sei die Behauptung, nur ein König könne unparteiisch sein, aber nicht ein Präsident der Republik, "wirklich zuviel verlangt von der menschlichen Natur". Der Sarkasmus des englischen Autors machte jedoch keinen Eindruck und die These vom Staatsoberhaupt als Schiedsrichter, der als Wahrer des Wesens der Verfassung mit einer ausgleichenden Macht ausgestattet ist, wurde in Frankreich wie in anderen Ländern weiter diskutiert. Ich möchte hier an eine berühmte Episode des italienischen Risorgimento erinnern, die Intervention des jungen Königs Vittorio Emanuele II., der mit der sogenannten "Proklamation von Moncalieri" 1849 die Wähler seines Reiches zwang, ihm eine auf dem rechten Flügel ausgewogene Kammer zu geben, aus der die Radikalen entfernt worden waren, die sich der Stabilisierung nach der Niederlage gegen Österreich widersetzten. Der Herzog Oe Broglie und MacMahon hielten 1877 ihr Vorgehen, das Kirsch in Erinnerung ruft, für perfekten "englischen Stil": im Übrigen war der Premierminister der Sohn eines politischen Intellektuellen (Victoir), der über die britische Verfassung geschrieben hatte, und die These, dass die Regierung die Pflicht habe, die Wählerschaft im Sinne des Wohls des Landes zu lenken, war seit den Zeiten der Großen Revolution verbreitet. Bis zu diesem Punkt gibt es wirklich keine großen Unterschiede zwischen Großbritannien, den politischen Stabilisierungsbemühungen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in Frankreich und dem berühmten "monarchischen Prinzip" des preußischen Konstitutionalismus. Dabei möchte ich beim letzten Punkt daran erinnern, dass ein sicherlich unverdächtiger Autor wie der Baron von Stahl gelehrt hatte, dass die preußische Verfassung in Wirklichkeit nicht von dem britischen Modell abwich, weil beide sich um eine "konservative" Verteidigung einer historisch-juristischen Tradition bemühten, auch wenn die historischen Besonderheiten zu Unterschieden zwischen der konkreten Situation der beiden Ländern geführt hatte 10. Bismarck selber bekannte sich immer als ein überzeugter Bewunde10 Stahl vertritt diese Ansicht in seiner Schrift Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, Berlin 1863. Vgl. zu diesem Autor W. Füssl, Professor in Politik: F. J. Stahl 1802-1861, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1988.

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rer der britischen Verfassung und bedauerte, dass sie in Deutschland nicht angewandt werden könne, weil es in Deutschland - im Unterschied zu England - starke "reichsfeindliche" Kräfte gebe, denen man kein Recht auf freien Zugang zur politischen Auseinandersetzung einräumen könne 11 (auch dieses Prinzip wird von der britischen Verfassung vollauf geteilt: es sei an die späte Emanzipation der "non conformity"-Kräfte und die noch spätere der Katholiken erinnert). Allerdings bleibt die Frage, warum es in der konkreten historischen Entwicklung zu so unterschiedlichen "Positionen" der Macht des Herrschers und der Repräsentanz kommt: in Großbritannien spielt die Krone eine immer geringere und unbedeutendere Rolle; in Frankreich verschwindet nach der Krise von 1877-79 auf lange Zeit die Figur des "Herrschers", und sei es auch nur in Präsidential-Version; in Deutschland bleibt das monarchische Prinzip bis zum Ersten Weltkrieg erhalten; in Italien gelingt es nicht, für den König einen plausiblen Status zu finden, weshalb seine Position unsicher und schwankend ist. Ich beschränke mich auf Fälle, in denen ich über direkte Kenntnisse der jeweiligen Kultur verfüge: in den mehr als zwanzig Jahren vergleichender Forschung habe ich gelernt, bloß aus der Sekundärliteratur konstruierten Modellen von nationalen Fällen zu misstrauen, zu deren "Kultur" man keinen Zugang hat. Kirschs Feststellung 12 ist ohne Zweifel richtig: die Dialektik MonarchParlament ist ein wesentliches Element der Verfassungsgeschichte und muss gründlich erforscht werden. Doch ist das Problem meiner Meinung nach nicht richtig zu verstehen, wenn wir uns nicht um die Klärung aller beteiligten Faktoren bemühen. Zunächst stellt sich die Frage, warum der Konflikt in einigen Staaten ausbricht und in anderen nicht. Das ist zum Beispiel die tatsächliche Besonderheit des englischen Falls. Wie Vernon Bogdanor unlängst in einer meiner Ansicht nach äußerst wichtigen Studie 13 dargelegt hat, ist es absolut nicht wahr, dass im britischen Verfassungssystem nicht das "königliche Prärogativ" existiert: es ist sogar sehr stark vorhanden, kann aber natürlich nur dann ausgeübt werden, wenn das Parlament nicht in der Lage ist, seine Funktion der Orientierung und Entscheidung wahrzunehmen. Ich kann an dieser Stelle nicht detailliert aufzeigen, wie man von einer Konzeption, in 11 Verschiedene Zeugnisse dafür finden sich in L. Gall, Bismarck der Weisse Revolutionär, Frankfurt, Ullstein, 1980; 0. Pflanze, Bismarck and the development of Germany, Princeton, Princeton University Press, 1990, 3 Bde. 12 M. Kirsch, Verfassungsrechtlicher Rahmen und politische Praxis, S. 46 f. 13 V. Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford, OUP, 1995; R. Blake, Constitutional Monarchy: the prerogative powers, in, The Law, Politics and the Constitution, ed. D. Butler, V. Bogdanor, R. Summers, Oxford, OUP. 1999, pp. 19-31.

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der der "Ausgleich" des Parlaments auf der Dialektik zwischen Lords und Commons basierte, allmählich zu einer Konzeption gekommen ist, in der dieser Ausgleich in dem einfachen Nebeneinander von zwei Tendenzen im House of Commons bestand, die sich nicht gegenseitig ausschließen konnten. Falls sich eine Situation ergibt, in der dieser Ausgleich des Parlaments statt Entscheidung und Verwaltung eine Patt-Situation erzeugt (was im britischen Verfassungsrecht mit dem Fachausdruck "hung Parliament" bezeichnet wird), hätte die Krone nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, autonom einzugreifen (und einige solche Fälle, in denen die Krone tatsächlich ihr Prärogativ ausgeübt hat, werden bei Bogdanor angeführt). Im britischen System waren diese Fälle selten und die Ausnahme, weil die "politische Klasse" das Risiko, der Krone Spielraum zu eröffnen, klar erkannte und deshalb einmütig darauf verzichtet hat, sich zur Unterstützung der eigenen Seite auf die "Ressource Krone" zu beziehen; umgekehrt hat die Krone (vor allem durch die lange Regierungszeit von Königin Victoria und den frühzeitigen Tod des Prinzgemahls Albert) erkannt: je virtueller und letztinstanzlieber ihre Position des Züngleins an der Waage war, desto stärker schützte sie ihre verbleibende Macht. Das ist deutlich zu erkennen an der Rolle, die die Krone in der Verfassungskrise von 1909-11 spielte (oder besser gesagt: nicht spielte), die zur Beschneidung der Macht der Lords führte 14 . Die Besonderheit des britischen Systems liegt in dem Umstand, dass die Legitimation des Systems in der "balance" der Komponenten lag; jede Komponente, die die Rolle einer anderen angegriffen und zerstört hätte, hätte damit am Ende auch die eigene Legitimation beschädigt. Kommen wir zum Fall Frankreichs. Hier liegt die Situation völlig anders. In der Vergangenheit gab es nicht nur den gescheiterten monarchischen Kompromiss von 1789-90, sondern auch den mehr als katastrophalen Ausgang der monarchischen Restauration von 1815, des Bürgerkönigtums von 1830 und als letztes des zweiten Kaiserreichs: alles Experimente, bei denen bereits die Karte der angeblichen Überlegenheit des "monarchischen" Modells von England ausgespielt worden war. Der Präsident MacMahon und seine Alliierten vom "Ordre moral" sind keine überparteiliche historische Kraft, sondern zufälliger Ausdruck jener orientierungslosen Tendenzen der Wählerschaft, die alle damaligen Theoretiker unterstrichen hatten. Sie haben keine "System-Ressourcen" zur Verfügung: die Stellen in der öffentlichen Verwaltung und beim Militär sind unter den verschiedenen vorheri14 Die genaueste Beschreibung dieser Krise, die Bogdanor nach größerer Unsicherheit bei der englischen Geschichtsschreibung im eben zitierten Buch in ihrer Dimension als "Verfassungskrise" sichtbar macht, stammt immer noch von E. Halevy, A History of The English People in the 19th Century, Bd. VI: The Rule of Democracy 1905- 1914, ursprünglich 1932 auf Französisch erschienen, hier zitiert nach der Ausgabe London, Benn, 1961, S. 305-368.

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gen Regimen besetzt worden; die verfügbare nationale Ideologie ist (wie Gambetta mehrfach betont 15) einzig und allein die republikanische, als deren Vertreter sie nicht auftreten können; sie haben nicht einmal "historische" Verdienste, die sie geltend machen können (bei der Verteidigung von Paris und Frankreich gegen die Preußen hatte Gambetta mit Sicherheit mehr Verdienste als sie 16). Das Scheitern des monarchischen Präsidentialismus in Frankreich liegt also nicht an der Schwäche der Idee, sondern an den schlechten Beinen, auf denen sie gezwungen ist zu laufen: wer weiß, ob die Geschichte mit einer ersten Präsidentschaft Gambettas nicht anders verlaufen wäre. Man verzeihe mir die Banalität, aber natürlich ist das, was später passiert, durch das verursacht, was vorher passiert: eine gespaltene und zerstrittene politische Klasse, die jede Führung fürchtet (und wenige Jahre später wird man das ruhmlose Ende von Gambettas "Grand Ministere" erleben), lernt natürlich sofort aus der Erfahrung und entmachtet schleunigst die mögliche Position des Präsidenten; gelangt mehr oder weniger zufälligerweise einer Persönlichkeit von Format in dieses Amt, dann zeigt sich, dass sie ihr Gewicht durchaus nicht verloren hat (gemeint ist natürlich Poincare 17). Die preußisch-deutsche Frage stellt sich in völlig anderen Termini dar. Vor allem fehlt es im Staat keinesfalls an Kontinuität: die "politische Klasse" hat sich zum großen Teil im Umkreis der Monarchie und ihrer Institutionen gebildet, das heißt in Militär und Verwaltung; außerdem handelt es sich um eine "dynamische" Klasse, denn seit der modernen Zeit hat sie, zusammen mit der Krone und unter deren Führung, verschiedene Reformen sowohl in der militärischen als der zivilen Sphäre durchgeführt. Diese Reformen waren erfolgreich: Preußen ist sowohl in internationaler als auch in 15 In seiner berühmten Rede in Lilie vom 15. August 1877 (s. L. Gambetta, Discours et playdoyers politiques de M. Gambetta, Paris, 1882, Bd. VII, S. 209-230) weist er die These der Regierungsvertreter zurück, es handle sich um die klassische Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Progressiven, sondern betont, es handle sich um einen Zusammenstoß zwischen Freunden und Feinden des Vaterlands. Seine Polemik richtete sich gegen die Behauptungen De Broglies, der beispielsweise in einer Rede im Senat am 31. Mai 1877 erklärt hatte, der Bruch zwischen Monarchisten und Republikanern sei nur künstlich. "le jour ou Ia question du govemement serait tranchee, cette alliance de tous les republicaines de toutes les nuances devait cesser, et l'on verrait les n!publicaines conservateurs se detacher des radicaux et leur faire tete de concert avec les autres conservateurs" (c. Discours de M. Je Duc De Broglie, Pres. Du Conseil, Paris, 1877, S. 39. 16 Es ist amüsant, zu beobachten, wie zwei bestimmt nicht "republikanische" Schriftsteller, nämlich Taine e Saint-Valry, die Kampagne De Broglies mit dem Angriff von Reichshoffen bzw. mit der französischen Strategie von Sedan vergleichen. S. die von Daniel Halevy angeführten Zitate in seinem klassischen Werk La Republic des Ducs (1937) (hier zitiert nach D. Halevy, La Fine des notables, Paris, Sauret, 1972, Bd. II, S. 240). 17 Vgl. J. F. V. Keiger, Raymond Poincare, Cambridge, CUP, 1997.

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wirtschaftlicher, ziviler und kultureller Hinsicht gewachsen. Ich würde mich an dieser Stelle fragen, ob es ausreicht, die preußische Situation als einen Konflikt zwischen Parlament und Krone darzustellen, oder ob es nicht nützlicher wäre, den sogenannten Verfassungskonflikt als einen Kampf zweier Komponenten der politischen Klasse zu begreifen, von denen die eine liberal-repräsentativer Herkunft war, während die andere aus der Verwaltung stammte. Beide Komponenten sind von Anfang an im parlamentarischen System vertreten, aber natürlich ist die zweite auch in der - hier der Einfachheit halber so genannten - "Regierungssphäre" präsent. Dieser Teil der politischen Klasse ist es (Gerlach, Manteuffel, Bismarck, um nur einige bekannte Namen zu nennen), der den Kampf für das "monarchische Prinzip" führt 18, und sicherlich nicht die Krone selbst: es reicht im Übrigen, an die tragische Episode der kurzen Herrschaft von Friedrich III. 19 zu erinnern, um zu begreifen, dass das Problem nicht die Macht der Krone war, sondern die Macht einer herrschenden Klasse, die das monarchische Prinzip als entscheidende Ressource nutzte, um die eigene Machtposition zu erhalten und auszubauen. Natürlich soll damit nicht geleugnet werden, dass die "Zauberlehrlinge" Kräfte wachgerufen haben, die sie in der Folge nicht mehr zu beherrschen vermochten, wie sich unter Wilhelm 11.20 erwies. Ich will damit nur sagen, dass der Sieg des "monarchischen Prinzips" zunächst in Preußen und dann im Reich ein "politischer" Sieg ist, der sich dem Gebrauch von "post-revolutionären" Mitteln verdankt und nicht einer so starken Position, dass sie nicht untergraben werden konnte. Die Definition Bismarcks als "weißer Revolutionär", die auf Ludwig Baroberger ( 1868) zurückgeht und später von Henry Kissinger und Lotbar Gall übernommen wurde, erklärt äußerst wirkungsvoll, dass das preußisch-deutsche monarchische System ebenso sehr das Ergebnis der Verfassungs-Revolution wie des "popular government" ist. Ich möchte dafür ein Beispiel anführen. Man liest oft in den Texten zur Verfassungsgeschichte, dass das Bismarcksche System ein Halb-Konstitutionalismus war, da das Parlament nicht die Macht hatte, der Regierung das Misstrauen auszusprechen, da diese ausschließlich vom König abhängig war. Das ist natürlich richtig, aber gleichzeitig nur die halbe Wahrheit. Das Parlament verfügte nämlich über Machtmittel, die sich in einem ent18 In diesem Zusammenhang erscheint mir bedeutsam H. C. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preussischen Altkonservativen, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1994. 19 Hier mag der Hinweis genügen auf die wenigen, aber scharfsinnigen Seiten von T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. II, Machtstaat vor der Demokratie, München, Beck, 1992, S. 420-21. 20 Vgl. I. V. Hull, Persönliches Regiment, in: Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, hg. von J. C. Rohl, München, Oldenbourg, 1991, S. 3-23.

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schlosseneo Konflikt mit der Monarchie und der Regierung hätten entscheidend sein können: ohne Bestätigung durch das Parlament konnten keine Gesetze erlassen und keine Haushalte bewilligt werden. Es sei daran erinnert, dass der Verfassungskonflikt von 1864-66 nicht mit der Abschaffung des Prinzips der parlamentarischen Bewilligung der Haushalte endete, sondern damit, dass die nicht bestätigten Hauhalte im Nachhinein vom Parlament bewilligt wurden. Tatsache ist, dass das kaiserliche Parlament keinerlei Absicht hatte, sich gegen die Monarchie zu stellen, wie der berühmte Fall Zabern von 1913 mit aller Deutlichkeit beweist. Die Ursachen für diesen fehlenden "Mut" sind nicht schwer zu finden: Bismarck hatte mit seinen Worten von dem in "reichstreue" und "reichsfeindliche" Kräfte gespaltenen Land eine absolut geläufige Theorie des Liberalismus der Zeit (die bereits bei von Mahl und dann bei Bluntschli erscheint) seinen eigenen Interessen angepasst, aber vor allem hatte er damit einen Konflikt zwischen den verschiedenen sozialen Komponenten des Reichs aufgewertet. Die konfessionelle, die soziale und geographische Spaltung (das Reich war schließlich eine Föderation) bildete ein starkes Motiv dafür, nicht das Element in Frage zu stellen, das die Einheit des neuen politischen Gebildes "repräsentierte" und garantierte. Die Monarchie beinhaltete "kulturelle" Werte, die ein Teil der politischen Klasse für entscheidend hielt, um die deutsche Identität zu verteidigen: ich möchte daran erinnern, dass im Namen dieser gemeinsamen kulturellen Identität die vorübergehende Einigung von Konservativen, gemäßigten Liberalen und fortschrittlichen Liberalen im sogenannten "Bülow-Block" zu Beginn des 20. Jahrhunderts zustande kam, dessen Ziel es war, die entscheidende Position der katholischen Partei zu verhindern, die keineswegs als Feind der "Ordnung", aber als Feind jener kulturellen Identität galt, die im monarchischen Prinzip Ausdruck fand. Wegen des Zusammenspiels dieser Faktoren scheint mir die deutsche Situation im Panorama des Konstitutionalismus einen absoluten Sonderfall darzustellen, was ich mit einigen Anmerkungen zu einem nur scheinbar ähnlichen Fall illustrieren möchte, nämlich zu Italien. Auch hier könnte man von einem bestimmten Standpunkt aus die Ansicht vertreten, dass die Monarchie die Hüterio der "Repräsentations-Macht" der neuen politischen Wirklichkeit Italiens war. Aber man muss sofort hinzufügen, dass dies nur zum Teil stimmte wegen der Rolle, die die spontanen Kräfte der nationalen Revolution von Mazzini bis Garibaldi während des Risorgimento gespielt hatten. Diese Tradition war nicht nur im Land selbst lebendig geblieben, sondern wurde auch im Ausland anerkannt. Es hat mich sehr überrascht, als ich diesen Umstand ausgerechnet in einem Aufsatz Otto Hintzes wiederfand, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs in einer deutschen Heereszeitschrift21 erschien: also bei einem Autor und in einer Publikation, die bestimmt nicht pro-revolutionärer Romantik zu verdächtigen sind.

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Zum zweiten muss man hinzufügen, dass in Italien jene politische Klasse, die in der Monarchie das geeignete Terrain für die eigene Macht fand, völlig fehlte. Der Piemont, der vielleicht über diese Klasse verfügte, war zu klein, als dass sie eine "nationale" Rolle hätte spielen können (das wird beim Militär völlig deutlich), noch vermochte sie die anderen im Königreich vereinigten Staaten zu dominieren (im Gegenteil, die Lombardei und der Veneto verfügten traditionell über eine hochqualifizierte Führungsschicht). In Italien war die politische Klasse nicht gespalten und glich unter diesem Aspekt sehr viel mehr der britischen als der deutschen. Ich persönlich halte nichts von den Legenden über den "Transformismus", die unkritisch polemische Losungen der Zeit in historisch-politische Kategorien transponieren, und ebenso wenig glaube ich den Erklärungen, die im Religionskonflikt den entscheidenden Faktor für die Schwäche des italienischen Liberalismus sieht22 . Die Mobilität der Parlamentarier, die der Regierungsfahne folgten und zum Zentrum tendierten, ist im Europa des 19. Jahrhunderts ein völlig normales Phänomen; die parlamentarischen Aufteilungen gemäß strengen Parteilinien waren äußerst selten und betrafen fast nur große Persönlichkeiten und deren unmittelbare Anhänger. Der Seitenwechsel von Parlamentariern bei der Unterstützung der Regierung ist im Übrigen sehr schwer nachzuweisen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das Phänomen des Präventivvertrauens gegenüber der Regierung noch nicht existierte: wie mein Freund Fabrizio Rossi in einer klugen Studie23 nachgewiesen hat, überwog die "englische" Theorie vom "fair experiment", weshalb man bei einer vom König eingesetzten Regierung das Vertrauen des Parlaments voraussetzte, solange sie nicht mit einem bestimmten Gesetz scheiterte. Aber der Sturz einer Regierung war in zweifacher Hinsicht eine Belastung, denn dadurch wurde einerseits die Verwaltungstätigkeit blockiert, was gravierende Konsequenzen für das bürgerliche Leben hatte, zum andern handelte es sich bei den meisten Gesetzen um Maßnahmen, von deren Notwendigkeit die meisten überzeugt waren und die unter allen Komponenten ausgehandelt wurden. Daher kam es sehr selten zu diesem Schritt. Vor 1906, als das Präventivvertrauen von Gio21 Vgl. 0. Hintze, Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten, jetzt in, Gesammelte Abhandlungen, 1: Staat und Verfassung, Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1962, S. 390-423. 22 Ich habe diesen Punkt bereits ausführlich dargestellt in meinem Aufsatz "Trasfonnismo e questione del partito. La politica italiana e il suo rapporto con la vicenda costituzionale europea", in, La trasformazione politica nell'Europa liberale 1870--1890, hg. von P. Pombeni, Bologna, Il Mulino, 1986, S. 215-254. 23 Vgl. F. Rossi, La fiducia preventiva nel sistema statutario, in "Storia, Amministrazione, Costituzione", 6 (1998), S. 51-98; ders., Saggio sul sistema politico dell' Italia liberale, Sovezia Mannelli, Rubettine, 2001. 6 Kirsch

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litti in vollem Umfang eingeführt wurde, von "Transformismus" im heutigen Sinne des Wortes zu sprechen, ist völlig unangemessen. Ebenso unangemessen ist es, den Konflikt zwischen Staat und Kirche und den Antiklerikalismus für einen besonders charakteristischen Faktor des politischen Systems Italien zu halten. Serena Piretti hat in ihren Untersuchungen bereits ausführlich nachgewiesen, dass es niemals eine massenhafte Wahlenthaltung der Katholiken gegeben hat, und zwar nicht nur, weil der Trend bei den Wahlenthaltungen den europäischen Durchschnittswerten der Zeit entspricht, sondern vor allem, weil es keine plötzliche Zunahme der Wähler gab, als die Kirche den Katholiken 1913 und 1919 erlaubte zu wählen24. Sollten diese Hinweise allein nicht ausreichen, bleibt an verschiedene Vertreter des Liberalismus zu erinnern, die Katholiken waren (Lampertico und Rossi, um nur zwei berühmte Fälle zu nennen), und an den Umstand, dass die liberalen Katholiken über eine offizielle Zeitschrift verfügten ("La Rassegna Nazionale"): sie wurden niemals Opfer kirchlicher Zensur. Ich möchte daran erinnern, dass Italien ein Land ist, in dem sich weltliche Staaten Jahrhunderte lang in Konflikt mit dem Kirchenstaat befunden haben, weshalb die italienischen Katholiken absolut an das doppelte Regime der religiösen Treue zum Papst und der politischen Treue zu einer anderen Macht gewöhnt waren. Was die katholische Polemik, vor allem die der Jesuiten, dazu geschrieben haben, ist mit äußerster Vorsicht zu genießen. Die Versuchung seitens einer in die Krise geratenen Führungsschicht, auf das monarchische Prinzip zurückzugreifen, war in Italien während der Krise der Jahrhundertwende sehr stark, wie Cammarano unlängst in seinem schönen Buch25 aufgezeigt hat; doch am Ende scheiterte das Vorhaben wegen einer Reihe von Gründen, die er untersucht hat: weil die Person, die die Rolle des Monarchen-Schiedsrichters hätte übernehmen sollen, nämlich Umberto 1., dieser Aufgabe absolut nicht gewachsen war; weil davon nicht die politische Klasse insgesamt profitiert hätte, sondern lediglich einige von ihren Kollegen bereits gefürchtete Führer wie Crispi oder Sonnino sowie eine kleine Gruppe von Hofleuten, die nicht als Mitglieder dieser politschen Klasse empfunden wurden; weil schließlich das dominante Erfordernis des Systems nicht die riskante Suche nach größerer Effizienz um den Preis einer Beschränkung der "föderativen" Fähigkeiten der verschiedenen Gruppen der Führungsschicht war, sondern im Gegenteil die Erhaltung der Flexibilität durch garantierte Spielräume für die verschiedenen Gruppen. 24 Vgl. M. S. Piretti, La giustizia dei numeri. 11 proporzionalismo in Italia 18701923, Bologna, Il Mulino, 1990; Le elezioni nella storia d'Italia, Roma-Bari, Laterza, 1998; Una vittoria di Pirro: Ia strategia politica di Gentiloni e il fallimento dell' intransigentismo cattolico, in "Ricerche di Storia Politica" 9 (1994), S. 5-40. 25 F. Cammarano, Storia politica dell'Italia liberale 1861-1901, Roma-Bari, Laterza, 1999.

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Mir scheint, dass der "monarchische Konstitutionalismus" nur eine der Varianten des nachrevolutionären Konstitutionalismus darstellt, wie Constant ihn nach der Interpretation von Bianca Maria Fontana26 theoretisch gefasst hat: die Repräsentations-Macht des politischen Körpers (gleichgültig, ob einem erblichen oder gewählten Herrscher übertragen) tendiert dazu, sich die "Regierungsmacht" im Bündnis mit einem Teil der politischen Klasse wieder anzueignen und sich als letztinstanzlieber Schiedsrichter anzubieten im Falle von mutmaßlichen und möglichen Zerstörerischen Krisen, die aus dem Konflikt der Gruppierungen entstehen, die ihrer Natur nach unfähig sind, das allgemeine Interesse zu vertreten. Der größere oder geringere Erfolg dieses Experiments hängt von verschiedenen Faktoren ab, die ich hier nur auflisten kann: 1. die Überzeugung, dass im Ionern des Systems eine Zerstörerische Gefahr besteht, die durch das monarchische Prinzip gebannt werden kann (die Direktwahl des Präsidenten in den Vereinigten Staaten ist das Instrument, damit die Föderation als einheitliches Gebilde unter einer Macht ohne "lokale" Ableitung lebt); 2. die Verfügbarkeit von Legitimationsformen der Regierungsmacht außerhalb der königlichen Investitur (die Ernennung des Premiers als Konsequenz der Wahlen, die sich in Großbritannien seit Anfang der siebziger Jahre durchsetzt, verleiht der Regierung die autonome Position von "Volkssouveränität"); 3. die Existenz von historisch-kultureller Kontinuität, die durch das Verschwinden der traditionellen Form der Repräsentations-Macht ihre Legitimation verlieren könnte; 4. der Nutzen der politischen Klasse (die sich übrigens, wie man nicht vergessen sollte, in ständiger Entwicklung und Veränderung befindet), entsprechend dem System einer ausgewogenen Aufteilung der Macht, wie es dem Konstitutionalismus eigen ist, ein System geringerer oder größerer Fragmentierung der Repräsentation aufzubauen. Wie Kirsch in seiner interessanten Analyse richtig festgestellt hat, entstehen die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts aus der Problematik des monarchischen Prinzips, da sie die Quadratur des Kreises auf konstitutioneller Ebene versuchen: eine Repräsentations-Macht der Nation, die (zumindest als Annahme) aus einem System direkter Investitur durch das Volk erwächst, wobei diese Macht von neuem einen "einheitlichen" Charakter hat, weil sie gleichzeitig "Regierung" und "Partei" ist, also Verwaltung und Entwicklung der politischen Dialektik27 • Aber das ist keine glückliche Kombination, wie die Geschichte uns handgreiflich gezeigt hat, und so müssen 26 B. Fontana, Benjamin Constant and the post-revolutionary mind, New Haven, Yale U.P., 1991. 27 Ich habe bereits einige Überlegungen zu diesem Problem angestellt in meinen Veröffentlichungen Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma partito del fascismo, Bologna 11 Mulino, 1984; e, Die besondere Form der Partei von Faschismus und Nationalsozialismus, in: Faschismus und Nationalsozialismus, hg. von K. D. Bracher, L. Valiani, Berlin, Duncker & Humblot, 1991, S. 161- 194. 6*

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wir uns wieder geduldig an das Studium des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts machen, um einen Ausweg aus den Problemen zu finden, die er erzeugt hat, und dabei jenen konstitutionellen Kurzschluss verhindern, dessen Opfer Europa zwischen den beiden Kriegen geworden ist.

Für eine Disziplinierung der Demokratie Europäische Verfassungsmodelle und der "Mittelweg" des liberalen Italiens Von Raffaella Gherardi ". . . laßt uns nicht vergessen, daß diese barfüßigen und ungebildeten Kinder auf den Straßen unserer Städte Ansatz und Keim für zukünftige Fürsten sind; man muß sie zwangsweise erziehen, bevor das allgemeine Wahlrecht sie auf den Thron bringt." (Nicolo Lo Savio, 1876) 1

I. Grundzüge des italienischen Liberalismus vom Zeitalter der Konstitution zum Zeitalter der Administration Wenn der italienische Historiker sich mit dem Liberalismus seines Landes zu befassen beginnt, kann er gar nicht anders als eine Art "Unterlegenheitskomplex" gegenüber anderen europäischen Kollegen zu verspüren. Ziehen wir vor allem die große politische Lehre in Erwägung: Wo findet sich in Italien ein von Humboldt, ein Stuart Mill, ein Alexis de Tocqueville? Es genügt im übrigen, irgendein Handbuch der Geschichte der politischen Theorie durchzublättern, um einen solchen "Komplex" bestätigt zu finden, angesichts des Umstandes, daß dort keiner der italienischen Vertreter des Liberalismus des 19. Jahrhunderts jemals erscheint. Auf der anderen Seite tragen auch jüngere Studien der italienischen Geschichtsschreibung dazu 1 Diese Aussage findet sich in einem Artikel mit dem Titel Natura e destinazione dello Stato nell'ordine economico-sociale, der im "Giornale degli economisti", III, 1876, S. 118-122, veröffentlicht wurde (Zitat aufS. 122). Der Autor appelliert an die ,feine Weisheit' ("fina sapienza") des italienischen Bürgertums und an die Reformen, die der Staat sich auferlegen sollte (in Übereinstimmung mit dem sozialen Liberalismus, der vom "Giornale degli economisti" in jenen Jahren vertreten wurde, der wortführenden italienischen Zeitschrift des "germanesimo", der ,germanischen' Richtung der historischen Schule der Ökonomie und der Thesen der Kathedersozialisten), um ,die politische und soziale Bewegung unseres Landes' ("movimento politico e sociale del nostro paese") lenken zu können. Es ginge um die Förderung ,des moralischen und intellektuellen Fortschritts der Massen' ("il progresso morale ed intellettuale delle moltitudini"), um auf diese Weise den möglichen ,Schiffbruch der modernen Gesellschaft' ("naufragio della societa modema") zu vermeiden.

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bei, den Eindruck über die extreme theoretische Fragilität des heimischen Liberalismus zu bekräftigen, indem sie dessen starke "Abhängigkeit" gegenüber den großen europäischen Modellen (insbesondere dem französischen, englischen und deutschen) unterstreichen. Die italienischen Liberalen beschränkten sich also auf den Versuch, letztere zu übersetzen und der italienischen Realität anzugleichen: Es handelte sich somit um einen "sekundären" Liberalismus, in dem Sinne, ,daß er vorwiegend vom Ausland imitiert ist und einer unabhängigen theoretisch-praktischen Qualität entbehrt'2 . Es fehlte also den italienischen Vätern dieser Ideenströmung der große Plan für eine umfassende Umgestaltung des Staates und der Gesellschaft, da sie sich sehr viel mehr daran interessiert zeigten, einige in anderen Teilen Europas entstandenen Modelle wiederzukäuen, um sie bei Bedarf hier und dort in Italien anzuwenden, ob es sich dabei um die Konstitution oder Administration, um die Politik oder Ökonomie handelte. Dasselbe negative Urteil erstreckt sich aus Sicht eines weiten Teils der Geschichtsschreibung auf die gesamte konkrete politische Strategie der italienischen Liberalen, die als unfähig gelten, ein wirklich modernes liberales System aufzubauen und vor allem für die Möglichkeit korrekter Regierungswechsel zu sorgen. Da wird in diesem Sinne zum Beispiel der alte und neue Vorwurf des "trasformismo" gegen die italienische Politik erhoben, ein Vorwurf, der ab Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts sich von den Gründungsvätern des besagten "Transformismus" (nämlich Depretis und Minghetti, die Führer respektive der ,historischen Linken' und der ,historischen Rechten') immer wieder nicht nur in den politischen Analysen, sondern auch in den Parlamentsversammlungen ausbreiten wird, um schließlich Protagonisten der höchsten Ebene in der allerjüngsten Regierungskrise vom Dezember 1999 zu treffen. Ungeachtet der wirklichen oder mutmaßlichen Fehler, die von Intellektuellen und Politikern des liberalen Italien begannen wurden, besteht jedenfalls kein Zweifel, daß jene Epoche des Liberalismus die eigentliche "Gründungsphase" des italienischen politischen Systems darstellt, wobei die Wurzeln dieses Stadiums weit jenseits seiner chronologischen Grenzen zutage treten werden3 • In Rücksicht auf dieses und besonders in Bezug auf das Thema, das ich heute behandeln möchte - nämlich die Perspektiven, die vom italienischen Liberalismus verfolgt wurden, nachdem die "heroischen Jahre" der Kämpfe für die Konstitution und für die nationale Einheit 2 Vgl. in diesem Sinne U. Allegretti, Profilo di storia costituzionale italiana, Bologna 1989, S. 299, der von einem sekundären Liberalismus in der Hinsicht spricht, "di essere prevalentemente imitato dall'estero e privo di una dignita teorico-pratica autonoma". 3 Vgl. in diesem Sinne zuletzt F. Carnmarano, Storia politica dell'ltalia liberale (1861-1901), Roma-Bari 1999.

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beendet waren -, ist es notwendig, die wahre Bedeutung des rein anti-systematischen und überwiegend empirischen Charakters des italienischen Liberalismus, vor allem in den auf die Proklamation des Königreichs Italien (1861) folgenden Jahren, zu versuchen zu klären. Zu diesem Zweck gilt es meiner Ansicht nach, die Analyse der Theorie mit der Untersuchung der Prinzipien zu verbinden, die die italienische Politik inspirierten, nachdem erst einmal im Verlauf von wenig mehr als einem Jahrzehnt das "Wunder" der Einheit (wie man damals sagte) im Umfeld des Führungsstaates Piemont erzielt worden war. Das piemontesische leadership wird in den Jahren unmittelbar nach der Einigung Anlaß zu jenem Phänomen geben, das die Historiker als "Piemontisierung" definiert haben: Es handelt sich um die Entscheidung der gemäßigt-liberalen politischen Führungsklasse des geeinten Italien, das neue Königreich auf eine Linie der totalen Kontinuität sowohl mit der Verfassungsordnung als auch mit dem Verwaltungssystem Piemonts zu bringen. Auf emblematische Weise wird Viktor Emanuel II., König von Piemont, sich auch nach 1861 Viktor Emanuel II. und nicht I. (!), König von Italien, nennen, und der Statuto albertino (das heißt die durch den piemontesischen Souverän 1848 oktroyierte Verfassung!) wird einfach auf den Rest Italiens ausgedehnt werden. Somit wird sich für hundert Jahre (bis 1948, wenn die republikanische Konstitution in Kraft treten wird, die die erste Verfassung Gesamtitaliens darstellt, die aus einer konstituierenden Versammlung hervorgeht) jegliche Forderung der liberal-demokratischen Kräfte nach einer Konstitution, die als direkter Ausdruck des Volkswillens zu verstehen sei, als erfolglos erweisen. Auch in Hinsicht auf die administrative Ordnung läßt sich ähnliches sagen, da wir bei den Schöpfern der Einheit eine Art Konversion von der anfänglichen Position zugunsten der administrativen Dezentralisierung zu einer starken Unterstützung für die Zentralisierung beobachten, was zur Ausdehnung der piemontesischen Verwaltungsordnung, mit streng zentripetalem Kennzeichen, auf Italien führen wird. Sicherlich wird das englische selfgovemment, das so oft vor der Einigung von den Liberalen als Modell angeführt wurde, unter einem allgemeinen Gesichtspunkt der politischen Theorie auch weiterhin mit Bewunderung betrachtet werden, doch werden italienische Wissenschaftler und Politiker einhellig (nämlich um ihre Konversion zum Verwaltungszentralismus zu rechtfertigen) eine wirkliche oder mutmaßliche "Unreife" des Landes für diese Lösung hervorheben, eine Unreife, die noch mehr aufs Spiel gesetzt worden sei durch den jüngsten Einigungsprozeß und die inneren ,,roten" und "schwarzen" Feinde. Bei letzteren handelt es sich um die katholischen Kreise, die sich mit dem päpstlichen Hof in Rom verbunden fühlten und sich weigerten, den neuen Staat anzuerkennen, an seinem politischen Leben zu partizipieren; die Gefahr der "Roten" (das heißt der ersten Arbeiter- und

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sozialistischen Bewegungen) wird nach der Erfahrung der Pariser Commune, einem wirklichen Schreckgespenst für den gemäßigten Liberalismus Italiens, um so mehr in den Vordergrund gezogen werden. Die Hegemonie des Moderatismus innerhalb der liberalen Kräfte kennzeichnet in der Tat nicht nur den gesamten Einigungsprozeß, sondern insgesamt die politische Ordnung nach der Einigung, vor allem dann, als das höchste Ziel der Einigungsepoche selbst, nämlich Rom als Hauptstadt, erreicht worden ist (1870). Die Einheit Italiens stellt nunmehr eine vollendete Tatsache dar, und für die an die Macht gelangte gemäßigte politische Klasse wird von da an das Gebot darin bestehen, sich in der Mitte der parlamentarischen Richtungen zu etablieren, im Namen einer Politik, die sich wegen der Sachzwänge verändern muß, da nun die Jahre des sogenannten "Zeitalters der Poesie" abgelaufen sind, das heißt der großen Inspiration der nationalen Einigung, und man definitiv in das sogenannte "Zeitalter der Prosa" eingetreten ist, in dem die dringendsten inneren "Fragen" auf eine Lösung drängen, von der ökonomischen Frage zur administrativen Frage, von der Finanzfrage zur sozialen Frage. Es handelt sich um eine Politik, die nach Absicht der gemäßigten Kräfte notwendigerweise alle Extreme ausschließen muß und von Fall zu Fall nach Lösungen für die einzelnen aufgeworfenen Probleme strebt, indem sie sich auf zufällige parlamentarische Bündnisse stützt, die sich von Mal zu Mal auf der festen Grundlage der Mitte zusammenfinden. Zu Recht macht die jüngste Geschichtsschreibung deutlich, daß in den einzelnen Sektoren, die ich gerade erwähnt habe (ob es sich dabei zum Beispiel um die Wirtschafts- oder Sozialpolitik handelt), die italienische Politik nie mit einem langen Atem für konkrete Entwürfe erscheint; obwohl man sich zum Beispiel durch die Bismarcksche Sozialpolitik inspirieren läßt, finden wir in Italien nichts, was mit dem deutschen "System" der Sozialversicherung vergleichbar wäre, und dieselbe Rede könnte für die anderen aufgezählten Sektoren gelten, in denen die einzelnen Maßnahmen viel mehr von nebensächlichen Erfordernissen diktiert erscheinen als von einem Plan mit übergreifendem Charakter. Die italienische Politik des Prosa-Zeitalters strebt bewußt nach einer Distanzierung von jeder umfassenden Projektierung, die zu oft als ideologieverhaftet betrachtet wird, sei es, daß sich diese Ideologie im Gewande des Feindes, das heißt des Sozialismus, oder in jenem eines nunmehr aus der Mode gekommenen Freundes zeigt, nämlich des Liberalismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, der als zu abstrakt beurteilt wird, da ihm der Vorwurf gilt, ausschließlich auf Diskussionen juristisch-konstitutionellen Charakters zu rekurrieren. Italien hat bereits eine Verfassung, den Statuto Albertino von 1848 eben (auch wenn er oktroyiert wurde, so ist dies unwichtig), und von diesem Tatbestand gilt es auszugehen, ohne Zeit an das Nachdenken über die bestmögliche Konstitution zu verschwenden, was völlig unnütz ist angesichts des Umstandes, daß die Reinheit der Ideale (und darin stimmen die größten Regierungsvertreter wie

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die höchsten Theoretiker des italienischen Liberalismus einmütig überein) nicht von dieser Welt ist. Was nun wirklich erforderlich ist, ist eine Politik, die auf konkrete und realistische Weise im Dasein verankert ist, und die positive Gesetzgebung wird die Aufgabe übernehmen müssen, den Bedürfnissen der Gegenwart zu genügen, nachdem der Liberalismus seine primären Herausforderungen zu erfüllen wußte, die im Einigungsprozeß impliziert waren: närnli~h zur nationalen Einheit zu gelangen auf der einen und die Fahne des Cavourschen Prinzips der "freien Kirche in einem freien Staat" zu erheben auf der anderen Seite. Italien hat also mit Beginn der siebziger Jahre seinen Übergang vom Zeitalter der Poesie zum Zeitalter der Prosa, vom Zeitalter der Konstitution zum Zeitalter der Administration vollzogen: Dies ist der Kehrreim, der sowohl in den Parlamentsversammlungen von den Anhängern einer Realpolitik, die sich immer mehr nach der Realisierbarkeit spezifischer Ziele ausrichtet, als auch in den Werken ertönt, die die Spitze der italienischen politisch-wissenschaftlichen Debatte darstellen. Dennoch werden gerade dieser zweckgebundene ·Charakter des italienischen Liberalismus, sowohl in seiner theoretischen Dimension als auch als politische Strategie, ebenso wie sein Hang zum Experimentieren, der der Sorge um Ablehnung jedes doktrinär-ideologischen Apriorismus' entspringt, von der umsichtigeren europäischen Publizistik und von bedeutenden politischen Protagonisten und Beobachtern der Zeit positiv hervorgehoben. Letztere betonen die Anstrengungen, die Italien gerade mit Erfolg unternimmt, um mit gutem Recht in den Kreis der europäischen Mächte einzutreten, ebenso wie den "praktischen Sinn", der den italienischen Liberalismus kennzeichnet, der darum bemüht ist, sich mit den wissenschaftlichen Lehren und Methoden, die sich das Feld in Buropa streitig machen, zu konfrontieren und dabei in aller Nüchternheit einen "mittleren Weg" vorzuzeichnen, der sorgfältig auf die "Fakten" zugeschnitten ist4 • Es lohnt sich wohl an dieser Stelle einen der bedeutendsten zeitgenössischen Forscher zu zitieren, den auf europäischer Ebene anerkannten Begründer der Verwaltungs- und Finanzwissenschaft: Lorenz von Stein. Ab der vierten Auflage seines Lehrbuches der Finanzwissenschaft (1878) nahm er das Königreich Italien in den Kreis seiner vergleichenden Studien auf und zeigte dabei große Bewunderung für "den jüngsten der großen Staaten Europas". Italien habe den unvermeidlichen Preis für die Einheit und Freiheit zu bezahlen vermocht: "Es hat in seiner ganzen Staatsbildung fast keinen Augenblick in nutzlosem Verfassungsstreit verloren, sondern es hat mit der dem italienischen 4 Für eine Analyse des italienischen Liberalismus unter dieser Perspektive sei mir der Hinweis erlaubt auf R. Gherardi, L'arte del compromesso. La politica della mediazione nell'Italia liberale, Bologna 1993.

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Volke eigenthümlichen praktischen Auffassung sogleich erkannt, dass es um zu bestehen und sich zu entwickeln, den Schwerpunkt seiner Thätigkeit in seine Verwaltung legen müsse." 5 In seiner Umorientierung während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von Problemstellungen konstitutioneller Art zu solchen administrativer und sozialer Art zieht der italienische Liberalismus verschiedene europäische Verfassungsmodelle sowohl auf dem Gebiet der Konstitution als auch auf dem weiteren Feld der Verfassung heran; es handelt sich darum, aus der Nähe die vielfältigen Interventionsbereiche einer neuen Politik zu umreißen, für die die einfache Berufung auf den Rahmen des Rechtsstaats und auf die primären Werte des Konstitutionalismus völlig unzureichend ist, wie sie die Liberalen der ersten Jahrhunderthälfte noch getätigt hatten, als sie damit beschäftigt waren, die noch bestehenden absolutistischen Herrschaftssysteme niederzuschlagen und den Prozeß der nationalen Einigung zu eröffnen. ß. Von der "Konstitution" zur "Verfassung": Die großen europäischen Modelle im italienischen Liberalismus Aus der gerade umrissenen Perspektive steigt die Heimat der Menschenund Bürgerrechte, also Frankreich, in Italien am Ende des 19. Jahrhunderts zum absolut negativen Modell auf, zum Symbol für eine überholte Art des politischen Denkens, das heißt für eine Einstellung, die nach einer Auflösung des Politischen in Probleme formal-konstitutioneller Art strebt. Auch die jüngere französische Geschichte, in der sich nach der Revolution der unaufhörliche Übergang von einer Konstitution zur nächsten abzeichnet, stellt für die liberale italienische Intelligenz den greifbarsten Beweis dafür dar, daß das Gut der politischen Stabilität keineswegs ausschließlich auf konstitutioneller Ebene gesucht werden darf. Ab den siebziger und achtziger Jahren machen Intellektuelle, Politiker und Kulturschaffende sowie die bedeutendsten Vertreter der neuen Politik-, Rechts- und Sozialwissenschaften einhellig auf die Abstrak:theit und Gefährlichkeit von rein politischen Reformen aufmerksam, die darauf gerichtet sind, verschiedene "Heilmittel" auf dem bevorzugten Terrain der Konstitution zu finden. So behandelt zum Beispiel einer der berühmtesten Juristen seiner Zeit, Giorgio Arcoleo (und die Beispiele in dieser Richtung ließen sich vermehren), in den Kolumnen einer der angesehensten italienischen Zeitschriften all jene Publizisten mit beißender Ironie, die ,den Stein der Weisen des freien Staats einzig in den politischen Gegenständen' zu erkennen glaubten und das typisch französische Vorurteil verbreiteten, daß jedes soziale Unbehagen in der Konstitution wurzele. Daraus ergibt sich der unaufhörliche Aufstieg jener, die er mit 5

L. von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 5. Aufl., Leipzig 1885, S. 172.

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treffendem Sarkasmus als , Theologen und Rabbiner der Konstitutionen' bezeichnet, die damit beauftragt seien, ,die Grundsätze der Französischen Revolution mit einer Reihe von Theoremen' zu illustrieren, ,in denen das Prinzip vorherrscht, daß alle Heilmittel im Gesetz zu finden wären und in der politischen Versammlung der heilige Schrein der Freiheit verborgen wäre': All dies führe, nach seiner Auffassung, unvermeidlicherweise zu einer ,andauernden Betriebsamkeit, um Konstruktionen zu ersinnen, Auswege zu schaffen, Formeln zu konstruieren', die ihren wesentlichen Bezugspunkt in der Konstitution haben6 : eine völlig unnütze Arbeit heute, wo es die Verfassung gibt, und außerdem eine Arbeit, die den tiefgreifenden Wandel der politischen Parameter im größten Teil der "zivilisierten" Länder nicht berücksichtigt, das heißt jener Länder, die bereits die absolutistischen Regierungen niedergeschlagen haben. Einer der angesehensten italienischen Intellektuellen und Politiker, Francesco Oe Sanctis, vertritt mit Nachdruck die Auffassung, daß sich die Politik so wie alle anderen Wissenschaften ,den Zeiten und dem Fortschritt entsprechend' inhaltlich verändere. In der Tat war die Politik des 18. und eines Teils des folgenden Jahrhunderts im Vergleich zu jener der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine andere: Damals ging es nämlich um den Kampf für die Konstitution, das heißt für ein System von Freiheitsgarantien, indem vor allem Adel und Klerus, ,die beiden Stützen der absolutistischen Regierung', bekämpft wurden. Nun befinden wir uns dagegen in einem neuen Zeitalter, in welchem - da der Statuto eine Tatsache geworden ist sich die hauptsächlichen Aufgaben des Politischen um einen anderen Pol fokussieren: eben dem der Administration, die sich auf italienischem Terrain starr der Konkretheit der Gegenwartsprobleme beugt (in denen auch die unterschiedlichen, typisch italienischen ,sozialen Fragen' 7 enthalten sind) und am Ende die gesamte Problematik der Freiheiten auf sich ausrichtet. 6 Vgl. G. Arcoleo, Riforme politiche e riforme amministrative in ltalia, in: "Rassegna di scienze sociali e politiche", I, 1883, S. 248-257. Für die deutschen Übersetzungen im Text wird in den Anmerkungen der italienische Wortlaut angeführt: Arcoleo behandelt jene Publizisten mit Ironie, die "la pietra filosofale dello Stato Iibero nei soli congegni politici" zu erkennen glauben, und kritisiert den Aufstieg der "teologi e rabbini delle costituzioni", die damit beauftragt seien, "gli assiomi della rivoluzione francese con una serie di teoremi, nei quali sovraneggiava il principio ehe tutti i rimedii potessero trovarsi nella legge, e ehe nell'assemblea politica fosse riposta l'arca santa della liberta" zu illustrieren. Darin sieht er die Ursache für ein "lavorlo continuo a studiare congegni, a creare espedienti, a costruire formule". Für die nachfolgenden Zitate von De Sanctis vgl. F. de Sanctis, Un viaggio elettorale, Milano 1943, S. 230-231. Nach dessen Auffassung ändert sich der Inhalt der Politik "secondo i tempi e il progresso", während Adel und Klerus in früheren Zeiten "i due puntelli del govemo assoluto" darstellten. 7 Viele italienischen Vertreter der historischen Schule der Ökonomie ziehen es vor, eher von "sozialen Fragen" im Plural als von der "sozialen Frage" zu sprechen,

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,Das Motto des vorigen Jahrhunderts' - erläutert weiterhin Francesco De Sanctis in einem Artikel mit dem signifikanten Titel Il Iimite, das heißt ,Die Grenze' - , war die Freiheit. Und dieses stellt mehr oder weniger einen erreichten und überholten Punkt dar. Das Motto unseres Jahrhunderts ist die Grenze. Es genügt nunmehr nicht mehr, sich liberal zu nennen. Die Freiheit ist ein Mittel und kein Selbstzweck, sie ist ein leeres Wort, wenn wir sie nicht mit Inhalt füllen, der unserem nationalen Leben und unseren Idealen entspringt. Und dieser Inhalt ist die Grenze in der Freiheit, das, was sie nicht zu einer abstrakten Idee, sondern zu einer lebendigen Sache macht. Enthusiasmus allein reicht nicht mehr aus. Es braucht die Wissenschaft, eine politische Erziehung, die bei uns noch ein Desiderat darstellt. ' 8 Gegen die Tendenz zum Abstrakten der liberalen Ideale französischer Prägung werden die italienischen Liberalen vom Ende des 19. Jahrhunderts nicht müde, das Modell des englischen Konstitutionalismus positiv hervorzuheben, das die wahren Freiheiten, die mit Konkretheit erfüllt seien und aus der Geschichte gewonnen wären, und vernünftige Reformen garantierte, die das Ergebnis einer weisen politischen Umsicht seien. Das englische Modell wird wiederholt sowohl in den Parlamentsversammlungen als auch in allen Kanälen der "hohen" politischen Debatte zum Bezugspunkt erhoben, ob es sich um Monographien liberaler Intellektueller oder großer Verlagsunternehmen wie die Biblioteca dell 'economista oder die Biblioteca di scienze politiche handelt, die beide dazu beitragen, daß die italienische Intelligenz auf Gleichschritt mit der großen wissenschaftlich-politisch-kulturellen Debatte in Europa gebracht werden kann. Die neue Losung des Evolutionismus, die - wie es die modernen Wissenschaften lehren - jede metahistorische Revolutionsstrategie übertreffen soll, ertönt unaufhörlich in den Proklamationen der italienischen Liberalen vom Jahrhundertende, im Namen eines graduellen Handlungsprinzips, über das die Beispiele des antiken Rom und des modernen England erfolgreiches Zeugnis ablegen9 . um gerade damit ihren festen Willen anzuzeigen, nie von der gewissenhaften Analyse der empirisch ermittelten Fakten abzuweichen; in diesem Sinne werden sie ihre Aufmerksamkeit auf die spezifischen Aspekte der sozialen Frage in Italien (Südfrage, Mafia, Camorra, Brigantenturn etc.) richten. Über die italienische Rezeption der historischen Schule der Ökonomie und des Kathedersozialismus vgl. P. Schiera - F. Tenbruck (Hrsg.), Gustav Schmoller in seiner Zeit: Die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien, Bologna-Berlin 1989. 8 "Il motto del secolo scorso era la liberta. E questo, piu o meno, e un punto acquisito e oltrepassato. Il motto del nostro secolo e il Iimite. Oramai non basta piu dirsi liberale. La liberta e un istrumento, non e un fine, e una forma vuota, se noi non ci mettiamo dentro un contenuto, ehe e la nostra vita nazionale e i nostri ideali. E questo contenuto e il Iimite nella liberta, cio ehe la rende non una idea astratta, ma cosa viva. L' entusiasmo non basta piu. Ci vuole la scienza, una educazione politica, ehe presso noi e ancora un desiderio." F. de Sanctis, Il Iimite, in: "Il Diritto", 10. Januar 1878, S. 160-165.

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Wenn die Anglophilie des italienischen Liberalismus sich oft als ein echtes konstitutionelles Glaubensbekenntnis für ein ganz "anderes" Verfassungsmodell als das französische abzeichnet, das ein Ergebnis der naturrechtlichen Tendenz zum Abstrakten darstellt, gilt es jedoch hervorzuheben, daß neben dem weisen England ein anderes europäisches Land allmählich eine sehr große Bedeutung als Bezugsmodell für die Politik und für das liberale wissenschaftliche und politische Denken in Italien am Ende des Jahrhunderts anzunehmen beginnt: Deutschland. Der Wirtschaftsliberale Francesco Ferrara spricht Mitte der siebziger Jahre verächtlich vom ,ökonomischen Deutschtum' ("germanesimo economico"), um damit jenen Kreis von Wirtschaftswissenschaftlern (großenteils lombardo-venetischer Herkunft) zu bezeichnen, der sich auf die Positionen der historischen Schule der Ökonomie und des Kathedersozialismus bezieht. Die erwähnten "Germanisten" spielen in der Tat eine erstrangige Rolle auch innerhalb der höchsten Regierungssphären (wie etwa ein Minghetti, ein Luzzatti und 9 Vgl. in diesem Sinne (doch die Beispiele ließen sich vermehren) eine Parlamentsrede von Marco Minghetti über La riforma della !egge elettorale politica (,Die Reform des Parlamentswahlgesetzes') vom 5. Mai 1881, in der er den graduellen Reformweg im antiken Rom und modernen England als ,Leuchte auf unserem Weg' ("faro per illuminare Ia nostra via") angibt und sich beruft auf die ,Methode der fortschreitenden und graduellen Entwicklung des Gesetzes, durch die der Faden der Tradition nicht zerrissen wird, sondern eine Verbesserung und Korrektur gemäß der Wesensart und der Sitte des Landes erreicht wird. Von dieser Methode finden wir in allen Naturreichen Beispiele .. .' ("metodo dello svolgimento progressivo e graduale della !egge esistente, per Ia quale non si rompe il filo della tradizione, ma si vien migliorando e correggendo secondo richiede l'indole e il costume del paese. Di questo metodo abbiamo esempio in tutti i regni della natura ... "). Vgl. M. Minghetti, Discorsi parlamentari, Roma, 1890, vol. VIII, S. 112, 113. In seiner für die Biblioteca di Scienze politiche verfaßten Einführung in das Werk von Cornewall Lewis, Qual e Ia miglior forma di governo?, findet Luigi Luzzatti, ein der historischen Schule der Ökonomie nahestehender Politiker und Wirtschaftswissenschaftler (der deshalb vom freihändlerisch orientierten Francesco Perrara des "germanesimo economico", also des ,ökonomischen Deutschtums' bezichtigt wird) Gelegenheit, folgendes hervorzuheben: , . . . die Engländer haben sich seit fünfhundert Jahren, während sie die Monarchie wie ein Dogma akzeptierten, mit höchster Sorge der Verbesserung ihrer Verfassungsorgane und der Übertragung der Freiheitsformeln in die reale Welt der Fakten gewidmet. Und daraus hat sich mit seltsamen Geschick ergeben, daß während beispielsweise die Franzosen das Volk darstellen, das mehr als alle anderen von Freiheit gesprochen und am wenigsten von ihr genossen hat, die Engländer im Gegenteil wenig von ihr gesprochen und mehr von ihr gehabt haben.' ("... gli Inglesi da cinquecento anni, accettando come un dogma Ia monarchia, si sono posti con somma cura a migliorare gli organi della loro costituzione e a tradurre nel mondo reale dei fatti le formule della liberta. E ne e avvenuto con vece strana ehe mentre a mo' d'esempio, i Francesi sono il popolo ehe ha parlato di piu di tutti gli altri di liberta e ne ha goduto il meno, gl'Inglesi all'incontro parlandone poco ne godettero di piu.") Vgl. L. Luzzatti, Biblioteca di Scienze politiche, Torino, 1886, vol. II, S. 3-4.

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andere) auf bedeutenden Gebieten wie der Reform der Zollverträge oder der ersten Vorhaben für eine Sozialgesetzgebung in den siebziger und achtziger Jahren. Neben dem ,ökonomischen Deutschtum' gibt es dann vielleicht in verdeckterem, aber ebenso bedeutendem Maße eine Art von ,administrativem Deutschtum' ("germanesimo amrninistrativo"), das beständigen Bezug nimmt auf die "Untersuchungen und Vorgaben Deutschlands" 10, soweit es vor allem die neuen politischen Wissenschaften wie die Verwaltungs- und Finanzwissenschaft betrifft, die als unverzichtbarer Maßstab sowohl für die Analyse des Politischen als auch für eine neue Reformplanung gelten. Über die einzelnen Wissenschaften oder Untersuchungsmethoden deutscher Prägung hinaus, die ein so großes Interesse für die italienischen Liberalen besitzen, bedeutet das Modell Deutschland für letztere jedoch etwas mehr als die Rezeption spezifischer disziplinärer oder methodologischer Perspektiven: Die Deutsche Wissenschaft wird mit ihrer mächtigen Organisation meiner Auffassung nach von den italienischen Liberalen tiefgehend rezipiert als ein echter ,konstitutioneller Faktor' ("fattore costituzionale") 11 . Die deutsche Verfassung, innerhalb derer die Wissenschaft in der Lage ist, eine äußerst starke Rolle zur Fundierung eines erfolgreichen politischen Systems zu spielen, wird somit zum bevorzugten Schreckgespenst für Untersuchungen in einem liberalen Italien, das aus der Nähe die Mängel des reinen Rechtsstaats bemißt, um sich in dessem Ionern die gesamte Hinterlassenschaft des Polizeistaats mittels des neutralen Maßstabes der Wissenschaft anzueignen. In einem zuvor wiedergegebenen Zitat vertrat der Intellektuelle und Politiker Francesco De Sanctis, in Bezug auf die , Grenzen' der Freiheit, die es näher zu ziehen gelte, die Auffassung, daß man vom Enthusiasmus, der zur nationalen Einigung geführt hatte, zur Wissenschaft und ,politischen Erziehung' (beide Begriffe implizieren sich gegenseitig) übergehen müßte, womit er die italienischen Mängel in dieser Hinsicht hervorhob. Für De Sanctis wie für alle Politiker der liberalen Kreise in Italien, für die Kulturschaffenden und vor allem für die Vertreter der neuen politischsozialen Wissenschaften werden in der Tat das ,eifrige Deutschland', der , wissenschaftliche Fleiß' seiner Universitäten, seine ,einzigartige wissenschaftliche Organisation' (die seinesgleichen nicht nur in Italien, sondern 10 Vgl. R. Gherardi, Methodenstreit und politisch-soziale Wissenschaften: Die "Untersuchungen und Vorgaben Deutschlands" in der politischen Kultur des liberalen Italiens, in: R. Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 83-104. 11 Vgl. P. Schiera, Il laboratorio borghese. Scienza e politica nella Germania dell' Ottocento, Bologna 1987.

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auch in Frankreich und England sucht 12) zum wesentlichen Schlüsselelement der zeitgenössischen deutschen Veifassung, die es als äußerst bedeutendes Bezugsmodell auch für Italien herauszustreichen gilt. Auf der anderen Seite betonen einige sogar, daß die ,germanische Universität' in Italien entstanden sei und daß es nun, nachdem die italienische Gesellschaft politisch rekonstituiert wurde, gerade Italien zufiele, ,jenen Grad an wissenschaftlicher Bedeutung zu erlangen, der allen den Grund seiner Existenz spüren läßt' 13 • Dennoch sind es gerade diese überzeugten Bewunderer des ganzheitlichen Systems der Deutschen Wissenschaft, die nach und nach auf Distanz zu ihrem Modell gehen, gerade weil dessen Erfolg mit der deutschen Veifassung in ihrer Gesamtheit zu tun hat und es folglich nicht möglich ist, es einfach in eine andersartige politisch-konstitutionelle Realität wie die italienische transplantieren zu wollen. Auch auf dem Gebiet der Wissenschaft bekräftigt man also seinen Willen, den Weg eines Reformismus beschreiten zu wollen, der detailliert ,nach dem Maß der Dinge' durchdacht und an die Charakteristika des italienischen Volkes angeglichen wurde, um zugleich vor der Gefahr zu warnen (wie Bonghi in einer Parlamentsrede über die Hochschulausbildung vom 8. Dezember 1883), ,die Prinzipien des eigenen Denkens in Staats- und Gesellschaftsorganisationen zu suchen, die äußerst verschieden von der unseren sind'. Anderswo entstandene Modelle können zwar als nützlicher Bezugsparameter dienen, sie müssen dann aber sorgfältig ,nach dem Maß der Dinge' abgestuft, verglichen und verbessert werden. So wie im Bereich des Methodenstreits zwischen Anhängern des Freihandels und Vertretern der historischen Schule der Ökonomie hissen die italienischen Liberalen des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts die Fahne eines gänzlich italienischen ,Mittelweges', der sorgfältig nach der Analyse der einzelnen , Fakten' bemessen ist. Als Heimat Galileis beansprucht das liberale Italien all sein Erbe im Namen eines ,Experimentismus', der zu jeder Doktrin und jeder präjudiziellen wissenschaftlichen Methode mit dem erklärten Ziel auf Distanz geht, die bestehende Ordnung zu verteidigen (eine mittlere und neutrale Ordnung gegenüber den Extremen, die man austreiben will), und jeweils die dringendsten aufs Tapet gebrachte Fragen löst. In seiner umfangreichen Einleitung zum fünften Band der Biblioteca di Scienze Politiche, mit dem Titel La liberta nello Stato modemo, das heißt ,Die Freiheit im modernen Staat', führt Attilio Brunialti das ins Feld, was 12 Die Discorsi parlamentari von Bonghi, führender Vertreter der Rechten und Bildungsminister von 1874 bis 1876, enthalten konkrete Beispiele dafür, wie man sich in Italien auf das Modell der Deutschen Wissenschaft beruft. 13 Diese Auffassungen sind Teil einer Parlamentsrede Bonghis vom 1. März 1872, in der er über die Universitäten von Rom und Padua spricht und für Italien "quel grado di valore scientifico, ehe faccia sentire a tutti il perehe essa sia" einfordert.

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er bezeichnenderweise ,die gewaltige Artillerie der Fakten' nennt, gegen den Extremismus des ,Staatskultes' einiger Zeitgenossen und der ,Übertreibungen des Individualismus', Extrempositionen also, die beide umsichtige ,Temperamente' nötig haben 14 • Zwischen Wissenschaft und Regierungskunst beabsichtigt der italienische Liberalismus den Weg einer gut temperierten Politik abzustecken, die in der Lage ist, in ihrem Innern unterschiedliche Hinterlassenschaften aufzunehmen, die einander unter dem Gesichtspunkt der Abstraktheit der Prinzipien augenscheinlich ausschließen, und zugleich der Herausforderung des neuen Verwaltungsstaats zu begegnen, der sich am Horizont abzuzeichnen beginnt, und der unvermeidlicherweise bevorstehenden Demokratie, die so schmerzlos wie möglich für eine liberale Ordnung gemacht werden muß, die es um jeden Preis zu verteidigen gilt. 111. Die Politik des richtigen Temperaments zwischen Freiheit und Demokratie

Gegenüber einer Vorstellung von Politik, die abstrakte Normen zurückweist und die als ,Wissenschaft und Kunst der Möglichkeiten' definiert wird, erweisen sich auch verschiedenartige Denktraditionen, die scheinbar a priori unvereinbar miteinander sind, a posteriori auf dem Boden der Praxis dennoch als integrierbar: Dies ist die Auffassung, die die italienischen Liberalen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unermüdlich bekräftigen. Insbesondere bemühen sie sich, mit Hilfe der Berufung auf die Erfahrung des modernen Staats die Hinterlassenschaft der Wohlfahrtstheorie, die dem institutionellen Rahmen des absolutistischen Staats eigen ist, mit den Prinzipien der Rechtstheorie, dem theoretischen Bezugsrahmen des zeitgenössischen Rechtsstaats, zu integrieren. Die hauptsächliche Führung bei dieser Integration übernimmt die Wissenschaft, oder besser: die neuen Politik-, Rechts- und Sozialwissenschaften, die mit vollkommener Ursachenkenntnis die Fäden in der Beziehung zwischen dem Bürger und dem Staat ziehen, in einem Zeitalter, das nunmehr zu jeder Hypothese eines Minimalstaats oder zu den Forderungen nach laissez faire, laizzez passer auf Distanz geht. Das Zeitalter der Administration blickt auf eine Verdichtung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Staat und Bürger und anstatt an eine rigide Abgrenzung der Terrains zu denken, auf denen sich beide bewe14 Vgl. A. Brunialti, La liberta nello Stato modemo, in: Biblioteca di Scienze Politiche, Torino 1890, vol. V, S. CXLII; Brunialti beruft sich hier auf die "poderosa artiglieria dei fatti". Über das ,richtige Temperament' als Perspektive der liberalen Politik in Italien zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert vgl. R. Gherardi, II politico ben temperato: Ia via dell'Italia liberale fra scienza e arte di govemo, in: "Scienza e Politica", 2, 1989, S. 43-56.

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gen, denkt es lieber in den Begriffen einer möglichen Aussöhnung, im Namen der neuen Aufgaben, die die Gegenwart beiden auferlegt. Wieder einmal tritt die Frage nach den Grenzen in den Vordergrund, die durch den spezifischen Bezug auf eine bestimmte Situation gelöst wird. In seinem berühmten Werk über I partiti politici e Ia ingerenza loro nella giustizia e nell'amministrazione, das heißt ,Die politischen Parteien und ihre Einmischung in die Rechtssprechung und Administration', stürzt sich Marco Minghetti 1881 sowohl auf diejenigen, die im Staat lediglich ein Hindernis für die individuelle Freiheit sehen, das es soweit als möglich zu beseitigen gelte, als auch auf jene, die die Verstaatlichungstheorie bis aufs äußerste verfechten (er definiert diese als eine Art "cattolicesimo statuale", das heißt ,staatsbezogenen Katholizismus'). Denn die Erfahrung der zeitgenössischen Staaten bewies seiner Auffassung nach, daß wenn es wahr ist, daß nun der Moment gekommen sei, der ,individuellen Freiheit' viele einstmals dem Staat vorbehaltene Aufgaben zu überlassen (zum Beispiel bei den ,religiösen Themen', bei der ,Meinungsäußerung mittels des Drucks' et cetera), es ebenfalls nicht zu leugnen sei, daß der Staat nun zur Intervention (und es kann gar nicht anders sein) in neue Sektoren aufgerufen ist, wie in jenem der unterschiedlichen Zweige der Sozialgesetzgebung und des staatlichen Eingriffs (Bildung, Verkehr, Gesundheit et cetera): Über die Legitimität des Staatseingriffes könne nur durch die sorgfaltige Analyse der Gegenwart geurteilt werden, da die neuen Aufgaben, die heute dem Individuum und dem Staat auferlegt sind, nicht gelöst werden könnten durch die Bezugnahme auf eine begriffliche Dichotomie wie jener zwischen Rechtsstaat-Polizeistaat, die zur Zeit der Durchsetzung des repräsentativen Staats entstanden ist, aber nunmehr aufgrunddessen Umwandlung in den administrativen Staat veraltet sei. Nach und nach zeichnet sich in aller Deutlichkeit der Rahmen ab, innerhalb dessen für den italienischen Liberalismus am Ende des 19. Jahrhunderts jede Reflexion über das aktuelle Freiheitskonzept statt zu finden hat: auf der einen Seite in der Tat die wohlgefestigte Vorstellung, daß die parlamentarische Regierung am ehesten den Erfordernissen der modernen Gesellschaften' entspräche (dies sind noch immer die Worte Minghettis), auf der anderen Seite jene über die unendlichen Beziehungen, die in den fortgeschrittenen Zivilisationen den Alltag des Bürgers an den des Staats binden. Man wird von Mal zu Mal zu einer detaillierten Feststellung der Grenzen der Handlungssphären von Individuum und Staat gelangen müssen, im Namen einer vernünftigen Politik der Vermittlung, die letztendlich als siegreiche Strategie gut geheißen wird gegenüber den möglichen Degenerationen eines Demokratisierungsprozesses, der nunmehr als imminent erscheint. Der Vorsitzende des Ministerrats, Marco Minghetti, fand im Verlauf einer bedeutenden Debatte der Kammer (in der er seine jüngste Bestrebung nach 7 KiJ'llch

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Bildung einer großen Mehrheit in den Vordergrund rückt, ,a working majority, wie die Engländer sagen', die in der Lage ist, dringende Reformen zu erzielen) Gelegenheit, die Anwesenden daran zu erinnern, ,daß die Demokratie, die seit einigen Jahrhunderten wirklich wächst und in der modernen Welt führend ist, eine große Gefahr in sich und in ihrem Übermaß trägt', und daß sie es nötig habe, ,erzogen und diszipliniert' zu werden: Das demokratische Prinzip der ,numerischen Überlegenheit' könnte nämlich, wenn es sich selbst überlassen bliebe, die bestehende Ordnung und einige ihrer , vortrefflichsten Institutionen' ernsthaft aufs Spiel setzen 15 • Angesichts der Risiken der Demokratie wendet sich das liberale politische Denken in Italien erneut den Werken aller ,Großen' des politischen Denkens in Europa zu, von Montesquieu (der im Esprit des lois sehr vor einer möglichen Verwechselung der Macht des Volkes mit der Freiheit des Volkes gewarnt und die Freiheit als das Recht definiert hatte, das zu tun, was das Gesetz erlaubt) zu Tocqueville, zu all denen, die aus der Nähe die Koordinaten der modernen Freiheit umrissen haben (die Namen von Constant und Laboulaye werden in Betreff der Unterschiede zwischen ,der Freiheit der antiken und der Freiheit der modernen Menschen' wiederholt ins Feld geführt), bis zu den großen, vornehmlich deutschen Juristen der Zeit. Nun den Begriff der Freiheit zu bestimmen, bedeutet wegen des begonnenen unaufhaltsamen Demokratisierungsprozesses wieder einmal, direkt die genauen Grenzen zu berücksichtigen, innerhalb derer sich die Freiheit entfaltet, und auf jede philosophische Definition zu verzichten, die bereits von 15 Im Verlauf der Debatte über die Finanzpolitik, in der Kammersitzung vom 22. April 1874, vertrat Minghetti die Überzeugung: "E a coloro ehe difendono il principio democratico mi permetto di dire ehe Ia democrazia, Ia quale realmente cresce da aleuni secoli e primeggia nel mondo moderno, ha un gran pericolo in se stessa e nei suoi eccessi. Io credo ehe se Ia democrazia dovesse trionfare prima d'essere educata e disciplinata, se dovesse stravincere, se tolti i freni, il govemo fosse ridotto unicamente alla prevalenza del numero, io credo ehe Ia democrazia comincierebbe coll sovvertire tutto cio ehe rimane ancora di nobilissime istituzioni, poi finirebbe, come ha finito sempre ogni potenza ehe non ha freno, per uccidere se stessa." (Vgl. M. Minghetti, Discorsi parlamentari, Roma 1890, vol. VI, S. 57-58). An mehreren Stellen seines Schaffens als Politiker und als Intellektueller offenbart Minghetti seine Sorge darüber, wie wichtig es sei, das Aufkommen der Demokratie zu steuern. Auch in einem Brief an Königin Margherita schreibt er 1883: ,Verhindern zu wollen, daß die Demokratie immer mehr an der Regierung teilhat, wäre erfolglos (.. .)man muß sie also eniehen (...) wenn die Demokratie ungebildet und roh zur Teilhabe gelangt, werden wir jenen Wechsel zwischen Anarchie und Despotismus haben, von dem uns Frankreich nicht wenige Proben gegeben hat.' Vgl. L. Lipparini (Hrsg.), Lettere fra Ia regina Margherita e Marco Minghetti, Milano 1947, S. 111: "(...) Impedire ehe Ia democrazia venga a partecipare ognor piu al governo sarebbe vano (. . .) bisogna dunque educarla (...) se Ia democrazia viene a partecipare ignorante e brutale avremo quella alternativa di anarchia e dispotismo di cui Ia Francia ci diede saggi non pochi."

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sich aus mit jener Tendenz zum Abstrakten gekennzeichnet wäre, die man gerade an den Pranger stellen will und die in den unmittelbar auf die Französische Revolution folgenden Jahrzehnten so sehr verbreitet war, sowohl im Gewande der Utopie als auch jeder aprioristischen Ideologie, auch wenn es sich dabei um den Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts handelte. Zwischen Freiheit und Demokratie wird somit allmählich durch den italienischen Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts eine dichte Kette von ,Grenzend 6 eingewebt, die für einen Fortschritt ohne traumatische Unterbrechungen sorgen sollen, den die Wissenschaft, der Staat und der ,Mittelstand' ("classe media") aufgerufen sind gegen jeden Extremismus zu garantieren. Wegen der Komplexität, die die moderne Demokratie kennzeichnet, wird der ,gute Menschenverstand' für Brunialti (und wir befinden uns bereits zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts) zu einer wesentlichen Eigenschaft für ihr eigenes Überleben, so wie er auch ebenso essentiell für die ,Staatsmänner' und die ,Führungsklassen' sei 17• Auch in der Biblioteca di Scienze Politiche hatte derselbe Autor bereits Gelegenheit gehabt, sich lange mit der Problematik der ,Grenzen' und der ,Eindämmungen' der Freiheit im Verhältnis zur Entwicklung der Zivilisation auseinanderzusetzen, Grenzen, die die Gesetze, die Sitten, die Wissenschaft ziehen müßten, um die möglichen Hochwasserfluten des Jakobinismus und seiner Erben wie auch einer öffentlichen Meinung zu bändigen, ,die schrecklicher und unnachgiebiger als die schlimmsten Tyrannen' sei 18 •

16 Zuvor habe ich Gelegenheit gehabt, an die Rede von De Sanctis bezüglich der Bedeutsamkeil zu erinnern, sich mit den ,Grenzen' der Freiheit zu messen, doch finden sich analoge Akzente in der gesamten liberalen Publizistik Italiens. Unter dieser Perspektive ist der Artikel Liberta emblematisch, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Giovan Battista Ugo für den Digesto ltaliano verfaßt wurde (der erwähnte Artikel datiert vom "22 novembre 1903"). Einige Überschriften der Paragraphen des zweiten Kapitels veranschaulichen das Ausmaß der obenerwähnten Problematik: Paragraph 18: ,Die Grenze ist untrennbar vom Begriff der Freiheit selbst' (11 Iimite e inseparabile dal concetto stesso di liberta); Paragraph 20: ,Die Existenz des Staats bringt neue Grenzen mit sich' (L'esistenza dello Stato trae seco nuovi limiti); Paragraph 21: ,In welcher Hinsicht die Entwicklung der Zivilisation die Grenzen vermehrt' (In qual senso lo sviluppo della civilta aumenti i limiti); Paragraph 22: ,Wie sich in den verschiedenen Freiheitserklärungen neben dem Recht die Grenze behauptet' (Come nelle varie dichiarazioni di liberta, accanto al diritto, si affermi il Iimite). Vgl. G. B. Ugo, Liberta, in: 11 Digesto Italiano, vol. XIV, Torino 19021905, s. 804-815. 17 Vgl. A. Brunialti, Democrazia, in Enciclopedia Giuridica Italiana, vol. IV, Milano 1911, S. 867. 18 Vgl. A. Brunialti, La liberta nello Stato modemo, in: Biblioteca di Scienze Politiche, vol. V, Torino 1890. Im oben genannten Vorwort rekurriert Brunialti wiederholt auf die Metapher des Flusses und der Dämme, um die gesamte Problematik 7•

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In das gestreifte Geflecht der Grenzen, innerhalb derer sich die schmerzlose Begegnung zwischen dem Erbe des Liberalismus und der Demokratie vollziehen soll, gliedern die italienischen Liberalen mit Nachdruck auch die komplexe Problematik jener politischen und moralischen Erziehung ein, die einen der wesentlichen Pfeiler der Disziplinierung 19 darstellt. Nach Auffassung Brunialtis implizieren der Fortschritt der Menschheit und die Zivilisation eine ,graduelle Vereinheitlichung auch der Moral', und er zitiert ausführlich Bluntschli (und die Deutschen), um die konkreten Wege aufzuzeigen, durch die eine moralische und politische Erziehung zur Freiheit gefördert werden soll20. Es öffnet sich somit ein weiter Raum für eine Politik mit der Fähigkeit, jeden Extremismus auf ihrem Feld und in erster Linie einen demos zu mäßigen, der nachdrängt, der alles sein will und der nur abstrakte und absolute Rechte zu konzipieren vermag; die Democrazia von Luigi Palma appelliert auf explizite Weise an die rettende Rolle des oben erwähnten richtigen Temperaments, an die ,festen und mäßigenden politischen, staatlichen und juristischen Gewalten' der aktuellen konstitutionellen und parlamentarischen Regierungsformen; ,öffentliche Tugend' und richtiges Temperament der Politik sind die siegreichen Waffen, um einen Fortschritt zu gewährleisten, der auch Garantie für die Ordnung und Stabilität des Staats sein soll21 . des Verhältnisses zwischen Freiheit und Gesetzen in den zeitgenössischen Gesellschaften aufzuzeigen. 19 Über die Thematik der Disziplinierung als roter Faden in der abendländischen Geschichte vgl. den beeindruckenden Band von P. Schiera, Specchi della politica. Disciplina, melancolia, socialita nell' Occidente modemo, Bologna 1999. 20 In seiner bereits zitierten Einführung über La liberta nello Stato modemo schreibt Brunialti: "L'importanza dell'educazione per Ia Iiberta e stata compresa dagli antichi, come lo e dai piu illustri modemi, e non solo dai filosofi, ma dai pubblicisti. II Mohl, lo Held, il Bluntschli, perehe Ia dottrina trovo in Germania i suoi piu illustri campioni, insistono su questo punto, e I' educazione si riflette non solo alla liberta politica, ma anche alla morale. Cosl il Bluntschli scrive: ,L'educazione politica e Ia base indispensabile della liberta vera. Una nazione grossolana e incapace di costituirsi e govemarsi coscientemente da se: Ia si travia facilmente e diventa preda di false autorita. La coltura non mette certamente al coperto da qualsiasi errore; ma piu l'educazione e buona, piu Ja nazione sara potente e libera, ed importa sovratutto formare i caratteri ed inspirare il sentimento dei doveri pubblici. A tal uopo gioveranno: a) Buone scuole popolari obbligatorie; b) L'istruzione scientifica, libera ed elevata delle funzioni professionali ed anche, in minor misura, delle onorarie; c) L'educazione militare col servizio imposto a tutti; d) L'abitudine dei doveri civili, elezioni, giurie, servizi pubblici gratuito, ecc.; e) Lo sviluppo dell'intelligenza degli interessi pubblici; f) La pubblicita delle discussioni legislative e giudiziarie, Ia guerra dell'egoismo, Ia diffusione e l'elevazione del sentimento patriottico. "'(S. CXXII) Das lange Zitat von Brunialti ist Kap. I des Buches II von La Politica entnommen.

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Noch im Ausgang des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts nimmt lppolito Santangelo Spoto mehrmals in seiner Politica Bezug auf jenes, was er als ,mäßigende potestas' der Politik selbst definiert, die sich auf der einen Seite zu mäßigen ("temperarsi") weiß, indem sie sich direkt mit den Wissenschaften konfrontiert, und die auf der anderen Seite aus der Kunst umsichtiger Vermittlung und richtigen Temperamentes besteht22. Hier wird die gesamte Erbschaft des italienischen Liberalismus im Zeitalter der Administration zusammengefaßt, in seiner Sorge, all die Abstraktheit und NichtAnwendbarkeit der sogenannten ,absoluten' oder ,radikalen Heilmittel' anzuzeigen, und in seiner Aufforderung, eher den Weg der ,Mäßigungen' und der ,mittleren Lösungen' - vielleicht an Hand präziser wissenschaftlicher Anleitungen - zu suchen23 . Im Werk der geduldigen Disziplinierung, der sich die Politik unaufhörlich zu widmen hat, geschieht es oft, daß sich bedeutende Politiker gegenüber ebenso gefeierten italienischen und ausländischen Gesprächspartnern auf die ,Kardinaltugenden' berufen und die Notwendigkeit verspüren, sie en details aufzulisten. , Geduld, Gerechtigkeit, Vorsicht, Mäßigung! ' ruft 21 Vgl. L. Palma, Democrazia, in: I! Digesto Italiano, vol. IX, parte I, Torino 1887-1898. Der abschließende Teil des betreffenden Artikels lautet wie folgt: "Piace sperare ehe, con siffatti organismi costituzionali, e colla virtu pubblica delle genti antiehe come delle nuove, il demos si possa contemperare cogli altri elementi sociali, frenarsene gli eccessi, e cosi assicurare meglio il progresso, I' ordine e Ia stabilita dello Stato." (S. 969). 22 Das Substantiv "temperamento" (Temperament) und das Verb "temperare" (mäßigen) werden mehnnals von Santangelo Spoto mit Bezug zur Politik gebraucht. Siehe zum Beispiel die folgende Auffassung: "Cosl Ia politica aggiunge al diritto quello ehe il sentimento al cervello, e ne mitiga i rigidi sillogismi, e lo fa entrare nella vita. Cosi quello ehe il diritto istituisce, Ia politica costituisce, cioe intende a togliere Je dissonanze, a trovare quello ehe vi ha di intimo, di comune nelle varie attivita sociali. Se il diritto e organismo e ha definite Je sue parti sostanziali, Ia politica e temperamento, ehe quelle parti sviluppa secondo Ia razza, il clima, Je circostanze, l'ambiente." (Vgl. I. Santangelo Spoto, Politica, in: I! Digesto ltaliano, vol. XVIII, parte II, Torino 1924. Der Artikel "politica" datiert vom "8 dicembre 1909"). 23 Siehe in diesem Sinne den Redebeitrag Marco Minghettis bei der Societa di economia politica italiana vom I. März 1882. In Bezug auf die diskutierte "questione monetaria" sagt er: "Certo quei rimedi ehe sogliono chiamarsi radicali, cioe ehe troncano il male alla radice, i rimedi assoluti son facili ad eseogitarsi, sono anehe piaeevoli ad aseoltarsi, ma poi in pratiea troverebbero tali e tante diffieolta ehe non rieseirebbero, e per avventura potrebbero sospingerei ad una eondizione di eose anehe peggiore." Und weiter: "Pertanto io non esito a dire ehe si tratta qui di eereare piuttosto dei temperamenti, delle soluzioni medie ehe ei lascino speranza di essere attuati. A questa ricerea di temperamenti, anziehe di soluzioni assolute del problema, mi confortava anehe un altro pensiero .. ." (Vgl. M. Minghetti, Soeieta di Eeonomia politica italiana. Riunione del I marzo 1882, in: "Nuova Antologia", 1885, H. 5, S. 4-5).

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Minghetti24, und sehr viele setzen wie er den Akzent vor allem auf die Geduld und Mäßigung, die wesentliche Tugenden sind für die umsichtige politische Vermittlung, die dafür bestimmt scheint, wie Minghetti weiter hervorhebt, ,die Demokratie zu befahigen, sich gut zu regieren, und sie vor den Gefahren zu schützen, die uns die antike und die moderne Geschichte anzeigen'. Handelt es sich um einen italienischen Liberalismus, der "sekundär" und unfahig ist, an ein Projekt der umfassenden Wandlung zu denken, wie ein Teil der zeitgenössischen Literatur es betont? Das Adjektiv "sekundär" erscheint mir zumindest inadäquat, wenn man die große Menge Übersetzungen, die die bedeutendsten theoretischen Werke der italienischen Liberalen in den wichtigsten europäischen Staaten erfuhren, und das Interesse berücksichtigt, das die liberale Intelligenz Europas den Entwicklungen unseres Liberalismus entgegenbrachte. Der italienische ,Moderatismus' wollte sicherlich erst gar kein System konstruieren, und folglich ist es in dieser Hinsicht nicht korrekt, von ,Unfahigkeit' in Bezug auf etwas zu sprechen, was absolut nicht gewollt wurde. Die italienischen Liberalen vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigten sich eher darum bemüht, die liberale Ordnung um jeden Preis zu verteidigen, und eine solche Ordnung sah nach ihrer Auffassung eine Politik ad excludendum gegenüber den Extremen vor, die sich auf die Mitte der parlamentarischen Richtungen und einen Detail-Reformismus stützte und dazu tendierte, die bestehenden Konflikte abzuschwächen und mit der zuverlässigen Hilfe der Wissenschaften spezifische Lösungen für die jeweils auf das Tapet gebrachten Mißstände aufzuzeigen. Auf diese Zwecke war der Vergleich mit den großen europäischen Verfassungsmodellen ausgerichtet, von denen einige Anregung ausgehen konnte für jenen gänzlich italienischen Weg des Kompromisses und der Vermittlung, den man nicht müde wird zu bekräftigen und der sogar für fahig gehalten wird, dem heftigen Zusammenprall mit der Demokratie standzuhalten25 . 24 Zur Berufung Minghettis auf diese Tugenden ("Pazienza, giustizia, prudenza, temperanza!") vgl. die an Luzzatti und Lord Russell gerichteten Briefe, die von mir untersucht wurden, in: L'arte del compromesso cit., S. 32-33. Was vor allem den ,Aufstieg der Mäßigung in der Hierarchie der Tugenden' ("crescita della temperanza nella gerarchia delle virtii") als ,auffallender Zug der europäischen Zivilisation' ("tratto saliente della civilizzazione europea") betrifft, vgl. die anregenden Beobachtungen von P. Schiera, Specchi della politica cit., S. 97 ff. 25 De Sanctis schreibt: "Per cansare questo pericolo aleuni si appigliano alla resistenza e hanno in sospetto tutto cio ehe sappia di democratico. Cattivo sistema. La resistenza contro Ia corrente Ia rende piii furiosa, e sei tratto la appunto dove temevi di andare. In luogo di navigare contro Ia corrente, Ia politica richiede ehe si navighi a seconda, pur trovando il modo di regolare il suo corso impetuoso nell'interesse della pace sociale e del sicuro progresso." (Vgl. F. De Sanctis, Le forze dirigenti, in: "II Diritto", 24. Januar u. 4. Februar 1878).

Der deutsche und der italienische Liberalismus: zwei Bilder im Vergleich Von Monica Cioli "Wenn das italienische Risorgimento das Meisterwerk des europäischen liberalen Geistes war, war das Risorgimento Deutschlands das Meisterwerk der politischen Kunst und der militärischen Tugend: Zwei Meisterwerke so verschieden, wie ein schönes Gedicht und eine mächtige Maschine." 1

1. Die gescheiterte Revolution in Deutschland sollte eine tiefgreifende Wandlung in der Politik der Liberalen provozieren: Mit der Wahrnehmung der konfliktbehafteten inneren Substanz der Gesellschaft wandelte sich der Freiheitsbegriff - er war jetzt nicht mehr civil sondern political: Im Vergleich zum Liberalismus des Vormärz, der davon ausging, daß "die rechtliche Beschränkung der äußeren Freiheit des Einen blos in dem gleichen äußeren Freiheitsanspruch aller Anderen liegt ..."2• wurde Freiheit zum organisatorischen Prinzip der Gesellschaft. Damit fing die lange Zeit der liberalen Selbstkritiken an, deren Gegenstand die Spannung zwischen Staat und Gesellschaft waren und die nach ihrer Auflösung strebten. Die Notwendigkeit, die liberalen Prinzipien zu modifizieren, um Freiheit verwirklichen zu können, kennzeichnete deshalb den "nachmärzlichen" Liberalismus3: Die pragmatische Handlungsweise des politischen Liberalismus fing an. Im Gegensatz zum Opportunismus, der vielleicht als Tendenz einer zielstrebigen Veränderung eigener Prinzipien verstanden werden kann, wird Pragmatismus in diesem Zusammenhang als Anpassung liberaler Prinzipien an die Realität betrachtet. In dieser Zeit entstanden Werke wie die 1 B. Croce, Storia d'Europa nel secolo decimonono, Bari 1932, S. 253 f. Auf deutsch: Id., Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert, 2. verbesserte Auflage, Stuttgart 1935. 2 C. v. Rotteck, Art. Freiheit, in Staatslexicon, oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, hrsg. von C. v. Rotteck und C. Welcker, Bd. 6, Altona 1838, S. 60-74, S. 65. 3 So Dieter Langewiesche: ,,In einer Zeit der politischen Repression und des beschleunigten Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft mußten die Liberalen ihre Revolutionserfahrung verarbeiten und ihre Leitideen diesen Erfahrungen und den gewandelten Handlungsspielräumen anpassen" (D. Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 83).

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Grundsätze der Realpolitik von Ludwig August von Rochau (1853; 1869) und Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik (1866) von Hermann Baumgarten,4 welche die auf verfassungsrechtlichen Prinzipien beruhende Gesellschaft rechtspolitisch umdachten. 5 Während bis dahin die Ideen und die Weltanschauung das Handeln der Liberalen prägten, traten sie nun in eine neue Phase der Beziehung zum Staat. Das pragmatische Handeln wurde zum probaten Mittel für die Politik.6 Als Manifest liberalen realpolitischen Denkens galten Rochaus Grundsätze der Realpolitie, der im Erfahrungshorizont der nachrevolutionären Zeit seine Hoffnungen und Einsichten zu formulieren versuchte. Während Dahlmann 18358 dem Mittelstand die politische Führung zuschrieb, weil dieser die Fähigkeit habe, das ganze Volk zu vertreten, erkannte Rochau dem Staat eine Integrationsrolle zu: Die "Staatskraft" bestand für ihn "lediglich aus der Summe der gesellschaftlichen Kräfte, welche der Staat sich einverleibt hat"9 . Offenkundig äußerte sich darin die Wahrnehmung einer von Konflikten gekennzeichneten Lage der Gesellschaft, durch welche die Ideen und die 4 H. Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, 1866, jetzt hrsg. und eingeleitet von A. M. Birke, Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1974. Nach der Niederlage Österreichs in der Schlacht von Königgraetz begriffen die Liberalen die Notwendigkeit der Realpolitik, die in der Anerkennung der bis damals bekämpften Bismarcks Regierung bestand. Ausgehend davon, daß siegen "in der Politik ( ...) zur Herrschaft kommen" heißt (lbidem, S. 6), mußte der Liberalismus regierungsfähig werden. Die Anerkennung der Bismarckschen Politik wurde von manchen als "Kapitulation des deutschen Bürgertums" interpretiert, während andere dagegen einen Triumph des Staatsbewußtseins über Doktrinarismus, kleinlichen Partikularismus und engstirnige Sonderinteressen sahen (A. M. Birke, Einleitung, in H. Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, S. 7). 5 Ausgangspunkt des realpolitischen Umdenkens wurde daher die liberale "Enttäuschung" und die neue Auffassung der Politik als kollektive Aktion, die nach bestimmten Ergebnisses strebt. Nicht zufällig ist auch die Entstehung der liberalen politischen Organisationsform auf diese Zeit zurückzuführen: Die Deutsche Fortschrittspartei wurde in der Tat im Jahre 1861 gegründet. 6 Die liberale Neigung, rechtsstaatliche Prinzipien der Realität anzupassen wird von Teile der Geschichtsschreibung nach wie vor kritisiert. Ein neuer Beitrag in diesem Sinne leistet Anna Gianna Manca, La sfida delle riforme. Costituzione e politica nel liberalismo prussiano (1850-1866), Bologna 1995, die den neuen pragmatischen Kurs der Liberalen als Entfernung vom Verfassungsinhalt interpretiert. 7 L. v. Rochau, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands (1853; 1869), hrsg. von H.-U. Wehler, Frankfurt a. M.-BerlinWien 1972. 8 F. Chr. Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt (1835), Frankfurt a. M. 1968. 9 L. v. Rochau, Grundsätze der Realpolitik, S. 27. Die Hervorhebung stammt von der VerfasseTin dieses Aufsatzes.

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Weltanschauung der Liberalen stark relativiert werden sollten. An die Stelle der Doktrin trat das Naturgesetz der Macht als wichtiges Element der Herrschaft: "Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Macht besitzt. Dieser unmittelbare Zusammenhang von Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik und den Schlüssel der ganzen Geschichte." 10 Was in der Politik zählt, ist die Wirklichkeit: Es waren nicht Ideen, sondern allein Kräfte, die Deutschland einigen konnten.11 Es ist demnach nicht einfach die Idee, sondern die Macht der Idee, d. h. ihre Überzeugungskraft, ihre Autorität sowie ihr Maß an Legitimation, und damit das Maß an Anerkennung von unten, welche die Herrschaft beanspruchen kann. Die ,Macht der Ideen' ist für Rochau durch die "Verbreitung" derselben gegeben: "Eine vereinzelte Meinung, eine vereinzelte Intelligenz, ein vereinzelter Reichtum bedeutet im Staat wenig oder gar nichts; um politisch zu gelten, muß die Meinung zur öffentlichen, die Intelligenz zum Gemeingut, der Wohlstand wenigstens in einer Klasse heimisch werden." 12 Dem Vormärz gegenüber entwickelte bzw. verstärkte sich eine andere Idee des Staates: Während damals der Mittelstand mit dem Staat gleichgesetzt wurde, wobei das Bürgertum im Grunde genommen eine nicht konfliktbehaftete Gesellschaft vertrat, gewann der Staat nun ein Dasein, das unabhängig vom staatlichen Bewußtsein seiner Angehörigen war. Rochau zufolge hing die Stärke des Staates davon ab, daß "er vor allen Dingen die Einzelkräfte seiner Angehörigen zu pflegen und zu fördern, demnächst aber auch sich dieselben anzueignen wissen muß" 13 . Ein ähnlicher Prozeß fand in der damaligen deutschen Rechtswissenschaft statt, 14 die zur gleichen Zeit die These der rechtlichen Staatspersönlichkeit aufbaute. Moderner, d. h. einer sich verändernden Gesellschaft angemessener, so auch Rochaus Meinung nach, "sei diejenige [Verfassung], welche alle gesellschaftlichen Kräfte nach ihrem vollen Werte zur staatlichen Geltung kommen läßt". Davon leitet er ab, daß der Stoff der Verfassung "nicht bloß ein gegebener, sondern auch ein lebendiger" 15 ist, insofern sie immer in der Lage sein muß, den Aufstieg von neuen gesellschaftlichen Kräften in politische Organe zu erlauben. Wenn die Verfassung des Staates durch "das lbidem, S. 25 f. "Es ist machiavellischer Realismus - zumal wenn zu der Macht der Erfolg als Ziel und Maßstab der Politik genannt wird" (T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 719). 12 L. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, S. 45. 13 lbidem, S. 27. Die Hervorhebung stammt von der VerfasseTin dieses Aufsatzes. 14 Vgl. M. Fioravanti, Giuristi e costituzione politica nell'Ottocento tedesco, Mailand 1979. 15 L. von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, S. 27. 10

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Wechselverhältnis der innerhalb teils tätigen, teils ruhenden Kräfte" 16 bedingt wird, erwirbt der Staat als solcher eine bestimmte Autorität, welche die einzelnen Interessen der gesellschaftlichen Kräfte überwindet. Staat bedeutet "neutraler" 17 Staat - was der Venvaltung bei Lorenz von Stein entspricht. Realpolitik, d. h. die Konfrontation der Ideen mit den Tatsachen, hatte die Verstärkung bzw. die Rückkehr zu dem "traditionellen" Bündnis des Liberalismus mit dem Staat zur Folge - ein Bündnis, das durch das revolutionäre Ereignis unterbrochen worden war und das sich deshalb auf eine Kontinuitätslinie mit der vorrevolutionären Geschichte der Liberalen stellte. Die Weiterentwicklung bzw. Verstärkung der Rolle des Staats hing aber nicht nur mit der revolutionären Erfahrung von 1848/49 zusammen, sondern auch mit der Zeit einer allgemeinen Umwandlung der Gesellschaft. Es war die Epoche der politischen Desillusionierung, des Durchbruchs der Industriellen Revolution, des Vordringens der Naturwissenschaften, des Aufstiegs des philosophischen Skeptizismus: Zu den "alten" Fragen von Freiheit und Einheit kamen die des gesellschaftlichen Wandels, welche eine neue wirtschaftliche Lage widerspiegelten. Eine solche allgemeine Umwandlung wirkte sich auf die Rechtswissenschaft aus, welche eine angemessene Antwort auf eine veränderte Konstitutionalismusfrage geben wollte. So interpretierte Robert von Mohl die gewandelten Bedürfnissen der Gesellschaft bzw. der Verfassung und schrieb demgemäß dem Staat eine aktivere Rolle zu. Sich auf Kant berufend 18 entwickelte er einen Rechtsstaatsbegriff, nach welchem der Staat nicht nur die Freiheiten der Bürger schützen und sich womöglich vom Gebiet der Bürgerrechte fernhalten, sondern auch für das Wohlsein eintreten muß. 19 Es handelte sich hierbei um einen Versuch, die Konstitutionalismusfrage zu erfüllen, d. h. die ideelle bürgerlich-liberale Konstitution der Verfassung anzupassen. Im Rahmen der Entwicklung des modernen Staates, die nun von der Verfassungs- zur Venvaltungsphase überging, waren der Staat und sein lbidem, S. 27. Daß es sich um einen willkürlichen Begriff handelt und daß der zukünftige deutsche Nationalstaat bestimmte Interessen verteidigte, steht außer Frage. 18 In der Kantschen Staatslehre sieht Mohl einen Hauptmangel in "offenbar allzu enger Zweckbestimmung des Staates, bei Übersehung aller naturwüchsigen Organisation im Volke und der allgemeinen menschlichen Nothwendigkeit des Staates." (R. v. Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. l, Graz 1960, S. 242). Darüber hinaus fand er einen der wichtigsten Gründe für den starken Beifall der Kantschen Staatslehre in ihrer "Übereinstimmung . . . mit der modernen, negativen Freiheitsverfassung. Die selbstsüchtige Vereinzelung des Individuums fand hier ihre volle Rechtfertigung" (lbidem, S. 242 f.). 19 R. v. Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bde, 185558, Graz 1960. 16

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Eingreifen zentral. Es war nichts anderes als Aufnahme und Weiterentwicklung deutscher Tradition: Schon Anfang der 30er Jahre hatte Mohl diese Idee dargestellt20, das Erbe des aufgeklärten Absolutismus aufgreifend, und die Polizeilehre wieder rechtsstaatlich interpretierend? 1 Der Inhalt, den Mohl der staatlichen Aufgabe gab, mußte am Tag nach der Revolution sehr modern erscheinen, wobei diese auf die Versöhnung zwischen Staat und Gesellschaft gerichtet war, und zwar auf die Lösung jener Frage, die immer mehr die Konturen der konfliktbehafteten Sozialfrage annahm. Das ließ Mohl zu einem Vorläufer einer Thematik werden, die ihre Entfaltung besonders im nachmärzlichen Deutschland fand. Wegen des Fehlens und des anschließenden "Scheiterns" einer bürgerlichen Revolution, wie auch aufgrund der Anzahl von sozialen Problemen, mußte das Rechtsstaatsprinzip in Deutschland seine abstrakten Postulate verändern und praktisch werden. 22 Der Staat und sein Eingreifen wird in besonderer Weise zum Hauptthema in der Verwaltungslehre von Lorenz von Stein. Gerade zu einer Zeit der wirtschaftlichen und sozialen Umwandlung konstruierte er ein System, das die Gesellschaft analysierte und die entsprechenden Heilmittel bereitstellte. Die Maßstäbe seines Systems waren die soziale Frage und die Verwaltung, welche der Interpretation einer theoretisch erfaßten geschichtlichen Bewegung entsprachen. Die Bedeutung der Lehre von Stein besteht also darin, daß er jene Gesetze interpretierte, die nicht als abstrakte "Naturgesetze", sondern als real geschichtliche gelten?3 So braucht die politische und verwaltungsmäßige Planung der Steinsehen Staatsintervention einen hohen Grad an Vorhersehbarkeit, die Zufälligkeit ausschließt. 24 Neu bei Stein sind nicht nur die Tiefe seiner Gedanken über die Gesellschaft, sondern auch die von ihm vorgeschlagenen Werkzeuge, die die Staatsgewalt in die Lage versetzen, komplexe Phänomene wie soziale Bewegung, soziale Frage und Klassenkampf einzuschränken?5 Die Wissen20 R. v. Mohl, Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. 1, Tübingen 1832. 21 Mohl erscheint als realistischer Vermittler zwischen "der bürgerlichen Frage, die um den Begriff des Rechtsstaates sich sammelt," und der traditionellen Staatsintervention des Polizeistaates" (F. De Sanctis, Societa moderna e democrazia, Padua 1986, S. 40). 22 lbidem, S. 38. 23 E.-W. Böckenförde, Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in Id. (Hrsg.), Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, s. 131 ff. 24 M. Ricciardi, ,Die Gewalt der Dinge'. Antefatti della dottrina della societa e dell'arnministrazione di Lorenz von Stein, in Annali dell'Istituto Storico ltalo-Germanico, XVIII, 1992, S. 201 ff., S. 203.

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schaft der Gesellschaft wird daher zur Lösung der sozialen Frage, oder anders gesagt zur "Stabilisationswissenschaft"26 . Doch auch der Staat selber kann in einen Konflikt mit der Freiheit geraten: Zu viel Obrigkeit steht in der Tat nicht in Einklang mit dem liberalen Prinzip der Freiheit, wobei aber beide in der politischen westlichen Erfahrung unerläßlich sind. Das Motiv der Staatsintervention für die Entwicklung der Freiheit, was hier als wesentlich "liberal" verstanden wird, kehrt hauptsächlich bei Stein wieder. Zentral ist bei ihm die Bedeutung der Gemeinschaft, d.h. der gesellschaftlichen und staatlichen Vermittlung zwischen dem grenzenlosen Antrieb des Individuums und den begrenzten materiellen Möglichkeiten, die tatsächlich bestehen27 . Die Gemeinschaft bildet daher die "Persönlichkeit" des Menschen, d. h. seine rechtliche Freiheit, die sich um die Begriffe Bildung und Besitz rankt. Nimmt man die Versöhnung zwischen Staat und Freiheit als Vorbedingung für die Entstehung der Gemeinschaft, von der sich die Persönlichkeit ableitet, wird die Versöhnung zwischen dem Individuum, seiner Freiheit und dem Staat zu einem unvermeidlichen Schritt in der Entwicklung der Persönlichkeit. In einem so bewegtem Szenarium erlebte auch die Rechtswissenschaft eine wesentliche Entwicklung. Die Theorie des öffentlichen Rechts fing an, sich von der Tradition der Naturrechtslehre zu entfernen und sich modern umzugestalten.28 Die neue Methode der Rechtswissenschaft mußte den preußischen Liberalen sehr wichtig erscheinen, um den Ausbau der Verfassung von 1850 verwirklichen zu können. 29 Nach der konstituierenden Phase der Staatseinheit fing die der konkreten Politik an und die Verwaltung gewann den Vorrang vor der Verfassung. 2. Die "Zeit der Realpolitik" brachte daher die Verstärkung der Staatsrolle mit sich, in dem Sinne, daß die liberalen Prinzipien der Freiheit und des Rechtsstaats von den deutschen Liberalen nie prinzipiell verleugnet, 25 F. M. De Sanctis, Societa modema e democrazia, S. 64. Zum Thema vgl. auch E. Pankoke, Sociale Bewegung- Sociale Frage- Sociale Politik, Stuttgart 1970). 26 F. M. De Sanctis, Societa modema e democrazia, S. 76. 27 M. Ricciardi, ,Die Gewalt der Dinge', S. 215. 28 Hauptvertreter dieser Neigung war der Preuße Ludwig von Rönne durch sein Werk Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, 1: Das Verfassungs-Recht, Leipzig 1856, das nach dem Aufbau eines neuen Staatsrechts strebte, um die tatsächlichen rechtlichen und verfassungsmäßigen Fragen verschiedener deutschen Staaten zu lösen. 29 Vgl. A. G. Manca, La sfida delle riforme, besonders S. 78 ff. und M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: 1800-1914, München 1992.

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sondern gerne und selbstbewusst an die Umstände angepaßt wurden wofür bezogen auf den italienischen Fall die Bezeichnung "Zeit der Prosa" benutzt wird. 30 Wenn für den Frühliberalismus die Konstitutionalismusfrage vor allem darin bestand, einen auf Individualrechte basierten Staat zu gründen, wird sie jetzt zur Suche eines Ausgleichs zwischen Konstitution und Veifassung, d.h. zwischen dem geschriebenen "ideellen" Text und dem, was einen Staat wirklich konstituiert und die bestehende geschriebene Verfassung nicht unbedingt vorsieht. Der Ausgleich der beiden Termini bedeutete nichts anders als die Legitimation des Staates: Es war diese Frage, mit der sich der deutsche Liberalismus in einer doppelten Strategie auseinandersetzte, nämlich mit der Strategie der Integration einerseits und mit der der Ausschließung andererseits. Die gescheiterte Revolution, die daraus entstehende "deutsche Frage", die Reichsgründung mit der Fortentwicklung des Bismarckschen Staates und mit dem Aufstieg der "Staatsfeinde" (zuerst der Katholiken und dann der Sozialdemokraten) führten den deutschen Liberalismus zur Entwicklung der beiden Strategien. Die Strategie der Integration begleitete die ganze Zeit der Reichsgründung ( 1866-1871) und der Staatsumsetzung, nämlich die Zeit des "liberalparlamentarischen" Ausbaus der Verfassung (1871-1878). Um selbst politische Macht zu erlangen und so den angestrebten Rechtsstaat ausbauen zu können, unterstützten die deutschen Liberalen Bismarck unter Inkaufnahme der "autoritären" Aspekte seiner Politik. Auch die Unterstützung des Kulturkampfs und des Sozialistengesetzes kann zum Teil durch einen solchen Pragmatismus erklärt werden. Ziel der Strategie der Integration war für die deutschen Liberalen also, den politischen und sozialen Konflikt durch eine Art politischer und sozialer Mitwirkung zu lösen: Eine Integration, die als Einmischen des Staates in die Gesellschaft galt - die aber gleichzeitig ein Kamprarniß gegenüber der Gewalt Bismarcks und Preußens und gegenüber den Bedürfnissen der Gesellschaft war. Der Vorstellung entsprechend, daß die gesellschaftlichen Probleme nur durch die Zusammenarbeit mit dem Staat und seinen Strukturen zu lösen waren, hatte das Einmischen des Staates auch für die Gesellschaft und ihre Bedürfnisse eine unmittelbare Bedeutung. Die Anpassung der Konstitution an die Verfassung, welche allein die ideellen und materiellen Interessen des Liberalismus verwirklichen sollte, hatte aber eine befristete Dauer: Die innere Zersplitterung des Liberalismus und seine Unfähig30 R. Gherardi, L'arte del compromesso. La politica della mediazione nell' ltalia liberale, Bologna 1993; ld., Für eine Disziplinierung der Demokratie. Europäische Verfassungsmodelle und der "Mittelweg" des liberalen Italien, in diesem Band, s. 85-102.

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keit, die soziale Frage zu verstehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, untergruben die politische Hegemonie des Liberalismus. Nachdem das Ziel des Nationalstaats erreicht war und die liberalen Prinzipien zumindest partiell verwirklicht waren (1871-1878), hatte das liberale Bürgertum kein konstitutives Verbindungsstück mehr, das es in seiner inneren sozialen Heterogenität hätte zusammenhalten können. Dies zeigte sich etwa im Kampf gegen die Sozialisten, in welchem die liberalen Gruppierungen sich zersplitterten. Weiterhin könnte die Ablehnung der Bismarckschen Sozialpolitik besonders durch den Linksliberalismus und den Liberalismus der Mitte als Unfahigkeit der Liberalen gelten, sich mit der sozialen Frage konstruktiv auseinanderzusetzen. Heute wirkt die liberale Opposition altmodisch und manchesterhaft, weil die Liberalen gegen die Staatsversorgung und jede Staatsintervention im Sozialbereich waren. Trotz des Festhaltens an den klassischen liberalen Prinzipien und neben der Idee "eines zukünftigen bürokratisierten und überanstrengten initiativelähmenden Wohlfahrts- und Betreuungsstaates"31 muß die Situation der 80er Jahre berücksichtigt werden. Die Sorge um eine antiparlamentaristische Strategie Bismarcks, der sich schon den Konservativen und Katholiken zugewendet und die Liberalen von seiner Politik entfernt hatte, könnte als eine Erklärung für die liberale Ablehnung der Bismarckschen Sozialpolitik herangezogen werden. Trotzdem kam von liberaler Seite keine effektive Ausarbeitung und entsprechende Antwort der sozialen Frage, die als Alternative gelten konnte. Neben der Strategie der Integration entwickelten die deutschen Liberalen die der Ausschließung gegenüber den von Bismarck so genannten ,,Staatsfeinden": Der deutsche Liberalismus unterstützte die Ausnahmegesetze gegen die katholische Kirche (Kulturkampt) und die Sozialisten (Sozialistengesetze), wobei die Unterstützung beider Maßnahmen auch auf die pragmatische bzw. integrative Tendenz der Liberalen zurückgeführt werden kann. Die Auflösung des Ausnahmezustandes wurde durch den politischen Kompromiß erreicht, der diesen zur "Ordnung" umwandeln konnte. Der Kompromiß in Deutschland mündete nämlich oft in integriertem und dauerndem Recht, was bedeutet, daß es sich dabei um keine bloß episodische und nebensächliche Regelung von rechtlichen Verhältnissen handelte. Der Kompromiß galt hier als Innovation - als neue oder neugefasste Regelung - jener früheren komplexen Verhältnisse. Das war der Fall für den Kulturkampf, dessen Ende ein Kompromißfriede zwischen Staat und katholischer Kirche war.32 Hier besteht ein bedeutender Unterschied zu Italien, wo der 31 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München, 2. Aufl., 1991, S. 345. 32 So der Urteil von Nipperdey: "(... ) Insgesamt war das, bis auf das Jesuitengesetz, ein Sieg der kirchlichen Abwehr. Bismarck war es aber gelungen, eine gänzli-

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Kompromiß sehr oft auf der Ebene der Politik, der politischen Verhandlung blieb, ohne sich zur Ordnung umzuwandeln. Ein symptomatisches Beispiel für den Vorrang des Lokalen vor der Nation ist die "parlamentarische Revolution" von 1876, als zum ersten Mal die Lobbies in der Politik auftraten und die Regierung der "Destra Storica" ihr Ende fand. Auf diesen Aspekt wird man später zurückkommen. Inwieweit der Kompromiß in Deutschland in dauerndes und integriertes Recht münden konnte, wird durch den Entstehungsprozeß des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auch bewiesen. Bei den gesellschaftlichen Spannungen jener Zeit konnte das BGB nicht Ausdruck einer einheitlichen sozialen und politischen Tendenz sein: So geriet seine Kodifikation in die Auseinandersetzung zwischen Arbeiterschaft auf der einen und Bürgertum und Adel auf der anderen Seite. Die Einführung der Grundschuld im BGB wurde auch durch heftige Auseinandersetzungen gekennzeichnet, d. h. zwischen Vertretern der Landwirtschaft und Vertretern des Bürgertums?3 Es ist aber wichtig, nochmals zu betonen, daß es sich hier um eine Entwicklungstendenz handelte, die mit der Geschichte Deutschlands, d. h. seiner Tradition, seiner Gesellschaft, seiner Philosophie, eng zusammenhing. Das bedeutet, daß die Kompromißpolitik mit der Zeit auch aufgehoben werden konnte: Dies war z. B. das Schicksal des Sozialistengesetzes, das im Jahre 1890 entfernt und dann später zum Teil aufgelöst wurde. Der Ausnahmezustand gegenüber den Sozialisten wurde hinsichtlich öffentlicher Berufe fortgeführt, d.h. führte zur Ausschließung sozialistischer Professoren von der Universität (dies war der Fall bei Werner Sombart.) 3. Ein bestimmt nützliches Vorgehen, um den deutschen Liberalismus besser zu verstehen, ist es, diesen mit dem italienischen Liberalismus zu vergleichen. In der Geschichte des Liberalismus war England in philosophischer Sicht lange Zeit das Vorbild und war auch für Deutschland der Vergleichsmaßstab. Denn in England sind die klassischen liberalen Prinzipien anscheinend umfassender verwirklicht worden als in Frankreich, das mit seinen unterschiedlichen und vielfältigen Erfahrungen im Wechsel vom Liberalismus ehe Kapitulation zu vermeiden, indem er den nicht so kämpferisch intransigenten Papst und das Zentrum - zum Leidwesen der Zentrumsführer - doch hatte trennen können. (. . .)Damit war die Integration der Katholiken und der Kirche in den nationalen Staat möglich geworden, der Übergang von der Opposition zur relativen Loyalität, zur nationalen Solidarität (...)" (T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1993, S. 416). 33 H. Kindermann, Rechtliche Regelungen als Resultat gesellschaftlichen Konflikte, dargestellt an zwei Beispielen aus der Entstehungsgeschichte der BGB, in Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, hrsg. von J. Rudig, Berlin-New York, 1976, s. 550 ff.

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bis hin zum Demokratismus auch kein orthodoxes Modell für den Liberalismus darstellte. Es wäre aber angemessener und auch erfolgversprechender, einen Vergleich der in den Diskursen bzw. Kontexten im europäischen Liberalismus verwendeten Termini anzustellen?4 Dies scheint insbesondere in bezug auf Deutschland und Italien gerechtfertigt, insofern beide Länder, trotz der unterschiedlichen Erfahrungen bei ihrer nation building, sowohl in der wirtschaftlichen Entwicklung als auch in der Umsetzung der Verfassung von liberalen Ideen bestimmt wurden. Dieses Vorgehen erlaubt es auch, die Durchsetzungskraft des Liberalismus zu untersuchen.35 Im Unterschied zu Deutschland nahm Italien die institutionelle Form des Zentralstaats an, was bedeutete, daß formell sowohl die gesetzgebensehen als auch die verwaltungsmäßigen Maßnahmen von zentralen Stelle ausgingen. Was John Stuart Mill "Mehrheitstyrannei" 36 nannte, d.h. die Konzentration der politischen Macht in einem einzigen Organ, war in Italien die Realität. Aufgrund des schwierigen sozial-politischen Kontextes, in dem sich die italienische Einigung vollzog, konnten sich keine föderalen Strukturen durchsetzen. Bestimmend dafür waren einerseits die einheitsfeindlichen Kräfte und andererseits die wirtschaftliche Rückständigkeit Süditaliens: Um das sog. "Brigantaggio" in Süditalien zu unterbinden, das zwischen 1861 und 1864 besonders stark war, und die Angriffe verschiedener Gruppen auf den Staat einzuschränken, wie von Seiten der sog. intransigenten Katholiken oder der ehemaligen "Handlungspartei" ("Partito d' Azione"), ging Italien den Weg in die Zentralisierung. In diesem Kontext konnte sich ein "orthodoxer" Liberalismus nicht entwickeln, sofern für diesen die Minder-

34 Zum Thema vgl. P. Schiera, Centralismo e federalismo nell'unificazione statalnazionale italiana e tedesca, in 0. Janz/P. Schiera/H. Siegrist (Hrsg.), Centralismo e federalismo tra Otto e Novecento. Italia e Germania a confronto, Bologna 1997, s. 21 ff. 35 So auch Geoff Eley: "(... ) the comparative context should be European Liberalism in the fullest sense: the European-wide conjuncture of constitutional revision, nation-forming, and state-making in the 1860s, powerfully over-determined by the global process of capitalist boom, spatial expansion, and social penetration, articulated through the pattern of uneven and combined development. In that sense, the more appropriate and illurninating comparison for Germany would be ltaly" (G. Eley, Liberalism, Europe, and the bourgeoisie 1860-1914, in D. Blackbourn/G. Eley (Hrsg.), The German Bourgeoisie. Essays on the socia1 history of the German rniddle dass from the late eighteenth to the early twentieth century, London-New York 1991, S. 293 ff., S. 313). 36 Vgl. J. S. Mill, On liberty, 1859. Mills Werk kann als europäisches "Evangelium" des englischen liberalen Modells betrachtet werden.

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heitsrechte wesentlich waren und er ein System von checks and balances darstellen sollte. 37 Für den neuen Staat Italiens, der bis zum Jahr 1861 von den unterschiedlichen politischen Systemen regiert wurde, wurde aber keine neue Ordnung beschlossen, sondern es wurden die sardopiemontesischen Einrichtungen auf das ganze Land übertragen. Diese Tatsache hatte aber Auswirkungen auf das Verhältnis von Gesellschaft und Staat. Das politische System war nämlich stark zentralistisch ausgerichtet und berücksichtigte die regionalen Unterschiede nur wenig. 38 Außerdem wurden Maßnahmen getroffen, die Aufsicht und Leitung erforderten, um die dem System Außenstehenden zu integrieren. Wenn aber der liberale Charakter Italiens von diesen Entwicklungen zwar behindert wurde, so war der Staat in den Bereichen des Privatrechts, besonders des Eigentumsrechts und auf der wirtschaftlichen Ebene, völlig liberal. Wie bemerkt, war das Projekt der italienischen Liberalen, das nach der Verwirklichung einer liberalen Ordnung strebte, nicht primär auf die staatliche Ebene gerichtet. Es handelte sich hierbei vielmehr um ein Projekt, das eine bürgerliche Gesellschaft umsetzen wollte, d. h. den gesellschaftlichen Rang des Bürgertums stärken wollte. Das Bürgertum sollte eine führende Rolle in der sozialen Ordnung übernehmen. 39 Lange Zeit wurde die Geschichtsschreibung über den Staat und die Institutionen Italiens von der Perspektive beherrscht, in der die Zentralisierung als wesentliches Kennzeichen des institutionellen Systems des liberalen Italien betrachtet wurde.40 Das Zentrum war das vorrangige Forschungsobjekt, während der Peripherie kaum autonome Realität zuerkannt wurde: Ihre Rolle in der Forschung blieb darauf beschränkt, anders und schwächer als 37 Zum Thema vgl. auch A. M. Banti, Storia della borghesia italiana. L'ltalia liberale, Rom 1996. 38 Vgl. R. Romanelli, L'Italia liberale 1861- 1900, Bologna 1990. 39 lbidem, S. 48. 40 In diesem Zusammenhang war die Geschichtsschreibung geteilt zwischen jenen, die für die Gesetze von 1865 eintraten und jenen, die dagegen waren. Wichtige Anhaltspunkte waren in diesem Sinne: C. Pavane, Amministrazione centrate e arnministrazione periferica da Rattazzi a Ricasoli (1859- 1866), Mailand 1964; E. Ragionieri, Politica e amrninistrazione nella storia dell'ltalia unita, Bari 1967; R. Ruffilli, Govemo, Parlamento e correnti politiche nella genesi della !egge 20 marzo 1865 ( 1969); Id., Problerni dell' organizzazione amrninistrativa nell' Italia liberale (1971 ), jetzt beide in ld., Istituzioni, societa, stato. Bd. 1: Il ruolo delle istituzioni arnministrative nella forrnazione dello Stato in ltalia, hrsg. von M. S. Piretti, Bologna 1989; C. Ghisalberti, Storia costituzionale d'ltalia 1848-1948, Rom-Bari 1978; E. Rotelli, Costituzione e amrninistrazione nella storia dell'ltalia unita, Bologna 1981; U. Allegretti, Profilo di storia costituzionale italiana. Individualismo e assolutismo nello stato liberale, Bologna 1989.

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das Zentrum zu sein, und nicht auch als reales Medium zwischen Staat und Gesellschaft in dessen Verwirklichung zu fungieren. Seitdem aber die italienischen Eliten nicht nur unter dem moralischen und ethisch-politischen Gesichtspunkt umrissen werden, sondern auch unter einem historisch-sozialen, in dem insbesondere die Rolle des Bürgertums zur Geltung kommt, erscheinen auch die Bereiche der Institutionengeschichte und der Sozialgeschichte besser als früher miteinander verknüpfbar zu sein. Die neue Perspektive der Forschung hat Ergebnisse gebracht, die das frühere Bild des zentralisierten Italien in Frage stellen.41 Die aktuelle Sozialgeschichte über das italienische Bürgertum stellt tatsächlich den lokalen Zug als konstitutiven Faktor in der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft dar.42 Das Bürgertum nämlich entzog sich der Staatseinheit, die durch die Zentralisierung der Verwaltung die unterschiedlichen Ordnungen in Italien des 19. Jahrhunderts homogener machen wollte, und behielt auf lokaler Ebene - in der regionalen Peripherie - die traditionelle Macht seines Ansehens. Paradoxerweise wurde der Zentralisation durch den "Trasforrnismo" ausgewichen, wobei die lokalen Interessen oft den Sieg über das nationale Interesse davontrugen, und die Frage des Konstitutionalismus verkannt wurde. Ein symptomatisches Beispiel für den Vorrang des Lokalen vor der Nation ist gerade die "parlamentarische Revolution" von 1876. Die Zustimmung König Vittorio Emanuele II. im Parlament am 18. Februar 1861, die Zukunft des neuen Italien in die Hände der "Virtuosen" und der "Weisen" zu legen, scheint insofern zum Teil verkannt worden zu sein.43 Es fehlte zwar nicht an Persönlichkeiten wie Ruggero Bonghi und Stefano Jacini,44 die gegen den Vorrang der privaten und lokalen Interessen 41 Ein kritischer Überblick findet sich in M. Meriggi, Tra istituzioni e societa: Ie elites deii'Italia liberale nella storiografia recente, in Le Carte e La Storia 2, 1999, s. 10 ff. 42 Vgl. R. Romanelli, 11 comando impossibile. Stato e societa nell'ltalia liberale, Bologna 1988; A. M. Banti, Storia della borghesia italiana. 43 Im Jahr 1848 verstand Cavour die Fähigkeit, unabhängig, d.h. neutral gegenüber den Faktionen, zu bleiben - die "Tugend" - und die Klugheit, die soziale Ordnung zu behalten als unvermeidliche Merkmale der regierenden Klasse (A. M. Banti, Storia della borghesia italiana, S. 23.) 44 R. Bonghi, I partiti politici nel Parlamento italiano (1868), a. a. 0.; S. Jacini, Sulle condizioni della cosa pubblica in Italia dopo il 1866 (1870), in Id., La riforma dello stato e il problema regionale, hrsg. von F. Traniello, Brescia 1968). - Stefano Jacini, 1827-1891. - Graf. Politiker. Gemäßigter Liberaler war Jacini den Studien geneigter als der aktiven Politik. Er wurde in der Tat durch einige Studien über die wirtschaftlichen Bedingungen der Lombardei (z. B. La proprieta fondiaria e le popolazioni agricole in Lombardia, 1856) bekannt. Deputierter von 1860 bis 1870 war er Minister für die öffentlichen Arbeiten im Jahre 1860 bei Cavour und dann wieder zwischen 1864 und 1867 bei Lamarmora. Jacini trat für die Dezentralisation ein.

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eintraten: Laut ihnen "gab es keine Prinzipien, keine ldealitäten: Es gab nur Brücken, Bahnen, Amtsgerichte (... ), die dieser oder jener Gemeinschaft gegeben sein mußte (... ). Vielleicht wird damit die Situation zu pessimistisch geschildert: Trotzdem ist bemerkenswert, daß Männer der Destra Storica, die geschätzt wurden und glaubwürdig waren, anerkennen mußten, daß die partikularistischen Interessen den Vorrang vor dem Gemeinwohl hatten (... )"45 . Es ist bemerkt worden, daß "die liberal-bürgerliche Vorgehensweise" des 19. Jahrhunderts weniger Ausdruck der Prinzipien von 1789 war, sondern vielmehr "in enger Verbindung mit der Tradition des Ancien Regimes" gesehen werden muß46• Dies zeigt sowohl die Art, wie sich die liberale Elite von anderen Gesellschaftsschichten zu differenzieren versuchte als auch die Weise ihrer Selbstdarstellung; das beschränkte Wahlrecht, das bis zur Wahlreform von 1882 nur einem kleinen Bevölkerungsteil die politische Teilnahme gestatt~te, aber auch, wie dem Lokalen der Vorrang vor dem Allgemeinen eingeräumt wurde. Alle diese Faktoren stellen keine Rückwirkung von revolutionären Prinzipien dar. Die Freiheit wurde also nicht so sehr als Recht verstanden, vielmehr als Vorrecht, was bedeutete, daß weiterhin Ungleichheit und nicht Gleichheit diese Gesellschaft beherrschte. 47 Nicht zufällig wird oft der Bürgertumsbegriff durch den Honoratiorenbegriff ersetzt, welcher nicht nur auf das Bürgertum verweist, sondern auf eine weitere Kategorie, die gelegentlich auch den Adel miteinbezieht Es wird behauptet, daß Arno J. Mayers Hypothese vom Fortdauern des Ancien Regime in Europa bis zum Ersten Weltkrieg48 zum Teil auch auf Italien zutrifft. Dies gilt jedoch nicht, weil die Aristokratie als politische Macht überrepräsentiert gewesen wäre, sondern weil die Honoratioren die Beziehung zum Staat und den öffentlichen Institutionen in der Form und nach der Tradition des Adels wahrnahmen.49 Obwohl die adligen Vorrechte in Italien seit der napoleonischen Ära aufgehoben waren, prägten aristokratische Gewohnheiten die bürgerlich-liberale Gesellschaft. 50 Dies wird bestätigt dadurch, daß es nach der italienischen Einigung einen verstärkten Andrang auf Adelstitel gab. Und wenn damit auch keine besonderen Rechte Ernannt zum Senator im Jahre 1870 billigte Jacini die Besetzung von Rom nicht. Referent für den großen landwirtschaftlichen Bericht im Jahre 1880. 45 A. M. Banti, Storia della borghesia italiana, S. 33. 46 M. Meriggi, Tra istituzioni e societa, S. 15. 47 lbidem, S. 15 f. 48 A. J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914, München 1984. 49 M. Meriggi, Tra istituzioni e societa, S. 16. 50 Vgl. A. M. Banti, Storia della borghesia italiana, a. a. 0. und G. Jocteau, Nobili e nobilta neii'Italia unita, Rom 1997. s•

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verbunden waren, schien die Adelswürde dennoch Ansehen und Prestige zu vermitteln, auf welche man nicht verzichten wollte. 51 Sogar der Grundbesitz und das Haus auf dem Land stellten für den Nicht-Adel Mittel dar, sich adelig zu fühlen. 52 Das Weitere tat das eingeschränkte Wahlrecht53 , durch welches diese Regierungsklasse und ihre Praktiken weiterhin begünstigt wurden. Die neuen Studien über den italienischen Liberalismus bieten zweifellos neue Ansätze für sozial-geschichtliche Überlegungen zur Regierungsklasse des liberalen Italien an. Jedoch könnten einige Elemente, auf die sich diese Studien stützen, auch zu anderen Interpretationen führen. Was z. B. die Bedeutung des Grundbesitzes für die Liberalen betrifft, sollte nicht vergessen werden, daß die italienische Wirtschaft bis in das 20. Jahrhundert hauptsächlich eine agrarische war. Demzufolge stellte der Grundbesitz auch für die neuen Schichten ein wichtiger Ausgangspunkt für ihre sowohl wirtschaftliche als auch politische Entwicklung dar. Im Grunde genommen bleibt die Bilanz von Alberto Aquarone über die Errungenschaften des liberalen Italien noch zutreffend54: Aquarone zufolge stellten die unterentwickelte Situation Italiens, die hohe Anzahl von Analphabeten und die gerade erlangte Einheit, welche gleichzeitig auch Unabhängigkeit bzw. Freiheit von den fremdländischen Mächten bedeutete, einen Kontext dar, der kaum mehr ermöglichen konnte, als was verwirklicht wurde.55 Gerade das beschränkte Wahlrecht gewinnt in diesem Zusammenhang eine andere Bedeutung. Es ist außerdem hinzufügen, daß der Liberalismus keine demokratische Bewegung war, und dies auch nicht sein wollte: Die Liberalen vertraten sowohl in Italien als auch in Deutschland das Bürgertum, dem im besonderen die Freiheit zugedacht war. Dennoch scheint das Bild des liberalen Italien, wie es die heutige Geschichtsschreibung anbietet, dynamischer als das ältere zu sein. Es zeigt in der Tat einen italienischen Liberalismus, der nicht monolithisch sondern polyzentrisch strukturiert ist, was auch den inneren Spannungen der italienischen Gesellschaft sowie der italienischen Staatsordnung jener Zeit entspricht.56 Der italienische liberale Staat könnte als sowohl zu herrschaftlich als gleichzeitig zu moderat bzw. zu indifferent interpretiert werden: Dies A. M. Banti, Storia della borghesia italiana, S. 51 ff. lbidem, S. 64. Sich auf die 40 Jahre der Einheit Italiens beziehend, betonte Francesco Saverio Nitti im Jahre 1905, daß die italienischen Eliten vom Grundbesitz ganz fasziniert bzw. besessen waren (F.S. Nitti, La ricchezza d'ltalia (1905), in ld., Scritti di econornia e finanza, 3. B.de, Bd. 1: La ricchezza d'Italia, Bari 1966). 53 Zum Thema vgl. M. S. Piretti, Le elezioni politiche in ltalia dal 1848 a oggi, Rom 1996. 54 A. Aquarone, Alla ricerca dell'ltalia liberale, Neapel 1972. 55 Ibidem, besonders S. 272 ff. 51

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resultiert aus dem unterschiedlichen Auftreten des Staates gegenüber der Gesellschaft. Es handelte sich nämlich um verschiedene Kontexte, denen verschiedene Freiheiten oder Vorrechte eingeräumt wurden und weswegen der Staat entweder als zu "stark" oder als zu "schwach" empfunden wurde. In der Durchsetzung der öffentlichen Ordnung in Süditalien erschien der Staat als sehr hart bzw. als "illiberal" in seinem Auftreten, weil die aufeinander treffenden Realitäten zu unterschiedlich waren. Hingegen zeigte sich der Staat in Norditalien als liberal, weil das politische System sich mit den sardopiemontesischen Einrichtungen identifizierte. Ebenfalls liberal verhielt sich der italienische Staat gegenüber der "bürgerlichen Gesellschaft", indem er bedeutende Rechte wie das Eigentumsrecht verwirklichen ließ. Autoritär aber mußte der italienische Staat schließlich in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erscheinen, insofern er eine aktive Überwachungs- und Beschränkungspolitik verwirklichte. Es ist zu betonen, daß die Präsenz des Staates in der Gesellschaft vor allem von einer pädagogischen Notwendigkeit abhing, die er zu seinem Ziel im Aufbau der Nation machte. 57 Nach dem Aufbau des Staates mußte unbedingt auch eine Nation geschaffen werden: "Fatta l'Italia, occorre fare gli italiani." Das Urteil der Forschung über das Wesen des liberalen Italien ist im übrigen nie einheitlich gewesen. Oft wurde es von der Perspektive der Machtverhältnisse zwischen politischen Gruppen und zwischen sozialpolitischen Klassen beeinflußt. So betonte und kritisierte Antonio Gramsei die autoritären und zentralistischen Merkmale des italienischen Liberalismus, Gaetano Salvemini hingegen verstand die Zentralisation als "absolute Notwendigkeit", weil sie der schwachen liberalen Elite erlaubte, jene Nation zu regieren. 58 Raffaele Romanelli zufolge sind beide Momente, der des Befehls und der der Freiheit, wichtige Bestandteile des Entstehungsprozesses des "modernen Staates", der "modernen Gesellschaft": Das Paradox des "unmöglichen Befehls" gehörte gerade zum Wesen des liberalen Staates, weil er die ganze Gesellschaft "seiner individualistischen ratio und seiner rechtlichen Souveränität" unterwerfen, gleichzeitig aber die Staatsintervention auf das mindeste einschränken wollte.59 So müssen die beiden Mo56 Über das Thema vgl. R. Romanelli (Hrsg.), Storia dello Stato italiano dall'Unita ad oggi, Rom 1995 und M. Meriggi, Storia dello Stato: privilegi, liberta, diritti nell'ltalia unita, in Storica 3, 1997, S. 97 ff., S. 119. 57 Vgl. auch R. Gherardi, Für eine Disziplinierung der Demokratie. Europäische Verfassungsmodelle und der "Mittelweg" des liberalen Italien. 58 Vgl. A. Gramsci, II Risorgimento, Torino 1943, besonders S.70 f.; G. Salvemini, II Risorgimento italiano, jetzt in Scritti sul Risorgimento italiano, hrsg. von P. Pieri/C. Pischedda, Mailand 1961, 393 ff., S. 432 f. 59 R. Romanelli, II comando impossibile, S. 8 f.

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mente des Kommandos und der Freiheit in der Geschichte des liberalen Italien stärker berücksichtigt werden, ebenso wie die oligarchische Beschränktheit des Systems. Abschließend könnten wir daher sagen, daß der liberale Staat Italiens gleichzeitig von der Intervention und der Abwesenheit seiner Institutionen gekennzeichnet war. Was sein Fehlen angeht, so drückte sich dies in zweierlei Hinsicht aus: Einerseits fehlte der Staat ausdrücklich im Bereich der Privatrechte, besonders des Eigentumsrechts; andererseits fehlte er implizit, insofern die örtliche Dimension einen nicht vorgesehenen Vorrang vor dem Allgemeinen, vor der Nation einnahm - was als "kopfloser Polyzentrismus" bezeichnet wird. 60 4. Wenn der Vergleich zwischen Deutschland und Italien aufgrund der vielen Ähnlichkeiten in der Geschichte beider Länder sinnvoll ist, besteht dennoch eine große Gefahr der Überspitzung. Zuerst einmal gilt dies, weil es sich, trotz aller Ähnlichkeiten, um zwei verschiedene politische Systeme handelte, denen zwei sehr unterschiedliche politische Systeme entsprachen. Der hier angestellte Vergleich mit Italien soll uns nur erlauben, die Besonderheiten des deutschen Liberalismus und seiner Organisationsform in bezug auf seine eigenen materiellen Faktoren gerade durch den Vergleich mit dem italienischen Liberalismus besser zu verstehen. Erstmal ist zu betonen, daß sich das politische System in beiden Ländern auf die Organisationsform des Liberalismus in verschiedenen Hinsichten ausgewirkt hat. Wenn es zwar auch stimmt, daß es "einen einheitlichen deutschen Liberalismus" nie gegeben hat und neben der Spaltung in unterschiedliche Richtungen die starken regionalen Differenzierungen beachtet werden müssen,61 so scheint der deutsche Liberalismus gerade im Vergleich zu Italien doch einen ziemlich hohen Grad an Einheit erreicht zu haben, was sich in der Organisationsform niederschlug. Der deutsche Föderalismus wirkte sich auf zwei verschiedenen und sich ergänzenden Ebenen aus, die als wichtige Abschreckung vor dem Risiko des Partikularismus fungierten. Einerseits wurden die Interessen der Einzelländer anerkannt und gefördert; andererseits brachte die föderalistische Form nicht nur die Peripherie, sondern auch das Reich mit sich. Nachdem die lokale Dimension beibehalten und anerkannt war, fanden die Liberalen im Zentrum zu Einigkeit und überwanden zum Teil (nicht immer) ihre Konflikte und Abspaltungen, um auch - hier liegt ein bedeutender Unterschied zu Italien - in die Regierung zu gelangen. 60 F. Sofia, "11 centro ehe non c'e": Ia parabola dello Stato italiano, in Societa e storia 80, 1998, S. 371 ff., S. 383. 61 D. Langewiesche, Deutscher Liberalismus im europäischen Vergleich: Konzeption und Ergebnisse, in D. Langewiesehe (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, s. 11 ff., s. 11.

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Die relative Einheit des deutschen Liberalismus zeigt sich zunächst in der Zusammenarbeit liberaler Führer, die aus verschiedenen Ländern stammten und unterschiedlichen Konfessionen angehörten und woraus sich die Koordination der Bewegung ableitete. So konnte die deutsche Portschrittspartei eine disziplinierte und hoch organisierte Partei werden, so entstand die Liberale Vereinigung in bezug auf "allgemeine" Themen wie die politische und wirtschaftliche Freiheit. Schließlich konnte die Nationalliberale Partei als nation-building Partei die Einheit Deutschlands verwirklichen und eine "liberale Ära" in Verbindung mit Bismarck durchsetzen. Auch die Abspaltungen bzw. verschiedenen Richtungen des deutschen Liberalismus berücksichtigten Interessen, die als allgemein betrachtet werden können. Die Einheit der Bewegung war im übrigen sehr wichtig, um an die Macht zu gelangen. Zum Erfolg des deutschen Liberalismus, der sich auch in der institutionellen Stabilität der allgemeinen Ordnung manifestierte, trug auch die Tatsache bei, daß es in Deutschland eine bürgerliche Gesellschaft gab. Es war eine Gesellschaft, die durch die Erfahrung des Protestantismus, durch seine Lehre über die Wichtigkeit der Autorität und gleichzeitig der Freiheit, durch die Bildung und die "Gewohnheit zur Staatsreform" gewachsen war. Die deutsche "Kunst des Komprornisses"62 stützte sich auf diese Elemente und ging mit der Reform des Staates weiter: Während daher die Nation in Deutschland den Staat begründete und unterstützte, ging der Staat in Italien der Bildung der Nation voraus, welche die italienische Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auszubauen versuchte. Durch die politischen Auswirkungen des Ansehens behielt das Bürgertum auf lokaler Ebene die gesellschaftliche und politische Herrschaft. Zugespitzt gesagt: Durch den Partikularismus wurde das regional unterschiedlich geprägte Italien von den "autoritären" Folgen der nördlichen Regierungsklasse nur eingeschränkt betroffen. Die "Kunst des Kompromisses", die "via media"63 , kann daher verstanden werden als Fähigkeit des italienischen Liberalismus, die ideellen Prinzipien des Rechtsstaates mit den Fakten zu messen, und weiter auch als ein möglicher Weg der Synthese der verschiedenen ausländischen Modelle, was zweifellos als Stärke des italienischen politischen Genie interpretiert werden kann. Da aber dieses Potential oft auf der Ebene der "Politik" eingeschränkt blieb, ohne daß nämlich der Kompromiß zum Recht, zum Wohlstand, wandelte sich oft die "via media" von einer politischen Tugend der italienischen Regierungsklasse zu ihrer Zerrüttung. 62 Vgl. R. Gherardi, Für eine Diszip1inierung der Demokratie. Europäische Verfassungsmodelle und der "Mittelweg" des liberalen Italien. 63 lbidem.

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Einer der Grundzüge der liberalen Organisationsform in beiden Ländern war die Anwendung der sozialen Anerkennung, des Ansehens, was aber unterschiedliche Auswirkungen auf das Funktionieren der Partei bzw. des politischen Systems hatte. Was Deutschland betrifft, hat die Honoratiorenstruktur zusammen mit dem föderalistischen Charakter des Deutschen Reiches zu einer nationalen Entfaltung der Organisationsform der Liberalen beigetragen, während in Italien dies von der stärker zentralistischen und kompakteren Form der einheitlichen Verfassung und Verwaltung verhindert oder eingeschränkt wurde. Während sich in Deutschland die liberalen Parteien zuerst als Fraktionen organisierten, und dann stärkere Verbreitung im Lande fanden, verwirklichten die italienischen Liberalen eine Organisation im Lande durch die Vereinigungen, die sich auf die Organisation in parlamentarischen Fraktionen niederschlug. Die Gruppen der deutschen Liberalen, die zuerst im Jahre 1866 zum Entstehen der Nationalliberalen Partei und im Jahre 1880 zum Entstehen der Liberalen Vereinigung führten, waren erstmals parlamentarische Organisationen. Das kann wieder durch das institutionelle System erklärt werden, wo die in der Fraktion versammelte Parteileitung innerhalb der föderalistischen Vielfalt wichtig erscheinen mußte, und auch durch eine längere parlamentarische bzw. konstitutionelle Tradition Deutschlands. Noch ein Grund war die parlamentarische Organisation Italiens, die die Bildung von parlamentarischen Gruppen nicht begünstigte. Wie bereits erwähnt, lag ein großer Unterschied zwischen beiden Liberalismen vor allem darin, daß die italienischen Liberalen nation builder bzw. die Regierungsklasse waren. Das hatte nicht unbedeutende Auswirkungen auf ihre politische Strategie und Organisation: Die ungewöhnliche Breite der politischen Positionen, die die italienischen Liberalen abdeckten, eröffnete den Zugang zu einem großen Problem: "dem Schwebezustand des italienischen Liberalismus - so UHrich - zwischen seiner Rolle als Partei und als Sammelbecken der ,staatstragenden' Kräfte. Den italienischen Liberalen gelang es nicht, sich programmatisch und organisatorisch in einer Partei zu vereinigen. Es gelang ihnen nicht einmal, sich im Rahmen eines Kartells der , staatstragenden' Kräfte in konkurrierenden Parteien zu organisieren und dabei diesem Kartell gegenüber den aufsteigenden Massenbewegungen der Sozialisten und Katholiken die Führungsrolle zu sichern (... )"64• Die Tatsache, daß sie die regierende Klasse waren, schränkte die Notwendigkeit ein, sich besonders auf die Organisationsform konzentrieren zu müssen. Hingegen führte die Tatsache, daß die deutschen Liberalen sich mit der Regierung Bismarcks auseinandersetzen mußten, zu einer struktu64 H. Ullrich, Die italienischen Liberalen und die Probleme der Demokratisierung 1876-1915, in GG 4, 1978, S. 49 ff., S. 51 f.

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rierten Organisationsform. Dieses Urteil trifft aber vor allem für die Portschrittspartei zu, weil ihre externe Position gegenüber der Regierung zu einer engmaschigen und disziplinierten Struktur führte. Die Nationalliberalen griffen hingegen nicht zuf