Migration und Integration: Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts [1 ed.] 9783428551408, 9783428151400

Die Migrationskrise beherrscht seit mehr als einem Jahr weite Teile der politischen Diskussion – in Deutschland wie in E

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Migration und Integration: Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts [1 ed.]
 9783428551408, 9783428151400

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 86

Migration und Integration Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts Herausgegeben von Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

ARND UHLE (Hrsg.)

Migration und Integration

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 86

Migration und Integration Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts

Herausgegeben von

Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-15140-0 (Print) ISBN 978-3-428-55140-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-85140-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Migrationskrise beherrscht seit mehr als einem Jahr weite Teile der politischen Diskussion – in Deutschland wie in Europa. Ohne Zweifel stellt sie eine der größten politischen Herausforderungen der Gegenwart dar. Das lässt sich bereits daran ablesen, dass sich allein im Jahr 2015 nahezu eine Million Menschen auf den Weg in die Bundesrepublik Deutschland gemacht haben.1 Deren Aufnahme verlangt Bund, Ländern und Kommunen nicht nur äußerste organisatorische und finanzielle Anstrengungen ab, sondern wird, jedenfalls wenn die nach Deutschland strömenden Menschen in großer Zahl dauerhaft in Deutschland bleiben sollten, Gesellschaft und Staat verändern – kurz- und mittelfristig, erst recht aber langfristig. Das gilt umso mehr, als der Zustrom auch auf absehbare Zeit hoch bleiben dürfte. Zwar ist die Zahl der nach Deutschland kommenden Ausländer im Jahr 2016 zurückgegangen, doch ob dieser Rückgang von Dauer sein wird, bleibt abzuwarten.2 1 Die Zahl der 2015 in Deutschland registrierten Neuzugänge von Asylsuchenden wurde von der Bundesregierung zu Beginn des Jahres 2016 zunächst mit knapp 1,1 Millionen Personen angegeben. Im Herbst 2016 wurde sie auf 890.000 Personen korrigiert, nachdem Mehrfachmeldungen ausgeschieden worden waren. Siehe hierzu die Pressemitteilung des BMI vom 30. September 2016, verfügbar unter: http://www.bmi. bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/09/asylsuchende-2015. html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 2 Zwischen Januar und September 2016 lag die von der Bundesregierung veröffentlichte Zahl der neu eingereisten Asylsuchenden bei rund 270.000 Personen. Allerdings haben in diesem Zeitraum mehr als 650.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragt. Seinen Grund hat dies nach Auskunft der Bundesregierung in dem Umstand, dass das BAMF 2016 vermehrt förmliche Asylanträge von Asylsuchenden angenommen hat, die bereits zuvor nach Deutschland eingereist waren. Siehe dazu die Pressemitteilung des BMI vom 12. Oktober 2016, verfügbar unter: http:// www.bmi.bund.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/10/asylan traege-september-2016.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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Vorwort

Zweifel hieran erscheinen vor allem deshalb angebracht, weil die Ursachen der Migrationskrise fortbestehen. Diese Ursachen beruhen auf einer Gemengelage, die von unterschiedlichen Faktoren gekennzeichnet ist: von der Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens durch militärische Eingriffe von außen, von Bürger- bzw. Konfessionskriegen, von krisenhaften politischen Situationen in den jeweiligen Heimatländern, von politischer Verfolgung und von prekären wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen – um nur einige der Ursachen zu benennen. So heterogen die Gründe für das Verlassen der Heimat angesichts dieser Umstände auch sind, so sehr gleicht sich freilich die Reaktion der nach Deutschland migrierenden Menschen. Denn sie machen durchweg den grundgesetzlich verbürgten Anspruch auf Asyl geltend. Auf ihn berufen sich folglich nicht nur Menschen, die in ihren Heimatstaaten politisch verfolgt sind, auch nicht nur Menschen, die vor bewaffneten Konflikten wie Bürger- oder Konfessionskriegen fliehen, sondern auch diejenigen, die einer politisch instabilen Lage in ihren Heimatländern oder einer wirtschaftlichen bzw. sozialen Misere und der daraus resultierenden Perspektivlosigkeit zu entkommen suchen. Umstände wie Armut und wirtschaftliche Not oder die allgemeinen Auswirkungen von Krisen oder Kriegen reichen indes, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Judikatur hervorgehoben hat, als solche ebenso wenig für die erfolgreiche Berufung auf das Asylrecht aus wie die Flucht vor politischer Instabilität.3

3 Siehe hierzu BVerfGE 80, 315 (333 ff.) – Tamilen, hier S. 335: An der Voraussetzung für eine erfolgreiche Geltendmachung des Asylrechts „fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatstaat zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen. So hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, daß das Asylrecht nicht jedem, der in seiner Heimat in materieller Not leben muß, die Möglichkeit eröffnen soll, seine Heimat zu verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland seine Lebenssituation zu verbessern“; zuvor so auch bereits BVerfGE 54, 341 (357) – Asylgewährung; BVerfGE 56, 216 (235) – Rechtsschutz im Asylverfahren. Aus dem Schrifttum hierzu etwa Albrecht Randelzhofer, Asylrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),

Vorwort

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Vielmehr unterscheidet das deutsche Recht gerade danach, ob Menschen im Einzelfall als Asylberechtigte, als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, als subsidiär Schutzberechtigte oder aber als Arbeitsmigranten einreisen4 – eine Differenzierung, die in der medialen Berichterstattung ebenso wie in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung erfährt. Auch die staatlichen Reaktionen auf die Herausforderungen der Migrationskrise haben dieser Differenziertheit des Rechts nicht entsprochen. Stattdessen hat der Staat zumindest in mancherlei Hinsicht einen nachlässigen Umgang mit dem Recht an den Tag gelegt und in nicht unerheblichem Umfang auf dessen Durchsetzung verzichtet. Auf diese Weise ist die Migrationskrise zu einer Herausforderung für das Recht, aus der Sicht mancher gar zu einer Krise des Rechtsstaates geworden. Das manifestiert sich nicht nur in der Frage der Grenzsicherung,5 sondern exemplarisch auch in der Frage, ob der Staat seiner primären Pflicht, die innere Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten, ausreichend nachzukommen und das Migrationsgeschehen hinreichend zu kontrollieren vermag. So muss auch besonnene Zeitgenossen nachdenklich stimmen, dass ausweislich einer aus dem Sommer 2016 stammenden Schätzung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge von rund 150.000 der 2015 nach Deutschland eingereisten Personen nach wie vor erkennungs-

Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 153 Rdnr. 28. Anders kann dies im Falle von Bürgerkriegen aussehen, wenn staatlicherseits Maßnahmen ergriffen werden, die über die Wiederherstellung der Friedensordnung hinausgehen, siehe auch dazu BVerfGE 80, 315 (340 f.) – Tamilen; vgl. auch BVerfG (K), DVBl. 1994, S. 203; aus der Literatur Ulrich Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 6. Aufl. 2010, Art. 16a Rdnr. 48. 4 §§ 2–4 AsylG. 5 Hierzu zuletzt Klaus F. Gärditz, Die Ordnungsfunktion der Staatsgrenze: Demokratizität, Liberalität und Territorialität im Kontext, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 103 ff.; Hans-Detlef Horn, Grenzschutz im Migrationsrecht. Es geht nicht nur um innere Sicherheit, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 140 ff.

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Vorwort

dienstliche Informationen fehlen6 oder dass seit Langem bestehende Defizite beim Vollzug der Ausreisepflicht abgelehnter Asylbewerber, die 2015 zu einer Rüge der Europäischen Kommission geführt haben,7 nach wie vor fortbestehen.8 Indessen erfüllt die Migrationskrise nicht nur Fragen der Grenzsicherung, der Kontrolle über das Einreisegeschehen oder der Durchsetzung der Ausreisepflicht mit Aktualität. Vielmehr rücken aufgrund der zunehmenden Zahl sich ebenso dauerhaft wie rechtmäßig in Deutschland aufhaltender Ausländer auch die Bedingungen einer gelingenden inneren Integration in den Vordergrund.9 Auch sie lassen Anfragen an das Recht dringlich werden. So ist etwa zu klären, was der deutsche Staat zur Integration von Ausländern beitragen kann, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage sich integrationsaffirmatives Staatshandeln entfaltet und welche Instrumente dem Staat zur Verfügung stehen.10 Hierher gehört insbesondere die Frage, wie gesellschaftliche Integrationsbemühungen staatlicherseits gefördert und Integrationsanstrengungen der Migranten eingefordert werden können. Schließlich gilt es, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wo die Möglichkeiten des Staates bei der Integration von Ausländern enden. 6 Siehe hierzu: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-06/frankjuergen-weise-bamf-gefluechtete-registrierung (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 7 Siehe hierzu: http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/ fluechtlinge-eu-ruegt-laschen-umgang-mit-abgelehnten-asylbewerbern13826037.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 8 Das gilt insbesondere, soweit diese Defizite nicht auf dem Fehlen von Reisedokumenten, der Täuschung über Identität oder Nationalität u. ä. mehr beruhen, sondern auf einem behördlich bzw. politisch zu verantwortenden mangelnden Willen zu wirksamer Umsetzung einer Ausweisung. 9 Zur Integration als gemeinsame Aufgabe von Gesellschaft und Staat Arnd Uhle, Innere Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 82 Rdnr. 41 ff. 10 Dazu Arnd Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 250 ff.

Vorwort

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Angesichts dieser und weiterer Fragen stellen Migration und Integration den Staat gegenwärtig vor zahlreiche rechtliche Herausforderungen. Diese gelten ebenso dem Vollzug des geltenden Rechts wie der Fortentwicklung der bestehenden Rechtsordnung. Das haben in Deutschland zwischenzeitlich sowohl Gubernative als auch Legislative erkannt. So hat die Bundesregierung exemplarisch für eine deutlich verbesserte Personalausstattung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Sorge getragen, während der Gesetzgeber in kurzer Folge und gleich mehrfach hintereinander zunächst das Asylrecht geändert hat.11 Auf diese Weise ist das Asylverfahren in vielfältiger Weise modifiziert worden – von dem Vorrang der Leistungserbringung durch Sachleistungen in Erstaufnahmeeinrichtungen12 bis zur Möglichkeit, für abgelehnte Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten bzw. für Ausländer, die einen Folge- oder Zweitantrag stellen, Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbote zu verhängen13 und von der Einführung beschleunigter Asylverfahren namentlich für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsländern oder ohne Mitwirkungsbereitschaft14 bis zur Einführung eines 11 Siehe hierzu das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I 2015, S. 1722) und die dazugehörige Verordnung (Asylpaket I), das Gesetz zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken (Datenaustauschverbesserungsgesetz) vom 2. Februar 2016 (BGBl. I 2016, S. 130) und das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I 2016, S. 290, Asylpaket II). Siehe auch das Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 11. März 2016 (BGBl. I 2016, S. 394). Zu den genannten gesetzgeberischen Maßnahmen Winfried Kluth, Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz, ZAR 2015, S. 337; Daniel Thym, Schnellere und strengere Asylverfahren. Die Zukunft des Asylrechts nach dem Beschleunigungsgesetz, NVwZ 2015, S. 1625; ders., Die Auswirkungen des Asylpakets II, NVwZ 2016, S. 409. In diesem Band hierzu Michael Tetzlaff, Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen von Bundesregierung und Europäischer Kommission zur weiteren Ausgestaltung des Ausländer- und Asylrechts, S. 77 ff. 12 Vgl. § 3 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz. 13 Vgl. § 11 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz. 14 Vgl. § 30a Asylgesetz.

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Vorwort

gesetzlichen Verbots, Ausländern nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise den Termin der Abschiebung anzukündigen.15 Indessen hat sich der Gesetzgeber nicht auf die sogenannten Asylpakete I und II beschränkt, sondern im Juli 2016 auch das „Integrationsgesetz“ verabschiedet.16 Dieses bedient sich eines weiten Arsenals unterschiedlichster Handlungsinstrumente, die von Information und Aufklärung über leistungsstaatliches Förderhandeln bis hin zur Statuierung von Integrationspflichten und Sanktionen reichen. Von diesem Instrumentarium wird zum Teil bereits seit Jahren Gebrauch gemacht. So werden etwa die Eingliederungsbemühungen von Ausländern, die rechtmäßig und auf Dauer im Bundesgebiet leben, seit mehr als einem Jahrzehnt durch staatliche Integrationskurse unterstützt.17 In ihnen sind Basis- und Aufbausprachkurse zur Erlangung ausreichender Sprachkenntnisse sowie Orientierungskurse zur Vermittlung von Wissen über die Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands zusammengefasst. Das im August 2016 verkündete Integrationsgesetz sieht auf der einen Seite vor, dieses Inte-

Vgl. § 59 Abs. 1 Satz 8 Aufenthaltsgesetz. Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I 2016, S. 1939). Hierzu Frederik v. Harbou, Das Integrationsgesetz. Meilenstein oder Etikettenschwindel?, NVwZ 2016, S. 1193 ff.; Daniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff.; Johannes Eichenhofer, Integrationsgesetzgebung, ZAR 2016, S. 251 ff. 17 Siehe dazu §§ 43 ff. AufenthG. Näher Christoph Hauschild, Die Integrationskurse des Bundes, ZAR 2005, S. 56 ff.; ferner Arnd Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 250 ff. (259 f.). Erfahrungsbericht aus der Staatspraxis: Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz. Abschlussbericht und Gutachten über Verbesserungspotenziale bei der Umsetzung der Integrationskurse, 2006; Unterrichtung durch die Bundesregierung. Erfahrungsbericht zur Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse nach § 43 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes vom 29. Juni 2007 (BT-Drs. 16/6043); Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chancen, 2007, S. 37 ff. 15 16

Vorwort

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grationskurssystem zu verbessern. So sollen die Integrationskurse u. a. zukünftig schneller beginnen, die Unterrichtseinheiten des Orientierungskurses deutlich aufgestockt und um inhaltliche Schwerpunktsetzungen bei der Wertevermittlung erweitert werden. Auf der anderen Seite sollen die bereits im geltenden Recht enthaltenen Möglichkeiten einer Verpflichtung zur Teilnahme an diesen Integrationskursen ausgeweitet werden.18 Vorgesehen ist ferner, dass für Leistungsberechtigte bei bestimmten Integrationsmaßnahmen zukünftig Mitwirkungspflichten gelten. Hierbei sollen die Ablehnung oder der Abbruch von Integrationsmaßnahmen ohne wichtigen Grund zu Leistungseinschränkungen führen. Zudem soll durch eine Wohnsitzzuweisung eine gleichmäßigere räumliche Verteilung der Betroffenen ermöglicht werden. Sie soll der Integrationssicherung und der Vermeidung sozialer Brennpunkte dienen.19 Um für Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge zusätzliche Integrationsanreize zu schaffen, soll ferner eine unbefristete Niederlassungserlaubnis nur noch dann erteilt werden, wenn der Betreffende seinerseits Integrationsleistungen erbracht hat. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen sollen weitgehend den Bedingungen angeglichen werden, die für andere Ausländer u. a. hinsichtlich Sprache, Ausbildung und Arbeit auch gelten. Mit diesen sowie mit weiteren Eckpunkten orientiert sich das Integrationsgesetz, wie vor ihm bereits das Zuwanderungsgesetz, ersichtlich an den Grundsätzen des Förderns und Forderns.20 18 Dazu Arnd Uhle, Die Pflicht des Staates zur Integration. Die Aufgabe, Ausländer einzugliedern, hat ihre Grundlage im Staatsziel der Vitalität der freiheitlichen Grundordnung, FAZ vom 25. Mai 2016 (Nr. 195), S. 6 (Staat und Recht). In diesem Band dazu Ulrich Weinbrenner, Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen der Bundesregierung zur weiteren Ausgestaltung des Integrationsrechts, S. 137 ff. 19 Hierzu in diesem Band Ulrich Weinbrenner, Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen der Bundesregierung zur weiteren Ausgestaltung des Integrationsrechts, S. 137 ff. (146 ff.). Zu ihr auch Daniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff. (245 f.). 20 Vgl. dazu auch die von der Bundesregierung am 25. Mai 2016 verabschiedete „Meseberger Erklärung zur Integration“, verfügbar unter:

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Vorwort

Zweifelsohne kann der Staat auf dieser Grundlage und unter Rückgriff auf die vorgesehenen Einzelinstrumente eine erfolgreiche Integration unterstützen. Gewährleisten hingegen kann er sie bereits deshalb nicht, weil es für sie nicht zuletzt auf die Integrationsbereitschaft und -fähigkeit des einzelnen Ausländers ankommt.21 Das verdeutlicht die zentrale Bedeutung der allen Integrationsanstrengungen vorgelagerten Frage, wer zu dem Kreis der dauerhaft bleibeberechtigten und daher zu integrierenden Ausländer zählt. Die Beantwortung dieser Frage indes ist nicht Gegenstand des Integrationsgesetzes, sondern Thema zuwanderungsrechtlicher Bestimmungen. Deren Rückwirkungen auf den Erfolg gesellschaftlicher und staatlicher Integrationsbemühungen sollten Anlass sein, die Beheimatung von Ausländern als einen mehrstufigen, gleichwohl integralen Prozess zu verstehen, dessen rechtliche Steuerung sämtliche Etappen – von der Zuwanderung über die Eingliederung bis zu einer eventuellen Einbürgerung – umfassen sowie einem abgestimmten, integrationsfördernden Gesamtkonzept folgen muss. Ob die rechtlichen Rahmenbedingungen im Allgemeinen und die jüngsten gesetzlichen Änderungen im Ausländer-, Asyl- und Integrationsrecht im Besonderen den Herausforderungen der Migrationskrise gerecht werden, ist eine Frage, zu deren Erörterung die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes einladen möchten. Im ersten Teil behandeln die Abhandlungen Fragen des Migrationsrechts im engeren Sinne. Sie gehen hierzu der Migrationskrise zunächst aus der Perspektive des Völkerrechts und hernach aus der Perspektive des europäischen und nationalen Rechts nach. Hierbei erörtern sie u. a. die Fragen, ob aus völker-

https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Pressemitteilungen/BPA/ 2016/05/2016-05-25-meseberger-erklaerung.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). Wie hier auch Daniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff. (241 f.). 21 Dazu Arnd Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 250 ff. (251 f. und 263).

Vorwort

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rechtlicher Sicht ein Recht auf Migration besteht und ob aus europa- und staatsrechtlicher Sicht von der Migrationskrise als einer Krise des Rechts gesprochen werden kann bzw. gesprochen werden muss. Abgerundet werden diese Erkundungsgänge durch einen rechtspolitischen Kommentar zu den Vorstellungen von Bundesregierung und Europäischer Kommission zur weiteren Ausgestaltung des Ausländer- und Asylrechts. Hernach wenden sich die Beiträge im zweiten Abschnitt des vorliegenden Bandes aktuellen Fragen des Integrationsrechts zu. Hierbei setzen sie sich zunächst mit den Zielen und Bedingungen innerer Integration auseinander, sodann mit den dem Staat hierfür zur Verfügung stehenden Instrumenten, namentlich mit Integrationspflichten und Sanktionen. Den Abschluss auch dieses Teils bildet wiederum ein rechtspolitischer Kommentar, in dem die Position der Bundesregierung zur zukünftigen Fortentwicklung des Integrationsrechts dargestellt wird. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind hervorgegangen aus Vorträgen, die am 19. September 2016 in der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft auf deren Generalversammlung in Hildesheim gehalten worden sind. Vielfältigen Dank für die Unterstützung bei der Durchführung der Sektionssitzung wie auch bei der redaktionellen Bearbeitung der nachfolgend veröffentlichten Abhandlungen schulde ich den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften meines Lehrstuhls, namentlich Herrn Ass. iur. Philipp Gutsche, Frau Alexandra Klemm (LL.B.), Frau Anja Wenzel (M.A.) sowie meiner Sekretärin, Frau Katrin Börner. Dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon (LL.M.), danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der „Wissenschaftlichen Abhandlungen zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“ sowie für die einmal mehr hervorragende verlegerische Betreuung. Dresden, im November 2016

Arnd Uhle

Inhaltsverzeichnis Teil A Migration als Herausforderung des Rechts Ein Recht auf Migration? – Die Migrationskrise aus der Perspektive des Völkerrechts Von Privatdozent Dr. Marcel Kau, Konstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Eine Krise des Rechts? – Die Migrationskrise aus der Perspektive des europäischen und des nationalen Rechts Von Professor Dr. Kay Hailbronner, Konstanz . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rechtspolitischer Kommentar: Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen von Bundesregierung und Europäischer Kommission zur weiteren Ausgestaltung des Ausländer- und Asylrechts Von Michael Tetzlaff, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Teil B Integration als Herausforderung des Rechts Ziele und Bedingungen von Integration Von Professor Dr. Winfried Kluth, Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Integrationspflichten und Sanktionen Von Dr. Michael Griesbeck, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Rechtspolitischer Kommentar: Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen der Bundesregierung zur weiteren Ausgestaltung des Integrationsrechts Von Ulrich Weinbrenner, Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A

Migration als Herausforderung des Rechts

Ein Recht auf Migration? – Die Migrationskrise aus der Perspektive des Völkerrechts Von Marcel Kau I.

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

II. Völkerrechtliches Fremdenrecht und die Anfänge des Flüchtlingsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 III. Fremdenrecht und Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Territoriale Souveränität als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 IV. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abwägungsfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Fall Hirsi Jamaa (2012) und das Zurückschieben von Flüchtlingsbooten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unterbringungsstandards nach Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . .

37 39 41 50

V. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

I. Vorbemerkung 1. Sich den Fragen des Flüchtlings- und Migrationsrechts aus der Perspektive des Völkerrechts anzunähern, erscheint im Kontext heutiger Medienwahrnehmung schon beinahe ungewöhnlich. Und das nicht, weil völkerrechtliche Vorschriften hierbei keine Bedeutung hätten. Im Gegenteil. Aber die hierzu in Deutschland – und weiten Teilen Europas – geführten öffentlichen Debatten legen ihr Hauptaugenmerk eher auf subjektive Befindlichkeiten der Betroffenen – seien es die Leiden der Schutzsuchenden oder die Sorgen der Bürger in den Zielstaaten, kurzum: Es geht stärker um menschliche Emotionen als um rechtliche Verbürgungen.1 1 Z. B. Patrick Kingsley, Die Neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise, 2016; Navid Kermani, Einbruch in die Wirk-

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Eine überraschende Ausnahme bildete jüngst ein Beitrag Thilo Sarrazins in der FAZ,2 der grundlegende Änderungen der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einforderte. Die Änderung multilateraler Verträge gestaltet sich jedoch in der Praxis als kompliziertes, langwieriges und bei 145 bzw. bei 47 Konventionsstaaten tatsächlich nur sehr schwer zu realisierendes Unterfangen. Denn hierzu bräuchte es grundsätzlich die Zustimmungen aller Vertragsstaaten,3 die jedoch angesichts der zwischen ihnen bestehenden Interessensgegensätze – ein Teil von ihnen sind potenzielle Herkunftsstaaten ein anderer potenzielle Empfängerstaaten – möglicherweise nur schwer oder gar nicht zu erreichen wären.4 Im Flüchtlings- und Migrationsrecht kommt außerdem lichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, 4. Aufl. 2016; Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen, 2016; Rupert Neudeck, In uns allen steckt ein Flüchtling. Ein Vermächtnis, 3. Aufl. 2016; Anja Reschke (Hrsg.), Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge, 2015; Heribert Prantl, Im Namen der Menschlichkeit. Rettet die Flüchtlinge, 2015; Marina Naprushkina, Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen, 2015; Zygmunt Bauman, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, 2016; Franz Alt, Flüchtling. Jesus, der Dalai Lama und andere Vertriebene. Wie Heimatlose unser Land bereichern, 2016; Paul M. Zulehner, Entängstigt euch! Die Flüchtlinge und das christliche Abendland, 2. Aufl. 2016; Michael Gmelch, Refugees welcome. Eine Herausforderung für Christen, 2016; hierzu auch der Präsident des Bundessozialgerichts, Prof. Dr. Rainer Schlegel, „Jede staatliche Leistung steht unter Vorbehalt“, Interview mit FAZ vom 30. September 2016 (Nr. 299), S. 4 (Politik): „Die Justiz wird die durch die Flüchtlingskrise zu den Gerichten kommenden Problemlagen lösen können [. . .] Unsere Aufgabe wird sein, unsere Urteile, die in diesem Bereich ergehen, möglichst emotionslos darzustellen. Was wir nicht machen sollten, ist zusätzliches Öl ins Feuer gießen, das durch die Flüchtlingskrise in der allgemeinen Diskussion entfacht worden ist.“ 2 Thilo Sarrazin, Das Einfallstor schließen, FAZ vom 22. August 2016 (Nr. 195), S. 10 (Zeitgeschehen). 3 Vgl. Matthias Herdegen, Völkerrecht, 13. Aufl. 2014, § 15 Rdnr. 35; Malcolm N. Shaw, International Law, 7. Aufl. 2014, S. 674; früher schon Georg Dahm, Völkerrecht, Bd. III, 1961, S. 125 f. 4 Hierzu auch Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht. Die Formen des völkerrechtlichen Handelns. Die inhaltliche Ord-

Ein Recht auf Migration?

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noch hinzu, dass das Infragestellen der gegenwärtigen völkerrechtlichen Standards auch eine ungewollte Verkürzung oder Absenkung des Schutzniveaus nach sich ziehen könnte. 2. Aus normativer Perspektive führt an einem völkerrechtlichen Zugang zur Thematik „Migration und Flüchtlingsschutz“ indes kein Weg vorbei.5 Denn kaum ein nationales Rechtsgebiet wird so stark von völkerrechtlichen und sonstigen internationalen Rechtsquellen geprägt und dabei bis in die Ausformung von Detailvorschriften präjudiziert wie das gegenwärtig geltende Flüchtlings- und Migrationsrecht. Vielfach ist das nach außen gar nicht erkennbar, da völkerrechtliche Bestimmungen – häufig wortgleich oder zumindest sinngemäß – ins nationale Flüchtlings- und Migrationsrecht übernommen wurden.6 Neben dem allgemeinen Völkerrecht muss in diesem Zusammenhang insbesondere auf die einschlägigen Vorschriften des europäischen Unionsrechts verwiesen werden.7 Da diese in einem anderen Beitrag eingehend behandelt werden, finden sie hier nur am Rande Erwähnung. 3. Die titelgebende Frage dieses Beitrags richtet sich auf ein mögliches „Recht auf Migration“ und lässt sich erwartungsgenung der internationalen Gemeinschaft, Bd. I/3, 2. Aufl. 2002, S. 661 ff., insbes. 662. 5 Z. B. Otto Depenheuer, Der entgrenzte Staat und die Menschenrechte, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016; Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016; Helge Sodan, Das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016 und Katharina Pabel, Flüchtlingsschutz und europäische Menschenrechtskonvention, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016. 6 Z. B. §§ 56 Abs. 1 Nr. 5, 57 Abs. 1, 60 Abs. 1 und 5 AufenthG. 7 Vgl. etwa zum Dublin-System: Alexander Peukert/Christian Hillgruber/Ulrich Foerste/Holm Putzke, Einreisen lassen oder zurückweisen? Was gebietet das Recht in der Flüchtlingskrise an der deutschen Staatsgrenze?, ZAR 2016, S. 131 ff.

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mäß nur differenziert beantworten. Bricht man die Fragestellung des Titels zunächst herunter, so besteht sie aus zwei Elementen: (1) Zum einen kann mit dem Begriff des „Rechts auf etwas“ nur ein subjektiv-individuelles Recht gemeint sein, das zur Not auch gegen den Willen staatlicher Verwaltungsstellen in Anspruch genommen und gerichtlich durchgesetzt werden kann.8 Ein solches Recht stellt also nicht bloß eine politische Gnade dar und erschöpft sich auch nicht in einer jederzeit frei widerruflichen Aufenthaltslegitimation. (2) Was ist nun im Weiteren unter „Migration“ zu verstehen? Man ist geneigt – im Hinblick auf bereits zurückliegende Diskurse – von einem Terminus zu sprechen, der zunächst biologisch-wissenschaftlich konnotiert war,9 dann längere Zeit als politisch geprägter „Kampfbegriff“ 10 in Zusammenhang mit der 8 Vgl. Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der 76. Erg.-Lfg. (Mai 2016), Art. 20 Rdnr. 82 ff.; hierzu auch: Helge Sodan, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung. Großkommentar, 4. Aufl. 2014, § 42 Rdnr. 386 ff.; Michael Happ, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung. Kommentar, 14. Aufl. 2014, § 42 Rdnr. 82 ff. 9 So lag der begriffliche Schwerpunkt ursprünglich eher im Biologischen, vgl. Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1986, S. 666: „Migration. Wanderung (bes. der Zugvögel); Wirtswechsel [. . .], Wanderung von Erdöl oder Erdgas aus dem sie bildenden Muttergestein [. . .]“; Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden, 1978, Bd. IV, Kam-N, S. 1782: „Migration [. . .] 1.a) (Biol., Soziol.): Wanderung od. Bewegung bestimmter Gruppen von Tieren od. Menschen, die mit einem Wechsel der Umwelt verbunden ist; b) (Soziol.) Wechsel des Wohnsitzes. 2. (Geol.) das Wandern bestimmter Stoffe, bes. von Erdöl, in porösem od. klüftigem Gestein; [. . .]“. 10 Seinem Ursprung nach kommt der Begriff „Migration“ in erster Linie aus der Wissenschaft. So wurde zunächst „migration“ vor allem im englisch- und französischsprachigen Schrifttum sowie in biologischen Veröffentlichungen verwendet (vgl. Julius Isaac, Economics of Migration, 1947; Evert W. Hofstee, Some remarks on selective migration, 1952; Leo H. Klaassen/Paul Drewe, Migration Policy in Europe. A comparative Study, 1973; biologisch z. B. Cecil G. Johnson, Migration and Dispersal of Insects by Flight, 1969). Ab etwa 1970 tritt der Begriff im Deutschen vor allem in soziologischen Zusammenhängen auf (z. B. Hans-Joachim Hoff-

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Debatte um Deutschland „als Einwanderungsland“11 verwendet wurde. Der Begriff der „Migration“ hat sich aber seit einigen Jahren in den „Mainstream“ öffentlicher und rechtlicher Diskussionen bewegt, wie das Oberthema der in dieser Sitzung der Sektion Rechts- und Staatswissenschaften behandelten Beiträge eindrucksvoll unter Beweis stellt. Da „Migration“ nach ihrem lateinischen Ursprung „Wanderung“ heißt,12 suggeriert allein die Verwendung dieses Begriffs mann-Nowotny, Migration: ein Beitrag zu einer soziologischen Erklärung, 1970), bleibt aber fürs Erste auf vereinzelte wissenschaftliche Betrachtungen und Darstellungen von nun auch menschlichen Wanderungsbewegungen beschränkt (z. B. Hartmut Elsenhans [Hrsg.], Migration und Wirtschaftsentwicklung, 1978; Helga Kleinhans, Soziologische Erklärungen zum Verhalten von Arbeitsmigranten, 1980). Seit den 1980er Jahren lässt sich eine häufigere Verwendung im Hinblick auf eine breitere migrationspolitische und migrationssoziologische Debatte über das Leben von und den Umgang mit den sogenannte „Gastarbeitern“ in Deutschland und eine dadurch hervorgerufene wissenschaftliche Befassung erkennen (z. B. Benno Asseburg/Sonia Hurtado Artozón, Zentrale Probleme der Migration. Entwicklung eines methodischen Zugangs in Gesprächen mit portugiesischen Familien, 1983; Ludger Diekamp, Ein Zugang zum Thema Migration. Mein Lern- und Forschungsprozess bei türkischen Familien, 1983; Angelika Busch, Migration und psychische Belastung. Eine Studie am Beispiel von Sizilianerinnen in Köln, 1983; Babara Wolbert, Migrationsbewältigung. Orientierung und Strategien. Biographisch-interpretative Fallstudien über „Heirats-Migration“ dreier Türkinnen, 1984; Anette Chmielorz, Der Europarat und die Migration in Europa. Pädagogische Diskussion in seinen Gremien und die Entwicklung von Konzepten für den Unterricht von Migrantenkindern, 1985). 11 Vgl. zunächst noch mit Fragezeichen: Friedrich Heckmann, Die Bundesrepublik, ein Einwanderungsland? Zur Soziologie der Gastarbeiterbevölkerung als Einwandererminorität, 1981; Gerhard Schult (Hrsg.), Einwanderungsland Bundesrepublik Deutschland?, 1982; Klaus J. Bade, Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880– 1980, 1983. Später dann vielfach als Feststellung formuliert: Harald Schumacher, Einwanderungsland BRD, 1992; Ulrike Schöneberg, Gestern Gastarbeiter, morgen Minderheit. Zur sozialen Integration von Einwanderern in einem „unerklärten“ Einwanderungsland, 1993; Georg Auernheimer, Einwanderungsland Deutschland, 1993; Ursula Mehrländer/ Günther Schultze (Hrsg.), Einwanderungsland Deutschland. Neue Wege nachhaltiger Integration, 2001. 12 Duden, Fremdwörterbuch, 1960, S. 402.

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eine Rechtslage, die zumindest gegenwärtig im Völkerrecht nur in Ansätzen existiert, das internationale Rechtsystem aber nicht prägt. Denn im Begriff „Migration“ schwingt etwas geradezu Natürliches mit, das auf die zeitgemäße, individuelle Mobilität von Personen verweist.13 Menschen wandern oder – wie es entsprechend heißt – „migrieren“ dabei von einem Ort zum andern, ungehindert von Grenzen und Kontrollen, ihren persönlichen Zielen folgend, für sich und ihre Angehörigen nach einem Aufenthalt suchend, der eine sichere Zukunft verheißt. Ein „globales Freizügigkeitsrecht“ scheint darin konzeptionell und inhaltlich auf.14 Wie weit davon de lege lata im Völkerrecht und nach sonstigem internationalen Recht gesprochen werden kann, wird sich im Folgenden erweisen. II. Völkerrechtliches Fremdenrecht und die Anfänge des Flüchtlingsrechts Der durchaus klassische Terminus vom „völkerrechtlichen Fremdenrecht“ fällt semantisch gegenüber den modernen Narrativen von „Migration“, „Integration“ und „Willkommenskultur“ etwas ab. Dazu trägt sicher auch bei, dass mit dem Begriff „Fremdenrecht“ eine kaum veränderliche Kategorisierung in „Fremde“ und „Einheimische“, in „In- und Ausländer“ verbunden zu sein scheint, die nur wenig Durchlässigkeit verspricht. Unter dem „völkerrechtlichen Fremdenrecht“ werden im Grundsatz alle internationalen Regelungen über die Rechtsstel13 Z. B. Philipp Eigenmann/Thomas Geisen/Tobias Studer (Hrsg.), Migration und Minderheiten in der Demokratie. Politische Formen und soziale Grundlagen von Partizipation, 2016; Magdalena Pöschl, Migration und Mobilität. Gutachten, 2015; Maria Schwertl, Faktor Migration. Projekte, Diskurse und Subjektivierungen des Hypes um Migration und Entwicklung, 2015; Ilker Ataç/Michael Fanizadeh/Albert Kraler/Wolfram Manzenreiter (Hrsg.), Migration und Entwicklung. Neue Perspektiven, 2014; Yeliz Yildirim-Krannig, Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel, 2014. 14 Z. B. zu einem „moralischen globalen Freizügigkeitsrecht“: Paul Tiedemann, Flüchtlingsrecht. Die materiellen und verfahrensrechtlichen Grundlagen, 2014, S. 161 ff.

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lung von Ausländern verstanden, also diejenigen Personen, die nicht die Staatsangehörigkeit ihres Aufenthaltsstaates besitzen.15 Noch zu Beginn der 1920er Jahre ging die deutsche Rechtslehre davon aus, dass es grundsätzlich keine völkerrechtlichen Standards für die „Rechtslage der Ausländer“ gäbe16 und ihre Behandlung daher weitgehend in das Belieben des jeweiligen Wohnsitzstaates gestellt war. Drängende flüchtlings- und migrationsrechtliche Fragen sollten diese Anschauung jedoch rasch erschüttern. Angesichts der gegenwärtigen „Flüchtlingskrise“ entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass gerade das Flüchtlingsrecht bereits nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche völkerrechtliche Regelungen und Regelungsversuche hervorbrachte,17 15 Vgl. Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht. Der Staat und andere Völkerrechtssubjekte. Räume unter internationaler Verwaltung, Bd. I/2, 2. Aufl. 2002, S. 104 ff.; Matthias Herdegen, Völkerrecht, 13. Aufl. 2014, § 27 Rdnr. 2; noch davon ausgehend, dass keine „Fürsorgepflichten für die Ausländer“ bestünden: Paul Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrecht, Bd. I, 1948, S. 314 ff., insbes. 318. 16 Karl Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 1 mit Verweis auf Ernst Isay, Das Deutsche Fremdenrecht. Ausländer und Polizei, 1923, S. 21 ff. 17 Eingehend hierzu Evan J. Criddle/Evan Fox-Decent, Fiduciaries of Humanity. How International Law Constitutes Authority, 2016, S. 246 ff.; z. B. Arrangement relating to the issue of identity certificates to Russian and Armenian refugees, 12. Mai 1926, 84 LTNS Nr. 2004; vgl. hierzu Guy S. Goodwin-Gill/Jane McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl. 2007, S. 16; Ulrike Davy, Asyl und internationales Flüchtlingsrecht. Völkerrechtliche Bindung staatlicher Schutzgewährung, dargestellt am österreichischen Recht, 1996, S. 18 ff.; Otto Kimminich, Der Internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 217 ff. und 239 ff. Im Weiteren Convention relating to the International Status of Refugees, 28. Oktober 1933, 159 LNTS Nr. 3663, in Kraft getreten am 13. Juni 1935; hierzu James C. Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, S. 87 ff.; Provisional Arrangement concerning the Status of Refugees coming from Germany, 4. Juli 1936, 3952 LNTS Nr. 77; vgl. John Hope Simpson, The Refugee Problem, 1939, S. 227 ff.; Norman Bentwich, The League of Nations and Refugees, The British Year Book of International Law 16 (1935), S. 114 ff.; Robert Y. Jennings, Some International Law Aspects of the Refugee Question, The British Year Book of International Law 20 (1939), S. 99 ff. (100); Henri Werner,

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als dies in vielen anderen Bereichen des internationalen Rechts noch gar nicht denkbar war. Ursächlich waren hierfür zunächst die russische Oktoberrevolution und die von der Sowjetunion in großer Zahl vorgenommenen Ausbürgerungen,18 später kamen die Vertreibung von Armeniern aus der Türkei19 und nicht zuletzt die politische und rassische Verfolgung in Deutschland20 und Italien21 hinzu. Insgesamt zeigte sich damals aber bereits ein Phänomen, das auch die Gegenwart prägt: Unter dem unmittelbaren Eindruck von Flüchtlingsströmen fällt die Vereinbarung neuer, den aktuellen Herausforderungen angepasster Vorschriften den Beteiligten äußerst schwer. So stellten auch die Verhandlungen über internationale Flüchtlingsabkommen in den 1920er und 1930er Jahren keine Glanzstücke internationaler Kooperation und völ-

Quelques aspects juridiques du problème des réfugiés, ZSR 1944, S. 347 ff. Schließlich auch Convention concerning the Status of Refugees coming from Germany, 10. Februar 1938, 191 LNTS Nr. 4461; die Konvention wurde ein Jahr später auf Flüchtlinge aus Österreich ausgedehnt, Additional Protocol to the Provisional Arrangement and to the Convention concerning the Status of Refugees coming from Germany, 14. September 1939, 198 LNTS Nr. 4634. 18 Aus damaliger Zeit z. B. Hermann Klibanski, Die Gesetzgebung der Bolschewiki, 1920; Hans von Rimscha, Der Russische Bürgerkrieg und die russische Emigration. 1917–1921, 1924, S. 49 ff.; Karl Mannzen, Sowjetunion und Völkerrecht. Die Fragen der Anerkennung der Schulden, der Auslandspropaganda und des Außenhandelsmonopols, 1932, S. 9 f. 19 Hierzu nur aus jüngster Zeit: Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, 2015; Sibylle Thelen, Die Armenierfrage in der Türkei, 2. Aufl. 2015; Michael Hesemann, Völkermord an den Armeniern, 2014; Mihran Dabag/Kristin Platt, Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich, 2015. 20 Aus dem umfangreichen Schrifttum z. B. Götz Aly u. a. (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland. 1933–1945, 16 Bde., 2008–2016. 21 Vgl. Carlo Moos, Ausgrenzung, Internierung, Deportation. Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938–1945), 2004; Meir Michaelis, Mussolini and the Jews. German-Italian Relations and the Jewish Question in Italy 1922–1945, 1978; zuletzt auch Hans Woller, Mussolini. Der erste Faschist. Eine Biografie, 2016, S. 149 ff.

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kerrechtlicher Gestaltungskraft dar.22 Parallelen zur Gegenwart drängen sich auf. Indessen belastet der allzu leichtfertige Vergleich zwischen damaliger Verfolgung und heutiger Flüchtlingskrise das Finden tragfähiger Lösungen für die Gegenwart. Ein zu groß geratener moralischer Überhang erschwert letztlich die Vereinbarung praktischer, rechtlicher Vereinbarungen ebenso wie realitätsfernes Beharren auf dem status quo. III. Fremdenrecht und Nachkriegszeit Eine grundlegende Wende des völkerrechtlichen Fremdenrechts und die zukunftsweisende Gestaltung eines internationalen Flüchtlingsrechts gingen nicht zufällig mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 einher.23 Angesichts einer erdrückend großen Anzahl von zeitweise Evakuierten, von Kriegsflüchtlingen, entlassenen Kriegsgefangenen, von ganz allgemein Entwurzelten und sogannte „Displaced Persons“ (DP’s) als Leidtragende vor allem des NS-Regimes lag es auf der Hand, dass völkervertragliche Maßnahmen für Rechtsklarheit sorgen mussten, um auch in dieser bedrängten Lage wenigstens Mindestschutzstandards zu gewährleisten.24 1. Territoriale Souveränität als Ausgangspunkt (1) Wie sich bald zeigen sollte, führten die völkerrechtlichen Positivierungen zu abgestuften und unterschiedlichen Rechtspositionen abhängig davon, worauf die Staaten sich beim Ab-

22 Zu den damaligen Grundlagen: Paul Guggenheim, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, 1948, S. 294 ff. 23 Indessen hatte sich diese Wende bereits in den 1930er Jahren – möglicherweise unter Einfluss des neu entstehenden Flüchtlingsrechts – abgezeichnet, vgl. Alfred Verdross, Völkerrecht, 1937, S. 216 ff. 24 Aus dem damaligen Zeitkontext: Guido Poulin, Le problème des réfugiés, Schweizerisches Jahrbuch für Internationales Recht 1946, S. 95 ff. (175 ff.); Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (Hrsg.), Flüchtlinge . . . wohin? Bericht über die Tagung für Rück- und Weiterwanderungsfragen an der Flüchtlings-Konferenz in Montreux, 1945.

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schluss völkerrechtlicher Verträgen zu einigen bereit waren. Wie bei anderen Materien des Völkervertragsrechts, nahmen Staaten verbindliche Verpflichtungen auch im Bereich Migration und Flüchtlingsschutz nur auf sich, wenn damit praktische Vorteile verbunden waren oder wenn – wie im Falle Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg – internationaler Druck ausgeübt wurde und ein dringender Wunsch nach Rückkehr in den Kreis zivilisierter Völker25 bestand.26 (2) Ein Bereich, in dem beispielsweise ein völkerrechtlich gewährleistetes „Recht auf Migration“ schon seit längerem anerkannt wurde, ist das subjektive Recht auf Ausreise. Danach hat jeder Mensch das Recht, jedes Land, in dem er sich gerade be-

25 Vgl. Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Möllers/Jestaedt/Schönberger/Lepsius, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 47. 26 Die Feststellung der von Staaten in völkerrechtlichen Verträgen tatsächlich übernommenen rechtlichen Verpflichtungen fällt vor diesem Hintergrund vor allem dann schwer, wenn den Staaten eine Bereitschaft zur Übernahme weitreichender – zumeist idealistischer – Zielsetzungen unterstellt wird, ohne dass sich aus den jeweiligen Vertragswerken oder den dazugehörigen Travaux Préparatoire tatsächliche Hinweise hierauf entnehmen ließen. So ist insbesondere die extensive, häufig auch über den Wortlaut konkreter Bestimmungen hinausgehende, Auslegung vertraglicher Klauseln oder Regelungen problematisch, wenn im Kontext von Vertragsunterzeichnung und Ratifikation keine oder nur vereinzelte Hinweise dafür erkennbar sind, dass Staaten ohne Not oder eigenen Vorteil sich zu äußerst ambitionierten Zusagen bereitgefunden haben, vgl. Ulf Linderfalk, On the Interpretation of Treaties. The Modern International Law as Expressed in the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2007, S. 280 ff.; James Crawford, Chance, Order, Change: The Course of International Law. General Course on Public International Law, 2014, S. 276 ff.; James Crawford, Brownlie’s Principles of Public International Law, 8. Aufl. 2012, S. 379; mit dynamischem Ansatz: George Letsas, A theory of interpretation of the European Convention on Human Rights, 2007, S. 65 ff. und 79; im Hinblick auf den EuGH: Gerard Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice, 2012; Gunnar Beck, The legal reasoning of the Court of Justice of the EU, 2012; Marie-Louise Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit im Völkervertragsrecht – von der Ausarbeitung zur Auslegung, 2011; Martin Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, 2010.

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findet, einschließlich des eigenen Heimatlandes zu verlassen.27 Niedergelegt ist dieses Recht u. a. in Art. 12 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und in Art. 2 Abs. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK28 sowie in weiteren regionalen menschenrechtlichen Gewährleistungen.29 Gerade in Zeiten des Kalten Krieges,30 als durch Europa der „Eiserne Vorhang“ verlief und Berlin durch die Mauer geteilt war, lag in der menschenrechtlichen Anerkennung eines Rechts auf Ausreise ein sehr wesentlicher Unterschied im Rechtsverständnis der Staaten des Westens gegenüber dem der Staaten des Ostblocks. Entsprechend ist dieser Teil eines „Rechts auf Migration“ im Sinne eines Rechts auf Auswanderung nach Ende des Ost-West-Konflikts weitgehend universell anerkannt worden. (3) Anders verhält es sich im Grundsatz mit dem „Recht auf Einreise und Aufenthalt von Ausländern“: Hierüber dürfen die Staaten kraft ihrer territorialen Souveränität grundsätzlich frei entscheiden.31 Allerdings ergeben sich hierbei Einschränkungen durch Verpflichtungen, denen sich ein Land durch Bestimmungen des eigenen Verfassungsrechts sowie insbesondere aufgrund des Völker- und Europarechts unterworfen hat. Das bedeutet, dass ein Staat aufgrund der ihm eigenen Souveränitätsrechte Re27 Vgl. Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz. Der Schutz des Individuums auf globaler und regionaler Ebene, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1434. 28 Vgl. Thomas Giegerich, Freizügigkeit, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 26 Rdnr. 50 ff. 29 Z. B. Art. 22 Abs. 2 AMRK: „Every person has the right to leave any country freely, including his own“; Art. 12 Abs. 2 Banjul-Charta; Art. 27 Abs. 1 ArabCMR (2004). 30 Vgl. Richard H. Immerman/Petra Goedde (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Cold War, 2013; Marc Trachtenberg, The Cold War and After. History, Theory, and the Logic of International Politics, 2012. 31 Z. B. Walter Kälin/Jörg Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz. Der Schutz des Individuums auf globaler und regionaler Ebene, 3. Aufl. 2013, Rdnr. 1437; Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 157 ff. (159).

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gelungsgewalt über „Einreise und Aufenthalt von Ausländern“ nur insoweit frei ausüben kann, als er nicht durch die in völkerrechtlichen Verträgen erfolgte Übertragung von Hoheitsrechten oder die sonstige Einräumung individueller Rechtspositionen hierauf verzichtet hat.32 Letzteres hat die Bundesrepublik Deutschland, wie zahlreiche andere Staaten auch, bis in die Gegenwart hinein vielfach getan; etwa indem sie Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention,33 der Europäischen Menschenrechtskonvention34 und ihrer Protokolle sowie des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte35 geworden ist. Regelungstechnisch betrachtet wirken die völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge jedoch lediglich enumerativ, so dass alle nicht übertragenen Hoheitsbefugnisse in den Bereichen „Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Ausländern“ theoretisch beim jeweiligen Staat verbleiben. Allerdings ginge es an den Realitäten vorbei, angesichts der Vielzahl von Kompetenzübertragungen von umfassenden staatlichen Befugnissen auszugehen. Dennoch zeigen sich angesichts nicht durchgängiger internatio32 Vgl. Christian Calliess, Staatsrecht III, 2014, 2. Teil B Rdnr. 61; Florian Becker, Gebiets- und Personalhoheit des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. XI, 3. Aufl. 2013, § 230 Rdnr. 57; zuvor schon grundlegend: Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit. Ein Diskussionsbeitrag zu einer Frage der Staatstheorie sowie des geltenden deutschen Staatsrechts, 1964, S. 4 ff. und 35 ff. 33 Gesetz betreffend das Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 1. September 1953 (BGBl. II 1953, S. 559); Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 25. Mai 1954 (BGBl. II 1954, S. 619); hierzu z. B. Andreas Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011; Guy S. Goodwin-Gill/Jane McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl. 2007, S. 201 ff.; Otto Kimminich, Der Internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 285 ff. 34 Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952 (BGBl. II 1952, S. 685), in Kraft getreten 1953; z. B. Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, S. 189 ff. 35 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (BGBl. II 1973, S. 1534).

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nalrechtlicher Normierung in den Bereichen „Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Ausländern“ durchaus noch substanzielle nationale Kompetenzen. (4) Rechtfragen der Einreise unterliegen differenzierten völkerrechtlichen Regelungen: Zunächst ist es im allgemeinen Völkerrecht anerkannt, dass die Staatsangehörigen eines Staates das jederzeitige Recht auf Einreise in denselben besitzen.36 Dies resultiert sachlich bereits aus der umfassenden Verantwortung des jeweiligen Heimatstaates, stützt sich darüber hinaus aber auch auf verschiedene (völker)rechtliche Gewährleistungen ab.37 Dass Staatsangehörige ein Recht auf Heimkehr in ihren eigenen Heimatstaat besitzen, erscheint auf den ersten Blick nicht sonderlich bahnbrechend. Mittlerweile zeigen sich jedoch Ansätze, dass etwa auf Grundlage von Art. 12 Abs. 4 IPbpR oder von Art. 5 lit. d (ii) Anti-Diskriminerungskonvention in Einzelfällen auch Nicht-Staatsangehörige, die in einem bestimmten Staat dauerhaft ansässig sind, über ein solches Einreise-Recht verfügen sollen.38 Auch wenn diese Auffassung nicht unbestritten geblieben ist, da zum Teil davon ausgegangen wird, dass sie unter dem Vorbehalt staatlicher Souveränität steht,39 zeigt sich hierin doch eine behutsame Ablösung des Einreiserechts von der Staatsangehörigkeit des jeweiligen Zielstaates. Für die Betroffenen der

36 Eckart Klein, Zum Recht der Einreise in das „eigene Land“, in: Jochum/Fritzemeyer/Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers. Festschrift für Kay Hailbronner, 2013, S. 313 ff. 37 Z. B. Art. 12 Abs. 4 IPbpR, Art. 3 Abs. 2 Protokoll Nr. 4 zur EMRK, Art. 22 Abs. 5 AMRK, Art. 12 Abs. 2 Banjul-Charta und Art. 5 lit. d (ii) CERD. 38 Vgl. Thomas Giegerich, Freizügigkeit, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2013, Kap. 26 Rdnr. 12 ff.; eingehend Eckart Klein, Zum Recht der Einreise in das „eigene Land“, in: Jochum/Fritzemeyer/Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers. Festschrift für Kay Hailbronner, 2013, S. 313 ff. (315 ff.) bei dem es um den Begriff „own country“ geht. 39 Z. B. Kay Hailbronner, Freizügigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Bd. VII, 3. Aufl. 2009, § 152 Rdnr. 20 und 49; BVerwG vom 2. September 2009, NVwZ 2009, S. 389 ff. (391 f.).

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Flüchtlingskrise hilft dieser Ansatz jedoch nicht weiter, da es in ihren Fällen üblicherweise nicht um die Rückkehr von Personen in das Land ihres dauerhaften Aufenthalts geht. Die im Flüchtlings- und Migrationsrecht der Gegenwart relevante Frage richtet sich vielmehr auf ein „Recht auf Migration“ für fremde Staatsangehörige, die keine dauerhafte vorherige Ansässigkeit im fraglichen Staat geltend machen können. Zwar gibt es – insbesondere aus der Vergangenheit – zahlreiche Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge (sogenannte FTN-Treaties), die staatliche Aufnahmeverpflichtungen begründeten. Auch das Unionsrecht kennt ein Einreise- und Aufenthaltsrecht für Unionsbürger (Art. 45 Grundrechte-Charta, Art. 21 AEUV).40 Hierauf können sich Schutzsuchende etwa aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan jedoch typischerweise nicht berufen. Fraglich ist daher, was das internationale Flüchtlingsrecht – namentlich in Form der GFK und der EMRK – im Hinblick auf Einreise und Aufenthalt fremder Staatsangehöriger vorsieht. 2. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) Im Hinblick auf Flüchtlinge und die ihnen eingeräumten Rechte fasste zunächst die GFK die bis zum Jahr 1951 vollzogene Rechtsentwicklung zusammen und gewann damit für die über ganz Europa verstreuten Schutzsuchenden eine herausragende Bedeutung.41 Als großen Fortschritt sah die GFK unter Rückgriff auf die völkerrechtlichen Abkommen und Regelungsversuche der 1920er und 1930er Jahre in Art. 1 eine Definition des Begriffs „Flüchtling“ vor und statuierte in Verbindung dazu in Art. 33 Abs. 1 das sogenannte Refoulement-Verbot. Allerdings ist hervorzuheben, dass die GFK keinen individuellen 40 Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 157 ff. (160). 41 Vgl. Otto Kimminich, Der Internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 286; Guy S. Goodwin-Gill/Jane McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl. 2007, S. 37: „The 1951 Convention an its Protocol remain the principle international instrument benefiting refugees, [. . .]“.

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Rechtsanspruch auf territoriales Asyl eröffnet.42 Es mag prima facie überraschend sein und die Bezeichnung als „Flüchtlingskonvention“ ruft auch möglicherweise andere rechtliche Assoziationen hervor, aber die GFK räumt grundsätzlich kein subjektives „Recht auf Migration“ und keinen Anspruch auf Einreise ein. Eine teilweise andere Wirkung geht vom Refoulement-Verbot jedoch in dem Fall aus, dass sich Personen bereits auf dem Territorium eines Vertragsstaates der GFK befinden. Dies entsprach auch der Nachkriegssituation in Europa, die durch das Inkrafttreten der GFK erfasst und geregelt werden sollte. Danach war die Aus- oder Zurückweisung über die Grenzen von Gebieten in den Fällen unzulässig, in denen sie zu einer Bedrohung von Leben oder Freiheit wegen der Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen der politischen Überzeugung führen würden. Parallel zu vergleichbaren völkerrechtlichen Bestimmungen in anderen Vertragswerken,43 tritt der flüchtlingsrechtliche Schutz der GFK also erst dann unbestrittenermaßen ein, wenn eine Person sich bereits auf dem Territorium eines Vertragsstaates befindet. Allerdings gilt das Refoulement-Verbot seinerseits auch nicht unbegrenzt. In den Fällen, in denen ein Flüchtling „aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet“ wird das Refoulement-Verbot explizit durch Art. 33 Abs. 2 GFK eingeschränkt. Damit werden die Gewährleistungen des Refoulement-Verbots 42 Vgl. Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Rdnr. 301; Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 157 ff. (160); Kay Hailbronner, Asylrecht und Völkerrecht, in: Beitz/Wollenschläger (Hrsg.), Handbuch des Asylrechts. Unter Einschluß des Rechts der Kontingentflüchtlinge. Grundlagen, Bd. I, 1980, S. 69 ff. (75 ff.). 43 Z. B. Art. 3 EMRK, Art. 7 IPbpR.

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unter einen generellen sicherheitsbezogenen Vorbehalt gestellt. Wie sich im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention noch zeigen wird, sieht diese in der hierzu herangezogenen Gewährleistung einen vergleichbaren ordre publicVorbehalt weder direkt noch indirekt vor. Eine weitere für das Flüchtlings- und Migrationsrecht der Gegenwart besonders wichtige Auslegungsfrage im Zusammenhang mit dem Refoulement-Verbot des Art. 33 GFK betrifft die Anwendung auf Personen, denen bereits an der Grenze beispielsweise durch die europäischen Grenzschutzagentur Frontex die Einreise versagt wird. Legt man streng den Wortlaut der Vorschrift zugrunde, in dem von Aus- oder Zurückweisen „über die Grenzen von Gebieten“ die Rede ist, wird man mit der Staatenpraxis zahlreicher Konventionsstaaten und Stimmen im Schrifttum davon ausgehen können, dass Art. 33 GFK nicht bei Abweisungen an der Grenze zur Anwendung gelangt.44 Demgegenüber vertreten jedoch der United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) und zahlreiche andere Stimmen im Schrifttum unter Verweis auf den Schutzzweck und die Vereitelungsfeindlichkeit von Art. 33 GFK die gegenteilige Auffassung, wenn zu befürch44 Z. B. Atle Grahl-Madsen, Commentary on the Refugee Convention 1951. Articles 2–11, 13–37, 1997, Art. 33 Rdnr. 2; auch die Bundesrepublik Deutschland geht davon aus, dass die GFK erst bei Grenzüberschreitung und nicht außerhalb des Territoriums der Konventionsstaaten zur Anwendung gelangt, Antwort der Bundesregierung. Rettung bzw. Aufnahme von auf dem Seeweg befindlichen Migrantinnen und Migranten sowie von Flüchtlingen vom 25. September 2006 (BT-Drs. 16/2723, S. 6) und Antwort der Bundesregierung. Bindung der staatlichen Gewalt in internationalen Gewässern und an den Außengrenzen der EU an den Schutz der Menschenwürde und die Grundrechte, an die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention vom 15. Mai 2008 (BT-Drs. 16/9204, S. 5). Diese Auslegung wird auch durch die franz. Textfassung unterstützt, in der es „sur les frontieres“ heißt. Zwar heißt es in der engl. Textfassung weniger eindeutig „to the frontiers of territories“, dafür wird das Verb „expel“ verwendet, das zu seiner sinnvollen Verwendung einen bereits mit Gewissheit erreichten Ort voraussetzt, aus dem jemand ausgewiesen werden soll. Hätten auch Abweisungen „an der Grenze“ vom Wortlaut erfasst sein sollen, so hätten möglicherweise die Verben „repel“, „refuse“ oder „reject“ Verwendung in der englischen Textfassung gefunden.

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ten steht, dass im Abschiebestaat die in der GFK beschriebenen Gefahren eintreten.45 Freilich mögen im Hinblick auf die verschiedenen Situationen an den Landesgrenzen, in Transitzonen von Flughäfen und an den Grenzen zwischen Küstengewässer und Hoher See im Einzelnen differenzierte Beurteilungen erfolgen, die unterschiedliche Resultate bei der Anwendung der GFK nach sich ziehen.46 Eine weitere Anwendungsbesonderheit des Flüchtlings- und Migrationsrechts greift durch, wenn die in Art. 33 GFK beschriebenen Gefahren oder Bedrohungen für den Einzelnen bei einer Zurückweisung oder Abschiebung von Schutzsuchenden in sichere Drittstaaten nicht vorliegen. In diesem Fall – man denke an das sogenannte EU-Türkei-Abkommen vom 16. März 2016 – bleiben Zurück- oder Abschiebung grundsätzlich zulässig, wenn neben angemessenen Aufenthaltsbedingungen sichergestellt ist, dass es nicht zu einer „Kettenabschiebung“ bis in einen Verfolgerstaat kommen kann.47 Im Ergebnis beinhaltet auch Art. 33 GFK kein selbständiges „Recht auf Asyl“ und mithin auch kein unmittelbares „Recht auf Migration“. Wenn seine Voraussetzungen jedoch erfüllt sind, kann aus Art. 33 GFK ein mittelbares oder zumindest vorläufiges Bleiberecht resultieren, 45 Z. B. Walter Kälin/Martina Caroni/Lukas Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the status of refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 33 para. 1 Rdnr. 106 f.; Jane McAdam, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the status of refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Interpretation Rdnr. 41 ff.; Walter Kälin, Das Prinzip des Non-Refoulement. Das Verbot der Zurückweisung, Ausweisung und Auslieferung von Flüchtlingen in den Verfolgerstaat im Völkerrecht und im schweizerischen Landesrecht, 1982. 46 Walter Kälin/Martina Caroni/Lukas Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the status of refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 33 para. 1 Rdnr. 105 ff. 47 Zurückhaltend und auf die Auflagen verweisend: Walter Kälin/Martina Caroni/Lukas Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the status of refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 33 para. 1 Rdnr. 145, insbes. 147 ff. und 155; Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Vitzthum/ Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, Rdnr. 305.

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wenn es bereits zur Einreise in einen Konventionsstaat gekommen ist. Sofern man in diesem Zusammenhang von einem „Recht auf Migration“ sprechen möchte, so ist es lediglich reflexiver oder mittelbarer Natur. Schon anhand der genannten Beispiele lässt sich ermessen, welche grundlegenden Folgen im Flüchtlingsrecht mit einer – rechtstechnisch betrachtet – konventionellen Auslegungs- und Anwendungsfrage zusammenhängen können. Mit deutlichem Gegenwartsbezug kommt damit die grundlegende Frage auf, ob sich etwa die Vertragsstaaten der GFK ihrer Konventionspflichten dadurch entledigen können, dass sie schutzsuchende Personen von ihren Territorien oder Küstengewässern fernhalten? Teile des Schrifttums48 und der Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stehen diesen Ansätzen distanziert bis ablehnend gegenüber. Allerdings sollte in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden, dass der U.S. Supreme Court,49 das englische House of Lords50 und der High Court of Australia51 wie auch zahlreiche Konventionsstaaten52 eine exter48 Z. B. Elihu Lauterpacht/Daniel Bethlehem, The scope and content of the principle of non-refoulement: Opinion, in: Feller/Türk/Nicholson (Hrsg.), Refugee Protection in International Law. UNHCR’s Global Consultations on International Protection, 2003, S. 87 und 110; Walter Kälin/Martina Caroni/Lukas Heim, in: Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention relating to the status of refugees and its 1967 Protocol. A Commentary, 2011, Art. 33 para. 1 Rdnr. 86 ff. und 110; mit vermittelndem Ansatz: Guy S. Goodwin-Gill/Jane McAdam, The Refugee in International Law, 3. Aufl. 2007, S. 270 ff., insbes. 277: „Even in the latter situation [interdiction of boats with actual physical return of passengers to their country of origin], the principle of non-refoulement would come into play only in the presence of certain objective conditions indicating the possibility of danger befalling those returned.“ 49 Sale v. Haitian Centers Council, Inc. 509 U.S. 155 (1993). 50 Regina v. Immigration Officer at Prague Airport and another ex parte European Roma Rights Centre and others, (2004) UKHL 55. 51 Minister for Immigration and Multicultural Affairs v. Ibrahim [2000] HCA 55 (2000) 204 CLR und Minister for Immigration and Multicultural Affairs v. Khawar [2002] HCA 14, (2002) 210 CLR 1. 52 Z. B. hierzu Kay Hailbronner, Das Refoulement-Verbot und die humanitären Flüchtlinge im Völkerrecht, ZAR 1987, S. 3 ff. (4).

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ritoriale Anwendung der GFK bislang nachdrücklich abgelehnt haben. Unabhängig von der vertretenen Rechtsauffassung wurde Schutzsuchenden, die unmittelbar aus einem Verfolgerstaat kamen, in der Praxis vieler Staaten zumindest zeitweiliger Schutz gewährt.53 Dies gilt jedoch vorrangig für Territorialgrenzen und wirft bei maritimen Grenzen, bei denen wegen der Durchquerung der Hohen See oder fremder Hoheitsgewässer regelmäßig nicht von einem unmittelbarem Herkommen aus einem Verfolgerstaat gesprochen werden kann, weitere Fragen auf. Indes ist die gegenwärtige Praxis vieler Mittelmeeranrainerstaaten und privater Hilfsorganisationen davon gekennzeichnet, dass Rettungsmaßnahmen auf See unabhängig von rechtlichen Einstufungen geleistet werden. IV. Europäische Menschenrechtskonvention Die zweite wichtige menschenrechtliche Konvention, die im Hinblick auf die Rechtsstellung ausländischer Staatsangehöriger in der Praxis des Flüchtlings- und Migrationsrechts eine besondere Bedeutung einnimmt, ist die bereits verschiedentlich erwähnte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dabei ist zunächst klarzustellen, dass Einigkeit darüber besteht, dass auch die EMRK kein unmittelbares Recht auf politisches Asyl und kein subjektives Recht auf Einreise oder Aufenthalt vorsieht.54 Insofern hilft auch die EMRK im Hinblick auf ein subjektives „Recht auf Migration“ zunächst nicht weiter. Allerdings gibt es zwei Faktoren, die den Gewährleistungen der EMRK – jedenfalls im Vergleich zur GFK – eine wesentlich höhere Effektivität verleihen.

53 Vgl. Kay Hailbronner, Das Refoulement-Verbot und die humanitären Flüchtlinge im Völkerrecht, ZAR 1987, S. 3 ff. (4). 54 Andreas Zimmermann/Björn Elberling, Ausweisungsschutz, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2014, Kap. 27 Rdnr 2; Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, Europäische Menschrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 20 Rdnr. 40; Otto Kimminich, Der Internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 83 f.

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1. Während Streitigkeiten über Gewährleistungen der GFK üblicherweise vor nationalen Gerichten stattfinden, was eine nur wenig konsistente Entscheidungspraxis zur Folge hat, stellt sich die Lage bei der EMRK anders dar. Für sie ist seit 1998 ausschließlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zuständig. Dieser hat in den letzten Jahren eine rege Rechtsprechungstätigkeit entfaltet, die insbesondere auch im Flüchtlings- und Migrationsrecht deutliche Spuren hinterlassen hat.55 2. Der zweite Punkt, der im Hinblick auf das Flüchtlings- und Migrationsrecht relevant ist, betrifft die Überprüfung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, namentlich von Auslieferung und Abschiebung, am Maßstab des Art. 3 EMRK. Nimmt man den Wortlaut dieser Vorschrift unbefangen zur Hand, so beinhaltet er das sehr grundlegende Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlungen und Strafen. Allerdings hat der EGMR diese Gewährleistung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Rahmen seiner Rechtsprechung allmählich in ein „quasi-universelles Abwehrrecht“ gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen verwandelt.56 In seiner Wirkung ähnelt der Art. 3 EMRK daher nun dem in Art. 33 GFK normierten Refoulement-Verbot, die Rechtsprechungspraxis des EGMR hat ihn jedoch zu einem wesentlich effektiveren Instrument gemacht als es Art. 33 GFK bislang war. Im Regelfall greift das Verbot zur Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen vor allem bei Personen, die bereits auf dem Territorium eines Konventionsstaates ansässig sind. Allerdings hat der EGMR in den letzten Jahren einiges dazu beigetragen, die Territorialität der EMRK beständig auszuweiten.57 Hierauf wird mit Blick auf

55 Vgl. eingehend Marcel Kau, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention. IntKommEMRK, Art. 3 Rdnr. 76 ff. 56 Kay Hailbronner, Art. 3 EMRK – ein neues europäisches Konzept der Schutzgewährung?, DÖV 1999, S. 617 ff.; hierzu auch Marcel Kau, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention. IntKommEMRK, Art. 3 Rdnr. 91.

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das Küstengewässer und die Hohe See noch zurückzukommen sein. Die bisherige Rechtsprechungspraxis führt im Ergebnis dazu, dass zwar weder ein Asylrecht noch ein Recht auf Einreise aus der EMRK direkt abgeleitet werden können, unter Anwendung von Art. 3 EMRK wird ein Konventionsstaat jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR für das Eintreten einer bereits konkret absehbaren Verletzung dieser Vorschrift durch einen Drittstaat verantwortlich, so dass er eine Auslieferung oder Abschiebung unterlassen muss.58 Dies kann im Ergebnis dazu führen, dass selbst die Abschiebung in andere Konventionsstaaten der EMRK oder in Staaten, die bei formaler Betrachtung vergleichbare menschenrechtliche Verpflichtungen übernommen haben wie der Aufenthaltsstaat, vom EGMR als Verstoß gegen Art. 3 EMRK gewertet worden sind.59 Zudem sollen drei Besonderheiten des Art. 3 EMRK anhand konkreter Fälle dargestellt werden, um die Reichweite der damit verbundenen Schutzwirkung in der flüchtlings- und migrationsrechtlichen Praxis einordnen zu können. 1. Abwägungsfeindlichkeit Zunächst ist Art. 3 EMRK weitgehend abwägungsfeindlich.60 Da bei der Formulierung und Verabschiedung der EMRK noch 57 Z. B. EGMR vom 7. Juli 2011, Nr. 55721/07, Al-Skeini gegen Vereinigtes Königreich; EGMR vom 7. Juli 2011, Nr. 27021/08, Al-Jedda gegen Vereinigtes Königreich; EGMR vom 23. Februar 2012, Nr. 27765/09, Hirsi Jamaa gegen Österreich. 58 Vgl. Jochen A. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische MenschenRechtsKonvention. EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 3 Rdnr. 20 ff.; Marcel Kau, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention. IntKommEMRK, Art. 3 Rdnr. 76. 59 EGMR vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland; EGMR vom 4. November 2014, Nr. 29217/21, Tarakhel gegen Schweiz; EGMR vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, Soering gegen Vereinigtes Königreich. 60 Vgl. auch Ingo Kraft, Vom Konflikt zur Konvergenz. Zur Rezeption der ausländerrechtlichen Rechtsprechung des EGMR durch die deutschen Verwaltungsgerichte, NVwZ 2014, S. 969 ff. (975).

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nicht absehbar und möglicherweise auch nicht gewollt war, dass der Gerichtshof Art. 3 EMRK schrittweise zu einem „quasi-universellen Abwehrrecht“ gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen entwickelt, ist die Vorschrift nach Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfest und sieht keine tatbestandlichen Ausnahmen vor.61 Anders etwa als Art. 33 GFK, der in Abs. 2 eine ordre publicEinschränkung des Refoulement-Verbots vorsieht, hat der EGMR im Hinblick auf die Abschiebung von Personen, von denen terroristische Bedrohungen ausgehen, entschieden, dass diese ungeachtet der von Ihnen im Aufenthaltsstaat ausgehenden Gefahren jedenfalls dann nicht in ihren Heimatstaat abgeschoben werden dürfen, wenn dort das nahe liegende Risiko einer Verletzung von Art. 3 EMRK besteht.62 Dies heißt selbst für sehr gefährliche Verbrecher oder Terroristen, dass sie nach Einschätzung des EGMR in einem Konventionsstaat verbleiben müssen, obwohl dort eminente Gefahren von ihnen ausgehen, wenn ihnen bei Abschiebung eine Verletzung von Art. 3 EMRK drohen würde. Dieses schwer tragbare Ergebnis erklärt sich unter anderem damit, dass Art. 3 EMRK ursprünglich nicht für Auslieferungsoder Abschiebungsfälle konzipiert oder gedacht war. Ansonsten hätten die Konventionsstaaten mit großer Wahrscheinlichkeit darauf geachtet, auch für Art. 3 EMRK eine ordre public-Ausnahme zu vereinbaren. Der Gerichtshof kann die Vorschrift des Art. 3 EMRK angesichts seiner grundsätzlichen Abwägungsfeindlichkeit nur durch ein Schwere-Element einschränken („minimum level of severity“). Daher wird in minderschweren oder leichten Fällen davon ausgegangen, dass tatsächlich gar kein hinreichender Eingriff

61 Kritisch, ob sich diese „Notstandsfestigkeit“ auch auf aufenthaltsrechtliche Fragen erstreckt, Kay Hailbronner, Art. 3 EMRK – ein neues europäisches Konzept der Schutzgewährung?, DÖV 1999, S. 617 ff. (621). 62 EGMR vom 28. Februar 2008, Nr. 37201/06, Saadi gegen Italien; EGMR vom 30. Oktober 1991, Nr. 13163/87, Vilvarajah u. a. gegen Vereinigtes Königreich; EGMR vom 15. November 1996, Nr. 22414/93, Chahal gegen Vereinigtes Königreich.

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stattgefunden hat.63 Auf diese Weise fingiert der EGMR, dass Art. 3 EMRK durch die in Frage stehende Handlung überhaupt nicht berührt worden ist. Übertragen auf dogmatische Kategorien des deutschen Verfassungsrechts erfolgt eine begrenzte inhaltliche Einschränkung damit nicht auf der Rechtfertigungsebene, sondern vorgelagert bereits auf der Eingriffsebene. Eine Konsequenz dieser Vorgehensweise liegt darin, dass bei substanziellen Berührungen der Gewährleistung von Art. 3 EMRK an der Feststellung einer Verletzung kaum je ein Weg vorbeiführt. 2. Der Fall Hirsi Jamaa (2012) und das Zurückschieben von Flüchtlingsbooten Wie sich schon im Zusammenhang mit der GFK gezeigt hat, kommt im Rahmen des Flüchtlingsschutzes der Frage besondere Bedeutung zu, ob die menschenrechtlichen Gewährleistungen auch bereits an der jeweiligen Grenze gelten oder ob ein vorheriger Grenzübertritt in das Territorium eines Konventionsstaates erforderlich ist. Wird diese Frage im Hinblick auf die GFK von verschiedenen Stellen unterschiedlich beantwortet, hat sich im Hinblick auf Art. 3 EMRK durch das so genannte HirsiUrteil des EGMR aus dem Jahr 2012 eine gewisse Klärung ergeben.64 Nachdem die italienische Marine (noch im Jahr 2009) Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer aufgebracht und an die libyschen Küste zurückgeschoben hatte, attestierte der EGMR unter anderem einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK sowie gegen 63 Z. B. EGMR vom 15. Juli 2002, Nr. 47095/99, Kalashnikov gegen Russland; EGMR vom 29. April 2002, Nr. 2346/02, Pretty gegen Vereinigtes Königreich; vgl. auch Kay Hailbronner, Das Refoulement-Verbot und die humanitären Flüchtlinge im Völkerrecht, ZAR 1987, S. 3 ff. (10). 64 EGMR vom 23. Februar 2012, Nr. 27765/09, Hirsi Jamaa gegen Österreich; Hierzu auch Albrecht Weber, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen. Bedeutung des Straßburger Hirsi-Jamaa-Urteils für den Flüchtlingsschutz, ZAR 2012, S. 265 ff.; Matthias Lehnert/Nora Markard, Mittelmeerroulette – Das Hirsi-Urteil des EGMR und die europäische Grenzschutzpolitik auf See, ZAR 2012, S. 194 ff.; Sonja Buckel/Maximilian Pichl, Staatsprojekt Europa – Kämpfe um Hegemonie in der Europäischen Union, ZAR 2012, S. 178 ff. (181 ff.).

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das in Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK niedergelegte Verbot der Kollektivausweisung. Hierbei machte er deutlich, dass durch die Schiffe der italienischen Küstenwache unmittelbar italienische Hoheitsgewalt ausgeübt wurde, die grundsätzlich an die Gewährleistungen der EMRK gebunden sei. Der Verstoß gegen Art. 3 EMRK ergab sich daraus, dass davon auszugehen war, dass illegale Einwanderer und Asylsuchende in Libyen damals systematisch verhaftet und unter Bedingungen festgehalten wurden, die mit den Maßstäben des Art. 3 EMRK nicht vereinbar waren. Außerdem konnte nicht ausgeschlossen werden, dass die an Libyen übergebenen Personen in ihre Herkunftsstaaten oder sonstige Drittstaaten weitergeschoben werden.65 Es ist ohne Weiteres einsehbar, dass diese exterritoriale Anwendung der EMRK der Auseinandersetzung über die Reichweite der grenzkontroll- und aufenthaltsrechtlichen Gewährleistungen des Art. 3 EMRK noch zusätzliche Schärfe verliehen hat. Für die Konventionsstaaten hat das Hirsi-Urteil in erster Linie drei Handlungsmöglichkeiten zur Folge: Im Einklang mit der EMRK müssen sie alle auf See aufgebrachten Schutzsuchenden in einen Konventionsstaat verbringen, um dort ein ordnungsgemäßes aufenthalts- oder asylrechtliches Verfahren durchzuführen. Möchte ein Konventionsstaat – oder gegebenenfalls die EU – diesen Effekt vermeiden, so müsste er sich auf die eigenen Küstengewässer zurückziehen und jegliche Operationen auf der Hohen See oder in der Nähe fremder Küstengewässer einstellen. Eine alternative Möglichkeit bestünde freilich darin, in den Staaten, in die Flüchtlinge zurückgeschoben werden sollen, Bedingungen zu gewährleisten, die mit den Standards des Art. 3 EMRK vereinbar wären und zudem ausschlössen, dass eine Kettenabschiebung gegebenenfalls bis in einen Verfolgerstaat stattfindet. Allerdings würde dies nach gegenwärtigem Stand der Rechtsprechung im Hinblick auf das Verbot der Kollektivausweisung nach Art. 4 des Protokolls Nr. 4 wohl wiederum zu Beanstandungen durch den EGMR führen.

65 EGMR vom 23. Februar 2012, Nr. 27765/09, Hirsi Jamaa gegen Österreich.

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Neben anderen Urteilen des EGMR, durch die die Anwendung der EMRK schrittweise vom Territorium der Konventionsstaaten abgelöst und mit dem Einsatz hoheitlicher Kräfte auch im Ausland verknüpft wurde,66 unternimmt der EGMR durch seine Auslegung und Anwendung von Art. 3 EMRK eine Ausdehnung menschenrechtlicher Schutzstandards auf NichtKonventionsstaaten. Auch wenn die Verbreitung dieser Schutzstandards in Libyen oder im Irak sicher wünschenswert wäre, führt dies noch nicht unmittelbar – wenn überhaupt – zu einer Verbesserung der dortigen Menschenrechtssituation, sondern zu einer gewissen Abschottung der Konventionsstaaten im Hinblick auf Ausweisung bzw. Zurückschiebung von Schutzsuchenden. Außerdem erscheint es neben den grundsätzlichen dogmatischen Zweifeln an der extensiven Auslegung der EMRK durchaus fraglich, ob die Akzeptanz der EMRK bei Nicht-Konventionsstaaten hierdurch gesteigert werden kann und politische Kooperationen wie das sogenannte EU-Türkei-Abkommen vom 16. März 2016, bei deren Anwendung auch menschenrechtliche Standards gewährleistet werden sollen, erleichtert werden. Zudem wird – dies hat Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament vom 14. September 2016 erneut hervorgehoben67 – die Sicherung der EU-Außengrenzen als zentrales Element für das Funktionieren des Schengen-Systems genannt. Wie aber soll eine solche „Grenzsicherung“ funktionieren, wenn der Kontakt mit Flüchtlingsbooten letztlich völkerrechtlich dazu verpflichtet, alle angetroffenen Personen in die EU zu verbringen, und dort ein individuelles Flüchtlings- oder Asylverfahren mit ihnen durchzuführen? Vor

66 EGMR vom 7. Juli 2011, Nr. 55721/07, Al-Skeini gegen Vereinigtes Königreich; EGMR vom 7. Juli 2011, Nr. 27021/08, Al-Jedda gegen Vereinigtes Königreich. 67 Jean-Claude Juncker, Rede zur Lage der Union 2016: „Hin zu einem besseren Europa – einem Europa, das schützt, stärkt und verteidigt“, vom 14. September 2016, verfügbar unter: http://ec.europa.eu/germany/ news/juncker-rede-zur-lage-der-union-2016-hin-zu-einem-besseren-euro pa-einem-europa-das-schützt_de (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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diesem Hintergrund erwecken die aus der GFK und der EMRK resultierenden völkerrechtlichen Verpflichtungen den Anschein, als sei der „Schutz der EU-Außengrenzen“ im Hinblick auf Bootsflüchtlinge bestenfalls eine Verpflichtung zur Eskortierung nach Griechenland, Italien oder in andere Mittelmeeranrainerstaaten. Eine effektive Abwehr von Flüchtlingen an den Küstengewässern der EU-Mitgliedstaaten, ohne dass es zu einer Einreise ins Territorium der Europäischen Union kommt, wird durch die bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen in der gegenwärtigen Anwendung faktisch ausgeschlossen. Auch wenn die Erfüllung völkerrechtlicher Schutzstandards stillschweigend immer unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit und Bewältigungsmöglichkeit der Vertragsstaaten stehen mag,68 wirft dies das kaum lösbare Dilemma auf, konkrete Zahlen und Größenordnungen nennen zu müssen, bei deren Überschreiten die Möglichkeiten der EU und ihrer Mitgliedstaaten erschöpft sind. Die in Deutschland und anderen Staaten der EU geführten Diskussionen über Obergrenzen der Flüchtlingsaufnahme zeigen zudem,69 dass die präzise Benennung einer konkreten Zahl letztlich immer angreifbar ist und in Zweifel gezogen werden kann. Für den Raum der Europäischen Union dürften solche Festlegungen kaum einfacher sein als für einzelne Mitgliedstaaten. Der europäische Grund- und Menschenrechtsschutz nach der EMRK ist weiter entwickelt als jeder andere regionale oder universelle Menschenrechtsschutz. Dies stellt ohne Zweifel eine be68 Hierzu schon Rupert Scholz, Kein Asylrecht ohne Grenzen, FAZ vom 14. Oktober 2015 (Nr. 238), S. 8 (Zeitgeschehen) u. a. mit Verweis auf das Sozialstaatsprinzip und die Verfassungsidentität. 69 So halten beispielsweise die österreichischen Staatsrechtler Obwexer und Funk sowie der Präsident des österreichischen Verfassungsgerichtshofs Holzinger eine Obergrenze bei der Zulassung von Flüchtlingen für nicht kompatibel mit völker- und unionsrechtlichen Vorgaben, vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-fluechtlinge-obergrenze101.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). Demgegenüber haben sich in Deutschland beispielsweise die Staatsrechtslehrer Battis und Scholz zugunsten der Verfassungskonformität einer Obergrenze für Flüchtlinge geäußert.

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deutende rechtliche Errungenschaft Europas dar. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der EGMR letztlich bloß ein Gericht und kein rechtssetzendes Organ ist, dessen in freier Rechtschöpfung entwickelten Vorstellungen unabhängig von der herrschenden normativen Lage ohne Weiteres für alle 47 Mitgliedstaaten des Europarates gelten müssen. Allerdings kann sich der EGMR nicht bloß auf die ihm institutionell zukommende Interpretation der EMRK und ihrer Protokolle stützen, sondern – in überschaubarem Umfang – auch auf „Guidelines“ und „Recommendations“ des Ministerkomitees des Europarats. So hat das Ministerkomitee etwa im September 2005 „20 Guidelines on Forced Return“ verabschiedet.70 Weiterhin gibt es „Guidelines on Human Rights Protection in the Context of Accelerated Asylum Procedures“ (2009),71 „Standards and Guidelines in the Field of Human Rights Protection of Irregular Migrants“ (2011)72 und „Recommendation on ,Life Projects‘ for Unaccompanied Migrant Minors“ (2007)73. Bei allen berechtigten Einschränkungen in der rechtlichen Bewertung dieser „Guidelines“ und „Recommendations“ ist dennoch davon auszugehen, dass die im Ministerkomitee vertretenen Mitgliedstaaten des Europarates die bisherige Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK im Grundsatz nicht bestreiten und hierin auch selbst den normativen Ausgangspunkt für flüchtlings- und migrationsrechtliche Fragestellungen sehen. Daher erscheint eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Art. 3-Rechtsprechung des EGMR nicht nur aus der Binnenperspektive des Gerichts70 Ministerkomitee, Twenty Guidelines on forced Return, 4. Mai 2005, CM(2005)40 final. 71 Ministerkomitee, Guidelines on human rights protection in the context of accelerated asylum procedures, 1. Juli 2009, verfügbar unter: https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectID=09000016 805b15d2 (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 72 Europarat, Standards and Guidelines in the Field of Human Rights Protection of Irregular Migrants, 2011, verfügbar unter: http://fra.europa. eu/fraWebsite/frc2011/docs/CoE-standards-hr-protection-irreg-migrants. pdf (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 73 Ministerkomitee, Recommendation to member states on life projects for unaccompanied migrant minors, 12. Juli 2007, CM/Rec(2007)9.

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hofs unwahrscheinlich, in ähnlicher Weise deutet auch nichts darauf hin, dass die Mitgliedstaaten die spätestens mit dem Jahr 198974 begonnene flüchtlings- und migrationsrechtliche Aktivierung von Art. 3 EMRK ändern oder zumindest abschwächen wollen. Allerdings würde dieser gegenwärtige Befund – etwa unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse – auch nicht einer Verabschiedung restriktiver „Guidelines“ oder „Recommendations“ durch das Ministerkomitee des Europarates entgegenstehen. Unabhängig von diesen Fragen liegt der dogmatische Konstruktionsfehler der gegenwärtigen Anwendung von Art. 3 EMRK darin, dass diese Vorschrift ursprünglich nicht mehr und nicht weniger statuieren sollte als ein allgemeines Folterverbot.75 Diese Regelung richtete sich im damaligen Zeitkontext etwa auf Staaten wie Deutschland, das erst wenige Jahre zuvor ein totalitäres und jede Rechtstaatlichkeit negierendes Gewaltregime mit fremder Hilfe überwunden hatte, in dem Folterungen und vergleichbar unmenschliche und erniedrigende Praktiken nicht nur vorkamen oder geduldet wurden, sondern gezielt und systematisch zur Einschüchterung und Verfolgung Andersdenkender verwendet wurden. Nicht umsonst hat jeder bei dem Begriff „Gestapo-Methoden“ eine nur allzu konkrete Vorstellung, was sich dahinter verbirgt.76 Aber das in der EMRK niedergelegte

74 EGMR vom 7. Juli 1989, Nr. 14038/88, Soering gegen Vereinigtes Königreich. 75 EGMR vom 11. Februar 2010, Nr. 24427/02, Kayankin gegen Russland; EGMR vom 2. März 2010, Nr. 61498/08, Al-Saadoon und Mufdhi gegen Vereinigtes Königreich; vgl. Stefan Sinner, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK. Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 3 Rdnr 1; Jens MeyerLadewig, EMRK. Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar, 3. Aufl. 2011, Art. 3 Rdnr. 1; Marcel Kau, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention. IntKommEMRK, Art. 3 Rdnr. 2. 76 Vgl. eingehend Holger Berschel, Bürokratie und Terror. Das Jugendreferat der Gestapo Düsseldorf 1935–1945, 2001; Carsten Dams/Michael Stolle, Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 2. Aufl. 2011.

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Völkervertragsrecht setzt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit seinem Wortlaut auch Grenzen.77 Zwar spricht nichts gegen eine von vertragsergänzenden Protokollen begleitete Rechtsentwicklung, die der EGMR – wie etwa im Umgang mit der Todesstrafe – in seiner Rechtsprechung schrittweise nachvollzogen hat.78 Ob die bisher verabschiedeten „Guidelines“ und „Recommendations“ jedoch hinreichende Grundlagen darstellen, um die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 im Einklang mit der EMRK zu bewältigen, mag angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen Veränderung der flüchtlingsund migrationsrechtlichen Dimensionen doch in Zweifel gezogen werden. Dies soll jedoch nicht als Plädoyer für eine statische oder doktrinär originalistische Interpretation der EMRK missverstanden werden.79 Vollkommen zutreffend spricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon, die EMRK sei ein „living instrument“ 80 – ein lebendes Instrument des (Völker)Rechts –, so dass die Probleme des Jahres 2016 nicht allein aus der Perspektive des Erarbeitungsjahres 1950 beurteilt werden können. Aber dies darf dennoch nicht als Aufforderung an den EGMR missverstanden werden, Konventionsbestimmungen in Widerspruch zu Wortlaut und ursprünglicher Intention zu überdehnen und ihnen damit einen Inhalt zu verleihen, der ihnen an sich fernliegt und den sie auch aus dogmatischen Gründen nur sehr unzureichend ausfüllen können. Ohnehin fällt auf, dass die Konventionsstaaten der EMRK sich mit der Schaffung völkerrechtlicher Regelungen zum Flüchtlings- und Migrationsrecht etwa in Form von neuen Protokollen zur EMRK, die ggf. über die Gewährleistungen der 77 Vgl. Otto Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze. Thesen zu einem Topos der Verfassungsinterpretation, 1988, insbes. S. 42 ff. 78 Vgl. Marcel Kau, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention. IntKommEMRK, Art. 3 Rdnr. 38 bis 53. 79 Vgl. George Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, 2007, S. 60, 68 ff., insbes. 73 f. 80 Vgl. mit Beispielen: George Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, 2007, S. 65 ff.

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GFK hinausgehen würden, nicht nur anfänglich, sondern bis in die Gegenwart hinein auffällig zurückgehalten haben. Ausdrücklich befassten sich die Konventionsstaaten im bereits genannten Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK von 1963 mit flüchtlings- und migrationsrechtlichen Fragen. Die damals äußerst knapp gehaltene Bestimmung besagt, dass „Kollektivausweisungen ausländischer Personen [. . .] nicht zulässig“ sind. Aber auch sie ist im Kontext des gesamten Protokolls Nr. 4 und seiner Entstehungsgeschichte so zu verstehen, dass es um aufenthaltsbeendende Maßnahmen „aus dem Hoheitsgebiet“ der Konventionsstaaten geht.81 Hierfür spricht nicht zuletzt auch die Verwendung der Begriffe „Kollektivausweisung“ bzw. englisch „Collective expulsion“, die gleichermaßen voraussetzen, dass jemand „aus etwas heraus“ ausgewiesen werden soll.82 Die Hohe See erfüllt die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht. Im Übrigen sieht der 1984 eingefügte Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bei der Ausweisung von „rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates“ aufhältigen Personen sogar einen ordre public-Vorbehalt vor,83 der in der Rechtsprechung des EGMR wegen der Abwägungsfeindlichkeit von Art. 3 EMRK jedoch üblicherweise keine Erwähnung findet. Das Fehlen vertragsändernder Protokolle mit konkreten Maßstäben für das Flüchtlings- und Migrationsrecht steht aber der 81 So auch James Crawford, Chance, Order, Change: The Course of International Law. General Course on Public International Law, 2014, S. 247 f.: „Removal of the limitation does not mean that the drafters intended that the provision be territorially unlimited.“ 82 Z. B. James Crawford, Chance, Order, Change: The Course of International Law. General Course on Public International Law, 2014, S. 247: „One has to be expelled FROM somewhere, if it is the Garden of Eden or Uganda.“ (Hervorhebung im Original); a. A. Andreas Zimmermann/Björn Elberling, Ausweisungsschutz, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG. Konkordanzkommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2014, Kap. 27 Rdnr. 166. 83 Art. 1 Abs. 2 Protokoll Nr. 7 zur EMRK (in der Fassung des Prototokolls Nr. 11): „Eine ausländische Person kann ausgewiesen werden, bevor sie ihre Rechte nach Abs. 1 Buchstabe a, b und c ausgeübt hat, wenn eine solche Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder aus Gründen der nationalen Sicherheit erfolgt.“

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schon seit einigen Jahren andauernden „judikativen Grenzüberschreitung“ des EGMR nachdrücklich entgegen.84 Auch wenn Angelika Nußberger als Richterin am EGMR vor einiger Zeit in einem Aufsatz zum früheren Widerstand des Bundesverwaltungsgerichts85 gegen die extensive Auslegung von Art. 3 EMRK erklärte, dass „die Grundsatzfragen als geklärt angesehen werden können“,86 bleiben doch angesichts der Entwicklungen des Jahres 2015 mehr als bloß „Verwerfungen im Einzelfall“ zurück. Dies gilt zumal die vom BVerfG mit der Rechtssache „Görgülü“87 sehr nachdrücklich vertretene „völkerrechtsfreundliche Rechtsprechung“ in jüngerer Zeit unter dem Stichwort „Treaty override“ durchaus einen Dämpfer erlitten hat.88 Selbst wenn diese Entscheidung nicht die EMRK oder die Rechtsprechung des EGMR betraf, bleibt doch offen, in welchem Umfang das BVerfG an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten wird. Bei allen Schwierigkeiten, die eine Änderung oder Ergänzung der EMRK mit sich bringt, könnte das Ministerkomitee des Europarates aktuelle Signale in Richtung EGMR aussenden, dass Art. 3 EMRK aufgrund seiner normativen Eindimensionalität letztlich keine oder nur eine eingeschränkt geeignete Vorschrift darstellt, um die großen flüchtlings- und migrationsrechtlichen Fragen der Zeit zu behandeln. Zu simpel erscheinen letztlich die Mechanismen des Art. 3 EMRK, der weder einen ordre public-Vorbehalt kennt, noch abweichende, das Verhalten der konventionsstaatlichen Behörden in ein anderes Licht rü84 Vgl. schon früher mit kritischen Hinweisen: Kay Hailbronner, Art. 3 EMRK – ein neues europäisches Konzept der Schutzgewährung?, DÖV 1999, S. 617 ff. (621). 85 BVerwGE 105, 187 – Staatlichkeit der Mißhandlung; BVerwGE 104, 265 – Abschiebungshindernis. 86 Angelika Nußberger, Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht, NVwZ 2013, S. 1305; mit entsprechend versöhnlichem Grundtenor: Ingo Kraft, Vom Konflikt zur Konvergenz. Zur Rezeption der ausländerrechtlichen Rechtsprechung des EGMR durch die deutschen Verwaltungsgerichte, NVwZ 2014, S. 969 ff. 87 BVerfGE 111, 307 – Görgülü-Beschluss; BVerfGE 128, 326 – Sicherheitsverwahrung. 88 BVerfG, NJW 2016, S. 1295 ff.

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ckende Umstände berücksichtigen kann. Auch Fragen der Überforderung oder Ressourcen-Endlichkeit der Konventionsstaaten können – bislang jedenfalls – bei der Prüfung von Art. 3 EMRK nicht berücksichtigt werden. Die „Guidelines“ und „Recommendations“ des Ministerkomitees weisen insofern einen möglichen Weg, bei dessen Benutzung freilich nicht sicher ist, inwieweit der EGMR sich hiervon tatsächlich beeinflussen lassen würde. Dennoch ist diese immanente Einflussnahme durch die Institutionen des Europarates einer – dann als weitere Maßnahme in Betracht kommenden – Verabschiedung eines einschränkenden Protokolls zur EMRK vorzuziehen. Zumal es bei mittlerweile 47 Konventionsstaaten keineswegs sicher ist, ob sich eine ausreichende Zahl von ihnen zur Ratifikation entschließen würde. 3. Unterbringungsstandards nach Art. 3 EMRK Neben den Fragen von Einreise und Aufnahme spielt im Hinblick auf die Gewährleistungen von Art. 3 EMRK auch die Unterbringung von Schutzsuchenden eine herausragende Rolle. Konflikte mit der EMRK können dabei gleichermaßen auftreten, wenn es um die erstmalige Aufnahme in einem Konventionsstaat oder um die Überführung in einen sicheren Drittstaat geht. Dies kann – wie bereits erwähnt – dazu führen, dass Fragen im Hinblick auf Art. 3 EMRK auch bei Überstellungen zwischen Konventionsstaaten auftreten. Im Hinblick auf die Krisensituation in Griechenland mag dies in den letzten Jahren noch nachvollziehbar gewesen sein.89 Wenn jedoch die Entscheidung des EGMR im Fall Tarakhel 90 als Maßstab zugrundegelegt wird, in dem es um eine Überstellung von Schutzsuchenden aus der Schweiz nach Italien in eine Einrichtung des „Europäischen Flüchtlingsfonds“ (EFF) ging, so können hiermit für den Dublin-Raum unabsehbare Konsequenzen verbunden 89 EGMR vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland. 90 EGMR vom 4. November 2014, Nr. 29217/21, Tarakhel gegen Schweiz.

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sein.91 Sollten die Tarakhel-Grundsätze des EGMR in den nächsten Monaten auch auf Überstellungen nach dem sogenannten EU-Türkei-Abkommen vom 16. März 2016 angewendet werden, erscheint es durchaus möglich, dass es etwa im Hinblick auf die Unterbringungsbedingungen für Familien mit Kindern oder unbegleitete Minderjährige in der Türkei zu Beanstandungen durch den Gerichtshof kommen kann. Wie zudem der vor einem Jahr entschiedene Fall Khlaifia und andere gegen Italien92 zeigt, wirkt es sich auch nicht negativ auf den Schutzanspruch nach Art. 3 EMRK aus, wenn Schutzsuchende im Aufnahmestaat gewalttätig rebellieren, aus ihren Unterkünften ausbrechen und für bessere Unterbringungsbedingungen demonstrieren. Der Gedanke an eine mögliche Verwirkung menschenrechtlicher Schutzgewährleistungen spielte in den Erwägungen des Gerichtshofs keine erkennbare Rolle. Stattdessen kam der EGMR bislang zum vorläufigen Ergebnis, dass die damalige Unterbringung tunesischer Staatsangehöriger auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstellte. Auch wenn er – wie in diesen Fällen üblich – freimütig anerkannte, dass die Situation im Jahr 2011 für die italienischen Behörden aufgrund des enormen Andrangs von Schutzsuchenden außerordentlich schwierig war, stufte er die Unterbringungsbedingungen dennoch als „unmenschlich“ und „erniedrigend“ ein, was unausweichlich zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führte. Negativ wurde insbesondere vermerkt: Überfüllung der Aufnahmeeinrichtung, Mangel an Privatsphäre und schlechte sanitäre Einrichtungen. Vorwürfe, die wohl auch einigen Erstaufnahmeeinrichtung in Deutschland während der Flüchtlingskrise 2015/2016 gemacht werden könnten. Allerdings ist der Fall Khlaifia noch nicht rechtskräftig 91 Vgl. Flip Schüller, Strategien und Risiken: Die Durchsetzung migrationsrelevanter Menschenrechte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschrechte, ZAR 2015, S. 64 ff. (65); die Entscheidung des EGMR generell begrüßend: Paul Tiedemann, Rückführung von Asylbewerbern nach Italien, NVwZ 2015, S. 121 ff. 92 EGMR vom 1. September 2015, Nr. 16483/12, Khlaifia u. a. gegen Italien.

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entschieden, da er zwischenzeitlich der Großen Kammer des EGMR zugeleitet wurde, deren Urteil jedoch noch aussteht. Dennoch lassen die bisherigen Entscheidungen des EGMR für die rechtliche Beurteilung des im Jahre 2015 erfolgten Zustroms an Schutzsuchenden und seiner flüchtlings- und migrationsrechtlichen Bewältigung nichts Gutes erwarten. Denn blieben die dabei zutage getretenen Standards auch nur im Ansatz aufrechterhalten, dann müsste damit gerechnet werden, dass der Gerichtshof zahlreiche Maßnahmen der europäischen Staaten – allen voran Deutschlands – als Verstöße gegen die EMRK beanstanden würde. Ein Ergebnis, das bei der Aufnahme von annähernd 900.000 Schutzsuchenden im Jahr 2015 sicherlich nicht ohne Ironie wäre, angesichts des Umstandes, dass sie gerade dazu dienen sollte, eine humanitäre Katastrophe auf der Balkanroute zu vermeiden. Es bleibt abzuwarten, ob der EGMR – in Abweichung von seiner bisherigen Rechtsprechungslinie – die damaligen Begleitumstände zugunsten der Bundesrepublik Deutschland in Betracht ziehen wird. Aufgrund der bereits geschilderten Abwägungsfeindlichkeit von Art. 3 EMRK drängt sich jedoch im Moment kein Weg auf, wie der EGMR dies dogmatische bewerkstelligen könnte, außer er würde vielleicht auf Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK zurückgreifen. V. Schlussbetrachtung 1. Zu einem großen Teil tragen bei der Beurteilung der flüchtlings- und migrationsrechtlichen Fragen auch die Gegenwartserfahrungen vieler Menschen in Europa bei: Denn viele Europäer können allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU ungehindert in fremde Länder reisen und benötigen dafür in vielen Fällen nicht einmal ein Visum. Innerhalb der Europäischen Union fallen kurzzeitige oder dauerhafte Veränderungen des Aufenthaltsortes noch leichter. Zudem hat infolge des Schengen-Systems ein weitgehender Abbau der Binnengrenzkontrollen in der EU stattgefunden, so dass unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen – ausreichender Mittel zum Lebensunterhalt, Krankenversicherungsschutz – innerhalb der

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EU fast uneingeschränkte Freizügigkeit für Unionsbürger und Daueraufenthaltsberechtigte besteht.93 Nirgendwo ist man daher einem globalen Freizügigkeitsregime näher als in Europa. Aber diese weitreichende, von einem konkreten Zweck weitgehend entkoppelte Freizügigkeit stellt in völkerrechtlichem Rahmen eine seltene Ausnahme dar. Sie wäre ohne den über viele Jahrzehnte andauernden Prozess der europäischen Annäherung und Integration nicht denkbar. Dennoch gehen hiervon weitreichende Reziprozitätserwartungen aus. 2. Viele Europäer haben durch die Praxis ihrer eigenen Reiseund Aufenthaltserfahrungen offenbar die Auffassung entwickelt – gleichsam in ihrer eigenen migrationspolitischen Parallelwertung – es sei schlichtweg „ungerecht“, wenn etwa ein deutscher Staatsangehöriger ohne Weiteres nach Bangladesch reisen könne, um dort, wenn er das möchte, ansässig zu werden. Dies jedoch umgekehrt nicht in gleicher Weise möglich ist und von der Erfüllung vielfältiger rechtlicher und tatsächlicher Voraussetzungen abhängt. Vielleicht ist dieses „Rechts- und Gerechtigkeitsgefühl“ auch gar nicht ungesund oder vollkommen falsch, es entspricht jedoch, wie sich gezeigt hat, nicht der gegenwärtigen völkerrechtlichen Lage. 3. Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 hat neben der Unterbringungsinfrastruktur auch die bestehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der europäischen Staaten einem außergewöhnlichen Belastungstest unterworfen. Ähnlich wie die Vorschriften der Europäischen Union zeigte sich, dass auch die Bestimmungen von GFK und EMRK auf zahlenmäßig „bewältigbare Flüchtlingsbewegungen“ ausgelegt sind. Der Massenzustrom des Jahres 2015 führte jedoch zu einer Situation, deren Eintreten – obwohl sie dem Grunde nach für möglich gehalten wurde – doch stets als unwahrscheinlich galt. Zum Teil muss man im 93 Vgl. Thomas Oppermann/Dieter Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 7. Aufl. 2016, § 16 Rdnr. 5 und 11 ff.; Georg Jochum, Europarecht unter Berücksichtigung des Vertrags von Lissabon, 2. Aufl. 2012, Rdnr. 972 ff.; Siegfried Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2. Aufl. 2012, Art. 20 AEUV Rdnr. 9 ff.

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Hinblick auf die normative Bewältigung der eingetretenen Situation auch konstatieren, dass die Steuerungsfähigkeit des Rechts in manchen Situationen an ihre Grenzen stößt.94 Und es zeigt sich ein Phänomen, das auch schon in früheren Epochen des Flüchtlings- und Migrationsrechts festgestellt werden konnten: Dass anhaltende Ströme von Schutzsuchenden sich auf die Bereitschaft vieler Staaten zur Vereinbarung grundlegend neuer Regelungen nicht eben förderlich auswirken. Die Reaktion etwa der Visegrad-Staaten stellt insofern nichts wirklich Überraschendes oder Neuartiges dar. Es ließe sich angesichts der eingetretenen Situation höchstens der Vorwurf formulieren, dass die EU in Zeiten relativer Ruhe der Flüchtlingssituation die Verabschiedung einfacherer und leichter handhabbarer Normsysteme versäumt hat. Indessen wäre der Flüchtlingsstrom des Jahres 2015 auch damit wohl kaum zu bewältigen gewesen. 4. Um schließlich auf die Ausgangsfrage eines völkerrechtlich begründeten „Recht auf Migration“ zurückzukommen, so ist hiervon etwa im Sinne eines subjektiven Rechts nach Europa migrieren zu dürfen grundsätzlich nicht auszugehen. Das von vereinzelten Stimmen im Schrifttum geforderte „globale Freizügigkeitsrecht“ 95 lässt sich normativ aus den bestehenden völkerrechtlichen Gewährleistungen nicht ableiten. Es kommt vielmehr zur Anwendung von GFK und EMRK auf das Ergebnis von Wanderungsbewegungen, die letztlich dazu geführt haben,

94 Hierzu auch Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 157: „Ob dies tatsächlich geschieht, ob das Recht die Kraft hat, Leitlinie und Maßstab des exekutiven und auch des judikativen Handelns zu sein, ist selbst in rechtsstaatlichen Gemeinwesen keineswegs immer gesichert.“ (Hervorhebungen v. Verf.). 95 Z. B. Paul Tiedemann, Flüchtlingsrecht. Die materiellen und verfahrensrechtlichen Grundlagen, 2014, S. 161 ff.; ebenfalls mit diesem Ansatz: Andreas Cassee, Globale Bewegungsfreiheit. Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen, 2016, insbes. S. 171 ff. und S. 210 ff.; Christopher Heath Wellman/Phillip Cole, Debating the Ethics of Immigration. Is There a Right to Exclude?, 2011, S. 173 ff.; Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, 2008, S. 75 ff.

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dass ausländische Staatsangehörige sich faktisch in einem Konventionsstaat befinden. Dann kommt es auf Fragen des Art. 33 GFK und Art. 3 EMRK an, inwieweit – wenn schon kein Migrationsrecht – dann doch ein dauerhaftes oder zumindest temporäres Bleiberecht normativ abgeleitet werden kann. Besonders problematisch und im Hinblick vor allem auf unionsrechtliche Maßnahmen der Sicherung der EU-Außengrenzen erscheint dabei das Aufgreifen von Schutzsuchenden auf Hoher See. Sollte der Kontakt durch Hoheitsträger gleichzeitig eine Schutzpflicht zur Verbringung in die Konventionsstaaten auslösen – und manches in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR weist darauf hin – wäre ein Freizügigkeitsregime ohne Binnengrenzkontrollen, aber mit gemeinsam zu schützenden Außengrenzen wie das (bisherige) Schengen-System in Zukunft kaum mehr realisierbar.

Eine Krise des Rechts? – Die Migrationskrise aus der Perspektive des europäischen und des nationalen Rechts Von Kay Hailbronner I.

Pflichten zur Aufnahme von Flüchtlingen in der Genfer Flüchtlingskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II. Das Dublin-System als unionsrechtliche Antwort auf Fluchtbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 III. Der Systemzusammenbruch im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 IV. Alternativen und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

I. Pflichten zur Aufnahme von Flüchtlingen in der Genfer Flüchtlingskonvention Normalerweise versuchen Regierungen, im Spannungsfeld zwischen Verfassungs- und Völkerrecht einerseits und politischer Handlungsfähigkeit durch Gesetzgebung und Verwaltung andererseits, die zwingenden Vorgaben des Völkerrechts und Verfassungsrechts möglichst klein zu halten.1 In der gegenwärtigen flüchtlingspolitischen Diskussion scheint das anders zu sein.2 „Das Asylrecht erlaubt keine Obergrenzen“ ist nur eine der juristischen Metaphern, die von vornherein die Diskussion über 1 Vgl. Kay Hailbronner/Daniel Thym, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Introduction Rdnr. 46 ff.; Matthias Hartwig, Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland 2011, ZaöRV 75 (2015), S. 869 ff. 2 Z. B. Thomas Oppermann/Claus D. Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 7. Aufl. 2016, § 3 Rdnr. 20 ff.; Kay Hailbronner, Aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Schengen und Dublin, in: Breitenmoser/ Gless/Lagodny (Hrsg.), Schengen und Dublin in der Praxis. Aktuelle Fragen, 2015, S. 3 ff. (6 ff. und 14 ff.).

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die Reaktionsmöglichkeiten auf eine in ihrer Dimension bisher unbekannte Flüchtlingswanderung bestimmt haben. Eine andere ist der Verweis auf die „Europäischen Grundwerte“, aus denen humanitäre Aufnahmepflichten abgeleitet werden. Die Grenzen zwischen Recht und Moral verschwimmen dabei regelmäßig.3 Tatsächlich hat die Entwicklung des Völkerrechts bisher wenig daran geändert, dass die Entscheidung über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen auch in der EU ein zentraler Bestandteil der staatlichen Souveränität bleibt.4 Auch das Non-Refoulement Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention zugunsten von politisch, rassisch oder religiös Verfolgten und der EMRK für Folteropfer und Opfer unmenschlicher Behandlung bleibt auf ein Verbot der Zurückweisung, Ausweisung oder Abschiebung mit der Folge unmittelbarer Verfolgung oder Gefährdung beschränkt.5 Wo eine solche Gefahrenlage individuell und konkret nicht nachweisbar ist, z. B. weil ein Asylsuchender aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist, besteht kein Anspruch auf Schutz und zwar auch dann nicht, wenn die Lebensumstände erbärmlich und die Chancen für ein besseres Leben gering sind. Das schließt die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingskontingenten zum Zweck vorübergehenden Schutzes oder dauerhafter Ein-

3 Vgl. auch Eckart Klein, Rechtliche Klarstellungen zur Flüchtlingskrise, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 157 ff. (158) zur „moralischen Fundierung“ des Rechts; eingehend: Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (756 ff.). 4 Z. B. Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, 3. Abschn. Rdnr. 284 ff. 5 Hierzu bereits früher: Kay Hailbronner, Asylrecht und Völkerrecht, in: Beitz/Wollenschläger (Hrsg.), Handbuch des Asylrechts. Unter Einschluß des Rechts der Kontingentflüchtlinge. Grundlagen, Bd. I, 1980, S. 69 ff. (75 ff.); Kay Hailbronner, Art. 3 EMRK – ein neues europäisches Konzept der Schutzgewährung?, DÖV 1999, S. 617 ff.

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wanderung als politische Entscheidung nicht aus, wie dies ja auch vieltausendfach nach dem Jugoslawien-Krieg der Fall war.6 Es war noch nie einfach, die damit verbundenen potentiellen Härten politisch auszuhalten. Aber sie sind die notwendige Konsequenz der Wahrnehmung der elementaren Aufgabe einer „Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung“, wie sie in § 1 AufenthG umschrieben ist.7 Möglicherweise ist dieser Rekurs auf nationale Souveränität und Grenzen der Flüchtlingsaufnahme in der globalisierten Welt nur eine verkürzte Problemsicht auf die weltweiten Migrationsbewegungen. Aber in Ermangelung internationaler Mechanismen und Organisationsstrukturen gibt es bislang keine Alternative zur staatlichen Souveränität. Das Völkerrecht ist erstaunlich schweigsam gegenüber der Jahrhundertaufgabe einer Bewältigung großer Migrationsbewegungen.8 Zahlreiche Organisationen befassen sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung,9 der Verhinderung von Krankheiten10 und der Regelung des in6 Z. B. Stefan Alscher/Johannes Obergfell/Stefanie Ricarda Ross, in: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Migrationsprofil Westbalkan. Ursachen, Herausforderungen und Lösungsansätze, 2015; Hans-Peter Welte, Daueraufenthalt für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, InfAuslR 2001, S. 68 f.; Helmut Rittstieg, Die Gesetzgebung läuft dem Recht davon. Die Rechtslage der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien, InfAuslR 1994, S. 279 ff.; eingehend: Karoline Kerber, Die vorübergehende Schutzgewährleistung in der Europäischen Union. Völkerrechtliche Grundlagen, innerstaatliches Recht und Harmonisierung unter besonderer Berücksichtigung der Harmonisierungsperspektiven, 1998. 7 Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (756 ff.). 8 Z. B. Marcel Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2016, 3. Abschn. Rdnr. 280. 9 Z. B. OECD, Weltbank und UNIDO bzw. UNDP, vgl. Matthias Ruffert/Christian Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2. Aufl. 2015, § 13 Rdnr. 639. 10 Z. B. WHO und FAO, vgl. Matthias Ruffert/Christian Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2. Aufl. 2015, § 13 Rdnr. 295 ff.

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ternationalen Handels und Verkehrs.11 Für plötzlich entstehende große Fluchtbewegungen gibt es dagegen keine Regeln oder institutionelle Mechanismen, die solche Fluchtbewegungen verhindern oder zumindest in geordnete Bahnen leiten könnten. Wie schwierig die zwischenstaatliche Zusammenarbeit selbst innerhalb Europas im Bereich der Aufnahme von Flüchtlingen ist und wie schnell Solidarität und Verantwortungsübernahme an ihre Grenzen kommen, hat sich nicht zuletzt am Schicksal des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in der Europäischen Union gezeigt.12 II. Das Dublin-System als unionsrechtliche Antwort auf Fluchtbewegungen Das Grundgesetz hat für die großen Migrationsbewegungen als Folge von Kriegen, Bürgerkriegen, politischer Instabilität und ökonomischen Zusammenbrüchen in Art. 16a GG Grundentscheidungen getroffen. Der Schutz politisch Verfolgter durch das Asylrecht ist auf diejenigen Personen beschränkt, die nicht aus einem sicheren Drittstaat eingereist sind.13 Für Asylbewerber, die aus sicheren Herkunftsstaaten kommen, soll ein verkürztes und deutlich schnelleres Asylverfahren mit einge11 Z. B. WTO und UNCTAD, vgl. Christoph Herrmann/Wolfgang Weiß/Christoph Ohler, Welthandelsrecht, 2. Aufl. 2007; Matthias Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 10. Aufl. 2014, § 10 Rdnr. 20 ff. 12 Vgl. Harald Dörig, Auf dem Weg in ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem, NVwZ 2014, S. 106 ff.; Helge Sodan, Das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 172 ff. (177 ff.); Matthias Wendel, Asylrechtlicher Selbsteintritt und Flüchtlingskrise. Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen administrativer Entscheidungsspielräume im Mehrebenensystem, JZ 2016, S. 332 ff.; Daniel Fröhlich, Zuständigkeitsallokation im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, ZG 2016, S. 215 ff.; eingehend Kay Hailbronner, Zum Asylrecht der Europäischen Union – Nur ein Managementproblem oder falsche Konzepte?, Recht und Politik 2016, S. 68 ff. 13 Z. B. Albrecht Randelzhofer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Stand der 76. Erg.-Lfg. (Mai 2016), Art. 16a Rdnr. 25 f.; Martin Will, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 16a Rdnr. 55 ff.

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schränkter gerichtlicher Überprüfung stattfinden, das auf das Vorliegen einer von der Sicherheitsvermutung abweichenden Ausnahmesituation beschränkt ist.14 Allerdings modifiziert das Unionsrecht die Anwendung dieser Grundsätze innerhalb der Union durch die Regeln der DublinIII-VO über die Zuständigkeit.15 Die sichere Drittstaatenregelung, einschließlich der zu ihrer Umsetzung ergangenen Bestimmungen des Asylgesetzes, wird insoweit durch die unionsrechtlichen Regeln überlagert.16 Danach ist Deutschland grundsätzlich verpflichtet, im Falle der Zuständigkeit Asylsuchende zuzulassen und ein Asylverfahren durchzuführen. Deutschland ist aber auch verpflichtet, gegenüber Asylsuchenden, deren Schutzberechtigung von anderen EU-Mitgliedstaaten zu überprüfen ist, ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen EU-Mitgliedsstaats durchzuführen und berechtigt, gegebenenfalls eine Rückführung in den zuständigen Dublin-Staat zu veranlassen. Dieses Verfahren ist nach dem Wortlaut der Verordnung anzuwenden, sobald ein Antragsteller erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.17 Ist das der Fall, so bleibt der Staat zur 14 Vgl. Helge Sodan, Das Konzept der sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 172 ff. (173 f.); Martin Will, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 7. Aufl. 2014, Art. 16a Rdnr. 87 ff. 15 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) vom 26. Juni 2013 (ABl. Nr. L 180/31 v. 29.6.2013). 16 Vgl. Kay Hailbronner, Aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Schengen und Dublin, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Hrsg), Schengen und Dublin in der Praxis. Aktuelle Fragen, 2015, S. 3 ff. (14 ff.); Constantin Hruschka/Francesco Maiani, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part D VI – Regulation (EU) No 604/2013, Art. 1 Rdnr. 1 ff. 17 Constantin Hruschka/Francesco Maiani, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part D VI – Regulation (EU) No 604/2013, Art. 20 Rdnr. 2 ff.

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Feststellung der Zuständigkeit auch dann verpflichtet, wenn der Asylbewerber weiterreist und im nächsten Staat erneut Asyl beantragt (Art. 20 Abs. 5 Dublin-III-VO).18 Von der Pflicht, ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchzuführen, ist die Pflicht, einen Antragsteller zum Asylverfahren zuzulassen, zu unterscheiden. Die Dublin-III-VO geht als Grundprinzip davon aus, dass ein Asylbewerber kein Recht darauf hat, sein Asylland frei zu wählen.19 Vielmehr sind objektive Kriterien für die Zuständigkeitsfestlegung maßgebend (Art. 7 ff. Dublin-III-VO). Dies sind im Wesentlichen Anwesenheit eines Familienmitglieds im Falle unbegleiteter Minderjähriger (Art. 8 Dublin-III-VO), bereits erfolgte Anerkennung an ein Familienmitglied eines Antragstellers (Art. 9 ff. Dublin-III-VO), die Ausstellung eines Visums oder Aufenthaltstitels (Art. 12 Dublin-III-VO), die erstmalige illegale Einreise (Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO), ein faktischer Aufenthalt von mindestens 5 Monaten vor Antragstellung in einer hierarchischen Reihenfolge (Art. 13 Abs. 2 Dublin-III-VO).20 Kann anhand dieser Kriterien der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmt werden, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, für dessen Prüfung zuständig. Das erklärt z. T., warum viele Asylbewerber es tunlichst vermeiden, einen Asylantrag in dem Einreisestaat zu stellen. An sich sind zwar alle Dublin-Staaten auch verpflichtet, den illegalen Aufenthalt ebenso wie die Asylbeantragung nach der Euro-

18 So auch Constantin Hruschka/Francesco Maiani, in: Hailbronner/ Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part D VI – Regulation (EU) No 604/2013, Art. 20 Rdnr. 6 f. 19 Kay Hailbronner, Aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Schengen und Dublin, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Hrsg.), Schengen und Dublin in der Praxis. Aktuelle Fragen, 2015, S. 3 ff.: „[. . .] auf der Grundlage bestimmter, von den Wünschen des einzelnen Asylsuchenden unabhängigen Kriterien.“ 20 Vgl. Constantin Hruschka/Francesco Maiani, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part D VI – Regulation (EU) No 604/2013, Art. 7 Rdnr. 1 ff.

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dac-VO21 mittels Fingerabdruck zu registrieren. Geschieht dies aber nicht, wird die Rückübernahme faktisch schwierig, wenn nicht ausgeschlossen. Kann der zuständige Staat nach den Dublin-Kriterien nicht ermittelt werden, so ist der erste Mitgliedstaat zuständig, in dem der Asylantrag gestellt wird. Dasselbe gilt, wenn die nach der Dublin-III-VO vorgesehenen Fristen für Übernahmeersuchen oder Überstellung an den zuständigen Staat nicht eingehalten werden können. Hinzu kommen rein faktische Probleme, wie der Nachweis eines Voraufenthalts, eine unzureichende oder fehlende Registrierung, Identitätsverschleierung (durch gefälschte Dokumente) oder das Untertauchen des Asylbewerbers zum Zeitpunkt der Abschiebung. Zusätzlich sieht die Dublin-III-VO eine Reihe fakultativer Übernahmen der Zuständigkeit aus humanitären Gründen vor (u. a. ein Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 DublinIII-VO).22 Reist ein Asylbewerber „irregulär“ in einen anderen, unzuständigen EU-Mitgliedstaat weiter, der nach seiner Auffassung für die Prüfung der Zuständigkeit oder Durchführung des Asyl21 Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehrund Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Neufassung) vom 26. Juni 2013 (ABl. Nr. L 180/1 v. 29.6.2013). 22 Marco Bruns, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 27a AsylVfG Rdnr. 60 ff. Zu den dabei ggf. zu berücksichtigenden „human rights obligations“, vgl. Constantin Hruschka/Francesco Maiani, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part D VI – Regulation (EU) No 604/2013, Art. 17 Rdnr. 2.

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verfahrens zuständig ist, so kann dieser ein Gesuch um Aufnahme oder Rücknahme des Antragstellers stellen. Gegen Entscheidungen gibt es gerichtlichen Rechtsschutz, der in der Praxis häufig auf Abschiebungshindernisse, wie z. B. systemische Mängel im Asylverfahren des eigentlich zuständigen Staates gestützt ist.23 Nach der neueren EuGH-Rechtsprechung sind auch Frist und Zuständigkeitsregeln gerichtlich durchsetzbar und führen zur Aufhebung einer Rückführungsentscheidung, selbst wenn der zuständige Dublin-Staat die Überstellung bereits bewilligt hatte.24 Vereinfacht ausgedrückt hat sich das Dubliner Zuständigkeitsprüfungs- und Überstellungsverfahren zum „Verfahren im Verfahren“ entwickelt. Trotz mancher Versuche, in mittlerweile drei Dublin-Verordnungen das Verfahren zu entbürokratisieren, ist das Verfahren insgesamt ineffektiv.25 Schon vor der großen Flüchtlingswelle des Jahres 2015 stand die Zahl der an andere zuständige Dublin-Staaten überstellten Asylbewerber in keinem Verhältnis zu der Zahl der tatsächlich in Deutschland zum Asylverfahren zugelassenen Asylantragsteller. Das liegt nicht nur an der Überkomplexität des Verfahrens und der offenen und versteckten Weigerung der zuständigen Mitgliedstaaten, ihren Pflichten aus dem Unionsrecht nachzukommen, sondern auch an der Unwilligkeit oder Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, insbesondere in den Bundeslän-

23 Vgl. Kay Hailbronner, Aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Schengen und Dublin, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Hrsg.), Schengen und Dublin in der Praxis. Aktuelle Fragen, 2015, S. 3 ff. (14 ff.); hierzu auch Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (758 ff.); Anna Lübbe, „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, S. 105 ff. 24 Z. B. EuGH vom 7. Juni 2016, Rechtssache C-63/15 – Ghezelbash, ECLI:EU:C:2016:409; EuGH vom 7. Juni 2016, Rechtssache C-155/15 – Karim, ECLI:EU:C:2016:410. 25 Hierzu Daniel Fröhlich, Zuständigkeitsallokation im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, ZG 2016, S. 215 ff. (223 ff.); auch bereits Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (762).

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dern, ausländer- und asylrechtliche Regeln bezüglich der Rückführung in die zuständigen Dublin-Staaten durchzusetzen. Dazu nur eine Zahl: Im Jahr 2014 waren es von den bewilligten Rückführungen gerade einmal ca. ein Viertel aller abgelehnten Asylbewerber, die tatsächlich zurückgeführt wurden.26 Auch derzeit kann von einem ordnungsgemäßen Funktionieren des Dublin-Systems kaum gesprochen werden. Bei 193.535 erstmalig im deutschen EASY registrierten Erstanträgen im 1. Halbjahr 2016 wurden 13.282 Übernahmeersuchen an die Mitgliedstaaten gestellt, zumeist auf der Grundlage von Eurodac-Treffern, von 6.038 bewilligten Überstellungen wurden schließlich 1.777 Personen tatsächlich überstellt.27 Für die erstaunlich geringe Anwendung des Dublin-Rechts im Jahr 2015 ist schon vor der legendären Kanzlerentscheidung zur Nichtanwendung von Dublin für Syrienflüchtlinge, die sich in Ungarn aufhielten, die immanente Mangelhaftigkeit der Dubliner Zuständigkeitskriterien, die Überforderung der EU-Staaten mit Außengrenzen und die unzureichende Erfüllung der Mindestanforderungen an die Unterbringung und Asylprüfung von Asylbewerbern, insbesondere in Griechenland („systemische Defizite“) angeführt worden.28 Nachdem der EGMR29 und im Gefolge davon der EuGH30 eine konkrete Gefahr der Verlet26 Vgl. Eckart Lohse, Die Mühen der Abschiebung, FAZ.NET vom 19. Mai 2015, verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/in land/auslaender-wer-einmal-in-deutschland-ist-wird-selten-abgeschoben13601134.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016); aktuelle Übersicht der Asylzahlen verfügbar unter: http://www.bamf.de/DE/Info thek/Statistiken/Asylzahlen/asylzahlen-node.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 27 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Asylgeschäftsstatistik für den Monat September 2016, 2016. 28 Vgl. Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (758 ff.). 29 EGMR vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, M.S.S. gegen Griechenland und Belgien. 30 EuGH vom 21. Dezember 2011, verbundene Rechtssachen C-411/ 10 und C-493/10 – N.S. u. a., ECLI:EU:C:2011:865.

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zung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe angenommen haben, sind Überstellungen an den zuständigen Dublin-Staat Griechenland gänzlich ausgesetzt worden.31 In der Folgezeit hat dies zu einer langen Reihe von Gerichtsverfahren gegen Dublin-Abschiebungsanordnungen nach Ungarn,32 Italien,33 Rumänien34 geführt. Da weder die Kriterien des EuGH noch diejenigen des Bundesverwaltungsgerichts hinreichend klar festlegen, wann „systemische Mängel“ vorliegen, gibt es mittlerweile in hunderten von Verwaltungsgerichtsentscheidungen divergierende Rechtsprechung. Selbst in den Fällen, in denen keine systemischen Mängel festgestellt werden, scheitert die Abschiebungsanordnung nicht selten aus anderen Gründen, so etwa wegen „nicht kindgerechter Unterbringung“ in Frankreich.35 Für die Rechtslage Deutschlands ist zu beachten, dass auch nach der EuGH-Rechtsprechung die systemischen Mängel keine Reservezuständigkeit des Staates begründen, in den sich der Flüchtling durchgeschlagen hat. Vielmehr ist danach in der Reihenfolge der Zuständigkeitskriterien weiter zu prüfen. Wonach 31 Vgl. auch die Erledigung des Verfahrens vor dem BVerfG über Abschiebungen im Rahmen des Dublin-Systems von Deutschland nach Griechenland auf der Grundlage einer Anweisung zum Selbsteintritt des Bundesinnenministeriums an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BVerfGE 128, 224 – Dublin II Verfahren (zunächst auf ein Jahr bis zum 12. Januar 2012 befristet, seitdem aber bereits mehrfach verlängert). 32 Z. B. BVerwG vom 27. April 2016, 1 C 24.15, InfAuslR 2016, S. 316 ff. 33 Keine „systemischen Mängel“ haben z. B. festgestellt: OVG Nordrhein-Westfalen vom 22. September 2016, 13 A 2448/15.A, – juris, Rdnr. 72; NdsOVG vom 25. Juni 2015, 11 LB 248/14, DÖV 2015, S. 807; VG München vom 31. August 2016, M 7 K 15.50718, – juris. Von „systemischen Mängeln“ geht hingegen z. B. aus: VG Braunschweig vom 16. September 2016, 5 A 344/15, – juris. 34 Z. B. VG Bayreuth vom 18. April 2016, B 3 S 16.50026, – juris; im einstweiligen Rechtsschutz offen gelassen: VG Gelsenkirchen vom 9. Dezember 2015, 5a L 1881/15.A, – juris. 35 Z. B. SächsOVG vom 10. Mai 2016, 5 A 380/15.A, – juris; unter zumindest ideeller Bezugnahmen auf die Entscheidung EGMR vom 19. Januar 2012, Nr. 39472/07, Popov gegen Frankreich.

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sich der dann zuständige Staat bestimmt, ist nicht ganz klar; nach der Logik der Dublin-III-VO ist der nächste Staat, in den der Asylbewerber eingereist ist, für das weitere Verfahren der Zuständigkeitsbestimmung und gegebenenfalls Zuständigkeitsübernahme zuständig. Möglich ist aber auch eine humanitäre Übernahme der Zuständigkeit nach dem politischen Ermessen (Art. 17 Dublin-IIIVO). Die Dublin-III-VO enthält dafür keine Kriterien. Insoweit lässt sich argumentieren, dass damit auch globale Übernahmen der Verantwortlichkeit erfasst sind.36 Unionsrechtlich ist dies freilich jedenfalls mangels einer Feststellung systemischer Mängel nicht unproblematisch. Gegen globale Übernahmeentscheidungen – im Gegensatz zu humanitären Einzelfällen – spricht, dass dadurch eine der Funktionen der Dublin-III-VO beeinträchtigt wird, die das Asylverfahren auf die Prüfung internationalen Schutzes unter Ausschluss eines subjektiven Rechts auf freie Wahl des Aufnahmelandes reduziert. Eine auch nur zeitweise gültige Erklärung offener Grenzen und damit die partielle Außerkraftsetzung des Dubliner Zuständigkeitssystems läuft zumindest tendenziell der Zielsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zuwider. Andererseits sind humanitäre Aspekte und die unionsrechtliche Solidarität mit überlasteten Nachbarstaaten zu berücksichtigen. Die unionsrechtskonforme Antwort wäre diejenige einer organisatorischen und finanziellen Unterstützung an den betreffenden Mitgliedstaat in einer EU-koordinierten Aktion. Freilich hat sich die Europäische Union angesichts der Flüchtlingskrise als nicht handlungsfähig erwiesen. Die Relokationsbeschlüsse der EU vom Herbst 2015/Anfang 2016 kamen zu spät und wurden von den Mitgliedstaaten nicht umgesetzt.37 Darin manifes-

36 Mit eher extensivem Ansatz: Constantin Hruschka/Francesco Maiani, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part D VI – Regulation (EU) No 604/2013, Art. 17 Rdnr. 2 und 13. 37 Z. B. Beschlüsse vom 9. September 2015, Europäische Kommission, Pressemitteilung. Flüchtlingskrise: die Europäische Kommission handelt,

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tiert sich ein deutlicher Autoritätsverlust des Unionsrechts, der auch strukturelle Gründe hat. Die Verabschiedung von Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit, deren Umsetzung auf den Widerstand der hauptbetroffenen Staaten stößt und daher unwahrscheinlich ist, befördert das Vertrauen in die europäische Rechtsordnung nicht. Gravierender für das Vertrauen in ein Gemeinsames Europäisches Rechtssystem war aber der faktische Kollaps des Dublin-Systems. Er ist nicht erst mit der weithin unkontrollierten Einreise von Flüchtlingen in den SchengenRaum, sondern schon vorher mit der mehr oder weniger stillschweigenden Ignorierung der unionsrechtlichen Regeln über die Erfassung aller illegal einreisenden Drittstaatsangehörigen, über eine Grenzkontrolle und den Zugang zum Asylverfahren eingetreten.38 III. Der Systemzusammenbruch im Unionsrecht Angesichts dieser Lage stellt sich die Frage der Anwendung der unionsrechtlichen Regeln über die Zulassung solcher Drittstaatsangehöriger zum Asylverfahren, die offensichtlich irregulär innerhalb der Union vom zuständigen Mitgliedstaat weitergereist sind. Grundsätzlich gilt, dass das Fehlverhalten eines Staates eine Nichteinhaltung unionsrechtlicher Pflichten durch hiervon betroffene Staaten nicht rechtfertigt.39 Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist insoweit durch die unionsrechtlichen Mechanismen der Vertragsverletzungsklage und anderer unionsrechtlicher Sanktionsmöglichkeiten abgelöst. Bedeutet dies, dass Deutschland verpflichtet ist, prinzipiell ohne Beschränkung alle Flüchtlinge, die innerhalb der EU wei2015, verfügbar unter: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5596_ de.htm (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 38 Vgl. eingehend bei Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (758 ff.). 39 Vgl. Christian Calliess/Wolfgang Kahl/Adelheid Puttler, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 4 EUV Rdnr. 116, mit Einschränkungen, insbes. Rdnr. 120.

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tergereist sind, aufzunehmen und im Rahmen des DublinRechts eine Zuständigkeitsprüfung durchzuführen und gegebenenfalls selbst das Asylverfahren durchzuführen oder eine Überstellung in den zuständigen Dublin-Staat vorzunehmen? Dies ist offensichtlich der Schluss gewesen, der aus den Vorgängen in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 bezüglich einer weithin unkontrollierten illegalen Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland gezogen worden ist. Die unionsrechtlichen Grundlagen waren hierfür neben der Dublin-III-VO auch der Schengener Grenzkodex,40 der prinzipiell die Durchführung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen, einschließlich der Kontrollen von Drittstaatsangehörigen, ausschließt und zeitlich befristete Ausnahmen nur in den vom Schengener Grenzkodex und von der Kommission genehmigten Rahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erlaubt.41 Materielle Rechte für illegal Einreisende ergeben sich allerdings aus dem Schengener Grenzkodex nicht. Der Kodex regelt nur das Verfahren der Prüfung. In Übereinstimmung mit den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes und des Asylgesetzes gilt der Grundsatz, dass Drittstaatsangehörige nur bei Erfüllung der Einreisevoraussetzungen ein Einreiserecht haben (Art. 5 und 13 Grenzkodex). Illegal Einreisende sind zurückzuweisen, wenn sie sich nicht ausnahmsweise auf den Grundsatz des NonRefoulement in einen Verfolgerstaat berufen können (Art. 3a Grenzkondex i. V. m. Genfer Flüchtlingskonvention).

40 Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) vom 15. März 2006 (ABl. Nr. L 105/1 v. 13.4.2006). 41 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) vom 15. März 2006 (ABl. Nr. L 105/1 v. 13.4.2006), Art. 23 ff., eingehend hierzu Astrid Epiney/Andrea Egbuna-Joss, in: Hailbronner/Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law. A Commentary, 2. Aufl. 2016, Part B II – Regulation (EU) No 562/2006, Art. 23 bis 31 Rdnr. 2 ff.

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Folgt aber nicht jedenfalls aus den Sondervorschriften der Dublin-III-VO eine Pflicht zur ungehinderten Einreise von illegal weiterreisenden Asylbewerbern, da die VO ja hierfür ein Verfahren zur Zuständigkeitsbestimmung und Überstellung an den zuständigen EU-Mitgliedstaat oder einen assoziierten Dublin-Staat (z. B. Schweiz, Norwegen, Island) vorsieht? Meines Erachtens enthält die Dublin-III-VO hierzu im Falle eines Massenzustroms von irregulär innerhalb der EU weiterreisenden Flüchtlingen keine eindeutige Antwort. Grundsätzlich gilt zwar die Pflicht zur Aufnahme und Durchführung des Dublin-Prüfverfahrens für alle illegal aufhältigen Flüchtlinge. Insofern ist die irreguläre Sekundärmigration vom Unionsrecht erfasst. Was jedoch nicht geregelt ist, ist der systemisch bedingte Teilzusammenbruch des Systems, weil sich Staaten außerstande erklären, ihre unionsrechtlichen Pflichten wahrzunehmen. Die entscheidende Frage richtet sich nun darauf, ob es Staaten in dieser Situation untersagt ist, auf ihr nationales Recht der Zurückweisung von Antragstellern aus sicheren Drittstaaten zurückzugreifen oder besteht eine Verpflichtung zur Durchführung eines aufwendigen Dublin-Prüfverfahren, im Wissen, dass das DublinVerfahren seinen Zweck aller Voraussicht nach nicht erreichen wird?42 Lehnt man dies ab, so ist die Konsequenz eine prinzipiell unbeschränkte Reserveaufnahmeverpflichtung desjenigen Mitgliedstaats, der vom Asylbewerber als Wunschaufnahmestaat deklariert wird – im Widerspruch zum Prinzip, dass das Asylrecht kein Recht auf Wahl des Asylstaates enthält. Für diese Auffassung spricht weder die Zielsetzung der Dublin-III-VO, durch eine ausschließliche Zuständigkeitsregelung die Beschränkung des vorläufigen Aufnahmerechts auf die Funktion der Durchführung eines Asylverfahrens zu beschränken, noch die praktische Wirksamkeit (effet utile) des Verfahrens zur Ermittlung der Zuständigkeit, im Bewusstsein der Unmöglichkeit der Durchsetzung der sich daraus ergebenden Folgen einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat. 42 Vgl. hierzu Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, JZ 2016, S. 753 ff. (761).

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Für eine nationale Kompetenz spricht aber auch Art. 72 AEUV, der den Mitgliedstaaten die Kompetenz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und inneren Sicherheit zuspricht.43 Ob sich daraus eine Kompetenz zur Abweichung vom Unionsrecht ableiten lässt, ist zwar umstritten. Aber relevant ist die Bestimmung allemal für die Auslegung und Lückenschließung des Unionsrechts. Insofern lässt sich argumentieren, dass zumindest in einer Situation, wie sie ab Oktober 2015 bestand, eine nationale Kompetenz bestand, die irreguläre Einwanderung von Flüchtlingsbewegungen zu begrenzen. Auch im Unionsrecht kann eine rechtliche Lage, wie sie im Völkerrecht mit den Begriffen „Obsoleszenz“ bzw. „faktisches Außerkraft treten von Normen“ auftritt,44 nicht völlig ausgeschlossen werden. Eine Unterstützung erfährt diese Argumentation auch dadurch, dass die im Herbst 2015 verabschiedeten Relokationsbeschlüsse,45 die freilich niemals umgesetzt wurden, von den Grundprinzipien des Dublin-Rechts abweichen. Eine Einführung von Begrenzungen oder Beschränkungen der Einreise von Personen an den Binnengrenzen zum Zweck der Zurückweisung illegal aus sicheren Drittstaaten einreisenden Drittstaatsangehörigen wirft freilich die Frage der Vereinbarkeit mit dem Schengener Grenzkodex auf. Grundsätzlich regelt der Grenzkodex die Voraussetzungen für eine vorübergehende Wie-

43 Vgl. Volker Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 72 AEUV Rdnr. 7; Matthias Rossi, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta. Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 72 AEUV Rdnr. 4 ff. 44 Z. B. Wolfram Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht. Zum Einfluß der Praxis auf Inhalt und Bestand völkerrechtlicher Verträge, 1983, S. 218; Christina Binder, Die Grenzen der Vertragstreue im Völkerrecht: am Beispiel der nachträglichen Änderung der Umstände, 2013, S. 267 f.; Jörn A. Kämmerer, Inländer im Europarecht – Obsoleszenz oder Renaissance eines Rechtsbegriffs?, EuR 2008, S. 45 ff. 45 Z. B. Beschlüsse vom 9. September 2015, Europäische Kommission, Pressemitteilung. Flüchtlingskrise: die Europäische Kommission handelt, 2015, verfügbar unter: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5596_ de.htm (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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dereinführung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen. Die Kommission hat in ihrer an Deutschland und Österreich gerichteten Entscheidung ausdrücklich anerkannt, dass eine unkontrollierte Massenzuwanderung, wie sie im Herbst 2015 bestand, im Sinne des Schengener Grenzkodex nationale Maßnahmen zur Einführung von Personenkontrollen zum Zweck der Registrierung von Asylbewerbern erfasst. Die Europäische Kommisson stellt in diesem Zusammenhang fest: „It needs to be acknowledged that the reintroduction of border control may contribute to avoid a continuous overstressing of police forces, rescue services and public infrastructure.“ 46 Eine Befugnis zu einer zahlenmäßigen Begrenzung lässt sich daraus unmittelbar nicht ableiten, obwohl sich argumentieren ließe, dass den von der Kommission erwähnten Gesichtspunkten nicht nur dadurch Rechnung getragen ist, dass registriert und kontrolliert wird. Werden vorübergehende Grenzkontrollen wieder eingeführt, so kommen prinzipiell die Schengener Grenzkodexregeln über die Kontrolle an den Außengrenzen zur Anwendung (vgl. Art. 4 ff. Grenzkodex). Sie lassen – ganz im Einklang mit der Asylverfahrensrichtlinie 2013/32/EU47 – die Verweigerung der Einreise für Drittstaatsangehörige zu, die nicht die Einreisevoraussetzungen erfüllen, vorbehaltlich der Anwendungen der besonderen Bestimmungen zum Asylrecht und zum Internationalen Schutz.48 Die Mitgliedstaaten dürfen daher nicht 46 Stellungsnahme der Kommission zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der von Deutschland und Österreich wiedereingeführten Binnengrenzkontrollen gemäß Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 562/ 2006 (Schengener Grenzkodex) vom 23. Oktober 2015 (C [2015] 7100, Nr. 43). 47 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) vom 26. Juni 2013 (ABl. Nr. L 180/60 v. 29.6.2013). 48 Ebenso auch der neugefasste Art. 4 des Schengener Grenzkodex, geändert durch Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) vom 9. März 2016 (ABl. Nr. L 72/2 v. 23.3.2016).

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die illegale Einreise als solche akzeptieren, wenn nicht ein Asylantrag gestellt wird. Unberührt bleibt die Befugnis, die Einreise aus sicheren Drittstaaten zu verweigern. Dies gilt jedenfalls auch für sichere Dublin-Staaten dann, wenn man davon ausgeht, dass Dublin-Regeln zur Durchführung einer Zuständigkeitsbestimmung bei einer massenhaften Einreise von illegal weiterreisenden Asylbewerbern innerhalb der Union nicht mehr anwendbar sind. Die faktischen Probleme einer Einführung von auf die Verhinderung illegaler Weiterreise asylsuchender Drittstaatsangehöriger ausgerichteten Personenkontrollen an den Binnengrenzen sind damit nicht gelöst. Sie sind in der politischen Diskussion als ein zentrales Argument dafür herangezogen worden, einreisebeschränkende Maßnahmen an den Binnengrenzen nicht in Erwägung zu ziehen. Allerdings hat sich erwiesen, dass die im Zuge der unkontrollierten Einreise von zahlreichen Flüchtlingen eingeführten, zeitlich beschränkten Grenzkontrollen nicht zu einem Zusammenbruch des Schengen-Systems und der grundsätzlich garantierten Bewegungsfreiheit von Personen innerhalb der Union geführt haben. Der Einwand, ein Ausschluss der Einreise illegal aus sicheren Drittstaaten einreisender Drittstaatsangehöriger gefährde das Schengen-System in seiner Gesamtheit, verkennt im Übrigen die technischen Weiterentwicklungen durch „smart border control“-Systeme, die auf die Differenzierung und Ersetzung herkömmlicher Grenzkontrollen durch automatische Erkennungsmechanismen setzen.49 Freilich handelt es sich 49 Z. B. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 und der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 vom 6. April 2016 (COM [2016] 194 2016/0106 [COD]); Vorschlag für die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EU) 2016/399 in Bezug auf die Nutzung des Einreise-/Ausreisesystems vom 6. April 2016 (COM [2016] 196 2016/0105 [COD]).

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hierbei letztlich um Notbehelfe, die ein konsistentes und wirksames unionsrechtliches System der Aufnahme und Verteilung von schutzbedürftigen Flüchtlingen nicht zu ersetzen vermögen. IV. Alternativen und Schlussfolgerungen 1. Die Praxis der irregulären Weiterwanderung sollte dadurch unterbunden werden, dass unmittelbar nach Einreise in die EU, d.h. an den Außengrenzen Registrierung und datenmäßige Erfassung von Asylbewerbern mit einer obligatorischen Zuweisung der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Aufnahmeeinrichtung gekoppelt werden. Jede irreguläre Weiterwanderung sollte mit dem Ausschluss des Zugangs zum Asylverfahren oder nationalen Aufnahmeverfahren und Ausschluss vom sozialen Leistungssystem sanktioniert werden (nicht lediglich in den Fällen, in denen – wie nach § 1a AsylbLG n. F. – internationaler Schutz gewährt worden ist). 2. Irregulär weiterwandernde Asylsuchende sind gegebenenfalls in Abschiebehaft zu nehmen und an die zuständige Aufnahmeeinrichtung weiterzuleiten. Dies setzt allerdings eine zumindest partielle „Vergemeinschaftung“ des Aufnahmesystems der Europäischen Union voraus, d.h. Aufbau und Unterhaltung von EU-organisierten und finanzierten Einrichtungen in den EUMitgliedstaaten, die an Nicht-EU-Staaten angrenzen. In Ermangelung eines solchen Systems muss das System der ausschließlichen Kompetenz der Ersteinreisestaaten aufrechterhalten und durch ein Lastenverteilungssystem ergänzt werden. 3. An den Außengrenzen sollte bereits eine Aufteilung von Asylsuchenden in drei Kategorien erfolgen: (a) sichere Drittstaaten – unmittelbare Zurückweisung; (b) sichere Herkunftsstaaten – Verfahrensprüfung vor Gestattung der Einreise; (c) sonstige Asylsuchende – Verteilung auf EU-Mitgliedstaaten. 4. Die Aufnahme von spontan einreisenden Asylbewerbern sollte durch humanitäre Aufnahmeprogramme der EU und der Mitgliedstaaten ergänzt werden, wobei Differenzierungen sowohl nach dem Aufenthaltszweck50 als auch nach Integrations-

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interessen51 zulässig sind, ohne dass ein individueller Rechtsanspruch auf Aufnahme besteht. Mitgliedstaaten sollen prinzipiell Obergrenzen der Aufnahmefähigkeit festlegen können, wobei sich die Kapazität der humanitären Aufnahme auch nach dem Umfang der spontanen Zuwanderung bestimmen kann. 5. Das geltende EU-Asylrecht ist im Hinblick auf eine Vereinfachung, höhere Transparenz, mehr Klarheit über Rechte und Pflichten, Beschleunigung der Verfahrensdauer sowie stärkerer Berücksichtigung von Missbrauchstatbeständen zu überarbeiten. Die Kommissionsvorschläge der letzten Monate enthalten z. T. richtige Überlegungen und Ansatzpunkte,52 z. B. bezüglich der Verhinderung irregulärer Weiterwanderung innerhalb der EU, enthalten aber noch kein überzeugendes Gesamtkonzept bezüglich einer konsequenten Verhinderung der Nutzung des Asylbewerberstatus als Hintertür einer illegalen Einwanderung. 6. Solange eine grundsätzliche Neuordnung des Dublin-Systems nicht erreicht werden kann, muss das Ziel darauf gerichtet sein, den „Verschiebebahnhof“ Dublin mit seinen ineffizienten Verwaltungsstrukturen und gerichtlichen Rechtsschutzmechanismen53 drastisch einzuschränken, indem „systemische Mängel“ grundsätzlich nicht zur Übernahme der Zuständigkeit durch Deutschland führen, sondern zu einer Substitution des (griechischen, ungarischen oder sonstigen mitgliedstaatlichen) Systems durch ein an Ort und Stelle durchzuführendes EU-Asylverfahren mit EU-Unterbringung. Nicht ausreichend erscheint daher die bloße Ankündigung von Überstellungen nach Griechenland oder anderen Mitgliedstaaten, die anschließend von den Gerichten wegen unzureichender Unterbringung von Flüchtlingen, Z. B. vorübergehende Schutzgewährung bzw. Daueraufenthalt. Z. B. primäre Aufnahme von Familien mit Kleinkindern. 52 Eingehend Europäische Kommission, Priorität. Migration. Auf dem Weg zu einer Europäischen Migrationsagenda, verfügbar unter: http:// ec.europa.eu/priorities/migration_en (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 53 Beispiel: Abschiebung an den zuständigen EU-Mitgliedstaat Frankreich wegen angeblich nicht kindgerechter Unterbringung untersagt, SächsOVG vom 10. Mai 2016, 5 A 380/15.A, – juris. 50 51

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Mängeln des Asylverfahrens oder Unwilligkeit der örtlichen Behörden, Asylverfahren in angemessener Zeit durchzuführen, aufgehoben werden. 7. Da sich derzeit keine Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten abzeichnet, eine gemeinsame Verantwortung für die Bewältigung großer Migrationsbewegungen in die Union zu übernehmen, bleibt die Wahrnehmung der in § 1 AufenthG umschriebenen Aufgabe der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland und der Erfüllung ihrer humanitären Verpflichtungen in der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland. Insoweit richtet sich die Reichweite der humanitären Aufnahmepflichten nach den in Art. 16a GG niedergelegten Grundsätzen eines Ausschlusses vom Asylrecht für Ausländer, die aus sicheren Drittstaaten oder EU-Mitgliedstaaten in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. 8. In Ermangelung effizienter und rascher Rückführungsverfahren an die zuständigen EU-Mitgliedstaaten ist die Bundesrepublik Deutschland befugt, gegebenenfalls Grenzkontrollen an den Binnengrenzen wiedereinzuführen, um illegal aus anderen EU-Mitgliedstaaten einreisende Drittstaatsangehörige an der Einreise zu hindern und erforderlichenfalls Kontingente für die Übernahme derartiger Flüchtlinge in Anlehnung an die von der Europäischen Union beschlossenen (und nicht umgesetzten) Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen festzulegen.

Rechtspolitischer Kommentar: Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen von Bundesregierung und Europäischer Kommission zur weiteren Ausgestaltung des Ausländer- und Asylrechts Von Michael Tetzlaff I.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

II. Zwischenbilanz: Gesetzgeberische Maßnahmen als Reaktion auf die Migrationskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Ausblick: Rechtspolitische Vorstellungen zur Fortentwicklung des Ausländer- und Asylrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

I. Einführung Bevor man über die künftigen Perspektiven für die Ausgestaltung des Asyl- und Aufenthaltsrechts auf nationaler und EUEbene spricht, ist es notwendig, einen Blick zurück in den Herbst des vergangenen Jahres zu werfen und sich nochmals die damalige Lage vor Augen zu führen. Die EU war im Herbst 2015 unerwartet und in kurzer Zeit mit einem Flüchtlingszustrom bisher nicht gekannten Ausmaßes konfrontiert, der in einigen Mitgliedstaaten, insbesondere auch Deutschland, zu enormen Belastungen der Asyl- und Aufnahmesysteme geführt hat. In dieser krisenhaften Situation haben sich die bis dahin auf EU-Ebene bestehenden migrations- und flüchtlingspolitischen Konzepte und Instrumente als weitgehend dysfunktional erwiesen. Sie sind dem an sie gestellten politischen Anspruch, Zuwanderung unter Berücksichtigung humanitärer Verpflichtungen zu steuern und zu begrenzen, größtenteils nicht gerecht geworden. Dabei sind erhebliche strukturelle Defizite und Unzulänglichkeiten bei der Konzeption und der Um-

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setzung der Asyl- und Migrationspolitik auf EU-Ebene offen zu Tage getreten. Dies gilt insbesondere für eines der Kernelemente der EU-Flüchtlingspolitik, dem Regelwerk des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Aber auch auf nationaler Ebene ist deutlich geworden, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht nicht dafür ausgelegt war, einen unvorhergesehenen Massenzustrom von Flüchtlingen steuernd zu bewältigen und zu begrenzen. Angesichts dieses Befundes musste und muss es Aufgabe einer verantwortlichen Migrations- und Flüchtlingspolitik, sowohl auf EU als auch auf nationaler Ebene, sein, einen auch in Krisensituationen belastbaren rechtlichen Rahmen zu entwickeln und bereitzustellen, der künftig eine bessere Steuerung von Flüchtlingsströmen ermöglicht. Dieses gilt umso mehr, als man sich nicht darauf verlassen kann, dass es sich bei dem Migrationsgeschehen, mit dem Deutschland und die EU es im Herbst 2015 zu tun hatten, um ein singuläres Ereignis gehandelt hat. Ganz im Gegenteil: Angesichts der geopolitischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in den südlichen und südöstlichen Nachbarregionen der EU ist davon auszugehen, dass der Migrationsdruck auf absehbare Zeit anhält und Migrationsmanagement eine prioritäre politische Daueraufgabe bleiben wird. II. Zwischenbilanz: Gesetzgeberische Maßnahmen als Reaktion auf die Migrationskrise Vor diesem Hintergrund haben Bundesregierung und Europäische Kommission in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen zahlreiche legislative und nicht legislative Maßnahmen ergriffen, um kurzfristig die Stabilität des bestehenden Asyl- und Aufnahmesystems zu gewährleisten und mittel- bis langfristig eine zukunftsorientierte sowie krisenfeste Asyl- und Migrationspolitik zu ermöglichen. Die Bundesregierung hat sich bei den von ihr auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen von folgenden grundlegenden migrationspolitischen Zielsetzungen leiten lassen: 1. Die Zahl neuer Asylmigranten, die nach Deutschland kommen, soll künftig besser gesteuert und kontrolliert werden. Ihr

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Zustrom soll verlangsamt und, wo im Einklang mit den verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben möglich, deutlich reduziert werden. 2. Dazu muss eine möglichst frühzeitige und klare Trennung zwischen schutzbedürftigen Menschen, die ein Bleiberecht in Deutschland beanspruchen können, und solchen, für die das nicht gilt, erfolgen. Die Bearbeitung von Asylanträgen muss deshalb erheblich beschleunigt werden. 3. Diejenigen Menschen, die in Deutschland ein Bleiberecht beanspruchen können, sollen möglichst schnell und erfolgreich in Gesellschaft und Arbeitsmarkt integriert werden. 4. Asylbewerber, deren Antrag abgelehnt worden ist, müssen in ihre Heimat zurückkehren und nötigenfalls auch gegen ihren Willen zügig dorthin zurückgebracht werden. Damit soll auch die klare Botschaft gesendet werden, dass das Asylverfahren kein Weg zur Immigration aus persönlichen oder wirtschaftlichen Motiven sein kann und darf. Um diese Ziele zu erreichen, hat die Bundesregierung innerhalb weniger Monate neben organisatorischen und finanziellen Maßnahmen auch eine Vielzahl von gesetzgeberischen Vorhaben auf den Weg gebracht, die ich im Folgenden kurz aufzählen möchte. Das sogenannte Asylpaket I, bestehend aus dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz1 und der dazugehörigen Verordnung, war die erste größere gesetzgeberische Maßnahme und ist bereits Ende Oktober 2015 in Kraft getreten. Es enthält insbesondere Regelungen zur Beschleunigung der Asylverfahren, zur Erleichterung der Einrichtung von Unterkünften, zum Abbau von Abschiebungshindernissen, aber auch zur verbesserten Versorgung Asylsuchender und zur Integration. Im Februar 2016 ist dann das Datenaustauschverbesserungsgesetz2 in Kraft getreten, das der weiteren Digitalisierung des 1 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I 2015, S. 1722). 2 Gesetz zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken (Datenaustauschverbesserungsgesetz) vom 2. Februar 2016 (BGBl. I 2016, S. 130).

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Asylverfahrens dient und mit dem u. a. die biometriegestützte Registrierung von Asylsuchenden beim Erstkontakt mit den Behörden eingeführt wurde. Mit dem Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren,3 dem sogenannten Asylpaket II, das im März 2016 in Kraft getreten ist, wurden sodann die Verfahren für Asylbewerber mit geringer Aussicht auf Anerkennung weiter beschleunigt, die Verteilung von Asylbewerbern besser organisiert und die Rückführung von ausreisepflichtigen Ausländern erleichtert. Ebenfalls im März 2016 ist das Gesetz zur erleichterten Ausweisung straffälliger Ausländer und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern4 in Kraft getreten, mit dem, als Reaktion auf die Kölner Ereignisse in der Silvesternacht 2015, die Ausweisung von Ausländern, die Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte begangen haben, erleichtert wird. Die vorläufige letzte größere gesetzgeberische Maßnahme, die abgeschlossen werden konnte, ist das Integrationsgesetz,5 das in seinen wesentlichen Teilen am 6. August 2016 in Kraft getreten ist. Das Gesetz orientiert sich am Grundsatz des Förderns und Forderns und enthält zahlreiche Regelungen, die darauf abzielen, die Integration von Menschen mit Bleibeperspektive in Gesellschaft und Arbeitsmarkt durch staatliche Maßnahmen zu fördern, aber gleichermaßen auch Eigenbemühung einzufordern. Nicht finalisiert werden konnte bisher der von Bundesregierung und Bundestag bereits beschlossene Gesetzentwurf zur Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere

3 Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 11. März 2016 (BGBl. I 2016, S. 390). 4 Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern (BGBl. I 2016, S. 394). 5 Integrationsgesetz vom 31. Juni 2016 (BGBl. I 2016, S. 1939).

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Herkunftsstaaten.6 Dem Gesetzentwurf sollte ursprünglich im Juni 2016 vom Bundesrat zugestimmt werden. Die Beschlussfassung wurde aber, da mit einer Mehrheit der Länder noch kein abschließender politischer Konsens über das Vorhaben erzielt werden konnte, verschoben. Ob es noch zu einer Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs kommt, ist gegenwärtig offen. Diese kurze Aufzählung macht deutlich, mit welcher Intensität sich die Bundesregierung bemüht hat, das bestehende Asylund Aufenthaltsrecht kurzfristig den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und eine adäquate Antwort auf die mit dem Flüchtlingszustrom verbundenen aktuellen Herausforderungen zu geben. III. Ausblick: Rechtspolitische Vorstellungen zur Fortentwicklung des Ausländer- und Asylrechts Der politische Fokus wird kurzfristig darauf liegen, die bereits erreichten Fortschritte zu konsolidieren und die Umsetzung der verabschiedeten Gesetze gemeinsam mit den Ländern voranzutreiben. Angesichts der Dimension der Flüchtlingskrise sind die Handlungsoptionen auf nationalstaatlicher Ebene naturgemäß begrenzt. Die massive Flüchtlingszuwanderung und der anhaltend starke Migrationsdruck auf die EU machen europäische Anstrengungen und Lösungsansätze unerlässlich, wenn man mit diesen Phänomenen erfolgversprechend umgehen will. Die Bundesregierung setzt sich deshalb für die Entwicklung einer kohärenten, von allen Mitgliedstaaten mitgetragenen migrationspolitischen Gesamtstrategie der EU ein. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der dringend notwendigen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das zu einem einheitlichen, effizienten und krisenfesten Asylsystems fortentwickelt 6 Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten vom 6. April 2016 (BT-Drs. 18/8039).

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werden sollte. Nach Auffassung der Bundesregierung sollte sich die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an folgenden Leitlinien orientieren:  Ausgangspunkt für alle weiteren Steuerungsmaßnahmen muss eine lückenlose und verlässliche Registrierung aller Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen sein, bei der die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten im Bedarfsfall unterstützen.  Erforderlich ist weiterhin ein fortentwickeltes EU-Zuständigkeits- und Verteilungsverfahren mit einem verbindlichen Verteilungsschlüssel, der eine faire Lastenteilung unter den Mitgliedstaaten gewährleistet.  Benötigt wird ferner ein unionsweit verbindlich geregeltes beschleunigtes Verfahren, das unter Beachtung der völkerund unionsrechtlichen Vorgaben in Fällen fehlender Aussicht auf Anerkennung eines Schutzstatus zur Anwendung kommt. Dieses Verfahren sollte bereits an den Außengrenzen der EU durchgeführt werden.  Die Asylverfahren und Aufnahmebedingungen müssen in der EU stärker als bisher vereinheitlicht werden. Damit könnten unter anderem Anreize für eine Weiterwanderung reduziert werden.  Ein aus deutscher Sicht zentraler Punkt, der bei einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu berücksichtigen ist, ist die Einführung wirksamer Regelungen zur Verhinderung bzw. Begrenzung von Sekundärmigration. Dies könnte z. B. geschehen, durch die Konstituierung einer Residenzpflicht für Schutzsuchende und anerkannte Flüchtlinge sowie eine Verpflichtung zur schnellstmöglichen Rücknahme durch den jeweils zuständigen Mitgliedstaat. Außerdem sollten Schutzsuchende einen Anspruch auf reguläre Sozialleistungen nur im zuständigen Aufnahmemitgliedstaat haben.  Schließlich muss der Rechtschutz gerade bei den Verfahren beschleunigt werden, in denen es nur darum geht, einen Asylantragsteller in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Niemand soll sich durch Verzögerung der Zuständigkeits- und

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Verteilungsverfahren den zuständigen Mitgliedstaat letztlich selbst aussuchen können. Die Kommission hat als Reaktion auf die Migrationskrise mittlerweile zwei Legislativ-Pakete vorgelegt, mit denen das Gemeinsame Europäische Asylsystem reformiert werden soll. Das erste Paket von Mai 2016 enthält Änderungen der DublinVO7, der EURODAC-VO8 und der EASO-VO9. Diese Vorschläge umfassen u. a. Regelungen zur verbindlichen Verteilung von Flüchtlingen in besonderen Überlastungssituationen, Regelungen zur Beschleunigung von Verfahren, zur Verhinderung von Sekundärmigration, zur Fortentwicklung von EASO zu einer Europäischen Asylagentur mit erweitertem Mandat sowie zur Nutzung von EURODAC-Daten auch für Rückführungszwecke. Das zweite Paket vom Juli 2016 enthält Vorschläge zu einer Asylverfahrens-VO10, einer Qualifikations-VO11 und ei-

7 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) vom 4. Mai 2016 (COM [2016] 270, 2016/0133 [COD]). 8 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der [Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zustandig ist], für die Feststellung der Identitat illegal aufhaltiger Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Antrage der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten (Neufassung) vom 4. Mai 2016 (COM [2016] 272, 2016/0132 [COD]). 9 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rats über die Asylagentur der Europäischen Union und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 439/2010 vom 4. Mai 2016 (COM [2016] 271, 2016/0131 [COD]). 10 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung

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ner Aufnahmerichtlinie12. Die Verfahrens-VO soll die bisherige Verfahrensrichtlinie ersetzen und ein für alle Mitgliedstaaten verbindliches einheitliches Asylverfahren einführen, um insbesondere die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei den Schutzquoten für einzelne Herkunftsländer abzubauen. Wesentliches Ziel der Qualifikations-VO, die die bisherige Qualifikations-RL13 ersetzen soll, ist die weitestgehende Harmonisierung der nationalen Regelungen zur Erlangung eines internationalen Schutzstandards sowie der inhaltlichen Ausgestaltung der hiermit verbunden Rechte und Pflichten. Die Aufnahme-RL soll schließlich der Harmonisierung der bisher noch sehr unterschiedlichen Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten dienen. Die Bundesregierung begrüßt diese von der Kommission vorgelegten Legislativvorschläge, die die deutschen Positionen zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend berücksichtigen. Sie sind eine belastbare Grundlage für die weiteren Beratungen, die jetzt in den EU-Gremien begonnen haben. Die Bundesregierung

internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU vom 13. Juli 2016 (COM [2016] 467, 2016/0224 [COD]). 11 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sowie zur Änderung der Richtlinie 2003/109/EG des Rates betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vom 25. November 2003 (COM [2016] 466, 2016/0223 [COD]). 12 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Neufassung) vom 13. Juli 2016 (COM [2016] 465, 2016/0222 [COD]). 13 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) vom 13. Dezember 2011 (ABl. Nr. L 337/9 v. 20.12.2012).

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drängt auf zügige Beratungen sowie eine schnelle Verständigung über wesentliche Eckpunkte der beiden legislativen Pakete. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, ist allerdings angesichts der teilweise tiefgreifenden Meinungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zu einzelnen Elementen der Kommissionsvorschläge ungewiss. Das gilt insbesondere für die Frage, wie ein Verteilungsmechanismus ausgestaltet sein soll. Während die vier Visegrad-Staaten, Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei einen für alle Mitgliedstaaten verbindlichen Verteilungsschlüssel entschieden ablehnen, geht einigen südlichen Mitgliedstaaten – Griechenland, Zypern, Malta und Italien – ein freiwilliger oder nur unter bestimmten Bedingungen einsetzender Verteilungsmechanismus nicht weit genug. Diese grundsätzlichen Differenzen machen den weiteren Verhandlungsprozess sehr schwierig. Die Bundesregierung wird dennoch weiter für die Idee eines permanenten Verteilungsmechanismus, nicht nur für den Krisenfall, werben, weil nach ihrem Dafürhalten nur auf diese Weise eine wirklich nachhaltige und gerechte Lastenverteilung innerhalb der EU zu erreichen ist. Dabei setzt sie auf das, was die EU und ihre Mitgliedstaaten in der Vergangenheit immer ausgezeichnet und auch erfolgreich gemacht hat: Die Fähigkeit zum Kompromiss und der Wille, gemeinsam zu tragfähigen Lösungen zu gelangen.

Teil B

Integration als Herausforderung des Rechts

Ziele und Bedingungen von Integration Von Winfried Kluth I.

Eingangsthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

II. Integration als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung . 92 1. Integration als Gegenstand der allgemeinen Soziologie . . . . . . 92 a) Die Forschungsperspektive der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Dimensionen der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 c) Formale oder materiale Bedingungen der Integration: Luhmann vs. Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Integration als Gegenstand der Migrationssoziologie . . . . . . . . 97 a) Bedarf es einer besonderen Betrachtungsweise? . . . . . . . . . 97 b) Unterschiede zwischen regulärer und humanitärer Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3. Zentrale Aussagen der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Relevanz der Quantitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 b) Strukturelle Assimilation als Mindestanforderung . . . . . . . 99 c) Offenheit der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 III. Integration aus dem Blickwinkel des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Perspektive des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Innere Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuere Integrationsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Weitere Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. Integration in einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . 109 2. Die Rolle der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 V. Bedingungen von Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Konzepte sozialer Gerechtigkeit als latenter inhaltlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 VI. Ausblick: Integration und Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

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I. Eingangsthesen Gesellschaftliche Institutionen und die mit ihnen verbundenen Prozesse finden in zwei Situationen eine besondere politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit: Erstens wenn es explizite Bestrebungen gibt, sie zu verändern.1 Zweitens wenn der Eindruck entsteht, dass ihr Funktionieren aus anderen Gründen gefährdet ist und deshalb nach Maßnahmen der Existenzsicherung gesucht wird. Beide Situationen können auch zusammenfallen, wenn sich in einer Gesellschaft Kräfte der Veränderung und des Bewahrens gegenüberstehen. Entsprechende Prozesse konnten in den letzten Jahrzehnten in mehreren Themenfeldern beobachtet werden, mit besonderer Intensität bei den Institutionen Ehe und Familie, denen die Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft immer wieder besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat.2 Mit der Thematik der Integration wird in diesem Jahr einem Prozess besondere Aufmerksamkeit geschenkt, der jeder Gesellschaft inhärent ist und wie der Kreislauf eines Organismus die Lebensfähigkeit eines komplex aufgebauten Gebildes unter ganz verschiedenen Rahmenbedingungen absichert und stabilisiert. Hinter der Thematik Integration verbirgt sich der komplexe Prozess der Verständigung einer Gesellschaft als Gesellschaft, 1 Der Extremfall ist dabei die Revolution, die den Rahmen des Verfassungsrechts sprengt. Dahinter bewegt sich die Verfassungsänderung und „Totalrevision“, die in besonderer Form durch Art. 146 GG normiert wird. Unterhalb dieser Schwelle wird von gesellschaftlichem Wandel, aus rechtlicher Perspektive auch vom Verfassungswandel gesprochen. Siehe dazu eingehend Christian Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung? – Zur Rolle des BVerfG im Prozeß des Verfassungswandels, AöR 125 (2000), S. 517 ff.; Andreas Voßkuhle, Gibt es und wozu nutzt eine Lehre vom Verfassungswandel?, Der Staat 43 (2004), S. 450 ff. Aus der Sicht der Soziologie näher Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 5: Institutionen, 2000, S. 368 ff. 2 Siehe Arnd Uhle (Hrsg.), Zur Disposition gestellt? Der besondere Schutz von Ehe und Familie zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit, 2014. Zuvor schon Karl H. Friauf, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel – das Beispiel von Ehe und Familie, NJW 1986, S. 2595 ff.

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mit dem die Gründe für ein friedliches, vertrauensvolles und deshalb kooperatives und produktives Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Selbstverständnisse und Interessen geschaffen und erhalten werden. Dabei gilt: Je unterschiedlicher die Standpunkte der beteiligten Gruppen sind, desto höher und allgemeiner sind die Anforderungen an die Integration.3 Dies macht deutlich, warum in der sozialwissenschaftlichen Forschung die Beschäftigung mit der Thematik der Integration eng mit der zunehmenden Pluralisierung von modernen Gesellschaften an Bedeutung gewonnen hat und warum die mit Migrationsprozessen notwendig verbundene Pluralisierung von Gesellschaften ein spezifischer Anwendungsfall des allgemeinen Phänomens Integration darstellt. Ein anschauliches Beispiel für die Komplexität und Fragilität von Integration liefert aus dem Bereich der Literatur das biographisch geprägte und 1949 erschienene Buch des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andric „Die Brücke über die Drina“. Es zeichnet die Entwicklung des Zusammenlebens von Christen, Juden und Muslimen in Visegrad über vier Jahrhunderte nach und macht deutlich, wie über lange Zeiträume aufgebaute Verständigungen wieder zerfallen können. Dabei symbolisiert die Brücke den Ort der Verständigung und ihre Zerstörung im ersten Weltkrieg den Verlust der Integration. Daran knüpft die Erkenntnis an, nach der Integration ein struktur- und zeitabhängiger Prozess ist, bei dem nicht von einer linearen Entwicklung ausgegangen werden kann, sondern jederzeit Veränderungen in beide Richtungen möglich und erwartbar sind, wenn sich einzelne Rahmenbedingungen und/oder Interessen bei Teilen der Gesellschaft verändern. Desintegration ist somit jederzeit ein Bestandteil des Prozesses. Sie kann vor allem dann eintreten, wenn sich einzelne Rahmenbedingungen

3 Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft, 2000, S. 261 ff. Zur Spannung zwischen Einheit und Differenz als Konstitutionsproblem moderner Gesellschaften näher Bernhard Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, 1993.

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ändern und keine gemeinsam getragene Antwort auf den Umgang mit dieser Veränderung gefunden wird. Auf der Grundlage dieser einführenden Überlegungen soll im Folgenden versucht werden, die Ziele und Bedingungen von Integration zu konkretisieren, wobei der besonderen gesellschaftlichen Situation, die in Deutschland durch den starken Zustrom von Flüchtlingen in den letzten Monaten entstanden ist, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. In einem ersten Schritt werden die allgemeinen Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung vorgestellt. Daran knüpft eine Verortung der Integration im rechtlichen Rahmen an. Dabei wird auf die konkreten Formulierungen von Zielen des Integrationsprozesses auf verfassungs- und einfachgesetzlicher Ebene ebenso eingegangen wie auf seine Bedingungen. II. Integration als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung 1. Integration als Gegenstand der allgemeinen Soziologie a) Die Forschungsperspektive der Soziologie Die „Konstruktion der Gesellschaft“ ist unter anderem Gegenstand der Soziologie, die als empirisch ausgerichtete Sozialwissenschaft deskriptiv und analytisch danach fragt, wie soziale Prozesse ablaufen und welchen Bedingungen sie unterliegen.4 Um es mit Max Weber zu sagen: „Soziologie [. . .] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ 5 Dieses deutende Verstehen ist auf das soziale Handeln und damit auf Gesellschaft und Staat gleichermaßen bezogen. 4 Zum Selbstverständnis der Soziologie Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl. 1999, S. 19 ff. 5 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl. 1972, S. 1.

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Da moderne, offene Gesellschaften durch eine Vielzahl von sozialen Differenzen gekennzeichnet sind, die sich auf die verschiedenen Bereiche der sozialen Ordnung beziehen, gehört die Frage nach dem Zusammenhalt einer Gesellschaft zu den zentralen Themen moderner Soziologie. Hartmut Esser formuliert die damit verbundene Herausforderung folgendermaßen: „Wie gelingt es, die zentrifugalen Kräfte der sozialen Differenzierung wieder aufzufangen, damit das System der Gesellschaft nicht [. . .] explodiert? Und wie kann es zu einer Überbrückung oder Neutralisierung der Spannungen aus der Zunahme der sozialen Ungleichheit kommen, damit die Gesellschaft nicht in unüberwindbare Spaltungen zerfällt? Es ist die Frage nach der Integration der Gesellschaft und die nach der sozialen Ordnung ganz allgemein.“ 6 b) Dimensionen der Integration Integration ist ein komplexer Prozess, der sich auf verschiedenen Ebenen gesellschaftlichen Lebens vollzieht. Die Soziologie unterscheidet dabei im Anschluss an Oliver Williamson7 vor allem zwischen der horizontalen Integration, die über sogenannte Marktprozesse zwischen grundsätzlich gleichrangigen Subjekten erfolgt, und der vertikalen Integration, die über formale Organisationen – wie den Staat – koordiniert wird. Im letzteren Bereich wird die Integration „von oben“ gesteuert und ist von normativen und ggf. sanktionierten Erwartungen überlagert.8 In der Realität sind zwischen diesen beiden Ideal- oder Grundformen zahlreiche hybride Formen der Integration anzutreffen. Zudem spielt es eine große Rolle, wie sich die verschiedenen Prozesse der Integration zueinander verhalten. Dazu ein aktuelles Beispiel. 6 Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft, 2000, S. 261. 7 Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications. A Study in the Economics of Internal Organization, 1975. 8 Hartmut Esser, Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft, 2000, S. 267.

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Im Zusammenhang mit der Migration verdient die Neigung von Migranten, sich den im Aufnahmeland vorhandenen Gruppen aus dem eigenen Herkunftsland anzuschließen und sich in die von diesen Gruppen gebildeten Netzwerke einzugliedern, besondere Beachtung. Dies führt zu einer schnellen sozialen Integration und kann auch mit einer Integration in den Arbeitsmarkt verbunden sein; die Integration in die Aufnahmegesellschaft wird dadurch allerdings nicht erreicht und gegebenenfalls sogar erschwert. Dieses in der Praxis noch sehr viel facettenreichere Phänomen führt derzeit in der Praxis zu unterschiedlichen Sichtweisen bei der Frage, ob mit Hilfe von Wohnsitzregelungen die Entstehung großer Migrantengemeinschaften und damit von Segregation verhindert werden soll. Die Gegner einer solchen Steuerung, zu denen vor allem Flüchtlingsverbände aber auch viele Kommunen gehören, sehen in erster Linie die mit der schnellen sozialen Integration verbundenen Vorteile und sind der Ansicht, dass die Systemintegration auf der Grundlage einer schnellen sozialen Integration besser gelingt, vor allem dann, wenn dadurch der Zugang zum Arbeitsmarkt verbessert wird. Die Befürworter einer solchen Steuerung, zu denen namhafte Migrationsforscher aber auch der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städteund Gemeindebund gehören, stellen die Gefahren für die Systemintegration in den Vordergrund und sehen eine schnelle und starke soziale Integration in bestehende Migrantengemeinschaften als Gefahr für die Systemintegration an. Es ist vor diesem Hintergrund verständlich, dass der Bundesgesetzgeber die Anwendung der neuen Regelung zur Wohnsitzpflicht in § 12a AufenthG durchaus flexibel ausgestaltet und den Ländern erhebliche Gestaltungsspielräume gewährt hat.9 Im Zusammenhang mit der Spannung zwischen sozialer/horizontaler und vertikaler Systemintegration ist auch ein anderes Themenfeld zu sehen, das sich mit dem Blick auf ein anderes 9 Zu Einzelheiten der Wohnsitzregelung Frederik v. Harbou, Das Integrationsgesetz. Meilenstein oder Etikettenschwindel?, NVwZ 2016, S. 1193 ff. (1196 f.).

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großes Land mit Einwanderungstradition erschließt: Brasilien. Dort haben vor allem deutsche Einwanderer in großem Umfang Genossenschaften gegründet10 und dadurch sehr schnell eine soziale Integration mit Hilfe der Netzwerkbildung erreicht, die in der Folgezeit nicht nur zu einer guten Systemintegration beigetragen, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung in Brasilien bis heute gefördert und geprägt hat.11 In Bezug auf die Entwicklung in Deutschland werden demgegenüber die ethischen Netzwerkbildungen in großen Städten wie Berlin als hinderlich für die Integration erachtet. Das hängt meines Erachtens damit zusammen, dass die Genossenschaften in Brasilien in die übrige Wirtschaft gut integriert waren und sind, während es sich etwa bei den türkischen Netzwerken um eine Ausbildung von den übrigen Wirtschaftsbereichen weitgehend abgeschotteter Parallelstrukturen handelt. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass soziale Integration durch eine Umweltoffenheit geprägt sein muss, damit sie die Systemintegration fördert bzw. nicht behindert. An der Schnittstelle zwischen sozialer Integration in Gruppen und Systemintegration, kommt dem Erwerb der Sprache der Aufnahmegesellschaft eine wichtige Steuerungsfunktion zu. Der deutsche Gesetzgeber hat dem inzwischen weitreichend Rechnung getragen, indem der Erwerb von Grundkenntnissen der deutschen Sprache als zentrales Element der Integrationsforderungen eingeführt wurde, wobei zugleich die entsprechenden Angebote im In- und Ausland erweitert wurden.12

10 Brasilien gehört heute zu den Ländern mit den meisten Genossenschaften und weist die größte Ärztegenossenschaft weltweit auf; siehe zu Einzelheiten Aramis Moutinho Junior/Americo Utumi, The Cooperative Market – Case Brazil, in: Taisch/Jungmeister/Gernet (Hrsg.), Genossenschaftliche Identität und Wachstum, 2016, S. 585 ff. 11 In der Verfassung von Brasilien finden sich alleine fünf Vorschriften mit direktem Bezug auf das Genossenschaftswesen. 12 Vertiefend Matthias Wehner, Der Sprachnachweis beim Ehegattennachzug von Drittstaatsangehörigen, 2013.

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c) Formale oder materiale Bedingungen der Integration: Luhmann vs. Habermas Wie alle anderen Wissenschaften ist auch die Soziologie durch Meinungsstreite geprägt. Bezogen auf das Thema Integration steht dabei auf grundsätzlicher Ebene die Frage im Zentrum, ob und mit welcher Reichweite eine erfolgreiche Integration von materialen Voraussetzungen, sprich Gemeinsamkeiten, abhängig ist. Dies kann exemplarisch an den insoweit gegensätzlichen Standpunkten von Niklas Luhmann und Jürgen Habermas verdeutlicht werden. Luhmann war der Überzeugung, dass in modernen arbeitsteiligen Gesellschaften Integrationsprozesse rein formal bzw. funktional ablaufen und eine gemeinsame moralische Grundüberzeugung oder Wertebasis dafür nicht zwingend erforderlich ist. Esser fasst Luhmanns Standpunkt pointiert folgendermaßen zusammen: „Die Eigensinnigkeit und die Eigendynamik der funktionalen Differenzierung erzeugt ihre eigene Integration immer wieder mit. Die Teilsysteme sind so in die Maschinerie des funktionalen Austauschs verwickelt, dass es ein Ausscheren nicht geben kann.“13 Dagegen ist Habermas ebenso dezidiert der Ansicht, dass Integration ohne eine klare moralische Basis nicht gelingen kann. Er ist zudem der Meinung, dass sie auf überschaubare Lebensräume beschränkt ist und die „Neue Unübersichtlichkeit“ zum Zerfall der Gesellschaft beiträgt.14 Jede Gesellschaft bedarf danach eines Kerns gemeinsamer, kommunitärer sozial-moralischer Orientierungen und die müssen beständig neu in den alltäglichen Interaktionen der sogenannten Lebenswelten kommunikativ bestätigt werden. Zwischen diesen beiden in der Formulierung extremen Positionen gibt es wiederum zahlreiche Zwischenpositionen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann.15 13 Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl. 1999, S. 283. 14 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 1985.

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d) Zwischenergebnis Wichtig ist für den politischen und rechtlichen Diskurs vor diesem Hintergrund, dass die sozialwissenschaftliche Forschung kaum eindeutige Orientierungen vermittelt und für den Gesetzgeber erhebliche Spielräume einerseits und ein nicht delegierbarer Entscheidungsbedarf andererseits bestehen. 2. Integration als Gegenstand der Migrationssoziologie a) Bedarf es einer besonderen Betrachtungsweise? Auch für das hier im Zentrum des Interesses stehende Thema der Integration von Migranten im Allgemeinen und Flüchtlingen im Besonderen kann aus der Soziologie keine einheitliche Positionierung übernommen werden, was nicht besonders verwundert. Das betrifft insbesondere die Frage, ob und in welchem Umfang dabei Besonderheiten zu berücksichtigen sind und welche Folgen sich daraus für die Steuerung von Zuwanderung und Integration ableiten lassen. b) Unterschiede zwischen regulärer und humanitärer Migration Sieht man von dieser grundsätzlichen Streitfrage einmal ab, so steht völlig außer Frage, dass es einen substanziellen Unterschied in Bezug auf die Integrationsprozesse in Fällen der regulären, freiwilligen Migration einerseits und der humanitären, unfreiwilligen Migration andererseits gibt. Die Unterschiede beziehen sich – knapp formuliert – auf die Aspekte Zeithorizont, Motivation, Vorbereitung und Gestaltungsmöglichkeiten. Das hat vor allem zur Folge, dass bei der regulären Migration Aspekte der Integration bereits vor und bei der Zuwanderung berücksichtigt werden können und werden, 15 Eine aktuelle Information dazu bietet Friedrich Heckmann, Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung, 2015, S. 85 ff., der die wichtigsten Forschungsergebnisse und Positionen jeweils nachzeichnet.

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während bei der Fluchtmigration die Integration erst nach der Ankunft beginnen kann und keine Vorbedingungen gestellt werden können. Zu beachten ist vor diesem Hintergrund auch, dass sich die meisten Aussagen der sozialwissenschaftlichen Forschung auf die reguläre Migration beziehen und nicht auf die Fluchtmigration. 3. Zentrale Aussagen der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung a) Relevanz der Quantitäten Einigkeit besteht zunächst, dass das Gelingen von Integration von den Quantitäten abhängig ist. Friedrich Heckmann fasst die Erkenntnisse der Integrationsforschung in Bezug auf diesen Zusammenhang folgendermaßen zusammen: „Materielle und psychische Ressourcen der Mehrheitsgesellschaft für Integration sind durchaus variabel, aber nur in bestimmtem Grenzen vorhanden und mobilisierbar; diese Grenzen sind nicht exakt quantifizierbar, lassen sich aber über bestimmte Indikatoren näherungsweise erfassen, wie z. B. starkes Ansteigen fremdenfeindlicher Einstellungen und von Hasskriminalität. Hieraus folgt, dass es bei starker Zuwanderung auch zu Überforderungssituationen und -reaktionen der Mehrheitsgesellschaft kommen kann, die Offenheit und Förderung für Migranten bedrohen. Hieraus ergibt sich ein prinzipieller Zusammenhang zwischen Integration und gesteuerter Zuwanderung, genauer, der Wahrnehmung in der Mehrheitsbevölkerung, dass Zuwanderung gesteuert und kontrolliert verläuft. Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung sind daher neben Offenheit und Förderung ebenfalls Bedingungen erfolgreicher Integration.“ 16 Damit verbunden ist auch die Vielschichtigkeit der Debatte um Obergrenzen, die sich bezogen auf die Frage der Anerkennung von Schutzsuchenden in einem anderen Rahmen bewegt als in Bezug auf die Integrationsdebatte. Gerade weil die dauerhafte Gewährung von Schutz für Flüchtlinge maßgeblich von

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Heckmann (a. a. O.), S. 283.

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der gesellschaftlichen Akzeptanz abhängig ist, muss um die europäische und internationale Solidarität bei der Schutzgewährung gekämpft werden. b) Strukturelle Assimilation als Mindestanforderung Die durch den Verweis auf Luhmann und Habermas gekennzeichneten Extrempositionen repräsentieren nicht mehr den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Debatte der Soziologie, da die Systemtheorie den leibhaften Menschen und damit die Rolle der Subjekte stärker würdigt und es insoweit zu Verschiebungen in der Wahrnehmung und Theoriebildung gekommen ist. Trotz der weiterhin bestehenden Unterschiede in der Detailfrage scheint es mir aber durchaus zulässig, für den heutigen Diskussionsstand die diese Entwicklung aufgreifenden Umschreibungen von Hartmut Esser und Friedrich Heckmann17 in den Vordergrund zu stellen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Bedeutung der sozialen Integration als wichtiges Merkmal gelingender Integration hervorgehoben wird, die Bedeutung der Systemintegration aber in jüngerer Zeit als das wichtigere Moment angesehen wird. Esser betont deshalb, dass die von ihm so genannte strukturelle Assimilation18, die von der sozialen oder kulturellen Assimilation zu unterscheiden ist, mit der Habermas sympathisiert19, den entscheidenden Punkt ausmacht: „Die strukturelle Assimilation, die Inklusion in der Form der Platzierung auf den zentralen Positionen der Aufnahmegesellschaft also, ist die Bedingung für alle anderen Formen der sozialen Integration von Migranten und ethnischen Minderheiten in die AufnahmegesellHeckmann (a. a. O.), S. 69 ff. Abweichend vom überwiegenden Sprachgebrauch. 19 Esser sieht bei Habermas einen „romantisch-altmodischen Anklang an relativ überschaubare und harmonische Verhältnisse und an die Vorstellung, dass es zur Integration der Gesellschaft sozusagen paralleler moralischer Vorstellungen der Menschen bedarf und dass die Menschen die Gesellschaft immer auch als Gemeinschaft im Sinn haben müssten“; siehe Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl. 1999, S. 284. 17 18

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schaft. Und sie ist gleichzeitig ein wichtiger und längerfristig unverzichtbarer Teil der Systemintegration dieser Gesellschaften. Und alles das gilt gerade für die Verhältnisse in den modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. Entgegen den immer wieder naiven Auffassungen von den Möglichkeiten eines bloß horizontalen Nebeneinanders der Gruppen in multiethnischen Gesellschaften und des Verzichts auf kulturelle Angleichungen, gibt es, wenn ethnisches Schichtungen vermieden werden sollen, also keine Alternative zur (strukturellen) Assimilation. Sie ist die Bedingung der sozialen Integration der Migranten und Minderheiten in die Aufnahmegesellschaft und einer Systemintegration, die auf mehr beruhen soll als auf der deferenten Hinnahme des Schicksals der Unterschichtung.“ 20 Diese Sichtweise dürfte auch den zentralen Aussagen von Ruud Koopmans entsprechen, der dazu auch auf empirische Erhebungen Bezug nimmt.21 Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang allerdings auch der ebenfalls von Esser hervorgehobene selbstkritische Hinweis, dass den in der soziologischen Theoriedebatte entwickelten Modellen immer wieder auch eine empirisch gesättigte Skepsis gegenübergestellt werden muss, die zu der Erkenntnis führt, dass sich vieles, das auf Grund von Modellvorstellen als denkbar erscheint, in der Lebenswirklichkeit nicht ereignet.22 c) Offenheit der Gesellschaft Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der deutschen Parteienlandschaft ist darauf hinzuweisen, dass Integration auch an dem Verhalten der Aufnahmegesell20 Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl. 1999, S. 306. 21 Ruud Koopmans, Der Zielkonflikt von Gleichheit und Diversität. Integration von Immigranten, Multikulturalismus und der Wohlfahrtsstaat im Internationalen Vergleich, in: Luft/Schimany (Hrsg.), Integration von Zuwanderern. Erfahrungen, Konzepte, Perspektiven, 2010, S. 55 ff. der besonders die Rolle der Zugangs zur Staatsangehörigkeit betrachtet. 22 Siehe nur Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, 3. Aufl. 1999, S. 259 ff.

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schaft scheitern kann. Die Migrationssoziologie verweist in diesem Zusammenhang vor allem darauf, dass die mangelnde Offenheit der Mehrheitsgesellschaft für Anpassungen und (starke) Diskriminierungen Integration ebenso schwerwiegend behindern können, wie die fehlende Anpassungsbereitschaft der Migranten.23 III. Integration aus dem Blickwinkel des Rechts 1. Die Perspektive des Rechts Recht und Rechtswissenschaft zielen nicht auf Verstehen und Erklären ab, sollten aber auf einem fundierten Verständnis sozialer Zusammenhänge basieren.24 Das Recht selbst gestaltet Institutionen und ordnet soziale Beziehungen. Es ist damit ein zentraler Ausdruck der gesellschaftlichen Selbstorganisation und Integration und zugleich ein Instrument derselben. Letzteres vor allem dann, wenn Gesetzgebung auf verändernde Steuerung abzielt. Es gehört dabei heute zu den Grundeinsichten, dass die Steuerungskraft des Rechts begrenzt ist und dass dies vor allem für das Migrationsrecht gilt.25 Da aber auch eine begrenzte Steuerungswirkung von erheblicher Bedeutung ist bzw. sein kann, darf diese nicht unterbleiben, „wenn es darauf ankommt“, wenn es also darum geht, die Integration zu bewahren, wenn sie durch Veränderungen gefährdet ist. Das Interesse am Selbsterhalt des Systems und einer Selbstvergewisserung über die eigene Identität26 ist in diesen Lagen eine

23 Näher Friedrich Heckmann, Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung, 2015, S. 205 ff. (231 ff.). 24 Hermann Heller bezeichnet deshalb treffend die Staatslehre als „Wirklichkeitswissenschaft“. 25 Siehe nur Daniel Thym, Migrationsverwaltungsrecht, 2010, S. 274 ff.; Daniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff. 26 Die vom Verfassungsrecht nur in Eckwerte „gerahmt“ wird und in einer demokratischen Gesellschaft als offener Diskurs zu führen ist, siehe

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Aufgabe des Rechts. Das zeigen unter anderem die in der Vergangenheit geführten Diskurse um den Schutz der freiheitlichdemokratischen Grundordnung.27 Während die damit verbundenen Zielsetzungen und Instrumente im Verfassungsrecht an mehreren Stellen explizit verankert und somit sichtbar sind, fehlt es in Bezug auf die nicht minder wichtige Sicherstellung von Integration zumindest auf den ersten Blick an vergleichbar expliziten Aussagen und Regelungen. In der Literatur wird deshalb vorwiegend auf allgemeine Funktionen der Verfassung – hier spielt vor allem der von Rudolf Smend entwickelte Gedanke der Integrationsfunktion der Verfassung28 eine zentrale Rolle – und vergleichbare allgemeine Ableitungen abgestellt. In Bezug auf das Landesverfassungsrecht kann aber darüber hinaus durchaus an konkrete Regelungen angeknüpft werden, die jedoch in der allgemeinen Wahrnehmung nicht dem Thema Integration zugeordnet werden. Es geht um die allgemeine Schulpflicht und die damit in der Verfassung und dem einfachen Gesetzesrecht verbundenen Erziehungsziele. Die Schulpflicht ist nämlich das allgemeinste Instrument zur Integration auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene, weshalb in Bezug auf Migranten aber auch in Bezug auf andere schlecht integrierte Bevölkerungsgruppen immer wieder über eine Vorverlagerung in den Bereich des Vorschulbereichs nachgedacht wird (Stichwort KiTa-Pflicht). Die Stimmigkeit dieser Zuordnung wird auch daran deutlich, dass bei jugendlichen Migranten die Funktion des IntegrationsDaniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff. (243). 27 Dazu näher Andreas Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie: untersucht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht, 1982. 28 Zu Smends Integrationslehre Stefan Korioth, Integration und Bundesstaat: Ein Beitrag zur Staats- und Verfassungslehre Rudolf Smends, 1990.

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kurses durch die Schulpflicht und die besonderen Förderungsinstrumente in den Schulen ersetzt werden. 2. Innere Integration 29 Lenkt man so die Aufmerksamkeit auf dieses Instrument, so werden in Gestalt der Erziehungsziele auch sogleich die wesentlichen Ziele von Integration deutlich.30 Die Bedeutung der Schulpflicht für die gesamtgesellschaftliche Integration hat das Bundesverfassungsgericht in einem Kammerbeschluss erläutert, in dem es um die verfassungsrechtliche Beurteilung von Sanktionen gegenüber sogenannten Schulverweigerern aus religiösen Gründen ging.31 Dort führt das Gericht aus: „Die Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule dient dem legitimen Ziel der Durchsetzung des staatlichen Erziehungsauftrags und ist zur Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen, sondern auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft sollen teilhaben können. Es mag zutreffen, dass die Beschränkung des staatlichen Erziehungsauftrags auf die regelmäßige Kontrolle von Durchführung und Erfolg eines Heimunterrichts zur Erreichung des Ziels der Wissensvermittlung ein milderes und insoweit auch gleich geeignetes Mittel darstellen kann. Doch kann es nicht als eine Fehleinschätzung angesehen werden, die bloße staatliche Kontrolle von Heimunterricht im Hinblick auf das Erziehungsziel der Vermittlung sozialer und staatsbürgerlicher Kompetenz nicht als gleich wirksam zu bewerten. Denn soziale Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermö29 Grundlegend Arnd Uhle, Innere Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 82. 30 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Formulierungen in den neueren Landesverfassungen. 31 BVerfGK 1, 141 (143) – Grundschulpflicht; 8, 151 (155) – Schulpflicht.

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gen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung können effektiver eingeübt werden, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und den in ihr vertretenen unterschiedlichsten Auffassungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern Teil einer mit dem regelmäßigen Schulbesuch verbundenen Alltagserfahrung sind. Die mit der Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule verbundenen Eingriffe in die genannten Grundrechte der Beschwerdeführer stehen auch in einem angemessenen Verhältnis zu dem Gewinn, den die Erfüllung dieser Pflicht für den staatlichen Erziehungsauftrag und die hinter ihm stehenden Gemeinwohlinteressen erwarten lassen. Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten ,Parallelgesellschaften‘ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt, sie verlangt vielmehr auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen. Für eine offene pluralistische Gesellschaft bedeutet der Dialog mit solchen Minderheiten eine Bereicherung. Dies im Sinne gelebter Toleranz einzuüben und zu praktizieren, ist wichtige Aufgabe schon der Grundschule. Das Vorhandensein eines breiten Spektrums von Überzeugungen in einer Klassengemeinschaft kann die Fähigkeit aller Schüler zu Toleranz und Dialog als einer Grundvoraussetzung demokratischer Willensbildungsprozesse nachhaltig fördern.“ 32 Diese Aussagen lassen sich im Kern auf die Integration von Zuwanderern übertragen, die nicht der Schulpflicht unterliegen33 und soweit bei diesen entsprechende Grundeinstellungen und Erfahren nicht mitgebracht werden, weil sie aus gesellschaftlichen Ordnungen kommen, die nicht pluralistisch und freiheitlich verfasst sind. Der Integrationskurs nach § 43 AufBVerfGK 1, 141 (143) – Grundschulpflicht. Bei Kindern und Jugendlichen die zuwandern, wird die Integration wesentlich durch die Einbeziehung in das Bildungswesen gefördert und geleistet. 32 33

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enthG ist insoweit in einem stark verkleinerten Maßstab ähnlich ausgerichtet wie die Schulpflicht, wobei wegen seiner kurzen Dauer und der bereits gefestigten Persönlichkeitsstrukturen von Erwachsenen naturgemäß nicht die gleichen Wirkungen erwartet werden können.34 Wichtig und richtig ist es vor diesem Hintergrund, dass der Gesetzgeber im Aufenthaltsrecht die Möglichkeiten erweitert hat, auch gegenüber anerkannten international Schutzberechtigten Integrationsleistungen einzufordern. Der neu gefasste § 26 III AufenthG, der sich an § 9 II und III AufenthG orientiert, schafft dafür die rechtlichen Grundlagen. Bereits im Rahmen des Asylpaketes II hatte der Gesetzgeber mit der gleichen Zielsetzung die Möglichkeiten zur Aberkennung von Aufenthaltstiteln und Ausweisung von anerkannten Schutzberechtigten erweitert, wenn diese strafrechtlich in Erscheinung getreten sind.35 Der neueren Gesetzgebung lassen sich zahlreiche Anhaltspunkte für eine Verstärkung der Orientierung am Modell der Gegenseitigkeit im Sinne eines Förderns und Forderns entnehmen, die zudem mit dem Leitbild einer stufenweisen Verfestigung des mitgliedschaftlichen Status der Zuwanderer verbunden sind. Paradoxerweise hat auch die im Rahmen des Integrationsgesetzes vorgenommene Abschwächung der Position von anerkannten Schutzberechtigten durch die Verknüpfung des Übergangs zum Daueraufenthalt an Integrationserfolge, das Gesamtkonzept gestärkt und nicht geschwächt, weil die zuvor bestehenden Ungleichbehandlungen gegenüber regulären Zuwanderern weitgehend beseitigt wurden. 3. Neuere Integrationsgesetzgebung An diese Zielvorstellungen knüpft auch der neuere Rechtsrahmen für die Integration von Migranten an, wie er im Aufent34 Siehe näher Johannes Eichenhofer, Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, 2013, S. 167 ff. 35 Dazu näher Winfried Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtlich-administrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, S. 121 ff. (128 ff.).

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haltsgesetz, der Integrationsverordnung und den neueren Landesintegrationsgesetzen anzutreffen ist, wobei letztere eine erhebliche Bandbreite bei der Formulierung der Ziele von Integration aufweisen.36 Das will ich durch den Vergleich der Regelungen aus Berlin, Nordrhein-Westfalen und Bayern verdeutlichen: Das bereits 2010 erlassene Berliner Partizipations- und Integrationsgesetz37 lässt bereits im Titel seine Grundausrichtung erkennen. Gemäß § 1 I setzt sich das PartIntG das „[. . .] Ziel, Menschen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu geben und gleichzeitig jede Benachteiligung und Bevorzugung gemäß Art. 3 III 1 des Grundgesetzes und Art. 10 II der Verfassung von Berlin auszuschließen.“ Dieses Ziel soll im Wesentlichen durch Maßnahmen der interkulturellen Öffnung der Verwaltung (§ 4 PartIntG) erreicht werden. Das Gesetz geht dabei von einem weiten Integrationsbegriff aus, der in § 1 II PartIntG wie folgt legal definiert wird: „Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, dessen Gelingen von der Mitwirkung aller Bürgerinnen und Bürger abhängt. Erfolgreiche Integration setzt sowohl das Angebot an die Bevölkerung mit Migrationshintergrund zur Beteiligung als auch den Willen und das Engagement der Menschen mit Migrationshintergrund zur Integration voraus. Art und Umfang der Partizipationsmöglichkeiten und der Integrationsförderung richten sich nach dem rechtlichen Status und dem Bedarf der Menschen mit Migrationshintergrund.“ Die Regelung nimmt weniger die Sozial- als die Systemintegration in Bezug und folgt damit dem vorherrschenden migrationssoziologischen Verständnis. Zugleich liegt die Integrationsverantwortung weniger bei den Einwanderern als bei der Aufnahmegesellschaft.

36 Zu Einzelheiten Johannes Eichenhofer, Integrationsgesetzgebung, ZAR 2016, S. 251 ff. 37 Gesetz zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin vom 15. Dezember 2010 (GVBl. 2010, S. 560).

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Das Land Nordrhein-Westfalen hat 2012 ein Teilhabe- und Integrationsgesetz (TIG)38 erlassen, das sich trotz vieler Übereinstimmungen an wichtigen Stellen vom Berliner Gesetz abhebt. Nur darauf will ich eingehen. Eine erste Besonderheit besteht darin, dass das TIG keine Legaldefinition, sondern eine Reihe von Zielbestimmungen (§ 1) und Grundsätzen (§ 2) normiert. Diese Grundsätze heben in besonderem Maße den Wert kultureller Vielfalt und die Notwendigkeit gegenseitiger Anerkennung von Einwanderern und Aufnahmegesellschaft hervor. Zudem differenziert das TIG zwischen verschiedenen Migrantengruppen (z. B. in § 3 II nach Aufenthaltsstatus, in §§ 11 ff. zwischen Spätaussiedlern und Inhabern einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 22, 23 I und II AufenthG). In § 7 TIG findet sich eine besondere Bestimmung zum Schutz der Belange der Kommunen durch kommunale Integrationszentren. Ferner stellt § 12 TIG klar, dass die Integration der in § 11 TIG genannten Personen, die nach § 13 TIG durch das „Kompetenzzentrum für Integration bei der Bezirksregierung Arnsberg“ auf die Gemeinden verteilt werden, eine Pflichtaufgabe nach Weisung darstellt (§ 12 TIG), für die das Land den verantwortlichen Gemeinden sogenannte Integrationspauschalen (§ 14 TIG) zu zahlen hat. Beim bayerischen Entwurf für ein Integrationsgesetz39 handelt es sich um eine Reaktion speziell auf die „Flüchtlingskrise“. So heißt es in Art. 1 Satz 1 BayIntG, das Land soll seine Verantwortung gegenüber den Geflüchteten wahrnehmen. Satz 2 stellt klar, dass den Geflüchteten eine zeitlich für die Dauer des Aufenthalts befristete Integrationsförderung zuteil werden soll. Zugleich postuliert das Gesetz eine Integrationspflicht, d.h. eine Pflicht zur „im Rahmen des Gastrechts unabdingbare[n] Achtung der Leitkultur“. Bereits die Präambel des Gesetzentwurfes sieht ein Bekenntnis zur „Leitkultur“ (Satz 12), zur deutschen 38 Gesetz zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration in Nordrhein-Westfalen (Teilhabe- und Integrationsgesetz) vom 14. Februar 2012 (GVBl. 2012, S. 97). 39 Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein Bayrisches Integrationsgesetz vom 10. Mai 2016 (LT-Drs. 17/11362).

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Nation (Satz 1), zu den Werten und Traditionen des christlichen Abendlandes und den jüdischen Beitrag zur Identität (Satz 2) vor. Zu diesen Werten gehöre die Würde des Menschen, die Freiheit der Person, die Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen und das Recht jedes Einzelnen auf ein selbstbestimmtes, aber auch selbstverantwortliches Leben. Diese sind als Frucht der Aufklärung tragende Grundlage unserer Rechts- und Gesellschaftsordnung. Auch wird die Bedeutung von Brauchtum, Sitten und Tradition (Satz 9) betont, durch die Bayern Heimat für viele geworden sei (Satz 10). Von den Einwanderern verlangt der Gesetzentwurf unter anderem, das in Bayern geltende Recht zu wahren und Grundsätzen von Demokratie (Satz 6) und Solidarität mit den Schwächeren (Satz 7) zu erweisen. Ferner müssten sie ihren Beitrag zur gemeinsamen Wirtschaftsleistung (Satz 8) erbringen. Differenziert wird zudem zwischen Integrationsförderung und Integrationspflicht und zwar nicht nur sachlich, sondern auch hinsichtlich der Adressaten. Während Geflüchtete beiden Regelungsregimen unterliegen, werden die in § 2 II und III genannten Migrantengruppen (u. a. Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, Drittstaatsangehörige mit Aufenthaltserlaubnis nach §§ 18, 18b–21 AufenthG und ihre Familienangehörigen, sowie Familienangehörige von Deutschen und Deutsche mit besonderem Integrationsbedarf) nur durch die Integrationsförderung adressiert. Damit folgt der Gesetzentwurf weitestgehend der Logik des Aufenthaltsgesetzes und seines nach Aufenthaltszweck und -dauer differenzierten Integrationskonzeptes. Der Grundsatz der Integrationsförderung wird in Art. 3 BayIntG genauer exemplifiziert. In Abs. 1 Satz 1 wird Bildung als „zentraler Schlüssel zur Integration“ angesehen, weshalb sich der Freistaat Bayern nach Abs. 2 „bemüht“, geeignete Bildungsangebote und nach Abs. 3 Angebote zur politischen Bildung zu machen. Weitere Angebote betreffen die Migrations- und Rückkehrberatung (Abs. 4 und 6) oder die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements (Abs. 5). Nach Art. 4 III BayIntG sollen Einwanderer beim Erwerb von Deutschkenntnissen in den ersten sechs Jahren des Aufenthalts unterstützt werden. Weiterhin enthält das Gesetz Bestimmungen über die vorschulische Sprachförderung

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(Art. 5), die frühkindliche Bildung (Art. 6) und die Integration in Schule (Art. 7) und Hochschule (Art. 8). Der bayerische Gesetzgeber weist damit der Sozialintegration einen deutlich höheren Stellenwert zu, als dies bei den anderen gesetzlichen Regelungen der Fall ist. Es knüpft damit an die Regelungen im AufenthG an, das in Bezug auf die Integration ebenfalls die soziale Integration in den Vordergrund stellt. Mit der Bezugnahme auf Arbeit und Sprache werden dabei aber zugleich wichtige Aspekte der Systemintegration abgedeckt und in den Integrationskursen auch die Grundkenntnisse zur verfassungsrechtlichen und politischen Rahmenordnung des Grundgesetzes vermittelt. IV. Weitere Einzelfragen 1. Integration in einer demokratischen Gesellschaft Lassen wir diese unterschiedlichen Ansätze einmal so im Raum stehen, um sie im Rahmen der Diskussion genauer zu betrachten, so sollte der Blick noch einmal zurückschweifen auf die grundsätzliche Ebene, indem nach den Anforderungen an die Integration in einer demokratischen Gesellschaft gefragt wird, wie sie durch das Grundgesetz normativ etabliert wird. Hier können im Anschluss an die Arbeiten von Christine Langenfeld 40 und Arnd Uhle41 die Aspekte der grundrechtlich abgesicherten Vielfalt von Standpunkten, Lebens- und Kulturmodellen, deren Spannung durch demokratische Gesetzgebung auszugleichen ist und die auf dem gegenseitigen Respekt als Ausdruck der Menschenwürde beruhen, angeführt werden. 40 Christine Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten. Eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland, 2001. 41 Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 355 ff.; Arnd Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 250 ff. (253); Arnd Uhle, Innere Integration, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 82.

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Wichtig erscheint mit in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, dass sich die Katholische Kirche in der Erklärung Dignitatis humane über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils zur grundsätzlich positiven Gleichbehandlung der Religionen bekannt hat. Zugleich wird dort anerkannt, dass die Religionsfreiheit in Fällen der Gefährdung der Friedensordnung beschränkt werden kann. Die einschlägige Passage lautet: „Das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen wird innerhalb der menschlichen Gesellschaft verwirklicht, und deshalb ist ihre Ausübung gewissen umgrenzenden Normen unterworfen. Beim Gebrauch einer jeden Freiheit ist das sittliche Prinzip der personalen und sozialen Verantwortung zu beobachten: Die einzelnen Menschen und die sozialen Gruppen sind bei der Ausübung ihrer Rechte durch das Sittengesetz verpflichtet, sowohl die Rechte der andern wie auch die eigenen Pflichten den anderen und dem Gemeinwohl gegenüber zu beachten. Allen Menschen gegenüber muss man Gerechtigkeit und Menschlichkeit walten lassen. Da die bürgerliche Gesellschaft außerdem das Recht hat, sich gegen Missbräuche zu schützen, die unter dem Vorwand der Religionsfreiheit vorkommen können, so steht es besonders der Staatsgewalt zu, diesen Schutz zu gewähren; dies darf indessen nicht auf willkürliche Weise oder durch unbillige Begünstigung einer Partei geschehen, sondern nur nach rechtlichen Normen, die der objektiven sittlichen Ordnung entsprechen und wie sie für den wirksamen Rechtsschutz im Interesse aller Bürger und ihrer friedvollen Eintracht erforderlich sind, auch für die hinreichende Sorge um jenen ehrenhaften öffentlichen Frieden, der in einem geordneten Zusammenleben in wahrer Gerechtigkeit besteht, und schließlich für die pflichtgemäße Wahrung der öffentlichen Sittlichkeit. Dies alles gehört zum grundlegenden Wesensbestand des Gemeinwohls und fällt unter den Begriff der öffentlichen Ordnung.“ Diese Passage ist auch deshalb sehr aktuell, weil sie anerkennt, dass die Religionsfreiheit auch zum Vorwand genommen werden kann, um sich legitim auferlegten Pflichten der bürgerlichen Gesellschaft zu entziehen. Diese konsentierten Aussagen möchte ich um zwei Akzente ergänzen.

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Zunächst zur auf den ersten Blick sehr allgemeinen und formalen Anforderung der Rechtstreue, die der Bundesgesetzgeber durch das Asylpaket II in der allgemeinen Regelung zur Ausweisung als zentrales Abwägungskriterium verankert hat.42 Rechtstreue wird von allen Normadressaten verlangt und Verstöße werden in gleicher Art und Weise auch gegenüber allen sanktioniert. Deshalb kann man auf den ersten Blick durchaus zweifeln, ob ein spezifischer Bezug zur Migrantenintegration besteht. Dieser besteht meines Erachtens darin, dass im Rahmen eines zunächst vorübergehenden Aufenthaltsrechts auch das Einfordern von selbstverständlichen und allgemeinen Pflichten sinnvoll erscheint, weil darin zum Ausdruck kommt, dass die neue soziale Ordnung anerkannt wird. Das gilt namentlich für jene Bereiche der sozialen Ordnung, die mit den Regeln der bislang vertrauten Ordnung nicht übereinstimmen. Über diesen allgemeinen Aspekt hinaus ist auch zu bedenken, dass in einer demokratischen Gesellschaft im Gesetz das Ergebnis einer auf dem Mehrheitsprinzip basierenden Entscheidung zum Ausdruck kommt. In der Befolgung des Gesetzes kommt deshalb indirekt auch die Anerkennung einer zentralen Institution des demokratischen Verfassungsstaates zum Ausdruck, der auf der allgemeinen Akzeptanz der beschlossenen Gesetze mit der Möglichkeit der zukünftigen Änderung basiert. Es ist diese Legitimation, die sie von Gesetzen in autoritären und totalitären Ordnungen unterscheidet. Diese Rolle des Gesetzes zu vermitteln und vor diesem Hintergrund die besondere Bedeutung der Rechtstreue zu betonen, scheint mir ein wichtiges Anliegen von Integrationsmaßnahmen zu sein. 2. Die Rolle der Menschenrechte In engem Zusammenhang damit steht die Rolle der Menschenrechte für den Integrationsprozess. Dabei geht es mir nicht 42 Siehe § 53 Abs. 2 AufenthG und dazu Winfried Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtlich-administrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, S. 121 ff. (129).

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in erster Linie um die bedeutsamen inhaltlichen Vorgaben, sondern um die Bedeutung der Verrechtlichung in diesem Zusammenhang. Die Anerkennung von Menschenrechten, insbesondere von sozialen Menschenrechten, hat zur Folge, dass Handlungen, die aus einer ethischen Perspektive auf Barmherzigkeit und Nächstenliebe beruhen, in Rechte und Ansprüche transformiert werden. Das mag auf den ersten Blick wie eine Bürokratisierung und Entmenschlichung anmuten, eine Kritik, die bisweilen auch dem Sozialstaat entgegengehalten wird. Wie Margalit in seinen Überlegungen zur Politik der Würde43 und viele andere Autoren gezeigt haben, ist die Verrechtlichung aber sinnvoll und notwendig, um unnötige Demütigungen der Migranten, in diesem Fall der Flüchtlinge, zu vermeiden. Gerade die Gewährung von Rechten gegenüber Flüchtlingen stellt diejenige Anerkennung wieder her, die ihnen im Rahmen der Verfolgung verwehrt und vorenthalten wurde. V. Bedingungen von Integration 1. „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ In einem letzten Schritt möchte ich auf einige Bedingungen der Integration eingehen.44 Kurz nach dem zweiten Weltkrieg hat Karl Popper seine Studie zur offenen Gesellschaft und ihren Feinden45 veröffentlicht und eine grundlegende Debatte ausgelöst, die unsere politische Kultur bis heute prägt. Sie handelt vom Umgang mit absolu-

43 Avishai Margalit, Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, 2. Aufl. 1997; siehe dazu auch Winfried Kluth, „Politik der Würde“ im Bereich des Ausländerrechts, in: Jochum/Fritzemeyer/Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers. Festschrift für Kay Hailbronner, 2013, S. 137 ff. 44 Dazu näher Friedrich Heckmann, Integration von Migranten. Einwanderung und neue Nationenbildung, 2015, S. 205 ff. 45 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., 8. Aufl. 2003.

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ten Wahrheitsansprüchen in einer demokratischen Gesellschaft. Poppers Feindbild war die Staatsphilosophie Platons, in deren Gefolgschaft man unter anderem Hegel sehen kann. Die Thematik gewinnt heute in verschiedene Richtungen neue Aktualität. Es geht zum einen darum, in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft den Anspruch auf ewige Wahrheiten, wie sie das Christentum und der Islam für sich beanspruchen, nicht als solchen auszuschließen. Die offene Gesellschaft verlangt lediglich, dass sich der Staat diesen Anspruch nicht zu eigen macht. Und an dieser Stelle kommen auch gewisse strukturelle Unterschiede zwischen Christentum und Islam zum Ausdruck, die nicht unterschätzt werden sollten. Zugleich ist es wichtig, das gegenseitige Vertrauen als unverzichtbare Grundlage einer freien und offenen Gesellschaft in den Blick zu nehmen, weshalb der Verständigung zwischen den Religionen und dem Abbau von Vorurteilen, wie sie seit Paul VI. einen besonderen Stellenwert in der Politik des Vatikan erlangt haben, eine erhebliche Bedeutung zukommt. Dabei geht es auch um die Unterscheidung zwischen der Anerkennung der gleichen Würde aller Menschen und ihrer religiösen Überzeugungen einerseits und dem Eintreten für die eigenen Wahrheitsüberzeugungen andererseits. Beides muss möglich bleiben und die Offenheit der gesellschaftlichen Ordnung darf nicht zu weltanschaulicher Gleichgültigkeit verführen. 2. Konzepte sozialer Gerechtigkeit als latenter inhaltlicher Rahmen Integration darf zudem nicht als rein formaler und einseitiger Prozess verstanden werden. Vielmehr müssen auch die legitimen Interessen der Aufnahmegesellschaft besser herausgearbeitet werden. Während die Interessen der Flüchtlinge vielfältig mit Menschenrechten unterfüttert werden, fehlt es dem rechtlichen Diskurs insoweit an aussagekräftigen Konstruktionen. Deshalb scheint es mir sinnvoll und geboten, den in der Migrationswissenschaft verwendeten Topos des Sozialkapitals der

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Aufnahmegesellschaft46, das von den Migranten in Anspruch genommen wird, genauer zu betrachten. Dabei geht es nicht nur um die vermögenswerten Leistungen, die der Sozialstaat zugunsten der Flüchtlinge aus dem Steueraufkommen der Aufnahmegesellschaft erbringt. Es geht auch um die – im Falle von Deutschland – stabile und freiheitliche gesellschaftliche Ordnung, die durch Migration gefährdet werden kann. Aus dem Blickwinkel der Aufnahmegesellschaft spielen schließlich bei der humanitären Migration und der Integration von Flüchtlingen mit latenter Dominanz auch Fragen sozialer Gerechtigkeit eine wichtige Rolle, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Deshalb müssen auch Anpassungen der übrigen Politikfelder erfolgen, wenn der Staat sich in großem Umfang im humanitären Bereichen engagiert. Damit sind einige wenige Hinweise formuliert, die an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden können. VI. Ausblick: Integration und Fortschritt Integration verlangt zwar – wie ich gezeigt habe – auch von der Aufnahmegesellschaft Offenheit und Beweglichkeit. Dabei sollten aber grundlegende kulturelle und rechtliche Errungenschaften weder aufgegeben noch gefährdet werden. Das führt zu dem in heutiger Zeit wenig geschätzten, weil mit der Bewertung von kulturellen Standards verbundenen Aspekt des kulturellen Fortschritts. Papst Benedikt XVI. hat diese Problematik im Anschluss an seine Regensburger Rede47 erfahren müssen, in der er unter anderem einen Aufklärungsprozess des Islams angeregt hat. In der Tat scheint mir die doppelte Forderung „aufgeklärt bleiben und Offenheit bewahren“ eine wichtige Orientierung für die Integrationspolitik zu vermitteln. Integration kann nur gelingen, wenn dabei Menschenrechtsstandards umgesetzt und 46 Dazu etwa Paul Collier, Exodus. Warum wir die Einwanderung neu regeln müssen, 2014, S. 63 ff. 47 Papst Benedikt XVI, Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, 2006.

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nicht abgemindert werden. Das ist zugleich kompatibel mit der Bewahrung und Verteidigung der christlichen Religion und Kultur, die sich diese Standards im Großen und Ganzen im Laufe der Zeit und nicht ohne innere Widerstände zu Eigen gemacht hat. Die klaren Orientierungen, die die Grundrechtsteile des Grundgesetzes und der in kulturellen Aspekte zum Teil detaillierteren Landesverfassungen vermitteln, sind auch vor diesem Hintergrund ein zentrales Element des Integrationsprozesses und der Integrationspolitik. Dabei ist mit Arnd Uhle zu betonen, dass innere Integration eine gemeinsame Aufgabe von Gesellschaft und Staat ist48 und dass das Grundgesetz dazu anleitet, die freiheitlichen und gesellschaftsgetragenen Integrationsprozesse in den Vordergrund zu stellen. Dafür bietet die Entwicklung der letzten Monate wichtige und ermutigende Anhaltspunkte. Eine klare gesetzliche Anleitung ist damit nicht entbehrlich, sondern als Groborientierung erwünscht und hilfreich. Sie ist auch deshalb hilfreich, weil so der tiefere Sinn der Rechtstreue als zentraler Voraussetzung von Integration reflexiv verdeutlicht werden kann.

48 Arnd Uhle, Innere Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 82 Rdnr. 41 ff.

Integrationspflichten und Sanktionen Von Michael Griesbeck I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

II.

Die Entwicklung der Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 1. Bericht der Süssmuth-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Integrationspflichten im Aufenthaltsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . 120

III. Integrationspflichten beim Familiennachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 7 der Familienzusammenführungsrichtlinie und seine Umsetzung in deutsches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsprechung und Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

Integrationsvereinbarungen und Selbstverpflichtungen . . . . . . . . 127 1. Integrationsvereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Die Eingliederungsvereinbarung nach dem Sozialgesetzbuch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

V.

Zwischenergebnis: Grundsätzliche Zulässigkeit von Integrationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

VI. Sanktionen und Anreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Das Sanktionensystem nach Aufenthaltsgesetz und Sozialgesetzbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Das Verhältnis von Sanktion und Anreiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 VII. Integrationspflichten als Pflichten, die zur Teilnahme am Gemeinwesen befähigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 VIII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

I. Einleitung Die Möglichkeit, zu Integrationsmaßnahmen zu verpflichten und eine Nichterfüllung zu sanktionieren, soll anhand von drei Instrumenten im deutschen Recht dargestellt werden: Verpflich-

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tungen, die (per Verwaltungsakt) ausgesprochen werden, wie z. B. die Verpflichtung zur Teilnahme am Integrationskurs; solche, die sich als Voraussetzung für eine bestimmte Leistung oder einen Aufenthaltsstatus ergeben (sogenannte Integrationsanforderungen), und solche, die sich aus einer Vereinbarung ergeben. Der Vorschlag gesetzlich normierter Integrationskurse und die Möglichkeit der Verpflichtung dazu kam von niemand geringerem als von der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, der sogenannten Süssmuth-Kommission, die sich wiederum an Schweden und den Niederlanden orientierte. Das Prinzip des Förderns und Forderns ist seitdem zum Grundprinzip deutscher Integrationspolitik geworden. Die Familienzusammenführungsrichtlinie vom 22. September 20031 zeigt, dass Integrationsanforderungen als Voraussetzung für den Familiennachzug dem EU-Recht nicht fremd sind. Auch Selbstverpflichtungen waren schon vor dem Zuwanderungsgesetz Bestandteil deutscher Integrationspolitik. Natürlich ist eine verpflichtende Regelung – und sei es auch „nur“ im Wege der Vereinbarung – immer mit Kritik verbunden. Als bei der Einführung der Integrationskurse das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach langen Gesprächen mit Fachleuten zu dem Ergebnis kam, dass beim Integrationskurs das Sprachniveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens das Ziel sein sollte und nicht A2, hieß es von Kritikern, man würde von Zuwanderern Unmögliches verlangen. Erst als Experten aus ihrer Erfahrung sagten, nur mit B1 hätten die Zuwanderer überhaupt eine Chance, auf dem Arbeitsmarkt anzukommen, konnte das Regelwerk passieren. Ebenso war es bei der Einführung der Vorintegration und der Sprachprüfung zum Ehegattennachzug. Obwohl die Richtlinie eine solche Möglichkeit, den Familiennachzug von Vorausset-

1 Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 22. September 2003 (ABl. Nr. L 251/12 v. 3.10. 2003).

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zungen abhängig zu machen, ausdrücklich vorsah, wurde immer wieder das Argument vorgebracht, dass dies ein Verstoß gegen die EMRK, gegen EU-Recht oder gegen das Grundgesetz sei. Eine Studie des Goethe-Instituts wies jedoch nach, dass die Erfolgsquoten hoch waren und die Prüfungen kein unüberwindbares Hindernis darstellten. Auch die Debatte über Integrationsvereinbarungen lebt wieder auf. Dazu liegen Erfahrungen eines Modellversuchs der damaligen Integrationsbeauftragten Maria Böhmer vor sowie Erfahrungen aus benachbarten Staaten. Wer sich mit Pflichten befasst, muss sich auch mit Sanktionen befassen. Denn bei Pflichten muss man sich immer auch die Frage stellen: was geschieht bei Nichterfüllung der Pflicht. Es ist also eine Rechtsfolge z. B. in Form einer Sanktion vorzusehen, sonst handelt es sich nur um einen Apell. Wie stark aber von ihr Gebrauch gemacht wird, bestimmt die Praxis. II. Die Entwicklung der Verpflichtung zur Integrationskursteilnahme 1. Bericht der Süssmuth-Kommission Schon die Unabhängige Kommission „Zuwanderung“, das nach ihrer Vorsitzenden auch Süssmuth-Kommission genannte, von Innenminister Otto Schily berufene Fachgremium zur Neuordnung des Zuwanderungsrechts in Deutschland,2 hatte im Integrationsteil des Abschlussberichts für eine Verpflichtung zur Teilnahme an den Integrationskursen plädiert. So heißt es dort: „Daher sollten Migranten zum einen über die Ziele und die Inhalte der Kurse umfassend informiert werden [. . .]. Zum

2 Gerold Lehnguth, Die Entstehung und Entwicklung des Zuwanderungsgesetzes unter besonderer Berücksichtigung der Integrationsregelungen, in: Jochum/Fritzemeyer/Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers, Festschrift für Kay Hailbronner, 2013, S. 185 ff. (187 ff.).

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anderen sollten die Kurse verpflichtend sein.“ 3 Allerdings wird in den Empfehlungen dargetan, dass die Verpflichtung auf einem individuell abgeschlossenen Integrationsvertrag beruhen sollte. Sanktionen steht die Unabhängige Kommission skeptisch gegenüber und setzt eher auf ein System von Anreizen, z. B. Privilegierungen bei der Verfestigung des Aufenthalts (Niederlassungserlaubnis schon nach vier statt nach fünf Jahren) oder Verkürzung der Frist für Anspruchseinbürgerungen. Ausdrücklich weist die Kommission auch auf einen Vorschlag der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen aus dem Jahr 2000 hin, einem Neuzuwanderer durch einen Vertrag einen Anspruch auf einen „Sprach- und Informationskurs“ zu geben und zur Erhöhung der Attraktivität des Kursangebots Motivationsanreize vorzusehen.4 Anders steht die Kommission zur Verpflichtung von Arbeitslosen. Hierzu heißt es: „Die Bezieher von Sozialund Arbeitslosenhilfe sind in besonderer Weise zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichtet. Ihnen bieten die Kurse die Möglichkeit, ihre Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch sprachliche Qualifizierung zu erhöhen. Wer das Kursangebot nicht annimmt, obwohl es ihm möglich wäre, sollte eine Kürzung der Sozialbezüge erfahren.“ 5 2. Integrationspflichten im Aufenthaltsgesetz Im Zuwanderungsgesetz 20056 wurde die Integration in vier Paragraphen des Aufenthaltsgesetzes, das das Ausländergesetz 3 Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ (Hrsg.), Zuwanderung gestalten. Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, 2001, S. 260. 4 Unabhängige Kommission (a. a. O.), S. 258. 5 Unabhängige Kommission (a. a. O.), S. 262. 6 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I 2004, S. 1950); für das Vorläufergesetz, Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (BGBl. I 2002, S. 1946), in dem ebenfalls schon Integrationskurse und die Verpflichtungsmöglichkeit dazu vorgesehen waren, stellte das

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ersetzte, geregelt. Neben einem Anspruch auf Teilnahme am Integrationskurs – als „Grundangebot zur Integration“ (§ 43) bestehend aus einem Sprachkurs und einem Orientierungskurs zur Vermittlung von Rechtsordnung, Geschichte und Kultur – für Ausländer, die sich dauerhaft (mit einem Aufenthaltstitel von mehr als einem Jahr) im Bundesgebiet aufhalten, (§ 44) sah das Gesetz in § 44a auch die Möglichkeit einer Verpflichtung zur Teilnahme vor. Verpflichtet werden konnte ein anspruchsberechtigter Ausländer – in der Regel also ein Neuzuwanderer – durch die Ausländerbehörde bei der Ausstellung des Aufenthaltstitels, wenn er „sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen kann“. Ausnahmen vom Teilnahmeanspruch bestanden, wenn ein erkennbar geringer Integrationsbedarf vorlag, ausreichende Kenntnisse auf dem Sprachniveau B1 vorlagen oder bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die eine schulische Ausbildung aufnahmen oder fortsetzen. Das „mündlich“ wurde im Richtlinienumsetzungsgesetz von 2007 erweitert.7 Weiterhin sah § 44a AufenthG die Möglichkeit vor, nicht anspruchsberechtigte Ausländer – also in der Regel schon länger hier lebende Ausländer – zur Teilnahme zu verpflichten, wenn sie  Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch beziehen und die die Leistung bewilligende Stelle die Teilnahme angeregt hat (§ 44a Abs. 1 Nr. 2a) oder  in besonderer Weise integrationsbedürftig sind (§ 44a Abs. 1 Nr. 2b). Die besondere Integrationsbedürftigkeit wird gem. § 4 Abs. 4 der Integrationskursverordnung vom 13. Dezember 20048 z. B. vermutet bei Inhabern der Personensorge für ein in Deutschland Bundesverfassungsgericht am 18. Dezember 2002 das nicht ordnungsgemäße Zustandekommen fest (BVerfGE 106, 310 – Zuwanderungsgesetz). 7 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 2007, S. 1970). 8 Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung – IntV) vom 13. Dezember 2004 (BGBl. I 2004, S. 3370).

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lebendes minderjähriges Kind, die sich nicht auf einfache Art in deutscher Sprache mündlich verständigen können. Zusammengefasst kann man sagen, dass die Verpflichtungsmöglichkeit bei schon länger in Deutschland lebenden Ausländern für Arbeitslose und Eltern schulpflichtiger Kinder vorgesehen wurde. Dies ergibt auch Sinn, da Deutschkenntnisse die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern und die Eltern schulpflichtiger Kinder deren Bildungskarriere verbessern können.9 Interessant ist im Übrigen auch, dass in der ursprünglichen Fassung10 eine Teilnahmeverpflichtung nur für Anspruchsberechtigte, also nur für Neuzuwanderer, vorgesehen war. Durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 200711 wurden grundlegende Änderungen u. a. bei den Zielgruppen, dem Umfang und auch bei Verpflichtungen und Sanktionen vorgenommen. Durch die Neuregelung wurde die Verpflichtung zur Teilnahme am Integrationskurs von Ausländern, die Leistungen nach dem SGB II beziehen und von Ausländern, die über den Familiennachzug einreisen, neu geregelt. Ziel der Neuregelung war auch die Harmonisierung der aufenthaltsrechtlichen und sozialrechtlichen Verpflichtungen und ein Ineinandergreifen der Sanktions9 Ausführlich zu den Regelungen und deren Entstehungsgeschichte siehe Gerold Lehnguth, Die Entstehung und Entwicklung des Zuwanderungsgesetzes unter besonderer Berücksichtigung der Integrationsregelungen, in: Jochum/Fritzemeyer/Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers, Festschrift für Kay Hailbronner, 2013, S. 185 ff. (190 ff.). 10 Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 7. Februar 2003 (BT-Drs. 15/420, S. 18); Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 20. Juni 2002 (BGBl. I 2002, S. 1946); zur Regelung der Integration in diesem Gesetz siehe Michael Griesbeck, Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und seine Aufgaben im Bereich der Integration, ZAR 2002, S. 303 ff. 11 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 2007, S. 1970).

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mechanismen. Bei Leistungsbeziehern konnten die Träger der Grundsicherung nun eigenständig Verpflichtungen aussprechen. Außerdem sah das Gesetz weitere Sanktionsmöglichkeiten vor, so dass von einem abgestuften System von Sanktionen gesprochen werden konnte.12 Seit 2011 ist vor Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis festzustellen, ob der Ausländer der Teilnahmepflicht nachgekommen ist (§ 8 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). War oder ist der Ausländer zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet, soll die Verlängerung auf höchstens ein Jahr befristet werden, solange er den Integrationskurs noch nicht erfolgreich abgeschlossen oder noch nicht den Nachweis erbracht hat, dass seine Integration in das gesellschaftliche und soziale Leben anderwärtig erfolgt ist (Satz 6). In den Anfangsjahren der Geltung des Aufenthaltsgesetzes waren die Teilnehmer zu mehr als 50% schon länger hier lebende, die im Rahmen der sogenannten nachholenden Integration die Integrationskurse besuchten. Der Anteil der Verpflichteten lag sowohl bei den Teilnahmeberechtigungen als auch bei den Teilnehmern zwischen 2006 und 2014 ständig zwischen 1/3 und ½, und überschritt diese Marke 2010 sogar mit 54,4%, wobei der Anteil der verpflichteten Neuzuwanderer stets über 50% lag. Unter den schon länger hier lebenden Altzuwanderern betrug der Anteil der Verpflichteten von 2005 bis 2013 ca. 1/3.13 III. Integrationspflichten beim Familiennachzug 1. Art. 7 der Familienzusammenführungsrichtlinie und seine Umsetzung in deutsches Recht Dass auch dem EU-Recht Integrationsanforderungen nicht fremd sind, zeigt die Familienzusammenführungsrichtlinie vom 12 Katharina Breitkreuz/Boris Franßen-de la Cerda/Christoph Hübner, Das Richtlinienumsetzungsgesetz und die Fortentwicklung des deutschen Aufenthaltsrechts, ZAR 2007, S. 381 ff. (384 f.). 13 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Das Bundesamt in Zahlen 2014. Asyl, 2015, S. 114 ff.

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22. September 2003. Dort heißt es in Art. 7 Abs. 2 ausdrücklich: „Die Mitgliedstaaten können gemäß dem nationalen Recht von Drittstaatsangehörigen verlangen, dass sie Integrationsmaßnahmen nachkommen müssen.“ 14 Deutschland hat davon im Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 Gebrauch gemacht und in dem neu eingefügten § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG den Familiennachzug von einfachen Sprachkenntnissen nach dem Niveau A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) abhängig gemacht.15 In der Begründung 2007 wurde ausdrücklich auf die Familienzusammenführungsrichtlinie Bezug genommen und dargetan, dass durch die Neuregelung die Betroffenen dazu angeregt werden sollen, sich bereits im Ausland ausreichende Deutschkenntnisse anzueignen und dadurch ihre Integration im Bundesgebiet zu erleichtern.16 Bei solchen bereits im Ausland stattfindenden Maßnahmen spricht man auch von „Vorintegrationsmaßnahmen“. 2015 wurde nach der Dogan-Entscheidung des EuGH17 durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung18 eine allgemeine Härteklausel eingeführt (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 AufenthG). Von der Systematik her unterscheidet sich das Spracherfordernis beim Familiennachzug von der Verpflichtung zur Teilnahme am Integrationskurs insoweit, als es sich um eine Integrationsanforderung handelt. Johannes Eichenhofer hat den systemati14 Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 22. September 2003 (ABl. Nr. L 251/12, S. 16). 15 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I 2007, S. 1970); ausführlich Katharina Breitkreuz/Boris Franßen-de la Cerda/Christoph Hübner, Das Richtlinienumsetzungsgesetz und die Fortentwicklung des deutschen Aufenthaltsrechts, ZAR 2007, S. 381 ff. 16 Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union (BT-Drs. 16/5065, S. 173 f.). 17 EuGH vom 10. Juli 2014, Rechtssache C-138/13 – Dogan, ECLI: EU:C:2014:2066. 18 Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I 2015, S. 1386).

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schen Unterschied sehr gut dargestellt: Integrationsanforderungen sind Bedingungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels und richten sich an Ausländer. Hingegen ist die Verpflichtung zur Teilnahme am Integrationskurs die Kehrseite einer grundsätzlich begünstigenden Maßnahme.19 Da der Ausländer aber die Voraussetzung des Spracherwerbs beeinflussen kann20, anders als z. B. das Alter, das ebenfalls eine Integrationsanforderung beim Familiennachzug ist, ist es gerechtfertigt von Pflichten zu sprechen, wie dies auch in den Gerichtsentscheidungen zum Ausdruck kommt. 2. Rechtsprechung und Fortentwicklung Die Regelung hielt einer gerichtlichen Nachprüfung stand: Bereits in der Entscheidung vom 30. März 2010 hatte das Bundesverwaltungsgericht dargetan, Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie gestatte es, den Nachzug von einem Spracherfordernis abhängig zu machen.21 In der Folge der Dogan-Entscheidung vom 10. Juli 2014, die sich allerdings explizit nicht mit der Vereinbarkeit der Sprachanforderung mit der Familienzusammenführungsrichtlinie beschäftigte, führte der Gesetzgeber am 1. August 2015 eine allgemeine Härteklausel ein, die über die des § 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AufenthG, die sich nur auf krankheits- und behindertenbedingte Unmöglichkeit des Spracherwerbs bezog, hinausging. Demnach ist das Erfordernis des § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, wonach sich der Ehegatte zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können muss, unbeachtlich, wenn es ihm „auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht möglich oder nicht zumutbar ist, vor der Einreise Bemühungen zum Erwerb einfacher Kenntnisse in deutscher Sprache zu unternehmen“. 19 Johannes Eichenhofer, Begriff und Konzept der Integration im Aufenthaltsgesetz, 2013, S. 158 ff. 20 Siehe dazu auch BVerwGE 136, 231 (240) – Deutschkenntnisse bei Ehegattennachzug. 21 BVerwGE 136, 231 (240 f.) – Deutschkenntnisse bei Ehegattennachzug.

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Bereits zuvor hatte der EUGH am 9. Juli 2015 in der Rechtssache K. und A.22, die eine dem deutschen Recht vergleichbare Verpflichtung in den Niederlanden betraf, eine Verpflichtung zum Sprachnachweis für rechtens erklärt, sofern im Einzelfall nicht eine unbillige Härte vorliegt. Die Pflicht dürfe nicht dazu führen, dass das Ziel der Richtlinie beeinträchtigt würde. Sie ist insoweit konditioniert, dass die Möglichkeiten zum Spracherwerb auch zur Verfügung stehen müssen. Interessant ist dabei auch, dass in der Entscheidung von Erfolgspflichten und nicht nur von reinen Handlungspflichten ausgegangen wird.23 3. Erfahrungen Die Pflicht zum Sprachnachweis wurde zwar bei Einführung z. T. massiv als Verstoß gegen die EMRK, gegen EU-Recht oder gegen das Grundgesetz kritisiert24, hat sich jedoch – wie auch eine Evaluierung des Goethe-Instituts aus dem Jahr 201125 ergab – bewährt. Dem einreisenden Ehegatten werden nicht nur Sprachkenntnisse und Informationen über die neue Heimat vermittelt, die seine Integration erleichtern oder gar erst ermöglichen, sondern es ist vielfach auch ein Stück Empowerment, weil die Sprachkurse und bestandenen Tests den nachziehenden Ehegatten auch Selbstbewusstsein vermitteln und die freie Entfaltung der Persönlichkeit erleichtern.26

22 EuGH vom 9. Juli 2015, Rechtsache C 153/14 – K und A, ECLI: EU:C:2015:453. 23 EuGH vom 9. Juli 2015, Rechtsache C 153/14 – K und A, ECLI: EU:C:2015:453, Rdnr. 54 ff.; ausführlich Roman Lehner, Die DoganRechtsprechung des EuGH zum Spracherfordernis beim Ehegattennachzug: eine Herausforderung für den Gesetzgeber, RdJB 2016, S. 100 ff. 24 Nachweise bei Kay Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2014, S. 239 f. 25 Goethe-Institut e. V. (Hrsg.), Der Übergang von der vorintegrativen Sprachförderung zum Integrationskurs – Analyse und Handlungsempfehlungen, 2. Aufl. 2012. 26 So auch BVerwGE 136, 231 (248 ff.) – Deutschkenntnisse bei Ehegattennachzug.

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IV. Integrationsvereinbarungen und Selbstverpflichtungen 1. Integrationsvereinbarungen Eine weitere Möglichkeit der Implementierung von Integrationspflichten ist die Selbstverpflichtung im Rahmen von Integrationsverträgen. Dazu gab es immer wieder Modellversuche, z. B. im Rahmen der Spätaussiedlerintegration. Im Koalitionsvertrag 2009 war von Integrationsverträgen die Rede, und im Koalitionsvertrag 2013 war vorgesehen, dass die Verbindlichkeit der Beratung durch Integrationsvereinbarungen gewährleistet wird. Integrationsvereinbarungen sind ein konsensuales Instrument der Begegnung auf Augenhöhe, wobei diese von Kritikern in Zweifel gezogen wird, da sich einer der Vertragspartner ja in einer Abhängigkeit befinde. Von anderer Seite wird kritisiert, dass staatliches Handeln nicht Gegenstand einer Vereinbarung sein kann. In Erfüllung des Koalitionsvertrags von 2009 erteilte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Staatsministerin Böhmer, 2011 einem wissenschaftlichen Konsortium den Auftrag, den Einsatz von Integrationsvereinbarungen in der Migrationsberatung zu erproben und zu evaluieren. Dazu wurden unter dem Motto „Integration verbindlicher machen – Integrationsvereinbarungen erproben“ in ausgewählten Einrichtungen der Jugendmigrationsdienste (JMD) und der Migrationsberatung für Erwachsene (MBE) 4000 Integrationsvereinbarungen abgeschlossen und evaluiert. In ihrem Abschlussbericht 2013 empfahl die Integrationsbeauftragte die bundesweite Einführung von Integrationsvereinbarungen, allerdings nicht verpflichtend, sondern auf freiwilliger Basis. Auch Unterschriften sollten nur freiwillig geleistet werden. Dazu hatte die Beauftragte Handlungsempfehlungen und eine Mustervereinbarung verfasst.27 27 Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.), Endbericht der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts „Integration verbindlicher machen – Integrationsvereinbarungen erproben“, 2013, S. 77 ff.; siehe auch Stefan Hank, Integrations-

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Obwohl eine gegenseitige Unterschrift – wie auch der Abschlussbericht hervorhebt – einen nicht zu unterschätzenden symbolischen Charakter hat, wurde von den Trägern überwiegend eine verpflichtende Unterschrift abgelehnt und die Mustervereinbarung nicht in die Beratungspraxis übernommen. Interessant ist allerdings, dass mehr als die Hälfte aller Ratsuchenden, die eine Vereinbarung abgeschlossen hatten, bekundeten, dies habe ihnen bei der Integration geholfen. Die Unterschrift helfe, am Ball zu bleiben. In der Praxis wurden Integrationsvereinbarungen vor allem von den JMD abgeschlossen. Die Beratungsstellen der MBE hielten an der Praxis von „Förderplänen“ fest.28 2. Die Eingliederungsvereinbarung nach dem Sozialgesetzbuch II Eine Sonderform der Integrationsvereinbarung besteht in der Arbeitsverwaltung: Die Bundesagentur für Arbeit kann in einer Eingliederungsvereinbarung gem. § 15 SGB II auch die Pflicht zum Besuch des Integrationskurses vereinbaren.29 Die Eingliederungsvereinbarung ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen dem Jobcenter und dem Hartz IV-Leistungsempfänger, der auf sechs Monate geschlossen wird und nach sechs Monaten gemeinsam überprüft und fortgeschrieben wervereinbarungen als Instrument individueller Zielplanung und einzelfallübergreifender Zusammenarbeit – Überblick über das Modellvorhaben in Deutschland, ZAR 2012, S. 57 ff. 28 Auch in Österreich und der Schweiz gibt es das Instrument der Integrationsvereinbarung, siehe dazu auch Daniel Thym, Integration per Unterschrift? Vorzüge einer konsensualen Integrationssteuerung durch den Abschluss von Integrationsvereinbarungen, ZAR 2012, S. 46 ff.; kritisch Magdalena Pöschl, Die österreichische „Integrationsvereinbarung“ – Rechtswissenschaftliche Einordnung und Beurteilung, ZAR 2012, S. 60 ff.; zum Schweizer Modell Eva Tov, Wann machen Integrationsvereinbarungen Sinn? Evaluationsergebnisse eines Schweizer Pilotprojekts zur Einführung von Integrationsvereinbarungen in fünf Kantonen, ZAR 2012, S. 51 ff. 29 Daniel Thym, Integration per Unterschrift? Vorzüge einer konsensualen Integrationssteuerung durch den Abschluss von Integrationsvereinbarungen, ZAR 2012, S. 46 ff. (48 ff.).

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den soll. Diese ist freiwillig und erlangt nur Gültigkeit, wenn sie von beiden Parteien unterschrieben wird. Verweigert der Hartz IV-Leistungsempfänger die Unterschrift ohne wichtige Gründe, soll das Jobcenter einen entsprechenden Verwaltungsakt (Bescheid) erlassen (§ 15 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Die Eingliederungsvereinbarung ist besonders deshalb von Interesse, weil mit einem Verstoß auch (finanzielle) Sanktionen verbunden sind.30 V. Zwischenergebnis: Grundsätzliche Zulässigkeit von Integrationspflichten Integrationspflichten sind – wie gesehen – nicht ungewöhnlich. Sie sind – zumindest was die sprachliche Integration anbelangt – im Aufenthaltsgesetz für die Integrationskurse und die Vorintegration sogar vorgesehen. Was die Integrationsvereinbarungen anbelangt, die von Trägern der freien Wohlfahrt im Rahmen ihrer Migrationsberatung geschlossen werden, ist eine Unterschriftsleistung im Rahmen der Integrationsvereinbarungen umstritten. Ein Vertrag ist zwar – wie immer wieder betont wird – eine Vereinbarung auf Augenhöhe, aber die Träger sehen sich vielfach nicht in der Lage eine Unterschrift einzufordern. Dies wird teils mit ihrem Selbstverständnis begründet, es ist aber auch ein rechtliches Problem, da sie ja weder zu einer Unterschrift verpflichten noch Sanktionen verhängen können. Anders wiederum sieht es bei den Eingliederungsvereinbarungen aus, bei denen die Möglichkeit einer Sanktionierung gesetzlich vorgesehen ist. VI. Sanktionen und Anreize 1. Das Sanktionensystem nach Aufenthaltsgesetz und Sozialgesetzbuch Auch Sanktionen sind zulässig, wie auch die Regelungen in § 44a AufenthG und im SGB II zeigen. Sie können per Verwaltungsakt verhängt werden, sie können aber auch aus einem öf30

Siehe dazu unter VI.

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fentlich rechtlichen Vertrag entstehen. Darüber hinaus wird im Aufenthaltsgesetz ein Aufenthaltstitel bzw. seine Verlängerung von der erfolgreichen Absolvierung des Integrationskurses abhängig gemacht. Schon im Aufenthaltsgesetz von 2005 wurde bestimmt, dass die Ausländerbehörde den verpflichteten Teilnehmer, der seiner Teilnahmepflicht aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht nachkommt, auf die Auswirkungen seiner Pflichtverletzung hinweist. Dabei wird auf § 8 Abs. 3 (Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis), § 9 Abs. 2 Nr. 7 und 8 (Erteilung der Niederlassungserlaubnis) sowie § 10 Abs. 3 StAG (Verkürzung der Frist zur Einbürgerung) Bezug genommen, wobei letzteres eher ein Anreiz als eine Sanktion ist. Dieses System wurde im Laufe der Zeit vor allem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz ausdifferenziert.31 Für die Ausländerbehörden bestehen die folgenden Sanktionsmöglichkeiten:  Auferlegung des voraussichtlichen Kursbeitrages für den Integrationskurs vorab in einer Summe (§ 44a Abs. 3 Satz 3 AufenthG, § 9 Abs. 3 IntV),  Verhängung eines Bußgeldes (§ 98 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG),  Verwaltungszwang (§ 44a Abs. 3 Satz 2 AufenthG),  Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis (§ 8 Abs. 3 AufenthG). Der Träger der Grundsicherung hat gemäß § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V. m. §§ 15, 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 31a SGB II bei Pflichtverletzung folgende Sanktionsmöglichkeiten:  Wird eine zumutbare Eingliederungsmaßnahme ohne wichtigen Grund abgebrochen oder nicht angetreten, erfolgt als Sanktion die Absenkung der Regelleistung um 30%. In den

31 Katharina Breitkreuz/Boris Franßen-de la Cerda/Christoph Hübner, Das Richtlinienumsetzungsgesetz und die Fortentwicklung des deutschen Aufenthaltsrechts, ZAR 2007, S. 381 ff.

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Fällen einer wiederholten Pflichtverletzung wird das ALG II um 60% der Regelleistung gekürzt.  Bei einer dritten Pflichtverletzung wird das ALG II um 100 % gemindert. Es liegt im Ermessen des Jobcenters, lediglich eine Minderung auf 60% der Regelleistung vorzunehmen, wenn dies nach einer Gesamtschau aller Umstände ausreichend erscheint und der Hartz IV-Bezieher sich ausdrücklich bereit erklärt, seine Pflichten zu erfüllen. In diesem Fall können auch ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbracht werden. Die Absenkung des ALG II bzw. der komplette Wegfall sind auf drei Monate begrenzt. Interessant ist, dass im Aufenthaltsgesetz 2005 ein Widerspruch zwischen der Sanktion gemäß SGB II und der Sanktion gemäß § 44a AufenthG angelegt war: Während bei Nichterfüllung einer Eingliederungsvereinbarung, in der der Besuch des Integrationskurses verpflichtend vorgeschrieben war, die Absenkung um 30 % bzw. sogar 60 % möglich war, sah die Sanktion des § 44a AufenthG nur die Absenkung um bis zu 10 % vor. Dieser Widerspruch wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz von 2007 aufgehoben. 2. Das Verhältnis von Sanktion und Anreiz Wie gezeigt, befürwortete die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen in ihrem Vorschlag aus dem Jahr 2000 eher ein Anreizsystem. Auch die Süssmuth-Kommission, obwohl sie nicht gänzlich Verpflichtungen ablehnte, bevorzugte ein Anreizsystem. Der deutsche Gesetzgeber hat sich für ein Mischsystem von Sanktionen und Anreizen entschieden. Anreize waren – in Form von Fristverkürzungen – schon im Zuwanderungsgesetz vorgesehen, so z. B. bei einer Einbürgerung, und wurden 2007 weiterentwickelt.32 32 Dazu Falk Lämmermann, Besondere Integrationsleistungen als einbürgerungsrechtliche Privilegierungsmöglichkeit, ZAR 2009, S. 126 ff.

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Auch das neue Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 sieht eine solche Fristverkürzung bei der Niederlassungserlaubnis für anerkannte Asylbewerber bei „herausragender Integration“ vor.33 VII. Integrationspflichten als Pflichten, die zur Teilnahme am Gemeinwesen befähigen Ein Aspekt taucht in den Begründungen von Integrationspflichten immer wieder auf: Die Verpflichtungen sollen die Verpflichteten befähigen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, zu kommunizieren, sich in diesem Land zurechtzufinden und auf eigenen Beinen zu stehen, bis hin zur Arbeitsaufnahme. Winfried Kluth sieht hier eine Parallele zur Schulpflicht:34 Er stellt fest, dass der Integrationskurs in einem stark verkleinerten Maßstab ähnlich ausgerichtet ist wie die Schulpflicht, wobei wegen der kurzen Dauer und der bereits gefestigten Persönlichkeit naturgemäß nicht die gleichen Wirkungen erwartet werden können. Er hat dabei auch auf zwei Kammergerichtsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht führt darin aus, dass der staatliche Erziehungsauftrag sich nicht nur auf die Vermittlung von Wissen und die Erziehung zu einer selbstverantwortlichen Persönlichkeit, sondern auch auf die Heranbildung verantwortlicher Staatsbürger, die gleichberechtigt und dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewusst an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft sollen teilhaben können, richtet.35 Die Allgemein33 Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I 2016, S. 1939); Beherrschen der deutschen Sprache auf dem Niveau C 1 GER bei gleichzeitig überwiegender Lebensunterhaltssicherung, siehe Begründung zum neuen § 26 Abs. 3 Satz 2 AufenthG in Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Entwurf eines Integrationsgesetzes (BT-Drs. 18/ 8615, S. 47); zum neuen Integrationsgesetz siehe auch Daniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff. 34 Winfried Kluth, Grundlagen und Strukturen eines Migrationsfolgenrechts, DVBl. 2016, S. 1081 ff. (1085 f.). 35 BVerfGK 1, 141 (143) – Grundschulpflicht; 8, 151 (155) – Schulpflicht.

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heit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setze dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse und weltanschauliche Minderheiten nicht ausgrenzt, sie verlange vielmehr auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen nicht verschließen.36 Bemerkenswert ist, dass diese Aussagen nicht in Zusammenhang mit dem Islam gemacht wurden, sondern in Zusammenhang mit den Zeugen Jehovas. Winfried Kluth führt aus, dies ließe sich im Kern auf die Integration von Zuwanderern übertragen, die nicht der Schulpflicht unterliegen, und bei denen diese entsprechenden Grundeinstellungen nicht mitgebracht werden, weil sie aus gesellschaftlichen Ordnungen kommen, die nicht pluralistisch und freiheitlich verfasst sind. Christine Langenfeld hat schon 2001 dargestellt, dass die Aufgabe der Schule gerade darin besteht, das zugewanderte Kind in die gegebene Gesellschaftsordnung zu integrieren.37 Das bedeute auch, den einzelnen in die Lage zu versetzen, sich mit den verschiedenen, in einer freiheitlichen Gesellschaft verfügbaren geistigen Lebensentwürfen auseinander zu setzen und sich in bewusster Entscheidung dem einen oder anderen Lebensentwurf zuzuwenden.38 Sachlicher Grund für den staatlichen Erziehungsauftrag sei auch die Integrationsaufgabe des Staates in der pluralistischen Gesellschaft. Neben der Vermittlung von gemeinsamen Grundauffassungen über die Art und Ordnung des Zusammenlebens innerhalb des Staatswesens setze die moderne Demokratie ein gewisses Maß an Kenntnissen über das Funktionieren der jeweiligen politischen Strukturen und ein entwickel-

BVerfGK 1, 141 (143) – Grundschulpflicht. Christine Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten. Eine Untersuchung am Beispiel des allgemeinbildenden Schulwesens in der Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 221. 38 Langenfeld (a. a. O.), S. 215. 36 37

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tes Urteilsvermögen seiner Bürger voraus, die diese in den Stand versetzen, ihre demokratischen Rechte eigenständig wahrzunehmen.39 Auch das Bundesverwaltungsgericht beschreibt in seiner Entscheidung vom 11. September 2013 die Aufgaben der Schule: „Die Schule soll allen jungen Bürgern ihren Fähigkeiten entsprechende Bildungsmöglichkeiten gewährleisten und einen Grundstein für ihre selbstbestimmte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben legen. Zugleich soll sie, unter den von ihr vorgefundenen Bedingungen einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft, dazu beitragen, die Einzelnen zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten ,Bürgern‘ heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen. Diesen weitreichenden Aufgaben könnte der Staat nicht gerecht werden, ohne eine allgemeine Schulpflicht einzuführen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit daher außer Frage steht.“ 40

All dies spricht dafür, dass Kluth mit seiner Parallele von Schulpflicht bei Kindern und Teilnahmepflichten an Integrationsmaßnahmen bei Erwachsenen Recht hat. Für nicht mehr schulpflichtige Neubürger, insbesondere aus anderen Kulturkreisen, kann ein staatliches Integrationsangebot – jedenfalls verstanden als Grundangebot – die Aufgaben der Vermittlung der Voraussetzungen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben übernehmen. So wie die Schule erst Grundfertigkeiten wie Schreiben, Lesen und Rechnen, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und auch Chancengleichheit ermöglicht, gilt dies – mit Modifikationen – auch für die Integrationskurse, die ja ebenfalls die Grundfertigkeiten für Kommunikation und Teilhabe ermöglichen. Dafür spricht auch, dass gerade Schulpflichtige nicht zur Gruppe der Anspruchsberechtigten des Integrationskurses gehören, weil die damit verbundenen Ziele durch die Schulpflicht erreicht werden. Für die Sprache ist die Möglichkeit der Verpflichtung zum Erwerb und der Zusammenhang mit Teilhabe anerkannt. Schon 39 40

richt.

Langenfeld (a. a. O.), S. 218 unter Verweis auf Böckenförde. BVerwGE 147, 362 – Befreiung vom koedukativen Schwimmunter-

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2006 hob Wolfgang Kahl die Mitwirkungspflichten der Ausländer bei der eigenen Integration, insbesondere in sprachlicher Hinsicht, hervor. Unverzichtbar sei die mündliche und schriftliche Beherrschung der deutschen Sprache, da hier der Schlüssel für den schulischen und beruflichen Erfolg liege, wie auch für die politisch demokratische Partizipationsfähigkeit.41 Auch Arnd Uhle, der in der Integration eine Staatsaufgabe sieht, und bei dem aus der staatlichen Aufgabe eine Pflicht des Staates zur Unterstützung und Förderung der Integration von Ausländern folgt, befürwortet eine Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs. Er stellt sogar die Frage, ob sich nicht eine Ausdehnung dieser Pflicht über das bisherige Maß empfiehlt.42 Dies ist im neuen Integrationsgesetz von 2016 auch geschehen. VIII. Fazit Wie gezeigt, ergibt sich, dass Integrationspflichten, wenn sie konkret und gesetzlich normiert sind, zulässig sind. Sie haben ihre Grundlegung darin, dass sie die Voraussetzungen zur Teilhabe am Gemeinwesen erst schaffen. Ebenso sind negative Rechtsfolgen, z. B. in Form von Sanktionen zulässig, wie auch die Entwicklung der Sanktionen bei den Integrationskursen oder bei der Vorintegration zeigt. Letzteres Beispiel zeigt allerdings auch, dass dabei natürlich auch mit Härtefallklauseln gearbeitet werden kann und muss. Wie bestimmt diese Integrationspflichten sein müssen, ob sie sich nur auf bestimmte Maßnahmen beziehen können und welche Sanktion verhältnismäßig ist, bietet sicher Stoff für Diskussionen.

41 Wolfgang Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 386 ff. (431 f.). 42 Arnd Uhle, Integration als Staatsaufgabe. Die verfassungsrechtlichen Grundlagen, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht, 2016, S. 250 ff. (260).

Rechtspolitischer Kommentar: Zukunftsperspektiven der Rechtsentwicklung – Die Vorstellungen der Bundesregierung zur weiteren Ausgestaltung des Integrationsrechts Von Ulrich Weinbrenner I.

Der Weg zum Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 . . . . . . . . . . . . 1. Koalitionsausschuss vom 13. April 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bund-Länder-Besprechung vom 22. April 2016 . . . . . . . . . . . . . 3. Das parlamentarische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wohnsitzregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137 137 140 142 143 146

II. Perspektiven des Rechts der Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 1. Inhaltliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Organisatorische Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

Aufbauend auf einer Betrachtung des Inhalts und der Entstehung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 20161 soll im Folgenden möglicher weiterer gesetzlicher Handlungsbedarf im Integrationsbereich skizziert werden. Daneben wird auch auf mögliche organisatorische Handlungsoptionen auf Bundesebene in diesem Bereich eingegangen werden. I. Der Weg zum Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 1. Koalitionsausschuss vom 13. April 2016 Am 13. April 2016 hatte der Koalitionsausschuss Eckpunkte für ein Integrationsgesetz beschlossen und dabei recht detail-

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Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I 2016, S. 1939).

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lierte inhaltliche Aussagen getroffen.2 Ziel sollte sein, die Integration der nach Deutschland gekommenen Menschen in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt durch staatliche Maßnahmen zu fördern und zugleich von ihnen Eigenbemühungen einzufordern. Die Eckpunkte wurden im Rahmen der Ministerpräsidentenkonferenz am 22. April 2016 erörtert, während der Kabinettbeschluss bereits bei der Klausurtagung der Bundesregierung im Mai 2016 in Meseberg erfolgte. Die Einigung umfasste folgende wesentlichen Aspekte: 1. Schaffung eines Arbeitsmarktprogramms Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM) für 100.000 Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aus Bundesmitteln. Dadurch soll die Zielgruppe niederschwellig an den deutschen Arbeitsmarkt herangeführt werden sowie eine sinnvolle und gemeinnützige Tätigkeit während des Asylverfahrens ermöglicht werden. Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten sowie vollziehbar ausreisepflichtige Personen sind ausgeschlossen. 2. In einer Sonderregelung für die Ausbildungsförderung für Gestattete mit einer guten Bleibeperspektive, für Geduldete, die nicht einem Beschäftigungsverbot unterliegen, und für Inhaber bestimmter humanitärer Aufenthaltstitel soll der Zugang zu Leistungen der Ausbildungsförderung nach dem SGB III befristet bis Ende 2018 erleichtert werden. 3. Einheitliche Entstehung der Aufenthaltsgestattung für alle Schutzsuchenden mit dem Erhalt des Ankunftsnachweises. 4. Fortgeltung der Verpflichtungserklärung für einen Zeitraum von fünf Jahren ab Einreise bei gleichzeitiger Schaffung einer Übergangsregelung für „Altfälle“ mit gestaffelter Befristung bestehender Befristungserklärung je nach ihrer schon vergangenen Geltungsdauer.

2 Koalitionsausschuss am 13. April 2016. Eckpunkte Integrationsgesetz, verfügbar unter: www.spdfraktion.de/system/files/documents/eck punkte_integrationsgesetz.pdf (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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5. Die Duldung soll die Gesamtdauer einer gesetzlichen oder tariflichen Ausbildung umfassen. Nach erfolgreichem Abschluss einer Ausbildung soll der Geduldete eine weitere Duldung für bis zu sechs Monate zur Arbeitsplatzsuche erhalten. Für eine anschließende Beschäftigung soll ein Aufenthaltsrecht für zwei Jahre erteilt werden. Bei Abbruch des Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnisses soll der Titel erlöschen. 6. Für einen Zeitraum von drei Jahren soll bei Asylbewerbern und Geduldeten gänzlich auf die Vorrangprüfung verzichtet werden, wenn die Arbeitslosigkeit für das Gebiet der Arbeitsagentur bezogen auf das jeweilige Bundesland unterdurchschnittlich ist. 7. Eine Niederlassungserlaubnis soll nur erteilt werden, wenn der anerkannte Flüchtling oder Asylberechtigte Integrationsleistungen erbracht hat. Die Bedingungen im Hinblick auf Sprache, Ausbildung, Arbeit und Sicherheitsaspekte sollen so weit wie möglich denjenigen angeglichen werden, die für andere Ausländer gelten. Bei der Ausgestaltung sollen die besondere Lage der Flüchtlinge und die Lage im Herkunftsland berücksichtigt werden. 8. Für Personen ohne gute Bleibeperspektive, die aber nicht aus sicheren Herkunftsstaaten kommen, sollen Orientierungsangebote geprüft werden, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Asylverfahren sehr lange dauern. 9. Im Asylbewerberleistungsgesetz sollen Leistungseinschränkungen bzw. -absenkungen für Leistungsberechtigte vorgesehen werden, wenn sie ohne wichtigen Grund bestimmte Mitwirkungspflichten verletzen. 10.Eine Wohnsitzzuweisung soll geschaffen werden. Ziel ist eine gleichmäßigere Verteilung von Schutzberechtigten aufgrund des „dringenden Bedarfs der Länder“ zur Sicherstellung der Integration und zur Vermeidung von sozialen Brennpunkten. Die Verletzung einer Wohnsitzzuweisung soll für die Betroffenen spürbare Konsequenzen haben. Die besondere Bedeutung der Regelung für die Länder wird da-

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durch betont, dass in der Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder darüber auf der Grundlage eines Vorschlags der Fachminister Einvernehmen erzielt werden soll. 2. Bund-Länder-Besprechung vom 22. April 2016 Im Koalitionsausschuss am 28. Januar 2016 hatten die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder den Auftrag zur Erstellung eines zwischen Bund und Ländern abgestimmten Integrationskonzepts für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive erteilt. Bis Ende Februar 2016 sollten Eckpunkte vorgelegt werden; das Konzept selbst wurde bis Ende März 2016 erbeten. Nach intensiven vorbereitenden Beratungen unter der Leitung von Staatsminister Prof. Dr. Braun (Bundeskanzleramt), mit den Chefinnen und Chefs der Staatskanzleien der Länder hatten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten am 22. April 2016 weitreichende Beschlüsse gefasst.3 So wurde das „Gemeinsame Konzept von Bund und Ländern für die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen“ beschlossen und sich verpflichtet, die dort vereinbarten Maßnahmen im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit zügig umzusetzen. Ferner wurden die „Eckpunkte für ein Integrationsgesetz“ zur Kenntnis genommen. Die Bundesregierung hatte zugesagt, den Gesetzentwurf zeitnah vorzulegen und das Gesetzgebungsverfahren bis zur Sommerpause 2016 abzuschließen. Im Hinblick auf den Inhalt des Integrationsgesetzes erzielten Bund und Länder Übereinstimmung, dass eine „Wohnsitzzuweisung“ für anerkannte Schutzberechtigte, die von Sozialleistungen abhängig und noch nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind, in einem zweistufigen Verfahren erfolgen soll. In der ers3 Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- und Flüchtlingspolitik am 22. April 2016. Pressemitteilung zur Sonderkonferenz, verfügbar unter: http://www.rathaus.bremen.de/pressemitteilung_zur_sonderkonferenz_ am_22__april_2016-32074 (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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ten Stufe soll eine gesetzliche Verpflichtung zur Wohnsitznahme in dem Land der Erstzuweisung nach dem Königsteiner Schlüssel bestehen. In der zweiten Stufe sollen die Länder die Möglichkeit einer administrativ unaufwändigen Zuweisung eines konkreten Wohnsitzes erhalten, wenn dies zur Sicherstellung der Versorgung mit angemessenem Wohnraum und damit auch zur besseren Integration erforderlich ist. Auch zu einem späteren Zeitpunkt sollen die Länder die Möglichkeit haben, entweder einen bestimmten Wohnsitz zuzuweisen oder den Zuzug in Gebiete zu untersagen, in denen mit erhöhten Segregationsrisiken zu rechnen ist. Kriterien für diese Zuweisung sollen die Erleichterung der Versorgung mit angemessenem Wohnraum, der Erwerb deutscher Sprachkenntnisse sowie die Lage am örtlichen Arbeits- und Ausbildungsmarkt sein. Der Bezug öffentlicher Leistungen soll an die Einhaltung der Verpflichtung geknüpft werden. Eine Bund-Länder-Abstimmung fand vor dem Kabinettbeschluss zu Einzelheiten des Verfahrens, einer möglichen Befristung bzw. Länderöffnungsklauseln, zum Anwendungsbereich, zu den Kriterien der Zuweisung und Maßstäben ihrer Aufhebung sowie zu möglichen Sanktionen statt. Daneben vereinbarten Bund und Länder eine Überprüfung der Regelungen und Verfahren hinsichtlich der Unterbringung, Versorgung und Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen. Ziel war festzustellen, wie dem spezifischen Betreuungsbedarf dieser Personengruppe besser Rechnung getragen werden kann und welche Kostenbelastung dadurch für die Länder entsteht. Der Bund erkannte zudem an, dass Länder und Kommunen durch die Aufnahme und Integration der hohen Zahl von Asylund Schutzsuchenden strukturell und finanziell dauerhaft zusätzlich belastet sind. Er sagte daher zu, sich an diesen Kosten „substantiell“ zu beteiligen. Die Länder erkannten im Gegenzug an, dass die Bewältigung der Flüchtlingskrise auch für den Bund außergewöhnliche Kosten verursacht hat. In Protokollerklärungen äußerten Thüringen zur Frage der Bleibeperspektive sowie das Saarland, Sachsen, Hessen und Bayern zu eigenständigen Regelungen für unbegleitete Minderjährige abweichende Auffassungen.

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3. Das parlamentarische Verfahren Nachdem das Bundeskabinett den gemeinsam durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und das Bundesministerium des Innern erarbeiteten Entwurf eines Integrationsgesetzes – wie angekündigt – auf der Kabinettsklausur in Meseberg am 25. Mai 2016 beschlossen hatte, wurde das parlamentarische Verfahren unter Nutzung der Paralleleinbringung zur Beschleunigung des Verfahrens durchgeführt.4 In einer parlamentarischen Anhörung vom 20. Juni 20165 wurde ein breites Meinungsbild eingeholt. Während etwa die Kommunalen Spitzenverbände den Entwurf grundsätzlich dafür lobten, er berücksichtige insbesondere durch die Wohnsitzauflage wichtige kommunale Forderungen,6 wurde von anderen Sachverständigen eine Überbetonung von Sanktionsmöglichkeiten und Verschärfungen in dem Gesetzentwurf kritisiert. Es werde dadurch der fälschliche Eindruck erweckt, auf Seiten der Geflüchteten fehle es an der Bereitschaft zur Integration. Dies bezog sich insbesondere auf die Einschränkungen bei der Aufenthaltsverfestigung, die Wohnsitzzuweisung sowie die Leistungskürzungen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Der paritätische Gesamtverband, die Diakonie Deutschland, PRO ASYL und der Rat für Migration forderten den Verzicht auf die vorgesehene Wohnsitzzuweisung für anerkannte Schutz-

4 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Entwurf eines Integrationsgesetzes vom 31. Mai 2016 (BT-Drs. 18/8615); Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Integrationsgesetzes vom 20. Juni 2016 (BT-Drs. 18/8829). 5 Deutscher Bundestag. Integrationsgesetz stößt auf ein geteiltes Echo, 2016, verfügbar unter: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2016/kw25-pa-arbeit-soziales/427166 (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 6 Kirstin Walsleben/Irene Vorholz/Uwe Lübking, Stellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, 2016, verfügbar unter: http://www.dstgb.de/dstgb/Homepage/Schwerpunkte/Asyl%20 und%20Fl%C3%BCchtlinge/Aktuelles/Integrationsgesetz%20vom%20 Bundestag%20verabschiedet/stn_bv_entwurf_integrationsgesetz_06_2016 _endg.pdf (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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berechtigte. Sie widerspreche den Erkenntnissen der Migrationswissenschaft; vielmehr deute alles darauf hin, dass eine selbstbestimmte Wohnungssuche integrationsfördernd sei. Die Nähe von Verwandten oder einer ethnischen Community bedeute eine – auch psychosozial – wichtige Stütze und spiele bei der Vermittlung von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen eine große Rolle. Zudem wurde befürchtet, dass die erzwungene Wohnsitznahme in einer Umgebung, die den Schutzsuchenden feindlich gegenüber tritt, wenig hilfreich für die Integration sei.7 Auch widerspreche die Regelung Art. 26 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie Art. 33 der EU-Qualifikationsrichtlinie8. 4. Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 Nachdem der Deutsche Bundestag den zusammengeführten Gesetzentwürfen am 7. Juli 2016 zugestimmt hatte, hat der Bundesrat in seiner Sitzung vom 8. Juli 2016 trotz eines entsprechenden Antrages Mecklenburg-Vorpommerns den Vermittlungsausschuss nicht angerufen. Das Gesetz wurde am 5. August 2016 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und trat nach seinem Art. 8 im Wesentlichen am 6. August 2016 in Kraft. Neben dem Integrationsgesetz wurden in einer Verordnung zum Integrationsgesetz – ebenfalls vom 31. Juli 2016 – Änderungen, unter anderem der Integrationskursverordnung, vorgenommen.9 Aufbauend auf der durch das Asylverfahrensbe-

7 Deutscher Bundestag. Integrationsgesetz stößt auf ein geteiltes Echo, 2016, verfügbar unter: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2016/kw25-pa-arbeit-soziales/427166 (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 8 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) vom 13. Dezember 2011 (ABl. Nr. L 337/9 v. 20.12.2011). 9 Verordnung zum Integrationsgesetz vom 31. Juli 2016 (BGBl. I 2016, S. 1950).

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schleunigungsgesetz bereits 2015 erfolgten Regelung einer Zugangsberechtigung zu den Kursen für Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive, sind weitere Änderungen erfolgt.10 So wurde etwa die Anzahl der Unterrichtseinheiten, die der Wertevermittlung dienen, von 60 auf 100 Stunden angehoben sowie die Gültigkeitsdauer der Berechtigung zur Teilnahme am Integrationskurs von zwei auf ein Jahr verkürzt. Um das Integrationskurssystem insgesamt effektiver zu gestalten, wurden die Wartezeit bis zum Zustandekommen eines Integrationskurses von drei Monaten auf sechs Wochen verkürzt sowie die Höchstteilnehmerzahl in den Kursen von 20 auf 25 Personen angehoben. Auch wurden die Kursträger verpflichtet, ihr Kursangebot und die Anzahl freier Kursplätze zu veröffentlichen. Dem Integrationsgesetz wurde neben grundlegender Kritik, es handele sich um ein Integrationsbehinderungsgesetz11 entgegen gehalten, die Bezeichnung des Gesetzes erwecke den fälschlichen Eindruck, es regele die Integrationspolitik der Bundesrepublik umfassend.12 Zudem komme die Vermittlung der für das Leben in Deutschland notwendigen Werte zu kurz.13 Zwar werden durch zahlreiche Regelungen im SGB II, III und XII, dem Asylbewerberleistungsgesetz, dem Aufenthaltsgesetz, dem Asylgesetz und dem AZR-Gesetz zahlreiche Aspekte der Flüchtlingsaufnahme geregelt; gleichwohl ist zu konzedieren, dass der Inhalt des Gesetzes den durch die Bezeichnung erhobenen Anspruch nicht vollumfänglich einlösen kann. Bemerkenswert ist zudem, dass der Begriff Integrationsgesetz, wenn auch als Integrationspflicht bzw. Integrationsfördergesetz

10 Frederik v. Harbou, Das Integrationsgesetz. Meilenstein oder Etikettenschwindel?, NVwZ 2016, S. 1193 ff. 11 Klaus J. Bade, Das Integrationsbehinderungsgesetz, MiGAZIN 2016, verfügbar unter: http://www.migazin.de/index.php?s=integrations behinderungsgesetz (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 12 Daniel Thym, Integration kraft Gesetzes? Grenzen und Inhalte des „Integrationsgesetzes“ des Bundes, ZAR 2016, S. 241 ff. 13 Erich Röper, Integrationsverwaltung – Wertevermittlung, ZRP 2016, S. 140 ff.

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bezeichnet, in den politischen Diskurs zu einem Zeitpunkt eingeführt wurde,14 als mögliche Inhalte des Gesetzes noch nicht einmal in Grundzügen diskutiert, geschweige denn zwischen den Ministerien abgestimmt waren. Auch die Ausgestaltung des Integrationsgesetzes als Stammgesetz oder Artikelgesetz stand in dieser Frühphase noch nicht fest. Aus politischer Sicht ist zu berücksichtigen, dass das Integrationsgesetz ein Element einer umfassenden Einigung von Bund und Ländern zur Bewältigung der Flüchtlingskrise darstellt. Der hierdurch entstandene Rechtsänderungsbedarf wird durch das Integrationsgesetz abgedeckt. Es tritt insoweit neben das BundLänder-Konzept zur erfolgreichen Integration von Flüchtlingen vom 22. April 2016 und die Einigung über die finanzielle Lastenverteilung durch das Gesetz zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen, das erhebliche Finanztransfers des Bundes zugunsten der Länder und Kommunen vorsieht.15 Zu über Regelungen für den Flüchtlingszuzug in den Jahren 2015 und 2016 hinausgehenden allgemeinen Fragen der Integration enthält der Gesetzentwurf für ein Bayerisches Integrations-

14 Mainzer Erklärung. Wettbewerbsfähigkeit. Zusammenhalt. Sicherheit. Unser 10-Punkte-Zukunftsplan für Deutschland. Beschluss des Bundesvorstands der CDU Deutschlands anlässlich der Klausurtagung am 8. und 9. Januar 2016, in der ein Integrationspflichtgesetz gefordert wird, verfügbar unter: https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/ 2016_01_09_mainzer_erklaerung.pdf?file=1&type=field_collection_item &id=3959 (zuletzt abgerufen am 17. November 2016); Bundesministerin Nahles, die sich für ein Integrationsfördergesetz ausspricht Andrea Nahles, Mehr Geld für Integration von Flüchtlingen. Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales im Interview mit der Funke-Mediengruppe vom 11. Februar 2016, verfügbar unter: http://www.bmas.de/DE/Presse/In terviews/2016/2016-02-11-funke-mediengruppe.html (zuletzt abgerufen am 17. November 2016). 15 Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Gesetzes zur Beteiligung des Bundes an den Kosten der Integration und zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen vom 23. September 2016 (BRDrs. 545/16).

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gesetz vom 10. Mai 201616 unter anderem in einer Präambel pointierte Regelungen.17 5. Wohnsitzregelung Unter Gesichtspunkten der Integration ist die durch das Integrationsgesetz in § 12a AufenthG eingeführte Wohnsitzregelung, die zunächst als Wohnsitzauflage bezeichnet wurde, von besonderer Bedeutung. Die Norm schafft detaillierte Regelungen der Zuweisung von Asylberechtigten, Flüchtlingen im Sinne von § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes, subsidiär Schutzberechtigten im Sinne von § 4 Abs. 1 des Asylgesetzes und Personen, denen nach §§ 22, 23 oder 25 Abs. 3 AufenthG erstmals eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist. Durch § 12a Abs. 1 AufenthG sind die genannten Personen verpflichtet, für den Zeitraum von drei Jahren nach Anerkennung oder Zuteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Bundesland ihren gewöhnlichen Aufenthalt (Wohnsitz) zu nehmen, dem sie zur Durchführung des Asylverfahrens oder im Rahmen eines humanitären Aufnahmeverfahrens zugewiesen wurden. Auch innerhalb eines Bundeslandes kann ein Wohnsitz zugewiesen werden. Während § 12a Abs. 2 AufenthG die Möglichkeit eröffnet, einem Ausländer, nach Abs. 1 zur Behebung vorläufiger und integrationshemmender Unterbringung einen Wohnsitz zuzuweisen, sehen die Abs. 3 und 4 vor, dass eine Wohnsitznahme entweder an einem bestimmten Ort vorgegeben oder eine Verpflichtung ausgesprochen werden kann, den Wohnsitz gerade nicht an einem bestimmten Ort zu nehmen. Die jeweiligen Regelungen des § 12a AufenthG dienen sämtlich der Integration, haben aber unterschiedliche Ansätze. Die gesetzliche Verpflichtung nach Abs. 1 soll zunächst sicherstellen, dass es nicht bereits auf der Ebene der Bundesländer zu integrationshemmenden Ansiedlungen von Flüchtlingen kommt. 16 Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein Bayrisches Integrationsgesetz vom 10. Mai 2016 (LT-Drs. 17/11362). 17 Dazu Johannes Eichenhofer, Integrationsgesetzgebung, ZAR 2016, S. 251 ff.

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Die im Einzelfall auszusprechende Verpflichtung nach den Abs. 2 bis 4 soll die nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der konkreten Lebensverhältnisse der Länder fördern. Eine Verpflichtung nach Abs. 2 kann unter den dort genannten Voraussetzungen bereits ausgesprochen werden, wenn dies der Integration nicht entgegensteht. Dem gegenüber kann eine Auflage nach Abs. 4 nur erfolgen, um soziale und gesellschaftliche Ausgrenzungen zu vermeiden, insbesondere wenn zu erwarten ist, dass der Ausländer an dem zu meidenden Wohnort Deutsch nicht als wesentliche Verkehrssprache nutzen wird. Nach § 12a Abs. 7 AufenthG gelten die Regelungen für Ausländer, die nach dem 1. Januar 2016 eine Anerkennung oder erstmalige Erteilung eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben. Die Bundesregierung hat mit der Wohnsitzregelung auf Forderungen aus dem Kreis der Länder und der kommunalen Spitzenverbände reagiert und sich auch von den Erfahrungen mit dem zwischen 1989 und 2009 für (Spät-)Aussiedler geltenden Wohnortzuweisungsgesetz leiten lassen. So empfanden Gemeinden und Städte, die durch einen starken (Spät-)Aussiedlerzuzug gekennzeichnet waren, die mit dem Wohnortzuweisungsgesetz einhergehende Steuerung, aber auch Begrenzung des Zuzugs als hilfreich, da auf diese Weise überhaupt erst Integrationsarbeit möglich gewesen sei.18 Zudem stellte nur für die wenigsten der befragten (Spät-)Aussiedler das Wohnortzuweisungsgesetz einen negativen Eingriff in ihre Lebensgestaltung dar. Fast drei Viertel der zugewiesenen (Spät-)Aussiedler waren mit dem zugewiesenen Wohnort zufrieden, drei Viertel davon wohnten wiederum während der Befragung noch am zugewiesenen Ort.19 18 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Abschlussbericht. Zuwanderung und Integration von (Spät-)Aussiedlern – Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen des Wohnortzuweisungsgesetzes. Forschungsbericht 3, 2007, S. 71. 19 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Abschlussbericht. Zuwanderung und Integration von (Spät-)Aussiedlern – Ermittlung und Bewertung der Auswirkungen des Wohnortzuweisungsgesetzes. Forschungsbericht 3, 2007, S. 87.

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Ausweislich der Gesetzesbegründung liegt der neuen Wohnsitzregelung die Annahme zugrunde, dass Schutzberechtigte aufgrund ihres Fluchthintergrundes im Vergleich zu anderen Drittstaatsangehörigen vor besonderen Integrationsherausforderungen stehen. Mit der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs20 steht die Regelung in Einklang, da die Wohnsitzregelung den dadurch als zulässig erkannten integrationspolitischen Zielen dient. Die Ministerien des Innern sowie der Justiz und für Verbraucherschutz hatten im Rahmen der Ressortabstimmung die verfassungs- und europarechtliche Zulässigkeit der Regelung bejaht. Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages kamen zu dem Ergebnis, dass die Wohnsitzregelung weder gegen die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG noch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Entscheidend für die Verhältnismäßigkeit der Wohnsitzverpflichtungen waren danach die weitreichenden Ausnahme-, Abweichungs- und Härtefallregelungen, die u. a. die Berücksichtigung von bestehenden Beschäftigungs-, Studien- und Ausbildungsverhältnissen sowie von engen familiären Bindungen und sonstigen Umständen des Einzelfalls ermöglichen. Auch die Übertragung von gesetzlichen Ausgestaltungsbefugnissen auf die Länder begegneten keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.21 Die Vereinbarkeit der Regelung mit dem EU-Recht wurde auch durch den Fachbereich Europa des Deutschen Bundestages bestätigt.22 Schon der Bundesrat hatte in seiner Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf darauf hingewiesen, dass die Umsetzung der ge-

20 EuGH vom 1. März 2016, verbundene Rechtssachen C-443/14 und C-444/14 – Alo und Osso, ECLI:EU:C:2016:127. 21 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung. Die Wohnsitzregelung nach dem Entwurf des Integrationsgesetzes aus verfassungsrechtlicher Sicht vom 14. Juni 2016 (WD 3-3000-157/16). 22 Unterabteilung Europa des Deutschen Bundestages, Sachstand. Zur Vereinbarkeit der Wohnsitzzuweisung nach dem Integrationsgesetz mit EU-Recht vom 14. Juni 2016 (PE 6-3000-88/16).

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setzlichen Wohnsitzverpflichtung die Länder vor große Herausforderungen stellen werde. Als in jedem Fall problematisch wurde die Rückwirkungsregelung des § 12a Abs. 7 AufenthG bezeichnet.23 Zur Lösung der praktischen Umsetzungsprobleme versuchen Bund und Länder gemeinsam eine möglichst einheitliche Vorgehensweise bei der Umsetzung zu erreichen. Zu klären ist etwa die Frage der örtlichen Zuständigkeit einer Ausländerbehörde bei länderübergreifenden Umzügen. Auch wirft die Rückwirkung praktische Fragen auf. Zwischen dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales und den Ländern konnte eine Einigung erzielt werden, dass die Bundesagentur für Arbeit an die Job Center eine Anweisung richtet, wonach nur das Job Center für die Auszahlung von Leistungen nach dem SGB II zuständig ist, das für den Wohnort der Wohnsitzverpflichtungen zuständig ist und der Betroffene dort tatsächlich seinen Wohnsitz genommen hat. II. Perspektiven des Rechts der Integration 1. Inhaltliche Aspekte Angesichts des erst kürzlich in Kraft getretenen Integrationsgesetzes und des bevorstehenden Endes der 18. Wahlperiode dürfte es kurzfristig mit größter Wahrscheinlichkeit nicht zu einer weiteren Novellierung des Integrationsrechts kommen. Es steht allerdings zu erwarten, dass die Integrationspolitik sowohl hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausgestaltung als auch der Verortung dieser Aufgabe innerhalb der Bundesregierung mit hoher politischer Priorität nach der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag behandelt werden wird. Immerhin hat die Einreise von ca. 890.000 Flüchtlingen allein im Jahr 2015 zu einer erheblichen Fokussierung der öffentlichen Diskussion auf die Integrationsfrage geführt und sie dürfte auch Auswirkungen auf das Ergeb23 Gesetzentwurf der Bundesregierung. Entwurf eines Integrationsgesetzes vom 26. Mai 2016 (BR-Drs. 266/16, S. 9).

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nis der Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag im September 2017 haben. Ungeachtet des offenen Ergebnisses der Bundestagswahl und der sich daraus ergebenden Zusammensetzung der nächsten Bundesregierung sowie des folgenden politischen Gestaltungswillens im Integrationsrecht wäre eine Evaluierung der bestehenden Rechtslage zu empfehlen, um daraus gegebenenfalls weiteren fachlich begründeten Rechtsänderungsbedarf herleiten zu können. Bedeutsam dürfte sein, ob und gegebenenfalls in welcher Form die neue Bundesregierung das Projekt „Zuwanderungsgesetz“ angehen wird. Darüber hinaus ist aus heutiger Sicht nicht vorherzusagen, inwieweit Veränderungen im Migrationsgeschehen Auswirkungen auf diese Diskussion haben werden. 2. Organisatorische Optionen Zurzeit werden die Kernaufgaben der Integration durch das Bundesministerium des Innern (Gesellschaftliche Integration, Integrationskurse, Migrationsberatung für Erwachsene sowie Integrationsprojekte) wahrgenommen. Daneben tritt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das eine Vielzahl von Aufgaben im Hinblick auf die Integration in den Arbeitsmarkt – wie zum Beispiel die Durchführung der berufsbezogenen Sprachförderung – erfüllt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend leistet wesentliche Beiträge bei der Integration bestimmter Zielgruppen, etwa durch das geplante Programm zur Förderung von „Sprachkitas“. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert Bildungsprojekte um den Zugang zu Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Dazu kommt die im Bundeskanzleramt angesiedelte Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, sowie der im Oktober 2015 ebenfalls im Bundeskanzleramt eingerichtete Koordinierungsstab Flüchtlingspolitik, der den Chef des Bundeskanzleramtes als Koordinator der Flüchtlingspolitik unterstützt. Vertreter des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie der Integrationsbeauftragten nehmen für den Bund an den Sitzungen der Integrationsministerkonferenz der Länder teil.

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Im Hinblick auf die organisatorische Verortung des Themas „Integration“ innerhalb der Bundesregierung ist denkbar, die Aufgabe bei einem Ressort stärker zu bündeln oder gar ein gesondertes Integrationsministerium zu schaffen. Die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben in einer Ausarbeitung zur Einrichtung eines Ministeriums für Migration und Integration auf Bundesebene aus dem Jahr 2016 zu dieser Frage Stellung genommen.24 Ein Vergleich der organisatorischen Verortung der Aufgabe Integration in Belgien, Österreich, Dänemark, Luxemburg, Schweden sowie in den USA und Kanada zeigt, dass damit jeweils unterschiedliche Fachministerien betraut sind. Während etwa in Schweden die Integration im Ministerium für Arbeit angesiedelt ist, nehmen in Luxemburg und Österreich die Ministerien für Auswärtige und Europäische Angelegenheiten diese Aufgabe wahr. Allein in Dänemark ist die Integration zusammen mit der Einwanderung und dem Wohnungsbau in einem für Migrationsfragen umfassend zuständigen Haus verortet. Auf Seiten der Bundesländer ist die Aufgabe Integration häufig bei Arbeits- und Sozialministerien bzw. -senatoren angesiedelt, was in aller Regel auch in der Bezeichnung der jeweiligen Ministerien bzw. Senatsverwaltungen deutlich wird. Ein gesondertes Integrationsministerium war allein in Baden-Württemberg von 2012 bis 2016 eingerichtet. Es wurde bei der Bildung der aktuell regierenden Grün-Schwarzen Koalition allerdings aufgelöst. Die Aufgaben wurden auf das Ministerium für Soziales und Integration sowie das Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration übertragen.25 Im Hinblick auf mögliche organisatorische Veränderungen auf Seiten des Bundes verweist die Ausarbeitung auf die aus 24 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung. Zur Einrichtung eines Ministeriums für Migration und Integration auf Bundesebene vom 7. Juni 2016 (WD 3-3000-153/16). 25 Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg. Neue Zuständigkeiten, verfügbar unter: https://sozialministerium.badenwuerttemberg.de/de/regierungswechsel-2016// (zuletzt abgerufen am 17. November 2016).

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Art. 64 Abs. 1 GG folgende Organisationsgewalt des Bundeskanzlers.26 Rechtliche Vorgaben enthält das Grundgesetz darüber hinaus nicht. Bei der Frage, ob die Integration in ihrer Vielgestaltigkeit in einem Ministerium stärker gebündelt oder gar ein gesondertes Integrationsministerium geschaffen werden sollte, werden sich die Koalitionsparteien der Tatsache bewusst werden müssen, dass Veränderungen im Zuschnitt der Bundesministerien erfahrungsgemäß mit einem monatelangen Anlaufprozess verbunden sind. Häufig gehen zudem lediglich Zuständigkeiten zwischen den Ressorts über, ohne das die Verlagerung der die Aufgaben wahrnehmenden Stellen bzw. Stelleninhaber damit verbunden wären. Zudem wird zu berücksichtigen sein, dass jede Neuorganisation – pointiert gesagt – alte durch neue Schnittstellen ersetzt, die zunächst erkannt und dann bearbeitet werden müssen. Insgesamt dürfte von erheblicher Bedeutung sein, ob letztlich fachliche oder politische Gesichtspunkte ausschlaggebend sein werden bei der Frage der organisatorischen Verortung der Integration innerhalb der Bundesregierung. Sollte die Schaffung eines gesonderten Migrations- oder Integrationsministeriums erwogen werden, wird zu bedenken sein, dass sich dieses nach seiner eigenen Konsolidierung in einer Vielzahl von Fragen mit den weiter bestehenden in diesem Bereich machtvollen Ministerien des Innern und für Arbeit und Soziales auf „Augenhöhe“ abstimmen muss. Nach alledem bleibt zu hoffen, dass die koalitionsbildenden Parteien in der 19. Wahlperiode die Frage der organisatorischen Verortung der Aufgabe Integration innerhalb der Bundesregierung mit dem nötigen Augenmaß prüfen. Dabei spricht vieles dafür, die bewährte Aufteilung der Kernzuständigkeiten für das Thema Integration zwischen dem für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Migration und Sicherheitsfragen zuständigen Bundesministerium des Innern und dem mit der Förderung des Ar26 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung. Zur Einrichtung eines Ministeriums für Migration und Integration auf Bundesebene vom 7. Juni 2016 (WD 3-3000-153/16, S. 14).

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beitsmarktzugangs auch von Migranten betrauten Bundesministerium für Arbeit und Soziales beizubehalten. Unabhängig davon dürfte sich die Frage stellen, ob es bei der Verortung der Integrationsbeauftragten im Bundeskanzleramt bleiben soll.

Autoren und Herausgeber Michael Griesbeck, Dr. iur., Ministerialdirigent im Bundesministerium des Innern, Studium der Rechtswissenschaften und der Politischen Wissenschaft an den Universitäten Regensburg und Bonn. Promotion an der Universität Regensburg. 1988 Eintritt in das BMI. Von 2006 bis 2016 Vizepräsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Seit 2016 Leiter der Unterabteilung Verwaltungsrecht im BMI. Seit 2012 zudem Lehrbeauftragter für das Recht der Zuwanderung an der Universität Regensburg. Kay Hailbronner, Prof. em. Dr. iur., Dr. h.c., Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Tübingen und Heidelberg. Promotion sowie Habilitation an der Universität Heidelberg. Von 1979 bis 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Konstanz. Stellvertretender Vorsitzender im Beirat für Forschungsmigration beim Bundesrat für Migration und Flüchtlinge. Marcel Kau, Priv.-Doz. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Köln und Georgetown, Washington D.C. Promotion und Habilitation an der Universität Konstanz. Bis 2012 Tätigkeit am Forschungszentrum für Ausländer- und Asylrecht der Universität Konstanz. Seit 2013 Lehrstuhlvertretungen u. a. an den Universitäten München, Würzburg, Dresden und Berlin. Winfried Kluth, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte an den Universitäten Bonn und Münster. Promotion an der Universität Münster, Habilitation an der Universität zu Köln. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Halle-Wittenberg. Seit 2016 Leiter der an den Lehrstuhl angegliederten Forschungsstelle Migrationsrecht. Von 2000 bis 2014 Richter des Landesverfassungsgerichts Sachsen-Anhalt. Michael Tetzlaff, Ministerialdirigent im Bundesministerium des Innern, Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Hannover. 1986 Eintritt in das BMI. Nach unterschiedlichen Tätigkeiten, u. a. als Leiter des Leitungsstabes, seit 2008 Ständiger Vertreter des Abteilungsleiters für Migration, Flüchtlinge, Europäische Harmonisierung.

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Autoren und Herausgeber

Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn. Promotion und Habilitation an der Universität München. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht, Allgemeine Staatslehre und Verfassungstheorie sowie geschäftsführender Direktor des Instituts für Recht und Politik an der Universität Dresden. Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Ulrich Weinbrenner, Ministerialdirigent im Bundesministerium des Innern, Studium der Rechts- und Verwaltungswissenschaften an den Universitäten Mainz und Speyer. 1992 Eintritt in das BMI. Nach Tätigkeiten als Referatsleiter in den Abteilungen Öffentliche Sicherheit sowie Staats-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht seit 2016 Leiter des neu gegründeten Stabes „Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Integration“.