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German Pages 288 [268] Year 2006
Markus Keck/Marco Hahn
Integration der Vertriebswege Herausforderung im dynamischen Retail Banking
Markus Keck/Marco Hahn Integration der Vertriebswege
Markus Keck/Marco Hahn
Integration der Vertriebswege Herausforderung im dynamischen Retail Banking
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage Dezember 2006 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Sascha Niemann / Karin Ruland Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
ISBN 978-3-8349-0112-5 ISBN 978-3-8349-9233-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-8349-9233-8
Vorwort
„Nicht die Stärksten überleben oder die Intelligentesten, sondern die, die am meisten bereit zum Wandel sind.“ Charles Darwin
„Der Gewinn ist der Lohn für das Ergreifen des Vorteils beim Wandel.“ Joseph Schumpeter
Die Chancen im heutigen Retail Banking ergeben sich aus einer hohen Kundenanzahl, verbunden mit einem großen, mengengetriebenen Absatzpotenzial. Dem gegenüber stehen ein traditionell geringes Erlöspotenzial pro Kunde sowie ein hoher Kostenblock, der zu einem bedeutenden Teil aus den Vertriebskosten resultiert. Gleichzeitig werden die Marktbedingungen für deutsche, filialzentrierte Universalbanken immer schwieriger. Kritischere Kunden, zunehmender Wettbewerb und rasanter technologischer Fortschritt benennen nur einige der Herausforderungen, denen sich Banken heute stellen müssen. Gerade in dem wieder entdeckten und hart umkämpften Retail Banking-Markt wird diese Entwicklung besonders deutlich. Der Multi Channel-Vertrieb wird in diesem Umfeld als große Chance für eine höhere Profitabilität gesehen. In den vergangenen Jahren galt die Aufmerksamkeit in Praxis und Literatur jedoch fast ausschließlich dem Vertriebsweg Internet. Diese Sichtweise ist zu einseitig. Zum einen steigt die Zahl der für das Retail Banking interessanten Absatzwege weiter an. So entwickeln sich gerade der Selbstbedienungsbereich und Mobile Endgeräte zu interessanten Absatzkanälen. Auf der anderen Seite wird die Filiale auch in absehbarer Zukunft der dominante Vertriebsweg bleiben. Eine aus der Vertriebsstrategie im Retail Banking abgeleitete und Erträge wie auch Kosten berücksichtigende Auswahl der Vertriebswege wird damit zu einer strategischen Aufgabe. Unser Buch zeigt auf Basis einer fundierten Betrachtung des Retail Bankings in Deutschland, dass der Multi Channel-Vertrieb eine strategische Alternative darstellt, um die Herausforderungen eines zunehmend unberechenbaren und dynamischeren Marktumfelds zu bewältigen. Die hierbei vollzogene systematische Integration des Multi-Channel Vertriebs in das strategische Management der Bank zeigt im Ergebnis einen neuartigen Ansatz zur erfolgreichen Auswahl und Positionierung der Vertriebswege. Neben dem Prozess zur Entwicklung der Vertriebsstrategie im Retail Banking, der mit praktischen Beispielen und Handlungsempfeh-
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Vorwort
lungen unterlegt ist, bildet die Ableitung der Multi Channel-Strategie und des operativen Multi Channel-Managements den Schwerpunkt. Die Interpretation und Berücksichtigung der heutigen Organisations- und Umweltkomplexität ist eine entscheidende Voraussetzung für die Entwicklung der Strategie im Retail Banking. Auf Grundlage der Komplexitätstheorie werden Instrumente der strategischen Planung (wie insbesondere die SWOT-Analyse) hinsichtlich ihrer Aussagkraft im heutigen Marktumfeld hinterfragt und evolutionär weiterentwickelt. Hieraus entwickeln wir eine in dieser Form noch nicht existierende Synthese neuer Einsichten der Komplexitätsforschung und bewährter Managementinstrumente. Auf dieser Basis erhält der Leser eine wissenschaftlich fundierte und auf die Bankpraxis bezogene Konzeption für die zeitgemäße Strategieentwicklung und das operative Management der Vertriebswege. Existierende Ansätze und Instrumente des strategischen Managements werden zielbezogen zur Bewertung und Auswahl der Vertriebswege unter veränderten Umweltbedingungen weiterentwickelt. Am Ende steht ein neuer und umfassender Lösungsansatz zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit im Retail Banking.
Im Juni 2006
Markus Keck Marco Hahn
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .....................................................................................................................................5
Teil I Einführung Das Marktumfeld ....................................................................................................................15 1. Die Wiederentdeckung des Retail Banking in Universalbanken .................................15 2. Der Ansatz für einen erfolgreichen Multi Channel-Vertrieb im Retail Banking .........18
Teil II Das heutige Retail Banking Wesen und Besonderheit des Retail Banking ..........................................................................23 1. Die grundlegenden Eigenschaften der Bankdienstleistung .........................................23 2. Was genau ist Retail Banking?....................................................................................26 3. Der Retail Banking-Markt heute .................................................................................29 4. Aktuelle Herausforderungen des Retail Banking ........................................................34 Die Technologien im Retail Banking ......................................................................................39 1. Bedeutung von Technologien im Retail Banking........................................................39 2. Technologietrends im Überblick .................................................................................40
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Inhaltsverzeichnis
3. Technologische Innovationen im Retail Banking ....................................................... 43 4. Die Authentifizierung des Kunden ............................................................................. 46 5. Verkürzte Innovationszyklen ...................................................................................... 48 6. Zusammenfassende Betrachtung der Technologien im Retail Banking...................... 50 Dynamik und Komplexität im Retail Banking ....................................................................... 53 1. Komplexität – Der Versuch einer Definition .............................................................. 53 2. Perspektiven der Komplexität im Retail Banking....................................................... 54 3. Bedeutung einer gestiegenen Komplexität für das Retail Banking............................. 58 4. Zusammenfassung der dringenden Herausforderungen im Retail Banking................ 60
Teil III Multi Channel-Banking im strategischen Vertrieb Der Multi Channel-Vertrieb im Kontext des Bankmarketing ................................................. 63 1. Multi Channel-Vertrieb bei Banken – eine integrative Betrachtung ist notwendig..... 63 2. Der strategische Vertrieb als Grundlage des Multi Channel-Vertriebs........................ 64 Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung............................................... 71 1. Entwicklung und Grundlagen des Multi Channel-Vertriebs ....................................... 71 2. Der Kunde im Mittelpunkt der Vertriebskanal-Strategie ............................................ 75 3. Motive, Ziele und Risiken des Multi Channel-Vertriebs ............................................ 84 4. Die Vertriebswege als strategischer Ansatzpunkt im Retail Banking ......................... 87
Inhaltsverzeichnis
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Teil IV Die Komplexitätstheorie als Leitlinie für die Strategieentwicklung in Banken Dynamik und Komplexität als grundlegende Fragen der Ökonomie ......................................91 Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung ..........................................93 1. Das Wesen der Komplexitätstheorie............................................................................93 2. Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie..................................................104 3. Leitlinien für den Strategieprozess............................................................................117
Teil V Entwicklung der Vertriebsstrategie unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie Einfluss der Komplexitätstheorie auf die strategische Planung ............................................128 1. Besonderheiten strategischer Planung in komplexen Märkten..................................128 2. Dynamische Strategien im Retail Banking................................................................130 3. Der Einstieg in den dynamischen Managementprozess ............................................131 Die Standortbestimmung im Retail Banking.........................................................................134 1. Die Standortbestimmung unter Berücksichtigung der Leitlinien der Komplexitätstheorie ........................................................................................................134 2. Das Komplexitätsmanagement bei der Standortbestimmung ....................................137 3. Die Analyse der Stärken und Schwächen des Retail Banking...................................143 4. Analyse der externen Umwelt des Retail Banking ....................................................152 5. Zusammenfassung der Standortanalyse ....................................................................163
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Inhaltsverzeichnis
Die Zieldefinition als Ausgangspunkt der Vertriebsstrategie................................................ 165 1. Die Vertriebsziele im Kontext komplexer adaptiver Systeme................................... 165 2. Neue Fitnessgipfel im Retail Banking als Zielmarken ............................................. 168 3. Prozess und Ergebnis der Zielbildung im Retail Banking-Vertrieb .......................... 169 Die Vertriebsstrategie als Grundlage für die Positionierung der Vertriebswege ................... 172 1. Die Vertriebsstrategie als Ergebnis der Strategieentwicklung................................... 172 2. Kundensegmente als Bezugspunkt der Vertriebsstrategie......................................... 173 3. Die Formulierung der Vertriebsstrategie im Retail Banking..................................... 174 Der Multi Channel-Vertrieb als integraler Bestandteil der Vertriebsstrategie....................... 178
Teil VI Die strategische Positionierung der Vertriebswege auf Basis der Vertriebsstrategie Die Vertriebskanäle im Retail Banking ................................................................................ 184 1. Typisierung der Vertriebskanäle ............................................................................... 184 2. Der stationäre Vertrieb.............................................................................................. 186 3. Der mobile Vertrieb über Außendienst ..................................................................... 193 4. Der mediale Vertrieb................................................................................................. 195 5. Potenziale der Vertriebskanäle im Überblick............................................................ 201 Das strategische Portfolio der Vertriebswege ....................................................................... 203 1. Grundlagen der Portfoliotheorie im Marketing ........................................................ 203 2. Das Portfolio der Vertriebswege im Retail Banking ................................................. 205 3. Bestimmung der Dimensionen des Vertriebswege-Portfolios................................... 206
Inhaltsverzeichnis
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Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios.........................................209 1. Auswahl und Darstellung relevanter Erfolgsfaktoren ...............................................209 2. Erfolgsfaktoren für die Vertriebsstärke .....................................................................210 3. Erfolgsfaktoren für das Absatzpotenzial ...................................................................213 4. Erfolgsfaktoren für das Integrationspotenzial ...........................................................215 5. Methodische Bewertung der Vertriebskanäle über Erfolgsfaktoren ..........................218 Aufbau und Interpretation des Vertriebswege Portfolios.......................................................225 1. Das Vertriebswege-Portfolio in der Umsetzung ........................................................225 2. Interpretation der Portfolio-Analyse .........................................................................230 3. Zusammenfassende Bewertung des Vertriebswege-Portfolios ..................................232
Teil VII Übergreifende Aspekte eines operativen Multi Channel-Managements Modernes Multi Channel-Management ................................................................................237 1. Multi Channel-Management – eine Momentaufnahme.............................................237 2. Die Erfolgslogik des Multi Channel-Managements ..................................................239 3. Stellhebel und kritische Erfolgsfaktoren des Multi Channel-Managements..............242 Effektivität des Multi Channel-Managements.......................................................................245 1. Kundenanforderungen und Kanalnutzungsverhalten ................................................246 2. Einflussfaktoren einer vernetzten Umwelt ................................................................247 Effizienz des Multi Channel-Managements ..........................................................................253 1. Channel-Leistungsangebot ........................................................................................256
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Inhaltsverzeichnis
2. Channel Produkt- und Serviceangebot ..................................................................... 258 3. Vermeidung von Channel Konflikten ....................................................................... 260 4. Channel-Kundensegmentierung ............................................................................... 267 5. Channel-Entwicklung ............................................................................................... 269 Multi Channel-Strategie und –Management: Zusammenfassung und Ausblick ................... 274 Abbildungsverzeichnis ......................................................................................................... 276 Literaturverzeichnis.............................................................................................................. 280 Die Autoren .......................................................................................................................... 288 Stichwortverzeichnis ............................................................................................................ 290
Teil I Einführung
Das Marktumfeld
1.
Die Wiederentdeckung des Retail Banking in Universalbanken
Der Bankenmarkt in Deutschland befindet sich nach wie vor in einem tief greifenden Veränderungsprozess. Schumpeter, einer der prägenden Vordenker der modernen Ökonomie, bezeichnete das unternehmerische Handeln als einen „Akt der schöpferischen Zerstörung“. Wirtschafts- oder Unternehmenskrisen sind zerstörerische Phasen. Speziell in der akuten Notlage eines Unternehmens wird alles überprüft, hinterfragt, verändert und sogar aufgegeben. Ziel dieses kontrollierten Zerstörungsprozesses ist eine Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit. Anders als noch vor einigen Jahrzehnten, ist der rasche und drastische Wandel im Wirtschaftsleben und Unternehmertum mittlerweile Normalfall. Die Märkte sind globaler, der Wissenstransfer verläuft schneller, die Innovationsgeschwindigkeit ist höher und der Wettbewerb schärfer. Die deutschen Universalbanken befanden sich über Jahrzehnte in einem komfortablen Umfeld. Hohe Unternehmensbeteiligungen sowie ein durch Regulierung weitgehend abgeschotteter Markt standen für regelmäßige und auskömmliche Gewinne. Die Situation hat sich drastisch geändert, die Verbreitung von Wissen, Ideen und neuen Finanzdienstleistungen wird nicht länger durch nationale Grenzen beschränkt. Insbesondere die europäische Währungsunion ist Ausdruck dieser Entwicklung. Viele Banken stehen derzeit unter einem massiven Anpassungsdruck, der sowohl aus den Kosten- und Risikostrukturen, als auch aus der eigenen Position in einem zunehmend schärferen Wettbewerb um den Kunden resultiert. Dabei repräsentieren die erforderlichen Strukturanpassungen keinen kurzfristigen Trend, vielmehr sinkt die Eigenkapitalrendite aller deutschen Bankengruppen bereits seit 1983 kontinuierlich von ca. 20% auf 4,4% im Jahr 2002.1 Die Frage eines modernen Unternehmertums im Sinne Schumpeters ist damit für Banken aktueller und wichtiger denn je. Neben den notwendigen und in den letzten Jahren oftmals erfolgreich durchgeführten Kostensenkungen gilt es nun, die strukturellen Fragen langfristig zu lösen und zielgerichtete Geschäftsstrategien zu definieren. In diesem Umfeld hat das Retail Banking an Bedeutung gewonnen und zeigt das Potenzial sich zur wichtigen Ertragsstütze einer Universalbank zu entwickeln. Insbesondere 1 Vgl. o.V. (2004a), S. 8 sowie Krönung (1998), S. 51.
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Die Wiederentdeckung des Retail Banking in Universalbanken
aufgrund der breiten Diversifizierung – also der Streuung der unterschiedlichen Bankprodukte über eine hohe Kundenzahl – lassen sich Erträge und Risiken effizient steuern. Das Retail Banking kann somit einen wichtigen Ausgleich zu lukrativeren, aber auch risikoreicheren Geschäftsfeldern, wie z.B. das Investmentbanking, bilden. Jedoch generieren viele der deutschen Universalbanken gerade in diesem wichtigen und stabilen Kundensegment bislang kaum Erträge. Das häufigste Argument besagt im internationalen Vergleich sei Deutschland overbanked und overbranched. Die hieraus resultierenden Kosten schmälern die Gewinne des Retail Banking. Weitere moderne Vertriebswege, wie das Internet, Selbstbedienungssysteme, Telefonbanking oder Außendienst, sind vielfach nicht in einer übergreifenden Strategie zusammengefasst. Der Begriff Multi Channel-Vertrieb wird häufig noch viel zu eng als das zusätzliche Angebot von Bankleistungen über das Internet verstanden. Das Versprechen dieses Vertriebsansatzes geht jedoch weiter und zielt darauf, jede Kundengruppe möglichst kostenoptimal und individuell bedienen zu können. Obwohl die Notwendigkeit eines Multi Channel-Vertriebs nach wie vor unbestritten ist, ist eine ertragsfördernde Wirkung dieser Strategie aufgrund interner und externer Barrieren bis heute noch nicht offensichtlich zu erkennen.2 Die entscheidenden Barrieren vorzustellen und hierfür Lösungsansätze aufzuzeigen, ist ein wesentlicher Anspruch dieses Buches. Die individuelle Betreuung der breiten Kundschaft mit beratungsintensiven Bankprodukten ist komplex, aufwendig und teuer. Standardprodukte erlauben im Regelfall einen automatisierten Vertrieb, bieten dafür aber häufig geringe Margen. Die Bedürfnisse und Werte der Kunden unterliegen aufgrund gesellschaftlicher, technischer und individueller Einflüsse einem permanenten Wandel, der durch die rasanten Entwicklungen der Kommunikations- und Informationstechnologie noch verstärkt wird. Dem allgemeinen Trend des „selbstbewussten Konsumenten“ folgend, sind Bankkunden zunehmend kritischer, besser informiert und für das Marketing damit schwerer zu kategorisieren. Die traditionell hohe Bankloyalität ist deutlich gesunken, die Bereitschaft und (technische) Möglichkeit des Kunden zu einem Bankwechsel entsprechend gestiegen.3 Neue Wettbewerber in Form ausländischer Finanzdienstleister oder Non- und Nearbanks konzentrieren sich auf einen bestimmten Teil der Wertschöpfungskette und dringen mit dem Ziel in den weitgehend verteilten Käufermarkt ein, „...sich bestimmte lukrative Bereiche aus dem klassischen Bankgeschäft herauszuschneiden.“4 Der Markt für Finanzdienstleistungen unterliegt auf Seiten der Nachfrager und Anbieter einem permanenten und beschleunigten Wandel. Die Dynamik und Komplexität des Marktes, wie auch der eigenen Organisation, ist erheblich angewachsen und stellt damit eine höhere Anforderung an das Management der Banken. „The complexity of the political, regulatory, and technological changes confronting most organisations today causes an urgency to adapt or even radical organizational change.”5 Dieser Trend gilt in gleichem Maße für das Angebot 2 Vgl. Herzog/Panzer (2003), S. 48. 3 Vgl. Wienecke/Prätsch/Beckröge (2003), S. S. 227. 4 Wild (2003a), S. 13. 5 Coleman, H. J. (1999), S. 33.
Das Marktumfeld
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der Bankleistungen, denn auch die Komplexität der vom Kunden geforderten Lösungen und damit der Kundenbetreuung steigt weiter an. Vor dem Hintergrund tief greifender Marktveränderungen und struktureller Probleme deutscher Universalbanken existiert eine strategische Notwendigkeit für einen übergreifenden Ansatz, die Vertriebskosten im Retail Banking zu senken, gleichzeitig die Erlöse zu steigern und die für die Positionierung der Universalbank im Markt wesentliche Außenwirkung nicht zu vernachlässigen. Um nachhaltige Antworten auf die Herausforderungen des in Abbildung 1 dargestellten „magischen Dreiecks“ im Umfeld zunehmend dynamischer und komplexerer Märkte, Produkte und Organisationsstrukturen zu finden, sind Banken gezwungen, ihre Marktstrategie im Retail Banking konsequent zu überprüfen.
Erlöse steigern
Vertriebskosten senken
Ansehen der Bank erhalten
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 1: Das magische Dreieck im Retail Banking. Einen wirtschaftlichen Erfolg erzielt in dem so gekennzeichneten Umfeld nur, wer es versteht, die Bedürfnisse des Kunden zu erkennen und ihm zur richtigen Zeit die richtigen Produkte über den richtigen Vertriebskanal anzubieten. Unter den verschiedenen Instrumenten im Bankvertrieb kommt dem Management der Vertriebswege dabei eine besondere Bedeutung zu. Dies belegt eine Reihe wissenschaftlicher und praktischer Beispiele, wie z.B. eine Untersuchung der Universität Witten/Herdecke, die mit dem Ergebnis abschloss, dass es für Unternehmen offensichtlich eine essentielle Aufgabe sei, „...die Kanäle abzustimmen und ein systematisches Multi Channel-Marketing zu installieren.“6 Die Positionierung und das Management der Vertriebswege stellt damit eine zentrale und strategische Herausforderung zur Erreichung der im magischen Dreieck dargestellten Ziele dar. Um den veränderten Umweltbedingungen im Retail Banking angemessen Rechnung zu tragen, müssen die existierenden bankwirtschaftlichen Ansätze um neue, dynamische Aspekte ergänzt werden. Der Umgang mit der hohen Markt- und Unternehmenskomplexität erweist sich als zentrale Herausforderung innerhalb eines marktorientierten Retail Banking. Eine 6 Wirtz, B./Schilke, O./Büttner, T. (2004), S. 47.
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Der Ansatz für einen erfolgreichen Multi Channel-Vertrieb im Retail Banking
Unternehmung muss immer darauf vorbereitet sein, neue Chancen zu nutzen oder unvorhersehbare Risiken abzuwehren. Die Komplexitätstheorie bietet hierfür grundlegende und gleichzeitig neuartige Ansätze. Die junge Wissenschaft beschäftigt sich mit dem Verhalten nicht linearer Systeme und versucht in abstrakten Modellen allgemeingültige, ordnungsbildende Kräfte zu identifizieren, unabhängig davon, in welchem komplexen System diese auftreten.7 Die Kenntnis der Theorie komplexer, adaptiver Systeme führt zu einem besseren Verständnis der Wirkungsweise von Management- und Marketinginstrumenten in komplexen Märkten und Organisationen. Die folgenden Ansatzpunkte zeigen die Bedeutung der Komplexitätstheorie für den Vertrieb im Retail Banking: Die beschriebenen dynamischen und komplexen Markt- und Wettbewerbsbedingungen im Retail Banking erschweren qualifizierte Managemententscheidungen. Daraus resultierend existieren in Praxis und Wissenschaft eine Vielzahl strategischer Konzepte und Ansätze. Ein übergreifender Kontext,ȱ wie ihn die Komplexitätstheorie zur Verfügung stellt,ȱ 8 kann in diesem schwierigen Umfeld als Anhaltspunkt für das Management dienen. Die Installation verschiedener Vertriebskanäle erzeugt per se einen höheren „...Koordinationsaufwand, der durch die zunehmende Komplexität derartiger Systeme verursacht wird.“9 Die Kenntnis grundlegender Regeln dynamischer Systeme verspricht neue Ansätze für die strategische Positionierung der Vertriebskanäle. Die Komplexitätstheorie hat ihre Bedeutung für die Managementlehre bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Jetzt gilt es, diese Erkenntnisse für die Strategieentwicklung im Retail Banking zu erschließen und hierüber zu neuen und effizienteren Lösungsansätzen für das Multi Channel-Banking zu gelangen. Auf Grundlage der Erkenntnisse der Komplexitätstheorie werden Methoden im strategischen Bankvertrieb weiterentwickelt und verständlich aufbereitet.
2.
Der Ansatz für einen erfolgreichen Multi ChannelVertrieb im Retail Banking
Publikationen über Bankenstrategien und Multi Channel-Banking existieren bereits zu Genüge. In der Regel konzentrieren sich die Autoren auf die Beschreibung realisierter und erprobter Strategiemodelle unter weitgehend bekannten Umweltbedingungen. Die diesem Buch zugrunde liegende ganzheitliche Sicht auf das geänderte Marktumfeld im Kontext neuer wissenschaftlicher Strömungen eröffnet für den bankbetrieblichen Strategieprozess völlig neue Ansätze. 7 Vgl. z.B. Kauffman, S. (1996), S. 9 f. oder Lewin, R. (1996), S. 21. 8 Vgl. Pascale, R. T./Millemann, M./Gioja, L./Herrmann, M. (2002), S. 182-183. 9 Benkenstein, M. (2001), S. 188.
Das Marktumfeld
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Dieses Buch bietet dem Leser eine theoretisch fundierte, aber vor allem auch praktisch anwendbare Konzeption zur strategischen Neuausrichtung des Multi Channel-Vertriebs bei Universalbanken, das der zunehmenden Komplexität der Märkte und Organisation sowie den divergierenden Zielsetzungen des „magischen Dreiecks“ gleichermaßen Rechnung trägt. Auf Grundlage der heute bekannten strategischen Fragestellungen im Retail Banking, die im folgenden zweiten Teil dieses Buches detailliert aufbereitet werden, wird speziell auf die veränderten Herausforderungen eingegangen, die aus der gestiegenen Dynamik und Komplexität des Geschäftsfelds resultieren. Der dritte Teil stellt den heutigen Entwicklungsstand im Multi Channel Retail-Banking unter Berücksichtigung wichtiger Grundlagen des strategischen Bankmarketings dar. Die entscheidenden Stärken, aber auch die Risiken einer Multi Channel-Strategie werden herausgearbeitet und hinsichtlich ihrer strategischen Bedeutung bewertet. Im vierten Teil wird die Komplexitätstheorie im Allgemeinen und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die strategische Fragestellung dieses Buches vorgestellt. Über eigens erarbeitete Leitlinien wird die Bedeutung der Komplexitätstheorie für das strategische Management sowie für die speziellen Herausforderungen der Strategieentwicklung im Retail Banking untersucht. Auf Basis dieser Grundlagen wird im fünften Teil schrittweise eine Konzeption zur Entwicklung einer Vertriebsstrategie unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie entwickelt. Ausgewählte Instrumente werden praxisnah vorgestellt und hinsichtlich ihres unternehmerischen Nutzens in einer zunehmend komplexen, dynamischen Umwelt untersucht. Am Ende dieses Teils steht ein ganzheitlicher Strategieansatz, den der Leser auf sein individuelles Marktumfeld im Retail Banking transferieren kann. Teil 6 beschreibt darauf aufbauend einen neuartigen Ansatz zur Auswahl und Positionierung der Vertriebswege. Auf Grundlage des Portfolio-Ansatzes im Marketing berücksichtigt das Bewertungsmodell die internen Stärken und Schwächen, die marktrelevanten Chancen und Risiken, wie auch die ertragsbestimmenden Effekte der Vernetzung verschiedener Vertriebskanäle. Der Kreis schließt sich mit dem in Teil 7 dargestellten Ansatz für ein effektives und übergreifendes Multi Channel-Management. Die Erfolgslogik des integrierten Multi ChannelVertriebs wird am Beispiel der Vertriebswege Filiale und Internet verdeutlicht. Die entscheidenden Stellhebel und Erfolgsfaktoren werden ausführlich erläutert und mit praktischen Beispielen unterlegt. Der letzte Teil des Buches schließt mit einem Ausblick zur weiteren Entwicklung des Multi Channel-Vertriebs im Retail Banking. Jedes einzelne Kapitel bietet für sich genommen wertvolle Anregungen zur Bewältigung der neuen Herausforderungen im Retail Banking. Am Ende ergeben die einzelnen Teile dieses Buches einen durchgängigen Prozess von der Strategiefindung, über die Implementierung bis zum laufenden Management der Vertriebswege in einer komplexen, dynamischen Umwelt.
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Der Ansatz für einen erfolgreichen Multi Channel-Vertrieb im Retail Banking
Darüber hinaus versprechen gerade die verständlich aufbereiteten Ansätze der Komplexitätsforschung, die sich wie ein roter Faden durch alle Teile dieses Buches ziehen, neue Einsichten für die praktischen und konzeptionellen Herausforderungen des modernen Bankgeschäfts. Wir bieten dem Leser mit dieser umfassenden Betrachtung des Multi Channel-Vertriebs neben einem ganzheitlichen Strategieansatz auch wichtige neue Impulse für das tägliche Business und alternative Vorgehensweisen, die letztendlich zu mehr Effizienz und Wachstum in dem herausfordernden Geschäftsfeld Retail Banking führen werden.
Teil II Das heutige Retail Banking
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
1.
Die grundlegenden Eigenschaften der Bankdienstleistung
Eine Definition für den Begriff der Bankdienstleistung findet sich heute in nahezu jedem Lehrbuch. Aber gerade in jüngeren Publikationen wird das Bankgeschäft vielfach undifferenziert mit Handels- oder Industrieunternehmen verglichen. Häufig wird dabei vergessen, dass die Bankdienstleistung sich in wichtigen Punkten grundlegend von herkömmlichen Produkten und anderen bekannten Dienstleistungen unterscheidet. Daher kommen wir zu der Überzeugung, dass es für die strategische Positionierung der Vertriebskanäle von grundlegender Bedeutung ist, die besonderen Eigenschaften der Bankdienstleistung zu kennen und zu berücksichtigen. Die Bankdienstleistung muss schon dem Namen nach dem tertiären Bereich zugeordnet werden. Die besonderen Merkmale der Bankdienstleistung lassen sich sehr anschaulich über einen Vergleich zur Sachleistung herausarbeiten. Die folgenden, konstitutiven Eigenschaften einer Dienstleistung können daher unmittelbar dem Bankgeschäft zugeordnet werden:10 1. Eine Dienstleistung ist nicht materiell greifbar und muss damit als ein abstraktes Gut gesehen werden, das sinnlich nicht wahrgenommen wird. Diese Eigenschaft erzeugt eine Unsicherheit beim Käufer, welcher durch die Leistungsgestaltung begegnet werden muss. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine Schönheitsoperation, bei der das Resultat nicht vor dem Abschluss der Behandlung sichtbar wird. Die Leistung wird formbar durch fungible Anrechtsformen, wie insbesondere Verträge, aber auch Tickets oder Karten. 2. Für die Produktion der Leistung ist eine direkte Beziehung zwischen Dienstleister und Kunde erforderlich. Diese Leistung ist oftmals personenbezogen und kann sehr komplex sein. Der Kunde ist an der Leistungserstellung i.d.R. unmittelbar beteiligt.
10 Die Eigenschaften von Dienstleistungen werden sehr gut dargestellt in Kotler, P., Bliemel, F. (2001); S. 47.
ff. oder Meffert, H., Bruhn, M (2003), S. 155 ff.
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Die grundlegenden Eigenschaften der Bankdienstleistung
3. Dienstleistungen sind nicht lagerfähig. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass für die Erstellung von Dienstleistungen oftmals hohe Kapazitäten erforderlich sind, um auch Spitzenauslastungen bewältigen zu können. Dies impliziert gleichzeitig hohe fixe Kosten beim Dienstleistungsanbieter. 4. Die genannten Eigenschaften der Dienstleistungen bedingen hohe Schwankungen in der Qualität. Entscheidend ist, wer die Leistung wann, wo, an wen und in welcher Güte erbringt. 5. Die Realisierung von Innovationen ist schwierig, da sie kaum rechtlich geschützt werden können. So gibt es für Bankprodukte keinen Patentschutz. Es erscheint unmittelbar einsichtig, dass die Qualität von Bankprodukten oder Vertriebswegen in der Wahrnehmung des Kunden – und nur die ist für einen erfolgreichen Vertrieb entscheidend – sehr eng mit der empfundenen Qualität der Beratungsleistung zusammenhängt. Fühlt der Kunde sich gut aufgehoben, ist er in den meisten Fällen auch mit dem erworbenen Bankprodukt zufrieden. Entsprechend wichtig ist es, sich die hier genannten Merkmale einer Dienstleistung für alle strategischen Entscheidungen im Bankgeschäft vor Augen zu führen. Über die bisher genannten Merkmale hinaus muss die Bankdienstleistung jedoch durch weitere, wesensbestimmende Besonderheiten charakterisiert werden. „Im Unterschied zu vielen anderen Dienstleistungen ist Gegenstand der Bankleistung nicht ein konkretes Produkt (wie bei der Vermietung von Wohnungen oder der Zustellung von Möbeln durch den Spediteur), sondern das besondere Gut „Geld“.
Besonderheiten des Geldes für das Bankgeschäft Im Vergleich zu anderen Leistungsobjekten muss dem Geld eine besondere Rolle zugestanden werden. Damit sind weniger seine makroökonomischen Funktionen als Tausch-, Zahlungs- oder Wertaufbewahrungsmittel gemeint, sondern vielmehr dessen subjektive Wahrnehmung in der Gesellschaft. Volksweisheiten, wie ‚Geld regiert die Welt’, ‚Geld verdirbt den Charakter’ oder ‚Geld macht nicht glücklich’ demonstrieren den differenzierten Umgang der Öffentlichkeit mit dem Zahlungsmittel. Als Gesprächsthema werden die eigenen Finanzen selten angesprochen, Diskussionen hierüber entstehen auf allgemeiner Ebene, insbesondere im Falle einer übergreifenden Bedrohung, wie z.B. durch steigende Steuern, Inflation, o.ä. Der allgemeine Wahrnehmung von Geld ist zwiespältig und durch Begriffe wie: Finanzielle Freiheit, Unabhängigkeit aber auch Gier, Neid, Macht(missbrauch) charakterisiert. Der Umgang mit Geld und Reichtum wird zudem sehr stark durch die jeweilige (nationale) Kultur geprägt.11
Banken werden vom Kunden i.d.R. als die Verkörperung des Geldes wahrgenommen, wodurch das Image der Kreditinstitute vorbelastet ist. Die Preise und selbst die Gewinneȱ von Banken rücken wesentlich stärker in den Blickwinkel der Öffentlichkeit, als in anderen Bran11 Vgl. Sarrazin, J. (1998), S. 416 f.
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
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chen. Bankpreise werden häufig auch als „politische Preise“ bezeichnet. Hinzu kommt die zeitliche Dimension als wesentliches Element der Bankleistung. Bankgeschäfte lassen sich kurzfristig als Augenblicksgeschäfte betrachten, sondern entstehen sehr häufig als Bestandteil einer langfristigen Beziehung zwischen Geldinstitut und Kunde.12 Die Abstraktheit der Dienstleistung wird im Fall von Bankprodukten vielfach durch eine höhere Kompliziertheit ergänzt. Der Kunde kann im Vorhinein oftmals nicht beurteilen, welche Gegenleistung er am Ende der Vertragslaufzeit erhält. Dieses führt zu einer besonderen Erklärungsbedürftigkeit der Bankdienstleistung.13 Hinzu kommt eine enge Regulierung des Bankenmarktes, die sich unmittelbar auf die Leistungsgestaltung auswirkt. Um die Funktionsfähigkeit des Kreditgewerbes in seiner besonderen volkswirtschaftlichen Bedeutung sicherzustellen, wurde ein spezielles aufsichtsrechtliches Gesetzwerk geschaffen. Exemplarisch für die Regulierung des Bankenmarktes können das Gesetz über das Kreditwesen (KWG), das Börsengesetz oder das Verbraucherkreditgesetz ebenso genannt werden, wie Regularien der internationalen Bankenaufsicht (Basel II) oder Verordnungen der EU Kommission. Die genannten Merkmale der Dienstleistung, ergänzt um die speziellen Besonderheiten der Bankleistung kennzeichnen wesentliche Eigenschaften, die im Vertrieb einer Bank berücksichtigt werden müssen. Hieraus lassen sich folgende Prämissen ableiten: Das Vertrauen des Kunden in den Geschäftspartner ist aufgrund der vorgenannten Merkmale für Banken unmittelbar wettbewerbsrelevant das Ansehen und Image der Bank in der Öffentlichkeit ist damit ein wichtiger Marketingaspekt. Als Imageträger kommt dem Mitarbeiter dabei eine besondere Bedeutung zu, welche sich allerdings mit der Etablierung moderner Vertriebskanäle verändert. Die Positionierung der einzelnen Vertriebskanäle muss der generellen Erklärungsbedürftigkeit und Komplexität der Bankdienstleistung Rechnung tragen.14 Der Charakter der stark regulierten, aber auf der anderen Seite nicht patentierbaren und damit vom Wettbewerb kopierbaren Bankleistung sowie die Bedeutung der Vertriebswege für die Produktqualität haben hohen Einfluss auf die Produktgestaltung. Der „politische Charakter“ der Bankpreise bedingt einen sehr umsichtigen Einsatz der Preispolitik. Die vorgenannten Prämissen bilden eine wesentliche Grundlage für alle strategischen Entscheidungen im Bankgeschäft und beeinflussen damit insbesondere die Bedeutung und Gestaltung der Vertriebsstrategie im Retail Banking.
12 Vgl. Sandmann, H. (1993), S. 30. 13 Vgl. Voit, M. (2002), S. 144. 14 Die Bankdienstleistung soll hiermit keineswegs als homogenes Gut betrachtet werden. Die genannten
Eigenschaften sind in der Wahrnehmung des Kunden allerdings als prägend für das Bankgeschäft im Allgemeinen und das Retail Banking im Besonderen anzusehen.
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2.
Was genau ist Retail Banking?
Was genau ist Retail Banking?
Als Retail Banking wird in der Bankliteratur das standardisierte Privatkundengeschäft der Banken bezeichnet. Häufig auch etwas herablassend als „Mengengeschäft“ betitelt, umfasst das Retail Banking üblicherweise das Geschäft mit den Standardprivatkunden sowie den gehobenen Privatkunden, den so genannten ‚Affluents’.15 Auch wenn der typische Privatkunde nur schwer zu erfassen ist, bildet das Retail Banking neben dem Private Banking und dem Firmenkundengeschäft in den meisten Banken eine klar fokussierte Gruppe im Rahmen der Kundensegmentierung. Die Angebote für diese Zielgruppe bestehen in der Regel aus standardisierten, einheitlichen und wenig erklärungsbedürftigen Produkten. Ein gutes Beispiel hierfür ist der eigens für das Privatkundengeschäft konzipierte „Konsumentenkredit“, der sich bei vielen Banken durch ein schnelleres und unkompliziertes Antragsverfahren vom herkömmlichen Kredit abhebt. Perfektioniert hat dieses die Noris Bank, welche dem Konsumentenkredit durch die Schaffung der Marke „easy credit“ ein eigenes Profil gab und das Produkt damit für den Vertrieb über Partnerbanken optimierte. Die Übergänge von Produkten des Retail Banking zu weiteren Bankdienstleistungen sind fließend. Eine klare Abgrenzung ist nicht möglich, da im Retail Banking vielfach Basisprodukte angeboten werden, die für alle Kundengruppen von Bedeutung sind. Dieser Denkansatz wird durch den so genannten „All-in-Ansatz“ zur Kundensegmentierung bestätigt, welcher davon ausgeht, „...dass es zwar Retail Banking-Produkte, aber keine typischen Retail Banking-Kunden gibt. Anders gesagt: „Alle Kunden sind Retail Banking-Kunden – weil Retail Banking-Produkte die eigentlichen Grundbedürfnisse bezüglich Bankdienstleistungen eines jeden Bankkunden abdecken.“16 Um den Stellenwert des heutigen Retail Banking beurteilen zu können, ist es hilfreich, die Entwicklung im Zeitablauf zu betrachten. Das Privatkundengeschäft findet in Deutschland erstmals 1959 mit der Einführung des Privatkredits Beachtung. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Geschäft mit „dem kleinen Mann“ im Wesentlichen auf das Sparbuch beschränkt und damit vornehmlich den Sparkassen vorbehalten.ȱ Die Geschäftsbeziehungen der privaten Banken konzentrierten sich bis zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich auf große und mittelständische Unternehmen.ȱ Insbesondere bei den Großbanken wurde der Einstieg in das Retail Banking nicht ungeteilt positiv gesehen. Man war besorgt, dass die massenhafte Vergabe von Kleinkrediten sich dem hohen Ansehen der Banken vertragen würde. Diese Einstellung änderte sich jedoch spätestens mit der Erschließung großer Marktvolumen über die Einführung der Girokonten für die Lohn- und Gehaltszahlungen zu Beginn der 60er Jahre. Das private Girokonto entwickelte sich schnell zum Dreh- und Angelpunkt in die Ge15 Vgl. Schierenbeck, H., Hölscher, R. (1992), S. 229 f. 16 Bernet, B. (1995), S. 38.
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
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schäftsbeziehung zwischen Bank und Kunde, mit darauf aufbauenden Produkten und Diensten.
Quelle: http://www.deutsche-bank.de/geschichte/html/internat_1959.html. Abbildung 2: 1959 – Der Einstieg in das Privatkundengeschäft. Die Hauptbankverbindung eines privaten Kunden war in dieser Zeit fast ausschließlich an eine Filiale geknüpft. Dies und der steigende Wettbewerb um den privaten Kunden führten in den folgenden Jahren zu einer schnellen und konsequenten Ausdehnung des Filialnetzes. Die stürmischen Wachstumsjahre des Retail Banking waren gekommen. Ein Resultat dieser Entwicklung ist die heute anzutreffende hohe Filialdichte in Deutschland. Ebenso wurde in dieser Zeit der Begriff der Filialbank geprägt. Wesentliche Aufgabe der Filialbank war die Umwandlung des als Buchgeld eingehenden Lohneingangs in Bargeld. Mit der heute üblichen hohen Verbreitung von Bargeldsurrogaten, wie Kreditkarten oder Debitkarten, hat diese Aufgabe in den Filialen stark abgenommen. Zudem reduziert der Begriff ‚Filialbank’ das Unternehmen auf einen ‚Einkanal-Vertrieb’. Dieses ist in der Realität so gut wie nicht mehr anzutreffen. Sprachlich genauer lassen sich die heutigen Banktypen mit dem Begriff der „filialzentrierten Universalbank“ beschreiben. Dieser Begriff beschreibt wesentlich besser die aktuellen Herausforderungen an eine Mehrkanal-/ und Mehrproduktbank. Die wichtigsten Meilensteine der Entwicklung des Retail Banking in Deutschland dokumentiert Abbildung 3. Die hier genannten Innovationen wurden durch unterschiedliche Bankengruppen oder Institute nicht zeitgleich eingeführt. Die Zeiträume markieren jeweils einen Richtwert.
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Jahr
Was genau ist Retail Banking?
Meilensteine und Innovationen für die Privatkundschaft im Bankensektor
Vorherrschende Strategie
Phase im Lebenszyklus
1959
Standardisierte Konsumentenkredite (Kleinkredite) bis 2000,00 DM.
1960
Lohn- und Gehaltskonten (vorher war die Lohntüte üblich).
1961
Vermögenswirksames Sparen.
1968
Einführung des eurocheque-Systems (Scheckgarantiekarte). Sparbriefe, Sparpläne und weitere normierte Kreditprogramme.
1970
Einführung des Dispositionskredits für private Konten.
1971
Einstieg in das Kreditkartengeschäft mit Eurocard.
1977
Beginn des Einsatzes von Geldausgabeautomaten und Kontoauszugsdruckern.
1978
Einführung von Bildschirmtext ermöglicht erstmals die Erledigung der Bankgeschäfte von zu Hause.
1983
Sondersparformen mit Versicherungsschutz.
1984
Revolvierende Konsumentenkredite. Kostensenkung durch Automation.
1985
Einführung des Telefonbankings.
1989
Beginn des Online Banking.
1995
Ausgründung der ersten Direktbanken.
1996
Ausdehnung des Wertpapier- und Fondsgeschäfts auf das Retail Banking (Börsengang der Deutschen Telekom, Beginn der Börsenblase).
1999
Attraktivität des Retail Banking sinkt aufgrund der Kosten/Ertragsrelation. Viele Banken konzentrieren sich auf andere Zielgruppen und –märkte.
Konsolidierung
Absterben bzw. Verkleinerung
2002
Wiederentdeckung des Retail Banking als stabiles Basisgeschäft.
Anpassung / Strategie wird neu überdacht
Relaunch
Erprobung
Einführung
Dynamischer Ausbau des Geschäfts mit Privatkunden Wachstum
Zunehmendes Kostenbewusstsein und Ertragsorientierung
Reifezeit Erschließung neuer Märkte, Allfinanzstrategie Marktsättigung Technologie getriebene Erschließung neuer Vertriebswege in einem weitgehend verteilten Markt
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 3: Meilensteine der Entwicklung im Retail Banking.
Verfall
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
3.
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Der Retail Banking-Markt heute
In den frühen Neunziger Jahren beschrieb Süchting den deutschen Markt für Bankdienstleistungen, speziell für den Privatkunden, als einen unvollkommenen Markt, der auf der Bankenseite durch eine oligopolistische und auf der Nachfragerseite durch eine polypolistische Struktur gekennzeichnet ist.17 Zwar führten intensive Markt- und Wettbewerbs Veränderungen in der vergangenen Dekade zu intensiven Strukturdiskussionen im deutschen Bankensektor, aber trotz alledem beschreibt diese Definition die heutige Situation immer noch am genauesten. Nach wie vor bilden die großen Blöcke der Sparkassen und Genossenschaftsbanken in sich geschlossene Gruppen und dominieren das Retail Banking mit über siebzig Prozent Marktanteil. Der restliche Teil des Kuchens verteilt sich vor allem auf die in Deutschland agierenden Großbanken, wobei wir die Postbank ebenfalls zu dieser Gruppe zählen. Das Modell der Universalbank hat damit bislang seine führende Rolle im deutschen Bankensystem behaupten können. Dieser Thron ist allerdings äußerst wackelig geworden. Die deutschen Banken befanden sich über Jahrzehnte in einem stabilen Wettbewerbsumfeld. Gerade in den letzten Jahren zeigten sich allerdings dramatisch die strukturellen Probleme des deutschen Finanzsektors. Bereits 1990 prophezeite Ulrich Cartellieri, dass die Banken die Stahlindustrie der Neunzigerjahre sein würden. Zu diesem Zeitpunkt galt der Bankenmarkt im Retail Banking schon als gesättigt.ȱ18 Wie Recht Cartellieri hatte wurde allerdings erst knapp ein Jahrzehnt später in den Banken spürbar. Der Grund für den verspäteten Eintritt der Prognose lag in Sonderfaktoren, wie die Deutsche Wiedervereinigung und der Börsenboom in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. Das Management vieler Banken hat diese Phase nicht ausreichend genutzt, notwendige Reformen rechtzeitig voranzutreiben. Obwohl die erste mit umfangreichen Entlassungen verbundene Konsolidierungswelle in deutschen Banken, die 2002/2003 ihren Höhepunkt erreichte, abgeschlossen scheint, stehen weitere strukturelle Veränderungen erst am Anfang. Der Internationale Währungsfond (IWF) bestätigt in seinem Herbst 2003 veröffentlichten Bericht, das jede Bankengruppe in Deutschland eine schlechtere Ertragskraft ausweist, als vergleichbare Gruppen in anderen EU Staaten.19
17 Vgl. Süchting, J. (1991), S. 28 ff. 18 Ergebnisse eine Mc.Kinsey Studie zeigten schon 1992, dass deutsche Geldinstitute zu viel Personal beschäf-
tigen und zu viele unrentable Filialen unterhalten. Vgl. Reichardt, C. (2000), S. 120. 19 Vgl. o.V. (2004a), S. 9.
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Der Retail Banking-Markt heute
Commerzbank 3,5%
Hypo Vereinsbank 3,4%
Dresdner Bank 4,7% Deutsche Bank 7,4% Sparkassen 43,5% Postbank 10,4%
Genossenschaftsbanken 27,1%
Quelle: o.V. (2004b): S. 2. Abbildung 4: Marktanteile im Retail Banking. Gründe für die verzögerten, strukturellen Anpassungen werden vielfach in der traditionell strikten Teilung in öffentlich rechtliche Banken, Genossenschaftsbanken und Private Banken gesehen, deren Marktanteile in Abbildung 4 dargestellt sind. Zusammenschlüsse von Banken finden aufgrund bestehender Regulierungen fast ausschließlich innerhalb der Sektoren statt.. Insbesondere der hohe Staatsanteil im Bankensektor schränkt das Konsolidierungspotenzial in der Kreditwirtschaft erheblich ein und erschwert die Schaffung effizienter und international wettbewerbsfähiger Bankenstrukturen. Mit rund 45% Marktanteil gemessen an der Bilanzsumme dominiert der staatlich kontrollierte Sparkassensektor den deutschen Markt. Ein Rückzug der öffentlichen Hand, einhergehend mit einer Privatisierung und Deregulierung des Bankgeschäfts kann auf politischer Ebene helfen, bessere marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen für die strukturellen Anpassungen im deutschen Bankgewerbe zu schaffen. Darüber hinaus – und das ist sicherlich die entscheidende Herausforderung im strategischen Management – muss sich jede Bank individuell auf die veränderten, dynamischen Marktbedingungen einstellen. Doch woher kommt der drängende Bedarf für einen strukturellen Wandel?
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
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Im Wesentlichen lassen sich hier die in Abbildung 5 dargestellten Faktoren anführen, die auf den folgenden Seiten genauer erläutert werden.
Wettbew erb innerhalb der Branche
S te ige n Dyna m de ik und Komp le x itä t
Regulierung des Bankgeschäfts
Aktiv itäten der Non- und Nearbanks
Wachsende Macht und Anforderungen der Bankkunden
Neue Technologien
Quelle: In Anlehnung an Stuhldreier, U. (2002), S. 3. Abbildung 5: Veränderte Rahmenbedingungen im Bankgeschäft. Das gewachsene Selbstbewusstsein und die höheren Anforderungen des Bankkunden, zählen sicher zu den wesentlichsten Veränderungen im Retail Banking. Die klassische Rolle des Kunden, der ehrfürchtig die heiligen Bankgebäude betrat, um leise bittend einen Kredit zu beantragen oder eine Kontoverbindung für das Leben einzugehen, hat sich grundlegend gewandelt. Die jetzige Marktsituation ist durch einen Käufermarkt charakterisiert, in dem sich der anspruchsvolle, selbstbewusste und aufgeklärte Verbraucher mit begrenzter Loyalität, das für ihn beste Angebot auswählt. Diese Tendenz geht einher mit einem Wertewandel in der Gesellschaft, der durch eine postmaterialistische und postmoderne Grundorientierung geprägt ist.20 Die weit vorangeschrittene Entmystifizierung des Bankgeschäfts trägt zusätzlich dazu bei, Banken als gleichberechtigte Geschäftspartner anzusehen. Das veränderte und renditeorientiertere Verhalten der Verbraucher bedingt zudem einen Mittelabfluss von günstigen Einlagen der Privatkunden (z.B. Sparbuch) zu höher verzinsten Alternativen (z.B. Tagesgeld). Die Banken sind gezwungen, sich zunehmend zu höheren Kosten über den Geld- oder Kapitalmarkt zu refinanzieren. 20 Vgl. Büschgen, H.E,, Büschgen, A. (2002), S. 35.
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Der Retail Banking-Markt heute
Der rasante technologische Fortschritt der letzten Jahre und die hohe Akzeptanz der neuen Kommunikationstechnologien durch den Kunden haben diesen Trend stark mit beeinflusst. Die modernen, mittlerweile stark verbreiteten elektronischen Medien, erlauben nicht nur eine vielseitige und umfassende Information des Kunden, sondern ermöglichen diesem ebenso einen schnellen, unkomplizierten Marktvergleich. Der Wettbewerb wird transparenter und schneller. Um dieser steigenden Dynamik standzuhalten, sind die zielgerichteten Investitionen in neue Technologien eine wesentliche strategische Aufgabe. Der persönliche Kontakt zwischen Bankmitarbeiter und Kunde nimmt ab und das Bankgeschäft an sich wird anonymer. Daraus resultieren eine sinkende Kundenbindung und Bankloyalität, die es durch alternative Marketing- und Vertriebsmaßnahmen aufzufangen gilt. Aufgrund moderner Medien ist der Aufbau eines kostenintensiven Geschäftsstellennetzes nicht länger eine zwangsläufige Bedingung für den Einstieg in das deutsche Retail Banking. Klassische Markteintrittsbarrieren für ausländische21 oder neue Finanzdienstleister wurden speziell durch das Internet deutlich reduziert. Die Wettbewerbsintensität um den privaten Kunden hat drastisch zugenommen. Der Wegfall der „Deutschen Mark“ (DM) unterstützte diesen Trend und erleichterte europäischen Wettbewerbern den Marktzugang. Near-Banks (wie z.B. Versicherungen, Kreditkartenanbieter oder Vermögensbetreuungen) und NonBanks (wie z.B. Automobil- oder Handelskonzerne, aber auch moderne Online Provider, wie T-Online) konzentrieren ihr Angebot auf lukrative Teile der Wertschöpfungskette und drängen auf diesem Weg mit selektiven und preisgünstigen Offerten in den Markt.ȱ22 Hierzu einige bezeichnende Trends und Beispiele: Gerade ausländische Banken erzielten in den letzten Jahren ernorme Zuwachsraten. So baute z.B. die ING-DiBa ihren Kundenstamm in der Zeit von 2000 bis 2003 um 131 Prozent auf 3,7 Millionen Kunden aus. Dieser Trend hält mit einer Zuwachsrate von täglich ca. 2.500 Neukunden unverändert an. Die Citibank Privatkunden AG gewann im gleichen Zeitraum netto über 1,2 Millionen neue Kunden hinzu. Dies entspricht einer Steigerungsrate von über 37 Prozent. In Zusammenarbeit mit der zur Royal Bank of Scotland gehörenden Comfort Card Gesellschaft hat der deutsche Kaffee- und Handelskonzern Tchibo den Verkauf von hoch standardisierten Krediten in seinen Filialen aufgebaut. Über diese Kooperation bietet in Deutschland erstmals auch der Einzelhandel Finanzdienstleistungen für private Kunden an. Die Automobilindustrie hat sich vom Nischenanbieter zum ernsthaften Konkurrenten im Retail Banking entwickelt. Die als Absatzfinanzierer gestarteten Institute nutzen ihre hochwertige Marke als Imageträger im Vertrieb der Bankprodukte. Finanzgeschäfte 21 Ausländische Anbieter dringen bevorzugt über die Gründung kleiner Internetbanken (z.B. DHB Bank) oder
Tochtergesellschaften (z.B. RBS Retail Direct Europe als Tochter der Royal Bank of Scotland) bzw. dem Erwerb kleinerer, rentabler Banken in den deutschen Markt ein. (z.B. Erwerb der DiBa durch die ING Group oder der CC-Bank durch die Santander Central Hispano). Nur wenige ausländische Retail Banken treten bundesweit direkt in Deutschland auf. Eine Ausnahme bildet die Citibank, die als eine der effizientesten Privatkunden Banken in Deutschland gilt. 22 Vgl. Wild, O. (2003a), S. 13.
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
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werden lediglich als Zusatzleistungen angesehen, die der Kundengewinnung und –bindung dienen. Somit zielt die Preispolitik klar auf die Förderung des Autokaufs als Primärziel und das Finanzprodukt wird durch zukünftige Erlöse im Kerngeschäft der Automobilindustrie subventioniert.23 Der Erfolg dieses Modells zeigt sich am Beispiel der Volkswagenbank. Nach einem Wachstum von über 53 % in den Jahren 2000 bis 2003 liegt sie inzwischen im Mittelfeld der 100 größten Banken Deutschlands und verfolgt eine zunehmend eigene Bankstrategie.24 Als vierter Aspekt wirkt der hohe und weiter zunehmende Regulierungsgrad auf den deutschen Bankenmarkt. Aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Bankensektors unterliegen die Geschäftsaktivitäten der Banken in nahezu allen Ländern besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen, die vor einem Kollaps des Finanzsystems schützen sollen. Im Zuge der Harmonisierung des europäischen Rechts war jedoch lange Zeit die Deregulierung der Bankleistung ein vorherrschender Trend. Dies bezeugen insbesondere an den Prinzipien der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ausgerichtete Richtlinien, wie u.a. die Niederlassungs-, Bankbilanz-, oder Solvabilitätsrichtlinie, aufgrund derer z.B. alle Banken der EU-Mitgliedsländer das Recht haben, in jedem EU-Land Niederlassungen zu eröffnen.25 Jedoch ist gerade in den vergangenen Jahren eine deutliche Zunahme der aufsichtsrechtlichen Bestimmungen spürbar. Auslöser des erkennbaren Richtungswechsels waren internationale Finanzkrisen mit hohem Bedrohungspotenzial für das Bankwesen. In den letzten Jahren kam eine zunehmende staatliche Kontrolle im Zuge der Terrorabwehr und den daraus resultierenden neuen Aufsichtsregeln hinzu. Die Vielzahl an Vorschriften und Vorgaben bildet unbestritten ein wichtiges Fundament für das sensible Bankgeschäft und begründet die ausgeprägte Vertrauensstellung des Kreditgewerbes. Für die Banken bedeuten die zunehmenden Transparenzanforderungen jedoch ebenso einen exponentiell steigenden Steuerungsaufwand. Neue Regulierungen wirken sich direkt auf den Wettbewerb in der Kreditwirtschaft aus. Insbesondere die Flut unterschiedlicher und häufig wechselnder Verfahrensregeln führt zu einer Verunsicherung bei Beratern und Kunden, die sich auch auf die Frage der Vertriebswegestrategie auswirkt. Exemplarisch sei hier auf die aktuellen rechtlichen Änderungen zum Bankgeheimnis hingewiesen. Die mit dem Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 23. Dezember 2003 in die Abgabenordnung eingefügten Vorschriften des § 93 Abs. 7 und Abs. 8 und des § 93 b erlauben den Finanzbehörden seit dem 1. April 2005 einen automatisierten Zugriff auf Kontostammdaten der Bankkunden, wie z.B. Name, Geburtsdatum, Kontonummern und Depots.26 Anhand dieser staatlichen Regulierung lässt sich besonders gut die sensible Vertrauensposition der Banken verdeutlichen. Das über Jahrzehnte gewachsene Bankgeheimnis garantiert den Schutz der Vermögensverhältnisse von Bankkunden. Der mit der o.g. Gesetzesänderung erreichte elektronische Zugriff der Finanzbehörden auf die Kundenstammdaten weicht diese entscheidende Vertrauensbasis zwischen Bank und Kunde auf. In der öffentlichen 23 Vgl. Thum, W., Semmler, M. (2003), S. 118. 24 Gemessen an der Bilanzsumme. Vgl. http://www.die-bank.de/index.asp?issue=092004&art=348. 25 Büschgen, H.E. (1999), S. 21. 26 Vgl. hierzu die Abgabenordnung: http://www.lfd.m-v.de/ges_ver/guv/guv_j_10.html.
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Aktuelle Herausforderungen des Retail Banking
Wahrnehmung wird darin sogar die Aufhebung des gesamten Bankgeheimnisses gesehen. Der Wettbewerb reagierte umgehend. So werben z.B. österreichische oder luxemburgische Banken verstärkt mit der Anonymität der Finanzdaten. Neben einem hohen IT Aufwand zur Erfüllung der Gesetzesanforderungen müssen die deutschen Banken zusätzlich kreativ einen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Banken in angrenzenden Nachbarländern kompensieren. Zusammengenommen lässt sich festhalten, dass sich aufgrund der gesunkenen Margen und der schwierigeren Wettbewerbssituation der Kampf um den Kunden verschärft hat. In der Summe haben die rasanten Veränderungen in den Bereichen Kunde, Wettbewerb, Technologie und Regulierung den heutigen Bankenmarkt massiv verändert und speziell die Dynamik und Marktkomplexität erhöht. Die Anforderungen an das Management haben sich entsprechend gewandelt. Das Bewusstsein für die dynamischen Marktveränderungen ist eine entscheidende Voraussetzung zur zielgerichteten, strategischen Ausrichtung der Vertriebswege. „In einem sich immer schneller wandelnden Markt- und Wettbewerbsumfeld wird deutlich, dass der Zugang und Kontakt zum Kunden zu einem strategischen Erfolgsfaktor avanciert.“27
4.
Aktuelle Herausforderungen des Retail Banking
Nachdem die Entwicklung im Retail Banking über mehrere Jahrzehnte klar vorgegeben war, ist das Geschäftsfeld heute an einem Wendepunkt angekommen. Im Sog der Destabilisierung des gesamten Bankensektors und der beschriebenen Marktveränderungen erkämpft sich das Geschäft mit dem Privatkunden gerade einen neuen Platz im Portfolio der Universalbanken. Angesichts sprudelnder Erträge im Investment Banking, wachsender internationaler Finanzierungsgeschäfte und einer Ausweitung der Kreditvolumina im Firmenkundengeschäft trat das Retail Banking vorübergehend in den Hintergrund.28 Der kostenintensive Vertrieb, an den kleinen Mann mit geringem Ertragpotenzial dominierte das Denken. Stellenweise wurde das Privatkundengeschäft sogar als eine Achillesferse des Bankgeschäfts gesehen und die Strategieabteilungen der größeren Häuser sannen über Modelle zur Ausgliederung oder zum Verkauf des Geschäftsbereichs.
27ȱWalter, G. (2003), S. 53. 28 Vgl. Arnold, W., Steuer, S. (2003), S. 667.
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
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Heute haben sich nahezu alle Universalbanken dem Privatkunden erneut zugewendet. Gründe hierfür liegen in der Veränderung der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und der damit verbundenen Rückbesinnung auf die wesentlichen Stärken dieses Geschäftsbereichs: Das Kreditgeschäft mit Privatkunden ermöglicht durch seine breite Geschäftsbasis eine effiziente Risikostreuung und unterstützt die Verhinderung von Klumpenrisiken.29 Damit bildet es einen wichtigen Faktor bei der Bestimmung des Bankenratings und wirkt auf diesem Weg mittelbar auf die Refinanzierungskosten. Die breite Sammlung der Kundeneinlagen von Privatkunden erlaubt eine kostengünstige Refinanzierung. Das Retail Banking bildet eine ausgezeichnete Basis für die Kundenentwicklung, indem es als ein Reservoir für interessante Potenzialkunden betrachtet wird. In der Summe bildet das Retail Banking damit eine konservative, risikoarme Basis für das Bankgeschäft und erlaubt stabile und wiederkehrende Erträge. Während diese Erkenntnis in Deutschland allerdings über einige Jahre reifen musste, hat eine Vielzahl der erfolgreichen Global Player den Bereich systematisch weiterentwickelt. So gilt das Privatkundengeschäft vor allem in Großbritannien oder den USA als bedeutendes Geschäftsfeld, welches von den weltweit führenden Banken konsequent durch Zukäufe aufgebaut wird. So schnappte sich z.B. die HSBC den amerikanischen Konsumfinanzierer Household und die Bank of America übernahm die Fleet Boston. Dabei muss eine Fokussierung auf das standardisierte Privatkundengeschäft nicht zwangsläufig mit geringen Renditen erkauft werden. Europäische Banken mit einem hohen Anteil im Privatkundengeschäft, wie die Britische Alliance & Leicester oder die spanische Banco Popular erreichten in 2003 Eigenkapitalrenditen von über 20 %, die Swenska Handelsbanken oder die Unicredito Italiano erzielten immerhin noch ca. 15%.30 In Deutschland erzielen dagegen nur wenige Universalbanken im Retail Banking einen nennenswerten Ertrag. Seit Jahren muss sich das Management der Herausforderung stellen, dass ca. 60-80% der Privatkunden für die Bank einen negativen Deckungsbeitrag bringen. Neben den beschriebenen übergreifenden Aspekten, wie z.B. die sinkenden Erlöse aufgrund des verstärkten Wettbewerbs und des veränderten Kundenverhaltens, beeinflussen auch interne Faktoren die Rentabilität des Retail Banking in Deutschland. Hier stehen insbesondere die kostenintensive Produktion und der Vertrieb im Fokus der Betrachtung. Um heutige Wettbewerbsnachteile zu kompensieren, wird zunehmend eine Aufspaltung des Bankgeschäfts entlang der Wertschöpfungskette diskutiert.
29 Klumpenrisiken entstehen durch die Ballung von Krediten in bestimmten Branchen, Schuldnergruppen,
Regionen oder nach definierten Sicherheiten. 30 Reimer, H. (2004), S. 115.
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Aktuelle Herausforderungen des Retail Banking
Die folgende Abbildung veranschaulicht, dass eine strategische Aufspaltung in die Bereiche Produktion und Vertrieb für die Wettbewerbsfähigkeit unmittelbar relevant ist.
Sinkende Marge n
Wachsender Kostendruck
Situation: Entwicklung des Aufsichtsrechts
Steigende Kundenanf orderung
Aktiv ität der Wettbewerber
Universalbank
Konsequenz:
Ergebnis:
Neue Produkte & Technolog ien
Konzentration auf strategische Geschäftsfelder
Vertrieb
Produktion
Quelle: Grafemeyer, A. (2003), S. 25. Abbildung 6: Das Universalbankmodell spaltet sich auf. Auf der Produktionsseite liegt die Herausforderung in der Identifikation wirtschaftlich interessanter Outsourcing-Modelle, wobei sorgsam abzuwägen ist, welche Kernprozesse für das eigene Geschäft unentbehrlich sind. Ziel ist die Schaffung einer industriellen Produktion auf Basis von Plattformstrategien nach dem Vorbild der Automobilindustrie. Hier haben Banken noch Nachholbedarf. Nach einer Studie der IG Metall und der Universität Zürich beträgt die Fertigungstiefe in der Industrie lediglich 22%, in Banken dagegen noch 70%.31 Insbesondere die IT-Bereiche stehen dabei auf dem Prüfstand. So lagerte z.B. die Deutsche Bank ihre gesamte europäische IT an IBM aus. Daneben werden vor allem die Backoffice Funktionen im Transaction Banking und Kreditgeschäft überprüft. Gerade die industrielle Produktion von Krediten in einer Kreditfabrik ist ein Instrument, um die Kostenstruktur von Banken und Sparkassen nachhaltig positiv zu beeinflussen.
31 Vgl. Grafemeyer, A. (2003), S. 24.
Wesen und Besonderheit des Retail Banking
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Neben kurzfristigen Einspareffekten liegt die besondere Herausforderung in der langfristigen Sicherung einer effizienten und für beide Seiten gewinnbringenden Zusammenarbeit. Damit bedürfen Outsourcing-Projekte neben den Kostenargumenten auch immer einer strategischen Begründung. Für die auslagernde Bank bedeutet dies bereits im Vorfeld des Outsourcings eine Transparenz über die realen Kostentreiber zu gewinnen und diese über die Formulierung von professionellen Zielgrößen langfristig zu reduzieren. Prozesse und Schnittstellen zum Dienstleister müssen sauber definiert und beschrieben sein. Dies gilt noch stärker in Fällen einer internationalen Zusammenarbeit zur Nutzung besonderer Standort- oder Lohnkostenvorteile. Outsourcing-Projekte bedürfen einer intensiven Vorbereitung. Die technische und organisatorische Kompetenz muss sowohl in der Planungsphase, als auch in der Umsetzungs- und Betriebsphase in der Bank vorhanden sein. Die langfristige Kompetenzsicherung ist im Falle eines gut laufenden Outsourcings eine nicht zu unterschätzende Aufgabe. Wenden wir uns aber wieder dem Vertrieb als Kernthema dieses Buches zu. Wie Abbildung 6 zeigt, bildet dieser neben der Produktion die zweite strategische Säule im Wettbewerb. Eine aktuelle Herausforderung des Retail Banking ist auf der Vertriebsseite insbesondere das immer noch dichte Filialnetz in Verbindung mit hohen Personalkosten. Obwohl sich, wie in der folgenden Tabelle dargestellt, die Anzahl der Banken seit 2000 um fast 16 % und das entsprechende Filialnetz immerhin um ca. 12 % reduziert hat, gilt die Infrastruktur im internationalen Vergleich immer noch als viel zu dicht und zu teuer. Banken gruppen
Kreditinstitute
Zweigstellen
2001
2002
2003
2004
2001
2002
2003
2004
Großbanken
4
4
4
4
2.369
2.256
2.221
2.255
Postbank AG
1
1
1
1
12.762
12.667
10.645
9.707
Sparkassen
534
519
489
477
16.648
15.628
14.757
14.292
Kreditgenossenschaften
1.590
1.462
1.366
1.309
14.436
13.776
13.127
12.755
Summe
2.129
1.986
1.860
1.791
46.245
44.327
40.750
39.009
Quelle: Bundesbankstatistik. Abbildung 7: Zahl der Kreditinstitute und ihrer Zweigstellen in Deutschland. So kommen auf eine Filiale in Deutschland derzeit 1600 Einwohner. Im EU-Durchschnitt liegt diese Zahl bei rund 2500 Einwohnern..Der direkte Vergleich zeigt deutlich das Potenzial einer effizienteren Gestaltung des Filialgeschäfts. Bei dieser Gegenüberstellung gilt es allerdings zur berücksichtigen, dass ein Vergleich des Universalbanksystems mit dem anders strukturierten Trennbanksystem nur in Teilbereichen möglich ist. Dennoch muss die Tendenz dieser Potenzialschätzung als zutreffend eingestuft werden und jeden Banker animieren,
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Aktuelle Herausforderungen des Retail Banking
ernsthaft über alternative Vertriebswege nachzudenken. Eine wettbewerbsfähige Filialdichte bleibt daher für nahezu alle Universalbanken eine wesentliche strategische Herausforderung im Retail Banking. Dabei ist es jedoch für das einzelne Institut entscheidend, möglichst keine Ertrags- oder Potenzialkunden zu verlieren, besser noch, neue Kunden für das mengenabhängige Privatkundengeschäft hinzuzugewinnen. Mit diesem Anspruch bewegt sich das Retail Banking in dem Dilemma des einleitend dargestellten magischen Dreiecks. Desinvestitionen in Infrastruktur und Personal bedingen im Regelfall eine schlechtere Betreuung des Kundenstamms und gefährden das Vertrauen in die sensible Bankdienstleistung. Auf der Suche nach Lösungswegen hierfür stößt man unweigerlich auf moderne, elektronische Vertriebswege und den viel versprechenden Ansatz des Multi Channel-Bankings. Auch wenn wir dieses Buch, dem viel versprechenden Mehrkanalvertrieb gewidmet haben, so war uns doch von Beginn an bewusst, dass der Multi Channel-Vertrieb für Banken eine ungewohnte Herausforderung und ein hartes Stück Arbeit bedeutet. Damit meinen wir nicht nur die unter Kostenaspekten getriebene Einführung des SB- und Online Bankings. Hierzu existieren über alle Bankengruppen breite und über Jahrzehnte bewährte Erfahrungen. Die Herausforderung liegt in dem komplizierten Zusammenspiel der Vertriebskanäle, die alle auf das zentrale Ziel auszurichten sind, die gesamte Kundenverbindung zu optimieren und in der Summe ein Mehr an Attraktivität und Wachstum zu generieren. Dass dies keine triviale Aufgabe ist, zeigt der heutige Multi Channel-Vertrieb, der seine positive Wirkung auf die Erträge im Retail Banking bislang nicht noch nicht entfalten konnte. Gerade das Privatkundengeschäft unterlag in den letzten Jahren häufigen Strategiewechseln, die zu hohen internen Reibungsverlusten führten. Oftmals hohe Investitionen in die erforderliche Infrastruktur zum Betrieb eines neuen Vertriebskanals standen nur allmählich wachsenden Erlösen gegenüber und führten mehrheitlich nicht zur Realisierung der prognostizierten Ertragszuwächse.32 Lange war die Ansicht verbreitet, dass jedem Kunden alle Zugangswege zur Bank angeboten werden müssen. „Wenn man 100% des Privatkundensegments abdecken will, braucht man alle Vertriebswege.“33 Eine teure Strategie, die im Hinblick auf den hohen Kostendruck der Universalbanken dringend einer weitergehenden Differenzierung bedarf. Die folgenden Kapitel beschreiben einen ganzheitlichen Ansatz zur strategischen Auswahl und zum Management der Vertriebswege im Retail Banking. Da die technologische Entwicklung zwischenzeitlich sowohl die bestehenden Vertriebswege, als auch die Entstehung neuer Vertriebswege maßgeblich beeinflusst, stellen wir auf den folgenden Seiten zunächst die entscheidenden Begrifflichkeiten und Trends vor.
32 Herzog, M., Panzer, J. (2003), S. 49. 33 Zitat Bernhard Walter, ehem. Vorstandsvorsitzender der Dresdner Bank AG,; gefunden in: Reichardt, C.
(2000), S. 23.
Die Technologien im Retail Banking
1.
Bedeutung von Technologien im Retail Banking
Um die Potenziale im Bankenbereich aktiv zu nutzen, ist eine Betrachtung des dynamischen, technischen Fortschritts von besonderer Bedeutung. Insbesondere Informations- und Kommunikationstechnische Entwicklungssprünge haben das Potenzial, die heutigen Wettbewerbsstrukturen nachhaltig zu verändern. Aber nicht jeder Technologiesprung wirkt sich in gleichem Maße auf den Wettbewerb im Retail Banking aus. Viele hoch gelobte Innovationen entpuppten sich als „Rohrkrepierer“, da sie schlichtweg am Bedarf des Kunden vorbei entwickelt wurden. So scheiterte z.B. das als neuer Standard für die mobile Kommunikation gepriesene „WAP“ (Wireless Application Protocol) an seiner komplizierten und unkomfortablen Anwendbarkeit. Andere Innovationen, wie verschiedene technisch verspielte, besonders sichere, aber für den Benutzer extrem komplizierte Internet Bezahlverfahren erreichten ebenfalls nie den Massenmarkt. Diese Beispiele sollen nicht dazu verleiten, die Bedeutung der technologischen Entwicklung für den zunehmenden Wettbewerb im Bankgeschäft zu unterschätzen. Die vom Kunden akzeptierten Technologien, die sich am Markt durchsetzen konnten, haben in der Bankenlandschaft zu erdrutschartigen Veränderungen geführt. Beispiele hierfür sind sowohl das SBGeschäft, als auch das Internet Banking. Entsprechend besteht die Kunst darin, die richtigen Trends zu identifizieren und notwendige Investitionen zur rechten Zeit mit dem notwendigen Engagement voranzutreiben. Hierfür ist es entscheidend einen Überblick zu gewinnen, welche Technologien die Erschließung neuer Vertriebswege im Retail Banking maßgeblich beeinflussen. So bietet z.B. speziell die hohe Akzeptanz der Online-Medien den Banken eine Chance, völlig neue Produkte, Vertriebswege oder sogar Geschäftsmodelle anzubieten. Auf der anderen Seite sind viele Technologien aus Sicht des Kunden heute bereits zum Hygienefaktor avanciert, deren Bereitstellung quasi vorausgesetzt wird. Trotzdem, für kundenorientierte und innovative Banken ergeben sich im elektronischen Vertrieb immer wieder neue Chancen, denn gerade die immaterielle, standardisierte Bankdienstleistung kann als digitales Produkt von der Beratung über den Verkauf bis zur Lieferung und Leistung vollständig über elektronische Medien abgewickelt werden.
40
2.
Technologietrends im Überblick
Technologietrends im Überblick
Kreditinstitute sind als klassische Informationsverarbeiter auf eine effiziente, elektronische Beschaffung, Veränderung, Speicherung, Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen angewiesen. Entsprechend wird das Retail Banking auf vielfältige Weise durch Technologien beeinflusst. Internet, Kommunikationstechnologien oder auch die SB-Geräte stehen dabei häufig im Vordergrund der Betrachtung. Etwas unscheinbarer, aber mindestens ebenso bedeutsam für eine filialzentrierte Universalbank sind darüber hinaus die internen eingesetzten Technologien. Hierunter fallen sowohl die vertriebsunterstützenden Systeme im Beraterumfeld, als auch die effizienten Hintergrundsysteme zur Erbringung kostengünstiger Bankdienstleistungen. Entsprechend gilt es bei der Betrachtung technologischer Trends zunächst zu unterscheiden, ob diese das Ziel einer internen oder externen Automation verfolgen. Entscheidend für die Betrachtung des Multi Channel-Vertriebs ist die externe Automation, die sehr häufig unter den Oberbegriff Direct Banking zusammengefasst wird. Speziell wird darunter die direkte Kundenkommunikation über Telekommunikationssysteme, elektronische Zugangswege oder auch die klassische Briefpost verstanden.34 Im Grundsatz werden alle Informations- und Kommunikationstechnologien mit dem Ziel genutzt, eine positive Beeinflussung der Kaufentscheidung in direktem Kontakt zum Konsumenten zu erreichen. Dabei beschränkt sich das Direct Banking nicht nur auf eine vertriebsunterstützende Funktion, sondern beabsichtigt den kompletten Verkauf von Bankleistungen. Ein vollkommen anderes Konzept verbirgt sich hinter der Direktbank. Im Gegensatz zum Direct Banking, handelt es sich dabei in ihrer Reinform um einen Banktyp, der kein Geschäftsstellennetz unterhält und die Kommunikation zum Kunden ausschließlich über zentrale Stellen führt. Direktbanken sind rechtlich selbständig, firmieren unter einer eigenen Marke und setzen auf effiziente Prozesse und minimale Beratung, was sich in einem aggressiven Preisangebot niederschlägt. Überspitzt können Direktbanken auch als die „Discounter“ der Bankenbranche bezeichnet werden. Zwischenzeitlich haben verschiedene Direktbanken, wie z.B. Cortal Consors, erste Investmentcenter in Form einer Geschäftsstelle gegründet, so dass im Ansatz durchaus von einer Konvergenz der Systeme gesprochen werden kann. Wesentliches Merkmal einer Direktbank ist aber, dass sie aufgrund der genannten Merkmale als eigenständige Einheit am Markt agiert und sich häufig auch in einen Wettbewerb zur Muttergesellschaft stellt. Der Begriff Electronic Banking umfasst im weiteren Sinne alles, was in der Bank mittels technologischer Unterstützung abgewickelt wird. Im engeren Sinne werden damit diejenigen Dienstleistungen bezeichnet, über die der Kontakt zwischen Kunde und Bank mittels EDV oder elektronischer Unterstützung erfolgt. Es umfasst somit im Wesentlichen das Online Banking und das SB-Banking.
34 Vgl.. Wierichs, G., Smets, S. (2003)., S. 62.
Die Technologien im Retail Banking
41
Das Online Banking umfasst den gesamten interaktiven Vertrieb von Bankleistungen über elektronische Geräte (wie z.B. den PC) und technische Transportnetze (z.B. Funk o. Kabelnetze) oder dezentrale Speichermedien (wie. z.B. CD Rom). Dagegen bezeichnet das SB-Banking, einen elektronischen Vertriebsweg, der auf Basis von Selbstbedienungsterminals (SB Terminal), die durch die Bank bereitgestellt und betreut werden. Der Kunde hat hierüber die Möglichkeit, Routinegeschäfte rund um die Uhr zu tätigen. Insbesondere Geldausgabeautomaten (GAA), Kontoauszugsdrucker (KAD) und Multifunktionsterminals mit weiterführenden Funktionen, wie die Durchführung von Überweisungen oder das Einrichten von Daueraufträgen zählen zu den SB Geräten. Ebenso zählen z.B. Terminals mit Informationen zu Aktien- und Devisenkursen oder Immobilienangeboten zum SBBanking. SB-Terminals können in der Filiale, einem abgegrenzten SB-Bereich oder an Drittstandorten betrieben werden. Der Zugang erfolgt vielfach über Bankkarten. Das Internet Banking, als Teilmenge des Online Banking beschreibt den Bezug von Finanzdienstleistungen durch den Kunden über das World Wide Web.35 Für das Retail Banking über lange Jahre relevante proprietäre Dienste, wie BTX (Bildschirmtext) oder T-Online wurden zwischenzeitlich vollkommen durch das Internet verdrängt. Eine Sonderrolle nehmen im Internet die offenen Finanzportale ein, deren Konzept die Koordination von Produkten verschiedener Anbieter ist, wobei sich auch bankfremde Finanzdienstleister im Portal tummeln. Beispielsweise bietet das Portal www.Finanzscout24.de heute ein breites Spektrum unterschiedlichster Finanzdienstleistungen. Vom Ratenkredit, über Tagesgeldkonten, Baufinanzierungen bis zu Versicherungsleistungen erhält der Besucher dort einen umfassenden Markt- und Konditionenvergleich. Davon zu unterscheiden sind die einem Verbund zugehörigen Portale, wie z.B. www.vr-networld.de, deren Leistung im Wesentlichen eine zentrale Abbildung der Verbundleistung sowie die Weiterleitung elektronischer Kundenanfragen an zugehörige Banken ist. Das verstärkt aufkommende Mobile Banking, kennzeichnet den Vertrieb von Finanzdienstleistungen über ein mobiles Endgerät, wie z.B. Handys, PDA´s oder Internet Tableaus. Mobile Banking wird meistens nicht als eigener Vertriebsweg gesehen, sondern bedient sich lediglich einem speziellen, mobil einsetzbaren Endgerät für den Vertriebsweg Internet. Viele Publikationen im Umfeld elektronischer Vertriebswege gehen nicht näher auf die dem Thema zugrunde liegende Begriffsvielfalt ein. Dieses Kapitel soll daher helfen, die wichtigsten technologischen Trends in einen Zusammenhang zu setzen. Daher schließt das Kapitel mit einem Überblick zu den wichtigsten Begriffen im Umfeld neuer Technologien im Retail Banking.
35 Vgl. Salmen, S.-M. (2003), S. 112.
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Technologietrends im Überblick
Relevant für den elektronischen Vertrieb
Nicht relevant für den elektronischen Vertrieb
Electronic Banking im weiteren Sinne
interne Automation
Direct Banking
Backoffice-Technologien, Filialtechnik, etc.
elektronischer und telekommunikativer Zugang, bzw. Brief
Electronic Banking im engeren Sinne
Telekommunikation
Briefpost
Kontakt zwischen Bank und Kunde mittels elektronischer Unterstützung
Telefon, Fax
z.B. Mailings
Online Banking
SB-Banking
Über PC / elektronische Netze oder Datenträger
GAA, KAD, etc.
Internet Banking
Datenträger
Über World Wide Web
Diskette, CD, etc.
Sonstige z.B. HBCI, FinTS
Mobile Banking Internet über mobile Endgeräte
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 8: Ordnungsrahmen für Technologien im Retail Banking-Vetrieb. Zu dem vorgenannten Ordnungsrahmen ist anzumerken, dass die interne Automation insoweit relevant für den elektronischen Vertrieb ist, als dass sie den Berater in seiner täglichen Arbeit entlastet und unterstützt. Datenträger oder das HBCI Protokoll (Homebanking Computer Interface) sind zwar wichtige Technologien im Retail Banking, dienen aber im Wesentlichen der Prozessoptimierung und sind damit nur in Teilbereichen vertriebsrelevant. Obwohl die verfügbaren Technologien im Kontext der Vertriebsstrategie einen überaus wichtigen Rahmen bilden, darf die hier vorgenommene Systematisierung nicht zum dem Rückschluss verleiten, das klassische Telefon oder Mailing Aktionen per Briefpost seien im Zusammenspiel der Vertriebskanäle nicht mehr wichtig. Gerade moderne Call Center bieten z.B. eine ergänzende Vertriebsunterstützung in verschiedenen Phasen des Kaufprozesses und sind damit wichtige Bausteine einer Muli Channel-Strategie.
Die Technologien im Retail Banking
3.
43
Technologische Innovationen im Retail Banking
Während die ursprüngliche Motivation der technologischen Entwicklungen in der Rationalisierung durch Verlagerung von Routineaufgaben auf Automaten lag, hat die Technologie für das Retail Banking zwischenzeitlich eine strategiebestimmende Bedeutung erlangt. Mit Blick auf die im magischen Dreieck dargestellten vordringlichen Herausforderungen des Privatkundengeschäfts nehmen die Potenziale zur Kostensenkung im stationären Vertrieb durch den Einsatz von Technologie nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Für über 90% der Sparkassen und Genossenschaftsbanken ist das EDV-gestützte Kundenkontaktmanagement eines der dringlichsten Handlungsfelder.36 Die Citibank, die vielerorts ohnehin als Musterbeispiel für Effizienz im Retail Banking gilt, hat mittlerweile ergänzend zu den ohnehin hoch standardisierten Abläufen in weiten Teilen die „papierlose Filiale“ realisiert.ȱ Diese und weitere vertriebsunterstützende Technologien erlauben ihr eine schlanke Filialorganisation, die es letztendlich erlaubt, dass der Berater 70 % seiner Arbeitszeit im Kundengespräch verbringt. Der Branchendurchschnitt liegt bei 20 %.37 Besonders die Selbstbedienungszonen der Banken entwickeln sich immer stärker zu multimedialen Bereichen, die neben klassischen Rationalisierungsaspekten auch vertriebsunterstützende Aufgaben übernehmen. Die Funktionen der modernen Geräte reichen von der einfachen Werbeeinblendung über die Durchführung von Überweisungen und anderen Bankgeschäften, bis hin zu individualisierten Produktangeboten, die interaktiv in den Vertriebsprozess der Filiale eingebunden sind. Ein fortgeschrittenes Beispiel hierfür ist das personalisierte Kreditangebot, das dem Kunden am SB-Automaten im Rahmen einer üblichen Transaktion angeboten wird. Der Kunde erhält eine auf ihn zugeschnittene Offerte. Voraussetzung hierfür ist ein ausgeprägtes Wissen über die Bedürfnisse ausgewählter Zielkunden, welches zentral vorliegt und für Marketingaktionen im SB-Bereich abgerufen werden kann. Moderne SB-Geräte erlauben darüber hinaus sogar einen Verweis auf einen freien Beraterplatz, so dass die Aktivierung des Kundenbedarfs direkt in ein konkretes Verkaufsgespräch münden kann. Neben dem SB-Geschäft ist auch der Wachstumstrend im Online Banking ungebrochen, wobei der Zuwachs vor allem im Bereich des Internet Banking stattfindet. Dieser Trend korrespondiert mit der generell zunehmenden Beliebtheit des Internets. Kaum ein anderes Segment verspricht ähnlich hohe Wachstumsraten, wie die Verbreitung des World Wide Webs. Abbildung 9 zeigt den immensen Anstieg der angemeldeten Internetzugänge in Deutschland von durchschnittlich 15% in 1999 auf ca. 65 % in 2006.
36 Vgl. Para Mora, R., Schlaghecken, T. (2004), S. 31. 37 Vgl. Citibank Privatkunden AG (2004), Vorwort sowie S. 7.
44
Technologische Innovationen im Retail Banking
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen, 04/2006, http://www.forschungsgruppe.de. Abbildung 9: Entwicklung der Internet-Zugänge seit 1999. Hier ist allerdings eine wechselseitige Beziehung gegeben. Zum einen fördern die hohen Wachstumsraten bei den Internet Zugängen ohne Zweifel auch die Zahl der Online Banker. Auf der anderen Seite zählt allerdings gerade das Online Banking – wie in der folgenden Tabelle dargestellt – zusammen mit dem Online Einkauf heute zu den beliebtesten Internetanwendungen. Internetnutzung
Online Einkauf
Online Banking
Gesamtbevölkerung
61
34
30
Westdeutsche
63
35
31
Ostdeutsche
52
29
29
Männer
68
43
39
Frauen
55
26
22
Geschlecht
Quelle: Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ipos, in: o.V. (2005a), S. 4. Abbildung 10: Internetnutzung und Online Banking in Deutschland 2005.
Die Technologien im Retail Banking
45
Damit gehörte 2005 fast schon jeder vierte zu den Nutzern des Internet Banking. Bezogen auf die männliche Bevölkerung bis 60 Jahre liegt der Anteil sogar bei 50% und höher. Diese Zahl ist umso beeindruckender, als die Steigerungsraten des Online Banking berücksichtigt werden. Seit 1998 vervielfachte sich die Anzahl der Online-Banker von 8% auf heute 37% der über 18 jährigen Deutschen.38 Bei aller Euphorie für das rasante Wachstum im Online Banking gilt es für eine filialzentrierte Universalbank allerdings auch zu berücksichtigen, dass hierdurch mehr und mehr der Bedarf nach einer persönlichen Kundenbetreuung in der Filiale schwindet. Der direkte Kontakt zwischen Kunde und Berater als wichtiges Instrument zur Kundenbindung verliert damit weiter an Bedeutung. Wie weit die Substitution des heutigen Filialgeschäfts durch alternative Vertriebswege führen wird, ist schwer zu beurteilen. Drastische Szenarien zur Filialentwicklung prognostizieren einen Umsatzeinbruch zwischen 60-70% im Filialgeschäft.39 Ob eine derart dramatische Entwicklung tatsächlich eintreffen wird, bleibt abzuwarten. Unbestreitbar bestätigen jedoch der anhaltende Filialabbau und die sichtbaren Zuwachsraten im Internet Banking einen gegenläufigen und weiter anhaltenden Trend. Damit wird sich das Retail Banking auch zukünftig weiter auf das Internet verlagern. Im Ergebnis nahezu übereinstimmende Untersuchungen verschiedener Unternehmensberatungen, wie insbesondere Booz-Allen & Hamilton, Roland Berger oder Mc. Kinsey prognostizieren, dass künftig ca. 10-20 % der Kunden reine Direktkunden, ca. 60-80 % der Kunden Multikanalkunden und ca. 10-20 % der Kunden reine Filialtraditionalisten sein werden.40 Im Verständnis einer groben Zielgröße halten wir diese Prognose mittelfristig für realistisch. Die Frage, welche Rolle die Filiale im zukünftigen Multi Channel-Vertrieb spielen wird, gilt es im weiteren Verlauf noch zu diskutieren. Für das Internet Banking zeichnet sich jedoch heute schon ab, dass auch in den kommenden Jahren mit einem weiteren dynamischen Ausbau zu rechnen ist. Ein entscheidender Einflussfaktor für die Verbreitung des Internets ist die Verfügbarkeit und Nutzung moderner Kommunikationsendgeräte. Bereits 1995 prognostizierte Bill Gates das Verschmelzen von Telefon und Internet, die Verfügbarkeit des Internets über den Fernseher und die Verbreitung so genannter „Wallet PC´s“ – letztendlich also eine Verbindung des Internets mit einer Vielzahl privater Endgeräte. Mittlerweile sind nahezu alle diese Zukunftsvisionen für den Konsumenten erhältlich. Technologien wie insbesondere ADSL (Asymmetric Digital Subscriber Line) bieten hohe Datenübertragungsraten im Internet und ermöglichen auf diesem Weg einen schnellen, komfortablen Zugriff auf multimediale Inhalte. Kabellose Übertragungswege, wie W-LAN oder UMTS, erlauben den schnellen Internetzugriff auch über mobile Endgeräte. Die Technologien Mobiltelefon und PDA verschmelzen zu den von 38 Vgl. Jung, C. (2004), S. 282 sowie Jung, C. (2005), Online Banking: Der Zuwachs ist ungebrochen,
http://www.die-bank.de. 39 Vgl. Wienecke, H., Prätsch, W., Beckröge, L., (05/2003), S. 221. 40ȱVgl. z.B. Heinrich, D. (2002), S. 111.
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Die Authentifizierung des Kunden
Gates prognostizierten Wallet PC´s. Setup Boxen für den Internetzugang über den Fernseher werden bereits an Endkunden angeboten und ermöglichen ein interaktives TV für Absatzstrategien im Retail Banking. Obwohl bereits allgemein verfügbar, ist es kaum möglich, eine genaue Vorhersage zu treffen, wann die einzelnen Technologien den Massenmarkt erreichen. Dies ist allerdings eine wesentliche Voraussetzung dafür, Retail Banking Produkte hierüber zu vertreiben. Bevor also eine strategische Entscheidung für einen weiteren Vertriebsweg auf Basis einer neuen Technologie gefällt wird, gilt es zunächst ein klares Bild über die Tauglichkeit der Technologie für einen Massenmarkt zu erlangen. Instrumente hierfür werden wir im weiteren Verlauf dieses Buches noch vorstellen.
4.
Die Authentifizierung des Kunden
Für nahezu alle Kundenkontakte im Retail Banking, die eine Transaktion oder einen Vertragsabschluss zur Folge haben, ist die eindeutige Identifikation und Authentifizierung des Kunden erforderlich. Dies geschieht nicht nur im individuellen Interesse einer Bank und dient der wirtschaftlichen und rechtlichen Absicherung der jeweiligen Finanztransaktion, sondern darüber hinaus verlangen auch aufsichtsrechtliche Vorgaben und Gesetze, wie z.B. das Geldwäschegesetz eine eindeutige Identifizierung des Kunden im Falle bestimmter Finanztransaktionen. Die Authentifizierung erfolgt im täglichen Filialgeschäft vielfach dadurch, dass der Kunde dem Bankmitarbeiter bereits „persönlich bekannt“ ist. In anderen Fällen wird eine Prüfung anhand des Personalausweises vorgenommen. Im Electronic Banking ist dieses deutlich schwieriger. Die erstmalige Anmeldung für einen elektronischen Vertriebskanal erfolgt aus Gründen der Sicherheit und der besonderen Vertrauensstellung der Bankdienstleistung fast immer im persönlichen Kontakt zwischen Kunde und Bankmitarbeiter. Die anschließende Authentifizierung und Transaktionsfreigabe erfolgt abhängig vom gewählten Medium. Neben der bekannten PIN/TAN-Lösung wird dabei immer häufiger auf Bankkarten zurückgegriffen. Das Kartengeschäft in Deutschland hat sich seit Einführung der eurocheque-Karte im Jahr 1968 zu einem bedeutenden Produkt im Retail Banking entwickelt. Mittlerweile verfügen nahezu alle deutschen Bundesbürger über eine Bankkarte. Aufgrund dieses außerordentlich hohen Verbreitungsgrads bietet die Bankkarte eine hervorragende Plattform für multifunktionale Anwendungen. Im Vordergrund stehen dabei immer noch die Abwicklung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs und der Zugang zum SB-Banking. Bankkarten erlangen aber eine immer zentralere Bedeutung für die Identifikation und Authentifikation des Kunden über alle Vertriebskanäle. Um Transaktionen schnell, sicher und einfach abzuwickeln, werden neue Technologien im Kartengeschäft sehr frühzeitig adaptiert. Eine wesentliche Quelle dieser Innovationskraft liegt in der kriminellen Energie begründet, die aufgewendet wird, um das attraktive Ziel
Die Technologien im Retail Banking
47
„kartengestützter Zahlungsverkehr“ anzugreifen und Gelder missbräuchlich abzuzweigen. Beispiele hierfür sind die so genannten Skimming-Attacken, bei denen die Kartendaten und PIN ausgespäht, Dubletten erstellt und häufig sehr zeitnah am Geldautomaten für Abhebungen genutzt werden. Hieraus entsteht ein permanenter Wettlauf, der die Anbieter kartengestützter Bezahlverfahren zu einer hohen Innovationsrate zwingt. Diese wiederum schlägt sich vor allem in der Entwicklung neuer Sicherheitstechnologien nieder. Doch warum ist dieses so bedeutsam für das Multi Channel-Banking? Die Bankkarte hat sich von einer reinen Zahlungsverkehrskarte zu einem multifunktionalen Instrument weiterentwickelt, das als Zugangsmedium für nahezu alle technischen Vertriebswege relevant ist. Im SBBanking ist es für den Kunden mittlerweile selbstverständlich, sich mit seiner Bankkarte Zugang zum Foyer, zum Geldautomaten oder Kontoauszugsdrucker zu verschaffen. Im Internet unterstützt die mittlerweile weit verbreitete Chipkarte ebenfalls unterschiedliche Formen der Anmeldung und Transaktionsfreigabe. Die folgende Abbildung gibt einen Überblick zu verfügbaren Applikationen auf dem Chip der Bankkarte und beleuchtet gleichzeitig die Anwendungs- und Nutzenebene.
Quelle: Keck, M., Löhndorf, N. (2005), S. 869. Abbildung 11: Applikationen auf der Bankkarte mit Chip.
48
Verkürzte Innovationszyklen
Einen technologischen Sprung verspricht die Verbreitung der digitalen Signatur, worunter das elektronische Pendant zur persönlichen Unterschrift verstanden wird. Signaturschlüssel, die z.B. für eine einfache und sichere Anmeldung zum Internet Banking genutzt werden können, befinden sich bereits auf dem Chip vieler im Umlauf befindlicher Bankkarten. Die Verbreitung der digitalen Signatur kann das Electronic Banking massiv verändern. So sieht z.B. Zorbach „...die Ausgabe und Verwaltung von Signaturkarten und Zertifikaten als den Schlüssel zum Einstieg der Banken in den Electronic Commerce.“41 Die Technologie erlaubt wichtige Prozessvereinfachungen im Internet Banking. So kann z.B. das heutige PIN / TAN Verfahren durch eine Signatur mittels einer entsprechenden Smart Card abgelöst werden. Der Kunde erhält damit eine komfortable Technologie zur Verfügung gestellt, die schon jetzt den zukünftigen Sicherheitsanforderungen entspricht. Gerade die Sicherheit ist mit Blick auf die beschriebene Wettbewerbsrelevanz des Kundenvertrauens ein wesentlicher Aspekt. Dies gilt besonders, wenn sich die kriminelle Energie auch weiterhin mit zunehmender Professionalität auf das Online Banking konzentriert. Phishing Attacken und Trojaner, als eine spezielle und besonders gefährliche Ausprägung von Computerviren, lassen das Vertrauen der Kunden in den Vertriebsweg Internet mehr und mehr schwinden. Entsprechend gilt es heute die richtigen Weichen zu stellen, um die so bedeutsam gewordenen elektronischen Vertriebswege noch optimaler zu schützen. Letztlich geht es darum, die bewährte Sicherheitstechnik der Banken auch auf das Internet zu übertragen. Die Bankkarte, mit ihrer ausgereiften Technologie und hohen Verbreitung bei den Kunden bietet hierfür eine optimale Ausgangsbasis.
5.
Verkürzte Innovationszyklen
Ein weiterer Aspekt, der die Technologien im Retail Banking direkt betrifft, und zudem unmittelbar aus dem technologischen Fortschritt resultiert, ist der verkürzte Innovationszyklus. Insbesondere im Bereich technologischer Innovationen haben sich die Zeitabstände zwischen einer Erfindung und deren breiter Anwendung deutlich verkürzt. Die in der folgenden Abbildung aufgeführten Beispiele sprechen für sich. Der Zeitraum, den eine Technologie für eine Marktdurchdringung benötigte, verkürzte sich im vergangenen Jahrhundert drastisch. Benötigte das Telefon beispielsweise noch 38 Jahre um eine Nutzerzahl von 10 Mio. Nutzern zu erreichen, erreichte das Internet die gleiche Zahl in nur 3 Jahren. Der aus dieser Entwicklung resultierende Anspruch an die Innovationskraft und Entscheidungsgüte des Managements ist enorm.
41 Zorbach, R. (2003), S. 321.
Die Technologien im Retail Banking
49
Quelle: Wings, H. (1999), S. 30. Abbildung 12: Zeiträume, innerhalb derer Technologien 10 Mio. Nutzer erreichen. Die ausgesprochen hohe Dynamik dieser Entwicklung muss sich zwangsläufig auf das technologiegetriebene Retail Banking auswirken. Daraus jedoch den Schluss abzuleiten, eine Time-to-Market-Strategie verschaffe Wettbewerbsvorteile, erscheint nach den Erfahrungen der Banken in der ‚New Economy’ nicht mehr opportun. Im Zuge des E-Commerce Booms zum Ende der neunziger Jahre wurde vom Management nahezu jeder Technologietrend aufgegriffen. Nur wenige der aufwendigen und teuren Projekte führten zu einem wirtschaftlichen Erfolg. In einer Stichprobe des Instituts für Bankinformatik (ibi) im Rahmen der ‚Conference on Innovation in the Banking Industry (CIBI 2002)’ votierten 30 % der Fachbesucher für Managementfehler und 32 % der Fachbesucher für mangelndes Kostenbewusstsein und ungünstige Kostenstrukturen als Hauptursache der Bankenkrise.42 Dieses waren aus Sicht der Teilnehmer gleichzeitig die wesentlichsten Argumente für die Ertragskrise der Banken. Ein Indiz dafür, dass die drastisch gestiegene Dynamik und Komplexität der technologischen Entwicklung in einer Zeit des E-Commerce Hype das Management überforderte. Für Banker bietet es sich also an, einen Blick auf Branchen zu werfen, die wesentlich mehr Erfahrungen mit schnellen Innovationszyklen haben. Hierzu zählen vor allem die Industrie und der Einzelhandel, die gelernt haben kürzere Produktlebenszyklen und die daraus resultierenden schnelleren Innovationszyklen, Entwicklungsetats und Entscheidungsrisiken professionell zu managen.43 Dem strategischen Umgang mit steigender Dyna-
42 Die Ergebnisse der DigiVote Abstimmung wurden im Rahmen des Bankenkongress CIBI 2002, ibi – Institut
für Bankinformatik, in München in der Zeit vom 17.-19.09.2002 ermittelt. 43 Vgl. Thum, W.E. / Semmler, M. (2003), S. 11 f.
50
Zusammenfassende Betrachtung der Technologien im Retail Banking
mik und Komplexität im Retail Banking werden wir im weiteren Verlauf dieses Buches eine besondere Aufmerksamkeit widmen.
6.
Zusammenfassende Betrachtung der Technologien im Retail Banking
Der Überblick zu den dominierenden technologischen Trends und Authentifizierungsmethoden im Retail Banking zeigt die hohe strategische Bedeutung der Technologie für den Vertrieb. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass der Multi Channel-Vertrieb in der Vergangenheit stark auf das Internet konzentriert war, wenn nicht sogar von den technologischen Trends dominiert wurde. Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass die Technologie unzweifelhaft ein wesentlicher und bestimmender Motor im Vertrieb der Bankdienstleistung ist. Ebenso darf die Bedeutung der Vermarktung technologischer Innovation für die Positionierung im Wettbewerb nicht unterschätzt werden. Das innovative Image hieraus, wie auch die Werbewirkung aus der Veröffentlichung konkreter, innovativer Handlungen verstärkt den Bekanntheitsgrad der Bank und fördert das Image des Instituts beim Kunden. Obwohl der Marketingeffekt technologischer Innovationen fast auf der Hand liegt, muss beachtet werden, dass dies kein „Selbstläufer“ ist. Um einen entsprechenden Erfolg zu erzielen, bedarf es eines ausgeklügelten Innovationsmanagements, ergänzt um ein straff organisiertes Qualitäts- und Kommunikationsmanagement. Fehlerhafte Technologien oder zu einem falschen Zeitpunkt kommunizierte Innovationen können schnell einen gegenteiligen Effekt beim Kunden erzielen. Allein der Einsatz neuer Technologien reicht keinesfalls aus, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Daher bedarf es eines aktiven Innovations- und Technologiemanagements, welches den Stellenwert einer Kernkompetenz im Bankgeschäft einnehmen muss.44 Diese Kompetenz ist erforderlich, um in der dynamischen und heterogenen Welt multipler Entwicklungen eine qualifizierte Auswahl und Implementierung technologischer Innovationen zu erreichen. Ein Ausbau der elektronischen Vertriebswege muss zudem die Gefahr einer sinkenden Kundenbindung durch unpersönliche und leicht imitierbare Technologien berücksichtigen. Der hieraus resultierende Wettbewerbsnachteil kann jedoch über eine gute Markenpolitik kompensiert werden, sofern es hierüber gelingt, der Bank-Kunde Beziehung Emotionalität zurückgeben und die Kundenbindung hierdurch zu stärken. Am Ende läuft es für das Retail Banking auf eine Synthese von „High Tech und Human Touch“ heraus.45
44ȱVgl. Wild, O. (2003b), S. 20. 45 Vgl. Bohl, A. (1995), S. 182.
Die Technologien im Retail Banking
51
Unsere bisherigen Ausführungen zeigen aber auch, dass die für das Retail Banking so wichtige Technologiekompetenz zusätzlich in eine ganzheitliche Organisations-, Markt- und Marketingkompetenz eingebettet sein muss. Nur in diesem Rahmen und auf Basis eines intensiven Verständnisses für die Kundenbedürfnisse lassen sich neue Technologien zielgerichtet und gewinnbringend in das Retail Banking integrieren.
Dynamik und Komplexität im Retail Banking
1.
Komplexität – Der Versuch einer Definition
Alle bisherigen Ausführungen zum Retail Banking, seiner historischen Entwicklung, dem heutigen Marktumfeld und insbesondere der technologischen Einflüsse weisen auf das Problem einer stetig steigenden Komplexität hin. Damit ergibt sich die entscheidende Frage, was meint eigentlich der Begriff Komplexität und in welcher Weise beeinflusst er das Retail Banking? Die Frage, was Komplexität ist bzw. wann ein System als komplex gilt, ist überaus schwer zu beantworten und wird auch in der Wissenschaft noch immer kontrovers diskutiert. Umgangssprachlich erfolgt häufig eine synonyme Verwendung zu dem Begriff der Kompliziertheit, was allerdings dem Charakter der Komplexität keineswegs gerecht wird. Kompliziertheit kann eindeutig durch die Anzahl der Elemente in einem System beschrieben werden.46 Demnach ist ein Gebäude umso komplizierter zu erstellen, je mehr Steine und andere Baumaterialien hierfür benötigt werden. Eine steigende Kompliziertheit bedingt damit immer einen linear messbaren Wirkungszusammenhang des betrachteten Objekts mit seiner Umwelt. Der Begriff Komplexität muss dagegen viel weiter gefasst werden. Einige Definitionsversuche bleiben sehr vage und gestehen am Ende ein, dass Komplexität im Grunde genommen gar nicht erfassbar sei, man diese allerdings erkenne, wenn man sie erlebt. Aus diesen mehr oder weniger hilfreichen Erklärungsansätzen ragt die Definition des Physik Nobelpreisträgers Murray Gell-Mann heraus. Demnach lässt sich Komplexität nur kontextabhängig und subjektiv erfassen.47 So wird beispielsweise im Bereich der Mathematik eine Definierbarkeit der Komplexität anhand verschiedener Parameter erreicht. Ein zu lösendes Problem wird also in Bezug zu seiner Umwelt gesetzt und daraus Messgrößen abgeleitet. So wird beispielsweise die Komplexität einer zu lösenden Aufgabe im Kontext der benötigten Lösungsdauer (Zeit) oder der beanspruchten Rechenkapazität messbar. 46 Vgl. z.B. netlexikon, http://www.net-lexikon.de/Komplexitaet.html. 47 Vgl. Gell-Mann, M. (1994), S. 73.
54
Perspektiven der Komplexität im Retail Banking
Versuche einer Definition der „Komplexität“ sind im Umfeld des Bankgeschäfts selten zu finden. Dannenberg hat sich als einer der wenigen Autoren, in der deutschen Literatur mit dem Phänomen von Komplexität und Dynamik im strategischen Bankmanagement beschäftigt. Demnach liegt der entscheidende Unterschied zwischen Kompliziertheit und Komplexität in der Dynamik eines Systems.48 Diese Unterscheidung bietet uns Bankern einen wichtigen Anhaltspunkt für das eigentliche Problem. Die heutige Umwelt im Retail Banking ist bei weitem dynamischer und damit auch komplexer, als sie es noch vor zehn oder zwanzig Jahren war. Spätestens die New Economy hat in vielen traditionsbewussten Häusern die Unternehmensstrategie aus ihrer stabilen Bahn geworfen und völlig durcheinander gewirbelt. Gerade traditionelle Bankstrategien, für die ein solches instabiles und chaotisches Wirtschaftsumfeld völlig neu war, hatten damit ihre Probleme – oftmals mit der Folge hoher Fehlinvestitionen. Es gilt also, die permanent steigende Komplexität besser zu verstehen und sich auf die veränderte Umwelt flexibler einzustellen. Dabei muss jedem Banker bewusst sein, dass die erhöhte Dynamik und die daraus resultierende Vielzahl an alternativen Handlungsoptionen die geistige Erfassbarkeit und damit die Beherrschbarkeit des Bankgeschäfts erschwert. Die konkrete Bedeutung für das Retail Banking wird im folgenden Kapitel anhand verschiedener Perspektiven weiter verdeutlicht.
2.
Perspektiven der Komplexität im Retail Banking
Ursachen für Komplexität in Banken begründen sich zunächst aus dem Individualismus „...im Wesen des Menschen. Hierzu zählen der Opportunismus, die begrenzte Rationalität, der Hang zum Risiko sowie die unvollständige Information. Zum anderen sind externe (steigender Wettbewerbsdruck, steigende Kunden- und Marktanforderungen) sowie interne Unternehmenskomponenten (vermehrte Arbeitsteilung, In-/Outsourcing) als Ursachen zu sehen.“49 Die Kenntnis dieser Ursachen ist eine wichtige Grundlage für die systematische Betrachtung der Entstehungsfelder für Komplexität. Für das praktische Verständnis von Komplexität ist es darüber hinaus wichtig, die einzelnen Perspektiven der Komplexität für die Bankdienstleistung besser zu verstehen. Hierzu liefern Ahlert/Blaich/Evanschitzky/Hesse eine sehr gut anwendbare Methodik.
48 Vgl. Dannenberg, M. (2001): S. 22. 49 Veil, M. (2003), S. 138.
Dynamik und Komplexität im Retail Banking
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Sie unterscheiden folgende vier unterschiedliche Perspektiven der Dienstleistungskomplexität: 1. Die subjektive Komplexität aus der Sichtweise des Kunden. 2. Die objektive Komplexität, auch als Innenkomplexität bezeichnet. 3. Die äußere Komplexität, die aus Interaktionen mit der Umwelt entsteht. 4. Weitere, auf die Komplexität einflussnehmende Elemente (Meta-Ebene).50 Die folgende Abbildung verdeutlicht das Zusammenspiel der vier unterschiedlichen Perspektiven in einem Dienstleistungssystem.
Quelle: Ahlert, D., Blaich, G., Evanschitzky, H., Hesse, J.(2002), S. 15. Abbildung 13: Das Dienstleistungssystem. Zu a) Für die Beurteilung der subjektiven Komplexität, welche in der Abbildung im rechten gestrichelten Kasten dargestellt ist, ist die Wahrnehmung des Kunden entscheidend. Abstrakte Bankprodukte und die Finanzberatung werden vom Kunden vielfach als komplex empfunden. Dies gilt auch für das Retail Banking mit seiner eher einfachen Produktpalette, denn selbst weitgehend standardisierte Produkte, wie z.B. der Wertpapierkauf oder die Kreditfinanzierung sind aus Sicht des Kunden häufig komplexe Dienstleistungen. So wird beispielsweise die Online-Finanzierung (heute noch) sehr zurückhaltend vom Kunden in Anspruch genommen. 50 Vgl. Ahlert, D., Blaich, G., Evanschitzky, H., Hesse, J. (2002), S. 16 f.
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Perspektiven der Komplexität im Retail Banking
Obwohl gerade die scheinbare Anonymität des Internets und die häufig besseren OnlineKonditionen eine hohe Nachfrage nach Internet-Krediten nahe legt, bleibt diese in der Praxis mehr als verhalten.51 Die wahrgenommene Komplexität dieses Bankprodukts lässt den Kunden ab einem bestimmten Punkt zurückschrecken und der Wunsch nach der Sicherheit einer persönlichen Beratung steht im Vordergrund. Gerade im Onlinevertrieb komplexer Bankprodukte ist die Integration einer persönlichen Beratung – welche in Teilbereichen auch durch eine intelligente und personalisierte Bedienerführung substituiert werden kann – eine erfolgsrelevante Voraussetzung. Ein weiterer wichtiger Aspekt der dazu beiträgt, die wahrgenommene Komplexität für den Endkunden zu erhöhen, ist das Angebot verschiedener Vertriebswege. Dies gilt insbesondere, wenn bestimmte Vertriebswege den Kunden mit ungewohnten Innovationen konfrontieren oder besondere technische Installationen erfordern, wie z.B. im Falle der Nutzung einer Chipkarte für Electronic Banking Anwendungen. Gerade für neue Zugangswege zum elektronischen Bankgeschäft gilt es, die Komplexität für den Kunden so gering wie möglich zu halten. Neben einfach zu installierenden und bedienbaren Komponenten, hilft ein intensives Qualitätsmanagement, neue Technologien für den Kunden zu einem positiven Erlebnis werden zu lassen. Eine Assoziation, die er unmittelbar mit seiner Bank in Verbindung bringt. Zu b) Eine zweite Perspektive ist die objektive Komplexität, auch Innenkomplexität genannt. Die im linken gestrichelten Kasten dargestellte Komplexität entsteht durch organisatorische Maßnahmen und das Zusammenwirken der einzelnen Mitarbeiter im Unternehmen. Was beschreibt diese Perspektive der Komplexität besser als die häufig auftauchende Problematik in der Abstimmung zwischen den Vertriebsstrategien der Zentrale und dem regionalen Vertrieb? Während in der Zentrale strategische Vertriebsmaßnahmen für die gesamte Bank erdacht und vorbereitet werden, entstehen im regionalen Vertrieb häufig besondere Marktchancen oder risiken, die sich nicht ohne weiteres in eine übergreifende Strategie pressen lassen. Auf der anderen Seite überfordern zentrale Vertriebsmaßnahmen häufig den regionalen Vertrieb. Wie häufig erleben wir selber als Kunde, dass ein zentrales Mailing mit einem Top Angebot ins Haus flattert, aber die Vertriebsmitarbeiter vor Ort das Angebot noch gar nicht kennen. An Stelle von effizient abgestimmten Vertriebsmaßnahmem zeigt die Praxis häufig, wie gut geplante Aktionen in dem komplexen Geflecht der Organisation untergehen und ihre Wirkung zu einem großen Teil verpufft. Zu c) Als äußere Komplexität wird die Komplexität bezeichnet, die aus der Interaktion des Anbieters einer Bankdienstleistung mit seiner unmittelbaren Umwelt entsteht. In der Abbildung entspricht dies dem im Oval dargestellten direkten Kontakt zwischen dem Dienstleister und seinem Kunden. Dabei wird die Komplexität entscheidend durch die Art der Dienstleistung und der angesprochenen Zielgruppe beeinflusst.
51 In einer entsprechenden Untersuchung zeigten z.B. 9,5% aller Testkunden Interesse an einer Aufnahme von
Krediten im Internet, jedoch lediglich 1,2 % nahmen das Angebot tatsächlich in Anspruch. Vgl. Felferning, A., Jannach, D., Russ, C., Zanker, M. (2004), S. 44.
Dynamik und Komplexität im Retail Banking
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Wir haben bereits herausgefunden, dass der Wertewandel und das damit einhergehende veränderte Konsumentenverhalten eine wesentliche Herausforderung für das Retail Banking darstellt. Werte und Werthaltungen kennzeichnen ein komplexes System von Einstellungen mit normativer Verbindlichkeit und damit die Bereitschaft eines Individuums, sich gegenüber einer Klasse von Einstellungsobjekten konsistent positiv oder negativ zu verhalten. Die in diesem System enthaltende Komplexität potenziert sich in dem heutigen Klima individualistischen Konsumentenverhaltens. Der gesellschaftliche Trend zu immer mehr Individualität führt zu einer hohen Unberechenbarkeit der Konsumenten, die je nach Konsumsituation diametrale Verhaltensstile in sich vereinen. Praktisch äußert sich dies in schnellen Verhaltenswechseln zwischen spontan-emotionalen und ausgeprägt rationalen Kaufentscheidungen. Das zunehmend komplexere Konsumverhalten ist für das Marketing immer schwerer zu erfassen und belegt eine deutlich gestiegene äußere Komplexität im Retail Banking. Dies spielt eine entscheidende Rolle für die Vertriebsstrategie, welche sich letztendlich an dem zunehmend komplexeren Bedarf des Bankkunden ausrichten muss. zu d) Auf einer „Meta-Ebene“ werden weitere, die Komplexität beeinflussende Elemente berücksichtigt. Als Stakeholder können verschiedene Bezugsgruppen um das Unternehmen einen Einfluss geltend machen. Exemplarisch seien hier die Aktionäre, Kreditgeber, Verbände, öffentliche Interessensgruppen, Gewerkschaften oder auch der Staat genannt. In der Abbildung sind verschiedene Bezugsgruppen außerhalb des Ovals dargestellt.52 Die KundeBank Beziehung muss damit als Teilelement eines institutionellen Beziehungsgeflechts betrachtet werden, in dem noch eine Vielzahl weiterer Beziehungsarten anzutreffen sind.53 Generell wird der Einfluss der Meta-Ebene auf die Komplexität einer Dienstleistung als eher gering angesehen. Dagegen muss, wie die folgenden Ausführungen zeigen, für das Retail Banking von einer hohen Bedeutung ausgegangen werden. In Deutschland hat die Politik einen außerordentlich starken Einfluss auf das Retail Banking. Neben dem bereits beschriebenen hohen Staatsanteil im Bankensektor häufen sich konkrete Eingriffe der Politik. Dies zeigt sich an der politischen Einflussnahme zur Gründung einer Staatsbank für den Forderungsankauf von Krediten ebenso, wie bei der staatlichen Mitsprache im Rahmen der 2004 erfolgten Übernahmegespräche zwischen der Postbank und der Deutschen Bank AG.. Die Bedeutung der öffentlichen Meinung für Marketing und Vertrieb im Retail Banking muss aufgrund der Besonderheiten der Bankdienstleistung hoch eingeschätzt werden. Permanent neue und komplizierte aufsichtsrechtliche Anforderungen wirken im Retail Banking zusätzlich komplexitätssteigernd.
52 Generell kann die ‚Meta-Ebene’ natürlich in den Bereich der äußeren Komplexität integriert werden. Für
das Retail Banking ist die Unterscheidung von ‚äußerer Komplexität’ und ‚Meta-Ebene’ jedoch sehr sinnvoll. Im Kerngeschäft der Banken dient die Kundenbeziehung gleichzeitig der Mittelbeschaffung und Mittelverwendung. Im Vergleich zu einer klassischen Handelsbeziehung vereinen Banken damit prinzipiell eine Lieferanten- und Absatzbeziehung beim Kunden. Damit integriert die Kundenbeziehung die wesentlichen Stakeholder im Retail Banking und bedarf aus diesem Grund einer besonderen Beachtung. 53 Vgl. Voit, M. (2002), S. 83.
58
3.
Bedeutung einer gestiegenen Komplexität für das Retail Banking
Bedeutung einer gestiegenen Komplexität für das Retail Banking
Die zunehmende Relevanz einer generell steigenden Umweltkomplexität kann und darf für das Retail Banking nicht länger ignoriert werden. Dies gilt speziell, da die Bedeutung von Komplexität aus allen vier Perspektiven gleichermaßen bestätigt wird. Als Teilelement der Komplexität haben wir die Dynamik bereits andeutungsweise betrachtet. Die besonderen Herausforderungen der zunehmenden wirtschaftlichen Dynamik und ihre Bedeutung für das strategische Management soll nun genauer betrachtet werden. Das generelle Dilemma der zunehmenden Dynamik bei gleichzeitig steigender Komplexität in Organisationen wird hervorragend von Bleicher thematisiert.
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%HQ¸WLJWH5HDNWLRQV]HLW EHLZDFKVHQGHU.RPSOH[LW¦W
„Zeitschere“
(UIRUGHUOLFKH5HDNWLRQV]HLW EHL]XQHKPHQGHU'\QDPLN
+LVWRULVFKH(QWZLFNOXQJ
Quelle: Bleicher, K (1990), S. 18. Abbildung 14: Die Zeitschere zwischen notwendiger und tatsächlicher Problembewältigung in bürokratischen Organisationen. Die Abbildung zeigt für traditionell geführte Unternehmen das Risiko einer zunehmenden Reaktionszeit bei wachsender Komplexität.
Dynamik und Komplexität im Retail Banking
59
Dem entgegen steht jedoch die Notwendigkeit auf neue Entwicklungen schneller reagieren zu können. Beide konträren Trends gehen im Zeitablauf wie eine Schere stetig auseinander. Die Reaktionszeit in Unternehmen muss aufgrund der zunehmenden Dynamik weiter sinken. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich dargestellt, müssen sich gerade die deutschen Universalbanken der Herausforderung einer steigenden Komplexität stellen. Dies gilt insbesondere für das innovationsgetriebene Retail Banking, welches gleich in zweierlei Hinsicht von der Problematik der Zeitschere besonders betroffen ist. Zum einen steigt die Dynamik im Bankgeschäft im Zuge des stattfindenden Strukturwandels rapide an. Deutliche Indizien hierfür sind die beschriebene Beschleunigung des technologischen Fortschritts, das veränderte Kunden- und Anbieterverhalten sowie die beschleunigte Konfrontation der Kreditinstitute mit immer neuen Regularien verschiedenster Kontrollinstanzen. Zum anderen erscheint das Management der traditionell geführten Universalbanken noch nicht ausreichend auf die neuen Herausforderungen vorbereitet. Fragen der Komplexität und Dynamik wurden in den Vorstandsetagen deutscher Unternehmen bis in die neunziger Jahre kaum beachtet.54 Das aus einer historisch stabilen Umwelt kommende Bankmanagement ist mit diesen Fragestellungen häufig noch viel weniger vertraut. Hier gilt es Erfahrungen aus Branchen mit einer anhaltend hohen Dynamik, wie z.B. dem Einzelhandel oder der Telekommunikation systematisch für das eigene Geschäftsfeld zu adaptieren. Die außerordentlich hohe Relevanz dieser beiden Aspekte für strategische Entscheidungen im Retail Banking, wird zusätzlich durch eine gestiegene Entscheidungsunsicherheit im Retail Banking untermauert. Vielfach unterlagen gerade das Privatkundengeschäft und der Multi Channel-Vertrieb in den letzten Jahren häufig einem Strategiewechsel. Der professionelle Umgang mit Komplexität und Dynamik entwickelt sich damit zum strategischen Erfolgsfaktor, der speziell auch die Positionierung der Vertriebskanäle im Retail Banking betrifft. Die bisher genannten Aspekte, zielten im Ansatz alle auf eine Komplexitätsbeherrschung zur Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen. Schnell werden dabei die positiven Gesichtspunkte komplexer Systeme vergessen. Wie im Weiteren noch ausgeführt wird, neigen diese tendenziell zu einer spontanen Selbstorganisation.55 In einer Bank gibt es viele Prozesse, Bereiche und Nischen, die sich der Organisierbarkeit weitgehend entziehen. Gerade an diesen Stellen stehen Eigendynamik und Selbstorganisation des Unternehmens im Vordergrund. Beides sind nachgewiesene Effekte komplexer adaptiver Systeme. Die steigende Komplexität und Dynamik beeinflusst das Retail Banking als ganzes, und damit auch die Auswahl strategischer Ansätze zur Positionierung der einzelnen Vertriebskanäle. Aufgrund der vielfältigen Quellen für Komplexität im Retail Banking ist ein klassisches,
54 Vgl. Reuter, J. (1998), S. 104. 55 Vgl. Pascale, R.T., Millemann, M., Gioja, L., Herrmann, M. (2002), S. 109 ff.
60
Zusammenfassung der dringenden Herausforderungen im Retail Banking
betriebswirtschaftliches Komplexitätsmanagement56 – wie es in Bezug auf isolierte Fragestellungen nach wie vor sinnvoll ist – für die ganzheitliche, strategische Entscheidungsfindungen nicht mehr ausreichend. In den folgenden Kapiteln gilt es die Erfolgsfaktoren für strategische Entscheidungen im Retail Banking besser zu verstehen und in operative Handlungsempfehlungen umzusetzen.
4.
Zusammenfassung der dringenden Herausforderungen im Retail Banking
Unsere bisherigen Ausführungen bestätigen klar die Bedeutung des modernen Retail Banking für eine filialzentrierte Universalbank. Gleichzeitig sind wir aber auch auf die Vielschichtigkeit und die besonderen Herausforderungen dieses Geschäftsfelds eingegangen. Zum Abschluss von Teil II werden – auch als Grundlage für unsere weiteren Ausführungen zum Multi Channel Banking – noch einmal die wesentlichen Erkenntnisse zum Retail Banking zusammengefasst. Das Retail Banking bildet die stabile Basis des Bankgeschäfts und erlaubt eine weitgehende Risikostreuung. Es handelt sich also um das „Brot und Butter-Geschäft“ der Banken. Die breite Kundenbasis erlaubt dabei eine gewisse Entkoppelung von mittelfristigen wirtschaftlichen Trends und der Kapitalmarktentwicklung. Die schlanke und kosteneffiziente Abbildung des Geschäftsfeldes ist jedoch die entscheidende Voraussetzung, um in dem hart umkämpften Markt eine angemessene Rendite zu erzielen. Die Bankdienstleistung an sich, aber auch speziell das Retail Banking, zeichnen sich durch besondere Merkmale aus, die sich vor allem aus dem Charakter der Dienstleistung, der besonderen Vertrauensstellung der Banken, dem Geld als Leistungsobjekt und der besonderen Funktion der Finanzdienstleister im Wirtschaftskreislauf ergeben. Diese besonderen Merkmale müssen Grundlage jeder strategischen Entscheidung im Retail Banking sein. Das veränderte Wettbewerbsumfeld im Retail Banking zwingt das Management zum Handeln. Die strategische Positionierung der Vertriebswege auf Basis der Fragestellungen des magischen Dreiecks ist dabei eine der wesentlichsten Herausforderungen. Die aktuelle Kenntnis und permanente Berücksichtigung der technologischen Entwicklung spielt eine herausragende Rolle im Vertrieb von standardisierten Finanzdienstleistungen. Komplexität und Dynamik beeinflussen auf verschiedensten Ebenen die strategischen Entscheidungen im Retail Banking und müssen als relevante Faktoren im Management berücksichtigt werden. Das Geschäftsfeld Retail Banking muss als ein komplexer Organismus verstanden werden. 56 Gemeint sind hier z.B. mathematische Entscheidungsmodelle, Entscheidungsbäume und –tabellen oder
definierte Entscheidungsregeln bei Ungewissheit, die im Management häufig als grundlegende Entscheidungstechniken zur Reduzierung von Unsicherheit genutzt werden.
Teil III Multi Channel-Banking im strategischen Vertrieb
Der Multi Channel-Vertrieb im Kontext des Bankmarketing
1.
Multi Channel-Vertrieb bei Banken – eine integrative Betrachtung ist notwendig
Das Multi Channel-Banking beherrscht seit dem Aufkommen des E-Commerce in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Diskussion in Marketing und Vertrieb. Die förmlich aus dem Boden gesprossenen neuen Technologien sorgten für eine euphorische Goldgräberstimmung bei der Erschließung alternativer Vertriebskanäle. Holtrup vertrat den vorherrschenden Zeitgeist wie folgt: „Wo in Sekundenbruchteilen Informationen Kontinente überfliegen, haben nur jene Unternehmen eine wirkliche Zukunftschance, die alle mit der New Economy einhergehenden Determinanten aktiv gestalten.“57 Die Kommunikation über neue elektronische Vertriebswege, wie insbesondere das Internet, aber auch Mobiltelefone, PDA´s oder digitale TV-Receiver wurde als breiter Kundenwunsch postuliert. Dies und anbieterseitige Bedrohungsszenarien wie sie z.B. in der Aussage von Bill Gates, „Banking is necessary, banks are not“ bekannt wurden, bildeten das grundlegende Motiv für hohe Investitionen in neue Technologien. Aufgrund der besonderen Eignung der immateriellen Finanzdienstleistung für den elektronischen Vertrieb, spielten die Banken hierbei eine besondere Rolle. Nur selten hat sich das Management in Banken in dieser Zeit die Mühe gemacht, die aufkeimenden neuen Chancen auf dem Fundament einer soliden Marktforschung oder im Kontext bewährter Marketinginstrumente zu betrachten. Die Folgen in Form massiver Fehlinvestitionen und einer immensen Kapitalvernichtung liegen heute offen auf dem Tisch. Die Existenz technologieinduzierter Vertriebswege hat zwischenzeitlich umfangreichen Einzug in die strategische Vertriebsplanung gefunden. Jedoch ist in der Literatur und Praxis nur selten eine übergreifende Integration des Multi Channel-Vertriebs erkennbar. Viele Banken bewerten den Multi Channel-Vertrieb nach wie vor isoliert hinsichtlich seiner Chancen und Risiken und pressen die elektronischen Vertriebskanäle in den seit vielen Jahren etablierten Rahmen der operativen Vertriebspolitik. Heraus kommen häufig isolierte und unabgestimmte 57 Holtrup, T. (2000), S. 340.
64
Der strategische Vertrieb als Grundlage des Multi Channel-Vertriebs
Vertriebsmaßnahmen für Filiale, Internetbanking, den mobilen Außendienst oder alternative Vertriebswege, deren geplante Wirkung in den meisten Fällen verpufft. Ein zusätzlicher Vertriebserfolg stellt sich häufig nicht ein, da die isolierten Maßnahmen den Kunden eher verwirren, oder im schlimmsten Fall sogar verärgern, wenn er z.B. im Nachhinein erfährt, dass er im Internet einen besseren Zins als bei seiner Filiale bekommen hätte. Isolierte Vertriebswege, die in der Organisation irgendwo neben aktuellen Kostensparprojekten und spontanen Vertriebsmaßnahmen angesiedelt werden, sind daher keineswegs eine adäquate Antwort auf die heutigen komplexen Marktanforderungen. Viel mehr ist es erforderlich, den Multi Channel-Vertrieb als eine strategische Aufgabe – im ureigenen Verständnis des Strategiebegriffs – zu betrachten, und ihn mit genau diesem Stellenwert im Vertrieb zu positionieren. Auf den folgenden Seiten dieses Kapitels entwickeln wir daher eine neue Sichtweise zum Management der Vertriebskanäle unter dem Dach einer ganzheitlichen Multi Channel-Strategie. Grundlage hierfür bildet die strategische Vertriebsplanung anhand eines Management-Prozesses.
2.
Der strategische Vertrieb als Grundlage des Multi Channel-Vertriebs
2.1
Entwicklungen und Besonderheiten des strategischen Vertriebs
Der Vertrieb wird heute häufig als eine Teilmenge des Marketings gesehen. Die Grundidee des Marketings stellt den Bedarf des Nachfragers in den Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns. Durch die Befriedigung der Kundenwünsche soll eine möglichst große Kundennähe erreicht werden, die sich in individuellen Wettbewerbsvorteilen niederschlägt. Obwohl der Marketingbegriff zwischenzeitlich auch bei Banken in einer breiten Variationsvielfalt genutzt wird (z.B. im Personalmarketing oder im Beschaffungsmarketing) steht nach wie vor das betriebliche Ergebnis im Vordergrund der Marketingsicht. Das heutige Marketingverständnis einer wettbewerborientierten Bank muss zwangsläufig auch das gesamte Unternehmen umfassen, und zwar immer aus dem Blickwinkel des Absatzmarktes und damit des Kunden. Das Bankmarketing hat sich – analog zur Entwicklung des Privatkundengeschäfts – als eigene wissenschaftliche Forschungsrichtung und Unternehmensleitbild seit Mitte der sechziger Jahre entwickelt. Während zunächst die Bereiche Werbung und Verkaufsförderung im Vordergrund standen, entwickelte sich im Zuge der steigenden Bedeutung des Dienstleistungsmarketings auch das Bankmarketing in den achtziger Jahren zu einem umfassenden Konzept der Unternehmensführung. Heute orientiert sich die unternehmerische Zielsetzung des
Der Multi Channel-Vertrieb im Kontext des Bankmarketing
65
Bankmarketings vornehmlich an der Kundenrentabilität. Neben der gegenwartsbezogenen Bewertung der Kundenbeziehung gewinnen dabei zukunftsbezogene Analysen stärkere Bedeutung. Die Betrachtung des Kundenwerts über einen definierten Lebenszyklus erlaubt neue Einsichten für die Gestaltung der Kundenbeziehung. Hierzu mehr in den folgenden Kapiteln.
2.2
Der Management-Prozess im Bankvertrieb
Ein Marketing-Management umfasst verschiedene Entscheidungsphasen, die sich in einem revolvierenden Prozess darstellen lassen. Grob können die drei Phasen Entscheidungsvorbereitung, Entscheidung sowie Realisierung und Kontrolle unterschieden werden.58ȱ
Entscheidungsvorbereitung
Marktinformation
Unternehmensinformation
Marketingziele
Entscheidung
Marketingstrategien
Marketinginstrumente
Realisierung & Kontrolle
Marktorientierte Bankorganisation
Marketingkontrolle
Quelle: In Anlehnung an Büschgen, H.E., Büschgen, A (2002), S. 24. Abbildung 15: Phasen des Bankmarketing-Managements. Die erste Phase umfasst die – auf das Entscheidungsproblem ausgerichtete – Beschaffung, Aufbereitung und Analyse der externen und internen Informationen.
58 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A. (2002), S. 24.
66
Der strategische Vertrieb als Grundlage des Multi Channel-Vertriebs
Die zweite Phase beinhaltet die Entscheidungsfindung im Sinne einer Formulierung der Marketing- und Vertriebsziele. Zudem erfolgt in dieser Phase auch die Ableitung der Marketing- und Vertriebsstrategien. Der Realisationsphase wird die operative Gestaltung des Instrumenteneinsatzes im Marketingmix, die daraus resultierende Implementierung in die Bankorganisation, sowie die anschließende Kontrolle zugeordnet. Strategische Entscheidungen leiten sich immer aus den übergeordneten Zielsetzungen ab. Unternehmerische Zielsetzungen lassen sich sehr plausibel als Pyramide darstellen, deren Spitze alle darunter liegende Ziele beeinflusst. So ergeben sich der Zweck und die Ziele einer Bank immer aus den übergeordneten Wertvorstellungen. Dies lässt sich sehr gut am Beispiel der Sparkassenorganisation verdeutlichen. Der „öffentlich-rechtliche Auftrag“ bestimmt als übergeordnete Wertvorstellung klar den Unternehmenszweck. Die physische Nähe zum Kunden und die Verbundenheit zur Region spielen dabei eine herausragende Rolle, so dass jeder Multi Channel-Ansatz, der z.B. einen Internet Vertriebsweg in den Vordergrund stellt, nur schwer mit den grundlegenden Wertvorstellungen vereinbar ist.
2.3
Die Vertriebsstrategie als Folge der unternehmerischen Zielbildung
Die Vertriebsstrategie muss aus den Unternehmenszielen abgeleitet werden und stellt die zentralen Weichen für das operative Geschäft. Sie reduziert damit die Gefahr eines nicht zielkonformen Verhaltens der Organisationsmitglieder. Strategien liefern die Handlungsanweisungen zur Erreichung der definierten Ziele und stellen ein Bindeglied zwischen den Marketingzielen und dem Marketingmix dar.59 Damit bildet die Entwicklung einer Strategie immer einen parallelen Handlungsstrang zur Zielentwicklung, wobei die Strategien – beginnend bei der Unternehmensstrategie – den zugeordneten Zielen und den jeweils übergeordneten Strategien entsprechen müssen. Dieser Zusammenhang wird in der folgenden Abbildung verdeutlicht.
59 Vgl. Broda, S. (2002), S. 31.
Der Multi Channel-Vertrieb im Kontext des Bankmarketing
67
Quelle: In Anlehnung an Hesse, J., Huckemann, M. (2002), S. 74. Abbildung 16: Die Strategiebildung als Folge der unternehmerischen Zielbildung. Eine strategische Positionierung und Auswahl der Vertriebskanäle im Retail Banking, kann damit nur auf Basis der übergeordneten Unternehmensstrategie sowie der korrespondierenden Bereichsziele des Geschäftsfelds entwickelt werden. Konkret bedeutet dies, dass die übergeordneten Ziele des Geschäftsbereichs Retail Banking bestimmend sind für die Geschäftsfeldstrategie. Diese wiederum bestimmt die allgemeine Vertriebsstrategie, welche den Multi Channel-Vertrieb als Sub-Strategie einschließt. Das der Strategieentscheidung folgende Management der Vertriebskanäle wird dem operativen Geschäft zugeordnet. Der Übergang von der Vertriebsstrategie zum operativen Vertriebsmanagement stellt eine besondere Herausforderung dar. Es gilt die betroffenen Mitarbeiter zielbezogen vorzubereiten, einzubeziehen und zu motivieren, sowie die kommunikativen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen zur Erreichung der jeweiligen Aktionsfeldziele zu schaffen. Viele Banken bedienen sich hierfür der absatzpolitischen Instrumente der Produkt-, Preis-, Vertriebs- und Kommunikationspolitik.
Der absatzpolitische Marketing-Mix bei Banken Der Marketing-Mix gehört seit Jahren zum Standard Repertoire eines jeden BWL Studenten. Entsprechend hat er in vielen Marketingabteilungen der Banken seinen Platz für die operative Marketingsteuerung gefunden. Der Marketing Mix unterscheidet üblicherweise: Die Leistungs- oder Produktpolitik zur Steuerung aller direkt mit dem Produkt zusammenhängenden Maßnahmen. Aufgrund der stark regulierten, aber auf der anderen Seite nicht patentierbaren Bankleistung, übernimmt die Produktpolitik im Bankgeschäft traditionell nicht die übliche Rolle des „Herzstück des Marketings“. Gerade in den letzten Jahren wurde der Wettbewerb über Produktinnovationen jedoch schärfer. Immer mehr Banken profilieren sich beim Kunden über neue Produktideen, wie z.B. durch besondere Sparprodukte mit speziellen Vorteilen oder moderne Wertpapierprodukte, wie gerade der rasch angewachsene Markt für Zertifikate zeigt.
68
Der strategische Vertrieb als Grundlage des Multi Channel-Vertriebs
Zur Preispolitik werden alle Maßnahmen gezählt, die eine Festlegung der Preise für neue und bestehende Bankprodukte betreffen. Im Retail Banking zählen insbesondere die Variation der Zinssätze, Provisionen, Dienstleistungspreise und Wertstellungen zu den preispolitischen Stellgrößen. Gerade in der Preispolitik wird die enge Verbindung zur Value Proposition deutlich, also dem individuellen Wertversprechen einer Bank an seine Kunden. So hat sich beispielsweise die Postbank über die Preispolitik eine klare Positionierung im Discount-Banking erarbeitet. Unter der Kommunikationspolitik werden alle Maßnahmen gefasst, die eine Bank zur Verbreitung von Informationen über sich selbst und ihr Leistungsangebot ergreift. Neben der klassischen Werbung liegt ein Schwerpunkt heute in der persönlichen Kommunikation. Mit zunehmender Anonymisierung des Bankgeschäfts durch elektronische Vertriebswege gewinnt die professionelle Kommunikation über verschiedene Kanäle eine zunehmende Bedeutung. So kann die gezielte Kombination von push- und pull Kommunikation in verschiedenen Vertriebswegen die Absatzchancen deutlich erhöhen. Beispielsweise wird der Kunde in einem persönlichen Anschreiben auf ein besonderes Angebot im Internet aufmerksam gemacht. Ein spezieller Anmeldecode garantiert die Identifikation des Kunden im Portal. Nach dem Login erhält er weiterführende Informationen und wird diskret aber gezielt auf zusätzliche Retail Banking Angebote aufmerksam gemacht. Die Vertriebspolitik umfasst die Gesamtheit aller Entscheidungen und Handlungen, die der Übermittlung von Bankdienstleistungen an den Kunden dienen. Die Besonderheiten der Bankdienstleistung beeinflussen damit ganz besonders die Vertriebspolitik. Die Immaterialität der Bankdienstleistung erlaubt eine vergleichsweise einfache virtuelle Distribution. Die Erklärungsbedürftigkeit vieler Bankprodukte bedingt dagegen eine sehr genaue Zuordnung von Produkt und Absatzkanal. Die Gestaltung und Positionierung der einzelnen Absatzkanäle spielt eine entscheidende Rolle für den erfolgreichen Retail Banking-Vertrieb. Die vorgenannten vier Instrumente, einschließlich der hieraus abgeleiteten Handlungsfelder bilden zusammen den klassischen Marketingmix. Die einzelnen absatzpolitischen Maßnahmen werden üblicherweise gebündelt und aufeinander abgestimmt eingesetzt. Für den Vertrieb im Retail Banking soll ein neueres Verständnis des Marketingmix nicht unerwähnt bleiben. Neben den vorgenannten Instrumenten, wird hierbei speziell für das Dienstleistungsmarketing auch die auf den Markt bezogene Personalpolitik als eigenes MarketingInstrument genannt. Dieses Verständnis umfasst nicht das klassische Personalmanagement, sondern konzentriert sich auf die personalbezogenen Aspekte, die für eine Erstellung von Dienstleistungen aus Marketingsicht erforderlich sind.60 Gerade mit Blick auf die beschriebene, besondere Rolle des Bankmitarbeiters als Imageträger im Vertrieb, gewinnt die Integration der Personalpolitik als absatzpolitisches Instrument eine besondere Bedeutung. Gut qualifizierte und motivierte Vertriebsmitarbeiter übernehmen eine Schlüsselrolle im erfolgreichen Vertrieb. Die zielgerichtete Personalauswahl und -entwicklung bleibt damit ein entscheidendes Element für den erfolgreichen Vertrieb.
Eine schlagkräftige Vertriebsorganisation ist unbestritten einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für ein erfolgreiches Retail Banking. Speziell die strategische Positionierung und das
60 Vgl. Meffert, H., Bruhn, M. (2003), S. 356.
Der Multi Channel-Vertrieb im Kontext des Bankmarketing
69
operative Management der Vertriebswege leisten hierzu einen entscheidenden Beitrag. Im folgenden Kapitel werden wir dieses anhand der besonderen Merkmale und Herausforderungen des Multi Channel-Vertriebs weiter verdeutlichen. Als Grundlage dafür fassen wir die wichtigsten Ergebnisse dieses Kapitels wie folgt zusammen: Der Multi Channel-Vertrieb stellt heute in vielen Banken lediglich auf dem Papier ein strategisches Handlungsfeld dar. Um seiner vertriebspolitischen Bedeutung im Wettbewerb gerecht zu werden, gilt es die Positionierung aller Absatzkanäle ganzheitlich in die Vertriebsstrategie zu integrieren und hieraus die operative Kanalsteuerung abzuleiten. Das Marketing-Management bietet hierfür einen ausgezeichneten Rahmen, der die systematische und passgenaue Einordnung des Multi Channel-Vertriebs in das Geschäftsfeld Retail Banking ermöglicht. Die absatzpolitischen Instrumente bieten gute Ansatzpunkte für die operative Kanalsteuerung. Wie wir insbesondere in Teil 7 noch detailliert ausführen werden, reichen diese aber keineswegs aus, um das gesamte Spektrum des heute notwendigen Multi ChannelManagements abzudecken.
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
1.
Entwicklung und Grundlagen des Multi ChannelVertriebs
Auch wenn sich zwischenzeitlich immer mehr Wissenschaftler mit der möglichen Entstehung von Multi Channel-Vertriebssystemen auseinandersetzen, handelt es sich hierbei um einen in der Praxis geborenen und für die Praxis geschaffenen Vertriebsansatz. Der ehemalige Nestle Deutschland Chef Hans G. Güldenberg beschreibt dies mit den Worten „Wir müssen dort verkaufen, wo die Verbraucher sind.“61 In diesem Verständnis handelt es sich beim Vertrieb über mehrere Distributionskanäle nun wirklich um keine neue Innovation mehr. Bereits in den späten siebziger Jahren setzte IBM im Zuge der Aufnahme von PCs in das bestehende Sortiment auf eine Expansion der Vertriebskanäle. In einem Zeitraum von ca. zehn Jahren fügte IBM achtzehn neue Vertriebswege hinzu, wie u. a. den Einzelhandel, Versandhäuser oder das Telemarketing.62 Gerade Herstellerbetriebe aber auch Versandhändler oder Einzelhandelsunternehmen verfügen bereits über intensive Erfahrungen im Vertrieb über verschiedene Absatzkanäle. Dennoch werden derzeit nur wenige Themen im Retail Banking so intensiv diskutiert, wie das effiziente Management der unterschiedlichen Vertriebskanäle. Der wesentliche Grund hierfür liegt in dem bereits verteilten und tendenziell überversorgten deutschen Retail Banking-Markt und dem daraus resultierenden, erheblichen Verdrängungswettbewerb. Dieser wird vor allem über Konditionen und Preise ausgetragen. Die Folge ist, dass alternative Vertriebskonzepte im Retail Banking zunehmend gesucht werden. Das zeigt eine vom Frauenhofer Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) 2002 durchgeführte Studie bei 52 Filialbanken sehr deutlich. Insgesamt gaben 81% der befragten Institute an, die Umsetzung eines Multi Channel-Management voranzutreiben.63
61 o.V. (1997), S. 20. 62 Vgl. Kotler, P., Bliemel, F. (2001), S. 1113. 63 Vgl. Bullinger, H.J., Engstler, M., Praeg, C.P., Dold, C., Günther, J., (2002), S. 8.
72
Entwicklung und Grundlagen des Multi Channel-Vertriebs
Quelle: Bullinger, H.J., Engstler, M., Praeg, C.P., Dold, C., Günther, J., (2002), S. 8. Abbildung 17: Vertriebsstrategien der Finanzdienstleister. Die nahe liegende Frage lautet, warum entwickelte sich gerade der Multi Channel-Vertrieb für das Retail Banking zu einer so interessanten strategischen Option? Die wesentlichen Chancen, aber auch Risiken, die sich aus dem Multi Channel-Banking ergeben, werden in den folgenden Kapiteln ausführlich dargelegt. Zunächst aber einige einleitende Sätze zur Erklärung, warum das Multi Channel-Banking derzeit eine so hohe Aufmerksamkeit verdient. Seine Renaissance erlebte der Multi Channel-Vertrieb mit dem Aufkommen neuer, elektronischer Vertriebswege – allen voran das Internet. Im Zuge der wirtschaftlichen Erschließung des Internets (E-Commerce) und der damit verbunden „Goldgräberstimmung“ merkten viele E-Commerce Anbieter sehr schnell, dass die Konzentration auf nur einen Vertriebskanal nicht ausreicht, um eine kritische Kundenanzahl zu erreichen. Ausgehend von den Geschäftsmodellen der Internetpioniere, ein kostengünstiges zentrales Angebot ohne stationären Vertrieb aufzubauen, war die Erschließung weiterer elektronischer Vertriebskanäle, wie z.B. das Mobil Telefon, der nächste logische Schritt. Die darauf folgende Entdeckung des Internets als neuen Absatzkanal durch bereits etablierte Unternehmen (der so genannten Old Economy) initiierte eine erneute breite Diskussion des Multi ChannelVertriebs. Die Verbreitung von Internet und E-Commerce gaben somit den Anstoß für das neu erwachte Interesse an dem Zusammenwirken der Vertriebskanäle. Der auf der folgenden Seite beschriebene, integrierte Multi Channel-Vertrieb stellt die vorläufig weitestgehende Ausprägung dieser Entwicklung dar. Die Gestaltung eines Multi Channel-Angebotes allein über den Aufbau und die Personalisierung elektronischer Vertriebskanäle reicht dem heutigen Anspruch vieler Kunden nicht mehr aus. Der Kunde muss die Möglichkeit haben, seine Kanäle
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
73
Phasen des Multi-Channel Vertriebs
nach persönlichen Vorlieben zu wählen, zu verknüpfen und entsprechend seiner Präferenzen im Kaufprozess zu nutzen.
Integrierter Multi Channel-Vertrieb. Zusammenhängende Betrachtung multipler Vertriebskanäle. Konzeptionelle Betrachtung weiterer elektronischer Vertriebskanäle.
Verbreitung des Internets als neuer Vertriebskanal
1995
2000
2005
Zeitliche Entw icklung
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 18: Entwicklungsphasen zum Multi Channel-Vertrieb. Die beschriebenen Entwicklungsphasen vom Internetvertrieb bis zum integrierten Multi Channel-Vertrieb werden in der Abbildung noch einmal zusammenfassend verdeutlicht. Dabei bieten die hier dargestellten Phasen lediglich einen ungefähren Anhaltspunkt der Entwicklung. Im realen Geschäftsleben verschwimmen die Zeiträume schon aufgrund der unterschiedlichen Adaptionszeitpunkte in den Unternehmen. Zudem sind auch heute noch alle hier genannten Ausprägungen am Markt zu beobachten. Amazon, e-Bay oder Doc Morris sind z.B. nach wie vor sehr erfolgreiche und rein auf den Internetvertrieb spezialisierte Anbieter. Ein wichtiges Merkmal des Retail Banking ist, dass hier vorwiegend direkte Vertriebswege zu managen sind. Im Gegensatz zum Hersteller eines Konsumguts, der sich häufig verschiedenen Einzelhändlern – und damit indirekten Vertriebswegen – bedient, werden Retail Banking-Produkte fast ausschließlich über direkte Vertriebswege vertrieben. Unter einem direkten Absatzkanal wird ein Vertriebsweg unter Ausschluss von Zwischenstufen, wie z.B. Großund Einzelhandel, verstanden. Die direkten und unmittelbar steuerbaren Vertriebswege stellen im Retail Banking eher die Normalform dar. Ein indirekter Vertrieb ist heute noch eine Rand-
74
Entwicklung und Grundlagen des Multi Channel-Vertriebs
erscheinung und erfolgt z.B. in der Zusammenarbeit mit Finanzmaklern, Absatzmittlern oder Strukturvertrieben. Die Kontrolle der wesentlichen Absatzkanäle Filiale, Online Banking, SB-Geschäft und Mobiler Vertrieb liegt im Retail Banking somit direkt in der Hand der einzelnen Bank. Damit sind die aus anderen Branchen bekannten Konflikte zwischen einzelnen Vertriebskanälen für das Retail Banking (noch) von untergeordneter Relevanz. Auf das Phänomen und Problem von Kanalkonflikten gehen wir im Weiteren noch intensiver ein. Eine exakte Unterscheidung ist insbesondere zwischen dem „Multiple-Channel Vertrieb“ und dem „Multi Channel-Vertrieb“ erforderlich. Gerade diese beiden Begriffe werden in der Praxis sehr häufig undifferenziert verwendet, wobei sich speziell der Multi Channel-Vertrieb schon fast zu einem generellen Synonym für das Angebot mehrerer Absatzwege entwickelt hat. Eine genaue Kenntnis und Berücksichtigung der Unterschiede ist für die strategische Entscheidung allerdings sehr wichtig. Der Multiple-Channel Vertrieb bezeichnet eine einfachere Form des Mehrkanalvertriebs. Nach Ahlert / Hesse zeichnet sich diese Vertriebsform dadurch aus, dass mehrere Absatzkanäle unkoordiniert und nebeneinander eingesetzt werden.64 Beim Multi Channel-Vertrieb – oder noch genauer bei dem „integrierten Multi ChannelVertrieb“ – handelt es sich um eine Weiterentwicklung dieser Vertriebsform in dem Sinne, als dass erst die informationsseitige Verknüpfung aller Vertriebskanäle echte Wettbewerbsvorteile erlaubt. Entsprechend verstehen wir unter Multi Channel-Vertrieb die mit einem Absatzziel verbundene Kommunikation von und mit Kunden über den parallelen, integrierten und koordinierten Einsatz verschiedener, indirekter und direkter Absatzkanäle. Die Kundenattraktivität und der Ergebnisbeitrag eines ganzheitlichen Multi ChannelVertriebs unter Berücksichtigung einer intelligenten Informationsvernetzung ist höher, als die Summe isolierter Vertriebsaktivitäten in unterschiedlichen Kanälen. Dieses wird im späteren Verlauf dieses Kapitels noch deutlicher, wenn wir auf die Motive, Chancen und Risiken des Multi Channel-Vertriebs eingehen. Zudem erfordert die integrative Betrachtung des Multi Channel-Vertriebs eine Berücksichtigung existierender Ansätze für ein Customer Relationship Management (CRM), worauf wir ebenfalls im weiteren Verlauf dieses Kapitels näher eingehen.
64 Vgl. Ahlert, D., Hesse, J. (2003), S. 11 f.
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
2.
Der Kunde im Mittelpunkt der VertriebskanalStrategie
2.1
Vom Transaktions- zum Relationship-Marketing
75
In Wissenschaft und Praxis setzt sich zunehmend eine Neuorientierung vom Transaktionszum Relationship-Marketing durch.65 Die im Transaktions-Markting tendenziell festzustellende Orientierung auf die Steigerung ökonomischer Größen, wie z.B. Kundenanzahl, Umsatz oder Deckungsbeitrag wandelt sich damit zu einem an der individuellen Kundebeziehung orientierten Marketing. Im Relationship-Marketing steht der Kunde und nicht das Leistungsangebot eines Unternehmens im Vordergrund. Damit liegt der Schwerpunkt von Marketing und Vertrieb in der Kundenakquisition, Kundenbindung und Kundenrückgewinnung. Neben den ökonomischen Größen, wie z.B. Gewinn und Deckungsbeitrag, konzentriert sich das Relationship-Marketing insbesondere auf kundenindividuelle Messgrößen, wie speziell den Kundenwert. In Anlehnung an die dynamischen Modelle der Investitionstheorie bezeichnet der Kundenwert alle auf einen Betrachtungszeitraum diskontierten Ein- und Auszahlungen, die im Laufe der Kundenbeziehung anfallen. Damit verspricht die Kundenwertanalyse eine ganzheitliche, gegenwarts- und zukunftsbezogene Analyse der Kundenbeziehung. Parameter:
P
T
V
¦ t 1
¦X
t, p
* (rp c p )
p 1
(1 i) t
I
V
Kundenwert
X
Anzahl der vom Kunden gekauften Produkte innerhalb des Produktportfolios
t
Zeiteinheit (hier Jahr)
T
Dauer der Kundenbeziehung
r
Preis, Marge des Produkts (produktspezifisch)
c
Standardkosten (produktspezifisch)
I
Investitionen, z.B. Marketing oder Prozessgestaltung
p
Produkt
P
Produktportfolio der Bank, des Marktsegments oder des Kunden
I
Zinssatz unter Berücksichtigung der Kundenbonität
Quelle: In Anlehnung an Gensler, S., Skiera, B. (2004), S. 29 ff. Abbildung 19: Die Kundenwertanalyse.
65 Vgl. Bruhn, M. (2001), S. 1 ff.
76
Der Kunde im Mittelpunkt der Vertriebskanal-Strategie
Die Berechnung des Kundenwertes kann auf Basis eines einzelnen Kunden, einer Segmentgruppe oder des gesamten Kundenstamms erfolgen. Die besondere Herausforderung bei der Berechnung des Kundenwerts liegt in der qualitativen und quantitativen Prognose der zukünftigen Entwicklung einer Kundenbeziehung. Hierzu können z.B. Trendverfahren, Indikatormodelle oder Expertenschätzungen genutzt werden, deren Aussagkraft in einer komplexen Umwelt jedoch – wie wir in Teil III und IV noch intensiv ausführen – kritisch hinterfragt werden muss. Der Ansatz für ein Relationship-Marketing korrespondiert mit der Anforderung einer ständig steigenden Kundenorientierung im Retail Banking, zu der es in dem hart umkämpften Käufermarkt für Finanzdienstleistungen keine Alternative gibt. Neben einer an den Nutzenvorstellungen des Kunden ausgerichteten hohen Dienstleistungsqualität, die als Hygienefaktor66 vorausgesetzt werden muss, bildet der Multi Channel-Vertrieb einen zentralen Anknüpfungspunkt zur Steigerung der Kundenzufriedenheit und damit für die Bindung der Kunden an die Bank. Hierzu muss sich die Bankorganisation in der Form ausrichten, dass der Kunde den Ausgangs- und Mittelpunkt des unternehmerischen Handelns darstellt.
2.2
Die Kundenzufriedenheit als Grundlage der Kundenbindung
Bevor die Auswirkungen eines Multi Channel-Vertriebs auf die Zufriedenheit und Bindung der Kunden im Retail Banking näher betrachtet wird, ist es sinnvoll, beide Begriffe kurz zu definieren. Nach Kotler/Bliemel ist die Kundenzufriedenheit „...ein Resultat der nach dem Kauf wahrgenommenen Produktleistung, verglichen mit der Wahrnehmung vor dem Kauf.“67 Die in dieser verkürzten Definition angesprochenen Elemente „Leistung“ und „Erwartung“ beziehen sich auf ein weit umfangreicheres Feld, als auf die reine Leistungserbringung. So umfassen diese Begriffe z.B. auch die Verkaufsatmosphäre oder den Service im Anschluss an den Kauf. Aus den unterschiedlichen Erklärungsansätzen der Zufriedenheitsforschung, hat das conformation/disconformation-Paradigma (C/D-Paradigma) bis heute die größte Akzeptanz und Verbreitung gefunden.68 Abbildung 20 verdeutlicht, dass die vorgenannte Definition im Kern genau diesem Ansatz entspricht. Der Kunde ist zufrieden, wenn seine Erwartung erfüllt wird. Begeisterung kann nur erreicht werden, wenn es gelingt, das Produkt und die Beratung im gesamten Kaufprozess 66 Nach der Herzberg Theorie ruft das Fehlen eines ‚Hygienefaktors’ Unzufriedenheit hervor, während das
Vorhandensein dagegen in kurzer Zeit zur Selbstverständlichkeit wird. Vgl. Bisani, F. (1992), Personalführung, 3. neu bearbeitete Auflage, Gabler Verlag, Wiesbaden 1992, S. 79. 67 Kotler, P., Bliemel, F. (2001), S. 61. 68 Vgl. Evaschinsky, H., Gawlik, H. (2003), S. 199 f.
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
77
über den Erwartungen des Kunden zu positionieren. Das Paradigma verdeutlicht aber auch, wie leicht es möglich ist einen unzufriedenen Kunden zu hinterlassen. Fehler können an jeder Stelle im Kaufprozess gemacht werden – hierzu zählen auch der Service und die Beratung nach dem erfolgreichen Produktverkauf.
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Quelle: Mierzwa, M. (2002), S. 13. Abbildung 20: Das C/D Paradigma der Kundenzufriedenheit. Darüber hinaus wird unter der Kundenloyalität die nachfragebezogene Kundenbindung verstanden. Ein Kunde kann als loyal bezeichnet werden, wenn er ein Produkt immer wieder kauft, weil er von dessen Nutzen überzeugt ist – also die Produkteigenschaften seinem individuellen Anspruchsniveau entsprechen oder diese sogar übertreffen. Der Begriff der Kundenbindung ist weiter gefasst, indem die Seite des Anbieters berücksichtigt wird. Beide Parteien müssen demnach ein Interesse an einer Fortsetzung der Geschäftsbeziehung haben.69 In der Kundenbindung werden fünf Faktoren erfasst, die sowohl das bisherige Verhalten (in Form des Kauf- und Weiterempfehlungsverhaltens), als auch die Verhaltensabsichten des
69 Vgl. Mierzwa, M. (2002), S. 10 f.
78
Der Kunde im Mittelpunkt der Vertriebskanal-Strategie
Kunden (Wiederkauf-, Zusatzkauf- und Weiterempfehlungsabsicht) beschreiben.70 Gerade mit Blick auf die zunehmende Bedeutung der Kundenwertanalyse zeichnet sich im Retail Banking eine stärkere Fokussierung auf die ertragsstarken Potenzialkunden ab, die durch gezielte Maßnahmen besser an das eigene Institut gebunden werden sollen. Unsere praktischen Erfahrungen aber auch verschiedene Studien zeigen, dass Kundenabwanderungen häufig trotz großer Zufriedenheit erfolgen. Somit besteht zwar ein positiver Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und Kundenbindung, was aber umgekehrt nicht gleichzeitig bedeutet, dass ein zufriedener Kunde zwangsläufig auch ein loyaler Kunde ist. Eine Erklärung hierfür lässt sich in weiteren Einflussfaktoren finden, wie z.B. das Bedürfnis des Kunden nach Abwechslung (Variety-Seeking) oder die Attraktivität der Angebote von Mitbewerbern, welche ebenfalls stark die Kundenloyalität beeinflussen.71 Wechselbarrieren, die neben der Kundenzufriedenheit positiv auf die Kundenbindung wirken, sind z.B. die Bequemlichkeit des Kunden, sich mit alternativen Anbietern zu beschäftigen, die mit einem Bankwechsel verbundenen persönlichen Mühen oder die Kosten, die mit einem Wechsel verbunden sind (beispielsweise die Gebühr für eine Kreditablösung). Auf Basis einer umfangreichen, aber sicher nicht vollständigen Wirkungskette verdeutlicht die folgende Abbildung diesen Zusammenhang.
Loyalität
Kunden(un-) zufriedenheit
Abwanderung
Bequemlichkeit
Mundpropaganda
Variety Seeking
Keine Reaktion
Beschwerde
Kundenbindung
Gewinnsteigerung
Alternativenmangel
Switching Costs
Quelle: Braun, S., Trautwein, F., Andermann, M., Rössler, W. (2003), S. 122. Abbildung 21: Wirkungskette der Kunden(un-)zufriedenheit. Im Rahmen einer Kundenbindungsstrategie genießt die Kundenzufriedenheit deshalb einen so hohen Stellenwert, weil sie als einzige Variable die zuvor genannten fünf Faktoren der Kundenbindung beeinflusst. Sofern es gelingt, die Kundenmotivation zu managen, werden sich zufriedene Kunden demnach vor allem loyal verhalten. Hieraus resultiert eine direkte Wirkungskette von der Zufriedenheit zur Kundenbindung. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich Kundenerwartungen im Zeitablauf ändern,ȱwobei die Bank in der Regel nur 70 Vgl. Homburg, C., Fassnacht, M. (1998), S. 415. 71 Vgl. Evaschinsky, H., Gawlik, H., op.cit., S. 202.
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
79
ihr eigenes Leistungsangebot beeinflussen kann. Steigt also die Attraktivität der Leistungen von Mitbewerbern und ändert sich damit die Erwartungshaltung des Kunden, bedingt dies die Anpassung der eigenen Leistung an den Bedarf des Kunden. Es kann also davon ausgegangen werden, dass eine steigende Kundenbindung den Gewinn positiv beeinflusst. Ein wesentlicher Impuls für die hohe Einschätzung der Kundenbindung – und damit auch für den Wandel vom Transaktions- zum Relationship Marketing – ergab sich aus den Studien der Forscher Reichheld und Sasser. Anfang der neunziger Jahre veröffentlichten sie das Ergebnis einer branchenweiten Studie in den USA. Demnach bewirkt eine Verminderung der Abwanderungsquote von 5% eine Gewinnsteigerung zwischen 25 und 85%.72 Darauf aufbauend unterstreichen die folgenden Argumente die direkte Wirkung der Kundenbindung auf den Unternehmensgewinn. Zufriedene und loyale Kunden verfügen i.d.R. über eine geringere Preiselastizität und zeigen damit eine höhere Bereitschaft, auch höhere Preise zu akzeptieren. Damit steigt der preispolitische Spielraum. Die Kundenloyalität verkörpert einen hohen immateriellen Wert, indem sie die Glaubwürdigkeit der Bank steigert. Dies wirkt sich positiv auf die Wahrnehmung der Bankleistung aus und reduziert damit die Abwanderungsgefahr. Zudem kann bei zufriedenen Kunden von einem höheren Cross Selling-Potenzial ausgegangen werden. Loyale Kunden neigen zur Weiterempfehlung einer besser als erwartet empfundenen Leistung und unterstützen damit die Neukundengewinnung. Im Gegenzug stärkt jeder unzufriedene Kunde den Wettbewerb.
2.3
Der Multi Channel-Vertrieb als Grundlage für eine engere Kundenbindung
Heute gilt der positive Einfluss eines integrierten Multi Channel-Vertriebs auf die Kundenloyalität als allgemein akzeptiert.73 Für die strategische Entscheidungsfindung ist es aber darüber hinaus wichtig zu ergründen, welche einzelnen positiven Effekte des Multi ChannelVertriebs auf die Kundenbindung wirken und wie sich diese in der Zukunft entwickeln. Dies gilt insbesondere, da gerade dem Retail Banking prophezeit wird, dass die Vielfalt der Vertriebskanäle schon bald zum Hygienefaktor wird.74 Damit wird der Fokus auf den Kundennutzen zur wichtigen Handlungsmaxime, und die Wirkung des Multi Channel-Vertriebs auf die Kundenbindung zur strategischen Fragestellung.
72 Vgl. Reichheld, F.F., Sasser, W.E. (1990), S. 110. 73 Vgl. hierzu z.B. Engstler, M. (2003), S. 34; oder Evaschinsky, H., Gawlik (2003), S. 217 f. 74 Vgl. Krauter, J. , Kübler, F. , Krauß, U., op.cit., S. 19.
80
Der Kunde im Mittelpunkt der Vertriebskanal-Strategie
Ein erstes Argument für eine steigende Kundenzufriedenheit ist die Pluralisierung der Vertriebskanäle und die damit steigende Anzahl der Kontaktpunkte für den Kunden. Dem Kunden werden im Rahmen einer Multi Channel-Strategie eine Vielfalt an Zugangs- und Kontaktwegen zur Bank geboten, aus denen er sich selbstbestimmt die von ihm präferierten auswählen kann. So empfindet ein Kunde es heute bereits als Selbstverständlichkeit, wenn er seine Kontoumsätze am Kontoauszugsdrucker oder im Internet ansehen kann, bzw. den Kontoauszug über den Postweg erhält. Je nach seinen persönlichen Präferenzen kann er den für sich günstigsten Informationsweg auswählen. Dieses Beispiel verdeutlicht ebenfalls sehr gut die Möglichkeiten der Bank zur Steuerung der Kundenpräferenzen. So kann beispielsweise der für die Bank sehr preisgünstige „virtuelle Kontoauszug im Internet“ auch für den Kunden preislich besonders attraktiv sein. Im Marketing noch effektiver ist die ganzheitliche Botschaft an den Kunden: „Wir sind immer und auf allen denkbaren Vertriebskanälen für Dich erreichbar!“ In der folgenden Abbildung wird dieser Marketingantritt am Beispiel der Citibank verdeutlicht.
Quelle: Citibank Privatkunden AG (2004), S. 7. Abbildung 22: Multi Channel-Marketing der Citibank Privatkunden AG. Der Werbeantritt und vor allem der zentrale Slogan „7 x 24“ zeigt sehr anschaulich, wie erst über das Zusammenspiel der Vertriebskanäle dem Kunden der marketingwirksame Mehrwert vermittelt wird. Eine weitere Steigerung des Kundennutzens ist durch eine konsequente Ausrichtung des Multi Channel-Vertriebs am Kaufprozess zu erwarten. Ziel dabei ist es, dass der Kunde seine Bank über alle Absatzkanäle und in allen Phasen des Kaufprozesses konsistent
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
81
wahrnimmt.75 Der Kunde wählt entsprechend seiner Präferenzen in den unterschiedlichen Phasen des Kaufprozesses den jeweils für sich optimalen Kontaktpunkt. Dieses so genannte „Channel Hopping“ setzt einen prozessübergreifenden, integrierten Multi Channel-Vertrieb voraus. Informationen aus der Pre-Sales Phase müssen in für die Beratungsphase bzw. den Kaufabschluss in jedem anderen Absatzkanal verfügbar sein. Das im Folgenden dargestellte Beispiel zeigt einen solchen integrierten Multi Channel-Prozess anhand von vier Vertriebswegen.
Pre-Sales Kon takt
Berat un g/ Bedarfs anal yse
Abschl uss
Ab wicklu ng/ Aftersal es
Filiale
Interne t
Call Cen ter
Auße ndie nst
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Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 23: Der integrierte Beratungs- und Kaufprozess im Multi Channel-Vertrieb. So informiert sich z.B. der junge, viel beschäftigte Kunde (Kreis) abends selbstständig im Internet und trifft auf Basis der dort vorliegenden Informationen seine Entscheidung über eine Finanzierung. Da er generell gut über Bankprodukte informiert ist, hat er keinen hohen Beratungsbedarf. Den Abschluss tätigt er in der Filiale, in der die Unterlagen bereits vorbereitet zur Unterschrift bereitliegen. Seine Rückfrage hinsichtlich einer Ratenstundung erledigt er zwei Monate später telefonisch über das Call Center. Im Gegensatz dazu informiert sich der ältere, technologisch unerfahrene Rentner (Quadrat), telefonisch im Call Center über die Zinsen einer Geldanlage und vereinbart einen Beratungstermin in der Filiale. Im Beratungsgespräch wird klar, dass ein Investmentfonds seinen Anlagezielen näher kommt. Eine Entscheidung möchte der Kunde aber noch nicht 75 Vgl. Schögel, M., Sauer, A., (2002), 26.
82
Der Kunde im Mittelpunkt der Vertriebskanal-Strategie
treffen. Kurze Zeit später entschließt sich der Rentner den Fonds zu erwerben. Letzte Fragen klärt er mit dem mobilen Außendienst, bei dem er auch den Produktabschluss tätigt. Eine Rückfrage zur steuerlichen Behandlung der Fonds, die einige Wochen später auftaucht, wird im Rahmen eines Routinetermins in der Filiale besprochen. Beide Beispiele zeigen deutlich den Zuwachs an Bequemlichkeit für den Kunden und unterstreichen damit die weitreichenden Potenziale des Multi Channel-Vertriebs. Noch weiter geht die Bedeutung des Multi Channel-Vertriebs für die Kundenbindung, wenn die vorgenannten Ansätze um ein One-to-One Marketing ergänzt werden. Der Begriff bezeichnet das Konzept einer individualisierten Kundenbeziehung wobei das Ziel verfolgt wird, den Umsatz und Gewinn mit dem Kunden durch die besonders gute Kenntnis seiner speziellen und aktuellen Bedürfnisse zu steigern. Entsprechend dieser Definition basiert das One-toOne Marketing auf dem Beziehungsmarketing. Durch eine permanente Lernbeziehung über den sich verändernden Bedarf des Kunden steht – im Gegensatz zum Massenmarketing – eine individuelle Kundenansprache im Vordergrund des Konzeptes. Damit ist der Ansatz vergleichbar mit dem „Tante Emma Prinzip“ – also dem Mitte des letzten Jahrhunderts in Deutschland populären Geschäftsmodell, bei dem jeder Kunde persönlich begrüßt wurde und die Verkäuferin die speziellen Vorlieben des Kunden kannte.76 Um diesen Zustand in der heutigen, von einer Kontaktvielzahl geprägten Geschäftswelt, wieder zu erreichen, bedarf es eines umfassenden Data-Minings, worunter „...der Prozess des Entdeckens, Überprüfens oder Quantifizierens von Zusammenhängen und daraus ableitbarer Informationen in großen Datenbeständen“77 verstanden wird. Grundlage dafür bildet eine systematische Erfassung aller Bestands- und Kontaktinformationen im Sinne einer lückenlosen Kontakthistorie über alle Kontaktpunkte im Multi Channel-Vertrieb. Die freie Auswahl der Kontaktpunkte zu seiner Bank, wie auch die integrative Verknüpfung aller Kontaktpunkte über den Kaufprozess bedeuten für den Kunden eine Vereinfachung und erhöhen damit seine Convenience. Die Umsetzung eines One-to-One Marketing erlaubt darüber hinaus eine an den Vorlieben des Kunden ausgerichtete, persönlich Kommunikation. Aufgrund jeder dieser Maßnahmen ist der integrierte Multi Channel-Vertrieb geeignet, die Kundenzufriedenheit und damit die Kundenloyalität zu steigern. Der gezielte Einsatz dieser Maßnahmen zur Kundenbindung erfolgt häufig im Rahmen einer CRM-Strategie.
2.4
Customer Relationship Management (CRM)
Der Begriff Customer Relationship Management umfasst einen kundenorientierten, übergreifenden Management-Ansatz auf Grundlagen informationstechnischer Systeme. Es gilt die Kundeninformationen an allen Kontaktpunkten systematisch zu erfassen, aufzubereiten und 76 Vgl. Reichardt, C. (2000), S. 129 ff. 77 Elsner, R. (2003), S. 86.
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
83
für den Aufbau und die Pflege individualisierter und langfristig profitabler Kundenbeziehungen zu nutzen.78 Alle Geschäftsprozesse einer Bank werden damit konsequent auf den Bedarf des Kunden ausgerichtet. Die daraus resultierenden Ziele des CRM können als langfristige Steigerung des Unternehmenswerts durch eine Steigerung des Kundenwertes über die gesamte Dauer der Kundenbeziehung verstanden werden. Die dauerhafte Kundenbindung unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit steht dabei im Mittelpunkt dieses Ansatzes. Der Erfolg des CRM Ansatzes kann – wie bereits dargestellt – über die Ermittlung des Kundenwerts gemessen werden. Für die Abbildung der Kundenbeziehung im Zeitverlauf bietet sich ein Kundenlebenszyklus Modell an. Wie z.B. auch der Produktlebenszyklus berücksichtigt der Kundenlebenszyklus verschiedene Phasen im Zeitablauf einer Geschäftsbeziehung. Von der Erstakquisition über die Penetrationsphase und die Reifephase erfasst der Zyklus die gesamte Kundenbeziehung bis zur Trennung. In jeder einzelnen Phase wird Kundenwert ermittelt und abgetragen. So lässt z.B. sehr gut erkennen, ab wann eine Kundenbeziehung in eine Reifephase übergeht, die Deckungsbeiträge der Kundenbeziehung also abnehmen. Ein guter Kundenberater wird in dieser Phase versuchen, über individuelle Maßnahmen einen Relaunch der Kundenbeziehung zu erreichen, um die Investition in die Kundenbeziehung langfristig zu sichern. Die Erreichung der CRM Ziele bedingt einen permanenten, bewussten Kontakt mit den ertragreichen Kunden über alle Kontaktpunkte, was wiederum eine verstärkte Konzentration auf den integrierten Multi Channel-Vertrieb erfordert.79 In diesem Verständnis kann CRM als übergreifende Philosophie verstanden werden, die im integrierten Multi Channel-Vertrieb des Retail Banking aufgrund der multiplen Kontaktpunkte eine zentrale technologische Unterstützung erfordert. Der Technologieeinsatz muss dabei als notwendige, aber keinesfalls als hinreichende Bedingung für den Erfolg von CRM gewertet werden.80 CRM integriert somit die vorgenannten Überlegungen zur Kundenzufriedenheit und Kundenbindung und hat im engen Zusammenspiel mit dem Multi Channel-Vertrieb das Potenzial für einen übergreifenden Ansatz zur Steigerung der Rentabilität im Retail Banking. Trotz dieses in sich plausiblen Ansatzes hat CRM sein Potenzial bis heute noch nicht nachhaltig bewiesen. Unterschiedliche Quellen weisen darauf hin, dass ca. 30-60 % aller Realisierungsprojekte scheitern.81 Auch die vermeintlich erfolgreichen Projekte konnten einen langfristigen positiven Kundenwert bislang nur in den seltensten Fällen nachweisen. So sind die beteiligten Unternehmensvertreter bei ca. 60-80% der CRM-Projekte mit dem Ergebnis unzufrieden.82 Als positives Beispiel für den Aufbau und die Pflege von Kundenbeziehungen über das Internet wird dagegen häufig der erfolgreiche Internet-Buchhändler Amazon.com angeführt. Im Unterschied zu dem hier dargestellten CRM-Ansatz konzentriert sich Amazon.com 78 Vgl. Böing, C., Jullens, J., Schrader, F.M. (2003), S. 38. 79 Vgl. Schögel, M., Sauer, A., (2002a), S. 26. 80 Vgl. Böing, C., Jullens, J., Schrader, F.M. (2003), S. 38. 81 Im internationalen Umfeld schätzt z.B. die Meta-Group, dass immerhin 55-70% der CRM Projekte Ihre
Ziele verfehlen. Vgl. z.B. Doshi, V., Verity, R., No-Frills CRM, strategy + business, Fall 2004, http://www.strategy-business.com/press/article/04311?pg=0. 82 Vgl. Böing, C., Jullens, J., Schrader, F.M. (2003), op.cit., S. 46.
84
Motive, Ziele und Risiken des Multi Channel-Vertriebs
jedoch auf einen reinen Internet Vertrieb, so dass dieses Beispiel nicht unmittelbar auf das Umfeld eines Multi Channel-Ansatzes übertragbar ist. Eine ganz entscheidende praktische Schwierigkeit bei der Einführung von CRM Systemen liegt in den hohen Prozess- und IT-Kosten. Oftmals wurden in der Vergangenheit gerade CRM-Projekte rein unter IT Gesichtspunkten betrachtet. Eine unzureichende Sichtweise, wie die Summe der fehlgeschlagenen Projekte bestätigt. Zudem stellt die ganzheitliche Verankerung von CRM in der Unternehmensphilosophie eine nicht unerhebliche Herausforderung dar. Oftmals scheitert dieser Antritt bereits an dem mangelnden Commitment zwischen der Unternehmensleitung und dem involvierten Management bzw. den Mitarbeitern. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, das die Umsetzung eines übergreifenden Customer Relationship Managements aufgrund der weitreichenden Auswirkungen auf die Unternehmenskultur sowie die gesamte Aufbau- und Ablauforganisation sehr komplex und kostenintensiv ist und von der gesamten Bank – zumindest aber von dem betroffenen Geschäftsfeld – adaptiert werden muss. Zudem sei darauf hingewiesen, dass ein integrierter Multi ChannelVertrieb aufgrund der kanalübergreifenden Informationsvernetzung zwar als eine unmittelbare Voraussetzung für einen CRM Ansatz gesehen werden muss, dieses aber nicht zwangsläufig auch umgekehrt gilt. CRM wird von uns daher als sinnvoller, aber nicht notwendiger Ansatz zur strategischen Positionierung der Vertriebskanäle betrachtet. Zwar scheint CRM nach den bisherigen Ausführungen geeignet, die Wirtschaftlichkeit im Retail Banking zu erhöhen, jedoch bedarf es einer genauen Prüfung, wieweit dieses Ziel nicht auch durch einen weniger umfassenden und damit weniger riskanten Ansatz erreicht werden kann.
3.
Motive, Ziele und Risiken des Multi ChannelVertriebs
3.1
Entscheidende Motive und Ziele
Da die Ausgestaltung einer Multi Channel-Strategie durch jedes Bankinstitut individuell geplant und umgesetzt wird,ȱfällt eine verallgemeinernde Betrachtung der zugrunde liegenden Ziele und Motive schwer. Dennoch ist es für die strategische Planung ungemein hilfreich, die am häufigsten genannten Argumente für den Multi Channel-Vertrieb zu kennen. Die folgenden Motive sehen wir als entscheidende Triebfeder für ein strategisches Engagement im Multi Channel-Management: Die Integration neuer Absatzkanäle erhöht die Zahl der möglichen Kontaktpunkte zum Kunden und verbessert damit die Möglichkeiten Neu-, Bestands- und ehemalige Kunden
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
85
auf das eigene Angebot aufmerksam zu machen. Damit bietet der Multi Channel-Vertrieb die grundlegende Basis, um neue Kundensegmente zu erschließen und die vorhandene Kundenbasis besser auszuschöpfen. Der Zugang zum Bankgeschäft über unterschiedliche Kanäle ist für den Kunden ein besonders bequemer Service und erlaubt ihm eine höhere Selbstbestimmung im Falle der freien Kanalwahl. Ein Multi Channel-Angebot entspricht damit zentralen Anforderungen der Kunden an das Bankgeschäft und ist schon heute ein unverzichtbarer Bestandteil in der Differenzierung zum Wettbewerb. Die prognostizierte Multi-Kanal Quote von 60-80 % bestätigt die weiter wachsende Bedeutung alternativer Zugangswege für die Kundenzufriedenheit und Kundenbindung bei Universalbanken. Der Multi Channel-Vertrieb in dem hier dargelegten Verständnis erlaubt eine äußerst gezielte Kundenansprache durch die integrative Betrachtung der Kundenkontakte auf allen Kanälen. Damit bietet der Multi Channel-Vertrieb eine entscheidende Grundlage für ein One-to-One Marketing und -Vertrieb. Synergien und Kosteneinsparungen lassen sich über eine gezielte Substitution kostenintensiver Vertriebswege durch kostengünstigere Alternativen erzielen. Wie bereits ausführlich dargestellt, gilt Deutschland noch immer als „Overbranched“. Insbesondere Kosteneinsparungen im stationären Vertrieb stehen damit im Fokus der Banken. Zudem erlauben speziell die elektronischen Vertriebswege weitergehende Kosteneinsparungen durch die Vermeidung von Medienbrüchen und damit die effizientere Gestaltung der Bankprozesse. Die hier dargestellten Motive lassen sich in den Zieldimensionen eines steigenden Umsatzes (ggf. bezogen auf den Kundenwert) sowie einer Kostenreduktion zusammenfassen. Hinzu kommt als weitere Zieldimension die Kundenbindung, die jedoch als ein Unterziel zur Erreichung der Umsatz und Kostenziele gesehen werden soll.ȱ Die beschriebenen Zieldimensionen des Multi Channel-Vertriebs entsprechen den im „magischen Dreieck“ dargestellten Zielen im Bankvertrieb. Der Multi Channel-Vertrieb stellt damit eine geeignete Maßnahme dar, um diese grundlegenden Ziele zu erreichen. Letztlich bildet der Multi Channel-Vertrieb damit für Universalbanken eine Plattform, um auf die veränderten Marktbedingungen aktiv zu reagieren, die Rentabilität des Retail Banking zu erhöhen und angestammte Geschäftsfelder zu verteidigen. Dem gegenüber stehen jedoch nicht unbedeutende Risiken.
3.2
Risiken des Multi Channel-Vertriebs
Zunächst einmal sind hier die in Teil I bereits beschriebenen, durch den Einsatz moderner Technologien begründeten Risiken zu nennen. Insbesondere die Gefahr einer sinkenden Kundenbindung durch einen unpersönlichen elektronischen Vertrieb haben wir bereits ausführlich beschrieben. Dieses Risiko wird insbesondere dann zu einer ernsten Gefahr für die Kunden-
86
Motive, Ziele und Risiken des Multi Channel-Vertriebs
bindung, wenn die Bedeutung der elektronischen Vertriebswege, wie zu erwarten, weiter ansteigt. Als weiteres Risiko müssen mögliche Konflikte zwischen den Kanälen betrachtet werden. Diese drohen immer dann aufzutreten, wenn mehrere Absatzkanäle um dieselbe Kundengruppe mit einem nahezu identischen Leistungsangebot konkurrieren. Verschärft wird das Risiko in dem Moment, wo zwischen den Kanälen eine Preisdifferenzierung stattfindet. Auch wenn dieses Risiko aufgrund der direkten Kontrolle aller Kanäle im Retail Banking nicht das gleiche Ausmaß wie z.B. im Einzelhandel erreicht, birgt ein „ungesunder Wettbewerb“ zwischen den Kanälen ein erhöhtes Risiko für Verteilungskonflikte. Die i.d.R. anzutreffende einheitliche Markierung aller Absatzkanäle stellt insofern eine Gefahr dar, als Kunden möglicherweise schlechte Erfahrungen auf das gesamte Unternehmen übertragen. Dieses Risiko besteht z.B. akut im Rahmen einer kriminellen Phishing- oder Skimming-Attacke gegen einen Kunden. In beiden Fällen werden die Kontodaten des Kunden missbräuchlich ausgespäht und damit eine Kontoverfügung durchgeführt. Betroffen sind durch Phishing vor allem die Online Vertriebskanäle einer Bank, während beim Skimming Angriff die Daten der Bankkarte am Geldautomaten ausspäht werden. Die Online- und SBVertriebswege der Banken bergen damit zur Zeit ein deutlich erhöhtes Risiko für negative Erfahrungen des Kunden. Dieses Risiko hat allerdings zwei Seiten, da im umgekehrten Fall einer positiven Erfahrung – wie z.B. bei einem durch die Bank erfolgreich vereitelten Phishing-Angriff im Internet – gleichermaßen davon ausgegangen werden kann, dass der Kunde auch diese Erfahrung auf seine Bank überträgt. Ein enges Qualitätsmanagement wird damit zum wesentlichen Bestandteil des Multi Channel-Bankings. Ein weiteres Risiko für den Multi Channel-Vertrieb ergibt sich aus der steigenden Komplexität innerhalb der Absatzkanäle und zwischen den Absatzkanälen. Hieraus droht ein höherer Aufwand für die Koordination der einzelnen Kanäle welcher sich letztendlich in steigenden Komplexitätskosten niederschlägt.83 Insbesondere die über Jahre gewachsene IT-Infrastruktur hat in vielen Banken zwischenzeitlich einen Umfang erreicht, der den notwendigen Überblick erschwert. Die Vernetzung und die Abhängigkeiten zwischen den einzelnen IT-Komponenten und Bereichen sind nur noch mit einem erheblichen Kontrollaufwand zu erfassen und zu steuern. Die mit steigender Anzahl der Vertriebskanäle wachsende Komplexität erschwert zudem eine einheitliche Steuerung des Multi Channel-Vertriebs. Im Hinblick auf die vielfach unterstellten Kosteneinsparungen aufgrund der Penetration kostengünstigerer Vertriebskanäle, warnt Büschgen nicht zu unrecht davor, dass Mehrkanalkonzepte die Ertragslage auch belasten können. Der Aufbau paralleler Vertriebswege führt zunächst zu steigenden Vertriebs- und IT-Kosten.84 Erst mittel- und langfristig können Kunden aus kostenintensiven Kanälen durch eine gezielte Lenkung in kostengünstige Kanäle überführt werden. Dass dies generell keine unlösbare Aufgabe ist, beweist die im Laufe der Jahre gestiegene Nutzung der GAA´s und KAD´s im SB-Banking. Auf der anderen Seite 83 Vgl. Benkenstein, M. (2001), S. 188. 84 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A. (2002), S. 236.
Der Multi Channel-Vertrieb als strategische Herausforderung
87
zeigen die bisherigen Ergebnisse unseres Buches, dass dies für den Multi Channel-Vertrieb bislang noch nicht ausreichend gelungen ist. Es lässt sich festhalten, dass der Multi Channel-Vertrieb ein hohes Potenzial besitzt, um die wesentlichen Herausforderungen des Retail Banking zu bewältigen. Die konsequente Fokussierung auf die Bedürfnisse des Kunden ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Jedoch bedarf es eines professionellen Multi Channel-Managements, um die potenziellen Risiken zu beherrschen.
4.
Die Vertriebswege als strategischer Ansatzpunkt im Retail Banking
Für den zukünftigen Erfolg der Retail Banken wird nach McCormick und Rose die Effizienz der Vertriebskanäle eine entscheidende Rolle spielen.85 Ein erfolgreiches Multi ChannelBanking ist – wie auch unsere bisherigen Ausführungen bestätigen – ein wesentlicher Eckpfeiler für den Vertriebserfolg im Retail Banking. Die Gestaltung der Vertriebswege wird für das Retail Banking eine zunehmend zentralere Herausforderung. In diesem Sinne darf der Multi Channel-Vertrieb nicht als ein kurz bis mittelfristiger Trend verstanden werden, sondern repräsentiert die zukünftig dominierende Vertriebsform für Bankdienstleistungen. Jedoch existieren bislang nur fragmentartige, vielfach aus der Praxis resultierende Empfehlungen zur strategischen Positionierung der Vertriebswege im Sinne eines integrierten Multi Channel-Vertriebs. Ein übergreifendes Gesamtbild lässt sich – wenn überhaupt – nur in der existierenden CRM Philosophie finden. Dieses zu entwickeln ist aber dringend notwendig, um die vorgenannten Risiken effizient zu managen und einen optimalen Vertriebserfolg über alle angebotenen Kanäle zu erreichen. Letztlich bleibt es Aufgabe jedes einzelnen Bankinstituts bzw. des Geschäftsfelds Retail Banking eine individuelle und am eigenen Marktumfeld ausgerichtete Strategie für die Positionierung der Vertriebswege zu entwickeln. Diese muss sowohl dem Bedarf des Kunden auf eine universelle Verfügbarkeit der Finanzdienstleistungen entsprechen, gleichzeitig aber klaren Kosten-, Effizienz-, und Erlösgesichtspunkten gegenübergestellt werden. Damit muss eine Strategie zur Positionierung der Vertriebswege vor allem auch die Frage beantworten, auf welchem Weg welcher Kunde welches Produkt angeboten bekommt. Die in vorangegangenen Kapiteln erarbeiteten Erkenntnisse zum Retail Banking, dem strategischen Marketing und dem Multi Channel-Vertrieb bei Banken spiegeln zum einen den gegenwärtigen Kenntnisstand in diesen Bereichen wieder, auf der anderen Seite sollen sie als "Bausteine" verstanden werden, die wir im Weiteren zu einem ganzheitlichen Strategie- und Managementansatz zusammenfügen werden. 85 Vgl. McCormick, James M., Rose (1994), S. 5 f.
88
Die Vertriebswege als strategischer Ansatzpunkt im Retail Banking
Auffällig ist, dass eine Einordnung des Multi Channel-Vertriebs in den beschriebenen Prozess der marktorientierten Strategiefindung bei vielen Banken noch nicht offensichtlich erfolgt ist. Die Verknüpfung beider Bereiche ist aus unserer Sicht aber die entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche Positionierung der Vertriebswege. Im Rahmen der in Teil fünf und sechs beschriebenen Strategieentwicklung wird diesem Aspekt daher eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Speziell in diesen beiden Kapiteln legen wir unseren Schwerpunkt auf die dem Multi Channel-Management vor gelagerte strategische Positionierung der Vertriebskanäle. Neue wissenschaftliche Methoden werden zur Planung des Strategieprozesses aufgegriffen und verständlich auf unsere Themenstellung übertragen. Wo möglich, stellen wir neue, praktisch anwendbare Instrumente zur strategischen Positionierung der Vertriebskanäle vor. Im Teil 7 ergänzen wir den strategischen Teil um handfeste Empfehlungen für ein operatives Multi Channel-Management. Eine besondere Berücksichtigung im Rahmen der Strategieentwicklung und dem Multi Channel-Management nimmt der Umgang mit Dynamik und Komplexität ein, der sich wie ein „roter Faden“ durch unsere bisherigen Ausführungen zieht. Neben dem Nachweis der hohen Relevanz von Dynamik und Komplexität für das Retail Banking im Generellen, gilt dieses auch für den Multi Channel-Vertrieb im Speziellen. Das Wesen von Dynamik und Komplexität wird daher im folgenden Kapitel als eine wesentliche Nebenbedingung eines erfolgreichen Multi Channel-Vertriebs ausführlich beschrieben.
Teil IV Die Komplexitätstheorie als Leitlinie für die Strategieentwicklung in Banken
Dynamik und Komplexität als grundlegende Fragen der Ökonomie
„Zu komplex um klug zu sein.“ Prof. F. Partnoy, Univ. St. Diego, zum System der europäischen Universalbanken.
Die Forschungen zur Bedeutung von Dynamik und Komplexität in einer zunehmend vernetzten Welt werden immer populärer. Spätestens, seit dem Kinoerfolg von Steven Spielbergs „Jurassic Park“ ist die Chaostheorie für viele ein – zumindest vager – Begriff. Seit den neunziger Jahren gehen immer mehr Wissenschaftler dazu über, die vorwiegend in den Naturwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse dynamischer Theorieansätze vorsichtig aber mit zunehmendem Selbstbewusstsein auch auf ökonomische Zusammenhänge zu übertragen. Insbesondere für die strategische Unternehmensführung haben die Forschungsergebnisse aus System-, Chaos- und Komplexitätstheorie eine entscheidende Bedeutung gewonnen. Im angelsächsischen Raum werden die theoretischen und praktischen Auswirkungen eines dynamischen Ökonomieverständnisses bereits seit einigen Jahren sehr aktiv untersucht. Eine führende Rolle hat hierbei das Santa Fe Institut übernommen, zu deren Gründungssponsoren in den achtziger Jahren z.B. auch die Citibank zählte. Bekannte Forschungsgebiete sind in diesem Umfeld z.B. die Suche nach geeigneten Wettbewerbsstrategien oder Organisationsformen in komplexen, dynamischen Systemen, bzw. die Frage nach neuen Wegen zur Implementierung von Wettbewerbsstrategien im Unternehmen. Dabei ist gerade in der Organisationsforschung ein Trend von harten, quantitativen zu weichen, qualitativen Faktoren erkennbar. Vielen Managern in den Banketagen ist dieses Vorgehen heute allerdings noch fremd. Aus diesem Grund ist zunächst eine stärkere „Bejahung“ von Dynamik und Komplexität wesentlich, um der in der Unternehmenspraxis verbreiteten Falle der Vereinfachung zu entgehen. Diese setzt sich aus dem Zusammenspiel dreier Leitvorstellungen zusammen: Die Einfachheit zeigt sich z.B. im weit verbreiteten Glauben, die Funktionsweise von Märkten wäre – wie u. a. bei der Preis-Absatz Funktion – durch das Zusammenspiel weniger isolierter Parameter zu erklären. Linearität beschreibt z.B. den Versuch, komplexe Wirkungszusammenhänge durch eine simple Fortschreibung der Vergangenheit abzubilden.
92
Dynamik und Komplexität als grundlegende Fragen der Ökonomie
Eine Zeitinvarianz bestätigt sich z.B. in dem Glauben, einmal ermittelte Gesetze würden immer gelten.86 Noch treffender fasst Reibenstein die Bedeutung der Erforschung komplexer Systeme für das Management in Unternehmen zusammen: „Noch nie waren diese Einsichten so dringend notwendig wie heute. Da das Wettbewerbsumfeld zunehmend dynamischer wird, brauchen Manager neue Perspektiven und ein scharf umrissenes Verständnis der wahren Natur des Wettbewerbs. Sie müssen in der Lage sein, die Wechselwirkungen zwischen dem Unternehmen, dem Wettbewerber und dem Gesamtumfeld zu verstehen. Aufgrund der rascheren Wettbewerbsexpansion müssen sie ihre Vision entwickeln und ihre Perzeption verstärken.“87 Die Aussagekraft klassischer ökonomischer Ansätze zur Erklärung von Marktmechanismen, Unternehmensführung oder Strategiebildung wird unter dem steigenden Druck immer schnellerer und komplexerer Märkte zunehmend in Frage gestellt. Managementmethoden, die in Zeiten klarer Marktverhältnisse und prognostizierbarer Kundenreaktionen sehr gut funktioniert haben, verlieren unter den heutigen veränderten Rahmenbedingungen einen wichtigen Teil ihrer Aussagekraft. Entsprechend gilt es für Theorie und Praxis neue Methoden zu finden, um sich den veränderten Umweltbedingungen zu stellen. Wie uns schon die Evolution millionenfach gezeigt hat, bedeuten veränderte Rahmenbedingungen für den betroffenen Organismus immer wieder auch neue Chancen und Risiken. Die Banken sehen sich seit einigen Jahren mit einer radikal veränderten Umwelt konfrontiert. Sieger werden diejenigen sein, welche die neuen Rahmenbedingungen am schnellsten erfassen und sich am besten hieran anpassen. Um hierbei eine Spitzenposition zu ergattern, ist es notwendig, zunächst ein generelles Verständnis von der Natur komplexer Systeme zu erhalten – oder wie Reibenstein formuliert, die wahre Natur des Wettbewerbs zu erkennen. Unsere folgenden Ausführungen zur Komplexitätstheorie bieten einen ersten Einblick in das generelle Verhalten komplexer adaptiver Systeme. Dieser Teil mag zu Beginn etwas abstrakt und zum Teil ohne konkreten Bezug zum Bankgeschäft erscheinen. Aber gerade diese generellen Ansätze der Komplexitätstheorie sind für das Verständnis dynamischer Systeme wichtig. Mit zunehmendem Voranschreiten des Kapitels wird der Bezug zur aktuellen Marktsituation im Retail Banking immer klarer und die Bedeutung der Komplexitätstheorie für die Strategieentwicklung immer konkreter.
86 Vgl. Wiedmann, K.P. (2003), S. 247. 87 Day, S., Reibenstein, D. (1998), S. 11.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
1.
Das Wesen der Komplexitätstheorie
1.1
Einordnung in die wissenschaftliche Forschung
Die Komplexitätstheorie beschäftigt sich in ihrem Kern mit der Suche nach ordnungsbildenden Kräften in nicht linearen Systemen. Das heutige Weltbild ist durch die Theorien von Isaac Newton (1642 – 1727) und Gottfried W. Leibniz (1646 – 1716) geprägt. Newton erkannte, dass die Gravitation die einzig ordnende Kraft unseres Planetensystems ist und begründete daraus den Anspruch des mechanistischen Weltbildes.ȱ Damit verbunden ist noch heute der weit verbreitete Glaube an eine analytische, rein formale Berechenbarkeit und damit Beherrschbarkeit der Welt. Dieses Weltbild beeinflusste über die Makro- und Mikroökonomie auch massiv die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften und Managementlehre.88 Managementtheorien werden seit jeher von den Problemen der Praxis und dem vorherrschenden Zeitgeist dominiert. Allerdings lassen sich die Wurzeln der modernen Managementtheorien noch auf das Maschinenzeitalter des neunzehnten Jahrhunderts zurückführen. Frederick Winslow Taylor (1856-1917), ein amerikanischer Erfinder und Ingenieur, legte mit der Definition der so genannten „wissenschaftlichen Betriebsführung“ einen entscheidenden Grundstein für die heutigen Managementlehren und damit auch für die Managementpraxis. Den Anforderungen des Maschinenzeitalters entsprechend, basierte sein Ansatz auf der Analyse und Beschreibung des Vorgehens, wie eine Aufgabe genau zu verrichten ist. Der nach ihm benannte Taylorismus, der sicher sehr gut in die Rahmenbedingungen der Industrialisierung passte, herrscht als Leitbild noch immer in vielen Managementetagen vor. Die Realität beweist jedoch ständig, dass die Welt sich nicht in das enge Korsett des Reduktionismus zwängen lässt. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele:
88 Vgl. Servatius, H. G. (2004), S. 39.
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Das Wesen der Komplexitätstheorie
Der andauernde Wettlauf zwischen dem medizinischen Fortschritt und der enormen Anpassungsfähigkeit der Viren zeigt besonders anschaulich die Schwierigkeit, komplexe Systeme zu verstehen oder sogar zu beherrschen. Gleiches beweist der nahezu aussichtslose Kampf der Softwareindustrie gegen Hacker und Raubkopierer im Internet. Kaum wurde eine neue Sicherheitstechnologie entwickelt, findet die Community im World Wide Web neue Lücken, um diese zu umgehen. Dies alles passiert häufig ohne eine zentrale Steuerung und selbstorganisiert. Die Chaostheorie, die vielfach als ein Vorläufer der Komplexitätstheorie gesehen wird, erkannte bereits die Bedeutung dynamischer, nicht linearer Systeme. In unserer Umwelt sind diese Systeme sehr häufig anzutreffenden. Der Unterschied zwischen einer linearen und nicht linearen Herangehensweise lässt sich sehr gut am Beispiel des Straßenverkehrs verdeutlichen.
Unterschied zwischen linearer und nicht linearer Betrachtungsweise Eine Dienstreise von Frankfurt nach München steht an. Der Termin in München beginnt um 10:00 Uhr, Sie verfügen über ein zuverlässiges und schnelles Auto – wann würden Sie losfahren? Linear betrachtet wird die Prognose so aussehen, dass der Pkw in der Spitze 180 km/h fährt. Eine bequeme Reisegeschwindigkeit wäre 130 km/h und erfahrungsgemäß ist auch bei hohem Verkehrsaufkommen ein Durchschnittstempo von 100 km/h möglich. Bei einer Distanz von 400 km wird der Fahrer die Strecke also bequem in vier Stunden bewältigen können und seine Fahrt um 6:00 Uhr morgens antreten. Leider verläuft der Verkehrsfluss in den meisten Fällen aber nicht linear. Eine kleine Baustelle, ein Verkehrsunfall oder der besonders dichte Berufsverkehr innerhalb der Städte macht eine so vereinfachte Planung schnell zur Makulatur. In der Praxis hören wir daher gerade bei wichtigen Terminen häufig auf unser nicht lineares Bauchgefühl und fahren lieber eine halbe Stunde früher los.
Dieses einfache Beispiel veranschaulicht zwei Punkte sehr deutlich. Erstens sind nicht linear messbare Wirkungszusammenhänge eher die Regel als die Ausnahme und zweitens basieren viele der heute verbreiteten Lösungsansätze auf linear berechenbaren Verhaltensmustern. Lediglich unsere Erfahrungen sagen uns, wieweit wir diesen Berechnungen trauen können und ab wann wir korrigieren müssen. Chaos- und Komplexitätstheorie versuchen genau diesen komplexen und nicht linear prognostizierbaren Systemen auf den Grund zu gehen. Dabei haben die Forschungen bereits beachtliche Erkenntnisse zutage gebracht. So haben die Chaostheoretiker bewiesen, dass in nicht linearen Systemen bereits marginale Abweichungen in den Anfangsbedingungen zu großen Veränderungen in den Endzuständen führen können. Die berühmteste Metapher hierfür ist der von dem Meteorologen Lorenz 1972 beschriebene Schmetterlingseffekt: „Does the
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
95
flap of a butterfly´s wings in Brazil set off a tornado in Texas?“89 Die minimale Veränderung einer Ausgangssituation kann in einem nicht linearen System zu maximalen Auswirkungen führen. So wie sinnbildlich der Flügelschlag eines Schmetterlings zu einem Tornado führen kann, so kann die unbedachte Aussage eines Mitarbeiters oder eine fehlerhaft adressierte Email mit sensiblem Inhalt ein lange vorbereitetes Geschäft kurz vor dem Abschluss platzen lassen. Umgekehrt können jedoch in nicht linearen Systemen auch große Veränderungen absolut geringfügige Auswirkungen haben. Dieser Fall lässt sich z.B. an einem politischen Brennpunkt verdeutlichen, wo die Verdoppelung der Sicherheitskräfte ohne spürbare Auswirkungen auf die politische Stabilität bleibt. Der Begriff „Chaos“ im Verständnis der Chaostheorie steht dabei für den Zustand in einem dynamischen System, in dem das Systemverhalten absolut nicht vorhersagbar ist. Die Komplexitätstheorie setzt nun auf den Erkenntnissen der Chaostheorie auf und entwickelt sie weiter. Kauffman, einer der Begründer der Komplexitätstheorie, grenzt die klassische Naturwissenschaft wie folgt von der Wissenschaft komplexer adaptiver Systeme ab: „Die Naturwissenschaft ging seit ihrer Begründung vor etwa dreihundert Jahren weitgehend reduktionistisch vor, indem sie versuchte, komplexe Systeme in einfache Teile und diese einfachen Teile in noch einfachere Teile zu zerlegen. Die reduktionistische Methode war unglaublich erfolgreich und wird es auch weiterhin sein. Aber sie hat vielfach ein Vakuum hinterlassen: Wie lassen sich die Erkenntnisse, die wir über einzelne Teile gewonnen haben, zu einer Theorie des Ganzen zusammenfügen?“90 Mit dieser Frage beschreibt Kauffman eine wesentliche Ergänzung zur klassischen Naturwissenschaft und macht gleichzeitig den Anspruch der jungen Theorie deutlich. Die interdisziplinäre und übergreifende Komplexitätstheorie beschäftigt sich mit den elementaren Kräften der Ordnung. Sie versucht in abstrakten Modellen die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten in Systemen zu erforschen, wobei die Forscher alle wesentlichen Wissenschaftsrichtungen betrachten: Chemie, Physik, Biologie, Psychologie, Wirtschaftswissenschaft, Linguistik, Soziologie – unterschiedlichste Disziplinen werden zu einem übergreifenden theoretischen Rahmen zusammengefasst. Damit verbunden ist der Anspruch der Komplexitätstheorie, ein fundamentales und allgemeingültiges Interpretations-, Analyse und Problemlösungsmuster für komplexe adaptive Systemen bereitzustellen. Daraus ist ein neuartiger Ansatz entstanden, der die Funktionsweise komplexer Systeme dort erklärt wo sie existieren. Es werden keine Unterschiede gemacht, ob es sich dabei um ein soziales, biologisches oder physikalisches System handelt. Die Komplexitätstheorie sucht und findet universelle Gesetzmäßigkeiten, die gleichermaßen für die Entwicklung eines Bakteriums, einer sozialen Gemeinschaft oder eines Finanzmarktes Gültigkeit besitzen.
89 Viele Hintergründe zur Chaos Theorie lassen sich im Internet nachlesen. So finden sich z.B. zum Butterfly
Effekt Informationen unter http://www.cmp.caltech.edu/~mcc/chaos_new/Lorenz.html. 90 Kauffman, S. (1996), S. 9 f.
96
Das Wesen der Komplexitätstheorie
Seit ihrem Bestehen erhält die wirtschaftswissenschaftliche Forschung immer wieder Anregungen aus den Naturwissenschaften. Die Komplexitätstheorie reiht sich hier mit ihren neuen Erkenntnissen nahtlos ein und repräsentiert den vorläufig aktuellsten Wissensstand im Hinblick auf dynamische Systemansätze. Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung der Komplexitätstheorie aus den verschiedenen dynamischen Forschungsrichtungen im Verlaufe der letzten Jahrhunderte.
Quelle: Servatius, H.G. (2004), S. 41. Abbildung 24: Die Komplexitätstheorie im Kontext von Evolutions- und Systemtheorie. Zudem integriert die Komplexitätstheorie unterschiedliche Wissenschaftsrichtungen wobei insbesondere Evolutions- und Chaostheorie eine wesentliche Grundlage der Erforschung komplexer adaptiver Systeme bilden.
1.2
Forschungsmethoden und Erkenntnisse der Komplexitätstheorie
Die Erforschung komplexer adaptiver Systeme konzentriert sich auf die Beobachtung und Nachbildung von Nichtgleichgewichtssystemen. Diese Systeme haben die Eigenschaft, dass
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
97
sie sich – im Gegensatz zu einer Theorie – nicht verkürzt darstellen lassen. Sie müssen daher also in ihrem kompletten Umfang erfasst und untersucht werden. Wie schwierig diese Aufgabe ist, zeigen die hohen Datenmengen, die zur Erforschung eines Sturms oder Gewitters aufgezeichnet werden müssen. Aufgrund dieser Anforderung wurde die Informationstechnologie automatisch zu einer wichtigen Stütze der Forschungsarbeit in komplexen adaptiven Systemen, denn die umfassende Betrachtung nicht komprimierbarer Systeme bedingt automatisch eine hohe Rechenkapazität. Kauffman´s grundlegende Experimente auf Basis „Boolscher Netzwerke“ in den 60´er Jahren bestätigten bereits, dass in komplexen, adaptiven Systemen selbststeuernde Kräfte wirken. Kauffman beschreibt dies als „Ordnung zum Nulltarif“.91 Das nach George Boole92 benannte Netzwerk durchlief eine Reihe verschiedener Zustände. In Kauffman´s Experimenten handelte es sich um ein computergesteuertes Netzwerk von Glühbirnen, von denen jede entweder an oder aus sein konnte. Theoretisch konnte das System dabei alle seine möglichen Zustände durchlaufen, bevor sich ein Zyklus wiederholte. Bei einem Experiment mit 100 Glühbirnen als binäre Variablen ergaben sich somit 2100 denkbare Zustände, eine praktisch unvorstellbare Zahl an Möglichkeiten. Anstatt – wie man eigentlich erwarten würde – in ein chaotisches Muster zu verfallen, trafen die Netzwerke sehr rasch auf sich ständig wiederholende Zustandsfolgen. Praktisch verfielen die Glühbirnen also immer wieder in stabile Ablauffolgen, es bildeten sich also wieder kehrende Muster. Kauffman war erstmals auf das Phänomen selbststeuernder Kräfte in chaotischen Systemen gestoßen.93 In weitergehenden Versuchen konnte er zudem herausfinden, dass die Stabilität in Netzwerken wesentlich von der Anzahl der Verbindungen zwischen den Elementen abhängt. Eine alternative Methode zur Erforschung komplexer adaptiver Systeme, welche die vorgenannten Erkenntnisse bestätigt aber gleichzeitig zu noch weitergehenden Ergebnissen kommt, ist die synthetische Schaffung alternativer Lebensformen im Computer. Die Grundform dieser Wissenschaft wird als „Artificial Life“ (AL) bezeichnet und von Langton wie folgt definiert: „Artificial Life is the study of man-made systems that exhibit behaviors characteristic of natural living systems.“94 Dabei sollte AL eher als ‚Biologie künstlicher Lebensformen’ anstatt als ‚künstliches Leben’ übersetzt werden. Es geht nicht um die Kreation künstlicher Wesen, wie der Ausdruck „künstliches Leben“ suggerieren mag. Stattdessen sollen grundlegende Lebensprinzipien untersucht werden. Wie auch bei Kauffman bestätigten sich im Rahmen der Versuche mit AL sehr schnell die im Weiteren noch genauer beschriebenen Grundprinzipien der Selbstorganisation und Emergenz. Ebenso stießen die Wissenschaftler über die verschiedenen Forschungsmethoden auf die Bedeutung von ‚Attraktoren’, ein mathematischer Ausdruck für Zustände, in denen sich ein System entsprechend seiner Eigenschaften irgendwann einpendelt. Über die Entwicklung des 91 Kauffman, S. (1996), S. 143. 92 George Boole (1815 – 1864), Der englische Mathematiker und Logiker war Urheber eines algebraischen
Verfahrens der mathematischen Logik, die als „Boolsche Zufallsnetzwerke“ bezeichnet werden. 93 Vgl. Lewin, R. (1996), S. 42. 94 Langton, C. G. (1989), S. 1.
98
Das Wesen der Komplexitätstheorie
speziellen Parameters ‚Lambda’ gelang es Langton zudem die verschiedenen Zustände in komplexen adaptiven Systemen sehr genau auszuloten. Er konnte damit den so genannten „Rand des Chaos“ genauer erforschen. Emergenz, das Vorhandensein von Attraktoren und der „Rand des Chaos“ stellen ebenso wie „Fitnesslandschaften“ wesentliche und für das heutige Management relevante Erkenntnisse der Komplexitätstheorie dar. Ihre generelle Bedeutung werden wir im Folgenden näher beschreiben und dabei insbesondere auf ihre Relevanz für das Retail Banking eingehen.
1.3
Die Relevanz der Komplexitätstheorie für das Retail Banking
1.3.1
Das Retail Banking als komplexes adaptives System
Ein komplexes adaptives System (KAS) ist das operative Modell der Komplexitätstheorie und bildet damit den Bezugspunkt jeder Aussage über besonders günstige Verhaltensweisen innerhalb dieser Systeme. Es stellt sich also die Frage, was genau verbirgt sich hinter dem Begriff eines KAS und kann das Retail Banking auch plausibel als ein solches System betrachtet werden? Für alle komplexen adaptiven Systemen ist die Dynamik eine bestimmende Eigenschaft. Hinzu kommen vernetzte Wechselwirkungen innerhalb des Systems. Die einzelnen Teilnehmer in einem komplexen System – häufig auch als Agenten bezeichnet – agieren jeweils nach ihren individuellen Regeln und Lernmustern. Bezogen auf das Retail Banking, zählen speziell die Lern- und die Anpassungsfähigkeit der eigenen Mitarbeiter, der Kunden und der Mitarbeiter der Wettbewerber zu den entscheidenden Erfolgsvoraussetzungen im Wettbewerb. Eine sehr umfassende Definition liefert Gell-Mann, der komplexe adaptive Systeme als Systeme definiert, die „...Informationen über ihre Umwelt und ihre eigene Wechselwirkung mit dieser Umwelt sammeln, Regelmäßigkeiten in diesen Informationen erkennen, die sie zu einem Schema oder Modell verdichten und in der realen Welt gemäß diesem Schema handeln. Es gibt jeweils mehrere konkurrierende Schemata, und die Folgen von Handlungen in der realen Welt wirken auf die Konkurrenz dieser Schemata zurück.“95 Der dieser Definition zugrunde liegende Ablauf des adaptiven Lernens aus den Erfahrungen der Vergangenheit wird in der folgenden Abbildung verdeutlicht.
95 Gell-Mann, M. (1994), S. 55.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
99
Folgen (reale Welt)
Beschreibung, Vorhersage, Verhalten (reale Welt)
Daten der Gegenwart
Selektive Wirkung auf die Beibehaltung des Schemas und auf die Konkurrenz zwischen den Schemata
Entfaltung
Abstraktes Schema, aus dem Vorhersagen abgeleitet werden können (eine von vielen konkurrierenden Varianten) Identifikation von Regelmäßigkeiten und Verdichtung Daten der Vergangenheit einschließlich Verhalten und seine Wirkungen
Quelle: Gell-Mann, M. (1994), S. 62. Abbildung 25: Die Funktionsweise eines komplexen adaptiven Systems. Was hat nun dieses sehr theoretische Modell mit den täglichen Herausforderungen im Retail Banking zu tun? Die Antwort ist eindeutig: Einfach Alles! Denn der simple, allen Organismen zugrunde liegende „genetische Code“ der adaptiven Entwicklung lässt sich auf nahezu alle biologischen und sozialen Systeme übertragen. Die hierdurch mögliche Veränderung des heutigen Betrachtungswinkels gestattet es, neue Parallelen zwischen Organisationen, Märkten, evolutionärer Entwicklungen im Tierreich oder gesellschaftlichen Entwicklungssprüngen zu ziehen. Die Komplexität eines jeden Systems entsteht aus dem Zusammenspiel vieler einzelner Agenten. So wie der Mensch als eines der komplexesten Gebilde dieses Planeten sich aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl einzelner Zellen zusammensetzt, deren einzelne Funktionen und Aufgaben in den Genen codiert sind, so setzt sich der Organismus Bank im Wesentlichen aus seinen Mitarbeitern zusammen, die durch Ziele, Strategie und das organisatorische Regelwerk in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Die heute sehr ausgeprägte Arbeitsteilung lässt uns Banker in vielen Bereichen den Blick für das Ganze verlieren. Da sind wir in bester Gesellschaft, denn die für unseren Fortschritt so wichtige Spezialisierung erstreckt sich über alle Branchen und schließt auch die Wissenschaft und das gesellschaftliche Zusammenleben mit ein. Wir sind es gewohnt, dass uns ein hoch
100
Das Wesen der Komplexitätstheorie
spezialisierter Arzt medizinisch berät und uns eine isolierte Lösung für unser gesundheitliches Problem liefert. Das dieses körperliche Problem unter Umständen im Zusammenhang mit einer psychischen Belastung steht oder lediglich Symptom einer anderen gesundheitlichen Störung ist, wird oft übersehen. Die ganzheitliche Betrachtung einer Problemstellung kommt in unserer Gesellschaft häufig zu kurz. Betrachten wir nun die Bank – oder besser den Geschäftsbereich Retail Banking – als ein komplexes adaptives System, ermöglicht uns dies völlig neue und realistischere Einblicke in die wahre Natur des betrachteten Bereichs. Die Definition eines statischen Soll Zustandes tritt in den Hintergrund, dafür rückt das dynamische Zusammenspiel der einzelnen Akteure im Umfeld der Stakeholder in den Vordergrund der Betrachtung. Wichtig sind bei dieser Betrachtung vor allem die weichen Faktoren und damit die so genannten Soft-Skills einer Person, eines Teams oder Bereichs. In den folgenden Kapiteln gehen wir nun näher auf die Frage ein, warum das Verständnis komplexer adaptiver Systeme so wichtig für den Erfolg im Retail Banking ist.
1.3.2
Wie wertvoll ist die Komplexitätstheorie für die strategischen Fragen im Retail Banking?
Neben der Frage, warum das Retail Banking ein komplexes adaptives System darstellt, ist die Frage zu beantworten, warum Erkenntnisse der Komplexitätstheorie für strategische Fragestellungen relevant sind. Hierfür muss auf der einen Seite betrachtet werden, wieweit eine Übertragung von Erkenntnissen der Komplexitätstheorie auf ökonomische Zusammenhänge generell möglich und sinnvoll ist und darüber hinaus geprüft werden, wieweit dies auch speziell für die strategischen Fragen des Multi Channel-Banking gilt. Nimmt man den Physiker Heinz Pagels beim Wort, so bedeutet die Kenntnis der Komplexitätstheorie einen immensen Wettbewerbsvorteil für soziale Systeme: „Ich bin davon überzeugt, dass die Nationen und Menschen, die die neue Komplexitätswissenschaft beherrschen werden, die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Wirtschaftsmächte des nächsten Jahrhunderts sein werden.“96 Sollte die bereits in den achtziger Jahren geäußerte Bedeutung der Komplexitätstheorie für soziale Systeme zutreffen, muss sie zwangsläufig für ökonomischen Prozesse eine ähnliche Bedeutung haben. Noch konkreter prognostiziert Kauffman den Einfluss der jungen Theorie auf die Wirtschaft: „Complexity theory promises to clarify the work not only of evolutionary biologists and physicists, but also of plant managers and economists. Over time, it will allow both the practitioners and the theoreticians of the business world to rewrite their playbooks.”97 Damit unterstreicht Kauffman den von ihm erwarteten außerordentlich hohen Einfluss der Komplexitätstheorie auf die Unternehmenspraxis.
96 Zitat von H. Pagels, in: Lewin, R. (1996), S. 22. 97 Zitat von S. Kauffman in: Berreby, D. (1998), Complexity Theory: Fact-free Science or Business Tool?, strategy + business, First Quarter 1998, http://www.strategy-business.com/press/article/9735?pg=all&tid =230, S. 1.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
101
Tatsächlich gerät die Ökonomie zunehmend in den Fokus der Komplexitätswissenschaftler. Nachdem sich die Wirtschaftswissenschaft fast über zwei Jahrhunderte mit Gleichgewichtsmodellen und statischen Mustern befasste, erscheint der dynamische Ansatz nun wie ein Quantensprung in der Betrachtungsweise und im Ergebnis. Dabei spielen in der Forschung häufig mathematische oder computergestützte Simulationen eine wichtige Rolle. So entwickeln die Wissenschaftler im Computer abgegrenzte ökonomische Systeme, in denen sich Agenten mit unterschiedlichen definierten Eigenschaften behaupten müssen. Häufig werden in diesen Modellen gerade spieltheoretische Verhaltensmuster ausprobiert. Die einzelnen Modellwelten laufen über eine definierte Anzahl von Perioden und am Ende zeigt sich, welche Verhaltensmuster von besonderem Erfolg gekrönt waren. Aktuelle Speerspitze dieser Forschungsrichtung bildet das Forschungsgebiet der „agend-based computational economics“ (ACE). Die auf computergestützten Simulationsmodellen basierende Forschungsrichtung ACE im Bereich der komplexen adaptiven Systeme, verwirft die fast allen mikroökonomischen Modellen zugrunde liegende Annahme der vollständige Rationalität des Konsumenten zugunsten eines suchtheoretischen, adaptiven Lernverhaltens des Individuums.98 Die hoch abstrakten Computermodelle der Komplexitätstheorie sind für die weitere Erforschung komplexer adaptiver Systeme unglaublich wichtig. Die bisherigen Erfolge bestätigen den eingeschlagenen Weg und zeigen eindrucksvoll, dass im Moment ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel im Gange ist, der einen Quantensprung in der Aussagekraft ökonomischer Modelle erlaubt. Für das praktische Management sind diese Modelle derzeit leider noch von untergeordneter Bedeutung. Die Simulation eines realen Bankbetriebs mit all seinen Facetten, organisatorischen und sozialen Netzwerken sowie den darin schlummernden informellen Strukturen ist mit dem heutigen Stand der Wissenschaft, aber auch mit der Leistungsfähigkeit moderner Computer bei weitem nicht darstellbar. Trotz aller Fortschritte bei der realitätsnahen Modulation der Agenten wird es vermutlich noch Jahre dauern, bis komplexitätstheoretische Modelle die Ebene eines sinnhaft-intentionalen menschlichen Handelns erreichen.99 Heißt das im Ergebnis nun, dass der Komplexitätstheorie jegliche Praxisrelevanz abgesprochen werden muss? Bei weitem nein! Die Forschungen in Boolschen Netzwerken, mathematischen Simulationen und Computermodellen haben viele generalisierbare Verhaltensmuster komplexer adaptiver Systeme an den Tag gebracht, die in der Summe einen aussagekräftigen Leitfaden für das praktische Management ergeben. Allerdings ist die Umsetzung der Erkenntnisse auf die Praxis nicht sehr einfach und gerade hier offenbarten sich in den vergangenen Jahren hohe Hürden: Der grundlegende, dynamische Ansatz von Chaos- und Komplexitätstheorie unterscheidet sich sehr deutlich von dem heutigen Managementverständnis. Während den heute anzutreffenden Managementstilen ein aktives und gestaltendes Element zugrunde liegt, sehen 98 Vgl. Weitzel, T., Koenig, W., Computational Economics als wirtschaftsinformatischer Beitrag zu einer interdisziplinären Netzwerktheorie, WIRTSCHAFTSINFORMATIK 45, Ausgabe 5, S. 497-502, Friedrich Vieweg Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig/Wiesbaden 2003, S. 500. 99 Vgl. Kappelhoff, P. (2002), S. 62.
102
Das Wesen der Komplexitätstheorie
Vertreter der dynamischen, komplexitätstheoretischen Ansätze das Management häufig als Katalysator in einer selbstorganisiert ablaufenden Entwicklung.100 Zu abstrakt und unkonkret erscheinen vielen Managern die Ableitungen aus mathematischen, biologischen oder physikalischen Modellen. Der geringe Reifegrad der jungen Komplexitätstheorie, der sich insbesondere in der geringen Anzahl empirischer Belege zeigt, weckt gerade bei den Vertretern nicht dynamischer Forschungsrichtungen Zweifel, ob eine Erkenntnisübertragung auf wirtschaftliche und managementtheoretische Fragestellungen überhaupt möglich ist.101 Ein weiterer Aspekt ist die Schwierigkeit, sich mit der Komplexitätstheorie umfassend zu beschäftigen. Aufgrund des weitreichenden Forschungsgebiets bedarf es interdisziplinärer Kenntnisse sozialer, naturwissenschaftlicher und informationstechnologischer Disziplinen, die in der Praxis selten gebündelt anzutreffen sind. Trotz dieser Vorbehalte steigt der Druck, die bisherigen, aus der Zeit der Industrialisierung stammenden Management-Ansätze zu Überarbeiten. Die Entwicklungen im Rahmen der Dezentralisierung und Globalisierung in den letzten zwei Dekaden haben die Anforderungen an die strategische Unternehmensführung deutlich erhöht. Neue Herausforderungen benötigen neue oder erweiterte Methoden. Jedoch muss die Übertragung relevanter komplexitätstheoretischer Erkenntnisse viel behutsamer und indirekter als in der Vergangenheit erfolgen. Aus diesem Grund setzen wir für die drängenden Fragen des Retail Bankings auf eine indirekte Wirkung der Komplexitätstheorie. Die Erkenntnisse aus der Erforschung komplexer adaptiver Systeme werden nicht direkt zur Lösung strategischer Fragestellungen angewandt sondern wirken als ein Leitbild auf die Auswahl und den Einsatz der richtigen Strategieinstrumente. Die Komplexitätstheorie wird somit nicht als anwendungsnahe Theorie aufgefasst, sondern sollte im Sinne einer Metatheorie betrachtet werden, an deren grundlegenden Erkenntnissen sich die zielgerichtete Auswahl und Anwendung der erforderlichen Marketingund Vertriebsansätze orientiert. Die folgende Abbildung verdeutlicht, die mittelbare Wirkung der Komplexitätstheorie auf die Entwicklung einer Multi Channel-Strategie.
100 Vgl. Servatius, H.G. (2004), S. 46. 101 Vgl. z.B. Schreyögg, G. (2002), S. 107.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
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Komplexitätstheorie Emergenz / Selbstorganisation
Rand des Chaos
Attraktoren
Fitnessgipfel
Marketingtheorien und -modelle
Metawissenschaftliche Ebene
Ökonomischwissenschaftliche Ebene
Strategieprozess im Vertrieb: ¾ Interne und externe Umweltanalyse ¾ Strategische Ziele
Strategische Ebene
¾ Vertriebs- und Vertriebskanalstrategie
Umsetzung in das operative Geschäft: Steuerung des Multi-Channel V ertriebs einer Universalbank
Operative Ebene
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 26: Die Komplexitätstheorie als Metatheorie im Strategieprozess. Die Abbildung zeigt den Prozess der Übertragung von Erkenntnissen der Komplexitätstheorie auf die konkreten Fragestellungen im Retail Banking. Der stufenweise Wissenstransfer beginnt auf einer abstrakten Meta-Ebene. In mehreren Schritten beeinflussen die bereitgestellten Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie dann die Auswahl und Anwendung wissenschaftlicher Methoden sowie die Selektion der erforderlichen praktischen Instrumente zur Umsetzung der Strategie. Als Grundlage für die Entwicklung von Strategien in dynamischen Systemen beschreiben wir daher im Folgenden die wichtigsten Erkenntnisse der Komplexitätstheorie.
104
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
2.
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
2.1
Selbstorganisation und Emergenz
Eine der wesentlichen Botschaften der Komplexitätstheorie ist die Bestätigung der in komplexen, adaptiven Systemen erkennbaren Tendenz zur Selbstorganisation. Hierin grenzt sich die junge Wissenschaft weitgehend von Darwins Lehre ab. Während Darwin die Entwicklung der Arten als Ergebnis von Selektion und Zufall sah, sieht die Komplexitätstheorie die unvermeidliche, spontane Selbstorganisation als natürliche, prägende Eigenschaft komplexer, adaptiver Systeme.102 Das permanente Streben komplexer Systeme nach Selbstorganisation – von Kaufman auch als „Ordnung zum Nulltarif“ bezeichnet – ist eng verbunden mit der Theorie der Emergenz. Diese beschreibt dass Entstehen neuer Strukturen oder Eigenschaften aus dem Zusammenwirken der Elemente in einem komplexen System und kann somit auch als Ergebnis der Selbstorganisation verstanden werden.
Emergente globale Struktur
Lokale Wechselwirkung Quelle: Lewin, R (1996), S. 25. Abbildung 27: Emergenz in komplexen adaptiven Systemen. Die Abbildung zeigt, dass Emergenz aus dem Zusammenspiel lokaler Wechselwirkungen entsteht, aber anschließend auch wieder auf diese lokalen Strukturen wirkt. 102 Vgl.: Kauffman, S. (1996), S. 20.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
105
Zur exemplarischen Erläuterung kann das Gehirn herangezogen werden, das aus einer immensen Zahl von Neuronen besteht. Erst durch das komplexe Zusammenspiel dieser einfachen Zellen emergieren Muster, welche die Gehirnaktivität ausmachen. Der großartige Prozess des Denkens entsteht also durch das Zusammenwirken vieler winziger Zellen, wobei die Denkleistung nicht allein durch die Eigenschaften einzelner Zellen erklärt werden kann. Ein weiteres, für uns Banker sehr greifbares Beispiel ist die Börse. Aus dem Zusammenspiel vieler einzelner lokaler Investoren und Spekulanten ergibt sich das großartige Gefüge des Finanzmarktes, mit all seinen Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung und –vermehrung. Auf der anderen Seite beeinflussen die Mechanismen und Gesetze des Finanzmarktes im Gegenzug wieder die agierenden Individuen. Die Relevanz von Selbstorganisation und Emergenz für generelle Fragestellungen der Ökonomie wird im klassischen Liberalismus nach Adam Smith deutlich. Seine Beschreibung der Marktkräfte als „invisible hand“ wird vielfach als ökonomische Analogie zu der von Kauffman geprägten „Ordnung zum Nulltarif“ herangezogen.103 Krugmann beschreibt mit der gleichen Metapher spontane, emergente Muster in regionalen, urbanen Zentren.104 Die auf biologische Systeme bezogene Aussage Kauffmans: „Kollektive Anpassung mit egoistischer Zielsetzung führt zur maximalen durchschnittlichen Fittness...“ȱ 105 findet sich in inhaltlich nahezu unveränderter Form auch im Modell der freien Marktwirtschaft wieder. Das Wissen um die Phänomene von Selbstorganisation und Emerenz beeinflusst insbesondere die Organisations- und Managementlehre. Vielfach als Metapher zu evolutionären Modellen der Natur verstanden, wird die Selbstverantwortung der Mitarbeiter im Sinne von Agenten in einem komplexen, adaptiven System betont. Führungsstile, die ein hohes Maß an Verantwortung auf den Mitarbeiter übertragen, wie z.B. die zielbezogene Führung im Management by Objectives und deren praktische Ausprägungen in Form selbststeuernder Gruppen erhalten demnach durch die Komplexitätstheorie ein tieferes theoretisches Fundament. Dagegen wird eine starre und bürokratische Organisationsform kategorisch abgelehnt. Darüber hinausgehend liefert die Theorie der Emergenz Ansatzpunkte zur Erklärung und Steuerung informaler Prozesse. Der gezielte Einsatz von Selbstorganisation und Emergenz in der Wirtschaft und Banken profitiert von der Intelligenz, die in allen Teilen eines komplexen adaptiven Systems vorhanden ist. Hierunter fallen sowohl die Organisationskreativität, die Motivation, wie auch das Management des in der Organisation verteilten Wissens. Beispiele für die bewusste oder unbewusste, in jedem Fall aber erfolgreiche Nutzung von Selbstorganisation und Emergenz finden sich in der Wirtschaft reichlich: Bei Tupperware verkaufen Hausfrauen Haushaltsartikel an andere Hausfrauen. Der Erfolg dieses Vertriebsweges beruht im Wesentlichen auf der Selbstorganisation der Verkäufer,
103 Vgl. Pascale, R. T., Millemann, M., Gioja, L., Herrmann, M. (2002), S. 109. 104 Vgl. Krugman, P. (1996), S. 76. 105 Lewin, R. (1996), S. 81.
106
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
die nicht in Organisationsstrukturen eingebunden wurden. Andere Unternehmen, die erfolgreich nach diesem Prinzip arbeiten, sind z.B. die Versandhäuser Quelle oder Otto, die sich die besondere Motivation von Sammelbestellern zunutze machen. In der Finanzwirtschaft ist VISA International ein erfolgreiches Beispiel für Emergenz. Die Kreditkartenorganisation ist als Verein organisiert und lässt den Mitgliedern einen hohen Gestaltungsspielraum. „Like the body, the brain, the biosphere, [VISA] is largely self organizing.”106 Das Silicon Valley ist ein weiteres Beispiel für die konstruktive Wirkung von Selbstorganisation und Emergenz. Permanent formieren sich Unternehmer, Wissenschaftler und Investoren zu neuen Startup-Companys und bilden untereinander strategische Allianzen, Partnerschaften oder initiieren gemeinsame Projekte. Die emergente Zusammenarbeit hat Silicon Valley zum weltweit bedeutendsten Standort für IT, E-Commerce und Innovation an sich gemacht. Seit dem Siegeszug des Internet entwickeln sich emergente Communities zu einem immer bedeutenderen Bestandteil des Marketings. Die selbststeuernden Interessensgruppen werden vom Marketing gezielt angesprochen bzw. über konkrete Promotion-Maßnahmen erst etabliert. Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Markteinführung des neuen Mini durch BMW im Jahr 2000. Das Produkt stand zunächst nicht im Vordergrund, sondern auf die Zielgruppe zugeschnittene Life Style-Informationen im Internet. Schnell entwickelte sich eine Community von über 100.000 registrierten Nutzern, die über einen mehrstufigen Prozess zu potenziellen Käufern qualifiziert wurden.107 Diese Auswahl erfolgreicher Marketingansätze zeigt die Potenziale von Emergenz und Selbstorganisation für Vertriebsprozesse. Die Effizienz und Motivation selbststeuernder Gruppen bestätigt darüber hinaus die modernen Ansätze zur dynamischen Organisationssteuerung, wie z.B. im Rahmen vernetzter Unternehmensteile oder der Nutzung von Kreativität und Wissen im Unternehmen.108
2.2
„Rand des Chaos“ – Effizienz im Netzwerk
In den beschriebenen frühen Experimenten mit Boolschen Netzwerken erkannte Kauffman bereits drei Verhaltensklassen dynamischer Systeme: gleichbleibend, periodisch und chaotisch. In der Mathematik sowie in der Chaos- und Komplexitätsforschung stieß man später auf eine vierte Klasse, den so genannten „Rand des Chaos“. Diese Klasse liegt zwischen dem 106 Haeckel, S. H. (1999), S. 46. 107 Vgl. Thunig, C., Wie der kleine Mini wieder ganz groß wieder kam, http://www.absatzwirtschaft.de/
psasw/fn/asw/SH/0/sfn/buildpage/cn/cn_artikelanzeige_head/contentid/25869. 108 Vgl. Goldstein, J. (1999), S. 65 ff.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
107
chaotischen und gleichbleibenden Verhalten. Kauffman bezeichnet dieses heute als „...einen natürlichen Zustand zwischen Ordnung und Chaos“ ... „der einen großartigen Kompromiss zwischen Struktur und Zufall darstellt.“109 In der Summe wurden in komplexen adaptiven Netzwerken die folgenden vier Verhaltensklassen identifiziert: Zustand des Netzwerkes
Beispiel
Das Netzwerk ist erstarrt
Streng bürokratisches System
Dynamisches Netzwerk
Planung und Improvisation stehen in einem guten Verhältnis Krisensituation, im Unternehmen werden alle Kräfte mobilisiert Panik ist ausgebrochen, jegliche Kontrolle ist verloren gegangen
„Rand des Chaos“ Chaotischer Zustand des Netzwerkes
Quelle: Auf Grundlage von Lewin, R (1996), S. 65 u. Kauffman, S. (1996), S. 125 ff. Abbildung 28: Verhaltensklassen in dynamischen Netzwerken. Die fast bedrohlich klingende Bezeichnung „Rand des Chaos“ beschreibt also den schmalen Grenzbereich, kurz vor dem Übergang eines dynamischen Systems in den chaotischen Zustand. In diesem Zwischenbereich ist der „Rand des Chaos“ als Bereich komplexer und zugleich relativ stabiler zyklischer Attraktoren angesiedelt.110 Die Position zwischen dem geordneten Regime und dem Abgleiten ins Chaos bietet demnach die beste Mischung von Stabilität und Flexibilität. Dieser Ansatz scheint komplett jedem Sicherheitsstreben zu widersprechen. Gerade in unserer linear geprägten Gesellschaft, die immer noch von der Beherrschbarkeit jeder Situation ausgeht, ist der Begriff des „Chaos“ negativ belegt. Wer denkt nicht gleich an ein verwüstetes Kinderzimmer oder an einen Haufen völlig hilfloser Manager, die ihre Aufgaben nicht im Griff haben? Wie soll die Effizienz steigen, wenn das Chaos droht? Die Antwort erschließt sich am besten über Beispiele. Plastische Ausprägungen des Zustands „Rand des Chaos“ zeigen sich regelmäßig in Grenzsituationen. So z.B. im menschlichen Körper, der in einer akuten Bedrohung durch einen Ausstoß des Hormons Adrenalin zu neuen Höchstleistungen gelangt. Der kurze Moment, bevor ein Mensch in Panik verfällt und damit quasi handlungsunfähig wird, spornt zu unglaublichen Leistungen an. Weniger dramatisch, aber genauso erlebbar ist der „Rand des Chaos“ in Prüfungsphasen oder zum Ende eines anspruchsvollen Projekts. Viele haben bereits am eigenen Leib die positive Energie erlebt, die kurz vor dem Abschluss eines wichtigen Meilensteins freigesetzt wird und häufig erst den entscheidenden Anstoß zur Zielerreichung gibt.
109 Kauffman, S. (1996), S. 30-31. 110 Das Wesen und die Bedeutung von Attraktoren werden im folgenden Kapitel näher beschrieben.
108
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
Das gleiche gilt für eine soziale Gesellschaft, ein Unternehmen eine Tierpopulation, oder das Immunsystem eines Menschen welche in Krisenzeiten häufig einen wesentlichen Entwicklungssprung durchlaufen. Die Zunahme der produktiven Hektik führt in überraschend vielen Fällen zu mehr Innovationen oder oft sogar zu entscheidenden Entwicklungssprüngen. Der schmale Übergangsbereich zwischen gesunder Dynamik und ungesundem Chaos ist nach diesen Erkenntnissen der anzustrebende Bereich mit höchster Produktivität. Der „Rand des Chaos“ wird damit als hocheffizienter Zustand beschrieben, der am besten geeignet ist, ein komplexes System – und damit auch das Retail Banking im Umfeld seiner Kunden, Partner und Wettbewerber – zu entwickeln. Organisationen sind demnach idealtypisch am Rand des Chaos positioniert, wo sich Strukturen in komplexen Dynamiken optimal weiterentwickeln, indem sich Flexibilität und Stabilität hier in einer bestmöglichen Balance befinden. Das Management muss folglich das Ziel verfolgen, die effektive Varietät möglichst in der Form zu maximieren, dass die Zielorientierung und ein organisierter, geordneter Prozess im Unternehmen, trotz hoher Differenzierung und Flexibilität, gerade noch erhalten bleibt. Dies ist allerdings in der Theorie leichter gesagt als anschließend in der Praxis umgesetzt. Obwohl der Ansatz unmittelbar einleuchtet und häufig aufgrund eigener Erfahrungen nachvollziehbar ist, bleibt die Komplexitätstheorie an dieser Stelle noch sehr unspezifisch. Ihre Empfehlungen für praktische Fragen des Managements bleiben vage und beschränken sich i.d.R. auf die Empfehlung einer Ausgewogenheit zwischen zuviel Starrheit (Bürokratie) und zu wenig Struktur (Chaos), ohne diese jedoch zu konkretisieren. Dennoch können hieraus wichtige Impulse für die Entwicklung der Vertriebsstrategie entwickelt werden, worauf wir insbesondere in Teil V noch intensiver eingehen.
2.3
Attraktoren – Anziehungspunkte in komplexen, adaptiven Systemen
Der Begriff Attraktor entstammt der Mathematik und beschreibt allgemein den für ein System „attraktiven" Zustand, im Sinne eines über die Zeit stabilen Verhaltensmusters. Dieses können Ruhezustände, mehr oder minder komplexe periodische Verhaltensweisen oder deterministisch-chaotische Dynamiken sein. In linaren Systemen sind Attraktoren häufig punktuell. Ein Pendel beispielsweise kann zwei solcher stabilen Zustände einnehmen. Bei konstanter Energiezufuhr zeigt sich ein periodisches Verhalten. Fehlt die ständige Energiezufuhr, so kommt das Pendel durch Reibung am tiefsten Punkt zum Stillstand, dem so genannten Ruhepunkt. In dynamischen Systemen können Attraktoren durch Phasenräume beschrieben werden. Am Beispiel der Population in der Tierwelt wird schnell deutlich, dass die Zahl der Jäger steigt, solange genügend Beute verfügbar ist. Sinkt die Zahl der Beute aufgrund des Anstiegs der Jäger, geht auch deren Anzahl
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
109
wieder zurück. Startet der Prozess, wie die folgende Abbildung veranschaulicht, an irgendeinem Punkt (z.B. es gibt ein Überangebot an Beute) wird sich das System in der Praxis in einem Phasenraum einpendeln.
Phasenraum
Anzahl Jäger
a)
b)
Anzahl Beute a) b)
Überhang der Jäger, wenig Beute Überhang der Beute, wenig Jäger
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 29: Attraktoren in dynamischen Systemen. Chaotische oder komplexe Systeme zeigen deutlich kompliziertere Attraktoren. Das bekannteste Beispiel ist der im Folgenden dargestellte „Lorenz-Attraktor“. Obwohl dieser Attraktor ein genaues Bild vom Wetter liefert, ist eine langfristige Prognose nicht möglich. Je genauer der Betrachter hinschaut, desto mehr spalten sich die Linien auf und neue Strukturen werden sichtbar. Die folgende Abbildung vermittelt hiervon einen Eindruck.
110
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
Quelle: Jung, A., Lorenz-System und seltsame Attraktoren http://www.tu-harburg.de/rzt/rzt/it/Studium/seminar-lorenz/. Abbildung 30: Der Lorenz-Attraktor. Attraktoren in komplexen adaptiven Systemen werden als „seltsame Attraktoren“ bezeichnet. Eine wesentliche Wirkung dieser Attraktoren ist, dass sie eine konkrete Anziehung auf ihre Umgebung ausüben. Betrachtet man Gesellschaften als komplexe, adaptive Systeme, so sind Trends und Mode eine plastische Ausprägung. Angetrieben von Meinungsführern bilden sich laufend neue Modetrends heraus, die einzelne Marken in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses rücken. Eine weitere Besonderheit ist, dass komplexe adaptive Systeme über multiple Attraktoren verfügen, also üblicherweise mehrere Attraktoren parallel existieren. Levin beschreibt dieses als ein stürmisches Meer, in dem der hilflose Schwimmer immer wieder in einen neuen Strudel gezogen wird.111 Die Attraktoren bewegen dynamische Systeme dazu, sich selbst immer wieder in Richtung eines neuen Attraktors auszurichten. Komplexe ökonomische Systeme verfügen somit über kein eindeutiges Optimum, sondern es existieren verteilte Optima, die zu einer anderen Zeit und unter veränderten Umweltbedingungen sogar suboptimal sein können. An diesem Punkt setzt die Komplexitätstheorie einen neuen Impuls. Anstatt – wie es viele auf der Universität gelernt haben – nach dem optimalen Ergebnis zu schauen, gilt es in komplexen Märkten Attraktoren zu erkennen und zu nutzen. Es gibt nicht ein Optimum sondern viele. Entsprechend existiert im Bankenmarkt nicht nur eine optimale Chance, sondern es gilt im Markt- und Wettbewerb permanent nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten. Trends, die sich zu einem Attraktor für das eigene Geschäft entwickeln 111 Vgl. Lewin, R. (1996), S. 34.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
111
können, kündigen sich meistens frühzeitig an. So wird die Alterspyramide und die zunehmende Lebenserwartung der Bevölkerung bereits seit einigen Jahren diskutiert. Jedoch stellen sich bislang nur wenige Banken auf die Veränderungen der Lebenssituationen ihrer Kunden ein. Über das Angebot von Produkten zur Altersversorgung reicht die heutige Palette kaum hinaus. Dabei verändert sich für den Einzelnen deutlich mehr: Der aus einem längeren Berufsleben resultierende Bedarf nach lebenslanger Weiterbildung und -entwicklung erzeugt eine steigende berufliche Flexibilität, welche wiederum Ursache für eine höhere Varietät in der finanziellen Lebensplanung ist. Wünsche und größere Anschaffungen werden zunehmend an konkreten Lebensabschnitten ausgerichtet, wer überblickt schon die gesamte Lebensdistanz? So fragen die Kunden immer weniger nach der Immobilie für das Leben, sondern suchen gezielt ein Objekt für einen bestimmten Lebensabschnitt. Der Ruhestand hat schon seit einigen Jahren nicht mehr viel mit „Ruhe“ zu tun. Das so genannte „Golden Age“ bezeichnet die heutige Kultur wissensdurstiger und aktiver Rentner mit einem hohen Bedarf an finanzieller Beratung. Hieraus ergibt sich eine Vielzahl neuer Ansatzpunkte in der Kundenbetreuung die es systematisch zu erkennen und zu nutzen gilt.
2.4
Fitnesslandschaften – die Suche im evolutionären Zustandsraum
Das Konzept der Fitnesslandschaften ist durch den Genetiker Sewell Wright bereits in den Dreißiger Jahren eingeführt worden, um die relativen Wettbewerbsvorteile verschiedener Arten darzustellen.112 Die Fitness steht in diesem Konzept für die Leistungsfähigkeit einer Population aufgrund unterschiedlicher Kombinationen von Genvarianten. Eine Landschaft dient als Metapher, um die Wanderung einer Population durch verschiedene Fitnesslevel zu beschreiben. Die Gipfel dieser imaginären Landschaft zeigen die Höhe der Fitness und damit die eigene Position im Wettbewerb mit anderen Individuen. Die leistungsfähigsten Kombinationen erreichen die höchsten Fitnessgipfel. Bildlich gesprochen kann ein Organismus von seinem lokalen Gipfel neidisch einen höheren Nachbargipfel anpeilen, diesen aber nicht ohne weiteres erreichen, da er hierzu zunächst ein Tal geringerer Fitness durchqueren müsste. Sofern eine Population in einem Tal verharrt, kann eine Weiterentwicklung durch Mutation oder Selektion sie auf einen neuen Gipfel befördern.113 Sobald ein individueller Fitnessgipfel erreicht ist, kann eine Population dort verharren oder (muss) aufgrund eines biologischen Anpassungsdrucks durch die Fitnesslandschaft wandern und sich auf der Suche nach neuen 112 Vgl. Hadany, L., Beker, T. (2003), S. 862. 113 Vgl. Lewin, R. (1996), S. 78 f.
112
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
und im Idealfall höheren Gipfeln machen. Die stetige Suche nach neuen, erfolgsversprechenden Fitnessgipfeln in einem evolutionären Raum geschieht in einer ständigen Koevolution mit Konkurrenten. Auch wenn jede Population ihre eigene Fitnesslandschaft auf der Suche nach Fitnessgipfeln durchwandert, so wird diese Landschaft durch die Aktionen der Konkurrenten laufend verändert. Die Fitnesslandschaft gleicht aufgrund ihrer Dynamik also eher der Wasseroberfläche des Meeres, das je nach Windstärke glatt oder aufgewühlt sein kann. Seine hohe Bedeutung in der Erforschung komplexer adaptiver Systeme hat das Modell der Fitnesslandschaft insbesondere aufgrund seiner plastischen Anschaulichkeit und mathematischen Berechenbarkeit erlangt. Die Übertragung der Metapher einer Fitnesslandschaft auf ein Unternehmen bedeutet für das jeweilige Management zunächst einmal die Sichtweise zu übernehmen, dass das eigene Unternehmen sich in einem Umfeld bewegt, welches ständig durch die eigenen Aktivitäten, wie auch durch die Aktivitäten der Wettbewerber und Stakeholder verändert wird. Ein unternehmerisches Leitbild auf Grundlage der Fitnesslandschaft ist dem ökonomischen Leitbild Schumpeters sehr ähnlich. So betont Schumpeter ebenfalls den dynamischen Charakter der Wirtschaft und wurde damit zum Paten einer evolutionären Ökonomik.
Schumpeters Theorien Seit Beginn der 90er Jahre hat sich eine rasch wachsende neo-Schumpetersche Strömung in den Wirtschaftswissenschaften herausgebildet. Einer der wesentlichen Interessenschwerpunkte ist die Innovationsforschung. Die Theorien Schumpeters (1883-1950) zielen im Wesentlichen auf die Erklärung wirtschaftlicher Dynamik als eine Theorie der Wirtschaftskonjunkturen. Hinzu kommen Prognosen zum gesellschaftlichen Wandel. Eine stationäre Volkswirtschaft im permanenten Gleichgewicht wie sie den neoklassischen Modellen zugrunde liegt - sei ein dem kapitalistischen Wirtschaftssystem inadäquates gedankliches Modell; in der Wirklichkeit seien die zeitgenössischen Industrieländer „dynamische Ökonomien“. Gleichgewichtssituationen sind demnach nur in bestimmten konjunkturellen Momenten möglich. Ansonsten werden Produktionsfaktoren ständig neu kombiniert und alte Strukturen werden durch neue ersetzt. Diese „kreative Zerstörung" ermögliche letztendlich ein Wachstum des Output-Niveaus.114
In den Begrifflichkeiten der Komplexitätstheorie deckt sich dieses ökonomische Verständnis Schumpeters mit einer Wanderung durch die Fitnesslandschaft. Dabei gehen die Vertreter der Komplexitätstheorie noch einen Schritt weiter, indem sie ein Gleichgewicht in dynamischen Systemen kategorisch ablehnen, denn bei einem lebenden System ist Gleichgewicht gleichbedeutend mit seinem Tod.115 Der permanente Wandel wird zum Alltag und das Streben nach Stabilität und Gleichgewicht tritt in den Hintergrund. Konkrete, aus der Modellierung von Fitnesslandschaften ableitbare sinnvolle Verhaltensweisen eines Unternehmens hängen demnach vom erreichten Grad der Fitness sowie der Ausgestaltung der Fitnesslandschaft ab. 114 Vgl. Bass, H.H. (1999), S. 215 ff. 115 Bgl. Pascale, R. T., Millemann, M., Gioja, L., Herrmann, M. (200), S. 29 ff.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
Art der Landschaft
Ausprägung der Landschaft
Glatte (starre) Fitnesslandschaft:
Es gibt nur einen Fitnessgipfel:
113
Die Landschaft hat nur einen Gipfel. Kleine Schritte führen unaufhaltsam zum Fitnessgipfel. Aufgrund laufender Veränderungen der Landschaft durch Konkurrenten, ist dieses Modell unrealistisch. Evolutionsfreundliche Landschaft:
Wenige, gehäufte Fitnessgipfel:
Gipfel tendieren dazu, gehäuft aufzutreten. Relativ hohe Gipfel sind erreichbar (allerdings von geringer Gesamthöhe als bei einer glatten Fitnesslandschaft). Stark zerklüftete, chaotische Fitnesslandschaft:
Stark zerklüftete Landschaften:
Ein Fitnessgipfel wird in wenigen Schritten erreicht. Es gibt keinen Aufschluss, ob tatsächlich der höchste Gipfel erreicht wurde. Der höchst Fitnessgipfel erreicht maximal die halbe Höhe einer glatten Fitnesslandschaft.
Quelle. Eigene Darstellung. Abbildung 31: Typische Ausprägungen von Fitnesslandschaften. Die Ausprägung einer Fitnesslandschaft sagt viel über die Evolutionsbedingungen eines komplexen Systems aus. Die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb einer Fitnesslandschaft beeinflussen damit die Strategie jedes einzelnen Agenten. Entsprechend ist es wichtig, die Besonderheiten der typischen Ausprägungen von Fitnesslandschaften zu kennen und hierfür Strategien zu entwickeln. Kauffman stellt die These auf, dass Gemeinsamkeiten zwischen typischen Verhaltensweisen zerklüfteter Fitnesslandschaften und der Entwicklung neuer Innovationen bestehen. Seine Untersuchungen bestätigten eine hohe Ähnlichkeit biologisch evolutionärer Prozesse, wie z.B. die kambrische Explosion,116 mit technologischer Innovation. Als Beispiel führt er die Erfindung des Fahrrads und deren explosive Formenvielfalt zu Beginn des 19. Jahrhunderts an. Die Vielfalt reduzierte sich dann in Aussterberaten auf die heute dominierenden Formen des Straßenrads, Rennrads und Mountainbikes.
116 Die kambrische Explosion beschreibt die extrem schnelle Verbreitung einer hohen biologischen Artenviel-
falt vor ca. 542 Mio. Jahren. Vgl. Kauffman, S. (1996), S. 297 f.
114
Metaphern und Analogien der Komplexitätstheorie
Durch Mutation sind in der Biologie unterschiedlich weite Sprünge über Fitnesslandschaften möglich. Coffman beschreibt in Analogie dazu verschiedene Lebensphasen eines Unternehmens und leitet hieraus mögliche Verhaltensweisen in Abhängigkeit von der Anzahl der Verbindungen einer Fitnesslandschaft ab.117 Weite Sprünge empfiehlt er für die instabilen Phasen nach einer Katastrophe oder im Fall einer absolut neuen Innovation. Die ohnehin zerklüftete Fitnesslandschaft ermöglicht eine gute Chance auf eine bessere Fitness. Gleichzeitig ist die Fitness des eigenen, angeschlagenen oder jungen Unternehmens noch nicht sehr hoch. Dies und die höhere Flexibilität des Unternehmens begrenzen das Rückschlagspotenzial. Reifen und etablierten Unternehmen empfiehlt er auf ihrem erreichten Fitnessgipfel zu verbleiben, jedoch die Veränderungen der Fitnesslandschaft aufgrund der Aktivität von Konkurrenten im Auge zu behalten. Im Falle einer wettbewerbsbedingten sinkenden Fitness sollen Unternehmen einen kulturellen und strategischen Wandel mit moderaten bis weiten Sprüngen zu neuen Gipfeln einleiten. Für das Retail Banking lassen sich strategische Vorgehensweisen aus den generellen Erkenntnissen zum koevolutionären Verhalten dynamischer Systeme im Zustandsraum, als auch aus den konkreteren Handlungsempfehlungen zur jeweiligen Ausprägung der Fitnesslandschaft ableiten. Die derzeitige Situation vieler deutscher Universalbanken kann im Blickwinkel einer Fitnesslandschaft so interpretiert werden, dass die Institute in den letzten Jahren von ihrem individuellen Fitnessgipfel gedrängt wurden, auf dem sie lange verharren konnten. Die Kreditinstitute wurden „...aus einer dominanten, oft monopolartigen Stellung in rauhe Gewässer offener Marktstrukturen getrieben.“118 Gründe, die zum Verlassen des Gipfels führten, liegen sowohl in der in Teil 2 beschriebenen Veränderung der Rahmenbedingungen, wie auch in einer inneren Trägheit der Organisation. Lebende Systeme erweisen sich als umso anfälliger gegenüber Veränderungen, je länger sie in einem Zustand der Stabilität verharren. Plausibel kann dies an einem Haustier erklärt werden. In der langen Gleichgewichtsperiode sind die natürlichen Instinkte und Abwehrmechanismen verkümmert. Gegenüber seinen deutlich robusteren Verwandten in freier Wildbahn fällt es dem Haustier deutlich schwerer, sich auf neue und unbekannte Gefahren einzustellen. Die Bankbranche hat über Jahre hinweg aufgrund sprudelnder Erlöse und wertvoller Unternehmensbeteiligungen in einem komfortablen Umfeld gelebt. Der prägende Begriff der „Deutschland AG“ beschrieb dieses Beteiligungsgeflecht der Banken treffend wie kaum ein anderer. Strukturelle Anpassungen waren notwendig aber nicht drängend. Mit steigender Innovationsgeschwindigkeit und zunehmender Vernetzungsdichte aufgrund neu hinzukommender und unkonventionell agierender Stakeholder veränderte sich die Fitnesslandschaft der einzelnen Institute dramatisch. Aktuell kann die Situation vieler Universalbanken durch eine hohe Vernetzungsdichte und damit einer stark zerklüftete Fitnesslandschaft beschrieben 117 Vgl. Coffman, B. S., The Transition of Ventures as Complex Systems Part II, 1997,
http://www.mgtaylor.com/mgtaylor/jotm/summer97/complexity2.htm. 118 Joachimsen, R. (1998), S. 30.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
115
werden. Die Tendenz zum Chaos ist in der Branche in den letzten Jahren deutlich erkennbar. Hier zwei bezeichnende Beispiele, die den Zustand der stark zerklüfteten Fitnesslandschaft vieler Universalbanken unterstreichen: Der in den Zeiten des Börsen- und Internethypes (1997 bis 2001) getätigte Aufbau neuer Technologien erwies sich zum großen Teil als Fehlinvestition. Der überaus dynamische, fast schon chaotische Charakter dieser Phase war für das stabilitätsverwöhnte Management ungewohnt, was unweigerlich zu Fehlentscheidungen und in der Folge zu einer hohen Kapitalvernichtung führte. Die Strategiewechsel im Retail Banking nahmen bei einzelnen Instituten bereits chaotische Zustände an. So fand die Deutsche Bank wenig Gefallen am Geschäft mit dem einfachen Privatkunden und gliederte den gesamten Bereich in eine eigene Tochtergesellschaft aus.119 Die anschließende Flaute am Bankenmarkt führte erneut zu einer Veränderung der Betrachtungsweise und mündete in der Reintegration des Privatkundengeschäfts. Dieses Verhalten der permanenten Strategiewechsel im Privatkundengeschäft des Marktführers Deutsche Bank, durch das der Vorstand den Eindruck der Konzeptionslosigkeit hinterlässt,ȱ gibt einen deutlichen Hinweis auf die zeitweise chaotische Situation des Retail Banking insgesamt. Die vorgenannten Beispiele sind wesentlich, um das aktuelle Umfeld des Retail Banking aus dem Blickwinkel dynamischer Systeme zu klassifizieren und darauf aufbauend Leitlinien für die strategische Positionierung der Vertriebswege zu definieren. Eine stark zerklüftete Fitnesslandschaft stellt besondere Anforderungen an den Prozess der Strategiebildung und -umsetzung. Fitnesslandschaften können dabei als eine Landkarte im Strategieprozess dienen. Der Weg zu einem neuen Fitnessgipfel wird wesentlich erleichtert durch durch ein grundlegendes Verständnis dynamischer Prozesse in Fitnesslandschaften, eine organisatorische Verankerung dieses Verständnisses, Erfahrung im Umgang mit komplexen adaptiven Systemen und einer ausreichenden Flexibilität im Rahmen der Strategieentwicklung, -umsetzung und -anpassung.120
119 Vgl. Sauter, A. (2003), S. 217. 120 Vgl. Servatius, H.G. (2004), S. 44.
116
Leitlinien für den Strategieprozess
3.
Leitlinien für den Strategieprozess
3.1
Bedeutung der Leitlinien für das Retail Banking
Wir werden uns mit diesem Buch nicht in die laufende, wissenschaftliche Diskussion einmischen, ob die Komplexitätstheorie die vielfach postulierte Abkehr des durch Newton geprägten Paradigmas linearer Wirkungszusammenhänge in naher Zukunft herbeiführen wird. Viele der vorgenannten Aspekte und Indizien sprechen dafür, allerdings bietet der heutige Forschungsstand hierfür noch lange keine Garantie. Noch immer bleibt die Komplexitätstheorie einen Beweis ihrer Gültigkeit auf der Ebene menschlicher Handlungskomplexität schuldig. Computermodelle, so ausgefeilt sie auch sein mögen, erreichen noch lange nicht den Komplexitätsgrad einer lebenden, sozialen Gesellschaft. Letztlich wird es Aufgabe der empirischen Forschung sein, die vorgenannten Ergebnisse umfassend zu bestätigen. Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als dem Vorbild namhafter Management Vordenker zu folgen und zu akzeptieren, dass die Welt um uns herum dynamisch ist und der Glaube an eine lineare Kontrollierbarkeit an seine Grenzen stößt. Dieses alles bewerten wir mit einer gesunden Portion Skepsis, denn gerade Managementmethoden die sich am Vorbild der Natur ausrichten, haben seit einigen Jahren Konjunktur. Allerdings gilt es für uns auch hier, die Spreu vom Weizen zu trennen. Nicht jede Metapher, die spontan plausibel und einleuchtend klingt, verfügt über einen fundierten Hintergrund. Die großen Strömungen in der Erforschung dynamischer Systeme, wie insbesondere die Systemtheorie, die Kybernetik sowie die Chaos- und Komplexitätstheorie bauen auf ein solides wissenschaftliches Fundament und haben schon längst die erforderliche Reife erreicht, seriöse Handlungsempfehlungen für die strategische Planung und das operative Management abzugeben. Die Notwendigkeit einer dynamischen Unternehmensführung im Bankgeschäft und die wissenschaftlichen Instrumente hierfür liegen also offen auf dem Tisch. Zu klären bleibt noch, wie lassen sich Attraktoren, Fitnesslandschaften, der Rand des Chaos oder Selbstorganisation und Emergenz im praktischen Geschäft anwenden? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal kurz auf die beiden wissenschaftlichen Richtungen des Holismus – also der ganzheitliche (dynamische) Ansatz – und des (linearen) Reduktionismus eingehen. Wie selbst Kaufmann eingesteht, war „...die reduktionistische Methode unglaublich erfolgreich und wird es auch weiterhin sein.“121 Dieses lässt sich nicht einfach wegwischen und durch ein neues, völlig anderes, dynamisches Management
121 Kauffman, S. (1996), S. 10.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
117
ersetzen. Zu erfolgreich waren die linearen Methoden in der Vergangenheit und zu etabliert sind sie heute. Entsprechend wird ein kombiniertes Vorgehen benötigt, das erprobte Verfahren sinnvoll modifiziert. Dieses Vorgehen ist aus unserer Sicht noch nichtmals besonders originell, denn seit jeher partizipiert die Managementforschung von den Erkenntnissen der Naturwissenschaften. Umso erstaunlicher, dass wie im Rahmen unserr Recherchen noch nicht auf ein solches Vorgehen gestoßen sind. Also gilt es, bewährte Methoden zu bewahren und evolutionär um dynamische Ansätze zu ergänzen. Das folgende Beispiel zeigt, wie gefährlich es sein kann, sich ausschließlich auf eine Richtung zu konzentrieren.
Notwendigkeit für eine evolutionäre Integration der Komplexitätstheorie Eine wesentliche Erkenntnis von Chaos- und Komplexitätstheorie ist die (unter bestimmten Voraussetzungen) unberechenbare Dynamik komplexer adaptiver Systeme. Allerdings ist es für die strategische Unternehmensführung gefährlich, dieses Verständnis ungefiltert zu übernehmen und mit dieser Begründung bekannte ökonomische Prinzipien auszublenden. So entschied sich z.B. Cisco Systems, der Marktführer bei Internetroutern, bewusst gegen die Nutzung makroökonomischer Prognosemodelle für die strategische Planung von Absatz, Fertigung und Beschaffung. Ein Topmanager begründete diesen Ansatz mit der Überzeugung, dass die Wirtschaft zu komplex sei, um aus allgemeinen Kennzahlen wie BIP oder Zinsentwicklungen sinnvolle Schlüsse ziehen zu können. Die in 2001 einsetzende Rezession wurde daraus folgend nicht richtig interpretiert. Die Folge für das Unternehmen waren Sonderabschreibungen in Höhe von zwei Milliarden US Dollar und die Entlassung von über 8.000 Mitarbeitern.122
Die evolutionäre Integration komplexitätstheoretischer Handlungsempfehlungen in das heutige Management ist ein adäquater Weg, die gestiegene Komplexität und Dynamik im Retail Banking angemessen zu berücksichtigen. Desto komplexer, und dynamischer sich die Umwelt entwickelt, desto intensiver wird die Suche nach einem Leitbild.123 Die Komplexitätstheorie bietet in diesem Umfeld eine Art „roten Faden“ durch den Dschungel verschiedenster Denkrichtungen, Lehrmeinungen, Ideologien und Beraterempfehlungen. Als Interpretationsrahmen erleichtert sie die Auswahl geeigneter Instrumente, aus dem betriebswirtschaftlichen Fundus und reichert diesen um neue Methoden an. Für die Positionierung der Vertriebswege bieten die im Folgenden zusammengefassten Leitlinien entscheidende Anhaltspunkte im Rahmen der generellen Strategiefindung sowie zur anschließenden Implementierung einer Multi Channel-Strategie im Retail Banking.
122 Vgl. Navarro, P. (2004), S. 88. 123 Vgl. Biesel, H.H. (2002), S. 17.
118
Leitlinien für den Strategieprozess
3.2
Leitlinien aus komplexen adaptiven Systemen
3.2.1
Permanente Berücksichtigung unberechenbarer Dynamik
Die effektive Unkenntnis der Zukunft gilt als eine wesentliche Erkenntnis der Komplexitätstheorie. Der beschriebene „Butterfly Effect“ verdient dabei eine spezielle Beachtung. Jede noch so kleine Aktivität im Retail Banking kann in dem derzeitigen dynamischen Umfeld eine große Bedeutung im Positiven, wie im Negativen erlangen. Die strategische Gestaltung des Multi Channel-Vertriebs findet in einem komplexen adaptiven System statt. Das Management muss das Unerwartete ständig in die Planung einbeziehen und chaotische Entwicklungen des Systems in seinen Konzepten berücksichtigen. „Es sind nichtlineare, rückkoppelnde, emergierende und linear irreversible Verhaltenseigenschaften und ein hieraus resultierendes Gestaltungsversagen mechanistischer Ceteribusparibus-Betrachtungen,“124 die eine Beherrschung komplexer adaptiver Systeme auf Dauer unmöglich erscheinen lässt. Diesem Umstand muss auch die informationstechnische Erschließung der internen und externen Umwelt des Unternehmens Rechnung tragen. Der insbesondere aufgrund von ausgefeilten CRM Systemen oder MIS (Management Informations Systemen) vielfach propagierte Glaube einer absoluten Kontrollierbarkeit und damit auch Beherrschbarkeit des Unternehmens wie auch der Absatzkanäle bleibt im Kontext komplexer adaptiver Systeme eine Illusion. Damit soll keineswegs der Nutzen entsprechender ITSysteme in Frage gestellt werden, lediglich die Absolutheit der Ergebnisse dieser Systeme muss im Blickwinkel komplexer adaptiver Systeme kritisch hinterfragt werden. In dem dynamischen Umfeld des Retail Banking können lineare Prognosemodelle fatal sein. Schnelle Wandel der Technologietrends lassen neue Wettbewerber aus dem Nichts entstehen und wieder verschwinden. Als Banken erleben wir dieses am Beispiel der Discountbroker oder verschiedener Spezialbanken. Der Vorstandsvorsitzende Tellings der DiBa betonte im Rahmen der Eurofinance 2005 in Frankfurt die Überlegenheit der Direktbanken im Hinblick auf die Schwerfälligkeit der traditionellen Universalbanken. Aber auch andere Branchen leiden unter dem rasanten Technologiewandel. So schwindet zunehmend die Monopolstellung der Deutschen Telekom im Festnetz aufgrund des zunehmenden Wettbewerbs um die neu aufgekommene, kostengünstige Internettelefonie (Voice over IP) und der Konvergenz von Mobiltelefon und Festnetz. Entsprechend muss die Strategie im Retail Banking stärker auf das „Jetzt“ konzentriert werden. Um unerwartete Marktentwicklungen parieren zu können, muss die Organisation flexibel bleiben. Über schlanke, flexible Strukturen im Retail Banking lassen sich dynamische Entwicklungen aktiv erfassen, adaptiv in die Organisation integrieren und zeitnah in Wettbewerbsvorteile ummünzen.
124 Bliss, C. (2000), S. 253.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
3.2.2
119
Vermeidung von Chaos und Erstarrung
Wie bereits ausführlich beschrieben, bedeutet Gleichgewicht das Ende eines lebenden Organismus. In diesem Punkt unterscheidet sich das Verständnis der Komplexitätstheorie deutlich von den klassischen Volks– und Betriebswirtschaftlichen Lehrinhalten, deren erklärtes Ziel es ist, ein Gleichgewicht zu finden.ȱIn diesem Sinne sind auch die Empfehlungen der Komplexitätstheorie eines „nicht zuviel“ und „nicht zu wenig“ zu interpretieren. Auch wenn diese Empfehlung noch ungenau ist, bietet Sie im Kontext zu bekannten Organisationsmodellen wichtige Anhaltspunkte für die Eingrenzung eines Zielbereichs. So ermöglichen die folgenden Begriffspaare eine Einordnung des eigenen Retail Banking. „zu wenig“ Zu wenig Struktur: Chaosfalle Zu wenig Planung: Qualitätseinbußen Zu wenig Innovation: Verlust an Wettbewerbsfähigkeit Zu wenige Vertriebskanäle: Verlust an Attraktivität
Hohe Unternehmensfitness im Zielbereich einer Entwicklung des Retail Banking am Chaosrand.
„zu viel“ Zu viel Struktur: Bürokratiefalle Zu viel Planung: Mangelnde Improvisationsfähigkeit Zu viel Innovation: Kostenfalle Zu viele Vertriebskanäle: Hohe Komplexitätskosten
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 32: Erfolgreiche Balance am Rande des Chaos. Die hieraus resultierende Leitlinie für das Retail Banking empfiehlt eine ausgewogene Balance aus Kontinuität (Ordnung) und permanenter Veränderung (Chaos).125
3.2.3
Selbstorganisation und Emergenz in vernetzten Systemen berücksichtigen
Die von Kaufmann propagierte „Ordnung zum Nulltarif“ ist eine der am meisten beachteten und diskutierten Erkenntnisse der Komplexitätstheorie. Auch wenn es gerade für ökonomische Prozesse verlockend ist, die quasi natürliche Tendenz zur Selbstorganisation anzunehmen, bleiben Zweifel, ob dieses in einem Unternehmen wirklich funktionieren kann. Eine Ordnung umsonst impliziert automatisch die fehlende Notwendigkeit des Managements. Ein Laissez-faire Führungsstil würde propagiert. Daraus ergibt sich zwangsläufig ein Paradoxon für das Management, welches in diesem Fall überflüssig würde. Diese Interpretation entspricht aber weder dem Kerngedanken der systemischen Führungslehre, noch lässt er sich aus dem modelltheoretischen Kern der Komplexitätstheorie ableiten.126 125 Vgl. Stacey, R. D. (1995), S. 78 ff. 126 Vgl. Kappelhoff, P. (2000), S. 381.
120
Leitlinien für den Strategieprozess
Zudem vergessen diese Überlegungen vielfach das Phänomen der selbstorganisierten Kritizität. In diesem dynamischen Spannungszustand neigen sich selbst organisierende komplexe adaptive Systeme zu unvorhersagbaren Kettenreaktionen, die vielfach in unkontrollierbaren, partiellen Systemzusammenbrüchen enden.127 Diese Spannungsfelder im Umfeld des Retail Banking zu identifizieren und aktiv geeignete Maßnahmen zu entwickeln muss in jedem Fall Aufgabe eines Managements bleiben. Die Leitlinie stellt damit nicht das Management an sich in Frage, sondern betont die zentrale Rolle jedes Mitarbeiters einer Organisation. Das klassische Führungsverständnis, wonach allein die Führungskraft weiß, was gut für das Unternehmen ist und seinen Mitarbeitern das richtige Handeln vorschreibt, lässt sich bei zunehmender Komplexität nicht mehr aufrechterhalten. Unter diesem Gesichtspunkt entwickeln sich Emergenz und Selbstorganisation zu entscheidenden Aspekten für die Überlebensfähigkeit des Retail Banking (wie auch in allen anderen Teilen der Bank). Konkret gilt es, die verteilte Intelligenz und Kreativität der Organisation im Rahmen der Strategieentwicklung und -umsetzung optimaler zu nutzen. „Selbstorganisation kommt als Ergänzung oder Alternative erst dann ins Spiel, dann aber zwingend, wenn die Komplexität einer Organisation das Steuerungsvermögen einer Zentralinstanz überschreitet.“128 Eine optimierte Prozessgestaltung, ein effizienteres Wissensmanagement und eine verbesserte Motivation können die Folge sein. Die Leitlinie der Selbstorganisation und Emergenz umfasst insbesondere die folgenden Punkte: Schaffung definierter Bereiche, die eine stärkere Selbstorganisation erlauben. Förderung erfolgreicher, autonom agierender Geschäftseinheiten, die sich an einer gemeinsamen Zielrichtung orientieren. Das Vertrauen in die Kompetenz unterer Systemebenen muss aufgebaut werden. Im Retail Banking meint dies insbesondere den Grad der Autonomie in der Kundenbetreuung. Nutzung der vernetzten Intelligenz im Unternehmen. Für das Vertriebswegemanagement spielt das in der Organisation verteilte Wissen um den Kunden eine entscheidende Rolle. Im Sinne dieser Leitlinie ist damit nicht nur entscheidend, welche internen und externen Komponenten das Retail Banking beeinflussen, sondern auch wie die Beziehungen dazwischen aussehen. Bei der Festlegung der Rahmenbedingungen für Selbstorganisation muss weiterhin beachtet werden, dass sich diese durchaus auch negativ auswirken kann, wenn z.B. Mitarbeiter ihre Freiräume nicht im Sinne der Bank nutzen, eingespielte Arbeitsabläufe verkrusten oder Angst vor Neuerungen wichtige Innovationen verhindern.
127 Vgl. Kappelhoff, P. (2002), S. 65; Die selbstorganisierte Kritizität äußert sich in biologischen Systemen
häufig in hohen Aussterberaten einer Population. Plastisch kann sie auch anhand eines kegelförmigen Sandberges erläutert werden. Eine ständige Sandzufuhr sorgt laufend für Sandlawinen unterschiedlicher Größe. Das System erreicht niemals einen Gleichgewichtszustand. Nach Aufbau einer dynamischen Spannung, reicht ein weiteres Sandkorn aus, um eine Sandlawine auszulösen. 128 Malik, F. (2004), S. 143.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
3.2.4
121
Attraktoren in strategischen Prozessen erschaffen und gezielt einsetzen
Dynamische Systeme neigen dazu, sich selbst immer wieder in Richtung eines neuen Attraktors auszurichten. Damit avancierten seltsame Attraktoren in der komplexitätstheoretisch orientierten Managementliteratur zu einem wichtigen Führungs- und Motivationsinstrument. Für die strategische Positionierung der Vertriebswege im Retail Banking kann der Effekt von Attraktoren zudem wirkungsvoll genutzt werden. So können z.B. einzelne Vertriebswege durch gezieltes Marketing im Sinne eines Attraktors so positioniert werden, dass eine Ausrichtung definierter Zielgruppen auf diese Vertriebswege erfolgt. Hierzu müssen bestimmte Voraussetzungen beachtet werden: Ein seltsamer Attraktor bildet sich niemals aus dem „Nichts“. Er basiert immer auf einer Vielzahl existierender Faktoren in einem komplexen adaptiven System. Die Ausprägung des Attraktors setzt in sozialen Systemen eine hohe Überzeugung der Teilnehmer voraus, die im Idealfall aus einer fundierten und unverschleierten Wiedergabe der zugrunde liegenden Situation resultiert. Attraktoren bilden sich vorzugsweise in dem Umfeld adaptiver Herausforderungen und erzeugen unvermutete Resultate und Erfolge.129
3.2.5
Die individuelle Fitness permanent überprüfen und neue Gipfel anpeilen
Unter dem Leitbild einer dynamischen Fitnesslandschaft gilt es permanent ein klares Bild über die individuelle Fitness im Umfeld der relevanten Wettbewerber zu haben. Da sich die relative Fitness in der aktuellen Wettbewerbssituation des Retail Banking sehr dynamisch verändert, ist die regelmäßige Standortbestimmung wesentliche Grundlage einer Strategiefindung.
Der Produktlebenszyklus als Analogie aus den Lebenswissenschaften Das Modell des Lebenszyklus basiert auf dem Gesetz des „Werdens und Vergehens“ und wurde als Analogie zu biologischen Prozessen auf die Absatzentwicklung von Produkten übertragen. Der Produktlebenszyklus wurde damit quasi als eine natürliche Gesetzmäßigkeit dargestellt. Dies löste eine breite und kontroverse Diskussion zur Aussagefähigkeit des Produktlebenszyklus aus, deren wesentlichste Frage die grundsätzliche Übertragbarkeit biologischer Gesetze auf die Ökonomie war. Heute gilt der Produktlebenszyklus im Marketing als akzeptiert und leistet wertvolle Hilfe im Rahmen von Produktmanagement und -planung.
129 Vgl. Pascale, R.T., Millemann, M., Gioja, L., Herrmann, M. (2002), S. 77.
122
Leitlinien für den Strategieprozess
Die Herausforderung in der Anwendung des Produktlebenszyklus liegt weniger darin, das theoretische Gesamtkonzept zu erfassen, als vielmehr in der praktischen Ermittlung des eigenen Standorts. So ist es z.B. gerade die Frage ob der Gipfel (Sättigungsphase) erreicht oder ggf. schon überschritten wurde, in der Praxis oft erst dann festzustellen, wenn die Umsatzzahlen wieder rückläufig sind.
Auch unter dem jüngeren Leitbild der Fitnesslandschaft muss – wie beim Produktlebenszyklus – auf bekannte Methoden zur Standortbestimmung zurückgegriffen werden. Hierzu zählen etablierte ökonomische Konzepte, wie z.B. SWOT-, Wettbewerbs- und Benchmarkinganalysen oder aber auch Best Practise Projekte. Die Anzahl alternativer, dynamischer Analysekonzepte sind heute noch sehr begrenzt. Darüber hinaus gilt es, geeignete Instrumente zur Navigation durch eine Fitnesslandschaft zu identifizieren. Dies bedeutet nicht nur einen geeigneten Weg über die Fitnesslandschaft zu finden, sondern auch die dabei permanent erfolgenden Veränderungen der Landschaft zu berücksichtigen. Zwar bietet die Komplexitätstheorie auch hier keine wirklich neuen Instrumente, jedoch führt die Überprüfung der Zielgenauigkeit existierender strategischer Verfahren unter dem Blickwinkel der Fitnesslandschaft zu neuen und erstaunlichen Ergebnissen. Praktische Wege, wie eine Fitnesslandschaft für das Retail Banking umgesetzt werden kann, stellen wir im Teil V vor.
3.3
Anwendung der Leitlinien in der Strategieentwicklung
Vorgenannte Einblicke in das Wesen und das Management komplexer adaptiver Systeme stecken den Handlungsrahmen für die strategische Ausrichtung der Vertriebswege ab. Die Kernaussagen der Komplexitätstheorie sind in Leitlinien zusammengefasst. In der zunehmend komplexen, dynamischen Umwelt bieten die Leitlinien eine grundlegende Orientierungshilfe. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Wirkung der Leitlinien auf den bereits in Kapitel 2 dargestellten Managementprozess.
Die Komplexitätstheorie – Eine neue Dynamik in der Forschung
M e ta -W is s e n s c h a ft
L e itlin ie n de r K o m p le x itä ts th e orie
P erm a n en te B erü ck sic h tig un g u n b erech e nb a rer D yn am ik .
A n g ew a n d te s M anagement
B a n k m a rke tin g M anagem ent
M ark tiin form ation U n tern eh m en sin form ation
123
S tra te g iee n tw ic k lu n g
S tra te g iee n tw ic k lu n g im R e ta il B a n k in g
S ta nd o rtb e stim m ung du rch füh ren
V erm e id un g vo n C h ao s u n d E rstarru n g . M a rk etin g zie le S elb sto rg a n isatio n un d E m erg en z in ve rn etz ten S ystem e n b erüc k sic h tig en . A ttra k to re n in stra teg isc h e n P ro ze sse n e rsc h a ffen un d g e zie lt e in setz e n . D ie in d ivid u e lle F itn ess p e rm a n en t ü b erp rü fen un d n eu e G ip fe l a n p eilen .
V e rtrieb sstra teg ien a b le iten
M ark e tin g stra te g ien M ark etin g in stru m e n te
P o sitio n ie ru n g d e r V e rtrieb sk an äle
M ark torien tierte B an k org an is ation M ark etin gk on tr olle
A u sw a h l d er V e rtrieb sk an äle
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 33: Schritte der Strategieentwicklung unter den erarbeiteten Leitlinien. Die Leitlinien wirken direkt auf den Strategieprozess und zeichnen somit den Kontext für die Positionierung der Vertriebskanäle im Retail Banking. Der Prozess setzt auf den Ergebnissen der Untersuchung des Retail Banking, des Bankmarketings und des Multi Channel-Vertriebs auf und integriert diese Bausteine in der Strategiefindung. Zusätzlich zur Entwicklung einer grundlegenden Vertriebsstrategie für den Multi Channel-Vertrieb, der Identifikation geeigneter Instrumente zur Auswahl der Vertriebskanäle und entsprechender Empfehlungen für das Multi Channel-Management, beziehen sich die Leitlinien auch auf die abschließende Ableitung von Handlungsempfehlungen für die operative Umsetzung. In den foldenden Kapiteln werden die Leitlinien zur Lösung praktisch relevanter Strategiefragen herangezogen und damit für den Leser noch greifbarer. Die große Stärke der Komplexitätstheorie liegt in ihrem universellen und interdisziplinären, Charakter. Dabei bietet sie (noch) keinen konkreten Instrumentenkoffer, sondern bildet die Grundlage für ein verändertes und für die heutigen Umweltbedingungen besser zugeschnittenes Managementverständnis. Bliss fasst dies mit den Worten zusammen: „Es geht nicht um das beflissene ‚Abarbeiten’ eines fest formulierten Phasenschemas; es geht um die Befähigung in komplexen Bezügen denken und handeln zu können – und damit um die generelle Problemlösungsfähigkeit eines ‚Thinking-in-Complexity’.“130
130 Bliss, C. (2000), S. 259.
Teil V
Entwicklung der Vertriebsstrategie unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie
Einfluss der Komplexitätstheorie auf die strategische Planung
1.
Besonderheiten strategischer Planung in komplexen Märkten
Der Begriff Strategie ist abgeleitet aus den altgriechischen Begriffen ‚stratos’ (Heer) und ‚agein’ (führen) und bezeichnet ein zielorientiertes Vorgehen, das auf einem langfristigen Plan basiert. In den deutschen Sprachgebrauch wurde der Strategiebegriff für militärische Zwecke durch Carl von Clausewitz eingeführt, der auch auf die Unterscheidung zwischen langfristiger Strategie und kurzfristiger Taktik hinwies. Ein Meilenstein in der Entwicklung zur strategischen Geschäftsentwicklung war Igor Ansoffs 1965 veröffentlichtes Buch Corporate Strategy, welches als eines der ersten grundlegenden Werke des strategischen Managements gilt. Der in den sechziger Jahren entstandene Ansatz wurde weiterentwickelt und vereint heute ein breites Spektrum unterschiedlicher Handlungsalternativen. Das derzeit in vielen Banken vorherrschende Strategieverständnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Strategie einer Bank umfasst die grundsätzliche Festlegung der langfristigen Unternehmensziele, der Politiken und Richtlinien sowie der Mittel und Wege zur Zielerreichung. Unterhalb der Unternehmensstrategie werden Bereichsstrategien verfolgt.131 Die Gesamtbankstrategie zeigt dabei die prinzipielle Entwicklung eines Instituts auf. Der Gesamtmarkt wird hinsichtlich Kernkompetenzen und Ressourcen strukturiert. In diesem Rahmen definieren auf Kundengruppen bezogene und weitgehend autonom handelnde Geschäftsfelder – wie z.B. das Retail Banking – eigene Teilstrategien. Obwohl die heutigen Umweltbedingungen einen dynamischen und umfassenden Ansatz erfordern, wird die Strategiefindung in Banken häufig als isolierter, zentraler „top-downProzess“ verstanden, der in der Unternehmensführung, bzw. in deren Stäben entwickelt und an die gesamte Organisation weitergegeben wird. Wie bereits verschiedentlich dargestellt, 131 In Anlehnung an Staehle, W.H. (1994), S. 575.
128
Besonderheiten strategischer Planung in komplexen Märkten
muss davon ausgegangen werden, dass ein zentraler Ansatz nur schwer in der Lage ist, die Komplexität und Dynamik des Retail Banking umfassend zu berücksichtigen. Eine harte Trennlinie zwischen dem strategischen und operativen Management kann unter komplexen Marktbedingungen daher nicht aufrechterhalten werden. Der Stratege darf sich nicht von den vielfältigen Informationen der Basis abschneiden. Viel versprechende Strategien existieren im ganzen Unternehmen und sind nicht auf die Unternehmensleitung beschränkt.132 Selbstorganisation und Emergenz werden in diesem Umfeld zu wesentlichen Ansätzen für die strategische Planung, unter deren Kenntnis auch die häufig vertretene Meinung verworfen werden muss, Strategie sei lediglich die Summe analytisch ermittelter Detailkenntnisse. Für Banken gilt es demnach ein eigenes, zeitgemäßes Strategieverständnis zu entwickeln. Mit zunehmender Komplexität der Marktbedingungen werden klare Leitideen für Unternehmen und Kunden immer wertvoller. „Strategie ist komplex. Der Einfluss einer Strategie wird nicht allein von der Initiativaktion des Unternehmens bestimmt, sondern von den Interaktionen der Strategie mit Wettbewerbern, Kunden und anderen Mitspielern im Wettbewerbsumfeld“133 Ein analoges Bild zeichnet die sich ständig verändernde Fitnesslandschaft. Die strategische Bestimmung der Ziele im Retail Banking muss unter Kenntnis der heutigen komplexen Marktbedingungen auf ein sich ständig veränderndes Wettbewerbsumfeld ausgerichtet sein. Die Erkenntnisse zur unberechenbaren Dynamik zwingen zu dem Rückschluss, dass die langfristige Entwicklung einer Bankstrategie unabwägbar und damit nicht prognostizierbar ist. Auch Mintzberg hält die Annahme für einen Trugschluss, die Zukunft sei in formaler Weise planbar.134 Damit muss eine singuläre strategische Zukunftsvision zwangsläufig als gefährliche Illusion klassifiziert werden. Diese Erkenntnis bedeutet aber keineswegs, dass jede langfristige Planung Makulatur ist, sondern fordert zu einem flexibleren Management auf, dass starren Prognosen nicht vertraut, Umweltveränderungen laufend neu bewertet und kreativ alternative Wege zur Erreichung der langfristigen Ziele aufzeigt. Folglich wird die permanente Flexibilität der gesamten Organisation zum wesentlichen Wettbewerbsfaktor, um für eine kaum kalkulierbare Zukunft gewappnet zu sein. Der im strategischen Management lang verbreitete Glaube, in einer Organisation könnten interne und externe Kontrollmöglichkeiten geschaffen werden, die langfristige Prognosen zur Unternehmenssteuerung liefern, erweist sich im Kontext der Komplexitätstheorie als reine Utopie.135 Stattdessen gilt es die Bank flexibel zu halten und zu diesem Zweck das Wissen und die Kraft der gesamten Organisation zu mobilisieren. Managementansätze, die einen permanenten Wandel unterstützen, sowie adaptives Lernen und Wissensmanagement implizit voraussetzen, sind unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie daher zu präferieren.
132 Vgl. Kotler, P., Bliemel, F. (2001), S. 105. 133 Day, S., Reibenstein, D. (1998), S. 17. 134 Vgl. Mintzberg, H. (1995), S. 54. 135 Vgl. z.B. Stacey, R. D. (1995), S. 12.
Einfluss der Komplexitätstheorie auf die strategische Planung
2.
129
Dynamische Strategien im Retail Banking
Wie bereits ausgeführt, basiert die Retail Banking-Strategie auf den übergeordneten Unternehmenszielen und der generellen Strategie der Bank. Üblicherweise determiniert dabei die übergeordnete Strategie die jeweils Nachfolgende.136 Diese weit verbreitete Vorgehensweise kann unter Kenntnis der Wirkungsweise von Emergenz nur für einen kurzfristigen Betrachtungszeitraum aufrechterhalten werden. Mittel- bis langfristig wird die Strategie im Retail Banking positive oder negative Rückkoppelungen auf die Bankstrategie haben. So ist es sehr wahrscheinlich, wenn eine erfolgreiche Retail Banking-Strategie mittelfristig dazu führt, die Bedeutung des Geschäftsbereichs im Vergleich zu weniger erfolgreichen Geschäftsbereichen zu steigern. Wie die folgende Abbildung veranschaulicht, beeinflusst die damit verbundene, emergente Verschiebung der Schwerpunkte die gesamte Strategie der Universalbank.
Indirekte Rückkoppelung
Indirekte Rückkoppelung
Unternehmensstrategie der Universalbank Direkter Einfluss Beobachten und Lernen
Analyse des Wettbewerbs -umfelds
Auswahl der Bereichsstrategie
Einschätzung von Chancen und Risiken
Bewertung der Dauerhaftigkeit
Antizipation von Aktionen und Reaktionen der Konkurrenz
Formulierung dynamischer Strategien
Kommunikation der Hypothesen
Bereichsstrategie des Retail Banking Quelle: In Anlehnung an Day, G.S., Reibenstein, D.J.(1998), S. 265. Abbildung 34: Formulierung dynamischer Wettbewerbsstrategien. 136 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Management-Prozess in Kapitel 3.
130
Der Einstieg in den dynamischen Managementprozess
Der untere Teil der Abbildung zeigt den strategischen Planungsprozess im Retail Banking als Kreislaufmodell. Die permanente Berücksichtigung unberechenbarer Dynamik bedingt die Installation eines fortlaufenden Prozesses zur ständigen Überprüfung und adaptiven Weiterentwicklung der jeweiligen Strategie. Die Rückkoppelung einer erfolgreichen oder fehlgeschlagenen Strategie gilt es dabei als mittelfristigen dynamischen Effekt komplexer Systeme zu bedenken. Strategische Planung wird zu einer laufenden und permanenten Aufgabe des Managements. Die Formulierung dynamischer Strategien ist in der Abbildung als Eintrittspunkt in den Strategieprozess gesondert markiert und weist auf den initialen Anstoß des strategischen Prozesses hin.
3.
Der Einstieg in den dynamischen Managementprozess
Ein Einstieg in den generellen Strategieprozess im Retail Banking kann in Anlehnung an Kilgus durch die Formulierung folgender grundlegender Fragen erfolgen:137 Welche relevanten (geographischen) Märkte soll die Strategie umfassen und was sind dort die anvisierten Kundensegmente? Welches Leistungsprogramm soll diesen Segmenten angeboten werden? Auf welchen Vertriebskanälen werden die Produkte auf einzelnen Märkten hinsichtlich der definierten Segmente angeboten und wie erfolgt die Kommunikation zum Kunden? Wie sollen die Produkte konzipiert und realisiert werden? Welche Organisation und Prozesse sind dafür erforderlich? Welche Rolle spielt hierfür die IT und welche Funktionen sollen als Kernkompetenzen selber erbracht, bzw. sogar Dritten angeboten werden? Um diese Fragen zu Strategien weiterzuentwickeln, ist es zunächst erforderlich, die eigenen Retail Banking-Ziele auf Basis einer fundierten Standortbestimmung zu entwickeln. Gleichzeitig zeigen die vorgenannten Fragen aber auch, dass es keinen allgemeingültigen Strategieansatz geben kann. Zu unterschiedlich sind die Ausgangslagen und strategischen Optionen der verschiedenen Banken und Retail Banking-Geschäftsbereiche. Jeder Marktteilnehmer im Retail Banking muss seine individuelle Antwort aufgrund seiner spezifischen Rahmenbedingungen entwickeln. Daher konzentriert sich unser Ansatz auf die Entwicklung und Darstellung eines geeigneten Vorgehensmodells und der hierzu erforderlichen Methoden zur Festlegung der individuellen Strategie. Durch die strategischen Entscheidungen im Retail Banking werden automatisch
137 Vgl. Kilgus, E. (1995), S. 36.
Einfluss der Komplexitätstheorie auf die strategische Planung
131
erste Weichen für die Positionierung der Vertriebswege gestellt. Entsprechend folgt der hier beschriebene Strategieprozess konsequent dem bereits vorgestellten Management-Prozess. Die strategische Bedeutung der einander widerstrebenden Ziele sinkende Vertriebskosten, gleichzeitige Steigerung der Erlöse und Sicherung des Ansehens der Bank wurde für das Privatkundengeschäft bereits in Teil II ausführlich beschrieben. Entsprechend soll dieser Zielkonflikt – dargestellt im „Magischen Dreieck im Retailbanking“ (siehe Abbildung 1) als wesentliche, übergreifende Herausforderung im Folgenden auch inhaltlich detailliert betrachtet werden.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
1.
Die Standortbestimmung unter Berücksichtigung der Leitlinien der Komplexitätstheorie
Die generelle Aussagekraft einer bewussten, strategischen Planung wird zunehmend angezweifelt. Mintzberg stellt hierzu die provokative Frage, ob realisierte Strategien tatsächlich immer beabsichtigt waren.138 Auch wenn die tägliche Praxis im Bankgeschäft bestätigt, dass die Durchsetzung strategischer Vorhaben von vielen unwägbaren Faktoren abhängt, wie z.B. die individuelle und auf den Moment bezogene Durchsetzungskraft bestimmter Personen, die Aufmerksamkeit und Entscheidungsfreudigkeit eines relevanten Gremiums oder Vorgesetzten, politisch motivierte Entscheidungen oder Vetos aufgrund laufender Machtspiele im Management, so tragen die existierenden Erkenntnisse der Managementtheorie unbestreitbar zu einer systematischeren Entscheidungsfindung bei. Daher gilt es, den normativen Charakter bewährter Managementschulen anzuerkennen und die Leitlinien der Komplexitätstheorie für die zielgerichtete Auswahl geeigneter Methoden und zur Kompensation der erkannten Schwächen dieser Methoden zu nutzen. Die Gemeinsamkeit jeder Strategieplanung – so unterschiedlich die Vorgehensweisen auch sein mögen – liegt in der Analyse der Umweltsituation sowie der internen Möglichkeiten und Grenzen.139 Dieser fundamentale Managementprozess gilt unverändert unter den erarbeiteten Leitlinien der Komplexitätstheorie. Die erste Phase der Entscheidungsvorbereitung bedarf der internen Betrachtung von Informationen zum Retail Banking inklusive der existierenden Vertriebswege, sowie der externen Analyse der marktbezogenen Gegebenheiten.
138 Vgl. Mintzberg, H., Ahlstrand, B., Lampel, J. (1999), S. 23. 139 Steinmann, H., Schreyögg, G. (2002), S. 157.
134
Die Standortbestimmung unter Berücksichtigung der Leitlinien der Komplexitätstheorie
Standortbestimmung, Analyse der...
Marketingstrategie
Bereichsziele
Bereichsstrategie
Aktionsfeldziele
Instrumentalziele
Gegenseitige Beeinflussung
Einstieg in den Strategieprozess im Retail Banking
Gesamtbankziele
Gegenseitige Beeinflussung
...internen Umwelt im Retail Banking • Stärken • Schwächen
Beeinflussung durch vorgegebene:
Vertriebsstrategie
Multi-Channel Vertrieb
...externen Umwelt im Retail Banking • Chancen • Risiken
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 35: Die Standortbestimmung im Strategieprozess. In der Abbildung wird die Phase der Standortbestimmung als gestrichelt eingerahmtes Feld hervorgehoben und in den Gesamtprozess der Strategiefindung eingeordnet. Dem dargestellten Prozess liegt die bereits beschriebene Einordnung der Vertriebsstrategie in das Ziel- und Strategiegefüge des Retail Banking zugrunde. Unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie müssen mittelfristig auch emergente Rückkoppelungen zu den höheren Strategieebenen berücksichtigt werden, die in der Abbildung durch zurücklaufende Pfeile dargestellt sind. Gerade der Analyse der internen und externen Umwelt muss im Rahmen des Strategieprozesses eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Da sie die informatorische Voraussetzung für alle nachfolgenden Schritte und damit einer erfolgreichen Strategieformulierung schafft, kann sie als das „Herzstück“ des strategischen Planungsprozesses gesehen werden.140 Darüber hinaus ist die Erfassung der komplexen, dynamischen Umwelt gerade in dieser Phase eine besondere Herausforderung. Die eigentliche Standortbestimmung erfolgt heute häufig anhand der Systematik einer SWOT- Analyse. Dabei wird die interne Umwelt – wie in Abbildung 35 ersichtlich – hin140 Vgl. Steinmann, H., Schreyögg, G. (2002), S. 158.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
135
sichtlich der vorhandenen Stärken und Schwächen untersucht. Die externe Umwelt wird hinsichtlich ihrer Chancen und Risiken analysiert. Da das berühmte Akronym SWOT in der gängigen Managementliteratur ausführlich nachgelesen werden kann, soll es hier nur in einem kurzen Exkurs beschrieben werden.
Die SWOT-Analyse im Retail Banking Die SWOT-Analyse ist eines der gebräuchlichsten strategischen Modelle und hat ihren Ursprung in der strategischen Designschule, welche zu den einflussreichsten Denkschulen in der Strategieentwicklung gehört und auch heute noch Managementliteratur prägt. Strategie wird nach diesem 1965 an der Harvard Business School entwickelten Ansatz als ein durch eine zentrale Instanz (Vordenker) geplanter und durchdachter Prozess betrachtet. Die einzelnen Buchstaben ergeben sich aus der englischen Abkürzung der Begriffe strength, weakness, opportunities und threads und stehen für die internen Stärken und Schwächen eines Unternehmens (bzw. Geschäftsbereichs) sowie die Marktchancen und –risiken. Als Stärken können die Faktoren bezeichnet werden, die dem Retail Banking zu einer relativ starken Wettbewerbsposition verhelfen. Dagegen werden unter den Schwächen die Punkte subsumiert, die das Retail Banking an der Erzielung von Wettbewerbsvorteilen hindern. Eine Marktchance ergibt sich aus einem möglichen Marktvorhaben und verspricht dem Retail Banking einen Wettbewerbsvorteil. Chancen müssen auf ihre Attraktivität und Erfolgswahrscheinlichkeit hin untersucht werden. Ein Marktrisiko ist eine aus dem Umfeld des Retail Banking gewachsene Gefahr, welche das konkrete Geschäftsfeld oder sogar die gesamte Branche bedroht und die ohne Reaktion zur einer Stagnation oder sogar Existenzbedrohung führen kann. Risiken werden durch ihr Gefahrenpotenzial und ihre Eintrittswahrscheinlichkeit klassifiziert. Zur Untersuchung der genannten Merkmale haben Wissenschaft, Unternehmensberatungen und Praktiker zahlreiche Analysemodelle, Tableaus und Checklisten entwickelt die in der gängigen Fachliteratur ausführlich beschrieben sind. Für die sinnvolle praktische Anwendung einer SWOT-Analyse ist jedoch die Identifikation und Konzentration auf die für die Unternehmensentwicklung wesentlichen Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken wichtig.
Gerade im Hinblick auf den Strategieprozess bietet die Unterscheidung nach internen Stärken und Schwächen bzw. externen Chancen und Risiken eine hilfreiche Systematik zur Bestimmung des eigenen Standorts im Retail Banking. Die bisher dargestellten Besonderheiten der strategischen Planung in einer komplexen adaptiven Umwelt werfen jedoch die Frage auf, wieweit Ergänzungen und Anpassungen an die SWOT-Systematik erforderlich sind, um die heutige Komplexität im Retail Banking zu erfassen?
136
Das Komplexitätsmanagement bei der Standortbestimmung
2.
Das Komplexitätsmanagement bei der Standortbestimmung
2.1
Aussagekraft der SWOT-Analyse in einer komplexen Umwelt
In einer kalkulierbaren Umwelt ist die SWOT-Analyse ein hervorragendes Instrument zur Bestimmung des eigenen Standorts. Die zunehmende Umweltkomplexität stellt jedoch neue bzw. erweiterte Anforderungen an die strategische Planung. Zunächst ist eine gesunde Skepsis an der generellen Aussagekraft bewusster Planung angebracht. Insbesondere lange Planungsphasen sind in einer dynamischen Umwelt kein adäquates Management-Instrument. Die Planung darf nicht als einmaliger Akt verstanden werden, sondern muss in einen permanenten, rollierenden Prozess übergehen. Planung darf in keinem isolierten Top-Down-Prozess entstehen, sondern muss dass Wissen der Organisation integrieren. Trotz dieser Schwächen gibt es aus unserer Sicht derzeit kein besseres Prinzip zur systematischen Erfassung der Umwelt als die SWOT-Analyse. Neben den vorgenannten, übergreifenden Anforderungen an die strategische Planung ergeben sich auch die beiden folgenden, speziellen Anforderungen an die Durchführung der SWOT-Analyse. Aufgrund der existierenden Komplexität und Dynamik müssen die einzelnen SWOTAnalysefelder im Sinne einer selektiven Informationsverarbeitung betrachtet werden. Die hier gewonnenen Informationen können nicht ausreichen, die komplexe Organisation und das dynamische Umfeld des Retail Banking vollständig abzubilden. Es besteht also ein permanentes Risiko unzureichender oder fehlender Informationen. Unter dem Leitbild einer Fitnesslandschaft muss die interne und externe Standortbestimmung im Kontext der Fitness der Mitbewerber betrachtet werden. Dieser Blickwinkel erfordert eine relative Betrachtung aller identifizierten Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken. Sie gewinnen erst im Rahmen eines direkten Vergleichs mit den relevanten Wettbewerbern oder Branchenstandards einen echten Aussagewert. Für diese beiden Anforderungen werden wir in den drei folgenden Kapiteln konkrete Hilfsmittel und Instrumente vorschlagen.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
2.2
137
Die exakte Standortbestimmung durch interdisziplinäre Teams
In Erkenntnis, dass ein komplexes System mit unserem heutigen Wissensstand nicht komplett erfasst werden kann, gilt es zwei Aspekte besonders zu berücksichtigen: Seitens der Entscheidungsträger ist ein gesundes Misstrauen gegenüber den Ergebnissen der Umweltanalyse angebracht. Im Sinne der erfolgreichen Balance am Rand des Chaos darf die SWOT-Analyse nicht dazu verführen, die gesamte Strategie ausschließlich von den Ergebnissen der Standortbestimmung abhängig zu machen. Vielmehr gilt es, Rückzugszenarien einzukalkulieren und damit die Flexibilität der Strategie zu gewährleisten. Neben den klassischen Checklisten und Profilen der SWOT-Analyse müssen weitere Instrumente identifiziert werden, um die Lücke zwischen vollständiger Information und mittels SWOT-Analyse erreichbarer Information weiter zu verringern. Zur Erreichung einer möglichst realitätsnahen Standortbestimmung wird damit die Nutzung der im Unternehmen verteilten Intelligenz erforderlich. Zur besseren Erfassung der Komplexität empfehlen wir für den Planungsprozess die Schaffung einer interdisziplinär aufgebauten Planungsgruppe. Die Auswahl der Mitglieder des temporären Projektteams hat entscheidende Bedeutung für die Ergebnisqualität. Somit erfordert dieser Schritt eine besondere Sorgfalt. Ein Planungsteam sollte wenigstens Teilnehmer verschiedener Funktionsbereiche und Hierarchieebenen enthalten, ggf. ist eine Ergänzung durch externe Teilnehmer (z.B. Unternehmensberater oder Kunden) sinnvoll.141 Für eine vertriebsbezogene Umweltanalyse im Retail Banking ist zumindest die Teilnahme der Geschäftsbereichsleitung, angrenzender Abteilungen (z.B. Organisationsabteilung, IT Department, Controlling, Produktentwicklung), dem zentralen und dezentralen Vertrieb (ggf. ausgewählt nach unterschiedlichen Vertriebswegen) und des Marketings wesentlich. Zur optimalen Größe eines Planungsteams gibt es unterschiedliche Aussagen. Eggers kommt z.B. nach eingehender Analyse zu dem Schluss, dass für die Bearbeitung komplexer Probleme der strategischen Planung eine Gruppengröße von ca. 12 Personen optimal ist.142 Selbst unter Berücksichtigung einer optimalen Teamgröße sind Effizienzverluste, aufgrund von Interaktionshäufigkeit und verhaltensbedingter Aspekte, typische Probleme der teambasierten strategischen Planung. Trotz dieser Einschränkung ist der Einsatz interdisziplinärer Teams eine unverzichtbare Voraussetzung zur Erfassung der komplexen Umwelt im Retail Banking. Klare Vereinbarungen zur Zusammenarbeit und Moderationstechniken können helfen, die Effizienz der Arbeitsgruppe zu steigern. Die im folgenden Kapitel vorgestellte Methode der Syntegration bietet darüber hinaus einen noch effizienteren Ansatz zur optimalen Nutzung verteilten Wissens. 141 Vgl. Dannenberg, M. (2001), S. 144. 142 Vgl. Dannenberg, M. (2001), S. 132.
138
Das Komplexitätsmanagement bei der Standortbestimmung
2.3
Syntegrity – strategische Willensbildung in einer komplexen Umwelt
Das Kunstwort Syntegrity setzt sich zusammen aus den Begriffen ‚Synergy’ und ‚Integrity’ und beschreibt eine aus der Kybernetik stammende Methode zur besseren Nutzung des in der Unternehmung vorhandenen Wissens. Die praktische Umsetzung dieses Ansatzes in Form von Workshops wird als Syntegration£ bezeichnet. Stafford Beer entwickelte Syntegrity in den 90´er Jahren auf Basis seiner persönlichen Erfahrungen und interdisziplinärerer Forschungen in den Bereichen Mathematik, Artificial Life, Psychologie, Bionik, Kybernetik und Informatik. Anlass der Forschung war die frühzeitige Erkenntnis, dass sich Komplexität zu einem wettbewerbsentscheidenden Aspekt im Management entwickeln würde.143 Die der Methode zugrunde liegende Arbeitsstruktur wird durch den in der folgenden Abbildung dargestellten „Ikosaeder“ vorgegeben.144 Die 30 Kanten des platonischen Körpers repräsentieren die 30 Teilnehmer einer Syntegration, die 12 Eckpunkte stehen für die einzelnen Themen, die im Rahmen eines Workshops diskutiert werden.145
Quelle: o.V., Syntegration, Malik Management Zentrum St. Gallen, http://www.malikmzsg.ch/syntegration/_pdf/Syntegration_Kurzpraesentation.pdf. Abbildung 36: Themenbearbeitung in der Struktur des Ikosaeder (rechts).
143 Vgl. Beer, S., Origins of team sentegritiy,
http://www.staffordbeer.com/papers/Origins%20Team%20Syntegrity.pdf. 144 Das Ikosaeder ist ein Polyeder, welches durch 20 gleich große, gleichseitige Dreiecke begrenzt ist. Damit
verfügt das Ikosaeder über 12 Ecken, an denen jeweils fünf Dreiecke zusammenstoßen, und 30 gleich lange Kanten. Es ist der komplexeste der fünf Platonischen Körper. 145 Vgl. Nittbaur, G., Ernst, A. (2003), S. 2.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
139
Wesentlich für den Erfolg des Verfahrens ist die Auswahl der zu bearbeitenden Fragestellung. Für die interne Umweltanalyse zur Entwicklung einer Vertriebstrategie könnte die relevante Frage z.B. lauten: „Wo liegen unsere Stärken im Retail Banking-Vertrieb und wie können wir uns optimaler aufstellen um eine effiziente und kundenorientierte Vertriebsorganisation zu erhalten? „ Neben der Eingangsfrage ist auch die Auswahl der Teilnehmer an einer Syntegration wesentlich, um die richtigen Antworten auf die Fragen zu finden. Eine wichtige Grundlage für einen erfolgreichen Workshop bildet ein repräsentativer Querschnitt der betroffenen Mitarbeiter im Rahmen der Syntegration. So gilt es eine High-Level-Syntegration zu vermeiden. Speziell die bewusste Einbindung von Vertriebsmitarbeitern aus der Filiale oder dem Telebanking kann zu sehr wertvollen Ergebnissen führen, da das Wissen über den Kunden dort ungefiltert vorliegt. Eine Syntegration beginnt mit der Auswahl der zu bearbeitenden Themen auf Basis der Ausgangsfrage. Unter der o.g. Ausgangsfrage kann z.B. die Positionierung des Vertriebswegs Filiale ein strategisch relevantes Themenfeld sein. Die einzelnen Themen werden anschließend, wie in Abbildung 36 dargestellt, in Arbeitsgruppen von fünf Personen diskutiert. Durch wechselnde Rollen ergibt sich eine Vernetzung der Personen und damit ein permanenter Informationsfluss in der gesamten Gruppe. Die Informationen fließen auf kürzesten Wegen in der Struktur des Ikosaeders, verteiltes Wissen wird adaptiv zusammengeführt und in eine gemeinsame Sichtweise integriert.146 Der abschließenden Festlegung konkreter Maßnahmen liegt eine optimierte Wissensnutzung zugrunde, die nachweislich erreicht, dass 90% der in der Gruppe vorliegenden Informationen homogen geworden sind.147 Die folgende Tabelle fasst die Vorteile der Syntegration im Vergleich zum konventionellen Vorgehen zusammen: Syntegration
Konventionell
Konzentierte Klausur über 2-3 Tage mit
Effizienzverlust durch Arbeit neben dem
strukturiertem Kommunikationsmuster.
Vernetzte Zusammenarbeit unter Einbezug aller relevanten Schlüsselpersonen.
Systematische Nutzung des verteilten Wissens erlaubt eine exaktere Standortbestimmung. Höherer Umsetzungswille durch Nutzung und Integration divergierender Meinungen und Interessen.
Tagesgeschäft, separierten Workshops und unproduktiven Konferenzen mit vielen Teilnehmern. Verlust der ganzheitlichen Betrachtung durch nicht systematisch vernetzte Bearbeitung. Mehr oder weniger strukturierte Diskussion verschiedener Sichtweisen.
Verlust an Umsetzungswillen (durch häufig übliche) Ausblendung differenzierter Meinungen.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 37: Vorteile und Nutzen der Syntegration im Wissensmanagement.
146 Vgl. Nittbaur, G., Ernst, M. (2003), S. 3. 147 Vgl. Nittbaur, G., Ernst, M. (2003), S. 3.
140
Das Komplexitätsmanagement bei der Standortbestimmung
Die Stärken der Syntegrity liegen demnach speziell in der Entscheidungsvorbereitung komplexer Fragestellungen. Die systematische Förderung einer selbstorganisierten, adaptiven Wissensvernetzung in der Struktur des Ikosaeders erlaubt eine weitaus exaktere Standortbestimmung als herkömmliche Methoden. Je nach Zusammensetzung des Teilnehmerkreises eignet sich die Methode als Baustein in der internen- oder externen Umweltanalyse. Einschränkend muss jedoch festgehalten werden, dass die Ergebnisse einer Syntegration vom Wissen und der aktiven Mitarbeit der einzelnen Teilnehmer abhängen. Eine vollständige Information bleibt damit auch unter Einsatz dieser Methode eine Illusion. Jedoch zeigt die hohe Zahl erfolgreicher Syntegrationen,148 wie z.B. auch bei der UBS, der Claridenbank oder der Commerzbank, dass diese eine adäquate Methode ist, um sich dem Ziel einer vollständigen Information in einer komplexen Umwelt anzunähern.
2.4
Benchmarking und Best Practise im Kontext der Fitnesslandschaft
Ebenso wie die beschriebene Methode der Syntegrity ist Benchmarking ein möglicher Ansatz die Aussagekraft einer Standortbestimmung im Rahmen der SWOT-Analyse zu erhöhen. Im Unterschied zur Syntegration zielt Benchmarking jedoch nicht auf einen Zuwachs an Umweltinformationen, sondern setzt die vorhandenen Informationen in Bezug zu relevanten Vergleichsgrößen.149 Wie in der sich ständig verändernden Fitnesslandschaft kommt es bei der Standortbestimmung nicht auf die absolute Fitness an. Entscheidend ist die Höhe des eigenen Fitnessgipfels im Vergleich zum Wettbewerb. Benchmarking bezeichnet den Prozess zielbezogener Vergleiche von Dienstleistungen, Produkten, Organisationsstrukturen oder Geschäftsmodellen verschiedener Unternehmen oder Geschäftsbereiche. Dieses lässt sich noch weiter spezifizieren, indem als relevante Vergleichsgrößen für ein Benchmarking vor allem die Branchenführer genannt werden. Von der Überlegung ausgehend, dass es für nahezu jedes Anliegen einer Unternehmung oder Organisationseinheit bereits an anderer Stelle vorbildliche Lösungen gibt, ist ein wichtiges Ziel des Benchmarking, entsprechende „best practises“ zu identifizieren. Kotler/Bliemel sehen darin „...die Kunst herauszufinden, ob und wie einige Unternehmen bestimmte Aufgaben viel besser machen können.“150 Ein erfolgreiches Beispiel für ein gekonntes Benchmarking ist Japans wirtschaftlicher Aufstieg nach dem zweiten Weltkrieg. In dieser Phase kopierten die Japaner intensiv amerikanische und europäische Produkte und Verfahren. Das erste erfolgreiche Benchmarking Projekt wurde jedoch 1979 durch die Fa. Xerox durchgeführt. Systematisch wurden japanische Kopierer aufgekauft und durch ein so genanntes 148 Vgl. Pfiffner, M (2004), S. 165. 149 Vgl. Meffert, H., Bruhn, M. (2003), S. 319. 150 Kotler, P., Bliemel, F. (2001), S. 672.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
141
„reverse engineering“ analysiert. Hierdurch lernte Xerox, wie die Zuverlässigkeit eigener Kopierer erhöht und die Kosten gesenkt werden konnten. Durch diese Anfangserfolge motiviert, baute Xerox das Verfahren aus um systematisch herauszufinden, in welchen Unternehmen für welche Aufgaben, Prozesse, oder Organisationsformen, die beste Durchführungspraxis (best practise) existierte.151 Benchmarking Analysen werden heute i.d.R. durch Unternehmensberatungen angeboten, die auf Basis anonymisierter Datenbanken direkt eine geeignete Vergleichsbasis mitliefern. Jedoch gibt es bei der Entscheidung für ein Benchmarking auch kritische Aspekte zu berücksichtigen: Benchmarking behindert die eigene Kreativität und führt nur zu geringfügigen Verbesserungen, da die Ressourcen nicht in eigene Innovationen investiert werden. Benchmarking Analysen sind oft zu langwierig und im Verhältnis zum Ergebnis zu kostspielig. Daher eignet sich das Verfahren nur bedingt für einen fortlaufenden, dynamischen Strategieprozess. Der stark auf die Konkurrenz gerichtete Blick versperrt die Sicht auf eigene Kernkompetenzen. Hinzu kommt, dass ein Benchmarking Ergebnis nur so gut sein kann, wie die vorab festgelegten Vergleichsparameter es erlauben. Da das komplexe System Retail Banking nicht vollständig erfasst werden kann, ist auch diesbezüglich eine gesunde Skepsis angebracht. Unter Beachtung dieser Kritikpunkte kann Benchmarking für das Retail Banking jedoch eine wertvolle Methode zur adaptiven Bestimmung des individuellen Standortes und der Ableitung weitergehender strategischer Maßnahmen sein. Wie bereits ausführlich dargestellt, ist die Rendite des Retail Banking deutscher Universalbanken im internationalen Vergleich nach wie vor gering. Daraus ergibt sich für viele Banken gerade im Vertrieb ein hohes Aufholpotenzial, das durch ein systematisches Benchmarking konkretisiert und in einen bewussten Strategieprozess überführt werden kann. Ein ausführliches Benchmarking eignet sich aufgrund der vorgenannten Einschränkungen somit eher für die erstmalige Standortbestimmung zur Einleitung des dynamischen Strategieprozesses. Im Rahmen der anschließenden kontinuierlichen strategischen Weiterentwicklungen ist es grundsätzlich empfehlenswert, kostengünstigere und weniger aufwendige Formen der Wettbewerbsbeobachtung und -analyse zu nutzen. Dies gilt besonders, wenn die eigene relative Fitness im Retail Banking bereits sehr hoch ist und die Fitnessgipfel der Wettbewerber bereits übertroffen wurden oder in erreichbarer Nähe liegen. Unter dieser Konstellation kann eine Konzentration auf eigene Stärken die durchaus bessere Strategie sein. Die Optionen eines Benchmarking für die Vertriebsstrategie im Retail Banking werden wir im Rahmen der internen und externen Standortbestimmung wieder aufgreifen.
151 Vgl. Kotler, P., Bliemel, F. (2001), S. 672.
142
Die Analyse der Stärken und Schwächen des Retail Banking
3.
Die Analyse der Stärken und Schwächen des Retail Banking
3.1
Zielsetzung der internen Umweltanalyse
Das Ziel der internen Umweltanalyse ist die Feststellung dessen, was das Retail Banking leisten kann. Generell verbergen sich dahinter die Kombinationen vorhandener Ressourcen und Fähigkeiten, die zur Erschließung der jeweiligen Zielmärkte erforderlich sind.152 Da die komplexe interne Umwelt nicht vollständig erfassbar ist, gilt es zunächst die für die strategische Zielsetzung entscheidenden Ressourcen zu identifizieren. Hier ergibt sich die Schwierigkeit zu erfassen, welchen Einfluss einzelne Ressourcen tatsächlich auf den Markterfolg haben und wie sich ihre Bedeutung im Zeitablauf ändert. In diesem Prozess kann die vorgestellte Syntegration helfen, eine zur strategischen Fragestellung passende, zielgerichtete Auswahl relevanter Ressourcen zu erhalten. Im Folgenden gilt es, diese Ressourcen für die Formulierung der Vertriebsstrategie im Retail Banking zu ermitteln. Da dieses eine institutsindividuelle Aufgabe darstellt und nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Wettbewerbssituation erfolgen kann, konzentrieren wir uns im folgenden Kapitel auf die Vorstellung einer methodischen Vorgehensweise und ergänzen diese um einen exemplarischen Überblick zu den vertriebsrelevanten Ressourcen.
3.2
Vertriebsrelevante, strategische Ressourcen im Retail Banking
Unter einer Ressource werden im Bankgeschäft alle Mittel verstanden, die in die Produktion der Bankdienstleistung einfließen. Dabei lassen sich vier Ausprägungen unterscheiden, die in dieser Form auf das Retail Banking zutreffen. Das finanzielle Kapital umfasst im Retail Banking insbesondere das Eigenkapital, da hiervon aufgrund aufsichtsrechtlicher Vorgaben die Höhe der möglichen Kreditvergabe abhängt.153 Aus Sicht des Geschäftsbereichs Retail Banking fallen hierunter aber auch die genehmigten Investitionsbudgets zur Umsetzung der Vertriebsstrategie.
152 Vgl. Wolfersberger, H.P. (2004), S. 55. 153 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A., (2002), S. 55.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
143
Das physische Kapital beschreibt die existierenden, quantitativ messbaren Faktoren, die im Retail Banking Verwendung finden. Hierunter fallen z.B. Bankgebäude (einschließlich möglicher Standortvorteile), die Filialausstattung, aber auch die Informationstechnologie. Das Humankapital beinhaltet die im Retail Banking existierenden Erfahrungen, den Ausbildungsstand der Mitarbeiter, die Motivation und Einsatzfreude etc. Der Ressource Mitarbeiter kommt in Banken, wie auch allgemein in Dienstleistungsunternehmen eine besondere Bedeutung zu. Das Organisationskapital umfasst die formale Organisationsstruktur und Berichtswege ebenso, wie auch die informalen Beziehungsnetze im Unternehmen und zu Stakeholdern. Speziell zählen hierzu auch immaterielle Werte wie das Ansehen der Bank, der Markenwert oder die Corporate Identity. Im Blickwinkel komplexer adaptiver Systeme muss dieses Bild zusätzlich um die Unternehmenskultur als komplexes Phänomen und emergente Ausprägung der formalen und informalen Zusammenarbeit in der Bank ergänzt werden. Die Unternehmenskultur entsteht im Zuge menschlicher Interaktion und umfasst alle in der Bank existierenden Wert- und Denkmuster, einschließlich der sie vermittelnden Symbolsysteme.154 Sie steht in einer wechselseitigen Beeinflussung mit dem Betriebsklima und prägt somit das Verhalten und die Einstellung der Mitarbeiter. Zwar ist die Unternehmenskultur nicht direkt und zentral gestaltbar, aber das Wirken und Handeln der offiziellen und inoffiziellen Meinungsführer wirkt prägend auf die gesamte Bank, bzw. das Geschäftsfeld. Eine offene Unternehmenskultur, in der gute Leistungen des Mitarbeiters honoriert, Fehler als Chance zur Verbesserung verstanden und die Initiative einzelner gefördert wird, ist entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit in zunehmend komplexeren Märkten. Die Fähigkeit der Mitarbeiter zur spontanen Selbstorganisation, erhöht die Flexibilität des Geschäftsfelds und erlaubt eine rasche, adaptive Anpassung an veränderte Marktbedingungen. Die Unternehmenskultur darf dabei nicht mit der Corporate Identity (CI) verwechselt werden, die sich in dem bewusst gestalteten Unternehmensbild ausdrückt. Allerdings gibt es eine wechselseitige Beeinflussung von CI und Unternehmenskultur. Auf Grundlage der Identifizierung der wesentlichen Ressourcen gilt es diese im Abgleich mit den wichtigsten Konkurrenten zu erfassen. Neben der klassischen Wettbewerbsbeobachtung, wie sie üblicherweise durch Internetrecherche, Analyse der Geschäftsberichte oder z.B. Testkäufen in Bankfilialen der Mitbewerber betrieben wird, ist das beschriebene Benchmarking ein weiterer Weg, den notwendigen Abgleich mit den anderen Marktteilnehmern zu erzielen. Die bisher erfolgte Kategorisierung der internen Ressourcen umfasst nur Überschriften, die im Rahmen der internen Umweltanalyse um konkrete Ausgestaltungspunkte ergänzt werden müssen.
154 Vgl. Steinmann, H., Schreyögg, G. (2002), S. 623.
144
Die Analyse der Stärken und Schwächen des Retail Banking
Zur Entwicklung einer adäquaten Retail Banking Vertriebsstrategie sollte die interne Umweltanalyse daher folgende weitere Aspekte berücksichtigen: Neben der häufig verwendeten Cost-Income-Ratio,155 ist die Teilbetriebsergebnisspanne, die als Teilgröße der Reingewinnspanne das operative Ergebnis des Retail Banking abbildet, eine relevante Kennzahl zur Messung der Vertriebseffizienz deutscher Retail Banken. Wie in der folgenden Abbildung dargestellt, kann die Teilbetriebsergebnisspanne in weitere interessante Kenngrößen untergliedert werden, wie z.B. die Personal- oder Sachkostenspanne. Alle Spannen werden in Prozent vom Geschäftsvolumen ausgedrückt.
Aktivzins
Bruttoertragsspanne
Bruttozinsspanne
-
+
Passivzins
Provisionsspanne Teilbetriebsergebnisspanne
-
Bruttobedarfsspanne
Personalkostenspanne
+ Sachkostenspanne
Quelle: Krumnow, J., Gramlich, L., (Hrsg.), Gabler Bank Lexikon, 12 Auflage, Gabler Verlag, Wiesbaden 2000. Abbildung 38: Die Teilbetriebsergebnisspanne in der ROI Kennzahlenhierarchie. Die interne Umweltanalyse kann um weitere quantitative Größen ergänzt werden, wie z.B: Die durchschnittlich in der Kundenberatung investierte Beratungszeit. Die Anzahl der Produktabschlüsse im Verhältnis zu den für das Produkt erforderlichen Beratungsgesprächen (Abschlussquote). Die Anzahl Neukunden pro 100 Bestandskunden (Neukundenquote).
155 Die Cost-Income-Ratio beschreibt als Produktivitätskennzahl das Verhältnis von Aufwand zum Ertrag.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
145
Daneben sind qualitative Größen im Rahmen der internen Umweltanalyse wesentlich.156 So wird z.B. die zielgerichtete Kundenansprache ein immer wesentlicherer Faktor im Wettbewerb um den privaten Kunden. Entsprechend sollte der Reifegrad der eignen Verstriebssteuerungssysteme sowie der Vertriebsunterstützung Bestandteil der Analyse sein. Darüber hinaus sind der Ausbildungsstand und die Vertriebsorientierung der Mitarbeiter, das (Marken)Image der Bank im Markt, oder die Flexibilität und adaptive Lernfähigkeit der Organisation, wichtige Aspekte zur Bewertung der (relativen) Fitness im Retail Banking Vertrieb. Bei der Bewertung einzelner Ressourcen lässt sich eine gewisse Subjektivität nicht vermeiden. Diese ist speziell mit Blick auf die qualitativen Ressourcen zu berücksichtigen, für die eine exakte Ausprägung sehr nur schwer zu ermitteln ist. Zudem ist im Rahmen der Umweltanalyse zu bedenken, dass die vorgenannten quantitativen und qualitativen Kriterien exemplarisch sind und im Rahmen einer individuellen Analyse angepasst, bzw. ergänzt werden müssen.
3.3
Kriterien zur Bewertung strategischer Ressourcen
Nach Auswahl der strategischen Ressourcen im Retail Banking, müssen diese bewertet werden. Die Einschätzung der Werthaltigkeit einer Ressource für die eigene Strategie kann nur im Hinblick auf die jeweilige Situation im Retail Banking erfolgen. Allerdings helfen die folgenden Anhaltspunkte bei ihrer Bewertung. Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit Ressourcen die Basis für einen strategischen Wettbewerbsvorteil bieten, sind: Die Knappheit einer Ressource spricht für ihren strategischen Vorteil. So kann z.B. ein besonders vertrauenswürdiges Image der entscheidende Vorteil vor einem Wettbewerber sein. Aber auch ein bevorzugter Filialstandort in bester Citylage ist häufig eine knappe Ressource. Eine erschwerte Imitierbarkeit der Ressource spricht ebenfalls für die Möglichkeit, hieraus einen strategischen Vorteil zu generieren.ȱ Da die Bankdienstleistung nicht patentierbar ist, scheiden Produktinnovationen als strategische Ressource aus. Dagegen sind weiche Faktoren, wie das Bankenimage oder die Unternehmenskultur aufgrund der komplexen Wirkungszusammenhänge kaum vom Wettbewerb kopierbar.
156 Bei der Erfassung komplexer Systeme ist insbesondere die Bedeutung „weicher Daten“, wie z.B. das
Image, die Teamfähigkeit oder Attraktivität wesentlich. In der praktischen Analyse werden sie selten erfasst, spielen aber für das Verhalten eines komplexen Systems mindesten eine ebenso große Rolle wie die typischerweise betrachteten quantitativen Daten.
146
Die Analyse der Stärken und Schwächen des Retail Banking
Wie auch bei der Imitierbarkeit, muss sichergestellt sein, dass die betreffende Ressource nicht substituierbar ist. Im Retail Banking trifft dieses Merkmal besonders auf die persönliche Beziehung zwischen Berater und Kunde zu. Seit mehreren Jahren versuchen z.B. die Direktbanken durch Verbesserung ihrer Internetportale und den Einsatz virtueller Berater Marktanteile zu gewinnen. Die persönliche, menschliche Komponente in der Beratung ist generell, aber insbesondere in Bezug auf komplexe Produkte, in absehbarer Zeit kaum substituierbar. Die Werthaltigkeit bedeutet in Verbindung mit einer Ressource, dass ihre strategische Verwendung auch tatsächlich eine wert steigernde Wirkung für das Unternehmen hat. Auch wenn Ressourcen knapp sind und nur schwer imitiert oder substituiert werden können, bedeutet dies noch lange nicht, dass ein messbarer Wert für die Retail Banking Strategie existiert. So kann z.B. eine starre und unflexible Unternehmenskultur alle vorgenannten Kriterien erfüllen. Ihr Wert in einem zunehmend komplexeren Wettbewerbsumfeld bleibt allerdings fraglich.ȱ157 Die Bewertung der erforderlichen Ressourcen anhand der vorgenannten Kriterien bildet ein wesentliches Kernstück im Rahmen der Ermittlung der Stärken und Schwächen des Retail Banking-Vertriebs im Vergleich zum Wettbewerb.
3.4
Das Stärken/Schwächen-Profil im Retail BankingVertrieb
Die interne Umweltanalyse des Retail Banking ist der von einer strategischen Planungsgruppe getragene Prozess, der mit der Auswahl und Bewertung der strategischen Ressourcen beginnt und die Erstellung eines Stärken/Schwächen Profils zum Ziel hat. Zur Messung der relativen Wettbewerbsposition wird das individuelle Profil um einen Vergleich mit relevanten Wettbewerbern ergänzt. Die Darstellung des Stärken/Schwächen Profils erfolgt mittels einer Matrix, in der die einzelnen Ressourcen in einem definierten Profil bewertet werden. Dabei werden die ausgewählten strategischen Ressourcen zeilenweise in das Bewertungsprofil eingefügt. Die Bewertung der einzelnen Ressourcen erfolgt in den in Abbildung 39 dargestellten Spalten. Häufig wird ein dem Schulnotenprinzip folgendes Bewertungsprofil von eins bis fünf zugrunde gelegt. Das Planungsteam bewertet jede einzelne Ressource anhand der vorgenannten oder selbständig erarbeiteten Kriterien. Eine noch genauere Analyse ist möglich, wenn die einzelnen Ressourcen in konkreter bewertbare Sub-Ressourcen untergliedert werden.
157 Weitere Informationen zu den Bewertungskriterien für strategische Ressourcen finden sich z.B. in Stein-
mann, H./Schreyögg, G. (2002), S. 188 f.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
147
Abbildung 39 zeigt schematisch das Ergebnis eines Stärken/Schwächen-Profils unter Einbezug eines Wettbewerbers.
Eigenes Retail Banking
Wettbewerber
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 39: Das Stärken/Schwächen-Profil in Retail Banking-Vertrieb. Es wird deutlich, dass das hieraus entstandene Profil geeignet ist, die relevanten Stärken und Schwächen im Vergleich zum Wettbewerb zu visualisieren. Weitergehende Analysen sind möglich, in dem das Profil um zusätzliche Faktoren, wie z.B. die Einschätzung der Erfolgswichtigkeit für ein Geschäftsfeld, ergänzt wird. Unter komplexen Umweltbedingungen entsteht allerdings zwangsläufig die Frage, ob das heute bekannte Stärken-/Schwächenprofil eine ausreichende Aussagekraft enthält. Für die Bewertung interner Ressourcen ist insbesondere die Beachtung der Leitlinie zum Rand des Chaos wesentlich. Gerade das Leitbild der Balance zwischen zuviel Starrheit und zuviel Chaos kann die Aussagekraft des Stärken/Schwächen Profils im Retail Banking weiter erhöhen. So gelingt z.B. Servatius mit dem Ansatz der „Prozess-Landkarte“ eine praktisch anwendbare Visualisierung der Prinzipien des Chaosrandes auf die Führungs- und Organisationsprozesse im Unternehmen. Die im Folgenden dargestellte Systematisierung und Bewertung der einzel-
148
Die Analyse der Stärken und Schwächen des Retail Banking
nen Prozesse stellt für sich genommen bereits eine wertvolle Ergänzung des Stärken/Schwächen Profils im Hinblick auf die zunehmende Unternehmenskomplexität dar.
Unternehmen können ihre eigenen Führungsprozesse in eine Landkarte einordnen und so den Ist-Zustand ermitteln BEISPIEL:
Zu viel Struktur:
Zu wenig Struktur: Chaosfalle
Bürokratiefalle StrategieGenerierung (SG)
Klassische, zentralistische SG
Klassische, dezentrale SG
Dynamische SG
Emergente SG
Keine aktive SG
StrategieOperationalisierung (SG)
Umfassende SO
Vollständig BSC kaskadierte SO
Teilweise BSC kaskadierte SO
Persönliche SO
Keine aktive SO
Budgetierung (B)
Klassische Jahresplanung und B
Permanente Planung
Advanced Budgeting
Better Budgeting
Beyond Budgeting
Innovation/immaterielles Vermögen (IV)
Messung einer Vielzahl einzelner Indikatoren
Strat. Gesamtsicht & Operationalisierung relevanter Elemente
Strat.-orga. Gesamtsicht, Operationalisierung&Umsetzung
Management einzelner Elemente des IV
Keine aktive Nutzung als Werttreiber
Zielvereinbarungen (ZV)
Zielvorgaben
Klassische ZV
Strategische ZV
Rahmenvereinbarung
Keine aktiven ZV
Organisations- gestaltung (OG)
Zentralistische OG
Etablierte OG
Adaptive OG
Kontinuierliche OG
Keine aktive OG
Lose Kopplung aller Prozesse
Teilweise Vernetzung einiger Prozesse
sehr hoch Vernetzungsgrad
Vollständige Vernetzung aller Prozesse
sehr niedrig Vollständige Vernetzung einiger Prozesse
Geringe Vernetzung der Prozesse
Quelle: Servatius, H.G. (2004), S. 43. Abbildung 40: Prozes-Landkarte der Führungsprozesse. Eine noch bessere Integration der Prinzipien zum Chaosrand erlaubt die Zusammenführung beider Ansätze. Dabei ist zu beachten, dass die Balance am Rand des Chaos je Ressource individuell bewertet werden muss. So ist z.B. im Hinblick auf die finanziellen Ressourcen der Grad der Liquidität im Retail Banking Ausdruck der finanziellen Flexibilität. Eine ungeplante und wesentlich zu hohe Liquidität spricht tendenziell für eine chaotische und nicht optimale Mittelverwendung. Dagegen reduziert eine geringe Liquidität die Flexibilität des Geschäftsfelds, auf kurzfristige Marktchancen oder -risiken kann nicht adäquat reagiert werden. Auch langwierige und unflexible Budgetverfahren weisen auf eine zu große Starrheit hin, kurzfristige Marktchancen können nicht adäquat genutzt werden. Die Zusammenführung des Stärken/Schwächen Profils mit der von Servatius dargestellten Prozess Landkarte führt zu der im Folgenden dargestellten, dreidimensionalen Fitnesskurve des Retail Banking unter Berücksichtigung des – in komplexen Märkten so wesentlichen – Flexibilitätsgrads der jeweiligen Ressource. Diese neue Achse verzichtet bewusst auf eine Skalierung, da es entsprechend der Leitlinie „Vermeidung von Chaos und Erstarrung“ zunächst um die Bewusstmachung beider Extreme geht. Die damit verbundene Visualisierung möglicher Zusammenhänge zwischen der Flexibilität einer Ressource und der Einschätzung
Die Standortbestimmung im Retail Banking
149
ihrer Stärke ist ein wesentliches Ziel dieser Darstellung. So wird in unserer Abbildung der Zusammenhang zwischen der starren Unternehmenskultur des eigenen Retail Banking und deren schwacher Bewertung (1) offensichtlich.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 41: Stärken/Schwächen-Profil unter Einbeziehung der Prinzipien des Chaosrandes. Auch wenn die Aussagekraft des Stärken/Schwächen-Profils über die Integration der Prinzipien zum Chaosrand erhöht wird, ist die Ergebnisqualität nach wie vor von der Sorgfalt der Datenerhebung und Bewertung abhängig. Diese wird unter Berücksichtigung der zusätzlichen Bewertungsdimension ebenfalls aufwendiger und komplizierter. Die dargestellte interne Stärken- und Schwächenanalyse birgt das Risiko, die Sicht des Bankkunden nicht ausreichend zu berücksichtigen. Es gilt also, den Bedarf des Privatkunden als entscheidenden Erfolgsfaktor für das Retail Banking stärker in die Analyse zu integrieren. Kundenbezogene Aspekte und Kaufentscheidungsgrößen, wie z.B. die Beratungsqualität, der Preis oder die Erreichbarkeit des Kreditinstituts sollten daher explizit in die Analyse einfließen. Der Retail Banking-Kunde oder zumindest Mitarbeiter aus der direkten Kundenbetreuung sollten in die Auswahl der wichtigen Erfolgsfaktoren und deren Bewertung einbezogen werden. Dies kann zusätzlich durch eine Kundenbefragung oder die Einbindung von Markt-
150
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
experten unterstützt werden. In der Summe ist es wesentlich, die internen Ressourcen sowohl aus dem Blickwinkel der Organisation, als auch des Kunden zu analysieren und zu bewerten.
4.
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
4.1
Ziel und Methoden der Analyse
Ergänzend zur Analyse der internen Stärken und Schwächen erfolgt über die Systematik der SWOT-Analyse eine Untersuchung der externen Chancen und Risiken. Diese zielt im Retail Banking vor allem darauf ab, jene Marktkräfte zu erkennen, die für eine Planung der Vertriebsstrategie von Bedeutung sind. Als Chancen müssen zunächst die Vertriebsbereiche und aktivitäten betrachtet werden, die unter Einsatz des Marketinginstrumentariums mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Wettbewerbsvorteil bringen. Risiken sind dagegen externe Umstände oder Entwicklungen, die den eigenen Vertrieb behindern oder sogar gefährden. So kann z.B. das Aufkommen eines neuen Vertriebsweges aufgrund neuer technologischer Möglichkeiten leicht zu einem Risiko werden. Dies gilt insbesondere, sofern diese Technologie vom Wettbewerb besser oder schneller adaptiert werden kann und der eigenen Vertriebsorganisation damit Nachteile entstehen. Umgekehrt zeigt gerade dieses Beispiel sehr gut, dass in jeder Veränderung immer auch ein Chance liegt sofern der Wandel rechtzeitig identifiziert und von der eignen Organisation adaptiert wird. Für das Retail Banking ergeben sich in einer komplexen Umwelt zwei wesentliche Handlungsmaximen: Entsprechend der Leitlinie zur „permanenten Berücksichtigung unberechenbarer Dynamik“ muss die Vertriebsorganisation flexibel bleiben, um neue und für das eigene Geschäft entscheidende Entwicklungen jederzeit adaptiv in die eigene Strategie integrieren zu können.ȱ Beispielsweise sieht Stacey die Provokation von Instabilität als eine der wesentlichen Managementaufgaben. Ziel permanenter Reorganisationen ist die Destabilisierung, um verfestigte, aus temporären lokalen Fitnessgipfeln entstandene Denk- und Handlungsmuster zu zerschlagen, Werthaltungen zu erneuern und persönliche Beziehungen aufzufrischen. Dieses Vorgehen bedingt allerdings auch ein hohes Vertrauen in die Fähigkeit der Bank zur Selbstorganisation.158 Darüber hinaus gilt es geeignete Methoden zu identifizieren, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen eine möglichst zielgenaue Analyse der externen Umwelt erlauben. An der zweiten Frage setzt das Chancen-/Risiken-Profil an, zu dessen Hauptproblem sich in einer dynamischen Umwelt die mit dem Planungshorizont zunehmende Ungewissheit entwi158 Vgl. Stacey, R.D. (1995), S. 71 ff.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
151
ckelt hat.159 Typischerweise werden die Chancen und Risiken eines Geschäftsfeldes aus einer Analyse der globalen Umweltfaktoren (Makro-Umwelt) und der unmittelbaren Marktsituation (Mikro-Umwelt) abgeleitet. Erst langsam setzt sich in den Managementetagen das Bewusstsein durch, dass eine vollständige Erfassung der komplexen externen Umwelt mit heute bekannten Methoden nicht möglich ist. Die in der Praxis oftmals vorzufindende Datensammlungswut und Systemgläubigkeit spricht dafür, einige der etablierten Vorgehensweisen noch einmal zu überdenken. So haben wir die Probleme zentraler Marketing-Informationssysteme und CRM Lösungen bereits eingehend beschrieben.
Effizienter Umgang mit der Datenflut Trotz der immer höheren Anzahl verfügbarer Daten scheitern zunehmend Projekte und Strategien an der mangelnden Berücksichtigung der Komplexität. Frederic Vester, einer der führenden Kybernetiker der Neuzeit, zeigt konsequent die Grenzen der Verarbeitungsfähigkeit existierender Informationsverarbeitungssysteme auf. Ein interessanter Lösungsansatz für den effizienten Umgang mit hohen Datenmengen findet sich im menschlichen Gehirn. Als Hauptaufgabe ist dort nicht die Sammlung möglichst vieler Daten definiert, sondern deren drastische Reduktion auf ein verarbeitbares Maß. So wird die 9 über Sinnesorgane einfließende Informationsmenge, die ca. 10 Bits/Sekunde (bit/s) auf ca. 2 10 bit/s reduziert. Dies entspricht einer Informationsreduktion auf ein Zehnmillionstel! Anschließend wird die Informationsmenge durch Assoziationsvorgänge und einen Abgleich mit 7 persönlichen Information wieder bis auf 10 bit/s aufgestockt. Die Datenmenge wird also zunächst von Ballast befreit und anschließend vom Gehirn in einen sinnvollen Kontext gesetzt. Die Informationen werden gewissermaßen personalisiert, so dass die Wirklichkeit bereits durch wenige Ordnungsparameter erfasst werden kann.160 Das dahinter verborgene Prinzip wird am besten durch Gell-Manns berühmte Formulierung: „Oberflächenkomplexität erwächst aus Tiefeneinfachheit“ zusammengefasst.ȱ 161 Ein Set an einfachen Regeln reicht demnach aus, um ein komplexes System zu lenken.
Für die Analyse der externen Umwelt muss hieraus der Rückschluss gezogen werden, dass nicht die Fülle der gesammelten Daten, sondern vielmehr deren richtige Auswahl und Bewertung entscheidend ist. Da der Aufwand zur Erfassung der externen Umwelt sehr hoch ist und aus der Datenfülle ein unübersichtliches Bild entstehen kann, empfiehlt es sich, diesen Aufwand auf strategische Geschäftsfelder zu konzentrieren und die Erkenntnisse konsequent auf die Stärken und Schwächen der eigenen Organisation zur reflektieren.
159 Büschgen, H.E., Büschgen, A., op.cit., S. 54. 160 Vgl. Vester, F. (2004), S. 22 ff. 161 Vgl. Lewin, R. (1996), S. 29.
152
4.2
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
Die Untersuchung der komplexen Makro-Umwelt
Die in Teil 2 zusammengestellte Sicht der globalen Umwelt bietet für das Retail Banking bereits eine wichtige Grundlage zur individuellen Standortbestimmung. Vorrangige Zielsetzung dieses Kapitels ist daher die Erarbeitung eines Vorgehensmodells für die Untersuchung der globalen Umwelt unter Berücksichtigung der Leitlinien der Komplexitätstheorie. Die Erfassung der Makro-Umwelt berücksichtigt insbesondere folgende Bereiche: Die makroökonomische Entwicklung mit Fokus auf die Kapital- und Arbeitsmarktdaten sowie die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von Geldvermögen und Verschuldung. Hieraus sollten auch Umschichtungen im Geldvermögen der Bevölkerung abgeleitet werden können, wie z.B. von Aktienvermögen in Bankeinlagen.162 Unterstützend sollten zudem Frühindikatoren, wie z.B. die internationale Zinsentwicklung zur makroökonomischen Analyse herangezogen werden. Die gesellschaftliche Entwicklung mit besonderem Blick auf Megatrends und die demographische Entwicklung im Geschäftsgebiet. In Deutschland beeinflusst die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung bei abnehmender Geburtenrate das Geschäft der Finanzdienstleister besonders deutlich. Dies betrifft nicht nur alleine den Wachstumsmarkt der privaten Altersvorsorge, welcher zu einem immer wichtigeren Aspekt der Finanzberatung im Retail Banking wird. Aus der zunehmenden Lebenserwartung resultiert ebenso eine veränderte Erwerbsbiographie, die zu Verschiebungen des Kundenbedarfs nach Finanzprodukten führt. Die technologische Entwicklung mit den in Teil 2 beschriebenen Auswirkungen auf bestehende und neue Zugangswege zum Bankgeschäft verdient aufgrund der hohen Innovationsrate eine besondere Aufmerksamkeit. Dies gilt speziell für das standardisierten Produkte des Retail Banking, die leicht über elektronische Medien vertrieben werden können. Zudem beeinflusst die Technologie in besonderem Maße die (teil)automatisierte Erstellung der Bankdienstleistung und ist damit ein entscheidender Aspekt im Wettbewerb.163 Die Erfassung des politischen Umfelds spielt für die gesetzlich besonders regulierte und im öffentlichen Interesse stehende Bankdienstleistung ebenfalls eine wesentliche Rolle. Zudem gilt es finanzpolitische Entwicklungen auch im Interesse der qualifizierten Kundenberatung besonders im Auge zu behalten. So können z.B. steuerrechtliche Änderungen unmittelbar das Anlageverhalten der Kunden beeinflussen.
162 Vgl. z.B. Krauter, J., Kübler, F., Krauß, U. (2003), S. 26. 163 Vgl. Wolfersberger, H. P. (2004), S. 36 ff.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
153
Im Rahmen der Analyse der externen Umwelt erfolgt zudem häufig eine Berücksichtigung der natürlichen Umwelt. Für das Retail Banking ist diese Betrachtungsdimension von untergeordneter Bedeutung. Die Herstellung der Bankdienstleistung erfolgt weitgehend unabhängig von physischen Rohstoffen und die Nutzung natürlicher Ressourcen beschränkt sich lediglich auf die für die Produktion erforderlichen Materialien, wie z.B. die Hardware der Informationstechnologie oder die Betriebsenergie.164 Damit besteht allenfalls eine indirekte Verbindung der Banken zu ökologischen Fragestellungen. Im Rahmen des Bankmarketing sind jedoch positive wie negative Wirkungen ökologisch relevanter Aktivitäten zu beachten. So bildet z.B. das positive Image umweltfreundlicher Windkraft-Anlagen ein hervorragendes Marketing Argument im Geschäft mit Investment Fonds. Dagegen kann eine Pressemeldung über die Finanzierung umweltschädigender Industrieanlagen dem Image der Bank empfindlich schaden. Zur Erfassung und Analyse der globalen Umwelt bietet das strategische Marketing heute eine umfangreiche Palette unterschiedlicher Methoden und Modelle. Die in der folgenden Tabelle genannten Methoden zur systematischen Analyse der globalen Umwelt sind in der verfügbaren Marketing-Standardliteratur bereits umfassend erläutert und können dort nachgelesen werden.165 Allerdings stellt sich auch hier die Frage, wieweit die Aussagekraft dieser Methoden aufgrund der gestiegenen Umweltkomplexität und Dynamik noch ausreichend ist. Zur Beantwortung dieser Frage ist eine kurze tabellarische Erläuterung der gängigsten Verfahren hilfreich.
164 Vgl. Steinmann, H., Schreyögg G., (2002), S. 165 ff. 165 Vgl. z.B. Homburg, C., Krohmer, H. (2003), S. 379 ff.
154
Methode Frühwarnsysteme
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
Zielsetzung
Ausprägung
Frühzeitiges Erken-
Indikatororientierte Frühwarnsysteme basie-
nen wesentlicher
ren auf einer Auswahl von Leitindikatoren, wie
Umweltveränderun-
volkswirtschaftliche Kennzahlen (z.B. Arbeits-
gen.
marktdaten) oder Stimmungsindikatoren (z.B.
Frühwarnsysteme
Einkaufsmanagerindex).
treffen tendenziell
Informationsquellenorientierte Frühwarnsys-
relativ allgemeine
teme verwenden Quellen, in denen nach be-
Aussagen über
stimmten Signalen für Umweltveränderungen
zukünftige Entwick-
gesucht wird. Hier sind z.B. Veröffentlichungen
lungen.
und Studien von Verbänden oder Wirtschaftsverbänden zu nennen.
Prognose
Möglichst konkrete
Qualitative Prognoseverfahren bedienen sich
Vorhersage anhand
häufig der Erfahrungen und Kenntnisse von
qualitativer Progno-
Experten. Eines der bekanntesten Verfahren ist
seaussagen und
die Delphi-Methode.
quantitativer Prognosewerte.
Quantitative Prognoseverfahren liefern Ergebnisse auf Grundlage einer Prognose, die auf einem eindeutigen Zusammenhang zwischen der erwarteten Zukunft und den zugrunde liegenden Einflussgrößen beruht.
Szenariotechniken
Aufzeigen verschie-
Neben der Beschreibung alternativer Szenarien
dener, möglicher
sind auch Aussagen zur Eintrittswahrscheinlich-
Zukunftsszenarien.
keit und zum Betrachtungszeitraum Bestandteile der Szenarioanalyse. Für die Reaktion auf Szenarien mit hoher Eintrittswahrscheinlichkeit sollten Strategien entwickelt werden.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 42: Auswahl gängiger Methoden zur Analyse der globalen Umwelt. Die vorgenannten Methoden mögen wertvolle Hilfsmittel zur Erfassung einer überschaubaren und wenig dynamischen Umwelt sein. Eine umfassende Analyse der heutigen komplexen Umwelt des Retail Banking erlauben sie allerdings nicht. Wesentliche Kritikpunkte sind: Für alle Methoden gilt die beschriebene Schwierigkeit der Erfassung und richtigen Bewertung der für die eigene Strategie relevanten Aspekte einer globalen Umwelt.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
155
Früherkennungssysteme erlauben nur relativ allgemeine Aussagen zu zukünftigen Entwicklungen. Die Problematik der Prognoseverfahren ist, dass starke Diskontinuitäten möglicherweise nicht erkannt werden. Das Problem aller vorgestellten Methoden ist, dass erfolgreiche Maßnahmen der Vergangenheit nicht zwangsläufig auch zukünftig funktionieren müssen.166 Im Hinblick auf ihre Aussagefähigkeit unter komplexen, dynamischen Umweltbedingungen, kann der Szenariotechnik eine Vorteilhaftigkeit attestiert werden. Die Szenario Analyse geht nicht von einer deterministischen, sondern von einer nur zum Teil erfassbaren Zukunft aus. Die Bandbreite möglicher Zukunftsszenarien ist deutlich größer als bei anderen Methoden. Der Unterschied zwischen dem erwarteten Szenario A und dem alternativen Szenario A1) in der folgenden Abbildung zeigt, dass auch abrupte und spekulative Veränderungen, die erst in Folgeperioden erwartet werden, Berücksichtigung finden.ȱ167
Quelle: In Anlehnung an Homburg, C., Krohmer, H (2003), S. 379. Abbildung 43: Die Szenario-Analyse.
166 Vgl. Homburg, C., Krohmer, H. (2003), S. 379 ff. 167 Vgl. Dannenberg, M. (2001), S. 95.
156
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
Die Hinterlegung mehrerer Zukunftsszenarien mit konkreten Retail Banking-Strategien gewährleistet eine höhere Flexibilität in der Adaption von unerwarteten Ereignissen. Wird die Organisation auf Basis der Analyse konsequent auf das Eintreten verschiedener Szenarien vorbereitet, so erleichtert dieses die permanente Berücksichtigung der unberechenbaren Dynamik einer komplexen Umwelt. Das vorbereitete Management kann Diskontinuitäten spontaner und professioneller ausgleichen oder diese sogar in Wettbewerbsvorteile ummünzen. Dennoch bleibt es eine besondere Herausforderung, die externe Umwelt als Grundlage der Szenarioanalyse möglichst genau zu erfassen. Neben der Datenreduktion auf wesentliche Schlüsselbereiche, bildet deren Vernetzung eine entscheidende Voraussetzung für die Mustererkennung in einer komplexen Umwelt.168 Die vernetzte Sicht auf ein System, ist eine Stärke der Regelkreisanalyse, so dass sich die Integration dieser Methode als ein Instrument des vernetzten Denkens innerhalb der Szenariotechnik anbietet. Unsichere Ereignisse werden hierbei in Szenarien gefasst, bewertet und miteinander vernetzt.ȱ169
(+)
Staatlicher Haushalt
(-)
Steigendes Sicherheitsbedürfnis
Konkurse
(-)
(-)
Politisch motivierte Kontrolle von Finanztransaktionen
(+)
(-) Konsumentenverschuldung
Arbeitsmarkt
(-)
(+)
(-)
(+)
(+)
Senkung der Vertriebskosten
(+)
(+)
(-) Konsumnachfrage
Rendite im Retail Banking
(-)
(-)
(-)
Multi KanalMarketing
(+)
Kreditnachfrage
(-)
(-)
Provisionsgeschäft
(-)
Zinsentwicklung
Kreditgeschäft
(-) (+) (+)
(+)
(+)
Selbstbedienung
(+) (-)
Neue Technologien
Einlagengeschäft
Sparquote
(+) Bedarf nach Altersvorsorge
(+)
(+)
(-) Provisionsmarge
(-)
Vorsorgeprodukte
(+) Wertpapiernachfrage
(+)
(-)
169 Vgl. Gerberich, C.W. (2004), S. 237.
(-)
Wettbewerbsintensität
(-)
(+)
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 44: Erfassung der Makro-Umwelt mittels Vernetzungskarte. 168 Vgl. Vester, F. (2004), S. 55.
Markteintrittsbarrieren
Neue Wettbewerber
(-)
Die Standortbestimmung im Retail Banking
157
Systemisches Denken ist nichts anderes, als das Denken in Kreislaufbeziehungen. Über die in hier dargestellte Vernetzungskarte können Wirkungskreisläufe besonders gut mit entsprechenden Rückkoppelungen identifiziert und dargestellt werden.ȱ So gilt es bereits bei der Vorbereitung der Regelkreisanalyse aufzuzeigen, ob einzelne Einflussfaktoren positiv (+) oder negativ (–) auf die jeweils anderen wirken. Das Vorzeichen richtet sich danach, ob es sich um eine verstärkende oder abschwächende Rückkopplung handelt.170 Während positive Rückkopplungen in einem komplexen System eher selbstverstärkend wirken, haben negative Rückkopplungen eine dämpfende Wirkung. Das Beispiel zeigt einen zentralen Regelkreis, in dem sich eine zunehmende Selbstbedienung positiv auf die Vertriebskosten auswirkt. Dies wiederum verbessert die Rendite im Retail Banking, so dass neue Investitionen in das Multi Channel-Marketing möglich werden. Mehr Kunden werden zur Nutzung der Selbstbedienungsangebote motiviert. Der Kreis schließt sich und die positive Rückkopplung bewirkt einen längerfristigen Renditeanstieg im Retail Banking. Neben diesem zentralen Wirkungskreislauf zeigt die Abbildung aber insbesondere auch die Wirkung der globalen Umwelt auf die einzelnen Komponenten des Kreislaufs. So werden z.B. die besonderen Einflüsse des durch die globale Umwelt beeinflussten Kredit-, Spar- und Provisionsgeschäft auf die Retail Banking-Rendite herausgearbeitet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Regelkreisanalyse ein wirksames Instrument ist, um die komplexe Makro Umwelt im Retail Banking-Vertrieb als Grundlage der Strategiefindung zu erfassen. Weiterhin wird die Aussagekraft der Analyse stark durch die Qualität der ausgewählten Schlüsselfaktoren sowie die Kenntnisse oder die Annahmen über die Vernetzungsbeziehungen bestimmt. Es muss auch angemerkt werden, dass die Regelkreisanalyse ein aufwendiges Instrument ist, aus der nur ein versierter Anwender mit einem überschaubaren Aufwand brauchbare Ergebnisse erzielen kann. Dies gilt insbesondere, wenn die dargestellte Analyse um zeitliche Abhängigkeiten (z.B. eine kurz-, mittel oder langfristige Differenzierung) oder die Intensität der Wirkungsbeziehung ergänzt wird. Aufgrund ihrer klaren Stärken in der intellektuellen Durchdringung komplexer Systeme, werden wir die Regelkreisanalyse im letzten Kapitel noch einmal aufgreifen und konkrete Anwendungsfelder im Multi Channel-Management vorstellen.
4.3
Die Marktanalyse im Retail Banking
Neben der Analyse der Makro-Umwelt, ist die Untersuchung des relevanten Marktes (MikroUmwelt) eine wesentliche Voraussetzung für die Feststellung der Chancen und Risiken einer Retail Banking-Vertriebsstrategie. Einer der bedeutendsten und bekanntesten Ansätze hierfür ist „Porters 5-Kräfte-Modell“. Die Anwendung dieses Modells kann als eine wertvolle 170 Vgl. ibidem, S. 210 f.; Ulrich, H., Probst, G., Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln, 3. Aufl.,
Haupt Verlag, Bern/Stuttgart 1991, S. 44.
158
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
Systematisierungshilfe zur Erfassung jener Kräfte dienen, von denen das Gewinnpotenzial der Bank in ihrem relevanten Markt abhängt. Die Analyse der relevanten Umwelt ist zwar ein separater Teilschritt im Rahmen der SWOTAnalyse, darf aber keinesfalls losgelöst von den anderen Betrachtungen gesehen werden denn insbesondere die Veränderungen der globalen Umwelt haben einen wichtigen Einfluss auf den relevanten Markt. Aber auch die marktbezogenen Aktivitäten des eigenen Retail Banking bestimmen die permanenten Veränderungen der Fitnesslandschaft. Das 5-Kräfte-Modell bietet sich in diesem dynamischen Umfeld an, um die eigene Position in der Fitnesslandschaft zu bestimmen. Jede einzelne der im Folgenden dargestellten fünf Kräfte stellt einen Wettbewerbstreiber und damit eine Chance oder ein Risiko für die im relevanten Markt erzielbare Rendite dar:
Globale Umwelt des Retail Banking Makroökonomische Entwicklung
Politische Entwicklung
Kunden (Kundenmacht)
Intra-Branchen Potenzielle neue Intra-Sektoren Wettbewerber Wettbewerb (Internationale Wettbewerber, Non- und (Rivalität innerhalb Nearbanks) eines Segments)
Substitutionsprodukte (Bedrohung durch substitutive Produkte)
Technologische Entwicklung
Relevanter Markt im Retail Banking
Zulieferer (Kapitaleigner und Spezialwissen)
Gesellschaftliche Entwicklung
Quelle: In Anlehnung an Börner, C. J. (2000), S. 211. Abbildung 45: Das 5-Kräfte-Modell zur Marktanalyse im Retail Banking. In Bezug auf das dynamische Retail Banking lassen sich die fünf Kräfte wie folgt analysieren: Zur Erfassung des Wettbewerbs innerhalb eines Segments ist es generell wichtig, die derzeitige Wettbewerbsintensität zu analysieren. Hieraus können Wachstumspotenziale oder
Die Standortbestimmung im Retail Banking
159
Risiken, wie z.B. ein zunehmender Preiswettbewerb erkannt werden. Das Retail Banking hat in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine hohe Reife erreicht. Der Wettbewerb findet auf einem verteilten Käufermarkt in weitgehend verfestigten Strukturen statt. Die erzielten Margen der etablierten Institute sind gering. Um die Branche aussagekräftig zu erfassen, ist es wesentlich, neben dem Intra-Branchen- auch den Intra-Sektoralen-Wettbewerb zu erfassen. So treten z.B. die großen Gruppen der Sparkassen und Genossenschaftsbanken vielfach alles andere als homogen auf. Regional unterschiedliche Strategien beeinflussen maßgeblich das individuelle Chancen- und Risikoprofil. Die Macht der Kunden ist ein wichtiges Kriterium zur Bewertung des relevanten Marktes. Ist die Verhandlungsposition des Kunden gut, muss der Markt tendenziell als unattraktiv bewertet werden. Wie in Teil II beschrieben, hat sich die Marktposition des Retail BankingKunden in den letzten Jahren permanent verbessert. Höhere Transparenz, bessere Information und ein breiteres Angebot geben dem Kunden die Möglichkeit, die Banken gegeneinander auszuspielen und bessere Preise, Qualität oder Service zu fordern. Das Verhalten potenzieller Wettbewerber wird sehr stark durch die vorhandenen Markteinund –austrittsbarrieren bestimmt. Hierzu zählen z.B. behördliche Vorschriften, Patent- oder Markenschutz, aber auch lange Produktentwicklungszeiten, Kostenvorteile der etablierten Banken oder der Zugang zu bestimmten Vertriebskanälen. Der regulierte Markt im Retail Banking ist durch vergleichsweise hohe gesetzliche Marktzutrittsschranken abgeschottet, die aber allerdings stellenweise bereits aufgehoben wurden. Insbesondere die zum 19. Juli 2005 weggefallene Anstaltslast und Gewährträgerhaftung beseitigt einen politisch bedingten Refinanzierungsvorteil der Sparkassen Finanzgruppe, der ausländische Banken bislang vom Eintritt in den deutschen Markt zurückschrecken ließ. Trotz der im Allgemeinen wenig verlockenden Rahmenbedingungen drängen weiterhin neue Wettbewerber in Form von Non- und Nearbanks, bzw. ausländischer Banken in den Markt. Aufgrund ihrer effizienteren oder spezialisierten Strukturen, aber auch begünstigt durch neue multimediale Vertriebswege und strukturelle Umbrüche sehen sie im deutschen Retail Banking interessante Ertragspotenziale. Die Gefahr von Substitutionsprodukten ist insbesondere mit Blick auf die heutige Innovationsgeschwindigkeit permanent gegeben. Generell wird hierunter ein Produkt verstanden, dass ein bestehendes Angebot ganz oder teilweise ersetzen kann, so wie z.B. die CD seinerzeit zur Verdrängung der Schallplatte führte. Substitutionsprodukte begrenzen die Aussichten auf Gewinn in einer Branche und sind daher im Normalfall als Risiko zu bewerten. Dies gilt speziell, wenn ein Substitutionsprodukt das Ausmaß eines „Schumperterianischen Schocks“ annimmt, also gleich einer Flutwelle ganze Branchen und Industrien wegfegt, um völlig neue Bereiche entstehen zu lassen. Für das Retail Banking ist das Risiko von Substitutionsprodukten allgegenwärtig. So ist z.B. die Lebensversicherung ein Substitut zu Sparverträgen und Tagesgeldkonten haben das traditionelle Sparbuch bereits zum großen Teil verdrängt. Die Gefahr einer zunehmenden Verhandlungsstärke der Zulieferer beeinflusst eine Branche durch die Höhe der Beschaffungspreise. Je besser die Verhandlungsposition der Zulieferer – z.B. aufgrund einer Monopolsituation, oder der individuellen Bedeutung des Beschaffungsgutes – ist, desto weniger attraktiv ist die Branche. Im Bankenbereich werden
160
Analyse der externen Umwelt des Retail Banking
die Beschaffungspreise für das Kerngut Geld im Wesentlichen durch makroökonomische Faktoren beeinflusst. Die Verhandlungsposition des Zulieferers im Passivgeschäft ist demnach von untergeordneter Bedeutung. Anders sieht es bei den zur Erstellung der Bankdienstleistungen erforderlichen Faktoren aus. Hoch spezialisierte Mitarbeiter oder individuelle IT-Lösungen lassen sich hier schon eher als knappes Beschaffungsgut charakterisieren. Gerade in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre wurde verstärkt Kritik an Porters fünf Kräfte Modell laut. Insbesondere auf die Frage, ob das Modell unter den veränderten Rahmenbedingungen Digitalisierung, Globalisierung und Deregulierung noch Gültigkeit besitzt, wurde intensiv diskutiert. Diesem Argument muss jedoch erwidert werden, dass die wesentliche Stärke des fünf Kräfte Modells in seinem wirtschaftswissenschaftlichen Fundament liegt. Es basiert auf den allgemein akzeptierten Gesetzen der Mikroökonomie, stellt diese jedoch anschaulicher und allgemeiner dar. Dieser grundlegende Charakter des Modells wird daher auch nicht durch Trends wie die vorgenannten erschüttert, jedoch ist eine Anpassung and die heutige Marktdynamik sinnvoll. Dies bedingt zunächst einmal die Berücksichtigung der im vorangegangenen Kapitel dargestellten globalen Effekte auf den relevanten Markt, um auf diesem Weg zu einer besseren Einschätzung der individuellen Chancen und Risiken zu gelangen.171 Zudem ist es wesentlich, die individuelle Fitness im Retail Banking permanent zu überprüfen. Hierfür bietet die im Teil IV dargestellte Systematik der Fitnesslandschaft eine wertvolle Unterstützung. Zunächst gilt es anhand der in Teil IV, Kap. 2.4 gezeigten Ausprägungen komplexer Netzwerke zu einer Einschätzung des Zustands der direkten Umwelt zu gelangen. Die dort tabellarisch dargestellten Ausprägungen einer Fitnesslandschaft erlauben die Beantwortung der für die Strategieentwicklung wichtigen Frage, ob das relevante Umfeld starr, dynamisch oder sogar chaotisch ist. Sofern im Rahmen der Analyse der internen Stärken und Schwächen ein Vergleich zu den relevanten Wettbewerbern oder sogar ein Benchmarking durchgeführt wurde, sollten die dort erzielten Ergebnisse zur Einschätzung der individuellen Fitness herangezogen werden. Eine vernetzte Sichtweise erscheint gerade in diesem Punkt besonders wertvoll. Auch die vorgestellte Methode der Syntegration kann – ein interdisziplinär besetztes Expertengremium vorausgesetzt – die Ergebnisse der Marktuntersuchung weiter verbessern. Die Analyse des relevanten Markts und die Feststellung zur eigenen Fitness muss jedes Bankinstitut individuell treffen. Zu unterschiedlich sind die lokalen Marktbedingungen und Wettbewerbssituationen. Unsere folgende Einschätzung ist eine Tendenzaussage für das Retail Banking, auf Grundlage der in Teil II vorgenommenen Marktanalyse.
171 Genau genommen müssten die gegenseitigen Rückkoppelungen zwischen Mikro- und Makroumwelt
herausgearbeitet werden. Zur Vereinfachung der Analyse sollte jedoch die Wirkung der Mikro- auf die Makroumwelt vernachlässigt werden.
Die Standortbestimmung im Retail Banking
161
Die heutige Fitnesslandschaft im Retail Banking Das relevante Marktumfeld des Retail Banking zeigt mit Blick auf die dargestellte Vernetzungsdichte die Tendenz zu einer stark zerklüfteten Fitnesslandschaft. Gleichzeitig sinkt die Fitness deutscher Universalbanken im Retail Banking – insbesondere im Vergleich mit internationalen Wettbewerbern sowie Non- und Near-Banks – rapide ab. Das Retail Banking vieler Universalbanken schwankt damit in einem Bereich zwischen traditioneller Stabilität und einem sich andeutenden, vom Markt aufgezwungenen Chaos, ohne jedoch wirklich den „Rand des Chaos“ erreicht zu haben. Die dort typische dynamische, produktive Veränderung ist trotz der schwierigen Marktsituation im Retail Banking noch nicht offensichtlich. Das Tempo wird von außen vorgegeben, viele traditionelle Universalbanken sind gezwungen, sich an effizientere Geschäftsmodelle und Vertriebsformen anzupassen. So gaben z.B. 95% der befragten Bankmanager in einer Studie von Booz Allen Hamilton an, sich im Filialgeschäft an der Strategie der Citibank zu orientieren. Gleichzeitig erschweren die strukturellen Probleme des Bankenmarktes, wie auch das Beharrungsvermögen ehemals erfolgreicher Organisations- und Geschäftsmodelle diesen Anpassungsprozess. Die Chancen für das Retail Banking liegen im heutigen Umfeld grundsätzlich darin, den Vertrieb in kleinen, evolutionären Schritten oder in weiten Sprüngen über die Fitnesslandschaft weiterzuentwickeln. Sofern das bestehende Geschäftsfeld Retail Banking aktuell keinen hohen Fitness-Gipfel erreicht hat, bieten weite Sprünge über die Landschaft eine bessere Chance als ein langsamer, evolutionärer Aufstieg zum Gipfel. Wie dies funktioniert, zeigen häufig kleinere Banken, die durch völlig neue Produkt- und Vertriebskonzepte Marktanteile erobern. So vermarktet z.B. die Noris Bank erfolgreich die Marke „easy credit“ als eigenständiges Produkt über das Internet und eigens dafür geschaffene Kreditshops. Zudem wird das Konzept über Partner vertrieben, was im Kreditgeschäft ebenfalls eine Neuheit darstellt. Sofern bereits ein hoher Fitness Level erreicht wurde, ist das Risiko durch weite Sprünge Marktanteile zu verlieren deutlich höher. In diesem Fall sind in der Regel kleinere Schritte sinnvoll. Den Spagat zwischen (zu) langsamer evolutionärer Anpassung und riskanter revolutionärer Weiterentwicklung hinzubekommen, ist damit eine der zentralen Herausforderungen der Retail Banking Vertriebsstrategie.
5.
Zusammenfassung der Standortanalyse
Am Ende der Standortbestimmung steht die aggregierte und häufig tabellarische Darstellung der relevanten Stärken und Schwächen sowie Chancen und Risiken. Diese bilden die grundlegende Voraussetzung für die Ziel- und Strategiefindung. Die folgende Abbildung zeigt die einzelnen Schritte und Instrumente zur Standortbestimmung im Retail Banking in der Zusammenfassung, wobei die seitlich, schräg angefügten Anmerkungen einen Überblick zu den erforderlichen Ergänzungen oder Anpassungen auf Basis der komplexitätstheoretischen Leitlinien bieten.
162
Zusammenfassung der Standortanalyse
he re na en en in ä nd zieh ip l z u s k i o. inbe erd e en Int ams nd ten Te Ku hei n i E
on
g kin ar e hm actis c n r Be st P Be
Stärken / Schwächen
Chancen / Risiken
Ressource Based View
Market Based View
Ressourcenanalyse
Globale Umwelt
• • • • •
• Szenario Analyse, ergänzt um • Vernetzungskarten
ng gu es hti ät d c i t s ili g. ck rü xib kin Be r Fle Ban de tail Re
Finanzielles Kapital Physisches Kapital Humankapital Organisationskapital Unternehmenskultur
Beeinflusst
i rat eg nt Sy
Standortbestimmung
Pe Iso pr rma pr lier Fit üfun nen oz te ne g d te Ü es Ma ss se er b n ve age eig errm m en eid en en en t-
Bewertung der Ressourcen anhand: •Knappheit •Imitierbarheit •Substituierbarkeit •Werthaltigkeit
• Porters fünf Kräfte Modell • Einschätzung der Umfeldflexibilität
Ressourcensicht • 3D- Stärken-Schwächen-Profil g un unter Einbezug des Chaosrand e id o s m a r • Ergänzung um eine Außen-/ Ve n C h g o v d Innenperspektive un un starr • Vergleich mit Wettbewerber Er
Relevanter Markt
Da re tenf d ein uzi lut Ko en eren nt sin un ex nv t s o l d in etz len en
Ve Be rnet ac zu hte ng n
Le Fit itbil ne d d ss er lan ds ch aft
Marktsicht g un etz rn e V
• Zusammengefasstes Bild der globalen Umwelt und des relevanten Marktes. • Kenntnis der Beziehungen zwischen Marktkräften
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 46: Übersicht zur Standortanalyse im Retail Banking. Abschließend muss festgestellt werden, dass der Aufwand der Datenerhebung und Bewertung in einer komplexen Umwelt zusätzlich ansteigt. Für die Standortanalyse gilt es daher, die beschriebenen Instrumente selektiv und passend zur eigenen Wettbewerbsposition einzusetzen. In Bereichen, wo das komplexe Umfeld aufgrund langjähriger Retail BankingErfahrungen bereits intensiv erkundet wurde, können häufig auch einfachere Instrumente zum Ziel führen.
Die Zieldefinition als Ausgangspunkt der Vertriebsstrategie
„Es gibt nur eine systemerhaltende Orientierungsgröße für die Selbstorganisation von Unternehmen, nämlich die Ausrichtung auf den Kunden.“ 172 Fredmund Malik
1.
Die Vertriebsziele im Kontext komplexer adaptiver Systeme
Auf Basis der abgeschlossenen Bestimmung des eigenen Standorts ist – wie einleitend im Kapitel „Standortbestimmung im Retail Banking“, in Abbildung 35 dargestellt – die Formulierung der Vertriebsziele der nächste Schritt zur Festlegung der Vertriebsstrategie. Becker bezeichnet diesen Schritt als den „konzeptionellen Kristallisationspunkt“. Aus den verdichteten und vernetzten Informationen der Standortbestimmung werden die umwelt- und unternehmensadäquaten Ziele des Retail Banking geboren.173 Ziele bieten die Orientierungs- bzw. Richtgrößen für unternehmerisches Handeln. Gleichzeitig enthalten sie Aussagen über angestrebte Zustände, die durch das eigene Handeln erreicht werden sollen. Während die Sachziele den Zweck der wirtschaftlichen Handlung abbilden und damit die Leistungen, das Leistungsprogramm und die Märkte im Retail Banking in den Vordergrund stellen, beschreiben Formalziele die Gestaltungsmaximen, die den Erfolg herbeiführen sollen.ȱ Vertriebs- oder Absatzziele können als eine weitergehende Konkretisierung dieser Definition verstanden werden. Es kann zwischen ökonomischen Zielen (z.B. Umsatzoder Gewinnmaximierung) und psychografischen Zielen (z.B. Imageförderung oder Kundenbindung) unterschieden werden. Zusätzlich erfolgt fast immer eine Unterscheidung in Hauptund Nebenziele. Generell müssen Ziele klar, eindeutig und verständlich formuliert sein, sowie im Hinblick auf ihre Dimensionen Ausmaß und Zeitpunkt konkretisiert werden.174 172 Malik, F. (2004), S. 146. 173 Vgl. Becker, J. (1993), S. 75. 174 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A. (2002), S. 72 f.
164
Die Vertriebsziele im Kontext komplexer adaptiver Systeme
Die Komplexitätstheorie wirft ein neues Licht auf diese etablierte Sichtweise der Ziele in Unternehmen. Ein gesunder menschlicher Organismus verfolgt wie alle Lebewesen das immanente Ziel zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Da die Geschäftsbereiche einer Bank von Menschen erschaffen wurden und durch Menschen und deren persönliche Netzwerke erhalten werden, kann dem Retail Banking ebenfalls ein ausgeprägter Überlebenswille unterstellt werden. Entsprechend muss sich die Organisation so auf ihre vernetzte Umwelt (Stakeholder) ausrichten, dass sie ihr inhärentes Überlebensziel sicherstellt. Im Gegensatz zu dem unbewussten Überlebensziel eines natürlichen Organismus, formuliert die unternehmerische Organisation darüber hinaus bewusste Ziele, strebt also explizit und kognitiv formulierte Zustände an. Obwohl diese Ziele im Zeitablauf wechseln können, sind ihnen durch Umweltbedingungen, wie z.B. aufgrund von Gesetzen oder dem Wettbewerbsumfeld, Grenzen gesetzt.ȱ175 Über diese evolutionären Überlebensziele hinaus unterstreicht der Blick auf die komplexitätstheoretischen Leitlinien den generellen Nutzen unternehmerischer Vertriebsziele im Retail Banking. Dabei bestätigt die Forschung in komplexen, adaptiven Systemen insbesondere den Motivationscharakter von Zielen. Zum einen begünstigt ein auf Zielvereinbarungen basierender Führungsstil die Selbststeuerung der Mitarbeiter. Die Stärken von Emergenz und Selbstorganisation können sich in Bereichen entfalten, die durch Ziele klar beschrieben und damit kontrollierbar sind. Darüber hinaus führt die überzeugende Formulierung von Zielen den Mitarbeitern vor Augen, dass die Existenz des Geschäftsbereichs einen Sinn hat, und motiviert sie. Dies gilt besonders, wenn sich die Ziele in einer „Vision“ manifestieren, die auf Basis der bestehenden Werte und Normen eine richtungweisende Vorstellung von der Zukunft des Geschäftsbereichs liefern. Krauter/Kübler/Krauß bezeichnen Visionen auch als den Lebenswillen eines Unternehmens.176 Aus dem Blickwinkel der Komplexitätstheorie können visionäre Unternehmensziele als seltsame Attraktoren in einem komplexen adaptiven System wirken.ȱ Unter den beschriebenen Voraussetzungen können Attraktoren durch das Management bewusst geschaffen und gezielt zur Motivation der Mitarbeiter eingesetzt werden. Es lässt sich festhalten, dass unternehmerische Ziele speziell unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie eine wichtige Funktion erfüllen. Allenfalls die Flexibilität von Zielen muss im Hinblick auf die unberechenbare Dynamik und Komplexität des Privatkundengeschäfts hinterfragt werden. Wie bereits für den gesamten strategischen Managementprozess beschrieben, empfiehlt sich für die Vertriebsziele eine rollierende Überprüfung im Zeitablauf. Um dabei das Risiko so genannter „Moving Targets“177 auszuschließen, sollten kurz- bis mittelfristige Ziele vereinbart werden. Für langfristige Zielsetzungen sollten im Vorfeld bestimmte Meilensteine eingeplant werden, zu denen eine Überprüfung und ggf. Anpassung der aktuellen Ziele erfolgt.
175 Vgl. Rüdenauer, M.R.A. (1991), S. 235 ff. 176 Vgl. Krauter, J. , Kübler, F. , Krauß, U. (2003), S. 49 ff. 177 Unter den so genannten ‚Moving Targets’ werden in der Wirtschaftspraxis unstete Ziele verstanden, die
eine konsequente Zielerreichung durch Mitarbeiter erschweren oder sogar verhindern.
Die Zieldefinition als Ausgangspunkt der Vertriebsstrategie
2.
165
Neue Fitnessgipfel im Retail Banking als Zielmarken
Auf Grundlage der abgeschlossenen Standortanalyse gilt es auf dem bisherigen FitnessNiveau zu verharren oder neue Gipfel anzupeilen. Die im Rahmen der Marktanalyse beschriebene Fitnesslandschaft für das Retail Banking zeigt klar, dass auch weite Sprünge – und damit verbundene tief greifende Veränderungsprozesse im Retail Banking-Marktauftritt – eine strategische Option sind. Eine wichtige Orientierungshilfe bietet hierbei der Kundenbedarf. Ergänzend zu den ohnehin relevanten Bewertungsfaktoren Kosten und Nutzen erlaubt die Ausrichtung am Kunden eine nachhaltige Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und damit die zielgenauere Bewertung vermeintlicher Fitnessgipfel. Abhängig von der Höhe des eigenen Fitnessgipfels kann es ausgesprochen vorteilhaft sein, ferne Fitnessgipfel anzupeilen um die eigene Fitness signifikant zu erhöhen. In der Wirtschaft und auch im Bankwesen gibt es hierfür plastische Beispiele. Der Einzelhändler Tchibo demonstriert besonders gut das Potenzial weiter Sprünge über die Fitnesslandschaft. Begleitet durch ein ausgeklügeltes Marketing hat der ursprüngliche Kaffeeröster sein Produktportfolio massiv horizontal ausgedehnt und ist damit zum einem erfolgreichen Handelskonzern geworden. Der konsequente Ausbau des Multi ChannelVertriebs hat wesentlich zum Erfolg dieser Strategie beigetragen. Heute bietet Tchibo auch Finanzdienstleistungen an. Eine ähnliche Entwicklung durchliefen Tankstellen, die ihr Kraftstoff- und Service-Angebot um ein (oftmals 24 Stunden verfügbares) Einzelhandelsangebot ergänzten. Die horizontale Ausdehnung der Angebotspalette oder die Kooperationen mit Handels- Touristik- und Servicepartnern kann auch für Finanzdienstleister eine strategische Option sein. Dies verdeutlicht z.B. American Express. Die Kreditkartengesellschaft unterbreitet ihren Kunden über das Internet oder mittels Flyer zur Kreditkartenabrechnung regelmäßig Angebote von Kooperationspartnern. Die Relevanz dieses Vertriebsansatzes für Universalbanken wird durch die Tatsache unterstrichen, dass die großen Bankengruppen die mit Abstand größten Filialisten in Deutschland sind. Allein die Anzahl der Filialen im Sparkassensektor übertrifft mit 14.292 Filialen den großen Einzelhandelskonzern ALDI mit 3.977 Filialen bei weitem und ist damit ein Indiz für neue Vertriebspotenziale im Retail Banking. Durch die strikte Ausrichtung auf eine Zielgruppe im Sinne einer Nischenstrategie können erhebliche Wettbewerbsvorteile generiert werden. Die Bank oder der Geschäftsbereich richtet sich konsequent am Bedarf des Kunden aus. Grundlage hierfür bildet die Spezialisierung auf bestimmte Bedarfsfelder, deren gute Kenntnis eine bedarfsgerechte Steuerung der Produkte und Vertriebswege erlaubt. Die Potenziale einer Spezialisierung belegen z.B. die Deutsche Apotheker- und Ärztebank, die IKB Deutsche Industriekreditbank und die Norisbank. Alle drei Institute haben sich nach den vorgenannten Kriterien spezialisiert konnten in den vergangenen Jahren der Bankenkrise überdurchschnittliche Erfolge vorweisen.
166
Prozess und Ergebnis der Zielbildung im Retail Banking-Vertrieb
Bereits in Teil III wurde Tupperware als erfolgreiches Beispiel für die systematische Nutzung von Selbstorganisation genannt. Krauter/Kübler/Krauß sehen hierin einen ergänzenden Vertriebsweg für Finanzdienstleistungen.178 Gastgeber mit entsprechender Neigung und Kenntnissen des Finanzgeschäfts können in dem Modell Vertriebsaufgaben übernehmen. Die intime Atmosphäre einer Party und die durch Selbstorganisation bedingte Motivation aller Teilnehmer könnten zur Steigerung des Vertriebserfolgs führen. Zur Vorsicht mahnt lediglich die Vertrauensrelevanz der Finanzdienstleistung. Dieser Einwand kann jedoch durch einen gezielten Einsatz des Tupperware-Konzepts im Rahmen der Pre-SalesPhase ausgeräumt werden. Die vorangegangenen Beispiele unterstreichen die Chancen, die sich aus weiten Sprüngen über die Fitnesslandschaft ergeben können. Das Anpeilen entfernter Fitnessgipfel ergibt sich nicht zwangsläufig aus der externen Umweltanalyse und ist damit eine wichtige Aufgabe im Rahmen der Zielbildung. Die konkrete Planung hoher Sprungweiten sollte unter Berücksichtigung der eigenen Stärken und Schwächen erfolgen. Entscheidend ist auch, wieweit die Unternehmenskultur auf umfassende Veränderungen vorbereitet ist. Letztlich geht es um die Entscheidung, ob das Geschäftsfeld evolutionär oder revolutionär weiterentwickelt werden soll. Die Praxis tendiert derzeit eher zu Mischformen. Während die generelle Geschäftsentwicklung in der Regel evolutionär verläuft, werden in eingegrenzten Feldern revolutionäre Weiterentwicklungen erprobt. So hat z.B. die Commerzbank ihr neues, auf moderner SB Technologie basierendes Konzept der Filiale der Zukunft zunächst nur an wenigen Standorten hinsichtlich der Kundenakzeptanz getestet. Erst nachdem der Erfolg des auf Beratung und Vertrieb fokussierten Modells in Pilotfilialen bestätigt wurde, ging das Modell zunehmend in die Verbreitung. Ähnlich hält es die Deutsche Bank mit ihrer Berliner Filiale „Q 110“, wobei von dem umfassenden Filialkonzept nur Teile in der Fläche ausgerollt werden sollen.179 Das Beispiel zeigt, dass die Suche nach neuen Fitnessgipfeln als eine strategische Aufgabe angesehen werden muss. Gerade das Bewusstsein für die Option hoher Sprungweiten ist prägend für die Zielfindung und sollte somit der Strategiebildung vorgelagert betrachtet werden.
3.
Prozess und Ergebnis der Zielbildung im Retail Banking-Vertrieb
Die vorgenannten Aspekte zur Zielbildung lassen sich in einem Prozess zusammenfassen. Die einzelnen Prozessschritte müssen dabei jeweils im Kontext der vernetzten Umwelt und daraus resultierender Einflussfaktoren betrachtet werden. Der Zielbildungsprozess beginnt mit der Zielsuche unter Berücksichtigung neuer Fitnessgipfel. Die Konkretisierung der Ziele erfolgt anschließend über die Definition von Zielinhalt, Zielausmaß und Zielperiode. Im 178 Krauter, J., Kübler, F., Krauß, U. (2003), S. 166 ff. 179 Weitere Informationen zum Filialkonzept „Q 110“ sind in Kapitel VI beschrieben.
Die Zieldefinition als Ausgangspunkt der Vertriebsstrategie
167
nächsten Schritt erfolgt eine Unterscheidung in Haupt- und Nebenziele. Sofern erforderlich, kann zusätzlich eine Priorisierung der einzelnen Ziele erfolgen.
je Prozessschritt
Übergeordnete Bankziele und -strategie
Kultur und Werte im Geschäftsbereich Netzwerkeffekte
Zielsuche
im Gesamtprozess
Gestaltung
Prozess
Einflussfaktoren auf die Zielbildung
Im Rahmen dann folgenden Überprüfung der Ziele hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit sollen die erkennbaren Hemmnisse zur Zielerreichung identifiziert und die Erreichbarkeit der Zielvorgaben kritisch hinterfragt werden. Die Zielentscheidung sollte durch das Top Management erfolgen und möglichst für alle Mitarbeiter im Retail Banking transparent sein. Mit der Definition der Aktionsfeldziele180 und ihrer Implementierung in der Organisation beginnt ein neuer Zyklus der laufenden Zielkontrolle, -überprüfung und –anpassung. Der Zusammenhang wird in der folgenden Abbildung zusammengefasst.
Konkretisierung der Ziele
• Auf Grundlage der Standortbestimmung
• Zielinhalt: Was soll erreicht werden?
• Ergänzt um die Suche nach neuen Fitnessgipfeln
• Zielausmaß: Wie viel davon soll erreicht werden?
• Kundenbedarf bestimmt die Richtung
• Zielperiode: Wann soll es erreicht werden?
Interessen der Stakeholder
Veränderungen im Unternehmensumfeld
Zielanalyse und -ordnung
Prüfung auf Realisierbarkeit
Implementierung und Kontrolle
Zielentscheidung
• Kategorisierung nach Hauptund Nebenzielen.
• Technische, organisatorische und rechtliche Machbarkeit
• Erfolgt durch zentrale Entscheidungsträger
• Systematische Schaffung und Nutzung von Attraktoren
• Priorisierung der Ziele
• Zielkonflikte
• Transparenz der Entscheidung
• Kontrolle und Anpassung der Ziele in einem rollierenden Prozess
• Verbundenheit / Vernetzung zwischen den Zielen beachten
• Konsistenz zu eigenen Werten • Erreichbarkeit des erwarteten Ergebnisses in der Vorgabezeit
Aktivierung der im Unternehmen verteilten Intelligenz : • Erarbeitung der Ziele sollte durch interdisziplinäre Teams erfolgen. • Transparente, offene Kommunikation zum Prozess der Zielbildung und Entscheidung. • Laufende Möglichkeit der Rückmeldung für alle betroffenen Mitarbeiter (z.B. über das Intranet).
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 47: Der Prozess der Zielbildung im Überblick. In Analogie zu dem generellen Vorgehen im strategischen Management sollte auch im Prozess Zielbildung nicht auf die Einbindung interdisziplinärer Teams verzichtet werden. Mittels des bankweiten Intranets können weitere Mitarbeiter über den Prozess der Zielbildung informiert oder sogar zu bestimmten Fragestellungen eingebunden werden.
180 Wie bereits in Teil 2 dargestellt, unterstützen die Aktionsfeldziele als instrumentale Unterziele die Errei-
chung der Bereichsziele.
168
Prozess und Ergebnis der Zielbildung im Retail Banking-Vertrieb
Bezogen auf die diesem Buch zugrunde liegenden Fragestellungen des magischen Dreiecks lassen sich exemplarisch folgende Ziele für das Retail Banking ableiten: 1. Hauptziel: Steigerung des Betriebserlöses im Retail Banking, gemessen an der Summe des Zinserlös und Provisionserlös, bis zum Jahresende um 10 % gegenüber dem ausgewiesenen Vorjahresergebnis. 2. Hauptziel: Senkung der Vertriebskosten über alle Absatzkanäle bis zum Jahresende um 5 % gegenüber dem ausgewiesenen Wert zum Ende des Vorjahres. Nebenziel: Positionierung des Retail Banking als vertrauenswürdiges und modernes Geschäftsfeld. Das Ziel wird durch mindestens konstante Umfragergebnisse im Kundenbarometer zum 01.07. des Folgejahres und eine bis zu diesem Zeitpunkt nicht gestiegene Kundenabwanderungsquote erreicht.
Die Vertriebsstrategie als Grundlage für die Positionierung der Vertriebswege
1.
Die Vertriebsstrategie als Ergebnis der Strategieentwicklung
Auf Grundlage der Standortbestimmung und der Bestimmung der relevanten Ziele gilt es nun die Vertriebsstrategie zu formulieren. Auf den folgenden Seiten beschreiben wir die strategische Einbettung des Multi Channel-Vertriebs auf Grundlage der vorgenannten Ergebnisse. Dazu stellen wir zunächst die Bedeutung und Probleme der Bildung von Zielgruppen dar, gehen anschließend auf grundsätzliche Strategiemodelle unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie ein und beschreiben darauf aufbauend die Strategiebildung im Multi ChannelVertrieb im Hinblick auf die definierten Ziele. Bevor wir jedoch hierauf genauer eingehen, möchten wir mit der folgenden Abbildung nochmals den gesamten Strategieprozess einschließlich seiner relevanten Teilschritte und Einflussfaktoren in Erinnerung rufen.
Beeinflussung durch vorgegebene:
Bereichsziele
Bereichsstrategie
Aktionsfeldziele
Instrum entalziele
Externe Um welt
Gegenseitige Beeinflussung
Einstieg in den Strategieprozess im Retail Banking
Marketingstrategie
Gegenseitige Beeinflussung
Interne Um welt
G esam tbankziele
Vertriebsstrategie
Multi-C hannel Vertrieb
Ziel- und Strategieentw icklung
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 48: Die Ziel- und Strategieentwicklung auf Basis der Umweltanalyse.
170
Kundensegmente als Bezugspunkt der Vertriebsstrategie
In diesem Schaubild hebt der gestrichelte Kasten den für das Multi Channel-Banking relevanten Prozess zur Ziel- und Strategieentwicklung hervor. Die Konzeption der Vertriebsstrategie erfolgt auf Grundlage der Umweltanalyse sowie der vorab definierten Aktionsfeldziele und liefert die konkreten Handlungsanweisungen zur Erreichung dieser Ziele. Hierauf aufbauend, beschreiben wir auf den folgenden Seiten die strategische Einbettung des Multi ChannelVertriebs in die übergreifende Vertriebsstrategie. Dazu werden die Bedeutung und Probleme der Bildung von Zielgruppen dargestellt und anschließend auf grundsätzliche Strategiemodelle unter dem Leitbild der Komplexitätstheorie eingegangen. Die konkrete Herleitung einer Vertriebsstrategie im Multi Channel-Vertrieb bildet den Abschluss dieses Kapitels.
2.
Kundensegmente als Bezugspunkt der Vertriebsstrategie
Auf die Bedeutung des Kundenbedarfs für die strategische Ausrichtung des Vertriebs haben wir bereits mehrfach hingewiesen. Die unterschiedlichen Erwartungen, Motive und Wertvorstellungen der Retail Banking Kunden erfordern eine zielgruppenspezifische Ausrichtung des Vertriebs. Dies erfolgt heute i.d.R. über die Segmentierung der Kunden, also der Strukturierung des Marktes durch Zusammenfassung klar abgrenzbarer Gruppen von Konsumenten oder Organisationen.181 Jede Bildung von Kundengruppensegmenten hat die Selektion einer in sich möglichst homogenen Gruppe zum Ziel, die eindeutig von anderen Gruppen abgrenzbar ist. Die Kundensegmentierung ist heute ein fester Bestandteil im modernen Bankvertrieb, wobei das Mengengeschäft in sich bereits als ein eigenes Segment gesehen werden muss. Innerhalb dieser Zielgruppe erfolgt eine weitergehende Segmentierung häufig über das Lebenszyklus-Modell. Im einfachen Lebenszyklus-Modell erfolgt die Segmentierung anhand des Kundenalters. So wird der Kunde z.B. bis zum 25. Lebensjahr der Ausbildungsphase zugeordnet, bis zum 45. Lebensjahr der Aufbau und Etablierungsphase und bis zum 60. Lebensjahr steht die Absicherung des Erreichten im Vordergrund. Die dahinter liegenden Bedarfsmuster für bestimmte Lebensabschnitte erlauben eine Steuerung des Leistungsangebots. Heute wird das Lebenszyklus-Modell häufig um weitere soziodemographische (wie z.B. gesellschaftlicher Status oder Tätigkeit) und quantitative Dimensionen (wie z.B. Einkommen oder Vermögenswerte) ergänzt. So verfügt z.B. die Deutsche Bank AG auf Basis des Kundenlebenszyklus über ein mehrschichtiges Modell zur Kundensegmentierung. Ökonomische, vertrieblich operative, Themen- und ereignisklassenbezogene Filter dienen einer möglichst zielgenauen Steuerung der
181 Vgl. Bothe-Fehl, I. (2000), S. 10.
Die Vertriebsstrategie als Grundlage für die Positionierung der Vertriebswege
171
Kundenkommunikation. Spezielle Folgeangebote sollen gezielt in die Distributionskanäle mit der höchsten Abschlusswahrscheinlichkeit gelenkt werden.182 Mit Blick auf die dargestellte Marktsituation im Retail Banking muss der generelle Nutzen der Segmentierung jedoch kritisch überprüft werden. Generell ist eine Segmentierung dann nicht möglich, wenn einzelne Kundengruppen so atomistisch sind, dass sie nicht ökonomisch sinnvoll zu ausreichend großen homogenen Gruppen zusammengefasst werden können.183 Das heutige Marktumfeld im Retail Banking ist durch ein hybrides und nur schwer erfassbares Kundenverhalten geprägt.184 Mit anderen Worten, die von uns beschriebene, zunehmende äußere Komplexität im Retail Banking stellt die existierenden Instrumente der Kundensegmentierung in Frage. Es stellt sich die Frage, ob der weiteren Perfektionierung der Segmentierungstechniken ein adäquater Nutzen gegenübersteht? Es wird erforderlich, neue und individuellere Bezugspunkte für die strategische Ausrichtung im Bankmarketing zu finden. Der in Teil III dargestellte Ansatz des One-to-One Marketing über alle Vertriebskanäle wird somit im Wettbewerb um den Privatkunden weiter an Bedeutung gewinnen. Allerdings darf dies nicht zu dem Umkehrschluss verleiten, die Kundensegmentierung sei aufgrund gestiegener Komplexität überflüssig geworden. Gerade im Massengeschäft mit einer beschränkten Anzahl klar definierter Zielgruppen gibt es heute zur Kundensegmentierung keine Alternative. Speziell für die strategische Positionierung der Vertriebswege ist die Kundensegmentierung eine grundlegende Voraussetzung. So sind beispielsweise regionale Segmentgruppen eine entscheidende Grundlage für die Auswahl eines stärker an Beratung- oder Selbstbedienung orientierten Vertriebs. Jedoch gilt es die Anzahl der Segmentgruppen überschaubar zu halten und um eine kundenindividuelle Bedarfserkennung zu ergänzen.
3.
Die Formulierung der Vertriebsstrategie im Retail Banking
Die Formulierung einer Vertriebsstrategie ist in der Regel kein stringenter Prozess. Vielmehr empfiehlt es sich gerade im Falle einer komplexen Umwelt, in einer frühen Phase zunächst verschiedene Strategiealternativen grob zu formulieren und einem abschließenden Bewertungs- und Auswahlprozess zu unterziehen. Die folgenden Schlüsselfragen sind in dieser 182 Vgl. Kraus, H. M.: Kundenmanagement für moderne Privatkunden, Vortrag der Deutschen Bank AG im
Rahmen der Internationalen Frühjahrstagung 2005 des e-finance lab der Goethe Universität, Frankfurt am Main. 183 Vgl. Boening, D. (1993): S. 163. 184 Der Begriff des hybriden Konsumentenverhaltens kennzeichnet die inkonsistenten und zeitlich instabilen Verhaltensmuster von Konsumenten. Aufgrund wachsender Individualisierung und begrenzter Prognostizierbarkeit des Nachfrageverhaltens werden klassische Konzepte der Kundensegmentierung zunehmend unbrauchbar.
172
Die Formulierung der Vertriebsstrategie im Retail Banking
Phase hilfreich, um die Anzahl möglicher strategischer Richtungen auf ein praktikables Maß zu reduzieren. Konsistenz der Vertriebsstrategie
Wie weit unterstützt die Strategie die Erreichung eines oder mehrerer der definierten Aktionsfeldziele?
Folgt die Vertriebsstrategie der vorliegenden Retail Banking-Bereichsstrategie? Ist die Vertriebsstrategie in sich konsistent und wurden die Leitlinien der Komplexitätstheorie berücksichtigt?
Inhaltliche und Informationsbezogene Kriterien
Sind der Umfang und die Qualität der internen und externen Umweltanalyse zur Festlegung der Strategie ausreichend?
Wurde die Ausrichtung auf den Kunden in der Strategie ausreichend berücksichtigt? Unterstützt die Strategie eine Erfüllung oder sogar Übererfüllung des Kundenbedarfs? In welchem Maß erlaubt die Strategie eine flexible Reaktion auf sich verändernde Umweltbedingungen?
Realisierbarkeit der Strategiealternativen
Verfügt das Retail Banking des Instituts über ausreichend Ressourcen und Fähigkeiten zur Umsetzung der Strategie?
Steht die Strategie in keinem Widerspruch zum Unternehmensleitbild und wird sie von Management und Mitarbeitern akzeptiert?
Ist die Vertriebsstrategie ausreichend robust, um Gegenreaktionen des Wettbewerbs auszuhalten?
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 49: Fragen zur Bewertung möglicher Vertriebsstrategien. Nachdem die grundlegende Strategie über die vorgenannten Fragen einmal definiert wurde, gilt es die eingeschlagene Richtung permanent zu überprüfen. Eine harte Trennung zwischen Vertriebsstrategie und operativer Vertriebsarbeit ist auf Dauer nicht möglich. Beide Bereiche beeinflussen sich unaufhörlich über Rückkoppelungen und es erfolgt eine gegenseitige adaptive Anpassung von Strategie und Umsetzung. Diese bewusst zu gestalten, ohne permanent die eingeschlagene Richtung zu verlassen, verlangt viel Fingerspitzengefühl und stellt besondere Anforderungen an das verantwortliche Management. Die Strategie muss konsistent zu den vorgegebenen Zielen sein. Konkret bedeutet dies, die Potenziale der gewählten Multi Channel-Strategie sind hinsichtlich der im magischen Dreieck dargestellten, widerstrebenden Herausforderungen des Retail Banking zu bewerten. Der Managementansatz, auf den wir hierfür referenzieren möchten, stammt von Porter.
Die Vertriebsstrategie als Grundlage für die Positionierung der Vertriebswege
173
Die Multi Channel-Strategie im Kontext von Porters Wettbewerbsstrategien Die Strategiediskussion der vergangenen Jahrzehnte wurde sehr massiv von der wettbewerbsstrategischen Konzeption Michael Porters beeinflusst. Porter unterscheidet drei grundlegende Wettbewerbsstrategien. Die Strategie der Differenzierung zielt auf die Schaffung eines außergewöhnlichen Wettbewerbsvorteils, der das eigene Unternehmen in der Branche einzigartig macht. Diese Einzigartigkeit z.B. kann aus Qualitätsvorteilen, der Markenstärke oder Technologievorteilen entstehen. Die Strategie der Kostenführerschaft zielt auf die Erreichung eines umfassenden Kostenvorsprungs vor dem Wettbewerb. Dieser Vorsprung kann aus Größenvorteilen und damit verbundenen Skaleneffekten, der individuellen Lernkurve oder Ressourcenvorteilen entstehen. Diese Strategie wird für die Direktbanken z.B. in Deutschland durch die ING DiBa verfolgt. Die Konzentration auf Schwerpunkte bedeutet eine Fokussierung auf eng abgegrenzte Zielmärkte, Abnehmergruppen oder Spezialprodukte. Es erfolgt eine Spezialisierung auf eine bestimmte Nische. Im Retail Banking ist dies bislang keine typische Strategie. Wie das Beispiel der Apotheker- und Ärztebank oder das Produkt easy credit zeigt, kann sich dieses Modell jedoch durchaus zu einer strategischen Option entwickeln. Porter geht von einer Unvereinbarkeit der Strategien aus. Ein Unternehmen, das sich für keine dieser drei Strategien entscheidet sitzt demnach „zwischen den Stühlen“. Dies wird als äußerst schlechte strategische Option gewertet, eine geringe Rentabilität ist fast vorprogrammiert. Genau dieser Ansatz lässt sich als strategische Empfehlung für den Multi Channel-Vertrieb im Retail Banking übertragen. Nach Studien des ibi Instituts steckt die filialzentrierte Multikanalbank strategisch genau in der in der schwierigen Position zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite drängen die Direktbanken mit geringeren Kosten und aggressiven Kundenkonditionen in den Markt, auf der anderen Seite überzeugen spezialisierte Beratungsunternehmen, wie z.B. MLP, durch eine intensive persönliche Betreuung und Bindung der Kunden.185 Hierzu muss jedoch angemerkt werden, dass die Kritik an Porters Ansatz gerade in den letzten Jahren zunimmt, wobei insbesondere die zwingend notwendige Entscheidung für genau eine Strategie immer stärker in Frage gestellt wird. Dagegen gewinnt insbesondere die von Piller vertretene Position zunehmend an Bedeutung, dass die gemeinsame Verwirklichung von Strategien möglich ist.186 So ist es einleuchtend, dass einem Unternehmen, das kostengünstig eine hohe Qualität anbieten kann, durchaus ein hohes Erfolgspotenzial bescheinigt werden muss. Im Retail Banking beweisen insbesondere die Citibank, die Postbank und die Sparda Banken, dass eine solche hybride Strategie möglich ist.
Verschiedene Autoren vertreten sogar eine zu Porter komplett konträre Auffassung. „Insgesamt gesehen, dürften bezogen auf das Retail Banking nur wenige Finanzdienstleistungs185 Vgl. Studie: Nirschl, M., Schimmer, M., Wild, O., Wimmer, A. (2004): Vertriebsstrategien im Retail Ban-
king. Positionierungsansätze und Konzepte für deren erfolgreiche Umsetzung, ibi research an der Universität Regensburg GmbH, 2004, S. 4 ff. 186 Vgl. Piller, F.T. (1998), S. 48.
174
Die Formulierung der Vertriebsstrategie im Retail Banking
institute objektiv betrachtet in der Lage sein, den Gesamtmarkt mit einer Ausschließlichkeitsstrategie zu bearbeiten.“187 Wir sind davon überzeugt, dass eine hybride Strategie unter den richtigen Voraussetzungen nicht nur sinnvoll, sondern im Gegenteil sogar sehr erfolgreich sein wird. Der Multi Channel-Vertrieb ist eine strategische Alternative, die unter den heutigen Marktbedingungen beste Voraussetzungen bietet, um den Spagat zwischen Kosteneffizienz und Kundennähe meistern zu können.
187 Köhler, V. (2004), S. 25.
Der Multi Channel-Vertrieb als integraler Bestandteil der Vertriebsstrategie
Wir haben bereits an verschiedenen Stellen darauf hingewiesen, dass der Einsatz multipler Vertriebskanäle nicht per se zur Erreichung höherer Umsatzzahlen bei geringeren Vertriebskosten und gleich bleibendem Ansehen der Bank führt. Dies bestätigt auch das ibi Forschungsinstitut mit der Auffassung: „Von allen Strategieoptionen ist der filialzentrierte Multikanalvertrieb zwar sicher die teuerste, aber nicht automatisch die erfolgreichste. Man kann sogar sagen, wenn die filialzentrierte Retail Bank jetzt keine grundlegende Weichenstellung vornimmt, sondern sich nur auf Kostensenkung konzentriert, verspielt sie ihre Zukunft.“188 Aus diesem Grund ist es wesentlich, zu einer systematischen Ermittlung des Wertbeitrags der einzelnen Vertriebskanäle zu gelangen, ohne die positiven Emergenzpotenziale vernetzter Kanäle unberücksichtigt zu lassen. Damit verbunden gilt es die Frage zu klären, über welche und wie viele Vertriebskanäle das Geschäftsfeld Retail Banking verfügen sollte. Im Vergleich zur Entscheidung für das Multi Channel-Banking als grobe, strategische Stoßrichtung, geht es im Folgenden also darum, diese Strategierichtung weiter zu konkretisieren. Die Diversifikation beschreibt in der Planungsliteratur eine Strategie des Übergangs von nur einem Geschäft zu einer Mehrzahl von Geschäftsbereichen.189 Sie verfolgt in Bezug auf das Leistungsangebot eine der Multi Channel-Strategie in vielen Bereichen vergleichbare Zielsetzung und kann daher durchaus als Vorlage für die strategische Positionierung der Vertriebswege gelten. Das bekannteste Konzept zur Formulierung von Diversifikationsstrategien ist der PortfolioAnsatz. Das von der Boston Consulting Group (BCG) ursprünglich entwickelte, quantitativ orientierte Marktwachstums/Marktanteils-Portfolio bildete in der strategischen Marktplanung den Ausgangspunkt für die Entwicklung von Portfolio-Modellen.190 Unsere folgende Gegenüberstellung zeigt, dass die Kerneigenschaften des Portfoliomanagements ebenso eine konzeptionelle Grundlage für die strategische Positionierung der Vertriebskanäle bieten.
188 O.V., Business Excellence im Retail Banking, Einleitung zum Kongress cibi 2004, http://www.ibi.de. 189 Vgl. Steinmann, H., Schreyögg, G. (2002), S. 203. 190 Vgl. Homburg, C., Krohmer, H. (2003), S. 437.
176
Die Formulierung der Vertriebsstrategie im Retail Banking
Wesen und Zweck des Portfoliomanagements im Marketing
Bedarfslage des Multi Channel-Vertriebs im Retail Banking
Das Portfoliomanagement dient der:
Die strategische Positionierung der Vertriebswege benötigt ein(e):
Auswahl geeigneter Strategien für einzelne Geschäftsfelder.
Verfahren zur Bewertung und Auswahl geeigneter Vertriebswege für definierte Kundensegmente.
Zuordnung der Ressourcen auf verschiedene Geschäftsbereiche.
Verfahren zur optimalen Allokation der Ressourcen auf bestehende und potenzielle Vertriebswege.
Bestimmung des Verhältnisses der strategischen Geschäftsbereiche zueinander.
Konzept zur strategischen Zuordnung der Vertriebswege untereinander.
Umsetzung der Ergebnisse der internen und externen Umweltanalyse in strategische Handlungsoptionen.
Integration in die Gesamtstrategie auf Grundlage einer Umweltanalyse und Positionierung der Vertriebswege in Abhängigkeit der internen und externen Umwelt.
Berücksichtigung der Marktdynamik als impliziter Bestandteil des Modells durch eine enge Koppelung mit dem Lebenszykluskonzept.
Notwendigkeit einer Berücksichtigung der für das Retail Banking relevanten Dynamik und Komplexität.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 50: Der Portfolio-Ansatz als Grundlage für die Multi Channel-Strategie. Die Übersicht veranschaulicht, dass ein Portfolio der Vertriebswege ein praktikabler Weg ist, um die komplexe strategische Gesamtaufgabe im Multi Channel-Vertrieb in eine entscheidungsfähige Struktur zu überführen. Im Gegensatz zu quantitativ orientierten Verfahren zur Auswahl strategischer Alternativen, wie z.B. die „Strategische Geschäftsfeldkurve“, berücksichtigt der Portfolio Ansatz auch qualitative Elemente.191 Diese „weichen Faktoren“ sind – wie bereits beschrieben – für die Entscheidungsfindung im komplexen, dynamischen Retail Banking sehr wesentlich. Weiterhin spricht die flexible und zukunftsbezogene Anwendbarkeit des Portfolio Ansatzes für seine Nutzung im Multi Channel-Banking. In dem nun endenden Teil V haben wir den Prozess der Strategieentwicklung im komplexen Retail Banking vorgestellt. Die Ergebnisse dieses Prozesses bilden die strategische Grundlage für die Positionierung der Vertriebskanäle. Damit verbunden ist die systematische Integration des Multi Channel-Vertriebs in den marktbezogenen Strategieprozess des Retail Banking. Dieses stringente Vorgehen entlang des Prozesses der Strategieentwicklung ist aufgrund der Bedeutung und der Komplexität des Vertriebswegemanagements erforderlich und sollte in der praktischen Umsetzung auch nicht durchbrochen werden. Wie wir ausführlich dargestellt haben, bildet die Umweltanalyse auf dem bewährten Fundament der SWOT-Systematik den Ausgangspunkt des Strategieprozesses. Diesem Teil des 191 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A. (2002), S. 87 ff.
Der Multi Channel-Vertrieb als integraler Bestandteil der Vertriebsstrategie
177
Managementprozesses muss aufgrund seiner hohen Bedeutung für alle nachfolgenden Schritte eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Bedeutung der Komplexitätstheorie bestätigt sich daher auch insbesondere für die Umweltanalyse. Die hier vorgestellten, weiterentwickelten Instrumente erlauben einen neuen Blickwinkel und bieten verbesserte Ergebnisse bei der Untersuchung der internen und externen Umwelt. Der SWOT-Ansatz wurde damit evolutionär zur Bewältigung der Herausforderung einer komplexeren Umwelt im Retail Banking weiterentwickelt. Der Blickwinkel der Komplexitätstheorie beeinflusst ebenso die Phase der Zielbildung, wobei insbesondere der Ansatz der Fitnesslandschaft neue Denkmuster für die Zielsuche und bewertung eröffnet hat. Die als Ziele formulierten, widerstrebenden Herausforderungen des Privatkundengeschäfts bilden eine wesentliche Grundlage für die strategische Positionierung der Vertriebswege. Letztendlich bestätigt auch dieses Kapitel, dass die strategische Positionierung der Vertriebswege eine Untermenge der Vertriebsstrategie im Retail Banking sein muss. Im folgenden Kapitel werden wir nun näher beschreiben, wie eine strategische Positionierung der Vertriebskanäle im Retail Banking genau erfolgen kann. Hierfür wurde bereits das Portfoliomanagement als geeigneter Ansatz identifiziert. Das folgende Kapitel zeigt nun auf Grundlage der Schilderung der heute bekannten Vertriebswege die konkreten Schritte zur Entwicklung eines strategischen Vertriebswegeportfolios. Dieses bildet dann im Kontext der Vertriebsstrategie die Grundlage für eine qualifizierte Auswahl der Vertriebswege.
Teil VI Die strategische Positionierung der Vertriebswege auf Basis der Vertriebsstrategie
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
1.
Typisierung der Vertriebskanäle
In Teil III haben wir die verschiedenen Ausprägungen des Multi Channel-Vertriebs bereits ausführlich erörtert. Es wurde deutlich, dass erst der integrierte Multi Channel-Vertrieb das Potenzial zur Bewältigung der heutigen Herausforderungen im Retail Banking bietet. Damit bilden die besonderen Anforderungen dieser Vertriebsform auch eine entscheidende Grundlage für die Konzeption eines Vertriebswegeportfolios. Die Typisierung und Abgrenzung einzelner Vertriebskanäle kann nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen. In der neueren Literatur findet sich hinsichtlich der verschiedenen Aufgaben der Vertriebskanäle häufig eine idealtypische Unterscheidung in Support-, Sales-, Product- und Customer-Channels.192 Produkt Channels sind auf den Vertrieb klar definierter Produkte (wie z.B. Immobilien oder Versicherungen) spezialisiert. Support Channels sind nicht auf den Vertrieb konzentriert, sondern bieten vorwiegend Service- und Transaktionsleistungen. Sales Channels haben keinen speziellen Produkt- oder Kundenfokus sondern offerieren ein breites Angebot an Finanzdienstleistungen. Dagegen konzentrieren sich Customer Channels auf spezielle Kundengruppen, wie z.B. auf vermögende Privatkunden. Diese Unterscheidung der Vertriebswege bietet eine sehr gute Charakterisierung hinsichtlich der funktionalen Anforderungen an einzelne Kanäle. Da in der Praxis häufig Mischformen existieren, eignet sich die funktionale Darstellung allerdings nur sehr bedingt für die Positionierung und Auswahl der Vertriebskanäle. Beispielsweise vereint eine größere Bankfiliale mit einem „Shop-in-Shop-Immobilienvertrieb“ häufig alle vorgenannten Funktionen im Vertriebsweg Filiale.
192 Vgl. Wild, O., Wimmer, A. (2004), S. 36.
182
Typisierung der Vertriebskanäle
Eine alternative Unterscheidung nutzen beispielsweise Siebertz/Drechsler mit der Differenzierung in den stationären Vertrieb (incl. der SB-Geräte), den ambulanten Vertrieb und den Direktvertrieb mittels technischer Hilfe.193 Innerhalb dieser Systematik können die in der folgenden Abbildung dargestellten Vertriebswege unterschieden werden.
Stationärer Vertrieb • Bankfiliale • SB Banking
Medialer Vertrieb Außendienst und mobiler Vertrieb beim Kunden
• • • •
Internet Banking Telefon Banking Mobile Banking Video Banking
Quelle: Eigene Darsatellung. Abbildung 51: Vertriebskanal-Typen im Retail Banking. In den folgenden Kapiteln stellen wir die hier genannten Vertriebswege im Überblick dar und bieten eine kurze Einschätzung der zukünftigen Potenziale im Rahmen eines integrierten Multi Channel-Vertriebs. Erste Tendenzaussagen lassen sich allerdings bereits aus einer Expertenbefragung der Universität St. Gallen und Accenture für den Finanzplatz Schweiz ableiten. Die Abbildung auf der folgenden Seite fasst die Ergebnisse der Prognose zur zukünftigen Bedeutung der vorgenannten Vertriebskanal-Typen zusammen.
193 Vgl. Siebertz, P., Drechsler, D. (1998), S. 197 f.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
183
Quelle: Monnerat, B. R., Bernet, B., Das Schweizerische Bankwesen in 2010, Studie der Universität St. Gallen und Accenture, 05/2004, http://www.isb.unizh.ch/ studium/ courses04-05/pdf/0353_schweiz-bankenwesen-2010_d.pdf. Abbildung 52: Welche Vertriebskanäle spielen zukünftig im Retail Banking eine zentrale Rolle? Diese auf Grundlage der Delphi-Methode entstandene Prognose stellt insbesondere das Filialgeschäft in Verbindung mit dem SB-Banking als zukünftig wichtigsten Vertriebsweg heraus. Den elektronischen Kanälen wird eine ähnlich hohe Bedeutung vorausgesagt. Call Center werden nach Ansicht der Experten eine ergänzende Rolle spielen und der Mobile Vertrieb (Außendienst) eine Randerscheinung bleiben. Die hier getroffenen Tendenzaussagen bieten eine gute Einstimmung in unsere folgenden Ausführungen zu den einzelnen Vertriebskanälen.
2.
Der stationäre Vertrieb
2.1
Die Filiale als lokaler Attraktor im Multi ChannelVertrieb
Die Bankfiliale ist der traditionelle Vertriebsweg im Privatkundengeschäft. Wichtigste Ziele der Geschäftsstellen sind gerade im Retail Banking die Schaffung einer räumlichen Nähe und
184
Der stationäre Vertrieb
eines persönlichen Kontaktes zum Kunden, woraus eine positive Wirkung auf die Kundenbindung sowie die Cross- und Up Selling-Quote erwartet wird. Typische Variablen der Geschäftsstellenpolitik sind somit die Anzahl, der Standort und die Gestaltung der Zweigstellen. Nachdem die Bankfiliale über einen langen Zeitraum den einzigen ernsthaften Vertriebsweg im Retail Banking repräsentierte, erlebte das Filialgeschäft in den letzten Jahren eine stürmische Zeit. Gerade die Anzahl der Geschäftsstellen hat sich in den vergangenen Jahren aufgrund der beschriebenen Dichte und Kostenintensität des deutschen Filialnetzes drastisch reduziert. Das in Immobilien und Mitarbeitern gebundene Kapital gilt speziell für das Angebot standardisierter Bankleistungen nach wie vor als zu kostenintensiv. Wie die folgende Abbildung veranschaulicht, wird die Kurve des Filialabbaus bei den hier betrachteten filialzentrierten Universalbanken zunehmend flacher, was auf eine „Bodenbildung“ hindeutet.
18000
Großbanken
16000 14000
Postbank AG
12000 10000
Sparkassen
8000 6000 Kreditgenossen schaften
4000 2000 0 2000
2001
2002
2003
2004
Quelle: Auf Grundlage der Werte in Abbildung 7. Abbildung 53: Anzahl der Geschäftsstellen bei filialzentrierten Universalbanken. Bei den Großbanken war 2004 sogar wieder ein Filialzuwachs von knapp 1,5% zu verzeichnen. Einzige Ausnahme bildet die Postbank, die den Filialabbau mit gesteigertem Tempo vorantreibt. Hier galt jedoch über einen langen Zeitraum die Sondersituation, dass die Postbank keine eigenen Filialen unterhält, sondern den Filialvertrieb der Deutschen Post nutzte. Die Verlangsamung des Filialsterbens deutet auf eine veränderte Sichtweise zu diesem Vertriebsweg hin. Tatsächlich zeigt sich in jüngster Zeit eine Renaissance der Filiale. So hat sich z.B. die Zahl der Filialskeptiker in den vergangenen Jahren mehr als halbiert. Die Filiale rückt wieder stärker in den Mittelpunkt der Vertriebsstrategie.194 Forschungen der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton in den USA ergaben bereits 2003, dass es gute Gründe für die wieder wachsende Bedeutung der Bankfiliale im integrierten Multi Channel-Banking gibt. Filialen sind demnach signifikant für das Wachstum im Retail Banking. Mehr als 90 194 Vgl. Engstler, M. (2003), S. 33.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
185
Prozent aller Kundenbeziehungen werden in Filialen gewonnen oder verloren. Eine europäische Studie von Booz Allen Hamilton belegt eine vergleichbare Bedeutung auch nachdrücklich für den deutschen Markt, wo die Filiale für ca. 80 Prozent der Kunden den wichtigsten Absatzkanal bildet.195 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Filialen auch weiterhin das Herzstück des Retail Banking-Vertriebs bleiben werden. Allerdings verändern sich Funktion und Ausgestaltung der Filialen heute dramatisch. Dabei lassen sich im Filialgeschäft entscheidende Wettbewerbsvorteile auf drei Handlungsfeldern erzielen: Die Vertriebseffizienz deutscher Bankfilialen liegt deutlich hinter dem Durchschnitt internationaler Wettbewerber. Die Citibank demonstriert klar den hohen Effizienzvorteil einer schlanken Organisation.ȱ Während der Berater im deutschen Branchendurchschnitt ca. 20 Prozent seiner Arbeitszeit im Kundengespräch verbringt, liegt diese Zeitspanne in der Citibank bei ca. 70 Prozent. Wesentlich ist die Entlastung des Vertriebs von Routinetätigkeiten, welche in ein möglichst automatisiertes Backoffice verlagert werden. Eine ausgeklügelte Informationstechnik bildet dabei eine Schlüsselkompetenz, wobei die Technologie immer dem Geschäftsnutzen unterzuordnen ist. Sofern neue Backoffice Strukturen geschaffen werden, spielen kulturelle Aspekte und die Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Neigungen der Mitarbeiter eine entscheidende Rolle. Nur Mitarbeiter, die einen bedarfsgerechten Verkauf mit Freude durchführen und die vertriebsrelevante Fähigkeiten, wie Kontaktfreude und Kommunikationsfähigkeit aufweisen, sollten weiterhin in direkten Vertriebspositionen eingesetzt werden. Die Umsetzung einer effizienteren und noch stärker am Vertrieb orientierteren Filialorganisation kann keinesfalls im ‚copy/paste’ Verfahren von erfolgreichen Banken übernommen werden. Im Beispiel der Citibank basiert die heute erzielte Effizienz auf jahrelangen Erfahrungen im strategischen Kostenmanagement, die mittlerweile in der Organisationskultur manifestiert sind.196 Ein zweites strategisches Handlungsfeld bildet die Vertriebs- und Serviceorientierung des Filialmitarbeiters. Grosse Effizienzreserven stecken alleine in der aktiven Ansprache des Kunden durch den Vertriebsmitarbeiter. Freiräume, die durch neue Technologien und effizientere Backofficeprozesse geschaffen wurden, können nur dann in höhere Abschlussquoten umgesetzt werden, wenn die Personalstruktur, Ausbildung und innere Einstellung der Führungskräfte und Mitarbeiter dieses zulässt. Die Potenziale eines aktiven und abschlussorientierten Vertriebs sind besonders hoch, da – wie eine Studie im Sparkassensektor zeigte – selbst technikaffine Kunden dem Gespräch mit dem Berater die höchste Präferenz geben.“197 Neue Filialkonzepte bilden das dritte Handlungsfeld. Nach einer aktuellen Studie des Frauenhofer Instituts, sehen derzeit knapp 35 Prozent der filialzentrierten Universalbanken
195 Vgl. o.V., Europäische Bankenstudie belegt: Schließung von Filialen vernichtet Basis der Wertschöpfung
Comeback der Filiale erforderlich, http://www.booz-allen.de/content/presseforum/4aax_0105_europ_ retail.asp. 196 Vgl. Champell, W. (1998), S. 455 ff. 197 Wienecke, H., Prätsch, W., Beckröge, L. (2003), S. 224.
186
Der stationäre Vertrieb
neue Filialkonzepte als strategische Handlungsalternative.198 Die Zielrichtungen dieser Konzepte sind sehr unterschiedlich und korrespondieren eng mit der individuellen Vertriebsstrategie einer Retail Bank. Neben den Effizienzaspekten, wie sie z.B. durch die Commerzbank mit der „Filiale der Zukunft“ realisiert werden, stehen vor allem zielgruppenorientierte Beratungs- und Erlebniskonzepte im Vordergrund. Die konkrete Ausgestaltung eines Filialtyps variiert i.d.R. von dem am jeweiligen Standort erwarteten Beratungsbedarf und Ertragspotenzial. Durch modulare Beratungskonzepte mit einer zielgruppenbezogenen Einsatzplanung für Beratungspersonal und SB-Geräte können sich Filialen heute sehr exakt auf regionale Marktbedingungen einstellen. Hinzu kommen immer häufiger Ansätze für ein filialbezogenes „soft-marketing“, wie im Beispiel der Bonner Sparkasse.199 Eine Sparkassen Filiale wurde hierbei neben Internet Café, Mediathek, Ticket Shop und Börsentreff in ein ‚Event Center’ integriert. Die junge Zielgruppe verbindet das Bankgeschäft automatisch mit Themenfeldern, die ihrer altersspezifischen Interessenslage deutlich näher kommen, als das Finanzwesen. Noch einen Schritt weiter geht die Deutsche Bank mit ihrem Konzept „Q 110“. Die nach ihrer Berliner Anschrift benannte Vorzeigfiliale integriert eine Fülle neuer Marketingansätze. Sei es das Finanzprodukt aus der Dose, das wie eine Ware im Supermarkt erworben werden kann, die Lounge zum Entspannen, die integrierte Kinderbetreuung oder der exklusive Trendshop, in dem Produkte bekannter Designer angeboten werden. Die hier erworbenen Erfahrungen werden sich als wertvoll für zukünftige Filialkonzepte erweisen. Ein weiterer Ansatz in diese Richtung findet sich in der so genannten Mehrwertfiliale. In einem so genannten Dienstleistungszentrum finden sich verschiedene Retailer einschließlich einer Bankfiliale. Die Verknüpfung mehrer Anbieter unter einem Dach senkt auf der einen Seite die Standortkosten. Auf der anderen Seite bietet das Marktplatzkonzept dem Kunden eine höhere emotionale Attraktivität und hebt das eigene Finanzangebot vom Wettbewerb ab.200 In veränderter Form wird die Bankfiliale somit auch zukünftig eine entscheidende Rolle in den Vertriebskonzepten des Retail Banking spielen. Neben der persönlichen Beratung und Betreuung des Kunden als das spezifische Potenzial einer Geschäftsstelle, scheinen gerade soft-marketing, Mehrwert-Konzepte oder ein situatives Event-Marketing geeignet die Filialen als lokale Attraktoren in einem integrierten Multi Channel-Vertrieb zu positionieren. Die Geschäftsstelle ist heute und wird zukünftig noch stärker zu einem regionalen Anziehungspunkt, der in einem immer anonymeren Markt die Identifizierung des Kunden mit seiner Retail Bank erlaubt. Im Zuge neuer Filialformen wird jedoch sicher noch einmal die Frage zu stellen sein, ob die heute üblichen Öffnungszeiten für Bankfilialen noch zeitgemäß sind. Um dem dynamischen und komplexen Marktumfeld Rechnung zu tragen, empfiehlt sich gerade für Banken mit einem überregionalen Fokus und einer hohen Filialanzahl, die Defini198 Vgl. o.V., Bank & Zukunft 2004-2005, Ergebnisse einer Trendumfrage im Herbst 2004, Fraunhofer Institut
für Arbeitswirtschaft und Organisation, http://www.finanzdienstleister.iao.fhg.de/. 199 Vgl. Stüwe, H. (2003), Seite 17; Unter dem Begriff „soft-marketing“, der sehr häufig im Internet Marke-
ting Anwendung findet, wird ein Marketing verstanden, dass eine Umgebung schafft, die für den Kunden gleichermaßen informativ und unterhaltend ist. 200 Pelzl, U. (2004), S. 14 f.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
187
tion eines Handlungsrahmens, innerhalb dessen die Filialen selbst organisiert am Markt agieren können. Die lokal vorhandenen Marktkenntnisse sind mit zunehmender Umweltkomplexität zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor geworden. Dies betrifft speziell auch die Kompetenzen der Filialmitarbeiter vor Ort. Neben den fachlichen und persönlichen Kompetenzen im Vertrieb sind hiermit vor allem auch die formalen Befugnisse gemeint. Eine höhere Entscheidungsfreiheit auf Geschäftsstellenebene nutzt konsequent die Effekte der Selbstorganisation, und trägt zu einer höheren adaptiven Anpassungsfähigkeit im regionalen Markt bei, erhöht die Entscheidungsgeschwindigkeit im Sinne des Kunden und senkt gleichzeitig Prozesskosten, fördert das Selbstbewusstsein der Filialmitarbeiter, die damit noch kompetenter vom Kunden wahrgenommen werden. Noch einen Schritt weiter geht z.B. ein Franchise-Modell im Sinne eines vom Hersteller geführten, vertragsgebundenen, vertikalen Vertriebssystems. Franchising Modelle stellen die wirtschaftliche Verantwortung einer Geschäftsstelle noch stärker in den Vordergrund. Im Retail Banking ist dieser Vertriebsansatz bisher aufgrund aufsichtsrechtlicher Schwierigkeiten noch sehr selten zu finden. Als Beispiel kann jedoch die Entrium Bank angeführt werden, die sich als Internetbank für diesen Weg entschieden hat, um eine lokale Präsenz aufzubauen.201 Eine Stärkung der regionalen Kompetenz bedingt auch eine veränderte Rolle der Zentralabteilungen. Die höhere regionale Selbstorganisation bedingt die sehr klare Abstimmung eines kontrollierbaren Handlungsrahmens für und mit den Geschäftsstellen. Der Anteil zentraler Vertriebsaktionen wird zugunsten einer bedarfsgerechten Unterstützung regionaler Aktivität zurückgefahren. Eine von Q:marketing durchgeführte Befragung von 850 bundesweit angeschriebenen Filialleitern zeigte eine deutliche Unzufriedenheit mit dem zentralen Bankmarketing. Nur 7% der Filialleiter waren sehr zufrieden. Dagegen waren 56% nur mittelmäßig und 37% gar nicht zufrieden. In individuellen und durch die Zentrale unterstützten Marketingmaßnahmen sahen die Filialleiter im Durchschnitt ein Erfolgspotenzial von 17,32%.202 Im Vergleich zu den im Retail Banking heute üblichen, geringen Zuwachsraten wäre dies ein enormes und verlockendes Wachstumspotenzial. Dass ein dezentrales Marketing in Teilen bereits erfolgreich umgesetzt wurde, beweist eine Neuausrichtung in der SEB. Ziel der Umverteilung der Verantwortlichkeiten war eine Steigerung der Effizienz des Marketings für die Gesamtbank um 20%. Dazu erfolgte zunächst eine Aufteilung von ca. 50% des Marketingbudgets an regionale Vertriebsleiter, die dafür auch die volle wirtschaftliche Verantwortung übernahmen. Das zentrale Marketing unterstützt in der SEB heute die regionale Planung auf Basis definierter Werbemittel und Motive, die über elektronische Bestellwege dezentral verwaltet werden.203
201ȱVgl. Krauter, J. , Kübler, F., Krauß, U. (2003), S. 29. 202 o.V. (2003), S. 3 ff. 203 Vgl. Brettschneider, A. (2004), S. 18 ff.
188
Der stationäre Vertrieb
Der Vertriebsweg der Bankfiliale wird, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, auch zukünftig seine hohe Bedeutung nicht verlieren. Eine bewusste Förderung von Selbstorganisation innerhalb definierter Handlungsbereiche kann gerade in diesem komplexen Umfeld die Wettbewerbsposition deutlich verbessern.
2.2
Der Selbstbedienungsbereich als Vertriebsweg
Eng mit dem Filialgeschäft verbunden ist das bereits in Teil II erläuterte SB-Banking. Ursprünglich entwickelte sich das SB-Banking aus dem Bedarf einer Entlastung der Mitarbeiter von kontaktarmen und wenig ertragreichen Routinetätigkeiten um die Beratungs- und Cross Selling-Potenziale zu erhöhen. In den letzten Jahren wurden allerdings viele SB-Geräte auf Internettechnologien umgestellt und in eine moderne und offene technologische Infrastruktur eingebettet. Damit können zum einen neue Anwendungsbereiche für das SB-Banking erschlossen werden, zum anderen lassen sich die SB-Geräte als Kontaktpunkte in ein übergreifendes Multi Channel-Banking integrieren. Spätestens mit diesen technologischen Erneuerungen hat sich das SB-Banking vom Rationalisierungsinstrument zu einem interessanten und vielseitigen Vertriebskanal weiterentwickelt. Im Vordergrund der Diskussion stehen häufig die technologischen Möglichkeiten der SBGeräte als Vertriebsplattform. Neben der erweiterten Durchführung von Routinegeschäften, wie z.B. die Änderung eines Dauerauftrags oder die Erfassung einer Überweisung, unterstützen die SB-Geräte auch den Vertrieb von komplexeren Bankprodukten. Dies geschieht derzeit allerdings vornehmlich mittels gezielter Produktbotschaften in der Pre-Sales Phase. Auf den Geräten erscheinen in Ruhe- oder Wartephasen Werbebotschaften mit dem Ziel, den Kunden zu einem allgemeinen Beratungsgespräch oder konkreten Produktkauf zu motivieren. In weiteren Ausbauschritten werden dem Kunden Interaktionsmöglichkeiten angeboten, wie z.B. die Vereinbarung eines Beratungstermins oder die Zustellung weiterer Produktinformationen. Eine andere interessante Ausbaustufe liegt der Offerte personalisierter Produktangebote, die dem Kunden aufgrund seiner Authentifizierung am Automaten angeboten werden. Dies setzt allerdings ein integriertes CRM-System voraus. SB-Geräte erweisen sich als nur bedingt geeignet im weiterführenden Vertrieb komplexer und beratungsintensiver Produkte. Die heutigen technologischen Möglichkeiten und die knappen Zeitfenster aufgrund der Schlangenbildung im SB-Banking bieten wenig Potenzial für eine umfassende Beratung des Kunden am Gerät. Zwar existieren bereits heute alle technologischen Voraussetzungen für eine interaktive Beratung – so z.B. auch über die Zuschaltung eines zentralen Beraters mittels Videokonferenz – jedoch bietet die Gestaltung der SBBereiche wenig Spielraum für eine vertrauliche und zeitintensive Beratung. Selbst unter der Voraussetzung einer eigens für diesen Zweck ausgestalteten SB-Filiale dürfte der Kunde für eine umfangreichere interaktive Beratung den Vertriebskanal Internet in seiner vertrauten, häuslichen Umgebung vorziehen.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
189
Damit bleiben als besondere Stärke der SB-Geräte das Routine Geschäft und der Pre-Sales Bereich hervorzuheben. Von besonderem Interesse für die Pre-Sales Phase ist das hohe Transaktionsvolumen und die daraus resultierende Kontakthäufigkeit zum Kunden. Alleine die Deutsche Bank hat pro Jahr an ihren SB-Geräten über 240 Millionen Kundenkontakte – ein immenses Vertriebspotenzial.204 Auch das Routinegeschäft der SB-Geräte birgt noch weiterführendes Potenzial. Gerade in den klassischen, transaktionsbasierten Bereichen des SB-Banking, wie Kontoverfügungen oder Kontoinformationen können für den Kunden wahrnehmbare Servicevorteile generiert werden. Die beginnen mit der Definition klarer Qualitätsstandards an die Verfügbarkeit, Sauberkeit und einer ansprechenden Benutzerführung der SBGeräte. Weiterführende Ansätze erlauben zusätzliche Servicevorteile, wie z.B. über einen Geldautomaten, der den vom Kunden üblicherweise abgehobenen Betrag bereits vorgibt und bei der Abhebung fragt: „Wie immer?“ Das Angebot bankfremder Produkte mit geringer Komplexität, wie Eintrittskarten, Einkaufsgutscheine oder das Aufladen von Mobilfunkkarten über die SB-Geräte kann zusätzliche Einahmen generieren und die Attraktivität des SB-Banking für die Kunden weiter steigern. Der Erfolg des SB-Banking wird – abgesehen von isolierten Standorten oder reinen SBFilialen, bei denen ein wirtschaftlicher Betrieb im Wesentlichen an die Besucherfrequenz des Standorts gekoppelt ist – sehr stark vom Grad der Integration in das Filialgeschäft bestimmt. Die Mehrzahl der filialzentrierten Universalbanken sieht den SB-Bereich immer noch als einen isolierten, der eigentlichen Filiale räumlich vor gelagerten Bereich. Aber auch hier gibt es innovative Raumkonzepte, zur vertriebsfördernden Integration der SB-Geräte in das Filialgeschäft. So bietet es sich an, die SB-Bereiche tagsüber in die Service-Zonen zu integrieren. Der persönliche Kontakt zum Berater wird auf diesem Weg gefördert und der Kunde kann gezielt für Zusatzverkäufe angesprochen werden. Eine gezielte Weiterentwicklung dieses Ansatzes kann in Analogie zum Lebensmittel-Einzelhandel erfolgen, wo der Weg zu den Gütern des täglichen Bedarfs immer an einer Fülle verlockender Angebote vorbeiführt. Entsprechend sollte der Weg zum SB-Gerät gezielt an attraktiven Produkten vorbeiführen, zu denen eine persönliche Beratung dann auch möglichst unmittelbar in Anspruch genommen werden kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich das SB-Banking vor allem aufgrund der gewachsenen technologischen Möglichkeiten, aber auch aufgrund neuer Integrationskonzepte als ausgezeichneter Vertriebsweg für einfache, standardisierte Produkte anbietet. Gerade in der Pre-Sales Phase ist er sehr gut geeignet, ein integratives Multi Channel-Banking aktiv zu unterstützen.
204 Vgl. Manz, S. (2004), S. 27.
190
3.
Der mobile Vertrieb über Außendienst
Der mobile Vertrieb über Außendienst
Der Bankaußendienst bildet einen mobilen Vertriebsweg, in dem der Kunde generell durch einen persönlichen Berater außerhalb der Geschäftsräume betreut wird. Zu den Aufgaben des Außendienstmitarbeiters zählen neben dem aktiven, persönlichen Verkauf beim Kunden, auch Repräsentations-, Beratungs- und Betreuungsfunktionen.205 Ein Bankaußendienst kann über eigene Mitarbeiter, Tochtergesellschaften, freiberufliche Arbeitskräfte oder bankunabhängige Außendienste erfolgen. Für die strategische Positionierung der direkten Vertriebswege konzentrieren wir uns in den weiteren Ausführungen allerdings auf den mobilen Vertrieb durch eigenes Personal, Mitarbeiter von Tochtergesellschaften oder Freiberufler. Der direkte Vertrieb über einen Außendienst lässt sich über eigene (Konzern)Mitarbeiter oder freie Mitarbeiter darstellen. Der Vorteil freier Mitarbeiter im Außendienst, die i.d.R. als Handelsvertreter für das Kreditinstitut tätig sind, ist die freie Gestaltung der Arbeitszeit, die ausschließlich provisions- und damit erfolgsabhängige Vergütung sowie die weitgehende Unabhängigkeit von tariflichen und arbeitsgesetzlichen Vorgaben. Die Arbeit in Selbständigkeit fördert eine hohe Vertriebs- und Abschlussorientierung des Beraters und lässt ihn weitgehend unabhängig von den Öffnungszeiten agieren. Die persönliche und individuelle Beratung des Kunden in seinen eigenen vier Wänden eröffnet ein hohes Potenzial für eine intensive Kundenbindung und bietet damit hervorragende Ansätze für ein Cross- oder Up Selling. Voraussetzung hierfür ist das fachlich und persönlich kompetente Auftreten des mobilen Beraters. Ein generelles Risiko des Außendienstes liegt in dem immer noch schlechten Image des Vertriebsweges im Privatkundengeschäft. Häufig ist ein Außendienstmitarbeiter mit dem typischen Image des Versicherungsvertreters belastet, seine Verkäufe losgelöst vom Bedarf des Kunden und mit alleinigem Blick auf die Umsatzrendite zu forcieren. Gerade der rein provisionsgesteuerte Außendienst über Handelsvertreter birgt eine gewisse Gefahr, dass sich dieses Image bestätigt. Ein verärgerter Kunde sowie eine negative Rückkoppelung auf das Image des Vertriebskanals und der Bank wären die Folgen. Dieses Risiko steht jedoch in keinem Verhältnis zu den Potenzialen dieses Vertriebskanals, speziell wenn der Vertrieb über freie Mitarbeiter erfolgt. Das Imagerisiko kann und sollte durch eine sorgfältige Personalauswahl, ein ausgeklügeltes Anreizsystem und systematische Erfassung der Kundenfeedbacks minimiert werden. Ein weiteres Argument, das häufig im Zusammenhang mit dem mobilen Außendienst genannt wird, ist dessen Kostenintensität. Nachvollziehbar ist dies speziell für einen Außendienst durch eigene Mitarbeiter, für die aufgrund der rechtlichen und tarifvertraglichen Rahmenbedingungen hohe Personalkosten zu kalkulieren sind. Freie Berater arbeiten zwar in der Regel auf Provisionsbasis, aber gerade diese Konstellation zwingt zu einer sehr ökonomischen Vorgehensweise. Damit liegt der Fokus eines mobilen Außendienstes in der Regel auf der
205 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A., op.cit., S. 182 f.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
191
ertragsversprechenden Zielgruppe der gehobenen Privatkunden. Präferierte Produkte in diesem Vertriebsweg sind häufig langfristige und hochvolumige Finanzdienstleistungen, wie Kapitallebensversicherungen, Immobilienfinanzierungen oder das Investmentgeschäft. Der Fokus auf spezielle Segmente und komplexere Finanzdienstleistungen begrenzt das Absatzvolumen und führt dazu, dass der mobile Vertrieb in den nächsten Jahren nicht zu einem breiten Vertriebskanal für das Retail Banking heranwachsen wird. Dennoch ist, wie folgenden Zahlen beispielhaft belegen, gerade in den letzten Jahren ein deutlich wachsendes Interesse am mobilen Außendienst im Retail Banking festzustellen: Bank
2002
2003
2004
2005 (Plan)
Citibank Privatkunden AG
53
102
169
k.a.
Deutsche Bank AG
k.a
1.000
1.300
k.a.
Hypo Vereinsbank
keine
keine
keine
Bis 500 mobile Berater206
Postbank AG
keine
50
370
500
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 54: Entwicklung der Anzahl von Außendienstmitarbeitern seit 2002. Die Übersicht gibt deutliche Hinweise darauf, dass die durch erste Erfolge begründeten Investments der Pioniere Citibank Privatkunden AG, Deutsche Bank AG und Postbank AG eine weiter steigende Bedeutung des mobilen Außendienstes erwarten lassen. Im Zusammenspiel mit ergänzenden Vertriebskanälen ist der Außendienst aufgrund seiner hohen Kontaktintensität besonders wertvoll. So erlaubt er zum einen ein intensives Kennenlernen des Kunden, zum anderen zeigt sich in der Vor- und Nachbereitung eines Kundentermins ganz besonders die Werthaltigkeit der kanalübergreifenden Kundeninformationen. Ein für die spezielle Kundensituation besonders gut vorbereiteter Außendienstmitarbeiter dürfte im Vergleich zu allen anderen Vertriebskanälen das höchste Cross und Up Selling Potenzial aufweisen. Dieses Potenzial wird allerdings nur dann zu einem echten Wettbewerbsvorteil, wenn der Kundenberater technologisch in der Lage und persönlich ausreichend motiviert ist, seine Kenntnis über den Kundenbedarf mit den ergänzenden Vertriebskanälen zu teilen.
206 Die angestrebte Zahl der Berater bezieht sich auf die nächsten Jahre.
192
Der mediale Vertrieb
4.
Der mediale Vertrieb
4.1
Das Internet als etablierter Vertriebsweg mit neuem Potenzial
Bereits in Teil II haben wir das enorme Wachstum des Online Banking seit Mitte der neunziger Jahre als wichtigen Meilenstein für das modere Retail Banking dargestellt. Der Vertriebsweg Internet hat hieran entscheidenden Anteil. Aus Sicht einer filialzentrierten Universalbank wird das Internet Banking häufig im Sinne einer „virtuellen Filiale“ verstanden. Der Unterschied zur Geschäftsstelle besteht jedoch darin, dass der Ort der Leistungserbringung und -nutzung hier auseinander fallen. Hieraus ergeben sich spezifische Eigenschaften im Vertrieb, die gerade in der Phase der Interneteuphorie zu überzogenen Erwartungen an den Absatzkanal führten. Zu den besonderen Stärken des Internetvertriebs zählt die im Vergleich zum Filialgeschäft kostengünstige und leicht skalierbare Leistungsbereitstellung. Dies geht einher mit der Unabhängigkeit von den Öffnungszeiten der Filialen. Dem Bankkunden wird die bequeme und flexible Abwicklung seiner Bankgeschäfte, weitgehend unabhängig von Zeitpunkt und Ort angeboten. Aufgrund dieser Vorzüge eignet sich das Internet insbesondere für den breiten Vertrieb standardisierter Bankprodukte. Auch als Informationskanal im Rahmen der Pre-Sales Phase hat sich das Internet bereits etabliert. Aufgrund seiner besonderen Position begünstigt der Internetvertrieb zudem als direkter Absatzkanal eine Preisdifferenzierung und damit die Möglichkeit, Kostenvorteile dieses Vertriebskanals wettbewerbswirksam an die Kunden weiterzugeben. Eine unterschiedliche Preisgestaltung zwischen Filiale und Internet sollte sich jedoch in die übergreifende Vertriebsstrategie einfügen und darf keinesfalls dagegen verstoßen. Die weitreichenden Potenziale des Online Marketings werden in dem Moment zum Wettbewerbsvorteil, in dem die individuelle Kostenstruktur es zulässt, dem Kunden erstklassige Produktangebote zu unterbreiten. Diese Konzentration auf den Preiswettbewerb wird vor allem von Direktbanken praktiziert. Die Postbank beweist allerdings mit dem Angebot ihres kostenlosen Girokontos, dass auch filialzentrierte Universalbanken den Preiskampf für selektierte Produkte erfolgreich aufnehmen können. Ein intensiver Preiswettbewerb im Internet offenbart aber auch eines der Hauptrisiken dieses Vertriebskanals für filialzentrierte Universalbanken. Im Internet ist jeder Kunde vom Wettbewerb nur noch einen Mausklick entfernt. Eine zu starke Konzentration auf diesen Vertriebskanal kann sehr leicht zu einer Entfremdung des Kunden von seiner Bank führen. Eine abnehmende Bankloyalität bedeutet aber gleichzeitig auch eine höhere Preiselastizität beim Kunden und steuert das eigene Institut mittelfristig in einen noch schärferen Preiswettbewerb.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
193
Weitere Schwierigkeiten dieses Vertriebsweges liegen in der nur eingeschränkt möglichen Beratungsunterstützung. Gerade im Vertrieb über eine virtuelle Filiale wird das Produktangebot fast ausschließlich über die visuelle Wahrnehmung des Kunden gesteuert. Zwar gibt es hierzu innovative Ansätze, die von Callback Buttons, über eine separate Chat- oder Videoberatung bis hin zur Einführung virtueller Berater (so genannte Avatare) gehen, allerdings sind diese Ansätze heute noch nicht in der Lage, die persönliche Beratung zu ersetzen. Entsprechend konzentriert sich der Vertrieb über eine virtuelle Filiale auf standardisierte Bankdienstleistungen. Beratungsintensive Produkte werden sehr selten und dann i.d.R. nur für sehr spezialisierte Zielgruppen angeboten. Eine klassische Schwäche des Vertriebskanals Internet war lange Zeit die unpersonalisierte Ansprache des Kunden. Eine entsprechende Datenbasis vorausgesetzt, ist die individualisierte Kundenkommunikation mit direkten Interaktionsmöglichkeiten heute allerdings gut darstellbar. Der über das ‚Klick- und Nachfrageverhalten’ im Internet besonders gut nachvollziehbare Kundenbedarf bildet eine wichtige Grundlage für die zielgerichtete Kundenansprache. Im integrativen Multi Channel-Vertrieb spielt die virtuelle Filiale damit eine besondere Rolle als Informationslieferant für weitere Absatzkanäle, bietet als entscheidender Kontaktpunkt aber ebenso Potenziale für ein Up oder Cross Selling. Für bestimmte Zielgruppen ist das Internetangebot im Retail Banking sogar eine entscheidende Voraussetzung für die Wahl ihrer Bankverbindung. Heute muss die virtuelle Internetfiliale als etablierter Vertriebsweg betrachtet werden, der bereits Merkmale eines Hygienefaktors aufweist, also vom Kunden als Standardangebot wahrgenommen wird und – sofern nicht oder in minderer Qualität angeboten – als Wettbewerbsnachteil empfunden wird. Qualitätsmerkmale die eine Entscheidung des Kunden für das Online Banking positiv beeinflussen sind insbesondere die einfache und komfortable Bedienung der Nutzeroberfläche sowie die Sicherheit und Kosten der Vertriebskanalnutzung.
4.2
Telefon Banking auf Grundlage moderner Kommunikations-Center
Ein professionelles, telefonisches Kundenkontaktmanagement ist heute integraler Bestandteil der Kundenbetreuung im Retail Banking. In diesem Verständnis wurde das bereits 1989 durch die Citibank in Deutschland als Support-Channel eingeführte Telefon Banking207 wesentlich weiterentwickelt. Die vielfältigen technologischen und personellen Möglichkeiten dieses Vertriebskanals lassen sich heute am ehesten in dem Begriff Call Center zusammenfassen. Im Gegensatz zum telefonischen Kontakt mit dem Kundenberater, der seit jeher zum typischen Kommunikationsweg im Retail Banking zählt, steht das Call Center für einen separaten Vertriebskanal, den der Kunde über eine einheitliche Rufnummer erreicht. 207 Vgl. Champell, W. (1998), S. 456.
194
Der mediale Vertrieb
Unsere weiteren Ausführungen konzentrieren sich dabei auf die für den Vertriebsweg wesentliche „Mensch-Mensch Kommunikation“ zwischen Kunde und Mitarbeiter.208 Die systematische Erfassung, Steuerung und Bearbeitung eingehender Anrufe (Inbound) gehört ebenso zu den Aufgaben des Call Centers, wie die professionelle Planung und Durchführung so genannte Outbound-Aktionen zur telefonischen Kundenakquisition. Konkrete Vorgänge, die im Telefon Banking üblicherweise Inbound abgewickelt werden, betreffen vor allem standardisierte, transaktionsbasierte Geschäftsvorfälle, wie z.B. Überweisungen oder Wertpapierkäufe. Aber auch Kundenanfragen zu komplexeren Produkten können vorab auf diesem Vertriebsweg geklärt werden. Insbesondere die einem Beratungsgespräch in der Filiale oder mit dem mobilen Außendienst vorausgehenden Fragen und Terminwünsche des Kunden werden über das Inbound Telefon Banking effizient unterstützt. OutboundAktionen eigenen sich insbesondere für den Vertrieb wenig komplexer Produkte. Beispielsweise bietet sich die telefonische Akquisition im Falle einer kurzfristigen Geldanlage an, die in eine längerfristige und besser verzinste Anlage umgewandelt werden soll. Auch das Angebot eines Zusatzkredits zur Ablösung der Kontoüberziehung ist ideal für eine OutboundAktion. In diesem Fall endet die Kundenakquisition jedoch mit der Vorstellung des Angebots und der Vereinbarung eines Termins in der Filiale oder mit dem mobilen Außendienst. Über Terminvereinbarungen bietet die Telefonakquisition somit auch eine hervorragende Ausgangsbasis für den Verkauf erklärungsbedürftiger Produkte. Dies gilt speziell für die Kontaktaufnahme außerhalb der Geschäftszeiten, wenn viele berufstätige Kunden erst erreichbar sind. Ein effizientes Telefon Banking setzt die umfassende Vorbereitung des mit der Aufgabe betrauten Call Center Mitarbeiters voraus. Dies betrifft sowohl seine fachliche Kompetenz im Bankgeschäft, als auch seine persönliche Vertriebs- und Beratungskompetenz am Telefon. Hinzu kommt eine intensive technologische Unterstützung des Mitarbeiters. Diese beginnt bei der automatisierten Zuordnung des Anrufers zu kompetenten Beratern, der Bereitstellung aller Kundendaten möglichst schon vor der Gesprächsannahme, die permanente Verfügbarkeit aller relevanten Produkt- und Marktdaten und das weitgehend automatisierte Festhalten von Gesprächsergebnissen in einer zentralen Datenbank. Telefon Banking wird häufig als eigene Organisationseinheit innerhalb der Bank oder des Konzerns abgewickelt. Insbesondere aus Kostengründen setzen aber viele Finanzdienstleister mittlerweile auf die Dienstleistungen eines externen Call Centers. In diesem Fall ist es besonders wichtig, das Call Center vertraglich und inhaltlich in die eigene Retail BankingVertriebsstrategie einzubinden. Zur Erreichung hoher Qualitäts- und Performance Standards muss die Zusammenarbeit zwischen dem Dienstleister und der beauftragenden Bank in regelmäßigen Treffen konkret vereinbart und festgehalten werden. 208 Daneben erfolgt das Telefonbanking auch häufig in Form einer „Mensch-Maschine Kommunikation“. In
dieser Variante läuft der Dialog zwischen Bank und Kunde über einen Computer, der auf Grundlage von Spracherkennungs- oder Voiceresponse-Technologien die in der Lage ist, Kundenanweisungen direkt im System auszuführen. Da sich diese Alternative nahezu ausschließlich für die Annahme einfachster Aufträge anbietet, ist sie für die Betrachtung des Telefonbankings als Vertriebskanal nicht interessant, muss jedoch als kostengünstige Ergänzung des Kommunikationsangebots eines Call Centers berücksichtigt werden.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
195
In der Weiterentwicklung lassen sich die Aufgaben eines Call Centers auf weitere Vertriebskanäle ausdehnen. Man spricht in diesem Fall von einem zentralen Kommunikations- oder Multimediacenter, welches die Kundenkommunikation für verschiedene Vertriebswege bündelt. Neben Telefonanrufen, werden hier z.B. auch eingehende Faxe, E-mails oder Internetanfragen zentral beantwortet.209 Die heutigen Call Center haben damit das Potenzial zu einem zentralen Kommunikations-Center für verschiedene Vertriebswege zu werden. Dies bedingt eine integrative Verknüpfung im Multi Channel-Banking mit gleichzeitigem Zugriff auf alle relevanten CRM Daten. In dieser Funktion entwickeln sich die Kommunikations-Center zur intelligenten Kundenschnittstelle und damit zu einem zentralen Stellwerk moderner Multi Channel-Strategien im Retail Banking.
4.3
Mobile Banking – Bankgeschäfte unabhängig von Zeit und Raum
Im weiteren Sinne kann auch das mittels Mobiltelefon durchgeführte Telefon Banking als eine Form des Mobile Banking angesehen werden. Wie wir aber bereits in Teil II ausgeführt haben, wird dieser Begriff heute für Bankgeschäfte mittels mobiler Endgeräte über das Internet genutzt. Als eigener Vertriebsweg für das Retail Banking rücken Mobiltelefone, PDA´s oder Internet Tableaus aufgrund eines veränderten Kommunikationsverhaltens der Bevölkerung in den Mittelpunkt der Vertriebsstrategie. Gerade junge Zielgruppen sind stark von den neuen Medien geprägt und begrüßen den permanenten, ortsungebundenen und interaktiven Zugriff auf aktuelle Informationen oder Produkte. Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahren das Handy als mobiles Kommunikationsendgerät mit hoher Verbreitung durchgesetzt. Mittlerweile verfügt jeder vierte Haushalt in der Altersgruppe der unter 25-Jährigen über keinen Festnetzanschluss mehr und nutzt ausschließlich ein Mobiltelefon.210 Dennoch entwickeln sich Bankgeschäfte über dieses Medium nur sehr langsam. Als Gründe werden häufig uneinheitliche Standards, die hohen Kosten des Vertriebskanals und die langsame, umständliche Bedienung der Endgeräte im Mobile Banking herangezogen. Aus Sicht des Kunden sind die Ursachen für das Scheitern schnell zusammengefasst. Die Technologie zur Nutzung des Vertriebskanals war bislang langsam, umständlich und entsprach aufgrund der eingeschränkten Funktionen in keiner Weise dem Kosten-/Nutzenverständnis der Bankkunden. Trotz dieser wenig aufbauenden Erfahrungen mit Mobile Banking zum Ende der neunziger Jahre, ist die Diskussion um diesen Vertriebskanal in Bankkreisen nie verstummt. Gerade in 209 Vgl. Büschgen, H.E., Büschgen, A. (2002), S. 197. 210 Vgl. Pinkl, J., Georgi, F. (2005), S. 57.
196
Der mediale Vertrieb
der jüngeren Vergangenheit lebt das Interesse an dem Absatzweg aus unterschiedlichen Gründen wieder auf. Auf der Seite der Endgeräte ist von einer Konvergenz der Technologien Mobilfunktelefone, PDA´s und Notebooks auszugehen. Vorstöße verschiedener Anbieter in die jeweilige Marktdomaine des anderen Bereichs führen zu einer Annäherung der Geräte im Hinblick auf Funktionsumfang und Größe. Zusammen mit den weiter wachsenden Übertragungsgeschwindigkeiten ergeben sich aus dieser Entwicklung immer leistungsfähigere, komfortable und multimedial nutzbare Endgeräte. Damit wird sukzessive eine wesentliche technologische Hürde für das Mobile Banking abgebaut. Ein weiterer Grund ist das in Studien bestätigte hohe Kundeninteresse an diesem Vertriebsweg. Eine Umfrage der Meridea Financial Software Ltd. ergab für Deutschland ein Potenzial von 12,7 Millionen Interessenten für die Abwicklung von Bank und Finanzdienstleistungen über das Handy.211 e-comes Management Consulting ermittelte in einer ähnlichen Studie eine interessierte Zielgruppe von 29 Prozent der Handy-Nutzer.212 Die Befragten äußerten ein hohes Interesse an Bankinformationen auf dem Handy und würden für diesen Service sogar ein geringfügiges Entgelt bezahlen. Der dritte Grund für das wieder anwachsende Interesse am Mobile Banking in Deutschland sind die Erfolge verschiedener ausländischer Institute. So nutzen bei der Société Générale mittlerweile über 500.000 Kunden einen mobilen Kontoservice. Die Bank erreichte mit dem Projekt bereits nach einem Jahr die Gewinnschwelle und wurde zum Vorreiter für den französischen Markt. Die niederländische Postbank/ING erreichte die gleiche Kundenzahl durch eine innovative Marketingkampagne innerhalb von sechs Wochen. Weitere Beispiele für ein erfolgreiches Mobile Banking gibt es von der First Direct Bank in England, der Dexia Bank in Belgien und der Banca Intesa in Italien.213 In Deutschland befindet sich Mobile Banking weiterhin in der Entwicklungs- und Erprobungsphase. Seit der CeBIT 2004 bietet die Postbank in Kooperation mit T-Mobile einen Mobile Banking Service auf WAP-Basis für verschiedene Bank-, Wertpapier- und Informationsdienste an. Ein geeigneter technologischer Standard ist allerdings noch nicht gefunden. Sicherheits- und Geschwindigkeitsdefizite sowie die hohen Transaktionskosten bleiben weiterhin die großen Hemmnisse für die Erschließung breiter Zielgruppen. Die über diesen Absatzkanal anzubietenden Produkte beschränken sich auf absehbare Zeit auf einfache Informations- und Transaktionsdienste. Der Vertrieb komplexerer Produkte ist über Mobile Banking nicht möglich und eine integrative Unterstützung anderer Absatzwege nur sehr beschränkt darstellbar. Somit wird sich das Mobile Banking auch in absehbarer Zukunft nicht zu einem vollwertigen Vertriebskanal entwickeln. Dennoch gilt es diesen Vertriebsweg gerade mit Blick auf die internationalen Erfolge sowie die Weiterentwicklung der erfolgsrelevanten Übertragungsstandards und Endgeräte sorgfältig zu beobachten, bzw. in abgegrenzten Pilotprojekten erste eigene Erfahrungen zu sammeln. 211 Vgl. Pinkl, J., Georgi, F. (2005), S. 56. 212 Vgl. Schubart, M. (2003), S. 43. 213 Vgl. Karsch, W. (2004): S. 70 ff.
Die Vertriebskanäle im Retail Banking
4.4
197
Video Banking – TV-Finanzshops als Absatzkanal
Der Begriff Video Banking im Sinne eines Absatzkanals beschreibt den Vertrieb von Bankprodukten über einen eigenen Videokanal, bzw. auf Basis einer speziell hierfür reservierten Sendezeit. Wesentliches Merkmal des Video Banking ist die interaktive Kommunikation mit dem Kunden über einen eigens hierfür zur Verfügung gestellten Response-Kanal. Damit unterscheidet sich Video Banking klar von der klassischen TV-Werbung, die keine unmittelbare Kaufentscheidung und Kaufhandlung zum Ziel hat. Derzeit wird Video Banking in zwei Ausprägungen erprobt, bzw. eingesetzt: Als unterstützender Vertriebskanal, der z.B. in der Filiale oder im SB-Bereich integriert wird und dem Kunden auch in ländlicheren Regionen die qualifizierte Beratung eines Finanzexperten ermöglicht. Technologisch entspricht diese Form eines Video Banking weitgehend den bekannten Videokonferenz-Systemen. Eine Einschätzung dieser Technologie in Bezug auf den SB-Bereich erfolgte bereits unter 2.2. Interessant ist diese Form des Video Banking jedoch auch zur Unterstützung komplexerer Beratungsvorgänge im Filialgeschäft. Hoch qualifizierte Experten, die häufig nur in der Unternehmenszentrale anzutreffen sind, können auf diesem Weg dem gesamten Vertriebsnetz zur Verfügung gestellt werden. Über einen TV-Finanzshop kann mit vergleichsweise geringem Aufwand ein breites Publikum erreicht werden. Die entscheidende Messgröße im Hinblick auf den Vertrieb von Finanzdienstleistungen ist jedoch nach wie vor der wirksame Kaufabschluss. In den vergangenen Jahren kam die Entwicklung eines interaktiven TV-Vertriebskanals immer wieder aufgrund der technologischen Voraussetzungen zum stocken. Digitale Set-Top-Boxen, wie sie für einen direkten Response Channel benötigt werden, haben sich bis heute noch nicht im Markt durchsetzen können. Gleiches gilt für die digitale Signatur als elektronisches Pendant zur rechtsverbindlichen Unterschrift. Davon unabhängig erproben erste Banken, wie die Citibank, die Postbank oder die Netbank gemeinsam mit dem Anbieter RTL Shop den Vertrieb von Finanzdienstleistungen über TV.214 Der Kaufwunsch des Kunden wird hierbei telefonisch übermittelt, der eigentliche Abschluss muss anschließend postalisch oder in der Filiale erfolgen. Bis heute kann kein eindeutiger Trend für den Vertriebsweg Video Banking prognostiziert werden. Zwar eröffnen beide Varianten interessante, neue vertriebliche Optionen, jedoch bleibt der Erfolg dieses Vertriebsweges bislang unbestätigt. Gerade im Hinblick auf das Image eines Teleshopping Kanals erscheint die Relevanz für das vertrauenssensible Finanzgeschäft fraglich. Auch hinsichtlich der Erlöspotenziale bleibt eine gewisse Skepsis, da zwischen der Ausstrahlung der Sendung und dem Vertragsabschluss noch einige Prozessschritte
214 Vgl. Schmitt, Z., Finanzshop bei RTL Shop mit weiteren Partnern,
http://www.ip-deutschland.de/ipdeutschland/Presse/Archiv/index_789.jsp.
198
Potenziale der Vertriebskanäle im Überblick
zu bewältigen sind. So gesteht auch die Citibank zu, dass die wesentliche Zielsetzung des TV Finanzshops darin liegt, „...mehr Kunden und Interessenten in die Filialen zu holen.“215
5.
Potenziale der Vertriebskanäle im Überblick
Unsere Ausführungen zeigen, dass die Anzahl möglicher Vertriebswege weiter zunimmt. Ebenso wird deutlich, dass jeder Vertriebskanal über spezifische Eigenschaften verfügt, die nur im Kontext des eigenen Wettbewerbsumfelds und der individuellen Vertriebsstrategie bewertet werden können. Auf Basis des vorausgegangenen Überblicks haben wir eine zusammenfassende Einschätzung der generellen Potenziale einzelner Vertriebswege erstellt. Für die einzelnen Phasen des Kaufprozesses wurden die besonderen Eigenschaften der Vertriebskanäle auf einem generellen Niveau bewertet, wobei die Tabelle auch unsere persönliche Einschätzung wiedergibt. Pre-Sales / Kontakt
Beratung / Bedarfsanalyse
Abschluss
Abwicklung/ Aftersales
Filiale
+/o
+
+
+/o
Selbstbedienung
o/-
-
o
-
o
+
+
o
Internet Banking
+/o
o
+/o
+/o
Telefon Banking
+
o
o
+
Mobile Banking
+/o
-
o
-
Video Banking
+/o
o/-
-
-
Mobiler Außendienst
Legende:
+ = Schwerpunkt
o = unterstützend
- = keine Relevanz
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 55: Potenziale der Vertriebskanäle im Multi Channel-Kaufprozess. Für die in den weiteren Kapiteln beschriebene Bewertung der Vertriebskanäle bietet diese Einschätzung eine gute Grundlage.
215 Birkelbach, J. (2003), S. 31.
Das strategische Portfolio der Vertriebswege
1.
Grundlagen der Portfoliotheorie im Marketing
Obwohl erst der integrierte Multi Channel-Vertrieb die erhofften Gewinnsteigerungen aufgrund einer steigenden Kundenbindung und des verbesserten (One-to-One) Marketings verspricht, ist eine individuelle Bewertung der einzelnen Kanäle wesentlicher Bestandteil einer objektiven Strategieumsetzung. Gerade im praktischen Multi Channel-Vertrieb ist häufig festzustellen, dass Banken einen neuen Absatzkanal unterhalb einer notwendigen Wirkungsschwelle anbieten. Gründe dafür liegen häufig in den hohen Fixkosten im Aufbau des Vertriebsweges bei gleichzeitig geringen Umsatzpotenzialen, sowie in einem plötzlich ansteigenden Marktdruck aufgrund von Initiativen der Konkurrenz. Das Portfolio Management bietet sich als geeigneter Ansatz für eine objektivere Entscheidungsfindung an. Die klassische Portfolio-Theorie entspringt der Finanzwissenschaft und wird im Wesentlichen auf Markowitz zurückgeführt. In ihrem Kern steht die quantitative Beschreibung eines Risikos, die Analyse der Diversifikation und die Ableitung eines optimalen Verhältnisses zwischen Rendite und Risiko.216 Wie bereits angedeutet, erfolgte eine Übertragung dieser Chancen/Risiko-Sicht auf die Mischung strategischer Geschäftseinheiten erstmalig über das BCGPortfolio. Dieser Ansatz baut direkt auf Erkenntnissen der Erfahrungskurvenforschung und der Erfolgsfaktorforschung auf und wird im Wesentlichen durch das PIMS-Konzept empirisch untermauert.217 Grundlage des Portfolios bietet die interne und externe Umweltanalyse, die sich jeweils über einen Erfolgsfaktor in den Dimensionen „relativer Marktanteil“ und „relatives Marktwachstum“ niederschlägt. Die beiden Variablen werden in einem Koordinatenkreuz abgezeichnet, wobei auf der Abszisse die interne, beeinflussbare Größe und auf der Ordinate die externe und nicht beeinflussbare Größe angezeigt werden. Die strategischen Geschäftsfelder werden in diesem Modell als Kreise dargestellt, wobei die Größe der Fläche den Umsatz des Geschäftsfelds repräsentiert. Die folgende Abbildung zeigt eine schematische Darstellung des
216 Vgl. Spremann, K. (2003), S. 25. 217 Vgl. Benkenstein, M., (2001), S. 282.
200
Grundlagen der Portfoliotheorie im Marketing
BCG-Portfolios mit der typischen Unterteilung in die Felder Stars, Question Marks, Cash Cows und Poor Dogs.
Quelle: Growth-Share Matrix, http://www.quickmba.com/strategy/matrix/bcg/. Abbildung 56: Das BCG-Portfolio im strategischen Marketing. Bei den Stars handelt es sich um Geschäftsfelder mit einem hohen relativen Marktanteil in einem schnell wachsenden Markt. Dies wird als besonders günstige Position angesehen. Die Question Marks sind mit einem geringen Anteil in attraktiven Märkten vertreten. Es gilt zu selektieren, welche Geschäftsfelder hier gefördert und welche aufgegeben werden. Poor Dogs beschreiben die ungünstigste Position im Portfolio. In einem degenerativen Markt haben sie eine schwache Wettbewerbsposition. Es wird zum Rückzug geraten. Cash Cows befinden sich in einer reifen Phase ihres Lebenszyklus und erwirtschaften bei einem geringen Marktwachstum und einem relativ hohen Marktanteil hohe Überschüsse. Diese sollten im Sinne eines ausgeglichenen Portfolios wiederum zur Entwicklung neuer strategischer Geschäftseinheiten verwendet werden. Ein entscheidender Kritikpunkt am BCG-Portfolio betrifft die darin vorgenommenen drastischen Vereinfachungen, die das Risiko bergen, wesentliche Aspekte der Entscheidung zu übersehen.218 Hierfür bietet das aus neun Feldern bestehende „WettbewerbsvorteilsMarktattraktivitäts-Portfolio“ von McKinsey einen weiterführenden Ansatz. Die beiden 218 Vgl. Steinmann, H., Schreyögg, G. (2002), S. 209.
Das strategische Portfolio der Vertriebswege
201
Dimensionen des Portfolios werden jeweils durch Einflussfaktorenbündel beschrieben, welche wiederum aus ausgewählten Kriterien definiert werden. Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt an der BCG-Matrix ist ihre deterministische Handhabung, die sich in den dargestellten „Normstrategien“ niederschlägt. Diese stringenten Handlungsempfehlungen basieren lediglich auf Verknüpfungshypothesen und werden als viel zu starr angesehen. Zudem konnte in empirischen Studien zwischenzeitlich nachgewiesen werden, dass die pauschalen Normstrategien zu einem hohen Anteil nicht zutreffen.219 Aus dem Blickwinkel komplexer adaptiver Systeme erscheint dieser Kritikpunkt mehr als plausibel. In dem Modell werden lediglich die Einflussfaktoren und nicht deren Vernetzung betrachtet. Es wird also nur ein Teil der komplexen Umwelt erfasst, so dass die Formulierung einer Normstrategie per se auf einer unkalkulierbaren Unsicherheit basiert. Trotz dieser Kritikpunkte hat sich der Portfolioansatz zwischenzeitlich zum Standardinstrument im strategischen Marketing entwickelt. Seine klare Stärke liegt in der einfachen Handhabung, die sich aus dem verständlichen, systematischen Vorgehen sowie der Komprimierung auf wenige strategische Dimensionen ergibt.
2.
Das Portfolio der Vertriebswege im Retail Banking
Der Blick auf das klassische Portfoliomanagement im Marketing spricht klar für die grundsätzliche Übertragbarkeit dieser Methodik auf die Frage der strategischen Positionierung der Vertriebswege. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Ansatz in der Literatur und in der Praxis bisher kaum verfolgt wird. In den folgenden Kapiteln zeigen wir einen praktisch nachvollziehbaren Weg, das Portfoliomanagement als Auswahlinstrument für die strategische Positionierung der Vertriebswege zu nutzen. Da sich die Entwicklung des Vertriebswegeportfolios eng an dem klassischen Portfolio-Management im Marketing anlehnt, möchten wir das Instrument bezüglich der beschriebenen Schwächen des Portfolio Ansatzes bewerten. Die Entwicklung von Normstrategien wurde für die beschriebenen Portfolio-Ansätze als zu starr beschrieben. Das Vertriebswege Portfolio ist gerade im Hinblick auf das dynamische Wettbewerbsumfeld darauf ausgelegt, flexible und institutsindividuelle Strategien zu unterstützen. Eine zu starke Vereinfachung kann der Komplexität im Retail Banking ebenso wenig Rechnung tragen, wie eine zu große Starrheit des Modells. Daher ist eine angemessene, kriterienbezogene Bewertung der Portfolio-Dimensionen – analog dem Modell von McKinsey – wichtig. 219 Eine Untersuchung auf Basis der PIMS Datenbank zeigte z.B. dass ca. 40 % der untersuchten Geschäfts-
einheiten nach den Kriterien des BCG-Portfolios als Poor Dogs einzustufen waren. Die durchschnittliche Rentabilität dieser vom Rückzug bedrohten Geschäftsfelder lag jedoch erstaunlich hoch. Vgl. Steinmann, H., Schreyögg, G. (2002), S. 214.
202
Bestimmung der Dimensionen des Vertriebswege-Portfolios
Entsprechend des in Teil V vorgestellten Ansatzes zum Umgang mit hohen Datenmengen, muss der Auswahl der Dimensionen und Erfolgsfaktoren zur Erstellung des Portfolios eine besonders hohe Aufmerksamkeit gewidmet werden.220 Entscheidend ist die Selektion der strategisch relevanten Erfolgsfaktoren für die Multi Channel-Strategie im jeweiligen Wettbewerbsumfeld. Das vorgestellte Verfahren der Syntegration kann in dieser Phase zusätzlich helfen, zu einer qualitativ besseren Kriterienauswahl zu gelangen. Daneben gilt es in einem Vertriebswege Portfolio die übergreifenden Effekte eines integrierten Multi Channel-Vertriebs zu berücksichtigen. In Teil III haben wir bereits den Mehrwert für den Kunden aufgrund einer prozessübergreifenden Pluralisierung der Vertriebswege dargestellt. Die Integration eines One-to-One Marketing verspricht eine zusätzliche Intensivierung der Kundenbeziehung und der Kundenbindung. Mit Blick auf die Emergenzforschung reicht es nicht aus, die isolierte Bedeutung einzelner Vertriebskanäle für das Retail Banking zu beurteilen. Entscheidend ist darüber hinaus die Erkennung und Bewertung der Entstehung neuer Strukturen aufgrund des Zusammenspiels dieser Kanäle. Gerade aus deren Zusammenwirken entwickeln sich emergente Effekte, die im Rahmen eines Portfolio-Ansatzes berücksichtigt werden müssen.
3.
Bestimmung der Dimensionen des VertriebswegePortfolios
Aufbauend auf den Ergebnissen des vorangegangenen Kapitels ergibt sich der Charakter des Vertriebswege-Portfolios über die Auswahl der relevanten Bewertungsdimensionen. Diese wiederum leiten sich aus der generellen Zielsetzung – also der Steigerung des Betriebserlöses, der Senkung der Vertriebskosten und der Stärkung des Marktansehens – im Retail Banking-Vertrieb ab. Zudem soll die auf den grundlegenden Prinzipien der Designschule aufbauende Struktur eines Portfolios nicht durchbrochen werden. Für die Bewertung einzelner Vertriebswege ist demnach eine interne Unternehmenssicht und eine externe Marktsicht anzuwenden. Neben der theoretischen Konsistenz bietet dieses Vorgehen den praktischen Vorteil, dass zu einem großen Teil auf vorliegende Ergebnisse der SWOT Analyse zurückgegriffen werden kann.
220 So ist z.B. ebenso das McKinsey Portfolio in die Kritik geraten, das zur Bestimmung der beiden Dimensio-
nen eine Vielzahl an unterschiedlichen Faktoren einfließen lässt und damit als zu starr angesehen wird. Vgl. Benkenstein, M (2001), S. 284 f.
Das strategische Portfolio der Vertriebswege
203
Für den Aufbau des strategischen Vertriebskanal Portfolios werden die folgenden Dimensionen berücksichtigt. 1. Die Vertriebsstärke beschreibt unter den gegebenen externen Marktbedingungen das Leistungsvermögen eines Vertriebskanals. Die internen Stärken und Schwächen eines Vertriebskanals können durch das Geschäftsfeld direkt beeinflusst werden. 2. Das Absatzpotenzial bildet die zweite Dimension des Portfolios und beschreibt die relevanten externen Größen und Marktbedingungen, die den Erfolg eines Vertriebskanals beeinflussen. Die umweltbedingten Chancen und Risiken des Absatzkanals können nicht direkt durch die eigene Geschäftseinheit beeinflusst werden. 3. Das Integrationspotenzial beschreibt als zusätzliche Dimension das emergente Zusammenwirken der einzelnen Vertriebskanäle. Für jeden einzelnen Kanal erfolgt eine Bewertung, wieweit er einen integrativen Multi Channel-Vertrieb unterstützt. Neben der isolierten Betrachtung von internen und externen Potenzialen eines Vertriebskanals erlaubt diese ergänzende Sicht eine Erfassung und Bewertung von Vertriebseffekten, die nur im Zusammenspiel mehrer Kanäle erreicht werden. Die Wirkung der Emergenz wird somit über die Einführung einer dritten Dimension im Portfolio berücksichtigt. Dieser Schritt korrespondiert mit einem generellen Trend zur Weiterentwicklung des Portfolio-Ansatzes. Auch die Boston Consulting Group erwartet für dieses Jahrzehnt aufgrund einer höheren Marktvielfalt die Erweiterung des BCG-Portfolios um eine dritte Dimension.221 Die inhaltliche Ausprägung dieser Dimension resultiert dagegen aus den Leitlinien der Komplexitätstheorie und den besonderen Herausforderungen des Multi Channel-Vertriebs. Da über das Integrationspotenzial eine dritte Dimension eingeführt wird, ist es nicht sinnvoll die zusätzliche Untergliederung in eine neun Felder Matrix analog dem McKinsey Portfolio vorzunehmen. Die Komplexität des Portfolios potenziert sich und seine Aussagefähigkeit sinkt aufgrund der hohen Starrheit des Bewertungsmodells. Jede der drei Achsen wird damit in genau in die zwei strategischen Bereiche „Hoch“ und „Niedrig“ unterteilt. Auf die Entwicklung von Normstrategien wird aufgrund der vorgenannten Kritikpunkte und der besonderen Herausforderungen des komplexen, dynamischen Retail Banking-Marktes verzichtet. Wie im BCG-Portfolio soll das Umsatzvolumen eines Vertriebskanals über seine Dimensionierung im Diagramm dargestellt werden, wobei die dreidimensionale Darstellung eine Kugelform erforderlich macht.
221 Vgl. o.V., Portfolio Strategie, Präsentation der Boston Consulting Group an der Universität Regensburg
vom 06.12.2004, http://www.uni-regensburg.de/Fakultaeten/WiWi/dowling/files/sm/WS04_05/SM06-12-04.pdf.
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
1.
Auswahl und Darstellung relevanter Erfolgsfaktoren
Um eine Bewertung der im vorigen Kapitel genannten Dimensionen vornehmen zu können, ist es erforderlich, entsprechende Erfolgsfaktoren zu definieren. Hierunter verstehen wir eine begrenzte Anzahl von Eigenschaften zur Beschreibung der entsprechenden Dimension im Portfolio, die bei ausreichend guten Werten zum Erreichen der Vertriebsziele führen. Die im Folgenden dargestellten Erfolgsfaktoren wurden auf Basis vieler Diskussionen mit Branchenexperten, eigener Erfahrungen und eines Studiums der aktuellen Literatur entwickelt. Dennoch haben sie lediglich einen allgemeinen Charakter und sollten nicht ungefiltert auf das eigene Wettbewerbsumfeld übertragen werden. Grundsätzlich können für das Portfolio quantitative (wie z.B. das Umsatzvolumen oder die Gesamtkosten eines Vertriebskanals) und qualitative Erfolgsfaktoren (wie z.B. Intensität der Beratung) unterschieden werden. Um die unterschiedlichen Erfolgsfaktoren vergleichbar zu machen und in den jeweiligen Dimensionen des Portfolios darstellen zu können, müssen sie einer gemeinsamen Bewertung unterzogen werden. Insbesondere quantitative Faktoren können daher nicht als absoluter Wert, sondern müssen als relative Größe berücksichtigt werden. So muss z.B. ein bestimmtes Umsatzvolumen im Vertriebskanal Internet durch eine Bank als hoch, mittel oder gering bewertet werden. Als Bezugspunkte können in diesem Beispiel die Umsätze der anderen im Portfolio erfassten Vertriebskanäle dienen. Neben der Definition des Erfolgsfaktors gilt es somit auch Messgrößen für die relative Bewertung des Erfolgsfaktors zu finden. Im Rahmen der Festlegung unterschiedlicher Merkmalsausprägungen der relevanten Erfolgsfaktoren ist eine Unterscheidung nach dem Typ des Vertriebsweges erforderlich. Über alle Erfolgsfaktoren sollte dabei durchgängig zwischen „Technischen Vertriebswegen“ und dem „Personalen Verkauf“ unterschieden werden. Insbesondere hinsichtlich der emotionalen Betreuung des Retail Banking-Kunden und der Flexibilität im Kaufprozess ergeben sich für diese beiden Ausprägungen erhebliche Abweichungen.
206
Erfolgsfaktoren für die Vertriebsstärke
Die folgende Abbildung zeigt die relevanten und im Weiteren näher zu beschreibenden Erfolgsfaktoren zu jeder Bewertungsdimension im Überblick.
Dimensionen der Erfolgsfaktoren Vertriebsstärke
Absatzpotenzial
Integrationspotenzial
Erlöspotenzial
Attraktivitätsnivau
Bindungspotenzial
Kostensenkungspotenzial
Ressourcenverfügbarkeit
Selektionspotenzial
Vertriebskapazität
Zukunftsfähigkeit
Kooperationskraft
Vertriebsqualität
Regulierungsgrad
Imagetransfer
Adaptionsfähigkeit
Vertrauenswirkung
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 57: Erfolgsfaktoren des Vertriebswege-Portfolios im Überblick. Jede einzelne Betrachtungsdimension und jeder Erfolgsfaktor werden in den folgenden Kapiteln detailliert beschrieben.
2.
Erfolgsfaktoren für die Vertriebsstärke
Über die Dimension der Vertriebsstärke erfolgt eine Bewertung der internen Kanal-Fitness. Damit bilden insbesondere die Ergebnisse der internen Stärken- und Schwächenanalyse, ergänzt um die Besonderheiten des Multi Channel-Vertriebs eine wichtige Grundlage zur Definition der Erfolgsfaktoren. Für alle hier aufgeführten Faktoren gilt, dass sie über den kompletten Kaufprozess betrachtet werden müssen. Hierzu gehören die Phasen Pre-Sales, Kontaktaufnahme, Beratung / Bedarfsanalyse, Abschluss und Abwicklung / After Sales. Das Erlöspotenzial eines Vertriebskanals beschreibt die generellen aus seiner internen Struktur resultierenden Möglichkeiten, neue Kunden zu akquirieren, Bestandskunden an das eigene Institut zu binden und die Produkte des Retail Banking beim Kunden zu platzieren. Dahinter verbergen sich viele weitere Aspekte, die hier nur exemplarisch behandelt werden können. Wesentlich für das Erlöspotenzial sind vor allem die Fragen, wieweit der Vertriebskanal eine individuelle Kundenbetreuung erlaubt, über eine ausreichende Zahl an Kontaktpunkten verfügt, ein Cross Selling begünstigt, oder die zielgerichtete Ansprache besonders interessanter Kundengruppen unterstützt. Eine weitere Frage ist, welche Produkte mit welchen Erlöspotenzialen sinnvoll über den Kanal vertrieben werden können. Welche Produkte im Vertrieb der Bank besonders ertragreich und damit für die Bewertung
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
207
des Erlöspotenzials besonders wichtig sind, hängt stark von der individuellen Vertriebsstrategie und den selektierten Zielgruppen ab. Häufig erzielen gerade gerade komplizierte und erklärungsbedürftige Produkte, wie z.B. langfristige Hypothekendarlehen oder spezielle Wertpapieranlagen sehr gute Provisions- und Zinserträge. Die Eignung dieser Produkte für bestimmte Vertriebskanäle wird vom Grad der durch den Kunden wahrgenommenen Produktkomplexität beeinflusst. Als grundsätzliche Regel kann festgehalten werden, dass eine höhere Komplexität des Bankproduktes für einen persönlichen Vertrieb spricht. Einfachere Produkte können ergänzend oder ausschließlich über technische Vertriebswege abgesetzt werden. Hinsichtlich des Erlöspotenzials ist es wesentlich festzuhalten, dass eine konkrete Messung der Erlöse je Vertriebskanal aufgrund der Komplexität des Zusammenspiels verschiedener Vertriebskanäle nicht sinnvoll ist. Die freie Wahl der Vertriebskanäle durch den Kunden im gesamten Verkaufsprozess führt zu einer extrem hohen Anzahl möglicher Wechselwirkungen zwischen den Kanälen und Leistungen. So ergeben sich z.B. aus der Kombination von vier Vertriebskanälen mit lediglich fünf Prozessschritten in der Summe 45 mögliche Kanal-/ Prozesskombinationen. Dies entspricht 1024 verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten, was in der Praxis eine auf den Vertriebskanal bezogene Erfolgsrechnung unmöglich erscheinen lässt. Der Erfolgsfaktor Kostensenkungspotenzial eines Vertriebskanals beschreibt ein weiteres Kernziel im Multi Channel-Banking. Dabei steht insbesondere die Substitution kostenintensiver Vertriebswege durch kostengünstigere Alternativen im Vordergrund. Die Bewertung des Kostensenkungspotenzials setzt zunächst eine Kenntnis der Kosten je Vertriebskanal voraus. Sofern entsprechende Daten für das Retail Banking noch nicht vorliegen, ist methodisch eine Orientierung an der Kostenstellenrechung sinnvoll. Nach Erhebung der direkt im Vertriebskanal anfallenden Personal-, Sach- und Marketingkosten ist eine Umlage der indirekten Kosten (Gemeinkosten) erforderlich. Das Ergebnis muss nicht dem Anspruch einer exakten Kostenrechnung genügen, sondern eine relative Einschätzung erlauben, wieweit der jeweilige Vertriebskanal einen kostengünstigeren Vertrieb im Vergleich zu alternativen Vertriebskanälen erlaubt. Wesentlich ist hierbei, die Planungs-, Erstellungsund Betriebskosten für den Absatzweg zu berücksichtigen. Die Vertriebskapazität beschreibt die konkreten Möglichkeiten eines Absatzkanals die Kunden mit den nachgefragten Bankdienstleistungen zu versorgen. Limitiert wird die Vertriebskapazität durch die vertriebswirksam zur Verfügung stehenden Ressourcen im jeweiligen Absatzkanal. Bezogen auf den persönlichen Vertrieb fallen darunter vor allem die Anzahl der Vertriebsmitarbeiter, die eingesetzte Arbeitszeit sowie die im Vertrieb wirksame Produktivität. Für Technische Vertriebswege muss diese Sicht um die Verarbeitungskapazität der elektronischen Ressourcen und die Anzahl der verfügbaren Endgeräte ergänzt werden. Was hilft die beste Technologie, wenn die zum Betrieb erforderliche Hard- oder Software nicht verfügbar oder für den Kunden erschwinglich ist. Für Online- oder MobileBanking Kanäle ist zudem die Systemperformance eine ausschlaggebende Größe. Wesentlich sind die bei einer für den Kunden akzeptablen Antwortzeit gleichzeitig ausführbaren Zugriffe auf das System. Im Hinblick auf die SB-Geräte liegt der limitierende Faktor in der Regel in der Bedienung der Geräte. Greifen mehrere Kunden gleichzeitig auf eine be-
208
Erfolgsfaktoren für die Vertriebsstärke
grenzte Zahl an SB-Automaten zu, so kann ein Engpass die Folge sein. Eine relevante Kennzahl ist die erreichbare Anzahl an Transaktionen pro SB-Gerät innerhalb einer Stunde.222 Multipliziert mit der Anzahl der verfügbaren Geräte in einer abgegrenzten Umgebung (wie z.B. der SB-Bereich einer Filiale) ergibt sich die relevante Kapazität pro Stunde. Der Erfolgsfaktor Vertriebsqualität steht für die vom Kunden wahrgenommene Befähigung eines Vertriebskanals, seine individuellen Erwartungen über den gesamten Kaufprozess zu erfüllen. Dies umfasst insbesondere die Anforderungen des Kunden an die Zuverlässigkeit und Sicherheit des Vertriebskanals, die fachliche Kompetenz der Beratung sowie seine emotionale Akzeptanz des Absatzweges. Hinsichtlich der fachlichen Kompetenz ist anzumerken, dass sie in Relation zur Kundenerwartung stehen sollte. So wird der fachliche Anspruch des Kunden an ein SB-Gerät wesentlich geringer sein, als an einen qualifizierten Kundenberater. Bei diesem ist sie allerdings ein entscheidender Wettbewerbsfaktor und muss daher langfristig sichergestellt sein. Wesentlich ist hierfür die Bereitschaft des Beraters sich permanent weiterzubilden, wie auch das Angebot entsprechender Qualifizierungsmöglichkeiten. Ein weiteres Merkmal der Vertriebsqualität ist die emotionale Akzeptanz eines Vertriebskanals durch den Kunden. Die Bewertung der relevanten Ausprägungen dieses Erfolgsfaktors ist je nach Vertriebstyp unterschiedlich. Im Personalen Verkauf wird die emotionale Akzeptanz insbesondere durch die persönliche Kompetenz des Beraters geprägt.223 Darüber hinaus wird die Wahrnehmung des Kunden im Retail Banking durch die Gestaltung der Absatzkanäle (z.B. Standortwahl oder eine ansprechende und zeitgemäße Filialausstattung) beeinflusst.ȱ Bei Technologischen Vertriebswegen konzentriert sich die emotionale Akzeptanz des Kunden auf das ansprechende Design der Benutzeroberfläche, eine einfache, intuitive Bedienerführung und kurze Reaktionszeiten (z.B. auf eine e-Mail oder Service-Anfrage). Die Adaptionsfähigkeit beschreibt das Potenzial einer evolutionären oder spontanen Anpassung des Vertriebskanals an eine veränderte Umwelt. Das komplexe, dynamische Umfeld des Retail Banking erfordert die flexible Anpassung der einzelnen Vertriebskanäle an neue Umweltbedingungen. Dies gilt zum einen für Weiterentwicklungen innerhalb eines Vertriebswegs, wie es z.B. im Rahmen der Einführung einer neuen Beratungsfunktion auf einem SB-Gerät als Reaktion auf einen Wettbewerber denkbar ist. Zum anderen umfasst dieser Erfolgsfaktor aber auch den Vertriebsweg als Ganzes. So kann z.B. die Adaptionsfähigkeit eines Internet Vertriebsweges als hoch angesehen werden, sofern er mit sehr geringem Aufwand auch auf einen PDA portiert werden kann. Generell lässt sich festhalten, dass die Adaptionsfähigkeit eines Vertriebskanals umso höher ist, je geringer die Investitionskosten und die benötigte Anpassungsdauer für seine adaptive Weiterentwicklung sind. Hierzu gehören auch Anpassungen die dazu dienen, den isolierten Vertriebsweg in 222 In einer weitergehenden Betrachtung erscheint zudem eine Unterscheidung nach Art des SB-Geräts und
der Transaktion sinnvoll. Beispielsweise dauert der Ausdruck von Kontoauszügen in der Filiale in der Regel wesentlich länger als eine Bargeldverfügung am Automaten. Eine rein pauschale Betrachtung anhand von Durchschnittswerten birgt daher das Risiko nicht aussagekräftiger Ergebnisse. 223 Zur persönlichen Kompetenz zählen vor allem das Einfühlungs- und Situationsgefühl des Beraters, seine Kundenorientierte Problemlösungsfähigkeit, seine Fähigkeit zum vernetzten Denken, sowie seine Umgangformen, sein Auftreten und sein verkäuferisches Verhalten. Vgl. Swoboda, U. (1998), S. 147.
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
209
ein integriertes Multi Channel-Banking einzufügen oder zu erhalten. Tendenziell neigen etablierte, personal- und umsatzstarke Vertriebskanäle damit zu einer vergleichsweise geringen Adaptionsfähigkeit. Vertriebskanäle die noch wenig ausgebaut sind und z.B. auf flexiblen Internettechnologien basieren, werden dagegen eine hohe Adaptionsfähigkeit aufweisen.
3.
Erfolgsfaktoren für das Absatzpotenzial
Das Absatzpotenzial beschreibt als zweite Dimension die externe Fitness eines Vertriebskanals. Die hierfür relevanten Erfolgsfaktoren setzen sich aus den nicht direkt durch das Retail Banking beeinflussbaren Faktoren der externen Umwelt zusammen. Ergänzend zu den Multi Channel spezifischen Aspekten, wird die im Rahmen des Strategieprozesses erfolgte Analyse der externen Umwelt wichtige Anhaltspunkte zur Ermittlung des Absatzpotenzials bieten. Das Attraktivitätsniveau eines Vertriebskanals beschreibt seine spezielle Wirkung auf selektierte Zielgruppen im Retail Banking. Im Gegensatz zu den internen Erlöspotenzialen verbirgt sich dahinter die externe Sicht des Kunden auf einen spezifischen Kanal. Dies lässt sich sehr gut in der Frage zusammenfassen: „Wie hoch ist die Attraktivität eines Kanals aus Sicht einer bestimmten Kundengruppe?“ Die hier gewählte Fragestellung unterscheidet sich deutlich von früheren Ansätzen, in denen eine generelle Attraktivität moderner, technischer Vertriebswege quasi unterstellt wurde. Wesentlich für eine Betrachtung im Rahmen des Vertriebswege-Portfolios ist somit die Sicht der relevanten Zielgruppen auf den Absatzweg. So kann z.B. für eine Bank, die sich schwerpunktmäßig auf das stark wachsende Segment der älteren Kunden konzentriert, ein sehr serviceorientierter, persönlicher Vertrieb über ein exklusives Filialnetz ein hochattraktiver Absatzkanal sein. Für ein Bankinstitut, mit Fokus auf junge, mobile Zielkunden, kann dagegen ein moderner Mobile Banking Vertriebsweg attraktiv sein. Die Bewertung der Attraktivität eines Vertriebskanals hängt damit vom Grad der generellen Bedarfsdeckung und der Größe einer relevanten Zielgruppe ab. Sofern es sich um einen bereits etablierten Vertriebskanal handelt, ist hierbei die Unterscheidung nach bestehenden und potenziellen Kunden sinnvoll. Der Erfolgsfaktor Ressourcenverfügbarkeit beschreibt im Hinblick auf einen Vertriebskanal die Disponibilität und Störanfälligkeit externer Produktionsfaktoren. Hinsichtlich des Multi Channel-Bankings verbergen sich dahinter vor allem die Faktoren Arbeit und Wissen.ȱ Hinzu kommen die Verfügbarkeit spezieller Technologien, besonderer Standortfaktoren oder spezialisierter externer Dienstleister. Ausgehend von einem engen Zusammenhang zwischen der Knappheit einer Ressource und deren Preis, wird hierdurch auch das Kostensenkungspotenzial eines Vertriebswegs beeinflusst. Die relevanten Ressourcen eines Vertriebskanals setzen sich für das Retail Banking aus Personal- und IT-Kapazitäten zusammen. Gerade gute, qualifizierte Vertriebsmitarbeiter oder hoch spezialisierte IT-
210
Erfolgsfaktoren für das Integrationspotenzial
Fachkräfte sind häufig schwer zu akquirieren. Ebenso kann der Einsatz neuer Technologien schnell zum Engpass werden, sofern diese nicht planmäßig oder in der erwarteten Qualität zur Verfügung stehen. Die Zukunftsfähigkeit eines Vertriebswegs ergibt sich vor allem aus seiner erwarteten, künftigen Wettbewerbsfähigkeit. Im Gegensatz zur Adaptionsfähigkeit beruht dieser Erfolgsfaktor jedoch ausschließlich auf einer externen Sicht. Die zugrunde liegende Frage lautet: „Wie ändert sich die Bedeutung des jeweiligen Vertriebskanals aufgrund von erwarteten Veränderungen in der externen Umwelt?“ Basis einer Einschätzung können insbesondere absehbare technologische oder kundenbezogene Trends sein. Ebenso spielen die Stärke des Wettbewerbs oder spezielle Regulierungen eine Rolle. Eine hohe Prognosesicherheit vorausgesetzt, wäre dieser Erfolgsfaktor ein besonders wichtiger Aspekt zur Bewertung der möglichen Absatzpotenziale. Mit Blick auf die unberechenbare Dynamik des Retail Banking und die damit verbundene generelle Prognoseunsicherheit, sollte die Einschätzung der Zukunftsfähigkeit eines Vertriebswegs jedoch sehr vorsichtig erfolgen.224 Der besondere Regulierungsgrad des Bankgeschäfts beeinflusst die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der einzelnen Vertriebskanäle. So sind im Personalen Verkauf z.B. für die Authentifizierung des Kunden, aber auch für bestimmte Finanztransaktionen ab einem Wert von 15.000,- € die Vorschriften des Geldwäschegesetzes zu berücksichtigen. Im Technischen Vertrieb gelten beispielsweise seit dem 08.12.2004 neue Vorschriften über Fernabsatzverträge bei Finanzdienstleistungen, die den Bankvertrieb über Wege der „Fernkommunikation“ regeln. Finanzdienstleister müssen den Kunden bei Vertragsabschlüssen per Internet, E-mail, Telefon, Telefax oder Briefverkehr vorab schriftlich über den Vertragsgegenstand informieren. Zudem hat der Kunde bei diesen Geschäften ein vierzehntägiges Widerrufsrecht. Art und Umfang der Regulierungen wirken somit auf das Absatzpotenzial eines besonders geregelten Vertriebskanals und müssen im Rahmen der Bewertung berücksichtigt werden.
4.
Erfolgsfaktoren für das Integrationspotenzial
Als dritte Dimension bewertet das Integrationspotenzial eines Vertriebskanals seine individuelle Wirkung auf ein integratives Multi Channel-Banking. Wie in Teil III dargestellt, werden erst durch das integrative Zusammenwirken der Vertriebskanäle zusätzliche ertragssteigernde Effekte wirksam. Diese resultieren vor allem aus der zielgerichteten Kundenselektion und – ansprache, einer höheren Kundenbindung, dem Schaffen eines Kundenmehrwertes durch das 224 Die Leitlinie der permanenten Berücksichtigung unberechenbarer Dynamik postuliert bereits einen sehr
vorsichtigen Umgang mit Prognosen. Speziell im Hinblick auf die Bedeutung technologischer Vertriebswege bestätigen die realitätsfernen Erwartungen im E-Commerce Hype die Schwierigkeit auch nur annähernd zutreffender Prognosen für das Retail Banking.
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
211
Zusammenwirken der Kanäle im Kaufprozess sowie einem zusätzlichen Image- und Vertrauensgewinn. Das Selektionspotenzial eines integrierten Vertriebskanals erfasst das im Zusammenspiel mit alternativen Vertriebskanälen mögliche One-to-One Marketing. Zum einen gilt es zu bewerten, welche vertriebsrelevanten Kundeninformationen erfasst und den weiteren Vertriebskanälen systematisch zur Verfügung gestellt werden.225 Zum anderen ist es entscheidend, wie zielgerichtet die Informationen aller Vertriebskanäle in dem gerade aktiven Vertriebskanal zur individuellen Kundenansprache genutzt werden. Beide Betrachtungsweisen zielen auf den Grad der technologischen Integration der Vertriebskanäle in eine übergreifende Multi Channel-Plattform. Eine solche Architektur hat z.B. die Postbank bereits verwirklicht. Die dort installierte technisch, organisatorische Multi Channel-Plattform erfüllt die Zieleigenschaften Prozessautomatisierung, Real-Time Fähigkeit sowie kanalübergreifende Transparenz und Konsistenz.226 Das Bindungspotenzial eines Vertriebskanals resultiert aus seinem Beitrag zur Kundenbindung im integrativen Multi Channel-Vertrieb. Dieser Erfolgsfaktor ist aufgrund seiner Vielschichtigkeit und Komplexität nur sehr schwer erfassbar. Beeinflusst wird er insbesondere durch den Mehrwert, den der Kunde im Kaufprozess a) in diesem spezifischen Kanal durch das Zusammenwirken mit alternativen Kanälen b) oder in alternativen Kanälen aufgrund bestimmter Leistungen des spezifischen Kanals wahrnimmt.ȱ227 Die Einschätzung des Bindungspotenzials wird durch die folgenden Fragen konkreter: Wieweit fördert der Vertriebskanal im Zusammenwirken mit den anderen Kanälen eine persönliche Beziehung des Kunden zur Bank bzw. besteht die Gefahr einer Entfremdung des Kunden aufgrund eines unpersönlichen elektronischen Vertriebs? In welchem Maß erlaubt der Kanal einen qualifizierten, aktiven und regelmäßigen Dialog zwischen Kunde und Bank?
225 Zum effizienten Umgang mit der Datenflut ist es wesentlich, dass die vertriebsrelevanten Informationen
herausgefiltert und sinnvoll mit bestehenden Informationen verknüpft werden. Dies ist jedoch eine Aufgabe, die nicht zwangsläufig im Vertriebskanal erfolgen muss, sondern genauso effizient durch zentrale Systeme erfolgen kann. 226 Vgl. Felten, G., Multikanal-Banking bei der Postbank, Präsentation im Rahmen des E-Finance Lab Expertenpanel „Multi Channel-Management” an der Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, 30. 08. 2004. 227 Ein Beispiel für den Fall a) ist eine wertvolle Anlageinformation die der Kunde an einem SB-Terminal erhält und die ihn zu einem Abschluss in der Filiale motiviert. Der Mehrwert in Fall b) entsteht z.B. aus einem „Callback-Button“ im Internet-Portal. Die letzte Frage eines Kunden vor Produktabschluss im Vertriebsweg Internet kann nur von einem qualifizierten Mitarbeiter beantwortet werden. Der Kunde schreibt seine Frage und Telefonnummer in eine vorgegebene Eingabemaske und wird umgehend durch das Call Center zurückgerufen. Der Mitarbeiter klärt die Kundenfrage und erlaubt auf diesem Weg den Produktabschluss im Internet.
212
Erfolgsfaktoren für das Integrationspotenzial
Welche Möglichkeiten bietet der Vertriebskanal im Kontext des integrierten Multi Channel-Vertriebs die Kundenzufriedenheit zu steigern, damit die Kundenbindung zu erhöhen und die Kundenabwanderungsquote zu senken? In welchem Maße wird die selbst bestimmte Wahl des Vertriebskanals durch den Kunden unterstützt? Ist der Vertriebskanal durch den Kunden leicht erreichbar oder benötigt er besondere Voraussetzungen, wie z.B. besondere Zugangstechnologien? Stehen dem Kunden im Vertriebskanal die Informationen oder Zwischenergebnisse aus anderen Vertriebskanälen zur Verfügung, bzw. wie leicht fällt ihm die Fortsetzung des in einem anderen Vertriebskanal begonnenen Geschäftsvorfalls? Die Antworten auf diese Fragen können aufgrund der Vielschichtigkeit des Bindungspotenzials nur zum Teil objektiv erfolgen, tragen aber in ihrer Summe wesentlich zu einer möglichst objektiven Meinungsbildung bei. Die Kooperationskraft des Vertriebskanals beschreibt den Grad des Zusammenwirkens mit weiteren Vertriebskanälen. Insbesondere bringt dieser Erfolgsfaktor zum Ausdruck, in welchem Maße es einem Absatzweg gelingt, überflüssige und kräftezehrende Multi Channel-Konflikte zu vermeiden. Dies umfasst vor allem die persönliche Bereitschaft und Möglichkeiten innerhalb eines Absatzkanals, einen „ungesunden Wettbewerb“ zu erkennen und zielgerichtet zu managen.228 Darüber hinaus erfasst die Kooperationskraft als „weicher Faktor“ den Grad der Vertriebsunterstützung für andere Vertriebskanäle. Im Rahmen der Kooperationskraft werden hierzu jedoch nicht die technischen Möglichkeiten zum Datenaustausch bewertet (dies erfolgt über den Erfolgsfaktor Selektionspotenzial), sondern im Vordergrund steht die Bereitschaft und das Handeln der Mitarbeiter, diese Möglichkeiten auch zu nutzen. Der Bewertungsfaktor Imagetransfer resultiert aus der bereits im zweiten Teil dargestellten Abstraktheit und Vertrauensrelevanz der Bankdienstleistung. Im Bankgeschäft der Zukunft kommt es vor allem auf das ganzheitlich vom Kunden wahrgenommene Image des Anbieters und seiner Produkte an. Dieses drückt sich am ehesten in der vom Kunden wahrgenommenen Marke aus, die eine Unterscheidung verschiedener Banken oder Bankengruppen auf emotionaler Ebene ermöglicht. Neben den Instrumenten der Kommunikations- und Leistungspolitik, wie vor allem die Werbung, Public-Relations oder die Markenpolitik, nimmt der Kunde die abstrakte Bankdienstleistung vor allem aufgrund seiner Kontakte mit den Vertriebskanälen wahr. Die Bedeutung des persönlichen Kontakts zum Berater wurde ausführlich beschrieben. Aber auch die Wahrnehmung der Bankmarke über alle Vertriebswege ist für eine ganzheitliche Sicht des Kunden auf das Institut im Allgemeinen und das Retail Banking im Speziellen wesentlich. Der Bewertungsfaktor Image228 Wie bereits beschrieben, ist das Risiko von Multi Channel-Konflikten im Retail Banking aufgrund der
direkten Kontrolle aller Absatzwege deutlich geringer als z.B. im Einzelhandel. Dennoch können gerade die Erfahrungen des Handels helfen, das Risiko besser zu verstehen und zu managen. Dabei erscheint es unmöglich, einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Vertriebskanälen grundsätzlich auszuschließen. Ganz im Gegenteil, ein kontrollierter Wettbewerb zwischen Filiale und Außendienst kann z.B. dazu beitragen, die gesamte Vertriebsleistung zu steigern. Es muss also darum gehen, die kontraproduktive und eine Koordination erschwerende Wirkung von Multi Channel-Konflikten zu minimieren. Hierzu zählen vor allem Frustration der Mitarbeiter, destruktive Reaktionen im Kundenkontakt und Existenzängste.
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
213
transfer drückt demnach die Eignung eines Vertriebskanals aus, die von dem Bankinstitut geschaffene und gepflegte Bankmarke über alle Kanäle zu transferieren. Wichtige Bewertungsfaktoren sind hierfür vor allem die im Kanal verfügbaren visuellen und auditiven Möglichkeiten, welche die Philosophie und das Image einer Bank für den Kunden erlebbar machen. Die Vertrauenswirkung verdient aufgrund der bereits beschriebenen Bedeutung des Kundenvertrauens für das Bankgeschäft eine besondere Beachtung. Das Gesamtvertrauen in das Retail Banking wird durch das Vertrauen in die einzelnen Vertriebskanäle beeinflusst. Es sind also Wechselwirkungen im Vertrauen der einzelnen Absatzwege untereinander sowie zwischen dem Gesamtvertrauen zur Bank und dem Multi Channel-Banking zu berücksichtigen. So wird eine vom Kunden als vertrauenswürdiger Partner akzeptierte Filialbank diesen Vertrauensvorschuss relativ leicht auf das Internet Banking übertragen können. Sobald dieses Vertrauen im Internet jedoch gestört wird, wie dies z.B. durch eine breite Phishing Attacke229 leicht geschehen kann, ergeben sich hieraus negative Rückkoppelungen auf das Vertrauen in das Filialgeschäft und das Gesamtvertrauen des Kunden in die Bank.
5.
Methodische Bewertung der Vertriebskanäle über Erfolgsfaktoren
Die vorgenannten Erfolgsfaktoren bilden die Grundlage für die Bewertung jedes Vertriebskanals. Um die unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Erfolgsfaktoren zu bewerten, bedarf es einer Methodik, die ein systematisches und weitgehend objektives Vorgehen unterstützt. In der praktischen Durchführung der Bewertung, ist eine absolute Betrachtung nicht geeignet, die komplexen Wirkungsvariablen im Vertriebsmanagement zueinander in eine aussagefähige Beziehung zu bringen. Speziell die in der Betriebswirtschaft genetisch einprogrammierte Frage nach einem konkreten Erlös oder Ertrag ist für eine strategische Bewertung des Vertriebskanalportfolios ungeeignet. Die Komplexität des Kontaktmanagements im integrierten Multi Channel-Banking erlaubt keine sinnvolle, kanalspezifische Erlös- oder Ertragsabbildung. Die Wahlmöglichkeiten des Kunden bei der Inanspruchnahme der verfügbaren Kontaktpunkte im Verkaufsprozess führen unweigerlich zu einer kombinatorischen Explosion möglicher Geschäftsprozesse.
229 Betrügerische Phishing e-mails täuschen eine seriöse Herkunft vor und fordern den Empfänger durch
Weiterleitung auf ein oftmals täuschend echt nachgebildetes Banken Portal zur Eingabe persönlicher Daten, wie Kreditkartennummern oder PIN-Codes auf. Diese Form der Kriminalität hat sich in den letzten Jahren im Internet rasant entwickelt und birgt ebenso wie Trojaner Angriffe ein hohes Risikopotenzial für das Internet Banking.
214
Methodische Bewertung der Vertriebskanäle über Erfolgsfaktoren
Eine Abbildung der kanalübergreifenden Erfolge kann somit nur über eine auf das Geschäftsfeld bezogene, aggregierte Deckungsbeitragsrechnung oder den neueren Ansatz des Kundenwerts erfolgen. Gerade der Kundenwert kristallisiert sich dabei zunehmend als integrative Messgröße für den Erfolg des Multi Channel-Bankings heraus. Da die absolute Messung der Erfolgsfaktoren nicht zweckdienlich erscheint, ist es zur Entwicklung des Portfolios wesentlich, die relativen Erfolgsfaktoren zueinander in Beziehung zu setzen. Für die Visualisierung entlang einer Bewertungsdimension müssen zudem unterschiedliche quantitative und qualitative Bewertungstypen egalisiert werden. Hierfür bietet sich eine Punktebewertung an, wie sie in klassischen Scoring-Modellen üblich ist. In der folgenden Tabelle stellen wir das Bewertungsmodell formal dar. Zu beschreibende Bewertungsdimension Erfolgsfaktoren
Subkriterien
E1
Gewichtung
Erfüllungs -grad
Teilnutzwert
E
Erfolgsfaktor
Sk
Subkriterium zur Beschreibung des Erfolgsfaktors
G
Gewichtungsfaktor zur Bestimmung der Bedeutung eines Erfolgsfaktors oder Subkriteriums.
Tn2
Eg
Erfüllungsgrad
Tn
Teilnutzwert, ergibt sich aus dem mit dem Gewichtungsfakor multiplizierten Erfüllungsgrad je Erfolgsfaktor oder Subkriterium
Bg
Bewertungsgrad zeigt die Positionierung auf der Dimensionsachse im Portfolio
1. n
1. n
G1
¦G
Tn1
¦ G * Eg
Sk 1.1
Sk 1.1
Sk1.1
G1.1
Eg1.1
Sk1.2
G1.2
Eg1.2
Tn1.2
…
…
…
…
Sk1.n
G1.n
Eg1.n
Tn1.n
E2
Tn1.1 = G1.1 * Eg1.1
G2 Sk2.1 … Sk2.n
G2.1
Eg2.1
Tn2.1
…
…
…
G2.n
Eg2.n
Tn2.n
En
Gn
Einordnung innerhalb der Bewertungsdimension
1
Parameter
Tnn Bewertungsgrad: n
Bg
¦ G * Eg E 1
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 58: Das Scoring-Modell zur Ermittlung der Bewertungsdimension. Scoring-Modelle sind ein bewährtes Instrument zur Lösung von Fragestellungen im strategischen Vertrieb. Die Methode dient der systematischen Alternativenauswahl und erlaubt eine
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
215
objektivere Gesamtbeurteilung aufgrund der gewichteten Summe von Teilbeurteilungen. Aus der Summe der gewichteten Teilbewertungen je Bewertungsdimension kann die Positionierung eines Vertriebskanals im Portfolio abgeleitet werden. Neben der Auswahl der Erfolgsfaktoren und der beschreibenden Subkriterien, spielt deren Gewichtung eine wesentliche Rolle. Die Summe aller Gewichtungsfaktoren entspricht immer einhundert Prozent. Eine der jeweiligen Retail Banking-Strategie entsprechende Gewichtung der einzelnen Erfolgsfaktoren und Subkriterien, ist ein wesentlicher Baustein zur Erstellung des individuellen Portfolios. Dabei sollten zunächst die einzelnen Erfolgfaktoren gewichtet werden. Diese Gewichtung wird anschließend auf die jeweiligen Subkriterien herunter gebrochen. Am Ende zeigt der aus den gewichteten Bewertungen der Erfolgsfaktoren ermittelte ‚Bewertungsgrad’ das auf der jeweiligen Dimensionsachse erreichte Niveau an. Die Bewertung selber sollte auf Grundlage einer vorbereiteten Entscheidungsmatrix erfolgen. In dieser mehrstufigen Beurteilungslogik können Bewertungen eingebettet, beurteilt und damit objektiviert werden. Für das Vertriebswegeportfolio mit drei Achsen und acht Feldern bietet sich eine Skala mit vier Ausprägungsstufen an. Dabei repräsentieren die Stufen eins und zwei in jeder Bewertungsdimension die Ausprägung „Niedrig“. Die Stufen drei und vier stehen für die Ausprägung „Hoch“. Die von uns im Folgenden dargestellte Entscheidungsmatrix unterstützt maßgeblich den Prozess der Bewertung eines Erfolgsfaktors anhand seiner Subkriterien, welche wiederum in einer Skala von eins bis vier bewertet werden. Dimension /
Unterstützende Fragen /
Erfolgsfaktor
Subkriterien zur Bewertung
Bewertung 4
Vertriebsstärke
3
Hoch
2
1
Niedrig
Erlöspotenzial
Welche Potenziale bietet der Vertriebskanal im Vergleich zu anderen Absatzwegen, um x neue Kunden zu akquirieren? x Bestandskunden zu binden? x Produkte beim Kunden zu platzieren?
Sehr hoch
Hoch
Gering
Sehr gering
Kostensenkungspotenzial
x Wie hoch ist der relative Kostenvorteil zum gewogenen Durchschnitt der Kosten aller angebotenen Vertriebskanäle?
Sehr hoch
Hoch
Geringer Kostenvorteil
Unterdurchschnittlich
Besser
Konstant
Sinkt
Wird negativ
x Wie wird sich der relative Kostenvorteil im Kanal voraussichtlich in den nächsten Jahren entwickeln?
216
Methodische Bewertung der Vertriebskanäle über Erfolgsfaktoren
Dimension /
Unterstützende Fragen /
Erfolgsfaktor
Subkriterien zur Bewertung
4
3
2
1
x Wie viele relevante Ressourcen stehen im jeweiligen Absatzkanal für den Vertrieb zur Verfügung?
Freie Kapazität
Ausreichend
Wenig
Unzureichend
x In welchem Maße sind sie generell oder bezogen auf einen maßgeblichen Faktor (wie z.B. durch Spezialkenntnisse) limitiert?
Keine Limitierung
Ausreichend verfügbar
Engpass
x Wie hoch ist die wahrgenommene Zuverlässigkeit des Vertriebskanals im gesamten Kaufprozess?
Sehr hoch
Hoch
Gering
Sehr gering
Sehr hoch
Hoch
Gering
Sehr gering
Vertriebskapazität
Vertriebsqualität
Bewertung
Nicht verfügbar
x Wie hoch die Zufriedenheit des Kunden mit der fachlichen Informationsversorgung im Vertriebskanal? x Wie hoch ist die emotionale Akzeptanz des Vertriebskanals durch den Kunden? Adaptionsfähigkeit
x Wie hoch ist die zeitlich flexible Anpassungsfähigkeit des gesamten Vertriebskanals? x Wie hoch ist die finanzielle Anpassungsfähigkeit des gesamten Vertriebskanals? x Wie hoch ist die zeitliche und finanzielle Anpassungsfähigkeit innerhalb eines Vertriebskanals?
Absatzpotenzial Attraktivitätsniveau
Hoch
Niedrig
x Wie hoch ist die Attraktivität des Vertriebskanals aus Sicht der für das jeweilige Institut wichtigen Zielgruppen?
Sehr hoch
Hoch
Gering
Sehr gering
x Wie groß ist das relevante Marktsegment heute?
Sehr groß
Mittel groß
Klein
x Wie hoch ist das Wachstumspotenzial des relevanten Marktsegments?
Sehr hoch
Hoch
Gering
Nicht relevant Sehr gering
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
Dimension /
Unterstützende Fragen /
Erfolgsfaktor
Subkriterien zur Bewertung
Ressourcenverfügbarkeit
x Wieweit stehen die für den Multi Channel-Vertrieb entscheidenden Ressourcen Arbeit und Wissen zur Verfügung?
217
Bewertung 4
3
2
1
Umfassend
Ausreichend
Knapp
Engpass
Gar nicht
Kaum
Spürbar
Erheblich
Bedeutung wächst stark
Bedeutung wächst
Bedeutung bleibt konstant
Bedeutung sinkt
x Wieweit stehen die benötigten (neuen) Technologien einschließlich erforderlicher IT-Systeme zur Verfügung? x Wieweit stehen sonstige Ressourcen zur Verfügung? Regulierungsgrad
x Wie sehr sind die vertrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten im Absatzkanal durch Regulierungen eingeschränkt. x Wie sehr wirken Regulierungen auf das Absatzpotenzial eines Vertriebskanals?
Zukunftsfähigkeit
Wie ändert sich die Bedeutung des jeweiligen Vertriebskanals aufgrund von erwarteten Veränderungen der externen x Technologischen Entwicklungen sowie der Verbreitung von ITInfrastrukturen und entsprechender Endgeräte (wie z.B. mobile PDAs)? x Kunden- und zielgruppenbezogenen Entwicklungen (Markttrends)? x Aktionen oder Reaktionen von Wettbewerbern? x Veränderung der Regulierungen?
Integrationspotenzial Selektionspotenzial
Hoch
Niedrig
x In welcher Menge und Qualität werden vertriebsrelevante Informationen erfasst und den anderen Vertriebskanälen systematisch zur Verfügung gestellt?
Hohe Anzahl / Qualität
Mittlere Anzahl / Qualität
Geringe Anzahl / Qualität
Keine
x Wie gut (in Bezug auf Schnelligkeit und Verwertbarkeit im Vertrieb) stehen Informationen aus anderen Vertriebskanälen in dem zu bewertenden Kanal zur Verfügung?
Sehr gut
Gut
Ausreichend
Unzureichend
218
Methodische Bewertung der Vertriebskanäle über Erfolgsfaktoren
Dimension /
Unterstützende Fragen /
Erfolgsfaktor
Subkriterien zur Bewertung
Bindungspotenzial
Wieweit fördert der Vertriebskanal im Zusammenspiel mit den übrigen Absatzkanälen
Bewertung 4
3
2
1
Sehr ausgeprägt
Ausgeprägt
Geringfügig
Gar nicht
Gut
Ausreichend
Unzureichend
Sehr gut
Gut
Ausreichend
Unzureichend
Sehr hoch
Hoch
Gering
Nicht vorhanden
x Die persönliche Beziehung des Kunden zur Bank? x Einen qualifizierten aktiven und regelmäßigen Dialog mit der Bank? x Die Steigerung der Kundenzufriedenheit? x Eine selbst bestimmte Kanalwahl durch den Kunden ohne Zugangshürden? x Die kanalübergreifende Information, Beratung sowie den Kaufabschluss? Kooperationskraft
x Wie gut gelingt es im Vertriebskanal, Sehr gut überflüssige Konflikte mit anderen Kanälen zu vermeiden? x Wie unterstützt der Vertriebskanal die erzielten Abschlüsse in den alternativen Absatzkanälen?
Imagetransfer
x Welche visuellen und auditiven Möglichkeiten bietet der Vertriebskanal generell? x Wie gut passt dass Image des Vertriebskanals zur Corporate Identity der Bank?
Vertrauenswirkung
x Wie hoch ist das Vertrauen des Kunden in den Vertriebskanal, gemessen an der Vertraulichkeit der Kommunikation, der Datensicherheit und der Transaktionssicherheit? x Wie hoch schätzen Experten die Sicherheit des Vertriebskanals hinsichtlich der vorgenannten Aspekte ein?
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 59: Entscheidungsmatrix zum Vertriebswege-Portfolio. Das hier dargestellte Scoring-Modell erlaubt eine sehr systematische und damit weitgehend objektive Einordnung verschiedener Vertriebswege in das Portfolio. Die strukturierte Vorgehensweise schafft Transparenz und sichert eine vollständige Erfassung aller wesentlichen
Erfolgsfaktoren für die Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
219
Erfolgsfaktoren und Subkriterien ab. Qualitative und quantitative Daten lassen sich in einem einheitlichen Bewertungsschema aussagefähig zusammenführen. Ein Risiko der hier dargestellten Scoring-Analyse bildet die aus dem umfangreichen Datenmaterial resultierende Scheingenauigkeit. Auch nach Anpassung an die individuelle Situation des Retail Banking bleibt eine Unsicherheit, ob wirklich alle relevanten Erfolgsfaktoren und Subkriterien betrachtet wurden. Subjektive Meinungen fließen sowohl über die Gewichtung, wie auch über die anschließende Beurteilung mit ein. Zudem erlaubt das Scoring-Verfahren lediglich die Ermittlung einer relativen Vorteilhaftigkeit. Unter Berücksichtigung dieser Schwächen stellt der Scoring-Ansatz jedoch ein wertvolles Instrument zur systematischen Erfassung und Bewertung der komplexen Umwelt dar. Auf Basis des bis hier beschriebenen Vorgehensmodells und der Entscheidungsmatrix kann jeder Vertriebskanal im Hinblick auf die drei Dimensionen bewertet und in das Portfolio eingeordnet werden. Um eine Vergleichbarkeit zu gewährleisten, müssen die Gewichtungsfaktoren einmalig festgelegt werden und für jeden Vertriebsweg gleichermaßen gelten.
Aufbau und Interpretation des Vertriebswege Portfolios
1.
Das Vertriebswege-Portfolio in der Umsetzung
Die in der SWOT Analyse zusammengefasste interne und externe Betrachtung des Retail Banking bildet in Verbindung mit den in Kap. 5.1 dargestellten Eigenschaften und Potenzialen der Vertriebswege den wesentlichen Input für die inhaltliche Bewertung der einzelnen Erfolgsfaktoren. Darüber hinaus berücksichtigt die Einschätzung typische Eigenschaften des jeweiligen Vertriebskanals. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung eines Vertriebswege-Portfolios am Beispiel der Absatzwege Filiale, Mobiler Außendienst und Mobile Banking. Obwohl wir uns im Teil VII vor allem auf die im modernen Retail Banking wesentlichen Vertriebswege Filiale und Internet konzentrieren, sind die vorgenannten Absatzkanäle sehr gute Beispiele für das Vertriebswege Portfolio. Dies gilt insbesondere, da unsere Auswahl alle drei Vertriebswege-Typen berücksichtigt. Entsprechend zeigt das folgende Beispiel die inhaltliche Bewertung der in Abbildung 59 dargestellten einzelnen Dimensionen und Kriterien. Dies erfolgt durch eine praktische Bewertung anhand der jeweiligen Subkriterien und Unterstützungsfragen. Filiale
Erfolgsfaktoren
Subkriterien
Gewichtung
Erfüllungs -grad
Teilnutzwert
Mobiler Außendienst Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Mobile Banking Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Vertriebsstärke Erlöspotenzial
0,30
1,12
1,12
0,60
Akquisition
0,08
3
0,24
3
0,24
3
0,24
Kundenbindung
0,14
4
0,56
4
0,56
2
0,28
Produktplatzierung
0,08
4
0,32
4
0,32
1
0,08
222
Das Vertriebswege-Portfolio in der Umsetzung
Filiale
Erfolgsfaktoren
Subkriterien
Gewichtung
Erfüllungs -grad
Teilnutzwert
Mobiler Außendienst Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Mobile Banking Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Vertriebsstärke Kostensenkungspotenzial
0,25
0,50
0,75
0,35
Aktueller Kostenvorteil
0,15
2
0,30
3
0,45
1
0,15
Künftiger Kostenvorteil
0,10
2
0,20
3
0,30
2
0,20
Vertriebskapazität
0,10
0,23
0,23
0,16
Verfügbare Ressourcen
0,03
3
0,09
3
0,09
3
0,09
Limitierung der Ressourcen
0,07
2
0,14
2
0,14
1
0,07
Vertriebsqualität
0,20
0,66
0,62
0,60
Zuverlässigkeit des Kanals
0,06
3
0,18
3
0,18
2
0,12
Fachliche Qualität
0,08
3
0,24
4
0,32
3
0,24
Emotionale Akzeptanz
0,06
4
0,24
2
0,12
4
0,24
Adaptionsfähigkeit
0,15
0,33
0,52
0,45
Zeitliche Kanalflexibilität
0,04
2
0,08
3
0,12
3
0,12
Finanzielle Kanalflexibilität
0,04
1
0,04
3
0,12
3
0,12
Zeitliche und finanzielle Flexibilität im Vertriebskanal
0,07
3
0,21
4
0,28
3
0,21
Position auf der Achse Vertriebsstärke
1
2,84
3,24
2,16
Aufbau und Interpretation des Vertriebswege Portfolios
Filiale
Erfolgsfaktoren
Subkriterien
Gewichtung
Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
223
Mobiler Außendienst Subkriterien
Teilnutzwert
Mobile Banking Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Absatzpotenzial Attraktivitätsniveau
0,50
1,80
1,35
0,95
Attraktivität für Zielgruppe
0,25
4
1,00
3
0,75
2
0,50
Größe des Marktsegments
0,15
4
0,60
2
0,30
1
0,15
Potenzial des Marktsegments
0,10
2
0,20
3
0,30
3
0,30
Ressourcenverfügbarkeit
0,20
0,52
0,40
0,52
Arbeit und Wissen
0,12
3
0,36
2
0,24
3
0,36
IT Systeme
0,04
2
0,08
2
0,08
2
0,08
Sonstige Ressourcen
0,04
2
0,08
2
0,08
2
0,08
Regulierungsgrad
0,10
0,25
0,20
0,20
Regulierung des vertrieblichen Gestaltungsgrads
0,05
3
0,15
2
0,10
2
0,10
Einschränkung des Absatzpotenzials
0,05
2
0,10
2
0,10
2
0,10
Zukunftsfähigkeit
0,20
0,25
0,55
0,75
Technologien u. Infrastruktur
0,05
1
0,05
2
0,10
3
0,15
Markttrends
0,05
2
0,10
3
0,15
4
0,20
Wettbewerb
0,05
1
0,05
3
0,15
4
0,20
Regulierung
0,05
1
0,05
3
0,15
4
0,20
Position auf der Achse Absatzpotenzial
1
2,82
2,50
2,42
224
Das Vertriebswege-Portfolio in der Umsetzung
Filiale
Erfolgsfaktoren
Subkriterien
Gewichtung
Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Mobiler Außendienst Subkriterien
Teilnutzwert
Mobile Banking Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Integrationspotenzial Selektionspotenzial
0,15
0,45
0,46
0,29
Informationen an andere Kanäle
0,07
3
0,21
2
0,14
3
0,21
Verwertung von Daten aus anderen Kanälen
0,08
3
0,24
4
0,32
4
0,08
Bindungspotenzial
0,30
0,95
1,00
0,50
Persönliche Beziehung
0,05
3
0,15
4
0,20
1
0,05
Förderung des Dialogs
0,05
3
0,15
4
0,20
1
0,05
Kundenzufriedenheit
0,10
3
0,30
3
0,,30
2
0,20
Selbstbestimmte Kanalwahl
0,05
4
0,20
4
0,20
2
0,10
Kanalübergreifender Geschäftsabschluss
0,05
3
0,15
2
0,10
2
0,10
Kooperationskraft
0,20
0,70
0,30
0,50
Konfliktmanagement
0,10
3
0,30
1
0,10
3
0,30
Persönliche Vertriebsunterstützung
0,10
4
0,40
2
0,20
2
0,20
Imagetransfer
0,15
0,60
0,40
0,30
Visuelles u. audielles Potenzial
0,10
4
0,40
3
0,30
2
0,20
Unterstützung der Corporate Identity
0,05
4
0,20
2
0,10
2
0,10
Aufbau und Interpretation des Vertriebswege Portfolios
225
Filiale
Erfolgsfaktoren
Subkriterien
Gewichtung
Erfüllungsgrad
Mobiler Außendienst
Teilnutzwert
Subkriterien
Teilnutzwert
Mobile Banking Erfüllungsgrad
Teilnutzwert
Integrationspotenzial Vertrauenswirkung
0,20
0,80
0,48
0,40
Vertrauen des Kunden in den Vertriebskanal
0,12
4
0,48
2
0,24
2
0,24
Expertenvertrauen in den Vertriebskanal
0,08
4
0,32
3
0,24
2
0,16
Position auf der Achse Integrationspotenzial
1
3,5
2,64
1,99
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 60: Die Entscheidungsmatrix am Beispiel ausgewählter Vertriebswege. Auf Grundlage der hier exemplarisch ermittelten Positionspunkte für jeden Vertriebsweg lässt sich das dreidimensionale Portfolio grafisch darstellen.
1
2
3
4
Hoch
Filiale
Mobiler Außendienst
4
Mobile Banking
2
4 te Ho nz ch ia l
Absatzpotenzial
3
ns po
2
1 1
1
2
Niedrig
3
4
N ie In dri te g gr at io
Niedrig
3
Filiale
Mobiler Außendienst
Mobile Banking
Vertriebsstärke
2,84
3,24
2,16
Absatzpotenzial
2,82
2,50
2,42
Integrationspotenzial
3,50
2,64
1,99
Hoch Vertriebsstärke
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 61: Das Portfolio ausgewählter Vertriebswege.
226
Interpretation der Portfolio-Analyse
Der einzelne Vertriebsweg wird im Portfolio als Kugel abgebildet, deren Größe die Anzahl der im Absatzkanal betreuten Kunden repräsentiert.230 Der Mittelpunkt der jeweiligen Kugel entspricht dabei den ermittelten Positionspunkten. Bei der Bewertung des Volumens eines Vertriebskanals muss beachtet werden, wieweit der Absatzkanal eine „kritische Masse“ an Kunden erreicht. Absatzwege, die ihre individuell zu bestimmende Wirkungsschwelle nicht erreichen, werden einen integrierten Multi Channel-Vertrieb nur unzureichend unterstützen. Das hier entwickelte Portfolio, unterstreicht aus Sicht einer filialzentrierten Drei-Kanal-Bank deutlich die Bedeutung des Vertriebswegs Filiale. Hinsichtlich des Absatz- und Integrationspotenzials nimmt das Filialgeschäft eine herausragende Stellung ein. Die hohe absolute Dominanz der Filiale in der Dimension Integrationspotenzial unterstreicht zusätzlich ihre Bedeutung im integrativen Multi Channel-Vertrieb. Aber auch die Stärken der anderen beiden Vertriebskanäle kommen deutlich zum Ausdruck. Der durch den persönlichen Kontakt zum Kunden geprägte mobile Außendienst dominiert in der Dimension Vertriebsstärke und die zukünftigen Perspektiven des noch jungen Mobile Banking zeigen sich im vergleichsweise hohen Absatzpotenzial.
2.
Interpretation der Portfolio-Analyse
Wie bereits ausgeführt, verzichten wir auf die Entwicklung von Normstrategien zur Interpretation des Vertriebswege-Portfolios. Zwar sind diese eine praktische Hilfe zur Entwicklung der Multi Channel-Strategie, auf der anderen Seite halten wir vorgefertigte Strategien in einem komplexen Markt- und Wettbewerbsumfeld für zu statisch und damit zu wenig hilfreich für das praktische Management. Aber auch ohne Normstrategien zeigt das erarbeitete Portfolio sehr klar die Stärken und Schwächen einzelner Vertriebswege. Dabei gilt grundsätzlich, dass ein Vertriebsweg in einer Dimension umso besser aufgestellt ist, je höher seine erreichte Position ist. Die ganzheitliche, dimensionsübergreifende Bewertung der erreichten Position eines Vertriebskanals kann dagegen nur im Zusammenhang mit der erarbeiteten Vertriebsstrategie für das Retail Banking erfolgen. Wie bereits mehrfach ausgeführt, muss das Multi Channel-Banking die übergeordnete Vertriebsstrategie unterstützen. Die erarbeiteten Vertriebsziele und die daraus abgeleitete Strategie werden damit zu einem starken Attraktor, der entsprechend seiner Bedeutung über alle Vertriebswege hinweg im Retail Banking zu 230 An dieser Stelle ergibt sich eine entscheidende Abweichung zu klassischen Portfolio-Ansätzen im strategi-
schen Marketing. Während üblicherweise monetäre Größen, wie insbesondere das Umsatzvolumen, zur Bemessung der Größe eines Bewertungsgegenstandes herangezogen werden, ist dieses im Hinblick auf das Volumen eines Absatzkanals wenig aussagefähig. Zum einen spielt jeder Vertriebskanal eine Teilrolle im integrierten Verkaufsprozess und zum anderen erfasst der Umsatz nur die Erlösdimension eines Absatzweges. Die Einschätzung der Größe eines Vertriebskanals erfolgt daher am genauesten über die Anzahl der in diesem Kanal betreuten Kunden. Dieses Vorgehen gewinnt in der übergreifenden Betrachtung des Vertriebswege- Portfolios eine zusätzliche Plausibilität, da das ‚Erlöspotenzial’ ohnehin als eigener Erfolgsfaktor bewertet wird.
Aufbau und Interpretation des Vertriebswege Portfolios
227
positionieren ist und zur zentralen Vorgabe für die Ausrichtung der einzelnen Vertriebswege wird. Die zentrale Handlungsempfehlung für das Vertriebswegemanagement lautet daher, sich auf die Vertriebskanäle zu konzentrieren, die den höchsten messbaren Beitrag zur Erreichung der festgelegten Vertriebsziele bieten. Das Portfolio der Vertriebswege unterstützt dieses Vorgehen durch die Visualisierung der marktrelevanten Stärken und Schwächen einzelner Absatzkanäle und dient somit einer systematischeren Entscheidungsfindung. Dies verdeutlichen wir im Folgenden am Beispiel der Zielsetzungen des magischen Dreiecks. Die widerstrebenden Hauptziele Erlössteigerung und Kostensenkung sowie das Nebenziel eines zumindest konstanten Ansehens der Bank in der Öffentlichkeit, finden sich in den verschiedenen Dimensionen des Portfolios wieder. So wird eine Erlössteigerung direkt durch die interne Vertriebsstärke und das marktgetriebene Absatzpotenzial beeinflusst. Das Integrationspotenzial unterstützt die Zielerreichung entscheidend im integrierten Multi Channel-Vertrieb. Das Potenzial eines Vertriebskanals zur Kostensenkung lässt sich an der internen Vertriebsstärke ablesen, die den Erfolgsfaktor Kostensenkungspotenzial explizit enthält. Die Erreichung eines konstanten Ansehens der Bank als Nebenziel, wird von einer Überlegenheit in der Dimension Integrationspotenzial unterstützt. Ein Fokus liegt hierbei auf den Erfolgsfaktoren Imagetransfer und Vertrauenswirkung. In unserem fiktivem Beispiel zeigt sich die durchgängige Überlegenheit der Vertriebswege Filiale und Mobiler Außendienst in allen Dimensionen. Das Mobile Banking unterstützt das Ziel der Erlössteigerung nur unzureichend. Zudem bietet dieser Absatzkanal nur geringe Ansatzpunkte zur Kostensenkung. Ein Blick auf das Kostensenkungspotenzial zeigt zwar Vorteile gegenüber der Filiale, jedoch lässt das marginale Umsatzvolumen des Mobile Banking nur eine geringe effektive Wirksamkeit erwarten. Interessant erscheinen dagegen die Potenziale des mobilen Außendienstes. Die außerordentlich hohe Vertriebsstärke und das gute Integrationspotenzial bieten entscheidende Ansatzpunkte für weitere Erlössteigerungen. Eine stärkere Vernetzung mit dem Filialgeschäft zur besseren Koordination von Marktsegmenten und Ressourcen dürfte zu weiteren Verbesserungen des Absatzpotenzials führen. Auch hinsichtlich des Kostensenkungspotenzials unterstützt der mobile Außendienst sehr klar die strategischen Vertriebsziele. Die Filiale bleibt aufgrund ihrer Marktdominanz und ihrer Überlegenheit im Absatz- und Integrationspotenzial zentraler Dreh- und Angelpunkt des Multi Channel-Vertriebs. Hier gilt es jedoch innerhalb des Absatzweges zu Verbesserungen zu gelangen, um die Kostenstruktur weiter zu optimieren und die Zukunftsfähigkeit des Filialgeschäfts zu erhalten. Die strategischen Vertriebsziele in diesem Beispiel werden somit am besten unterstützt, wenn die Filiale weiterhin den zentralen Vertriebskanal bildet, hierfür zugleich aber kostenoptimalere Strukturen entwickelt werden. Der mobile Außendienst sollte weiter ausgebaut werden. Hin-
228
Zusammenfassende Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
sichtlich des Mobile Banking empfiehlt sich eine Überprüfung, wieweit der Vertriebskanal durch einen alternativen Absatzweg substituiert werden sollte, der die Vertriebsziele der Bank besser unterstützt.
3.
Zusammenfassende Bewertung des Vertriebswege-Portfolios
Auch wenn sich das vorgenannte Beispiel noch auf eine relativ überschaubare Ausgangssituation bezieht, zeigt es dennoch die Stärken unseres Portfolioansatzes. Das systematische Vorgehen zwingt das Management zu einer sehr detaillierten Bewertung und Gegenüberstellung der drei strategischen Dimensionen und trägt somit zu einer objektiveren Entscheidungsfindung bei. Hinzu kommt die vergleichsweise einfache Handhabung, die einen aktiven Einsatz im praktischen Management unterstützt. Die Besonderheiten eines integrierten Multi Channel-Vertriebs finden über die Dimension „Integrationspotenzial“ eine spezielle Berücksichtigung und ergänzen die klassische Sichtweise der internen Stärke und externen Marktbedingungen um einen vernetzten Denkansatz. Für das Ergebnis ist es zudem wesentlich, dass die Bewertung des Portfolios ausschließlich anhand der im Vorfeld festgelegten Vertriebsziele erfolgt. Dadurch finden die Ergebnisse der modifizierten Umweltanalyse Berücksichtigung und erlauben eine höhere Entscheidungsqualität in einer komplexen, dynamischen Umwelt. Zudem korrespondiert die strategische Auswahl und Ausrichtung der Vertriebswege eindeutig mit der individuellen Vertriebsstrategie im Retail Banking. Entscheidungen für neue Investitionen in die Schaffung oder den Ausbau weiterer Absatzkanäle werden unter Kenntnis der Bedeutung jedes Absatzkanals zur Erreichung der eigenen Vertriebsziele getroffen. Die Passgenauigkeit eines Vertriebskanals zur eigenen Strategie gerät stärker in den Fokus der Betrachtung des Managements. Trotz dieser Vorteile gilt es in der Anwendung des Portfolios einige wichtige Aspekte zu beachten. So zeigt das Vertriebswege-Portfolio naturgemäß sehr ähnliche Schwächen, wie sie die zugrunde liegenden Methoden aufweisen. Hier sind vor allem die Gefahren der „Scheingenauigkeit“ und der „Scheinobjektivität“ zu nennen. Gerade das Scoring Verfahren verleitet sehr schnell dazu, die erzielten Ergebnisse als „wahr“ anzunehmen. Zudem muss dem Management im Rahmen der Bewertung bewusst sein, dass die Wirkung von Emergenz aufgrund der Vernetzung verschiedener Betrachtungsdimensionen im Portfolio, nicht umfassend dargestellt werden kann. Zwar werden Netzwerkeffekte über das Integrationspotenzial gesondert betrachtet, eine dimensionsübergreifende Vernetzung einzelner Erfolgsfaktoren findet jedoch nicht statt. Speziell in unklaren Entscheidungssituationen kann daher die beschriebene Vernetzungskarte eine sinnvolle Ergänzung zum Portfolio bilden. Deren Einsatz sollte sich dann jedoch – wie wir sie auch im folgenden Kapitel zum operativen Multi Channel-Management nutzen – auf die isolierte Betrachtung von maximal zwei Vertriebswegen beschränken. Ab-
Aufbau und Interpretation des Vertriebswege Portfolios
229
schließend soll nochmals auf die Bedeutung einer sorgfältigen Auswahl und objektiven Bewertung der Erfolgsfaktoren und der Subkriterien hingewiesen werden. Klassische Bewertungsfehler, wie z.B. die „Tendenz zur Mitte“ oder der „Milde-Effekt“ können das Ergebnis der Portfolio-Bewertung verfälschen. Daher empfiehlt es sich, das Portfolio durch unabhängige, interdisziplinäre Teams erstellen und bewerten zu lassen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das von uns erarbeitete Portfolio eine deutlich verbesserte Systematik zur strategischen Auswahl der Vertriebskanäle im Retail Banking bietet. Dabei bleibt es operativ handhabbar und stellt somit eine praktisch relativ einfach anwendbare Methode dar. Das Leitbild der Komplexitätstheorie motivierte zur Ergänzung der Bewertungsdimension „Integrationspotenzial“ und trug somit entscheidend zur Schaffung eines neuen strategischen Bewertungsmodells im Retail Banking bei. Die Schwächen des Portfolios sind eher genereller Natur und können mit relativ einfachen Mitteln gemanagt werden. Die Konzeption basiert auf sehr grundlegenden Ansätzen und dürfte somit vergleichsweise leicht auf weitere ökonomische Problemstellungen im Bankgeschäft übertragbar sein.
Teil VII Übergreifende Aspekte eines operativen Multi Channel-Managements
Modernes Multi Channel-Management
1.
Multi Channel-Management – eine Momentaufnahme
Der im vorherigen Kapitel vorgestellte Portfolioansatz zeigt eine Möglichkeit zur systematischen Auswahl und Ausrichtung der Vertriebswege im Retail Banking auf. Soweit möglich wurden auch Aspekte einer komplexen Umwelt bei der Konzeption des Portfolios integriert. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, wie die bisher erzielten Ergebnisse in das operative Management überführt werden können? Denn neben der strategischen Positionierung ist letztlich die praktische Umsetzung der Schlüssel zum Erfolg. Auf diese Fragestellung soll das letzte Kapitel eine Antwort geben. Allerdings existieren keine Musterlösungen, welche 1:1 übernommen werden können. Vielmehr besteht die individuelle Herausforderung in der Ableitung von passenden Antworten, welche sich auf das jeweilige Geschäftsmodell und das Wettbewerbsumfeld im Retail Banking beziehen. Aus diesem Grund zeigen wir einen möglichen Weg auf, um die sich stellenden Herausforderungen zu meistern. Dabei beruhen unsere Überlegungen auf keiner empirisch fundierten Analyse, sondern ergänzen die bisher erarbeitete Konzeption um Erfahrungen. An verschiedenen Stellen verweisen wir immer wieder auf Aspekte vorangegangener Kapitel, um die Verbindungen zwischen strategischer und operativer Ebene zu verdeutlichen. Dabei werden die bereits ausführlich vorgestellten Vertriebsewege Filiale und Internet herangezogen. Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen führt uns dabei zurück auf eine in Kapitel 3 bereits aufgeworfene und zentrale Fragestellung. Welche Ziele werden mit Multi Channel-Projekten im Retail Banking verfolgt? Führen wir uns noch einmal die wichtigsten Ziele des Multi Channel-Banking vor Augen: Die Kundenbindung soll erhöht und durch Ausbau und neuer Kanäle zusätzliche Zielgruppen erschlossen werden. Dadurch sollen die Erträge im Mengengeschäft mit Privaten Kunden, insbesondere durch Erhöhung der Cross Selling-Quoten, deutlich gesteigert werden. Weiterhin sollen Kostensenkungen, durch weitgehende Automatisierungen und die Nutzung des Internets, erreicht werden. Die Motivation bei der Auswahl dieser Ziele liegt vor allem darin begründet, die AufwandErtrag-Relation (Cost-Income-Ratio) bzw. die Produktivität im Vertrieb zu verbessern und damit die Eigenkapitalrentabilität nachhaltig zu steigern. In Anbetracht der vergleichsweise
234
Multi Channel-Management – eine Momentaufnahme
bescheidenen Aufwand-Ertrag-Relationen deutscher Universalbanken ein nachvollziehbarer Anspruch. Das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag liegt bei internationalen führenden Finanzinstituten bei 45% und im weltweiten Durchschnitt bei etwa 63%.231 In Deutschland ist dieser Vergleichswert bei den meisten Finanzinstituten weitaus höher. Auch die Deutsche Bank AG erreichte in 2004 mit einem Rekord-Geschäftsergebnis von 2,5 Mrd. Euro und einer Eigenkapitalrentabilität von 17% nur eine Aufwand-Ertrag-Relation von etwa 80%. Nach drei Jahren betrieblicher Praxis ergibt sich bei Betrachtung der angestrebten Ziele leider noch immer kein anderes Bild. Trotz erheblicher Investitionen in den Aufbau verschiedener Kanäle zeigt sich mehrheitlich, daȕ die prognostizierten Kostensenkungseffekte noch nicht realisiert werden konnten.232 Zwar wird deutlich, daȕ sich Transaktionskostenvorteile durch die Automatisierung von Finanzdienstleistungen erzielen lassen, jedoch bisher noch nicht in dem erwarteten Umfang. Demgegenüber sind die Entwicklungs-, Betriebs- und Wartungskosten der verschiedenen und sehr unterschiedlichen Kanäle erheblich gestiegen. Dabei investieren deutsche Finanzinstitute, entsprechend einer Studie des Marktforschungsinstituts Pierre Audoin Consultants, jedes Jahr ca. 1 Mrd. Euro in die Informationstechnologie (IT) ihrer Kanäle.233 Die Investitionen verteilen sich auf Filialen, Internet, Call Center, Selbstbedienungsterminals (SB) und teilweise auch auf die mobile Beratung. Die hohen Investitionen liegen in der Entstehung der einzelnen Kanäle begründet. Die Kanäle der Finanzinstitute wurden in den vergangenen Jahren nacheinander und meist isoliert voneinander eingeführt. Während das Telefon Banking Ende der achtziger Jahre einen Trend einleitete, begann erst Mitte der neunziger Jahre die nächste Phase des Internets. Die Folge in vielen Banken sind opportunistisch gewachsene Kanäle, welche im Zeitverlauf sowohl aus Prozess- als auch aus IT-Architektursicht additiv hinzugefügt wurden. Sofern überhaupt Verbindungen zwischen den Kanälen existierten, dann sind diese nur vereinzelt vorhanden. Durch das isolierte Betreiben von verschiedenen Kanälen wird zudem eine Gesamtsicht auf den Kunden erschwert und in vielen Fällen auch verhindert. Auch eine erhöhte Kundenbindung ist heute in vielen Banken nicht nachweisbar. Vielmehr wird die Unzufriedenheit vieler Kunden in der bereits in Teil 6 zitierten Studie der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton deutlich. Dabei sprechen sich 74% der Deutschen gegen den Service in den Filialen aus, 71% fühlen sich nicht optimal beraten. Nach Einschätzung der meisten Kunden gehen die Berater in den Filialen weder ausreichend auf ihre Bedürfnisse ein, noch erfolgt eine ausreichend individuelle und persönliche Beratung. Die beschriebene Situation zeigt sich mehr als deutlich, daȕ ein permanentes und professionelles Management aller Vertriebskanäle erforderlich ist.
231 Vgl. Merbecks, A. (2004), S. 34. 232 Vgl. Herzog, M. (2003), S. 49. 233 Vgl. Bruckner, W. (2004), S. BE6.
Modernes Multi Channel-Management
2.
235
Die Erfolgslogik des Multi Channel-Managements
Wie beschrieben, liegen die Ziele des Multi Channel-Managements in einer Erhöhung der Erträge und der Kundenbindung sowie einer Reduzierung der Kosten. Von Bearing Point wurde in 2001 eine Befragung von 100 Retail Banken in Deutschland, in Österreich und der Schweiz durchgeführt, um eine Priorisierung dieser Ziele zu erhalten.234 Mit Priorität 1 wurde die Erhöhung der Erträge und der Kundenbindung genannt. Priorität 2 bekam das Ziel der Kostensenkung durch Rationalisierungen. Das Ziel der Neukundengewinnung erhielt immerhin noch Priorität 3. Weitere Ziele in Zeiten eines verstärkten Kostenmanagements und Filialschliessungen war die Ergänzung des Filial- und Zweigstellennetzes um einen oder mehrere kostengünstigenVertriebswege sowie eine Verbesserung des Images der Finanzinstitute. Wie kann ein Finanzinstitut diese Ziele erreichen? Welche Abhängigkeiten zwischen diesen Zielen sind zu beachten und welche Einflussgrößen zu berücksichtigen? Zur Beantwortung dieser Frage greifen wir auf die bereits in Teil V vorgestellte Methode des vernetzten Denkens zurück. Zur Mustererkennung innerhalb eines komplexen Systems bietet die Methode des vernetzten Denkens einen sehr guten Ansatz235. Zur Veranschaulichung soll eine Filiale als einziger Vertriebskanal angenommen werden. Durch Hinzunahme des Kanals Internet wird dann eine Erfolgslogik erarbeitetet, welche die Wirkungen in einem vereinfachten Mehrkanalsystem beschreibt. Dabei ist beabsichtigt, die miteinander verknüpften Erfolgsfaktoren durch eine Netzwerksicht transparent zu machen und ein erstes Verständnis für die Wirkungszusammenhänge herzustellen (siehe Abbildung 1). Im Anschluss beschreiben wir die innerhalb des Systems beeinflussbaren Erfolgsfaktoren. Diese werden nachfolgend als Stellhebel bezeichnet. Gleichzeitig soll gefragt werden, ob auch kritische Erfolgsfaktoren existieren, die einen wesentlichen Einfluss auf den Erfolg des Mehrkanalsystems haben. Nachfolgend werden zu diesem Zweck vier unterschiedliche Wirkungsketten entwickelt, welche die Zusammenhänge verdeutlichen.
234 Vgl. Schüler, K.; Stürtz, N.; Lipphardt U.P.; Gerstenberger, R. (2002), S. 27 235 Vgl. Honegger, J.; Vettiger, H. (2003)
236
Die Erfolgslogik des Multi Channel-Managements
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 62: Erfolgslogik des Multi Channel-Managements. Im Mittelpunkt des Wirkungssystems stehen die Erträge, da diese als wichtigste Ziele genannt wurden. Ausgehend davon wird durch eine Investition in die eigenen Mitarbeiter eine erste Wirkungskette entwickelt. Als Folge von beratungsorientierten Qualifizierungsmaßnahmen wird eine Erhöhung des Know-hows erreicht, die sich in der Beratungskompetenz der Mitarbeiter niederschlägt. Eine höhere Kompetenz in der Kundenberatung führt zu einer höheren Kundenzufriedenheit und stärkt mittelfristig auch die Kundenbindung. Eine verbesserte Kundenbindung führt wiederum zu einer höheren Neigung des Kunden, mehr Produkte und Serviceleistungen des Finanzdienstleisters nachzufragen. Dies zeigt sich in zusätzlichen (Cross Selling) und Abschlüssen mit höheren Margen (Up Selling). Die Folge sind Umsatzund Kundenwertsteigerungen sowie schließlich höhere Erträge. Durch Einbeziehung von Investitionen in IT-Architekturen wird in einer zweiten Wirkungskette die Voraussetzung für eine kanalübergreifende Kundenbedarfsanalyse ermöglicht. Beispielsweise besteht die Möglichkeit, umfangreiche Nutzungs- und Verhaltensdaten von Kunden über unterschiedliche Kanäle hinweg zu generieren. Durch die intelligent ausgewählten und aufbereiten Informationen kann zielgerichteter auf die wesentlichen Kundenbedürfnisse eingegangen werden. Dies führt zu einer verbesserten Kunden-Kontaktqualität und einer intensiveren Kundenbetreuung. Das wird sich wiederum mittelfristig auch positiv auf die Kundenzufriedenheit auswirken. Die erste Wirkungskette wird zusätzlich verstärkt bzw.
Modernes Multi Channel-Management
237
unterstützt. Dieser Effekt tritt allerdings nicht automatisch ein. Der gleiche Kreislauf hat eine negative oder zumindest gedämpfte Wirkung auf das Ziel, wenn es nicht gelingt, die Beratungskompetenz der Mitarbeiter zu verbessern. Ebenso verhält es sich damit, wenn Kunden keine Wertschätzung oder Freundlichkeit entgegengebracht bekommen, nur routinemässig kontaktiert ohne das der persönliche Beratungsbedarf berücksichtigt würde. Negativ wirkt zudem, wenn Kunden nur institutseigene Finanzprodukte angeboten bekommen. Denn Kunden erwarten eine Auswahl der besten Finanzprodukte unterschiedlicher Anbieter (Best-ofClass) und nicht nur das begrenzte Angebot des eigenen Finanzinstituts empfohlen zu bekommen. Wie entscheidend diese Erfolgsfaktoren für den Wirkungskreislauf sind, wurde in einer europäischen Bankenstudie der Unternehmensberatung Booz Allen Hamilton nachdrücklich bestätigt. Demnach sind 74% der befragten Kunden unzufrieden mit den angebotenen Produkten, 68% erwarten eine aktive Ansprache und Initiative des Beraters und für 42% ist die Kompetenz das wichtigste Kriterium für einen Produktabschluss. Mit Abstand folgt die Freundlichkeit des Beraters mit 13%. Die Erfolgslogik wird nun durch das Hinzufügen des Kanals Internet, der dritten Wirkungskette, erweitert. Die Investitionen in den Kanal Internet erhöhen zunächst die Anzahl der Zugangswege zum Kunden. Damit werden neue Kunden-Kontaktpunkte zu bestehenden oder neuen Zielgruppen erschlossen. Diese Kontaktpunkte erhöhen das Potenzial des Beraters neue Kunden zu gewinnen bzw. zu erreichen und bestehende Kundengruppen zu aktivieren. Weiterhin können positive Wechselwirkungen, so genannte Cross Channel-Effekte zwischen einzelnen Kanälen erreicht werden. Diese Effekte treten dann ein, wenn ein Kunde sich im Internet über die Produkte des Finanzinstituts informiert und anschließend einen Abschluss in einer Filiale sucht. Dies wiederum führt zu einer Erhöhung der Cross und Up Selling-Quoten. Gleichzeitig besteht durch eine zunehmende Automatisierung die Möglichkeit Kosteneinsparungen zu erreichen. Durch die Automatisierung interner Abläufe oder durch die Zusammenlegung von Prozessen im Backend kann die Aufwandsquote gesenkt werden. Durch Effizienzsteigerungen können Filialen entweder entlastet, zusammengelegt oder geschlossen werden. Allerdings wird bereits hier eine negative Rückkopplung sichtbar. Die Reduzierung von Filialen führt zu einer Verringerung der Kunden-Kontaktpunkte und damit auch zu einer Reduzierung des Geschäftspotentials. Dies geschieht insbesondere dann, wenn nicht berücksichtigt wird, dass für 80% der Kunden die Filiale noch immer der wichtigste Vertriebs- und Informationskanal ist. Als letzte und vierte Wirkungskette wird die Betrachtung um die Investition in Anreizsysteme zur Nutzung des Internets erweitert. Beispielsweise kann eine bewusste Differenzierung der Preise und Konditionen im Internet zu einer Lenkung des Kanalnutzungsverhaltens führen. Insbesondere dann, wenn Kunden für standardisierte Transaktionen wie Wertpapierorders nicht länger kostenintensive Filialen aufsuchen, sondern zunehmend das kostengünstigere Internet nutzen. Zusätzlich können auch Entlohnungs- oder interne Zielsysteme so geändert werden, dass die eigenen Mitarbeiter von der Verlagerung standardisierter Transaktionen ebenfalls profitieren. Weiterhin trägt auch eine gezielte Kundenansprache zur Änderung des Nutzungsverhaltens bei. Vergleichen lässt sich dies wohl am besten mit dem Gewöhnungsverhalten der Kunden, die zu Beginn der 90er Jahre noch Kontoauszüge und Bargeld am
238
Stellhebel und kritische Erfolgsfaktoren des Multi Channel-Managements
Schalter abgeholt haben, bis Geldausgabeautomaten und Kontoauszugsdrucker in Selbstbedienungszonen (SB) eingeführt wurden. Allerdings ist auch hier eine dämpfende Wirkung zu beobachten. Beispielsweise werden von den bereits 20 Mio. Online Konten in Deutschland nur 30% regelmäßig genutzt. Weiterhin halten 52% aller Kunden mit Online Zugang, das Internet für „nicht sicher“ bzw. „überhaupt nicht sicher“. Weitere 25% halten das Netz für „zu unpersönlich“.236 Aus der dargestellten Erfolgslogik lässt sich bereits jetzt eine Erkenntnis ziehen: Es ist entscheidend, die Herausforderung des Multi Channel- Managements von verschiedenen Sichtweisen aus zu betrachten. Die Methodik des vernetzten Denkens eignet sich dabei sehr gut für eine systematische Erarbeitung von Zusammenhängen. Die nach und nach entstehende Landkarte bietet dabei den Vorteil eine zu frühe Fokussierung auf Einzelaspekte zu vermeiden. Denn nicht in der isolierten Verbesserung einzelne Teile, sondern in der Optimierung des gesamten Wirkungssystems liegt der Schlüssel zum Erfolg.
3.
Stellhebel und kritische Erfolgsfaktoren des Multi Channel-Managements
Nachdem die wesentlichen Wirkungsbeziehungen beschrieben und transparent gemacht wurden, erfolgt nun die Interpretation des in Abbildung 1 dargestellten Netzwerkes. Wie wir in Teil III ausgeführt haben, ist ein komplexes System nicht beherrschbar, jedoch existieren immer Stellhebel, mittels derer die Zielgröȕen beeinflusst werden können. Diese gilt es über das vernetzte Denken zu identifizieren und zu nutzen. Für die dargestellten Wirkungsbeziehungen im Multi Channel-Vertrieb sehen wir die folgenden Stellhebel: Angebot von Best-of-Class Finanzprodukten. Aktive Kundenansprache durch Berater. Erhöhung der Beratungskompetenz der Berater. Anpassung interner und externer Anreizsysteme. Abbau von Sicherheitsbedenken zur Nutzung des Internets. Abbau von Transaktionsabbrüchen bei Nutzung des Internets. Bei Betrachtung der Erfolgslogik zeigt sich, dass die lenkbaren Stellhebel einen positiven aber auch negativen Einfluss auf die Zielgrößen haben können. Dabei bestätigt sich erneut, daȕ die Filiale eine wesentliche Voraussetzung ist, um mit Kunden in einen persönlichen Kontakt zu kommen und Beratungsleistungen anzubieten. Weiterhin wird deutlich, daȕ über 236 Vgl. Jung,
C. (2004), S. 282-284.
Modernes Multi Channel-Management
239
die verschiedenen Vertriebskanäle hinweg die individuellen Kundenbedürfnisse erkannt werden müssen, um situationsgerecht in den Kundendialog einzutreten und passende Finanzlösungen anzubieten. Aus diesem Grund bewerten wir als besonders kritische Erfolgsfaktoren: Aufrechterhaltung regionaler Präsenz von Filialen. Kundenindividuelle Bedarfsanalyse. Weiterhin lässt sich ableiten, dass erhebliche Investitionen in Mitarbeiter, IT-Systeme und Prozesse sowie in veränderte Anreizsysteme erfolgen müssen, um die Wirkungskreisläufe überhaupt in Gang zu setzen. Zusätzlich sind Wirkungsverzögerungen innerhalb der Ketten zu berücksichtigen. Wird zusätzlich beachtet, dass sich die Investitionen innerhalb dieses Wirkungssystems mit einem positiven Business Case begründen lassen müssen und die Zusammenhänge der verschiedenen Erfolgsfaktoren erst durch eine vernetzte Sichtweise transparent werden, dann ergibt sich eine anspruchsvolle Erwartung an das MCM.
Effektivität des Multi ChannelManagements
Die bisherige Betrachtung hat gezeigt, dass Finanzinstitute komplexe Wirkungsketten zu managen haben, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Auch wurden Stellhebel und kritische Erfolgsfaktoren aus der Erfolgslogik des Multi Channel-Managements abgeleitet. Darauf aufbauend zeigen wir hier, wie die Effektivität des Mehrkanalsystems optimiert werden kann. Nach dem rasanten Wachstum des Online Banking haben sich diese beiden Absatzwege im heutigen Retail Banking als die volumenstärksten und am weitesten entwickelten herauskristallisiert. Zudem werden wir die bereits durchgeführten Betrachtungen im Zuge des operativen Multi Channel-Managements um die folgenden Fragestellungen erweitern: Welche Kundenanforderungen sind beim Management der Vertriebswege zu berücksichtigen? Welche Finanzdienstleistungen und Transaktionen werden in Anspruch genommen und welche Attraktoren lassen sich daraus entwickeln? Wer sind die direkten Wettbewerber deutscher Universalbanken und welche Wettbewerbsaktivitäten hinsichtlich der Vertriebskanäle gibt es? Die permanente Untersuchung des Umfelds, welches aus Kunden, direkten Konkurrenten, Produkten und Leistungen sowie der Technologie besteht, bleibt auch im Multi ChannelManagement eine Kernaufgabe. Die laufende Ausrichtung der integrierten Vertriebskanäle an dieses Umfeld wird nachfolgend als externer Fit bezeichnet.237 Um Antworten auf die beschriebenen Fragen geben zu können, kann auf den Erkenntnissen der vorangegangenen Kapitel aufgebaut werden.
237 Vgl. Kracklauer, A.; Wagemann, B.; Voigt, M. (2004), S. 134.
242
1.
Kundenanforderungen und Kanalnutzungsverhalten
Kundenanforderungen und Kanalnutzungsverhalten
In einer von A.T. Kearney 2004 durchgeführten Untersuchung wurden folgende Anforderungen von Bankkunden an die Vertriebswege im Retail Banking genannt: Als wichtigste Gründe für die Nutzung des eigenen Finanzinstituts wurden von über 90% der Befragten die „einfache und bequeme Erreichbarkeit“ und die „schnelle und unkomplizierte Abwicklung“ genannt, während für 80% eine kompetente Beratung und persönliche Beratung wichtig ist. Weiterhin gaben fast 70% der Befragten einen guten Überblick über die finanzielle Situation als Argument für die Nutzung des eigenen Finanzinstituts an. Abgerundet wird diese Betrachtung durch eine repräsentative Infas-Umfrage, welche im Auftrag der Citibank AG durchgeführt wurde. Dabei gaben 83% der Befragten an, daȕ sie es schätzen würden, wenn die in Anspruch genommenen Finanzdienstleistungen an die persönliche Lebenssituation angepasst werden. Beispielsweise soll bei einer Hochzeit oder der Geburt eines Kindes das Finanzinstitut aktiv das Gespräch suchen und nicht erst auf Anfrage durch den Kunden reagieren. Ebenfalls 83% der deutschen Kunden erwarten keinen punktuellen Verkauf von Einzelprodukten, eines Investmentfonds oder einer Versicherung und keine Beendigung der Beratung nach Vertragsunterzeichnung, sondern eine umfassende Betrachtung der Kundensituation und eine kontinuierliche aktive Beratung und Begleitung. Als Ergebnis lassen sich zwei Typen von Anforderungen ableiten. Typ 1 Service-Kunde: Kunden fordern Bequemlichkeit im Service und eine unkomplizierte Abwicklung der täglichen Bankgeschäfte. Im Vordergrund steht eine schnelle Erreichbarkeit. Bei dieser Kunde-Bank-Beziehung ist vor allem der Kunde aktiv. Typ 2 Beratungs-Kunde: Kunden fordern persönliche Ansprechpartner und Beratung. Diese orientiert sich an einer kompetenten und qualitativ hochwertigen Betreuung. Vom eigenen Finanzinstitut werden auf die Lebenssituation passende Produkte oder attraktive Konditionen erwartet und ein umfassender Überblick über die finanzielle Situation gewünscht. Bei dieser Kunde-Bank-Beziehung soll der Kundenberater auf seine Initiative hin Kunden bestimmt, aber nicht aufdringlich ansprechen und betreuen.238 Werden diese beiden Typen von Anforderungen in der Praxis erfüllt? Die Frage muss heute mit „nein“ beantwortet werden. Gibt es weitere Kundenanforderungen, die berücksichtigt werden müssen? Ein Blick auf das Kanalnutzungsverhalten gibt darüber Aufschluss. Insbesondere soll der Frage nachgegangen werden, wie sich der Einfluss des Internets auf das Nutzungsverhalten von Filialen ausgewirkt. Zu vermuten wäre, daȕ Filialschließungen in den vergangenen Jahren in Verbindung mit einer verstärkten Nutzung des Internets zu einem Rückgang der Beratungen pro Kunde 238 Vgl. Bruckner, B.; Bühler, W.(2001), S. 51.
Effektivität des Multi Channel-Managements
243
geführt haben. Eine durch das Finanzforschungsinstitut Infratest 2004 durchgeführte Untersuchung239 kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Es wurde festgestellt, daȕ sich die absolute Anzahl von Beratungsgesprächen – vermutlich durch verstärkte Vertriebsmaßnahmen – insgesamt nicht nur erhöht hat, sondern auch die Quote von Kunden mit mindestens einer Beratung pro Jahr weitgehend konstant geblieben ist (51%, 2001 vs. 48%, 2004). Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ableiten: 1. Das bekannte Untersuchungsergebnis von Booz Allen Hamilton, daȕ die Filialen für eine persönliche Kundenbetreuung nach wie vor unverändert wichtig sind, wird bestätigt. 2. Die zunehmende Nutzung des Kanals Internet hat nicht dazu geführt, daȕ das persönliche Beratungsgespräch einen quantitativen Bedeutungsverlust zu verzeichnen hatte. Die ursprüngliche Annahme, dass stationäre Filialen durch das Internet ersetzt werden, ist nicht eingetreten. Doch wird sich dieses Kanalnutzungsverhalten in der Zukunft ändern? Welche Trends zeichnen sich ab? Aufschluss geben die bereits in Teil II beschriebenen Untersuchungen von Booz Allen Hamilton, Roland Berger oder McKinsey. Hier wird prognostiziert, dass sich das Kanalnutzungsverhalten erheblich ändern wird. Dabei wird die Mehrheit aller Kunden weder die Filialen noch das Internet ausschließlich nutzen. Multi Channel-Kunden werden mit ca. 60 bis 80% die absolut gröȕte Zielgruppe aller Retail Kunden bilden. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung lässt sich ein dritter Typ einer Kundenanforderung ableiten. Typ 3 Multi Channel-Kunde: Kunden fordern zunehmend Entscheidungsfreiheit bei der Kanalauswahl240 und dies wird in den nächsten Jahren noch wichtiger werden. Die Multi Channel-Kunden möchten die Zugangswege zum Finanzinstitut entsprechend ihrer Situation selbst auswählen und einzelne Leistungen und Services nach persönlichen Präferenzen in Anspruch nehmen. Bei dieser Kunde-Bank-Beziehung kommt es auf die Koordination der Kanäle an.
2.
Einflussfaktoren einer vernetzten Umwelt
Nachdem drei unterschiedliche Typen von Kundenanforderungen vorgestellt wurden, soll nun betrachtet werden, welche weiteren Einflussfaktoren in einer vernetzten Umwelt zu berücksichtigen sind. Von Bedeutung ist beispielsweise, wie sich direkte Konkurrenten im Retail Banking positionieren. Dabei soll auch auf die eingesetzten Channel-Typen (siehe Teil VI) eingegangen werden. Zuerst ist festzustellen, dass sich der Wettbewerb im Geschäftsfeld Retail Banking in die in Teil II bereits beschriebenen vier Bereiche clustern lässt. Darunter
239 Vgl. Untersuchung der TNS Infratest Finanzforschung (2004), S. 10. 240 Vgl. Gronover, S.; Riempp, G.. (2002), S. 1.
244
Einflussfaktoren einer vernetzten Umwelt
sind sowohl Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Spezialbanken, Anbieter aus der Automobilbranche und schließlich auch deutsche Großbanken zu finden.241 Das operative Multi Channel-Management erfordert wiederum die anhaltende und selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Multi Channel-Fitness im Kontext der definierten Strategie. Nachfolgend soll dies am Beispiel der comdirect AG und von MLP skizziert werden. Ein Direktanbieter wie die comdirect AG konzentriert sich auf das Kundensegment der wertpapierorientierten und preissensitiven Internetnutzer. Das Produktangebot ist in diesem Segment sehr umfangreich und differenziert, wobei die angebotenen Finanzprodukte ohne persönliche Beratungsunterstützung vertrieben werden. Der Kanal Internet dominiert in diesem Mehrkanalsystem als Sales Channel. Das Call Center wird vor allem als Support Channel eingesetzt. Die Stärken dieses Geschäftsmodells liegen in einem differenzierten und preisgünstigen Leistungsangebot. Ebenfalls ein segmentspezifisches Spezialangebot wird von einem strukturierten Finanzvertrieb wie MLP angeboten. Dabei konzentriert sich MLP auf das Kundensegment der Akademiker. Dafür steht eine breite Auswahl von Finanz- und Versicherungsprodukten unterschiedlicher Produktpartner zur Verfügung. Die Beratung erfüllt den Anspruch, daȕ diese an der persönlichen Lebenssituation des Kunden ausgerichtet ist. Unterstützt wird die verstärkte Vertriebs- und Akquisitionsausrichtung u.a. durch angepasste Vergütungssysteme für die Vertriebsmitarbeiter. Die Finanzvertriebe verfügen meist über Geschäftsstellen und/oder mobile Beratungseinheiten, welche als Customer- und/oder Sales Channel eingesetzt werden. Das Call Center und das Internet wird in diesem Mehrkanalsystem meist als Support Channel eingesetzt. Die Stärken dieser kundenbezogenen Schwerpunktsetzung in den einzelnen Vertriebswegen liegen in einem breiten Leistungsangebot und einer ausgeprägten Vertriebs- und Akquisitionskultur. Der Wettbewerb wird durch die hohen Marktanteile von Sparkassen und Genossenschaftsbanken und durch das differenzierte Leistungsangebot von Spezialbanken bestimmt. Welche möglichen Positionierungsstrategien stehen einer Universalbank in diesem Umfeld zur Verfügung? Diese Frage soll am Beispiel des Spannungsfeldes der Großbanken zwischen diesen Konkurrenten veranschaulicht werden. Das hierzu entwickelte und in Abbildung 2 dargestellte Portfolio mit den Dimensionen Produktkomplexität und Beratungsintensität bietet sich für das Multi Channel-Management an.
241 Auf sonstige Finanzinstitute wie beispielsweise Bausparkassen, Hypotheken-, Regional- oder Auslandsbanken wird in dieser Betrachtung nicht näher eingegangen.
Effektivität des Multi Channel-Managements
245
Quelle. Eigene Darstellung. Abbildung 63: Strategisches Spannungsfeld im Retail Banking. Dazu werden in einer Vier-Felder-Matrix des Geschäftsfelds Retail Banking die Dimensionen Produktkomplexität und Beratungsintensität abgetragen. Die Betrachtung zeigt, dass sich Direktanbieter – wie die comdirect AG – als Segmentspezialisten im unteren Bereich des Felds II positionieren. Die Beratungsintensität ist vergleichsweise gering, da Kunden sich über den Vertriebskanal Internet weitgehend selbst bedienen. Das Produktangebot ist zwar stark differenziert und setzt u.a. auch Kenntnisse im Wertpapiermanagement voraus, jedoch ist eine standardisierte Wertpapierorder aus Vertriebssicht nicht komplex im Abschluss. Demgegenüber haben sich strukturierte Finanzvertriebe im Feld IV mit einer hohen Beratungsintensität und Produktkomplexität angesiedelt. Die breit aufgestellten Sparkassen und Genossenschaftsbanken bewegen sich ebenso wie die spezialisierten Industriebanken im Feld II. Die Sparkassen und Genossenschaftsbanken sowie die deutschen Großbanken nehmen in der Mitte der Matrix eine strategisch scheinbar ungünstige Position ein. Die preissensitiven Retail Kunden entscheiden sich für Angebote von Direktanbietern, während sich beratungsorientierte Kunden für individuelle Konzepte akquisitionsstarker Finanzdienstleister wie MLP öffnen. Gleichzeitig lassen gesetzliche Beschränkungen es nicht zu, in den Bereich der öffentlich-rechtlich-rechtlichen Sparkassen einzudringen und diese zu übernehmen. Fazit:
246
Einflussfaktoren einer vernetzten Umwelt
Durch den Schutz der Sparkassenorganisationen werden private Großbanken im Wachstum auf dem Heimatmarkt beschränkt und gleichzeitig durch Direktanbieter und Finanzvertriebe aus den Feldern II und IV unter Druck gesetzt. Grundsätzlich sehen wir zur Verbesserung der Wettbewerbssituation drei Möglichkeiten:242 Die erste Möglichkeit besteht darin, die qualifizierte Beratung in der Fläche wieder stärker in den Vordergrund zu rücken und sich in Richtung des Felds IV zu bewegen. Dabei wird das Filialnetz vor allem als Customer-Channel und das Internet sowie das Call Center als Support Channel eingesetzt. Bei diesem Positionierungsansatz stehen Filialeröffnungen statt Filialschließungen und das überdenken neuer Filialtypen im Vordergrund. So lässt sich die Strategie der Commerzbank AG erklären, welche darauf ausgerichtet ist, kostengünstige Filialen der Zukunft zu entwickeln und mit diesen wieder Standorte zu eröffnen. Auch werden Vertriebskooperationen mit Konkurrenten im Feld IV eingegangen. Beispielsweise vereinbarten MLP und die Postbank AG im Oktober 2004 die Privatkredite der Tochtergesellschaft DSL Bank über das MLP-Vertriebsnetz zu vertreiben. Allerdings ist bei einer zu weiten Positionierung in Richtung des Felds IV zu berücksichtigen, dass sich Überschneidungen mit dem Geschäftsfeld Private Banking ergeben können. Dieses Geschäftsfeld ist auf sehr vermögende und anspruchsvolle Kunden ausgerichtet und bereits auf eine umfassende Kundenberatung spezialisiert. Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich in Richtung des Felds II zu bewegen, um im Bereich der Kostenführerschaft die Direktbanken als Segmentspezialisten unter Druck zu setzen. Eine Bewegung in diese Richtung ist bei der Postbank AG mit einer branchenweiten Strategie der Kostenführerschaft zu erkennen. Das Institut spezialisiert sich dabei auf standardisierte Produkte und setzt das Internet, das Filialnetz, sowie das Call Center als Sales Channels ein. Die dritte Möglichkeit besteht darin, eine zentrale Position in der Vier-Felder-Matrix beizubehalten und sich durch eine branchenweite Differenzierungsstrategie gleichzeitig in die Felder II und IV zu bewegen. Dies setzt allerdings eine Einzigartigkeit des Angebots als auch der Qualität voraus. Der Vorteil dieser Positionierung besteht darin, dass die Kundenanforderungen nach Service und Beratung abgedeckt werden. Sie bietet eine gute Ausgangsposition, um im Wettbewerb zusätzliche Marktanteile zu gewinnen. Auch verfügen filialzentrierte Universalbanken grundsätzlich über alle Möglichkeiten, ein solches Multi Channel-Angebot zu realisieren. Bei ihnen ist ein (zumindest regional) flächendeckendes Filialnetz als Customer-Channel vorhanden und das Internet bietet im standardisierten Mengengeschäft die Option diesen – analog der Direktbanken – als Sales Channel auszubauen. Wenn es zusätzlich noch gelingt, die immer höheren Kundenanforderungen zu befriedigen, die durch ein Multi 242 Eine Positionierung in Richtung der Felder I und III wird als nicht zweckmäßig erachtet. Begründung: Eine Positionierung ins Feld III ist mit dem Vertrieb von einfachen Produkten und hoher Beratungsintensität verbunden. Da einfache Produkte tendenziell geringe Margen aufweisen wird dies als nicht wirtschaftlich eingeschätzt. Eine Positionierung in Feld I würde zwar die höchsten Margen mit vergleichsweise geringer Beratungsintensität versprechen, jedoch erscheint die Substitution des Beraters beispielsweise durch technologischen Fortschritt als nicht umsetzbar.
Effektivität des Multi Channel-Managements
247
Channel-Angebot erfüllt werden können, dann ist eine Einzigartigkeit gegenüber direkten Konkurrenten im Retail Banking erreicht. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass grundsätzlich alle der drei beschriebenen Positionierungsansätze im Retail Banking sinnvoll erscheinen. Im Hinblick auf den integrierten Multi Channel-Vertrieb soll im Folgenden die dritte Möglichkeit eines online- und filialzentrierten Multi Channel-Managements auf Umsetzbarkeit überprüft werden.
Effizienz des Multi ChannelManagements
Beim externen Fit wurde der Frage nachgegangen, wie ein Mehrkanalsystem möglichst effektiv an sich permanent verändernde Kundenanforderungen ausgerichtet werden kann und welche Wettbewerbsposition in der Vier-Felder-Matrix gegenüber Konkurrenten eingenommen werden sollte. Dabei wurde eine typische Positionierungsstrategie gewählt, welche sich auf die Filialen als Customer- und das Internet als Sales Channel konzentriert. In diesem Kapitel zeigen wir darauf aufbauend einen Weg, wie die Effizienz dieses Mehrkanalsystems durch eine Steuerung und Gestaltung dieser beiden Kanäle optimiert werden kann. Ziel ist es, sich auf die Stärken einzelner Kanäle zu konzentrieren und auf dieser Basis ein Multi Channel-Management zu etablieren, welches eine möglichst hohe Gesamtleistung erreicht. Zur Vereinfachung der nachfolgenden Betrachtung konzentrieren wir uns auch weiterhin auf die Filiale und das Internet als Vertriebskanäle. Zusätzlich betrachten wir das Call Center, die Selbstbedienungs-Terminals (SB) und eine mobile Beratung die als Support Channel, auf die wir in der weiteren Betrachtung nur fallweise eingehen werden. Dieses Vorgehen berücksichtigt die drei zentralen Herausforderungen beim integrierten Multi Channel-Management. Durch die Eingrenzung der Anzahl von Kanälen und eine Zuordnung der Rollen wird eine wichtige Entscheidung hinsichtlich der zukünftigen Aufgaben getroffen (siehe Kapitel VI). Die ausgewählten Kanäle müssen mit dem aktuellen oder zukünftigen Kanalnutzungsverhalten übereinstimmen. Je mehr Kanäle eingesetzt werden, desto schwieriger wird die Auswahl der Steuerungsmaßnahmen innerhalb des Channel-Mixes. Aus diesem Grund sollte die Hinzunahme neuer Kanäle sorgfältig geprüft werden. Ein zentraler Punkt beim internen Channel-Fit ist die Frage, was beachtet werden muss, um ein integriertes Mehrkanalsystem effizient zu steuern. Zunächst ist es im laufenden Prozess wichtig herauszufinden, wo die individuellen Stärken und Schwächen der Filiale und des Internets liegen, um diese sinnvoll miteinander zu koordinieren. Auch ist es sinnvoll, die konkreten Aufgaben zwischen den Kanälen eindeutig zu verteilen und die hieraus resultierenden positiven wie negativen Konsequenzen zu berücksichtigen. In Anlehnung an das in Teil VI vorgestellte strategische Vertriebskanal-Portfolio geht es im operativen Multi Channel Management um die noch weiter reichende Frage welche Transaktionen, Produkte und Services für welchen der beiden Kanäle überhaupt geeignet sind.
250
Effizienz des Multi Channel-Managements
Werden in den Kanälen identische Produkte angeboten, sollte dann zwischen online- und offline-Preisen differenziert werden? Genügt eine traditionelle Kundensegmentierung für ein integriertes MCM? Welche internen Strukturen müssen angepasst werden und welche Bedeutung hat die Einbindung der Vertriebsmitarbeiter? Wie kann eine Integration erreicht werden und welche IT- und Prozessinfrastruktur ist für die Umsetzung erforderlich? Welche Möglichkeiten ergeben sich durch technologische Entwicklungen und wie können diese Neuerungen eingeführt werden? Um Antworten auf diese Fragen geben zu können, stellen wir Ihnen in der folgenden Abbildung das Framework zur effizienten Steuerung und Gestaltung eines integrierten Mehrkanalsystems vor. Dieses richtet sich an dem Leistungsangebot, dem Produkt- und Serviceangebot, einer Kundensegmentierung sowie am Ausbau und Zukunftsperspektiven der Kanäle aus. Eingebettet wird dies in die Business-Engineering-Map der Hochschule St. Gallen. Das "Business-Engineering" bezeichnet dabei die methoden- und modellbasierte Konstruktion von Geschäftsmodellen in der Praxis. Sowohl dieses Framework als auch die Einordnung soll es erleichtern, die wesentlichen Fragestellungen für ein Multi Channel-Management in einer sinnvollen Reihenfolge und ganzheitlich zu beantworten. Dies ist gerade in der komplexen Umwelt des Retail Banking eine Herausforderung. Auf weitere Einflussfaktoren auf den internen Fit, wie zum Beispiel Konflikte, die eine erfolgreiche Umsetzung gefährden können, wird ebenfalls intensiv eingegangen. Zudem werden die notwendigen Voraussetzungen im Bereich der Geschäftsprozesse, der Informations- und Kommunikationssysteme sowie der Führung skizziert werden.
Effizienz des Multi Channel-Managements
251
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Österle/Winter.243 Abbildung 64: Business Engineering Map, erweitert um MCM.
Vorbemerkung: Bei der Gestaltung und Steuerung besteht grundsätzlich die Möglichkeit, allen Kunden, über alle Kanäle, alle Produkte, Services sowie Leistungen zu gleichen Preisen und Konditionen anzubieten. Dieser Ansatz hat einen wesentlichen Vorteil. Die Vertriebssteuerung ist einfach zu managen und Konflikte zwischen Kanälen werden weitgehend vermieden. Der Kunde steuert die Kanäle durch seine Nutzung und orientiert sich dabei ausschließlich an seinen persönlichen Präferenzen. Aus Kundensicht ist eine maximale Auswahl an Produkt- und Kanalleistungen vorhanden, welche je nach persönlichem Bedürfnis und Situation genutzt werden können. Aus Unternehmenssicht bedeutet diese maximale Wahlfreiheit des Kunden allerdings eine unzureichende Effizienz, denn eine aktive Gestaltung des Angebots und Steuerung des Kundenverhaltens findet nicht statt. Wenn weiterhin Filialen für die Abwicklung von standardisierten Zahlungsaufträgen in Anspruch genommen werden, anstatt das Internet als kostengünstigen Kanal zu verwenden, dann werden die begrenzten Vertriebsressourcen einer Filiale nicht optimal eingesetzt.
243 Österle, H.; Winter, R. (2003), S. 12.
252
Channel-Leistungsangebot
Die Aufgabe des Vertriebswegemanagements muss es deshalb sein, zwar die individuellen Kundenanforderungen zu erfüllen, jedoch das Kundenverhalten zielgerichtet zu steuern. Zielgerichtet bedeutet dabei nicht, dass alle Kunden zwingend auch den kostengünstigsten Kanal nutzen müssen. Eine Gestaltung kann auch über das vorhandene Produkt- und Leistungsangebot erfolgen. Eine wesentliche Aufgabe eines integrierten online- und filialzentrierten Vertriebswegemanagements ist es daher, die Stärken der eingesetzten Kanäle möglichst komplementär miteinander zu verbinden und daraufhin die Aufgaben zwischen den Kanälen zu verteilen. Dies soll nachfolgend als Kanal-Effizienz bezeichnet werden.
1.
Channel-Leistungsangebot
Um eine möglichst hohe Kanal-Effizienz zu erreichen, erfolgt eine Gegenüberstellung der Kanäle Filiale und Internet. Dabei wird schnell deutlich, bei welchen Leistungen im Vertriebsprozess die jeweilige Eignung der Kanäle liegt. Um einen besseren Vergleich herzustellen, wird der Vertriebsprozess, wie in der folgenden Abbildung dargestellt, in einzelne Teilleistungen aufgebrochen. Diese Teilleistungen werden den Kanälen gegenübergestellt und die Eignung beurteilt.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 65: Eignung von Channel-Leistungen.
Effizienz des Multi Channel-Managements
253
Dabei stellt sich heraus, daȕ stationäre Filialen alle Teilleistungen des Vertriebsprozesses von der Information über Produkte und Services, über die persönliche und qualifizierte Beratung vor Ort bis hin zur Auflösung der Geschäftsbeziehung vollständig abdecken können. Die Stärken der Filialen gegenüber dem Internet liegen vor allem in einer persönlichen und kompetenten Beratung sowie einer regionalen Verbundenheit zum Kunden. Weiterhin besteht für den Berater die Möglichkeit, kundenspezifische Problemlösungen individuell zu entwickeln und in der Face-to-Face Beziehung auch Vertrauen und emotionale Bindungen aufzubauen. Die Schwäche der Filialen liegt vor allem in der begrenzten Verfügbarkeit begründet. Dabei ist nicht die Anzahl der Filialen in Deutschland gemeint, sondern vielmehr die eigentliche Vertriebszeit. Unter der Vertriebszeit wird der Anteil der Arbeitszeit verstanden, die Berater in Kundengesprächen verbringen. Gemäß einer Untersuchung von Mercer Management Consulting aus 2002 lag dieser durchschnittliche Anteil bei deutschen Finanzinstituten bei nur 1820% der Arbeitszeit. Über 80% der vorhandenen Arbeitszeit verbringen Berater demnach mit administrativen und organisatorischen Aufgaben. Bei international erfolgreichen Finanzinstituten wie der Citibank liegt dieser Anteil bei nur knapp über 50%. Weiterhin zeichnet sich der stationäre Vertrieb durch eine beschränkte zeitliche und räumliche Erreichbarkeit aus, welche durch Filialöffnungszeiten und in den letzten Jahren verstärkt auch durch Filialschließungen bestimmt sind. Zusätzlich handelt es sich um einen vergleichsweise kosten- und personalintensiven Vertriebsweg. Dies ist nicht nur in den Personalkosten der Vertriebsmitarbeiter begründet, sondern auch durch einen hohen Anteil an Back-Office-Mitarbeiter. Denn bei deutschen Finanzinstituten kommt auf jeden Vertriebs- auch ein Back-Office-Mitarbeiter (1:1), während diese Quote bei international erfolgreichen Finanzinstituten bei 3:1 liegt. Die Stärken des Internets liegen demgegenüber in einer Unabhängigkeit von Filialöffnungszeiten. Der Vertriebsprozess steht rund um die Uhr zur Verfügung. Die Vertriebszeit ist nicht beschränkt und leicht auf die Anzahl der Kunden skalierbar. Steigt die Nutzungsintensität oder die Anzahl der Kunden im Kanal Internet an, so kann durch Anpassung der Serverkapazitäten ein Ausgleich innerhalb kürzester Zeit geschaffen werden. Zusätzlich sind Prozesse vergleichsweise einfach digitalisierbar und dem Kunden über das Frontend leicht zugänglich zu machen. Durch diese Vorzüge eignet sich das Internet besonders gut für die Abwicklung von Mengengeschäften. Weiterhin können umfassende Produktinformationen sowie multimediale Produktdemonstrationen angeboten werden. Die Schwäche des Internets liegt neben dem steigenden Betrugsrisiko durch Phising und Pharming unter anderem in eingeschränkten Beratungsunterstützungen, welche bei beratungsintensiven Produktabschlüssen erforderlich sind. Zwar wurden technologische Ansätze wie Avatare oder Produktnavigatoren entwickelt und eingesetzt, jedoch hat dies nicht dazu geführt, eine persönliche Beratung zu substituieren. Weiterhin besteht bei der Neukundengewinnung über das Internet – ohne elektronischen Ausweis bzw. digitale Signaturen – noch immer die Notwendigkeit zu einer physischen (Erst-)Legitimation in einer Filiale. Aus dieser Gegenüberstellung lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen: Nicht jede Teilleistung – beispielsweise die Beratung – und jedes Produkt eignet sich für jeden Kanal.
254
2.
Channel Produkt- und Serviceangebot
Channel Produkt- und Serviceangebot
Bei der Kanal-Effizienz geht es um die optimale Zuordnung des Angebots von Produkten und Services auf einzelne Kanäle. Neben der technischen Beratungsunterstützung zeigt auch das Abschlussverhalten bei beratungsintensiven Produkten noch Grenzen auf. Entsprechend einer durch TNS Infratest Finanzforschung in 2004 durchgeführten Studie können sich ca. 11 Mio. Internetnutzer in Deutschland vorstellen, Versicherungen über das Internet abzuschließen.244 Allerdings wurden im vergangenen Jahr in Deutschland nur 1,3 Mio. Versicherungen online abgeschlossen. Bei näherer Analyse dieser Statistik stellt sich heraus, daȕ es sich bei den Abschlüssen vor allem um einfache Standardversicherungen mit vergleichsweise niedrigen Margen handelt. Weiterhin zeigt sich, daȕ neben der Produktkomplexität auch die Kaufmotivation einen erheblichen Einfluss auf das Nutzungsverhalten im Internet hat. Beispielsweise ist die Bereitschaft eine Auslandsreisekrankenversicherung für einen kurz bevorstehenden 14-tägigen Urlaub im Internet abzuschließen wesentlich höher, als die Entscheidung über die Altersvorsorge, welche erst in den nächsten 20 bis 30 Jahren ansteht. Die folgende Gegenüberstellung verdeutlicht dies am Beispiel von Versicherungsprodukten.
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Tillinghast-Towers Perrin.245 Abbildung 66: Eignung von Channel-Produkten.
244 Vgl. Untersuchung der TNS Infratest Finanzforschung (2004), S. 41. 245 Deppe, S.; Tillinghast-Towers P. (2004), S. 215.
Effizienz des Multi Channel-Managements
255
Die Betrachtung innerhalb einer Vier-Felder-Produktmatrix mit den Dimensionen Produktkomplexität und Kaufmotivation zeigt, dass sich vor allem Produkte aus Feld III für den Direktvertrieb im Internet eigenen. Diese Produkte zeichnen eine hohe Nachfrage sowie eine geringe Produktkomplexität aus. Die Produkte aus Feld I eigenen sich dagegen eher für einen Abschluss durch einen Berater in der Filiale. Festzustellen ist, dass sich Kunden auch online über Produkte mit hoher Produktkomplexität informieren oder Tarifberechnungen durchführen. Für den Abschluss wird jedoch meist eine Filiale oder ein Außendienstmitarbeiter aufgesucht. Es wird angenommen, dass neben den Faktoren Produktkomplexität und Kaufmotivation auch die Häufigkeit des Abschlusses einen Einfluss auf das Abschlussverhalten hat. Beispielsweise sollte die wahrgenommene Unsicherheit des Kunden beim Kauf einer Kreditkarte geringer sein als bei Online Abschluss einer Rentenversicherung. Aus dieser Betrachtung lässt sich eine zweite Schlussfolgerung ziehen: Nicht jedes Produkt eignet sich für jeden Kanal. Es gilt nun zu entscheiden, ob die Kanäle mit unterschiedlichen Produkt- und Serviceangeboten und/oder differenzierten online- und offline Konditionen ausgestattet werden sollen. Die Unternehmensberatung McKinsey kommt im Untersuchungsbericht Digital Transformation für Versicherungsunternehmen aus 2000 zum Schluss, dass sowohl identische Produkte als auch Preise und Konditionen anzubieten sind. Dabei wird als Argument eine Vermeidung von Konflikten zwischen den Kanälen angeführt. Diese Konflikte entstehen dann, wenn sich Kanäle durch unterschiedliche Preisgestaltungen kannibalisieren und damit ein Provisionsverlust eintritt. Bei einer Befragung der Universität Witten/Herdecke in 2004 stellte sich zudem heraus, dass von ca. 40 befragten deutschen Versicherungen und Finanzinstituten nur 23% kanalspezifische Preise und Konditionen einsetzen.246 Anscheinend ist es bisher nicht gelungen, eine Lösung für die Konflikte zu finden. Da das Multi ChannelManagement insbesondere das Ziel hat, eine Erhöhung der Kanal-Effizienz zu erreichen, möchten wir nachfolgend einen Lösungsansatz aufzeigen, welcher die negativen Auswirkungen von Konflikten weitgehend vermeidet und es trotzdem ermöglicht, die Vertriebskosten im Mehrkanalsystem zu senken.
3.
Vermeidung von Channel Konflikten
Unterstellt wird, dass eine Substitution von Produkt- und Serviceabschlüssen zu Gunsten des Internets stattfindet. Dies bewirkt eine Neuverteilung des Absatzvolumens zwischen den Kanälen. Dies hat mehrere Konflikte zur Folge, die im Folgenden beschrieben werden.
246 Vgl. Wirtz, B.; Schilke, O.; Büttner, T. (2004), S. 48.
256
3.1
Vermeidung von Channel Konflikten
Zurechnung von Abschlüssen
Bei der Zurechnung von Abschlüssen ist eine grundsätzliche Frage zu beantworten: Wem gehört die Kundenverbindung? In einem Einkanalsystem, welches zuvor nur aus Filialen bestand, war die Antwort eindeutig. Der generierte Umsatz wird dem individuellen Kundenberater zugerechnet. Diese Zurechnung von Erträgen wird sich – bei einer Steuerung über Umsätze – vermutlich positiv auf die Erfolgsbeurteilung und/oder die Zielerreichung eines Beraters auswirken. In einem integrierten Mehrkanalsystem ist diese Fragestellung schwieriger zu beantworten. Grundsätzlich sehen wir vier praktisch umsetzbare Möglichkeiten. Erste Alternative: Die direkten Vertriebserfolge und damit die Umsätze werden dem Kanal zugerechnet, der den finalen Abschluss durchführt. Dies hat den Vorteil, daȕ eine einfache Zurechnung erfolgen kann. Warum sollte ein Berater seinem Kunden dann aber einen Abschluss im Internet empfehlen? Da kein Anreiz für den Mitarbeiter zu erkennen ist, die angestrebten Ziele des Geschäftsfelds zu erreichen, ist diese Alternative im integrierten Multi Channel-Vertrieb nicht sinnvoll. Zweite Alternative: Es wird protokolliert, welche Teilleistungen bis zum Abschluss genutzt wurden. Wird ein Abschluss unter vorheriger Nutzung der Filiale und/oder des Internets durchgeführt, dann erfolgt eine Aufteilung des Umsatzes. Dies setzt voraus, daȕ alle Teilleistungen über alle Kanäle hinweg nachvollzogen werden können. Sollte dies mit viel Dokumentationsaufwand gelingen, dann stellt sich jedoch die Frage, mit welchem Wertschöpfungsbeitrag pro Teilleistung eine Anrechnung erfolgen soll? Wie hoch ist der indirekte Erfolgsbeitrag, wenn ein Kunde sich im Internet über ein Produkt informiert und dieses anschließend bei seinem Berater abschließt? Durch diese Verteilungsschwierigkeit in Verbindung mit dem notwendigen Aufwand einer Messung ist diese Alternative ebenfalls auszuschliessen. Dritte Alternative: Die Umsätze werden weiterhin dem persönlichen Berater zugerechnet. Dies hat den Vorteil, dass Konflikte weitgehend vermieden werden, da sich für den Berater keine Änderung einstellt. Für den Mitarbeiter besteht der Anreiz, das Kundenverhalten in Richtung des kostengünstigeren Kanals zu lenken darin, dass bei einem identischen Umsatz weniger Vertriebszeit investiert werden muss. Allerdings wird das Verharrungsvermögen des Beraters an gewohnten Arbeitsabläufen und der Wunsch nach alleiniger Kundensteuerung als zu groß eingeschätzt als das sich eine spürbare Effizienzsteigerung einstellt. Deshalb halten wir diese Alternative für nur bedingt geeignet. Vierte Alternative: Die Zurechnung wird nicht mehr über den Umsatz, sondern über den Deckungsbeitrag247 gesteuert. Dies setzt lediglich voraus, dass die Stückkosten für die Kanäle bekannt sind. Die Orientierung an Deckungsbeiträgen hat den Vorteil, dass der Ertrag pro
247 Vgl. Schierenbeck, H. (1995), S. 645 – Hinweis: Als Deckungsbeitrag wird vereinfacht die Differenz aus Umsätzen bzw. Bruttoerlösen und fixen sowie variablen Kosten verstanden.
Effizienz des Multi Channel-Managements
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Produkt nach Abzug der Kosten im Vordergrund steht. Damit werden die unterschiedlichen Vertriebskosten pro Kanal ebenfalls berücksichtigt. Eine direkte Zurechnung der Deckungsbeiträge an den Berater und damit die Veränderung der Steuerungsgröße im Vertrieb ist aus unserer Sicht die sinnvollste Alternative. Neben der Transparenz der entstehenden Kosten pro Kanal ist ebenfalls eine deutliche Fokussierng auf das Kostenbewusstsein im Vertrieb ein entscheidender Erfolgsfaktor. Als Ergebnis bedeutet dies, dass der Berater zusätzlich zu seiner Rolle als Vertriebsmitarbeiter die Rolle eines Ressourcenmanagers einnimmt und die richtigen Kunden verstärkt zur Nutzung des kostengünstigeren Internets motiviert.248 Welches die richtigen Kunden sind, soll im nachfolgenden Kapitel beschrieben werden.
3.2
Kannibalisierung und Kundenkontakt
Im Falle einer Steuerung über Deckungsbeiträge hat eine Kannibalisierung von Umsätzen einen positiven und gewünschten Effekt. Denn die Umsätze verlagern sich auf den kostengünstigeren Kanal. Dies führt jedoch nicht unmittelbar zu einer Senkung der Vertriebskosten innerhalb des Mehrkanalsystems. Zwar erhöht sich die Kanal-Effizienz und die variablen Stückkosten sinken bei einer Abschlussverlagerung auf das Internet, jedoch bleiben die fixen Kosten bestehen. Zu den fixen Kosten lassen sich beispielsweise die Miet- und Raumkosten für Filialen oder bei erfolgsunabhängigen Arbeitsverträgen auch die Personalkosten für Berater zählen. Sollen Filialschließungen oder Mitarbeiterentlassungen zur Reduzierung der fixen Kosten vermieden werden dann ist es erforderlich, die gewonnene Kanal-Effizienz in den Filialen zu nutzen. Diese sollte in Form von frei gewordener Vertriebszeit in den Filialen zur Verfügung stehen, da Kunden für Abschlüsse verstärkt auf das kostengünstigere Internet gelenkt werden. Die Vertriebszeit in den Filialen ist deshalb für die Akquisition von Neukunden oder durch die Erhöhung der Cross und Up Selling-Quoten für Bestandskunden einzusetzen. Um diesen Anspruch zu erfüllen, sind allerdings einige Voraussetzungen notwendig. Der Berater benötigt für eine situationsgerechte Betreuung einerseits Informationen über den Kunden und andererseits eine ausreichende Anzahl von Kunden-Kontaktpunkten. Beides wird durch die Abschlussverlagerung zumindest für Bestandskunden erschwert. Um diesen Konflikt zu lösen ist es erforderlich, beide Voraussetzungen zu erfüllen und damit einen Ausgleich für den Berater herzustellen. Eine ausreichende Kunden-Kontaktqualität ist über eine Transparenz des Nutzungsverhaltens des Kunden im Internet herzustellen. Diese Transparenz sollte es dem Berater wieder ermöglichen, einen vollständigen Überblick über die Kundenbeziehung zu erhalten. Dies kann durch eine Kunden-Kontakthistorie erreicht 248 Vgl. Hofferbert-Junge, B.; Wiemeyer, M. (2002), S. 7.
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Vermeidung von Channel Konflikten
werden, aus der ersichtlich wird, welche Produkte, Services und/oder Leistungen über das Internet in Anspruch genommen wurden. Im Idealfall findet dort eine intelligente Auswahl der relevanten Informationen über Kundenkontakte aller eingesetzten Kanäle wieder. Dies würde auch eine flexible Vertretung zwischen Beratern innerhalb einer Filiale oder bei räumlichen Veränderungen von Kunden auch die Übergabe zwischen den Filialen erleichtern. Um zusätzliche Frühindikatoren und Hinweise für potentielle Abschlussmöglichkeiten zu liefern, wird zusätzlich empfohlen, eine systemgestützte Bedarfsanalyse umzusetzen. Das Problem von ausreichenden Kunden-Kontaktpunkten ist damit noch nicht gelöst. Durch das Internet können sowohl neue Kontaktpunkte für Neu- als auch für Bestandskunden generiert werden. Aus diesem Grund ist es eine wichtige Aufgabe des Internets, die richtigen Kunden in die Filialen zu lenken.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 67: Kundenüberführung vom Internet zur Filiale. Dies ist dadurch erreichbar, daȕ die Vorteile der Filiale auch im Internet gegenüber dem Kunden deutlich hervorgehoben und kommuniziert werden. Weiterhin ist die Einbindung einer elektronischen Visitenkarte mit allen Kontaktdaten des persönlichen Beraters vorstellbar. Denkbar ist auch, daȕ die Kunden einen direkten Online Zugriff auf den Terminkalender des Betreuers erhalten, um einfach und bequem ein Beratungsgespräch zu vereinbaren. Weitere technische Unterstützungen werden in einem nachfolgenden Kapitel beschrieben. Dort werden auch sich abzeichnende technologische Möglichkeiten skizziert, die eine Kundenüberführung erleichtern können.
Effizienz des Multi Channel-Managements
3.3
259
Free Riding
Unter diesem Konflikt wird verstanden, daȕ Kunden eine Beratung in der Filiale in Anspruch nehmen und anschließend im preisgünstigeren Internet den Abschluss durchführen. Die Folge ist, dass durch das Kundenverhalten keine Kanal-Effizienz erreicht wird. Zur Vermeidung dieser unerwünschten Kannibalisierung sehen wir drei mögliche Alternativen: Erste Alternative: Verzicht auf den Einsatz von kanalspezifischen Preisen und Konditionen. Diese Alternative ist praktisch ohne Relevanz, da hierbei der Anspruch an eine KanalEffizienz nicht erfüllt wird. Zweite Alternative: Einführung von eigenen Beratungsgebühren, die unabhängig vom Abschluss erhoben werden. Diese Entwicklung erwarten, nach einer Studie von Mummert Consulting, über 70% der deutschen Fach- und Führungskräfte in Finanzinstituten. Diese Alternative möchten wir trotzdem nicht empfehlen, da sich die Einführung einer speziellen Beratungskondition in der heutigen Markt- und Wettbewerbssituation nicht realistisch durchsetzen lässt. Die Nichtdurchsetzbarkeit begründen wir insbesondere mit dem starken Verdrängungswettbewerb im deutschen Retail Banking, welcher die Möglichkeiten für Preiserhöhungen gegenüber Neu- und Bestandskunden zunehmend erschwert. Dritte Alternative: Einführung von differenzierten online- und offline-Konditionen unter zwei Prämissen, dass 1. die Produktkomplexität und die Kaufmotivation Berücksichtigung finden und 2. messbare Prozess- und Transaktionskosteneinsparungen bei einer Reduzierung der Konditionen im Internet erzielt werden. Dies wird nachfolgend verdeutlicht. Es wurde aufgezeigt, daȕ sich unterschiedliche Produkte für unterschiedliche Kanäle eignen. Um das Problem des Free-Ridings zu reduzieren, sollten – wie in Abbildung 5 veranschaulicht – ausschließlich Produkte aus Feld I und III mit Online Konditionen versehen werden. Diese Produkte zeichnen sich insbesondere durch eine geringe Produktkomplexität aus. Daher ist davon auszugehen, daȕ eine Beratung bei diesen Produkten meist nicht oder nur eingeschränkt erforderlich ist. Unter dieser Annahme tritt auch kein Channel-Konflikt auf. Sofern Kunden bereit sind, für die Erledigung standardisierter Zahlungsaufträge in einer Filiale einen höheren Preis zu entrichten, dann ist der Anspruch einer Kanal-Effizienz auch erfüllt. Weiterhin sollte abgewogen werden, ob alle Produkte aus Feld I und III mit einem Preisvorteil versehen werden, denn günstigere Konditionen im Internet – abgesehen von bewussten Marketingaktionen – müssen immer erst durch Kosteneinsparungen finanziert werden. Lassen sich diese mittelfristig nicht realistisch erreichen, dann sollten auch keine günstigeren Online Konditionen angeboten werden. Die bisherige Betrachtung zeigt deutlich, wie Konflikte vermieden werden können. Diese Lösungsansätze können tendenziell als reaktive Maßnahmen bezeichnet werden, die insbesondere bei einer Neuverteilung des Absatzvolumens zwischen den Kanälen notwendig wer-
260
Vermeidung von Channel Konflikten
den. Nachfolgend skizzieren wir aktive Maßnahmen, um die Kanal-Effizienz zusätzlich zu erhöhen.
3.4
Aktive Kommunikation und interne Widerstände
Das generelle Ziel der aktiven Kommunikation ist, die Vorteile unterschiedlicher Vertriebskanäle im Unternehmen selbst und auch gegenüber Bankkunden spürbar darzustellen. Dazu gehört unter anderem. auch die Motivation von Kundenberatern zu fördern und zu belohnen. Kanal-Effizienz – Push und Pull: Nicht alle Produkte und alle Leistungen eignen sich für alle Kanäle. Wie können Kunden dennoch über unterschiedliche Informations- und Vertriebskanäle gesteuert werden ohne Verwirrung auszulösen? Im Rahmen von Vertriebsmaßnahmen empfehlen wir, bei der Abschlussaufforderung nach Produkten und Kanälen zu unterscheiden. Als Ansatz bieten sich Push- und Pull-Strategien des klassischen Marketings an. Dabei kann der Nachfragedruck (Pull) des Kunden durch günstigere Online Konditionen und das Angebot eines bequemen Direktabschlusses erhöht werden. Zusätzlich kann der Angebotsdruck (Push) auf den Kunden durch verstärkte persönliche Hinweise des Beraters auf das günstige Online Angebot intensiviert werden. Grundsätzlich sollten bei sämtlichen Vertriebs- und Kommunikationsmaßnahmen das Internet für Pull-Produkte (Feld III) und die Filialen für Push-Produkte (Feld I) ins Zentrum der Verkaufsförderung gerückt werden. Für die Vermarktung bedeutet dies, daȕ in Abhängigkeit vom Produkt der geeignete Vertriebskanal in allen Kommunikationsmassnahmen wahrnehmbar hervorgehoben und Empfehlungen als Handlungsaufforderungen ausgesprochen werden. Die spezifischen Stärken des Kanals müssen dabei für den Kunden glaubhaft und nachvollziehbar beschrieben werden. Kanal-Effizienz – Rolle der Mitarbeiter: Eine Grundvoraussetzung ist, daȕ Mitarbeitern ein Verständnis und eine Akzeptanz für die Neuverteilung des Absatzvolumens erreichen. Die Mitarbeiter müssen verstehen, daȕ das gegenseitige Ergänzen und Unterstützen zwischen der Filiale und dem Internet für alle Beteiligten von Vorteil ist.249 Dazu gehört nicht nur, daȕ Mitarbeiter mit dem Umgang des Kanals Internet vertraut sind, sondern dies im Kundengespräch auch überzeugend erklären können und wollen. Nur auf diesem Weg ist in der Breite sicherzustellen, daȕ auch gewohnte Verhaltensmuster beim Kunden verändert werden. Erleichtert werden kann dies dadurch, daȕ die Beratersysteme in der Filiale und die Online Kundensysteme (=Kanal Internet) zusammengeführt werden.ȱ
249 Vgl. Felsenberg, A. (2004), S. V.
Effizienz des Multi Channel-Managements
261
Daraus ergeben sich mehrere Vorteile: Der Kanal Internet wird für Mitarbeiter zum täglichen Arbeitswerkzeug, was die Vertrautheit deutlich erhöhen sollte. Berater und Kunden verwenden ein identisches Frontend. Der Filialmitarbeiter kann dem Kunden bei Fragen zum Online Banking unmittelbar unterstützen. Beim Kunden und Mitarbeiter nehmen die Vertriebskanäle einheitlich wahr. Unterschiedliche Ergebnisse und Darstellungen zwischen beiden Systemen werden vermieden. Technische Neuerungen werden nur einmal und nicht mehrmals entwickelt. Die Betriebskosten sollten sich reduzieren, da nur noch ein System unterhalten wird. Kanal-Effizienz – Umgang mit Konflikten Trotz der vorgestellten Massnahmen im Multi Channel-Vertrieb zur Vermeidung von KanalKonflikten, ist in dem komplexen System Retail Banking immer damit zu rechnen, daȕ Widerstände auftreten. Entsprechend liegt eine wesentliche aktive Massnahme im Management von Konflikten. Dabei ist es eine entscheidende Erkenntniss, das Kanalkonflikte nicht zwangsläufig nur negative Effeke hervorrufen. Entsprechend geht es im Management von Multi Channel-Systemen weniger darum, Kanalkonflikte gänzlich zu vermeiden, sondern viel mehr um die Erreichung eines optimalen Konfliktniveaus. Positive Konfliktwirkungen
Negative Konfliktwirkungen
bei Mitarbeitern
bei Mitarbeitern
Neue Energien werden freigesetzt
Instabilität und Unsicherheit
Neue Ideen werden gefördert
Koordination wird erschwert
Veränderungen werden möglich
Abnehmende Rationalität
Klarheit in missverständlichen Situationen
Weigerung und Ablehnung
Quelle: Schögel, M. (1997), S. 92. Abbildung 68: Wirkung von Kanalkonflikten. Ein Konfliktmanagement kann generell präventiv oder situativ sein. Im ersten Fall entscheidet die Bank bereits vor Positionierung des Vertriebskanals, ob Konflikte gefördert oder reduziert werden sollen. Ein situatives Konfliktmanagement erfolgt dagegen über die Erstellung von Regeln und Routinen zur erfolgreichen Lösung einzelner Konfliktsituationen.250 Für 250 Vgl. Schögel, M. (1997), S. 96.
262
Channel-Kundensegmentierung
das hier angestrebte integrative Multi Channel-Banking bietet sich ein präventives Konfliktmanagement an, dass über klare und für alle Kanäle akzeptable Regeln und Erfolgskennziffern die Zusammenarbeit zwischen den jeweiligen Absatzwegen fördert.
4.
Channel-Kundensegmentierung
Zuvor wurden die Fragen beantwortet, welches die richtigen Produkte und Leistungen für die richtigen Kanäle sind. Die optimale Zuordnung wurde als Kanal-Effizienz bezeichnet. In diesem Kapitel soll die Frage erörtert werden, welches die "richtigen" Kunden sind. Dies soll nachfolgend als Vertriebseffizienz bezeichnet werden. Bei der Vertriebseffizienz geht es darum, wie die richtigen Kunden mit einer optimalen Kanal-Effizienz in Übereinstimmung gebracht werden können. Was ist unter richtigen Kunden zu verstehen? Sind nicht alle Kunden gleich? Sollten nicht allen Kunden die gleichen Produkte und Leistungen angeboten werden? Die meisten Finanzinstitute haben diese Frage bereits mit einem klaren „nein“ beantwortet. Bereits zu Beginn der 90er Jahre wurde damit begonnen, den Kundenbestand im Retail Banking zu segmentieren. Als Kriterien wurden das Einkommen, das Vermögen oder die Beratungsintensität eines Kunden herangezogen. Das Ergebnis sind Kundensegmente, die häufig in Privat-, Individual- und Geschäftskunden unterteilt werden. Ziel dieser Segmentierung ist es, Kunden mit möglichst ähnlichen Anforderungen und Präferenzen zu bündeln, um die Produkte und Leistungen daran auszurichten. Als Bezugspunkt für die Retail Banking Strategie sind wir auf die Besonderheiten der Kundensegmentierung in einem immer komplexeren werdenden Marktumfeld bereits in Teil V eingegangen. Trotz der zunehmenden Schwierigkeiten bei der Bildung plausibler Segementgruppen, investieren Finanzinstitute seit Jahren zusätzlich eine verbesserte Kunden-Datenbasis. Damit werden vor allem zwei Ziele verfolgt: 1. Geschäftspotential aus Kunden-Kontaktpunkten nutzen, um Neukunden zu gewinnen. 2. Kunden-Kontaktqualität verbessern, um situations- und bedarfsgerecht auf Kundenanforderungen einzugehen und Kundenbindung erhöhen. Beide Ansätze haben die gleiche Absicht: Der Kundenbarwert soll – wie bereits in Kapitel 3 beschrieben – maximiert werden, wobei die begrenzten Vertriebskapazitäten möglichst effizient eingesetzt werden sollen. Mit dem folgenden Beispiel zeigen wir, wie dieser Ansatz im operativen Multi ChannelManagement umgesetzt werden kann. Dazu werden in der folgenden vier-FelderProduktmatrix die Dimensionen Kundenbindung und Kundenbarwert abgetragen.
Effizienz des Multi Channel-Managements
263
Quelle: Eigene Darstellung, anhand fiktiver Werte. Abbildung 69: Segmentierung nach Kunden, Kanälen und Produkten. Die Betrachtung zeigt, daȕ das Kundensegment A den höchsten Kundenbarwert und die höchste Kundenbindung aufweist. Ausgehend davon wird nochmals zwischen den präferierten Kanälen und den Kaufwahrscheinlichkeiten für Produkte im Segment A unterschieden. Bei begrenzten Vertriebskapazitäten sollten zuerst den „richtigen“ Kunden (Segment A) die „richtigen“ Produkte mit den höchsten Kaufwahrscheinlichkeiten (hier: Kredite) über die „richtigen“ Kanäle (hier: Filialen) angeboten werden. Dieser vereinfachte Ansatz über Kundensegmente kann durch einen systemgestützten Data-Mining-Einsatz251 auch auf die Einzelkundenebene übertragen werden und führt so zu einem aussagefähigen One-to-One Marketing. Grundsätzlich ist anzumerken, dass die präferierten Kanäle des Kunden nicht zwin251 Vgl. Salmen, S.-M. (2002), S. 704-708 – Hinweis: Durch den Einsatz von Data Mining lassen sich Erkenntnisse sowie vermutete Zusammenhänge und Beziehungen aus Kundenprofil- und Nutzungsverhaltensdaten generieren. Hierzu zählen beispielsweise Kaufwahrscheinlichkeiten für Produktabschlüsse oder das potentielle Kanalnutzungsverhalten.
264
Channel-Entwicklung
gend mit den „richtigen“ Kanälen des Finanzinstituts übereinstimmen müssen. Eine Harmonisierung der Interessen ist allerdings von entscheidender Bedeutung, wenn die Ausrichtung am Kundenbedarf im Vordergrund steht. Als möglicher Lösungsansatz, um diesen Zielkonflikt zu lösen, kann das bereits vorgestellte Vertriebswege-Portfolio dienen. Wie beschrieben, sollte u.a. durch eine Preisdifferenzierung das Kanalverhalten des Kunden gesteuert werden. Weiterhin sollte der Kundenbarwert auch das zukünftige Abschlusspotential von Kunden berücksichtigen.
5.
Channel-Entwicklung
In diesem Kapitel werden wir vor allem auf die Fragen eingehen, welche technischen Möglichkeiten bestehen, um die Überführung eines im Internet akquirierten Kunden zur Filiale zu erleichtern. Die Klärung dieser Frage ist für das Management der Vertriebskanäle besonders bedeutsam, weil Kunden das Internet immer häufiger für die Informationsbeschaffung einsetzen, jedoch beim entscheidenden Schritt kurz vor dem Abschluss die Beratung durch einen kompetenten Mitarbeiter schätzen. Weiterhin soll beantwortet werden, welche Besonderheiten bei der Hinzunahme eines neuen Kanals im Rahmen eines filialzentrierten Multi ChannelManagements zu beachten sind. Zur kundenbezogenen Weiterentwicklung eines Vertriebskanals gehört die Betrachtung, welche zusätzlichen Neuerungen für Kunden von Bedeutung sind bzw. wie durch eine Erweiterung die Aufmerksamkeit des Kunden auf einen bestimmten Kanal gelenkt werden kann. Dies lässt sich gut am Beispiel einer Kundenüberführung vom Internet zur Filiale verdeutlichen. Für das Multi Channel-Management ist es eine besondere Herausforderung, Kunden die sich im Internet über komplexere Produkte mit geringer Kaufmotivation informieren (siehe Abbildung 5, Feld I) zum Kaufabschluss zu bewegen. Entsprechend einer Untersuchung der Barclays Bank in Zusammenarbeit mit British Telecommunications wurde festgestellt, dass 63% der Befragten sich einen Kauf solcher Finanzprodukte auch via Internet vorstellen könnten, wenn gleichzeitig eine persönliche Beratung möglich wäre. Die Frage ist, wie eine Brücke zwischen dem Internet und dem Kundenbetreuer geschlagen werden kann. Eine mögliche Antwort der Zukunft könnte „Video Banking“ lauten. Dabei wird über einen Software-Client eine Videokonferenzverbindung zwischen dem Kunden im Internet und der Filiale bzw. dem Call Center hergestellt. Der Kunde kann dabei selbst entscheiden, ob die Konferenz mit oder ohne Bild erfolgen soll. Kombiniert werden kann die Funktion des „Application Sharings“. Hierüber werden sowohl dem Kunden als auch dem Berater ermöglicht, daȕ simultan die identischen Seiten im Internet betrachtet und bearbeitet können. Auf diesem Weg lassen sich eine persönliche Beratung und der Service der Filiale auf den heimischen PC transferieren. Eine gemeinsame Ansicht und Bearbeitung der von Dokumenten und Anträgen ist möglich. Allerdings setzen diese Ansätze eine technische Ausstattung beim Kunden voraus,
Effizienz des Multi Channel-Managements
265
die heute noch nicht erwartet werden kann. Dennoch ist mit Blick auf den nach wie vor rasanten technischen Fortschritt zu erwarten, daȕ eine persönliche Beratung im Online Banking bald Realität sein wird. Die zweite Frage ist, was bei Hinzunahme eines neuen Kanals beachtet werden muss. Dabei ist es – wie bereits in Teil III als Risiko des Multi Channel-Vertriebs beschrieben – mittlerweile unstrittig, dass es aufgrund steigender Komplexitätskosten nicht immer sinnvoll ist, möglichst viele Kanäle zu integrieren. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, die richtigen Kanäle auszuwählen. Ausgehend von der Idee der Integration eines neuen Vertriebskanals sollte zur qualifizierten Entscheidungsfindung zunächst auf die strategische Ebene zurückgesprungen werden. Auf Grundlage vorliegender oder zu aktualisierender Erhebungen zur internen und externen Umwelt kann erneut der Portfolio-Ansatz zur strategischen Entscheidungsfindung herangezogen werden. Zur operativen Integration eines weiteren Kanals reicht die strategische Ebene allerdings nicht aus. Neben der Akzeptanz eines neuen Vertriebskanals durch die Mitarbeiter, wofür wir unter der Überschrift der Kanalkonflikte bereits Lösungsmöglichkeiten vorgestellt haben (siehe Kapitel VI), spielt die Integration der Prozesse und IT-Architekturen für das operative Multi Channel-Management eine entscheidende Rolle. Gelingt diese Integrationsleistung nicht, dann kann dies zu negativen Wahrnehmungen beim Kunden und/oder einer geringeren Effizienz des Mehrkanalsystems führen. Die Problemstellung soll exemplarisch am Beispiel des Mobile Bankings, als neuer Support Channel, verdeutlicht werden. Zuerst sollte überprüft werden, welchen Kunden die Anforderungen zuzurechnen sind. Dabei sollte hinterfragt werden, ob es sich – mit Blick auf das in Abbildung 8 dargestellte Portfolio – um Kunden aus dem Segment A oder D handelt. Ist dies nicht ohnehin bekannt, dann kann bei Bestandskunden zum Beispiel eine Kundenbefragung durchgeführt werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine gezielte Marktanalyse durchzuführen und/oder über die Verwendung von Sinus-Milieus auf präferierte Kommunikations- und Vertriebskanäle zu schließen. Zur besseren Erläuterung soll angenommen werden, dass vor allem das Segment A die Kundenanforderungen stellt, die für das Finanzinstitut hohe Bedeutung haben. Damit wird der externe Fit als erfüllt angenommen. Nachfolgend ist dann noch zu beantworten, welche konkreten Aufgaben im Vertriebskanal Mobile Banking abgewickelt werden können. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, ob substitutive oder komplementäre Beziehungen zu anderen Kanälen bestehen. Liegen ausschließlich substitutive Beziehungen vor, dann ist ein Vergleich der Deckungsbeiträge pro Produkt, Service oder Transaktion erforderlich. Aber selbst ein positiver Business Case bedeutet nicht automatisch, daȕ Mobile-Banking als neuer Kanal etabliert werden muss. Die Hinzunahme in ein integriertes Mehrkanalsystem führt automatisch – neben den Kosten der Kanalvermarktung – zu einer Erhöhung der Koordinations- und Komplexitätskosten.252 Es werden nicht nur neue Kunden-Kontaktpunkte, sondern auch neue Schnittstellen zu anderen Kanälen geschaffen. Da in einem integrierten Mehrkanalsystem eine aktive Koordination 252 Vgl. Böing, C.; Huber, A. (2003), S. 80.
266
Channel-Entwicklung
und Steuerung im Vordergrund steht, müssen auch diese zusätzlichen Schnittstellenkosten im Business Case berücksichtigt werden. Erst nach Erfüllung dieser Voraussetzungen ist eine Entscheidung für eine Hinzunahme des UMTS-Bankings vertretbar. Aus diesem Beispiel wird erkennbar, daȕ obwohl der externe Fit wie auch die Kanal- und Vertriebseffizienz erfüllt waren, eventuell keine sinnvolle Entscheidung getroffen worden wäre. Daraus lässt sich eine Schlussfolgerung ziehen. Die bisherigen Betrachtungen zum integrierten MCM sind noch nicht vollständig. Es fehlt die Einbeziehung von Prozessen und der IT-Architektur. Dies soll nachfolgend als Prozess- und IT-Effizienz bezeichnet werden. Dabei geht es um die Frage, welche Prozesse wieder verwendet und automatisiert werden können, unter der Bedingung, dass keine Prozessunterbrechungen zwischen Kanälen entstehen. Als Prozessunterbrechung wird beispielsweise das nochmalige Erfassen von Formulardaten in einer Filiale verstanden, wenn diese vom Kunden über einen anderen Kanal bereits angegeben wurden. Soll der Anspruch an Prozess-Effizienz erfüllt werden, dann stehen diese Daten bereits allen Kanälen in ausgefüllten Formularen zur Verfügung. Dies setzt voraus, daȕ Wiederaufsatzpunkte bestehen und möglichst in Real-Time synchronisiert werden. Als Wiederaufsatzpunkte werden Schnittstellen zwischen Produkten, Leistungen und Kanälen verstanden. Weiterhin ist eine Anforderung der Prozess-Effizienz, dass zentrale Prozesse – wie die Legitimation – mehrfach und einheitlich in verschiedenen Kanälen eingesetzt werden können. Wird dies nicht erfüllt, dann kann dies, abgesehen von zusätzlichen Prozessentwicklungs- und Betriebskosten, zu einer redundanten Datenhaltung und im schlimmsten Fall auch zur Kundenverärgerung führen. Dies kann eintreten, wenn zur Nutzung mehrerer Kanäle eines Finanzinstituts unterschiedliche Passwörter vergeben oder Zugangsdaten abgefragt werden. Entsprechend einer Untersuchung253 der Deutschen Postbank AG können durch Wiederverwendung von Produkten und Leistungen über alle Kanäle die Redundanzen um ca. 80% verringert werden. Die Wiederverwendung von Prozessen oder Aktivitäten innerhalb von Prozessen hat zudem den Vorteil, daȕ die Komplexität im integrierten Mehrkanalsystem erheblich reduziert wird. Daraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ableiten: 1. Im Bereich der Integration besteht ein außerordentlich hohes Potential zur Erhöhung der Prozess-Effizienz. 2. Es existieren kanalspezifische Anforderungen an Prozesse, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Diese können sich u.a. durch unterschiedliche rechtliche Anforderungen ergeben. Beispielsweise sind für alle Verträge, die u.a. über das Internet seit Oktober 2004 abgeschlossen werden, die Anforderungen des Fernabsatzgesetzes (FernAbsG) zu erfüllen. Diese erfordern umfangreiche Informations- und Aufklärungspflichten und können als kanalspezifische Prozessanforderungen betrachtet werden. Nach dieser Herleitung sind die richtigen Prozesse mit Wiederaufsatzpunkten versehen und wieder verwendbar. Weiterhin erlauben diese eine kanalübergreifende Nutzung und lassen Besonderheiten zu. Die Anforderung an die IT-Effizienz in diesem Zusammenhang ist es, durch eine möglichst weitgehende Automatisierung eine 253 Vgl. Euroforum-Konferenz (2004), S. 26.
Effizienz des Multi Channel-Managements
267
hohe Prozess-Effizienz zu erreichen. Die richtige Multi Channel IT-Architektur integriert, wie in der folgenden Abbildung dargestellt, die einzelnen Middleware-Komponenten, um möglichst wenige Schnittstellen und Verbindungen zwischen Front- und Backends zu erzeugen.
Quelle: Eigene Darstellung. Abbildung 70: Integrierte Multi Channel IT-Architektur.
Multi Channel-Strategie und -Management: Zusammenfassung und Ausblick
Die Einführung neuer Kanäle sollte die Erträge erhöhen, Kosten senken, die Kundenbindung stärken und helfen, Neukunden zu gewinnen. Doch die Erwartungen in diese Strategie wurden in den letzten Jahren meist nicht erfüllt. Zum Ende dieses Buches ist ein Aspekt besonders deutlich geworden. Ein erfolgreiches strategisches Management der Vertriebskanäle fällt nicht vom Himmel, sondern erfordert konzentrierte und harte Arbeit. Mit unserem Buch haben wir ein breites Spektrum des in sich komplexen Themenbereiches beleuchtet. Das Erreichen neuer Fitnessgipfel im Retail Banking bedarf in vielen Banken gravierender Veränderungen der heutigen Sicht auf den Markt, einer hohen Vertriebsorientierung der eingebundenen Mitarbeiter, die Erreichung einer hohen Organisationsflexibilität und eines ausgeprägten Verständnisses der heutigen, komplexen Umwelt. Intensiv haben wir die Herausforderungen des modernen Multi Channel-Managements untersucht. Dabei war es für uns immer wesentlich, eine für das praktische Management nutzbare Anwendung der Komplexitätslehre zu finden. Dieses konnte nur gelingen, indem wir uns nicht der laufenden Paradigmendiskussion angeschlossen haben, sondern die vorliegenden Forschungsergebnisse sachlich und fundiert auf die brennenden Fragestellungen des Retail Banking übertragen haben. Gerade für das vielschichtige und ständig von neuen Trends getriebene Management bilden die grundlegenden Erkenntnisse der Komplexitätstheorie einen wertvollen Interpretationsrahmen. Die Auswahl geeigneter Managementinstrumente, aus einer Vielzahl betriebswirtschaftlicher Lehrmeinungen und Ideologien, erfolgte unter dem Wissen der Funktionsweise komplexer und adaptiver Systeme. Auf dieser Grundlage haben wir den Prozess der strategischen Planung hinsichtlich seiner Aussagkraft im heutigen Marktumfeld hinterfragt und weiterentwickelt. Dabei bestätigte sich auch die unbedingte Notwendigkeit einer systematischen Unterordnung des Multi ChannelVertriebs unter die generelle Vertriebsstrategie im Retail Banking. In der Summe haben wir eine in dieser Form noch nicht existierende Synthese neuer Einsichten der Komplexitätsforschung und bewährter Konzepte im strategischen Marketing entwickelt.
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Multi Channel-Strategie und -Management: Zusammenfassung und Ausblick
Für die weitere, praktische Konkretisierung der Vertriebsstrategie stellten wir einen PortfolioAnsatz zur strategischen Auswahl und Ausrichtung der Vertriebswege vor. Das Integrationspotenzial erlaubt die eigenständige Bewertung der für einen erfolgreichen, integrierten Multi Channel-Vertrieb erforderlichen Vernetzung der Absatzwege. Im Bereich des operativen Multi Channel-Managements, haben wir neue Wege aufgezeigt, wie die Effektivität und die Effizienz innerhalb eines Mehrkanalsystems erhöht werden kann. Zunächst wurden eine Erfolgslogik sowie lenkbare Stellhebel und kritische Erfolgsfaktoren für das Multi Channel-Management herausgearbeitet. Bei Betrachtung der Wirkungsketten wurden auch potentielle Effizienzfelder identifiziert. Erkannt haben wir ebenfalls, dass sich die Gestaltung und Steuerung von Mehrkanalsystemen anhand des Grads der Integration unterscheiden lässt. Das Management möglicher Kanalkonflikte bildet den vorläufigen Abschluss unseres Buches. Obwohl wir viele Aspekte eines modernen Multi Channel-Management aufgegriffen und zu einem ganzheitlichen Konzept zusammengefügt haben, können wir damit kein allgemeingültiges Erfolgsrezept für die Positionierung und Auswahl der Vertriebskanäle anbieten. Zu vielschichtig sind die individuellen strategischen Ausgangspositionen und der operative Handlungsspielraum. Dennoch bieten die von uns erarbeiteten Leitlinien und Methoden einen adäquaten Instrumentenkasten, um diese Aufgabe unter den heutigen Rahmenbedingungen erfolgreich durchführen zu können. Im Gegensatz zu den häufig vorzufindenden und sehr allgemeinen gehaltenen Vorschlägen für ein erfolgreiches Multi Channel-Banking, bieten wir der jeweiligen Bank hiermit die Chance, eine individuelle Konzeption auf Grundlage der eigenen Stärken und besonderen Marktbedingungen zu entwickeln. Die steigende Bedeutung des strategischen und operativen Multi Channel-Managements hat sich bestätigt. Ein effizientes Multi Channel-Management wird aus unserer Sicht immer wichtiger und für das Retail Banking schon in wenigen Jahren eine ähnlich hohe Bedeutung einnehmen, wie heute schon das Produktmanagement. Universalbanken haben die Möglichkeit durch Auswahl und Management der „richtigen“ Vertriebswege einen höheren Fitnessgipfel zu erobern!
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das magische Dreieck im Retail Banking. ..................................................... 17 Abbildung 2: 1959 – Der Einstieg in das Privatkundengeschäft........................................... 27 Abbildung 3: Meilensteine der Entwicklung im Retail Banking. ......................................... 28 Abbildung 4: Marktanteile im Retail Banking...................................................................... 30 Abbildung 5: Veränderte Rahmenbedingungen im Bankgeschäft......................................... 31 Abbildung 6: Das Universalbankmodell spaltet sich auf. ..................................................... 36 Abbildung 7: Zahl der Kreditinstitute und ihrer Zweigstellen in Deutschland. .................... 37 Abbildung 8: Ordnungsrahmen für Technologien im Retail Banking-Vetrieb...................... 42 Abbildung 9: Entwicklung der Internet-Zugänge seit 1999.................................................. 44 Abbildung 10: Internetnutzung und Online Banking in Deutschland 2005. ......................... 44 Abbildung 11: Applikationen auf der Bankkarte mit Chip. .................................................. 47 Abbildung 12: Zeiträume, innerhalb derer Technologien 10 Mio. Nutzer erreichen. ........... 49 Abbildung 13: Das Dienstleistungssystem. .......................................................................... 55 Abbildung 14: Die Zeitschere zwischen notwendiger und tatsächlicher Problembewältigung in bürokratischen Organisationen. ......... 58 Abbildung 15: Phasen des Bankmarketing-Managements.................................................... 65 Abbildung 16: Die Strategiebildung als Folge der unternehmerischen Zielbildung. ............ 67 Abbildung 17: Vertriebsstrategien der Finanzdienstleister.................................................... 72 Abbildung 18: Entwicklungsphasen zum Multi Channel-Vertrieb. ...................................... 73 Abbildung 19: Die Kundenwertanalyse................................................................................ 75 Abbildung 20: Das C/D Paradigma der Kundenzufriedenheit.............................................. 77 Abbildung 21: Wirkungskette der Kunden(un-)zufriedenheit............................................... 78 Abbildung 22: Multi Channel-Marketing der Citibank Privatkunden AG. ........................... 80 Abbildung 23: Der integrierte Beratungs- und Kaufprozess im Multi Channel-Vertrieb...... 81
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 24: Die Komplexitätstheorie im Kontext von Evolutions- und Systemtheorie.... 96 Abbildung 25: Die Funktionsweise eines komplexen adaptiven Systems............................. 99 Abbildung 26: Die Komplexitätstheorie als Metatheorie im Strategieprozess.................... 103 Abbildung 27: Emergenz in komplexen adaptiven Systemen. ............................................ 104 Abbildung 28: Verhaltensklassen in dynamischen Netzwerken. ......................................... 107 Abbildung 29: Attraktoren in dynamischen Systemen........................................................ 109 Abbildung 30: Der Lorenz-Attraktor................................................................................... 110 Abbildung 31: Typische Ausprägungen von Fitnesslandschaften. ...................................... 113 Abbildung 32: Erfolgreiche Balance am Rande des Chaos................................................. 119 Abbildung 33: Schritte der Strategieentwicklung unter den erarbeiteten Leitlinien............ 123 Abbildung 34: Formulierung dynamischer Wettbewerbsstrategien..................................... 129 Abbildung 35: Die Standortbestimmung im Strategieprozess............................................. 134 Abbildung 36: Themenbearbeitung in der Struktur des Ikosaeder (rechts). ........................ 138 Abbildung 37: Vorteile und Nutzen der Syntegration im Wissensmanagement. ................. 139 Abbildung 38: Die Teilbetriebsergebnisspanne in der ROI Kennzahlenhierarchie. ............ 144 Abbildung 39: Das Stärken/Schwächen-Profil in Retail Banking-Vertrieb......................... 147 Abbildung 40: Prozes-Landkarte der Führungsprozesse..................................................... 148 Abbildung 41: Stärken/Schwächen-Profil unter Einbeziehung der Prinzipien des Chaosrandes. ................................... 149 Abbildung 42: Auswahl gängiger Methoden zur Analyse der globalen Umwelt. ............... 154 Abbildung 43: Die Szenario-Analyse.................................................................................. 155 Abbildung 44: Erfassung der Makro-Umwelt mittels Vernetzungskarte............................. 156 Abbildung 45: Das 5-Kräfte-Modell zur Marktanalyse im Retail Banking. ....................... 158 Abbildung 46: Übersicht zur Standortanalyse im Retail Banking....................................... 162 Abbildung 47: Der Prozess der Zielbildung im Überblick. ................................................. 167 Abbildung 48: Die Ziel- und Strategieentwicklung auf Basis der Umweltanalyse. ............ 169 Abbildung 49: Fragen zur Bewertung möglicher Vertriebsstrategien. ................................ 172 Abbildung 50: Der Portfolio-Ansatz als Grundlage für die Multi Channel-Strategie. ........ 176 Abbildung 51: Vertriebskanal-Typen im Retail Banking. ................................................... 182
Abbildungsverzeichnis
273
Abbildung 52: Welche Vertriebskanäle spielen zukünftig im Retail Banking eine zentrale Rolle? ...................................................... 183 Abbildung 53: Anzahl der Geschäftsstellen bei filialzentrierten Universalbanken............. 184 Abbildung 54: Entwicklung der Anzahl von Außendienstmitarbeitern seit 2002. .............. 191 Abbildung 55: Potenziale der Vertriebskanäle im Multi Channel-Kaufprozess.................. 198 Abbildung 56: Das BCG-Portfolio im strategischen Marketing. ........................................ 200 Abbildung 57: Erfolgsfaktoren des Vertriebswege-Portfolios im Überblick. ..................... 206 Abbildung 58: Das Scoring-Modell zur Ermittlung der Bewertungsdimension. ................ 214 Abbildung 59: Entscheidungsmatrix zum Vertriebswege-Portfolio.................................... 218 Abbildung 60: Die Entscheidungsmatrix am Beispiel ausgewählter Vertriebswege........... 225 Abbildung 61: Das Portfolio ausgewählter Vertriebswege. ................................................ 225 Abbildung 62: Erfolgslogik des Multi Channel-Managements. ......................................... 236 Abbildung 63: Strategisches Spannungsfeld im Retail Banking......................................... 245 Abbildung 64: Business Engineering Map, erweitert um MCM......................................... 251 Abbildung 65: Eignung von Channel-Leistungen............................................................... 252 Abbildung 66: Eignung von Channel-Produkten................................................................ 254 Abbildung 67: Kundenüberführung vom Internet zur Filiale. ............................................ 258 Abbildung 68: Wirkung von Kanalkonflikten..................................................................... 261 Abbildung 69: Segmentierung nach Kunden, Kanälen und Produkten............................... 263 Abbildung 70: Integrierte Multi Channel IT-Architektur.................................................... 267
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Die Autoren
Markus Keck, Commerzbank AG, Frankfurt am Main, Abteilungsdirektor Trust- & SB-Business. Markus Keck leitet bei der Commerzbank AG die Entwicklung und den Betrieb zentraler Serviceleistungen und innovativer Zugangswege für die Vertriebskanäle Online Banking, SBGeschäft und Filiale. Nach Bankausbildung bei der Cititbank Privatkunden AG und Studium der Wirtschaftswissenschaften in Essen begann Markus Keck seine Berufslaufbahn als Produktmanager im Kartengeschäft und Electronic Banking bei der DG BANK. Nach Abschluss strategischer Entwicklungsprojekte im Bereich E-Commerce und kartenbasierter CRM-Systeme leitete er dort für mehrere Jahre die zentrale Vertriebssteuerung und das Produktmarketing der Electronic Banking-Beratung. [email protected] Marco Hahn, Credit Suisse, Zürich, Senior Projekt Manager Private Banking COO. Seit Oktober 2006 leitet Marco Hahn das Servicemanagement von "FrontNet", dem integrierten und web-basierten Arbeitsplatz der Relationship Manager der Credit Suisse. Der Autor begann seine berufliche Laufbahn bei der Commerzbank AG in Frankfurt im Geschäftsfeld Asset Management und Private Kunden. Nach Abschluss des berufsintegrierten Studiums der BWL an der Hochschule für Bankwirtschaft (HfB) sowie der San Diego State University (SDSU) war er als Portalmanager für den Online Banking-Auftritt für Privat- und Geschäftskunden der Commerzbank AG verantwortlich. Er absolvierte ein berufsbegleitendes Executive MBA HSG in Business Engineering an der Universität St. Gallen und vertiefte seine Kenntnisse im Change- und Innovations-managment bei führenden Technologieunternehmen im Silicon Valley sowie dem Advanced Management Program der Leavy School of Business der Santa Clara University, USA. [email protected]
Stichwortverzeichnis
A Absatzpotenzial..............203, 209 Abschlussquote ......................144 Adaptionsfähigkeit .................208 Agend-based computational economics ........................101 Anreizsystem .........................237 Artificial Life ...........................97 Attraktivitätsniveau................209 Attraktor.................................108 Außendienst ...........................182 Authentifizierung .....................46 B Bankaußendienst ....................190 Bankdienstleistung ...................23 Bankfiliale..............................183 Bankgeheimnis.........................33 Bankkarte .................................46 Bankloyalität ....................32, 192 Bankmarketing.........................64 Benchmarking ........................140 Best practises .........................140 Bindungspotenzial..................211 Boolscher Netzwerke ...............97 C Call Center .............................193 Chancen-/Risiken-Profil.........150 Channel Hopping .....................81 Channel-Fit ............................249 Chaos .......................................95 Chaostheorie ............................94 Chipkarte..................................47 Corporate Identity ..................143
Cost-Income-Ratio .........144, 233 CRM.......................................118 Cross Channel-Effekte .......... 237 Cross Selling ..................191, 233 Customer Relationship Management...................... 82 D Das 5-Kräfte-Modell ............. 158 Datenflut ............................... 151 Dienstleistungskomplexität ..... 55 Differenzierung ..................... 173 Digitale Signatur ..................... 48 Direct Banking ........................ 40 Direktbank....................... 40, 246 Direktvertrieb ........................ 190 Direkte Vertriebswege ............. 73 Diversifikation ...................... 175 Dynamik.................................. 58 Dynamische, nicht lineare Systeme ........ 94 E E-Commerce ........................... 72 Effektivität ............................ 241 Effizienz ................................ 249 Electronic Banking.................. 40 Emergenz .............................. 104 Erfolgslogik........................... 235 Erlöspotenzial........................ 206 Eurocheque-Karte ................... 46 Externe Umwelt .................... 150 F Filiale .............................. 27, 183
286
Filialzentrierte Universalbank............ 27, 246 Finanzportal............................. 41 Fitnessgipfel .......................... 165 Fitnesslandschaft .................. 111, 160, 161, 165 Franchise-Modell................... 187 Frühwarnsystem .................... 154 G Geld ......................................... 24 Genossenschaftsbank............... 29 Girokonto ................................ 26 Großbank................................. 29 H Hybrides Konsumentenverhalten .... 171 I Identifizierung des Kunden ..... 46 Ikosaeder ............................... 138 Imagetransfer......................... 212 Inbound ................................. 194 Innovationszyklus.................... 48 Integrationspotenzial ..... 203, 210 Interdisziplinäre Teams.......... 137 Internet .................................. 192 Internet Banking ...................... 41 Internetvertrieb ................ 73, 192 K Kanal-Effizienz ............. 252, 254 Kanalkonflikt......................... 261 Kanalnutzungsverhalten ........ 242 Kaufprozess ............................. 81 Klumpenrisiko ......................... 35 Kommunikations-Center 193, 195 Komplexe, adaptive Systeme .. 98 Komplexität ............................. 53 Komplexitätskosten ......... 86, 265 Komplexitätstheorie .......... 93, 94 Kompliziertheit........................ 53
Stichwortverzeichnis
Konvergenz der Technologien ............. 196 Kooperationskraft .................. 212 Kostenführerschaft ........ 173, 246 Kostensenkungspotenzial ...... 207 Kreditfabrik ............................. 36 Kritische Erfolgsfaktoren ...... 239 Kundenbindung ....................... 77 Kundenlebenszyklus........ 83, 170 Kundenloyalität ....................... 77 Kundensegmente ................... 170 Kundenwert ............................. 75 Kundenzufriedenheit ............... 76 L Lebenszyklus-Modell ............ 170 Lorenz-Attraktor.................... 109 M Management by Objectives ... 105 Management Informations Systeme ...... 118 Managementmethoden........... 116 Managementtheorien ............... 93 Marketing-Mix ........................ 67 Medialer Vertrieb................... 182 Mengengeschäft....................... 26 Mobile Banking ............... 41, 195 Mobiler Vertrieb ............ 182, 190 Multi Channel-Banking ........... 38 Multi Channel-Plattform........ 211 Multi Channel-Vertrieb...... 38, 63 Multiple-Channel Vertrieb ....... 74 N Near-Banks .............................. 32 Neukundenquote.................... 144 Non-Banks............................... 32 O One-to-One Marketing ............ 82 Online Banking........................ 41 Ordnung zum Nulltarif .... 97, 119
Stichwortverzeichnis
Outbound ...............................194 Outsourcing..............................37 P Phishing ...........................86, 213 Phishing Attacken ....................48 PIN/TAN ..................................46 Portfolio-Theorie....................199 Portfolio-Ansatz.....................175 Privatkundengeschäft ...............26 Produktkomplexität........207, 244 Produktlebenszyklus ..............121 Prognose.................................154 Prozess-Landkarte..................147 Q Q 110......................................186 R Rand des Chaos..............106, 148 Reduktionismus..................93, 95 Regelkreisanalyse ..................156 Regulierungsgrad .............33, 210 Reorganisation .......................150 Ressourcenverfügbarkeit........209 Retail Banking .........................26 S SB-Banking......................41, 188 Schmetterlingseffekt ................94 Scoring-Modelle ....................214 Selbstorganisation ..........104, 164 Selbstorganisierte Kritizität....120 Selektionspotenzial ................211 Seltsame Attraktoren ......110, 121 Service-Zone ..........................189 Skimming.................................47 Soft-marketing .......................186 Sparkasse .................................29 Spezialisierung.........................99 Stabilität .................................114 Stakeholder ..............................57 Standortbestimmung ......133, 136
287
Stärken/Schwächen Profil ..... 146 Stationärer Vertrieb ............... 182 Stellhebel............................... 238 Strategie .........................127, 133 Strategische Ressourcen ...............142, 145 Substitutionsprodukt ............. 159 SWOT- Analyse .................... 134 Syntegration .......................... 138 Szenariotechnik..................... 154 T Technologie............................. 39 Teilbetriebsergebnisspanne ... 144 Telefon Banking .................... 193 TV-Finanzshop ...................... 197 U Umweltanalyse...............137, 142 Universalbank ......................... 29 Unternehmenskultur.............. 143 V Vernetzungskarte................... 157 Vertrauenswirkung ................ 213 Vertriebseffizienz ...........185, 262 Vertriebskapazität.................. 207 Vertriebsorientierung............. 185 Vertriebspolitik........................ 63 Vertriebsqualität .................... 208 Vertriebsstärke................203, 206 Vertriebsstrategie................... 169 Vertriebswegeportfolio.......... 201 Vertriebsziel .......................... 163 Video Banking....................... 197 Virtueller Berater................... 193 W Wertewandel...................... 31, 57 Wirkungsketten ..................... 235 Z Zentralabteilungen ................ 187
288
Ziele....................................... 163 Zielgruppe ............................. 170
Stichwortverzeichnis
Zielsetzung .............................. 66 Zukunftsfähigkeit .................. 210