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German Pages 336 Year 2002
Philosophische Schriften
Band 48
Der Umgang als „Zugang“ Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang“ zum faktischen Leben in den frühen ‚Freiburger Vorlesungen‘ Martin Heideggers im Hinblick auf seine Absetzung von der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls
Von Angel Xolocotzi
Duncker & Humblot · Berlin
ANGEL XOLOCOTZI
Der Umgang als „Zugang"
Philosophische Schriften Band 48
Der Umgang als „Zugang" Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" zum faktischen Leben in den frühen ,Freiburger Vorlesungen' Martin Heideggers im Hinblick auf seine Absetzung von der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls
Von
Angel Xolocotzi
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Xolocotzi, Angel: Der Umgang als „Zugang" : Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" zum faktischen Leben in den frühen ,Freiburger Vorlesungen' Martin Heideggers im Hinblick auf seine Absetzung von der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls / Angel Xolocotzi. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Philosophische Schriften ; Bd. 48) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10729-2
D 25 Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-10729-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706®
Meinen Eltern in memoriam
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Wintersemester 2000/01 von den Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i.Br. als Dissertation angenommen. Eine sachgemäße Einsicht in die hier behandelte Problematik war nur möglich durch die Betreuung meines Doktorvaters Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Dank seiner erhellenden Sachkenntnis wurde ein Zugang zur denkenden Sache ermöglicht. Für seine ständige Förderung und die sorgfältigen Korrekturen danke ich ihm ganz herzlich. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Bernhard Casper danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Durch seine Seminare bekam ich wichtige Anregungen für die vorliegende Untersuchung. Ich danke auch Herrn Prof. Dr. Günter Schnitzler für die Erstellung des Drittgutachtens. Diese entscheidenden Jahre der Forschung hat der Katholische Akademische Ausländer-Dienst (KAAD) durch die Vergabe eines vierjährigen Stipendiums ermöglicht. Dafür sowie für die Gewährung einer Druckkostenbeihilfe danke ich dem K A A D sehr herzlich. Cand. phil. Radomir Rozbroj hat die Arbeit in einer ersten Phase gelesen und wichtige Anmerkungen gemacht. Dafür bin ich sehr dankbar. Dr. phil. Ino Augsberg bin ich für das kritische Lesen der Arbeit und für seine wertvolle, achtsame und sorgfältige Korrekturhilfe zu großer Dankbarkeit verpflichtet. Dank schulde ich auch meinen langjährigen Begleitern des Weges hier in Freiburg, bes. cand. phil. Agustin Rodriguez, cand. phil. César Lambert, lie. Sergio Groppo und lie. Alberto Zuleta. Die ständigen Gespräche und Diskussionen haben den weiteren Gang meiner Arbeit angeregt. Eine allererste Einführung in die hermeneutische Phänomenologie verdanke ich Prof. Dr. Ricardo Guerra in Mexiko. Ihm und seinen „Schülern", bes. Dr. Adriana Yânez und meinem Freund Dr. Luis Tamayo bin ich für die ständigen Anregungen in diesen Jahren sehr dankbar. Ein ganz persönliches Wort des Dankes gilt Familie von Pfuhlstein, bes. an Helene, die mit ihrer mütterlichen Unterstützung meinen hiesigen Weg begleitet hat. Die vorliegende Untersuchung wäre nicht zustande gekommen ohne die ständige Unterstützung meiner Ehefrau Gabi. Sie hat nicht nur die Arbeit korrigiert, sondern stand in diesen Forschungsjahren, die viel Zeit und Konzentration beansprucht haben, immer neben mir. Für ihr liebendes Mit-mir-
8
Vorwort
Sein, ihr großes Verständnis, geduldige Wochenenden und unschätzbare Korrekturhilfe danke ich ganz herzlich. Meine Eltern hätten sich sehr gefreut, wenn sie meine abgeschlossene Dissertation gesehen hätten. Dies war leider nicht möglich. Daher ist diese Arbeit meinen Eltern in bleibender Erinnerung gewidmet. Littenweiler, Freiburg i.Br. im Herbst 2001
Angel Xolocotzi
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen' §
17
1. Die Frage nach dem faktischen Leben und seinem „Zugang" in den frühen ,Freiburger Vorlesungen ' (fFV) Martin Heideggers
17
a) Vorbemerkung
17
b) Die methodische Hinsichtnahme der Untersuchung
20
c) Die sachliche Hinsichtnahme der Untersuchung d) Die philosophische Thematisierung des „Zugangs" zum faktischen Leben
22 24
§ 2. Oit frühen , Freiburger Vorlesungen' - unterwegs zu ,Sein und Zeit' (SuZ). Anmerkungen zu ihrer Veröffentlichung 27 a) Berücksichtigung der Quelle und des philosophischen Programms als Wegweiser für die Untersuchung
27
b) Der Ort der Vorlesungen Heideggers innerhalb seines Denkens
34
c) Die Bedeutung von ,Sein und Zeit' für die Auslegung des früheren Denkens Heideggers
38
d) Das Verständnis des Weges Heideggers in bezug auf seine Werke
....
e) Die sachgemäße Betrachtung einer „Genealogie" von ,Sein und Zeit' § 3. Aufbau der Untersuchung
45 48 50
Erster Teil
Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
56
Erstes Kapitel
Der Zugang zum Leben im Neukantianismus
56
§ 4. Die Frage nach dem Leben und die Fragestellung der neukantianischen Wertphilosophie
56
a) Das Kategorienproblem und sein Bezug zu der Frage nach dem Leben
56
b) Die Fragestellung der Wertphilosophie: W. Windelband
62
§ 5. Die ,Zwei Wege der Erkenntnis' Rickerts a) Der transzendentalpsychologische Weg
65 65
10
Inhaltsverzeichnis aa) Erkennen ist nicht Vorstellen
65
bb) Erkennen ist Urteilen
66
cc) Erkennen ist wahres Denken
69
b) Der transzendentallogische Weg
70
c) Das Teleologische der Wertphilosophie
71
§ 6. Die transitive Auslegung des Lebens: Leben als Kulturleben
72
Zweites Kapitel
Diltheys Zugang zum Leben § 7. Die Bedeutung Diltheys für das Stellen der Frage nach dem Leben
§
76 76
a) Der Bezug der Frage nach den Kategorien zur Diltheyschen Fragestellung nach dem Leben
76
b) Die Grundlegung der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Leben
79
8. Der grundlegende Boden der Fragestellung nach dem Leben
83
§ 9. Der deskriptiv-teleologisch hermeneutische Zugang zum Leben
90
§ 10. Die intransitive Auslegung des Lebens: Leben als Erlebnis
97
Drittes Kapitel
Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
100
§11. Allgemeine Betrachtungen der Phänomenologie Husserls hinsichtlich der Frage nach dem Erlebnis bzw. dem Leben 100 a) Vorbemerkung
100
b) Die eigene Charakterisierung der Phänomenologie gegenüber der Psychologie 102 c) Die Frage nach dem Erlebnis in den ,Logischen Untersuchungen' . . . 104 § 12. Die phänomenologische Beschreibung der natürlichen Einstellung in den ,Ideen Γ Ill a) Vorbemerkung
Ill
b) Die dreifach gegliederte wahrnehmungsmäßig gegebene Welt
113
c) Die Generalthesis der natürlichen Einstellung
114
d) Der Fundierungszusammenhang der Unmittelbarkeit der Welt 115 e) Andeutende Bemerkungen zum theoretischen Charakter der natürlichen Einstellung 117 f) Die Möglichkeit einer vollständigen Charakterisierung der natürlichen Einstellung bei Husserl
119
§13. Der methodische Zugang zum transzendentalen Bewußtseinsleben anhand der , Ideen Γ 120
Inhaltsverzeichnis a) Vorbemerkung
120
b) Die phänomenologische Reduktion als Einstellungsänderung
122
c) Die εποχή als Außer-Aktion-setzen bzw. Einklammerung der Generalthesis 124 d) Schärfere Charakterisierung der έποχή
126
Zweiter Teil
Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" zum faktischen Leben
129
Erstes Kapitel
Die Idee der Philosophie als eine ursprüngliche Wissenschaft § 14. Philosophie als strenge Wissenschaft bei Husserl
129 130
a) Vorbemerkung
130
b) Wissenschaft und die Frage nach ihrem Wesen
131
c) Die Charakterisierung der Phänomenologie als Grund der Einzelwissenschaften 132 d) Grundcharaktere der Philosophie als strenge Wissenschaft § 15. Philosophie als vortheoretische Urwissenschaft bei Heidegger a) Das Vorwissenschaftliche und die Urwissenschaft
136 137 137
b) ,Wissenschaft' in ,Urwissenschaft' als methodische Charakterisierung 139 c) Der „Gegenstand" der Urwissenschaft
141
d) Die durch die Urwissenschaft erlangte methodische Thematisierung des Lebens
144
e) Philosophie - Weltanschauung - Wissenschaft
146
f) Urwissenschaft und Weltanschauung
148
Zweites Kapitel
Die methodische Behandlungsart der Phänomenologie: reflexive und hermeneutische Anschauung § 16. Das Grundprinzip der Phänomenologie
151 151
a) Vorbemerkung
151
b) Der phänomenologische Boden Husserls und Heideggers
153
c) Die phänomenologische Forschungsmaxime ,zu den Sachen selbst!' und das Prinzip der Prinzipien 157 § 17. Die Reflexion als die Behandlungsart der Phänomenologie Husserls a) Vorbemerkung
160 160
b) Die in der im weiten Sinne verstandene Reflexion eingeschlossene Umwandlung der Erlebnisse 161
12
Inhaltsverzeichnis c) Die im engeren Sinne verstandene Reflexion: die Blickwendung auf das cogitatum 164 d) Stufen der Reflexion
168
§18. Der wesenhaft reflexive Charakter der Anschauung bei Husserl
169
a) Die sinnliche Anschauung
169
b) Die kategoriale Anschauung
174
c) Die geistig-reflexive Anschauung
181
§ 19. Das Formale und das Modifizierte
des phänomenologischen Prinzips . . . . 182
a) Die Ablehnung der philosophischen Position Husserls
183
b) Das Verständnis der Phänomenologie als Möglichkeit
185
c) Die nicht-theoretische Radikalisierung des Prinzips aller Prinzipien
. . 186
§ 20. Die Einwände Natorps gegen die Phänomenologie - Bemerkungen zu seiner Rekonstruktionsmethode 189 §21. Die hermeneutische Anschauung bei Heidegger a) Vorbemerkung
193 193
b) Das Umwelterlebnis
196
c) Hermeneutische Entformalisierung des Prinzips aller Prinzipien
200
d) Parallelismus mit Husserl
201
Drittes Kapitel
Die formale Anzeige als erste Zugänglichkeit zum faktischen Leben § 22. Die formale Anzeige und der „Zugang" zum faktischen Leben
204 204
a) Die vortheoretisch-wissenschaftliche Möglichkeit der „Erkenntnis" und Begriffsbildung 204 b) Die Beweglichkeit des Lebens und die formale Anzeige
207
§ 23. Die terminologischen Anstöße für die formale Anzeige in Anlehnung an die Husserlschen Analysen 213 a) Vorbemerkung 213 b) Formalisierung und Generalisierung 215 c) ,Anzeigen' in der 1. L U Husserls 218 d) Formale Anzeige und Seinssinn des Lebens 220
Viertes Kapitel
Die hermeneutische Reduktion
222
§ 24. Die Reduktion und ihr Ort innerhalb der hermeneutischen „Zugangsmethode". Der Unterschied zu Husserls transzendentaler Reduktion 223 a) Behandlungsart und „Zugangsmethode"
223
Inhaltsverzeichnis b) Der Unterschied zu Husserls transzendentaler Reduktion § 25. Die Notwendigkeit der Rückführung zum Umwelterlebnis
225 233
a) Der Sinn der Reduktion in den fFV
233
b) Der Entlebungsprozeß c) Die Gewinnung der intentional ursprünglichen Erfassung des faktischen Lebens
237 239
Fünftes Kapitel
Die mitmachende Rekonstruktion und die phänomenologische Destruktion § 26. Verstehen und Interpretieren
244 245
a) Grundstufen der phänomenologischen Forschung: Auffassung und Ausdruck 245 b) Vertrautsein und Selbsthaben als Grundcharaktere des Verstehens . . . . 246 aa) Vertrautheit
247
bb) Selbsthaben
248
c) Rekonstruktion als Interpretation § 27. Verstehen und Interpretation bei Aristoteles
250 255
a) Die durch die Rekonstruktion gewonnene Logik als kategoriale Interpretation 255 b) Aristoteles und der Zugang zum Leben 257 c) Αόγον εχον als eigentümliche Weise der κίνησις in menschlicher ζωή 259 d) Grundweisen des άληθεύειν 261 e) Exkurs: Aristoteles und Dilthey 263 f) Φρόνησις als sachgemäße Weise des άληθεύειν der ζωή bzw. des faktischen Lebens 265 § 28. Die „begleitende" phänomenologische Destruktion
267
a) Vorbemerkung
267
b) Die Destruktion als gerichteter Abbau des Theoretischen
270
c) Die formale Anzeige und die Momente des Zugehens auf das Leben . . 274
Sechstes Kapitel
Rückblick und Ausblick: Das sachgemäße Verständnis der fFV in bezug auf die Fundamentalontologie und das seynsgeschichtliche Denken
278
§ 29. Das anhand des besorgenden Umgangs zugänglich gewordene faktische Leben bzw. Dasein 279 a) Rückblickende Betrachtung in bezug auf das bisher Gewonnene
279
14
Inhaltsverzeichnis b) Die seit dem KNS angedeuteten Grundeinsichten bezüglich der Umweltanalyse in SuZ 282
§ 30. Die methodische und sachliche Kontinuität des philosophischen Wegs Heideggers 288 a) Vorbemerkung
288
b) Ontologische Differenz und transzendentaler Horizont
289
c) Die sachgemäße Betrachtung der methodischen Kontinuität
297
d) Die sachgemäße Betrachtung der sachlichen Kontinuität
301
Literaturverzeichnis
305
Personen Verzeichnis
328
Sach wort Verzeichnis
330
Siglenverzeichnis Α. Vorbemerkungen zur Zitation 1. Die Schriften Martin Heideggers, Edmund Husserls und Wilhelm Diltheys werden - soweit möglich - nach folgenden Ausgaben zitiert: Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Frankfurt a.M., 1976 ff. (GA mit arabischer Bandzahl). Edmund Husserl , Husserliana, Gesammelte Werke. Aufgrund des Nachlasses veröffentlicht vom Husserl-Archiv (Leuven) in Gemeinschaft mit dem HusserlArchiv an der Universität Köln, Den Haag, 1950 ff. (Hua mit römischer Bandzahl). Die ,Logischen Untersuchungen 4 (Hua X V I I I , Hua XIX/1, Hua XIX/2) und die , Ideen Γ (Hua I I I / l ) werden nach der ersten Ausgabe zitiert. Die zitierten Seiten finden sich in Hua am Rande in eckigen Klammern. Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Stuttgart, 1959 ff. (GS mit römischer Bandzahl). 2. Eigene Hervorhebungen in Zitaten werden folgendermaßen angezeigt: k.g.v.m. = kursiv gesetzt von mir. 3. Eigene Anmerkungen, Einschübe und Auslassungen in Zitaten sind durch [eckige Klammern] gekennzeichnet.
B. Allgemeine Abkürzungen fFV
frühe ,Freiburger Vorlesungen 4
MV
,Marburger Vorlesungen 4
KNS
Kriegsnotsemester
C. Schriften Martin Heideggers (Für vollständige Angaben siehe das Literaturverzeichnis) SuZ
Sein und Zeit
PIA
Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)
SS-1922
Interpretationen zu Aristoteles. Unveröffentlichtes Nachlaßmaterial der Vorlesung vom SS 1922 (Nachschrift von W. Bröcker), Herbert Marcuse-Archiv in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M.
UzS
Unterwegs zur Sprache
lerzeichnis
16 ZSD
Zur Sache des Denkens
VWG
Vom Wesen des Grundes
KV
Wilhelm Diltheys Forschungsarbeit und der gegenwärtige Kampf um eine historische Weltanschauung (,Kasseler Vorträge') Vier Seminare Hannah Arendt - Martin Heidegger, Briefe 1925-1975 Martin Heidegger - Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 19181969 Martin Heidegger - Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1963 Drei Briefe Martin Heideggers an Karl Löwith Ein Vorwort. Brief an W. Richardson vom April 1962
VS Briefe Η - A Briefe Η-B Briefe H-J Briefe H - L Brief H-R
D. Schriften Edmund Husserls , Ideen Γ
Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie in: Hua III/1
LU
Logische Untersuchungen: Bd. I Prolegomena zur reinen Logik in: Hua X V I I I ; Bd. II/1 Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis in: Hua X I X / 1 ; Bd. II/2 Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis in: Hua
CM
Cartesianische Meditationen in: Hua I
„Vorrede"
Entwurf einer „Vorrede" zu den „Logischen Untersuchungen" (1913)
XIX/2.
,Krisis-Schrift' BW , Logos-Aufsatz' „Nachwort"
Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie in: Hua VI. Briefwechsel, Bd. II, III, V und V I Philosophie als strenge Wissenschaft in: Logos 1 (1910/11) Nachwort zu den ,Ideen Γ in: Hua V
E. Schriften anderer Autoren Meditationes ZW
KuN VBP LuK AP
René Descartes, Meditationes de prima philosophia, Heinrich Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Transscendentalpsychologie und Transscendentallogik H. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transzendenz (erste Auflage 1892). H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft H. Rickert, Vom Begriff der Philosophie H. Rickert, Lebenswerte und Kulturwerte Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode.
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen6 § 1. Die Frage nach dem faktischen Leben und seinem „Zugang" in den frühen , Freiburger Vorlesungen ' M a r t i n Heideggers a) Vorbemerkung Die Veröffentlichung des Nachlasses Martin Heideggers bringt neues Licht in sein bereits erschienenes Werk. Die seit 1985 veröffentlichten frühen ,Freiburger Vorlesungen' (fFV) oder Dozenten-Vorlesungen sind in den letzten Jahren in mannigfaltiger Weise untersucht worden. 1 Sind die 1
Die vorliegende Untersuchung wird von der Auslegung der Primärtexte geführt. Damit aber unsere Einsichten bekräftigt werden, führen wir zugleich eine Auseinandersetzung mit einigen Interpretationen der Sekundärliteratur durch. Wir grenzen diese Auseinandersetzung auf folgende Sprachräume ein: deutsch, englisch, französisch, italienisch und spanisch. Im Bereich der deutschen Forschung wurden die fFV von H. G. Gadamer in verschiedenen Aufsätzen (für vollständige Angaben vgl. das Literaturverzeichnis) und von O. Pöggeler in ,Der Denkweg Martin Heideggers' erwähnt. Karl Lehmann war ein Pionier in der Forschung über den jungen Heidegger. Die 1985 in Bochum stattgefundenen Symposien „Faktizität und Geschichtlichkeit" haben die Tragweite der fFV in einer bahnbrechenden Weise herausgehoben. Die Beiträge dieser Symposien finden sich im Vol. 4 (1986/87) des Dilthey-Jahrbuchs. Eine Reihe von Dissertationen haben sich auf verschiedene Weisen mit der Analyse der fFV befaßt: /. Fehér, Der Denkweg Martin Heideggers (Die Dissertation Fehérs wurde auf ungarisch verfaßt, aber man findet in zwei Aufsätzen (Zum Denkweg des jungen Heideggers I 1986 und I I 1990) die Grundzüge seiner Untersuchung auf deutsch); G. Imdahl, Das Leben Verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen (1997); G. Rujf, A m Ursprung der Zeit: Studie zu Martin Heideggers phänomenologischem Zugang zur christlichen Religion in den ersten ,Freiburger Vorlesungen'(1997); L-S. Kim, Phänomenologie des faktischen Lebens: Heideggers formal anzeigende Hermeneutik (1998); P. von Ruckteschell, Von der Ursprungswissenschaft zur Fundamentalontologie: die Intentionalität als Leitstruktur im frühen Denken Heideggers (1998); T. Kalariparambil, Das befindliche Verstehen und die Seinsfrage ( 1999, Kalariparambil zentriert sich eigentlich in SuZ, aber in den §§ 6-12 führt er eine treffende Analyse der fFV durch). Friedrich-Wilhelm v. Herrmann geht in seinem Buch Hermeneutik und Reflexion - insbes. im ersten Teil: Der Ursprung der hermeneutischen Phänomenologie aus der Urerfahrung des A-theoretischen - auf die Dozenten-Vorlesungen ein. Die Habilitationsschrift H.-H. Ganders Selbstverständnis und Lebenswelt (Frankfurt a.M., 2001) befaßt sich mit den fFV. Auch andere Autoren wie M. Riedel, J. Grondin und G. Figal haben sich in verschiedenen Hinsichten den fFV gewidmet. 2 Xolocot/.i
18
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
fFV in den bereits vorhandenen Untersuchungen nicht erschöpfend behandelt? Was berechtigt uns, eine weitere Untersuchung bezüglich der fFV durchzuführen? Was wird hiermit nachgewiesen? Diese Berechtigung der vorliegenden Untersuchung ergibt sich aus der Notwendigkeit, einen rechtmäßigen sachlich-methodischen Leitfaden für die Interpretation der fFV zu schaffen. 2 Denn die bisherigen mannigfaltigen Auslegungen der Dozenten-Vorlesungen gingen meist eben darum fehl, d. h. Im Bereich der anglo-amerikanischen Forschung war Thomas Sheehan der Pionier bezüglich den fFV. Seine Arbeit wurde von Theodore Kisiel fortgesetzt, der aufgrund seines 1993 veröffentlichten Buches ,The Genesis of Heidegger's Being and Time' als der bekannteste „Kenner" der fFV betrachtet wurde. Wir können das Verdienst Kisiels bezüglich der umfangreichsten Sammlung von Daten nicht bestreiten, seine Interpretationen der fFV finden wir jedoch grundsätzlich unangemessen. Im Laufe der Untersuchung werden wir dies nachweisen. J. van Buren hat seine umfangreiche Arbeit ,The Young Heidegger. Rumor of the Hidden King' 1994 veröffentlicht. Diese Arbeit ist eine von Derrida geprägte Untersuchung, weshalb van Buren folgendes an den Anfang stellt: „There never was a Heidegger" (S. 17). Die Thematisierung der fFV bedeutet dementsprechend für van Buren nur die Thematisierung einer bestimmten „Periode" bzw. „Etappe" auf dem Weg Heideggers: Der „anarchic kinetic-personalist thoughtpath" (S. 239). Kisiel und van Buren haben 1994 das Buch ,Reading Heidegger from the Start' herausgegeben, welches wichtige Aufsätze sammelte und weitere Anstöße für die Forschung im englischen Bereich gab. J. Caputo, Β. Hopkins und S. Crowell haben ebenfalls verschiedene Analysen der fFV in bestimmten Hinsichten durchgeführt. R. Makkreell bezieht sich auf die fFV unter Berücksichtigung des „Einflusses" Diltheys auf Heidegger. In Frankreich ist die Thematisierung der fFV besonders durch J. F. Courtine und J. Greisch zustande gekommen. Der 1996 von Courtine herausgegebene Band ,Heidegger 1919-1929. De Γ herméneutique de la facticité â la métaphysique du Dasein' enthält wichtige Beiträge bezüglich der fFV. J. Greisch veröffentlichte im letzten Quartal des Jahres 2000 zwei wichtige Werke: ,Le cogito hermeneutique' (Vrin) und ,L' arbre de la vie et Γ arbre du savoir' (Seuil). Im Bereich der italienischen Forschung werden die fFV besonders von F. Volpi , A. Fabris, E. Mazzarella , V. Perego und D. Vicari berücksichtigt. In Spanien werden die fFV vor allem von R. Rodriguez ausgearbeitet (z.B. in: La transformación hermenéutica de la Fenomenologia). Des weiteren sind auch einige Dissertationen, wie die J. Adriäns (El jóven Heidegger. Un estudio interpretativo de su obra temprana al hi lo de la pregunta por el ser) und J. Garcia Gainzas (Heidegger y la cuestión del valor) entstanden. In Lateinamerika sind die fFV besonders aufgrund der Ausarbeitungen von C. B. Gutiérrez (z.B. in: La Hermenéutica temprana de Heidegger) in Kolumbien und F. Gil Villegas (Los Profetas y el Mesias. Lukâcs y Ortega corno precursores de Heidegger en el Zeitgeist de la modernidad) in Mexiko bekannt. 2 Für die vorliegende Untersuchung wurde ein angemessener Einstieg in die Problematik durch die entscheidenden Ausarbeitungen von F.-W. v. Herrmann ermöglicht. Wie eine sachgemäße Interpretation der fFV durchgeführt werden kann, zeigt v. Herrmann mit Deutlichkeit in seinem Buch ,Hermeneutik und Reflexion' (Frankfurt a.M., 2000) (im folgenden zitiert als: v. Herrmann, HuR). Ferner vgl. v. Hermann, Wege ins Ereignis: Zu Heideggers „Beiträge zur Philosophie", Frankfurt a.M., 1994, bes. S. 7-12; ders., Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe, in: M. Happel (Hrsg.), Heidegger neu gelesen, Würzburg, 1997, S. 90 f.
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
19
sie trafen nicht das Entscheidende für den hermeneutisch-phänomenologischen Weg Heideggers. Entweder scheiterten sie sachlich, indem sie das Thema der fFV nicht im Zusammenhang mit SuZ sahen, also die Thematisierungen der fFV verselbständigten und den Gehalt der fFV als eine „eigenständige philosophische Position" betrachteten. Oder sie scheiterten methodisch, indem sie die Auseinandersetzung mit und Absetzung von der Phänomenologie Edmund Husserls überhaupt nicht oder unzureichend berücksichtigten. Die von Theodore Kisiel begründete verbreitete Betrachtung der fFV als Genesis von SuZ 3 scheint für viele eine sachgemäße Betrachtungsweise für die Interpretation der fFV zu sein. Geht man jedoch anhand von Kisiels Interpretation auf die fFV ein, begegnet man in ihnen einer aus verschiedenen Richtungen kommenden Sammlung von „Einflüssen". Der philosophische Weg Heideggers wird dabei als eine Summe von „Phasen" oder „Etappen" betrachtet, die anhand eines „Katalogs" von eingeführten Begriffen unterschieden werden könnten. Die Betrachtungsweise Kisiels, insofern er die Suche nach der Genesis von SuZ hauptsächlich nach „Einflüssen" und eingeführten Begriffen ausrichtet, hat bereits die entscheidenden Grundeinsichten übersprungen. Wir können mit Heidegger zwischen Beginn und Anfang unterscheiden. In der Vorlesung vom WS 1934/35 schreibt er folgendes: „Beginn ist jenes, womit etwas anhebt, Anfang das, woraus etwas entspringt [...] Der Beginn wird alsbald zurückgelassen, er verschwindet im Fortgang des Geschehens. Der Anfang, der Ursprung, kommt dagegen im Geschehen allererst zum Vorschein und ist voll da erst an seinem Ende" (GA 39, S. 3, k.g.v.m.). Die Untersuchung Kisiels als Suche nach der Genesis von SuZ ist in diesem Sinne die Suche nach dem Beginn und nicht nach dem Anfang, nach dem Ursprung. Unsere Untersuchung beabsichtigt dagegen, die fFV als Anfang bzw. Ursprung des philosophischen Wegs Martin Heideggers zu entfalten. 4 Und 3
Th. Kisiel, The Genesis of Heidegger's Being and Time, Los Angeles: Univ. of California Press, 1993 (im folgenden zitiert als: Kisiel, The Genesis); ders., The Genesis of Being and Time, in: Man and World 25 (1992), S. 21-37; ders., The Genesis of Being and Time. The primal Leap, in: L. Langsdorf und S. Watson (Hrsg.), Phenomenology, Interpretation, and Community, State Univ. of New York Press, 1996, S. 29-50. 4 Diese Begrenzung unserer Untersuchung hauptsächlich auf die fFV (19191923) hat in der Frage nach dem Anfang bzw. Ursprung ihre Rechtfertigung. D.h., die Analysen der fFV richten sich auf eine allererste Thematisierung der Anfänge der hermeneutischen Phänomenologie, während die Marburger Vorlesungen (19231928) weitere Ausarbeitungen zeigen, die aber aufgrund des in den fFV gewonnenen Einstiegs entfaltet wurden. Weitere hilfreiche bibliographische Orientierungen bezüglich der Marburger Vorlesungen bieten folgende Ausarbeitungen: F.-W. v. 2*
20
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
dies heißt zum einen, den Anfang
als das zu berücksichtigen, woraus der
philosophische Weg entspringt, und z u m anderen, den Anfang seine Konkretion methodische,
i n bezug auf
bzw. sein Ende zu betrachten. Ersteres werden w i r als die
letzteres als die sachliche
Hinsichtnahme der Untersuchung
entfalten. Zunächst erläutern w i r diese beiden Hinsichtnahmen, i n welchen die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang n i m m t . b) Die methodische Hinsichtnahme der Untersuchung Der Anfang der hermeneutischen Phänomenologie muß, methodisch betrachtet, das, woraus sie entspringt, stets vor Augen behalten. D . h . , die Gew i n n u n g des Verständnisses dessen, was m i t dem B e g r i f f , hermeneutische Phänomenologie' zustande k o m m t , kann nur anhand der Auseinandersetzung m i t dem Begründer
der Phänomenologie
sachgemäß erfolgen.
In
diesem Sinne n i m m t die Untersuchung einen rechtmäßigen Ausgang da-
Herrmann, HuR, bes. I I und III; T. Kalariparambil, Das befindliche Verstehen und die Seinsfrage, Berlin, 1999, bes. §§ 13—16 (im folgenden zitiert als: Kalariparambil); P. von Ruckteschell, Von der Ursprungs Wissenschaft zur Fundamentalontologie. Die Intentionalität als Leitstruktur im frühen Denken Heideggers, Diss. Freiburg, 1998; F. Dastur, Heidegger und die „Logischen Untersuchungen", in: Heidegger Studies 7 (1991), S. 37-51; Th. C. W. Oudemans, Heideggers „Logische Untersuchungen", in: Heidegger Studies 6 (1990), S. 85-105; /. Fehér, Der junge Heidegger II, in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös Nominatae. Sectio Philosophica et sociologica Tomus 22/23, Budapest, 1990, S. 127-153; R. Bernet, Husserl and Heidegger on Intentionality and Being, in: Journal of the British Society for Phenomenology 21 (Mai 1990), S. 136-152; Κ Held, Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie, in: A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler (Hrsg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a.M., 1988, S. 111-139; F. Volpi, Heidegger in Marburg: Die Auseinandersetzung mit Husserl, in: Philosophischer Literaturanzeiger 37 (1984), S. 48-69; C.-F. Cheung, Der anfängliche Boden der Phänomenologie. Heideggers Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls in seinen Marburger Vorlesungen, Frankfurt a.M., 1983; W. Biemel, Heideggers Stellung zur Phänomenologie in der Marburger Zeit, in: Phänomenologische Forschung 6/7 (1978), S. 141-223. Ferner: A. L. Kelkel, Immanence de la conscience intentionnelle et transcendance du Dasein, in: F. Volpi (Hrsg.), Heidegger et l'idée de la Phénoménologie, Dordrecht: Kluwer, 1988; Β. Hopking , Intentionality in Husserl and Heidegger, Dordrecht: Kluwer, 1993; Β. Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls, Frankfurt a.M., 1988; J. Caputo, The Question of Being and Trascenderai Phenomenology: Reflexion on Heidegger's Relation to Husserl, in: J. Sallis (Hrsg.), Radical Phenomenology, New Jersey, 1978; J. Taminiaux, Heidegger and Husserl's logical investigation, in: J. Sallis (Hrsg.), Radical Phenomenology; G. Granel, Remarques sur le rapport de Sein und Zeit et de la phénoménologie husserlienne, in: V. Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a.M., 1970, S. 350-368; M. Theunissen, Intentionaler Gegenstand und ontologische Differenz. Ansätze zur Fragestellung Heideggers in der Phänomenologie Husserls, in: Philosophisches Jahrbuch 70 (1962/63), S. 344-362.
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durch, daß der Zusammenhang mit und die Absetzung von der Phänomenologie Edmund Husserls stets mitthematisiert wird. Heidegger selbst hat diesen Leitfaden nicht erst in SuZ (1927), 5 sondern bereits in den fFV vorgeschlagen. 1923 schreibt er: „Fragen erwachsen aus der Auseinandersetzung mit den ,Sachen4. Und Sachen sind nur da, wo Augen sind" (GA 63, S. 5). Weiter unten legt er die „Augen" in bezug auf Husserl aus: „Begleiter im Suchen war der junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt" (ebd.). Die Aneignung der Husserlschen Phänomenologie bildet, kantisch gesprochen, die Bedingung der Möglichkeit für ein sachgemäßes Verständnis der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers. In diesem Sinne wird das Verständnis der Anfänge der hermeneutischen Phänomenologie durch das Verständnis der reflexiven Phänomenologie Husserls bestimmt. Erstere ist adäquat nur in ihrer Absetzung von der letzteren zu begreifen. 6 In einer frühen Vorlesung sagt Heidegger in bezug auf die Phänomenologie, daß sie „den ,λόγος' der Phänomene [gibt]" (GA 60, S. 63). Daher schreibt er im § 7 von SuZ, daß die Phänomenologie als λέγειν τ ά φαινόμενα zu verstehen ist (SuZ, S. 34). Λ έγειν besagt seinerseits άποφαίνεσθαι. Phänomenologie wird deshalb als άποφαίνεσθαι τ ά φαινόμενα charakterisiert: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen" (ebd.). Aber der λόγος in der Phänomenologie kann in zwei verschiedenen Weisen verstanden werden: reflexiv oder hermeneutisch. Wird der λόγος als ein reflexiver Blick auf die Akte gefaßt,
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Vgl. SuZ, S. 38. So wie über den Eingang zur Platonischen Akademie der Spruch gesetzt war: Αγεωμέτρητος μηδείς είσίτω!, „Keiner, der nicht das Mathematische begriffen hat, soll hier einen Zugang haben" (Zitat nach GA 41, S. 76), müssen wir analog auch einen Zugang zu Heideggers Philosophie unter die Bedingung stellen: „Keiner, der nicht die Husserlsche Phänomenologie begriffen hat, soll hier einen Zugang haben". Husserls Phänomenologie ist kein beliebiges in Zusammenhang mit Heideggers Philosophie zu bringendes Thema, sondern bildet eine Grundvoraussetzung für das sachgemäße Verständnis der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers. Die hier zu entfaltende Frage nach dem „Zugang" zum faktischen Leben findet daher den zureichenden Weg dadurch, daß sie in bezug auf Husserls Phänomenologie bzw. ihre Absetzung von ihr erarbeitet wird. Die Thematisierung der philosophischen Beziehung Husserl-Heidegger wurde in einer unübersehbaren Zahl von Ausarbeitungen durchgeführt. Einer der ersten Aufsätze war der H. Tanabes Die neue Wende in der Phänomenologie - Heideggers Phänomenologie des Lebens (1924 in Japan veröffentlicht und 1989 in: Japan und Heidegger - hrsg. von H. Buchner, Sigmaringen - wiederabgedruckt) und G. Grasseliis La fenomenologia di Husserl e l'ontologia di M. Heidegger (1928 veröffentlicht in: Rivista di filosofia neoscolastica, S. 330-347). In der jüngsten Forschung ist vor allem auf die Ausarbeitungen von F.-W. v. Herrmann, K. Held und R. Cristin hinzuweisen. 6
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dann hat man es mit der Bewußtseinsphänomenologie Husserls zu tun; wird der λόγος dagegen als verstehendes Mitgehen gedeutet, dann hat man es mit der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers zu tun. Daher wird Heidegger im selben § 7 sagen, daß „der λόγος der Phänomenologie des Daseins [...] den Charakter des έρμηνεύειν [hat]" (SuZ, S. 37). In diesem Sinne ist der λόγος der hermeneutischen Phänomenologie ein hermeneutischer λόγος und kein reflexiver. c) Die sachliche Hinsichtnahme der Untersuchung Der Anfang der hermeneutischen Phänomenologie kann und muß, da er nicht alsbald zurückgelassen wird, in seiner Konkretion wiedergefunden werden. D.h., weil der Anfang, sachlich betrachtet, in einem eigentümlichen Zusammenhang mit seiner Konkretion bzw. seinem Ende steht, darf er nicht isoliert und verselbständigt werden. Die hermeneutische Phänomenologie Heideggers zeigt als erste Konkretion die fundamentalontologische Ausarbeitung der Seinsfrage, welche in SuZ ausführlich entfaltet wird. Daher finden die Anfänge der hermeneutischen Phänomenologie ihr Ende bzw. ihre Konkretion unmittelbar in SuZ. M.a.W., wir gehen davon aus, und werden im Laufe der Untersuchung nachweisen, daß zum einen die fFV keine selbständige Philosophie enthalten und zum anderen die Hauptthematisierung des faktischen Lebens und die damit zusammenhängenden Themen in bezug auf ihre unmittelbare Konkretisierung verstanden werden müssen, d. h. in bezug auf SuZ. Dies heißt aber nicht, daß die fFV nur eine „degradierte Vorgeschichte von SuZ" darstellen, sondern daß zwischen den fFV und SuZ ein eigentümlicher Zusammenhang waltet, der durch einen tieferen Blick in die Sache zum Aufweis kommt. Die eigenständige Bedeutung der fFV liegt in entscheidenden Entdeckungen, die für SuZ entweder vorausgesetzt werden, wie die formale Anzeige, oder in begrifflich umgewandelter Weise wiedergegeben werden, wie die Umweltanalyse. Die Entfaltung der Frage nach dem Sein, welche in SuZ (1. und 2. Abschnitt) als die Entfaltung der Frage nach dem seinsverstehenden Wesen des Menschen stattfindet, also nach dem Dasein, hat ihren Ausgang bereits im Kriegsnotsemester (KNS) 7 als die Frage nach dem faktischen Leben. Bei einer oberflächlichen Lektüre kann der Begriff ,faktisches Leben' schlechthin als Zeichen einer „Lebensphilosophie" betrachtet werden. Diese Interpretation ist ebenso unangemessen wie diejenige, die Heideggers Phänomenologie innerhalb des „Existenzialismus" einordnet. Ein äußerliches unsach7
Das Kriegsnotsemester fand vom 25. Januar bis zum 16. April 1919 statt. Der Titel der zweistündigen Vorlesung lautet: ,Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem'. Diese Vorlesung ist seit 1987 im Band 56/57 der GA zugänglich.
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gemäßes Verständnis von Leben oder Existenz veranlaßt solche Fehlinterpretationen. Faktisches Leben, hermeneutisch-phänomenologisch betrachtet, meint vielmehr das, was Heidegger seit 1923 als Dasein bezeichnet.8 In diesem Sinne bedeuten die Thematisierung des faktischen Lebens in den fFV und die Thematisierung des Daseins in SuZ keine verschiedenen Bereiche, sondern im Begriff ,faktisches Leben' muß immer ,Dasein' gedacht werden. Aber ist dies nicht eine gefährliche Formulierung? Sind die in SuZ herausgehobenen Wesenscharaktere des Daseins bereits in dem in den fFV dargestellten Begriff ,faktisches Leben' enthalten? Geschieht nicht vielmehr eine „ontologische Wende" auf dem philosophischen Weg Heideggers? Dazu ist folgendes zu sagen: Es ist klar, daß die in SuZ vollzogenen Analysen eine eigentümliche Struktur und endgültige begriffliche Prägung zeigen. Diese Analysen fallen aber nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis vieler Jahre denkerischer Bemühungen Heideggers, das Phänomen seinsverstehendes Wesen (Existenz) in seiner Zusammengehörigkeit zum Sein in einer reiferen Ausdrücklichkeit darzustellen. Diese Bemühungen nehmen ihren konkreten Ausgang im KNS. Dies bedeutet, daß die fFV zunächst als denkerischer Ausgang der hermeneutischen Phänomenologie betrachtet werden müssen. In dieser Begrenzung liegt aber ihr unschätzbares Verdienst. Die Frage nach dem faktischen Leben in den fFV als dem philosophischen Ausgang Heideggers richtet sich zunächst auf die Schwierigkeit, dieses Phänomen zugänglich zu machen. In diesem Sinne fängt die Thematisierung des faktischen Lebens bzw. des seinsverstehenden Daseins mit der Thematisierung des „Zugangs" zu ihm an. Die in der Sekundärliteratur viel besprochene, aber meistens mißverstandene Frage nach dem faktischen Leben bei Heidegger muß daher zunächst als die Frage nach dem „Zugang" zum faktischen Leben bzw. Dasein betrachtet werden. Daß der Zugang vorwiegend in den fFV herausgehoben wird, deutet bereits auf die Kontinuität des denkerischen Wegs Heideggers hin: Primär muß ein allererster „Zugang" zum Dasein bzw. faktischen Leben gewonnen werden, erst danach kann die Wesensstruktur des Daseins herausgehoben werden. Dies bedeutet aber nicht, daß der in den fFV gewonnene „Zugang" vorontologisch wäre und daß Heidegger mit dem Terminus ,Dasein' seine „ontolo-
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Wann genau Heidegger den Terminus ,Dasein' statt faktisches Leben' zum ersten Mal verwendet hat, ist für unsere Untersuchung irrelevant. Wir gehen davon aus, daß Dasein und faktisches Leben denselben Sachverhalt meinen, d. h. beide Begriffe deuten auf eine radikale, von der philosophischen Tradition nicht gesehene seinsverstehende Wesensverfaßheit des Menschen hin. Daher bemerkt Kalariparambil mit Recht, daß „die Entwicklung seines [Heideggers, Α. X.] Denkens [...] zwar mit der Fixierung der Begriffe eng verbunden, aber nicht identisch [ist]", Kalariparambil, S. 71.
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gische Wende'4 vollzogen hätte. Vielmehr führt die Analytik des faktischen Lebens, wenn sie weit genug getrieben wird, in die a-theoretische Ontologie. In diesem Sinne können wir den oben genannten eigentümlichen Zusammenhang zwischen den fFV und SuZ näher erläutern: Einerseits sind die in den fFV zugänglichen sachlichen Grundentdeckungen in SuZ bewahrt, und andererseits ist die in SuZ ausdrücklich gestellte Frage nach dem Sein als die Frage nach dem seinsverstehenden Dasein bereits in den fFV als die Frage nach dem faktischen Leben implizit angesetzt.
d) Die philosophische Thematisierung des „Zugangs" zum faktischen Leben Welche Tragweite hat die Thematisierung des „Zugangs" in den fFVl Mit dem seit dem KNS thematisierten „Zugang" zum faktischen Leben betritt Heidegger terra incognita in der Philosophie. Es geschieht eine Radikalisierung der Philosophie, indem das Wesen des Menschen nicht mehr als animal rationale gesehen wird und der „Zugang" zu ihm nicht mehr theoretisch durchgeführt wird. Im Laufe der Tradition zeigte sich das Wesen des Menschen in seinen mannigfaltigen Ausarbeitungen als Seele, cogito , Subjekt, Bewußtsein, Person, usw. im Grunde immer nur als animal rationale. Dieses war das eigentliche fundamentum inconcussum, welches keine philosophische Auslegung in Frage stellen konnte. Zu dieser Bestimmung des Wesens des Menschen als animal rationale gehörte zugleich der theoretische Zugang zu ihm. In der überlieferten Philosophie war also eine mögliche Thematisierung des Wesens des Menschen theoretisch bedingt. Die scheinbar atheoretischen Ausarbeitungen einiger Autoren blieben dennoch in bestimmten Weisen theoretisch affiziert. 9 Eine radikal andersartige Thematisierung des Wesens des Menschen wird nur möglich, wenn das „Wesen" nicht mehr als das essentiale Wesen, d.h. animal rationale zugänglich ist. D.h., es besteht ein Binnenzusammenhang zwischen dem Wesen des Menschen und seinem Zugang. Ist der Zugang ein theoretischer Zugang, dann wird das Wesen des Menschen in mannigfaltiger Weise essential innerhalb des animal rationale gefaßt; ist aber der
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In den letzten Jahren sind mannigfaltige Aufsätze bzw. Sammelbände, Monographien und Dissertationen erschienen, die die radikale Entdeckung des A-theoretischen bei Heidegger relativieren und versuchen, die Grundeinsichten der hermeneutischen Phänomenologie vielmehr als „Fortsetzungen" des bereits Entdeckten nachzuweisen. Im Laufe der vorliegenden Untersuchung werden wir uns einigen verbreiteten Interpretationen besonders in bezug auf Dilthey und Husserl zuwenden, damit genauer gesehen werden kann, worin die Radikalität des Einsatzes Heideggers und die Unangemessenheit solcher Fortsetzungs-Interpretationen besteht.
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Zugang ein verstehend-mitgehender Zugang, dann wird sich das existenziale Wesen des Menschen als faktisches Leben bzw. Dasein erweisen. Der erste Schritt, um diesen radikalen Wandel zu vollziehen, besteht darin, was Heidegger im KNS das Brechen der Vorherrschaft des Theoretischen nennt. 10 Und hier liegt die entscheidende Bedeutung der fFV in Hinblick auf die darauf aufgebauten Analysen der Fundamentalontologie und auch des seynsgeschichtlichen Denkens Heideggers. Die Entdeckung des a-theoretischen „Zugangs" 11 zum Leben anhand der Brechung der Vorherrschaft des Theoretischen können wir als den methodischen Einstieg für die ganze hermeneutische Phänomenologie Heideggers betrachten. Die Vorherrschaft des Theoretischen hat einen Zugang zum faktischen Leben verhindert. Jeder Versuch, das Leben in seinem Ursprung zu enthüllen, ist gescheitert, weil dieses nur im theoretischen Rahmen zum Aufweis gebracht werden konnte. Durch die theoretische Betrachtungsweise war bereits die ursprüngliche Sphäre des Lebens übersprungen und das Leben entlebt. In diesem Sinne bedeutet das Brechen des Theoretischen negativ das Rückgängigmachen des Entlebungsprozesses des Lebens und positiv die Entdeckung des Lebens in seinem eigentlichen Ursprung. 12 Leben und Erleben wurden in der ganzen philosophischen Überlieferung von der sinnlichen Wahrnehmung, der αϊσθησις, geführt. Die Tradition ging davon aus, daß das primäre vorphilosophische Verhalten zur Welt eine sinnliche Wahrnehmung und deshalb die Welt ursprünglich eine sinnliche Erfahrungswelt sei. Ein philosophischer Zugang zum Leben bzw. zur sinnlichen Erfahrungswelt in der philosophischen Tradition war nur durch reflexive Erkenntnis, die νόησις, möglich. Das Begriffspaar αϊσθησις - νόησις gehört in die niemals in Frage gestellte theoretische Haltung der abendländischen Philosophie. Wenn demgegenüber durch die hermeneutische Phänomenologie die Vorherrschaft des Theoretischen gebrochen werden soll, dann bedeutet dies zum einen, Leben und Erleben nicht mehr primär auf dem Grunde der sinnlichen Wahrnehmung zu sehen, und zum anderen, die primäre Auffassungsform des Lebens nicht mehr als reflexive Erkenntnis zu 10 GA 56/57, S. 59: „Diese Vorherrschaft des Theoretischen muß gebrochen werden [...]". 11 Mit dem Bindestrich im Terminus ,a-theoretisch' bzw. ,A-theoretisch' wollen wir den spezifischen Charakter der hermeneutisch-phänomenologischen Zugangsweise Heideggers herausheben. Auch wenn Heidegger dafür vorwiegend den Terminus ,vortheoretisch' verwendet, werden wir - soweit möglich - ,a-theoretisch' schreiben, damit der Leser beim Terminus ,vor-theoretisch' nicht an ein Vbrstadium des Theoretischen denkt. Im Laufe der Untersuchung sollte allmählich die Radikalität des Α-theoretischen (bzw. Vor-theoretischen) bei Heidegger deutlich werden. 12 Diese hier im negativen und positiven Sinne gemeinte philosophische Zugangsweise werden wir im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung in drei Momenten ausarbeiten: Reduktion, Re-konstruktion und Destruktion.
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thematisieren. Das Leben und Erleben in seinem a-theoretischen Ursprung zu entdecken, heißt vielmehr, es selbst als Umwelterlebnis und seinen ersten Auffassungsmodus als Bedeutsamkeitsverstehen des Umweltlichen zu deuten. Daß das ursprünglichste Erlebnis primär als ein Umwelteriebnis und nicht nur ein wahrnehmungsmäßiges Erlebnis gedeutet wird, besagt, daß unsere Erfahrung als die Weise des „Zugehens" auf die umweltliche Dinge keine wahrnehmungsmäßige Erfahrung, sondern ein Umgehen mit den Dingen ist: Beim Schreiben eines Briefes gehe ich mit dem Füller, Papier, Schreibtisch, usw. besorgend um. Die Dinge, mit denen ich beim Schreiben hantiere, sind mir schon irgendwie vertraut und werden nicht etwa zuerst wahrgenommen als Gegenstand Füller, Papier, usw. und dann einer Umwelt zugeordnet. Das Gegenteil ist der Fall: Primär erfahre ich den Füller, Schreibtisch, usw. in ihrem umweltlichen Charakter als Bedeutsames. Im besorgenden Umgehen mit den innerweltlichen Dingen in meiner Umwelt zeigt sich die a-theoretische ursprünglichste Erfahrung des Lebens: Das Umwelterlebnis ist also das Urerlebnis. Somit können wir folgendes feststellen: Die Vorherrschaft des Theoretischen macht das Leben vorphilosophisch als ein sinnlich wahrnehmendes Verhalten, αισθησις, zugänglich, während ein philosophischer Zugang sich als reflexive Erkenntnis, νόησις, erweist. Durch die Entdeckung des Atheoretischen wird dagegen sich das Leben vorphilosophisch als ein Umgangsverhältnis zeigen. Aus diesem Vollzug des Umwelt-Verhaltens tritt das ihm korrespondierende a-theoretische, d.h. hermeneutische Verhalten qua philosophisches und wissenschaftliches nicht heraus, sondern verbleibt darin. Ein solches Verbleiben geschieht dadurch, daß das hermeneutische Verstehen das Verstandene aus dessen vorphilosophischer Unausdrücklichkeit in eine philosophische Ausdrücklichkeit überführt. Dabei geht es um ein auslegendes Mitgehen mit dem Umwelt-Verhalten, um dieses und sein Womit nach ihren Strukturmomenten zu erschließen. Ein philosophischer a-theoretischer „Zugang" besagt dann keine reflexive Erkenntnis mehr, sondern ein mitgehend ausdrücklichmachendes a-theoretisches Auslegen. Das a-theoretische Umwelterlebnis bzw. der Umgang ist also die Weise, wie das faktische Leben bzw. Dasein primär zugänglich wird. In der vorliegenden Untersuchung wollen wir diese von Heidegger in den fFV zum ersten Mal herausgehobene primäre Zugangsweise entfalten. In diesem Sinne läßt sich der Titel unserer Untersuchung „Der Umgang als ,Zugang 4 " verstehen. Der Terminus „Zugang" wird dabei aus zwei Gründen in Anführungszeichen geschrieben: Zum einen, um ihn gegenüber dem erkenntnistheoretischen und theoretisch-affizierten Zugang abzugrenzen und zum anderen, um herauszuheben, daß der „Zugang" nicht ein von außen kommen-
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der „Zugang" sein kann, da wir uns immer schon im Leben befinden. Die Ursprünglichkeit des Lebens ist freilich verhüllt. „Zugang" muß daher als ein enthüllender „Zugang" zur a-theoretisehen umwelterlebenden Ursprünglichkeit des Lebens verstanden werden. M.a.W.: Die Gewinnung des hermeneutisch-phänomenologischen „Zugangs" zum Phänomen Leben besteht nicht darin, daß wir uns erst in einen verstehenden Umgang versetzen müssen, da wir uns ja immer bereits faktisch darin befinden; daher spricht Heidegger vom faktischen Leben. Es besteht jedoch die Gefahr, daß wir aus diesem Innebleiben im verstehenden Umgang herausspringen und das, was der Sache nach der verstehende Umgang ist, umdeuten in eine Wahrnehmungsbeziehung, auf die das Verstehen aufbaut. Für die Gewinnung des hermeneutisch-phänomenologischen „Zugangs" als des mitgehenden Ausdrücklichmachens des Umgangs bedarf es der Abdrängung der sich andrängenden und mitlaufenden theoretisierenden Auslegungstendenzen, die das Phänomen eines a-theoretisch verstehenden Umgangs verdecken. Wenn wir uns das phänomenologische Prinzip „zw den Sachen selbst/" stets vor Augen halten, dann erfordert dies demnach, gegen die communis opinio der theoretischen Haltung anzukämpfen, dem Richtungssinn des verdeckten verstehenden Umgangs nachzugehen und dann auch das zu ihm gehörende Seinsverständnis zur Auslegung zu bringen. Darin besteht die Intention der vorliegenden Untersuchung. Da mit dem Erscheinen der fFV bestimmte Interpretationsprobleme auftauchten, wenden wir uns zunächst einigen Anmerkungen zu ihrer Veröffentlichung und Interpretation zu.
§ 2. Die frühen , Freiburger Vorlesungen' unterwegs zu ,Sein und Zeit 4 (SuZ). Anmerkungen zu ihrer Veröffentlichung a) Berücksichtigung der Quelle und des philosophischen Programms als Wegweiser für die Untersuchung Es ist bekannt, daß die Frage Heideggers die Frage nach dem Sein ist. 1 3 Die Entfaltung dieser Frage indes wurde in der Sekundärliteratur oft mißverstanden. So wurde sie etwa als eine spezifische Gestalt des Existenzialismus, der Metaphysik, der Lebensphilosophie, der Transzendentalphiloso13
In einer seiner letzten Schriften sagte Heidegger: „Die Frage, mit der ich Sie grüße, ist die einzige, die ich bis zu dieser Stunde immer fragender zu fragen versuche. Man kennt sie unter dem Titel „die Seinsfrage"" in: Neuzeitliche Naturwissenschaft und moderne Technik (Grußwort an die Teilnehmer des zehnten Colloquiums vom 14.-16. Mai 1976 in Chicago). Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1989. S. 12. Wiederabgedruckt in GA 16, S. 747.
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phie usw. interpretiert, dabei jedoch ihre Ursprünglichkeit, ihr ontologischer Ansatz beiseite gelassen. Der bekannteste Fall war die Auslegung Heideggers innerhalb des Existenzialismus. Dort wird die Zusammengehörigkeit der Frage nach dem Sein überhaupt und der Frage nach der Existenz als Seinsart des Menschen nicht berücksichtigt. Es wird nur die Existenz betrachtet, unabhängig von der Frage nach dem Sein überhaupt. Damit war der Grundansatz Heideggers vergessen. Die Frage nach der Existenz als Seinsart des Menschen bei Heidegger zeigt eine Wandlung des Leitfadens für die Seinsfrage. 14 Die abendländische Philosophie hatte als Leitfrage die Frage nach der Seiendheit des Seienden, ausgehend von der Struktur des Menschen als animal rationale. Demgegenüber deutet ,Existenz' auf eine Wandlung der Struktur des Menschen hin: Dieser ist jetzt nicht mehr als vernünftiges Lebewesen gedacht, sondern als seinsverstehendes Dasein. Im seinsverstehenden Dasein ist das Sein als Existenz aufgeschlossen, aber dabei zugleich das Sein überhaupt. Der Terminus Dasein umfaßt diese in sich zweifache Aufgeschlossenheit: Das ,Da-' weist auf die Erschlossenheit vom Sein überhaupt hin, ,-sein' deutet auf die Existenz als Seinsweise des Menschen. 15 D.h., daß das eigene Sein als Existenz in eins mit dem Sein überhaupt erschlossen ist. Die Fragestellung nach dem Sein überhaupt führt dann zunächst zu der Frage nach der Seinsweise des Menschen: zu einer vorbereitenden Analytik des seinsverstehenden Daseins. Die Frage nach der Existenz als der Seinsweise des Menschen in der Daseinsanalytik bildet in diesem Sinne den ursprünglichen Leitfaden für die Frage nach dem Sein überhaupt. Aber die Frage nach dem Sein erschöpft sich nicht in der in der Daseinsanalytik gestellten Frage nach der Existenz. Wenn der Existenzialismus nur die Existenz betrachtet, dann ist die Existenz wieder lediglich als Seiendheit verstanden und nicht innerhalb der vorbereitenden Daseinsanalytik für die Frage nach dem Sein überhaupt in den Blick genommen. 16
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Dazu vgl. F.-W. v. Herrmann, Die Frage nach dem Sein als hermeneutische Phänomenologie, in: WiE, S. 42-63; Kalariparambil, S. 2 ff. 15 Vgl. F.-W. v. Herrmann, Subjekt und Dasein, Frankfurt a.M. (2. stark erweiterte Auflage), 1985, S. 20 ff. (im folgenden: v. Herrmann, SuD); ferner vgl. ders., Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von ,Sein und Zeit'. Bd. 1 ,Einleitung: Die Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein', Frankfurt a.M., 1987 (im folgenden: v. Herrmann, HPhD), S. 112 ff. 16 Vgl. dazu Heideggers anläßlich des Symposiums über die Philosophie Heideggers an der Duquesne Universität an Prof. Α. H. Schrynemakers geschriebenen Brief: „Heute ist wohl kaum mehr nötig, ausdrücklich zu vermerken, daß es sich in meinem Denken weder um Existenzialismus noch um Existenz-Philosophie handelt" in: John Sallis (Hrsg.), Heidegger and the Path of Thinking, Pittsburg: Duquesne University Press, 1970, S. 10. Ferner vgl. GA 32, S. 18.
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Hier entsteht die Frage nach einer adäquaten Interpretation 17 des Philosophierens Heideggers, und ob eine solche überhaupt möglich ist. Diese Fragestellung führt uns zu der Frage nach dem Maßstab für die „Objektivität" der Interpretation. Die Suche nach einem Maßstab kann in zwei Richtungen erfolgen: Einerseits muß das auslegende Verstehen betrachtet werden. Diese Seite können wir als die strukturelle oder formale Bedingung der Interpretation oder auch als „philosophische Hermeneutik" bezeichnen. 18 Andererseits muß auch das Ganze der Gestalt des zu Interpretierenden berücksichtigt werden. Dies können wir als die inhaltliche Bedingung der Interpretation betrachten oder als die „technische Hermeneutik". Eine adäquate Interpretation muß dann beide Bedingungen berücksichtigen: die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens ebenso wie die technischen Probleme einer Hermeneutik. Die erste Bedingung führt zur Berücksichtigung der Voraussetzungen der Struktur des menschlichen Verstehens, des menschlichen Seins. Diese Bedingung wurde von Heidegger ausführlich entfaltet. Wir werden uns ihr im Laufe der Untersuchung zuwenden. Hier dagegen gilt es nun, der technisch-inhaltlichen Problematik einige Bemerkungen zu widmen. Auf der inhaltlichen Seite muß eine Interpretation den inneren Zusammenhang des zu Interpretierenden berücksichtigen. Wenn sie nur einen Teil oder Aspekt des Ganzen betrachtet mit einem Anspruch auf das Ganze, kann es geschehen, daß die Grundeinsicht verloren geht. In diesem Fall spricht man von einer einseitigen Interpretation. 19 Wenn die Grundeinsicht verloren geht, hat die Interpretation das von ihr in den Blick genommenen Denken zwar irgendwie, aber nicht adäquat verstanden, d.h. miß-verstanden. Diesbezüglich können wir fragen, ob es möglich ist, eine gänzliche Interpretation durchzuführen, und ob sich nur eine solche Interpretation als adäquat erweist. 17 Adäquat muß hier im Gegensatz zum Verstellen und Verschließen der Phänomene verstanden werden und nicht im Gegensatz zu falsch, falsum. Dazu vgl., was Heidegger in der Vorlesung von WS 1942/43: Parmenides (GA 54) darüber sagt, bes. S. 51 ff. Mit falsum und verum hat man das Phänomen der Interpretation schon aus dem Blick verloren. Vgl. ferner P. Emad, Zu Fragen der Interpretation und Entzifferung der Grundlagen der Gesamtausgabe Martin Heideggers, in: Heidegger Studies 9 (1993) S. 161-171. Hier bes. S. 170. (Im folgenden zitiert als: P. Emad, Interpretation und Entzifferung). 18 Vgl. Gunter Scholtz, Was ist und seit wann gibt es „hermeneutische Philosophie"? in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93), S. 104. 19 Dies hat bereits Kant deutlich gesehen: „Man muß seine Beurtheilung vom Ganzen anfangen und auf die Idee des Werks samt ihrem Grunde richten. Das übrige gehört zur Ausführung, darin manches kann gefehlt seyn und besser werden" (Akademieausgabe X V I I I Nr. 5025). Zitiert in: M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding (GA 41), S. 126 (k.g.v.m.).
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Daß eine einseitige Interpretation ein Miß-verständnis ist, bedeutet nicht, daß das Gegenteil, eine vielseitige Interpretation, ein adäquates Verständnis ist. Die Interpretation muß nicht vielseitig sein, um adäquat zu sein; es ist unmöglich und unnötig, die Vielseitigkeit eines philosophischen Denkens im Blick zu haben. Was einer einseitigen Interpretation nicht gelingt, ist, den Ort (τόπος) des Philosophierens zu berücksichtigen. Eine topologische Interpretation enthüllt sich als adäquat, insofern sie den inneren Zusammenhang des Philosophierens im Auge behält. Im genannten Fall ist die Interpretation von Heidegger als Existenzialist ein Mißverständnis, da sie den vorbereitenden Charakter der Existenzialanalyse verkennt, und diese als Hauptanliegen Heideggers betrachtet, ohne den Ort dieser Analyse innerhalb der Fragestellung nach dem Sein überhaupt zu berücksichtigen. In bezug auf den „Inhalt" zeigt sich eine topologische Interpretation dann als adäquat, sagten wir, wenn sie den inneren Zusammenhang der Orte des Philosophierens berücksichtigt. Um aber diese Topologie zu vollziehen, müssen wir über die möglichen Gestaltungen des zu Interpretierenden verfügen. D.h., wir brauchen das Werk als Gestalt des Philosophierens. Deshalb findet sich in bezug auf die inhaltliche Seite der Interpretation eine tatsächliche Grenze: wenn wir nicht oder nur teilweise oder mittelbar über das Werk verfügen können, liegt darin bereits die Gefahr einer einseitigen Auslegung. 20 In der philosophischen Tradition gibt es hierfür zahlreiche Beispiele. Aber auch das Verfügenkönnen über das gesamte Werk ist noch keine Garantie für eine adäquate Interpretation. Selbst wenn wir über das gesamte Werk verfügen können sollten, so ist dieses doch ohne einen sachgemäßen Zugang nicht zu enthüllen. Man kann eine vielseitige Auslegung durchführen, ohne die Grundeinsicht zu entdecken. Erst der methodische Zugang erlaubt das Entdecken der Grundeinsicht. In diesem Sinne meint eine adäquate Interpretation weder eine einseitige noch eine totale Interpretation im Sinne einer vielseitigen, sondern eine topologische, die die Grundeinsicht, dank eines sachgemäßen Zugangs, nicht verliert. Daher müssen wir hier weiter fragen: Wenn eine Interpretation un-adäquat sein kann aufgrund eines Mangels an Materialien, aber ebenso aufgrund eines Überflusses, der die Gefahr enthält, in eine zerstreute Vielfältigkeit zu geraten, wie ist dann eine adäquate topologische Interpretation zu gewährleisten? Wenn wir davon ausgehen, daß alle Interpretationen auf bestimmte Fragen antworten, 21 dann ist die Grundfrage des in Blick genommenen Denkers zu berücksichtigen. Diese Frage nimmt die Form eines Problems 20 Hier muß unterschieden werden zwischen der Konstitution des Werkes als solchen, was Aufgabe einer Edition ist, und dem Zugang zum Werk, was Aufgabe einer Interpretation ist. Wir werden auf diese Punkte in bezug auf das Motto Wege - nicht Werke unter d) in diesem § ausführlicher eingehen.
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
an, 2 2 und dieses kann in einem philosophischen Programm entfaltet werden. 23 Mit ,Programm' als möglicher Darstellung des Grundansatzes ist nicht eine bloße Summe von Ideen gemeint, sondern es muß als die mögliche Entfaltung der Grundeinsicht des jeweiligen Philosophierens verstanden werden. Die Berücksichtigung des philosophischen Programms als einer Form, durch welche eine adäquate Interpretation vollzogen werden kann, wurde oftmals in der philosophischen Forschung vergessen. 24 Zwei große, in der vorliegenden Untersuchung analysierte Denker unterliegen diesem Schicksal. Die Grundfragen Diltheys und Heideggers sind es, die dergestalt vergessen wurden oder in den Hintergrund gerieten. Lange Zeit litt die Sekundärliteratur unter einem zweifachen Manko: einerseits mangelte es ihr an einem unmittelbaren Zugang zum Werk, andererseits an der Blickrichtung auf das jeweilige philosophische Programm. M.a.W., es gab keinen direkten Zugang zu den Quellen aufgrund des nicht vollständig veröffentlichten Werkes, und das bereits Veröffentlichte wurde nicht unter Berücksichtigung des ursprünglichen philosophischen Programms betrachtet. Interpretationen, die Dilthey als „feinsinnigen Geisthistoriker" oder als „unsystematischen Philosophen" 25 oder Heidegger als „Lebensphilosophen" oder „Existenzialist" bezeichnen, wären hierfür als Beispiele zu nennen. Dilthey hat sein philosophisches Programm in der Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften dargestellt. 26 Die Gliederung dieses Programms enthielt einen historischen und einen systematischen Teil. Ersterer 21 Dazu vgl. was Heidegger im WS 1920/21 schreibt: „Fragen ist vor-läufig, ist im „Antworten"" (GA 61, S. 190) Ferner vgl. J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt, 1991, S. 151 ff. 22 In der ersten ,Marburger Vorlesung' schreibt Heidegger, daß „ein Problem [...] eine in bestimmter Weise ausgebildete und ausdrücklich gestellte Frage [ist]", GA 17, S. 73. 23 Dazu vgl. R. Thurnher, Heideggers „Sein und Zeit" als philosophisches Programm, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 11 (1986), S. 29-51. 24 Man verfehlt die Sache, wenn man sich schlechthin auf die viel zitierte Maxime Kants stützt: „den Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand", mit der Idee, daß dieses „besser zu verstehen" ein „anders zu verstehen" meint. „Besser zu verstehen" muß vielmehr heißen, den Autor von sich selbst her zu verstehen, besser als er sich selbst verstand. 25 O. F. Bollnow berichtet über einen derartigen Ruf Diltheys in: Wilhelm Diltheys Stellung in der deutschen Philosophie. Zur Geschichte der Dilthey-Edition und Dilthey-Rezeption, in: Studien zur Hermeneutik Bd. I, Freiburg/München, 1982, S. 184. Heidegger bezieht sich auch auf das, was über Dilthey gesagt wurde in GA 59, S. 153. Vgl. ferner SuZ, S. 397 ff. Rickert wird 1920 über Dilthey schreiben: „Er ist auch als Philosoph Historiker geblieben", Die Philosophie des Lebens, S. 46. Husserl hat 1925 von Dilthey geschrieben, daß er „ [ . . . ] vielmehr ein Mann genialer Gesamtintuitionen als der Analysen und abstrakter Theoretisierungen [war]" (Hua IX, S. 6-7).
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
erschien zu Lebzeiten Diltheys, doch der zweite wurde damals nicht publiziert. Aus verschiedenen Gründen konnte ein großer Teil des systematischen Teils erst 100 Jahre später erscheinen. 27 Mit dieser Veröffentlichung wurde ersichtlich, inwieweit das Programm Diltheys nicht abgebrochen, sondern immer weiter durchgeführt wurde. Leider haben sich die ersten Interpretationen nur auf den zu Lebzeiten veröffentlichten Teil begrenzt und den Blick nicht auf die ursprüngliche Gliederung des Programms gerichtet. 2 8 Es schien, Dilthey habe sein Grundanliegen fallengelassen und sich auf andere Gebiete und Probleme konzentriert. Mit dem Erscheinen des fehlenden Werks ist das ursprüngliche Programm wiederbelebt worden: die Frage nach der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Sie war immer die leitende Frage Diltheys geblieben. Und diese erkenntnistheoretisch bestimmte Fragestellung ist sinnvoll, begrifflich. Deshalb muß es abgelehnt werden, Diltheys Philosophie als Irrationalismus, Psychologismus, Historismus, usw. zu interpretieren. Wir wissen heute, daß alle diese ,-ismen' nur einseitige Interpretationen sind. Heidegger seinerseits hat seine philosophische Frage in ,Sein und Zeit 4 ausdrücklich gestellt. 29 Der Weg zu dieser Fragestellung war ein langer Weg, er umfaßte einen Zeitraum langer Jahre der Auseinandersetzung mit Husserl, Aristoteles, Dilthey, dem Neukantianismus, usw., in welchem er selber nichts veröffentlichte. 30 Diese Jahre der Auseinandersetzung dienten 26 Vgl. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, in: GS 1, S. X V X X . Ferner § 7 in dieser Arbeit. 27 Dazu vgl. F. Rodi und H. Johach, Vorbericht der Herausgeber der GS X I X , S. I X - X I V . 28 Für eine ausführliche Betrachtung der Rezeption Diltheys vgl. H. U. Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft, Freiburg, 1984. S. 14-22. In bezug auf den systematischen Ansatz in den frühen Plänen Diltheys vgl. H. Johach, Handelnder Mensch und objektiver Geist. Zur Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften bei Wilhelm Dilthey, Meisenheim am Glan, 1974, S. 10 ff. 29 Vgl. SuZ, S. 2. 30 In Aus einem Gespräch von der Sprache sagt der Japaner zu Heidegger: „Darum haben Sie auch zwölf Jahre geschwiegen" in: UzS, S. 92. In einem 1922 an Jaspers gerichteten Brief wird die Verhaltensweise, zu welcher die ernsthafte Beschäftigung mit der Philosophie führt, herausgehoben: „Und wenn man sie [Philosophie als Aufgabe, das eigene Leben in seinen Grundintentionen zu fassen, Α. X.] mit Ernst im ständigen lebendigen Hinblick hat auf die Frage der Explikation des Seinssinnes von Leben als des Gegenstandes, den wir sind und damit jeglicher Umgang und jede Besorgung - jede Bewegtheit als Sorgen im weitesten Sinne, dann wird man sich aus inneren Respekt vor dem Gegenstand, mit dem man philosophierend umgeht, von selbst davor bewahrt sehen, sich zu äußern, nur damit publiziert ist" (Briefe H-J, S. 27 f.). Dieser „innere Respekt" vor dem Gegenstand der Philosophie, nämlich dem faktischen Leben, führte Heidegger zur ernsthaften Fragestellung und zu entsprechenden Untersuchungen, die nicht auf bloße Publikation abzielten. Das 12jährige Schweigen Heideggers sollte in diesem
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
nicht einfach der Wiederholung der überlieferten Philosophie, sondern waren die Vorbereitung für das ausdrückliche Stellen der Seinsfrage, wie sie zunächst in der Form der Frage nach der Seinsweise des Menschen als Existenz Gestalt annahm. Die Frage nach dem Sein in seiner Zugehörigkeit zum Wesen des Menschen als Grundfrage Heideggers blieb sein ganzes Werk hindurch bestehen, sie nahm nur verschiedene Gestaltungen. In diesem Sinne ist diese Frage der Grund des philosophischen Programms Heideggers. Sich ausschließlich auf schon veröffentlichte Texte stützend, haben viele Interpretationen dies jedoch vergessen und der Philosophie Heideggers verschiedene „Etikette" angehängt. Die Einseitigkeit dieser Interpretationen beruht somit auf dem Vergessen der Grundeinsicht seines Philosophierens. Aber aus bestimmten Gründen wurde diese Grundfrage Heideggers in SuZ sehr dicht dargestellt, 31 und durch das Fehlen eines adäquaten Zugangs sind viele Mißverständnisse entstanden. Ohne einen sachgemäßen Zugang und weitere Klärungen ist eine adäquate Interpretation fast unmöglich. In diesem Sinne bieten die frühen Auseinandersetzungen einen möglichen Zugang zur Problemstellung in SuZ. Die jüngste Veröffentlichung der frühen Vorlesungen, in denen die genannten Auseinandersetzungen stattgefunden haben, trägt insofern zur adäquaten Interpretation des Grundansatzes Heideggers bei, d. h. zur Fragestellung nach dem Sein, zunächst in der Gestalt der Frage nach dem Sein des Fragenden. In einem 1922 geschriebenen Lebenslauf, als ,vita' gekennzeichnet, hat Heidegger die Bedeutung dieser frühen Vorlesungen herausgehoben: Die Untersuchungen auf denen die vollständig ausgearbeiteten Vorlesungen gründen, haben das Ziel einer systematischen phänomenologisch-ontologischen Interpretation der Grundphänomene des faktischen Lebens, das seinem Seinssinn nach als historisches' Leben verstanden und nach seinen Grundverhaltensweisen des Umgehens mit und in einer Welt (Umwelt, Mitwelt, Selbstwelt) zur kategorialen Bestimmung gebracht wird (GA 16, S. 44, k.g.v.m.).
In diesem Sinne versucht die vorliegende Untersuchung das oben genannte zwiefache Manko der Interpretation in bezug auf Heidegger zu beseitigen: einerseits durch einen direkten Zugang zu den Ursprungstexten, d.h. zu den frühen Vorlesungen Heideggers und nicht in Anlehnung an mittelbare Quellen, 32 und andererseits unter Berücksichtigung des philosophiSinne als ein ernsthafter Respekt vor der philosophischen Problematik verstanden werden. 31 Vgl. die „tatsächlichen Beweggründe" der Veröffentlichung von SuZ in: H. Ott, Martin Heidegger: Unterwegs zu seiner Biographie, S. 120-127; R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland, S. 148-168. 32 Vor 1985, dem Jahr, in dem die Veröffentlichung der Dozenten-Vorlesungen begann, war der Zugang zum frühen Heidegger nur mittelbar möglich. Fast alle vor 3 Xolocotzi
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
sehen Programms, nämlich der Frage nach dem Sein i n seiner Zugehörigkeit z u m Wesen des Menschen als Dasein bzw. faktisches Leben. b) D e r O r t der Vorlesungen Heideggers innerhalb seines Denkens E i n direkter Zugang zu den Quellen bedeutet i n diesem Zusammenhang das Verfügen über die seit 1985 veröffentlichten frühen sungendie
innerhalb der Gesamtausgabe
, Freiburger
Vorle-
Heideggers erschienen s i n d . 3 3
Bevor w i r m i t der Entfaltung der Thematik beginnen, müssen wichtige Punkte i n bezug auf die Vorgehensweise erläutert werden. Dazu gehört, w i e schon erwähnt wurde, ein klares Verständnis des Ortes der Vorlesungen in bezug auf die Philosophie Heideggers und auf die Phänomenologie überh a u p t . 3 4 U n d dies führt uns zu einigen Anmerkungen i n bezug auf ihre Edition und Interpretation. D i e Veröffentlichung der gesamten Vorlesungen Heideggers hat bisher eine doppelte „ U n v o l l s t ä n d i g k e i t " gezeigt: eine tatsächliche, auf ihre Edition, tion? 5
und eine kontextuelle,
d.h. i n bezug
d.h. i n bezug auf ihre
Interpreta-
D i e tatsächliche „ U n v o l l s t ä n d i g k e i t " bezieht sich einerseits auf die
diesem Jahr geschriebenen Studien hatten Pöggelers Der Denkweg Martin Heideggers als Grundlage, so z.B. Karl Lehmann, Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger, in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966), S. 126-153. Auf der ersten Seite schrieb Lehmann: „Das gegenwärtige Thema ist noch schwieriger als andere Versuche, die Bewegung des Heideggerschen Denkens in den Jahren der Vorbereitung auf „Sein und Zeit" deutlich zu machen. Die Quellenlage ist so spärlich, daß man das gewagte Unternehmen fast aufgeben möchte" (k.g.v.m.). In der Erforschung des frühen Heidegger sind neben den schon erwähnten folgende Ausarbeitungen zu erwähnen, die als Pioniere einen Zugang zur Vorgeschichte von SuZ versucht haben: H. G. Gadamer , Wahrheit und Methode, Tübingen, 1960, bes. S. 240-256 (Im folgenden zitiert als: Gadamer, WuM); ders., Martin Heidegger und die Marburger Theologie, in: O. Pöggeler (Hrsg.), Heidegger: Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Köln und Berlin, 1969; W. J. Richardson, Heidegger. Through Phenomenology to Thought, The Hague, 1963; Th. Sheehan, The „original form" of Sein und Zeit: Heideggers Begriff der Zeit (1924), in: Journal of the British Society for Phenomenology 10 (1979), S. 78-83. 33 Die einzige Dozenten-Vorlesung, die im Rahmen der GA noch nicht veröffentlicht ist (bis 2000), ist die Vorlesung vom SS 1922, Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik (GA 62). Es befindet sich aber eine verfügbare Nachschrift von W. Bröcker im Herbert-Marcuse-Archiv in Frankfurt a.M. 34 Dazu vgl. die einleuchtende Auslegung in bezug auf die frühen Vorlesungen, die Kalariparambil in § 6 seiner Dissertation durchführt, Kalariparambil, S. 67-74. 35 Dazu vgl. F.-W. v. Herrmann, Die Edition der Vorlesungen Heideggers in seiner Gesamtausgabe letzter Hand, in: Heidegger Studies 2 (1986), S. 153-172; ders., Edition und Interpretation. Die Edition der Vorlesungen Heideggers in seiner
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
35
Handschriften und andererseits auf die Mitschriften, die für die Edition der jeweiligen Vorlesungen gebraucht wurden. Heideggers Vorlesungsmanuskripte bestehen zuweilen nur aus einer Folge von Leitworten, zu denen im mündlichen Vortrag dann ausführlichere Erläuterungen gegeben wurden. 36 Die Mitschriften wurden teilweise vollständig aufgeschrieben und teilweise nur partial. Einige wurden nur satzweise oder gedächtnisweise aufgeschrieben. An diese Art von Schriften dachte Heidegger möglicherweise, wenn er 1953/54 in einem Gespräch mit einem Japaner von „trüben Quellen" sprach. 37 Wenn jedoch Heidegger alle Mitschriften der Vorlesungen für „trübe Quellen" gehalten hätte, hätte er sich nicht zu einer Gesamtausgabe entschlossen, denn diese wäre dann eine „trübe Ausgabe" 38 und in diesem Sinne sinnlos für das Verstehen seines Philosophierens gewesen. Vollständige Mitschriften gibt es jedoch z.B. von Simon Moser, der jede von ihm besuchte Vorlesung mitstenographiert und sie danach maschinenschriftlich übertragen hat. 3 9 Diese Mitschriften enthalten eine vollständige Idee dessen, was Heidegger vorgetragen hat. Die „Unvollständigkeit" der Vorlesungen betrifft jedoch nicht nur ihre tatsächliche Ausarbeitung, sondern auch ihren Ort im Denken Heideggers. Die Vorlesungen sind nicht eigenständig, unabhängig, sondern gehören in die zentralen Ausarbeitungen Heideggers. Die Vorlesungen als Text müssen m.E. im Kon-text betrachtet werden. Der Kon-text der Vorlesungen kann als a) Unter-wegs, b) Über-gang oder c) Er-gänzung beschrieben werden. 40 Diese drei Worte deuten auf ein „Zentrum" hin: Unterwegs ist immer ein Gesamtausgabe letzter Hand, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 78, Dez. 1982, S. 85-102; ders., Wirkungen der Martin Heidegger-Gesamtausgabe, in: M. Happel (Hrsg.), Heidegger neu gelesen, Würzburg, 1997, S. 87-96; P. Emad, Interpretation und Entzifferung. 36 Vgl. F.-W. v. Herrmann, Die Edition der Vorlesungen Heideggers in seiner Gesamtausgabe letzter Hand, S. 157. 37 In UzS sagt Heidegger in bezug auf die Vorlesung vom SS 1920 folgendes: „Nachschriften sind freilich trübe Quellen; überdies war die Vorlesung sehr unvollkommen", S. 91. In fragmentarisches' erinnert sich Hartmut Buchner an das, was Heidegger darüber geäußert hat: „Sie wissen doch, was ich in ,Unterwegs zur Sprache' und auch sonst zuweilen über Vorlesungsnachschriften gesagt habe, daß sie nämlich trübe Quellen sind. Dabei bleibe ich, und hoffe nur, daß es mir nicht einmal ähnlich ergeht wie Hegel" in: G. Neske (Hrsg.), Erinnerung an M. Heidegger, 1977, S. 50. 38 Wir werden sehen, daß Heidegger eine bestimmte Idee von einer solchen Ausgabe hatte. Und diese Idee wird in den Richtlinien der Edition durchgeführt. In diesem Sinne kann man sagen daß sich die Editionsvorstellung Heideggers gegenüber den üblichen Editionsvorstellungen durchgesetzt hat. Deshalb muß sein Entschluß zu einer GA als Entschluß zu einer durch eine bestimmte Vorstellung bedingten Edition betrachtet werden, aber im keinen Fall als eine „Resignation", wie Pöggeler andeutete, vgl. Der Denkweg, Nachwort zur dritten Auflage, S. 344. 39 Vgl. v. Herrmann, Die Edition der Vorlesungen ..., S. 157. *
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
„unterwegs zu etwas", ein Übergang ist immer ein „Übergang von etwas zu etwas 44 und eine Ergänzung ist immer „Ergänzung von etwas". Ohne dieses „etwas" als zentrale Perspektive sind das zu und das von unverständlich. Das Zentrum im Denken Heidegger war, wie schon bemerkt, die Frage nach dem Sein. Diese wurde in zwei Hauptgestalten entfaltet: in der fundamentalontologischen und in der seynsgeschichtlichen Blickbahn. Die „Konkretion" der ersteren ist ,Sein und Zeit', die der zweiten sind die ,Beiträge zur Philosophie 4 . In diesem Sinne können wir SuZ und die B e i träge zur Philosophie4 als die zentralen Perspektiven bzw. Hauptwerke Heideggers kennzeichnen. 41 Wir haben den Kon-text der Vorlesungen mit drei Termini charakterisiert. Der erste bezeichnet die Vorlesungen, die sich als Unterwegs betrachten lassen. Dazu gehören die fFV und die Marburger Vorlesungen. Dies wurde von Heidegger selbst in ,Mein Weg in die Phänomenologie4 rückblickend bestätigt: Aber der Weg des Fragens wurde länger als ich vermutete. Er forderte viele Aufenthalte, Umwege und Abwege. Was die ersten Freiburger und dann die Marburger Vorlesungen versuchten, zeigt den Weg nur mittelbar" (ZSD, S. 87, k. und f.g.v.m.) 42
Die zweiten, die Übergangs^orlesungen, sind die, die zwischen den beiden genannten Blickbahnen oder zentralen Perspektiven den Weg sichtbar machen, d.h. die Vorlesungen, die auf ein Zwischen hindeuten. Heidegger verweist z.B. in einem Brief an H. Arendt (15. Dezember 1952) auf die Vorlesung von SS 1935: ,Einführung in die Metaphysik 4 (GA 40) als eine solche Übergangsvoriesung: „Die gesonderte Veröffentlichung [...] soll [...] erscheinen, als eine Art Einleitung, die zugleich etwas vom Weg zwischen SuZ und den ,Holzwegen 4 sichtbar macht" (Briefe Η-A, S. 136 f.). 4 3
40 Die Interpretation der Vorlesungen Heideggers erschöpft sich nicht in diesen Kennzeichnungen. Hier geht es nur darum, eine allgemeine Annäherung an die Vorlesungen in ihrem ex-zentrischen Charakter zu erreichen, d. h. in bezug auf die zentralen Perspektiven Heideggers. 41 F.-W. v. Herrmann hat in verschiedenen Schriften gezeigt, wie diese „zwei Wege" Heideggers zu verstehen sind. Vgl. z.B. v. Herrmann, Wahrheit-Zeit-Raum, in: E. Richter (Hrsg.), Die Frage nach der Wahrheit, Frankfurt a.M., 1997. S. 243256, hier bes. S. 244; ders., Die „Beiträge zur Philosophie" als hermeneutischer Schlüssel zum Spätwerk Heideggers, in: M. Happel (Hrsg.), Heidegger neu gelesen, S. 75-86 (Im folgenden zitiert als: v. Herrmann, Die „Beiträge zur Philosophie"); ders., Heideggers Philosophie der Kunst, S. 14 ff., ders., WiE. 42 Das „Mittelbare" des Weges deutet auf den Weg als Unter-wegs hin. 43 Ferner schreibt v. Herrmann dazu: „Die Freiburger Vorlesungen zwischen 1930 und 1936 lassen den Wandel zum seynsgeschichtlichen Denken nur allmählich und in zurückhaltender Weise sehen", WiE, S. 17.
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
Die dritten, die Ergänzungs-Vorlesungen, sind die Vorlesungen, die sich erstens als Fortsetzung der Hauptwerke konstituieren und zweitens als Klärungen darin enthaltener schwieriger Textpassagen. Ein Beispiel für ersteres ist die Vorlesung vom SS 1927, ,Die Grundprobleme der Phänomenologie4 (GA 24), die die „zweite Hälfte" von SuZ bildet. Ein Beispiel für das zweite ist die Vorlesung von WS 1928/29 ,Einleitung in die Philosophie' (GA 27), die eine ergänzende Beleuchtung der im transzendierenden Dasein geschehenden Zusammengehörigkeit von Weltverständnis und Seinsverständnis anbietet. Sofern diese Arbeit von den fFV handelt, müssen wir die unter erstens genannten Vorlesungen erläutern. Hier können wir uns folgendes fragen: Wie kann festgestellt werden, daß die fFV nur ein Unterwegs zu SuZ sind? Warum können sie nicht als eine selbständige Thematisierung betrachtet werden? Die Antwort darauf gibt Heidegger selbst 1927 in einem Brief an K. Löwith: Ich interessiere mich offengestanden nicht für meine Entwicklung, aber wenn sie zu Sprache kommt, dann darf man sie nicht kurzatmig aus der Folge von Vorlesungen und dem hier lediglich Mitgeteilten zusammensetzen. Diese kurzatmige Betrachtung vergißt nach rückwärts und vorwärts die zentralen Perspektiven und Antriebe (Briefe H-L, S. 37, k.g.v.m.).
In diesem Sinne sagten wir, daß SuZ als eine zentrale Perspektive betrachtet werden muß und sich die Vorlesungen nur als ein Unterwegs zu SuZ konstituieren. 44 Hier müssen wir uns klar machen, daß ,SuZ' in verschiedenen Bedeutungen gebraucht wird. Wir können drei Bedeutungen unterscheiden: Erstens bezieht sich der Ausdruck ,SuZ' auf die unter dem Titel ,SuZ' veröffentlichten Abschnitte Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins und Dasein und Zeitlichkeit. Dies ist die engere Bedeutung von SuZ. Zweitens kann ,SuZ' auch die gesamte Gliederung des geplanten Werkes meinen, d.h. die drei Teile, so wie sie im § 8 des ersten Abschnitts dargestellt wurden (SuZ, S. 39-40). Dies wäre SuZ im weiten Sinne. Drittens kann SuZ der übergreifende Titel für die transzendental-horizontal verfaßte Zusammengehörigkeit vom Sein und Dasein sein, d.h. SuZ im weiteren Sinne. Die letzte Bedeutung geht über SuZ als Schrift oder Projekt hinaus. SuZ in diesem Sinne deutet auf die an Transzendenz und Horizont geknüpfte Blickbahn hin. Im weiteren wird dies ausführlicher erläutert werden.
44 In der Vorlesung von WS 1935/36, ,Die Frage nach dem Ding' (GA 41), äußert Heidegger seine Einstellung gegenüber Vorlesungen: „Diese [die überlieferte Logik-Vorlesung Kants, Α. X.] ist überhaupt mit Vorsicht zu Rate zu ziehen; denn 1. sind Vorlesungshefte und Nachschriften ohnehin eine fragwürdige Sache, besonders in Abschnitten, die schwierige Dinge erörtern". S. 154 f. (k. g.v.m.).
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
c) Die Bedeutung von ,Sein und Zeit6 für die Auslegung des früheren Denkens Heideggers Es stellen sich zwei Fragenkomplexe: 1. Ist SuZ im engeren Sinne nicht eine „seltsame Veröffentlichung" 45 d. h. aus „speziellen Gründen" entstanden? Und war SuZ deshalb nicht eine „Improvisation" oder eine „Verunglückung"? Inwiefern kann es also als der Ort einer zentralen Perspektive betrachten werden? 2. Verglichen mit der Gliederung im § 8 des ersten Abschnitts ist das erschienene Werk „unvollständig" 4 6 Warum ist nicht das ganze Werk erschienen? D.h., warum wurde SuZ im weiten Sinne nicht vollständig vollzogen? Warum sind nur der erste und zweite Abschnitt des ersten Teils erschienen? In bezug auf den ersten Fragekomplex ist hier zu sagen, daß die Charakterisierung von SuZ als „Improvisation" oder „Verunglückung" Interpretationen sind, die versuchen, SuZ als einen „schwächeren Ausdruck" der „vorherigen Philosophie" Heideggers hervorzuheben und dieses Werk nicht als den Ort der zentralen Perspektive der fundamentalontologischen Blickbahn, d.h. SuZ im weiteren Sinne, zu sehen. Wir werden die genannten Charakterisierungen kurz erläutern, damit ihre Einseitigkeit aufgezeigt werden kann. H. G. Gadamer schreibt in bezug auf SuZ (im engeren Sinne) folgendes: „SuZ müssen wir anders, als es im allgemeinen geschieht, als eine sehr schnell zusammenmontierte Publikation ansehen, in der Heidegger gegen seine tiefsten Intentionen sich noch einmal der transzendentalen Selbstauffassung Husserls angepaßt hat". Und einige Zeilen später: „Jedenfalls war die Entstehungsgeschichte von Sein und Zeit die Geschichte einer echten Improvisation - natürlich auf der Basis einer überreichen Vorbereitung" 4 7 Diese Auslegung stellte SuZ nicht als eine zentrale Perspektive oder als das erste, größte Werk Heideggers, sondern als ein abgeschwächtes Werk dar. Das, was Heidegger vor diesem Buch geschrieben hat, war demnach „tieferes" Denken.
45 In ,Mein Weg in die Phänomenologie' schreibt Heidegger: „Bei Gelegenheit der seltsamen Veröffentlichung von „Sein und Zeit" [...]", ZSD, S. 88. 46 Vgl. SuZ, S. 39 f. 47 Gadamer , Erinnerungen an Heideggers Anfänge, in: Dilthey Jahrbuch 4 (1986-87), S. 13-26. Hier S. 16. In dieser irrigen Interpretationslinie schreibt Figal in Wie philosophisch zu verstehen ist. Zur Konzeption des Hermeneutischen bei Heidegger, S. 137: „In SuZ bleibt das Konzept einer Philosophie als Hermeneutik oder anders gesagt: einer hermeneutischen Philosophie seltsam blaß; und vielleicht ist das ein Anzeichen für seine Disparatheit im Rahmen des Buches".
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen' G. Figal hat i n ,Heidegger zur E i n f ü h r u n g ' 4 8 zwei Zitate aus Heideggers Briefwechsel
i n bezug auf
SuZ
äußert. Das erste Zitat entstammt einem B r i e f an M a x K o m m e r e l l
entnommen, i n denen sich Heidegger
vom
4. August 1942. D i e ganze Textstelle lautet: Sie haben recht, die Schrift ist ein ,Unglück'. Auch ,Sein und Zeit' war eine Verunglückung. Und jede unmittelbare Darstellung meines Denkens wäre heute das größte Unglück. Vielleicht liegt darin ein erstes Zeugnis dafür, daß meine Versuche zuweilen in die Nähe eines echten Denkens kommen. Alles aufrichtige Denken ist zum Unterschied der Dichter in seinem unmittelbaren Wirken eine Verunglückung. 49 Figal n i m m t für seine Darstellung aus dieser Textstelle nur den Satz: „Sein und Zeit war eine Verunglückung", wodurch der Kontext verloren g e h t . 5 0 SuZ war nicht eine „Verunglückung", w e i l das Werk als solches gescheitert ist, sondern w e i l das philosophische Werk als solches „ i n seinem unmittelbaren W i r k e n "
immer
scheitert. Hier liegt ein Unterschied
zur
Dichtung.51 Das andere Zitat entstammt dem Briefwechsel Heideggers m i t E. Blochmann. I n dem B r i e f von 20. Dezember 1935 schreibt Heidegger: Beiläufig mehren sich die Blätter in einem Umschlag, der überschrieben ist: Kritik zu „Sein und Zeit". Langsam verstehe ich dieses Buch, dessen Frage ich jetzt deutlicher begreife; ich sehe die große Unvorsichtigkeit, die in dem Buche steckt, aber vielleicht muß man solche „Sprünge" machen, um überhaupt zum Sprung zu kommen. Es gilt jetzt nur, dieselbe Frage noch einmal zu stellen, viel ursprünglicher und viel freier von allem Zeitgenössischen und Gelernten und Gelehrten (Briefe Η-B, S. 87 f.). Das Zitat deutet noch einmal auf kein bloßes Scheitern hin, sondern auf eine Unvorsichtigkeit.
Diese wurde ihrerseits nur gesehen, w e i l die Frage
von SuZ deutlicher begriffen wurde. Es geschieht hier eine Umdeutung
der
Frage.52
48 G. Figal, Heidegger zur Einführung, Hamburg, 1996, S. 49 (im folgenden: Figal, HzE). 49 Max Kommereil, Briefe und Aufzeichnungen 1919-1944, hrsg. von I. Jens, Olten/Freiburg, 1967, S. 405. 50 Es ist wichtig, hier zu bemerken, daß die Darstellung des Zitats seitens Figal ein gutes Beispiel dafür ist, wie man in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht zitieren darf, nämlich nur einen Satz, ohne den Kontext zu berücksichtigen. 51 In diesem Brief geht es um eine Antwort auf die Anmerkungen von Kommerell zu Heideggers „Hölderlins Hymne ,Wie wenn am Feiertage' ...". Vgl. den Brief von Kommerell an Heidegger vom 29. Juli 1942 in: Ebd. S. 396-402. 52 Vgl. F.-W. v. Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Meisenheim am Glan, 1964, S. 9 (im folgenden: v. Herrmann, Die Selbstinterpretation). Ferner vgl. § 30 der vorliegenden Untersuchung.
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
Das Begreifen der Frage von SuZ geschah im Übergang von der Fundamentalontologie zum seynsgeschichtlichen Denken. In diesem Sinne wird dieselbe Frage gestellt, aber nicht mehr fundamentalontologisch, sondern seynsgeschichtlich.53 Damit die Umdeutung der Frage Heideggers deutlicher wird, muß hier kurz der Zusammenhang zwischen beiden Blickbahnen erläutert werden. Als Heidegger die Anweisungen für die Veröffentlichung seiner Gesamtausgabe gegeben hat, ordnete er an, daß vor dem Erscheinen der ,Beiträge' als der zentralen Perspektive der seynsgeschichtlichen Blickbahn die fundamentalontologischen Vorlesungen schon veröffentlicht sein müßten. 54 In einem Brief von Heidegger an W. Richardson, der als ,Vorwort' fungiert hat, weist Heidegger deutlich auf die Beziehung zwischen beiden Blickbahnen hin: Ihre Unterscheidung [von Richardson, Α. X.] zwischen „Heidegger I " und „Heidegger I I " ist allein unter der Bedingung berechtigt, daß stets beachtet wird: nur von dem unter I Gedachten her wird zunächst das unter II zu Denkende zugänglich. Aber I wird nur möglich, wenn es in II enthalten ist (Brief H-R, S. 401, k.g. v.m.).
Dies bedeutet: Heidegger stellt nicht zwei philosophische Fragen in zwei Blickbahnen, sondern dieselbe Frage in zwei Perspektiven. Die Fragestellung der fundamentalontologischen Blickbahn (Heidegger I) konnte erst erblickt werden, als Heidegger sich schon in der anderen Blickbahn (Heidegger II) befand. In diesem Sinne müssen wir das Zitat des Briefes an E. Blochmann als eine Übergangsbemerkung verstehen, aber keinesfalls als Beweis für das Scheitern von SuZ, wie Figal zu zeigen glaubte. Figal schreibt weiter, daß es nicht notwendig sei „auf die Selbstzeugnisse Heideggers zurückzugreifen, um zu zeigen, daß Sein und Zeit „eine Verunglückung" war. Das Buch ist Fragment geblieben [...]" (HzE, S. 49). 5 5 Hier 53 In diesem Sinne sagt Richardson, daß die von ihm gekennzeichnete , Heidegger I I Periode' eine Wiederholung der ,Heidegger I Periode' ist. Vgl. W. J. Richardson, Heideggers Weg durch die Phänomenologie zum Seinsdenken, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964-65), S. 385-396. Hier bes. S. 396. 54 Vgl. F.-W. v. Herrmann, Die „Beiträge zur Philosophie", S. 76 Fußnote 8; ders., Nachwort des Herausgebers, in: GA 65, S. 512 ff.; P. Emad, ,Heidegger I', ,Heidegger I I ' , and Beiträge zur Philosophie (vom Ereignis), in: Β. E. Babich (Hrsg.), From Phenomenology to Thought, Errancy and Desire: Essays in Honor of William J. Richardson, Dordrecht, 1995, S. 129-146. 55 In bezug auf die „nicht verwirklichten Teile" des Programms Heideggers vgl. I. Fehér, Die Unabgeschlossenheit von „Sein und Zeit", in: Concordia 16 (1989), S. 15-31; ders., Identität und Wandlung der Seinsfrage. Eine hermeneutische Annäherung, in: Martin Heidegger Supplementband zu Mesotes, 1990, S. 105-119. Hier bes. S. 110 f.; R. Thurnher, Heideggers „Sein und Zeit" als philosophisches Programm.
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können wir an den oben erläuterten zweiten Fragenkomplex bzw. an Gadamers Charakterisierung von SuZ als eine „sehr schnell zusammenmontierte Publikation" anknüpfen: an die „Unvollständigkeit" von SuZ. 5 6 Mit dem Erscheinen des Briefwechsels Heidegger-Jaspers ist es möglich geworden, die Geschichte der Veröffentlichung von SuZ besser zu verstehen. Am 24. April 1926 schreibt Heidegger an Jaspers: „Ich habe am 1. April den Druck meiner Abhandlung „Sein und Zeit" begonnen. Sie umfaßt ca. 34 Bogen" (Briefe H-J, S. 62). Mit „Druck" meint Heidegger den Fahnensatz. Aus Heideggers eigener Mitteilung ist uns bekannt, daß die ersten Niederschriften der Abhandlung auf das Jahr 1923 zurückgehen. 57 Heideggers Mitteilung an Jaspers enthält auch die Einschätzung des geplanten Umfangs der Schrift. „34 Druckbogen hätten 544 Druckseiten ergeben, während die 1927 erschienene „Erste Hälfte" knapp 28 Bogen mit 438 Seiten umfaßt". 58 Drei Monate später schreibt Heidegger: Mein Druck ist bis Ende Juni gut fortgeschritten. Dann wuchs mir die Semesterarbeit über den Kopf, da ich den ganzen Examenskram an mir hängen habe. Anfang Juni hat die Fakultät den 1. Teil meiner Arbeit in Reindruck in zwei Exemplaren dem Ministerium eingereicht und noch einmal betont, daß sie an ihrem Vorschlag festhalte (Briefe H-J, S. 66).
Am 4. Oktober 1926 schreibt Heidegger: Ich hatte Mitte des Sommersemesters den Druck sistiert und kam, als ich nach ganz kurzer Erholung wieder an die Arbeit ging, ins Umschreiben. Die Arbeit ist umfangreicher geworden als ich dachte, so daß ich jetzt teilen muß auf je ungefähr 25 Bogen. Den Rest für den ersten Band muß ich bis 1. November abliefern (ebd., S. 67).
Dank dieser Zitate können wir einige wichtige Punkte der Entstehungsgeschichte von SuZ herausheben: Was Heidegger umschreibt, ist nicht das ganze Werk, sondern das, was hier der „zweite Teil" genannt wird. Dafür gibt es zwei Belege: 1. Im vorangegangenen Brief schrieb er, daß der erste Teil der Arbeit schon im Reindruck vorlag. 2. Die ursprüngliche Gliederung der Arbeit wurde nicht geändert (vgl. § 8 von SuZ). Dennoch wurde die Arbeit insgesamt umfangreicher als gedacht: Im April schätzte Heidegger den Umfang noch auf 34 Bogen, aber im Oktober hatte er die Vermutung, daß SuZ aus ca. 50 Bogen, d.h. 800 Seiten bestehen werde. Heidegger wollte die Arbeit deshalb in jeweils ca. 25 Bogen teilen. Der erste Teil hatte schließlich 28 Bogen und bildet den veröffentlichten Teil von SuZ 56 Für eine ausführliche Geschichte der Veröffentlichung von SuZ vgl. v. Herrmann, Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie". Zur „Zweiten Hälfte" von „Sein und Zeit", Frankfurt a.M., 1991, S. 13-18. (Im folgenden zitiert als: v. Herrmann, Heideggers „Grundprobleme"). 57 UzS, S. 95. Ferner vgl. v. Herrmann, WiE, S. 13. 58 v. Herrmann, Heideggers „Grundprobleme", S. 14.
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
mit den beiden Abschnitten: Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins und Dasein und Zeitlichkeit. Was Heidegger mit dem „Rest" meinte, bildet den dritten Abschnitt Zeit und Sein des ersten Teils und den zweiten und dritten Teil. Aber hier wird man wiederum die Frage stellen: Warum ist dieser „Rest" als solcher nie veröffentlicht worden? Als Heideggers Antwort können wir zwei Textstellen heranziehen, die schon aus der Perspektive des seynsgeschichtlichen Denkens geschrieben wurden. 1941 schreibt er in bezug auf den dritten Abschnitt Zeit und Sein: Denn der dritte Abschnitt des 1. Teils „Zeit und Sein" erwies sich während der Drucklegung als unzureichend. (Der Entschluß zum Abbruch wurde gefaßt in den letzten Dezembertagen 1926 während eines Aufenthaltes in Heidelberg bei K. Jaspers, wo mir aus lebhaften freundschaftlichen Auseinandersetzungen an Hand der Korrekturbogen von „Sein und Zeit" klar wurde, daß die bis dahin erreichte Ausarbeitung dieses wichtigsten Abschnittes (I, 3) unverständlich bleiben müsse [...]) (GA 49, S. 39 f.).
Die andere Textstelle ist das bekannte Zitat aus dem ,Humanismusbrief, 1946: „Der fragliche Abschnitt [ZuS] wurde zurückgehalten, weil das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte und so mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam" (GA 9, S. 328). Damit haben wir zwei Gründe für den Abbruch von SuZ: Einen technischen Grund, das „Umfangreiche" der Schrift, und einen wesentlichen Grund, das „Unverständliche" oder „Unzureichende" des Sagens der „Sprache der Metaphysik". Heidegger meinte mit dem „Unzureichenden" in bezug auf die Sprache der Metaphysik nicht, daß die vorbereitende Daseinsanalytik selbst, d.h. die Enthüllung der Daseinsstruktur, und die Ausarbeitungen der Seinsfrage im dritten Abschnitt als solche im Ganzen unzureichend und in diesem Sinne gescheitert waren. Das „Unzureichende" dieser Sprache verweist vielmehr auf die an die Transzendenz und den Horizont geknüpfte Blickbahn, in welcher SuZ und ZuS gedacht wurden. 59 Dies läßt sich folgendermaßen erläutern: Im 1. und 2. Abschnitt wird das Dasein und seine seinsverstehende Existenz freigelegt. Der Grund des Daseins, d.h. der geworfene Seinsentwurf, wird als ein Transzendieren gedeutet. Im dritten Abschnitt Zeit und Sein wird dieses Transzendieren in bezug auf die horizontale Aufgeschlossenheit des nichtdaseinsmäßigen Seins als Präsenz freigelegt. Transzendenz und Horizont deuten dann auf die Blickbahn hin, in welcher zunächst die Frage nach der Seinsweise des Menschen und die Frage nach dem Sein überhaupt entfaltet wurde. Diese Deutung erwies sich von der später gewonnenen Einsicht, nämlich von der seynsge59
S. 30.
Dazu vgl. v. Herrmann, Die „Beiträge zur Philosophie", S. 80; ders., WiE,
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
schichtlichen Blickbahn her als unzureichend, aber dieses Unzureichende der Sprache von Transzendenz und Horizont ist nicht gleichzusetzen mit einem Scheitern des gesamten Projekts SuZ. Man kann sagen, daß sich die Grenzen von SuZ in der an Transzendenz und Horizont geknüpften Sprache befinden. Das Aufgeben dieser Blickbahn geschieht als das Aufgeben von Transzendenz und Horizont als Deutungen der in SuZ und ZuS gestellten Frage nach der Existenz als Seinsweise des Menschen und nach dem Sein des nicht daseinsmäßigen Seienden. 60 Wir haben weiter oben SuZ als den Ort charakterisiert, wo die Grundfrage Heideggers eigens entfaltet wird. In diesem Sinne sagten wir, daß sich SuZ als Programm des philosophischen Wegs Heideggers zeigt. Die Tatsache, daß der geplante „Rest" von SuZ, besonders ZuS, aus den genannten Gründen nicht zusammen mit dem 1. und 2. Abschnitt veröffentlicht wurde, bedeutet nicht, daß dieser nicht zu SuZ im weiten und weiteren Sinne gehört. Der „Rest" wurde zwar von Heidegger selbst vernichtet, 61 aber der 3. Abschnitt Zeit und Sein als der wichtigste Teil des Nicht-Veröffentlichten wurde ein zweites Mal ausgearbeitet. Darin wollte Heidegger das ausdrücken, was er sich von Anfang an vorgenommen hatte. Diese zweite Ausarbeitung findet sich in der Vorlesung vom SS 1927, ,Die Grundprobleme der Phänomenologie'. 62 Damit kann man SuZ nicht als ein „Scheitern" schlechthin betrachten, wie Gadamer, Figal oder Pöggeler meinen, sondern als einen komplexen Zusammenhang, in dem man die gewonnenen wesentlichen Strukturen nicht einfach fallenlassen kann. Vielmehr werden sie in einer neuen Blickbahn umgedeutet. Nur die horizontal-transzendentale Perspektive wird beiseite gelassen. Der Grundansatz Heideggers bleibt auch in der anderen Blickbahn die Grundlage. 63 Dies bestätigt Heidegger auch 1953 in der Vorbemerkung zur siebenten Auflage von SuZ:
60
Vgl. P. Emad, ,Heidegger I ' ... S. 131 ff. G A 66, S. 413: „Aber der eigentliche „systematische" Abschnitt über Zeit und Sein blieb in der ersten Ausführung unzureichend und äußere Umstände (das Anschwellen des Jahrbuchbandes) verhinderten zugleich glücklicherweise die Veröffentlichung dieses Stückes, zu der ohnehin beim Wissen um das Unzureichende kein großes Vertrauen war. Der Versuch ist vernichtet, aber sogleich auf mehr geschichtlichem Wege ein neuer Anlauf gemacht in der Vorlesung vom S.S. 1927", k.g. v.m. 62 Dies ist von Heidegger in der Handschrift gekennzeichnet: „Neue Ausarbeitung des 3. Abschnittes des 1. Teiles von ,Sein und Zeit'". Die Grundprobleme der Phänomenologie (GA 24), S. 1. 63 Wie sich „Heidegger I " in „Heidegger I I " befindet, wurde besonders von P. Emad in ,Heidegger Γ ... S. 134 ff. und von P.-L. Coriando in ,Der letzte Gott als Anfang' nachgewiesen. 61
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
Die in den bisherigen Auflagen angebrachte Kennzeichnung „Erste Hälfte" ist gestrichen. Die zweite Hälfte läßt sich nach einen Vierteljahrhundert nicht mehr anschließen, ohne daß die erste neu dargestellt würde. Deren Weg bleibt indessen auch heute noch ein notwendiger, wenn die Frage nach dem Sein unser Dasein bewegen soll.
Damit ist klar gesagt, daß der in SuZ dargestellte Weg der Seinsfrage ein notwendiger in der umgedeuteten Fragestellung nach dem Sein konstituiert. Die Position Gadamers oder Figals in bezug auf SuZ und auf die fFV können wir nach einem Aufsatz von Gethmann als „evolutionistische Interpretation" bezeichnen. 64 D.h., sie betrachten den Weg von den Vorlesungen zu SuZ als eine deszendente Entwicklung, und demzufolge konstituiert sich SuZ als eine „Improvisation" oder „Verunglückung". Nach dieser Interpretation könnten die fFV unabhängig von SuZ gelesen werden. Sie enthalten ein „eigenes philosophisches Projekt", eine „eigene und eigentlichere Philosophie". Aber wenn die fFV als Unterwegs zu kennzeichnen sind und SuZ als Ziel oder Zentrum, dann muß die Interpretation der Vorlesungen aus SuZ heraus bestimmt werden. Dies wird von Heidegger-Forschern wie z.B. O. Pöggeler nicht anerkannt, weil sie - mit den Worten Gethmanns - in „pluralistischer Weise" interpretieren; d.h., sie sehen verschiedene „Etappen" oder „Wege" und „Phasen" Heideggers, in denen es keine Kontinuität gibt, weder ascendent noch deszendent.65 Somit wären die fFV ein Weg Heideggers neben anderen. Pöggeler argumentiert, daß die fFV insofern einen Weg für sich bilden, als in ihnen der Versuch liegt, die formale anzeigende Hermeneutik als „Logik der Philosophie" zu interpretieren. In diesem Sinne gäbe es keine unmittelbare Verbindung zu SuZ. 6 6 Auch diese Interpretation der Vorlesun64
Carl F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 und ihr Verhältnis zu „Sein und Zeit", in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-1987), S. 27-53. Hier S. 28. 65 Ebd. S. 27-28. Die Interpretation von verschiedenen unabhängigen Wegen hat zur Folge, daß sich die frühen Vorlesungen für sich interpretieren lassen, d.h. ohne Berücksichtigung von SuZ. In dieser Interpretationsrichtung wurden schon einige Dissertationen geschrieben, z.B. die Arbeit von Georg Imdahl, Das Leben Verstehen. Hermeneutik der Faktizität und formale Anzeige in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen, Universität Witten/Herdecke, 1994 oder die Arbeit von In-Suk Kim, Phänomenologie des faktischen Lebens: Heideggers formal anzeigende Hermeneutik (1919-1923), Frankfurt a.M., 1998. Auch die Kommentare von van Buren begehen diesen Interpretationsfehler, z.B. schreibt er in The young Heidegger and phenomenology: „ [ . . . ] I want to argue, first, that his [Heideggers] youthful, phenomenological Denkweg in the early twenties is a unique period in his development and thus cannot be absorbed into either his Being and Time or his later writings [...]", in: Man and World 23 (1990), S. 239-272. Hier S. 239.
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gen zeigt eine mögliche unabhängige Philosophie. Ein Zusammenhang mit den „anderen Wegen" ist nicht notwendig. Aber ist dies zutreffend? Gibt es bei Heidegger verschiedene Wege? Pöggeler deutet auf den Leitspruch der Gesamtausgabe hin: Wege - nicht Werke. Damit will er bestätigen, daß es doch verschiedene Wege gibt: „Heidegger selbst hat der Gesamtausgabe seiner Werke das Motto vorangestellt: „Wege - nicht Werke"; er hat damit sogar eine Pluralität von Wegen für sein Denken beansprucht". 67 Vorher war die Rede von zwei Blickbahnen. Ist dies mit der Möglichkeit verschiedener Wege gleichzusetzen? Wir müssen hier die Beziehung Wege-Werke näher erläutern, damit wir den Ort der Vorlesungen deutlicher sehen können. d) Das Verständnis des Weges Heideggers in bezug auf seine Werke Am 10. März 1972 schreibt Heidegger an H. Arendt: „Ich kann mich nicht mit einer Gesamtausgabe vorstellen; diesem Klassizismus möchte ich entgehen" (Briefe Η-A, S. 230). Aber zwei Jahre später schreibt er folgendes: „Inzwischen hast Du vermutlich vernommen, daß ich mich zu einer Gesamtausgabe entschlossen habe, genauer: zur Verzeichnung der Richtlinien für sie" (ebd., S. 251). 6 8 Aus diesen Briefen kann man sehen, daß die Edition der Werke Heideggers keine gleichgültige Angelegenheit war, sondern in strenger Verbindung mit seinem Denkweg stand. Wenn sich Heidegger bis 1972 nicht für eine Gesamtausgabe entschieden hatte, hatte dies seinen Grund in den üblichen Modellen anderer Editionen, z.B. der Werke Hegels oder Husserls. 69 Wenn Heidegger schreibt, daß er über „die Verzeichnung der Richtlinien" der Gesamtausgabe nachdenke, bedeutet dies, daß er eine andere Konzeption im Blick hat, nämlich eine Ausgabe gemäß seines Denkens. Welches Fundament, das den Weg und das Werk zu verbinden vermag, haben diese Richtlinien? 70 66 Im Nachwort zur dritten Auflage von ,Der Denkweg M. Heideggers' schreibt Pöggeler: „Achtet man auf die Schritte, die Heidegger auf seinem Weg tat, dann kann man die fFV überhaupt nicht unmittelbar mit SuZ verbinden: zwischen beiden Positionen liegt Heideggers Versuch, die formal anzeigende Hermeneutik als „Schematisierung" auszubilden" (S. 354). Und einige Seiten später: „Gegenüber dem transzendentalen Ansatz Husserls suchte Heidegger jedoch die formal anzeigende Hermeneutik als Logik der Philosophie überhaupt durchzusetzen" (S. 363) (k.g.v.m.). 67 Ebd., Nachwort zur zweiten Auflage, S. 300. 68 Nach Angaben von F.-W. v. Herrmann fällte Heidegger die Entscheidung für die GA im September 1973, vgl. Nachwort des Herausgebers im Band 66 der GA, S. 433.. 69 In bezug auf die Edition der Vorlesungen Hegels vgl. Buchners Beitrag in: G. Neske (Hrsg.), Erinnerung an M. Heidegger, S. 50. In bezug auf Husserliana vgl. Brief an Arendt vom 17. September 1974 in: Briefe Η-A, S. 251-52.
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Der Grund der Richtlinien für die Edition ist der Sinn derselben. In einem geplanten Vorwort für die Gesamtausgabe erläuterte Heidegger, dieser Sinn sei „das Wecken der Auseinandersetzung über die Frage nach der Sache des Denkens". 71 In der Sache des Denkens finden wir die entscheidenden Einsichten, um das Werk in den Weg einzubeziehen. Das Denken kann verschiedene Gestaltungen annehmen, aber es bleibt immer „etwas": „Das Bleibende im Denken ist der Weg", sagte Heidegger 1953/ 54 (UzS, S. 99). Der Weg als das, was im Denken bleibt, ist dann die Sache des Denkens. Diese ist, wie wir schon wissen, die Frage nach dem Sein. 72 Laut W. Bröckers Manuskript hat Heidegger im SS 1922 bemerkt, daß „die Weise des Zugangs zum Sein [...] die der Bewahrung des Weges [ist] (SS1922, S. 65). In diesem Sinne ist die Frage nach dem Sein als ein Weg, als eine Aufgabe zu verstehen. Der Weg als die offene Frage bleibt im Denken, er ist der „Gehalt" des Denkens. Als Gehalt taucht er irgendwo im Denken auf. Das Wie ist gerade das sich Wandelnde der Gestalt der Aufgabe. Die Frage nach dem Sein als Weg des Denkens bleibt, aber sie zeigt, wie wir schon erläutert haben, verschiedene Gestaltungen: die fundamentalontologische und die seynsgeschichtliche. In diesem Sinne ist verständlich, daß Heidegger das sich wandelnde Fragen als einen Weg versteht: als offene Möglichkeiten der einen Aufgabe, und nicht als verschiedene Wege. Weil es ihm nur um eine Frage mit verschiedenen Gestaltungen ging, darf man nicht von Wegen sprechen, 73 sondern von einem Weg, der sich in zwei Blickbahnen vollzieht. Der Terminus „Blickbahn" deutet dann auf die verschiedenen Gestaltungen der Aufgabe des Denkens.
70 Bezüglich der Edition der GA Heideggers vgl.: F.-W. v. Herrmann, Nachwort des Herausgebers, in: GA 1 (1978), S. 4 3 7 ^ 4 0 und GA 5 (1977), S. 377-382. Ferner vgl. F.-W. v. Herrmann, Die Edition der Vorlesungen Heideggers in seiner Gesamtausgabe letzter Hand; ders., Edition und Interpretation. Die Edition der Vorlesungen Heideggers in seiner Gesamtausgabe letzter Hand; ders., Wirkungen der Martin-Heidegger-Gesamtausgabe; F. J. Wetz, Wege - Nicht Werke. Zur Gesamtausgabe Martin Heidegger, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987) S. 444-455; D. O. Dahlstrom, Hermeneutische Fraugen an Heideggers Gesamtausgabe, in: Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S. 189-196. 71 Prospekt des Verlags Klostermann: M. Heidegger, Gesamtausgabe. Ausgabe letzter Hand, Stand März 2000, S. 3. 72 Vgl. z.B. was Heidegger im Text an J. Beaufret 1946 diktiert: „Aufgrund meiner eigenen philosophischen Entwicklung, die ihren Ausgang nahm bei einer schon am Gymnasium begonnenen und wieder fortgesetzten Beschäftigung mit Aristoteles, war für mich die Frage τ ί τό öv immer die philosophische Leitfrage geblieben." Heidegger, Die Grundfrage nach dem Sein selbst, in: Heidegger Studies 2 (1986), S. 1 (wiederabgedruckt in GA 16, S. 423-425). 73 In bezug auf den Weg vgl. der Aufsatz Gadamers Der eine Weg Martin Heideggers, in: Gesammelte Werke Band 3, Tübingen, 1987. S. 417-430.
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen W i r sagten, daß das Werk das Wecken der Auseinandersetzung
über die
Sache des Denkens zur Aufgabe hat. M . a . W . , es hat die Aufgabe, die bleibende Frage nach dem Sein als Weg über die verschiedenen Gestaltungen des Denkens hinweg aufzuwecken. Das Werk als die Schrift versucht, den Weg des Fragens m i t den verschiedenen Gestaltungen des Denkens zu verbinden. Das Bleibende zeigt sich dabei durch alle Schriften hindurch, wenn auch i n verschiedenen Gestaltungen. Sofern aber die Absicht der Werke das Wecken dieser
bleibenden
Frage
i n ihren verschiedenen Gestaltungen ist,
dann muß dieses Wecken ebenso i m Vordergrund der E d i t i o n stehen. 7 4 Heidegger bestätigt dies i n dem geplanten Vorwort: „ D i e Vielzahl bezeugt nur die bleibende fachen
Fragwürdigkeit
Anlaß zur Selbstprüfung".
15
der Seinsfrage
der
und gibt
Bände mannig-
I m Hintergrund bleibt dann zunächst
die
74 Heidegger selbst schreibt im geplanten Vorwort, was die GA sein muß und was nicht: „Es handelt sich um das Wecken der Auseinandersetzung über die Frage nach der Sache des Denkens [...] und nicht um die Mitteilung der Meinung des Autors und nicht um die Kennzeichnung des Standpunktes des Verfassers und nicht um die Einordnung in die Reihe anderer historisch feststellbarer philosophischer Standpunkte", Verlagsprospekt, S. 3. 75 Verlagsprospekt S. 3. Die Bezeichnung der G A als „Ausgabe letzter Hand" versucht die Besonderheit der Aufgabe zu zeigen: keine „völlig freie Edition", aber auch keine in erster Linie philologisch zentrierte. Der Titel „Ausgabe letzter Hand" deutet auf die Haupteditionsrichtlinie der G A hin, was aber nicht heißt, wie Th. Kisiel meint, daß nur die Schriften aus Heideggers Hand berücksichtigt werden müssen. Kisiel sagt, daß es eigentlich keine „letzte Hand" gibt, da die Handschrift und die Mitschriften einen „Mischtext" konstituieren (Th. Kisiel, Edition und Übersetzung. Unterwegs von Tat-sachen zu Gedanken, von Werken zu Wegen, in: D. Papenfuss und O. Pöggeler (Hrsg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 3, Frankfurt a.M., 1990. S. 97). Hier müssen wir im Blick behalten, daß das Wecken der Frage nicht nur schriftlich vollzogen wurde, sondern auch mündlich. In diesem Sinne ist auch das von Heidegger Vorgetragene und von den Schülern Aufgeschriebene zu berücksichtigen. Aber dies meint nicht einfach eine Mischung von Wörtern, was als „Mischtext" verstanden werden könnte, sondern das vollständige Denken Heideggers in der jeweiligen Vorlesung. Die Berücksichtigung beider Quellen, d.h., der Handschriften und Mitschriften, führen zu einem Interpretationsproblem, das nur im Rahmen der Konzeption ,Werk' zu lösen ist. Kisiel versucht in verschiedenen Schriften (vgl. Th. Kisiel, ebd.; ders., Heidegger's Early lecture Courses, in: J. J. Kockelmans (Hrsg.), A Companion to Martin Heidegger's ,Being and Time', Washington D.C., 1986, S. 22-39; ders., The Genesis) zu zeigen, daß in der Edition der GA notwendige Prinzipien einer Edition übersehen wurden. Kisiel denkt die Prinzipien innerhalb einer zunächst philologisch konzipierten, und nicht durch den Weg des Denkens bestimmten Edition (Kisiel bezieht sich auf die Prinzipien der klassischen Philologie: recensio, examinatio, divinatio und emendatio in: Edition und Übersetzung ... S. 99 ff.). Werk muß bei Heidegger jedoch nur als Weg gedacht werden. In dieser Hinsicht sind die technischen Interpretationsprobleme der Quellen nur durch die Zusammengehörigkeit Werk-Weg zu lösen. Kisiel schreibt ferner, daß die Bezeichnung „Ausgabe letzter Hand" auf ein „ahistorisches Prinzip" hindeutet, insofern als die „Entwicklungsphasen des Textes ver-
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Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen'
philologische Problematik. 76 In diesem Sinne sind die Vorlesungen als Teil des Weges zu interpretieren. Wenn also der Weg des Fragens im Vordergrund steht und die frühen Vorlesungen ein Unter-wegs sind, dann ist das ,-weg ' in Unter -wegs als vordergründig zu betrachten. e) Die sachgemäße Betrachtung einer „Genealogie" von ,Sein und Zeit 6 Mit dem, was bisher gesagt wurde, ist deutlich geworden, daß die fFV als Werk nur als Weg verstanden werden dürfen. Dieser Weg ist, wie oben schon gesagt wurde, ein Unterwegs, weil die Vorlesungen sachgemäß nur aufgrund ihres Ziels zu denken sind. Wenn dies richtig verstanden wird, können Irrwege wie die Kisiels vermieden werden. Er versucht anhand der fFV eine „Genealogie" von SuZ herauszuarbeiten. „Genealogie" kann hier zweifach verstanden werden: einerseits als Genesis, als Beginn von SuZ als Philosophie, d.h. von SuZ im weiteren Sinne, und andererseits als Genesis des Logos (eigentlich Genea-logie) von SuZ, wie Kisiel in der Einleitung seiner ,Genesis of Heidegger's Being and Time' sagte, als eine „Begriffsgeschichte". 77 In bezug auf die erste Betrachtungsweise ist hier zu sagen, daß eine Genealogie bereits dann den Weg verfehlt, wenn die Genesis nicht aus dem Ziel heraus angegangen wird. In den ,Zollikoner Seminaren' bezieht sich Heidegger auf genetische Erklärungen und schreibt, daß „[...] alles Erklärenwollen durch Genese überhaupt nicht das in der thematischen Sicht [hat], was erklärt werden soll. Alles Erklären setzt die Klärung des Wesens dessen voraus, was erklärt werden soll" (Zollikoner Seminare, S. 266). E. Ströker gibt diese Grundeinsicht in folgender Weise wieder: „Anfänge lassen sich nur von dem her freilegen, wozu sie geführt haben. Ihr Finden ist ein Zurückfinden von höchst vermittelter A r t " . 7 8 In diesem Sinne
wischt werden" (ebd.). Wie wir schon angedeutet haben, darf man den Weg Heideggers nicht als eine „chronologisch bestimmte Zeitfolge" verstehen, in der es Sinn machen würde, von „Entwicklung" oder „Phasen" zu sprechen. Dazu vgl. Kalariparambil, S. 67-74, ferner: T. Kalariparambil, Toward Sketching the „Genesis" of Being and Time, in: Heidegger Studies 16 (2000), S. 189-220. 76 Das Projekt einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Heideggers ist nicht ausgeschlossen, sie kann nach der Aneignung der Sache des Denkens durchgeführt werden. Diese Aneignung und nicht der philologische Apparat war für Heidegger das Entscheidende. 77 „It would establish why and how the various conceptual Gestalts take shape and are sometimes undone and replaced or reshaped, eventually finding their place within the fabric of BT", The Genesis, S. 3. Ferner vgl. F. Schalow, Questioning the Search for Genesis: A Look at Heidegger's Early Freiburg and Marburg Lectures, in: Heidegger Studies 16 (2000), S. 167-188.
Einleitung: Das faktische Leben und die frühen ,Freiburger Vorlesungen
müssen wir sagen, daß der philosophische Gehalt der fFV qua Anfänge von SuZ nur im Hinblick auf SuZ zu verstehen ist. Andernfalls könnte man sich in einer bloßen Sammlung von „Einflüssen" oder „Richtungen" verlieren, woraus zwar eine ausgefeilte Arbeit entstehen kann, die aber kein Aufnehmen und Mitfragen im Denken selbst ist. Heidegger hat sich im SS 1931 deutlich dazu geäußert: Mit der albernen Frage ,Von wem hat er's, was er da sagt?', mit der man die Philosophie der Philosophen zu erforschen glaubt, hat man sich schon ausgeschlossen aus der Möglichkeit, je von einer Philosophie betroffen zu werden. Jeder wirkliche Philosoph steht neu und allein inmitten derselben wenigen Fragen, und so, daß ihm kein Gott und kein Teufel helfen kann, wenn er nicht sich aufgemacht hat, selbst Hand anzulegen an die Arbeit des Fragens (GA 33, S. 28, k.g.v.m.).
Eine Genesis-Untersuchung unabhängig von der Konkretion oder dem Ziel kann nur zu einer Summe von Zitaten oder Textstellen oder zu einem Zusammenrechnen von historischen Einflüssen werden. Um dies zu vermeiden und vielmehr den Sinn, den Gehalt und das Problemempfinden eines Philosophierens adäquat zu behandeln, muß die Vorgangsweise unserer Untersuchung von Anfang an den Sinn des Unterwegs berücksichtigen, d.h. die Konkretion des Unterwegs: ,Sein und Zeit 4 . Auch die Idee einer Genea-logie im wörtlichen Sinne, d.h. einer Begriffsgeschichte, trifft nicht die echten Motive des Problems und bleibt nur ein semantisches Problem; und die Semantik ist, wie schon Gadamer einmal sagte „die äußerlichste Haut des Lebens des Gedankens". 79 Wenn sich die Diskussion nur auf die Begrifflichkeit konzentriert, dann treten die Begriffe in den Vordergrund und nicht der sich umwandelnde Weg des Denkens. Wenn die Begriffe im Vordergrund stehen, dann ist es sinnvoll, eine genauere Datierung der Einführung der Termini und ihre Entwicklung darzustellen. Wenn die Begriffe aber nicht das Primäre sind, sondern, wie Heidegger sagte, nur als formale Anzeige zu betrachten sind, dann ist die Begriffsgeschichte eine sekundäre Angelegenheit. Die Begriffe sind nur im Dienste der Phänomene zu verstehen und nicht umgekehrt. In dieser Richtung muß der im SS 1925 ausgesprochene Leitsatz „[...] zuerst die Phänomene, dann die Begriffe!" (GA 20, S. 342) verstanden werden. 80 Daraus folgt: Wenn der Weg in den Vordergrund tritt, erfahren die Begriffe ihre sachgemäße Behandlung. Eine philologische Edition stellt die Begriffe in 78 E. Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, Frankfurt a.M., 1987, S. 58 (k.g.v.m.). 79 H. G. Gadamer, Erinnerungen an Heideggers Anfänge, in: Dilthey Jahrbuch 4 (1986-87), S. 26. 80 Ferner vgl. R. Thurnher, Zu den Sachen Selbst! - Zur Bedeutung der phänomenologischen Grundmaxime bei Husserl und Heidegger, in: A. Schramm (Hrsg.), Philosophie in Österreich 1996, Wien, 1996, S. 261 ff. 4 Xolocot/.i
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den Vordergrund, während die Edition der Werke als Weg primär den philosophischen Weg des Denkens aufzeigt. Beide aufgewiesenen Interpretationsrichtungen - die „evolutionistische Interpretation", wie sie von Gadamer oder Figal, und die „pluralistische Interpretation", die von Pöggeler und Kisiel vertreten wird - haben demnach das Gemeinsame, daß sie die fFV unabhängig von SuZ auslegen; beide betrachten die Vorlesungen als ein abgeschlossenes Werk und nicht ein Unterwegs zu SuZ. Demgegenüber haben wir erläutert, daß eine sachgemäße Betrachtung die fFV als Unterwegs zum ,Sein und Zeit' erfolgen sollte. Im Laufe der vorliegenden Untersuchung wird sich diese Einsicht verdeutlichen.
§ 3. Aufbau der Untersuchung Wenn wir den Begriff faktisches Leben in der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers lesen, liegt, wie früher bereits erwähnt, die Gefahr nahe, diesen Begriff bloß äußerlich anhand der damaligen philosophischen Diskussion zu verstehen. Faktisches Leben würde in dieser Lesart nur als ein „Modebegriff verstanden. Damit wir uns vor diesem Mißverständnis hüten können, nimmt unsere Untersuchung gerade bei der damaligen Diskussion ihren Ausgang. Dadurch setzen wir uns in die Lage, eine Kontrastierung mit dem Ansatz der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers durchzuführen, an deren Ende sich zeigen wird, worin die Eigenartigkeit und Radikalität der hermeneutischen Phänomenologie besteht, und warum faktisches Leben kein „Modebegriff sein kann. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in zwei Teile: den Vorbereitenden Teil und den Hauptteil. Der Vorbereitende Teil stellt, ausgehend von der damaligen Diskussion, den im Laufe der abendländischen Philosophie vorherrschenden Zugang zum Leben und Erleben dar: den erkenntnistheoretischen Zugang zum Leben. Im Hauptteil geht die Analyse zur erstmals in der abendländischen Philosophie entfalteten Möglichkeit eines a-theoretischen „Zugangs" zum Leben über. Der erkenntnistheoretische Zugang zum Leben kann wiederum zweifach gesehen werden: 1. der erkenntnistheoretische, aber nicht phänomenologische Zugang zum Leben und 2. der phänomenologisch-erkenntnistheoretische Zugang. In bezug auf 1. werden wir die Analyse des Zugangs zum Leben in der neukantianischen Wertphilosophie (Rickert) und bei W. Dilthey ausarbeiten. Auf die Frage, warum wir gerade diese Autoren wählen, können wir zwiefach antworten: zum einen haben beide Ausarbeitungen, Heideggers späteren rückblickenden Äußerungen zufolge, einen besonderen Platz in den phi-
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losophischen Lehrjahren des jungen Heidegger. Zum anderen wird in der Sekundärliteratur oft diese Nähe Heideggers zu Rickert und Dilthey als „Einfluß" betrachtet. Im ersten und zweiten Kapitel des vorbereitenden Teils werden wir daher den Ansatz Rickerts und Diltheys betrachten. Damit kann die Untersuchung, nachdem der Ansatz Heideggers im Hauptteil freigelegt sein wird, eine Kontrastierung der aufgewiesenen Denkansätze durchführen und sehen, ob man in der Tat von „Einflüssen" sprechen darf oder ob es sich bei Heidegger nicht vielmehr um eine andersartige Dimension des Philosophierens handelt, die sachlich unter keinem „Einfluß" der überlieferten Philosophie steht. Der Zugang zum Leben in der neukantianischen Wertphilosophie (erstes Kapitel) gliedert sich in drei Paragraphen. Im § 4 wird der bereits im § 1 angedeutete Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Sein und der Frage nach dem Leben herausgehoben, allerdings als der Zusammenhang zwischen dem Kategorienproblem und der Lebensfrage. Auf diesen Zusammenhang haben im letzten Jahrhundert besonders die neukantianische Wertphilosophie und W. Dilthey aufmerksam gemacht. Daher wird in diesem Paragraphen ein erster Blick auf die Fragestellung der Weitphilosophie anhand ihres Begründers W. Windelband geworfen. Da jedoch nicht Windelband, sondern sein Schüler H. Rickert derjenige war, der die Wertphilosophie systematisiert hat, gehen wir im § 5 auf die Grundeinsichten Rikkerts ein. Insbesondere werden die zwei von Rickert ausgearbeiteten Wege der Erkenntnis dargestellt. Dadurch wird der ideal-normativ-teleologische Ansatz der Wertphilosophie ersichtlich und dementsprechend der mögliche Zugang zum Leben. Der neukantianische Zugang zum Leben erfolgt aber nur als ein Zugang zum Leben, insofern dieses als Kulturleben gesehen wird. Leben als Kulturleben bedeutet, die Werte als Güter zu erleben; daher wird Heidegger diese Interpretation als eine „transitive Auslegung des Lebens" charakterisieren. Auf diese gehen wir im § 6 ein. Nach der Entfaltung des ersten Kapitels wird ersichtlich, daß bei Rickert strenggenommen ein Zugang nur zum Kulturleben möglich ist oder sich der Zugang als ein „Denken über das Leben" zeigt, das Leben an sich aber unzugänglich bleibt. Diese Einstellung richtet sich offensichtlich gegen Diltheys Ausarbeitungen. Daher gehen wir im zweiten Kapitel auf Dilthey ein. Im § 7 wird die Bedeutung Diltheys für die hermeneutische Phänomenologie herausgehoben. Dabei zeigt sich die Notwendigkeit, eine sachgemäße Lektüre durchzuführen, die nicht bloß, wie meist in der Sekundärliteratur geschehen, „Einflüsse" aufrechnet. Vielmehr muß, wenn die hermeneutische Phänomenologie keine Übertragung von Diltheys Philosophie ist, genauer betrachtet werden, inwiefern diese dennoch Anstöße gab und worin die wesentlichen Unterschiede liegen. Daher gehen wir im § 8 auf die eigengeartete Fragestellung nach dem Leben in der Philosophie Diltheys ein. *
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Durch den ihm eigenen Ansatz strebt er danach, einen erkenntnistheoretischen, aber nicht naturwissenschaftlich geprägten Zugang zum Leben zu schaffen. Die Frage nach dem Leben Diltheys ist von Hause aus in einen theoretischen Rahmen zu stellen, und hier liegt ihr philosophischer Ort. Sofern Dilthey nicht sah, daß eine erkenntnistheoretische Frage nach dem Leben bereits das Leben vergegenständlicht, kann Heidegger sagen, Dilthey sei unterwegs geblieben. Der erkenntnistheoretische Zugang Diltheys wird im § 9 als ein deskriptiv-teleologisch-hermeneutischer Zugang zum Leben entfaltet. Diltheys Fragestellung nach dem Leben wird im § 10, Heideggers Interpretation folgend, als die „intransitive Auslegung des Lebens" dargestellt, d.h. bei Dilthey wird das Leben nicht als Kultur, sondern als Erlebnis zugänglich. Einen bahnbrechenden Zugang zum Leben bzw. Bewußtseinsleben bildet der Ansatz Edmund Husserls, den wir unter 2. als den phänomenologischerkenntnistheoretischen Zugang zum Leben bezeichneten. Dieser wird im dritten Kapitel ausgearbeitet. Dabei zentriert sich die Darstellung des Husserlschen Ansatzes aus methodischen Gründen auf die Texte, die für die spätere Kontrastierung mit Heidegger in Frage kommen: die L U und die , Ideen Γ . Außerdem sind, wie im Hauptteil nachgewiesen werden wird, diese Texte für das Verstehen der phänomenologischen Beziehung zwischen Husserl und Heidegger von entscheidender Bedeutung. Die Frage nach dem Leben zeigt sich bei Husserl als Frage nach dem Bewußtseinsleben. Dies gilt sowohl für die vortranszendentale wie auch die transzendentale Gestalt seiner Phänomenologie. Um den Weg zwischen diesen beiden Gestalten des Husserlschen Denkens zu beleuchten, gehen wir im § 11 auf allgemeine Betrachtungen der Phänomenologie Husserls hinsichtlich der Frage nach dem Erlebnis bzw. Leben ein. In den §§ 12 und 13 wenden wir uns sodann zwei bestimmten Möglichkeiten der Phänomenologie Husserls zu: der „mundanen" und der transzendentalen Phänomenologie. Im § 12 sprechen wir von einer „mundanen Phänomenologie", insofern sie noch keine transzendentale Phänomenologie ist. Sie wird in der Fundamentalbetrachtung der ,Ideen Γ und ferner in der ,Krisis-Schrift' weiter entfaltet. Im § 13 gehen wir dann zur transzendentalen Phänomenologie in den ,Ideen I' über. Sofern es uns grundsätzlich um die Heraushebung der methodischen Zugangsweisen bei Husserl und Heidegger geht, werden wir in den genannten Paragraphen das Hauptgewicht auf die Momente der von Husserl selbst charakterisierten Zugangsmethode legen, nämlich auf die phänomenologische έποχή und die transzendentale Reduktion. Der Hauptteil unserer Untersuchung richtet sich auf das Verständnis des hermeneutisch-phänomenologischen „Zugangs" zum faktischen Leben anhand der frühen Freiburger Vorlesungen Martin Heideggers. Dieser „Zugang" kann aber nur sachgemäß verstanden werden, wenn zugleich
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seine Absetzung von der Phänomenologie Husserls verstanden wird. Daher entfaltet sich der Hauptteil als eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls. Dieser Teil gliedert sich in sechs Kapitel. Da im Vorbereitenden Teil philosophisch-erkenntnistheoretische Zugänge zum Leben dargestellt wurden, taucht am Anfang des Hauptteils die Frage auf, wie ein nicht-erkenntnistheoretischer „Zugang" zum Leben möglich ist. Diese Frage hängt zugleich von der jeweiligen Idee der Philosophie ab. Ist die Philosophie erkenntnistheoretisch bestimmt, wird auch der Zugang dementsprechend geprägt sein. Die Möglichkeit eines nicht-erkenntnistheoretischen „Zugangs" zum Leben hängt dann von der Möglichkeit einer nichterkenntnistheoretischen Philosophie ab. Daher wenden wir uns im ersten Kapitel der Idee der Philosophie als einer ursprünglichen Wissenschaft zu. Sie wird zunächst im § 14 anhand der von Husserl angestrebten Philosophie als strenge Wissenschaft erläutert. Dieser Konzeption stellen wir im § 15 die von Heidegger seit dem KNS ausgearbeitete vortheoretische Urwissenschaft gegenüber. Die Kontrastierung beider Ansätze bietet einen umfassenden Blick auf die sachgemäße Differenzierung zwischen Husserls und Heideggers Phänomenologie. Der wissenschaftliche Anspruch Husserls wird sich deutlich als eine erkenntnistheoretisch-transzendentale Wissenschaft zeigen, Heideggers dagegen als eine hermeneutisch-vortheoretische Urwissenschaft. Anhand dieser Unterscheidung drängt sich die Frage auf: In welchem Sinne ist der Ansatz Heideggers dennoch phänomenologisch? Da diese Frage in der Sekundärliteratur meist in irriger Weise beantwortet wird, wird es notwendig sein, diesbezüglich ausführlichere Analysen für eine sachgemäße Antwort durchzuführen. Dies bildet die Absicht des zweiten Kapitels. Der Kernpunkt der Analyse liegt dabei in der Unterscheidung der jeweiligen methodischen Behandlungsarten der Phänomenologie bei Husserl und Heidegger. Daher wenden wir uns im § 16 einer ersten Betrachtung des Grundprinzips der Phänomenologie zu. Dabei werden wir sehen, was Heidegger mit Husserl phänomenologisch verbindet. Um eine sachgerechte Differenzierung beider Denker durchzuführen, muß klargestellt werden, wie die vom Prinzip aller Prinzipien geforderte Anschauung zustande kommen kann. Und hier liegt ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen Husserls und Heideggers Ausarbeitungen. Denn die im Prinzip aller Prinzipien gemeinte Behandlungsart geschieht bei Husserl unumgänglich durch Reflexion, bei Heidegger durch Auslegung. Im § 17 werden wir die Reflexion entfalten, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen die im weiten Sinne verstandene Reflexion als die Umwandlung der Erlebnisse, zum anderen die im engen Sinne verstandenen Reflexion als die Blickwendung auf das cogitatum. Auf dieser Grundlage
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gehen wir im § 18 auf den wesenhaft reflexiven Charakter der Anschauung ein, sowohl der sinnlichen als auch der kategorialen bzw. geistig-reflexiven Anschauung. Nach diesen Betrachtungen können wir auf die im § 16 eingehend ausgearbeitete Überlegung über das Grundprinzip der Phänomenologie zurückkommen und eine weitere Analyse des Formalen und des Modifizierten des phänomenologischen Grundprinzips durchführen. Dies konstituiert die Absicht des § 19. Bevor wir auf die ausdrückliche Entfaltung des hermeneutischen Ansatzes Heideggers eingehen, richten wir unseren Blick im § 20 auf die von Paul Natorp gegen die Phänomenologie erhobenen Einwände, damit vor diesem Hintergrund die Radikalität des Heideggerschen Ansatzes deutlicher herausgehoben werden kann. Der Inhalt des § 21 besteht in der Darstellung der hermeneutischen Anschauung bei Heidegger und zwar anhand des Umwelterlebnisses. Somit wird am Ende dieses Kapitels der Unterschied zu Husserls reflexiver Behandlungsart klar ersichtlich werden. Aber wie kommt der a-theoretische „Zugang" zum Leben zustande? Eine erste Annäherung an die Beantwortung dieser Frage wird zunächst im dritten Kapitel stattfinden, und zwar anhand der von Heidegger charakterisierten ersten Zugänglichkeit zum faktischen Leben: anhand der formalen Anzeige. ,Formale Anzeige' ist der Name für den a-theoretischen Charakter der Begrifflichkeit in der hermeneutischen Phänomenologie. Eine allgemeine Betrachtung der formalen Anzeige führen wir im § 22 durch, während wir im § 23 die Motive der terminologischen Prägung ,formale Anzeige' untersuchen. Dies wird anhand der Husserlschen Analysen, besonders in der 1. LU, freigelegt. Die formale Anzeige weist in sich eine Doppelstruktur auf: hinweisend und abwehrend bzw. zurückweisend. Während der hinweisende Charakter der formalen Anzeige im dritten Kapitel entfaltet wird, legen wir im vierten Kapitel den zurückweisenden Charakter der formalen Anzeige als eine eigen geartete Reduktion aus. Daher trägt das viertel Kapitel den Titel Die hermeneutische Reduktion. Im vierten und fünften Kapitel wird die hermeneutische Zugangsmethode als solche entfaltet. Sie wird in drei Momenten expliziert: Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion. Diese Termini entstanden nicht erst in späteren Ausarbeitungen Heideggers, sondern dienen bereits in den fFV dem methodischen „Zugang" zum Leben. Daher wird der hermeneutische „Zugang" anhand dieser drei Momente dargestellt. Sofern in der Rede von Reduktion sofort die Husserlsche transzendentale Reduktion anklingt, heben wir im § 24 deren Unterschied von der jetzt gemeinten hermeneutischen heraus. Im § 25 gehen wir auf den positiven Cha-
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rakter der hermeneutischen Reduktion ein. Dort wird sie als eine Rückführung zum Umwelterlebnis ausgearbeitet. Das erste Moment der hermeneutischen Zugangsmethode durch die Rückführung zum Umwelterlebnis eröffnet die Möglichkeit einer a-theoretischen Thematisierung des Lebens. Dies wird im zweiten Moment als die mitmachende Re-konstruktion entfaltet. Im § 26 gehen wir auf das Verstehen und Interpretieren als die Grundstufen der phänomenologischen Forschung ein. Die Rekonstruktion wird sich als das Ausdrücklichmachen des bereits im Umwelterlebnis unausdrücklich Verstandenen zeigen. Um deutlicher zu sehen, wie der Übergang vom Verstehen zum Interpretieren zustande kommt, rufen wir Aristoteles zu Hilfe. Daher wenden wir uns in § 27 Aristoteles' Ausarbeitung der φρόνησις zu. In Anlehnung an die Aristotelische φρόνησις sehen wir den Anstoß für die systematische Thematisierung des Übergangs vom Verstehen zur Interpretation bei Heidegger. Dabei werden sich zugleich die Grenzen der Aristotelischen Analysen darstellen, nämlich ihre Befangenheit im Theoretischen. Die Reduktion und die Rekonstruktion sind vom dritten methodischen Moment des „Zugangs" begleitet: von der phänomenologischen Destruktion. Die Bedeutung dieser Destruktion werden wir im § 28 ausarbeiten. Mit der Darstellung der drei methodischen Momente wird der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" zum faktischen Leben deutlich erfaßt. Zugleich wird seine Radikalität und Bedeutung herausgehoben. Abschließend wollen wir im sechsten Kapitel einen Rückblick und Ausblick durchführen. D.h., wir wollen dort den Zusammenhang zwischen dem durch die Untersuchung Gewonnenen und dem weiteren philosophischen Weg Heideggers herstellen. Der erste Schritt wird im § 29 als Rückblick auf das bereits Entfaltete vollzogen, während der zweite Schritt, im § 30, in einem Ausblick auf den weiteren Weg Heideggers besteht. Dadurch sollten wir in der Lage sein, den sachgemäßen Ort der frühen ,Freiburger Vorlesungen' auf dem philosophischen Weg Heideggers zu sehen.
Erster Teil
Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben Erstes Kapitel
Der Zugang zum Leben im Neukantianismus § 4. Die Frage nach dem Leben und die Fragestellung der neukantianischen Wertphilosophie a) Das Kategorienproblem und sein Bezug zu der Frage nach dem Leben Das Phänomen Leben war für Heidegger kein neuartiges Thema für eine Vorlesung, an ihm zeigt sich vielmehr eine Kontinuität innerhalb seines Philosophierens. Denn das Problem des „Zugangs" zum Leben hängt mit jener Problematik zusammen, die Heidegger vor seiner Dozentenepoche behandelte: dem Kategorienproblem. Dieses bildete in eins mit dem Bedeutungsproblem das Thema seiner , Habilitationsschrift 4 und bezeichnete so bereits den anfängliche Weg zur Grundproblematik von ,Sein und Zeit': der Frage nach dem Sein. 1972 hat Heidegger sich selbst dazu geäußert: „Gleichwohl zeigen sie [die Frühen Schriften] einen mir damals noch verschlossenen Wegbeginn: in der Gestalt des Kategorienproblems die Semsfrage, die Frage nach der Sprache in der Form der Bedeutungslehre". 1 Dieser Zusammenhang ist verständlich, wenn wir im Blick behalten, daß der Beweggrund für das Fragen Heideggers aus jener Schrift Brentanos kam, die von der Mannigfaltigkeit des Seins handelt: ,Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles'. 2 Durch das Lesen dieses Buches war Hei1
M. Heidegger, Frühe Schriften S. IX (Vorwort zur Einzelausgabe). Ferner vgl., was Heidegger 1953/54 darüber gesagt hat: „ich weiß nur dies eine: weil die Besinnung auf Sprache und Sein meinen Denkweg von früh an bestimmt [ . . . ] " UzS, S. 93. 2 Vgl. M. Heidegger Mein Weg in die Phänomenologie, in: ZSD S. 81; ders., Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, in: Wissenschaft und Weltbild 12 (1959), S. 611; ders., Ein Vorwort. Brief an P. William J. Richardson, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964-65), S. 397. Ferner: v. Herrmann, SuD, S. 17.
1. Kapitel: Der Zugang zum Leben im Neukantianismus
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degger zu der Vermutung gekommen, daß die Frage nach dem τό öv, dem Seienden selbst, in der Philosophie noch nicht erschöpfend behandelt worden ist. Das Seiende in seinem Seiend-sein, in seiner Seiendheit, wurde auf verschiedene Weisen untersucht. Das heißt: das τό öv läßt sich auf mannigfaltige Weisen sagen: πολλαχώς λέγεται. T ò öv kann nach Aristoteles hinsichtlich seiner Kategorien ( κ α τ ά τ ά σχήματα των κατηγοριών), seiner Möglichkeit oder Wirklichkeit ( κ α τ ά δύναμιν ή ένέργειαν), seiner Wahrheit oder Unwahrheit (ώς άληθές ή ψευδός) oder in bezug auf das Zufällige (Akzidentelle) in seiner Seiendheit ( κ α τ ά συμβεβηκός) betrachtet werden. 3 Heidegger stellt sich die Frage, auf welche Art das τό öv zunächst betrachtet und in welcher Hinsicht die Frage nach dem τό öv zunächst gestellt werden solle. In der Habilitationsschrift wählte er einen bestimmten Weg: τό öv hinsichtlich der Κατεγοριαι. Die Κατεγοριαί sind eine Weise des πολλαχώς des λέγεται des τό öv. In ihnen finden sich die allgemeinsten Bestimmungen des τό öv. In diesem Sinne steckt schon im Kategorienproblem in einer bestimmten Weise die Seinsfrage. 4 Im letzten Kapitel seiner ,Habilitationsschrift' deutet Heidegger darauf hin, daß das Kategorienproblem in drei Grundaufgaben zu entfalten ist. Die ,Habilitationsschrift' hat hauptsächlich eine Aufgabe in bezug auf das Kategorienproblem erfüllt: „die charakterisierende Abgrenzung der verschiedenen Gegenstandsbereiche in kategorial aufeinander unreduzierbare Bezirke" (GA 1, S. 342). 5 Darüberhinaus nennt Heidegger nun jedoch 3 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch V I (E) 1026 a 34-b2 ; M. Heidegger, GA 17, S. 51 ff.; ders., GA 33, S. 11-18. 4 A m Ende seiner Dissertation weist Heidegger auf die Aufgabe der reinen Logik und der Erkenntnistheorie hinsichtlich des Vorrangs der Seinsfrage hin. Sie sollen „den Gesamtbereich des „Seins" in seine verschiedenen Wirklichkeitsweisen gliedern" (Frühe Schriften: GA 1, S. 186). Ferner vgl. C.-F. Cheung, Der anfängliche Boden der Phänomenologie, S. 10-11; /. Fehér: Identität und Wandlung der Seinsfrage, S. 111. Fehér hat in diesem Aufsatz auf ein Mißverständnis in der Sekundärliteratur hingewiesen und deren Einseitigkeit aufgezeigt, daß es nämlich eine Spaltung zwischen dem Thema der ersten Schriften und SuZ gäbe (Fehér, S. 106). Pöggeler (Der Denkweg M. Heideggers, S. 27 ff.) und Thomä (Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 96 ff.) versuchen, eine solche einseitige Interpretation durchzusetzen. C. Jamme legt den Weg Heideggers in ähnlicher Weise aus, wenn er schreibt, daß die Seinsfrage die Frage nach dem faktischen Leben ersetze: Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87), S. 73. 5 Vgl. den herausragenden Aufsatz von Fehér Der Junge Heidegger I, in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös Nominatae. Sectio Philosophica et sociologica, S. 163-184. Dazu die Dissertation von Peter von Ruckteschell, Von der Ursprungs Wissenschaft zur Fundamentalontologie. Die Intentionalität als Leitstruktur im frühen Denken Heideggers, Diss. Freiburg, 1998. In bezug auf die Habilitationsschrift bes. S. 22-30. Ferner: C.-B. Gutiérrez, Die Kritik des Wertbegriffes in der Philosophie Heideggers, Diss. Heidelberg, 1976, S. 83 ff.; J. D.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
noch zwei weitere zu erfüllende Grundaufgaben: 1. die Hineinstellung des Kategorienproblems in das Urteils- und Subjektsproblem (ebd., S. 343, f.g.v.m.) und 2. die Deutung der Geschichte als ein bedeutungsbestimmendes Element für das Kategorienproblem (ebd., S. 350). Beide Aufgaben beziehen sich auf Probleme, die zur damaligen Zeit in den verschiedenen philosophischen Richtungen diskutiert wurden. Sie müssen zunächst erläutert werden. Die erste Aufgabe, als Hineinstellung des Kategorienproblems in das Urteils- und Subjektsproblem verweist auf zwei Beziehungen: 1. die Beziehung der Kategorien zum Urteil und 2. die Beziehung der Kategorien zum Subjekt. Seit Aristoteles benennen die Kategorien und das Urteil zwei verschiedene Weisen, in denen sich das πολλαχώς des τό ôv zeigt: zum einen als allgemeinste Bestimmung und zum anderen als Platzhalter der άλήθεια, der Wahrheit. Der Tradition zufolge ist die Kategorie der Platz der allgemeinsten Bestimmung, während das Urteil der Platz der Wahrheit sein soll. Wenn Heidegger hier fragt, wie die Kategorien im Urteil möglich sind, muß man auch die Folgen dieser Frage berücksichtigen, denn die Fragestellung deutet zugleich auf die Frage nach der Beziehung zwischen den allgemeinsten Bestimmungen des τό öv und dem Wahrheitscharakter desselben hin. Wie können sich aber die Bestimmungen in der Wahrheit befinden? Wie können sie wahr sein? Die Beziehung der Kategorien zum Urteil wurde seit dem letzten Jahrhundert in eine Logik hineingestellt, genauer, in ein logisches System. 6 Bei Rickert z.B. nahm dies die Gestalt eines auf transzendentallogischem Weg gewonnenen Wertsystems an, bei Dilthey die einer hermeneutischen Logik. Mit der Logik wird versucht, das Verhältnis zwischen Kategorien und Urteil klarzustellen. 7 In ihr werden die Kategorien irgend wie in das Urteil hineingestellt. Diese , Hineinstellung 4 ist für Heidegger nicht mehr selbstCaputo, Phenomenology, Mysticism and the ,Gramatica Speculativa': A Study of Heidegger's ,Habilitationsschrift', in: Journal of the British Society for Phenomenology V (Mai 1974), S. 101-117; R. M. Stewart , Signification and radical subjectivity in Heidegger's Habilitationsschrift, erstmalig erschienen in: Man and World 12 (1979), S. 360-377. Wiederabgedruckt in: J. J. Kockelmans, A Companion to Martin Heidegger's ,Being and Time', S. 1-21. In bezug auf die in der Habilitationsschrift genannten drei Aufgaben vgl. bes. S. 8-15. 6 Nach Windelbands Auslegung beruht bereits das System der Kategorien bei Kant auf dem System der Urteile, aber der Vorrang des Urteils wurde durch die „Entwicklung der Kategorienlehre von Fichte bis Hegel über den Haufen geworfen" (S. 168). Daher besteht die Aufgabe der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus darin, eine neue Urteilslehre auszuarbeiten. In diesem Zusammenhang ist , Urteilslehre' für Windelband und Rickert gleichzusetzen mit ,Logik' (vgl. Logik S. 168-169).
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verständlich. Sie ist für ihn keine Vor-gabe mehr, sondern eine Auf-gabe. Aber sie ist nicht die letzte Aufgabe, sondern hat noch einen ermöglichenden Grund: das Urteilen ist nur möglich aufgrund einer bestimmten Idee des Urteilenden. Dieser wird hier noch als Subjekt angesprochen. Die Beziehung der Kategorien zum Subjekt deutet auf einen „weiteren" Bereich, der über die Logik hinausgeht. Wenn Logik als eine Denktätigkeit zu verstehen ist, dann ist mit dem Auftreten des Subjekts die Frage nach dem Täter berücksichtigt. Die Idee des Subjekts ist die seit der Neuzeit herrschende Wesensauslegung des Menschen. Diese neuzeitliche Auslegung besagt, daß es eine Substanz gibt, die das Vermögen des Denkens hat: res cogitans. Nur in diesem Zusammenhang ist die Logik möglich. Damit sind die Kategorien und das Urteilen nur in der Subjektivitätssphäre möglich. Dies war selbstverständlich geworden. Indem Heidegger diese Selbstverständlichkeit in Frage stellt, erfährt auch die Frage nach dem Subjekt als Auf-gabe eine Wiederbelebung. Wenn er aber die Hineinstellung zur Aufgabe macht, wie ist dann darin das „Subjekt" zu betrachten, meint es noch das cogito Descartes'? Das zweite der oben genannten Probleme gibt diesbezüglich einen Hinweis: Mit dem Eintreten der Geschichte in das Kategorienproblem kann das Subjekt nicht weiter als cartesianisches cogito verstanden werden; es muß hier eine Wandlung geben, durch die das Subjekt nicht mehr als res cogitans, sondern als res historica betrachtet wird. Das zweite Problem enthält die Aufgabe, das Verhältnis der Geschichte zu den Kategorien zu verdeutlichen. Die Geschichte wird nicht als ein isoliertes Thema für sich betrachtet, sondern konstituiert sich als „ein bedeutungsbestimmendes Element für das Kategorienproblem". Üblicherweise bildete die Geschichte ein Thema für sich, sie trat nicht in Beziehung zu den Kategorien und zu ihrer Hineinstellung in das Urteil und das Subjekt. Die Kategorien waren in diesem Sinne un-geschichtlich. Wenn dagegen jetzt die Geschichte als ein Element für das Kategorienproblem angesehen werden soll, dann geschieht damit eine Vergeschichtlichung der Kategorien. Sie werden geschichtlich interpretiert.
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Bei der Frage nach einer Logik muß das ganze ursprüngliche Motiv Heideggers berücksichtigt werden, denn sie ist nicht einfach eine bloße Suche nach der „Logik der Philosophie" wie Pöggeler meinte, vgl. Der Denkweg, Nachwort zur dritten Auflage, S. 354, 363. Heidegger selbst hat in der Habilitationsschrift von einem „translogischen Gebiet" gesprochen: „Man vermag die Logik und ihre Probleme überhaupt nicht in wahrem Lichte zu sehen, wenn nicht der Zusammenhang, aus dem heraus sie gedeutet werden, ein translogischer wird" (GA 1, S 405). In Anlehnung an die Interpretation Pöggelers hat Imdahl den Bezug zwischen Heidegger und Emil Lask interpretiert, vgl. Das Leben verstehen, bes. IV Erlebensschauplatz und Lichtung: Lask und Heidegger, S. 54-71.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Das Kategorienproblem enthält folglich zwei prinzipielle Seiten: Zum einen wird es in bezug auf ein logisches System, zum anderen in bezug auf die Geschichte ausgelegt. Wie schon bemerkt wurde, enthalten beide Aufgaben Probleme, die irgendwie immer schon Thema der Philosophie waren, die jedoch irgendwie selbstverständlich geworden sind. Diese Themata als Auf-gaben und nicht als Vor-gaben zeigen schon eine erste Kritik an dem bis dahin philosophisch Entfalteten. Wie schon erwähnt, handelte die anfängliche Frage Heideggers von den Kategorien. Diese sagen seit Aristoteles, was die Sachen sind. Sie sind eine Weise des πολλαχώς vom λόγος des τό öv. Das Kategorienproblem wurde aber in der Neuzeit im cogito und in der Subjektivität verankert. Die Frage nach den allgemeinsten Bestimmungen des τό öv im Sinne der Kategorien und nach dem Wahrheitscharakter im Urteil war zugleich die Frage nach dem Subjekt, insofern dieses als grundlegendes cogito gefaßt wurde und die Kategorien und der Wahrheitscharakter nur im Bereich dieses cogito zu denken waren. Die neuzeitliche Frage nach den Kategorien ist also aus einer bestimmten Grundlage heraus gestellt. Die Weise des Fragens deutet auf diese Grundlage hin, d.h. auf das cogito als Subjektivitätssphäre. Aber das cogito geschieht immer in bezug auf ein cogitatum. Das cogitatum ist das, was im cogito gedacht wird, es ist nur das, was im Denken vergewissert werden kann. Und dies ist nur möglich als imago , als Vorstellung. In diesem Sinne konstituiert sich im Ego-cogito-cogitatum eine bestimmte Sphäre des Seins: die res co gitans, die abzugrenzen ist von der Sphäre der materiellen Dinge: der res extensa. Die Frage nach der Brücke zwischen beiden Sphären ist die Frage nach der Erkenntnis: Im cogito ist mir etwas bewußt, aber dieses „etwas" kann nicht nur in meinem inneren Bewußtsein sein, dort finde ich nur seine Gewißheit, eine Vorstellung. Diese muß „draußen" eine „Entsprechung" haben. Meine Erkenntnis kann nicht nur immanent sein, denn dies wäre reiner Idealismus, sondern sie bedarf einer Transzendenz des zu Erkennenden. Die Immanenz bildet dann das vorstellende Bewußtsein bzw. die res cogitans, und die Transzendenz die draußen vorliegenden materiellen Dinge bzw. die res extensa. Diese Grundlage wird konstitutiv für ein bestimmtes Fragemuster, nicht nur innerhalb der Philosophie, sondern in allen Verhaltungsweisen des Menschen. Die Subjektivität ist dabei das Maßgebende des Fragens geworden. Genau in dieser Lage befand sich das Fragen der Wissenschaft. Sie konnte nur Wissenschaft sein, insofern sie durch die neuzeitliche Bestimmung des Fragens geleitet wurde. Die wissenschaftliche Frage der Neuzeit wurde schon von der Spaltung res cogitans - res extensa bzw. Subjekt - Objekt beherrscht, und dies setzte unter anderem als selbstverständlich voraus, daß die res extensa dank einer Nivellierung meßbar ist. Diese Nivellierung bedeutet, daß Prozesse
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gleichförmig verlaufen, was die Möglichkeit des Wiederholens im Experiment erlaubt. Diese Art des Fragens der Neuzeit kennen wir als Naturwissenschaft. Diese cartesianische Ermöglichung der Naturwissenschaft schuf die Kriterien für die Wissenschaft überhaupt. Wissenschaft war seit dem 17. Jahrhundert immer nur Naturwissenschaft. Der Positivismus ist somit ein konsequentes Resultat dieser Auslegung. Doch seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tauchte die Vermutung auf, daß die Wissenschaft sich nicht nur in der Naturwissenschaft erschöpfe, sondern daß es auch ganz andere Tatsachen gebe, die auf eine ganz andere Weise zu untersuchen seien. Diese Vermutung bekam einen starken Impuls, als die Geschichte einbezogen wurde. Diese entzog sich einerseits offenkundig der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, sollte andererseits aber doch selbst auch irgendeinen wissenschaftlichen Charakter aufweisen. Mit jener Vermutung kam insofern eine fundamentale Frage ins Spiel: die Frage nach der Wissenschaft selbst und ihrer Grundlegung. Damit wurde die Herrschaft der Naturwissenschaft in Zweifel gezogen und Raum für das Stellen der Frage nach ganz anderen Tatsachen geschaffen. An diesem Punkt tauchte die Frage nach den Geisteswissenschaften auf. An dieser Stelle muß das Mißverständnis verhindert werden, daß mit dem Gegensatz Natur- und Geistes-Wissenschaften der metaphysische Gegensatz von Geist und Natur gemeint sei. Es wird nicht ,Geist' und ,Natur' betont, sondern die Verfahren, in denen sie auftreten. Dies deutet darauf hin, wie Kalariparambil zutreffend bemerkt hat, daß „die Zusammenhänge, die die geistigen Tatsachen miteinander verknüpfen, von ganz anderer Art sind als die Gleichförmigkeiten, die die Naturprozesse kennzeichnen" (Kalariparambil S. 36). Mit dem Gesagten können wir jetzt folgende Frage stellen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Kategorienproblem und der Grundlegung der Wissenschaften? Die Wiederbelebung der Frage nach den Kategorien forderte eine andere Fassung derselben, so wie auch die Grundlegung der Wissenschaften nach einer anderen Fassung strebte. Die erneute Hineinstellung der Kategorien soll nicht im Rahmen der Naturwissenschaft ausgelegt werden, d.h. auf dem Grunde des cartesianischen Subjekts, sondern ausgehend von einer weiteren Problematik, die die Geschichte berücksichtigt. In diesem Punkt treffen sich das Kategorienproblem und die Grundlegung der Geisteswissenschaften. Die Erneuerung der Frage nach den Kategorien findet einen anderen Weg in der Grundlegung der Geisteswissenschaften und in den daran anknüpfenden Problemen. Damit ist verständlich, warum seit dem letzten Jahrhundert die oben angedeutete Suche nach einer Logik im Zusammenhang mit der Grundlegung der Geisteswissenschaften gesehen wurde. Die von Anfang an durchge-
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führte Auseinandersetzung Windelbands und Rickerts mit den Geisteswissenschaften und Diltheys lebenslange Suche nach einer Grundlegung der Geisteswissenschaften bestätigen dies. Aber hier muß schon vermutet werden, daß die Grundlegung der Geisteswissenschaften weiter zu einer Frage nach dem letzten Grund der Wissenschaften an sich führt. Dieser letzte Grund wird das Leben selbst sein. In bezug auf diesen letzten Grund der Wissenschaften ist nun zu fragen, ob hier Leben mit Subjekt gleichzusetzen ist. In diesem Sinne können wir fragen, ob das, was Heidegger mit „Hineinstellung in das Subjekt" meinte, durch „Hineinstellung in das Leben" ersetzt werden kann. Es wurde klar, daß Heidegger unter „.Hineinstellung in das Subjekt" eine Aufgabe verstand, die nicht in der selbstverständlichen Fassung der neuzeitlichen Subjektivität zu denken war. Die Suche nach einem anderen Weg erhielt einen ersten Anstoß durch die zurückweisende Einstellung gegenüber dem cartesianischen Subjekt. Beispiele hierfür sind Rickerts Kritik an der Erkenntnis als Vorstellen und Diltheys Erweiterung des Begriffs vom vorstellenden Subjekt auf das Wollen und Fühlen. Sie deuten auf eine andere Betrachtung des cartesianischen „Subjekts" hin. In diesem Sinne können wir eine Brücke entdecken zwischen dem Kategorienproblem als Thematik der Habilitationsschrift Heideggers und dessen Interesse am Neukantianismus und an Dilthey, welches Heidegger schon vor der Dozenten-Vorlesung gezeigt hatte.8 Die neukantianische Wertphilosophie und Diltheys Ausarbeitungen boten neue Wege für eine mögliche Überwindung des cartesianischen Subjekts und damit einen neuartigen Zugang zum Kategorienproblem als einer Weise des πολλαχώς des τό öv. In den Ausarbeitungen der Vertreter der Wertphilosophie und Diltheys fand Heidegger den Ansatz für eine grundlegende Fortsetzung des Kategorienproblems. Diese Fortsetzung wird ihn zu der Frage nach dem Ursprung des Lebens führen. b) Die Fragestellung der Wertphilosophie: W. Windelband Um Heideggers weitere Forschungen über das Kategorienproblem, welches zur Seinsfrage führen wird, deutlicher herausarbeiten zu können, 8 A m 7. Januarl917 schreibt Heidegger an den Mediävisten Martin Grabmann folgendes: „Zuvor möchte ich in den systematischen Problemen zu einer genügenden Sicherheit kommen, was auf eine Auseinandersetzung mit der Wertphilosophie und Phänomenologie von innen heraus abzielt" in Philosophisches Jahrbuch 87 (1980) S. 104. Zwei Jahre später war diese „Auseinandersetzung von innen heraus" einen Schritt weiter gegangen, als Heidegger in seinen ersten Dozenten-Vorlesungen Probleme in bezug auf den Neukantianismus behandelte. Vgl. die Vorlesungen ,Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem' und Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie' in: GA 56/57. In bezug auf Dilthey vgl. § 7 der vorliegenden Untersuchung.
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müssen wir hier zunächst an die Beziehung Heidegger-Neukantianismus anknüpfen. Wenn wir die Lage der Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts betrachten, wird der Anspruch des Neukantianismus verständlich. „Zurück zu Kant" lautete das Leitwort, das eine grundlegende systematische Orientierung der Philosophie zur Absicht hatte. Gegenüber der ganzen Reihe von ,,-ismen", die die Philosophie damals beherrschten, besonders Naturalismus, Psychologismus und Historismus, erwies sich der Leitspruch des Neukantianismus als berechtigt und notwendig. 9 Die „Verwirrungen", in denen die damalige Philosophie gefangen war, waren für die Neukantianer eine Konsequenz der unadäquaten Betrachtungsweise des Problems; die methodische Bestimmung der Problematik war das Entscheidende. Ihrer Meinung nach ist eine adäquate Bestimmung nur formal möglich, was bedeutet, daß das philosophische Problem nicht von der Seite des Inhalts, des Gegenstands betrachtet werden darf, sondern nur rein formal. 10 Die Bestimmung der methodologischen Betrachtungsweise im Neukantianismus geschieht hauptsächlich in zwei Richtungen: in einer grundsätzlich logistischen und in einer werttheoretischen Richtung. Die erste wurde in Marburg vollzogen, die zweite in Freiburg und Heidelberg. Da die werttheoretische Betrachtungsweise auch das Problem der vorliegenden Untersuchung, nämlich das Leben an sich, aufgreift, muß sie ausführlicher erläutert werden. Die werttheoretische Richtung des Neukantianismus oder die südwestdeutsche Schule hat von Anfang an die Grundlegung der Wissenschaften und besonders der Geisteswissenschaften diskutiert. Sie begnügte sich nicht mit dem von Kant Ausgearbeiteten in bezug auf die Grundlegung der Wissenschaften bzw. Naturwissenschaften, sondern erweiterte, angeregt durch den Ansatz Diltheys, ihren Horizont und versuchte, die Geisteswissenschaften und damit das geistige Leben auch von einem transzendentalen Standpunkt her auszulegen. Damit wurde versucht, zu einer Auffassung des Lebens zu kommen, die eine allumfassende, neuzeitliche naturwissenschaftliche Auffassung in Frage stellt. 9
Laut Rickert sind die Neukantianer diejenigen, die „durch ein erneutes und vertieftes Studium Kants die Philosophie über sich selbst zu besinnen suchten", Alois Riehl, in: Logos 13 (1924/25), S. 162-185. Hier S. 164. 10 Kurt Sternberg versuchte schon 1920, diese „Formalität" zu rechtfertigen. Sternberg bezieht sich auf den Vorwurf gegen den Neukantianismus, daß er „die ganze Philosophie zur formalen Methodenlehre mache". Er schrieb, daß die Methode „mit dem Inhalt unlöschlich verknüpft" ist, und in diesem Sinne wird „keineswegs [...] von dem Inhalt überhaupt abgesehen, nur von den inhaltlichen Besonderheiten", in: Kant-Studien 25 (1920), 398-399 (k.g.v.m.).
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Die Problemgeschichte dieser Schule beginnt mit W. Windelbands ,Straßburger Rektoratsrede' im Jahre 1894, die als programmatische Schrift zu betrachten ist. Dort wird die Auseinandersetzung mit Dilthey deutlich dargestellt, der 1883 den ersten Band (Buch I und II) seiner Einleitung in die Geistes Wissenschaften4 veröffentlicht und darin die Scheidung zwischen Natur- und Geistes-Wissenschaften durchgeführt hatte. Windelband betrachtete diese Scheidung allerdings als eine Scheidung von Tatsachen und nicht als eine methodische. n Um demgegenüber eine methodische Scheidung durchzuführen, schlägt er die Trennung in nomothetische und idiographische Wissenschaften vor. 1 2 Windelbands Auffassung berücksichtigt das, was die Wissenschaften in ihrer Erkenntnis suchen: entweder das Allgemeine oder das Einzelne. Im ersten Fall wird die Rede von Gesetzwissenschaften oder nomothetischen Wissenschaften sein, im zweiten von Ereigniswissenschaften oder idiographischen Wissenschaften. Der Unterschied bezieht sich nicht auf die Tatsachen, mit denen sie sich jeweils beschäftigen, nämlich Natur oder Geist, sondern auf das, was sie suchen, das Allgemeine oder das Einzelne. Diese Suche ist von einer „erkenntnismäßigen Verwertung der Tatsachen" bestimmt (Präludien II, S. 149). In diesem Sinne sind für Windelband die verschiedenen Ziele der Wissenschaften verständlich: die Naturwissenschaft hat Theorien zum Ziel, die Geisteswissenschaft Gestaltungen als Weltanschauung (ebd., S. 151). Diese methodische Betrachtungsweise der Wissenschaften setzt also eine Suche voraus. Diese Suche wird erkenntnistheoretisch bestimmt. Heidegger charakterisiert diesen Grundzug des Neukantianismus im WS 1921/22 folgendermaßen: „Der Neukantianismus ist in seiner Gegenstellung zu Aristoteles wesentlich bestimmt aus der Art und Weise, wie er selbst Kant erneuerte. Die Erneuerung war eine spezifisch „erkenntnistheoretische", genauer eine solche, daß sie gerade zur Ausbildung der philosophischen Disziplinen führte, die unter dem Namen ,Erkenntnistheorie' bekannt ist" (GA 61, S. 4). Das „Spezifische" dieser Erneuerung liegt, wie wir sehen werden, in ihrem Bezug auf Normen und Werte, d.h. auf ein Sollen. Deswegen kann man sie als normativ kennzeichnen. Dies bedeutet, daß die südwestdeutsche Schule eine normativ-erkenntnistheoretische Methode vertreten hat. Das Problem des Sollens ist seinerseits nur hinsichtlich seiner Geltung zu ver-
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Die Antwort auf Windelbands Mißverständnis hat Dilthey in GS V, S 242-266 gegeben. Ferner vgl. die Anmerkungen der Hrsg. in: GS I, S. 409 und GS V, S. 422^123. 12 W. Windelbandy Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede), in: Präludien II, Tübingen, 1911, S. 145.
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stehen. In diesem Sinne ist die Erkenntnis nur angesichts des radikalen Problems der Geltung möglich. Dies muß im nächsten Paragraphen ausführlicher erläutert werden. Zunächst müssen wir fragen, was Erkenntnis bedeutet und welcher Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Geltung besteht. Dafür konzentrieren wir uns auf Rickerts Ausarbeitungen, da er der „systematische Begründer der Wertphilosophie" ist (GA 56/57, S. 128).
§ 5. Die ,Zwei Wege der Erkenntnis 6 Rickerts a) Der transzendentalpsychologische Weg 1909 veröffentlicht Rickert den entscheidenden Aufsatz ,Zwei Wege der Erkenntnistheorie 4. Der Aufsatz ist insofern entscheidend, als er die philosophische Entwicklung Rickerts darstellt. Die bis dahin ausgearbeitete Philosophie Rickerts wurde durch zwei Wege charakterisiert: einerseits den subjektbezogenen Weg, den er Transzendentalpsychologie nennt, und andererseits den objektbezogenen Weg, den er als Transzendentallogik bezeichnet. Der Unterschied zwischen beiden beruht nach Rickert „auf der Wahl des Ausgangspunktes". 13 Im ersteren wird die Frage nach der Erkenntnis ausgehend vom Akt des Erkennens hin zum Gegenstand entfaltet, d.h. hier wird die Frage nach dem Gegenstand der Erkenntnis gestellt; im zweiteren wird die Frage nach der Erkenntnis ausgehend vom Verstandenen im Akt selbst entfaltet, d.h. man stellt die Frage nach dem Erkennen des Gegenstandes, 14 Nach Rickerts Auffassung müssen beide Wege „einander ergänzen" (ZW, S. 174). In bezug auf den Gegenstand der Erkenntnis, den ersten Weg, setzt Rikkert drei Prinzipien voraus: aa) Erkennen ist nicht Vorstellen, bb) Erkennen ist Urteilen und cc) Erkennen ist eine bestimmte Art des Denkens, nämlich wahres Denken (ebd., S. 169). aa)
Erkennen ist nicht Vorstellen
Seit Beginn der Neuzeit wurden, wie wir schon bemerkten, zwei Seinsarten unterschieden: res extensa und res cogitans. Die res extensa ist das Sein der Dinge, das, was ein Ding ausmacht. Die res cogitans wurde als eine andere Seinsweise charakterisiert: der Mensch als cogito. Das cogito hat irgendeinen Zugang zu den Dingen. Dieser Zugang ist nur durch eine 13
H. Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie (ZW), in: Kant-Studien 14 (1909), S. 174. 14 Vgl. H. L. Ollig, Der Neukantianismus, Stuttgart, 1979, S. 69. 5 Xolocotzi
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Abbildung der Dinge möglich, was bedeutet, daß die Dinge nur in einer Vorstellung vergewissert werden können. In diesem Sinne ist gewisses Denken seit der Neuzeit gleichzusetzen mit Vorstellen, da der Ort des Vorstellens sich im cogito befindet. Der lebendige Mensch konstituiert sich als ein vorstellendes Subjekt, während die Dinge nur als vorgestelltes Objekt zugänglich sind. Wenn die Erkenntnis eine Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt darstellt, muß diese Beziehung als eine Beziehung zwischen einem vorstellenden Subjekt, d.h. einer Vorstellung, und einem vorgestellten Objekt betrachtet werden. Rickert wird diese neuzeitliche Auffassung der Erkenntnis zurückweisen, mit der Begründung, daß in ihr das erkennende Subjekt im Erkennen überhaupt nicht vorkommt. Das Verhältnis zwischen Vorstellung und Ding zeige sich als ein Verhältnis zwischen Objekten, und dabei tauche kein Subjekt auf. „Die Ansicht vom vorstellenden Erkennen hat es also nicht mit dem Verhältnis des Subjekts zum Objekte, sondern mit dem Verhältnis zweier Objekte zu einander zu tun". 1 5 Deswegen kann Vorstellen für Rickert kein Erkennen sein. 16 bb) Erkennen ist Urteilen Wenn Erkennen kein Vorstellen ist, worin besteht dann das Wesen des Erkennens? Rickert greift auf den Ansatz von Aristoteles zurück, der darstellt, daß Wahrheit immer nur im Urteilen enthalten ist. 1 7 Urteilen bedeutet für ihn aber nicht eine bloße Vorstellungsbeziehung der Art „S ist P", sondern es muß ein anderes Moment beinhalten, das über das bloße Vorstellen hinausgeht. Zu dieser Auffassung ist Rickert durch die Ausarbeitungen seines Lehrers Windelband gelangt. Um verstehen zu können, warum 15 Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Ein Beitrag zum Problem der philosophischen Transzendenz, Freiburg, erste Auflage: 1892, S. 46. (Im folgenden: G). 16 Der Ansatz Rickerts geht dabei in unausdrücklicher Weise auf Descartes zurück. In der ,Meditationes de prima philosophia' können wir zweierlei Auslegungen von Vorstellen unterscheiden. Zum einen meint ,Vorstellen' cogitatio, zum anderen idea. ,Vorstellen' als cogitatio können wir als Vorstellen im weiten Sinne charakterisieren, da Vorstellen so viel wie „ich habe Bewußtsein" meint oder wie Heidegger dies auslegt: „Erlebnisse, sofern sie zugleich in sich ein Bewußtsein ihrer selbst haben" (GA 17, S. 133). ,Vorstellen' als idea meint eine Weise der cogitatio (neben voluntates-ajfectus und iudicia): etwas als res vorstellen. Seine Grundfunktion ist das Repraesentieren. In diesem Fall sprechen wir von Vorstellen im engeren Sinne. Anhand der ,Meditationes' können wir sehen, daß Vorstellen als idea (Vorstellen im engeren Sinne) für Descartes kein Erkennen bedeutet. In der IV ,Meditation' wird deutlich, daß erst in den iudicia, d.h. im Urteilen, das Erkennen als solches eintritt, vgl. Meditationes de prima philosophia, S. 64-65. 17 Vgl. G, S. 47.
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Erkennen nur als Urteilen möglich ist, müssen wir kurz auf die Ausarbeitungen Windelbands eingehen. In ,Was ist Philosophie?4 (1882) sprach Windelband von zwei Arten von Sätzen: In den einen „wird die Zusammengehörigkeit zweier Vorstellungsinhalte", in den anderen „ein Verhältnis des beurteilenden Bewußtseins zu dem vorgestellten Gegenstande ausgesprochen". 18 In der ersten Gruppe finden wir die Urteile, die rein theoretisch sind; in der zweiten finden wir die Beurteilungen, die eine praktische Stellungnahme zum Urteil beinhalten. 1 9 Die Beurteilung spricht die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Urteils aus, insofern das Urteil bejaht oder verneint wird 2 0 Nur in diesem Sinne kann man von Erkenntnis und Wahrheit sprechen: „Alle Sätze der Erkenntnis enthalten somit bereits eine Kombination des Urteils mit der Beurteilung: sie sind VorstellungsVerbindungen, über deren Wahrheitswert durch die Affirmation oder Negation entschieden worden ist". 2 1 Rickert wird diesen Ansatz radikalisieren und die Vorstellung und die Zustimmung der Vorstellung deutlich trennen, damit klar wird, daß der eigentliche Erkenntnisakt nur bei der Zustimmung, d.h. beim Bejahen-Verneinen, geschieht. 22 Diese Form der Erkenntnis zeigt folgendes: 1. Wenn man die Vorstellungsbeziehungen für sich betrachtet, kann man nicht von Erkenntnis sprechen, da bei ihnen kein Subjekt als Subjekt auftaucht und kein Wahrheitskriterium enthalten ist. 2. Beim Erkenntnisakt, insofern dieser als Bejahen oder Verneinen geschieht, kommt ein Billigen oder Mißbilligen zum Ausdruck, und in diesem Sinne steckt im Urteil „ein praktisches' Verhalten, das in der Bejahung 18
W. Windelband, Was ist Philosophie, in: Präludien I, S. 29. In Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil (1884) schreibt Windelband, daß der Ursprung dieser Scheidung schon bei Sigwart als Doppelurteil der Negation und bei Lotze als Nebenurteil gefunden werden kann. In: Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, Freiburg/Tübingen, 1884, S. 170. Ferner vgl. ders., Logik, in: Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, S. 172 ff. Heidegger schreibt im SS 1919, daß der eigentliche Einfluß in bezug auf diese Unterscheidung von Franz Brentano kam: „Einmal wird in der Wertphilosophie Windelband [...] Brentanos Einfluß stark unterschätzt [...] vielmehr nur beiläufig erwähnt mit dem Hinweis, daß Brentano „von psychologischer Seite her", „obwohl in barocker Form", auf diese besagte Unterscheidung aufmerksam gemacht habe", GA 56/57, S. 1 4 8 ^ 9 . 20 1904 wird Windelband sagen: „In jedem Urteil handelt es sich darum, eine Beziehung von Vorstellungsinhalten zu denken und über die Geltung dieser Beziehung zu entscheiden", Logik, S. 172. 21 Windelband, Was ist Philosophie? S. 32. Heidegger bezieht sich auf diese Analyse in: GA 56/57, S. 151 ff. 22 Wie wir bereits bemerkt haben, geht dies auf Descartes zurück. In der IV ,Meditation' zeigt Descartes, daß der eigentliche Erkenntnisakt erst durch den Willen zustande kommt: beim Bejahen oder Verneinen, vgl. Meditationes, S. 66-67. 19
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etwas billigt oder anerkennt, in der Verneinung etwas verwirft" (G, S. 57). Erkennen ist dann kein „theoretisches", sondern ein „praktisches" Verhalten. In Der Gegenstand der Erkenntnis wird Rickert sogar das Erkennen nicht dem Vorstellen, sondern dem Wollen und Fühlen zuordnen. 3. Das Billigen oder Mißbilligen ist „ein Stellungnehmen zu einem Werte", da dieses „praktische" Verhalten nur in bezug auf Werte einen Sinn hat. Damit konstituiert sich die Erkenntnis als eine Stellungnahme in bezug auf Werte. 4. Die Stellungnahme, d.h. das Billigen und Mißbilligen, geschieht als eine Zustimmung, und diese weist auf etwas hin, das diese Zustimmung verlangt, auf eine Forderung (ZW, S. 184). Die Forderung ist das, was in bezug auf die Erkenntnis richtunggebend ist, d.h., daß die Erkenntnis sich nach dieser Forderung richtet. In diesem Sinne konstituiert sie sich als der Gegenstand der Erkenntnis. Die Forderung ist kein Sein, das einer kausalen Notwendigkeit unterliegt, d. h. einem „Müssen" der Naturgesetze, sondern sie richtet sich nach Werten. In diesem Sinne befindet sich die genannte Forderung unter der idealen Bestimmung eines Sollens, und „unter Sollen verstehen wir grade das, was nicht ist oder existiert" (ebd., S. 185). Sollen wird dann als der Gegenstand charakterisiert, als das Richtunggebende der Erkenntnis. Es als nicht seiend ist nicht, sondern gilt, und da es völlig unabhängig von Sein ist, trägt seine Geltung den Charakter der Transzendenz. 23 Das transzendentale Sollen enthält damit eine unbedingte Geltung, d.h. eine Notwendigkeit. Diese wird einem reinen Sollen zugesprochen, insofern dieses Sollen ganz unabhängig von Sein ist und in diesem Sinne unabhängig von willkürlichen oder individuellen Tatsachen. Beim transzendentalen Sollen, das unabhängig von Sein und damit von seiendem Subjekt ist, sprechen wir von einer evidenten Forderung, von Evidenz, da es sich hier um eine zeitlose Transzendenz handelt, um eine Anerkennung eines Wertes. Und Werte sind nicht durch die Zeit berührt, sie sind zeitlos. An diesem Punkt sucht Rickert nach der Verbindung zwischen dem transzendentalen Sollen und dem immanenten Akt des Erkennens bzw. Urteilens, d.h. er stellt die Frage, wie dieses transzendente Sollen immanent wird. Die Antwort darauf wird mit einem Repräsentanten dieses Sollens gegeben: mit dem Forderungs- oder Evidenzgefühl. Dies bedeutet, daß die ideale Forderung an ein psychisches Sein geknüpft ist, an ein Gefühl; nicht aber das Gefühl wird anerkannt, sondern nur das Sollen der Forderung. In 23 Dies geschieht nur, wenn die Bejahung wahr ist. Das deutet darauf hin, daß es zwei Arten von Sollen gibt: 1. die bloß willkürliche und individuelle Forderung und 2. die unbedingte Geltung beanspruchende Forderung, die völlig unabhängig von Sein ist, ZW, S. 186.
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diesem Sinne ist das Gefühl nur ein Repräsentant der Erkenntnis, aber nicht der Gegenstand (ebd., S. 186). In ,Der Gegenstand der Erkenntnis 4 (erste Auflage) schrieb Rickert: „Ich bin, wenn ich urteilen will, durch das Gefühl der Evidenz gebunden, ich kann nicht willkürlich bejahen oder verneinen. Ich fühle mich von einer Macht bestimmt, der ich mich unterordne, und nach der ich mich richte" (G, S. 61). 2 4 Diese „Macht" deutet auf die Forderung hin, d.h. auf den richtunggebenden Gegenstand der Erkenntnis. Sie hat als Repräsentant das Evidenzgefühl, das eine Verbindung zwischen dem transzendentalen Sollen und dem zum Subjekt gehörenden Urteilsakt schafft. cc) Erkennen ist wahres Denken Durch das bisher Gesagte ist klar geworden, daß Erkennen kein Vorstellen ist, sondern nur als Urteilen möglich ist. Urteilen erweist sich als eine Denkart, die aber wahr sein muß. Die Frage nach der Wahrheit kann bei Rickert, wie schon erwähnt, nur einen Sinn in bezug auf Wert bzw. Sollen erhalten. Bei Aristoteles, auf den sich Rickert in seiner Ausführung stützt, ist Urteilen der Ort der Wahrheit. Aber ausgehend von ihm wurde die Wahrheit in der philosophischen Tradition als όμοίωσις verstanden, d.h. als eine Übereinstimmung zwischen dem im Urteilen Gesagten (intellectus) und dem Ding (res). In der Neuzeit wurde dieser Ansatz als das Problem der Erkenntnis charakterisiert und daran anknüpfend folgende Fragen gestellt: Wie kommt dieser intellectus aus seiner Immanenz heraus? Wie kann er seine Schranken überschreiten und zur transzendenten res gelangen? Wie kann der intellectus die Kluft zwischen beiden rei überwinden? Die Problematik des Überschreitens der immanenten Schranke und die Überwindung der Kluft zwischen beiden Sphären wird in der Philosophie immer wieder in verschiedenen Gestaltungen aufgenommen. Eine davon konstituiert der Ansatz des Neukantianismus. Wenn wir Wahrheit in bezug auf das, was ist (res extensa), deuten, bewegen wir uns nach Rickert immer noch im vorstellenden Gebiet, da diese res nur als imago , als Vorstellung, vergewissert werden kann. In der Neuzeit ist Wahrheit strenggenommen nur als Gewißheit zu verstehen. Außerhalb der vergewisserten Vorstellung kann es keine Wahrheit geben. Wenn Rickert diesen neuzeitlichen Ansatz in Zweifel zieht, kann die Wahrheit ihren Ursprung nicht im Sein und Vorstellen, sondern muß ihn im Sollen haben. Um etwas als wahr anerkennen zu können, müssen wir zuerst zur Anerkennung seines Sollens gelangen. „Die Anerkennung des Sollens [verleiht] den 24
Vgl. GA 56/57, S. 188.
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Urteilen das [...] was wir ihre Wahrheit nennen" (G, S. 63). Somit konstituiert sich die Wahrheit als ein Wert und ist in diesem Sinne nicht, sondern gilt. Die Erkenntnis ist dann eine Denkart, die sich als Urteilen vollzieht und ihre Ermöglichung als wahr nur im Sollen findet, nicht in einer durch Vorstellung bestimmten Übereinstimmung mit dem Seienden.
b) Der transzendentallogische Weg Im zweiten Weg geht Rickert davon aus, daß das Erkennen bzw. Verstehen etwas anderes ist als das Erkannte bzw. Verstandene. Dies deutet darauf hin, daß es neben dem Akte des Erkennens etwas anderes gibt, das wahr sein kann. Das Erkannte bzw. Verstandene zeigt von Anfang an seine Trennung vom Akt: Es ist „ [ . . . ] das, was wahr ist, mir nur durch den Akt des Verstehens zum Bewußtsein kommt, seine Selbständigkeit als Wahrheit aber ganz unabhängig von diesem Akte hat" (ZW, S. 194). Der Ausgangspunkt dieses Weges ist somit der wahre Satz als das Verstandene im Verstehen. 25 Dieses wurde von Rickert als Bedeutung bezeichnet, d.h. Bedeutung ist allein das, was wahr sein kann. Die Bedeutung eines Satzes, der wahr ist, ist der Sinn. Einzelne Wörter können eine wahre Bedeutung haben, aber der Sinn ist nur als Einheit zu verstehen: „Der Sinn ist, mit Rücksicht auf seine Wahrheit, eine schlechthin unzerlegbare Einheit, und nur auf den ganzen Sinn in seiner Einheit darf daher die Untersuchung der Erkenntnistheorie zunächst gerichtet sein" (ebd., S. 200). Damit ist der Ansatz, daß das Urteil der Platzhalter der Wahrheit ist, noch einmal bekräftigt. Hiermit ist nun gezeigt, daß der wesentliche Bestandteil des Sinnes die Wahrheit ist (ebd., S. 202). Die Wahrheit ist, wie schon bemerkt wurde, nur als Wert zu verstehen. Strenggenommen ist sie eigentlich nicht, sondern gilt. 26 Damit verstehen wir, daß mit dem Sinn eine Brücke zwischen der transzendentalen Geltung der Wahrheit und dem immanenten Sein des Satzes gebaut ist. Deshalb sagt Rickert, daß der wirkliche Satz den Sinn bedeutet, aber er ist nicht der Sinn (ebd., S. 201). D.h., im Sinn gewährt die Wahrheit als Wert die ideale Bestimmung und im wirklichen Satz wird dieser Sinn bedeutet. Der Sinn hält somit eine Zwischenstellung inne, d.h. er konstituiert ein „drittes Reich". „Der Sinn des Aktes oder der Wertung ist weder ihr psychisches Sein noch der Wert, sondern die dem Akte innewohnende Bedeutung für den Wert und insofern die Verbindung und Einheit der beiden Reiche". 27 25
Vgl. ZW, S. 197. Dies bezieht sich auf die von Lotze eingeführte Unterscheidung, nach welcher die Wahrheit gilt, vgl. H. Lotze, Logik, Leipzig, 1912, S. 506-509, 511 f. 27 Rickert, Vom Begriff der Philosophie (VBP), in: Logos I (1910/11), S. 26 (wiederabgedruckt in: Rickert, Philosophische Aufsätze, Tübingen, 1999, S. 3-36). 26
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Dieser Weg wird transzendentallogisch genannt, weil es sich hier um eine transzendentale Logik der Bedeutung handelt, die nicht an den Denkakt gebunden ist. Die Frage der Logik ist die Frage nach der Geltung, nach der Wahrheit, und die Wahrheit ist nicht. Die Wirklichkeiten, die sind, gelten nicht. Sie können im Satz durch den Sinn bedeuten, aber sie sind unwesentlich für die Frage der Logik. Dieser Weg wurde von Heidegger ,objektiv 4 genannt, da der subjektive Akt zunächst beiseite gelassen wird.
c) Das Teleologische der Wertphilosophie Mit der bisherigen Entfaltung können wir sehen, warum das Wie der Vorgehensweise des südwestdeutschen Neukantianismus ein normativ erkenntnistheoretisches ist. Aber diese Normativität ist nur teleologisch zu verstehen, da „die Normen [...] notwendig mit Rücksicht auf das Telos Wahrheit [sind]44 (GA 56/57, S. 35). Somit können wir sagen, daß das Wie grundsätzlich erkenntnistheoretisch ist, aber nicht bloß erkenntnistheoretisch, sondern auch normativ, also nur in bezug auf ein ideales Sollen zu verstehen ist. Sollen, im Gegensatz zum Sein, weist auf das Reich der Werte hin, auf ein ideales Reich. Der Wert, der für die Erkenntnis entscheidend ist, ist die Wahrheit, denn die Erkenntnis ist nur als wahres Denken möglich. Deshalb richtet sich das erkenntnistheoretische Wie nach der wertartigen Wahrheit. Sein „Sich-richten-nach 44 hat als Telos, als Zweck, die Wahrheit und ist in diesem Sinne teleologisch verstanden. Da sich die Wahrheit nur im idealen Reich befindet und das Streben, sie zu erreichen, nur erkenntnistheoretisch ist, konstituiert sich das Wie der Wertphilosophie als ein ideal-teleologischerkenntnistheoretisches Wie. Damit ist klar: Das Wie der Erkenntnis ist nur in bezug auf ihr transzendentes Was zu verstehen, d.h. in bezug auf ihren Gegenstand, das Sollen. Wenn hier die Rede von Transzendenz ist, wird sie als Gegensatz zur Immanenz gedeutet. Wir haben aber gesehen, daß zwischen der transzendenten und der immanenten Sphäre eine Verbindung besteht. Diese Verbindung wird auf der subjektiven Seite durch das Gefühl, auf der objektiven durch den Sinn hergestellt. Sie erlaubt einen Zugang zum transzendenten Sollen. Der Sinn als der im zweiten Weg beschriebene Zugang wurde von Rickert in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft 4 weiter entfaltet. Diese Entfaltung führte zu einem umfassenderen Zugang zum transzendentalen Sollen, der zugleich einen Zugang zum Leben selbst ermöglichte. Dieser Zugang ist die Kultur.
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§ 6. Die transitive Auslegung des Lebens: Leben als Kulturleben Werte sind nicht in der Wirklichkeit, aber sie können verkörpert werden: in bezug auf das Objekt als Güter, in bezug auf das Subjekt als Wertungen.28 Beide Arten von Verkörperungen konstituieren sich als Kultur. In diesem Sinne ist Kultur das, was Werte verkörpert (KuN, S. IX/10). Die Kultur als Zugang zu Werten wird für den Neukantianismus zu einem Hauptelement: „ A u f die Kulturgüter muß daher die Philosophie ihren Blick richten, um an ihnen die Mannigfaltigkeit der Werte zu finden" (VBP, S. 17), 29 schrieb Rickert. Wir können die Kultur als Manifestation von Werten sehen oder als das, was eine Bindung an Werte hat (GA 59, S. 15). Wenn wir in diesem Kontext die Frage nach dem Leben betrachten, sehen wir, daß sie nur in bezug auf Werte gestellt werden kann: „Die Geltung des Wertes bleibt unter allen Umständen für die Frage nach dem Sinn des Lebens das Primäre [...]" (VBP, S. 10). Das Leben wird von Rickert nur als Kulturleben sinnvoll verstanden; m.a.W., das Leben kann nur als Kulturleben einen Sinn haben, d. h. in einer Bindung an Werte. Mit diesem Ansatz wird deutlich, daß die Frage nach dem Leben , an-sich' nur die Frage nach dem , Kulturleben an-sich' sein kann. Eine Interpretation des Lebens ,an-sich' als Wirklichkeit oder Natur wird abgelehnt. Insofern muß an dieser Stelle die von Rickert durchgeführte Unterscheidung zwischen Kultur, Natur und Wirklichkeit kurz erläutert werden. Der erkenntnistheoretische Ansatz Rickerts versucht, die neuzeitliche Kluft zwischen Subjekt und Objekt, Denken und Sein zu überwinden. Die Erkenntnis ermöglicht dies nach Rickert in einer bestimmten Weise. In ,Der Gegenstand der Erkenntnis' (erste Auflage) war Sein nur ein „Bestandteil" eines Urteils (G, S. 65), und es konnte nur in bezug auf das Sollen im Urteilen zugänglich werden. Diese Beziehung wurde dort aber erst angedeutet, noch nicht deutlich entfaltet. In ,Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung' und in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft' wird dieser Ansatz einen Schritt weiter ausgearbeitet. Dort hat das bloße Sein, die Wirklichkeit, zwei Wesenszüge: alles fließt und alles ist anders. 30 Des28 Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (KuN), S. 86/112. Die ersten Ziffern verweisen auf die Seiten der Reclam-Ausgabe (1986), für die die siebte Auflage (Mohr: 1926) die Grundlage bildete. Die zweiten Ziffern verweisen auf die Mohr-Ausgabe. 29 Vgl. die Bedeutung der Kultur im Neukantianismus z.B. die Ausarbeitungen E. Cas sir er s. 30 Vgl. J. Berger, Historische Logik und Hermeneutik, in: Philosophisches Jahrbuch 75 (1967/68), wieder erschienen in: H. L. Ollig, Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, S. 305 f.
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halb wird Rickert die Wirklichkeit als ein heterogenes Kontinuum charakterisieren (KuN, S. 31-33/50-52). In diesem Sinne ist sie irrational, unwißund unsagbar: „Nehmen wir die Wirklichkeit nun hin, wie sie an und für sich ist, so können wir überhaupt nichts von ihr aussagen".31 Damit die Wirklichkeit zugänglich sein kann, muß sie umgeformt werden: „Wir formen das in jeder Wirklichkeit steckende heterogene Kontinuum zu einem homogenen Kontinuum oder zu einem heterogenen Diskretum um" (KuN, S. 33/52). In diesem Sinne wird sie rational, d.h. erkennbar. Erkennen ist dann für Rickert ein Verändern, 32 aber ein bestimmtes Verändern der unbestimmten Wirklichkeit. Die Bestimmung wird mit Hilfe von Begriffen durchgeführt: „Wir können also mit den Begriffen nur Brücken über den Strom der Realität schlagen, mögen die einzelnen Brückenbogen auch noch so klein sein" (KuN, S. 34/53). Diese Brücken geben „Macht" über die Wirklichkeit (ebd., S. 33/51-52). Das, was durch diese „Macht" erkannt wird, hat einen neuen Charakter: nicht mehr irrationale Wirklichkeit, sondern rationale Erkenntnis. Die Erkenntnis ist dann keine Reproduktion der Wirklichkeit, sondern eine Produktion oder Konstruktion: „Das Wesen läßt sich wissenschaftlich niemals „schauen" oder „intuitiv" erfassen, sondern ist lediglich dem „diskursiven" Denken oder einer begrifflichen „Konstruktion" zugänglich" (ebd., S. 35/55). Wenn vorher nur die Rede von Erkenntnis als Urteilen war, ist jetzt zu ergänzen, daß sie eine Konstruktion der „Wirklichkeit" durch Urteilen ist. Somit ist deutlicher geworden, warum die Methode eine teleologische ist: das Telos ist die Produktion bezüglich der Wahrheit, d.h. die Produktion des wahren Denkens, der Erkenntnis. Die Umformung der Wirklichkeit kann auf zwei Weisen geschehen, d. h. die Wirklichkeit kann aus zwei Gesichtspunkten heraus betrachtet werden. 33 Diese weisen auf die verschiedenen Methoden hin: das generalisierende oder das individualisierende Verfahren. Ersteres wird als die naturwissenschaftliche Methode charakterisiert und ihr Resultat als Natur bezeichnet. Das zweite ist die historische kulturwissenschaftliche Methode, 34 ihr Resultat ist die Kultur. 35 Der Unterschied zwischen den beiden Produk-
31
Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen, 2. neu bearbeitete Auflage: 1913, S. 223. (Im folgenden: Rickert, Die Grenzen). 32 Vgl. J. Berger, S. 307. 33 Vgl. KuN, S. 55/77. 34 Diese Scheidung der Wissenschaften wurde schon von Dilthey als Trennung in Natur- und Geistes-wissenschaften durchgeführt und von Windelband als nomothetische und idiographische Wissenschaften bezeichnet. Der Name „Kulturwissenschaft" zeigt nach Rickert das „wesentliche Unterscheidungsmerkmal", das von Dilthey und Windelband nicht bedacht wurde, d.h. die Kultur als Gegebenheitsweise der Werte. Vgl. KuN, S. 29.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
tionen Natur und Kultur ist, wie schon angedeutet wurde, daß die Natur das „Bedeutungsfreie", Wertlose ist und Kultur das „Bedeutungsvolle", Wertvolle (KuN, S. 20/38). 3 6 In diesem Sinne schreibt Rickert: Die Wirklichkeit „[...] wird Natur, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte, wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle" (Die Grenzen, S. 224; KuN, S. 55/77). Die Interpretation des Lebens von einem naturalistischen Gesichtspunkt her führte im 19. Jahrhundert zum Naturalismus und Psychologismus. Der Kampf gegen diese Interpretationen bildete den Ansatzpunkt des Neukantianismus. Der Naturalismus als „gemeinsamer Feind" der Phänomenologie und des Neukantianismus wurde auf verschiedene Weisen streng bekämpft. 37 In diesem Sinne ist klar, daß eine Interpretation des Lebens als bloß natürliches oder bloß vitales 38 von Rickert abgelehnt wurde. Das Leben als zur Natur gehöriges hat keinen Eigenwert, 39 deshalb muß es „im Dienst der Kultur stehen" (LuK, S. 165). 40 Die Lebendigkeit als solche ist nur ein Mittel. Nun können wir verstehen, warum für Rickert das Leben nur Kulturleben sein kann: würde es als bloße Wirklichkeit betrachtet, wäre es irrational unerkennbar; bloß naturalistisch betrachtet, wäre es wertlos, sinnlos. Leben als Wirklichkeit wäre Unsinn, das Leben als Natur wäre sinnlos. Das Leben zu verstehen kann dann nur möglich sein in bezug auf die Kultur, nur so kann es sinnvoll sein. In diesem Sinne geschieht hier eine Überwindung des Naturalismus durch die Erkenntnis. Deshalb versteht Heidegger diese erkenntnistheoretische Interpretation des Lebens im „transitiven Sinne": Leben ist etwas leben (GA 59, S. 18; GA 9, S. 15; GA 61, S. 84). Dieses „etwas" deutet auf die Werte hin, die in der Kultur verkörpert werden: Güter oder Wertungen. 41 35
Heidegger schreibt im SS 1919: „Der heutige Begriff der Kultur hat in sich zunächst das Bedeutungsmoment des „Historischen". Kultur ist ein geschichtliches Phänomen", GA 56/57, S. 129 f. 36 Es muß hier deutlich betont werden, daß die Wertbeziehung in der historischen kulturwissenschaftlichen Methode immer das Prinzip der historischen Begriffsbildung bleibt. Dazu vgl. Rickert, Die Grenzen, S. 333 ff.; ferner Heideggers Antrittsrede: ,Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft', in: GA 1, S. 433. 37 Vgl. den Brief Husserls an Rickert vom 20. Dezember 1915: „So fühle ich mich im letzten Jahrzehnt mit den Führern der deutschen idealistischen Schulen eng verbunden, wir kämpfen als Bundesgenossen gegen den Naturalismus unserer Zeit als unseren gemeinsamen Feind. Wir dienen, jeder in seiner Art, denselben Göttern [...]", Husserl BW Bd. V, S. 178 (k.g.v.m.). 38 Vgl. Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, Tübingen, 1924, S. 37. 39 Rickert, Lebenswerte und Kulturwerte (LuK), in: Logos I I (1911/12), S. 154. 40 E. Lask hat dies folgendermaßen ausgedrückt: „nicht dem tatsächlichen Leben, sondern der Sphäre unmittelbarer Erlebenswürdigkeit, der Lebenswürdigkeit, entnimmt die Philosophie ihr Material". Die Logik der Philosophie, S. 196.
1. Kapitel: Der Zugang zum Leben im Neukantianismus
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Damit können wir zu der im § 4 genannten Beziehung zwischen System und Geschichte zurückkehren: das Leben verbindet in der Interpretation Rickerts in bestimmter Weise das Problem des Systems mit dem der Geschichte. Das Leben als Kulturleben kann nur in bezug auf das System der Werte verstanden werden, aber der Gesichtspunkt, aus dem heraus es betrachtet werden muß, ist nicht die naturwissenschaftliche Methode, sondern die historische, individualisierende Methode. Damit ist das Problem des Systems und der Geschichte in bestimmter Weise in das Subjekt einbezogen. Wobei jedoch betont werden muß, daß die individualisierende historische Methode nicht zum Leben selbst gehört, sondern nur zur Umformung des Lebens, zum Kulturleben; d. h. sie gehört in das Denken über das Leben als Kulturleben. Die Geschichte als solche ist bei Rickert nicht mit dem Leben selbst in Verbindung gebracht. Ein möglicher ursprünglicherer Sinn des Lebens bleibt bei Rickert unangetastet.42 Mit diesem Ansatz verbleibt Rickert innerhalb eines ideal-teleologischen Gebietes, das einen ursprünglicheren Zugang zum Leben verhindert. Schon in ,Der Gegenstand der Erkenntnis 4 hat Rickert deutlich bemerkt, daß sich sein Streben nur auf das Kennenlernen der Leistungen des Denkens richtet. 4 3 Viele Jahre später wird er gegenüber Dilthey seinen anfänglichen Ansatz bestätigen und sagen, „daß es in der Philosophie nicht auf das Leben, sondern auf das Denken über das Leben ankommt". 4 4 In diesem Sinne gibt es strenggenommen keinen Zugang zum Leben, sondern nur zum Denken über das Leben. Der Frage nach dem Leben wird durch eine rein formale Interpretation ausgewichen. Aus diesem Grund kann Heidegger im SS 1925 sagen, daß es sich beim Neukantianismus um eine „leere Methodologie" handelt: „Es wird nicht mehr gefragt nach der Struktur der Erkenntnis selbst, der Struktur der Forschung, des Zugangs zu den jeweiligen Wirklichkeiten, noch weniger nach der Struktur dieser Wirklichkeiten selbst; Thema ist lediglich noch die Frage nach der logischen Struktur der wissenschaftlichen Darstellung" (GA 20, S. 20). 41
Schon in seiner Antrittsrede (,Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft 4) hat Heidegger auf diese Tatsache aufmerksam gemacht: „Die Geschichtswissenschaft hat zum Gegenstand den Menschen, nicht als biologisches Objekt, sondern insofern durch seine geistig-körperlichen Leistungen die Idee der Kultur verwirklicht wird" in: GA 1, S. 426 (k.g.v.m.). 42 In der 5. Auflage seiner ,Grenzen 4 (1929), S. 183, wird Rickert deutlich schreiben, daß „das Wort Geschichte [...] den logischen, das Wort Kultur den sachlichen Gegensatz zur Natur in ausreichender Weise [bezeichnet]". In diesem Sinne wird die Geschichte bei Rickert immer nur formal logisch zu betrachten sein. 43 In G, S. 59 schreibt Rickert: „ [ . . . ] wir wollen ja nur die Leistungen des Denkens kennen lernen. Nicht in der einseitig intellektualistischen Auffassung, sondern in der falschen Auffassung des Intellekts und der Erkenntnis liegt der Fehler". 44 Rickert, Die Philosophie des Lebens, Tübingen, 1920, S. 59. Vgl. auch S. 62, 71, 156, 158, 194.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Somit sehen wir, daß bei Rickert zwar die neuzeitliche Auffassung vom Subjekt als Vorstellung in einer bestimmten Weise in Frage gestellt wird. Er versucht, das Subjekt anders zu betrachten, d.h. nicht in seiner verengten Deutung als bloß vorstellendes, sondern als erkennendes Subjekt in einem erweiterten Ansatz. Insofern unternimmt Rickert eine andere Bestimmung des cartesianischen cogito. Das Denken ist nicht Vorstellen, sondern Urteilen. 4 5 Und im Urteilen zeigen sich zwei Wesenszüge: 1. Die Wahrheit, die im Urteilen geschieht, wird nur als ein Wert gedacht. 2. Das Urteilen als ein Billigen-Mißbilligen konstituiert sich nicht mehr als bloß „theoretisch", sondern enthält zunächst einen „praktischen" Charakter. Denken als Urteilen trägt in diesem Sinne die Grundzüge einerseits einer transzendentalen Bindung an Werte und andererseits einer „praktischen" Charakterisierung. Dieses „praktisch" jedoch verliert nie seine Anführungszeichen, weil praktisch bei Rickert im eigentlichen Sinne unmöglich ist. Praktisch-sein kann etwas nur innerhalb des Lebens als solchen. Und dieses, sagten wir, bleibt für Rickert unzugänglich, da er Leben nur als Kulturleben betrachtet. Bei ihm kommt alles nur auf das erkennende Subjekt und auf das Denken über das Leben an und nicht „auf den ganzen Menschen" bzw. auf das Leben selbst. Einen derartigen Versuch, das Leben in bezug auf den ganzen Menschen auszulegen und nicht nur in einer rein formalen Einstellung, finden wir in den Ausarbeitungen Diltheys, die im nächsten Kapitel erläutert werden. Zweites Kapitel
Diltheys Zugang zum Leben § 7. Die Bedeutung Diltheys für die Stellung der Frage nach dem Leben a) Der Bezug der Frage nach den Kategorien zur Diltheyschen Fragestellung nach dem Leben Wir haben schon bemerkt, daß die Frage nach dem Leben einen bestimmten Bezug zur Frage nach der Grundlegung der Geisteswissenschaften hat. Durch den von den Ausarbeitungen Diltheys erhaltenen Anstoß ist die Thematisierung des Lebens bei der Fragestellung der Wertphilosophie ins Spiel getreten. Insofern kann die Vermutung sich einstellen, daß Diltheys 45 Hier taucht die Frage nach dem Unterschied zu Descartes' Ansatz auf. Hierzu ist zu sagen, daß wenngleich für Descartes Denken auch Urteilen bedeutet (nach der I V Meditation), bei Rickert jedoch, wie gesehen, das Urteilen wertphilosophisch interpretiert wird.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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Ausarbeitungen einen ursprünglicheren Ansatz enthalten, um das Leben als solches problematisieren zu können. Da die Fragestellung der Wertphilosophie hinsichtlich des Lebens nur formal und damit leer geblieben ist, wird Heidegger Diltheys Fragestellung nachgehen. Heidegger selbst hat die Bedeutung einer so entfalteten Philosophie wie die Diltheys schon in seiner Habilitationsschrift aufgezeigt. Da diese einen Beitrag zum Verstehen des Kategorienproblems leistet, soll die Fragestellung Diltheys als ein Anstoß zur weiteren Entfaltung des Kategorienproblems verstanden werden. In der Habilitationsschrift weist Heidegger auf die entscheidende Bedeutung Husserls in bezug auf die Überwindung des Psychologismus hin. Zugleich jedoch merkt er auch an, daß die transzendentale Einstellung Husserls weiter zu problematisieren sei, „das läßt sich jedoch nur ermöglichen mit den systematischen Mitteln einer prinzipiell weltanschaulich orientierten Philosophie" (GA 1, S. 205, k.g.v.m.). Weltanschauung meint dabei, wie Heidegger später in den ,Kasseler Vorträgen' (1924) näher erläutern wird, „Wissen um das Leben und Stellungnahme" (KV, S. 145). Daher wird für Heidegger das genannte „Mittel" der ,Habilitationsschrift' von 1915 eine „notwendige Station auf dem Wege der Philosophie" (GA 59, S. 154, k.g.v.m.) im SS 1920. Die Rede von „Mittel" und „Station" zeigt ein Unterwegs in der Entfaltung der Fragestellung nach dem Sein. Dies deutet darauf hin, daß das Weltanschauliche der Lebensphilosophie nur in seinem nicht-transzendentalen Charakter gesehen werden darf. Dies ist das, was Heidegger als Anstoß betrachtet. In seinem ,Rückblick auf den Weg', geschrieben im Jahre 1937/38, hebt Heidegger diesen Anstoß heraus, den ihm die Philosophie Diltheys gewährte: „Der eigene Weg führte auf eine Besinnung über die GeschichteAuseinandersetzung mit Dilthey und der Ansetzung des „Lebens" als Grundwirklichkeit" (GA 66, S. 412). Diese Besinnung über die Geschichte und das Leben bzw. über den geschichtlichen Charakter des Lebens ist die Tendenz der Lebensphilosophie Diltheys, die für Heideggers Denken zum Anstoß wurde. Im SS 1923 schreibt Heidegger, daß die Lebensphilosophie Diltheys als ein „Durchbruch einer radikaleren Tendenz des Philosophierens" (GA 63, S. 69) genommen werden müsse. Allerdings sei bei dieser Tendenz die Grundlage ungenügend. In diesem Sinne wird er später in SuZ sagen, daß Diltheys Versuch nur unterwegs geblieben ist. Die Beziehung Dilthey-Heidegger darf daher nicht einfach als eine Fortsetzung ausgearbeitet werden. Wenn die Grundlage bei Dilthey ungenügend war, deutet sein „unterwegs" nur das Aufmerksammachen auf das Problem der Fragestellung nach dem Leben an. Dies besagt aber nicht, daß die Frage nach dem Leben dort be-
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
reits radikal gestellt wurde. Wir werden sehen, daß Dilthey in einer theoretischen Grundeinstellung verblieb, die es ihm nicht ermöglichte, in ein vorbewußtseinsmäßiges und nicht-erkentnnistheoretisches Gebiet zu gelangen. Die Radikalität der Fragestellung Heideggers umfaßt nicht nur die Frage als solche, sondern ist aus einer radikaleren Grundlage gestellt. Daher kann man sagen, daß das, was Dilthey mit „Leben" meint, eine ganz andere Bedeutung hat als das, was von Heidegger unter diesem Titel betrachtet wird. Nach diesen Vorbemerkungen wenden wir uns der Beziehung Dilthey-Heidegger näher zu. Heideggers Interesse an Dilthey geht nach seinen eigenen Angaben auf den Zeitraum zwischen 1910 und 1914 zurück. 46 In seiner letzten Marburger Vorlesung bemerkt Heidegger, wie bedeutsam die Beschäftigung mit Dilthey damals war: „Ich habe mich schon mit Kierkegaard auseinandergesetzt, als es noch keine dialektische Literatur gab, und mit Dilthey, als es noch unanständig war, ihn in einem philosophischen Seminar zu nennenu (GA 26, S. 178, k.g.v.m.). Wenn wir bereits angedeutet haben, daß Heidegger durch Dilthey einen ursprünglicheren Anstoß erhielt, dann muß nun ausführlicher geklärt werden, worin genau dieser Anstoß besteht. Es wurde bereits klar, daß Heideggers Frage nicht einfach auf das „Leben" oder die Geisteswissenschaften als solche abzielt, sondern seine Absicht vielmehr auf die Frage nach dem Sein gerichtet ist, ausgehend von der Frage nach den Kategorien. Damit man sich nicht von Beginn an in irrigen Auslegungen verirrt, muß daher diese „notwendige Station" des Heideggerschen Denkweges, die Lebensphilosophie, innerhalb der Grundeinsicht Heideggers betrachtet werden. Ein großer Teil der Sekundärliteratur hingegen deutet die Auseinandersetzung Heideggers mit Dilthey als eine bloße Übernahme und Fortsetzung der Einsichten Diltheys oder als eine bloße Begriffsänderung. 47 Diese Inter46 Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, in: Wissenschaft und Weltbild 12 (1959), S. 611. 47 R. Makkreels Ausarbeitungen gehen in beide Fehlrichtungen der Interpretation. In ,Dilthey. Philosoph der Geisteswissenschaften' (im folgenden: Makkreel, Dilthey) weist er auf die Phänomenologie Heideggers als eine Fortsetzung des von Dilthey schon gesehenen vortheoretischen Ansatzes und seines Zugangs hin. Makkreel sagt, daß „Dilthey [...] in der Tat das Feld der vorwissenschaftlichen phänomenologischen Beschreibung (eröffnet), welches Husserl und Heidegger später untersuchen sollten", Dilthey, S. 85. In einem späteren Aufsatz: Heideggers ursprüngliche Auslegung der Faktizität des Lebens: Diahermeneutik als Aufbau und Abbau der geschichtlichen Welt, in: D. Papenfuss und O. Pöggeler (Hrsg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers Bd. 2, S. 179-188 versucht Makkreel „Diltheys Einfluß auf Heidegger", der „viel größer ist als bisher angenommen wurde", zu beweisen anhand des „Einflusses" der Diltheyschen Aufbau-Abhandlung auf Heideggers Vorlesungen Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks und Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Makkreel versucht zu zeigen, wie sich die
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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pretationen sind, wie wir von Anfang an betont haben, aufgrund der zentralen Perspektive Heideggers zurückzuweisen. Wir haben ebenfalls bemerkt, daß die Frage nach den Kategorien in der Habilitationsschrift einen weiteren Weg in der Frage nach der Grundlegung der Geisteswissenschaften gefunden hat, insofern diese Grundlegung die Geschichte zu berücksichtigen versuchte und sich damit eine Erweiterung der Idee vom Subjekt ergeben hatte. An diesem Punkt tritt die Frage nach dem Leben ein. Heidegger schreibt im SS 1920: „Die heute stark betonte, aber nicht eindeutige Einstellungsrichtung auf die Lebenswirklichkeit, Lebensförderung und Lebenssteigerung sowie die üblich gewordene und viel gepflegte Rede von Leben, Lebensgefühl Erlebnis und Erleben sind die vielfältig motivierten Merkzeichen unserer geistigen Lage" (GA 59, S. 12 f.). Wir müssen nun diese „Einstellungsrichtung" ausführlicher erläutern, damit der Zusammenhang mit der Frage Heideggers sachgemäß freigelegt werden kann.
b) Die Grundlegung der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Leben In einem Brief an Husserl vom 29. Juni 1911 schrieb Dilthey: „Ein großer Teil meiner Lebensarbeit ist einer allgemeingültigen Wissenschaft gewidmet, die den Geisteswissenschaften eine feste Grundlage und inneren Zusammenhang zu einem Ganzen schaffen sollte. Dies war die ursprüngliche Konzeption meiner Lebensaufgabe im ersten Band der Geisteswissenschaften" 4 8 Im selben Jahr schrieb er eine Vorrede für den Band V seiner ,Gesammelte Schriften', in der er sagt, daß seine ,Lebensarbeit 4 „das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen" war (GS V, S. 4). In welchem Zusammenhang steht die im Brief genannte ,Lebensaufgabe 4, nämlich die Grundlegung der Geistes Wissenschaften, und die in der Vorrede genannte L e bensarbeit 4, das Leben verstehen zu wollen? Dilthey selbst zeigt die Beziehung in der Vorrede zu Band I der ,Gesammelten Schriften 4 (»Einleitung4): das Zentrum der Geisteswissenschaften besteht in der Analyse der Tatsachen des Bewußtseins, d.h. der inneren Erfahrung, dies war ein „fester Ankergrund für sein Denken44 (GS I, S. X V I I ) . 4 9 In den ,Ideen über eine Grundbegriffe Diltheys in die in den genannten Vorlesungen geprägten Termini Heideggers verwandeln. 48 Briefwechsel Dilthey-Husserl in: Man and World Bd. I (1968), S. 434. Wiederabgedruckt in: Materialien ..., S. 110. Die erste Veröffentlichung des Briefwechsels erfolgte 1957 in der ,Revista de Filosofia de la Universidad de Costa Rica'. 49 Im sogenannten „Althoff-Brief" (1882) schreibt Dilthey: „Ich gehe von einem planen Grundgedanken aus. Alle Wissenschaft, alle Philosophie ist Erfahrungswissenschaft" in: GS X I X , S. 389.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
beschreibende und zergliedernde Psychologie' wird er sagen: „Für die Geisteswissenschaften folgt [...], daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt" (GS V, S. 143). 50 Vor diesem Hintergrund kann Heidegger im SS 1920 schreiben, daß „das Problem der Geisteswissenschaften [...] kein Einzelproblem [ist], sondern der Ausdruck eines letzten philosophischen Motivs: das Leben aus sich selbst heraus, ursprünglich zu deuten" (GA 59, S. 154). Dilthey selbst macht sein Anliegen in dem sogenannten „Althoff-Brief' deutlich. Dort fragt er sich: „Wie kann aus den Erfahrungen des geistigen Lebens Wissenschaft des Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte werden?" (GS XIX, S. 390). Innerhalb dieser Frage müssen wir zwei Grundzüge herausheben: Einerseits muß zunächst die „Erfahrung des geistigen Lebens" geklärt werden, andererseits soll „die Genese der Wissenschaft" aus diesen Erfahrungen aufgewiesen werden. Mit dieser Fragestellung ist die Verkoppelung der Frage nach dem Leben (den Erfahrungen des geistigen Lebens) und der Frage nach der Grundlegung der Geistes Wissenschaften (die Genese der Wisenschaft) eigens vollzogen.
Aber die Entfaltung der Grundfrage Diltheys geschieht nicht von ungefähr, sondern sie wird systematisch durchgeführt: „Daß in der inneren Erfahrung und dem entsprechenden Verstehen Anderer Wirklichkeit, ja die einzige volle Realität, die wir besitzen, gegeben ist, bildet den ersten Teil der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften. Die Logik der Geisteswissenschaften macht den zweiten aus" (ebd.). Die Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften umfaßt somit zwei Hauptaspekte: einen ersten in bezug auf das Gegebene, nämlich die innere Erfahrung und das entsprechende Verstehen Anderer Wirklichkeit; einen zweiten in bezug auf eine bestimmte Logik, nämlich die Logik der Geisteswissenschaften. Die gesamte Aufgabe drückt Dilthey so aus: „ A u f dem Grunde einer [...] auf Psychologie basierten Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften erhebt sich dann eine Logik der Geisteswissenschaften" (ebd., S. 391). Der an dieser Textstelle eingeführte Terminus „Psychologie" deutet auf den ersten Hauptaspekt der gesamten erkenntnistheoretischen Aufgabe hin. Wir werden sehen, daß diese Psychologie mit Blick auf hermeneutische Elemente auszulegen ist. Die Rede von einem „entsprechenden Verstehen" deutet darauf hin. In diesem Sinne können wir im voraus sagen, daß der erste Hauptaspekt in einer bestimmten Psychologie und Hermeneutik besteht. Eine gewisse Ausformung dieses Aspekts führt zur Konstitution der Logik. Die Rede von Psychologie, Hermeneutik (Verstehen) und Logik muß ausführlicher erläu50 In der späteren Arbeit ,Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften' wird Dilthey sagen: „Leben, Lebenserfahrung und Geisteswissenschaften stehen so in einem beständigen inneren Zusammenhang und Wechselverkehr" (GS VII, S. 136).
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben tert werden, damit die Beziehung zwischen diesen Hauptaspekten
81 und
somit das erkenntnistheoretische Grundanliegen Diltheys eingesehen werden k a n n . 5 1 I n Diltheys Werk kann man drei Schreibperioden unterscheiden: 1. Von 1852 bis 1876: I n diesen Jahren entsteht das Projekt der Grundlegung der Geisteswissenschaften. D i e wichtigsten Ausarbeitungen in diesen Jahren sind ,Das Leben Schleiermachers' (1867) und ,Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften v o m Menschen, der Gesellschaft und dem Staat' (1875). 2. Von 1877 bis 1896: Hier konstituiert sich die ,Einleitung i n die Geisteswissenschaften' als Zentrum, i n dem das philosophische Programm D i l theys expressis verbis dargestellt wird. 3. Von 1900 bis 1910: Diese Periode ist als das „ S p ä t w e r k " bekannt. Das wichtigste Werk hier ist ,Der Aufbau der geschichtlichen Welt i n den Geisteswissenschaften '. Nach der Interpretation von O. F. B o l l n o w und G. M i s c h 5 2 lassen sich diese drei Perioden methodologisch i n zwei Phasen gliedern: die erste und dritte Periode berücksichtigen die Hermeneutik als allgemeine Methodologie der Geisteswissenschaften, während die zweite als eine deskriptive Psychologie zu denken ist. Gemäß dieser Auslegung wurde das Werk Diltheys 51
Die Entfaltung der Frage zeigt dabei „zwei verschiedene Seiten" (GS V, S. 4): das Geschichtliche und das Systematische. Wie wir schon gemerkt haben (§ 2), hat die übliche Literatur nur die geschichtliche Seite betrachtet. Weil unsere Absicht auf dem Zugang zum Leben liegt, werden wir die geschichtliche Seite fast ganz abblenden, damit die systematische Seite herausgehoben werden kann. Dies scheint durchaus legitim, denn die zwieseitige Stellung der Frage nach dem Leben bei Dilthey kann jeweils zu einer eigenen Untersuchung ausgearbeitet werden. Es werden deshalb nur bestimmte Aspekte der Fragestellung Diltheys herausgezogen, um auf diese Weise Heideggers Interpretation zu beleuchten. Ferner vgl.: H.-H. Gander , Positivismus als Metaphysik. Voraussetzungen und Grundstrukturen von Diltheys Grundlegung der Geisteswissenschaften, Freiburg/München, 1988 (im folgenden: Gander , Positivismus); H.-U. Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Wilhelm Diltheys erkenntnistheoretisch- logisch- methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften, Freiburg/München, 1984 (im folgenden: Lessing)\ F. Rodi , Morphologie und Hermeneutik: Zur Methode von Diltheys Ästhetik, Stuttgart, 1969; H. Ineichen, Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt. Diltheys Logik der Geisteswissenschaften, Frankfurt a.M., 1975 (im folgenden: Ineichen); M. Riedel, Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart, 1978; P. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft. Wilhelm Diltheys Revolution der allgemeinen Wissenschafts- und Handlungstheorie, Frankfurt a.M., 1968. 52 Vgl. O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie (1936), Schaffhausen, 1980 und G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie. Eine Auseinandersetzung der diltheyschen Richtung mit Heidegger und Husserl (1931), Darmstadt, 1967. 6 Xolocotzi
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
üblicherweise in eine hermeneutische und eine psychologische Phase unterteilt. 5 3 Demgegenüber hat jedoch bereits 1926 B. Groethuysen bemerkt, daß es sich hier vielleicht nicht um zwei verschiedene Phasen, sondern zwei „Problemreihen" handeltn könnte (GS VII, S. VII). Diese Vermutung konnte nach der Edition des Nachlasses (ab 1977) geklärt werden. Darin wird deutlich, daß es sich bei Diltheys Werk nicht um zwei verschiedene Phasen handelt, sondern um zwei Betonungen eines einheitlichen Programms, wie seine Grundfrage andeutet. Stets blieb das ursprüngliche Programm einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften die leitende Frage, diese gliedert sich jedoch in zwei „Teile". In diesem Sinne wurden die Akzentuierungen einmal auf die hermeneutische Seite und einmal verstärkt auf die beschreibend-psychologische Seite gesetzt. Es handelt sich nicht, wie bei Rickert, um „zwei Wege", sondern um einen Weg mit verschiedenen Akzentuierungen. Man muß hier aber betonen, daß beide „Problemreihen" von Hause aus sich auf einem erkenntnistheoretischen Boden bewegen. Damit ist ersichtlich geworden, daß sich beide Problemreihen auf den ersten Hauptaspekt der erkenntnistheoretischen Aufgabe Diltheys beziehen. Die Logik wird sich nur aufgrund dieses ersten Hauptaspektes erheben. Daher richten wir unseren Blick auf die Analyse dieses grundlegenden Aspektes, nämlich auf die psychologischen und hermeneutischen Ansätze Diltheys. Hierzu können wir folgende Fragen stellen: Wie ist die Hermeneutik zu verstehen? Ist das Verstehen dieser Hermeneutik ein vor-theoretisches Verstehen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Psychologie und Hermeneutik? Kann man die Hermeneutik als eine „Phase" unabhängig von der „psychologischen Phase" betrachten? Durch die Antworten auf diese Fragen wird sich bestätigen, daß Dilthey eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften zum Ziel hat. Zugleich aber nimmt diese Grundlegung ihren Ausgangspunkt in der beschreibenden Psychologie. Doch schon im erkenntnistheoretischen Anspruch des Ausgangspunktes sind hermeneutische Grundzüge von vornherein mitthematisiert. Die Komplexität der inneren Erfahrung in der Psychologie ist innerhalb eines hermeneutischen Horizonts zu verstehen, und von dort aus wird die Erhebung einer Logik als hermeneutische Logik verstanden. Die Mitthematisierung der hermeneutischen Grundzüge durch die Psychologie wird aber einen Zugang zum vortheoretischen Bereich verhindern. Daher blieb Dilthey stets auf theoretischem Boden.
53 Vgl. J. Grondin , Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt, 1991, S. 9; F. Rodi , Morphologie und Hermeneutik, S. 202.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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In diesem Sinne sind die erste und dritte Schreibperiode nur in bezug auf das ausdrückliche Stellen des Grundlegungsproblems voll verständlich. Daher richten wir unsere Analyse hauptsächlich auf die zweite Schreibperiode, in der die Ausarbeitungen der Einleitung, in der das Grundlegungsproblem der Geisteswissenschaften entfaltet wird, stattfinden.
§ 8. Der grundlegende Boden der Fragestellung nach dem Leben Wenn Dilthey von einer Grundlegung spricht, deutet er auf eine wissenschaftliche Basis hin. In diesem Sinne kann die Grundlegung der Geisteswissenschaften nur wissenschaftlich erfolgen. Aber ist dies nicht ein Teufelskreis? Wie konnten die Geisteswissenschaften wissenschaftlich verstanden werden, wenn die damaligen Wissenschaften von der Naturwissenschaft beherrscht waren und von daher das wissenschaftliche Modell gemäß dieser verstanden wurde? Die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften mußte anders begründet werden, und hier setzt das anfängliche Problem der Geisteswissenschaften an. Dilthey stellt sich daraufhin die Frage: Wie kann das geistige Leben wissenschaftlich werden? 54 Die Antwort erhält er, als er darauf aufmerksam wird, daß alle Geisteswissenschaften Erfahrungswissenschaften sind. 55 Mit dem Begriff der Erfahrung findet Dilthey einen festeren Boden, um die Grundlegung des geistigen Lebens zu entfalten: „was Leben sei, ist so in der Erfahrung gegeben" (GS XIX, S. 344), schreibt er in der ,Breslauer Ausarbeitung 4. Deshalb sagt Dilthey um 1880, daß die Erfahrung der Ausgangspunkt des Philosophierens ist. 5 6 Erfahrung darf hier nicht als bloßer Empirismus verstanden werden, oder als die erkenntnistheoretische Grundlegung der Neuzeit im kantischen Sinne. 57 Diese Modelle werden von Dilthey in Frage gestellt, und in diesem Sinne muß der Leitsatz „Empirie, nicht Empirismus" verstanden werden (GS XIX, S. 17). Der bloße Empirismus oder die transzendentale Auslegung der Erfahrung befinden sich nach Dilthey noch immer im Bereich der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Das Zentrum ist dabei das vorstellende Subjekt, das nur in bezug auf ein Bewußtsein, das vorstellt, zu denken ist. Ist es möglich, dies zu leugnen? Wie kann diese Tatsache anders geklärt werden? Dilthey wird, wie Riedel mit Recht bemerkt, nicht von einem vorstellenden Subjekt sprechen, aber er wird auch nicht das Bewußtsein in Frage stel54 55 56 57
6*
Vgl. GS X I X , S. 390. Vgl. GS I, S. X V I I ; GS X I X , S. 389. Vgl. GS X V I I I , S. 194. Dazu vgl. GA 41, S. 128.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
len. 5 8 D.h. daß er vom Satz der Phänomenalität ausgeht, aber zugleich die Struktur des neuzeitlichen Subjekts umdeutet. Der Satz der Phänomenalität besagt, daß die Wirklichkeit unter den Bedingungen des Bewußtseins steht; 59 was da ist, ist nur für ein Bewußtsein und in einem Bewußtsein da. 6 0 In diesem Sinne gibt es nichts außerhalb des Bewußtseins: Erfahrung kann nur als Tatsache des Bewußtseins verstanden werden. Aber dies ist nicht als bloßer Phänomenalismus zu betrachten, daß nämlich jede Erkenntnis auf Bewußtseinstatsachen reduziert wird. Die Erfahrung tritt notwendigerweise als Tatsache des Bewußtseins ein. Diese grundlegende Weise, in welcher etwas für mich da ist, wird von Dilthey als Innewerden gekennzeichnet. Innewerden ist somit die ursprüngliche Gegebenheitsweise einer Tatsache des Bewußtseins, d.h. Bewußtseinhaben von etwas. Auch wenn einige Interpretationen darauf hindeuten, daß Dilthey mit Innewerden ein „vortheoretisches Gebiet" betritt, muß gesagt werden, daß ihm dieses Gebiet als solches grundsätzlich verschlossen bleibt, da er die Erschließung nur ausgehend vom Theoretischen bzw. vom Psychologischen versucht. Innewerden bleibt von Anfang an gefangen im theoretischen Bewußtsein einerseits, obwohl eine Erweiterung desselben geschieht, und wird andererseits, wie wir sehen werden, nur vom psychologischen Ausgangspunkt her enthüllt. 61 Zunächst müssen wir zur Eigentümlichkeit von Diltheys Ansatz in bezug auf das Bewußtsein zurückkommen. Die Tatsache des Bewußtseins wird seit der Neuzeit nur in eine Richtung ausgelegt: als Vorstellung. Und Vorstellungen sind für Dilthey „Abstraktionen" (GS X V I I I , S. 119). Wenn die Erfahrung nur intellektualistisch als Vorstellung gedacht wird, dann entspricht sie dem, was vorstellt: dem Bewußtsein. Es handelt sich um ein vorstellendes oder abstrahierendes Bewußtsein. Dies ist für Dilthey eine beschränkte und intellektualistische Auslegung, die die Frage nach dem Leben selbst in seinen wesentlichen Zügen niemals treffen kann. Die viel zitierte Textstelle der , Einleitung 4 deutet darauf hin: „In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und
58
Vgl. M. Riedel, Verstehen oder Erklären?, S. 72. Es handelt sich nicht um ein Subjekt, sondern um eine „Substantivierung der Art und Weise, wie Inhalte überhaupt für mich da sind" (ebd.). 59 Vgl. GS X I X , S. 60. 60 Vgl. GS V, S. 90. 61 In diesem Sinne ist die Interpretation R. Makkreels irreführend, insofern als er darauf hinweist, daß die Radikalität des vortheoretischen Ansatzes, den Heidegger entfaltet hat, schon bei Dilthey zu finden sei (Vgl. R. Makkreel, Dilthey, S. 85). Man muß den philosophischen Ort Diltheys verstehen, und das bedeutet, „die Diltheysche Arbeit so stehen lassen, wie sie ist" (GA 17, S. 92). Für eine ausführliche Analyse des Innewerdens vgl. ferner R. Makkreel, Dilthey. S. 82-97; Kalariparambil, S. 41-54.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte von Vernunft als bloßer Denktätigkeit" (GS I, S. XVIII, k.g.v.m.)· 6 2
85
Saft
Die Frage nach dem Leben selbst kommt bei Dilthey in Betracht, wenn der ganze Mensch „in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte [...] zugrunde liegt", d.h. wenn das Leben als eine Struktur gesehen wird. 6 3 M.a.W., die Erfahrung als Tatsache des Bewußtseins ist nicht nur eine vorstellende, sondern sie muß in ihrer ganzen Tragweite ausgelegt werden. Das Subjekt wird von Dilthey nicht nur als Vorstellung interpretiert, sondern beinhaltet ebenso Wollen und Fühlen. 64 Daher muß die Erfahrung als eine dreifach dimensionierte gesehen werden: Sie ist eine voluntativ-affektiv-intellektuelle. Wird die Erfahrung in dieser ihrer Struktur interpretiert, ist Bewußtsein kein bloßes denktätiges Bewußtsein, dann rinnt in den Adern des Subjekts „wirkliches Blut". Nach Dilthey bezieht Bewußtsein nicht nur das Erkennen mit ein, sondern wesensmäßig auch das Bewerten und das Handeln. Diese sind nicht einfach Aggregate zur vorstellenden Charakterisierung, sondern bilden ein dreifach dimensioniertes Bewußtsein: „Vorstellen, Wille, Fühlen sind in jedem Status conscientiae enthalten und sind in jedem Augenblick des psychischen Lebens fortgehende Äußerungen desselben in seiner Wechselrichtung mit der Außenwelt" (GS XIX, S. 390, k.g.v.m.).
62 In dieser Textstelle wird zwar Descartes nicht genannt, aber in den vorangegangenen Paragraphen haben wir schon angedeutet, daß die Interpretation eines erkennenden Subjekts nur auf der Basis des cartesianischen ego-cogito-cogitatum zu verstehen ist. 63 Vgl. GS X I X , S. 353. 64 Man könnte hier einwenden, daß bereits bei Descartes eine solche „Erweiterung" in Betracht kam, sofern er in der zweiten Meditation der ,Meditationes de prima philosophia 4 das Denken im weiteren Sinne charakterisiert: „Res cogitans. Quid est hoc? Nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, et sentiens" (S. 23). Hier wäre res volens und sentiens schon im res cogitans eingeschlossen. Wie ist dann der Einwand Diltheys zu verstehen, daß Denken im weiteren Sinne bzw. Bewußtsein bei Descartes nur intellektualistisch, d.h. vorstellungsmäßig verstanden wurde? Vorstellen als cogito erweist sich als der ermöglichende Zugang zur menschlichen Existenz in ihrer Ganzheit. ,Sum' ist daher nur aufgrund des reflexiven Denkens, des cogito, möglich. Das menschliche Sein wird durch das reflexive Denken eröffnet. Wollen und Fühlen als andere Dimensionen der menschlichen Existenz hängen von dieser bewußtseinsmäßigen Struktur ab. Die drei Dimensionen, Vorstellen-Wollen-Fühlen, sind nicht gleichursprünglich aufgeschlossen, es besteht vielmehr ein Fundierungsverhältnis: das reflektive Denken eröffnet erst die anderen Dimensionen. Daher sagt Dilthey, daß Erfahrung bei Descartes nur als Vorstellung gedacht worden sei. Dilthey wird eine „Befreiung" dieses intellektualistischen Ansatzes und eine „Erweiterung" der Bewußtseinsauslegung durchführen, indem er das Bewußtsein nicht bloß qua Vorstellen als res cogitans sieht, sondern wesensmäßig auch als res volens und res sentiens.
86
1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Der Kern des Lebens selbst zeigt sich dann in seiner Struktur, und diese ist ein Zusammenhang des wollend-fühlend-vorstellenden Dreifachen: „Leben ist überall nur als Zusammenhang da". 6 5 Lebenszusammenhang meint aber keine substantielle unbewegliche Einheit, keine isolierte Psyche; sondern er bezieht sich einerseits auf das individuelle Seelenleben und andererseits auf die „Wechselrichtung mit der Außenwelt". Der Bezug auf Gesellschaft und Geschichte, der in dieser „Wechselrichtung" auftritt, ist kein bloßes Aggregat, sondern mit der einzelnen Psyche verschlungen. In der Einleitung weist Dilthey auf die Komplexität des Individuums hin: „Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen, welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren" (GS I, S. 51, k . g . v . m . ) 6 6 In diesem Sinne ist die Bewußtseinsauffassung Diltheys deutlicher geworden: Das Bewußtsein ist kein solipsistisches vorstellendes cogito , sondern ein wollend-fühlend-vorstellendes cogito , das seinerseits gerade auch in dieser „Erweiterung" nicht eingekapselt werden darf. Es ist ein Kreuzungspunkt, in dem sein Bezug auf Gesellschaft und Geschichte wesensmäßig erfahren wird. Wenn die Interpretation des Lebens wissenschaftlich durchgeführt und die Gefahr, in einen bloßen Irrationalismus zu geraten, vermieden werden soll, dann müssen wir die Frage nach einem sachgemäßen Zugang zu der angedeuteten Charakterisierung des Lebens stellen. Es ist hier nach einem adäquaten Zugang zum Lebenszusammenhang zu fragen. Der Zugang muß gemäß dieser andersartigen Auslegung der Erfahrung und des Bewußtseins entfaltet werden. Es wurde schon deutlich, daß sich der neuzeitliche Zugang der Naturwissenschaften als unzureichend erwies, da der Zusammenhang des geistigen Lebens nicht im Sinne der Gleichförmigkeit der Naturprozesse zu verstehen ist. Dementsprechend wurde die Herrschaft des naturwissenschaftlichen Zugangs durchbrochen, er ist fragwürdig geworden. 65
GS V, S. 144. Daher schreibt Rodi, daß das Grundthema Diltheys der Strukturzusammenhang des Lebens ist, und dieser enthält den Kernbestand einer Philosophie des Lebens. Vgl. Der Strukturzusammenhang des Lebens, in: Philosophen des 19. Jahrhunderts, S. 200. 66 Husserl hebt die Bedeutung der Ausarbeitungen Diltheys in bezug auf das einzelne Individuum heraus: „Die traditionelle Psychologie war wesentlich individualpsychologisch eingestellt und zudem vom Cartesianischen Dualismus geleitet ... Für Dilthey aber, dessen herrschendes Interesse das Universum der Geistes Wissenschaften umspannte und eine für sie zu leistende prinzipielle Grundlegung, (war) das einzelne psychische Individuum von vornherein gesehen als personales Subjekt im Gemeinschaftsleben und dieses in seiner einheitlichen Historie, die natürlich Gemeinschaftshistorie ist. Das ergab schon für das einzelne Menschensubjekt eine geänderte thematische Richtung, nämlich nicht auf die bloß einzelnen Erlebnisse, sondern von vornherein auf die Gesamteinheit des Erlebnisstromes [ . . . ] " Phänomenologische Psychologie (Hua IX), S. 355.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
87
Dilthey wird versuchen, den Zugang gemäß der geistigen Tatsachen zu interpretieren, und dies deutet nicht auf eine bloße neuzeitliche Erkenntnistheorie hin, sondern auf ein „ursprüngliches Gebiet", das die komplexe Totalität des Lebens erfassen kann: „Und nun ist die Stellung des Erkenntnisgesetzes vom Grunde zu den Geisteswissenschaften eine andere, als die zu den Wissenschaften der Außenwelt" (GS I, S. 394). Diltheys Versuch zielt auf eine Umdeutung der Erkenntnistheorie in bezug auf die Geisteswissenschaften ab. Dies wird erst möglich, als er aufweist, daß die neuzeitlich geprägte Erkenntnistheorie nicht bloß auf die geistigen Tatsachen übertragen werden sollte, sondern daß sich in den geistigen Verfahren grundlegend andersartige Elemente zeigen, die eine entsprechende Erkenntnis ermöglichen. Wenn „alle Erkenntnis [...] nur Analysis der Erfahrung [ist]" (GS XVIII, S. 193) und die Geisteswissenschaften von der inneren Erfahrung ausgehen, muß der Ausgangspunkt für die erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften in einer analytischen, beschreibenden Psychologie liegen. D.h., die innere Erfahrung muß irgendwie eröffnet werden, und wir werden sehen, daß dies nur in Form einer Analyse möglich ist. Die Rede von einer Psychologie deutet dann auf das anfängliche Erkenntnis verfahren bezüglich der geistigen Tatsachen hin. , Psychologie4 meint hier aber keine erklärende, empirische, sondern eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Das Beschreibende und Zergliedernde dieser Psychologie charakterisiert die Eigenart dieses Erkenntnisverfahrens: die Analyse. 67 Um 1894 drückt Dilthey deutlich aus, was er mit ,Psychologie' meint: „Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind [...]" (GS V, S. 152) 6 8 Wie aber ist es zu verstehen, daß die Psychologie als eine Wissenschaft „die erste und elementarste Wissenschaft" ist, und damit die Grundlage des weiteren Aufbaus bildet? (GS I, S. 33) Die beschreibende Psychologie enthält hauptsächlich zwei eigentümliche Züge: einerseits muß sie sich streng als eine deskriptive Wissenschaft begreifen (ebd., S. 32), 6 9 andererseits enthalten ihre Wahrheiten eine Beziehung zum vorausgesetzten Lebenszusammenhang. Ihr deskriptiver Charakter und ihr beziehungsbedingter Charakter 67
Ferner vgl. § 9 dieser Arbeit. Einige Seiten später erläutert Dilthey die Aufgabe dieser Psychologie innerhalb der Geisteswissenschaften: „Die volle Wirklichkeit des Seelenlebens muß zur Darstellung und tunlichst zur Analysis gelangen, und diese Beschreibung und Analysis muß den höchsten erreichbaren Grad von Sicherheit haben", ebd. S. 168. 69 In den ,Ideen' von 1894 schreibt Dilthey : „Alle psychologische Einzelerkenntnis ist nur Zergliederung dieses Zusammenhangs", GS V, S. 173. 68
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
deuten auf die hermeneutischen Züge dieser Psychologie hin, 7 0 d. h. auf ein anfängliches Verstehen des Lebenszusammenhangs. Dieser Beziehung zwischen Psychologie und Hermeneutik werden wir uns ausführlich im nächsten Paragraphen zuwenden. Zunächst aber ist noch etwas genauer auf die Möglichkeit der Erkenntnis der Geisteswissenschaften einzugehen. Um 1880 schreibt Dilthey, daß der dreifache Lebenszusammenhang Wollen-Fühlen-Vorstellen „nicht direkt erkennbar [ist]; jedoch ist es als Erlebnis da" (GS X V I I I , S. 116-17, k.g.v.m.). 7 1 Was Dilthey hier als „nicht direkt erkennbar" kennzeichnet, weist auf das ursprünglichere Merkmal des Erlebnisses hin. Es ist nicht „direkt erkennbar" im Sinne der neuzeitlichen Erkenntnistheorie; das erlebte Verhältnis ist primär gegeben. Der Lebenszusammenhang wird in diesem Sinne erlebt, aber dieses Erlebnis enthält bei Dilthey einen weiteren Charakter: es wird nur in bezug auf psychische Vorgänge ersichtlich. Dilthey deutet auf eine mögliche Klärung dieses Zusammenhanges hin: „Es muß in uns etwas sein, das diese Vorgänge schon vorfindet, das sie voraussetzen, das aber von ihnen toto coelo verschieden ist [...] dieses wollen wir ... als das Gegebene bezeichnen" (GS X I X , S. 334, k.g.v.m.). Das Gegebene ist dann nicht direkt gemäß der neuzeitlichen Erkenntnistheorie erkannt, es ist primär erlebt. Es ist vorausgesetzt erlebt, aber nicht erkenntnistheoretisch erfaßt. Wir haben schon bemerkt, daß diese Tatsache von Dilthey als Innewerden charakterisiert wird. Aber hier taucht die Frage auf, wie die „Beziehung" zwischen dem Gegebenen und den psychischen Vorgängen genau zu verstehen ist. Der Lebenszusammenhang qua das Gegebene wird erlebt. Das Gegebene als das Was der Erfahrung tritt aber notwendigerweise vorgangsmäßig ins Bewußtsein ein: „Die innere Wahrnehmung kommt so gut als die äußere vermittels der Mitwirkung der elementaren logischen Vorgänge zustande" (GS V, S. 172). Das Gegebene, obwohl von Dilthey als toto coelo verschieden von den Vorgängen gekennzeichnet, kommt nur durch die psychischen Vorgänge zum Vorschein. In ,Leben und Erkennen' wird dies deutlich geklärt: „Alies, schlechterdings alles, was in mein Bewußtsein fällt, enthält Gegebenes geordnet oder unterschieden oder verbunden oder bezogen, 70 Gander zeigt, daß bei Dilthey der Zusammenhang des Lebens eigentlich ein psychischer Zusammenhang ist; in diesem Sinne versucht er, in seiner Arbeit nachzuweisen, daß sich „die eigentliche Bestimmung der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis [...] als eine psychologische bzw. psychologisch fundierte" erweist, Positivismus, S. 179. 71 Im Paragraphen 14 vorliegender Arbeit werden wir zu diesem Punkt zurückkehren. Dort wird die Einsicht Heideggers von einem Zugang zum Erlebnis als solchem und nicht als Vorgang abgehoben. Dies wird anhand des Unterschieds zwischen einer möglichen vortheoretischen Urwissenschaft und der beschreibenden und zergliedernden Psychologie entfaltet.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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gleichviel in intellektuellen Vorgängen aufgefaßt" (ebd., S. 335, k.g.v.m.). Einige Seiten später fügt Dilthey hinzu: „Das Auftreten des Gegebenen ist bedingt durch eine Verbindung in dem Lebenszusammenhang" (ebd., S. 349, k.g.v.m.). Damit ist der Bezug zwischen dem Gegebenen und den Vorgängen deutlicher geworden: zwischen dem Auftreten des Gegebenen und dem Gegebenen selbst zeigt sich primär kein Unterschied. Es wird eigentlich keine Beziehung, sondern nur eine Einheit erlebt (ebd., S. 62). In diesem Sinne sind Akt und Inhalt unauflösbare Momente, die miteinander verbunden sind. Hier können wir die Frage stellen, ob diese Einheit nicht formell verstanden werden muß, wie dies bei Rickert der Fall ist. Rickert schreibt, daß „der bloße Inhalt [...] das logisch völlig Indifferente und Unsagbare [ist]" (ZW, S. 178). D.h., wenn das Was immer in einem Wie auftritt, in einer Form, warum sollte man noch das Was, das Gegebene, berücksichtigen? Dilthey würde mit einer weiteren Frage antworten: „Was hat dieses Verbinden und Einordnen für einen Sinn, wenn ich das, was eingeordnet und verbunden werden soll, wegdenke?" (GS XIX, S. 333, k.g.v.m.). Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied zwischen Diltheys und Rickerts Ausarbeitungen bezüglich des Zugangs zum Leben selbst. Für Dilthey hat das leer Formelle, das bloße Wie, nur einen Sinn in bezug auf das Inhaltliche, das Was. Und die Klärung des Sinnes dieses Was hinsichtlich des Wie, in dem es auftritt, bildet das Hauptanliegen im Werk Diltheys. Dilthey geht davon aus, daß in der Einheit des Was und Wie des Erlebnisses zunächst keine Unterscheidung zwischen Akt (Vorgängen) und Inhalt (Gegebenem) zu finden sei. Diese Einheit trägt vielmehr einen „vollzugshaften Charakter": „sonach hat ein solcher Akt [psychischer Akt, Α. X.] seine Vollendung in dem Vollzug der die Einheit konstituierenden Handlung und ist sozusagen eine Entelechie" (ebd., S. 144). Die Einheit selbst konstituiert sich als der letzte ermöglichende Grund, der einen Zugang zu ihr gewährt. Wir haben jedoch angedeutet, daß diese „vollzugshafte Einheit" als solche zunächst geschlossen bleibt, erst mit einer Form-Inhalt-Trennung kann sie ersichtlich werden. 72 Mit der Rede vom „Vollzug" im Sinne einer vorprädikativen und vortheoretischen Ebene versucht Dilthey einen ursprünglicheren Boden des Lebens zu gewinnen, aber da das Gegebene nur im psychischen Vorgang erscheinen kann, wird der Zugang zum Vollzug des Lebens zu einem durch die formale Seite der Einheit geprägten Zugang, d.h. einem Zugang zum Vorgang. In diesem Sinne kann das „Vollzugshafte" des Innewerdens nicht eigentlich vollzugshaft sein. Einerseits weil es nur in den psychischen Vorgängen zum Vorschein kommt, und 72 Durch den Form-Inhalt-Ansatz können wir mit Gander sagen, „daß auf der Ebene des Vorprädikativen damit jenes wiederkehrt, was Dilthey entschieden nur der Urteilsebene glaubt zuweisen zu können", Positivismus, S. 199.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
da das Psychische eo ipso theoretisch ist, ist dieses Vollzugshafte schon theoretisch geprägt. Andererseits bleibt diese Einheit im Bewußtseinsansatz gefangen, verschlossen. Das Vollzugshafte wird nur im Rahmen einer bewußtseinsmäßigen Selbstbesinnung eröffnet, die erst eine Unterscheidung innerhalb des nicht direkt erkennbaren „vollzugshaften" Erlebnisses durchführt. In diesem Sinne wird die vollzugshafte Einheit in-direkt erkannt, d. h. nicht in ihrem eigentlichen vollzugshaften Charakter, sondern in einer deskriptiven Modifikation. Zusammenfassend können wir sagen: Die zunächst nicht direkt erkennbar erlebte Einheit wird nur anhand des Form-Inhalt-Ansatzes eröffnet, nämlich in bezug auf das Was und in bezug auf das Wie. Das Was als das vorausgesetzte Gegebene deutet auf die hermeneutischen Züge der Analysis hin, die allerdings nur im psychischen Wie auftreten. Das Wie deutet auf die schon erwähnte Beschreibung des psychologischen Ausgangspunktes hin. Beide Hinsichten bilden die wesentlichen Elemente, um den angestrebten ursprünglichen Zugang zum Ganzen des Lebens zu erlangen. Die zwei Hinsichten dieser Einheit zeigen einen Versuch, die übliche neuzeitliche Spaltung Subjekt-Objekt zu überwinden. Die hermeneutisch-psychologische Einheit konstituiert sich als die Grundlage jener möglichen abgeleiteten Spaltung. Nun müssen wir uns dem hermeneutisch-psychologischen Ansatz zuwenden, damit der Diltheysche Zugang zum Leben deutlicher wird.
§ 9. Der deskriptiv-teleologisch-hermeneutische Zugang zum Leben Der Zugang zu der „vollzugshaften Einheit" wird von Dilthey als Selbstbesinnung charakterisiert: „Ich nenne die Grundlegung, welche die Philosophie zu vollziehen hat, Selbstbesinnung, nicht aber Erkenntnistheorie. Denn sie ist eine Grundlegung sowohl für das Denken und Erkennen, als für das Handeln" (GS XIX, S. 89). 7 3 Wie aber ist dann diese Selbstbesinnung zu verstehen? Es ist klar, daß die Selbstbesinnung auf die Erfahrung, d.h. auf die Totalität unseres Selbst, gerichtet ist, aber es ist noch nicht klar, inwiefern sie den Zugang zur „vollzugshaften Einheit" ermöglicht und in welchem Verhältnis sie zur Hermeneutik und Psychologie steht. Wenn die Selbstbesinnung den Anspruch eines ursprünglichen Zugangs erhebt, dann muß sie als Zugang ein „Erblicken" der Zusammenhänge des geistigen Lebens ermöglichen. 74 Das Erblicken ist aber nicht zu charakterisieren als eine Brücke zwischen Wirklichkeiten und Begriffen, Sein und Denken; dies 73 Ferner vgl. Gander, Positivismus, S. 181 ff.; Johach, S. 92-100; Lessing, S. 189 ff.; Kalariparambil, S. 41-54. 74 Vgl. Ineichen, S. 19. Er erklärt, daß die Selbstbesinnung zwei Teile umfaßt: einen geschichtlichen und einen systematischen. Und der letztgenannte Teil konsti-
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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setzte die Subjekt-Objekt Spaltung schon voraus und wäre so eine neuzeitliche Erkenntnistheorie.
Das Erblicken befindet sich vielmehr auf einer
„ursprünglichen Ebene", die als der ermöglichende Zugang zur Totalität des Lebens der Erkenntnistheorie vorausgeht. 7 5 Es wurde schon Makkreels Auslegung angesprochen, daß bei Dilthey
von einer
„vortheoretischen"
Ebene die Rede sein k a n n . 7 6 Sofern jedoch das Z i e l Diltheys ein bewußtseinsmäßig erkenntnistheoretisches ist, ist auch das Unternehmen als ganzes von vornherein theoretisch geprägt. Einen vor-theoretischen Zugang kann es nur dort geben, w o primär der erkenntnistheoretische Ansatz und die bewußtseinsmäßige Betrachtung i n Frage gestellt und somit das Erlebnis als solches enthüllt würde. Diese M ö g l i c h k e i t ist nur gegeben, wenn w i r uns auf eine noch grundlegendere Ebene begeben: die ontologische Sphäre, durch die das bewußtseinsmäßige Erkenntnistheoretische ermöglicht wird. N u r i n diesem Sinne öffnet sich das Vortheoretische bzw. die Erlebnissphäre als solches. Wenn der Zugang z u m Leben bei Dilthey demnach eigentlich kein vortheoretischer ist, darf er aber trotzdem nicht als eine naturwissenschaftliche Erklärung betrachtet werden. D a das Leben einen eigentümlichen Charakter hat, ist auch der Zugang in eigener Weise zu verstehen. I n ,Leben und Erkennen' macht Dilthey deutlich, w i e ein solcher Zugang m ö g l i c h ist: Der Ausdruck Leben spricht das einem jeden Bekannteste, Intimste aus. Zugleich aber das Dunkelste, ja ein ganz Unerforschliches. Was Leben sei, ist ein nicht aufzulösendes Rätsel. Alles Sinnen, Forschen und Denken erhebt sich aus diesem
tuiert sich als „die Logik der Geisteswissenschaften [...] unter ihrem erkenntnistheoretischen Aspekt". 75 In einer späteren Schrift bestätigt Dilthey diese Interpretation: „Die Grundlegung der Philosophie ist nicht nur erkenntnistheoretisch [...] Eine Grundlegung, welche diese verschiedenen Gebiete umfaßt, als Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Erfahrung des Wirklichen und als Inbegriff derselben Theorien über Bestimmung von Werten und Handeln nach Zwecken, kann als Selbstbesinnung bezeichnet werden" (Übersicht meines Systems, in: GS VIII, S. 179, k.g.v.m.). 76 Vgl. Makkreel Dilthey, S. 85. Makkreel argumentiert, daß „Diltheys Diskussion des Bewußtseins [...] weitgehend aus vorwissenschaftlichen phänomenologischen Beschreibungen besteht statt aus psychologischen Beschreibungen". Als Beweis dafür führt er ein Zitat an, in welchem Dilthey sagt, daß die „Psychologie [...] die anthropologische Struktur des Menschen nicht in sich einschließt" (GS X I X , S. 289). Das „vortheoretische Gebiet" als Innewerden ist dann für Makkreel transzendental „ohne ein transzendentales Ich zu setzen" (ebd.). Aber diese „transzendental vortheoretische" Ebene kann nur die „anthropologische Struktur des Menschen" innerhalb der Grenzen, die Dilthey niemals überschritten hat, die Grenzen des Bewußtseins, einbeziehen. Das nicht bewußtseinsmäßige Vortheoretische bleibt unzugänglich. Durch Makkreels Argumentation bleiben viele Fragen offen: Wie verhält sich das „transzendental Vortheoretische" zum Bewußtsein? Hat nicht gerade Dilthey versucht, mit den psychologischen Beschreibungen die transzendentale Beschreibung zu ersetzen?
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Unerforschlichen. Alles Erkennen wurzelt in diesem ganz nie Erkennbaren. Beschreiben kann man es. Man kann seine einzelnen charakteristischen Züge herausheben. Man kann gleichsam der Betonung und dem Rhythmus in dieser erregten Melodie nachgehen (GS X I X , S. 346, k.g.v.m.). 7 7
Der Zugang ist zunächst, wie wir schon angedeutet haben, ein Beschreiben. Das Beschreiben des Lebens geschieht als ein Herausheben der einzelnen Züge des Lebens oder als ein seiner Struktur Nachgehen. Dies bedeutet jedoch nicht, über das Leben hinauszugehen: man kann nicht „hinter das Leben zurückgehen". 78 Das Denken als möglicher Zugang zum Leben ist nur eine Funktion des Lebens selbst, nur dessen Ausdruck, aber nicht seine Grundlegung: „Das Leben bleibt für das Denken unergründlich [...]" (GS X I X , S. 347). Das Bild des Lebens als „erregte Melodie" deutet auf die Beziehung Zugang-Leben, die Dilthey darstellte, hin. Das Leben kann als eine Melodie betrachtet werden, insofern sie als ein Ganzes gedacht werden muß. 7 9 Eine Melodie kann nicht einfach in Stücke zerlegt werden, dadurch verschwindet die Melodie. Damit die Melodie als solche erhalten bleibt, muß sie in ihrer Ganzheit verstanden werden. Wir gehen einfach der Melodie nach. Aber im Nachgehen der Melodie können wir vielfältige Betonungen und den Rhythmus entdecken. Diese haben nur einen Sinn innerhalb der Melodie selbst. Unabhängig von ihr werden sie unverständlich. Analog dazu ist der Zugang zum Leben zu deuten. Er ist keine erkenntnistheoretische Erklärung im Sinne der Naturwissenschaft oder eine Konstruktion im Sinne Rickerts, sondern ein Beschreiben des Lebens als ein Herausheben seiner charakteristischen Züge. Aber welche sind diese Züge? Was wird beschrieben? Wie wird beschrieben? Das zu Beschreibende, wurde schon gesagt, ist der gegebene Strukturzusammenhang. Der gegebene Strukturzusammenhang als das Vorausgesetzte hat lebendige, geschichtliche Züge (GS X I X , S. 51). Diese Seite der Betrachtung konstituiert sich als die hermeneutische Hinsicht. 80 In diesem Sinne können wir sagen, 77
In einem Brief an Graf Yorck v. Wartenburg vom September 1897 erläutert Dilthey diese Grundeinsicht: „Man muß vom Leben ausgehen. Das heißt nicht daß man dieses analysieren muß, es heißt daß man es in seinen Formen nachleben und innerlich die in ihm liegenden Consequenzen ziehen muß. Die Philosophie ist eine Aktion, welche das Leben dh. das Subjekt in seinen Relationen als Lebendigkeit, zum Bewußtsein erhebt und zu Ende denkt", Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877-1897, S. 247. 78 Vgl. Erfahren und Denken, in: GS V, S. 83. 79 Das Bild einer Melodie bietet Elemente, um sich komplexen Problemen anzunähern. Beispiele des Gebrauchs der Melodie als Bild für verschiedene Analysen bieten Husserls , Vorlesung zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins' und Rickerts »Gegenstand der Erkenntnis'. Zu einem anderen Gebrauch des Musikbildes vgl. die Breslauer Ausarbeitung in: GS X I X , S. 67 ff.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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daß die Selbstbesinnung ein hermeneutisches Merkmal trägt, insofern in der Beschreibung der charakteristischen Züge des Lebens lediglich eine Klärung der Voraussetzungen geschieht (ebd., S. 36, 79). Daher wird dieser vorausgesetzte Strukturzusammenhang zum Sachgebiet der Selbstbesinnung 81 und seine Beschreibung zu ihrem Ziel. Die Beschreibung des Lebens wird von Dilthey innerhalb einer Psychologie betrachtet. Dies deutet auf die andere Hinsicht der Methodologie hin. Die Psychologie, sagten wir, muß in den Grenzen einer deskriptiven Wissenschaft bleiben und ist in diesem Sinne keine erklärende Psychologie, 82 sondern eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, die, wie schon bemerkt wurde, nur in bezug auf das hermeneutische Denken zu verstehen ist. 8 3 Wenn die Selbstbesinnung durch das Beschreiben auf den gegebenen Zusammenhang abzielt, dann können wir mit Gadamer die Methode als eine teleologische charakterisieren, insofern sie einem bestimmten Telos folgt. 8 4 Im „beschreibenden Erkennen" des Gegebenen in der Selbstbesinnung geschieht, nach Dilthey, keine Umformung des Gegebenen, sondern eine „.Deskription" (GS X I X , S. 340). Diese Deskription enthüllt sich als das Ziel des Zugangs. Somit ist bei Dilthey „Erkenntnis" nur durch Deskription möglich. In diesem Sinne ist das Teleologische hier nicht eine Produktion, wie bei Rickert, sondern eine Deskription. 85 Der methodologische Zugang
80 In der Sekundärliteratur wird dies oft als ein Vor-Verständnis des Strukturzusammenhangs interpretiert. H.-H. Gander betont, daß die Rede vom „Vor-Verständnis" mißverstanden werden kann, insofern sie „nicht der Sache nach im existenzialontologischen Sinne Heideggers von Dilthey bedacht, sondern als besagte Vorstruktur hier von Dilthey eben primär wissenschaftslogisch reflektiert [ist]", Positivismus, S. 209. 81 Vgl. GA 59, S. 172. 82 Es muß hier auch deutlich gesagt werden, daß Dilthey die erklärende Psychologie nicht bloß zurückweist, sondern, wie Johach schreibt, die Absicht hatte, „sie zu ergänzen und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen", Handelnder Mensch und objektiver Geist, S. 105. 83 F. Rodi interpretiert den Bezug Psychologie-Hermeneutik bei Dilthey in dem Sinne, daß „die Charakterisierung seiner Psychologie als beschreibend und zergliedernd [...] Ausdruck dieses hermeneutischen Denkens [ist]", Wilhelm Dilthey. Der Strukturzusammenhang des Lebens, in: Philosophen des 19. Jahrhunderts, S. 203. 84 H. G. Gadamer , WuM, S. 70 ff. 85 Gadamer interpretiert hier das Teleologische doch als „Produktivität", weil „alles Verstehen von Sinn „ein Zurückübersetzen der Objektivationen des Lebens in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen sind" [ist]", W u M S. 71. In diesem Sinne ist Deskription Produktion; wir bevorzugen im folgenden dennoch den Terminus Deskription, um den wesentlichen Unterschied zur werttranszendentalen Produktion herauszuheben.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
bei Dilthey kann als eine deskriptive teleologische Hermeneutik charakterisiert werden. Es ist wichtig, hier zu betonen, daß die Deskription kein neuartiges Element bildet, sondern als eine Entfaltung des von vornherein Gegebenen geschieht. Dies bedeutet, daß die Möglichkeit der Deskription schon im Erlebnis enthalten ist. Aus diesem Grunde kann man die beschreibende Psychologie dem hermeneutischen Ansatz unterordnen. In diesem Sinne schreibt Heidegger: „das Erlebnis denkt Dilthey allerdings schon als Verstehen" (GA 59, S. 163, k.g.v.m.). 8 6 M.a.W., mit der Voraussetzungshaftigkeit ist der hermeneutische Ansatz schon gegeben. Das Gefragte ist schon irgendwie verstanden, vorgegeben und vorstrukturiert. Das Leben selbst als das Gegebene, das erlebt wird, ist zugleich schon irgendwie „vor-verstanden". Dieses „Vorverständnis" aber ist von vornherein psychologisch geprägt, da das Erlebnis bei Dilthey nur als psychischer Vorgang auftreten kann. In diesem Sinne muß man dieses „Verständnis" als ein „psychologisches Verständnis" charakterisieren. Das Leben Verstehen wird nun durch das Beschreiben und Zergliedern der Psychologie möglich: „Die Tatsache, um deren Analysis es sich in dem, was man Psychologie nennt, handelt, ist das Leben selber" (GS XIX, S. 99, k.g.v.m.). Mit der teleologischen Hermeneutik versucht Dilthey eine Überwindung des Psychologismus zu erreichen. In den vorangegangenen Paragraphen sagten wir, daß auch der Neukantianismus eine Überwindung des Psychologismus durchgeführt hat, jedoch in anderer Form. Jene Überwindung trägt die Züge einer transzendentalen Methode, die „eine völlige Unabhängigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie" fordert (GS V, S. 148). 87 Wenn Dilthey am Beschreiben der Psychologie festhält, dann deutet er auf eine Möglichkeit der Überwindung des Psychologismus hin, die nicht transzendental ist. Die hermeneutisch-deskriptiv-psychologische Methode zeigt keine völlige Unabhängigkeit von der Erkenntnistheorie, ist aber auch nicht als ein bloßer Psychologismus zu sehen. Es wurde schon gesagt, daß Diltheys Absicht in einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Geisteswissenschaften bestand. Er hat jedoch nicht einfach die Erkenntnistheorie aus der Naturwissenschaft übertragen. Die Erkenntnistheorie wird vielmehr von Dilthey in eigener Weise interpretiert, und zwar in bezug auf die beschreibende Psychologie und die teleologische Hermeneutik. Diese konstituieren die wesentlichen Elemente einer Erkennt86 Es ist hier wichtig zu bemerken, daß diese Einsicht bei Dilthey eine Wandlung erfährt. Bis um 1900 wurde Erlebnis mit Verstehen gleichgesetzt. Nach 1900 wird ein Unterschied eingeführt: das Verstehen setzt das Erleben voraus. In diesem Sinne wird das Verstehen immer durch Ausdrücke vermittelt. Die Triada Erleben-Verstehen-Ausdruck benennt die Tendenz der weiteren Ausarbeitungen Diltheys. 87 Vgl. die Analyse des „zweiten Wegs" Rickerts im § 5 vorliegender Arbeit.
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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nistheorie im Sinne einer Selbstbesinnung: „.Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung, und zwar sich nach einem bestimmten Ziele bewegend" (ebd., S. 151, k.g.v.m.). Einige Seiten später deutet Dilthey an, daß die „Erkenntnistheoretische Grundlegung" der Geisteswissenschaften hinsichtlich der „Hermeneutik als ein Teil der Erkenntnistheorie" zu sehen ist (GS VI, S. 311, k.g.v.m.). In diesem Sinne sagten wir, daß Dilthey innerhalb einer Erkenntnistheorie verbleibt, aber diese wird als Selbstbesinnung durch das beschreibende Element der Psychologie und durch das hermeneutische Element umgedeutet. Die Psychologie und die Hermeneutik werden nun als wesentliche Elemente einer möglichen Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften freigelegt. 8 8 Aber es bleibt immer noch die Frage, wie der Prozeß der Erkenntnis konkret geschieht. Die Deskription als das Erfassen des Gegebenen geschieht als eine „allmähliche Aufklärung der Voraussetzungen" (GS X I X , S. 36). Das Allmähliche des Prozesses wird von Dilthey als eine „,Steigerung der Bewußtheit" gekennzeichnet (ebd., S. 355, k.g.v.m.). In dieser Steigerung liegt die Struktur der „Erkenntnis". Die psychischen Vorgänge, die irgendeinen Zusammenhang zeigen, in dem das Gegebene immer schon steht, werden von Dilthey auch als „elementare logische Operationen" oder als „Denken in seiner einfachen elementaren Natur" oder als „schweigendes Denken" beschrieben. 89 Diese Operationen oder dieses „schweigende Denken" konstituieren sich als die „innere Begrifflichkeit" oder „Intellektualität" (GS XIX, S. 91), 9 0 die fundierend für höhere Stufen des Denkens sind, wie z.B. das diskursive Denken. Dieses primäre Denken ist dann das erste, das das „Wissen" des Lebens zugänglich macht (ebd., S. 349). Heidegger wird im SS 1920 bemerken, daß damit ein Problem gestellt, aber nicht gelöst ist. 9 1 Diese Problematik wird auch von Dilthey zugestanden, etwa wenn er schreibt, daß die Arbeit des Denkens „etwas Tragisches" ist, weil „das Denken [...] das Leben selber erhellen, aber nicht hinter es kommen [kann]" (GS XIX, S. 357). Es geschieht hier ein „tragischer Widerspruch", der jedoch von Dilthey nicht weitergedacht, gar aufgelöst wird. Man befindet sich an diesem Punkt bei Dilthey in einer Sackgasse, Aporie, aus welcher man nicht herauskommen kann. Dilthey gelingt es in seinem ganzen 88
Johach sieht die Eigentümlichkeit des psychologischen Ansatzes Diltheys vor allem darin, daß diese beschreibende Psychologie den Menschen a) als lebendige Ganzheit und b) als geschichtliches Wesen erfaßt. Vgl. Handelnder Mensch und objektiver Geist, S. 111. 89 Dieses Denken und die Kategorien werden im späteren Werk Diltheys in die Lehre vom Verstehen einbezogen. Ferner vgl. Ineichen S. 23 ff. 90 Ferner vgl. GA 59, S. 161. 91 Vgl. GA 59, S. 163.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Werk nicht, einen Ausweg zu finden. Er anerkennt, daß in der Auffassung des erlebten Zusammenhangs „große Schwierigkeiten" liegen (GS V, S. 317). Diese Problematik bleibt bei ihm eine Aporie, weil er die Absicht hat, das Leben nicht in Anlehnung an das neuzeitliche Subjektsmodell und die ihm korrelierende Erkenntnistheorie zu interpretieren, aber trotzdem innerhalb des neuzeitlichen Ansatzes verbleibt, da er in seiner Auslegung bezüglich des Lebens und des Denkens über das Leben grundsätzlich die neuzeitliche Struktur bewahrt. Es geschieht nur eine Erweiterung des Horizonts des Bewußtseins, aber das Bewußtsein selbst wird nicht in Frage gestellt. Nur eine ursprünglichere ontologische Frage, die eigentlich das vortheoretische Feld öffnet, kann einen Ausweg in bezug auf diese „Tragödie" des Zugangs zum Leben anbieten. Diese Möglichkeit bleibt aber bei Dilthey verhüllt. Wenn man versucht, das Vortheoretische als Grundlage Diltheys zu nehmen, sieht man, daß er das vortheoretische Erlebnis immer nur als psychischen Vorgang versteht und dementsprechend der Zugang zu ihm psychologisch-theoretisch eingestellt ist. Damit können wir deutlicher sehen, warum die Fragestellung nach dem Leben bei Dilthey ein Unterwegs geblieben ist. Erst der Ansatz Heideggers konnte in seiner ontologischen Grundlegung eine entscheidende Wandlung zur Klärung des Zugangs zum Leben bieten und damit den Ort des diskursiven Denkens in bezug auf das Leben finden. Die späteren Ausarbeitungen Diltheys in bezug auf die Kategorien des Lebens und den Wirkungszusammenhang konnten keine Klarheit in dieses Problem bringen, da die hier dargestellte Grundlegung, die das ganze Werk Diltheys hindurch bestehen blieb, nicht radikal genug war. Mit dem bisher Gesagten können wir nun einige Punkte herausheben, die im Auge zu behalten sind, wenn man sachgemäß den philosophischen Ort Diltheys in bezug auf das Denken Heideggers auslegen will: 1. In seinem Versuch einer Grundlegung der Geisteswissenschaften führt Dilthey eine Erweiterung des vorstellenden Subjekts durch, bleibt aber immer noch im Rahmen des Bewußtseinsansatzes der Neuzeit. Nicht das Bewußtsein als solches wird in Frage gestellt, sondern lediglich seine Gestalt als bloß vorstellendes. 2. Die konkrete Erweiterung des Subjekts geschieht in bezug auf ein Was, das den gegebenen Lebenszusammenhang berücksichtigt, und in bezug auf ein Wie, das den methodologischen beschreibenden Ausgangspunkt bietet. 3. Das Beschreibende der Psychologie kann nur in bezug auf das Gegebene berücksichtigt werden. Das Psychologische des methodischen Verfahrens ist aber eo ipso im theoretischen Gebiet eingekapselt. In diesem Sinne ist das vollzugshaft Gegebene als solches unzugänglich. Es ist nur psycho-
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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logisch bzw. theoretisch zugänglich, d.h., das vortheoretische Erlebnis ist nur als psychologischer Vorgang erfaßt. 4. Der psychologische Zugang zum Gegebenen zeigt eine erkenntnistheoretische Funktion: er zielt nur auf die Erkenntnis ab. Daher wird der Zugang zum Leben bei Dilthey als eine deskriptiv-teleologische Hermeneutik charakterisiert. Sie deutet einerseits auf die Richtung einer ursprünglicheren Fragestellung nach der vollzugshaften Einheit des verstehenden Erlebnisses hin, andererseits geschieht dies in einer nicht ausreichend radikalen Weise, nämlich in einer psychologisch-theoretischen Weise.
§ 10. Die intransitive Auslegung des Lebens: Leben als Erlebnis Es wurde bereits gesagt, daß die Frage nach dem Leben als Ausgangspunkt die Erfahrung qua Tatsache des Bewußtseins nimmt. 9 2 Daher wird alles, was im Bewußtsein ist, erlebt. Aber das im Bewußtsein Gegebene ist nicht eine äußere Erfahrung als Sensation oder eine innere als Reflexion (GS X V I I I , S. 194), sondern eine Erfahrung in „doppelter Richtung": Die Erfahrung in bezug auf die „innere" Seite wird als Erlebnis unseres Fühlens, Willens oder Vorstellens charakterisiert. Die Tatsache des Bewußtseins in bezug auf die „äußere" Seite wird als Widerstand erlebt: als die Welt. Diese doppelte Richtung, in der sich die Erfahrung vollzieht, charakterisiert das menschliche Leben als den in den vorangegangenen Paragraphen genannten „Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen". In diesem Sinne legt Dilthey weniger Wert auf die in der Tradition gestellte Frage nach der „Außenwelt". Für ihn liegt das Entscheidende, wie Riedel bemerkt, in der Welt, in der wir leben. 93 Welt und Leben weisen nicht auf getrennte Gebiete, sondern auf eine Wechselrichtung hin, genauer: auf die Wechselrichtung des psychischen Lebens mit der Welt in ihrem Widerstandscharakter. In dieser Wechselrichtung gewinnt Dilthey eine einheitliche Bestimmung des Lebens: „die Dinge finden wir mit unserem Selbst gegeben, unser Selbst mit den Dingen [...] was in diesem Akte der Berührung sozusagen sich vollzieht, ist das Leben [...] als Erlebnis" (GS XIX, S. 153, k.g.v.m.). Damit ist klar, daß sich das Leben als Erlebnis nicht nur auf „ein bloßes Inneres" bezieht, sondern auf das jeweilige Korrelat: auf die Welt. Das Leben ist dann das, was sich in der Berührung zwischen unserem Selbst und der Welt vollzieht. Das Leben ist nur in bezug auf Welt zu verstehen, die als Widerstand erlebt wird. Die Dinge werden in ihrem Widerstandscharakter verstanden. Es wurde bereits bemerkt, daß in dieser Wechselrichtung 92 93
Vgl. § 8 der vorliegenden Arbeit. Vgl. M. Riedel, Verstehen oder Erklären?, S. 81.
7 Xolocotzi
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
oder Berührung der gesellschaftliche und geschichtliche Charakter des Lebens mitthematisiert ist. Somit kann Dilthey zu einer vollen Bestimmung des Lebens als Erlebnis gelangen: Erlebnis in seiner Komplexität, nämlich als ein dreifacher Zusammenhang, zu dem in Wechselrichtung mit der Welt als Widerstand gesellschaftliche und geschichtliche Charaktere wesensmäßig dazugehören. Mit dem Gesagten können wir die von Heidegger charakterisierte zweite Hauptauslegung des Lebens besser verstehen, nämlich, Leben im intransitiven Sinne: Leben als Erleben oder Erlebnis (GA 59, S. 18; GA 9, S. 15; GA 61, S. 82). Hier wird nicht „etwas" erlebt, sondern das Leben selbst erlebt sich. D.h., daß das Leben bei Dilthey im eigentlichen Sinne kein Transitivum erlebt: weder eine bloße empirische Wirklichkeit noch wertbezogene Güter. Das Leben als Erlebnis deutet auf einen eigentümlichen ursprünglicheren Charakter des Lebens hin: das Verstehen des Lebenszusammenhangs innerhalb seines Selbst. Dies bedeutet, daß das Erlebnis keine Umformung im Sinne einer Produktion der Erkenntnis des Lebens beinhaltet. In diesem Sinne deutet die Intransitivität dieser Auslegung auf den selbstgenügsamen Charakter des Lebens hin und nicht auf einen transzendentalen Ansatz. Wenn bei Dilthey aber doch ein Zugang zum Leben in Form einer gewissen deskriptiven Modifikation freigelegt wird, wie ist dann hier die Intransitivität des Lebens zu verstehen, wenn dieses eigentlich nur als Vorgang verstanden werden kann? Es wurde bereits gesagt, daß das Erlebnis die Weise bildet, wie sich die dreigliedrige Struktur des Lebens, wollend-fühlend-vorstellend, zeigt. Diese Struktur ist nicht direkt erkennbar (GS XVIII, S. 116-17), aber als Erlebnis da. Diese Charakterisierung des Erlebnisses deutet darauf hin, daß dieses einen Funktionszusammenhang darstellt. D.h., wie wir bereits bemerkt haben, daß sich das Erlebnis notwendigerweise in zusammenhängenden Funktionen zeigt, nämlich als geordnet, verbunden, bezogen, usw. Sein Dasein ist somit nur als psychischer Vorgang möglich. Die Betrachtung des Erlebnisses als Vorgang bedeutet aber nicht, daß der Vorgang bereits ein Transitivum ist. Er ist das Erlebnis in seiner möglichen zugänglichen Weise. Bei Dilthey ist also das Erlebnis nur als Vorgang zugänglich. Die gewisse Modifikation geschieht innerhalb der Intransitivität des Lebens. Wenn das Erlebnis nur als ein funktionszusammenhängender Vorgang erscheinen kann, ist der methodische Zugang zu ihm nur als Beschreibung bzw. Analysis möglich. Das Beschreiben und Zergliedern der Psychologie Diltheys ermöglicht einen Zugang zum Erlebnis als Vorgang, indem es die „einzelnen charakteristischen Züge" des Lebens heraushebt. In diesem Sinne wurde bereits klar, daß der Zugang zum Erlebnis bei Dilthey das Erlebnis nur als Vorgang betrachtet, und dementsprechend konstituiert er sich als eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, die
2. Kapitel: Diltheys Zugang zum Leben
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ihrerseits eine teleologische Struktur zeigt: die Deskription konstituiert sich als das Telos. Dies leugnet aber nicht Diltheys Einsicht des Lebens im intransitiven Sinne. D.h., der Zugang konstituiert sich keineswegs als eine transzendentale Produktion, obwohl er das Leben nur in dessen vorgängigem Charakter fassen kann. Der Zugang ist als Deskription immer nur als eine Funktion des Lebens zu verstehen. Dies drückt Dilthey deutlich aus: „Die fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis sind im Leben gegeben und das Denken kann nicht hinter sie greifen" (GS V, S. 136). 94 Der Zugang zum Leben als die Klärung dieser Voraussetzungen bildet den Prozeß der Erkenntnissteigerung, d.h. die Weise, wie das Leben in sich erkenntnismäßig zugänglich wird. Anhand des Gesagten wird offensichtlich, daß Dilthey sich von Hause aus auf einem theoretisch-psychologischen Boden bewegt. Er zielt immer auf eine Grundlegung der Geisteswissenschaften ab, die aber nicht bloße Schwärmerei oder Irrationalismus ist, sondern in einer wissenschaftlichen Weise durchgeführt wird, genauer: in einer erkenntnistheoretischen. Diese Tatsache nivelliert jedoch das Werk Diltheys nicht auf eine bloß neuzeitliche Ebene. Anders gewendet: Diltheys Ausarbeitungen vertreten weder eine irrationalistische Richtung, noch eine Richtung, die auf einer reinen neuzeitlich-cartesianischen Grundlage fundiert ist. Diltheys Versuch muß vielmehr in einer eigenen Weise gelesen werden. Seine Fragestellung richtete sich auf ein Gebiet, das bis dahin nicht philosophisch betrachtet wurde: das Leben als Erlebnis. Dennoch wurde aber auch das Erlebnis nur als psychischer Vorgang gesehen. Und an dieser Stelle ist, wie Heidegger in SuZ bemerkt, die Fragestellung Diltheys ein Unterwegs geblieben. 95 Er versuchte, den ursprünglicheren Boden des Lebens zu enthüllen, aber seine Mittel, seine Grundlage ermöglichten ihm dies nicht, insofern seine Fragestellung nicht radikal genug war. Das hermeneutische Element des Lebens, das Verstehen des Gegebenen, deutet auf ein nicht-theoretisches Gebiet hin. Aber dieses Nicht-theoretische konnte als solches von Dilthey nicht erschlossen werden. Das Nicht-theoretische wurde durch eine beschreibende Psychologie aufgeschlossen, und dadurch ging das Nicht-theoretische als solches verloren. Durch den psychologischen Ansatz wurde das Nicht-theoretische theoretisiert. Daher kann 94
Ferner vgl. dazu GS I, S. 83: „Das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zusammenhänge, an welchen dann alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt." 95 SuZ, S. 46: „W. Diltheys Forschungen werden durch die ständige Frage nach dem ,Leben' in Atem gehalten. Die ,Erlebnisse' dieses ,Lebens' sucht er nach ihrem Struktur- und Entwicklungszusammenhang aus dem Ganzen dieses Lebens selbst her zu verstehen [...] er [war] bei all dem vor allem unterwegs zur Frage nach dem ,Leben'" (k.g.v.m.). τ
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
man sagen, daß Dilthey mit der Rede vom Nicht-theoretischen die Richtung der Fragestellung aufgezeigt hat, aber nicht in die Frage nach einem Atheoretischen eingegangen ist. Wenn Diltheys Fragestellung nicht radikal genug war, müssen wir zunächst sehen, worin diese Nicht-Radikalität besteht, damit auch Heideggers Radikalität verständlich wird. D.h. wir müssen dem eine nähere Betrachtung schenken, auf dem Dilthey seine ganzen Ausarbeitungen gebaut hat. Dies wird nur anhand eines tieferen Blickens in die Erlebnisproblematik möglich. Die Analysen E. Husserls werden uns die Grundlage liefern, insofern er eine nicht-psychologische Darstellung des Erlebnisses, obwohl immer noch innerhalb der theoretischen Sphäre, durchführt. Und dementsprechend kommt ein eigentümlicher Zugang zur Erlebnissphäre zum Vorschein: die phänomenologische Methode. Daher wenden wir uns im nächsten Kapitel den Ausarbeitungen E. Husserls zu.
Drittes Kapitel
Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl § 11. Allgemeine Betrachtungen der Phänomenologie Husserls hinsichtlich der Frage nach dem Erlebnis bzw. dem Leben a) Vorbemerkung In den vorangegangenen Paragraphen haben wir den Zugang zum Leben in einer leer formalen und in einer geisteswissenschaftlich psychologischen Weise entfaltet. Dadurch wurde klar, daß der „Zugang" nur bis zu einem gewissen Punkt gelingt: bei Rickert bleibt der Zugang ein Zugang zum Denken über das Leben, bei Dilthey ein Zugang zum psychischen Vorgang. Die Frage nach dem Leben als Erlebnis blieb bisher unangetastet. Daher müssen wir einen weiteren Schritt unternehmen, um den Boden für die Frage nach dem Leben und seinem „Zugang" zu bereiten. Wir haben bemerkt, daß die Einsichten Diltheys gegenüber der Analyse Rickerts einen erweiterten Blick innerhalb dieser Thematik anbieten. Zunächst gilt es aber, auf das Nicht-gefragte, das schlicht Vorausgesetzte dieser Einsichten einzugehen. Die Ausarbeitungen E. Husserls weisen den weiteren Weg in diese Richtung. Dilthey ging einerseits von der Gewißheit der Erfahrung aus und konnte andererseits das Erlebnis nur als psychischen Vorgang sehen. Darauf baute
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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seine systematische, erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften auf. Er sah dagegen überhaupt nicht, daß die Erfahrung als solche noch zu problematisieren ist und daß das Erlebnis noch tiefer untersucht werden muß. Die Erfahrung, wie Husserl sie in seinem transzendentalen Ansatz entfaltet, ist nicht eigenständig und ursprünglich, sie ist vielmehr eine Leistung der transzendentalen Subjektivität. D.h., während bei Dilthey die Erfahrung ein festerer Boden, ein Ausgangspunkt zu sein scheint, ist sie nach Husserl nur das Resultat einer ursprünglicheren Konstitution im transzendentalen Bewußtseinsleben. Die Analyse des Erlebnisses wird jedoch bei Husserl eidetisch durchgeführt, d.h. der deskriptiv-psychologische Sinn Diltheys wird „ausgeschaltet". Damit grenzt sich der Zugang zum Erlebnis von vornherein von einer psychologischen Analyse ab. Wir werden sehen, daß die eidetische Analyse des Erlebnisses in ein transzendentales Feld einmündet. Die transzendentale Sphäre bietet für Husserl die ursprünglichsten Elemente, um das Leben bzw. Bewußtseinsleben eigentlich zu verstehen. 96 Im vorangegangenen Kapitel wurde gezeigt, daß der „Zugang" zum Erlebnis bei Dilthey nur in Form eines Zugangs zum psychischen Vorgang mittels einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie durchgeführt wird. Husserl wird demgegenüber einen Zugang gewinnen, der nicht innerhalb einer philosophischen Psychologie geschieht, sondern als eine eidetische reflexive Phänomenologie zum Vorschein kommt. In der Einleitung zu den ,Ideen Γ drückt Husserl dies deutlich aus: Hier berühre ich diesen Streit, um angesichts der herrschenden und höchst folgenreichen Mißdeutungen von vornherein scharf zu betonen, daß die reine Phänomenologie, [...] - dieselbe, die in den „Logischen Untersuchungen" zu einem ersten Durchbruch kam, und deren Sinn sich mir in der Fortarbeit des letzten Jahrzehnts immer tiefer und reicher erschloß - nicht Psychologie ist, und daß nicht zufällige Gebietsabgrenzungen und Terminologien, sondern prinzipielle Gründe es ausschließen, daß sie der Psychologie zugerechnet werde (Hua III/1, S. 2).
Nach dieser deutlichen Warnung Husserls können wir zwei Punkte herausheben, die uns auf den weiteren Weg der Untersuchung hinweisen. 1. Die Phänomenologie darf überhaupt nicht als Psychologie verstanden werden. Der Unterschied zwischen beiden liegt nicht einfach in Merkmalen oder Charakteren, sondern er ist ein prinzipieller. Durch Gebietsabgrenzungen wie die deutliche Unterscheidung zwischen einer psychischen und einer 96 Die Darstellung dieser Problematik werden wir hauptsächlich anhand der ,Ideen I ' entfalten, insofern in diesem Text der Einbruch in das transzendentale Gebiet deutlich dargestellt wird.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
idealen Region einerseits, und durch Terminologien wie die Unterscheidung zwischen real, reell und intentional andererseits, wird das Feld der Phänomenologie gegenüber der Psychologie scharf gesondert. 2. Die phänomenologische Methode kam nach Husserls Angaben zum ersten Durchbruch in den Logischen Untersuchungen (LU). Wir werden sehen, daß die in den L U vollzogene Phänomenologie und ihre entsprechende Behandlung des Erlebnisses eine vortranszendentale Gestalt zeigt. In diesem Sinne darf der Terminus ,rein 4 im Zitat nicht gleich transzendental' gesetzt werden. Sondern ,rein' meint hier vielmehr den eidetischen Charakter der Phänomenologie gegenüber dem psychologisch-faktischen der Psychologie. Zunächst wenden wir uns diesen Punkten in zwei Abschnitten zu: Die eigene Charakterisierung der Phänomenologie gegenüber der Psychologie und die Frage nach dem Erlebnis in den ,Logischen Untersuchungen'.
b) Die eigene Charakterisierung der Phänomenologie gegenüber der Psychologie Die philosophische Entwicklung Husserls nimmt ihren Ausgangspunkt im angestrebten Ziel einer reinen wissenschaftlichen Philosophie. Dieser Anspruch prägt schon seinen frühesten Ausarbeitungen, findet aber eine erste Konkretisierung in der im ersten Band der L U (Prolegomena) durchgeführten Widerlegung des Psychologismus. 97 Dort führt Husserl eine deutliche Ein- und Abgrenzung des psychologischen und des logischen Gebiets ein. Sie erweisen sich als gesonderte Bereiche, die aber zusammengehören („Vorrede", S. 112 f.). Diese Unterscheidung und Zusammengehörigkeit hatte der Psychologismus nicht sehen können, insofern für ihn die Logik der Psychologie untergeordnet war. Husserl zeigt, daß das Gebiet, in das die psychologischen Vorgänge gehören, der empirische Bereich ist, während die logischen Verfahren sich in einem idealen Bereich befinden. Diesen Bereichen entsprechen somit gesonderte Wissenschaften: Die Psychologie bezieht sich auf den Denkakt, auf das „Psychische", während die reine Logik ein Ideales als Gegenstand hat. Der psychologistische Versuch, die Logik der Psychologie unterzuordnen, scheitert, wenn man sich bewußt macht, daß diese Bereiche wesensmäßig verschieden sind. 98 97
Vgl. Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik (Hua XVIII). 98 Eine ausführlichere Entfaltung dieses Punktes fällt aus dem Rahmen der vorliegenden Arbeit. Es genügt hier, nur zu bemerken, daß mit der entscheidenden Klärung Husserls die Grundlage für eine adäquate philosophische Frageweise vorbereitet wurde. Ferner vgl. bes. José Gaos, La Critica del Psicologismo en Husserl, Jalapa, Mexiko: Universidad Veracruzana, 1960.
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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Im zweiten Band der LU, in der 5. LU, führen die Analysen Husserls zur Entfaltung des Erlebnisses. Viele fehlerhafte Interpretationen haben dies als ein Zurückfallen in den Psychologismus gesehen." Wenn wir nicht nur die Begrifflichkeiten betrachten, sondern den ganzen Ansatz und Anspruch Husserls, dann wird ersichtlich, daß er in keiner Weise einen Psychologismus betrieben hat. Die Analyse des Erlebnisses in der 5. L U und die Charakterisierung der phänomenologischen Methode als eine „deskriptive Psychologie" müssen in einem Zusammenhang verstanden werden. Die notwendigen Analysen des Erlebnisses sollen folgendermaßen verstanden werden: Wenn wir die eingeführte Scheidung zwischen dem Psychologischen und dem Logischen im Auge behalten und wenn wir eine festere wissenschaftliche Philosophie anstreben, dann wird somit angedeutet, daß die philosophische Fragestellung nicht deskriptiv-psychologisch durchgeführt werden darf. Der reine wissenschaftliche Boden befindet sich in der idealen Sphäre. In diesem Sinne muß sich die Philosophie von Hause aus nur mit Idealitäten beschäftigen und nicht mit psychologischen Tatsachen: sie ist nur eidetisch zu betrachten. 100 Die Philosophie muß die empirischpsychologischen Bedingungen der Erkenntnis „ausschalten" und sich nach dem Wesen des Erlebnisses richten. Diese Einsicht wird in den ,Ideen Γ durch die Scheidung Tatsache-Wesen weiter verschärft. Dort wird die Phänomenologie als eine Wesenswissenschaft oder eidetische Wissenschaft und nicht als eine Tatsachenwissenschaft charakterisiert. Die in den L U bereits angedeutete vortranszendentale eidetische Richtung wird in den , Ideen Γ als eidetische Reduktion charakterisiert: „Die zugehörige Reduktion, die vom psychologischen Phänomen zum reinen „Wesen", bzw. im urteilenden Denken von der tatsächlichen („empirischen") Allgemeinheit zur „Wesens"allgemeinheit überführt, ist die eidetische Reduktion" (Hua III/1, S. 4 ) . 1 0 1 E. Fink und L. Eley haben neben anderen bereits darauf aufmerksam gemacht, daß eine eigentümliche Kontinuität zwischen der anfänglichen Analyse der L U und der Analyse in den , Ideen Γ besteht. 102 In diesem Sinne entspricht der Gegensatz Tatsache-Wesen in den ,Ideen Γ dem in der L U 99
Vgl. Hua III/1, S. 115. 100 Ygi j _ j u a m / 1 , S. 2-4. In diesem Sinne spricht Husserl in den L U von einer ,deskriptiven Psychologie'. Sie ist, wie Stroke r mit Recht bemerkt, als eine eidetische Psychologie oder eidetische vortranszendentale Phänomenologie zu verstehen. Vgl. E. Ströker, Phänomenologie und Psychologie. Die Frage ihrer Beziehung bei Husserl, in: Ströker, Phänomenologische Studien, S. 96 ff. 101
Diese eidetische Reduktion darf aber nicht mit der transzendentalen Reduktion verwechselt werden. Letztere wird erst in der Phänomenologischen Fundamentalbetrachtung eingeführt. Dazu vgl. § 13 vorliegender Arbeit. 102 Vgl. E. Fink, Die phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik, in: Studien zur Phänomenologie 1930-1939, S. 86; L. Eley,
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
eingeführten Gegensatz real-ideal. Daher kann Husserl 1913 im ,Entwurf einer „Vorrede" zu den L U ' sagen, daß die Veröffentlichung der LU, und in diesem Sinne der Blick auf die immanente Sphäre der Erlebnisse, als ein „Anfang" und nicht als ein „Ende" der phänomenologischen Entfaltung zu verstehen ist. 1 0 3 Damit können wir sehen, daß die Behandlung der Erlebnisse im 2. Band der L U innerhalb einer phänomenologischen Betrachtung geschieht und auf keinen Fall bloß psychologistisch gesehen werden darf. Wenn nach Husserl eine eigentliche philosophische Betrachtung grundsätzlich nur eidetisch gelingen kann, dann ist die Zuwendung zum Erlebnis die Zuwendung zum Wesen des Erlebnisses. Die durch die eidetische Reduktion eingeführte Eingrenzung richtet sich nicht nur gegen eine psychologistische empirische Interpretation des Erlebnisses, sondern auch gegen jegliche Interpretation, die das Erlebnis psychologisch auszulegen versucht. Hiermit ist dann auch die geisteswissenschaftliche bzw. beschreibende und zergliedernde Psychologie Diltheys gemeint. 1 0 4
c) Die Frage nach dem Erlebnis in den ,Logischen Untersuchungen' Es ist eines der herausragenden Verdienste Husserls, die entscheidende Sonderung zwischen dem Erlebnis, das auf einen Gegenstand gerichtet ist, und dem Erlebnis, das diesen Zug nicht trägt, gemacht zu haben. In diesem Punkt liegt ein grundlegender Unterschied zu F. Brentanos Auslegung der Erlebnisse. Für Brentano haben die „psychischen Phänomene" das Merkmal, ein Objekt immanent zu enthalten: „jedes psychisches Phänomen ist [...] charakterisiert [durch] [...] die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt". 1 0 5 Die psychischen Phänomene stehen in Beziehung zu einem Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, S. 18 ff.; vgl. auch E. Ströker, Phänomenologische Studien, S. 103 ff. 103 „Vorrede", S. 110: „Ich empfand es sehr schwer ein Werk veröffentlichen zu müssen, das für mich kein Ende, sondern einen ersten Anfang bedeutete" (k.g.v.m.). 104 In der Einleitung zur Phänomenologische Psychologie stellt Husserl sehr deutlich die Probleme der Diltheyschen Psychologie dar: „Er [Dilthey] hat es noch nicht gesehen, daß es so etwas wie eine generelle Wesensdeskription auf dem Grund der Intuition, aber nun einer Wesensintuition, gibt, wie er auch noch nicht gesehen hat, daß ,die' das radikale Wesen des psychischen Lebens ausmachende Beziehung auf Bewußtseinsgegenständlichkeiten das eigentliche und unendlich fruchtbare Thema systematischer Seelenanalysen ist, und zwar als Wesensanalysen", Hua IX, S. 13. 105 F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Band 1, S. 115.
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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Inhalt, sie sind auf einen Gegenstand gerichtet. In diesem Sinne finden wir, daß die psychischen Phänomene sich von den physischen dadurch unterscheiden, daß „ihnen etwas Gegenständliches innewohnt". 1 0 6 M.a.W., Brentano hat allen psychischen Phänomenen im Gegensatz zu den physischen eine immanente Gegenständlichkeit zugeschrieben. Daher sind alle psychischen Inhalte für Brentano intentional. Das Wesen der psychischen Phänomene besteht in diesem intentionalen Charakter. Husserl bemerkt aber, daß bei dieser Auffassung die Tatsache, daß der intentionale Gegenstand immanent enthalten ist, nicht unbedingt bedeutet, daß der intentionale Gegenstand der Gegenstand meiner Intention i s t . 1 0 7 M.a.W., für Brentano waren schlechterdings alle psychischen Inhalte intentional; er unterschied nicht zwischen intentional und nicht intentionalen Erlebnissen. In diesem Sinne wird Husserl Brentanos Ansatzes radikalisieren und eine wesentliche Trennung innerhalb der Erlebnisse durchführen. Ihm kommt es nicht auf die Brentanosche Sonderung zwischen Physischem und Psychischem an, sondern auf die Korrelation zwischen Intentionalem und Reellem. Die intentionalen Erlebnisse sind durch ihren Bezug auf ein Objekt, durch ihr Gerichtetsein charakterisiert. Wenn ich denke, denke ich unumgänglich etwas, wenn ich hoffe, hoffe ich etwas, wenn ich höre, höre ich etwas, usw. Husserl wird die Eigentümlichkeit dieser Erlebnisse herausheben: „Ist dieses Erlebnis in seiner psychischen, konkreten Fülle präsent, so ist eo ipso die intentionale „Beziehung auf einen Gegenstand" vollzogen, eo ipso ist ein Gegenstand „intentional gegenwärtig"; denn das eine und andere besagt genau dasselbe" (Hua XIX/1, S. A 352). Das intentionale Erlebnis bedeutet, ein Bewußtsein von etwas haben, aber zugleich können wir sagen, daß etwas ein Bewußtsein impliziert. 1 0 8 Daher schreibt Husserl, daß „[...] nicht zwei Sachen psychisch präsent [sind][...], sondern nur eine Sache ist präsent, das intentionale Erlebnis, dessen wesentlicher deskriptiver Charakter eben die bezügliche Intention ist" (ebd.). Damit ist aber nicht gesagt, wie Natorp meint, daß ein Doppeltes nicht zu unterscheiden sei: das intendierte Objekt und der intentionale Akt (ebd., S. A 359 f . ) . 1 0 9
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Vgl. GA 20, S. 26. Dazu vgl. D. Zahavi, Intentionalität und Konstitution. Eine Einführung in Husserls Logische Untersuchungen (Im folgenden zitiert als: Zahavi), S. 33. 108 Dazu vgl. Zahavi, S. 43. 109 Man könnte das intentionale Erlebnis mit der im vorangegangenen Paragraphen von Dilthey gemeinten Einheit des Erlebens und Erlebten gleichstellen. Dazu ist hier deutlich zu unterscheiden, daß bei Dilthey das Wesen des Erlebnisses in psychischen Vorgängen liegt, während es für Husserl in der Intentionalität liegt. Obwohl Husserl in der ersten Auflage der L U von ,psychisch' und ,deskriptiv' spricht, meint er der Sache nach keine deskriptive und zergliedernde Psychologie 107
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Es ist bekannt, daß das, was Husserl unter Intentionalität versteht, auf die wesentliche Struktur des Bewußtseins hinweist. Bewußtsein bedeutet keine substantielle Einheit, sondern es bezeichnet nur eine Beziehung. 110 Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas. Das Erlebnis zeigt sich in seinem Wesen nicht als psychischer Vorgang, sondern als intentionale Beziehung. Die phänomenologische Analyse richtet sich nach dem intentionalen Wesen des Erlebnisses bzw. des Bewußtseins. Aber worin besteht genau das Wesen der intentionalen Erlebnisse? Die Antwort darf nicht auf eine immanente Gegenständlichkeit hinweisen, wie es bei der Brentanoschen Auslegung der Fall war. Sie soll vielmehr im Rahmen des Unterschieds zwischen Reellem und Intentionalem liegen. Um das Wesen des Erlebnisses sachgemäß zu verstehen, muß man die Korrelation zwischen seiner Auffassung und seiner Aktintention deutlicher betrachten. 111 Anhand eines Beispiels versuchen wir die Einsicht Husserls zu verdeutlichen: ich vollziehe einen Akt, ein intentionales Erlebnis wie z.B. einen Füller sehen. Ich sehe etwas „Reales", etwas „Wirkliches": Der Füller liegt auf dem Schreibtisch. Sehen ist eine bestimmte Weise des Wahrnehmens. Ich nehme den Füller sehend wahr. Im Sehen des Füllers bin ich auf den Füller gerichtet und nicht auf das Sehen. Der Füller erscheint mir als ein Ding, das von mir gesehen wird. Der Füller ist in diesem Sinne ein erscheinendes Ding: dieses Ding erscheint mir. Es wird von mir irgendwie wahrgenommen: es wird gesehen. Aber was geschieht beim Sehen des Füllers? Mir werden Farbempfindungen präsent. Ich „erlebe" oder mir wird einen „Inhalt" bewußt, aber dies ist nicht der Gegenstand ,Füller'. Der Gegenstand wird nicht erlebt, sondern gesehen. Wie kann dieser Zusammenhang geklärt werden, nämlich, daß ich Empfindungen apperzipiere, aber einen Gegenstand sehe? Im erlebenden Sehen des Gegenstandes wird er wahrgenommen. Im Sehen erscheint der Gegenstand, aber dieser wird nicht erlebt. Das erscheinende Ding ist daher nicht mit der Dingerscheinung gleichzusetzen. 1 1 2 Ersteres, nämlich das Ding, erscheint; Letzteres, die Dingerscheinung, wird erlebt (gesehen). Daher sehe ich im Erscheinen des Gegenstands einen Gegenstand und nicht Farbempfindungen, so wie ich beim Hören eines Lieds ein Lied höre und nicht Tonempfindungen. 113 Husserl stellt dies deutlich dar: „ i m Akte des Erscheinens wird die Empfindungskomple-
im Sinne Diltheys, sondern, wie bereits bemerkt, eine eidetische reflexive Phänomenologie. 110 Dazu vgl. E. Ströker, Phänomenologische Studien, S. 54. 111 Dazu vgl. die einleuchtende Arbeit G. Eigler Metaphysische Voraussetzungen in Husserls Zeitanalysen, S. 70-74. 112 Husserl schreibt: „Die Dingerscheinung (das Erlebnis) ist nicht das erscheinende Ding (das uns vermeintlich „Gegenüberstehende")", Hua XIX/1, S. A 328. 113 Vgl. Hua XIX/1, S. A 353.
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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xion erlebt, aber in gewisser Weise „aufgefaßt", „apperzipiert", und in dieser deutenden Auffassung der Empfindungen bestehe das, was wir Erscheinen des Gegenstandes nennen" (Hua XIX/1, S. A 329). 1 1 4 Der Füller als der Gegenstand meines Sehens erscheint mittels der Empfindungen und deren Auffassung. Jedoch ist dieser Gegenstand seinerseits als der zeit-räumlichen Wirklichkeit zugehörig nicht immanent im Erlebnis enthalten. Der Füller ist ein realer Gegenstand, der meinem Erlebnis gegenüber transzendent ist. Wie erscheint dann der Gegenstand im Akt? Wie erscheint der Füller im Sehen? Er ist im Erlebnis anders, d.h. nicht real enthalten: er ist intentional enthalten. D.h., mein Erlebnis (Sehen eines Füllers) ist auf einen Gegenstand gerichtet, der aber nicht wirklich immanent im Erlebnis auftaucht, sondern nur intentional da ist. Intentional ist die Weise, wie der Gegenstand im Bewußtsein erscheint. Sofern der Füller im Bewußtsein intentional erscheint, aber zugleich das Erscheinen des Gegenstands nur aufgrund des Erlebens der Empfindungen und deren Auffassung möglich ist, unterscheidet Husserl zwei verschiedene Inhalte im Bewußtsein: das Erleben der Erscheinung auf der Seite der Bewußtseinszusammenhänge und das Erscheinen der Dinge auf der Seite der phänomenalen Welt. Der erste Inhalt ist dann das, was das intentionale Erlebnis reell „bildet", nämlich die Empfindungen und Auffassungen. Der zweite ist das, was intentional im Bewußtsein enthalten ist, nämlich der erscheinende Gegenstand. 115 Das Reelle eines Aktes als das ihm Bildende ist eigentlich das, was im Bewußtsein vorfindlich ist. Dieses Vorfindliche ist das, was es im Bewußtsein gibt: ein Akt oder intentionales Erlebnis. 1 1 6 Wir finden im Bewußtsein keinen eigenständigen Gegenstand, sondern ein Erlebnis mit einem intentionalen Gegenstand. Wir können sagen, daß das Bewußtsein eigentlich in diesen Akten besteht. Daher richtet sich die Analyse der L U hauptsächlich auf die reelle Seite, auf die Akte. Und hier taucht die Gefahr auf, diese Entfaltung nur als eine bloße „Psychologie der Erkenntnis" zu betrach-
114 Dazu schreibt Husserl: „Die Empfindungen und desgleichen die sie „auffassenden" oder „apperzipierenden" Akte werden hierbei erlebt, aber sie erscheinen nicht gegenständlich; sie werden nicht gesehen, gehört, mit irgendeinem „Sinn" wahrgenommen. Die Gegenstände andererseits erscheinen, werden wahrgenommen, aber sie sind nicht erlebt", ebd., S. A 363. 115 Mit der vorliegenden Entfaltung wird das Thema nicht ausgeschöpft. Die Analyse des intentionalen Inhalts wird von Husserl ab § 16 der 5. L U in drei Begriffe unterschieden: als intentionaler Gegenstand, als intentionale Materie und als intentionales Wesen. Eine ausführlichere Analyse würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Dazu vgl. Zahavi. 116 Dazu vgl. Ströker, Husserls Transzendentale Phänomenologie, S. 38 ff.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
ten. 1 1 7 Dieses mögliche Mißverständnis wird ausgeschlossen, wenn wir näher auf das Anliegen Husserls eingehen. Im § 14 der 5. L U schreibt Husserl: „Wichtiger für uns sind die Unterschiede zwischen dem Dasein des Inhalts im Sinne der bewußten, aber nicht selbst zum Wahrnehmungsobjekt werdenden Empfindung und des Inhalts im Sinne eben des Wahrnehmungsobjekts" (Hua XIX/1, S. A 360, k.g.v.m.). Anhand dieses Zitats können wir ahnen, daß es bei Husserl auf das Verhältnis zwischen dem Dasein des empfundenen Inhalts, d.h. des Aktes, und dem des wahrgenommenen Gegenstandes ankommt. 1 1 8 1925 deutete Husserl rückblickend an, daß diese Unterscheidung nicht in einem bloß negativen Sinne zu verstehen ist, sondern daß in diesem Unterschied eine Korrelation waltet. Und die Klärung dieser Korrelation war „die große und nie ersichtlich gesehene und in Angriff genommene Aufgabe der L U " (Hua IX, S. 26). Wenn wir uns vor Augen halten, daß diese Korrelation als Aufgabe zu verstehen ist und daß nach Husserls Angaben die L U als ein „Anfang" betrachten werden sollen, dann wird die vielmals betonte „einseitige" Ausrichtung auf das Reelle bzw. den Akt in den L U sachgemäß verständlich. Die in den L U auf das Reelle gerichtete Erlebnisanalyse ist nicht willkürlich, sondern sie stellt ein strenges methodologisches Verfahren dar, insofern nur das Reelle als Erlebnis vorfindlich ist. Die reellen Bestände des intentionalen Erlebnisses konstituieren seine immanenten Inhalte. Nach Husserl steht die Analyse dieses Inhalts auf einem sicheren Boden und bildet somit einen ersten Schritt zum Verständnis der grundlegenden Korrelation. Dies bedeutet aber nicht, wie einige Interpretationen meinen, daß Husserl bloß in ein psychologistisches oder psychologisches Gebiet zurückkehrt. Die Analyse des reellen Inhalts ist nur insofern adäquat, als sie sich auf das richtet, was eigentlich im Erlebnis enthalten ist. Das besagt aber nicht, daß damit die ganze Analyse bereits abgeschlossen wäre. Die Fragen, die die Erlebnisanalyse der L U offengelassen hat, deuten auf die weiter zu entfaltende Aufgabe in den phänomenologischen Analysen Husserls hin. In diesem Sinne ist der auf die subjektiv-immanente Struktur des Bewußtseins gelegte Schwerpunkt nur als ein erster methodologischer Schritt der ganzen Analyse zu betrachten. Wir werden sehen, daß die Vollendung dieser in den L U gestellten Aufgabe erst in der transzendentalen Phänomenologie zustande gekommen ist. In diesem Sinne enthält die Erleb117
Dazu vgl. Ströker, Phänomenologische Studien, S. 96. Daß es sich um zwei verschiedene Weisen von Dasein handelt, schreibt Husserl selbst: „Das Dasein des empfundenen Inhalts ist also ein ganz anderes als das Dasein des wahrgenommenen Gegenstands, der durch den Inhalt präsentiert, aber nicht reell bewußt ist", Hua XIX/1, S. A 361. 118
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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nisbetrachtung der , Ideen Γ eine vollendete Abhebung der genannten Korrelation. Dort wird das Erlebnis nur aufgrund des konstituierenden Bodens verständlich. Die Problematik der erwähnten wesentlichen Korrelation zwischen Reellem und Intentionalem wird anhand der transzendentalen Subjektivität gelöst. In den , Ideen Γ finden wir somit eine volle Entfaltung des eigentlichen Wesens des Erlebnisses bzw. des Lebens bei Husserl. 119 In der Einleitung zu den , Ideen Γ bemerkte Husserl, daß sich ihm der Sinn der reinen Phänomenologie „in der Fortarbeit des letzten Jahrzehnts immer tiefer und reicher erschloßt. Diesbezüglich haben wir bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die Analyse der L U und der , Ideen Γ keine isolierten Ausarbeitungen sind, sondern daß sich zwischen den L U als dem ersten Durchbruch und den , Ideen Γ als der Konkretion dieser tieferen und reicheren Erschließung ein eigentümlicher Weg befindet. 120 Wir deuteten ferner bereits an, daß bei Husserl die eigentliche Gewinnung der Aufklärung der Korrelation zwischen dem intendierten Gegenstand und dem subjektiven Erleben erst ausgehend von der transzendentalen Sphäre vollständig erfolgt. In diesem Sinne bedeutet die weitere Suche nach einer Klärung dieser Problematik die tiefere und reichere Einsicht in die transzendentale Sphäre. Auf dieser Ebene wird sich zeigen, daß die Phänomene eigentlich nur durch die konstituierende transzendentale Subjektivität zum Vorschein kommen. Die in den L U angedeuteten Seiten des Erlebnisses, nämlich das Reelle und das Intentionale, finden ihre Grundlegung nur anhand der in der transzendentalen Subjektivität geschehenden Konstitution. Nach Husserl ist somit Leben, Sein, Welt in ihrem vollen Verständnis phänomenologisch nur in bezug auf das transzendentale Feld zu enthüllen. Die Notwendigkeit des transzendentalen Gebiets, dessen Zugang durch die transzendentale Reduktion und εποχή durchgeführt wird, erwächst aus der Aufgabe, das Wesen des Erlebnisses bzw. des Lebens zu klären. 1 2 1 119
In den ,Ideen Γ wird nicht nur das Reelle, sondern auch der vermeinte Gegenstand in eigentlicher Weise thematisiert: als Noesis und Noema. 120 Gegenüber dieser Interpretation könnte man anhand Husserls Äußerungen von einem „Verlassen" des Weges der L U sprechen. Das bekannte Zitat im Brief an Ingarden könnte dies beweisen: „Ich habe die Position der Logischen Untersuchungen in der letzten Göttinger Zeit aufgegeben, in den Bernauer Landaufenthalten ausführlicher behandelt. Ich war ja überhaupt in den L U ein philosophisches Kind". Brief an R. Ingarden vom 21. Dezember 1930, S. 63. Wenn wir uns aber vor Augen halten, daß die L U als ein Anfang zu betrachten sind und darin eine Aufgabe begonnen war, dann darf der weitere Weg nicht als ein „Aufgeben" oder „Verlassen" des schon Entdeckten, sondern als ein tieferes und reicheres Blicken verstanden werden. Das „Aufgeben" im Zitat soll vielmehr als ein weiteres Enthüllen des schon Entfalteten betrachtet werden. 121 In der Einleitung zum zweiten Band der L U schreibt Husserl, daß die Absicht der Untersuchung als eine „reine Phänomenologie der Erlebnisse überhaupt" zu verstehen ist, Hua XIX/1, S. A 4.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Nach dem Gesagten ist die Kontinuität des Weges von den L U zu den , Ideen Γ und somit die Betrachtung der Erlebnisproblematik bei Husserl ersichtlicher geworden. Zu fragen bleibt aber noch, von welcher Art die spezifisch phänomenologische Vorgehensweise Husserls ist, wenn er ausdrücklich bemerkt hat, daß die Phänomenologie in keiner Weise mit irgendeiner Gestalt der Psychologie zu verwechseln ist. Die genannte Korrelation zwischen dem reellen und dem intentionalen Inhalt wird von Husserl in einer spezifischen Weise thematisiert. In der Einleitung zum 2. Band der L U stellt Husserl dies fest: „Anstatt im Vollzuge der mannigfaltig aufeinander gebauten Akte aufzugehen und somit ihren Gegenständen ausschließlich zugewendet zu sein, sollen wir vielmehr „reflektieren", d.h. diese Akte selbst zu Gegenständen machen" (Hua XIX/1, S. A IO). 1 2 2 Somit sehen wir, daß die Behandlungsweise des Wesens der Erlebnisse, d.h. der Korrelation reell-intentional, bei Husserl nur innerhalb einer reflexiven Phänomenologie möglich ist. Wir werden im § 17 ausführlicher auf die reflexive Behandlungsart der Phänomenologie Husserls eingehen. An diesem Punkt wollen wir nur bemerken, daß die Betrachtung der Erlebnisse von Anfang an in einer reflexiven Form geschieht, und wir werden sehen, daß dies das Erlebnis als solches nur in einer gewissen Weise ersichtlich macht: theoretisch. Die reflexive Behandlungsart kann die Erlebnisse nur theoretisch enthüllen. Und hierin liegt der eigentümliche Unterschied zu Heideggers Erlebnisenthüllung. Wir haben den Weg der Analyse von den L U zu den , Ideen Γ grob angezeigt, noch aber ist nicht klar, worin die Notwendigkeit der transzendentalen Sphäre und somit der grundlegenden Klärung des Erlebnisses besteht. 1924 deutete Husserl darauf hin, in welcher Weise die transzendentale Subjektivität wesenhaft ist: Bloße Reflexion, und noch so sorgsam beobachtende, analysierende und noch so sehr auf mein rein Psychisches, auf mein reines seelisches Innensein gerichtete, bleibt ohne solche Methode [transzendentale Reduktion und εποχή, Α. X.] natürliche psychologische Reflexion und bleibt, was sie - in noch so unvollkommener Gestalt - auch schon war: mundane Erfahrung (Hua VIII, S. 7 9 ) . 1 2 3
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1925 hat Husserl eine rückblickende Auslegung der Aufgabe der L U durchgeführt. Dort wird die Absicht und die einzige Weise, wie die aufgetretenen Phänomene zu behandeln sind, ausgedrückt: „in den einzelnen Untersuchungen des zweiten Bandes [handelte es sich] um eine Rückwendung der Intuition auf die logischen Erlebnisse, die sich in uns, wenn wir denken, abspielen, die wir aber gerade dann nicht sehen, nicht im aufmerkenden Blick haben, wenn wir die Denktätigkeit in natürlich ursprünglicher Weise vollziehen. Der Denkende weiß nichts von seinen Denkerlebnissen, sondern nur von den Gedanken, die sein Denken fortlaufend erzeugt. Es galt, dieses verborgen sich abspielende Denkleben durch nachkommende Reflexion in den Griff zu bringen und sie in getrennten deskriptiven Begriffen zu fixieren Hua IX, S. 21 (k.g.v.m.).
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D.h., ohne den Eintritt in die transzendentale Sphäre bleibt die Erlebnisanalyse in einer natürlichen psychologischen Reflexion befangen. 124 Im nächsten Paragraphen wenden wir uns der Analyse der natürlichen Einstellung (§ 12) zu, um genauer zu sehen, worin die Verhaftung in der „mundanen Erfahrung" besteht. Damit werden wir einen adäquaten Zugang zum transzendentalen Ansatz Husserls (§ 13) und zugleich eine deutlichere Unterscheidung zu dem in den nächsten Paragraphen entfalteten hermeneutisch-phänomenologischen Zugang zum Erlebnis bzw. Leben seitens Heidegger gewinnen können.
§ 12. Die phänomenologische Beschreibung der natürlichen Einstellung in den , Ideen I ' a) Vorbemerkung In unserem alltäglichen Leben haben wir mit Dingen oder mit anderen Menschen zu tun. Ich gehe auf dem Boden, ich frühstücke Marmelade, ich sehe meinen Füller, ich kaufe Brot, ich denke an meinen Vater, ich spiele mit meinem Sohn, usw. In jedem von unseren alltäglichen intentionalen Erlebnissen leben wir zunächst unthematisch: wenn ich einen Kuchen backe, bin ich mit dem Backen beschäftigt, ich nehme die Zutaten, ich heize den Ofen vor, usw. In jedem dieser Akte ist unser Erlebnis und das Korrelat des Erlebnisses kein Thema. In diesem Sinne wird die alltägliche Lebensweise als vorwissenschaftlich, vorphilosophisch oder vor-thematisch charakterisiert. Jeder Akt erweist sich als ein intentionales Erlebnis, wird jedoch nicht als solches thematisiert. Wenn ich beim Kuchenbacken die Ofentür öffne, bin ich auf die Tür gerichtet, d. h. mein Ich lebt in diesem Akt auf einen Gegenstand hin: auf die Ofentür. Ich durchlebe immer intentionale Erlebnisse, und dieses Durchleben der Erlebnisse trägt einen eigentümlichen Charakter: die Erlebnisse werden unthematisch erlebt. Zunächst gilt es zu zeigen, wie Husserl zufolge unser alltägliches natürliches Leben unthematisch erlebt wird. Das vor-thematische Leben an sich braucht nur erlebt zu werden, d. h. als solches vor-thematisches Leben braucht es keinen Zugang zu sich. Erst eine philosophische Thematisierung des Lebens bezieht sich unumgänglich auf 123
Dazu vgl. Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 58. In einer Fußnote zur zweiten Auflage der 5. L U schreibt Husserl, daß das Wort phänomenologisch' auf die reellen Erlebnisbestände hindeutet und dies „dem natürlichen Ausgang von der psychologischen Einstellung [entspricht]", Hua XIX/1, S. Β 397. Im nächsten Paragraphen werden wir sehen, daß diese „psychologische Einstellung" innerhalb der natürlichen Einstellung zu sehen ist. 124
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
dieses vor-thematische Leben. D.h. was thematisiert wird, ist das vordem nicht thematisierte Leben und Erleben. Aber dieses philosophische Thematisieren bedarf bereits eines spezifischen Zugangs. Der Zugang zum vorthematischen Leben geschieht unumgänglich von einer Thematisierung her, und zwar von einer philosophischen Thematisierung. Dieser Zugang aber wurde in der philosophischen Tradition, Husserls Phänomenologie eingeschlossen, stets als eine reflexive Thematisierung, d.h. als eine theoretische vollzogen. Wir werden sehen, daß durch Reflexion das ursprüngliche atheoretische Leben und Erleben objektiviert bzw. theoretisiert und dadurch als solches verloren geht. Wir müssen hier schon auf die Möglichkeit einer nicht-theoretischen Thematisierung des Lebens und Erlebens hinweisen, da philosophisches Thematisieren nicht unbedingt in einer reflexiv theoretischen Weise durchgeführt werden muß. Die hermeneutische Phänomenologie Heideggers im Hauptteil der vorliegenden Arbeit wird uns den Beweis einer andersartigen Thematisierung liefern. Zunächst kehren wir zur Phänomenologie Husserls zurück. Bei Husserl enthält der thematisierende Zugang zum vor-thematischen Bewußtseinsleben zwei Grundzüge: zunächst einmal kann ein Zugang zum Leben und Erleben nur durch Reflexion gewonnen werden, d.h. indem das Leben und Erleben selbst zum Objekt einer Intention gemacht wird. Nur reflektierend können wir Husserl zufolge philosophisch thematisieren. Wir werden sehen, daß die reflexive Thematisierung jedes Phänomen in einer bestimmten Weise enthüllt: als Erblicktes. Somit können wir vorwegnehmen, daß bei Husserl das Leben und Erleben nur als erblicktes Leben und Erleben zum Aufweis gebracht werden kann. Zum anderen haben wir im vorangegangenen Paragraphen angedeutet, wie wir lebend die Dinge und die Welt bei Husserl entdecken: durch die sinnliche Wahrnehmung im weiten Sinne. Nach Husserl können wir sagen, daß die Gegebenheit der Dinge zuunterst wahrnehmungsmäßig ist. Der Zugang zu diesem wahrnehmungsmäßigen Leben hat als Ausgangspunkt eine bestimmte Einstellung. A m Anfang der , Ideen Γ stellt Husserl dies fest: „Wir werden vom natürlichen Standpunkt ausgehen, von der Welt, wie sie uns gegenübersteht, von dem Bewußtsein, wie es sich in der psychologischen Erfahrung darbietet, und die ihm wesentlichen Voraussetzungen bloßlegen" (Hua III/1, S. 3, k.g.v.m.). Auf die Reflexion als theoretische methodische Behandlungsart der Husserlschen Phänomenologie werden wir im § 17 ausführlicher eingehen. Zunächst wenden wir uns dem Ausgangspunkt Husserls, nämlich der wahrnehmungsmäßigen natürlichen Einstellung zu.
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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b) Die dreifach gegliederte wahrnehmungsmäßig gegebene Welt Beim vor-thematischen Leben ist es notwendig, daß ich die Sachen oder Menschen, mit denen ich zu tun habe, als existent voraussetze. In den alltäglichen Akten wird die Existenz der Welt und ferner der Dinge als selbstverständlich gesehen. Husserl erfaßt diese selbstverständliche Anwesenheit der Dinge in einer bestimmten Weise: Durch Sehen, Tasten, Hören usw., in den verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung für mich einfach da, im wörtlichen oder bildlichen Sinne „vorhanden", ob ich auf sie besonders achtsam und mit ihnen betrachtend, denkend, fühlend, wollend beschäftigt bin oder nicht (ebd., S. 48, k.g.v.m.).
Die Umwelt ist für Husserl unmittelbar anschaulich im Sinne einer Anschauung der sinnlichen Wahrnehmung. Ich erfahre etwas unumgänglich sinnlich. Die körperlichen Dinge sind dabei in verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung für mich vorhanden. Das Dasein der Dinge zeigt sich in ihrer Unmittelbarkeit in meinem Wahrnehmungsfeld: ich sehe die Tür, ich rieche den Kuchen, ich höre meinen Nachbarn, ich lese die Anweisungen, usw. Daß die Dinge für mich unmittelbar da sind, besagt aber nicht, daß ich auf sie achten muß. Sie sind da oder vorhanden, auch wenn ich nicht achtsam auf sie bin, wenn sie für mich nicht thematisch sind. Wenn ich beim Backen in der Küche hin und her laufe, bin ich nicht auf den Boden achtsam, aber er ist da, ich nehme ihn irgendwie wahr. Im vorangegangenen Paragraphen haben wir bereits erläutert, wie ein Gegenstand für uns erscheint. Dort konnte die Analyse nur in bezug auf die Aktintentionalität ausgearbeitet werden. In den ,Ideen Γ geht Husserl einen Schritt weiter, indem er die Erscheinung der Gegenstände nicht nur in bezug auf die Aktintentionalität, sondern in bezug auf eine Horizontintentionalität entfaltet. 125 Aufgrund der Horizontintentionalität sehen wir, daß die Straße, die anderen Zimmer, usw. „da und dort in meiner unmittelbar mitbewußten Umgebung seiend [sind]" (Hua III/1, S. 49). D.h., daß die sinnlichen Erfahrungsdinge zueinander in Beziehung stehen, so daß sich, wenn man diesen Beziehungen nachgeht, das Bewußtsein von einem Ganzen entwickelt, aber wahrgenommen aus diesem Ganzen wird immer nur ein Ding, die anderen bilden die Wahrnehmungsumgebung. In diesem Sinne wird mein Wahrnehmungsfeld ständig von einem näheren oder ferneren, d. h. deutlich oder undeutlich Mitgegenwärtigen umgehen. Hier besteht die Eigentümlichkeit, daß ich meine Aufmerksamkeit wandern lassen kann. Wenn ich beim Kuchenbak125 Vgl. ferner A. Aguirre, Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologische Philosophie, in: Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart, 1992, S. 43-71, bes. 43—46; E. Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, Frankfurt a.M., 1987, S. 102 ff. 8 Xolocotzi
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ken plötzlich merke, daß sich der Mixer nicht in der ersten Schublade des Schrankes befindet, sondern im Waschbecken, dann richtet sich meine Aufmerksamkeit auf das vordem nicht beachtete Waschbecken. Oder wenn ich eine Zutat nicht eingekauft habe, wird die Aufmerksamkeit auf das Lebensmittelgeschäft gelenkt. In diesem Sinne wechselt die Umwelt den Wahrnehmungsbestand, je nachdem wie ich mich in ihr bewege und was ich wahrnehme, es bleibt aber immer dieselbe Welt. Dies läßt uns sehen, daß sich die Welt auch im Mitgegenwärtigen nicht erschöpft, sondern „sie reicht vielmehr in einer festen Seinsordnung ins Unbegrenzte" (ebd.). Das Wahrnehmungsfeld und das Mitgegenwärtige sind von einem „dunkel bewußten Horizont unbestimmter Wirklichkeit" umgeben (ebd.). Das Wahrnehmungsbewußtsein dehnt sich in einem endlosen Horizont von prinzipiell sinnlich Wahrnehmbarem aus, dem Umwelthorizont.
c) Die Generalthesis der natürlichen Einstellung Diese dreifache Abstufung der für mich vorhandenen Welt, nämlich das Wahrnehmungsfeld, das Mitgegenwärtige und der Umwelthorizont, zeigt die grundlegende Voraussetzung, auf der sich das Erfahrungsfeld, in dem wir uns alltäglich bewegen, erstrecken kann. Wir sind auf diese Basis eingestellt. Daher nennt Husserl die Erfahrungseinstellung eine natürliche: solange die Welt für mich da ist, bin ich natürlich eingestellt. 126 Die natürliche Einstellung gründet auf der Generalthesis, die besagt, daß „die Welt [...] als Wirklichkeit immer da [ist]" (ebd., S. 53). Die Welt als Wirklichkeit deutet auf die bereits erwähnte Gegebenheitsweise des in der natürlichen Einstellung Gegebenen hin: auf das Für-mich-einfach-da-sein des Gegebenen. Ich nehme die Welt in ihrer dreifach abgestuften Charakterisierung als daseiende hin. In diesem Sinne sind die Dinge als wahrnehmbare Wirklichkeiten für mich vorhanden. Husserl zufolge bin ich natürlich eingestellt, insofern ich in der Welt bin, die für mich einfach wahrnehmbar da i s t . 1 2 7 126
Vgl. Hua III/1, S. 51. Im Laufe des § 30 verwendet Husserl verschiedene Ausdrücke für denselben Sachverhalt, nämlich für das Für-mich-einfach-da-sein der Welt: „für mich einfach da sein", „das Vorhandensein", „unmittelbar für mich da sein", „unmittelbar da stehen", „unmittelbar vorhanden", „als daseiend vorfinden" und „ich bin mir selbst vorfindlich". Vgl. ferner die Entfaltung der natürlichen Einstellung, die Husserl innerhalb der Vorlesungen „Grundprobleme der Phänomenologie" im WS 1910/11 ausgearbeitet hat, in: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Hua. XIII, bes. S. 111 ff. 127 Eine weitere Analyse darüber würde den Rahmen der Untersuchung überschreiten. Vgl. ferner die ausgezeichnete Dissertation von Yeong Gyeong Lee, Phänomenologie der Welt bei Edmund Husserl, Diss. Freiburg, 1999, bes. den § 6, in
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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Mit der natürlichen Einstellung will Husserl jene Einstellung charakterisieren, die sich aufgrund der Generalthesis hält. Sie ist bestimmt durch die universale Vorhandenheitssetzung, die sich als ein Universum von Geltungen zeigt. Wir werden sehen, daß bei Husserl das eigentliche Sehen dieses Weltglaubens nur durch dessen Ausschaltung möglich w i r d . 1 2 8 Aber nach Husserl scheint es so, als ob in der Erfahrung, in der wir die Welt anschaulich vorfinden, zunächst die Welt und die umweltlichen Dinge in ihrem Gebrauchscharakter unmittelbar auftauchen. In bezug darauf können wir fragen: welches Verhältnis besteht für Husserl zwischen der Wahrnehmungs- und der Gebrauchswelt? Bezüglich unseres früher gegebenen Beispiels können wir die Frage stellen, wie sich der Ofen zunächst zeigt: als ein wahrgenommenes Ding oder als ein Gebrauchsding? In Heideggers Worten: entdecken wir das weltliche Ding zunächst als Vorhandenes oder als Zuhandenes als ein Zeug?
d) Der Fundierungszusammenhang der Unmittelbarkeit der Welt Am Anfang des § 27 der , Ideen Γ schreibt Husserl, daß ich die Welt unmittelbar anschaulich vorfinde, daß ich sie erfahre. Am Ende dieses Paragraphen kehrt er zur Un-mittelbarkeit der Welt zurück und schreibt folgendes: „Dabei ist diese Welt für mich nicht da als eine bloße Sachenwelt, sondern in derselben Unmittelbarkeit als Wertewelt, Güterwelt, praktische Welt" (ebd., S. 50). Wir müssen dies näher betrachten. Wenn Husserl zu Beginn sagt, daß die Dinge unmittelbar für mich da seien, meint er damit den direkten Bezug zu sinnlichen Wahrnehmungsdingen. Die Gegebenheitsweise der in der natürlichen Einstellung eingestellten Dinge ist somit ein Für-mich-dasein der Dinge, das wahrnehmungsmäßig charakterisiert ist. Husserl zufolge ist ein Ding für mich da, wenn ich es durch die verschiedenen Weisen der sinnlichen Wahrnehmung entdecke: durch Sehen, Tasten, Hören, usw. Daher bezieht sich die Unmittelbarkeit der Gegebenheit der Dinge unumgänglich auf diesen Wahrnehmungscharakter. Daß die Wahrnehmung in einem ersten Sinne den zugrundeliegenden Zug im Entdecken der Dinge benennt, bedeutet gerade nicht, daß sie die einzige bleibt. Sie ist aber das Fundierende, auf das andere Charaktere aufweichem drei Hauptmerkmale des Weltglaubens zum Aufweis gebracht werden: unmodifizierbar, ungebrochen und an sich seiende Welt, S. 32 ff. 128 Für eine weitere Ausarbeitung der Charakterisierung der natürlichen Einstellung bei Husserl vgl. F.-W. v. Herrmann, HPhD, S. 171 ff.; E. Fink, Studien zur Phänomenologie 1930-1939, S. 111 ff.; K. Held, Einleitung zu Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I, Stuttgart, S. 31 ff.; E. Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, S. 99 ff. 8=
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
bauen. Wahrnehmung in einem zweiten, weiteren Sinne dagegen besagt eine allgemeine Gegebenheitsweise. Im § 44 der , Ideen Γ deutet Husserl darauf hin: „Allgemein ist schon zu sehen, daß transzendentes Sein überhaupt, welcher Gattung es sein mag, verstanden als Sein für ein Ich, nur zur Gegebenheit kommen kann in analoger Weise wie ein Ding, also nur durch Erscheinungen" (ebd., S. 81, k.g.v.m.). Die sinnliche Wahrnehmung liefert der Generalthesis ihre „Nahrung". Sie enthüllt sich als eine „letzte Quelle", daher nennt Husserl sie auch „Urerfahrung" (ebd., S. 70). In diesem Sinne können wir erläutern, daß die unmittelbare Gegebenheit keine ,Einschichtigkeit' meint. Der Terminus Unmittelbarkeit' stellt vielmehr gegenüber den aus der Modernität stammenden Abbildtheorien einen andersartigen phänomenologischen Zugang zur Welt dar. Die Dinge sind nicht mehr durch eine Imago vermittelt, sondern unmittelbar anschaulich. 129 Aber die Weise, wie diese Unmittelbarkeit zustande kommt, ist eine wahrnehmungsmäßige Gegebenheit. D.h., im Bewußtsein erscheint ein Ding, und dieses wird durch Wahrnehmung gegeben. Darin sind aber andere Charaktere, wie die Gebrauchscharaktere, fundiert. Bei Husserl können wir ein Ding nur dann als ein Gebrauchsding erfassen, wenn der Gebrauchscharakter in einer raum-zeitlichen sinnlichen Wahrnehmung fundiert ist. Daher schreibt Husserl am Ende des § 27, daß „auch diese Wertcharaktere und praktischen Charaktere [...] konstitutiv zu den „vorhandenen" Objekten als solchen [gehören]" (ebd., S. 50, k.g.v.m.). Festzustellen ist somit, daß dieser Auffassung nach ein umweltliches Ding aus einer fundierenden und aus einer fundierten Schicht zusammengesetzt ist. Dieser Fundierungszusammenhang leugnet aber nicht die unmittelbare Gegebenheit der Dinge. Wir haben gesagt, daß die Weltcharaktere der Gebrauchswelt in der primär wahrgenommenen Sachbeschaffenheit fundiert sind. Daher ist der Zusammenhang zwischen Sachenwelt und Gebrauchs- bzw. Wertewelt bei Husserl ein Fundierungszusammenhang. Die sinnlich wahrnehmbare Sachenwelt ist fundierend, und darin fundiert ist die geistige Welt, deren erste Schicht die der Gebrauchscharaktere darstellt. 130 Wenn wir auf die vorgelegte Frage zurückkommen, nämlich die der Beziehung zwischen der Gebrauchswelt und der Wahrnehmungswelt, müssen wir sagen, daß wir zunächst die Dinge als Wahrnehmbares entdecken, und auf diesen fundierenden Charakter bauen die anderen, z.B. der Gebrauchscharakter, auf. Daher finden wir Husserl zufolge, in Heideggerscher Termi-
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Ferner vgl. Hua I I I / l , § 43. Wir werden aber sehen, daß die hier betrachtete Unmittelbarkeit eigentlich durch das sinnkonstituierende, transzendentale Bewußtsein vermittelt wird. Das Fundierende und das Fundierte der Umwelterfahrung deuten auf die Konstitution des Dinges im Bewußtsein hin. 130
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nologie ausgedrückt, in unserem alltäglichen Leben zunächst Vorhandenes und nicht Zwhandenes, denn letzteres trägt für Husserl schon einen in der Wahrnehmung fundierten Charakter. 131 Aufgrund dieses Fundierungszusammenhangs können wir sehen, daß alle Charaktere, die auf diesem fundierenden Wahrnehmungscharakter basieren, sich in der von Husserl gekennzeichneten natürlichen Einstellung befinden. In diesem Sinne schließt die natürliche Einstellung alle weiteren Verhaltensweisen des Menschen ein, die nicht mit der Generalthesis brechen. Hier sind die empirischen und apriorischen Einzelwissenschaften mit eingeschlossen. Wir können daher sagen, daß die natürliche Einstellung als die vorphilosophische Einstellung zweierlei Bewußtseinsleben umfaßt: einerseits das vorwissenschaftliche Leben, andererseits das theoretisch positiv wissenschaftliche Erkenntnisleben. Denn beide Leben bewegen sich innerhalb der unangetasteten Generalthesis der natürlichen Einstellung.
e) Andeutende Bemerkungen zum theoretischen Charakter der natürlichen Einstellung Diese Generalthesis, auf welcher die natürliche Einstellung gründet, benennt kein bestimmtes inhaltliches Merkmal; vielmehr erweist sie sich als das Wie der Gegebenheitsweise des in der natürlichen Einstellung Gegebenen. Das Für-mich-einfach-da-sein der Welt sagt nichts weiter darüber, welchen inhaltlichen Charakter diese trägt, d. h. das Gegebene kann sowohl ein Reales wie Ideales sein. Beide können aber nur innerhalb meines Weltglaubens erscheinen. M.a.W., die reale Welt in ihrem räumlich-zeitlichen Charakter und die möglichen idealen Welten, z.B. die arithmetischen und geometrischen Welten, gehören in die natürliche Einstellung, insofern die Weise, wie sie gegeben sind, ein Für-mich-einfach-da-sein dieser Welten ist (ebd., S. 81). Es scheint so, als ob die natürliche Einstellung qua vor-thematische Einstellung vortheoretisch wäre. Dies trifft jedoch nicht zu. Drei Gründe sprechen dagegen. Erstens: das „Natürliche" in dieser Einstellung ist nicht die gesuchte a-theoretische Sphäre. Es wurde bereits erläutert, daß das „Natürliche" den bestimmten Charakter jener Einstellung meint, die sich aufgrund 131 Wir müssen hier erläutern, daß die begriffliche Anlehnung an Heidegger nicht bedeutet, daß Husserl dasselbe meint. Das Vorhandene bedeutet bei Husserl strenggenommen nicht das, was Heidegger mit Vorhandenheit meint. Vielmehr besagt dieses bei Husserl das bewußtseinsunabhängige an sich Seiende der Wirklichkeit. Das an sich Dasein bezieht sich bei Husserl nämlich auf das in der Generalthesis gesetzte an sich Vorhandensein. Das Vorhandensein ist das bewußtseinsunabhängige, wenn auch im Bewußtsein unmittelbar bewußte, an sich Vorhandensein der Welt, nach der sich das Bewußtsein richtet.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
der Generalthesis hält, nämlich den Charakter des Wahrnehmens einer seienden Welt. Das Natürliche ist in diesem Sinne bereits in den Rahmen der Wahrnehmung hineingestellt, daher bildet die sinnliche Wahrnehmung einen wesentlichen Zug dieser theoretischen Einstellung. Hier ist aber zu sagen, daß in der Wahrnehmung bereits das jeweilige wahrnehmbare Ding aus seinem ursprünglicheren Zusammenhang herausgenommen wird, und in diesem Sinne ist der ursprüngliche atheoretische Charakter des „Dinges" verhüllt. Daher ist das auf der Wahrnehmung fundierte philosophische Thematisieren stets ein theoretisches. M.a.W., die Welt und die umweltlichen Dinge sind nicht in ihrem ursprünglich umweltlichen α-theoretischen Charakter erfaßt, sondern in einer durch die Wahrnehmung bestimmten Auslegung. In diesem Sinne deckt sich das Natürliche überhaupt nicht mit dem umweltlich Α-theoretischen, da die natürliche Einstellung bereits eine wahrnehmungsmäßig theoretisch angetastete Einstellung ist. Zweitens: der Terminus Einstellung 4 enthält in sich bereits einen theoretischen Charakter. Er meint die Weise, wie wir uns bereits befinden, wie wir innerhalb der Welt und der weltlichen Gegenstände da sind, wie wir uns selbst einordnen. 132 Daß wir eingestellt sind, besagt, daß wir eine „Stellung 44 im Ganzen haben: „wir finden uns inmitten dieser Welt vor 44 (Hua XVI, S. 4). Da dieses Vorfinden wahrnehmungsmäßig geführt wird, kann unser Eingestelltsein nur in Anknüpfung an ein bestimmtes Wesen des Menschen möglich sein: ein Wesen, das die Wahrnehmung als Grundzug unseres In-der-Welt-Vorfindens bestimmt. In diesem Sinne ist das Eingestelltsein der natürlichen Einstellung bereits an das Wesen des Menschen als animal rationale, welches an die philosophische Tradition angeknüpft ist, gebunden. 133 Anders gewendet heißt dies, daß diese Einstellung nur innerhalb des überlieferten Schemas Gattung-Art, in welchem der Mensch ein durch sinnliche Wahrnehmung bzw. αισθησις und Vernunft bzw. νόησις charakterisiertes Lebewesen, ein animal rationale, ist, sachgemäß verstanden werden kann. 1 3 4 Drittens: die Tatsache, daß die natürliche Einstellung auf einer bestimmten Gegebenheitsweise gründet, nämlich auf dem Für-mich-einfach-da-sein der Welt, weist wiederum auf einen theoretischen Charakter hin, der bereits 132
Vgl. E. Husserl, Ding und Raum. Vorlesungen 1907 in: Hua X V I , S. 4. Im SS 1925 sagte Heidegger, daß die natürliche Einstellung Husserls keine natürliche sei, sondern eine naturalistische, die den Menschen bereits als ein Naturobjekt bestimmt, und in welcher „die Erlebnisse [...] ,reale Weltvorkommnisse' ,an animalischen Wesen4 [sind]" GA 20, S. 132, vgl. ferner S. 155 f. Ferner vgl. W. Biemel, Heideggers Stellung zur Phänomenologie in der Marburger Zeit, in: Gesammelte Schriften I, S. 293 ff. 134 Heidegger spricht im SS 1920 von der „Leichtigkeit der Einstellung" in dem Sinne, daß Husserl mit „Einstellung" eine „Wegstellung" von der Selbstwelt meint, GA 59, S. 141 f. 133
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im Wort , Gegebenheit' steckt. Daß die weltlichen Dinge in der Wahrnehmung gegeben sind, scheint den Rang eines Gemeinplatzes zu haben. Hier ist jedoch zu beachten, daß , Gegebenheit4 die schon theoretisierte Weise des Entdeckens der Dinge meint. Wir werden sehen, daß die Gegebenheit eine abkünftige Modifikation der ursprünglicheren atheoretischen Weise ist, in welcher wir die weltlichen Dinge atheoretisch entdecken bzw. in welcher sie uns begegnen. Aus den genannten Gründen stellen wir fest, daß die Husserlsche natürliche Einstellung keine a-theoretische Lebensweise ist. Die natürliche Einstellung beruht schon auf theoretischen Charakteren, die ein ursprünglicheres Hineinsehen in das eigentliche A-theoretische versperren.
f) Die Möglichkeit einer vollständigen Charakterisierung der natürlichen Einstellung bei Husserl Aufgrund des Gesagten können wir sehen, daß die natürliche Einstellung einerseits von ihr selbst her betrachtet werden kann, d.h. als eine phänomenologische „mundane" Analyse, oder andererseits von der transzendentalen Einstellung her. Im ersten Fall wird eine phänomenologische Analyse durchgeführt, die aber nicht transzendental geprägt ist. Diese Entfaltung, die schon in der phänomenologischen Fundamentalbetrachtung der , Ideen Γ erarbeitet wurde, hat Husserl in dem späteren Werk ,Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie4 (KrisisSchrift) weiter verfolgt. Uns kommt es hier nur darauf an, die Abhebung der natürlichen Einstellung als die für Husserl primär begegnende Einstellung unseres Lebens zu betrachten, damit die Kontrastierung mit der Auslegung Heideggers klar gesehen werden kann. Die vollständige Charakterisierung der natürlichen Einstellung kann allerdings nach Husserl nur von der transzendentalen Ebene her erfolgen. 135 Indem sich die transzendentale Subjektivität als der eigentliche konstituierende Ursprung der Welt zeigt, wird die natürliche Einstellung in ihren we135 In diesem Sinne können wir mit Aguirre drei Beschreibungsmodi der natürlichen Einstellung in den ,Ideen Γ unterscheiden. Der erste Modus wird innerhalb der natürlichen Einstellung selbst durchgeführt. Diese Beschreibung finden wir im ersten Kapitel der Phänomenologischen Fundamentalbetrachtung. Eine zweite Beschreibung findet ebenfalls innerhalb der natürlichen Einstellung statt. Hier wird aber über das Wesen des natürlichen Lebens reflektiert, und auf dieser Ebene zeigt sich „die Untauglichkeit jener Einstellung". Diese eidetische Bewußtseinsanalyse wird im zweiten Kapitel entfaltet. Eine dritte Charakterisierung wird innerhalb der transzendentalphänomenologischen Einstellung durchgeführt. Hier wird die natürliche Einstellung hinsichtlich des transzendentalen, weltkonstituierenden Lebens betrachtet. Vgl. A. Aguirre, Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik, S. 6 ff.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
sentlichen Zügen verstanden. Die natürliche Einstellung ist, wie Aguirre bemerkt, „die Eigenschaft des Lebens, nicht zu wissen, daß es ein weltkonstituierendes Leben i s t " . 1 3 6 Dieses Nicht-wissen meint aber kein willentliches Sich-verschließen vor dem Wissen von dem konstituierenden Grund. Sondern es wurde schon von Fink bemerkt, daß zum Wesen der natürlichen Einstellung die Verschlossenheit gegenüber der transzendentalen Sphäre gehört. 137 Vorwegnehmend können wir sagen, daß für die natürliche Einstellung das transzendentale Bewußtseinsleben verhüllt bleibt. Durch dessen Enthüllung erweist es sich kantisch gesprochen als die Bedingung der Möglichkeit für das hinnehmende empfangende Verhalten der in der natürlichen Einstellung uns als daseiend bewußten vorhandenen Welt. Damit wir die Naivität der natürlichen Einstellung als eine „anonyme Transzendentalität", d.h. als ein Konstitutionsergebnis, verstehen und weitergehend den eigentlichen Zugang zum Bewußtseinsleben bei Husserl, wenden wir uns zunächst der Analyse der transzendentalen Einstellung zu.
§ 13. Der methodische Zugang zum transzendentalen Bewußtseinsleben anhand der ,Ideen Γ a) Vorbemerkung Aufgrund des bisher Entfalteten können wir die Frage nach dem Zugang zum Bewußtseinsleben bei Husserl in einer vortranszendentalen und in einer transzendentalen Gestalt betrachten. Das transzendentale Feld wurde seit 1905 erfaßt, findet aber eine reifere Darstellung erst in der in den , Ideen Γ vollzogenen Analyse. 1 3 8 Wir haben bereits angedeutet, daß eine vollständige Freilegung der Erlebnisse nicht nur bezüglich ihres reellen Gehalts durchgeführt werden darf, sie muß auch den vermeinten Gegenstand miteinbeziehen. Dies bedeutet, daß für Husserl das Feld der Phänomenologie in der Korrelation von Be136
Aguirre, Die Phänomenologie Husserls ..., S. 8. E. Fink, Studien, S. 111. 138 In einer Fußnote zum Band X der Hua wird eine Bemerkung Husserls wiedergegeben: „Seefelder Manuskripte und ältere über Individuation. Seefeld 1905. Individuation. (Historische Note: In Seefelder Blättern - 1905 - finde ich schon Begriff und korrekten Gebrauch der »phänomenologischen Reduktion')", S. 237. In den 5 Vorlesungen über die Idee der Phänomenologie von 1907 ist die phänomenologische Reduktion in einer etablierenden Gestalt dargestellt: „alles Transzendente (mir nicht immanent Gegebene) ist mit dem Index der Nullität zu versehen, d.h. seine Existenz, seine Geltung ist nicht als solche anzusetzen, sondern höchstens als Geltungsphänomen", Hua II, S. 6. 137
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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wußtseinsleben und darin intentionaler bewußter Welt und ihrer Gegenstände besteht. Der Weg zur Klärung dieser Korrelation führte unumgänglich zu einer transzendentalen Gestalt der Phänomenologie. In einer Fußnote der ,KrisisSchrift' stellt Husserl deutlich diesen Weg dar: Der erste Durchbruch dieses universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegebenheitsweisen [...] erschütterte mich so tief, daß seitdem meine gesamte Lebensarbeit von dieser Aufgabe einer systematischen Ausarbeitung dieses Korrelationsapriori beherrscht war. Der weitere Gang der Besinnungen des Textes wird es verständlich machen, wie die Einbeziehung der menschlichen Subjektivität in die Korrelationsproblematik notwendig eine radikale Sinnverwandlung dieser ganzen Problematik erzwingen und schließlich zur phänomenologischen Reduktion auf die absolute transzendentale Subjektivität führen mußte (Krisis-Schrift, S. 169 f., k.g.v.m.).
Hier müssen wir aber die Frage stellen: Was heißt „phänomenologische Reduktion"? Was wird „reduziert"? Weshalb hat die Korrelation bei Husserl einen endgültigen Abschluß in der Entdeckung der „absoluten transzendentalen Subjektivität"? 139 Im vorangegangenen Paragraphen haben wir den Ausgangspunkt der Reflexion erläutert, nämlich die natürliche Einstellung. Dabei haben wir vorweggenommen, daß Husserls Rede von zwei Einstellungen eigentlich auf ein Verhüllen-Enthüllen-Phänomen hinweist. D.h., daß die natürliche Einstellung als eine verhüllende Transzendentalität zu verstehen i s t . 1 4 0 Die Enthüllung der Transzendentalität, d.h. der konstituierenden Region, erfolgt aber nicht durch eine bloße Reflexion. Auch haben wir bereits bemerkt, daß das Erlebnis, um es als solches zu erfassen, Husserl zufolge zum intentionalen Gegenstand übergeführt werden muß. Die Reflexion enthüllt sich als jene Möglichkeit, die uns ein Erblicken des Erlebnisses gewährt. 1 4 1 Aber die Reflexion als methodische Behandlungsart der Phänomenologie Husserls kann verschiedene Ursprungsebenen vergegenständlichen. Wir haben bereits bemerkt, daß das Zum-Gegenstand-machen unserer alltäglichen Erlebnisse eine Reflexion innerhalb der naiven, natürlichen Einstellung ist, insofern die Generalthesis in dieser Reflexion mitvollzogen wird. Wir bewegen uns dabei auf einem verhüllten Boden, da wir nicht über den jeweiligen Akt hinaus reichen, transzendieren, und das heißt, daß wir das weltbildende oder konstituierende Bewußtseinsleben noch nicht erblicken. In der natürlichen Reflexion bleiben wir in der „mundanen Erfah139 Dazu vgl. L. Landgrebe, Husserls Phänomenologie und die Motive zu ihrer Umbildung, in: L. Landgrebe (Hrsg.), Der Weg der Phänomenologie, S. 9 ff.; R. Ingarden, On the Motivs which led Husserl to transcendental Idealism. 140 Vgl. A. Aguirre, Die Phänomenologie Husserls . . S . 8 ff. 141 Vgl. unten § 19.
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
rung" befangen, 142 da diese mundane Reflexion das Bewußtseinsleben nicht als ein reines konstituierendes Bewußtsein entdeckt, sondern nur als ein empirisch konstituiertes. Um den vollen Sinn des Bewußtseinslebens und seinen Zugang zu erfassen, müssen wir in die für die naive natürliche Einstellung konstituierende transzendentale Sphäre gelangen. Zunächst sehen wir, wie der entscheidende Schritt von der natürlichen Einstellung zur transzendentalen zu vollziehen ist.
b) Die phänomenologische Reduktion als Einstellungsänderung Am Anfang des § 31 der ,Ideen Γ schreibt Husserl: „Anstatt nun in dieser Einstellung [in der natürlichen] zu verbleiben, wollen wir sie radikal ändern" (Hua III/1, S. 53, k.g.v.m.). Die radikale Änderung, die sich Husserl hier vornimmt, ist die Gewinnung eines bisher nicht entdeckten Feldes: die reine oder transzendentale Bewußtseinssphäre. Die transzendentale Subjektivität zeigt sich als der eigentliche Boden der Husserlschen Phänomenologie, als „die Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung" (Hua V, S. 139). Husserl zufolge ist die Sache selbst, die in der phänomenologischen Forschungsmaxime 9zu den Sachen selbst!' zum Ausdruck kommt, das reine Bewußtsein oder die transzendentale Subjektivität. Das Leben, das Sein, die Welt sind nur aufgrund der in der transzendentalen Subjektivität geschehenden Konstitution zu verstehen. Daher werden die Phänomene in ihrem Ursprung für Husserl nur auf der transzendentalen Ebene aufgedeckt. Sie werden dadurch eigentlich in ihrer vollen Entfaltung gesehen. Dementsprechend findet Husserl hier „das Grundfeld der theoretischen Arbeit" der Philosophie (Hua VIII, S. 7). Die Entdeckung der transzendentalen Sphäre kommt nur zustande, wenn die naive natürliche Einstellung verlassen wird, d.h. nur durch eine Einstellungsänderung. Diese Einstellungsänderung bildet ein strenges methodisches Verfahren, das mit den empirischen Sphären in einer radikalen Form bricht und somit die transzendentale Sphäre zugänglich macht. In diesem Sinne charakterisiert Husserl in dem 1930 geschriebenen „Nachwort zu den Ideen I " die Einstellungsänderung als eine ,vZugangsmethode zur transzendental-phänomenologischen Sphäre" (Hua V, S. 141, k . g . v . m . ) . 1 4 3 Die Einstellungsänderung ermöglicht einen Zugang zu den in der natürlichen Einstellung verhüllten Phänomenen. Die reflektierende Analyse der Erlebnisse in der natürlichen Einstellung enthüllt sich als eine noch verhüllende Analyse. Erst die Enthüllung offenbart strenggenommen die Phäno142 143
Vgl. Hua VIII, S. 79. Ferner vgl. Hua I, § 8.
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl mene als solche. I n diesem Sinne muß der Terminus
,rein'
123
verstanden
werden: nur i m konstituierenden, reinen Bewußtseinsleben werden die Phänomene rein als solche enthüllt. Aber die Einstellungsänderung muß nicht nur i n einem restriktiven Sinne zum A u f w e i s gebracht werden. D i e radikale Änderung öffnet einen neuen Bereich. Dadurch w i r d die M ö g l i c h k e i t einer ganz andersartigen Interpretation unseres Bezugs zur Welt und zu den weltlichen Dingen gegeben: die Welt w i r d als Welt entdeckt, und die weltlichen Gegenstände enthüllen sich als i m reinen Bewußtsein konstituierte Gegenstände. Durch die Einstellungsänderung geschieht also ein Rückgang,
ein Rück-
stieg v o m naiven natürlichen Bewußtseinsleben z u m darin verhüllten transzendentalen Bewußtseinsleben. Daher nennt Husserl diese Methode transzendentale Zurückleitung
Reduktion.
D i e transzendentale Reduktion als die Methode der
zur ursprünglichen Dimension bestimmt den ganzen Weg der
reflexiven Phänomenologie H u s s e r l s . 1 4 4 Husserl w i r d sogar schreiben, daß es „ k e i n echtes Philosophieren [gibt], es sei denn auf dem Boden der transzendentalen R e d u k t i o n " . 1 4 5 I m Laufe seines Werkes hat Husserl verschiedene Wege zur transzendentalen Reduktion e n t f a l t e t . 1 4 6 W i r wenden uns zunächst dem Weg zu, den 144
In bezug auf die phänomenologische Reduktion vgl. Fink, Studien, S. 132 ff.; R. Boehm, Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie, S. 119 ff.; A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, S. 31 ff. 145 Brief vom 19. August 1932 an R. Ingarden, S. 80. Hier müssen wir darauf hinweisen, daß die transzendental-phänomenologische Reduktion nicht mit der eidetischen oder einer anderen Reduktion zu verwechseln ist. Der Bezug zwischen den verschiedenen Reduktionen wird in der Sekundärliteratur oft mißverstanden. Eine eingehende Analyse der Reduktion bei Husserl ginge über den Rahmen unserer Untersuchung hinaus. Wir können hier nur andeuten, daß sich die eidetische Reduktion nicht mit der transzendentalen Reduktion deckt, ebensowenig aber ist sie innerhalb der natürlichen Einstellung zu betrachten. Zwar setzt die Fundamentalbetrachtung der , Ideen Γ mit einer eidetischen Forschung auf dem Boden der natürlichen Einstellung ein, was aber nicht heißt, daß die eidetische Reduktion wesenhaft zur natürlichen Einstellung gehöre. Auch die transzendentale Phänomenologie vollzieht die eidetische Forschung und daher die eidetische Reduktion. 146 Im „Nachwort zu den Ideen I " schreibt Husserl: „Ich habe in vieljährigem Nachdenken verschiedene gleichmögliche Wege eingeschlagen, um eine solche Motivation absolut durchsichtig und zwingend herauszustellen, die über die natürliche Positivität des Lebens und der Wissenschaft hinaustreibt und die transzendentale Umstellung, die phänomenologische Reduktion notwendig macht", Hua V, S. 148. Iso Kern ist diesen „gleichmöglichen Wegen" nachgegangen und hat vier Hauptwege der Einstellungsänderung dargestellt: den cartesianischen Weg, den Weg über die intentionale Psychologie, den Weg über die Kritik der positiven Wissenschaften und den Weg über die Ontologie. Kern, Die drei Wege zur transzendental-phänomenologischen Reduktion in der Philosophie Edmund Husserls, in: Tijdschrift voor Philosophie 24 (1962), S. 303-349; Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl. Dar-
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
Husserl in den , Ideen Γ eingeschlagen hat: der durch έποχή vollzogene cartesianische Weg.
c) Die έποχή als Außer-Aktion-setzen bzw. Einklammerung der Generalthesis Im § 32 der , Ideen Γ schreibt Husserl deutlich, was er mit dem Terminus εποχή meint: Die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis setzen wir außer Aktion, alles und jedes, was sie in ontischer Hinsicht umspannt, setzen wir in Klammern: also diese ganze natürliche Welt, die beständig „für uns da", „vorhanden" ist [...] (Hua I I I / l , S. 56).
Die Zurückleitung zur Dimension des ursprünglichen konstituierenden Bewußtseinslebens durch die έποχή geschieht als ein Außer-Aktion-setzen bzw. als eine Einklammerung der zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörenden Generalthesis. D.h., daß ich den Weltglauben außer Aktion setze, und dadurch werden die im Weltglauben gesetzten Gegenständlichkeiten eingeklammert. Έποχή bedeutet also die Ausklammerung einer ganz bestimmten Seinssetzung, durch die die natürliche Einstellung ganz selbstverständlich bestimmt ist. Am Ende der Cartesianischen Meditationen drückt Husserl aus, worauf die έποχή abzielen muß: „Man muß erst die Welt durch έποχή verlieren, um sie in universaler Selbstbesinnung wiederzugewinnen" (Hua I, S. 183). Hier taucht jedoch die Frage auf: Verlieren wir tatsächlich die Welt? Was meint Husserl damit? 1 4 7 Wir haben bereits bemerkt, daß uns die Welt in der natürlichen Einstellung als ein Universum von Geltungen gegeben ist, sie wird als eine absolute Tatsache selbstverständlich betrachtet. Die Welt als solche wird überhaupt nicht gesehen. Erst durch die Ausklammerung des Weltglaubens wird die Welt als Phänomen gesehen und die natürliche Einstellung als eine naive nicht-wissende Einstellung betrachtet. Wir müssen hier betonen, wie Fink zu Recht bemerkt, daß durch die έποχή die Welt eigentlich nicht verloren wird, sondern sie wird fragwürdig, da sie phänomenologisch strenggenommen in der natürlichen Einstellung unverstanden bleibt. 1 4 8 Stellung seines Denkens, bes. zweites Kapitel; vgl. ferner A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, S. 31-64. 147 1924 erläuterte Husserl das Verdienst der phänomenologischen Zugangsmethode: „ M i t dem Wissen um die transzendentale Subjektivität in eins verwerten wir den lange vertrauten Hauptgedanken: daß alles Objektive, das für mich je da ist und da war, je für mich dasein wird, mir je in irgendeinem Sinne als seiend gelten wird, nur aus gewissen meiner eigenen Bewußtseinsleistungen Sinn, Erscheinungsweise, Geltung geschöpft haben kann", Hua VIII, S. 139. 148 E. Fink, Studien, S. 170.
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
125
Das Wissen um die transzendentale Subjektivität, d.h. die durch die Einstellungsänderung erreichte eigentliche phänomenologische Sphäre, bedeutet keine wesentliche Änderung in der Struktur des Lebens, da die phänomenologische Reduktion und έποχή sich nicht auf das Was, sondern auf das Wie meiner naiven Einstellung, auf das Für-mich-einfach-da-sein der Welt bezieht. Die Entdeckung der transzendentalen Sphäre besagt daher kein aus der Welt Herausgehen oder ein „Jenseits" dieser Welt. In der transzendentalen Einstellung befinde ich mich vor Dingen, habe ich mit Menschen zu tun, beziehe ich mich auf ideale Welten, usw. Was aber durch εποχή und Reduktion geschieht, ist, daß ich mich auf eine ganze Welt mitbezogen weiß: „auf das reale Weltall, dem diese Dinge, diese Menschen zugehören, und zugleich ev. mitbezogen auf gewisse ideale Reiche, denen die jeweiligen idealen Gegenstände meiner aktuellen Beschäftigung zugehören" (Hua VIII, S. 144). Dieses Mitbezogensein bedeutet aber, daß der naive Unabhängigkeitsanspruch der Welt und der weltlichen Dinge nur ein vermeinter ist. Durch die έποχή und Reduktion wird dann die weltliche Transzendenz zu einer rein phänomenalen Transzendenz und die Welt zu einem transzendental-immanenten Weltphänomen. 149 Damit können wir sehen, daß bei Husserl mit dem Eintreten in die transzendentale Sphäre ein Verständnis des Erlebnisses in seiner Zugehörigkeit zur Welt mit auftaucht. Die Zugehörigkeit des Erlebnisses zur Welt kann aber nur entdeckt werden durch das nicht mitmachende Ausklammern des Für-mich-da-seins der Welt. In diesem Sinne wird das Erlebnis von seinem faktisch geschichtlichen Charakter abgeschnitten und in einer gereinigten Sphäre angesetzt. Heidegger zufolge wird das Leben und Erleben nicht in seiner Ursprünglichkeit aufgefaßt, da der transzendental konstituierende Charakter nicht der ursprünglich a-theoretische umwelterlebende Charakter ist. Daher sagt Heidegger, daß durch dieses methodische Verfahren, nämlich durch Reduktion und έποχή, kein eigentlicher Zugang zum Ursprung des Lebens geschaffen wird. Durch diese Zugangsmethode erreichen wir nur eine Anschauung, die erkenntnistheoretisch geprägt ist, und die uns „weg vom Gegenstand" führt. Daher kann bei Husserl der Blick auf das Phänomen Leben nur in einer bestimmten Gestalt zustande kommen: transzendental-erkenntnistheoretisch. 1 5 0
149
Vgl. dazu E. Ströher, Husserls transzendentale Phänomenologie, S. 75 ff. Vgl. GA 58, S. 151. Im Hauptteil der vorliegenden Arbeit werden wir auf die Kritik an der Husserlschen Konstitution eingehen, die Heidegger bereits im SS 1920 ausgearbeitet hat. Ferner wird sich dort zeigen, daß ein unüberbrückbarer Unterschied zwischen dem Bewußtseinsleben Husserls und dem faktischen Leben bzw. Dasein Heideggers besteht. 150
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
d) Schärfere Charakterisierung der έποχή Um die Eigenartigkeit der έποχή zu verdeutlichen, führt Husserl eine Kontrastierung zu anderen scheinbar ähnlichen Gestalten der philosophischen Tradition durch. Im § 32 der ,Ideen Γ lesen wir: „Tue ich so, wie es meine volle Freiheit ist, dann negiere ich diese „Welt" also nicht, als wäre ich Sophist, ich bezweifle ihr Dasein nicht, als wäre ich Skeptiker; aber ich übe die „phänomenologische" έποχή, die mir jedes Urteil über räumlichzeitliches Dasein völlig verschließt" (Hua III/1, S. 56). Im § 31 bezieht er sich auf den allgemeinen Zweifelsversuch Descartes'. Daher können wir die Frage nach der Eigentümlichkeit der έποχή und dem Unterschied zu den genannten philosophischen Versuchen stellen. Die έποχή vollzieht keine Umwandlung der Thesis in eine Antithesis, der Position in die Negation (ebd., S. 54). Wenn wir uns die Thesis der Sophisten vergegenwärtigen, können wir sehen, daß es sich bei ihnen um eine Modifikation des inhaltlichen Gehalts handelt: die Position, nämlich das existierende Dasein der Welt, das Was, geht in die Negation, d. h. in die Nicht-Existenz der Welt über. Dieser Negation liegt aber die Generalthesis des Weltglaubens zugrunde, da sie nur in bezug auf die Position zu verstehen ist. D.h., die Existenz der Welt wird negiert, aber die Weise, wie die Welt für mich da ist, bleibt unangetastet; die Welt ist nach der Negation immer noch als eine nicht-ejtistierende Welt für mich da. Der Glaube an die Welt, d.h. die Generalthesis, wird durch die Negation überhaupt nicht ausgeschaltet, sondern vorausgesetzt. Bei den Sophisten handelt es sich um keine methodische Vorgehensweise. Die Negation führt zu keinem andersartigen festeren Boden für die philosophische Reflexion. Bei Husserl hingegen hat die phänomenologische έποχή den Sinn, ein Feld für das eigentliche Philosophieren, den eigentlichen Boden der Philosophie, zu gewinnen. Der Begriff ,έποχή' ist aus der griechischen Philosophie geschöpft, wo er die Urteilsenthaltung der Skepsis bezeichnet. Die Skepsis verhält sich grundsätzlich gegenüber jedem Urteil indifferent, nicht aber gegenüber der Generalthesis, da sie unausdrücklich vollzogen wird. Diese έποχή erlaubt eine Enthaltung gegenüber jeglichem Urteil; dabei kann der Wahrheitsgehalt eines Urteils unbestritten bleiben. Das entscheidende Moment liegt im Rückzug des Urteilenden aus dem Urteil, in der Enthaltung von jeglicher Setzung, sei sie nun eine positive oder eine negative. Dabei kann ein weltanschaulich-skeptisches Urteilsmotiv zugrunde liegen oder ein methodisches wie bei Husserl. Gerade die letztere Motivation setzt die Freiheit der Urteilsenthaltung voraus, während die erstere einen hinreichenden Grund in neuen Urteilsmotiven hat. D.h. der skeptische Zweifel ist durch nichtfreie
3. Kapitel: Der Zugang zum Leben als Bewußtseinsleben bei Husserl
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Urteilsmotive angeregt, während die Husserlsche έποχή methodisch motiviert wird. Es scheint aber, als ob die έποχή den methodischen Zweifel Descartes' meine. Aber auch dies trifft nicht zu. Obwohl Husserl selbst in verschiedenen Ausarbeitungen sein Anliegen in die Nähe des cartesianischen Versuchs stellt, grenzt er sich zugleich von Descartes ab. 1 5 1 Durch den Zweifelsversuch war Descartes „zu ganz anderem Zwecke" orientiert. Bei Descartes geht es um den Zweifel an der Wahrheit des Seins, um die Frage, ob das Sein so unbezweifelbar ist, daß es nicht in ein Nichtsein übergehen kann. Also geht es Descartes um den Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit. In der zweiten Meditation der Meditationes de prima philosophia' drückt Descartes dies deutlich aus: Enitar tarnen & tentabo rursus eandem viam quam heri fueram ingressus, removendo scilicet illud omne quod vel minimum dubitationis admittit, nihilo secius quam si omnino falsum esse comperissem; pergamque porro donee aliquid certi, vel, si nihil aliud, saltern hoc ipsum pro certo, nihil esse certi, cognoscam, 152
Im Laufe der zweiten Meditation wird Descartes als certum und inconcussum das ego-cogito-cogitatum entdecken: „Adeo ut, omnibus satis superque pensitatis, denique statuendum sit hoc pronuntiatum, Ego sum, ego existo, quoties a me profertur, vel mente concipitur, necessario esse verum"} 53 Wenn Descartes das ego-cogito als das absolut Unzweifelbare hinsichtlich seiner Existentia und seiner Essentia eingesehen hat, dann will er doch von dieser unbezweifelbaren Seinssphäre her den Weg für die Einsicht in das unzweifelbare Sein der realen Welt suchen. Das heißt, Descartes setzt für seinen Zweifelsweg die Generalthesis gar nicht aus. Wenn er die reale Welt im Ganzen in Zweifel zieht, dann wird sie im Ganzen als möglicherweise Nicht-seiende gesehen. M.a.W., Descartes hält sich auf 151 Vgl. z.B. Hua VIII, S. 4: „Die Keime der Transzendentalphilosophie finden wir historisch bei Descartes" oder Hua I, S. 43: „ihr Studium [Descartes Meditationes'] hat ganz direkt auf die Umgestaltung der schon im Werden begriffenen Phänomenologie zu einer neuen Form der Transzendentalphilosophie eingewirkt. Fast könnte man sie danach einen Neu-Cartesianismus nennen [...]." 152 In: Œuvres de Descartes, hrsg. von C. Adam und P. Tannery, Band VII, S. 24. Α. Buchenau hat folgendermaßen übersetzt: „Dennoch will ich mich herausarbeiten und von neuem ebenden Weg versuchen, den ich gestern eingeschlagen hatte: nämlich alles von mir fernhalten, was auch nur den geringsten Zweifel zuläßt, genau so, als hätte ich sicher in Erfahrung gebracht, daß es durchaus falsch sei. Und ich will so lange weiter vordringen, bis ich irgend etwas Gewisses, oder, wenn nicht anderes, so doch wenigstens das für gewiß erkenne, daß es nichts Gewisses gibt", Phil. Bibl. F. Meiner, S. 21 (k.g.v.m.). 153 Ebd. S. 25. Die Übersetzung von Buchenau lautet: „Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: „Ich bin, ich existiere", sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist", S. 22 (k.g.v.m.).
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1. Teil: Erkenntnistheoretische Zugangsmodi zum Leben
seinem Zweifelsweg in der natürlichen Einstellung, d.h. in der Generalthesis des universellen Gesetztseins des an sich Vorhandenseins der Welt. Er will aus dem ego-cogito nur die absolut gewisse Erkenntnis von der Essentia und Existentia der an sich seienden realen Körperwelt gewinnen. Im Gegensatz zu diesen Auslegungen müssen wir sagen, daß Husserl mit der έποχη in keinem Fall negiert oder bezweifelt. Er bewegt sich nicht in den Alternativen von wahrem und falschem Sein. Das Anliegen Husserls richtet sich auf die Klärung der Welt im Ganzen hinsichtlich ihrer Konstitution aus der transzendentalen Sinnbildung. Dies kann er aber erst, wenn er die natürliche Einstellung mit ihrer Generalthesis erkannt und nun einen Blick in das transzendentale Bewußtseinsleben mit seinen sinnbildenden Leistungen geworfen hat. Aufgrund des Entfalteten können wir folgendes sagen: Durch die phänomenologische Reduktion und εποχή gelangen wir zum reinen Bewußtseinsleben. Das Sosein des Lebens und Erlebens zeigt sich dann als ein notwendiges und absolutes, das nicht durch Abschattungen, d.h. perspektivistisch, oder durch Erscheinung zustande kommt. Durch die die Generalthesis außer Aktion setzende oder nicht-mitmachende εποχή und Reduktion richten wir „unseren erfassenden und theoretisch forschenden Blick [...] auf das reine Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein" (Hua III/1, S. 94). Dieses transzendentale Feld wird von Husserl auch als ein „phänomenologisches Residuum" charakterisiert, insofern es das ist, was nach der Ausklammerung übrigbleibt (ebd.). In diesem Residuum finden wir das Konstituierende der in der natürlichen Einstellung vollzogenen Akte. In diesem Sinne ist die auf der Generalthesis aufgebaute Reflexion eine naiv natürliche, die phänomenologisch durch die transzendentale Methode enthüllt werden soll. Dieser Sachverhalt bietet dem weiteren Weg der Untersuchung eine gleich zweifältige Vororientierung: einerseits wird die Möglichkeit einer Reflexion, die auf dem Feld des transzendentalen Bewußtseinslebens durchgeführt wird, angesprochen, nämlich als „phänomenologische Reflexion" (ebd., S. 95). Andererseits wird hier das Feld für die Philosophie als strenge Wissenschaft aufgezeigt. Mit der Analyse des vorliegenden Paragraphen ist die Freilegung der Phänomenologie Husserls noch nicht abgeschlossen. In den nächsten Paragraphen werden wir einen ausführlichen Blick auf die auf dem transzendentalen Boden aufgebaute Wissenschaft und auf die Reflexion als Behandlungsart der theoretischen Phänomenologie werfen. Damit erst kann die volle Auslegung des Husserlschen Zugangs zum Leben und Erleben verstanden und zugleich die Kontrastierung zur hermeneutischen Phänomenologie Heideggers zum Aufweis gebracht werden.
Zweiter Teil
Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" zum faktischen Leben Erstes Kapitel
Die Idee der Philosophie als eine ursprüngliche Wissenschaft Im vorbereitenden Teil haben wir verschiedene erkenntnistheoretische Modi des Zugangs zum Leben dargestellt: den normativen Rickerts, den psychologisch-beschreibenden Diltheys und den phänomenologisch-transzendentalen Husserls. Alle diese Zugangsmodi sind durch das Theoretische geprägt: sie sind theoretische Zugangsmodi zum Leben und Erleben. Im Hauptteil der vorliegenden Arbeit gilt es demgegenüber, den vollzugshaft phänomenologisch-hermeneutischen Zugang Heideggers zum Aufweis zu bringen. Die Entfaltung des methodischen Zugangs zum Leben und Erleben muß in eigener Weise charakterisiert werden, d.h. sie ist kein übliches Verfahren, das als solches isoliert werden kann. Was Heidegger in SuZ über die Methode deutlich schreibt, nämlich, daß ihre Erfassung keine leere Erörterung einer Technik sei und daß eine „echte methodische Besinnung [...] zugleich Aufschluß über die Seinsart des thematischen Seienden [gibt] 44 (SuZ, S. 303), hatte er bereits seit den ersten Dozenten-Vorlesungen vor Augen. Im WS 1919/20 schreibt er: „Das Eigentümliche der philosophischen Methode selbst ist es, daß sie nicht technisierbar wird [...]" (GA 58, S.136); „sie [die philosophische Methode, Α. X.] hat ihre Wurzeln im Leben selbst, sie muß nur in ihrer Echtheit und Ursprünglichkeit in ihm gesucht werden" (ebd., S. 228). Gemäß dieser deutlichen Feststellung müssen wir demnach die Frage nach dem methodischen „Zugang" nicht als eine willkürliche Technik oder ein Instrument, sondern in bezug auf den zu enthüllenden Gegenstand, nämlich das faktische Leben, ausarbeiten. 1 1
Dazu vgl. GA 24, S. 29: „Wissenschaftliche Methode ist nie eine Technik. Sobald sie das wird, ist sie von ihrem eigenen Wesen abgefallen" und GA 27, S. 32: 9 Xolocotzi
130
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Diese Grundeinsicht wird von Heidegger unter dem Begriff Urwissenschaft berücksichtigt. Bevor wir auf sie eingehen, müssen wir einen Blick auf die Charakterisierung der Ursprungswissenschaft bei Husserl, also der Philosophie als strengen Wissenschaft, werfen, damit in der Kontrastierung die Radikalität des Heideggerschen Ansatzes vollständig verstanden werden kann.
§ 14. Philosophie als strenge Wissensschaft bei Husserl a) Vorbemerkung Im Jahre 1911 veröffentlichte Husserl im ,Logos' den berühmten Aufsatz Phänomenologie als strenge Wissenschaft'. Der erste Satz dieser programmatischen Schrift weist bereits auf die Grundabsicht Husserls hin: „Seit den ersten Anfängen hat die Philosophie den Anspruch erhoben, strenge Wissenschaft zu sein, und zwar die Wissenschaft, die den höchsten theoretischen Bedürfnissen Genüge leiste und in ethisch-religiöser Hinsicht ein von reinen Vernunftnormen geregeltes Leben ermögliche". 2 Dieser Anspruch ist Husserl zufolge in der Tradition „niemals ganz preisgegeben worden" (Logos-Aufsatz, S. 289). Daher sagt Husserl später, daß der Philosophie wesensmäßig ein „Wissenschaftstrieb" zugehört (ebd., S. 293). Dieser Trieb ist in der Tradition mit mehr oder weniger großer Intensität durchgeführt worden, aber die Suche nach einer strengen Wissenschaft wurde immer wieder erneuert. 3 In diesem Sinne reiht sich die Phänomenologie Husserls in die unerschöpfliche Suche der philosophischen Tradition nach strenger Wissenschaftlichkeit ein. M.a.W., Husserl unternimmt durch die reflexive Phänomenologie eine radikale Umwendung, d.h. eine Neubegründung der Philosophie als strenge Wissenschaft. Philosophie darf aber nicht als eine unter „Methode selbst ist mehr als Technik". Wenn die Methode ihr Wesen in der Technik gründet, dann siegt die Methode über die Wissenschaft, worauf Nietzsche hingewiesen hat: „Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der Methode über die Wissenschaft" (Der Wille zur Macht, n. 466), dazu vgl. GA 29/30, S. 535, ferner E. Fink, L'analyse intentionnelle et le problème de la pensée spéculative, in: H. L. van Breda (Hrsg.), Problèmes actuels de la Phénoménologie, S. 66. 2 E. Husserl Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I (1911), S. 289 (Logos-Aufsatz). 3 Husserl zufolge herrscht bei der sokratisch-platonischen Umwendung sowie bei der cartesianischen Umwendung „vollbewußter Wille zur strengen Wissenschaft", bei der romantischen Philosophie hingegen zeigt sich eine „Schwächung oder Verfälschung des Triebes zur Konstitution strenger philosophischer Wissenschaft", ebd. S. 292. In bezug auf „Strenge" vgl. GA 27, S. 44 ff.
1. Kapitel: Die Idee der Philosophie als eine ursprüngliche Wissenschaft
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anderen Wissenschaften verstanden werden. Vielmehr ist sie die „höchste und strengste aller Wissenschaften" (ebd., S. 290). Aber hier taucht die Frage auf: Was ist das Wissenschaftliche dieser prima Philosophial In welchem Sinne ist sie wissenschaftlich? Wieso ist sie die höchste bzw. ursprünglichste Wissenschaft? In welchem Sinne ist sie nicht mit den Einzelwissenschaften zu verwechseln? Daß die Phänomenologie eine Wissenschaft ist und zwar eine eigenartige, bildet seit den L U eine feste Überzeugung Husserls. Um in eine deutlichere Charakterisierung der Phänomenologie als strengste Wissenschaft zu gelangen, werfen wir einen Blick auf die am Ende der Prolegomena und in der Einleitung zum zweiten Band der L U durchgeführte Entfaltung des Status der Einzelwissenschaften und der Phänomenologie.
b) Wissenschaft und die Frage nach ihrem Wesen Wie hervorragende Kommentatoren Husserls bereits bemerkt haben,4 läßt sich das Werk Husserls aus seinem wissenschaftlichen Anspruch heraus verstehen. Bereits in den Prolegomena zur reinen Logik wird sich das Unternehmen Husserls als die Suche nach einer reiner Logik als mathesis universalis zeigen. Dies kann folgendermaßen verstanden werden: Die Wissenschaften enthalten zwei Grundcharaktere: sie sind Erkenntnis aus dem Grunde, und sie haben eine gewisse Einheit des Begründungszusammenhanges. Husserl schreibt: „wissenschaftliche Erkenntnis ist als solche Erkenntnis aus dem Grunde" (Hua X V I I I , S. A 231). Den Grund von etwas erkennen heißt Husserl zufolge: „die Notwendigkeit davon, daß es sich so und so verhält, einsehen", also die „gesetzliche Gültigkeit des bezüglichen Sachverhaltes" entdecken. Dieser Erkenntnis muß aber ein Einheitsprinzip zugrunde liegen, das dem wissenschaftlichen Anspruch gerecht wird. Das Ermöglichende dieses Einheitsprinzips kann von wesentlicher oder außerwesentlicher Art sein. Im ersten Fall sind die Wahrheiten einer Wissenschaft durch ein wesentliches Einheitsprinzip vereinigt, wenn sie begründen. Daher schreibt Husserl: „Wesentliche Einheit der Wahrheiten einer Wissenschaft ist Einheit der Erklärung" (ebd., S. A 234). Wenn oben gesagt wurde, daß die Erkenntnis der Grundgesetze den Grund zu erkennen meint, dann ist die Einheit der Erklärung eine auf der Gesamtheit von Grundgesetzen aufgebaute Einheit, also eine auf der Einheit der Theorie aufgebaute, d. h. eine theoreti-
4 E. Stroke r, Husserls transzendentale Phänomenologie, S. 20; Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, erstes Kapitel. Vgl. ferner A. Aguirre, Genetische Phänomenologie und Reduktion, S. X V I I ff.; E. Stroke r, Die Einheit der Naturwissenschaften, in: Philosophische Perspektiven I I I (1971), S. 176-193.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
sehe Einheit. Wissenschaften dieser Art werden dann als theoretische oder abstrakte Wissenschaften charakterisiert. 5 Das außerwesentliche Prinzip der Einheit der Wissenschaften kann wiederum von zweierlei Art sein. Einerseits besteht es in der Einheit der Sache. Hier beziehen sich die Wahrheiten auf „eine und dieselbe individuelle Gegenständlichkeit oder auf eine und dieselbe empirische Gattung" (ebd., S. A 235). In diesem Sinne erklären die Wissenschaften nicht aus dem Grund, sondern sie beschreiben nur. Sie sind deskriptive Wissenschaften, insofern „die Einheit der Beschreibung durch die empirische Einheit des Gegenstandes oder der Klasse bestimmt ist" (ebd.). 6 Andererseits kann das Prinzip „aus einem einheitlichen wertschätzenden Interesse" erwachsen. „Dies macht also in den normativen Disziplinen die sachliche Zusammengehörigkeit der Wahrheiten bzw. die Einheit des Gebietes aus" (ebd., S. A 236). Die Einheit der Wahrheiten bildet die Theorie. In diesem Sinne wandelt sich die philosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt in die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt, d.h. der theoretischen Erkenntnis überhaupt (ebd., S. A 237 f.). Daher ist die Frage der Philosophie eine Metatheorie oder eine Theorie der Theorien. Die Idee einer Theorie der Theorie ist nur möglich durch „Rückgang auf Form und Gesetz und die theoretischen Zusammenhänge der ganz anderen Erkenntnisschicht, zu der sie gehören" (ebd., S. A 243). In diesem Sinne ist es das Anliegen der reinen Logik, die Idee der Theorie zu klären (ebd., S. A 254). Dieses in den Prolegomena vorgelegte Anliegen wird in der Einleitung zum zweiten Band der L U fortgeführt, aber dort nicht mehr nur anhand der Frage nach dem Wesen der Theorie, sondern anhand der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt. 7
c) Die Charakterisierung der Phänomenologie als Grund der Einzelwissenschaften In der Einleitung zum zweiten Band der L U macht Husserl den Rang der Phänomenologie deutlich: „Die reine Phänomenologie stellt ein Gebiet neutraler Forschungen dar, in welchem verschiedene Wissenschaften ihre Wur5
Nach Kries können diese Wissenschaften auch nomologische Wissenschaften genannt werden, „sofern sie im Gesetz das einigende Prinzip, wie das wesentliche Forschungsziel besitzen", Hua X V I I I , S. A 234. 6 Diese Wissenschaften können auch als konkrete oder, nach Kries, ontologische Wissenschaften bezeichnet werden. 7 Vgl. ferner Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 50 ff.
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zeln haben" (Hua XIX/1, S. A 4). Wir haben bereits bemerkt, daß, obwohl die Phänomenologie in den L U eine reine Phänomenologie der Erlebnisse ist, sie nicht mit einer Psychologie verwechselt werden darf. Vielmehr muß sie als eine reine eidetische Wissenschaft verstanden werden. In diesem Sinne richtet sich die Analyse auf die logischen Ideen und nicht auf den psychischen Denkakt. Die Aufgabe einer weiteren Charakterisierung der Phänomenologie als solche gewinnt ihren Anstoß aus den in den Prolegomena durchgeführten Analysen bezüglich der Klärung des Wesens der Wissenschaften, bzw. der Theorie. Aber die in den Prolegomena erreichte Abgrenzung des Forschungsgebiets hat nur den Anstoß gegeben. Aus der Ausarbeitung der reinen Logik als mathesis universalis „erwächst die große Aufgabe, die logischen Ideen, die Begriffe und Gesetze, zu erkenntnistheoretischer Klarheit und Deutlichkeit zu bringen" (ebd., S. A 7). Diese Klarheit und Deutlichkeit kann aber nicht wie bei den Einzelwissenschaften in der theoretischen Erklärung oder Deskription liegen, da die Phänomenologie „Wissenschaft aus letzter Begründung" sein muß (Hua V, S. 139). Die erkenntnistheoretische Aufgabe der reflexiven Phänomenologie Husserls taucht vielmehr vor allen erklärenden oder deskriptiven Einzelwissenschaften auf: „Sie will nicht die Erkenntnis, das zeitliche Ereignis, in psychologischem oder psychophysischem Sinn erklären, sondern die Idee der Erkenntnis nach ihren konstitutiven Elementen, bzw. Gesetzen aufklären [...] die reinen Erkenntnisformen und Gesetze will sie durch Rückgang auf die adäquat erfüllende Anschauung zur Klarheit und Deutlichkeit erheben" (Hua XIX/1, S. A 21, k.g.v.m.). In diesem Sinne ist die Phänomenologie keine Erkenntnistheorie im traditionellen Begriff, also keine bloße Disziplin der Philosophie, sondern eine Theorie der Theorien. Wenn die Phänomenologie die Klarheit und Deutlichkeit (clara et distincta idea) durch Anschauung erreicht, ist hier zu sagen, daß bei Husserl diese Anschauung reflexiv gefaßt wird, sie ist eine reflexive Anschauung. D.h., die Weise, wie die Klarheit und Deutlichkeit gewonnen wird, wird bei Husserl nur mittels der Reflexion bzw. durch reflektierendes Zum-Gegenstand-machen möglich. Auf verschiedenen Ebenen der Reflexion wird die Klarheit und Deutlichkeit der Phänomene erreicht. Daher liegt im reflektierenden Zum-Gegenstand-machen der Anschauung bei Husserl wesenhaft ein erkenntnistheoretischer Charakter. Heidegger sah diesen Wesenszug der Husserlschen Phänomenologie seit der ersten Dozenten-Vorlesung klar. Insofern sie die Erkenntnis liefert, begriff er diese Anschauung, wie wir unten näher sehen werden, als eine bereits theoretische Anschauung.8 8 Was Heidegger seit dem KNS ausdrücklich in bezug auf den Erkenntnischarakter der Husserlschen Anschauung vor Augen hat (GA 56/57, S. 65), wurde Jahre später deutlicher formuliert, so z.B. in GA 21, S. 109.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
In diesem Sinne läßt sich Husserls Rede von einer Phänomenologie der Erkenntnis verstehen, d.h. eine Phänomenologie, die „auf die Wesensstrukturen der „reinen" Erlebnisse und der zu ihnen gehörigen Sinnesbestände gerichtet ist" (ebd.). Sie ist eine eidetische Wissenschaft, die aufgrund der reflexiven Anschauung auf eine erkenntnistheoretische Klarheit und Deutlichkeit abzielt. Sie findet aber ihre volle Entfaltung und ihren Grund nur durch einen endgültigen Schritt: durch die Entdeckung der transzendentalen Sphäre aufgrund der phänomenologischen Reduktion und έποχή: „Sie [die Philosophie, Α. X.] kann nur anfangen und kann überhaupt in allem weiteren philosophischen Tun sich nur auswirken als Wissenschaft in der transzendental-phänomenologischen Einstellung" (Hua V, S. 147). Hier können wir weiter fragen: Wie ist die Erkenntnis als reflexive Anschauung möglich? Husserl sagt: „soll diese Besinnung auf den Sinn der Erkenntnis kein bloßes Meinen ergeben, sondern, wie es hier strenge Forderung ist, einsichtiges Wissen, so muß sie sich rein auf dem Grunde gegebener Denk- und Erkenntniserlebnisse vollziehen" (Hua XIX/1, S. A 19, k.g.v.m.). Was hier angesprochen wird, wurde oben als eine adäquat erfüllende Anschauung bezeichnet. M.a.W., der strenge Wissenschaftscharakter der Phänomenologie besteht in der Suche nach der Apodiktizität der Erkenntnis, die in der Anschauung gegeben wird. Nach der Analyse der 6. L U wird die in der Erkenntnis gegebene Anschauung als eine Erfüllung charakterisiert. Mit ,Fülle' meint Husserl hierbei das Element des erkenntnismäßigen Wesens der Akte. 9 In diesem Sinne können wir Husserl zufolge sagen, daß alle Akte intentional, aber nicht alle erkenntnismäßig sind. Erkenntnismäßig sind jene Akte, die durch die erfüllende Anschauung charakterisiert sind. Die Erfüllung zeigt also, daß die Erkenntnisakte gestufte Akte sind, die aufgrund einer Modifikation der signitiven Akte oder „leeren Intentionen" (Hua XIX/2, S. A 568) zustande kommen können, d.h. aufgrund der Modifikation der Bedeutungsintention. 10 M.a.W., wenn im Ausdruck die Bedeutung „frei" vom Gemeinten ist, geschieht hier ein Leermeinen oder, wie es in den ,Cartesianischen Meditationen' heißt, eine Sachmeinung. In diesem Fall gibt es keine Erkenntnis. Ist der Ausdruck, die Bedeutungsintention, aber „gebunden", dann geschieht eine Modifikation, in welcher eine Ad9
Dieses erkenntnismäßige Wesen, das im § 28 der 6. L U ausgearbeitet wird, darf nicht mit dem in der 5. L U entfalteten intentionalen Wesen verwechselt werden. Vgl. dazu G. Hejfernan, Bedeutung und Evidenz bei Edmund Husserl, Bonn, 1983. 10 Husserl unterscheidet zwischen signitiven und intuitiven Akten. Die ersteren sind die leeren Intentionen, d.h. ihnen fehlt das Moment der Fülle, aber sie streben nach Erfüllung. Die intuitiven Akte ihrerseits haben Fülle. Zu ihnen gehören die Imagination und die Wahrnehmung. Innerhalb der intuitiven Akte gibt es verschiedene Abstufungen der Fülle. Die erkenntnistheoretische Aufgabe der Phänomenologie muß die Korrelation beider Arten von Akten untersuchen.
1. Kapitel: Die Idee der Philosophie als eine ursprüngliche Wissenschaft
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äquation zum Vorschein kommt: zwischen dem Gemeinten und dem Angeschauten. Nur in dieser Weise der adäquaten erfüllenden Anschauung ist die Erkenntnis möglich. Die Adaequatio wird auch als Evidenz bezeichnet. Die Begründungsaufgabe der Wissenschaft besteht dann in ihrem Streben nach Evidenz. In den C M hat Husserl dies erläutert: „Statt in der Weise des bloß sachfernen Meinens ist in der Evidenz die Sache als „sie selbst", der Sachverhalt als „er selbst" gegenwärtig [...]" (Hua I, S. 51). Weiter unten werden wir sehen, wie dieses wissenschaftliche Streben Husserls in einem Prinzip gründet, das aber von Husserl im Rahmen einer erkenntnistheoretischen Wissenschaftlichkeit entformalisiert wurde. Somit können wir sehen, daß die reflexive Phänomenologie durch das „einsichtige Wissen" von Hause aus auf ein erkenntnistheoretisches Anliegen oder, wie es in den CM heißt, eine Erkenntnisordnung (ebd., S. 53) abzielt. Dieses Anliegen hat Husserl im ,Logos-Aufsatz' verschärft und gegen den Naturalismus und den Historizismus Stellung bezogen. Dort zeigt Husserl, daß die Philosophie als strenge Wissenschaft die einzige ist, die das Rätsel der Erkenntnis lösen kann, und zwar als transzendentale Phänomenologie. 11 Der Naturalismus kann das Rätsel nicht aufdecken, da er von Hause aus eine Naturalisierung des Bewußtseins und der Ideen durchführt. Der Historizismus und weiter die weltanschauliche Philosophie richten sich ihrerseits nach einem tiefsinnigen „Weisheitsstreben" (Logos-Aufsatz, S. 331), durch welches der wissenschaftliche Charakter der Philosophie abgeschwächt wird: „Echte Wissenschaft kennt soweit ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn [...] Tiefsinn ist Sache der Weisheit, begriffliche Deutlichkeit und Klarheit Sache der strengen Theorie" (ebd., S. 339). 1 2 Aufgrund des Gesagten können wir die spätere Bemerkung Heideggers verstehen, daß Husserl von einer bestimmten Idee der Philosophie als strenge Wissenschaft geleitet wurde, welche die „,neuzeitliche Philosophie seit Descartes beschäftigt" (GA 20, S. 147; GA 17, S. 72). 1 3 Die Idee der Philosophie als eine absolute Wissenschaft folgt also der cartesianischen Idee der Wissenschaft, 14 gründet aber in der evidenten Anschauung. 11
Daß die Erkenntnis ein Rätsel ist, hat Husserl in den Vorlesungen ,Die Idee der Philosophie' (1905) bemerkt. Vgl. Hua II, S. 36. Ferner Bernet/Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 52 ff. 12 Daher bemerkt Biemel mit Recht, daß Husserl die Philosophie nicht von der Sophia her, sondern von der Wissenschaft im Sinne der neuzeitlichen sciencia bzw. mathesis versteht, W. Biemel, Die entscheidenden Phasen der Entfaltung von Husserls Philosophie, in: Gesammelte Schriften B. I, S. 86. 13 Vgl. auch GA 32, S. 14 ff. Vgl. ferner J. F. Courtine, Heidegger et la phénoménologie, S. 192 ff. 14 Vgl. C M § 5: Hua I, S. 52 ff.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Es würde zu weit führen, auf eine Analyse der Tragweite dieser cartesianischen Aneignung Husserls einzugehen. Hier ist nur zu bemerken, daß eine kritische Einstellung gegenüber Husserls Ansatz den neuzeitlichen Charakter der Wissenschaft im Grunde radikal umwandeln muß. Dies werden wir im nächsten Paragraphen anhand Heideggers vortheoretischen Urwissenschaft aufweisen.
d) Grundcharaktere der Philosophie als strenge Wissenschaft Der in den L U erwähnte vorwissenschaftliche Charakter der Phänomenologie wird im ,Logos-Aufsatz' als eine zu entfaltende „wissenschaftliche Wesenserkenntnis des Bewußtseins" bezeichnet (Logos-Aufsatz, S. 300). Das Vorwissenschaftliche bedeutet bei Husserl somit den letzten Grund aller Wissenschaften, in welchem sie fundiert sind. Diesen letzten Grund haben wir im vorangegangenen Paragraphen bereits als das konstituierende Bewußtseinsleben entfaltet. In diesem Sinne ist das Feld der eigentlichen ursprünglicheren Wissenschaft oder Ersten Philosophie für Husserl die transzendentale Sphäre. Daher können wir sagen, daß die radikale Umwendung Husserls in der Entdeckung einer Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität besteht, da sich die transzendentale Subjektivität als die Urstätte aller Sinngebung und Seinsbewährung erweist. 15 Es wurde bereits erläutert, daß ausschließlich durch die phänomenologische Reduktion und έποχή ein „ungeheures Forschungsfeld" eröffnet wird (Phänomenologie und Anthropologie, in: Hua X X V I I , S. 172). Wenn wir in der naiven natürlichen Einstellung leben, sind die Welt und die weltlichen Dinge für mich einfach da. Durch die Weltentsagung, d. h. durch das Entsagen der Naivität und das Zurückleiten auf das ursprünglichste Bewußtseinsleben entdecken wir die eigentliche Quelle des Sinnes der weltlichen Tatsachen. Die Welt und die weltlichen Dingen enthüllen sich als im reinen Bewußtsein konstituierte Phänomene. Die Umwendung von der naiven Einstellung in die transzendentale ist aber keine „Abwendung von der Welt und ein Übergang in eine weltfremde und darum interesselose theoretische Spezialität" (ebd., S. 178). Vielmehr ist die Wendung diejenige, die eine radikal wissenschaftliche Erforschung des Absoluten ermöglicht. Aufgrund des Gesagten können wir auf die Frage, wie die Philosophie wissenschaftlich gegründet ist, Husserl zufolge sagen, daß sie drei Grundcharaktere enthält: 1. Ihr Erkenntnischarakter zeigt sich durch die evidente Anschauung. 2. Die Anschauung aber als „das Gemeinsame aller Arten von Selbstgebung" 16 ist reflexiv bestimmt; dies deutet darauf hin, daß bei Hus15 16
Vgl. Hua VIII, S. 4; Hua V, S. 139. Vgl. E. Fink, Studien, S. 207.
1. Kapitel: Die Idee der Philosophie als eine ursprüngliche Wissenschaft
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seri die Philosophie von Hause aus theoretisch zu verstehen ist. 3. Die Philosophie ist streng methodisch in ihrer Vollständigkeit nur als eine transzendentale Wissenschaft möglich: durch den Vollzug einer Einstellungsänderung, nämlich die phänomenologische Reduktion und έποχή. Daher können wir zusammenfassend sagen, daß Husserl zufolge die ursprünglichste Idee der Philosophie, die Erste Philosophie, nur als eine erkenntnistheoretische transzendentale Wissenschaft zu verstehen ist.
§ 15. Philosophie als vortheoretische Urwissenschaft bei Heidegger a) Das Vorwissenschaftliche und die Urwissenschaft Wenn Heidegger seit der ersten Dozenten-Vorlesung von der Phänomenologie als einer Urwissenschaft spricht, geschieht dann hier nicht bloß eine Übertragung des von Husserl bereits in der L U angedeuteten vorwissenschaftlichen Charakters der Phänomenologie? In welchem Sinne bringt der Ansatz Heideggers neues Licht in das Nachdenken über die Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie? Die Antwort auf diese Fragen wird erst ersichtlich, wenn die Radikalität des Heideggerschen Ansatzes in bezug auf die Überlieferung und besonders in bezug auf Husserl sachgemäß verstanden wurde. In diesem Sinne müssen wir uns zunächst noch einmal kurz die Bedeutung des Vortheoretischen bei Husserl vor Augen halten, um davon diejenige des Titels vortheoretische Urwissenschaft sachgemäß abgrenzen zu können. Den Terminus , vorwissenschaftlich 4 bei Husserl können wir aufgrund des in den vorangegangenen Paragraphen Entfalteten in zwei Hinsichten auffassen: Zum einen meint ,vorwissenschaftlich 4 den Wesenszug der natürlichen Einstellung, in welcher die Generalthesis des Für-mich-einfach-da-seins der Welt und der umweltlichen Dinge unthematisch gilt. Die Einstellungsänderung von der Naivität in die transzendentale Sphäre durch phänomenologische Reduktion und έποχή kann zugleich als die Wendung von der vorwissenschaftlichen in die wissenschaftliche Einstellung charakterisiert werden. Erst in der Entdeckung der Transzendentalität werden die Welt und die umweltlichen Dinge zum Thema. Durch die Konstitutionsanalyse wird somit ein wissenschaftliches Verfahren in Kraft gesetzt. Zum anderen haben wir aber auch das Vorwissenschaftliche anhand der ,Prolegomena' und der Einleitung zum zweiten Band der L U als die Charakterisierung der Phänomenologie gegenüber den Einzelwissenschaften erläutert. Die Phänomenologie ist nicht wissenschaftlich wie die erklärenden oder deskriptiven Wissenschaften, sondern sie richtet sich, kantisch gespro-
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chen, auf die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis bzw. des Wissenschaftlichen. In diesem Sinne sagt Husserl, daß die verschiedenen Einzelwissenschaften ihre Wurzeln in der Phänomenologie haben. Der zuerst beschriebene Sinn von , vorwissenschaftlich 4 deutet auf einen Übergang hin, nämlich vom Vorwissenschaftlichen in das Wissenschaftliche; dies können wir als den thematischen Übergang betrachten. Das Wissenschaftliche zeigt hier, daß nur in der transzendentalen Sphäre die Phänomene vollständig als solche gesehen werden können, da sie dort eigentlich zum Thema werden. 17 Der zweite Sinn von ,vorwissenschaftlich' deutet auf die wesentliche Bestimmung bzw. Struktur der Husserlschen Phänomenologie und weiter der Philosophie überhaupt hin. Sie ist wesenhaft mit keiner Einzelwissenschaft zu verwechseln, nicht einmal mit der Psychologie. Vielmehr enthält die Phänomenologie ihre eigene Bestimmung in der Suche nach der Klärung der Konstitution der Welt. Sie ist von Hause aus vorwissenschaftlich, da sie die Grundlage für die Einzelwissenschaften bildet. Beide Sinne von ,vorwissenschaftlich' enthalten bei Husserl aber einen bestimmten Charakter: sie sind im Rahmen des Theoretischen angesetzt. Das Vorwissenschaftliche (als das Vorphänomenologische) als Übergang zum Wissenschaftlichen (als dem Phänomenologischen) ist bereits, wie wir bemerkt haben, theoretisch bestimmt. Das vorwissenschaftliche Leben in der natürlichen Einstellung ist nicht mit vor-theoretischem Leben gleichzusetzen. Es ist vielmehr ein theoretisch geprägtes vorwissenschaftliches Leben. Das Vorwissenschaftliche der Phänomenologie als Wurzel der Einzelwissenschaften befindet sich ebenso in einem theoretischen Rahmen. Es wird von Husserl gerade als eine Intensivierung der Wissenschaftlichkeit der Einzelwissenschaften ausgelegt. Daher spricht Husserl vom Vorwissenschaftlichen als von einer „Theorie der Theorien" (Hua XIX/1, S. A 21). Gegen diese theoretisch geprägte Vorwissenschaftlichkeit gelangt Heidegger zu einem radikaleren Ansatz. Diese Radikalität wird durch den Begriff vortheoretische Urwissenschaft hervorgehoben. In diesem Sinne können wir vorwegnehmen, daß das, was er mit vortheoretischer Urwissenschaft meint, weder das Vorwissenschaftliche im Sinne der natürlichen Einstellung noch 17 Vgl. dazu E. Fink, Reflexionen zu Husserls Phänomenologischer Reduktion, in: Nähe und Distanz, S. 113 f. Dort bemerkt Fink, daß bei Husserl eigentlich von drei Begriffen von ,Phänomen' gesprochen werden kann. Der erste ist zu verstehen im Sinne des umweltlichen Dings in ihrer Erscheinung, der zweite ist das Resultat der eidetischen Reduktion, nämlich das Wesen, und der dritte ist das Residuum des durch die phänomenologische Reduktion und έποχή vollzogenen Verfahrens: die Sache im Modus der Neutralität.
1. Kapitel: Die Idee der Philosophie als eine ursprüngliche Wissenschaft
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im Sinne der theoretischen Struktur der Husserlschen Phänomenologie bedeutet.
b) ,Wissenschaft' in ,Urwissenschaft' als methodische Charakterisierung Wissenschaft wird zunächst als Erkenntnis und zwar als Erkenntnis eines Gegenstands oder Bereichs verstanden. Wir haben bereits gesehen, daß bei Husserl eine Wissenschaft durch die Erkenntnis aus dem Grunde und durch das einheitliche Prinzip ihren wissenschaftlichen Status bekommt. Die Philosophie zielt jedoch auf die Klärung der Erkenntnis selbst und der Korrelation zwischen Erkenntnis und Erkanntem ab. Daher läßt sich die Struktur der Husserlschen Phänomenologie als eine vorwissenschaftliche charakterisieren, da sie sich strenggenommen auf die Bedingung der Erkenntnis richtet. Diesbezüglich müssen wir die Frage stellen, ob Wissenschaft im Terminus , Urwissenschaft 4 bei Heidegger denselben Sinn bekommt, nämlich ein Sichrichten auf die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis. Dazu ist folgendes zu sagen: Wenn Heidegger den Terminus ,Wissenschaft 4 beibehalten hat, so deutet er damit darauf hin, daß auch hier eine bestimmte Beziehung zur Erkenntnis bestehen bleibt. Heidegger wird die Erkenntnis als ein in der ursprünglicheren Sphäre des Lebens und Erlebens, im Umwelterlebnis, Fundiertes enthüllen. Die scheinbar selbstverständlich an die theoretische Erkenntnis angeknüpfte Wissenschaftlichkeit wird auf ihren Ursprung zurückverfolgt und d. h. durch eine ursprünglichere Wissenschaftlichkeit radikalisiert. In diesem Sinne ist die Beziehung zur Erkenntnis, die im Terminus ,Wissenschaft 4 gemeint ist, nicht eine selbstverständlich grundlegende, sondern eine in Frage gestellte Beziehung. Wenn aber die Erkenntnis durch die radikalere Urwissenschaft als Fundiertes enthüllt werden soll, dann taucht hier die Frage auf, wie diese, die Urwissenschaft, durchgeführt wird, etwa ohne Erkenntnis? Wenn dies so wäre, hätte die Urwissenschaft keinen methodisch-wissenschaftlichen Charakter, dann wäre sie, wie einige Einwände fälschlicherweise behaupten, mystisch oder irrational. 18 Dazu ist aber zu sagen, daß die Urwissenschaft methodisch-wissenschaftlich geführt 18 Irrationalismus hat nur Sinn im Gegensatz zum Rationalismus. Wenn man über diesen Gegensatz, der bereits ein erkenntnistheoretischer ist, hinausgeht, wird der Einwand hinfällig. Mystizismus seinerseits deutet auf das Aufgehen des Objekts im Subjekt, auf die Grenzenlosigkeit beider hin. Dieser Einwand trifft auch nicht, da durch die Urwissenschaft der Begriff Wissenschaft zunächst in einem ganz methodischen Sinn verstanden werden muß. D.h., bei der Urwissenschaft geschieht keine mystische Verschmelzung des Objekts mit dem Subjekt, sondern sie geht über diesen Unterschied hinaus und bezieht sich auf den Ursprung dieser erkenntnistheoretischen Differenzierung Objekt-Subjekt. Vgl. dazu G A 58, S. 19 f.
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wird, insofern sie eine bestimmte „Erkenntnis" enthält. Sie ist kein mystisches oder mythisches Konstrukt, sondern in einem radikalen Sinne wissenschaftlich. Ihre „Erkenntnis" ist ursprünglicher und radikaler als die Erkenntnis der Erkenntnistheorie und als die Bedingung der Möglichkeit der transzendentalen Philosophie. Wenn wir Wissenschaftlichkeit in bezug auf Erkenntnis verstehen, dann müssen wir auch die Urwissenschaftlichkeit in bezug auf eine Urerkenntnis verstehen. Was aber bedeutet dies? Wir haben bereits angedeutet, daß bei Husserl die Phänomenologie wesensmäßig einen erkenntnistheoretischen Charakter trägt, insofern für ihn die Anschauung als Erkenntnis verstanden wird. Die Weise des Sehens ist in diesem Sinne bereits theoretisch bestimmt. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, daß dies bereits eine Entformalisierung des phänomenologischen Prinzips bedeutet. Wenn Heidegger aber durch die Idee der Urwissenschaft den fundierten Charakter der Erkenntnis aufweisen will, dann deutet dies darauf hin, daß auch die Husserlsche Anschauung eine bereits fundierte sein muß. Bei Heidegger enthüllt sich „die Anschauung" somit als der ursprünglichere Boden, der ursprünglicher ist als die erkenntnistheoretische Anschauung. In diesem Sinne wird die Quelle der „Erkenntnis" keine theoretische Anschauung, sondern eine verstehende Anschauung. Die verstehende Anschauung ist ursprünglicher als die theoretische Erkenntnis, letztere enthüllt sich als eine Modifikation jener. Den verstehenden Ansatz der Urwissenschaft hatte Heidegger seit dem KNS im Blick: „statt ewig Sachen zu erkennen, zuschauend zu verstehen und verstehend zu schauen" (GA 56/ 57, S. 65). Im SS 1919 wird er von der Philosophie als hermeneutischer Phänomenologie (ebd., S. 131) und später im SS 1923 als Hermeneutik der Faktizität sprechen (GA 63, S. 14 ff.). Insofern läßt sich die begriffliche Modifikation Heideggers im Laufe der Vorlesungen gut verstehen: die Urwissenschaft ist keine Wissenschaft im Sinne einer fundierten Erkenntnis, sondern sie meint die fundierende verstehende, also hermeneutische Haltung. 1 9 Wir müssen hier auf ein mögliches Mißverständnis hinweisen. Das Auffassen einer nicht-erkenntnistheoretisch bestimmten Wissenschaft darf nicht als eine Ablehnung der Erkenntnistheorie begriffen werden. Vielmehr bedeutet es, der Erkenntnistheorie ihren sachgemäßen Ort zuzuweisen, d.h. sie in ihrem Abkünftigkeitscharakter zu begreifen. Die Möglichkeit der vortheoretischen Urwissenschaft weist somit auf die Tatsache, daß „das Theoretische selbst und als solches in ein Vortheoretisches zurückweist", hin (GA 56/57, S. 59).
19 In diesem Sinne muß die Aussage Heideggers im WS 1919/20 verstanden werden: „Ursprungswissenschaft ist gar keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne, sie ist eben - Philosophie", GA 58, S. 230.
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Das Anliegen Heideggers ist die Befreiung des Vor-theoretischen bzw. Α-theoretischen von der Vorherrschaft des Theoretischen: „Diese Vorherrschaft des Theoretischen muß gebrochen werden [...]" (ebd.). Aber dies bedarf zugleich einer andersartigen Aufschließung des bisher unbetretenen Gebiets. Die Sphäre der Umwelterlebnisse als Gebiet dieser Wissenschaft kann, wie schon bemerkt, nicht theoretisch erschlossen werden, sondern allein lebensmäßig. In diesem Sinne kann die Urwissenschaft als solche und ihr Forschungsbereich in keiner erkenntnistheoretisehen Weise, weder vortranszendental noch transzendental, zugänglich gemacht werden, sondern nur verstehend, d.h. hermeneutisch. Im SS 1920 stellt Heidegger dies deutlich dar: „Dieses Explizieren und Bestimmen des Wesens der Philosophie [als Urwissenschaft, Α. X.] darf weiter nicht als eine Erkenntnisaufgabe, als Herausstellung eines Sachgehaltes an sich aufgefaßt, sondern muß vollzugsmäßig verstanden werden" (GA 59, S. 8). An diesem Punkt können wir die Philosophie als vortheoretische Urwissenschaft mit Husserls Philosophie als strenge Wissenschaft kontrastieren. Wir haben erläutert, daß das, was die Wissenschaftlichkeit der strengen Wissenschaft bei Husserl ausmacht, in drei Charakteren abgehoben werden kann: der Erkenntnischarakter, der theoretische Charakter und der transzendentale Charakter. Die Philosophie als strenge Wissenschaft ist bei Husserl wesensmäßig eine erkenntnistheoretische transzendentale Wissenschaft. Heidegger geht über diese Charaktere hinaus und radikalisiert den Wissenschaftlichkeitscharakter, indem er einen vortheoretischen hermeneutischen Charakter entdeckt. Die Philosophie als Urwissenschaft ist bei Heidegger unumgänglich eine hermeneutisch vortheoretische Urwissenschaft.
c) Der „Gegenstand" der Urwissenschaft Wenn wir davon ausgehen, daß die Urwissenschaft in eigener Weise wissenschaftlich bestimmt ist, stellt sich hier die Frage: Muß nicht jede Wissenschaft einen Gegenstand ihrer Forschung haben? Wenn dem so ist, wie steht es mit der Urwissenschaft? Welches ist ihr Gegenstand, und wie soll der Bezug zu diesem verstanden werden? Wenn wir durch die Urwissenschaft den Blick auf den Ursprung des erkenntnistheoretischen Zum-Gegenstand-machens richten, können wir weiter von Gegenstand sprechen? Aufgrund des bislang Gesagten kann hierzu bemerkt werden, daß strenggenommen eine solche Rede von einem Gegenstand bezüglich der Urwissenschaft nicht möglich ist, sofern das Thema der Forschung hier gerade das sein sollte, worin wir uns immer schon halten: das Leben selbst. Dieses kann keinen Gegenstand im erkenntnistheoretischen Sinne benennen: mein eigenes Leben in seinem Ursprung ist für mich nie, wie demgegenüber jegliche Objekte der Einzelwissenschaften, als ein Was betracht- und befragbar.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Daher schreibt Heidegger i m KNS, daß die Urwissenschaft nicht auf den Gegenstand der Erkenntnis, sondern auf die Erkenntnis
des
Gegenstandes
abzielt ( G A 56/57, S. 2 8 ) . 2 0 D i e Grundeinsicht, daß das Leben i n seinem Ursprung kein erkenntnistheoretisches vielen Stellen betont. I m W S „keine Objekte
Was ist, w i r d von Heidegger
an
1919/20 schreibt er, daß die Philosophie
vor sich [hat], keine i n begrenzter A n z a h l nach gewissen
festen Ordnungsprinzipien geordneten Gegenstände" ( G A 58, S. 235); und ähnlich heißt es i m Jahre 1922 i n einem B r i e f an Jaspers: „Es gibt Gegenstände, die man nicht hat, sondern ,ist'; und zwar noch solche, deren Was lediglich ruht i n dem ,daß sie s i n d ' " (Briefe H-J, S. 26 f . ) . 2 1 D i e Tatsache, daß der „Gegenstand" der urwissenschaftlichen Forschung keine ordnungmäßiger oder erkenntnistheoretischer ist, deutet darauf hin, daß er auf eine andere eigenständige Weise erfaßt werden muß. Insofern enthüllt sich die Urwissenschaft, wie G. Kovacs m i t Recht bemerkt, als eine Aufschließungsmethode.
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Das Leben i n seinem Ursprung w i r d i n einer
bestimmten ursprünglicheren Weise aufgeschlossen. I n diesem Sinne richten w i r uns in der Urwissenschaft auf die Weise, w i e das Leben enthüllt wird,
20 Dies dürfen wir nicht mit dem Ansatz Rickerts verwechseln. Zwar hat Rickert seinen Blick im zweiten seiner ,zwei Wege der Erkenntnis' auf die Erkenntnis des Gegenstands gerichtet, aber wir müssen uns daran erinnern, daß Erkenntnis des Gegenstands für ihn heißt, eine Brücke zwischen der transzendentalen Geltung der Wahrheit und dem immanenten Sein des Satzes zu bauen. Rickert versucht durch das Zurückblicken auf die Erkenntnis keine ursprünglichere Aufschließungsweise des Gegenstands durchzuführen, sondern nur auf andere Weise seinen werttheoretischen Ansatz zu sichern. Daher schreibt Heidegger, daß Erkennen für Rickert Werten und nicht Schauen ist, GA 56/57, S. 193. Vgl. ferner die §§ 4, 5 und 6 der vorliegenden Arbeit. 21 Später werden wir sehen, daß der Gegenstand der Philosophie leer ist, vgl. dazu GA 61, S. 33. Vgl. ferner Th. C. W. Oudemans, Heideggers „logische Untersuchungen", in: Heidegger Studies 6 (1990), S. 87 ff.; J. F. Courtine, Heidegger et la Phénoménologie, S. 172. 22 G. Kovacs , Philosophy as primordial science (Urwissenschaft) in the early Heidegger, in: Journal of the British Society for Phenomenology 21/2 (1990), S. 121135. Kovacs gründet seinen Aufsatz sachgemäß auf den Satz Heideggers „Statt auf den Gegenstand der Erkenntnis kann ich mich auf die Erkenntnis des Gegenstandes einstellen", GA 56/57, S. 28. In diesem Sinne schreibt Kovacs: „The idea of philosophy as primordial science does not stand for a set of teaching, but for a way of knowing; it is not the content of some new discipline, but a method of disclosure", S. 125. Vgl. ferner M. Riedel Die Urstiftung der phänomenologischen Hermeneutik, in: C. Jamme und O. Pöggeler, Phänomenologie im Widerstreit, S. 215-233. Riedel interpretiert dort die Wissenschaftlichkeit der Urwissenschaft im Sinne des Verhaltens, d.h. „wie sich menschliches Dasein zu sich selbst und zur Welt verhält", S. 216; I. Fehér , Phenomenology, Hermeneutics, Lebensphilosophie: Heidegger's Confrontation with Husserl, Dilthey, and Jaspers, in: Th. Kisiel und J. van Buren (Hrsg.), Reading Heidegger from the Start, S. 73-89; in bezug auf Urwissenschaft bes. S. 82.
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nicht auf das Leben als einen erkenntnistheoretischen Gegenstand oder ein Objekt. Daher zeigt sich die Urwissenschaft als eine Weise der Forschung, die durch ihren „Gegenstand" bestimmt wird. Wenn aber die volle Entfaltung der Philosophie aus dem zu enthüllenden Bereich heraus geschieht, ist dies nicht ein Teufelskreis? Wenn die volle Enthüllung der Urwissenschaft als Aufschließungmethode vom Forschungsbereich her bestimmt ist, wie kann dann der „Gegenstand" zunächst zugänglich gemacht werden? Der Kreis, der hier auftaucht, deutet auf keine Begrenzung und keinen Mangel der Philosophie hin, sondern bildet, wie Heidegger später sagen wird, einen Wesenscharakter der philosophischen Methode. Die Zirkelhaftigkeit weist auf zwei Sachverhalte hin: 1. Die Methode ist kein äußeres Verfahren, sondern sie hängt mit ihrem Gegenstand zusammen, genauer, „erwächst einer bestimmten Problematik einer Gegenstandsregion" (GA 58, S. 4). Insofern sprach Husserl davon, daß die Methode in einer Klärung der Probleme besteht (Logos-Aufsatz, S. 297). 23 Philosophische Methode ist also kein technisches Mittel oder Handwerkszeug, sondern nur durch Miteinbeziehen des zu erforschenden „Gegenstands" möglich. Sie ist strenggenommen vom „Gegenstand" her bestimmt. Wir bemerkten aber bereits, daß der „Gegenstand" kein Was ist, in diesem Sinne kann er nicht erkenntnistheoretisch vorgegeben sein. Das Gebiet der Forschung ist erst noch zu gewinnen. 24 In Anlehnung an Aristoteles schreibt Heidegger 1922, daß „das Seiende im Wie seiner möglichen „Als-Was-Bestimmtheiten" [...] nicht einfach da [ist], es ist ,Aufgabe 4 " (PIA, S. 257). Die phänomenologische Aufgabe besteht, wie wir weiter unten sehen werden, im Nahebringen des Phänomens, im Entdecken des Phänomens in dessen Unverhülltsein. 2. Die Gewinnung des ursprünglichen Gebiets der Urwissenschaft als Aufgabe der hermeneutischen Phänomenologie kann auch nicht aus einem Anderen abgeleitet werden. Sie muß in sich begründet werden. Dies zeigt einen anderen Grundcharakter der Zirkelhaftigkeit der Urwissenschaft auf. Die Zirkelhaftigkeit deutet damit auf die Selbstbegründung der Urwissenschaft hin. Wie das Präfix Ur- deutlich macht, ist diese Wissenschaft eine Wissenschaft des Ursprungs. In diesem Sinne muß sie als principium und nicht als Prinzipatum, wie die Einzelwissenschaften, verstanden werden (GA 56/57, S. 24). 2 5 Dies ist ein Wesenscharakter des Lebens selbst in 23
Vgl. ferner GA 17, S. 71. Vgl. GA 58, S. 29. 25 Auf dieses Problem, wie sich die Philosophie aus sich selbst heraus bestimmen muß, bezieht sich Heidegger ausdrücklich in der Vorlesung von WS 1928/29. Dabei wird der Begriff „wissenschaftliche Philosophie" in Frage gestellt, da er bildlich wie „rundlicher Kreis" verstanden werden kann. Der Kreis ist nicht rundlich, da rundlich nur „eine mangelhafte Angleichung an rund" ist. Vielmehr ist der Kreis schlechthin rund, er repräsentiert vollkommen die Idee des Runden. „Entsprechend 24
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seinem Ursprung. Heidegger betrachtet diesen Charakter im WS 1919/20 als die Selbstgenügsamkeit des Lebens (GA 58, S. 139, 232). Die Gewinnung des neuen Ansatzes bedeutet für Heidegger die entscheidende Grundeinsicht, die sein ganzes Werk bestimmen wird. Im KNS schreibt er: „Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben oder Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: entweder ins Nichts, d.h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine andere Welt, oder genauer: überhaupt erst in die Welt" (GA 56/57, S. 63, k.g.v.m.). Die hier genannten Termini mögen uns Kierkegaard oder die transzendentale Methode Husserls in Erinnerung rufen. Was Heidegger hier aber meint, ist die Radikalität seines Ansatzes: Entweder bleiben wir in der theoretischen Einstellung, die die ganze überlieferte Philosophie beherrscht hat, oder wir springen durch einen radikalen Zugang in ein unentdecktes vortheoretisches Gebiet. Letztere Möglichkeit kann der Philosophie das Leben bringen, d. h. sie aus dem tödlichen Zustand, in dem sie sich durch die theoretische Vorherrschaft befindet, retten. Die Idee des Lebens oder des Todes der Philosophie erläutert Heidegger in einem Brief an Jaspers aus dem Jahr 1922: „.Entweder wir machen Ernst mit der Philosophie und ihren Möglichkeiten als prinzipieller wissenschaftlicher Forschung oder wir verstehen uns als wissenschaftliche Menschen zur schwersten Verfehlung, daß wir in aufgegriffenen Begriffen und halbklaren Tendenzen weiterplätschern und auf Bedürfnisse arbeiten" (Briefe H-J, S. 28, k.g.v.m.).
d) Die durch die Urwissenschaft erlangte methodische Thematisierung des Lebens Wir haben bemerkt, daß die Wissenschaftlichkeit der Urwissenschaft zunächst auf ein bestimmtes methodisches Verfahren hinweist: sie bezeichnet ein Wie, da wir bereits „ i m Gegenstand" sind. Wir gehen nicht aus diesem heraus, stellen uns ihm gegenüber, sondern es geschieht eine ausdrückliche philosophische Thematisierung des vorthematischen Lebens. Aber durch die wird in dem Ausdruck wissenschaftliche Philosophie' der Philosophie etwas zugesprochen, was ihr nicht zukommt: sie ist nie lediglich eine Wissenschaft; zugleich wird ihr aber etwas zugesprochen, was sie in einem ursprünglichen Sinne schon hat: sie ist ursprünglicher als jede Wissenschaft, weil alle Wissenschaft in der Philosophie verwurzelt ist, aus ihr entspringt", GA 27, S. 16 f. In diesem Sinne lehnt Heidegger von Anfang an alle tradierten Bezeichnungen der Philosophie als Wissenschaft ab. Was er jedoch im KNS als UrWissenschaft bezeichnet, muß in einer ganz anderen Weise verstanden werden. Der Begriff ,Urwissenschaft' oder ,Ursprungswissenschaft' trägt daher den der Philosophie wesenhaft zugehörigen Charakter des Ursprünglicherseins als jegliche Einzelwissenschaft.
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Rede von methodischer Thematisierung taucht wieder die übliche Frage auf, ob nicht jedes Thematisieren ein Zum-Gegenstand-machen ist, d. h. ein Theoretisieren. Gibt es nicht wesensmäßig eine Modifikation vom Vorthematischen ins Thematische, die einen Zugang zum Vortheoretischen als solchen versperrt? Wir haben bereits hervorgehoben, daß der philosophisch-methodische Zugang die Eigentümlichkeit enthält, seinen „Gegenstand" einzubeziehen. Wenn die Frage, die den Leitfaden der in vorliegender Untersuchung dargestellten verschiedenen Zugangsmodi bildet, die Frage nach dem Zugang zum Leben und Erleben ist, dann muß das Leben selbst in seinem Zusammenhang mit dem Zugang betrachtet werden. Hier enthüllt sich, daß der Zugang zum Leben eine eigenartige Rolle innehat: Der „Zugang" ist kein Instrument, das die verschiedenen willkürlichen Gegenständen jeweils zum Thema machen könnte. In dieser Hinsicht müssen die vorgelegten Fragen berücksichtigt werden. D.h., das Thematisieren des Lebens ist ein andersartiges Thematisieren, das nicht unbedingt ein Theoretisieren sein muß. Daher wird die Modifikation des unausdrücklichen Lebens in das ausdrückliche nicht unumgänglich durch ein vergegenständlichendes Verfahren durchgeführt. Hier können wir schon ahnen, daß zu diesem ausdrücklichen Thematisieren ein andersartiges Fassen des Ausdrucks und der Begriffsbildung gehört. Daher charakterisiert Heidegger ab 1919/20 den der Urwissenschaft zugehörigen Ausdruck als einen Charakter des konkreten Erfassens des Lebens selbst (GA 58, S. 139, 232). In diesem Kontext schreibt er im SS 1920: „Das Problem der philosophischen Begriffsbildung ist nicht nachträglicher, wissenschaftstheoretischer Natur; es ist das philosophische Problem in seinem Ursprung" (GA 59, S. 169). Die Tradition hatte diese andersartige Möglichkeit des Thematisierens nicht entdecken können, da sie von der Vorherrschaft des Theoretischen, wie Heidegger sie im KNS nennt, geleitet war. 2 6 Daher war das begriffliche Thematisieren der Tradition nur „klassenmäßig bestimmt" (GA 59, S. 8). In diesem Sinne ist es schwer zu sehen, daß die überlieferte Vollzugsweise des Zugangs zum Leben eine theoretisch geprägte ist. Durch diese „Blindheit" ist es verständlich, daß ein a-theoretischer „Zugang" für unmöglich gehalten wurde. Wenn die Wissenschaftlichkeit der vortheoretischen Urwissenschaft zunächst einen methodischen Charakter meint, der seinen „Gegenstand" zugleich einbezieht, dann können wir sehen, daß die vortheoretische Urwissenschaft einerseits auf einen methodischen Zugang und andererseits auf einen thematischen Bereich hindeutet. In bezug auf den Zugang haben wir angedeutet, daß er hermeneutisch-phänomenologisch geschieht. Daher spricht Heidegger im SS 1919 von einer verstehenden Wissenschaft (GA 26
Vgl. GA 56/57, S. 59.
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56/57, S. 208). Das Hermeneutische des „Zugangs" deutet auf einen ursprünglicheren Charakterzug der Phänomenologie selbst hin, wie später genauer erläutert wird. Der methodische „Zugang" enthält daher die wesentlichen Elemente der phänomenologischen Methode, sie werden jedoch ursprünglicher ausgelegt. Durch die ursprünglichere Charakterisierung der Phänomenologie enthüllen sich die Schritte der Methode nicht mehr im reflexiven Charakter, sondern im hermeneutischen. Die Hermeneutik charakterisiert dann die Behandlungsart der Phänomene, die zu einer Umwandlung der Zugangsmethode zum Phänomen Leben führt. Daher wird die Philosophie im WS 1919/20 als eine verstehende Führung betrachtet (GA 58, S. 150). D.h., die phänomenologische Reduktion und έποχή Husserls verwandeln sich in die hermeneutische Reduktion, in die mitmachende Rekonstruktion und in die „begleitende" Destruktion bei Heidegger, wie wir weiter unten sehen werden. In bezug auf den Bereich der Forschung haben wir bemerkt, daß dieser die a-theoretische Sphäre des Lebens und Erlebens ist, welche aber in einer lebensmäßigen Weise zur Abhebung gebracht werden muß. Sie hat einen anderen „Gegenstandscharakter". Im SS 1920 drückt Heidegger dies deutlich aus: „Die Gegenständlichkeit der Philosophie hat nicht den sachartigen theoretischen Charakter, sondern den der Bedeutsamkeit [...]" (GA 59, S. 197). 27 Bedeutsamkeit deutet dann auf die Weise hin, wie sich das Leben in seinem Ursprung zeigt, wie es verständlich ist. Das Leben als Bereich der Forschung wird dann sachgemäß nicht bezüglich einer theoretischen Abkünftigkeit, wie die Dinglichkeit, aufgeschlossen, sondern bezüglich seines Bedeutsamkeitscharakters. Dieser kann aber nicht bloß still in einer vergegenständlichenden Reflexion dargestellt werden. Vielmehr muß das Leben in seinem Bedeutsamkeitscharakter als Vollzug hermeneutisch zugänglich gemacht werden. Die Urwissenschaft ist dann, wie wir wiederholt betonten, als eine hermeneutische Urwissenschaft zu verstehen. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Husserls Phänomenologie, denn wenn für Husserl die phänomenologische Methode vom Bewußtsein als Gegenstand der Forschung her bestimmt wurde, dann läßt sich der Reflexionscharakter seiner Phänomenologie verstehen. 28
e) Philosophie - Weltanschauung - Wissenschaft Aufgrund des Gesagten gewannen wir eine erste Annäherung an das Verständnis dessen, was Heidegger mit Urwissenschaft meint. Um seinen philo-
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Im SS 1923 wird Heidegger weiter ausführen, daß „Bedeutsamkeit kein Sachcharakter, sondern ein Seinscharakter ist", GA 63, S. 89 (k.g.v.m.). 28 Vgl. dazu F.-W. v. Herrmann, HuR; ferner ders., SuD, S. 16-20.
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sophisch-wissenschaftlichen Charakter deutlicher zu sehen, greifen wir auf die Beziehung Philosophie - Weltanschauung - Wissenschaft zurück. 29 Wir haben durch die Entfaltung der im vorbereitenden Teil ausgearbeiteten philosophischen Zugangsmodi, nämlich des neukantianischen wertphilosophischen Rickerts, 30 des psychologisch-beschreibenden lebensphilosophischen Diltheys 31 und des transzendental-phänomenologischen Husserls, 32 die Komplexität der Zugänglichkeit zum Leben herausgehoben. Wenn wir uns die dargestellten Zugangsmodi vergegenwärtigen, wird klar, daß die Zugänge bei Rickert und bei Dilthey in die sogenannte Weltanschauung gehören, insofern sie kein bloßes Betrachten der Leben-Welt liefern, sondern bereits eine Stellungnahme, eine Haltung des Lebens selbst in bezug auf die Welt bedeuten. Bei Husserl dagegen erkennen wir keine weltanschauende Philosophie, sondern eine wissenschaftliche. Wir müssen dies näher erläutern. Rickert geht von einer Stellungnahme in bezug auf Werte aus, d.h. der Grund des Lebens hat nur Sinn aufgrund des transzendentalen gültigen Sollens und der an diesem angeknüpften Güter und Wertungen, d.h. der Kultur. Bei dieser Auffassung will die Weltanschauung nach Heidegger „die Deutung des Sinnes menschlichen Daseins und menschheitlicher Kultur mit Rücksicht auf das System der absolut gültigen [...] Werte [sein]'4 (GA 56/57, S. 9). Hier zeigt sich die Weltanschauung als die Grenze der Philosophie. 33 Dilthey seinerseits geht von der Erfahrung aus, die im Innewerden gegeben ist. Dieses Gebiet wird aber erst durch eine beschreibende Psychologie eröffnet, und von dort aus bilden sich die verschiedenen Gestalten oder Typen des Lebens in bezug auf Welt: „innerhalb solcher Grundauffassungen der Welt und mit ihrer Hilfe erfährt dann der Mensch, sein Einzel- und Gesellschaftsleben, entsprechende „Erklärungen 44 und Deutungen44 (ebd., S. 8). Durch die Entdeckung der Grundauffassungen der Welt und des Lebens vollendet sich die Philosophie. Hier legt Heidegger die Weltanschauung als die Aufgabe der Philosophie aus: „Der innere Kampf mit den Rätseln des Lebens und der Welt sucht zur Ruhe zu kommen in der Festsetzung eines Endgültigen von Welt und Leben44 (ebd.).
29 In bezug auf diese Triada vgl. R. Rodriguez , La transformación hermenéutica de la Fenomenologia, S. 17-35. 30 Vgl. § 4-§ 6 der vorliegenden Arbeit. 31 Vgl. § 7-§ 10 der vorliegenden Arbeit. 32 Vgl. § 11—§ 14, § 17, § 24 der vorliegenden Arbeit. 33 Dieser weltanschauliche Zugang zum Leben als Grenze zeigt sich deutlich bei den Neukantianer, wenn wir sehen, daß es bei ihnen strenggenommen keinen Zugang zum Leben gibt, sondern nur zum Denken über das Leben.
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Durch diese zwei Charakterisierungen ist klar, daß im Laufe der philosophischen Tradition eine Beziehung zwischen Weltanschauung und Philosophie gewaltet hat. Die Beziehung wurde als selbstverständlich mitvollzogen, d. h. die Weltanschauung gehörte zur Philosophie. Diese Auffassung wurde erst durch die Phänomenologie Husserls in Zweifel gezogen. Im Logos-Aufsatz stellt Husserl die Weltanschauung der wissenschaftlichen Philosophie gegenüber. Die weltanschauliche Philosophie, insofern sie eine Besinnung des Prozesses der an die Kulturgemeinschaft angeknüpften zeitlichen Geistesgestaltungen darstellt, ist „ein Kind des historizistischen Skeptizismus" (Logos-Aufsatz, S. 328). D.h. sie verkörpert eine wechselnde Idee, die unumgänglich zeitlich orientiert ist. Die wissenschaftliche Philosophie ihrerseits erweist sich als überzeitlich, insofern sie „durch keine Relation auf den Geist einer Zeit begrenzt [ist]" (ebd., S. 332). Daraus ergibt sich für uns folgendes Problem: Wenn der Zusammenhang zwischen Philosophie und Weltanschauung bislang als selbstverständlich betrachtet wurde, dann müssen wir fragen, ob somit auch ein Zusammenhang zwischen der Philosophie als a-theoretischer Urwissenschaft und der Weltanschauung besteht.
f) Urwissenschaft und Weltanschauung In bezug auf den Zusammenhang zwischen Philosophie und Weltanschauung schreibt Heidegger 1919, daß die Weltanschauung „ein philosophiefremdes Phänomen darstellt" (GA 56/57, S. 12). Nur ein Jahr später, im SS 1920, sagt er jedoch, daß „die Lebensphilosophie [also eine weltanschaulich orientierte Philosophie, Α. X.] [...] eine notwendige Station auf dem Wege der Philosophie" war (GA 59, S. 154). Wie ist dieser Zusammenhang zu verstehen? Im § 7 haben wir auf eine Fußnote in Heideggers Habilitationsschrift hingewiesen. Dort bemerkt Heidegger die Bedeutung Husserls in bezug auf die Überwindung des Psychologismus, macht aber zugleich eine kritische Anmerkung bezüglich dessen transzendentaler Phänomenologie und nennt die Möglichkeit eines Auswegs aus der transzendentalen Blickbahn: dies lasse „sich [...] nur ermöglichen mit den systematischen Mitteln einer prinzipiell weltanschaulich orientierten Philosophie" (GA 1, S. 205). Wir haben allerdings auch betont, daß diese weltanschaulich orientierte Philosophie nur als ein Anstoß für den weiteren Denkweg Heideggers zu verstehen ist. Wenn er nun die weltanschauliche orientierte Lebensphilosophie als eine notwendige Station beschreibt, so darf dies freilich nicht als eine isolierte „Phase" ausgelegt werden. Vielmehr muß diese „Station" im Zusammenhang gesehen werden, d.h. in bezug auf die von Anfang an gestellte Frage nach einem
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ontologischen Boden. Im § 4 haben wir die Beziehung zwischen der Frage nach dem Sein in der Form der Frage nach den Kategorien und der Frage nach dem Leben, die in der Diltheyschen weltanschaulichen Philosophie einen nicht-transzendentalen Weg gefunden hat, dargestellt. Dieser Zusammenhang muß stets im Auge behalten werden, damit wir nicht in irrige Interpretationen von „Etappen" oder „Phasen", die zu bestimmten „Wenden" führen, verfallen. 34 Wenn Heidegger im KNS 1919 die Weltanschauung als ein philosophiefremdes Phänomen charakterisiert, so geschieht dies in bezug auf die Grenzen der Weltanschauung. Die Weltanschauung enthüllt sich als philosophisch nicht radikal genug. Sie kann also keinen sachgemäßen ursprünglichen „Zugang" zum faktischen Leben liefern. Auch die zur Weltanschauung gehörige Stellungnahme muß in Frage gestellt werden. In diesem Sinne fragt Heidegger nach dem ursprünglichen Grund der Weltanschauung, wenn er schreibt, daß „das Wesen der Weltanschauung Problem wird" (GA 56/57, S. 12). Im WS 1919/20 macht Heidegger klar, daß die Weltanschauung in „einem bestimmten Sinne" abgelehnt wird, und zwar so, „daß der allgemeine Bereich [das Leben, Α. X.] doch bleiben sollte, aber als solcher einer strengen Wissenschaft" (GA 58, S. 28, k.g.v.m.), 3 5 d.h. der vortheoretischen Urwissenschaft. Damit wird deutlich, daß das Anliegen, das Leben als solches zu fassen, wie es auch die weltanschauliche Philosophie anstrebt, nicht schlechthin abgelehnt wird, vielmehr wird nur die Weise zurückgewiesen, wie die Weltanschauung das Leben zugänglich macht. Sie 34 Der Weg von der ,Habilitationsschrift' zu den fFV und ferner zu SuZ wird von I. Fehér sachgemäß verfolgt, bes. in: Zum Denkweg des jungen Heideggers II, in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis ... Tomus X X I I - X X I I I (1990), S. 127-153. In bezug auf die irrige Interpretation von „Phasen" und „Wenden" im Frühwerk Heideggers vgl. Th. Kisiel, Das Entstehen des Begriffsfeldes ,Faktizität' im Frühwerk Heideggers, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87), S. 91-119. Kisiel gliedert den Denkweg Heideggers zu SuZ in zwei Hauptstrecken: eine „lebensphilosophische Phase" und eine „ontologische" (S. 116). Wie wir seit § 2 und mit Fehér im § 4 betont haben, deutet eine solche Interpretation auf ein GrundmißVerständnis des ursprünglichen Anliegens Heideggers hin. Sein Weg darf nicht nur in bezug auf eine bestimmte Terminologie, die zunächst in Anlehnung an die Tradition gebraucht wurde, etwa die diltheysche Begrifflichkeit, gesehen werden. Vielmehr müssen wir zunächst die Phänomene sehen, welche bereits durch einen sich etablierenden methodischen Zugang untersucht wurden. Bereits Fink hat darauf aufmerksam gemacht, daß es schwer ist, die Sache zu sehen, wo der Name fehlt, E. Fink, Studien, S. 215. 35 Was aber Heidegger an dieser Stelle mit Strenge meint, deckt sich nicht mit der Husserlschen Strenge. Strenge bedeutet für Heidegger 1919/20 die „Konzentriertheit auf die Echtheit der Lebensbezüge im konkreten Leben selbst", GA 58, S. 231. Vgl. ferner ebd., S. 137; GA 60, S. 10; GA 27, S. 44 f.
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faßt das Leben nicht „als entspringend, als aus einem Ursprung hervorgehend" (ebd., S. 81), und hier liegen die Grenzen der weltanschaulichen Philosophie. Die Urwissenschaft ihrerseits ist die einzige Wissenschaft, die das Leben in seiner Ursprünglichkeit aufschließen kann. Dies deutet darauf hin, daß die Philosophie als Urwissenschaft Abschied von der bis dahin selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Weltanschauung nehmen muß. Wenn die Philosophie nach dem ursprünglichen Grund der Weltanschauung, nach deren Wesen, fragt, dann besteht zwischen beiden ein anderer Zusammenhang: „Die Weltanschauung wird zum Problem der Philosophie in einem ganz neuen Sinne" (GA 56/57, S. 12). Dies zeigt uns zweierlei: einerseits kann die Philosophie nicht länger Weltanschauung sein, und andererseits wird das Wesen der Weltanschauung zum Problem der Philosophie. Die Tatsache, daß sich eine Trennung vollzieht und daß die Beziehung zwischen beiden anders zu verstehen ist, fordert dann einen ganz neuen Begriff der Philosophie. D.h., die Philosophie selbst wird zum Problem. Sie selbst fordert eine Umwandlung ihres Wesens. Der neue Begriff der Philosophie bei Heidegger ist das, was wir unter dem Namen vortheoretische Urwissenschaft betrachtet haben. Die Philosophie ist dann in ihrem Wesen als Urwissenschaft bestimmt. Die Wesensabgrenzung der Philosophie als Urwissenschaft ordnet sich in die gesamte Tradition des abendländischen Philosophierens ein, das sich in seinem eigensten Vollzug immer schon, ob als πρώτη φιλοσοφία, prima philosophia, Metaphysik, Transzendentalphilosophie (Kant), Wissenschaftslehre (Fichte), absolute Wissenschaft (Hegel) oder Transzendentalphänomenologie (Husserl), als eine „erste", die „letzten Gründe" betreffende Wissenschaft verstand. Die von Heidegger gesuchte Urwissenschaft müssen wir als eine radikal neue Gestalt der abendländischen Ersten Philosophie begreifen. D.h., daß im Begriff der Urwissenschaft derselbe ganzheitliche Wesensanspruch beschlossen liegt, der die philosophische Überlieferung auszeichnete und in welchem sich auch die späteren Stationen der Heideggerschen Besinnung, die Fundamentalontologie und das seynsgeschichtliche Denken, weiter bewegen werden. Die Philosophie als Urwissenschaft zielt auf ein Ursprungsverstehen des Lebens ab. Dies meint eine andersartige Aufschließungsweise des Lebens selbst, die sich als ein Erfassen des Lebens, als ein „Vordringen auf den Ursprung" enthüllt. Dieses „Vordringen auf den Ursprung" enthält drei Grundcharaktere: Selbstgenügsamkeit, Ausdruck und Bedeutsamkeit. Wir können bereits sagen, daß sich in diesen Charakteren die Andersartigkeit der vortheoretischen Urwissenschaft Heideggers zeigt. Selbstgenügsamkeit haben wir auch als die Selbstbegründung des Lebens und dessen thematischen Zugangs charakterisiert. Der Ausdruck dieser selbstgenügsamen Aufschließungsweise ist seinerseits kein äußerliches syntaktisches Konstrukt,
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sondern gründet auf Sinnzusammenhängen des Lebens selbst, d.h. auf einer anderen, nicht-theoretischen „Gegenständlichkeit": auf der Bedeutsamkeit. Im Laufe der Untersuchung werden wir auf diese Grundcharaktere zurückkommen. Zweites Kapitel
Die methodische Behandlungsart der Phänomenologie: reflexive und hermeneutische Anschauung § 16. Das Grundprinzip der Phänomenologie a) Vorbemerkung Im vorangegangenen Kapitel haben wir auf das Wesen der Philosophie als die Wissenschaft von den Ursprüngen hingewiesen, also auf die Wissenschaft von ριζώματα πάντων (Logos-Aufsatz, S. 341). Es wurde aber klar, daß Ur- in Urwissenschaft bei Heidegger sich nicht mit dem deckt, was Husserl Ursprung nennt, also mit dem transzendentalen Bewußtseinsleben. Wir haben auch darauf hingewiesen, daß der Ursprung und dessen Wissenschaft wesenhaft keinen theoretischen Charakter haben. Das Vortheoretische der Urwissenschaft wurde Husserls vor-theoretischem Ansatz unmittelbar gegenübergestellt, aber mittelbar richtet es sich auch auf die bereits erläuterten scheinbar vor-theoretischen Ansätze Rickerts und Diltheys. Die Philosophie trägt auch bei ihnen einen „nicht-theoretischen" Charakter. Das „Nicht-theoretische" der Philosophie wird allerdings als ein praktischer Charakter ausgelegt. Bei Rickert geschieht ein Primat der praktischen Vernunft, insofern Erkennen bei ihm kein Vorstellen, sondern eine urteilende Stellungnahme zu Werten ist. Im Billigen oder Mißbilligen des Erkenntnisaktes zeigt sich also ein praktisches Verhalten. Daher sagt Rikkert, daß Erkennen eigentlich nicht dem Vorstellen, sondern dem Wollen und Fühlen zuzuordnen ist. 3 6 Dilthey seinerseits deutet auf einen praktischen Charakter der Philosophie hin, der aber nicht aufgrund einer Zustimmung in bezug auf transzendentale Werte zustande kommt, sondern in bezug auf den Lebenszusammenhang selbst. Der Primat der praktischen Vernunft bei Dilthey zeigt sich in der Erweiterung des vorstellenden Subjekts der Neuzeit, die zu einer dreifach dimensionierten Struktur des Lebens führt: voluntativ-affektiv-intellektuell. 36 Vgl. § 5 a) der vorliegenden Arbeit. Vgl. ferner J. Greisch , L'herméneutique dans la „phénoménologie" comme telle", in: Revue de Métaphysique et de Morale 96 (1991), S. 58.
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Daher betont Riedel mit Recht, daß die Selbstbesinnung bei Dilthey auf das Leben als Praxis im Aristotelischen Sinne gerichtet ist. 3 7 Wenn sich jedoch der vor-theoretische Ursprung bei Heidegger nicht mit dem vor-theoretischen Ursprung im Sinne Husserls oder mit dem praktischen Ansatz der Tradition deckt, dann müssen wir hier wiederum die Frage stellen, was Heidegger damit meint. Im WS 1919/20 weist Heidegger in abwehrend-hinweisender Art auf das hin, was er mit Ursprung sagen will: Der »Ursprung' ist nicht ein letzter einfacher Satz, ein Axiom, aus dem alles abzuleiten wäre, sondern ein ganz Anderes; nichts Mystisches, Mythisches, sondern etwas, dem wir in immer strenger werdender Betrachtung, die sich auf diesem Wege immer zugleich selbst erhält, nahezukommen suchen und zwar auf verschiedenen Zugängen - und zwar näherkommen in einer wissenschaftlichen, urwissenschaftlichen Methode und nur in ihr. Nicht etwas, das man sonst noch in anderer Weise erleben, erlebnismäßig in das Leben einfügen und ihm da eine Funktion verleihen könnte (GA 58, S. 26, k.g.v.m.).
Somit können wir zunächst sehen, daß das Leben und Erleben als Ursprung in keiner Weise gegeben ist, sondern es liegt in einer bestimmten Ferne, die uns irgendwie näher gebracht werden soll. Das Nahebringen der Sache erfolgt nur in einer Methode, die auf dieses Nahebringen abzielt. Im Nahebringen des Gegenstands sehen wir auf ihn hin. Das Sehen des Ursprungs muß dann in einer wissenschaftlichen Weise geschehen, damit das Gesehene philosophisch ausgewiesen werden kann. Daher ist für Heidegger klar, daß der „Zugang" zum Ursprung nur durch die phänomenologische Methode zustande kommen kann, da diese diejenige Methode ist, die das Hinsehen auf die Sache selbst, auf den Ursprung, ermöglicht. An verschiedenen Stellen hat Heidegger ausdrücklich darauf hingewiesen, daß er stets innerhalb der Phänomenologie geblieben ist. 3 8 Husserl seinerseits war ab Mitte der 20er Jahre der Meinung, daß Heideggers Ausarbeitungen nicht im Rahmen seiner Phänomenologie einzuordnen seien. Viele Ausarbeitungen haben bereits Licht in die philosophische Beziehung zwischen Husserl und Heidegger gebracht. Leider gibt es aber auch Ausarbeitungen, die irrige Wege eingeschlagen haben. Daher müssen wir hier einige wichtige Bemerkungen in bezug auf den Grundboden der Phänomenologie anführen. Dabei soll klar werden, daß Phänomenologie nicht nur 37 Vgl. § 8 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Dilthey, GS VI, S. 1. Vgl. ferner M. Riedel, Verstehen oder Erklären?, S. 65 ff.; ders., Für eine zweite Philosophie, S. 69. 38 Vgl. SuZ, S. 38; Mein bisheriger Weg, in: GA 66, S. 413; Die Grundfrage nach dem Sein selbst (1946) in: Heidegger Studies 2 (1986), wiederabgedruckt in GA 16, S. 423; Aus einem Gespräch von der Sprache (1953/54) in: UzS, S. 95, 121; Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein", in: ZSD, S. 48; Ein Vorwort (Brief an Richardson, 1962), in: Philosophisches Jahrbuch 72 (196465), S. 399.
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mit der reflexiv vortranszendentalen oder transzendentalen Phänomenologie Husserls gleichzusetzen ist. Hier liegt die Möglichkeit der Phänomenologie als hermeneutische Phänomenologie.
b) Der phänomenologische Boden Husserls und Heideggers In einem Brief an A. Pfänder schreibt Husserl 1931: „Ich erwähne noch, daß ich oft genug gewarnt worden war: Heideggers Phänomenologie sei etwas total anderes als die meine [...]" (BW Bd. II, S. 182) und weiter unten: Ich kam zum betrüblichen Ergebnis, daß ich philosophisch mit diesem Heidegger sehen Tiefsinn nichts zu schaffen habe, mit dieser genialen Unwissenschaftlichkeit, daß Heideggers offene u. verdeckte Kritik auf grobem Mißverständnis beruhe, daß er in der Ausbildung einer Systemphilosophie begriffen sei von jener Art, die für immer unmöglich zu machen ich zu meiner Lebensaufgabe stets gerechnet habe (ebd., S. 184, k.g.v.m.).
Zwei Jahre früher (1929) in einem Brief an R. Ingarden stellte Husserl deutlich dar: „Ich kam zum Resultat, daß ich das Werk [Heideggers] nicht dem Rahmen meiner Phänomenologie einordnen kann, leider aber auch, daß ich es methodisch ganz und gar u. im wesentlichen auch sachlich ablehnen muß" (BW Bd. III, S. 254, k.g.v.m.). 3 9 Nach diesen Äußerungen Husserls scheint es so, als ob der Ansatz Heideggers außerhalb der Phänomenologie zu betrachten wäre. Einige Fehlinterpretationen sind diesem Schein gefolgt und nicht tiefer in die Problematik vorgedrungen. Daher kommen sie zum Ergebnis, daß sich Heidegger entweder von Anfang an außerhalb der Phänomenologie befand 40 oder daß er in einem bestimmten Moment „Abschied" von der Phänomenologie genommen hat. 41 Demgegenüber haben K. Held und F.-W. v. Herrmann in 39 1927 schreibt Husserl an R. Ingarden: „Heidegger ist mir zum nahen Freund geworden, u. ich gehöre zu seinen Bewunderern, so sehr ich es gerade darum bedauern muß, daß sein Werk (u. dann wohl auch seine Vorlesungen) methodisch und sachlich wie etwas von meinen Werken u. Vorlesungen wesentlich Verschiedenes erscheinen [...]" Brief vom 19. November 1927, ebd., S. 234. 40 Diese These vertritt J. Garcia Gainza in ihrer Dissertation , Heidegger y la cuestión del valor', Pamplona, 1997. Ihre Arbeit gründet auf groben Mißverständnissen, die ihr erlauben zu sagen, daß Heidegger niemals den neukantianischen Boden verlassen hat, S. 190 f. 41 Diese These wird unter anderen von Pöggeler und Morrison vertreten. Pöggeler schreibt in ,Der Denkweg': „Die Rede Was ist Metaphysik?, mit der Heidegger die Nachfolge im Freiburger Amt Husserls antrat, bedeutet den Abschied von der Phänomenologie, deren Name ganz zu Anfang der Freiburger Zeit zwar noch als eine Huldigung an den genius loci, später aber nicht mehr im Titel von Heideggers Vorlesungen und Arbeiten steht", S. 79 (k. g. v. m). Vgl. ferner J. C. Morrison, Husserl and Heidegger: The parting of the ways, in: F. Elliston (Hrsg.), Heidegger's
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
ihren Auslegungen wiederholt zu zeigen versucht, daß Heidegger von Anfang an phänomenologisch vorging und immer innerhalb der Phänomenologie verblieben ist, obwohl er in den späteren Ausarbeitungen den Namen Phänomenologie' nicht genannt hat. 4 2 Um diese These auszuweisen, müssen wir der Sache nach einen Unterschied zwischen dem formalen Phänomenologiebegriff und dem möglichen entformalisierten Phänomenologiebegriff, wie ihn Heidegger in SuZ nennt, machen (SuZ, S. 35) 4 3 In diesem Sinne darf die Phänomenologie nicht ausschließlich mit der Phänomenologie Husserls gleichgesetzt werden. Die Phänomenologie Husserls ist vielmehr eine bestimmte Weise, wie der formelle Phänomenologiebegriff entformalisiert wurde, aber die Phänomenologie als solche erschöpft sich nicht in der Husserlschen Gestalt. Wenn Husserl die Phänomenologie Heideggers methodisch und sachlich ablehnt, stellt er diese seiner reflexiv transzendentalen Phänomenologie gegenüber. Da Heidegger methodisch nicht reflexiv vorgeht und sachlich die transzendentale konstituierende Subjektivität nicht als Thema betrachtet, ist diese Phänomenologie Husserl zufolge eigentlich keine Phänomenologie. Sie ist weit weg von der Gestalt der Husserlschen Phänomenologie, d.h. von der reflexiv durch Reduktion und έποχή vollzogenen Entdeckung des transzendentalen Bewußtseinslebens, welches für Husserl die strengste und reinste Gestalt der Phänomenologie bildete. In diesem Sinne ist das, was er in seinem Rahmen charakterisiert, eigentlich die reflexiv transzendentale Phänomenologie. Dies läßt sich anhand eines anderen Briefes an Ingarden (1927) deutlich sehen:
Existential Analytic. Auch R. Rodriguez vertritt diese Meinung in bestimmter Weise, insofern er das phänomenologische Sehen nur als reflexiv-phänomenologisch betrachtet. Da Heidegger von vornherein die Reflexion ablehnt, befindet er sich Rodriguez zufolge in einer „gran distancia respecto, precisamente, de la forma de mirar y de la actitud filosofica, el corazón de la fenomenologia" und weiter unten: „ [ . . . ] el pensamiento de Heidegger se ve abocado a un modo de tratar con las cosas y los problemas cuya relación con el „ver" fenomenològico se hace cada vez menos patente ", La impotencia de la reflexion, in: Hermenéutica y subjetividad, S. 88 und 92-93 (k.g.v.m.). Gegen diese irrigen Interpretationen vgl. F.-W. v. Herrmann, HuR; ders., HPhD, S. 277 ff.; ders., SuD, S. 16 ff.; J. F. Courtine, Heidegger et la phénoménologie, bes. S. 161-185; ders., Phénoménologie et/ou ontologies hermenéutiques, in: Comprendre et interpréter. Le paradigme hermenéutique de la raison, S. 151-175; J. Greisch, Ontologie et temporalité. Esquisse d ' u n e interprétation intégrale de Sein und Zeit, S. 26 ff.; K. Held , Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie, in: A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler, Heidegger und die praktische Philosophie, S. 111-139; ders., Heideggers Weg zu den „Sachen selbst", in: Vom Rätsel des Begriffs. Festschrift für F.-W. v. Herrmann, S. 3 1 ^ 5 . 42 Vgl. dazu das von Heidegger selbst in UzS, S. 121 und in ,Mein Weg in die Phänomenologie', in: ZSD, S. 90 Gesagte. 43 Vgl. ferner F.-W. v. Herrmann, HuR.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der Phänomenologie
155
Der neue Encyclopaedia-Britannica-Artikel hat mir auch viel Mühe gemacht, hauptsächlich weil ich meinen prinzipiellen Gang nochmals ursprünglich durchdachte und in Rücksicht den Umstand zog, daß Heidegger, wie ich nun glauben muß, diesen Gang u. somit den ganzen Sinn der Methode der phänomenologischen Reduktion nicht erfaßt hat (BW Bd. III, S. 232, k.g.v.m.). Wenn w i r die Methode und das Sachgebiet Heideggers betrachten, dann weckt es den Anschein, als ob er etwas ganz anderes bearbeitet habe. W i r werden sehen, daß er nur ein „ b e i m - W o r t - N e h m e n " des von Husserl selbst bereitgestellten
Bodens
der
Phänomenologie
als Methode
durchgeführt
h a t . 4 4 Dieses beim-Wort-Nehmen w i r d Heidegger Jahre später als die eigentliche Bewahrung der Phänomenologie, bzw. des phänomenologischen Prinzips charakterisieren. 4 5 Aber Husserls Eindruck von Heidegger war nicht von Anfang an der, der i n den herangezogenen Briefstellen gezeigt wurde. I n den ersten Jahren der Zusammenarbeit sah die philosophische
Beziehung
zwischen beiden ganz
anders aus. I n einem B r i e f an Natorp schreibt Husserl 1922: Seine [Heideggers, Α. X.] receptiven Fähigkeiten sind gering, er ist das äußerste Gegenteil von anschmiegsam. Eine ganz originelle Persönlichkeit, ringend, sich selbst u. die eigengegründete Art suchend und mühsam gestaltend. Seine Weise phänomenologisch zu sehen, zu arbeiten und das Feld seiner Interessen selbst nichts davon ist bloß von mir übernommen, sondern bodenständig in seiner eigenen Ursprünglichkeit [...] Er spricht über das, was ihn tiefschürfende phänomenologisch-geistesgeschichtliche Forschung lehrt [...] (BW Bd. V, S. 150, k.g.v.m.)46 Diesem Zitat nach können w i r herausheben, daß Husserl i n den fFV eine eigene
Ursprünglichkeit
bei Heidegger entdeckte, die er m i t drei Zügen
charakterisiert: die Weise phänomenologisch arbeiten
und das Feld der Forschung.
zu sehen, phänomenologisch
zu
D a m i t hat Husserl bereits 1922 das
entdeckt, was den ganzen Weg Heideggers bestimmen wird: eine ursprünglichere Weise der Phänomenologie. 4 7 Dabei hat aber Husserl zugleich das
44 Vgl. Th. Sheehan, Heidegger's Early Years: Fragments for a Philosophical Biography, in: ders., The man and the Thinker, S. 5. 45 Vgl. Ein Vorwort, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964-65), S. 399; Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein", in: ZSD, S. 48. 46 1927 drückt Husserl dies anders aus: „Ich hatte ja leider seine philosophische Ausbildung nicht bestimmt, offenbar war er schon in Eigenart als er meine Schriften studierte", Brief an R. Ingarden vom 19. November 1927, BW Bd. III, S. 234 (k.g.v.m.). 47 Wir beziehen uns hauptsächlich auf den erwähnten Brief von 1922, da hier Husserl bezüglich Heidegger am deutlichsten Stellung nimmt. Seit 1920 hat aber Husserl die „philosophische Entwicklung" des jungen Heidegger vor Augen. In einem Brief an Natorp 1920 schreibt er: „ M i t größter Energie hat er [Heidegger] sich in die Phänomenologie eingearbeitet und strebt überhaupt nach sicherster Fun-
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
gelobt, was er ein paar Jahre später ablehnen wird. In der Zeit der fFV hat Heidegger, nach Husserls eigenen Angaben, in phänomenologischer Weise gesehen, zugleich war aber seine Forschung keine bloße Übertragung der Husserlschen Phänomenologie, sondern bodenständig in seiner eigenen Ursprünglichkeit. Wir können also nicht schlechthin sagen, daß diese Bodenständigkeit oder Eigenart außerhalb der Phänomenologie lag. Wenn Husserl diese Bodenständigkeit bzw. Ursprünglichkeit Heideggers als phänomenologisch bezeichnet, deutet er darauf hin, daß Heidegger den Boden der Phänomenologie mit ihm teilte. Aber wenn für Husserl die Phänomenologie eigentlich nur als reflexiv-transzendentale Phänomenologie in Frage kam, wieso hat er dann dennoch die Ausarbeitungen Heideggers als phänomenologisch bezeichnet? Einerseits hat Husserl die eigene phänomenologische Ursprünglichkeit Heideggers erkannt, andererseits war die Phänomenologie für ihn streng reflexiv-transzendental zu sehen. Daher können wir hier davon ausgehen, daß Husserl selbst die Möglichkeit einer anderen Auffassung des phänomenologischen Prinzips offen gelassen hat. In diesem Sinne war Heidegger von Anfang an zwar im allgemeinen Rahmen der Phänomenologie tätig, nicht aber im transzendentalen. Husserl hat aber nicht erkannt, welche Folgen die von Anfang an entdeckte Ursprünglichkeit Heideggers haben wird. Er hat nicht gesehen, daß der Ansatz Heideggers grundsätzlich unvereinbar mit seiner reflexiv-transzendentalen Phänomenologie war. Wenn Heidegger von Anfang an eine eigene Ursprünglichkeit gezeigt hat, sowohl methodisch als auch sachlich, wie wir dank der Veröffentlichung der fFV feststellen können, dann muß das ,phänomenologisch 4 in Husserls Brief über die entformalisierte Gestalt seiner Phänomenologie hinaus verstanden werden. D.h., phänomenologisch darf weder auf das reflexive Sehen (Sehen), noch auf die phänomenologisch theoretische Beschreibung (Arbeit), noch auf das transzendentale Bewußtseinsleben (Feld) beschränkt werden. Phänomenologisch muß vielmehr auf einen gemeinsamen Grundboden aller Gestaltungen der Phänomenologie, nämlich auf ein gemeinsames Grundprinzip hinweisen: auf das Grundprinzip der Phänomenologie. Daß Husserl später die Phänomenologie Heideggers nicht mehr als innerhalb seiner Phänomenologie betrachten wird, sondern als „Unwissenschaftlichkeit", bedeutet nicht, daß Heidegger seine auf dem Boden des phänomenologischen Prinzips gebildete eigene Ursprünglichkeit der fFV aufgegeben hat, sondern daß Husserl die Phänomenologie überhaupt nur im Rahmen
damentierung für sein philosophisches Denken", BW Bd. V, S. 140 (k.g.v.m.). Brief vom 11. Februar 1920.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der Phänomenologie
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seiner reflexiv-transzendentalen Phänomenologie verstanden hat. Er hat andere Möglichkeiten ausgeschlossen. Wir werden dagegen sehen, daß die Tatsache, daß Heidegger die transzendentale Reduktion und έποχή nicht mitvollzogen hat, nicht bedeutet, daß er von der Phänomenologie insgesamt sich verabschiedet hat. An diesem Punkt müssen wir also zwischen der Phänomenologie Husserls und der Phänomenologie überhaupt unterscheiden. Und hier taucht die Frage auf, was mit Phänomenologie überhaupt gemeint ist. Die Frage ist teilweise schon beantwortet: Damit meinen wir das Formale aller Phänomenologie, d.h. das, was die Phänomenologie überhaupt ausmacht, auf welchem Prinzip sie gründet. Dieses Prinzip selbst gilt es jetzt zu erläutern.
c) Die phänomenologische Forschungsmaxime ,zu den Sachen selbst!' und das Prinzip der Prinzipien Im ,Logos-Aufsatz' schreibt Husserl: ,flicht von den Philosophien sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb zur Forschung ausgehen" (Logos-Aufsatz, S. 340). In diesem Sinne bewegt sich die wissenschaftliche Arbeit der Philosophie als Ursprungswissenschaft „in Sphären direkter Intuition" (ebd., S. 341). Diese Grundforderung der Phänomenologie hat Husserl bereits in der Einleitung zum zweiten Band der L U ausdrücklich gemacht: „Wir wollen auf die „Sachen selbst " zurückgehen" (Hua XIX/1, S. A 7, k.g.v.m.). Im § 19 der ,Ideen Γ wird diese Forderung folgendermaßen dargestellt: „Vernünftig oder wissenschaftlich über Sachen urteilen, das heißt aber, sich nach den Sachen selbst richten, bzw. von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseitetun" (Hua I I I / l , S. 35, k.g.v.m.). ,Auf die Sachen selbst zurückgehen' bedeutet phänomenologisch zum Ursprung zurückgehen. Anders gewendet: ,auf den Ursprung zurückgehen' bedeutet, die Sache als solche sehen. Wenn die Sache nur durch Theorien, Standpunkte und Meinungen „zugänglich" geworden ist, dann bedeutet die Rede vom Ursprung, sie - die Sache - zu enthüllen. Die Sache hält sich verborgen. Ihre Verborgenheit kann verschiedener Art sein, z.B. in einer Deformation (GA 58, S. 240). Die phänomenologische Maxime zielt auf ein Zurückgehen auf den Ursprung der Deformation ab, die aufgrund der tradierten Meinungen und Theorien entstanden ist. Die Maxime zeigt einen abwehrenden und einen hinweisenden Charakter. In den L U wird der abwehrende Charakter bezeichnet als ein Abwenden von der „entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauung" (Hua XIX/1, S. A 7) oder als ,,strenge[r] Ausschluß aller Annahmen, die nicht
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
phänomenologisch voll und ganz rea-lisiert werden können" (ebd., S. A 18). Dieser abwehrende Charakter deutet zugleich auf den hinweisenden oder positiven Charakter hin: auf eine eigentliche Anschauung oder auf Annahmen, die phänomenologisch realisiert werden können. Nur dabei wird die Sache selbst gesehen. Aber diese Maxime deutet nur auf die Vorgehensweise hin, wie man sich den Phänomenen anzunähern hat. D.h., sie zeigt nur die Weise, wie die Sachen zu sehen sind oder, wie Heidegger in SuZ schreibt, die Behandlungsart der Phänomene (SuZ, S. 27, 34 f.). Die Maxime weist allerdings auf kein sachhaltiges Was der Gegenstände der Forschung hin. Daher schreibt Heidegger, daß der Ausdruck Phänomenologie 4 zunächst einen Methodenbegriff besagt (ebd.). 48 Wenn die Maxime kein sachhaltiges Was meint, dann ist sie in einem formalen Sinn zu verstehen. , Formal 4 meint hier eine allgemeine Fassung ohne bestimmte sachhaltige Materie. D.h., das Formalverständnis der Maxime deutet nur auf die Weise hin, wie das Sachhaltige des jeweiligen Gegenstands aus seiner Verborgenheit zum evidenten Sichzeigen gebracht wird. Das Formale des Forschungsprinzips stellt dann nur dieses Grundsätzliche des methodischen Vorgehens dar. Somit wird zugleich darauf hingewiesen, daß das Formal-Grundsätzliche der Maxime entformalisiert werden kann. Die Entformalisierung kann auf verschiedener Ebene erfolgen, abhängig von der Gegenstandsart. Diese Entformalisierungsmöglichkeit des Formalen der Maxime erlaubt einen freien Raum innerhalb der phänomenologischen Forschung. Aber die Forschungsmaxime der Phänomenologie ist nicht bloß als eine Parole zu verstehen, sondern, da sie die Phänomenologie als Methode begründet, wird sie auch von Husserl als Grundprinzip bezeichnet. In den L U wird das Grundprinzip als das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit angesprochen, in den ,Ideen I 4 als das Prinzip aller Prinzipien und in den CM als das Prinzip der Evidenz. Diese drei Bezeichnungen deuten auf denselben Sachverhalt hin. Aber was besagt konkret das Grundprinzip der Phänomenologie? Wir wenden uns zunächst dem in den ,Ideen I 4 charakterisierten Prinzip aller Prinzipien zu. Im § 24 der ,Ideen I 4 wird dieses folgendermaßen dargestellt: [...] daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der „Intuition" originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen (Hua III/1, S. 43-44).
48
Vgl. ferner F.-W. v. Herrmann, HuR, bes. S. 122 ff.; ders., HPhD, S. 277 ff.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der P h ä n o m e n o l o g i e 1 5 9
Das Gebende dieser phänomenologischen Anschauung ist ein sich Selbstgebendes. , Gebend4 bedeutet: die Wesenserschauung bringt das eigens zur Gegebenheit, was nicht von vornherein gegeben ist, was allererst phänomenologisch enthüllend und aufweisend zur geistig-leibhaftigen Gegebenheit erhoben wird. In diesem Sinne interpretiert Heidegger in SuZ den Begriff Phänomenologie als ,,άποφαίνεσθαι τ ά φαινόμενα: Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen" (SuZ, S. 34). Die Gesamtheit dessen, was sich in seiner leibhaftigen Wirklichkeit (d.h. originär) gibt, darbietet oder zeigt, sei einfach hinzunehmen. Etwas „einfach hinnehmen" heißt, jede nachträgliche Deutung der Sachen selbst und jedes theoretische Konstrukt abwehren, damit das Sich-Zeigen des Phänomens weder durch bewußte oder unbewußte noch durch irgendeine sich an das Phänomen heranschleichende Vormeinung gedeutet wird. Wenn wir oben auf den positiv hinweisenden Charakter der Forschungsmaxime hingewiesen haben, nämlich darauf, daß die Sache selbst sich in einer „eigentlichen Anschauung" zeigen muß, dann wird dies jetzt als die originär gebende Anschauung oder Evidenz bezeichnet. Daher bemerkt v. Herrmann mit Recht, daß „das Zurückgehen auf die Sachen selbst und die Evidenz [...] für Husserl dasselbe [besagen]". 49 In diesem Sinne meinen die Forschungsmaxime und das Prinzip aller Prinzipien denselben Sachverhalt. Anders gewendet, wenn wir die phänomenologische Maxime und das Prinzip aller Prinzipien in einen Zusammenhang bringen, sehen wir, daß das Grundprinzip der Phänomenologie positiv als ein „auf-die-Sachenselbst-Zurückgehen" (LU), bzw. ein „Sich-nach-den-Sachen-selbst-richten" (,Ideen Γ ) charakterisiert wird. Andererseits zeigt es sich negativ als ein Abwenden „von entfernten, verschwommenen, uneigentlichen Anschauungen" (LU), bzw. „von den Reden und Meinungen" (,Ideen Γ ) . Negativ bedeutet das Prinzip nur einen „strengen Ausschluß aller Aussagen, die nicht phänomenologisch voll und ganz realisiert werden können" ( L U ) . 5 0 49
HPhD, S. 286; ders., HuR, S. 126 f. An dieser Stelle müssen wir auf ein mögliches Mißverständnis hinweisen: Die Behandlungsart der Phänomenologie ist nicht mit der in den vorangegangenen Paragraphen ausgearbeiteten Zugangsmethode gleichzusetzen. R. Boehm begeht in seinen ,Husserl-Studien (Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie)' über die phänomenologische Reduktion diese irrige Interpretation, wenn er sagt, daß „bereits in den L U [...] weder der Gedanke noch die Formulierung der phänomenologischen Reduktion (wohlgemerkt der phänomenologischen, nicht bloß der „eidetischen") [fehlt]", S. 122. Boehm setzt die phänomenologische Reduktion mit dem Prinzip der Voraussetzungslosigkeit bzw. dem Prinzip aller Prinzipien gleich, für ihn war bereits in den L U die transzendentale Reduktion in der Form einer Beschränkung oder Restriktion (S. 124) eingeführt. Hier ist es wichtig zu bemerken, daß die in den L U genannte Restriktion des Prinzips auf eine philosophische Ausschaltung des nicht50
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
In diesem Sinne bedeutet für Husserl ,auf die Sachen selbst zurückgehen': 1. die originär gebende Anschauung als eine Rechtsquelle der Erkenntnis zu betrachten, 2. daß das sich-in-seiner-leibhaftigen-WirklichkeitDarhietende einfach hinzunehmen ist, als was es sich gibt, 3. die Schranken, innerhalb derer das sich-Gebende erscheint, als seinem Wesen gehörig anzuerkennen. Aber hier bleiben zwei Fragen offen, auf die wir in den nächsten Paragraphen eingehen werden: Welche sind die Sachen selbst, die Husserl meint? Was besagt Anschauung? Damit diese Fragen sachgemäß beantwortet werden können, werden wir zunächst auf den reflexiven Charakter der Phänomenologie Husserls eingehen (§ 17), dadurch wird das Eigentümliche der Anschauung entfaltet und die Sachen der Husserlschen Phänomenologie werden klar dargestellt (§ 18). Nach diesen Erörterungen wird das Formale und das Entformalisierte des phänomenologischen Prinzips deutlicher erfaßt (§ 19). Zuletzt werden wir auf die Einwände Natorps eingehen (§ 20), damit demgegenüber die hermeneutische Behandlungsart Heideggers zur Klarheit gebracht werden kann (§ 21).
§ 17. Die Reflexion als die Behandlungsart der Phänomenologie Husserls a) Vorbemerkung Bevor wir auf die Bestimmung der Anschauung und der Sachen selbst bei Husserl eingehen, müssen wir die bereits angedeutete Weise erläutern, wie die Phänomene Husserl zufolge zum Vorschein kommen können. Im § 77 der ,Ideen Γ schreibt Husserl: „die phänomenologische Methode bewegt sich durchaus in Akten der Reflexion" (Hua III/1, S. 144). Was meint Husserl damit? In welchem Sinne ist die Reflexion entscheidend für die Husserlsche Phänomenologie? Wenn das Prinzip aller Prinzipien sich nach der originär-darbietenden Anschauung richtet, welcher Zusammenhang besteht zwischen dieser hinzunehmenden Anschauung und der Reflexion? Ist von Hause aus die Anschauung reflexiv oder besteht die Möglichkeit einer nicht-reflexiven Anschauung? Sind die durch Reflexion angetasteten Sachen der Forschungsmaxime nur als erblickte Sachen möglich oder können sie anders angeschaut werden? Diese Fragen sollen im Laufe der phänomenologisch Gegebenen hinweist, aber nicht auf die Ausschaltung der Generalthesis, durch welche die transzendentale Reduktion zustande kommt. Diese philosophische έποχή ist nicht mit der phänomenologischen έποχή gleichzusetzen. Die erste bezieht sich auf den negativen Charakter des Grundprinzips der Phänomenologie, die zweite auf die Husserlschen Einstellungsänderung von der natürlichen in die transzendentale Einstellung.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der P h ä n o m e n o l o g i e 1 6 1
folgenden Paragraphen näher beleuchtet werden. Zunächst gehen wir auf die Reflexion bei Husserl ein. Husserl gebraucht den Terminus ,Reflexion 4 in zwei Hinsichten: zum einen als die Zurückbeugung auf das intentionale Erlebnis, zum anderen als die Blickwendung in bezug auf den intentionalen Gegenstand. Da sich der erste Sinn der Reflexion auf das Erlebnis als solches richtet und das Erlebnis selbst intentional bestimmt, d.h. auf einen Gegenstand gerichtet ist, können wir diese Reflexion als Reflexion im weiten Sinne betrachten. Die Reflexion richtet sich also zunächst auf den Akt, aber dabei wird der intentionale Gegenstand eingeschlossen, obwohl nicht ausdrücklich thematisiert. Dieser Sinn der Reflexion war es, welchen Husserl seit der Einleitung zum zweiten Band der L U erläutert hat. Der zweite Sinn von Reflexion hingegen richtet sich nicht auf das Erlebnis als solches, sondern auf den intentionalen Gegenstand. Es geschieht hier eine Blickwendung innerhalb desselben intentionalen Gegenstandes, daher sprechen wir in diesem Fall von Reflexion im engeren Sinne. Diesen Sinn der Reflexion hatte Husserl m. E. bereits in der 6. L U im Auge, als er die Entfaltung der kategorialen Anschauung durchgeführt hat.
b) Die in der im weiten Sinne verstandenen Reflexion eingeschlossene Umwandlung der Erlebnisse Die Reflexion enthält für Husserl die eigentliche Weise, wie die Phänomene zu behandeln sind. In der ersten Ausgabe der Einleitung zum zweiten Band der L U erläutert er einen ersten Sinn von Reflexion: „Anstatt im Vollzuge der mannigfaltig aufeinander gebauten Akte aufzugehen und somit ihren Gegenständen ausschließlich zugewendet zu sein, sollen wir vielmehr „reflektierend.h. diese Akte selbst zu Gegenständen machen" (Hua X I X / 1, S. A 14, k.g.v.m.). Das hier genannte Reflektieren kann in zwei Hinsichten ausgelegt werden: negativ und positiv. Wenn wir die Reflexion zunächst negativ charakterisieren, deutet dies auf Ablehnung des Aufgehens im vordem nicht reflektierten Akt hin. Gewöhnlich leben wir nicht in der Reflexion auf unsere Akte, sondern durchleben Akte. Das Erlebnis, das wir durchleben, ist uns zwar in gewisser Weise mitbewußt, primär bewußt ist jedoch das intentionale Objekt, auf das sich das Erlebnis bezieht. Anhand des bereits eingeführten Beispiels können wir sagen, daß ich, wenn ich beim Kuchenbacken bin, eine Reihe von Erlebnissen durchlebe, die intentional auf einen Gegenstand gerichtet sind. Beim Öffnen des Ofens bin ich auf die Ofentür gerichtet, mein durchlebtes Erlebnis wird dabei auf den Gegenstand gerichtet, aber nicht auf sich selbst. Damit es eigens Gegenstand einer intentio werden kann, muß mein „Aufgegangensein" 11 Xolocotzi
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
im jeweiligen nicht reflektierten Erlebnis gebrochen werden. Wenn ich reflektierend eingestellt bin, breche ich das Verhalten, in dem ich aufgegangen war. Reflektieren heißt negativ also ein Brechen des Erlebnisses als solches. Positiv versteht sich dieses Brechen des Erlebnisses als ein Bilden: Die reflektierende Anschauung richtet sich nach dem jeweiligen Akt, und in diesem Sich-richten-nach werden die Akte selbst zu Gegenständen. Die positive Charakterisierung des Reflektierens besteht darin, daß es die Akte in intentionale Gegenstände umwandelt. M.a.W., das nicht-reflektierte Erlebnis kann durch ein zweites, das Reflexionserlebnis, reflektiert werden, indem dieses sich zurückbeugt (reflectere) auf das soeben unreflektiert durchlebte Erlebnis. Es wird also durch ein neues Reflexionserlebnis selbst zum Objekt des Reflexionserlebnisses und als solches reflexiv analysiert. Die neue cogitatio ist eine Reflexion als eigenständiges Erlebnis, das sich auf das zuvor unreflektiert durchlebte Erlebnis richtet und es dadurch selbst zum reflektierten Erlebnis macht. Dieser reflexive Blick auf die sonst unreflektiert durchlebten Erlebnisse entspricht bei Husserl dem Versachlichen und Objektivieren der Erlebnisse. Die Reflexion muß daher als ein Brechen des Vollzugs des Erlebnisses und zugleich als eine Umwandlung in Gegenstände verstanden werden. Daß es sich hier um eine Umwandlung handelt, hatte Husserl seit den L U klar gesehen. In der 5. L U schreibt er: „Die Beschreibung vollzieht sich aufgrund einer objektivierenden Reflexion [...] Offenbar hat sich damit eine wesentliche deskriptive Änderung vollzogen. Zumal ist der ursprüngliche Akt nicht mehr bloß einfach da, in ihm leben wir nicht mehr, sondern auf ihn achten und über ihn urteilen wir" (Hua XIX/1, S. A 357). Damit ist klar, daß durch die Reflexion im weiten Sinne bereits eine Umwandlung des Erlebnisses geschieht. Diese Umwandlung darf hier als die Umwandlung von dem vordem nicht Gegenstandsein des Erlebnisses in das Gegenstandsein verstanden werden. Dies heißt aber nicht, wie wir bereits im § 12 erläutert haben, daß das nicht-reflektierte Erlebnis eine vor-theoretische Sphäre meine, so daß hier die Umwandlung von Vor-theoretischem ins Theoretische gemeint wäre. Die Interpretation der natürlichen Einstellung Husserls hat gezeigt, daß sich die vorreflektierten Erlebnisse bereits innerhalb der theoretischen Einstellung befinden. M.a.W. die unreflektierten Erlebnisse sind nicht vor-theoretische Erlebnisse, die erst durch die reflektive Blickwendung zu objektivierten Erlebnissen werden. Auch als unreflektiert durchlebte Erlebnisse sind sie schon von der theoretischen Blickweise angetastet - zwar noch nicht reflexiv thematisiert - aber schon ihres a-theoretischen umweltlichen Charakters entkleidet. Wenn Husserl sagt, daß durch die Reflexion ein Erlebnis zu einem Gegenstand wird, meint er aber keine bloße Verdinglichung, sondern die Tat-
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der Phänomenologie
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sache, daß das Erlebnis dadurch zu einem intentionalen Objekt wird. Reflektierend können wir auf das Erlebnis als einen intentionalen Gegenstand sehen, es wird erblickt. Dadurch steht es da, ist es gegeben, und diese Gegebenheit gehört, wie wir weiter unten sehen werden, unumgänglich in die theoretische Einstellung. Damit können wir sehen, daß die Reflexion im weiten Sinne als eine Modifikation der Erlebnisse zu verstehen ist. Dies deutet darauf hin, daß Reflexion für Husserl ein eigener intentionaler Akt einer höheren Stufe ist. Dies muß erläutert werden. Wir haben bereits gesagt, daß, wenn ich in meinen alltäglichen intentionalen Erlebnissen aufgegangen bin, ich auf die Gegenstände gerichtet bin, die in den jeweiligen Erlebnissen erscheinen. Z.B., wenn ich einen Kuchen backe, richte ich mich nach dem Tisch, den Zutaten, dem Mixer, usw., aber ich sehe nicht den Akt ,Kuchenbacken4 als solchen. Erst wenn ich nicht mehr backe, wenn ich das Erlebnis breche und den Blick durch ein anderes Erlebnis - Reflexionserlebnis - auf das Backen oder auf das Mixen richte, dann erscheint das , Kuchenbacken4 als Akt. „Sie [die Reflexion] verändert ganz wesentlich das vordem naive Erlebnis; es verliert ja den ursprünglichen Modus des „geradehin 44 - eben dadurch, daß sie zum Gegenstand macht, was vordem Erlebnis, aber nicht gegenständlich war 44 (Hua I, S. 72). In diesem Brechen des Vollzugs und Erscheinen des Aktes als Gegenstandes habe ich meine Einstellung schon geändert. Diese neue Einstellung, innerhalb der theoretischen Einstellung, geschieht als eine „Modifikation von einer höheren Stufe 44 (Hua III/1, S. 166). D.h. im Vollzug des Aktes geschieht nur ein Erleben, das sich als ein Nicht-wissen zeigt (ebd., S. 171). Erst in der Reflexion taucht die Möglichkeit von einem Wissen davon auf. Daher schreibt Husserl, daß die Reflexion „der Titel der Bewußtseinsmethode für die Erkenntnis von Bewußtsein überhaupt [ist] 44 (ebd., S. 165). Somit können wir sehen, daß die Reflexion für Husserl einen weiteren Wesenszug enthält: die Möglichkeit der Erkenntnis ist nur durch sie gegeben: „Durch reflexiv erfahrende Akte allein wissen wir etwas vom Erlebnisstrom und von der notwendigen Bezogenheit desselben auf das reine Ich 44 (ebd., S. 168). In diesem Sinne läßt sich die wissenschaftliche Aufgabe der Phänomenologie Husserls nur durch das reflexive Zum-Gegenstand-machen ausführen. M.a.W., erkannt werden kann für Husserl nur das, was der reflexiven Modifikation unterliegt. Wenn wir oben die originär-selbstgebende Anschauung oder Evidenz als Rechtsquelle der Erkenntnis angesprochen haben, müssen wir hier Husserl zufolge explizieren, daß sie nur reflexiv möglich ist. In diesem Sinne ist die Evidenz eine reflexive Evidenz.
1
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
c) Die im engeren Sinne verstandene Reflexion: die Blickwendung auf das cogitatum Im dritten Abschnitt der , Ideen Γ bezieht sich Husserl auf eine andersartige Reflexion, die bis dahin „arg vernachlässigt wurde" (Hua III/1, S. 208). Reflexion meint nicht nur das Zum-Gegenstand-machen des vordem nicht reflektierten Erlebnisses, sondern sie kann auch als eine Modifikation innerhalb des Gegenstandes des Erlebnisses geschehen. Der Blick auf den Gegenstand wird umgewendet auf andere, bisher nicht gesehene Momente des Gegenstandes selbst. Es geschieht hier eine Blickwendung. Im § 11 haben wir auf das Wesen des Erlebnisses als die Korrelation zwischen seiner Auffassung und seiner Aktintention hingewiesen, d.h. auf das Reelle und das Intentionale des Erlebnisses. Wir haben dort bemerkt, daß mittels der Auffassung der Empfindungen das Erscheinen des Gegenstandes möglich ist. Dies wird in den ,Ideen Γ als hyletische Momente charakterisiert (ebd., S. 202). Dort wird darauf hingewiesen, daß das Erscheinen des Gegenstandes zum reellen Bestand des Erlebnisses gehört. Aber im Erlebnis werden nicht bloß Empfindungen aufgefaßt, sondern wir nehmen etwas wahr: einen gegebenen Gegenstand. Im Wahrnehmen sehe ich etwas. Das etwas wird als Gegenstand gesehen und nicht als Farbempfindungen erlebt. Daher müssen wir hier wiederum auf den wichtigen Unterschied zwischen dem erlebten Erscheinen und dem Wahrnehmen des Gegenstandes bzw. zwischen dem erscheinenden Ding und der Dingerscheinung hinweisen. Obwohl der Gegenstand mittels der Empfindungsdaten bzw. hyletischen Momente und deren Auffassungen bzw. noetischen Momente erscheinen kann, ist er im Erlebnis anders enthalten: intentional bzw. noematisch bewußt. D.h. man muß zwischen den zum Bewußtsein gehörenden Momenten und den darin bewußten Bestandstücken unterscheiden, m.a.W. zwischen den hyletischen/noetischen und den noematischen Bestandstücken. Die noematischen Momente gehören dem Erlebnis in einem andersartigen Sinne zu als das Reelle. Und hier finden wir auch eine „ganz anders geartete" Reflexion. Wenn wir Reflexion im weiten Sinne ausüben, wird das Erlebnis als solches thematisch abgehoben. Der Gegenstand des Erlebnisses wird dabei ra/fabgehoben, aber er wird zunächst nicht ausdrücklich thematisch. Wenn ich den Blick auf den Akt „Kuchenbacken" richte, dann wird das Erlebnis als solches thematisiert, eine weitere Thematisierung kann die reellen Momente des Aktes analysieren, d.h. die hyletischen und die noetischen Momente. Dabei wird stets der Gegenstand Kuchen m/rthematisiert, bleibt aber bei dieser Reflexion im Hintergrund. Eine Reflexion im engeren Sinne richtet sich auf den intentionalen Gegenstand, aber jetzt nicht auf den im Hintergrund mitabgehobenen Gegen-
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stand, sondern auf den Gegenstand als solchen, im Vordergrund. Reflexion im engeren Sinne wird also innerhalb der noematischen Momente durchgeführt. Diese andere Möglichkeit der Reflexion wird in den , Ideen Γ folgendermaßen ausgedrückt: Zunächst muß wohl beachtet werden, daß jeder Übergang von einem Phänomen in die Reflexion, die es selbst reell analysiert, oder in die ganz anders geartete, die sein Noema zergliedert, neue Phänomene erzeugt, und das wir in Irrtümer verfallen würden, wenn wir die neuen Phänomene, die in gewisser Weise Umbildungen der alten sind, mit diesen verwechselten und was in diesen reell oder noematisch liegt, den ersteren zuschreiben (ebd., S. 205, k.g.v.m.). 5 1
Die noematische Reflexion besagt dann, daß der intentionale Gegenstand für sich betrachtet werden kann, obwohl dies keine Selbständigkeit bezüglich des Noetischen meint: „das Eidos des Noema weist auf das Eidos des noetischen Bewußtseins hin, beide gehören eidetisch zusammen", jedoch: „Trotz dieser Unselbständigkeit läßt sich aber das Noema für sich betrachten [...]" (ebd., S. 206). Wie geschieht diese andersartige reflexive Modifikation? In den ,Ideen II' wird sie in bezug auf das, was Husserl dort die „theoretische Einstellung" nennt, weiter ausgearbeitet. Dies kann folgendermaßen geklärt werden: Seit den L U hat Husserl klar gemacht, daß die Arbeit der Phänomenologie voraussetzungslos geführt sein muß, d.h. nicht von Theorien oder Meinungen geleitet, sondern von den Sachen selbst. Die Sachen selbst müssen gesehen, angeschaut werden. Im nächsten Paragraphen werden wir eine ausführliche Analyse der Anschauung vornehmen. Hier können wir nur vorwegnehmen, daß die Möglichkeit besteht, auf die schlichte sinnliche Anschauung eine fundierte aufzubauen. D.h., die sinnliche Wahrnehmung wird modifiziert. Zu den bestimmten Modi der Anschauung gehört wesentlich die Möglichkeit, modifiziert zu werden. Diesbezüglich stellt Husserl am Anfang der ,Ideen II' die Möglichkeit der Gewinnung einer ErkenntnisEinstellung, einer „theoretischen Einstellung", dar. Diese muß das Erkenntnismäßige als Gegebenes gewährleisten. Sie muß durch eine erkenntnistheoretische Anschauung geleitet werden. Die philosophisch-phänomenologische Erkenntnis wird nicht durch eine schlichte sinnliche Anschauung gewonnen, sondern durch deren Modifikation, die eine neue Gegenständlichkeit ergibt: die kategorialen Sachverhalte. Parallel zur „theoretischen Einstellung" können andere Einstellungen zustande kommen, z.B. eine Einstellung, die nicht die Sackverhalte berücksichtigt, sondern die Wterrverhalte, d.h., eine durch die Wertanschauung gewonnene Werteinstellung. Dort wird 51
P. Ricoeur erwähnt in seinem Aufsatz , Analyses et problèmes dans „Ideen I I " de Husserl' diese réflexion noématique und hebt heraus, „que c'est le cogitatum, non le cogito, - le noème non la noèse - qui est élucidé" in: Revue de Métaphysique et de Morale 56 (1951), S. 357-394; hier S. 364.
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das Werthafte angeschaut, aber es ist strenggenommen keine erkenntnisgebende Anschauung, keine „theoretische". Das Entscheidende ist hier, daß die Einstellungsmodifikation nicht durch eine Blickwendung des Erlebnisses als solches oder des Zum-Gegenstandmachens geschieht, sondern durch eine Blickwendung innerhalb des intentionalen Gegenstandes, d. h. bezüglich des Noema. Daher betrachtet Husserl in den ,Ideen I I ' diese andersartige Reflexion als eine Erweiterung des allgemeinen Sinnes der Reflexion: „,Reflexion' ist hier in einem erweiterten Sinne genommen, der nicht nur die Erfassung von Akten, sondern jede , Rückwendung', bzw. Abwendung von der natürlichen Einstellungsrichtung auf das Objekt in sich befaßt" (Hua IV, S. 5, k.g.v.m.). Wenn ich einen Gegenstand sinnlich anschaue, wird er schlicht gegeben. Ich kann aber denselben Gegenstand auch in einer Gemütseinstellung erfahren, etwa im Entzücken (ebd., S. 8). Dabei wird aber eine neue Gegenständlichkeit gegeben: der Gegenstand der Gemütseinstellung ist jetzt nicht mehr der Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung. Er ist vielmehr eine fundierte Gegenständlichkeit. Wenn ich eine Sache als häßlich betrachte, wird dabei ebenfalls eine fundierte Gegenständlichkeit gegeben. Die Gemütseinstellung ist fundiert, insofern ich das Entzückende am Gegenstand selbst erfahre, so wie ich bei der Gefallenseinstellung das Häßliche am Gegenstand anschaue. Die Prädikate sind dann nicht auf die Akte, sondern auf den Gegenstand bezogen. Die sog. „theoretische Einstellung" ihrerseits macht eigentlich oder explizit das, was vorher nicht kategorial erfaßt wurde. In diesem Sinne ist das, „was ,vor-theoretisch' bewußt und gegenständlich war, als in der nachkommend ,enthüllenden' reflektiven theoretischen Erfassung in seiner Gegenständlichkeit ,eigentlich* bewußt" (ebd., S. 11, k.g.v.m.). Wir müssen aber an dieser Stelle darauf aufmerksam machen, daß das, was Husserl hier als „vor-theoretisch" bezeichnet, nur auf das hindeutet, was sich außerhalb dieser bestimmten objektivierenden Einstellung, dieser „theoretischen Einstellung", befindet, nämlich das Gegebene der sinnlichen Anschauung und das Gegebene der anderen fundierten Anschauungsmodi. Strenggenommen ist „vor-theoretisch" bei Husserl bereits theoretisch oder befindet sich in einem von Hause aus theoretischen Rahmen seiner Phänomenologie. Die hier genannte „theoretische Einstellung" bedeutet dann nur ein Explizit-machen des bereits implizit Theoretischen. Daher wird durch diese Einstellung das eigentlich Bewußte gewonnen, aber eigentlich heißt hier nur explizit. In diesem Sinne ist der Schritt vom „Vor-theoretischen" ins „Theoretische" ein durch Reflexion geleiteter Schritt vom Impliziten ins Explizite. Husserl zufolge können wir sagen, daß die „theoretische Einstellung" eine „phänomenologisch ausgezeichnete Weise" ist, in der sich das Ich be-
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findet. In der „theoretischen Einstellung" sind die Gegenstände nicht nur für mich schlechthin sinnlich da, sondern ich erfasse sie erkenntnismäßig, sie werden objektiviert. Das Ich ist erfassend oder objektivierend. Die Gegenstände werden dann theoretisch gemeint. Dies deutet darauf hin, daß, wenn die Gegenstände „vor-theoretisch" vorgegeben sind, „erst durch eine Wendung des theoretischen Blickes, bzw. eine Änderung des theoretischen Interesses [...] sie aus dem Stadium der vor-theoretischen Konstituierung in das der theoretischen [kommen]" (ebd., S. 4 f.). Diese Möglichkeit ist eine Eigentümlichkeit der theoretischen Einstellung: „alle Akte, die nicht von vornherein theoretische sind, lassen sich durch Einstellungsänderung in theoretische Akte verwandeln" (ebd., S. 8). Wir können dies in bezug auf unser Beispiel deutlicher machen: wenn ich meinen gerade gebackenen Kuchen sehe und ihn „köstlich" oder „schön" finde, bin ich bereits in einer Gefallenseinstellung, in welcher ich einen Gegenstand nicht nur sinnlich wahrnehme, sondern ihn „gefällig" finde. Dieses „gefällig" ist aber ein Prädikat, das nicht auf den Akt „Kuchenbetrachten" bezogen ist, sondern auf den Gegenstand Kuchen. Diese Gefallenseinstellung kann in die „theoretische" übergehen, wenn ich, anstatt diesen Gefallensakt zu vollziehen, ihn durch Einstellungsänderung in einen anderen Modus bringe: „[er] ist noch Erlebnis, aber ich lebe nicht in dem ausgezeichneten Sinn in [ihm]" (ebd., S. 14). Es geschieht eine Blickwendung in bezug auf den Gegenstand selbst. Durch die bestimmte Blickwendung entdecke ich das Erkenntnismäßige im Gegenstand, das Kategoriale. Dieser andersartige Begriff der Reflexion erlaubt uns mit evidenter Klarheit zu sehen, daß die Phänomenologie Husserls von Hause aus reflexiv vorgeht. D.h., wenn die Absicht Husserls erkenntnistheoretisch geführt wird, kann die im Prinzip aller Prinzipien gemeinte Anschauung keine sinnliche vorphilosophische sein. Vielmehr ist sie eine streng erkenntnismäßige, d.h. eine kategoriale bzw. geistige, die etwas am Gegenstand entdeckt, was die vorphilosophische Anschauung nicht entdecken kann, und das heißt, daß sie wesensmäßig nur reflexiv ermöglicht wird. Sie kann nur durch die spezifische Blickwendung zum vordem-nicht-Gesehenen des Gegenstandes, d.h. durch Reflexion im engeren Sinne zustande kommen. Bei der erkenntnismäßigen Anschauung geschieht zunächst kein Zum-Gegenstand-machen des Aktes, sondern eine Modifikation der Gegenständlichkeit und eine Einstellungsänderung des betrachtenden Ichs. Wenn Husserl diese geistige Anschauung im Prinzip aller Prinzipien meint, dann müssen wir hier hinzufügen, daß sie unumgänglich eine geistig-reflexive Anschauung ist. Nur durch sie können wir die Sachen als solche erkenntnistheoretisch anschauen. Daher schreibt Husserl in den , Ideen Γ , daß die Reflexion „der Titel der Bewußtseinsmethode für die Erkenntnis von Bewußtsein überhaupt" ist (Hua III/1, S. 147, k.g.v.m.).
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d) Stufen der Reflexion Aber die in den zwei Richtungen entfaltete Reflexion hält sich nicht nur auf einer einzigen, schlichten Ebene. Im Laufe der Untersuchung begegneten vielmehr bereits, wenn auch nicht stets ausdrücklich als solche herausgehoben, verschiedene Stufen, auf welche sich die Reflexion erstrecken kann. 52 Die einfachste ist die natürliche, vorwissenschaftliche Reflexion. Diese Reflexion befindet sich, wie wir bereits betont haben, auf dem Boden der als seiend vorgegebenen Welt, also auf dem Boden der Generalthesis des Weltglaubens. Wenn ich sage: ,ich sehe den Kuchen' oder ,ich erinnere mich an das Rezept', bin ich auf die durchlebten Erlebnisse gerichtet, bleibe aber in der „mundanen Erfahrung" befangen. Eine andere Stufe bildet die wissenschaftlich-psychologische Reflexion, die uns einen Zugang zu den vermeinten bewußtseinsmäßigen Gegebenheiten ermöglicht. Hier wird die Sphäre des Bewußtseins als ein weites Forschungsfeld der phänomenologischen Beschreibung aufgeschlossen. Bei dieser Reflexion lenken wir den Blick auf die intentionalen, auf Gegebenheiten gerichteten Akte des Vorstellens, des Wahrnehmens, des Fühlens, usw. Diese Reflexion verbleibt aber Husserl zufolge stets innerhalb der natürlichen Einstellung: Bloße Reflexion, und noch so sorgsam beobachtende, analysierende und noch so sehr auf mein rein Psychisches, auf mein reines seelisches Innesein gerichtete, bleibt ohne solche Methode [transzendentale Reduktion und έποχή, Α. X.] natürliche psychologische Reflexion und bleibt, was sie - in noch so unvollkommener Gestalt - auch schon war: mundane Erfahrung. Dieses rein Seelische ist eben und bleibt Seelisches, Innerlichkeit einer fortgeltenden Äußerlichkeit (Hua VIII, S. 79, k.g.v.m.).
Wenn aber durch έποχή die transzendentale Reduktion ausgeübt wird, dann verlasse ich die natürliche, naive Einstellung, und es gelingt mir, die transzendentale konstituierende Sphäre zu erreichen. Die Reflexion, die dort durchgefühlt wird, ist die höchste und strengste Gestalt der phänomenologischen Behandlungsart der Phänomene, da ich in der transzendentalen Sphäre den ursprünglichen konstitutiven Boden der naiven Blickwendung finde. Dort werden die Phänomene, wie wir bereits herausgehoben haben, als Phänomene erblickt. Die Stufen, die in der Reflexion durchlaufen werden, deuten nur auf die Ursprünglichkeitssphäre hin, in der das Zum-Gegenstand-machen oder die Blickwendung vollzogen wird. Das Wesen der Reflexion ändert sich damit jedoch nicht, d.h. das Wesen der Reflexion, nämlich das Zum-Gegenstandmachen bzw. die Blickwendung, bleibt unberührt. 52
Vgl. ferner E. Ströker,
Phänomenologische Studien, S. 39 ff.
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Zusammenfassend können wir die wichtigsten Charaktere der Reflexion folgendermaßen herausheben: 1. Die Reflexion ist ein bestimmtes Brechen des jeweiligen Erlebnisses bzw. des jeweiligen Blickes auf den Gegenstand. 2. Das Brechen des Erlebnisses ermöglicht ein Zum-Gegenstand-machen des Erlebnisses selbst oder eine bestimmte „theoretische" Betrachtung des Gegenstandes. 3. Dadurch geschieht eine wesentliche Modifikation des Angeschauten: das Erlebnis wird zum erblickten Erlebnis, der Gegenstand wird zum „theoretischen Gegenstand", d.h. es gibt eine neue Gegenständlichkeit. 4. Es geschieht zugleich eine Modifikation des reflektierenden Ichs: es lebt nicht mehr im vorreflektierten Erlebnis, sondern gerade im reflektierenden Erlebnis oder es befindet sich in einer anderen Einstellung: in der „theoretischen Einstellung". Aufgrund des Entfalteten können wir betonen, daß die Möglichkeiten der Phänomenologie für Husserl an der Leistungsfähigkeit der Reflexion hängt. Anders gewendet: die phänomenologische Methode kann für Husserl die Phänomene nur durch die geistig-reflexive Anschauung entdecken und behandeln. Damit dies deutlicher verstanden werden kann, wenden wir uns zunächst der Analyse der Anschauung bei Husserl zu.
§ 18. Der wesenhaft reflexive Charakter der Anschauung bei Husserl Hinsichtlich der Formulierung des Prinzips aller Prinzipien wurden im § 16 zwei Fragen offengelassen: Was meint Husserl in der Forschungsmaxime mit den Sachen selbst und was heißt Anschauung im Prinzip aller Prinzipien? Beide Fragen werden zunächst zusammen ausgearbeitet, da die Anschauung sich als das ausweist, wodurch die Sache selbst gegeben wird.
a) Die sinnliche Anschauung Husserl unterscheidet grundsätzlich zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung. Im sechsten Kapitel der 6. L U führt er diesbezüglich eine umfassende Ausarbeitung durch. Man muß sich hier freilich vor möglichen Mißverständnissen hüten. Anschauung bzw. Intuition deutet auf keinen „Intuitionismus" hin, sondern meint immer ein bestimmtes Sehen. 53 Dieses Sehen muß aber im Kontext des Anliegens der 6. L U verstanden werden. Dort zeigt sich die Anschauung nicht als irgendein Sehen, sondern als eine bestimmte Erfüllungsfunktion für signitive Intentionen. Dies müssen wir erläutern. 53
Ich beziehe mich hier auf das Mißverständnis, das bereits Fink ausführlich widerlegt hat. Vgl. Fink, Studien, S. 88 ff.
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In der 1. L U unterscheidet Husserl zwei Arten von Zeichen: das Anzeichen und den Ausdruck. 54 Ersteres sind bedeutungslose Zeichen, während das zweite bedeutsame Zeichen benennt. Was besagt dies? Es heißt, daß der Ausdruck durch die Bedeutung eine Beziehung auf Gegenständliches besitzt. Im Ausdruck wird etwas gemeint, während die Anzeichen nur anzeigen, aber sie meinen eigentlich nichts. Die Beziehung auf Gegenständliches, die zu jedem Ausdruck wesenhaft dazugehört, kann zweierlei sein: intentional und intentional-erkenntnismäßig. Im ersten Fall zeigt sich die Beziehung zum Gegenständlichen nur als eine Bedeutungsintention, durch einen intendierenden Sinn. Dies wird das eigentliche Thema der 1. LU. Im zweiten Fall geschieht nicht nur eine Bedeutungsintention, sondern eine Bedeutungse//w7/wrcg. D.h., die Beziehung zum Gegenständlichen besteht nicht nur in einer intentionalen Bedeutung, sondern in einem erfüllenden Sinn. In diesem Fall wird der Akt nicht nur als ein intentionaler Akt, sondern als ein intentional-erkenntnismäßiger charakterisiert, da hier das Wesen des Aktes nicht ein intentionales, sondern ein erkenntnismäßiges Wesen ist. Der Unterschied zwischen dem intentionalen und dem erkenntnismäßigen Wesen besteht darin, daß bei letzterem ein anderes Moment hinzugefügt wird: die Fülle. Diese ist es, die dem intendierenden Akt Neues hinzufügt: den intuitiven Inhalt (Hua XIX/2, S. A 541, A 560, A 568). Das Neue bedeutet hier, daß das Gegenständliche in anschaulicher Weise dargestellt wird. Diese erkenntnismäßige Weise der Beziehung zwischen Ausdruck als Bedeutungsintention und Gegenständlichem wird das eigentliche Thema der 6. L U . 5 5 Da diese Beziehung die Erkenntnis ermöglicht, können wir sie als einen logos ansprechen, der die Erkenntnis gewährt: als eine ratio cognoscendi (πρότερον προς ήμας). Es geschieht hier somit eine logische Synthese zwischen der Bedeutungsintention und der Bedeutungserfüllung. Damit können wir klar sehen, daß die Rede von Anschauung auf keinen „Intuitionismus" hinweist. Anschauung bei Husserl wird immer in bezug auf signitive Intentionen betrachtet. 56 Anschauung zeigt sich dann innerhalb der Beziehung zwischen Ausdruck und Gegenständlichem und erfüllt die Bedeutungsintention durch eine Adaequatio. D.h. das, was in der Bedeutungsintention gemeint ist, deckt sich mit dem, was in der Anschauung gegeben ist. In dieser Adaequatio geschieht eine Modifikation der vorher unerfüllten Bedeutungsintention: „Zunächst ist dabei die Bedeutungsintention, und zwar für sich gegeben; 54
Vgl. weiter unten § 22 der vorliegenden Arbeit. Daher unterscheidet Hejfernan zwischen einer Bedeutungstheorie, d. h. der Beziehung zwischen Ausdruck und Bedeutung in der 1. LU, und einer Evidenztheorie, d.h. der Beziehung zwischen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung, in der 6. LU. Bedeutung und Evidenz, S. 49. 56 Vgl. dazu näher E. Ströker, Phänomenologische Studien, S. 16 ff. 55
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dann erst tritt entsprechende Anschauung hinzu" (Hua XIX/2, S. A 505). Die Bedeutungsintention hatte eine Beziehung auf das Gegenständliche, aber es war eine leere Beziehung, da das Gegenständliche nicht selbst gegeben war. In diesem Sinne legt Heidegger selbiges im SS 1925 als Leermeinen aus (GA 20, S. 54, 59, 65 ff.). Durch die anschauliche Modifikation wird das Gegenständliche selbst gegeben. Diese Adaequatio wurde von Husserl auch als Evidenz bezeichnet. In diesem Sinne können wir sagen, daß Evidenz das Erlebnis der Selbstgegebenheit einer Sache ist. 5 7 Wir haben bereits bemerkt, daß nur in dieser Art von Beziehung Erkenntnis stattfindet. Erkenntnis ist nur in dieser Deckung oder Identifizierung von intendierendem und erfüllendem Sinn möglich. Da die Deckung mehr oder minder adäquat zustande kommt, kann man von verschiedenen Erkenntnisstufen sprechen. Daher spricht Husserl in der 6. L U von Evidenz im laxen und im strengen Sinne. 58 Wenn die Anschauung die eigentliche erkenntnistheoretische Beziehung, d.h. die erkenntnismäßige Beziehung zwischen der Bedeutungsintention und dem Gegenständlichen ermöglicht, und die Erkenntnis verschiedene Stufen haben kann, dann kann man zu Recht von verschiedenen Anschauungsarten sprechen. Die Anschauung bietet dann verschiedene Zugänge zu den Gegenständen der Erkenntnis. D.h., der Gegenstand kann in einer logischen Synthese erkannt werden, aber zunächst nicht in seinem Wesen, in seiner Struktur. In diesem Fall wird der Gegenstand sinnlich gegeben, d.h. in sinnlicher Anschauung. Unterliegt aber der Gegenstand einer andersartigen Synthese, die seine Struktur heraushebt, dann wird er als solcher erkannt. Der Gegenstand wird dann durch eine phänomenische Synthese entdeckt, die die ratio essendi (πρότερον τ ή φύσει) aufweist. In diesem Fall zeigt sich nicht bloß das Sinnliche, sondern das Kategoriale. Wir werden sehen, daß im philosophischen Erkennen eines Gegenstandes als Gegenstand eine doppelte Synthese versteckt ist: eine logische und eine phänomenische. Daher ist die volle philosophische Synthese als eine phänomenologische zu sehen.
57
Vgl. E. Ströker, Phänomenologische Studien, S. 8 ff. Vgl. Hua X I X / 2 § 38, S. A 592. Wahrheit ist bei Husserl nicht als eine bloße „Logos-Wahrheit" zu sehen, sondern als eine Deckung, Adaequatio, in welcher die Anschauung eine entscheidende Rolle spielt. Daher bemerkt Dastur mit Recht, daß man hier von einer „Anschauungswahrheit" sprechen kann; F. Dastur, Heidegger und die „Logischen Untersuchungen", in: Heidegger Studies 7 (1991), S. 37-51, hier S. 46. In diesem Sinne bleibt die Wahrheit bei Husserl nicht im Urteil gefangen, aber an dieses gebunden, wie Watanabe bereits herausgehoben hat; J. Watanabe, Categorial Intuition and the Understanding of Being in Husserl and Heidegger, in: J. Sallis (Hrsg.), Reading Heidegger. Commemorations, S. 109-117, hier S. 110-115. 58
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Mit der Unterscheidung sinnlich-kategorial geht Husserl auf die seit der Antike überlieferte und vorherrschende These der αϊσθησις und νόησις zurück. Die in der Tradition vorherrschende These sagt, daß die sinnliche Wahrnehmung, die αισθησις, der primäre fundierende Zugang zur Welt und zu den weltlichen Dingen ist. Daß alle anderen zur Welt gehörigen Charaktere auf der αισθησις aufbauen, schien in der Tradition den Rang eines Gemeinplatzes zu haben. Νόησις bzw. Verstand war die Weise, wie diese in erster Linie gegebene αϊσθησις erfaßt wurde. Diese Einsicht konstituierte den selbstverständlichsten Zug aller Erkenntnistheorien und erwies sich als scheinbar unantastbare Auslegung, die das ganze abendländische Denken bestimmt hat, Husserl eingeschlossen. In diesem Sinne ist die sinnliche Anschauung das, was uns zunächst eine bestimmte Weise des Gegenständlichen gibt: das real individuelle Gegenständliche. D.h. das Gegenständliche, das ich selbst oder direkt in einem Schlage erfasse. Mit sinnlich meint Husserl diese unterste Stufe der Anschauung, in der die Gegenstände einfältig vor mir da sind: „Sinnliche Gegenstände sind in der Wahrnehmung in einer Aktstufe da" (Hua XIX/2, S. A 618). Sinnlich erstreckt sich auf verschiedene Gestalten. Der Gegenstand kann mir in einer Erinnerung oder Erwartung gegeben werden, oder in einer Wahrnehmung als gegenwärtig gegeben. Der ausgezeichnete Modus der Anschauung ist der Modus, in dem der Gegenstand vor mir in originärer Weise gegeben ist. Dies nennt Husserl leibhaftig. 59 M.a.W., wenn ich mich an einen Gegenstand erinnere oder auf einen Gegenstand warte, ist der Gegenstand nicht bloß bildhaft, sondern er ist selbst, obwohl nicht leibhaftig, gegeben. Der erinnerte oder erwartete Gegenstand ist aber sinnlich angeschaut, insofern diese Modi von der Urimpression, wie Husserl den gegenwärtigen Modus nennt, abhängen. Hier ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die Leibhaftigkeit für Husserl der ausgezeichnete, originäre Modus ist, in dem die Sachen selbst gegeben sind. Die sinnliche Anschauung ist dann ein Akt, der eine leere Intention erfüllen kann. Diese Erfüllung geschieht in einer fundierenden Stufe, da die sinnliche Anschauung einen Gegenstand in schlichter Weise gibt. Das Schlichte dieser fundierenden sinnlichen Anschauung bedeutet nicht, daß die Erkenntnis derselben ebenfalls schlicht vollzogen würde. Wir haben bereits bemerkt, daß die Erkenntnis der sinnlichen Anschauung als eine logische Synthese geschieht. In diesem Sinne dürfen wir hier die Evidenz, die in der erkenntnismäßigen Identifizierung stattfindet, nicht mit dem schlichten Charakter dieser Anschauung verwechseln. Evidenz, insofern sie immer an eine Beziehung zwischen der Bedeutungsintention und der Erfüllungsintention anknüpft, ist kein schlichter Akt, sondern ein gestufter. Mit anderen 59
Vgl. dazu GA 20, S. 53 f.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der Phänomenologie
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Worten: Evidenz ist immer eine Beziehung zwischen dem Gemeinten und dem Angeschauten. Sie deutet bei Husserl auf die ratio cognoscendi hin. In diesem Sinne gibt es bei Husserl eigentlich keine schlichte Evidenz. 60 Die sinnliche Gegenständlichkeit, die in der sinnlichen Anschauung gegeben wird, wird von Husserl als schlicht charakterisiert. Husserl zufolge kann dies folgendermaßen geklärt werden: In der schlichten ursprünglichen Anschauung ist der Gegenstand leibhaftig gegeben: der Gegenstand ist einfältig vor uns da (Hua XIX/2, S. A 624). 61 Obwohl der Gegenstand durch Abschattungen gegenwärtig ist, ist er trotzdem derselbe Gegenstand, ist identisch derselbe. Dies heißt, daß ich den Gegenstand perspektivistisch oder kontinuierlich sehe, aber ich sehe ein Ding. 6 2 Hier geschieht nur eine „Verschmelzung von Partialakten zu einem Akt" (ebd., S. A 621). Der Verlauf hat den Charakter einer phänomenologischen Einheit, in welcher die einzelnen Akte verschmolzen sind. In diesem Fall erscheint kein neuer Aktcharakter, freilich zeigt die schlichte Wahrnehmung nur eine Aktstufe: ihr Gegenstand konstituiert sich in schlichter Weise, d. h. ohne beziehende oder gegliederte Akte. Wenn ich mit einem Freund über den Kuchen, den ich für das letzte Fest gebacken habe, spreche, wird im nominalen Ausdruck ,Kuchen' eine Bedeutungsintention ausgedrückt, die bereits im erinnerten angeschauten Kuchen ihre Fülle hat. Die bestimmte Erkenntnis des Kuchens, die durch diese Deckung zum Vorschein kommt, deutet auf eine logische Synthese zwischen der Bedeutungsintention und der angeschauten Fülle hin. Dabei ist aber das Angeschaute nicht leibhaftig gegeben, da die hier erinnerte Fülle von der gegenwärtigenden Urimpression abhängt. Wenn ich aber in die Küche tretend, den gerade gebackenen Kuchen schauend, im nominalen Ausdruck ,Kuchen' sage, deckt sich die Bedeutungsintention mit dem leibhaftigen angeschauten Kuchen. Es geschieht eine andere Stufe der Erkenntnis. Der Kuchen wird hier als Kuchen nicht herausgehoben. 60
Vgl. dazu E. Stroke r, Phänomenologische Studien, S. 8 ff. Heidegger formuliert dies im SS 1925 folgendermaßen: „ I m schlichten Erfassen ist die Gegenstandsganzheit explizit gegeben im Sinne der leibhaftigen Selbigkeit des Dinges", GA 20, S. 83. 62 Ich höre eine Melodie, nicht Ton-folge oder ich sehe einen blauen Tisch und nicht Farb-Empfindungen. Dies wird deutlich, wenn wir uns den Unterschied zwischen intentionalem Inhalt und intentionalem Gegenstand vergegenwärtigen: im Akt erleben wir einen Inhalt (reell) aber wir sind nicht auf ihn gerichtet, d.h. wir sind nicht auf die Empfindungen und die Apperzeption gerichtet. Wir sind auf einen Gegenstand gerichtet, aber der Gegenstand gehört dem Akt anders zu, daher ist die Relation zwischen Akt und Gegenstand intentional, nicht real. Der Akt als ein intentionales Erlebnis erlebt etwas, das kein Gegenstand ist: der Gegenstand ist nicht erlebt, er ist gesehen, gerochen, gedacht, usw. Wir sind auf den Gegenstand gerichtet, aber wir erleben eine Empfindungskomplexion. Vgl. Hua XIX/1, S. A 329. 61
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Die sinnliche Kuchen-Erkenntnis ist einer logischen Synthese, ratio cognoscendi, untergeordnet, nicht aber einer phänomenischen Synthese, ratio essendi. D.h. der Kuchen ist noch nicht in seiner Struktur kategorial entdeckt. Dies wird erst möglich, wenn eine Blickwendung innerhalb des Gegenstandes geschieht. Und dies wird, wie wir im vorangegangenen Paragraphen erläutert haben, durch Reflexion im engeren Sinne möglich. Durch Reflexion wird der Blick auf das Ermöglichende im Gegenstand umgewendet. Daher sagen wir, daß der Gegenstand hier einer phänomenischen Synthese unterliegt, insofern er dadurch als Gegenstand zum Vorschein kommen kann. Das Kategoriale als das die Erscheinung des Gegenstandes Ermöglichende wird erst durch eine Blickwendung herausgehoben. M.a.W., die implizite ratio essendi wird durch die Reflexion explizit gemacht, eigentlich gesehen. Diese andersartige Anschauung, die hier geschieht, ist dann keine sinnliche, sondern eine geistige, keine αϊσθησις, sondern νόησις.
b) Die kategoriale Anschauung Einige ausgezeichnete Ausarbeitungen haben bereits auf die Wichtigkeit der kategorialen Anschauung für die Phänomenologie Heideggers hingewiesen. Sie haben hauptsächlich ihre Bedeutsamkeit bezüglich der Seinsfrage herausgehoben, d.h. in bezug auf die von Heidegger selbst erwähnte Tatsache, daß Husserl die Seinsfrage „berührt oder streift" (VS, S. I l l ; ZSD, S. 86). 6 3 Da sich das Anliegen unserer Untersuchung auf den methodischen Zugang richtet, werden wir zunächst einige methodische Elemente herausheben, die im Zusammenhang mit dem stehen, was im vorangegangenen Paragraphen zu sehen war, nämlich im Zusammenhang mit der Reflexion. Da wir davon ausgehen, daß ein wesentlicher Bezug zwischen dem Thema (Was) und der Methode (Wie) besteht, werden wir zunächst die We-Seite berücksichtigen. Dadurch werden wir die thematische Seite aus anderer Perspektive sehen können. D.h. die Tatsache, daß die Intentionalität des Bewußtseinslebens Thema der Phänomenologie Husserls und die Frage nach dem Sein Thema der Phänomenologie Heideggers war, wird deutlicher werden, wenn wir der Weise, wie Husserl und Heidegger methodisch vorgingen, Aufmerksamkeit schenken.
63 Vgl. F. Dastur, Heidegger und die „Logischen Untersuchungen"; J. Watanabe, Categorial Intuition and the understanding of Being in Husserl and Heidegger; E. Richter, Heideggers Kritik am Konzept einer Phänomenologie des Bewußtseins, in: P.-L. Coriando (Hrsg.), Vom Rätsel des Begriffs, S. 7-29.
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In diesem Sinne werden wir die kategoriale Anschauung zunächst nicht unmittelbar bezüglich einer evtl. Berührung mit der Seinsfrage Heideggers berücksichtigen. Vielmehr werden wir sehen, wie sie methodisch geführt ist und welche Konsequenzen dies für den methodischen Zugang Heideggers mit sich bringt. Wir können an dieser Stelle schon vorwegnehmend sagen, daß die kategoriale Anschauung, insofern sie thematisch die Seinsfrage berührt hat, auch methodisch in die Nähe der hermeneutischen Vorgehensweise kam. Die Diskussion, ob Husserl tatsächlich die Frage nach dem Sein gestellt hat oder nicht, ist m.E. nicht sachgemäß zu beantworten, wenn wir nicht auch das Wie dieses Fragens berücksichtigen. Wenn Husserl die Seinsfrage durch die kategoriale Anschauung gestellt hat, wie einige Kommentatoren Husserls meinen, 64 dann müssen wir dabei klar sehen, daß Husserl dieser Frage nur reflexiv nachgegangen ist. Und hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu Heideggers Fragestellung nach dem Sein. Durch Reflexion blieb Husserls Seinsfrage im Bewußtsein befangen, da Sein für ihn nur reflexiv erkanntes Sein sein kann. 65 In diesem Sinne können wir vorwegnehmen, daß die Fragestellung nach dem Sein bei Husserl nicht die Frage nach dem Sein als solchem ist. Nach diesen Bemerkungen gehen wir auf einige Elemente der kategorialen Anschauung bei Husserl ein. Was bedeutet kategoriale Anschauung? Bei der sinnlichen Wahrnehmung ist bereits die Art der gegenständlichen Beziehung vertraut geworden, aber was geschieht, wenn diese Beziehung eine nicht bloß schlichte bleibt? Z.B. wenn ich sage ,Ein Kuchen und ein Kartoffelauflauf' oder , Dieser Kuchen ist groß 4 oder ,Der Kuchen steht links vom Fenster' oder ,Die Äpfel im Kuchen' usw. In allen diesen Beispielen tauchen einerseits Elemente auf, die eine Adäquation auf der Stufe der sinnlichen Anschauung problematisch machen, und andererseits zeigen sich Beziehungen, die allein im Rahmen der sinnlichen Anschauung nicht gesehen werden können. ,Ein', ,und', ,ist', usw. zeigen keine Entsprechung in der sinnlichen Anschauung, der räumliche Bezug oder die Teil-Ganzes Deutung kann auch nicht durch die sinnliche Anschauung verständlich werden. Dies deutet Husserl zufolge darauf hin, daß in der vollen Wahrnehmungsaussage ein Überschuß an Intentionen liegt. 6 6 Wie muß dies geklärt werden?
64 Vgl. z.B. J. Taminiaux, Heidegger and Husserl's Logical Investigations, in: J. Sallis (Hrsg.), Radical Phenomenology, S. 58-83. Nach seinen Analysen kommt Taminiaux zu folgendem Ergebnis: „There exists therefore a version of the ontological difference in Husserl's early work", S. 80. 65 Vgl. dazu Bernet/ Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 166. 66 Aber der Überschuß liegt nicht nur in Aussagen der genannten Art, sondern z.B. auch, wenn man sagt ,weißes Papier', was bedeutet: weiß seiendes Papier.
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In der Tradition seit Locke wurde dies als eine immanente Wahrnehmung in der Reflexion der äußeren Wahrnehmung, der Perception , gegenübergestellt. 67 In diesem Sinne wurden die Kategorien Qualität, Quantität, Modalität und Relation einfach als eine Reflexion auf gewisse psychische Akte verstanden. Kant hat dies radikalisiert und gezeigt, daß die Kategorien nur unsinnlich dem Subjekt zugehörig verstanden werden können. 68 Husserl zufolge kann aber das Kategoriale nicht ohne weiteres mit immanenter Wahrnehmung oder dem Subjektiven identifiziert werden. Die Kategorien können nicht als bloße Reflexion auf psychische Akte betrachtet oder von der Kantschen Urteilstafel abgeleitet werden. Sie müssen sich vielmehr als eigenständige Korrelate bestimmter Akte ausweisen. In diesem Sinne sind Sein, Einheit, Mehrheit, usw. „[...] nichts Bewußtseinsmäßiges, nichts Psychisches, sondern Gegenständlichkeit eigener Art", wie Heidegger im SS 1925 sagt (GA 20, S. 80). M.a.W., die Eigentümlichkeit der kategorialen Anschauung bei Husserl besteht darin, daß sie das Kategoriale als Gegebenes behandelt und somit eine „transsubjektive Vorgegebenheit einer Offenbarkeitsdimension" zeigt, wie Held sagt. 69 Wenn die kategoriale Anschauung die Kategorien als eine eigenartige Gegenständlichkeit aufzeigt, dann müssen wir hier betonen, daß dies als eine fundierte Gegenständlichkeit geschieht: die neue Gegenständlichkeit gründet in bestimmter Weise in der alten. Dieses Gründen heißt, daß das Kategoriale nichts Freischwebendes ist, sondern immer anhand der Sinnlichkeit zu verstehen ist. 7 0 Die Kategorien sind Gegenständlichkeit eigener Art, die Hier deckt sich „die Intention des Wortes weißes [...] nur partiell mit dem Farbenmoment des erscheinenden Gegenstandes", Hua XIX/2, S. A 603. 67 Vgl. Hua XIX/2, S. A 611. 68 Wenn wir uns die Kategorientafel Kants vergegenwärtigen, können wir diese Zugehörigkeit des Unsinnlichen zum Subjekt sehen. Quantität, Qualität, Modalität und Relation gehören nicht zur sinnlichen Anschauung, wie Raum und Zeit, sondern zum Verstand. Von daher läßt sich die Aussage Kants „Sein ist kein reales Prädikat des Gegenstandes" verstehen, da es nicht real zum Sachgehalt (Was) eines Dinges gehört. Sein im vorkritischen Sinne wurde als eine zur Sache gehörende Bestimmung betrachtet. Für Kant ist aber Sein nichts Dinghaftes, nichts Gegenständliches. Vielmehr ist Sein als Existenz bzw. absolute Position für ihn „in Beziehung auf die Vermögen unseres Verstandes" zu betrachten; es ist also als Möglichsein, Wirklichsein, Notwendigsein, und das heißt als Modalität zu sehen. Vgl. ferner Heidegger, Kants These über das Sein, in: GA 9, S. 451 ff.; ders., GA 24, S. 35 ff.; ders., VS, S. 114. 69 Vgl. K. Held, Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie, S. 112. Im Seminar in Zähringen, 1973, wird Heidegger die kategoriale Anschauung als „eine Anschauung, die eine Kategorie erblicken läßt, oder eine Anschauung (ein Gegenwärtigsein für), die unmittelbar auf ε ine Kategorie gerichtet ist" kennzeichnen. Vgl. VS, S. 113. 70 Dastur deutet auf dieses Fundierungsverhältnis in der Weise hin, daß „dieser Aufbau des Kategorialen auf dem Sinnlichen die einzige Weise [ist], den Überschuß
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aber nur in bezug auf einen sinnlichen Gegenstand zu sehen sind. Daher sprechen wir von einer bestimmten phänomenischen Synthese. , Synthese4 meint hier, daß die Gegenständlichkeit der kategorialen Anschauung in gewisser Weise nicht „selbständig" ist, da sie auf einer schlichten Gegenständlichkeit fundiert. Aber sie erschließt diese alte Gegenständlichkeit in einer neuen Weise. Der Gegenstand ist nicht mehr in einem Schlage sinnlich da, sondern er ist jetzt neu erschlossen. Durch diese Erschließung werden die wesentlichen Charaktere, die die Sinnlichkeit ermöglichen, explizit gemacht. Sein, Substanzialität, Pluralität, usw. sind nicht willkürliche Charaktere, die an einem Gegenstand geklebt werden können. Sie sind vielmehr das, was die sinnliche Erscheinung des Gegenstandes ermöglicht. Die Rede von Synthese weist dann auf die Beziehung zwischen der alten Gegenständlichkeit und der neuen, d.h. der neuen Erschließung der alten hin. 7 1 Daher betont Richter in Anlehnung an Heideggers Auslegung mit Recht, daß „beide gegebenen Gegenständlichkeiten [...] als einheitliche Gegenständlichkeit' zu verstehen [sind]". 7 2 Im WS 1919/20 unterscheidet Heidegger zwischen dem phänomenologischen Sichtigen und dem phänomenologischen Gegebenen (GA 58, S. 218). Im Seminar in Zähringen 1973 wird Heidegger erneut auf diese Tatsache hinweisen, wobei er hier, in Anlehnung an Piaton, von zwei Weisen des Sehens spricht (VS, S. 115). Der Sache nach meint er damit, daß das, was wir bloß im vorphilosophischen Leben sehen (das Sichtige), nur eine Art des Sehens ist. Durch das philosophische Sehen wird aber das Unabgehobene (das Gegebene) des im vorphilosophischen Sehen Gesehenen abgehoben. Unabgehoben ist das phänomenologische Gegebene, das das Erfassen des Sichtigen ermöglicht. Ich sehe einen Kuchen, aber ich sehe nicht das Kuchen-sein; doch da der gesehene Kuchen ein seiender Kuchen ist, muß das Kuchen-sein das sein, was die Erscheinung des Kuchens ermöglicht. In der sinnlichen Anschauung bleibt das kategoriale Sein des Kuchens unabgehoben. Wir dürfen hier nicht vergessen, daß die Abhebung des Kategorialen bei Husserl nur durch eine Blickwendung, d.h. durch Reflexion, möglich wird. Durch die kategoriale Anschauung geschieht somit eine phänomenische Synthese, die die ratio essendi gewährt. Dies wurde in der Tradition als der an Bedeutung zu beschränken [...]", Heidegger und die „Logischen Untersuchungen", S. 45. 71 Mit der Rede von phänomenischer Synthese knüpfen wir an die Bemerkung Finks bezüglich der Vorwürfe zur Husserlschen Anschauung an. Anschauung ist bei Husserl weder ein „empirischer Intuitionismus" noch ein mystischer Akt. Sie ist vielmehr „das Korrelat einer Denkoperation, einer intellektiven Spontaneität", Studien, S. 89. 72 E. Richten Heideggers Kritik ... S. 21. Vgl. ferner GA 20, S. 83 f. 12 Xolocotzi
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Schritt von der αισθησις in die νόησις charakterisiert. Husserl wird sich ausdrücklich auf diese Auslegung stützen. Durch die kategoriale Anschauung wird die Sphäre der „Sinnlichkeit" verlassen und die des „Verstandes" betreten (Hua XIX/2, S. A 624). Die Heraushebung der Kategorien geschieht in verschiedenen Stufen, die sich ihrerseits als neue Fundierungen konstituieren können. Somit können wir sehen, daß die hochstufige Evidenz der Philosophie nur in diesem Fundierungsvorgehen zustande kommen kann. Die philosophische Anschauung zeigt sich dann nicht als eine schlichte sinnliche, sondern als eine fundierte kategoriale bzw. geistige Anschauung. Wir können hier deutlich sehen, daß die Möglichkeit des Fundierungszusammenhangs bei Husserl nur dank der im vorangegangenen Paragraphen entfalteten Reflexion im engeren Sinne zustande kommen kann. Hier kann aber der Einwand auftauchen, daß die Evidenz als Vollzug geschieht, d.h. daß die Adaequatio zwischen dem Gemeinten und dem Angeschauten (sinnlich oder kategorial) einfach vollzogen ohne Reflexion geschieht. 73 Wenn man diese Einsicht teilt, dann werden einerseits der grundsätzliche erkenntnistheoretische Ansatz Husserls und andererseits die beiden Sinne von Reflexion nicht berücksichtigt. Wir haben bereits bemerkt, daß sich die Phänomenologie Husserls im Rahmen einer in ursprünglicherer Weise durchgeführten erkenntnistheoretischen Problematik bewegt. Evidenz ist für ihn die Krönung der Analyse der LU, aber sie geschieht, wie wir oben bemerkt haben, als ein gestufter Akt: als eine bestimmte erfüllende Beziehung, die aufgrund einer schlichten oder fundierten Anschauung zur Dekkung kommen kann. Die erste Grundeinstufung der sinnlichen Anschauung gibt eine Erkenntnis, die aber bereits reflexiv ist. Es scheint so, als ob es, wenn ich , Kuchen4 sage, keine reflexive Beziehung gäbe. Aber dort steckt 73 Diese Meinung wird von R. Rodriguez in seinem Buch ,La transformación hermenéutica de la Fenomenologia4 dargestellt. Rodriguez hat den Ursprung der hermeneutischen Anschauung Heideggers im Modell der Husserlschen Evidenz gesehen. Rodriguez schreibt: „El anâlisis que alli [in der 6. LU] hace Husserl de la evidencia corno vivencia de la verdad es claramente, a mi juicio, el modelo que subyace a la intuición comprensiva ο hermenéutica", S. 87. Zuerst ist nicht klar, was er unter „Modell" versteht, aber in seiner Ausarbeitung läßt er erkennen, daß Heidegger den Anstoß aus dem nicht-reflexiven, vollzugshaften Akt der Evidenz bekommen hat. Dazu ist zu sagen, daß das, was Heidegger unter ,hermeneutischer Anschauung' versteht, in keiner Weise unter den Titel ,nicht-reflexiv' eingeordnet werden darf; denn, wie wir bereits bemerkt haben, ist das Reflexionslose oder das Unreflektierte bereits im reflexiven Rahmen befindlich. Andererseits kann der Vollzugscharakter der Evidenz auch kein „Modell" für die hermeneutische Anschauung sein, da sie bei Husserl wesensmäßig einen Erkenntnischarakter hat. Die hermeneutische Anschauung bekommt, wie wir sehen werden, ihren ursprünglicheren Ansatz aus der Radikalisierung des Grundprinzips der Phänomenologie. Dabei zeigt sich, daß Evidenz als eine hermeneutische Evidenz zu sehen ist, die ursprünglicher als die erkenntnistheoreische Evidenz Husserls und in keiner Weise reflexiv angetastet ist.
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darin eine logische Synthese, die zunächst nicht reflexiv thematisiert, aber gleichwohl grundsätzlich reflektierbar ist. Durch die kategoriale Anschauung wird das Ermöglichende der sinnlichen Anschauung explizit gemacht, d.h. wird eine phänomenische Synthese durchgeführt, die bei Husserl nur durch Reflexion zustande kommen kann. Die Blickwendung vom sinnlichen schlicht wahrgenommenen Gegenstand auf das Kategoriale ist durch Reflexion geleitet. In diesem Sinne wird das Reflektierbare ausdrücklich bzw. explizit reflektiert. Wenn ich sage ,Der Kuchen ist braun und groß', geschieht eine reflektierte Heraushebung des in der sinnlichen Anschauung nur reflektierbar, aber nicht thematisch Reflektierten. In diesem Sinne wird die Reflexion auf den verschiedenen Stufen der kategorialen Anschauung als das gesehen, was zu dieser Entfaltung führt. Die kategoriale Anschauung gibt in diesem Sinne das Ermöglichende der sinnlichen Anschauung. Sie gibt jedoch nicht die Erkenntnis als solche, da sie ebenfalls an eine kategoriale Bedeutungsintention anknüpft 74 und, wie wir bereits bemerkt haben, nur in dieser Adaequatio die Erkenntnis geschieht. D.h., die Anschauung des Kategorialen gibt die Fülle eines kategorial Gemeinten. Die kategoriale Erkenntnis geschieht nur als die Deckung zwischen der kategorialen Bedeutungsintention und der kategorialen Anschauung. Aufgrund des Gesagten können wir sehen, daß Erkenntnis im prägnanten Sinne bei Husserl nur durch eine volle Synthese zustande kommen kann. Die volle Synthese meint das Gesamte der logischen und der phänomenischen Synthese, d.h. einerseits der Synthese zwischen der Bedeutungsintention und der angeschauten Fülle und andererseits dem Ermöglichenden und dem Ermöglichten. M.a.W., die volle Synthese ist eine Synthese der ratio cognoscendi und der ratio essendi: eine phänomeno-logische Synthese. Die Rolle der Reflexion in den Akten der kategorialen Anschauung wird grundsätzlich auf zwei Weisen betrachtet: das Mitmeinen oder das NichtMitmeinen des sinnlichen Gegenstandes. Im ersten Fall geschieht die kategoriale Anschauung als eine σύνθεσις bzw. διαίρεσις, d.h. als ein bestimmtes Zugehörigkeitsverhältnis des Kategorialen und des Sinnlichen. Wenn ich sage ,Dieser Kuchen ist braun', zeigt sich eine Relation, in der q (braun) als zugehörig zu S (Kuchen) verstanden wird. Aber hier zeigt sich das ganze S in einer anderen Sicht, als wenn ich bloß ,Kuchen' sage. 74
An diesem Punkt entfernen wir uns von der Auslegung Heids, insofern er der Offenbarkeitsdimension des Kategorialen die Funktion der ratio cognoscendi und zugleich der ratio essendi zuspricht. Die doppelte Rolle des Kategorialen, die Held meint, muß m.E. in diese zwei Synthesen getrennt werden, da das Kategoriale der Anschauung zugehört und diese erkenntnismäßig die Bedeutungsintention modifizieren muß. Nur hier geschieht Husserl zufolge die Erkenntnis Vgl. K. Held, Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie, S. 113.
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Durch die ausdrückliche Entdeckung des Kategorialen wird der Gegenstand anders gegeben, aber er wird dabei mitgemeint. Das Braunsein des Kuchens hat nur Sinn in bezug auf den beziehenden Kuchen. Dieses synthetische Kategoriale gründet in der sinnlichen Gegenständlichkeit in der Weise, daß das letztere mitgemeint werden muß. Aber die Fundierung in der Sinnlichkeit kann auch in der Weise geschehen, daß diese nicht mitgemeint wird. Wenn ich das Braune als Idee meine, dann ist der sinnliche Gegenstand Kuchen oder Tisch nicht mitgemeint. Diese andere Weise der kategorialen Anschauung nennt Husserl Ideation , insofern das, was hier gegeben ist, die Idee, idea , specie ist. Durch den Akt der Ideation wird eine Anschauung des Allgemeinen gegeben. Aber dieses Allgemeine darf nicht mit dem Allgemeinen überhaupt, das in aller kategorialen Anschauung gegeben ist, verwechselt werden. 75 M.a.W., in der kategorialen Anschauung werden Ideen gegeben, die den sinnlichen Gegenstand mitmeinen können oder nicht. Letzterer Fall ist das, was hier mit Ideation gemeint ist. Diese zwei Grundarten der kategorialen Anschauung werden von Husserl in den , Ideen Γ als Formalisierung und Generalisierung charakterisiert. In den nächsten Paragraphen werden wir auf diese Unterscheidung zurückkommen. Zunächst können wir unsere Ergebnisse in sechs Punkten zusammenfassen: 1. Die kategoriale Anschauung entdeckt die Struktur der Dinge, sie ist die ratio essendi. Ein Ding als Ding kann nur dank der Enthüllung der kategorialen Anschauung zustande kommen. D.h. hier geschieht eine Synthese zwischen dem Ermöglichenden und dem Ermöglichten, die das Ding als solches sehen läßt. Daher sprechen wir hier von einer phänomenischen Synthese. 2. Die kategoriale Anschauung allein gewährt nicht die Erkenntnis, sie ist an die kategoriale Bedeutungsintention durch die Adaequatio gebunden, d.h. an die logische Synthese. 3. Die logische Synthese besteht in der Adaequatio zwischen der leeren Bedeutungsintention und der angeschauten Fülle. Die phänomenische Synthese besteht in der Entdeckung der Struktur des Vorausgesetzten der sinnlichen Anschauung: in der Entdeckung des Kategorialen. 4. In der philosophischen Erkenntnis eines Dinges als solches geschieht also eine doppelte bzw. volle Synthese: eine logische und eine phänomenische. D.h. es wird die ratio cognoscendi und die ratio essendi enthüllt. Die volle Synthese, die die Erkenntnis im prägnanten Sinne gewährt, ist also eine phänomeno-logische Synthese. 75 Vgl. K. Held, Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie, S. 112; Bernet/ Kern/Marbach, Edmund Husserl, S. 170.
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5. Die logische Synthese zeigt unumgänglich einen Erkenntnistrieb. Die phänomenische Synthese wird durch Reflexion geführt. 6. Damit ein Ding als Ding gesehen werden kann, geschieht dieses als als ein reflexiv-erkenntnistheoretisches als.
c) Die geistig-reflexive Anschauung Aufgrund des in bezug auf die Reflexion und auf die Anschauung Entfalteten sind wir jetzt in der Lage zu verstehen, was Husserl eigentlich im Prinzip aller Prinzipien mit , Anschauung4 und in der Forschungsmaxime mit den ,Sachen selbst4 meinte. Das, was das Grundprinzip der Phänomenologie als die originär-gebende Anschauung meint, ist, wie wir bereits vorweggenommen haben, die geistig-reflexive Anschauung als die Rechtsquelle für die philosophisch-phänomenologische Erkenntnis (reflexiv-erkenntnistheoretisches-als). Das Prinzip der Prinzipien sagt, daß alles, was sich in der originär-gebenden Intuition darbietet, einfach hinzunehmen ist. Diese originär-gebende Intuition oder Anschauung meint zunächst nicht die sinnliche Anschauung, sondern eine Wesensanschauung. Bereits Fink hat darauf aufmerksam gemacht, daß die sinnliche Anschauung auf keinen Fall den „Grundcharakter aller Erkenntnis 44 enthält. Sie ist vielmehr eine schlichte, für die sinnliche Wahrnehmung charakteristische Selbstgebung.76 Als wir die Entfaltung der kategorialen Anschauung durchgeführt haben, haben wir sie als einen Akt angesprochen, der etwas gibt, das durch schlichtes Wahrnehmen nie faßbar wäre. Nur durch die kategoriale Anschauung kann das είδος bzw. das Aussehen von etwas gegeben werden. Die geistig-reflexive Anschauung zeigt sich dann als ein aufgebauter Akt, der etwas gibt, das durch die sinnliche Anschauung nie enthüllt werden kann: das Wesen (είδος). Die geistig-reflexive Anschauung ist für Husserl eine Wesensanschauung. A m Ende des § 23 der ,Ideen I 4 , also direkt vor dem Paragraphen Das Prinzip aller Prinzipien, bezieht sich Husserl auf die Wesenserschauung: „[...] die Wesenserschauung ist ein originär gebender Akt und als solcher das Analogon des sinnlichen Wahrnehmens und nicht des Einbildens 44 (Hua III/1, S. 43). Jede Wesenserschauung oder „Intuition 44 ist ein originär gebender Akt, d.h. ein geistiges Wahrnehmen des sich-in-seiner-leibhaftigenWirklichkeit-Darbietenden. Husserl versteht dieses geistig-reflexive Anschauen als Analogie zur sinnlichen Anschauung, die für ihn den Prototyp eines originär gebenden Anschauens bildet, wie wir oben gesehen haben. 76
Vgl. Fink, Studien, S. 88.
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A m Anfang dieses Paragraphen haben wir bemerkt, daß Husserl das höchste Maß von Gegebenheit in der leibhaftigen Gegebenheit einer Sache findet. Ausgehend von der sinnlichen Wahrnehmung deuteten wir an, daß die Leibhaftigkeit die Weise ist, in welcher ein Gegenstand zu originärer Gegebenheit erhoben wird. Im Prinzip aller Prinzipien vermag das geistigreflexive Anschauen das sich-in-der-Reflexion-Darbietende auf eine analoge Weise zu „,geistig-leibhaftiger" Gegebenheit zu bringen. Der Charakter des geistig-reflexiven Anschauens, der die Sachen leibhaftig gibt und sich zur Gegebenheit bringt, läßt deutlich erkennen, daß sich das Prinzip aller Prinzipien schon innerhalb der Sphäre der Intentionalität und seiner cartesianisch geprägten Begriffsbildung bewegt, wobei die intentio dem geistig-reflexiven Anschauen und das intentum der sich-gebenden Sache entspricht. Die Gesamtheit dessen, was sich in seiner leibhaftigen Wirklichkeit (originär) gibt, darbietet oder zeigt, ist einfach hinzunehmen. Das besagt aber nicht, aus der Reflexion herauszufallen. Wir haben bereits bemerkt, daß »einfach hinnehmen' soviel bedeutet wie, jede nachträgliche Deutung der Sachen und jedes theoretische Konstrukt abzuwehren, damit das sichZeigen der Sache zum reinen Aufweis gebracht werden kann. Dieses einfach Hinnehmen geschieht bei Husserl in höchster Reflexivität. So zu erkennen und das sich-zeigende Phänomen nicht irgendwie durch Vordeutungen zu verdecken, aber das sich-selbst-Gebende nur in den Schranken, die es sich selbst vorsetzt, hinzunehmen, bedarf einer höchsten und aufmerksamen Reflexion. Somit können wir Husserl zufolge sagen, daß das Prinzip der Prinzipien ein Philosophieren ausmacht, welches sich zum obersten Prinzip setzt, sich ganz an die originäre Gegebenheit der Sachen zu binden. Dieses Prinzip ist das Prinzip des Philosophierens überhaupt, es ist ein Gegenprinzip zu Argumentationen, die die sich-gebenden Sachen überhaupt nicht berücksichtigen. Da das Prinzip bei Husserl nur durch Reflexion entformalisiert werden kann, müssen wir zunächst auf die Unterscheidung zwischen dem Formalen, d. h. der originär-gebenden Anschauung der Sachen selbst, und der Entformalisierung des Prinzips, d.h. dem reflexiv erkenntnistheoretischen Cartesianismus, zurückkehren.
§ 19. Das Formale und das Modifizierte des phänomenologischen Prinzips Mit der Betrachtung der reflexiven philosophischen Anschauung Husserls ist eine bestimmte Weise der Entformalisierung des phänomenologischen Prinzips klar geworden. Die originär-darbietende geistig-reflexive Anschau-
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ung darf nicht in allumfassender Weise verstanden werden. D.h., das Prinzip aller Prinzipien darf nicht unumgänglich mit der reflexiven Entformalisierung Husserls gleichgesetzt werden. Somit kehren wir zurück zu der am Anfang dieses Kapitels angedeuteten formalen und modifizierten Unterscheidung hinsichtlich des Prinzips aller Prinzipien.
a) Die Ablehnung der philosophischen Position Husserls Heidegger hat sich an verschiedenen Stellen zum Prinzip der Phänomenologie geäußert. Wir können aber seit der ersten Dozenten-Vorlesung entdecken, daß Heidegger von Anfang an eine kritische Einstellung gegenüber jeglicher nicht-ursprünglichster Auffassung des Prinzips zeigte. Daher können wir fragen: Wie hat Heidegger das Grundprinzip der Phänomenologie erfaßt? Was hat er unter dem Prinzip der Phänomenologie verstanden? Was hat er davon abgelehnt? In welchem Sinne bleibt sein Ansatz an dieses Prinzip gebunden? Rückblickende Äußerungen Heideggers vermitteln den Anschein, als ob die Forschungsmaxime der Phänomenologie Zw den Sachen selbst! und das Prinzip aller Prinzipen zwei getrennte verschiedene Prinzipien wären. „Die eigentliche Maxime der Phänomenologie ist nicht das ,Prinzip aller Prinzipien', sondern die Maxime ,Zur Sache selbst'". 7 7 Ist dies zutreffend? Sind es wirklich zwei Prinzipien oder müssen wir nicht vielmehr tiefer eindringen in das, was Heidegger hier eigentlich vor Augen hatte? 78 In einer späteren Ausarbeitung finden wir einen Hinweis auf die Entzifferung des Rätsels. In ,Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens' schreibt Heidegger: „,Das Prinzip aller Prinzipien' verlangt als die Sache der Philosophie die absolute Subjektivität" (ZSD, S. 70). Somit können wir sehen, daß das, was Heidegger mit dem Prinzip der Prinzipien im vorangegangenen Zitat meinte, nicht das formale Prinzip war, das eigentlich denselben Sachverhalt meint wie die Forschungsmaxime, sondern eine bestimmte entformalisierte Gestalt dieses Prinzips. Heidegger lehnt die entfaltete Husserlsche Gestalt des formalen Prinzips aller Prinzipien aus dem Grunde ab, daß dieses nicht eigentlich von Husserl selbst beim Worte genommen wurde, sondern „in die Überlieferung der neuzeitlichen Philosophie einschwenkte" 77
M. Heidegger, Über das Zeitverständnis in der Phänomenologie und im Denken der Seinsfrage, in: H. Gehrig (Hrsg.), Phänomenologie - lebendig oder tot?, Karlsruhe, 1969, S. 47. 78 M. Henry begeht in ,Quatre principes de la phénoménologie 4 , in: Revue de Métaphysique et de Morale 96 (1991), S. 3 ff. einen Interpretationsfehler, wenn er das Prinzip aller Prinzipien und die Forschungsmaxime Zu den Sachen selbst! trennt. Dabei wird nicht gesehen, daß das, was die originär-gebende Anschauung des Prinzips darstellt, die Sachen selbst sind. In diesem Sinne haben wir angedeutet, daß damit derselbe Sachverhalt gemeint ist.
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(ebd., S. 84). Im bekannten Brief an Richardson macht Heidegger dies deutlich: „Inzwischen wurde ,die Phänomenologie4 im Sinne Husserls zu einer bestimmten, von Descartes, Kant und Fichte her vorgezeichneten philosophischen Position ausgebaut [...] gegen diese philosophische Position setzte sich die in ,Sein und Zeit 4 entfaltete Seinsfrage ab und dies auf Grund eines, wie ich heute noch glaube, sachgerechten Festhaltens am Prinzip der Phänomenologie 44 (Brief H-R, S. 399, k.g.v.m. ) . 7 9 Wenn Heidegger immer wieder betont hat, daß die Phänomenologie kein Standpunkt, also keine Position sei (SuZ, S. 27), richtet sich seine Ablehnung des Prinzips der Phänomenologie gegen die im Prinzip der Prinzipien eingeschlichene neuzeitliche Position, genauer gegen die cartesianische Position. 80 Die intensive Auseinandersetzung mit Descartes, die Heidegger in den Seminaren von Le Thor und Zähringen vollzogen hat, war, wie Marion und Greisch mit Recht bemerken, mittelbar eine Auseinandersetzung mit Husserl. 81 Held sieht auch in der Kritik Heideggers an Husserls Bewußtseinsimmanentismus keine Ausschaltung des phänomenologischen Prinzips, sondern die Bemühung, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden, in das Husserl geraten war. Das Dilemma ist, daß Husserl im Prinzip aller Prinzipien „die Vorgegebenheit einer transsubjektiven Offenbarkeitsdimension 44 entdeckt hat, aber zugleich diese Entdeckung durch einen Bewußtseinsimmanentismus gesichert hat. 8 2 Diese Ablehnung der Position Husserls taucht nicht erst in Heideggers späteren Ausarbeitungen auf. Wie wir sehen werden, hatte Heidegger bereits in den fFV eine kritische Einstellung gegenüber jeglicher übertragender Position. 1946 macht Heidegger dies ausdrücklich: Erst durch die Begegnung mit Husserl, dessen Schriften ich natürlich schon vorher kannte, aber eben nur gelesen hatte wie andere philosophische Schriften, gelangte ich in ein lebendiges und fruchtbares Verhältnis zum wirklichen Vollzug 79
Über den Bezug zur Forschungsmaxime der Phänomenologie wird im Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein" geschrieben: „Es war genau in diesem Sinne, daß Husserls Untersuchungen gegenüber der Art des Vorgehens des Neukantianismus als etwas Neues und unerhört Anregendes abstachen, wie es Dilthey als erster sah (1905). Und es ist in diesem Sinne, daß von Heidegger gesagt werden kann, daß er die eigentliche Phänomenologie bewahrt", in: ZSD, S. 48. 80 Diesbezüglich schreibt Heidegger im SS 1925: „Die Herausarbeitung des reinen Bewußtseins als theoretisches Feld der Phänomenologie ist nicht phänomenologisch im Rückgang auf die Sachen selbst gewonnen, sondern im Rückgang auf eine traditionelle Idee der Philosophie", GA 20, S. 147. 81 Vgl. die Seminare von 1969 in Le Thor und von 1973 in Zähringen in: VS, S. 64-138 und dazu J.-L. Marion, Réduction et Donation, S. 121 ff.; J. Greisch, L'herméneutique dans la „phénoménologie comme telle", in: Revue de Métaphysique et de morale 96 (1991), S. 50. 82 Vgl. K. Held , Heidegger und das Prinzip, S. 116.
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des phänomenologischen Fragens und Beschreibens [...] Dabei stand ich von Anfang an und stets außerhalb der philosophischen Position Husserls im Sinne einer transzendentalen Philosophie des Bewußtseins" (GA 16, S. 423, k.g.v.m.).
Somit können wir sehen, daß das, was Heidegger an der Husserlschen Phänomenologie ablehnt, die Husserlsche philosophische Position ist und nicht das gegen jegliche Position und Richtung eingeführte Prinzip der Phänomenologie. Die Gestalt der Husserlschen Entformalisierung des Grundprinzips wird von Heidegger abgelehnt. Diese Gestalt zeigt sich thematisch als der Cartesianismus, in dem die Entformalisierung befangen blieb, nämlich in der Subjektivität, und methodisch als die Reflexivität, durch welche sie vorging.
b) Das Verständnis der Phänomenologie als Möglichkeit Hier kann die Frage auftauchen, ob die Ausarbeitungen Heideggers nicht ebenfalls als eine „Position" verstanden werden könnten. Dazu ist aber zu sagen, daß Heidegger die Phänomenologie als Möglichkeit und nicht als Wirklichkeit verstanden hat. In der ,Nachschrift Brecht' (KNS) schreibt er: „.Philosophie aber gelangt nur durch absolute Versenkung in das Leben als solches zu Fortschritt, da Phänomenologie nie abgeschlossen ist, nur vorläufig, sie versenkt sich immer in das Vorläufige". 83 In SuZ wird diese Tatsache folgendermaßen geklärt: „Die Erläuterungen des Vorbegriffs der Phänomenologie zeigen an, daß ihr Wesentliches nicht darin liegt, als philosophische „Richtung" wirklich zu sein. Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit" (SuZ, S. 38). 8 4 Die Entformalisierung des Prinzips seitens Heideggers ist von Hause aus keine abgeschlossene Richtung oder Position in der Philosophie, da sie vor jeglicher möglichen Position geschieht. „Richtung" oder „Position" lassen sich nur aus einem Standpunkt heraus verstehen: Position ist eine bestimmte Stellung gegenüber einem etwas, das gegenüber gestellt wird - ein Gegen-stand. Position ist in diesem Sinne eine Opposition. Wenn wir aber nichts opponieren können, da wir uns in einer Sphäre vor jeglicher Position und Opposition befinden, dann können wir nicht von einer „wirklichen" Gestalt der Phänomenologie sprechen. Die Phänomenologie bleibt Möglichkeit, insofern wir primär keine Position beziehen können. Das Leben in seinem Ursprung befragen, bedeutet nicht, wie wir bereits bemerkt haben, das Leben als einen Gegen-stand, den wir gegen-über stellen können, zu verstehen. Wir sind immer schon im Leben, daher können 83
Heidegger Studies 12 (1996), S. 13. Vgl. auch ZSD, S. 90. Dazu vgl. v. Herrmann, Weg und Methode, S. 12; ders., HuR, S. 125. 84
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wir keine Stellung, Position zu ihm beziehen. In diesem Sinne bleibt die Phänomenologie bei Heidegger Möglichkeit und keine Wirklichkeit. Die ursprünglichere Sphäre der phänomenologischen Arbeit hat mit Möglichkeiten zu tun und nicht mit Wirklichkeiten. Möglichkeiten sind nie abgeschlossen. Möglichkeiten im Sinne Heideggers werden nie in eine Wirklichkeit übergeführt, als ob die Möglichkeit zunächst etwas Mangelhaftes wäre, das in der Wirklichkeit vervollständigt werden könnte.
c) Die nicht-theoretische Radikalisierung des Prinzips aller Prinzipien Daß das Prinzip der Phänomenologie bei Husserl cartesianisch befangen blieb, haben wir im Laufe der Untersuchung bereits abgehoben: Thema der Phänomenologie Husserls war das Bewußtseinsleben. Es kann philosophisch nur durch eine transzendentale erkenntnistheoretische Wissenschaft zugänglich werden. Diese darf sich aber nur auf das originär-Gebende stützen. Bei Husserl kommt dies, wie wir gesehen haben, nur durch eine reflexiv-geistige Anschauung zustande. In diesem Sinne wird die Intentionalität des Bewußtseinslebens, also der Subjektivität, nur durch Reflexion thematisch möglich. Wenn aber dieser Ansatz in Frage gestellt wird, muß sowohl das Thematische wie das Methodische radikal anders verstanden werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Korrelation Thema-Methode eigentlich untrennbar ist. D.h., die Tatsache, daß für Husserl die Intentionalität des Bewußtseins das Thema der Phänomenologie bildet, zeichnet zugleich deren methodisches Vorgehen: als einen reflexiv bewußtseinsmäßig erkenntnistheoretischen Weg. Wird dagegen das durch Bewußtsein und Reflexion verdeckte a-theoretische Leben zum Thema der Phänomenologie, dann muß damit, wie wir wiederholt betonten, eine ganz andersartige Radikalisierung auch der Methode einhergehen. Diese sprengt den Rahmen einer theoretischen Thematisierung. M.a.W.: bei Husserl bedeutet das Zurückgehen auf die Sachen selbst ein reflexives theoretisches geistiges Sehen. Heidegger dagegen geht es um ein vor-theoretisches hermeneutisches Hinschauen bzw. Hineinhören; darum also verstehend in das ursprünglichere Erlebnis hineinzuschauen oder zu hören. Das sonst unausdrücklich durchlebte Erlebnis soll in die Ausdrücklichkeit gehoben werden. Das heißt, das Erlebnis darf nicht selbstreflexiv zum Objekt gemacht werden, sondern es soll aus der Unausdrücklichkeit des Erlebens zurückgeholt werden, um das erlebte Erlebnis in die Ausdrücklichkeit zu heben. Heidegger greift damit die Grundmaxime der Phänomenologie auf, entzieht diese aber, indem er sie innerhalb des hermeneu-
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tischen Schauens und Hineinhörens versteht, dem im Bewußtsein befangen bleibenden Element der theoretisierenden Reflexion. Wir müssen hier jedoch folgendes Bedenken formulieren: Wenn das Prinzip aller Prinzipien bzw. die Forschungsmaxime im Zuge der reflexiven Phänomenologie Husserls formuliert wurde, bedeutet dies nicht, daß es unumgänglich theoretisch angetastet ist? Dazu können wir hier deutlich sagen, daß die Tatsache, daß das Prinzip der Prinzipien als Grundprinzip der reflexiven Phänomenologie hingestellt wurde, nicht zwangsläufig heißt, daß es sich in der reflexiven Phänomenologie erschöpft. Vielmehr erweist es sich als ein theoriefreies Prinzip, das gegenüber der reflexiven und hermeneutischen Phänomenologie als neutral charakterisiert werden kann. 85 Wenn die hermeneutische Phänomenologie einen Zugang zu ursprünglicheren Phänomenen gewährt, dann ist eine tiefere Einsicht in das Grundprinzip der Phänomenologie nicht von der reflexiven Blickweise ausgehend möglich, sondern erst aus der verdeckten hermeneutischen Blickweise heraus. Aufgrund dieser Einsicht enthüllt sich das Prinzip in der hermeneutischen Auslegungsweise als ein α-theoretisches Prinzip, das von Husserl nicht erkannt werden konnte, da er sich von vornherein auf dem Boden der theoretischen Einstellung bewegte. Demgegenüber war es schon seit der ersten Dozenten-Vorlesung das Anliegen Heideggers, das A-theoretische des Prinzips zum Aufweis zu bringen, damit es als Grundprinzip der hermeneutischen Phänomenologie gewonnen werden konnte. Im KNS schreibt Heidegger: „[...] schon, daß Husserl von einem Prinzip der Prinzipien spricht, also von etwas, das allen Prinzipien vorausliegt, woran keine Theorie irre machen kann, zeigt, daß es nicht theoretischer Natur ist, wenn auch Husserl darüber sich nicht ausspricht" (GA 56/57, S. 109 f., k.g.v.m.). Daß das Prinzip nicht theoretischer Natur ist, bedeutet, daß es primär nicht innerhalb einer im Bewußtsein befangenen reflexiven Anschauung zu betrachten ist, sondern in einer ursprünglicheren, hermeneutischen Weise. Wenn das Prinzip beim Wort genommen wird, dann müssen alle Theorien und Positionen ausgeschaltet werden, einschließlich der theoretischen Position, in die Husserl geraten ist. Wir haben bereits erläutert, daß die theoretische Position Husserls thematisch als die Befangenheit im Cartesianismus und methodisch als Reflexion geschieht. Die im Prinzip aller Prinzipien genannten Momente werden von Husserl in dieser bestimmten theoretischen Position eingenommen. Die Anschauung wird dann eine reflexive Anschauung, und die Weise, wie die Sachen selbst zum Vorschein kommen, wird als Gegebenheit charakterisiert. 85 Heidegger hat die Neutralität des Prinzips bereits in seiner ersten Fassung in den L U gesehen, daher schreibt er rückblickend, daß diese „philosophisch neutral geblieben waren", ZSD, S. 84.
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D.h., das Wesen als die Sache selbst der Husserlschen Phänomenologie kann nicht anders als reflexiv gegeben sein. Durch eine tiefere Aneignung des phänomenologischen Prinzips gelingt es Heidegger, die bewußtseinsmäßige Subjektivität und die Reflexion in Frage zu stellen. Die Frage nach dem Leben in seinem Ursprung richtet sich auf das durch den Husserlschen Ansatz Verdeckte. Daher kann das, was im Leben in seinem Ursprung gesehen wird, nicht reflexiv, sondern hermeneutisch geschaut werden. Dementsprechend zeigt sich das hier Angeschaute nicht als eine Gegebenheit. Das Gegebene im Husserlschen Sinne ist bereits eine von der Theorie angetastete Weise, in der das Angeschaute erscheint. Das Erlebte in seinem umweltlichen Ursprung kommt nicht als gegeben zum Vorschein, „denn gegebenes Umweltliches [...] [ist] bereits theoretisch angetastetes, es ist schon von mir, dem historischen Ich, abgedrängt, das „es weitet" ist bereits nicht mehr primär" (ebd., S. 88). Die umweltlichen Dingen werden sich daher, wie Heidegger von 1921 an sagen wird, als Begegnis zeigen: „Begegnis charakterisiert die Grundweise des Daseins von weltlichen Gegenständen" (GA 61, S. 91). Aufgrund dieser tieferen Einsicht in das Grundprinzip der Phänomenologie kann die Bezeichnung ,hermeneutisch' in ,hermeneutischer Phänomenologie' nicht als eine zweite, verschiedene Denomination, sondern als eine Wesenscharakterisierung der Phänomenologie, wie Heidegger später betonen wird, verstanden werden. 86 D.h., wenn das Prinzip der Prinzipien das Grundprinzip der Phänomenologie ist, dann muß jede Gestalt der Phänomenologie an dieses Prinzip anknüpfen. Die hermeneutische Phänomenologie vollzieht dies in einer ursprünglicheren Weise, die im Wort ,hermeneutisch' zum Aufweis gebracht wird, wie wir weiter unten sehen werden. Nachdem wir auf die Unterscheidung zwischen dem Formalen und dem Entformalisierten des Prinzips aller Prinzipien hingewiesen haben, müssen wir noch genauer klären, was Heidegger mit hermeneutischer Anschauung meint, d.h. in welchem Sinne eine nicht-reflexive Anschauung möglich ist. Bevor wir auf diese Aufgabe eingehen, wenden wir uns zunächst den Einwänden P. Natorps gegen die Phänomenologie zu. Dadurch wird der Ansatz Heideggers deutlicher werden.
86 Vgl. das, was Heidegger 1953/54 in UzS über den Namen ,hermeneutische Phänomenologie' rückblickend gesagt hat: „Indessen kam es mir weder auf eine Richtung innerhalb der Phänomenologie noch auf das Neue an. Ich versuchte vielmehr umgekehrt, das Wesen der Phänomenologie ursprünglicher zu denken [...]" S. 95 (k.g.v.m.).
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§ 20. Die Einwände Natorps gegen die Phänomenologie Bemerkungen zu seiner Rekonstruktionsmethode In einem Brief vom 18. März 1903 schreibt Husserl an Natorp: „Wie immer, ich sehe oder fühle tiefreichende innere Gemeinsamkeiten u. Coincidenzen, ich hege die Zuversicht, daß die Arbeit der Zukunft mit der Aufklärung auch eine Versöhnung unserer methodischen u. sachlichen Differenzen bringen werde" (BW Bd. V, S. 111). Heidegger zufolge fand Husserl diese Zuversicht in der Gestalt einer transzendentalen Phänomenologie. Im ,Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein"' wird darüber gesagt: „Er [Husserl] geriet unter den Einfluß Natorps und vollzog die Wendung zur transzendentalen Phänomenologie, die ihren ersten Höhepunkt in den ,Ideen' erreichte. Damit war aber das Prinzip der Phänomenologie preisgegeben" (ZSD, S. 47). 8 7 Der phänomenologische Weg Husserls von den L U zu den , Ideen Γ wird stets von den Einwänden Natorps begleitet. Seine Kritik ist bedeutsam, insofern sie einige Punkte der Ausarbeitungen Husserls betont, die problematisch erscheinen und die Husserl nicht für entscheidend hielt. In dieser Hinsicht bezieht sich Heidegger seit dem KNS auf die Kritik Natorps, geht aber noch einen Schritt weiter, indem er auch den Boden, auf dem die Kritik entsteht, berücksichtigt. Heidegger wird diese Kritik weiter problematisieren und ihre Beschränktheit aufzeigen. Daher wenden wir uns zunächst einigen zentralen Punkten der Kritik Natorps an Husserls Phänomenologie zu. Natorp geht von der Unterscheidung zwischen Objektivierung und Subjektivierung aus. Die Objektivierung ist die Weise, in welcher wir zunächst die Sachen treffen: als Objekte. Sie steht in Korrelation zum Subjektiven bzw. zum Bewußtsein. Daß wir zunächst Gegenstände finden, bedeutet, daß das Bewußtsein wesenhaft objektivierend ist, daß also das, was Objekt ist, nur für ein Subjekt oder Bewußtsein sein kann. 88 Die Tatsache, daß Objekte immer für ein Bewußtsein sind, ist eine Sache, sie kann aber in zwei Richtungen gesehen werden: vom Bewußtsein zum Gegenstand oder vom Gegenstand zum Bewußtsein. M.a.W., die Tatsache, daß ein Gegenstand 87 1929 hat Heidegger dies in einem Brief an Stenzel folgendermaßen ausgedrückt: „Aber Husserls Weg wurde schon der inneren Direktion beraubt, als er sich um 1905 aus philosophischer Ratlosigkeit an den Neukantianismus anschloß. Ich hoffe immer noch, er werde zu sich selbst zurückfinden; dann hätte er heute auch die Kraft gehabt, wirklich dem Anderen entgegenzutreten und sich in seinem Werk zu vollenden. Und jetzt diese für mich jammervolle, blinde Zappelei", Brief vom 31. Dezember 1929 in ,Briefe Martin Heideggers an Julius Stenzel (1928-1932)', in Heidegger Studies 16 (2000), S. 11-30. Hier S. 18. 88 P. Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, S. 22 (im folgenden zitiert als AP).
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mir erscheint und daß ich ein Bewußtsein vom Gegenstand habe, deutet nur auf die „Doppelrichtung des einheitlichen Erkenntnisweges" hin (AP, S. 206; GA 56/57, S. 106). Wenn mir also ein Gegenstand erscheint, geschieht eine Bestimmung, die zunächst in der vorphilosophischen Betrachtung nur in einer Richtung gesehen wird. Der Gegenstand ist bereits objektiviert, konstruiert, d.h. als bestimmt gesehen, aber die Frage nach dem Bestimmenden wird nicht gestellt. Erst eine philosophische Haltung richtet sich auf das Korrelat der bestimmten Objektivierung, d.h. der Konstruktion, nämlich auf das Subjektive. Die Frage nach der Subjektivierung ist die Frage nach dem Ursprung der Objektivierung bzw. der Konstruktion. Die Disziplin, die sich mit dieser Aufgabe beschäftigt, nennt Natorp philosophische Psychologie. Sie soll einen Zugang zum Subjektiven als solchem schaffen, sie ist eigentlich die Wissenschaft des Subjektiven (AP, S. 190). Und hier taucht die Schwierigkeit auf, wie dies möglich ist, ohne das Subjektive zu objektivieren. D.h., das Bewußtsein darf nicht wiederum zu einem Gegenstand gemacht, sondern muß in seiner Ursprünglichkeit „betrachtet" werden. Daraus erwächst die besondere Aufgabe der philosophischen Psychologie, die Natorp zufolge in keiner Weise den objektivierenden Wissenschaften zugeordnet werden darf. Auch ihre Methode muß daher eine andersartige sein. Natorp bestätigt, daß die 1903 von Husserl geäußerte Zuversicht in ein gemeinsames Ziel mündet: Sie befanden sich „von Anfang an auf gleicher Linie" (ebd., S. 280), aber Natorp zufolge kann die phänomenologische Methode die Subjektivität nur als eine zweite Objektivität offenbaren (ebd., S. 281). Die phänomenologische Methode zeigt sich damit als inadäquat, um das Subjektive bzw. Bewußtsein als solches zu betrachten. Diese Einsicht Natorps bezieht sich sowohl auf die seit den L U entfaltete Behandlungsart der Phänomenologie als auch auf die konkret in den , Ideen Γ ausgearbeitete transzendentale Zugangsmethode Husserls. Die erste Kritik wird von Natorp in der Allgemeinen Psychologie' beschrieben, die zweite in einer im ,Logos' erschienenen Besprechung der Husserlschen ,Ideen Γ . Die Einwände gegen die Behandlungsart der Husserlschen Phänomenologie betreffen die Tatsache, daß das Bewußtsein durch eine reflexive Anschauung erfaßt wird. Wie wir bereits gesehen haben, wird das Bewußtsein durch die reflexive Anschauung zu einem Gegenstand gemacht und durch die phänomenologische Beschreibung begrifflich erfaßt. Natorp zufolge ist dadurch das Bewußtsein in seinem subjektiven Charakter nicht erfaßt, da es als Gegenstand eo ipso objektiviert wird. Durch die Beschreibung geschieht eine „Stillstellung des Stromes des Erlebens [...] Ertötung des Bewußtseins" (ebd., S. 190), da Beschreibung für Natorp eine „Subsumption unter
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Allgemeinbegriffe [ist]" (ebd., S. 189) und daher eine Entfernung des Unmittelbaren des Bewußtseins, „welches in seiner Unmittelbarkeit und Konkretheit vielmehr ewig flutendes Leben, niemals Stillstand ist" (ebd., S. 191). Reflexion und Beschreibung sind in diesem Sinne Vermittlungen, die das Sehen des Unmittelbaren des Bewußtseins verhindern. Durch die transzendentale Einstellung, die durch die Zugangsmethode der έποχή und Reduktion vollzogen wird, wird das Wesen des Subjektiven ebenfalls nicht getroffen, da sie, Natorp zufolge, die Absicht hat, das Unmittelbare des reinen Bewußtseins durch eine mittelbare Erkenntnis zu fassen. Das transzendentale Bewußtsein ist für Husserl absolut gegeben, und es wird durch die Ausschaltung der Generalthesis des Weltglaubens erreicht. Natorp bemerkt, daß es nicht möglich sei, durch eine „einfache Reduktion" das Absolute des Bewußtseins zu erreichen, da das Bewußtsein für Natorp unendlich ist. Daher „kann keine endliche Erkenntnis von ihm es darstellen". 89 Die durch εποχή und Reduktion gewonnene Erkenntnis des reinen Bewußtseins ist dann eine vermittelnde, die das Erfahren des Bewußtseins ermöglicht. Das Erfahren des Bewußtseins heißt, es zur Erkenntnis zu bringen. Wenn das reine Bewußtsein ein letztes Unmittelbares wäre, wäre ein Zugang zu ihm ein volles Erleben. Aber durch die transzendentale Reflexion wird es erkannt, d.h. als Erfaßtes in seinem Charakter verändert. M.a.W., das Absolute des Bewußtseins kann, Natorps Auffassung nach, nie unmittelbar gegeben werden. Es ist erst zu gewinnen (GA 59, S. 104). Diese „methodologische Inkonsistenz" Husserls wird von Natorp als eine „Verwechslung" erklärt: Husserl „ verwechselt die Forderung der Darstellung des reinen Bewußtseins mit dem, was in wirklicher Erkenntnis dargestellt sein kann" (ebd.). In diesem Sinne ist das absolute Bewußtsein gefordert, aber nicht gegeben. Aufgrund der kritischen Bemerkungen Natorps können wir hier die Frage stellen, wie dann ein Zugang zum Bewußtsein bzw. zum Subjektiven bei Natorp möglich ist. Natorp erläutert, daß das Bewußtsein nicht mittels der Reflexion oder Beschreibung zugänglich wird. Das Bewußtsein wird auch nicht als ein absolutes Residuum durch έποχή und Reduktion entdeckt. Es ist vielmehr allein dadurch zu gewinnen, daß es rekonstruiert wird. Rekonstruktion ist, Natorp zufolge, die adäquate Methode, um das Subjektive des Bewußtseins zugänglich zu machen, ohne in die Objektivierung zu verfallen. Wir haben oben bemerkt, daß die Objektivierung als eine Konstruktion zu sehen ist. Daher ist die Rekonstruktion eine „reine Umkeh-
89 Natorp, Husserls „Ideen zu einer reinen Phänomenologie", in: Logos V I (1916-17), S. 238.
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rung" (AP, S. 192), die die Erfassung des Konstitutionszusammenhangs in der subjektiven Richtung zeigt. 90 Durch die Rekonstruktion wird der Prozeß der Objektivierung rückgängig gemacht, d.h. Natorps Methode geht von der Objektivierung aus. Daher bemerkt Heidegger mit Recht, daß „die Objektivierung [...] für die Erkenntnis des überschrittenen Subjektiven zu einem notwendigen Mittel [wird]" (GA 59, S. 100). In der Objektivierung geschieht bereits eine Zerlegung bzw. Zerstörung des Vollerlebnisses, wobei die Umkehrung die „Verbindungen wieder hineinstellt, den starren Begriffen die Bewegung zurückgibt, sie damit dem flutenden Leben des Bewußtseins wieder nähert, und durch dies alles das Vergegenständlichte auf die Stufe des subjektiven Gegebenseins wieder zurückleitet" (AP, S. 193). Obwohl Natorp betont, daß durch die Objektivierung und Subjektivierung bzw. durch Konstruktion und Rekonstruktion nur eine Doppelrichtung des einen Erkenntnisweges expliziert wird (ebd., S. 212), müssen wir dennoch von einem Fundierungsverhältnis sprechen, da nur rekonstruiert werden kann, was vordem konstruiert wurde (ebd., S. 200). 91 Das Zurückleiten der Subjektivierung ist von der durchgeführten Objektivierung abhängig, und sie kommt zustande in desto sicherer und vollständigerer Weise, „je reiner sich die Objektivierung ausgeprägt hat" (GA 59, S. 100). D.h., die Bestimmung des Objektes wird in irgendeinem Grade objektiviert (AP, S. 210), und das Bestimmende des Subjekts läßt sich korrelativ in einer bestimmten Stufe ansehen. M.a.W., je radikaler die Objektivierung zustande kommt, desto deutlicher wird die korrelative Entdeckung des Bewußtseins. Die Natorpsche Ursprungsbetrachtung bzw. Rekonstruktion deutet damit auf eine Kritik an der methodischen Vorgangsweise der Phänomenologie Husserls hin, sie bewegt sich auf einem Boden, der einen anderen Zugang zum Erlebnis anstrebt; dieser Zugang bleibt jedoch erkenntnistheoretisch befangen. Heidegger hat bereits 1919 gesehen, daß, wenn man weiter in die Sache eindringt, auch diese Methode eine Objektivierung des Bewußtseins zeigt. Das Bewußtsein wird in der Rekonstruktion zugleich konstruiert, d.h. es verfällt in die Objektivierung (GA 56/57, S. 107). Sofern die ursprünglichste Ebene des Erlebnisses nicht gesehen wird, bewegt sich die Doppelrichtung des Erkenntnisweges auf einer theoretisch-objektivierenden Ebene. In diesem Sinne ist der Anspruch Natorps an einen wirklichen andersartigen Zugang zum Erlebnis hinfällig. Obwohl Natorp bemerkt, daß diese Methode ein Festhalten des Erscheinenden „vor aller Erkenntnis, auch vor aller Absicht des Erkennens" gewährt (AP, S. 193), bleibt es der Sache
90 91
Vgl. GA 59, S. 135. Vgl. ferner GA 56/57, S. 105; GA 59, S. 105.
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nach bei einer erkenntnistheoretischen Methode, die das Bewußtsein bereits objektiviert hat. Darin erschöpft sich Heideggers Kritik an Natorp jedoch noch nicht, sie geht weiter, indem Heidegger nach dem Maßstab für die Natorpsche Rekonstruktion fragt. Dieser wird bereits in der Analyse Natorps vorausgesetzt: die Logik. Die Psychologie als die Wissenschaft des Subjektiven wird eigentlich zur Logik, da sie „letztlich logische Begründung des Psychischen" ist. 9 2 In diesem Sinne ist die Frage nach dem Unmittelbaren der Erlebnisse bei Natorp von Hause aus in einem logischen, und d. h. in einem theoretischen Rahmen angesetzt. Daher schreibt Heidegger, „daß Natorp bei aller Schärfe der Problemstellung nicht alle Möglichkeiten erschöpft hat und bei seiner nur theoretischen Einstellung [...] auch nicht erschöpfen kann" (GA 56/57, S. 109).
§ 21. Die hermeneutische Anschauung bei Heidegger a) Vorbemerkung Nachdem wir zunächst auf die reflexive Entformalisierung des Prinzips aller Prinzipien seitens Husserls eingegangen sind, taucht nun die Frage auf, ob eine radikalere Entformalisierung des Prinzips möglich ist als die, die von Husserl durchgeführt wurde. Nach Natorps Einwänden können wir sehen, wie problematisch der Versuch ist, einen nicht objektivierenden Zugang zum Leben und Erleben zu gewinnen. Natorp sah in Husserls Analyse keinen eigentlichen Zugang zum Erleben, da dieser seiner Meinung nach unumgänglich durch Reflexion und Beschreibung vermittelt wird. Wir haben ferner ebenfalls erläutert, daß auch Natorp noch in einem objektivierenden Feld geblieben ist, da er den ursprünglichsten Boden des Erlebens nicht enthüllt hat; und daß sein Ansatz, obwohl er ihn als ein „Festhalten" betrachtet, ein erkenntnistheoretischer ist, da das Erleben nicht bloß erlebt sein darf, sondern erfahren, und d.h. erkannt werden muß. Auch wenn man die Rekonstruktion als eine nicht-objektivierende Methode betrachtet, ist dieser subjektivierende Ansatz bereits in einem theoretischen Rahmen angesetzt. Durch die Gegenüberstellung bzw. Korrelation der Objektivierung und Subjektivierung bleibt ein ursprünglicher Zugang zum Erlebnis verhindert. Aufgrund der Einwände Natorps sowie der hieran geübten Kritik können wir daher die Frage stellen, ob es einen nicht nur nicht-objektivierenden, 92
P. Natorp, Bruno Bauchs „Immanuel Kant" und die Fortbildung des Systems des kritischen Idealismus, in: Kant-Studien X X I I (1918), S. 434. Ferner GA 56/57, S. 107. 13 Xolocotzi
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sondern auch nicht-theoretischen Zugang zum Erlebnis gibt, und ob dieser vor allen erkenntnistheoretischen Deutungen zustande kommen kann. Im Laufe der Untersuchung haben wir stets bereits vordeutend auf diese Möglichkeit hingewiesen: die hermeneutische Anschauung Heideggers. D.h. hier finden wir den gesuchten ursprünglichsten Boden, auf dem das Prinzip der Phänomenologie entformalisiert wird. Das hermeneutische Moment in seinen Bezug zur Phänomenologie sachgemäß zu verstehen, ist keine sekundäre Angelegenheit. Es ist indes nicht einfach zu sehen, in welchem Sinne die Phänomenologie nicht mehr eine reflexive, sondern eine hermeneutische ist. Man muß diese zwei Möglichkeiten der Phänomenologie, nämlich die reflexive und die hermeneutische, einerseits sachgemäß trennen, andererseits aber ebenso genau betrachten, worin das Gemeinsame von beiden besteht. In den vorangegangenen Paragraphen haben wir dies versucht. Dabei wurde klar, daß das Entscheidende der Phänomenologie als Methode im Prinzip aller Prinzipien bzw. in der Forschungsmaxime liegt. Eine hermeneutische Phänomenologie entformalisiert das neutrale Prinzip in einer Weise, die ursprünglicher ist als die reflexive Entformalisierung, insofern diese in jener fundiert ist. Daß das Hermeneutische der Grund der reflexiven Phänomenologie ist, bedeutet nicht, daß letztere in irgendeiner Weise bereits das Hermeneutische entdeckt hätte. Der reflexiven Phänomenologie blieb das Hermeneutische wesenhaft verborgen. Dies müssen wir hier ausdrücklich betonen, damit wir keinen Interpretationsfehler begehen und versuchen, das Hermeneutische bereits in den reflexiven Ausarbeitungen Husserls zu finden. 93 93 Diesen Interpretationsfehler begehen m.E. die Ausarbeitungen von J. Grondin und J. Caputo. Grondin schreibt: „Die Husserlsche Frage nach der Sinnkonstitution ist bereits hermeneutisch, sofern sie auf die Intentionalität hinter jeder Position, ja hinter jeder angeblichen Sache selbst geht. Die Intention meint, daß die Sache in einem verstehenden Vollzug oder Vorgriff steht. Die intentio ähnelt gewissermaßen einem Entwerfen", Die hermeneutische Intuition zwischen Husserl und Heidegger, in: Inmitten der Zeit. Beiträge zur europäischen Gegenwartsphilosophie. Festschrift für Manfred Riedel, S. 271-277. Hier S. 272 f. (k.g.v.m.). Dazu ist aber zu sagen, daß für Husserl die Sinnkonstitution erst in der transzendentalen Einstellung erfolgen kann und das heißt: sie ist nur durch έποχή und Reduktion möglich. Aguirre hat diese Tatsache deutlich gesehen: „Horizontintentionalität [...] gibt der Rede vom hermeneutischen Bewußtsein ihre Berechtigung. In dem Augenblick aber, da die Horizontintentionalität durch die έποχή außer Kraft gesetzt wird, wird auch das - natürliche - hermeneutische Bewußtsein außer Kraft gesetzt. Die Phänomenologie als uninteressiert zuschauende transzendentale Selbstauslegung des ego ist eine nicht-hermeneutische WissenschaftDie Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik, S. 80. Caputo seinerseits schreibt: „Husserl's notion of a predelineated horizont is of decisive importance to Heidegger's notion of projective understanding (entwerfendes Verstehen) [...] Hence we want to show that Husserl's phenomenology is at bottom already a proto-hermeneutics, already a philosophy of the presuppositions which infiltrate and condition thematic
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Wenn wir von hermeneutischer Phänomenologie sprechen, liegt auch die Gefahr nahe, sie einfach als eine „Verschmelzung" von zwei verschiedenen philosophischen „Positionen" zu sehen, und zwar eine Verschmelzung von Diltheys und Husserls 94 oder von Bergsons und Diltheys Ansatz. 95 Dazu aber ist zu sagen, daß die hermeneutische Phänomenologie Heideggers in ihrer Ursprünglichkeit betrachtet werden muß und nicht bloß als eine Sammlung von Ideen. Wenn sie als „eine Art Synthese" oder „Verschmelzung" gesehen wird, wird sie nicht in ihrer vollen Radikalität gesehen. Spätestens seit 1919 war Heidegger klar, wie die Philosophie zu radikalisieren war und das Leben der Philosophie gerettet werden könnte. In einem Brief an Husserls Tochter Elisabeth schreibt er am 24. April 1919: „Öfters denke ich an unser Gespräch über das historische Bewußtsein. Ob unser gestaltendes Leben wirklich seine historische Lebung lebt - sie selbst ist, daran hängt alles. Aber nicht an der theoretischen Betrachtung dieser Möglichkeit und nicht an der Reflexion darüber", 96 Was in diesem Brief deutlich gesagt wird, ist eine Erläuterung dessen, was Heidegger bereits im KNS (25. Januar - 16. April 1919) ausgearbeitet hat. Dort wird das Leben und Erleben in seinem Ursprung nicht in einer theoretischen Betrachtung oder in einer Reflexion über selbiges erfaßt, sondern in seinem umweltlichen Ursprung philosophisch thematisiert. Das Leben und Erleben muß in seinem Ursprung entdeckt werden, d.h. in seinem umweltlichen Ursprung. Wie aber geschieht dieses Entdecken des acts" und weiter unten: „ I do not see that there is any serious difference between Heidegger and Husserl on the question of the projectiveness of intentional life, of its dependence upon anticipatory structures in order to make its way around the world", Husserl, Heidegger and the question of a „hermeneutic" phenomenology, in: Husserl Studies 1 (1984), S. 157-178. Hier S. 168 (k.g.v.m.) und S. 176 (k.g.v.m.). Wenn Caputo keine „serious difference" sieht und er Husserls Phenomenology bereits hermeneutisch auslegt, können wir vermuten, daß Caputo nicht genug in den philosophischen Unterschied zwischen beiden eingedrungen ist. Die Inadäquatheit solcher Interpretationen versuchen wir durch die vorliegende Arbeit zu beleuchten. 94 Gadamer begeht diesen Interpretationsfehler, wenn er in ,Die Geschichte der Philosophie' schreibt: „Das spiegelt sich noch in dem Versuch Heideggers, die systematische, transzendentalphilosophische Konzeption seines bewunderten Lehrers Husserl, des Begründers der Phänomenologie, von der historischen Reflexionsarbeit des Dilthey sehen Denkens her zu modifizieren und eine Art Synthese zwischen der Geschichtlichkeitsproblematik Diltheys und der Wissenschaftsproblematik der transzendentalen Grundorientierung Husserls herbeizuführen", Gesammelte Werke Bd. 3, S. 298 (k.g.v.m.). 95 Pöggeler zufolge verschmelzen in der hermeneutischen Intuition der lebensphilosophische Ansatz Bersongs und der hermeneutische Ansatz Diltheys, vgl. O. Pöggeler, Neue Wege mit Heidegger, S. 24. Dieser Interpretationslinie folgt auch InSuk Kim in seiner Dissertation »Phänomenologie des faktischen Lebens', S. 63. 96 In: Aut-Aut 223-224 (Jan-April 1988), S. 6.
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Lebens in seiner Welt? Heidegger wird dies im § 14 des KNS als Umwelterlebnis zum Aufweis bringen.
b) Das Umwelterlebnis Heidegger zufolge soll ein einheitliches Erlebnis so ausdrücklich vollzogen werden, daß es im ausdrücklichen Vollzug hermeneutisch zur Auslegung gebracht werden kann. Er geht vom ,Erlebnis des Sehens Ihres Platzes4 aus, worunter das Betreten eines Hörsaales, das Sehen des gewohnten Platzes und das Zugehen auf den gewohnten Platz zusammengefaßt wird. Doch ein gemeinsam durchlebtes Erlebnis schließt auch den Lehrenden ein, wie Heidegger modifizierend feststellt. Auch dessen Erlebnis kann vollzogen werden: der Lehrende tritt ein und sieht das Katheder. Zwar kann dieses Erlebnis mitvollzogen werden, aber für die anderen ist das Katheder der Platz, von dem zu ihnen gesprochen wird, während es für den Lehrenden der ist, an dem er zu den anderen spricht. Bei dem Erlebnis des Sehens des Katheders kommt also alles darauf an, wie dieses Sehen angelegt und verstanden wird. ,Was sehen Sie und was sehe ich?4 ist die entscheidende Frage. Heidegger stellt drei mögliche Antworten dar: 1. Ich sehe „braune Flächen, die sich rechtwinklig schneiden44 (GA 56/57, S. 71). Diese Antwort führt das sinnlich-wahrgenommene Körperding im Sinne Husserls an, das erst als fundiertes Objekt, als Katheder, aufgefaßt wird. 2. Ich sehe „eine Kiste, und zwar eine größere, mit einer kleineren daraufgebaut 44. Diese Antwort wird ebenfalls noch aus einer theoretischen, nicht aus einer reinen a-theoretischen Einstellung heraus gegeben. Hier ist auch noch das Fundierungsmodell leitend, geht es doch um sinnlich Wahrnehmbares, das dann die Bedeutung Katheder bekommt. Wenn Heidegger die Richtigkeit dieser Antworten verneint, so spricht er aus der zu gewinnenden a-theoretischen Einstellung. Beide Antworten sind dem geforderten Zugang nicht angemessen, es sind keine hermeneutischen Antworten. Sie erfolgen aus jener theoretischen Einstellung heraus, für die die sinnliche Wahrnehmung der primäre Zugang zu den umweltlichen Dingen ist, d.h. ausgehend von räumlich-zeitlichen Wahrnehmungsbeschaffenheiten, die das sinnlich wahrgenommene räumliche oder körperliche Ding bilden. Diese scheinbar selbstverständliche, theoretische Blickweise geht bis auf die antike Philosophie zurück und ist auch die Einstellung der reflexiven Phänomenologie Husserls, wie wir bereits gesehen haben. 3. Erst die dritte Antwort gibt das reine, d.h. das nicht von der theoretischen Sphäre angetastete Erlebnis: „[...] ich sehe das Katheder, an dem ich sprechen soll, Sie sehen das Katheder, von dem aus zu ihnen gesprochen wird, an dem ich schon gesprochen habe44. Bei dieser Antwort merken wir, daß Heidegger auch nach dem sehenden Erleben fragt, allerdings nicht als
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primär wahrnehmendes, sondern als α-theoretisch verstehendes Erleben. Die zur hermeneutischen Phänomenologie gehörende Intuition wird am Ende des § 20 des KNS deutlich als verstehende bzw. hermeneutische Intuition angesprochen: „Das bemächtigende, sich selbst mitnehmende Erleben des Erlebens ist die verstehende, die hermeneutische Intuition" (GA 56/57, S. 117). 97 Hier wird die hermeneutische Intuition nicht nur erwähnt, sondern es wird auch die Weise benannt, wie sie möglich wird: Sie kommt zustande durch ein sich seihst mitnehmendes Erleben des Erlebens. Obwohl Heidegger an dieser Stelle das verstehende und das hermeneutische Sehen gleichsetzt, ist der Sache nach eine Unterscheidung durchzuführen. 98 Ersteres zeigt die unausdrücklich ursprünglichere Weise, in der wir leben: wir verstehen unser „Ich" und die Dinge in der Welt in bestimmter Weise. Wir verstehen uns nicht als Dinge in der Welt, sondern als das Verstehende der Dinge, als das, was ein Umgang mit den Dingen vollzieht. Die Dinge ihrerseits sind für uns zunächst nicht bloße Wahrnehmungsdmgt, sondern bedeutsame umweltliche Dinge, die erst im Umgang mit ihnen erscheinen. Wir entdecken die Dinge primär in einem verstehenden Sehen: in einer verstehenden Anschauung. Wenn dieses Sehen von seiner Unausdrücklichkeit in die Ausdrücklichkeit übergeht, dann geschieht hier ein Verkündigen, ein Kundgeben. 99 Hier findet dann ein hermeneutisches Sehen statt: die hermeneutische Intuition. Dieses meint keine Reflexionshaltung, sondern nur das ausdrückliche Erleben des sonst unausdrücklichen Erlebens. Hermeneutische Anschauung bzw. hermeneutische Intuition besagt keine Weise des reflektierenden Erblickens, sondern deutet nur auf den Ausdrücklichkeitsmodus hin, in den das Erlebnis übergeführt w i r d . 1 0 0 97
Bezüglich der Hermeneutik bei Heidegger vgl. C. Jamme, Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87); G. Scholtz, Was ist und seit wann gibt es ,hermeneutische Philosophie'? in: Dilthey-Jahrbuch 8 (1992-93). 98 In der Vorlesung vom WS 1919/20 gibt es zahlreiche Stellen, die diese Unterscheidung belegen. Vgl. GA 58, S. 185, 237 f., 240. 99 Daher schreibt Heidegger in UzS: „Aus all dem wird deutlich, daß das Hermeneutische nicht erst das Auslegen, sondern vordem schon das Bringen von Botschaft und Kunde bedeutet", S. 122. 100 An dieser Stelle müssen wir uns vor dem Interpretationsfehler hüten, der die hermeneutische Anschauung als eine Art Reflexion auslegt. Diese Meinung wird z.B. von S. Crowell vertreten. Er schreibt: „Heidegger works out an amalgamation of phenomenological reflection and interpretation that he denotes ,hermeneutic intuition'" und weiter unten: „hermeneutic intuition be ,self-accompanying' expresses a reappropriation, rather than a rejection, of the genuinely phenomenological concept of reflection", Question, Reflection, and Philosophical method in Heidegger's Early Freiburg Lectures, in: B. Hopkins (Hrsg.), Phenomenology: Japanese and American Perspectives, S. 201-230. Hier S. 208 und 212. Aufgrund des bisher Ent-
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Diesbezüglich können wir verschiedene Modi dessen, was wir bisher mit dem Terminus ,Sehen4 bezeichnet haben, unterscheiden: 1. Das Husserlsche wahrnehmende Sehen von Wahrnehmungsdingen. 2. Das das Katheder in seiner Bedeutung verstehende Sehen. 3. Das durch 2 ermöglichte hermeneutische Sehen und Schauen (hermeneutische Intuition). Das Verstehen ist dann ein philosophisches Sehen und Verstehen. Verstanden wird das vorphilosophisch und a-theoretisch sich vollziehende Sehen. Das hermeneutische Sehen ist das ausdrückliche Sehen des unausdrücklich vollzogenen a-theoretischen Sehens des Katheders. Es ist ein Sehen und Verstehen, das das Unausdrückliche ausdrücklich machend auslegt. Das Erlebnis ändert sich dabei nur in seinem Vollzugsmodus, seine konstitutiven Elemente bleiben unangetastet. Es geht um ein hermeneutisch-phänomenologisch ausdrückliches Erleben des vorher unausdrücklich durchlebten Erlebnisses. Dabei heißt ausdrücklich-Machen ein Mitgehen mit dem Erleben. Nur die Weise, wie ich das Erlebnis lebe, wird modifiziert, das Erlebnis selbst bleibt dasselbe. 101 Das für Husserl fundierende sinnlich Wahrnehmende ist demgegenüber nicht fundierend, sondern selbst im hermeneutischen Verstehen fundiert. Diese bereits in den ersten Dozenten-Vorlesungen enthaltene Einsicht wird in SuZ deutlich dargestellt: „Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu. In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst44 (SuZ, S. 148). falteten läßt sich sehen, daß Crowell die Radikalität von Heideggers a-theoretischem Ansatz nicht verstanden hat, wenn er einerseits die hermeneutische Intuition als ein „amalgamation" betrachtet und sie andererseits der „reflection" zuordnet. Die hermeneutische Intuition muß in ihrer a-theoretischen Ursprünglichkeit verstanden werden und nicht als eine „reappropriation" des Reflexionsbegriffs. 101 Dies ist wichtig herauszuheben, um irrige Interpretationen wie die Figals zu vermeiden. Figal schreibt: „Wo Auslegung geschieht, hat sich ein Riß aufgetan, der das nun Auslegbare und Auslegungsbedürftige von seiner möglichen Auslegung trennt; er markiert Abstand und Andersheit und damit überhaupt erst den Spielraum der Auslegung", dieser Deutung folgend gelangt Figal zu folgendem Ergebnis: „Die Hermeneutik der Faktizität ist Theorie, und sie muß Theorie sein, um Hermeneutik der Faktizität sein zu können; nur so gewinnt sie Abstand und Spielraum zur Auslegung des Daseins", Wie philosophisch zu verstehen ist. Zur Konzeption des Hermeneutischen bei Heidegger, in: H. Vetter (Hrsg.), Siebzig Jahre Sein und Zeit, S. 135-143. Hier S. 138 (k.g.v.m.) und 139. Wenn Figal das Hermeneutische als „Abstand und Andersheit" sieht, dann fällt er in eine überlieferte Interpretation, die das Heraustreten aus dem Erlebnis für nötig betrachtet. Daher ist verständlich, daß er die Hermeneutik Heideggers nicht in ihrem a-theoretischen Charakter sieht, sondern als eine Theorie. Figals Interpretation verkennt damit die ursprüngliche Radikalität des Heideggerschen Ansatzes, vielmehr verbleibt sie in einem von Anfang an vorausgesetzten theoretischen Rahmen.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der P h ä n o m e n o l o g i e 1 9 9
Bei Heidegger geht es um ein nicht theoretisch affiziertes Kathedererlebnis, bei dem durch hermeneutisches Hinschauen in die Ausdrücklichkeit gehoben wird, was zum Erlebnis gehört. Dies ist zunächst nur das Verstehen eines Bedeutsamen in seiner Bedeutung als Katheder, ohne daß das Bedeutsame des Katheders in der sinnlichen Wahrnehmung fundiert wäre. Das Verstehen des Bedeutungshaften/Bedeutsamen ist primär. Es besteht hier kein Fundierungszusammenhang mit der Wahrnehmung. Daher sagt Heidegger, daß ich „das Katheder gleichsam in einem Schlag [sehe]" (GA 56/ 57, S. 71), d.h. unmittelbar, ohne in der Wahrnehmung fundiert zu sein. Der Ursprung der Bedeutungen ist das Bedeutsame der Umwelt als das Bedeutungsganze. Heidegger geht nicht von einer sinnlichen Wahrnehmungswelt, sondern von einer Bedeutsamkeitsumwelt aus. Das Katheder auf einen Schlag zu sehen, meint deshalb nicht, in konstitutiven Stufungen zu sehen. Heidegger meint damit nur das Sehen eines Bedeutsamen, ohne daß dieses konstitutiv in einem zuunterst Wahrgenommenen fundiert wäre. Aber was genau versteht Heidegger unter Bedeutung und Bedeutsamem? Bedeutung ist bei Heidegger kein zusätzliches Element, das den Dingen angehängt wird. Sie wird vielmehr in der Anschauung gegeben: sehend verstehe ich das Umweltliche, da es mir bedeutsam ist. Bedeutung ist aber keine Beziehung auf Gegenständliches im Sinne Husserls, d.h. keine leere Intention, die durch die Fülle der Anschauung modifiziert werden könnte. Da wir in der ursprünglichen Umweltsphäre zunächst keinen Gegenstand entdecken, sondern Umweltliches, kann die wahre Entdeckung keine Adaequatio zwischen einer Bedeutungsintention und einer Bedeutungserfüllung sein. Die Entdeckung des Umweltlichen ist Heidegger zufolge keine Modifikation der Bedeutungsintention durch den angeschauten intentionalen Gegenstand. Daher vertritt er 1919 die Auffassung, daß Bedeutungserfüllung nicht gegenstandgebend sei (ebd., S. 111). Wenn wir Umweltliches verstehen bzw. hermeneutisch anschauen, wird es als bedeutsam erfaßt: „die welthaften Gegenstände sind gelebt im Charakter der Bedeutsamkeit" (GA 61, S. 90). D.h., die Bedeutung ist kein Erkenntnispol einer logischen Synthese, sondern ein wesenhafter Charakter des Entdeckens des Umweltlichen. Wir müssen hier folgendes herausheben: Wenn Heidegger vom Sehen eines Gegenstandes als Katheder spricht, so ist hier nicht das Auffassungs-ais der reflexiven Phänomenologie gemeint im Sinne eines intentionalen Auffassungscharakters und fundiert in der Wahrnehmung des sinnlich Wahrgenommenen, sondern ein hermeneutisches als. Dies meint ein primäres Verstehen der Umweltdinge in ihrer jeweiligen Bedeutsamkeit. Als ist kein apophantisches als, sondern das - zum vorphilosophisch natürlichen Daseinsvollzug gehörende - vorausgehende hermeneutische als. In SuZ wird dies in folgender Weise formuliert: „Das „Als" macht
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
die Struktur der Ausdrücklichkeit eines Verstandenen aus; es konstituiert die Auslegung" (SuZ, S. 149).
c) Hermeneutische Entformalisierung des Prinzips aller Prinzipien Das Prinzip der Prinzipien in seinem a-theoretischen Charakter zeigt gerade die Vorgehens weise des hermeneutischen Schauens und Auslegens des Angeschauten. Doch bleibt von Anfang an zu beachten, daß das Angeschaute nicht das Gegebene im Sinne Husserls meint, das beschrieben werden kann. Vielmehr zeigt sich in dem hermeneutisch Angeschauten das originäre Phänomen in seinem Ausdrücklichkeitsmodus. Dabei ist man nicht aus dem ausdrücklich hermeneutisch Gesehenen herausgetreten, sondern es wird mitgehend ausdrücklich thematisiert und ausgelegt. Wenn dieses Prinzip kein Reflektiertes zum Ausdruck bringt, dann gilt es für Heidegger zu zeigen, was dieses Prinzip innerhalb der hermeneutischen Phänomenologie zum Ausdruck bringen kann. Dafür gebraucht Heidegger im KNS verschiedene Ausdrücke, die auf die ursprüngliche Sphäre des Umwelterlebnisses hindeuten: die Urintention des wahrhaften Lebens, die Urhaltung des Erlebens und Lebens als solche und die Lebenssympathie. 102 Die Urintention des wahrhaften Lebens weist auf den unverfälschten Charakter des Ursprungsphänomens hin. Wir haben bereits bemerkt, daß das, was wir hinnehmen müssen, nicht das Leben und Erleben in ihrem abkünftigen theoretischen Charakter ist, sondern in ihrem unzerstörten umweltlichen Charakter. Dies bildet die Urhaltung des Lebens und Erlebens. Demgegenüber erwies sich die theoretische Einstellung als eine modifizierte objektivierende Haltung. Die Urhaltung des Lebens und Erlebens wird von Heidegger auch als Lebenssympathie gekennzeichnet, insofern sie die erlebende Übereinstimmung des Lebens mit sich selbst meint. Diese Wesenszüge des Lebens und Erlebens deuten zugleich auf die Weise des thematisierenden Zugangs zum Leben und Erleben hin, nämlich auf die hermeneutische Zugangsweise. Festzustellen ist somit, daß das Prinzip der Prinzipien in der a-theoretischen Auslegung die methodische Grundhaltung der hermeneutischen Phänomenologie bildet. Dies läßt uns sehen, daß Heidegger seit der ersten Dozenten-Vorlesung auf eine methodische Sicherheit abzielte. Und hier hat er bereits eine Orientierung zu ihr gewonnen. Der Gedankengang bezüglich der Methode führt uns bis zum § 7 von SuZ. Dort wird der Blick auf die Behandlungsart der hermeneutischen Methode geworfen, obwohl sich die Analyse auf die Forschungsmaxime bezieht und das Prinzip der Prinzipien 102
Vgl. GA 56/57 S. 109 f.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der P h ä n o m e n o l o g i e 2 0 1
abgeblendet bleibt. Wir haben indes bereits bemerkt, daß beide denselben methodischen Sachverhalt meinen. Aufgrund des Gesagten können wir verstehen, daß der Terminus Phänomenologie4 zunächst auf die Beziehung φαινόμενον - λόγος hindeutet. Bei Husserl haben wir dies als die Beziehung zwischen einer phänomenischen und einer logischen Synthese dargestellt. Daher schreibt Heidegger im WS 1920/21, daß die Phänomenologie „den λόγος der Phänomene [gibt]" (GA 60, S. 63). Bei Husserl aber ist das φαινόμενον, wie wir gesehen haben, nur reflexiv zugänglich, und der λόγος wird zu einem Ausdruck des in dieser Weise Angeschauten.
d) Parallelismus mit Husserl An dieser Stelle können wir einen Parallelismus zu Husserls Darstellung finden. Im § 18 haben wir auf das Fundierungsverhältnis der Anschauung bei Husserl hingewiesen. Wir hoben dort heraus, daß die kategoriale Anschauung auf der sinnlichen gründet. Die sinnliche Anschauung ihrerseits ist die Weise, wie die wahrzunehmenden Gegenstände gegeben sind. Erst durch eine Blickwendung können wir das Kategoriale entdecken. Dabei taucht ein anderer Gegenstand auf, und wir sind in einer anderen Einstellung. Parallel dazu finden wir nun bei Heidegger zwei „Stufen" der Anschauung. Zunächst sehen wir das Umwelthafte in seiner Bedeutung verstehend. Wir entdecken die Dinge primär in einem verstehenden Sehen: in einer verstehenden Anschauung. Wenn dieses Sehen von seiner Unausdrücklichkeit in die Ausdrücklichkeit übergeht, dann modifiziert es sich in ein hermeneutisches Sehen. Dieses gründet in gewisser Weise im verstehenden Sehen, aber dieses Fundierungsverhältnis unterscheidet sich radikal von demjenigen Husserls. Daß das hermeneutische Sehen durch das verstehende Sehen ermöglicht wird, bedeutet nicht, daß hier eine Ausformung vom Erschauten und vom Erschauenden geschieht. Es wird kein neuer Gegenstand gebildet, und es wird keine neue Einstellung gewonnen. Die Rede von bildender Gegenständlichkeit und wechselnder Einstellung hat nur einen Sinn innerhalb einer reflexiven Methode. Hermeneutische Anschauung hat in diesem Sinne einen gewissen Parallelismus zur kategorialen Anschauung Husserls, insofern beide die philosophisch-phänomenologische Anschauung meinen. Bei Husserl gründet diese in der sinnlich wahrnehmungsmäßigen Anschauung, während für Heidegger die hermeneutische Anschauung im verstehenden Sehen gründet, insofern sie nur ein Ausdrücklichmachen des vordem nicht Ausdrücklichen, aber Verstandenen, ist. 1 0 3
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Durch die Entdeckung einer sinnlich-kategorialen „einheitlichen Gegenständlichkeit" bei Husserl wird das jeweilige Erlebnis gebrochen, wenn auch nicht unmittelbar in dem Sinne, daß es selbst zum Gegenstand würde; aber im Wahrnehmen und in der Reflexion ist der ursprünglichere Rhythmus des Erlebens bereits gebrochen. Heidegger klärt dies im KNS: „Das Erlebte ist ganz aus der Rhythmik des selbst minimalen Erlebenscharakters herausgebrochen und steht für sich, ist nur gemeint im Erkennen" (GA 56/ 57, S. 98). M.a.W., das auf der Wahrnehmung fundierte und durch Reflexion herausgehobene Erlebnis ist nicht in seiner Ursprünglichkeit erfaßt: 1. Die sinnliche Wahrnehmung ist bereits eine Umdeutung der ursprünglicheren Umweltsphäre; ein Bruch des Rhythmus des Erlebnisses und seines Erlebten. 2. Durch Reflexion wird die ratio essendi der sinnlichen Gegenständlichkeit gesehen, dadurch kann aber das a-theoretische Umweltliche nicht entdeckt werden, da Reflexion eine Blickwendung ist, die alles, was sie erblickt, bereits theoretisiert. Daher ist das Kategoriale, das durch diese Blickwendung gesehen wird, eine neue Gegenständlichkeit. Anhand eines Beispiels können wir dies verdeutlichen: Die Idee Tasse meint nicht die auf meinem Schreibtisch stehende Tasse, aber sie wird mit dieser in Beziehung gebracht, wenn ich Tee in diese Tasse einschenke. Im Tee-Einschenken ist das Wesen der Tasse unabgehoben, aber gegeben; sie ist irgendwie gesehen, sonst kann ich keinen Tee einschenken. Für Husserl aber wird dies nicht verstanden, sondern reflexiv gesehen. Durch die Blickwendung innerhalb der Tasse selbst wird das Unabgehobene als eine neue Gegenständlichkeit erfaßt, die Tasse als Tasse. Dadurch bin ich zugleich in einer anderen Einstellung: ich bin bereits aus dem Erlebnis herausgetreten, da es nur durch ein anderes Reflexionserlebnis gesehen werden kann. Ferner kann für Husserl die hier durchgeführte phänomenische Synthese nur durch eine logische erkannt werden. Die Anschauung allein ist unerkannt. Nur durch eine erkenntnistheoretische Evidenz, d.h. durch die Adaequatio zwischen dieser kategorialen Gegenständlichkeit und der kategoria-
103 Wenn wir auf diesen Parallelismus hinweisen, hat dies hauptsächlich zwei Gründe: 1. um die formal phänomenologische Struktur, der Heidegger gründend im Prinzip aller Prinzipien folgt, zu beweisen und 2) um die Nähe der Ausarbeitungen Heideggers mit den L U zu sehen und dadurch die Fehlinterpretation zu widerlegen, die versucht, die hermeneutische Phänomenologie Heideggers in die Nähe der transzendentalen Phänomenologie Husserls (,Ideen Γ ) zu setzen. Diese Fehlinterpretation ist in der Sekundärliteratur weit verbreitet, z.B.: R. Thurnher, Husserls Ideen und Heideggers Sein und Zeit, in: A. Bäumer/M. Benedikt (Hrsg.), Gelehrtenrepublik und Lebens welt, S. 151; R. Rodriguez , La Transformation Hermenéutica de la Fenomenologia, S. 38; S. Crowell, Question, Reflection, and Philosophical Method in Heidegger's Early Freiburg Lectures, S. 203; ders., Ontology and Transcendental Phenomenology - Between Husserl and Heidegger, in: B. Hopkins (Hrsg.), Husserl in Contemporary Context, S. 13-15, 27.
2. Kapitel: Die methodische Behandlungsart der P h ä n o m e n o l o g i e 2 0 3
len Bedeutungsintention ist ein fester Boden der Forschung gesichert. Nur hier gibt es Erkenntnis im prägnanten Sinne. Heidegger seinerseits greift von dieser Einsicht Husserls den Unterschied zwischen dem Sichtigen und dem Gegebenen auf. Aber er wird die Beziehung zwischen beiden in radikaler Weise umdeuten. Das nicht-sichtige „Gegeben" wird verstanden und nicht durch eine reflexive Blickwendung gesehen. Wenn ich Tee in die Tasse einschenke, verstehe ich die Tasse als solche, jedoch in einer unausdrücklichen Weise, d. h. nicht thematisch erfassend wie einen Wahrnehmungsgegenstand bei Husserl. Hier sprechen wir nicht vom Wesen oder der Idee der Tasse, da „Wesen" das Ergebnis eines Verallgemeinerungsprozesses, einer Generalisierung ist, sondern die Tasse wird in ihrem ursprünglichen Charakter verstanden: in ihrem um weltlichen Charakter. Die Tasse ist zunächst nicht ein Gegenstand, sondern ein Umweltliches, d. h. etwas, mit dem ich in meinem Umgang mit der Welt zu tun habe; etwas, aus dem ich, während ich schreibe, Tee trinke. Ich entdecke die Tasse nicht primär als ein Wahrnehmungsding, sondern als ein umweltliches Ding. Dadurch bin ich aber nicht aus dem Erlebnis herausgetreten: Es geschieht im Kundgeben des verstehenden Sehens nur ein Überführen des unausdrücklichen Modus in den ausdrücklichen; aber dies besagt kein Heraustreten aus dem Erlebnis selbst, sondern ein Mitgehen mit dem Erlebnis. Somit können wir sehen, daß das Verstehen des Umweltlichen im Umwelterlebnis eine radikale Interpretation der grundlegenden Elemente und Probleme einer philosophischen Besinnung erfordert. Bedeutung, Erkenntnis und Wahrheit werden nicht mehr in einer reflexiven Weise betrachtet, sondern hermeneutisch. Zusammenfassend können wir folgendes sagen: 1. Bedeutung im hermeneutischen Sinne hat keinen erkenntnistheoretischen Charakter. 2. Bedeutung muß in Korrelation zum verstehenden Anschauen gebracht werden. Es geschieht hier keine Deckung. 3. Daher geschieht hier ein ganz andersartiger Wahrheitsbegriff: keine Adaequatio. 4. Die hier vollzogene Erkenntnis ist dann auch eine andersartige: eine verstehende Urerkenntnis. 5. A l l dies deutet darauf hin, daß das Phaenomenon, das durch das Prinzip aller Prinzipien entdeckt wird, in einer radikal ursprünglicheren Weise gesehen wird: Durch die hermeneutische Anschauung geschieht eine radikal ursprünglichere Entformalisierung des Prinzips der Phänomenologie. Im nächsten Kapitel werden wir die Beziehung zwischen dem λόγος und dem φαινόμενον, die durch die Phänomenologie zustande kommt, genauer betrachten. Der hermeneutisch-phänomenologische Zugang zum Leben und Erleben bedarf einer eigenen philosophischen Begrifflichkeit. Bildet Natorp zufolge jede Beschreibung bereits eine Objektivierung, so müssen wir demgegenüber auf den andersartigen Charakter einer hermeneutischen Begriff-
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
lichkeit bezüglich des faktischen Lebens eingehen. Dadurch werden wir sehen, inwiefern die hermeneutische Phänomenologie den λόγος der Phänomene gibt. Drittes Kapitel
Die formale Anzeige als erste Zugänglichkeit zum faktischen Leben § 22. Die formale Anzeige und der „Zugang" zum faktischen Leben a) Die vortheoretisch-wissenschaftliche Möglichkeit der „Erkenntnis" und Begriffsbildung In den vorangegangenen Paragraphen hat sich die Radikalität der Philosophie Heideggers im Unterschied zu der überlieferten Philosophie und besonders zur Phänomenologie Husserls gezeigt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß bei Heidegger die Philosophie als eine vortheoretische Urwissenschaft zu verstehen i s t . 1 0 4 Wenn sie als eine Wissenschaft zu betrachten ist, dann, so erwähnten wir bereits, taucht eine Reihe von Problemen auf, die den Begriff dieser Wissenschaft betreffen. Jedes in bezug auf die vortheoretische Wissenschaft stehende Element muß, wie diese Wissenschaft selbst, in einer neuartigen bzw. radikalen Weise ausgelegt werden. In diesem Sinne hat sich ergeben, daß die Frage nach dem Leben in einer wissenschaftlichen Weise untersucht wird. 1920 macht Heidegger dies deutlich: Das Problem des Lebens beschäftigt uns insofern, als wir die Frage stellen, in welcher Art sich philosophische Erkenntnis expliziert. Das Problem der philosophischen Begriffsbildung ist nicht nachträglicher, wissenschaftstheoretischer Natur; es ist das philosophische Problem in seinem Ursprung (GA 59, S. 169, k.g.v.m.).
Wenn die Wissenschaft nur durch Erkenntnis und Begriffsbildung zustande kommen kann, dann müssen wir die der vortheoretischen Urwissenschaft gehörende Erkenntnis und Begriffsbildung in einer adäquaten Weise, d.h. vortheoretisch, auslegen. Diese in den vorangegangenen Paragraphen vorgenommene vortheoretische Charakterisierung haben wir als Urerkenntnis angesprochen. Dazu ist aber zu fragen: Ist nicht alle Erkenntnis unumgänglich theoretisch? Sind nicht alle Begriffe, wie Natorp eingewendet hat, Theoretisierungen? 104
Siehe hierzu § 15 der vorliegenden Arbeit.
3. Kapitel:
i formale Anzeige und das faktische Leben
205
Im Laufe der Untersuchung haben wir auf eine grundlegende Voraussetzung der überlieferten Philosophie hingewiesen: auf das Befangensein im Theoretischen. Die tradierte Philosophie, Husserls eingeschlossen, kennt allein den theoretischen Zugang zu den Problemen der Philosophie, da sie unter der „Vorherrschaft des Theoretischen" steht (GA 56/57, S. 59). Die Erkenntnis und die Begriffsbildung wurden dementsprechend nur theoretisch aufgefaßt. Nunmehr gilt es zu zeigen, inwiefern die hermeneutische Philosophie Heideggers einen nicht-theoretischen Zugang zum Problem bietet. Die Möglichkeit eines theoretischen oder nicht-theoretischen Zugangs zum Gegenstand der Philosophie hängt von der Art der Beziehung Zugang - Gegenstand ab. Wir haben wiederholt betont, daß der Zugang kein technisches Mittel darstellt, sondern in einer wesentlichen Beziehung zum jeweiligen Gegenstand der Untersuchung steht. 105 Der Gegenstand bestimmt in gewisser Weise den Zugang zu ihm. Wenn der Gegenstand theoretisch „erscheint", dann wird er nur theoretisch zugänglich. In diesem Fall hält sich die Beziehung Zugang - Gegenstand innerhalb eines theoretischen Rahmens. Dieser Rahmen bildet die Grenze der überlieferten Philosophie. Umgekehrt heißt dies, daß alle tradierten philosophischen Interpretationen die Beziehung Zugang - Gegenstand nur theoretisch durchführen konnten. In diesem Sinne können wir den Schluß ziehen, daß diese überlieferten Interpretationen sich auf einer selbstverständlichen Voraussetzung bewegen: auf dem theoretischen Boden. 1 0 6 Erst die hermeneutische Phänomenologie Heideggers sieht diese Voraussetzung und eröffnet die Möglichkeit einer ursprünglicheren Beziehung Zugang - Gegenstand. Dies ist nur möglich, wenn die phänomenologische Frage weiter eindringt und die vortheoretische Sphäre des Gegenstands der Philosophie sieht. Somit wird der Gegenstand vortheoretisch entdeckt, d.h. er wird α-theoretisch zugänglich. Hier taucht wieder die oben in bezug auf die wissenschaftlichen Elemente dieser Entdeckung genannte Frage auf, nämlich die Frage nach dem vortheoretischen Charakter der Erkenntnis und der Begriffsbildung: Wie sind diese zugänglichen Elemente aller Wissenschaft α-theoretisch möglich? Um in die Gedankenbahn der Freilegung der hermeneutischen Erkenntnis und Begriffsbildung hineinzugelangen, müssen wir zunächst die Andersartigkeit des Problems herausheben: die Urwissenschaft hat keine Erkenntnis, die auf einer sinnlichen Wahrnehmung oder auf einer transzendenten 105
Vgl. den Anfang des Hauptteils der vorliegenden Arbeit. Husserl konnte in diesem Sinne das Prinzip aller Prinzipien bzw. das Prinzip der Voraussetzungslosigkeit eigentlich nicht vollständig durchführen, da er die Voraussetzung des Theoretischen nicht in Frage gestellt hat. 106
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Quelle beruht. Die „Erkenntnis" des faktischen Lebens in seinem Ursprung hat Heidegger, wie wir im vorangegangenen Paragraphen dargestellt haben, als eine bestimmte Intuition charakterisiert: als eine verstehende Intuition. In diesem Sinne gibt es kein Erkennen im tradierten Sinne, sondern ein Verstehen. Wir können wiederum das bekannte Zitat der KNS-Vorlesung heranziehen: „[...] statt ewig Sachen zu erkennen, zuschauend zu verstehen und verstehend zu schauen" (GA 56/57, S. 65). Die „Erkenntnis" bzw. Urerkenntnis ist dann als eine verstehende Intuition zu betrachten, welche im vortheoretischen Umwelterlebnis geschieht. Das Ausdrücklichmachen dieses ursprünglichen Erlebnisses wurde als die hermeneutische Intuition charakterisiert, d.h. als das Kundgeben des ursprünglich Unausdrücklichen. Hier ist jedoch zu beachten, daß der ursprüngliche Charakter der verstehenden Intuition nicht verlorengeht, sondern beim Ausdrücklichmachen des Unausdrücklichen beibehalten wird. Aufgrund dieser Einsicht hat sich gezeigt, daß das Ausdrücklichmachen kein reflexives Theoretisieren bedeutet. Nunmehr gilt es zu zeigen, inwiefern auch die Begriffsbildung, mit der das Ausdrücklichmachen der verstehenden Intuition geschieht, eine vortheoretische sein kann. Daher schreibt Heidegger im SS 1920: „Die Entscheidung über Sinn, Charakter und Funktion des philosophischen Begriffs 4 wird davon abhängig, wie sich das Philosophieren selbst im Gegenhalt zur wissenschaftlich-theoretischen Sacheinstellung ursprungsmäßig, nicht klassenmäßig, bestimmt" (GA 59, S. 8, k.g.v.m.). Da durch das Umwelterlebnis die für die Tradition verborgene vortheoretische ursprüngliche Sphäre enthüllt wurde, wurde auch eine ursprüngliche vortheoretische Möglichkeit der philosophischen Begriffe eröffnet. Heidegger wird die vortheoretische Möglichkeit der philosophischen Begriffe als formale Anzeige charakterisieren. 107 Wir müssen zunächst näher auf die Be107 Die formale Anzeige wurde in der jüngsten Sekundärliteratur vielfältig dargestellt. Einige herausragende Ausarbeitungen haben grundsätzliche Elemente herausgehoben z.B.: Th. C. W. Oudemans, Heideggers „logische Untersuchungen", in: Heidegger Studies 6 (1990), S. 85-105; R. J. A. van Dijk, Grundbegriffe der Metaphysik: Zur formalanzeigenden Struktur der philosophischen Begriffe bei Heidegger, in: Heidegger Studies 7 (1991), S. 89-109; P.-L. Coriando, Die „formale Anzeige" und das Ereignis. Vorbereitende Überlegungen zum Eigencharakter seinsgeschichtlicher Begrifflichkeit mit einem Ausblick auf den Unterschied von Denken und Dichten, in: Heidegger Studies 14 (1998), S. 27-^3. Andere Ausarbeitungen haben Interpretationsfehler begangen: Z.B. hat Pöggeler in verschiedenen Schriften auf die formale Anzeige als einen der „verschiedenen Wege Heideggers" hingewiesen. Pöggeler zufolge ist die formale Anzeige die „gesuchte Logik" Heideggers und in diesem Sinne als ein „mittlerer Weg" zwischen den fFV und SuZ zu sehen, vgl. Nachwort zur dritten Auflage von ,Der Denkweg', S. 354: „Achtet man auf die Schritte, die Heidegger auf seinem Weg tat, dann kann man die fFV überhaupt nicht unmittelbar mit SuZ verbinden: zwischen beiden Positionen liegt Heideggers Versuch, die formal anzeigende Hermeneutik als „Schematisierung" auszubilden", vgl.
3. Kapitel: Oi formale Anzeige und das faktische Leben
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ziehung zwischen dem wissenschaftlichen Zugang z u m faktischen Leben und dieser vortheoretischen Begrifflichkeit eingehen.
b) Die Beweglichkeit des Lebens und die formale Anzeige D i e Frage, die Heidegger eingangs stellt, ist die Frage nach dem Leben. Genauer besehen: die Frage nach dem faktischen Leben i n seinem Ursprung. Diese Frage als die zuerst zu stellende Frage der Philosophie darf nicht als eine bloße Frage nach einem gehaltlich bestimmten Gegenstand gestellt werden, sie zeigt eine komplexere Struktur. So bietet es sich bezüglich dieser Struktur an, einen kleinen R ü c k b l i c k auf zwei hierin besonders bedeutsame Grundcharaktere des Lebens zu werfen: seine Weltbezogenheit und seine
Selbstgenügsamkeit.
D i e Charakterisierung des Lebens als selbstgenügsam grenzt sich ab, erstens von abgeleiteten Interpretationen, die meinen, daß das Leben unvollk o m m e n oder ungenügend s e i , 1 0 8 und zweitens von Interpretationen, die sagen, daß es unumgänglich eines transzendentalen Zugangs bedarf. Gegen-
auch S. 363; ferner vgl. ders., Heideggers Topologie des Seins, in: Man and World 2 (1969), S. 333; ders., Die Einheit der phänomenologischen Philosophie, in: Eros and Eris. Contributions to an Hermeneutical Phenomenology, S. 192; ders., Heideggers logische Untersuchungen, in: M. Heidegger: Innen- und Außenansichten, S. 8289. Der Interpretation Pöggeler s folgt In-Suk Kim in seiner Dissertation »Phänomenologie des faktischen Lebens: Heideggers formal anzeigende Hermeneutik'. Auf der letzten Seite seiner Arbeit schreibt er: „zwischen dem, was Heidegger von 1919 bis 1923 leistete, d.h. der Hermeneutik der Faktizität einerseits und dem eigentlichen Weg des SuZ, d.h. der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt anderseits besteht eine Kluft: nämlich als der dritte Weg jener Hermeneutik der Temporalität, die als Schematisierung des Begriffs ausgestaltet wird", S. 137. Th. Kisiel hat an verschiedenen Stellen die formale Anzeige in bezug auf die ^MS-Schema interpretiert, und zwar in einer mißdeutenden Weise bezüglich des vorweltlichen Etwas, z.B. in: Die formale Anzeige. Die methodische Geheimwaffe des frühen Heideggers, in: Heidegger neu gelesen, S. 22^1-0 und in: L ' indication formelle de la facticité: sa genèse et sa transformation, in: Heidegger 1919-1929. De l'herméneutique de la facticité a la métaphysique du Dasein, S. 205-219. Diese Fehlinterpretation wurde von T. Kalariparambil in ,Das befindliche Verstehen und die Seinsfrage' überzeugend widerlegt, S. 93-98. Folgende Ausarbeitungen beleuchten die Problematik der formalen Anzeige in verschiedenen Hinsichten: C. F. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff... S. 45 ff.; J. van Buren, The Young Heidegger. Rumor of the Hidden King, S. 324-341; D. Dahlstrom, Heidegger's method: philosophical concepts as formal indications, in: Review of Methaphysics 47 (1994), S. 775-795; G. Imdahl, Das Leben Verstehen. Heideggers formal anzeigende Hermeneutik in den frühen Freiburger Vorlesungen, S. 142-174; R. Rodriguez , La transformation hermenéutica de la Fenomenologia, S. 161-174; R. Streeter , Heidegger's formal indication: A question of method in Being and Time, in: Man and World 30 (1997), S. 4 1 3 ^ 3 0 . 108 Vgl. GA 58, S. 30.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
über diesen Auslegungen zeigt sich das Leben ursprünglich in seiner αυτάρκεια, in seinem An-sich-sein, in seiner Selbstgenügsamkeit. Im WS 1919/20 macht Heidegger dies deutlich: „Es braucht strukturmäßig aus sich nicht heraus (sich nicht aus sich herausdrehen), um seine genuinen Tendenzen zur Erfüllung zu bringen" (GA 58, S. 31). In diesem Sinne können wir vom autarken Charakter des Lebens sprechen. Diese Selbstgenügsamkeit des Lebens bedeutet aber nicht, daß es weltlos sei. Das Leben zeigt eine eigene intentionale Struktur in der Weise der Weltbezogenheit: Es ist immer in bezug auf Welt, κόσμος, zu verstehen. Das Leben ist also wesentlich weltbezogen bzw. weit-gesäumt. Diesen Charakter können wir als den kosmologischen Charakter des Lebens bezeichnen. In diesem Charakter zeigt sich eine ursprünglichere Auslegung der Intentionalität: eine umwelterlebende Intentionalität. Aber welche Tragweite haben diese Charaktere des Lebens? Beide Charaktere grenzen sich zunächst von der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls ab. Bei Husserl muß die Philosophie als strenge Wissenschaft eine transzendental-erkenntnistheoretische Reflexion sein. Das Leben als mögliche philosophische Thematisierung kann dementsprechend nur in dieser Weise zugänglich sein: transzendental-erkenntnistheoretisch. Wenn aber die Philosophie bei Heidegger nicht als eine transzendental-erkenntnistheoretische strenge Wissenschaft zu verstehen ist, sondern als eine vortheoretische Urwissenschaft, dann enthüllt sich das Leben als philosophische Thematisierung in anderen Charakteren. In diesem Sinne steht die autarke Charakterisierung gegen die konstitutiv-transzendentale Auslegung Husserls. Der kosmologische Charakter seinerseits zeigt eine ursprünglichere Intentionalität, die der theoretischen Intentionalität Husserls voraus geht. Zusammenfassend können wir sagen, daß der autark-kosmologische Charakter des Lebens die Weise zeigt, wie durch die vortheoretische Urwissenschaft das Leben ursprünglich zugänglich wird. Im vorphilosophischen alltäglichen Leben werden jedoch diese Charaktere nicht abgehoben. Es wird nur der Gehalt des Erlebens gesehen: ich nehme eine Tasse, ich sehe ein Mädchen, ich lese ein Buch, usw. In diesem Sinne spricht Heidegger von einer gewissen Indifferenz in bezug auf die Weise des Erfahrens: „Das Eigentümliche der faktischen Lebenserfahrung ist, daß das ,wie ich mich zu den Dingen stelle', die Art und Weise des Erfahrens, nicht mit erfahren wird" (GA 60, S. 12). Das Brechen dieser Indifferenz wird in der Tradition nur durch Reflexion ermöglicht. Wir haben bereits herausgehoben, wie diese Reflexion bei Husserl stattfindet. Das Brechen des Aufgegangenseins des Lebens in der Welt wird nur durch ein Rückblicken möglich. Aber dieses Rückblicken hat die Eigenschaft, das Erleben zum Gegenstand zu machen, und damit verliert es
3. Kapitel: Oie, formale Anzeige und das faktische Leben
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seinen vollzugshaften Charakter. Das Erlebnis wird dadurch vergegenständlicht. Festzustellen ist somit, daß die philosophische Behandlungsart der Tradition, Husserl eingeschlossen, nur das Gehaltliche des Erlebnisses sehen konnte. Der Versuch, einen Blick auf die Weise, wie das Gehaltliche gehabt wird, zu werfen, scheitert, insofern dieses Wie vergegenständlicht wird und nur als ein Was auftaucht. Wir werden sehen, daß auch die Methode der Formalisierung Husserls diesem Vorgehen nicht entgehen kann. Aber wie kann das Wie und nicht das Was des Erlebens gewonnen werden? Wie können wir das Erlebnis in seinem vollzugshaften Charakter begreifen? Aufgrund des Gesagten können wir den autark-kosmologischen Charakter des Lebens, d.h. die Selbstgenügsamkeit und Weltbezogenheit des Lebens, in einer Tendenz charakterisieren: Aufgegangensein in der Welt. Dieses Aufgehen meines alltäglichen Verhaltens geschieht in einer selbstverständlichen Weise: ich laufe auf dem Gehweg zur Universität, ich denke an meinen Vater, usw. In dieser Selbstverständlichkeit sehe ich die Sachen, aber nicht mein autark-kosmologisches Leben als solches. Es ist trotzdem selbstverständlich, daß ich darin bin, daß ich der bin, der läuft oder denkt, aber mein Leben als solches bleibt selbstverständlich vorausgesetzt. Diese Selbstverständlichkeit des Lebens, in der wir zunächst sind, wurde von Heidegger als eine bestimmte Tendenz des Lebens charakterisiert. Die Rede von Tendenz deutet darauf hin, daß das Leben in seinem autark-kosmologischen Charakter als eine Bewegung zu verstehen ist. Im fünften Kapitel werden wir auf die Bedeutung der Aristotelischen κίνησις für das vollständige Verstehen des Zugangs zum Leben eingehen. Zunächst genügt es vorwegzunehmen, daß die Rolle der formalen Anzeige als die philosophische Begrifflichkeit nur innerhalb dieser Bewegung des Lebens sachgemäß verstanden werden kann. Anders gewendet: Der Übergang vom unausdrücklichen umweltlichen Verstehen in die Ausdrücklichkeit und die Rolle der formal anzeigenden Begriffe dabei kann nur erfaßt werden, wenn das Leben in seiner Beweglichkeit verstanden wird: in seiner κίνησις. Daher können wir das Leben als eine autark-kosmologische κίνησις charakterisieren. Weiter oben haben wir bereits bemerkt, daß diese Charaktere des Lebens sich zunächst in einer Indifferenz zeigen. Diese Indifferenz ist aber bereits eine Beweglichkeit des Lebens, eine Tendenz. Heidegger wird sie im WS 1921/22 als eine ruinante Tendenz 109 bezeichnen. 109 Vgl. GA 61, S. 131 ff. Die Rede von Abfall im ersten Teil dieser Vorlesung deutet auf dieselbe Tendenz des Lebens hin, vgl. S. 38. 14 Xolocotzi
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
, Ruinanz' bedeutet ,Sturz' und erweist sich als eine sich steigernde Bewegtheit des faktischen Lebens. 110 Der Terminus deutet auf keine werthafte oder moralische Beziehung hin, sondern soll nur als eine Grundbeweglichkeit des Lebens verstanden werden. 111 Die ruinante Tendenz des Lebens trägt den Charakter der Selbstverständlichkeit, und dieser begnügt sich, wie wir bereits gesagt haben, mit dem Gegenständlichen. Anders gewendet heißt dies, daß die Ruinanz nur das Was sehen kann. M.a.W., das Selbstverständliche hat nur Beziehung zu den Gegenständen, zur Was-Seite des Erlebnisses. Das ruinante Leben ist daher einseitig, insofern es die korrelative Seite des Erlebens, die Wie-Seite, nicht sieht. Weil die Ruinanz das Erleben selbst, das Wie der Erfahrung, nicht sieht, weiß sie nichts vom Leben selbst, d.h. vom autark-kosmologisch-kinetischen Charakter des Lebens. Das Leben und Erleben bleibt in der ruinanten Tendenz un-erhellt. Das ruinante Leben zeigt sich als ein un-erhelltes richtungsloses Leben, insofern es sich als ein „Nichtwissen" erweist. Die unerhellte Verdeckung ist eine richtungslose, insofern sie als selbstverständliche keiner Richtung zu bedürfen glaubt. Aber hier taucht die Frage auf: Wenn das Leben zunächst in totalitärer Weise den Charakter der Ruinanz trägt, wie ist es möglich, aus der Ruinanz auszubrechen? Wenn das Leben zunächst keine „Distanz" zur Welt und zu den Dingen zeigt, wie kann das Wie des Erlebnisses zugänglich gemacht werden? Dabei ist folgendes zu beachten: Da die Ruinanz sich als eine Beweglichkeit bzw. Tendenz des Lebens erweist, enthält sie als solche die Grundcharaktere des Lebens: autark, kosmologisch, kinetisch. Diese Charaktere zeigen, daß das Leben in seiner Ruinanz selbstgenügsam, umwelterlebend und beweglich ist. Der erste Charakter deutet auf die Unmöglichkeit eines Ausbrechens aus dem ruinanten Leben hin, wie Oudemans mit Recht betont hat. 1 1 2 Der letzte Charakter jedoch eröffnet die Möglichkeit der Bewegung, besser besagt: der Gegenbewegung. M.a.W., trotz der Tatsache, daß man aus der Ruinanz nicht ausbrechen kann, deutet die Ruinanz in 110 Die Termini ,Ruinanz' oder ,Abfall' (GA 61, S. 38) deuten auf den Vollzugsmodus hin, in dem das Leben gelebt wird. Im letzten Kapitel werden wir auf die Urstruktur der hermeneutischen Situation zurückkehren. Dort werden wir sie in ihrer „variablen Mannigfaltigkeit" auslegen, d.h. in ihrem Gehalts-, Bezugs- und Vollzugssinn. Letzterer zeigt die Weisen, wie der Bezugssinn, die Sorge, gehabt wird: ruinant oder gegenbewegend. In SuZ wird dies uneigentlich oder eigentlich genannt. Es ist hier wichtig zu bemerken, wie Oudemans es mit Recht tut, daß in den fFV „der spezifische Charakter der formalen Anzeige innerhalb der nichthintergehbaren Totalität des Verfallens hervorgehoben" wird, Heideggers „logische Untersuchungen", S. 85 (im folgenden zitiert als: Oudemans). 111 In den §§ 26-27 werden wir auf diese Problematik anhand der Aristotelischen κίνησις eingehen. 1,2 Vgl. Oudemans, S. 88.
3. Kapitel: Oit formale Anzeige und das faktische Leben
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ihrem richtungslosen Charakter der Selbstverständlichkeit auf eine bestimmte Richtung des Lebens hin, auf eine Bewegung} 13 Diese läßt die Möglichkeit einer Erhellung des Lebens zu Wort kommen. Auf diese Weise kann gesehen werden, daß die Möglichkeit der Erhellung des Lebens nur aufgrund des richtungslosen Charakters des ruinanten Lebens zustande kommen kann. Bisher war die Rede von selbstverständlich' oder ,richtungslos 4 bezüglich des ruinanten Lebens. Wie soll dies verstanden werden? Das Richtungslose des ruinanten Lebens muß als eine Leere betrachtet werden: das ruinante Leben ist ein leeres Leben. Als leer „enthält 44 es in sich das „Bestreben 44, erfüllt zu werden: „ihre Leere ist ihre Bewegungsmöglichkeit44 (GA 61, S. 131). Die Leere des ruinanten Lebens gibt in diesem Sinne die Richtung, den Ansatz vor. Die hier genannte Erfüllung der Leere ist Heidegger zufolge nur als Bewegung zu verstehen: als eine Gegenbewegung. 114 An diesem Punkt können wir an die formale Anzeige anknüpfen, da diese einen Ansatzcharakter trägt, eine erste Zugänglichkeit zum faktischen Leben bildet: „,Formal 4 gibt den ,Ansatzcharakter 4 des Vollzugs der Zeitigung der ursprünglichen Erfüllung des Angezeigten44 (ebd., S. 33). 1 1 5 An einer anderen Stelle der Vorlesung vom WS 1921/22 macht Heidegger den spezifischen Ansatzcharakter der formalen Anzeige deutlich: „Sofern alles im faktischen Leben erhellt, in irgendwelcher unausdrücklichen Rede steht, in unabgehobener faktisch ruinanter Interpretation ,ist 4 , liegt darin die Möglichkeit und faktische Notwendigkeit (bzw. Ausweis der Genuinität) der formalen Anzeige als Ansatzmethode der existenziellen kategorialen Interpretation 44 (ebd., S. 134). Wenn die Situation des faktischen Lebens sich als eine Leere im Sinne von richtungslos erweist, aber dies als eine Grundbewegung des Lebens, die eine Erhellung sucht, zu verstehen ist, dann ist hier die Funktion der formalen Anzeige zu betrachten. Heidegger weist im WS 1921/22 darauf hin: „[...] je radikaler das Verstehen des Leeren als so formalen, desto reicher wird es, weil es so ist, daß es ins Konkrete führt 44 (ebd., S. 33). Die formale Anzeige ist dann die begriffliche Weise, wie die Leere bzw. das Richtungslose des Lebens erfüllt werden kann. Die Begriffe zeigen nur die Richtung des Angezeigten an. Dies kann nur das Wie sein. Im Leeren 113 Oudemans schreibt dazu: „Das Paradoxe dieser Denkversuche ist, daß die Ruinanz total ist, jedoch in irgendeiner Weise erfahrbar, dergestalt, daß sich innerhalb der Ruinanz eine Gegenbewegtheit manifestieren kann", S. 88. 114 Vgl. GA 61, S. 132 ff; Oudemans, S. 88: „Diese Richtung geht nicht auf ein Ziel, sie erfüllt sich in und als Bewegung, als das Einhalten eines Weges, als ein „Wie des Sichverhaltens'"'. 115 GA 61, S. 33.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
wird nur das Was gesehen. Das Konkrete, das angezeigt wird, zeigt sich, wie wir bereits angedeutet haben, als eine Gegenbewegtheit: diese Gegenbewegtheit wird in der phänomenologisch-hermeneutischen Zugangsmethode zum Aufweis gebracht, nämlich in der Reduktion, Re-konstruktion und Destruktion. Von daher läßt sich die Vermutung aufstellen, daß der volle Sinn der formalen Anzeige nur anhand dieser drei methodischen Momente sachgemäß zu verstehen ist. Wir müssen dies erläutern. Da der Zugang ein wissenschaftlicher bzw. urwissenschaftlicher ist, kommen wir auf die oben gestellten Probleme zurück: auf die Probleme der Erkenntnis und der Begriffsbildung. Eine hermeneutische Behandlung dieser Probleme finden wir, wie wir bereits vorweggenommen haben, bei Heidegger unter dem Begriff formale Anzeige. Dies wird in den folgenden Paragraphen in zwei Schritten behandelt: Zunächst in einer vorläufigen terminologischen Charakterisierung der formalen Anzeige (§ 23), dann in einer Entfaltung der zum methodischen Zugang gehörenden Momente: Reduktion (§§ 24-25), Rekonstruktion (§§ 26-27) und Destruktion (§ 28). Der volle Sinn der formalen Anzeige kann erst dann verstanden werden, wenn diese drei methodischen Momente zugleich begriffen wurden. M.a.W., da die Erkenntnis und die Begriffsbildung in der vortheoretischen Urwissenschaft nicht ordnungsmäßig, sondern vollzugshaft verstanden werden müssen, bedürfen wir bestimmter methodischer Momente, die das Vollzugshafte des Lebens zugänglich machen können. Das erste Moment, die hermeneutische Reduktion, ist ein Rückgang bzw. ein Rückstieg von der nicht ursprünglichen Erfassung des Lebens zum darin verhüllten verstehenden Umwelterlebnis. Die Reduktion enthüllt sich als die Methode der Zurückleitung zur ursprünglichen Dimension am Leitfaden der Bedeutsamkeit. Das vollzugshafte verstehende Umwelterlebnis, in dem wir uns von vornherein bewegen, wird nun in einen Ausdrücklichkeitsmodus überführt. Dies bildet das zweite methodische Moment: die Rekonstruktion. Es geschieht nur eine Wiederholung, ein Ausdrücklichmachen dessen, was sich unausdrücklich ereignet. M.a.W., die verstehende Intuition wird in eine eigentlich hermeneutische übergeführt. Aber das Ausdrücklichmachen der hermeneutischen Situation ist begleitet vom dritten Moment der Zugangsmethode: von der Destruktion. Das Bekanntsein der hermeneutischen Situation ist ein tradiertes, das noch verdeckende Elemente enthalten kann. Um einen sicheren Zugang zu gewinnen, muß auch ein Abbauen der überkommenen Vorstellungen stattfinden. Im nächsten Kapitel werden wir auf diese drei Momente zurückkommen, zunächst wenden wir uns der terminologischen Analyse des Begriffs formale Anzeige
zu.
3. Kapitel:
i formale Anzeige und das faktische Leben
213
§ 23. Die terminologischen Anstöße für die ,formale Anzeige6 in Anlehnung an die Husserlschen Analysen a) Vorbemerkung Nach der Lektüre von SuZ scheint es zunächst, als ob die formale Anzeige in diesem Text beiseite gelassen worden sei. Dies trifft aber nicht zu. In einem Brief an Löwith von 1927 schreibt Heidegger: „Formale Anzeige, Kritik der üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles für mich da, wenn ich auch jetzt nicht davon rede" (Briefe H-L, S. 37, k.g.v.m.). Daß die formale Anzeige nicht nur eine frühe „Etappe'4 des Denkwegs Heideggers war, 1 1 6 können wir anhand späterer Analysen bestätigen. In der Vorlesung vom WS 1929/30 kommt Heidegger auf diese Problematik zurück. Im § 70 schreibt er: „Alle philosophischen Begriffe sind formal anzeigend, und nur, wenn sie so genommen werden, geben sie die echte Möglichkeit des Begreifens" (GA 29/30, S. 425). 1 1 7 Festzustellen ist somit, daß die in den fFV erstmals dargelegte formale Anzeige den ganzen Weg Heideggers bestimmen w i r d . 1 1 8 Wie wichtig sie für ein sachgemäßes Verständnis seiner Phänomenologie ist, hat Heidegger selbst 1924 in einem anderen Brief an Löwith bezüglich des geplanten Aufsatzes ,Der Begriff der Zeit (Anmerkungen zum Dilthey-Yorck Briefwechsel)' ausgedrückt: „Leider mußte ich Wichtiges beiseite lassen, so vor allem die „formale Anzeige", die für ein letztes Verständnis unentbehrlich ist - ich habe daran wesentlich gearbeitet". 119 Zunächst wenden wir uns der Analyse der terminologischen Gewinnung der formalen Anzeige zu. Dies bildet nur eine vorläufige Annäherung. Ein umfassendes Verständnis kann nur anhand des in den folgenden Paragraphen zu entfaltenden methodischen Zugangs zum Leben gewonnen werden.
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Wie Ο. Pöggeler und In-Suk Kim meinen. Dies war Heidegger bereits zehn Jahre zuvor klar; damals ist für ihn die formale Anzeige als „ [ . . . ] ein methodischer, hier nicht näher zu explizierender Grundsinn aller philosophischen Begriffe und Begriffszusammenhänge zu sehen ist [...]", GA 9, S. 11. 118 P.-L. Coriando hat gezeigt, wie die formale Anzeige im seinsgeschichtlichen Denken Heideggers zu verstehen ist. Vgl. Die „formale Anzeige" und das Ereignis. Vorbereitende Überlegungen zum Eigencharakter seinsgeschichtlicher Begrifflichkeit mit einem Ausblick auf den Unterschied von Denken und Dichten, in: Heidegger Studies 14 (1998), S. 2 7 ^ 3 . 119 Brief vom 06. November 1924, in: J. W. Storck und Th. Kisiel (Hrsg.), Martin Heidegger und die Anfänge der „Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte". Eine Dokumentation, in: Dilthey-Jahrbuch 8 (199293), S. 214. 117
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Im WS 1920/21 charakterisiert Heidegger die , formale Anzeige' als „den methodischen Gebrauch eines Sinnes, der leitend wird für die phänomenologische Explikation" (GA 60, S. 55). D.h., die Betrachtung der formalen Anzeige gehört für Heidegger in die Betrachtung der phänomenologischen Methode bzw. der phänomenologischen Explikation. 1 2 0 Der Sinn der formalen Anzeige enthüllt sich als eine „erste Zugänglichkeit" zur Problematik des faktischen Lebens, wie Heidegger im WS 1921/ 22 heraushebt: „um aber gerade die Seinssinnproblematik dieser Gegenständlichkeit [faktischen Lebens, Α. X.] heute überhaupt verständlich zu machen, ist es notwendig, das in einer zugespitzten Form der formalen Anzeige zum Ausdruck zu bringen. Von dieser ersten Zugänglichkeit kann schrittweise aneignungsmäßig der Weg zurück gemacht werden" (GA 61, S. 172, k.g.v.m.). Damit wir diese erste Zugänglichkeit sachgemäß verstehen können, müssen wir zunächst erläutern, was Heidegger jeweils unter ,formal' und ,anzeigen' versteht. Dabei ist uns durchaus bewußt, daß es andere Versuche gibt, die die formale Anzeige Heideggers in Anlehnung an andere philosophische Ausarbeitungen entfalten. 121 Dabei beschränken wir unsere Analyse auf den möglichen terminologischen Einfluß Husserls, blenden also die Frage nach möglichen anderen, nichtphänomenologischen Einflüssen ab. Gerechtfertigt wird ein solches Vorgehen aus der Absicht der vorliegenden Untersuchung, die ihren Schwerpunkt auf den Unterschied zur Phänomenologie Husserls legt. Die Rede von ,formal' führt uns zur Husserlschen Unterscheidung zwischen Formalisierung und Generalisierung. ,Formal' informale Anzeige hat seinen Anstoß aus dieser Unterscheidung bekommen. Doch bleibt von Anfang an zu beachten, daß sich ,formal' bei Heidegger nicht mit ,formal' in der Formalisierung Husserls deckt. Man muß sich freilich auch vor dem MißVerständnis hüten, ,formal' im Gegensatz zu ,material' zu verstehen. Im folgenden versuchen wir, ein klareres Verständnis von ,formal' zu gewinnen, und anschließend wenden wir uns kurz dem Begriff ,Anzeige' zu, damit der Sinn von formaler Anzeige sachgemäß aufgefaßt werden kann.
120
Vgl. GA 60, S. 64. So bezieht sich z.B. G. Ihmdahl in seiner Dissertation ,Das Leben Verstehen 4, S. 45 ff., auf das „formale Moment" Simmeis. Gadamer hat die formale Anzeige in bezug auf Kierkegaards Aufmerksammachen ausgelegt, vgl. Heideggers Wege S. 148. Jesus Adriàn folgt dieser Interpretationslinie in seiner Dissertation ,E1 joven Heidegger. Un estudio interpretativo de su obra temprana al hilo de la pregunta por el ser\ Universidad Autònoma de Barcelona, 2000. 121
3. Kapitel: Oi formale Anzeige und das faktische Leben
215
b) Formalisierung und Generalisierung Husserl ist es gelungen, eine logische Explikation der schon aus der Mathematik bekannten Methoden der Formalisierung und Generalisierung durchzuführen. In den L U vollzog er diesbezüglich eine erste Analyse, die im § 13 der ,Ideen Γ weiter entfaltet wurde. 1 2 2 Generalisierung bezieht sich unumgänglich auf ein bestimmtes Sachgebiet, in welchem das Sachhaltige der Dinge betrachtet wird. Dies bedeutet, daß sich in dieser Methode der Blick nach dem Was richtet, nach dem Sachhaitigen des zu Generalisierenden. M.a.W., Generalisierung ist ein Bestimmen eines Gegenstands nach seiner Sachhaltigkeit. Aber diese Methode bezieht sich nicht bloß auf das Was in irgendeiner Weise, sondern ordnungsmäßig, d.h. sie ordnet in einer bestimmten Richtung. Es geschieht hier eine Stufenfolge der „Generalitäten" (GA 60, S. 58), die anhand von Gattungen und Arten durchgeführt wird. Insofern kann man die Generalisierung als eine „Weise des Ordnens" bezeichnen. Die Charaktere der Generalisierung können wir durch unser Beispiel beleuchten: ich sehe einen Kuchen. Hinsichtlich der Generalisierung werden im Kuchen die sachhaltigen Charaktere gesehen, d. h. sein Was. Was ist der Kuchen? Der Kuchen ist Speise, Nachspeise, usw. Durch diese Heraushebung der Charaktere wird eine generalisierende Stufenordnung durchgeführt. Der Kuchen wird sachhaltig betrachtet und dann untergeordnet unter die höhere Gattung Nachspeise und diese ihrerseits unter die oberste Gattung Speise. Man sieht hier, daß das, was in der Generalisierung geschieht, ein Herausheben und ein direktes Ordnen der sachhaltigen Charaktere der Gegenstände ist. Aber ,Kuchen', ,Nachspeise', usw. ordnen sich dem kategorialen Titel „Wesen" oder „Gegenstand" unter. Diese Ordnung geschieht jedoch nicht in generalisierender Weise als eine sachhaltige Gattung. Wesen oder Gegenstand berücksichtigen keine Sachhaltigkeit der Gegenstände, kein Was der Dinge, sondern nur die „Form". Diese andersartige Ordnung kennen wir als Formalisierung. Man kann in der Generalisierung von „materialen Kategorien" und in der Formalisierung von „formalen Kategorien" sprechen. 123 Die materialen Kategorien führen zur Konstitution von Regionen, die wir als regionale Onto122 K. Held hat in ,Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie4 bemerkt, daß Husserls kategorial Allgemeine der L U in zwei Gruppen zerfällt: das synthetischformal Allgemeine und das durch Ideation gegebene eidetisch Allgemeine. Ersteres wird in den , Ideen Γ als Formalisierung ausgearbeitet, letzteres als Generalisierung, S. 114. Vgl. dazu 6. LU, §§ 48, 50, 51 und 52; ,Ideen Γ , § 13.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
logien kennen. D.h., Regionen, in welchen das Sachhaltige in einer bestimmten Gruppe eingestuft werden kann: Geometrie, Biologie, usw. Die regionalen Ontologien sind das Ergebnis bestimmter ordnungsmäßiger Generalisierungen. Die Formalisierung enthält ihrerseits keine materialen Kategorien und konstituiert keine sachhaltige regionale Ontologie. Die Formalisierung enthält formale Kategorien, die nicht an das Sachhaltige, an das Was, gebunden sind. Heidegger klärt dies im WS 1920/21: „Die Bestimmung biegt sofort ab von der Sachhaltigkeit des Gegenstands, sie betrachtet den Gegenstand nach der Seite hin, daß er gegeben ist; er wird bestimmt als Erfaßtes\ als das, worauf der erkenntnismäßige Bezug geht" (GA 60, S. 61). In diesem Sinne beziehen sich die formalen Kategorien „Wesen überhaupt" oder „Gegenstand überhaupt" auf das „Worauf" des theoretischen Einstellungsbezugs. Daher kann die Formalisierung auch als ein Ordnen bezeichnet werden. Hier können wir die Frage stellen, ob dies überhaupt adäquat ist, und wie sich dieses Ordnen vom Ordnen der Generalisierung differenziert, da doch Husserl in den ,Ideen Γ klar feststellt: „Generalisierung ist etwas total anders als Formalisierung" (Hua III/1, S. 26). Aufgrund des Entfalteten läßt sich sagen, daß eine Methode eigentlich ordnungsmäßig aufzufassen ist, wenn die Betrachtung sachhaltig durchgeführt wird. Daher gibt es in der Formalisierung eigentlich kein Ordnen im strengen Sinne und dementsprechend keine Region, insofern eine Region als das Ergebnis der Stufenordnung charakterisiert wird. Unbeschadet dieser Einsicht dringt Heidegger jedoch weiter in die Problematik ein und bringt ein bestimmtes Ordnen und eine „Region" der Formalisierung zur Sicht. Heidegger zufolge kann in der Formalisierung Wesen bzw. Gegenstand als „Region" bezeichnet werden, insofern der Bezug zu einer formalen Gegenstandskategorie ausgeformt wird. Anders gewendet heißt dies, daß die Ordnung bzw. „Region" der Formalisierung indirekt hinsichtlich dieser Ausformung verstanden werden muß. Die Zuordnung oder „Region" stellt einfach die Ausformung eines Bezugs dar (GA 60, S. 62). In diesem Sinne enthält die Formalisierung bei Husserl eine wichtige Aufgabe, da sie den Weg zur mathesis universalis zeigt. D.h., den Weg zu einer reinen Phänomenologie des Formalen, die sich als solche als eine abgelöste theoretische Region konstituiert. Auf diese Weise stellen die formalen Kategorien nur formal-ontologische Bestimmungen dar. Das bedeutet, daß sie eigentlich nichts präjudizieren sollen. Dieser Gedankengang zeigt den Anspruch Husserls, die Phänomenologie auf sicheren Boden zu bauen. 123
Vgl. dazu ,Ideen Γ , S. 27. Ferner E. Lévinas, Théorie de l'intuition dans la phénoménologie de Husserl, S. 21.
3. Kapitel:
ie formale Anzeige und das faktische Leben
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Wenn die Phänomenologie für Heidegger jedoch keine theoretische Wissenschaft ist, sondern eine vortheoretische Urwissenschaft, dann enthüllen sich die Kategorien der Formalisierung und die Formalisierung selbst als präjudizierende, da diese einen formal-ontologischen Status beansprucht, der aus dem theoretischen Anliegen gewährleistet wird. Die Kategorien der Formalisierung setzen daher einen theoretischen Anspruch voraus. Sie präjudizieren etwas, jedoch in einer verdeckten Weise, insofern sie den Bezug zum „Gegenständlichen" nicht herausheben, sondern ihn zu einer bestimmten Gestalt ausformen. Diese Gestalt wird für Husserl die mathesis universalis sein, die unter einem theoretischen wissenschaftlichen Anspruch steht. Die Weise, wie das Präjudizieren der Formalisierung auf dem Boden des theoretischen Anspruchs geschieht, zeigt sich in der jeweiligen Analyse der Probleme der Philosophie. Die Behandlung der Probleme in der Geschichte der Philosophie stellt eine theoretisch-formale Bestimmtheit des Gegenständlichen dar. Dies müssen wir kurz erläutern. Es wurde bereits erwähnt, daß der Hauptunterschied zwischen der Generalisierung und der Formalisierung in ihrer sachhaltigen Bezogenheit liegt. Gemeint ist damit, daß die Generalisierung sachhaltig bezogen ist, die Formalisierung dagegen nicht. Wenn es zuträfe, daß letztere nichts über das Was präjudiziert, könnte die Meinung zu Wort kommen, daß dadurch das Wie des Bezugs und das Wie des Vollzugs zur Abhebung gebracht werde. Dies trifft jedoch nicht zu. Gerade weil die formale Bestimmung inhaltlich völlig indifferent ist, kann sie nicht „in der Schwebe gehalten" werden, wie Heidegger zu schreiben pflegt, sondern schreibt einen theoretischen Bezugssinn vor. Mit dem Auftauchen des theoretischen Bodens wird das Vollzugsmäßige verdeckt und nur der Gehalt berücksichtigt. 124 Aber wir sagten doch oben, daß in der Formalisierung der Gehalt ausgeschaltet bleibt. Wie ist es dann möglich, daß sich die Formalisierung auf dem gehaltlichen Boden bewegen kann? Die Formalisierung als formale Bestimmtheit bezieht sich zunächst nicht sachhaltig auf die Gegenstände. Sofern sie jedoch das Vollzugsmäßige des Phänomens nicht enthüllen kann, weil sie schon auf der Basis des Theoretischen steht, bleibt die Formalisierung stets nur auf das Gegenständliche des Phänomens in einer ausgeformten Weise gerichtet. Ihr gelingt es niemals, das Phänomen anders als gegenständlich zu enthüllen, und in dieser Weise gehört das, was zum Anschein 124
Im ,Manuskript Bröcker' vom SS 1922 wird gesagt: „Diese eigentümliche Weise, daß sich im Seinscharakter des faktischen Lebens das Was-Sein vor das Daß-Sein schiebt, hat in der Philosophie ihre geistesgeschichtlichen Motive darin, daß hier seit Aristoteles die Problematik des Was-seins den prinzipiellen Vorrang hat vor dem Daß; wo vom Daß die Rede ist, wird es nur gesehen innerhalb des Horizontes des Was", SS-1922, S. 51.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
kommt, in das Gehaltliche. Die Formalisierung bleibt also auf das Gehaltliche bezogen. Auf diese Art läßt sich sehen, daß das, was Heidegger von der Husserlschen Formalisierung aufgreift, nicht die besondere gehaltliche Bezogenheit ist, sondern nur die Heraushebung des Bezugs. Heidegger hat hinsichtlich der Formalisierung früh erkannt, daß „der Ursprung des Formalen [...] im Bezugssinn [liegt]" (GA 60, S. 59), daher sagt er, daß „das Formale [...] etwas Bezugsmäßiges [ist]" (ebd., S. 63). Damit das Formale in seinem bezugsmäßigen Charakter tiefer verstanden werden kann, bringt Heidegger es in Zusammenhang mit dem Hauptwort ,Anzeige'. Die Rede von Anzeige verstärkt dann den bezugsmäßigen Charakter der philosophischen Begriffe, die als formale Anzeigen zu verstehen sind.
c) ,Anzeigen6 in der 1. LU Husserls Husserl beginnt die erste L U mit einer Betrachtung des Doppelsinns des Terminus ,Zeichen': „Jedes Zeichen ist Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine „Bedeutung", einen „Sinn", der mit dem Zeichen „ausgedrückt" ist" (Hua XIX/1, S. A 23). Es gibt Zeichen, die nichts ausdrücken, sondern lediglich die Funktion des Anzeigens haben. Diese Art von Zeichen werden als Anzeichen charakterisiert, z.B. Kennzeichen, Merkzeichen, usw. Erfüllt das Zeichen aber die Bedeutungsfunktion, dann wird die Rede nicht von Anzeichen, sondern von Ausdruck sein. Hierbei ist folgendes wichtig: Auch wenn die Anzeichen bedeutungslose Zeichen sind, reicht ihre Funktion weiter als die des bloßen Merkmals. Husserl schreibt, daß das, was als Anzeichen zu nennen ist, eigentlich das ist, was „als Anzeige für irgendwas dient" (ebd., S. A 25). D.h., daß die im Anzeichen gemeinten Gegenstände oder Sachverhalte eine andere Sache anzeigen. Dies kann folgendermaßen expliziert werden: Wenn wir einen anzeigenden Gegenstand betrachten, zeigt der Bestand dieses Gegenstands den Bestand eines anderen Gegenstands an. In diesem Sinne wird die Überzeugung von der Existenz des einen als das uneinsichtige Motiv für die Überzeugung von oder Vermutung der Existenz des anderen erfahren. Dies wird als eine deskriptive Einheit erlebt, die in keinem Fundierungs-Verhältnis zu sehen ist. D.h., daß die „Urteilsakte" des Anzeichens nicht zwei voneinander abhängige „Urteile" sind, sondern eine Urteilseinheit bilden und einen einheitlichen Sachverhalt andeuten, der in dieser Einheit vermeint ist. Der Sachverhalt zeigt einfach, daß eine Sache bestehen muß, weil eine andere gegeben ist. In diesem Sinne ist es zu verstehen, daß es eine bedeutungslose Beziehung im Anzeigen des Anzeichen gibt.
3. Kapitel: Oi formale Anzeige und das faktische Leben
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Im Unterschied dazu erweisen sich die Ausdrücke als bedeutsame Zeichen. Es ist wichtig, zwischen dem, was eine Aussage kundgibt, d.h. dem „Ausdruck nach seiner physischen Seite" (ebd., S. A 31), und dem, was die Aussage besagt, d. h. der Bedeutung, zu unterscheiden. Ersteres bezieht sich auf den realen Urteilsakt, letzteres auf den idealen Inhalt des Aktes. 1 2 5 Wenn hier gesagt wurde, daß der Ausdruck ein Zeichen ist, das Bedeutung enthält, deutet dies nicht auf das Psychologische oder Tatsächliche des Aktes, also auf den realen Urteilsakt hin, sondern auf das Logische, auf das ideale Korrelat, den Inhalt des Aktes. Dies wurde schon von Husserl in den ,Prolegomena' nachgewiesen. Dort wurde die Aussage nicht als ein zeitliches Erlebnis, sondern in specie behandelt. Abgesehen von den verschiedenen Funktionen, in welchen der Ausdruck auftauchen kann - besonders der einsamen und der kommunikativen Funktion 1 2 6 - enthüllt sich im Ausdruck immer eine Bezogenheit auf Gegenständliches: „Er [der Ausdruck] meint etwas, und indem er es meint, bezieht er sich auf Gegenständliches" (ebd., S. A 37). Hier müssen wir in Erinnerung rufen, daß der Ausdruck immer sinnvoll bzw. bedeutungshaft ist, auch wenn er eine Leermeinung ist, d.h. wenn es keine anschauliche Erfüllung gibt. Wir haben bereits im § 18 bemerkt, daß das, was in der 1. L U in Frage gestellt wird, die Beziehung zwischen Ausdruck und Bedeutung (eine wesentliche Verbindung) ist, während in der 6. L U die Bedeutungsintention hinsichtlich der Bedeutungserfüllung das Thema wird. Das Charakteristische des Ausdrucks ist somit, daß er eine Bezogenheit auf Gegenständliches durch die Bedeutung hat, da sich in der Bedeutung die Bezogenheit auf den Gegenstand konstituiert (ebd., S. A 54), 1 2 7 während das Anzeichen nur die Funktion des Anzeigens ausüben kann. Es ist wichtig, hier das in Erinnerung zu bringen, was wir im vorangegangenen Paragraphen kurz erläutert haben, nämlich, daß sich das, was Husserl unter „Bedeutung" versteht, in keiner Weise mit dem deckt, was Heidegger von Anfang an als Bedeutung bezeichnet. Bei Husserl handelt es 125 Wir sind uns bewußt, daß Themen wie die Bedeutung eine Reihe von Problemen beinhalten, aber es würde zu weit führen, hier darauf einzugehen. 126 Die Scheidung in Anzeichen und Ausdruck ist nicht einfach eine schlichte, sondern eine miteinander verflochtene. Ein hervorragendes Beispiel finden wir bei der kommunikativen Funktion. Dort fungieren alle Ausdrücke als Anzeichen insofern „sie [...] den Hörenden als Zeichen für die „Gedanken" des Redenden [dienen]", Hua XIX/1, S. A 33. Diese Funktion wird von Husserl als kundgebende Funktion charakterisiert. Die Kundgabe erweist sich somit als die anzeigende Funktion des Ausdrucks. 127 Daher sprechen einige Kommentatoren wie J. E. Atwell von der Bedeutung bei Husserl als einem „indirect object". Vgl. Husserl on signification and object, in: J. N. Mohanty (Hrsg.), Readings on Edmund Hussel's Logical Investigations, S. 8393; bes. S. 93.
220
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
sich um ein theoretisch gegenstandsbezogenes Element, während es bei Heidegger um eine vortheoretische Bestimmung des Umwelterlebnisses, d.h. der Sphäre, in der wir dem Umwelthaften bzw. Bedeutsamen begegnen, geht. Nach der Entfaltung der Formalisierung und des Anzeigens können wir wichtige Elemente herauszuheben, um den hermeneutischen Sinn der formalen Anzeige bei Heidegger besser zu verstehen. Bei der Formalisierung haben wir gesehen, daß sie den Anspruch hatte, das inhaltlich Indifferente auszuformen und damit die Phänomenologie auf einem sicheren wissenschaftlichen Boden zu bauen. Auf diese Weise zeigt sich die Formalisierung als eine schon präjudizierte Methode, insofern sie durch die formal-ontologische Ausformung des Bezugs ihren eigenen theoretischen Boden nicht sieht und unumgänglich die Behandlung der Phänomene gehaltlich bezogen bleibt, d.h. auf das Was-sein zentriert, bzw. zugleich das Vollzugshafte des Erlebnisses verdeckt. Die Anzeige ihrerseits erweist sich als die Funktion des Zeichens, das keine Bedeutung beinhaltet. Das Anzeigen fungiert als eine deskriptive Einheit, die einfach eine Beziehung darstellt in welcher der Bestand von etwas den Bestand von etwas anderem anzeigt. Die Anzeige enthält in diesem Sinne keine Beziehung auf einen Gegenstand, insofern sie keine eigene Bedeutung beinhaltet. Nur im Ausdruck als bedeutunghabendes Zeichen konstituiert sich eine Beziehung zum Gegenstand. Die Anzeige ist dann leer, aber nicht im Sinne einer Leermeinung, da die Leermeinung ein bedeutunghabendes Urteil ist, das schlicht keine anschauliche Fülle bekommt. Die Leere der Anzeige dagegen deutet nur auf ihren bezugsmäßigen Charakter hin, sie enthält keinen gegenständlichen Charakter. Sie deutet, wie wir bereits bemerkt haben, auf den primär zu findenden Modus des Lebens hin: auf die leere Ruinanz.
d) Formale Anzeige und Seinssinn des Lebens Festzuhalten ist damit, daß die formale Anzeige über die Generalisierung und Formalisierung hinausgeht, da es sich bei ihr um keine Ordnung handelt. Die Generalisierung ordnet in direkter Weise durch Gattungen und Arten, die Formalisierung nur indirekt, insofern der formale Bezug ausgeformt wird. Generalisierung und Formalisierung fungieren ordnungsmäßig, weil sie auf einem theoretischen Boden stehen, und „sobald Vollzug als Vorkommen in einem Ordnungsbezug gefaßt wird, ist der eigentliche Sinn des Vollzugsmäßigen von vornherein ausgeschaltet" (GA 59, S. 142, k.g.v.m.). Nur wenn der ordnungsmäßige Boden des Theoretischen in Frage gestellt wird, entsteht die Möglichkeit eines vollzugsmäßigen Zugangs zum Phänomen Leben.
3. Kapitel:
i formale Anzeige und das faktische Leben
221
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich die formale Anzeige nicht nach dem Gehaltlichen richtet, sondern nach dem Vollzugshaften. Wenn die phänomenologisch-hermeneutische Explikation beabsichtigt, das Leben in seinem Ursprung zu ergreifen, d.h. nicht nur gehaltlich bezogen in seinem Was, sondern in seinem Was-, Wie- und Daß-Charakter oder anders ausgedrückt in seinem Gehalts-,
Bezugs- und Vollzugssinn,
dann muß
disformale
Anzeige als die vollzugsmäßige Begrifflichkeit gesehen werden, die eine mögliche Entfaltung des Phänomens Leben durchführen kann. Aus diesem Grund läßt sich der bereits eingeführte bezugsmäßige Charakter der formalen Anzeige verstehen. Im Laufe der Untersuchung ist klar geworden, daß das Phänomen Leben, hermeneutisch gesehen, keine metaphysische Konstruktion ist, sondern daß es nach dem jeweiligen Sinn ausgelegt werden muß. Nach seinem Gehaltssinn enthüllt es sich als Welt. Und Welt enthält, wie wir bereits vorweggenommen haben, den Charakter der Bedeutsamkeit. Die Bedeutsamkeit bildet den Leitfaden des Grunderlebnisses, des Umwelterlebnisses. Daher verstehen wir einen Gegenstand in ursprünglicherer Weise als Bedeutsames. In diesem Sinne begegnet uns die Welt im Charakter der Bedeutsamkeit. Im Umwelterlebnis aber enthüllt sich das Leben in einer Mannigfaltigkeit von Verhaltungen, die umsorgend geprägt sind. Das Leben kann dann nach seinem Bezugssinn als Sorgen ausgelegt werden. Der Bezugssinn meint eine Weise des Erfahrenwerdens, eine Weise des Zugangs des Gehabtwerdens. Hier zeigt sich der intentionale Charakter des Lebens: die Bezogenheit des Lebens auf die Welt ist eine umsorgende. Der Bezugssinn meint keine gegenständliche objektive Beziehung, sondern er muß als „eine Zugangshaltung im Zugehen auf den Gegenstand" verstanden werden (SS1922, S. 18). Aber dieser Bezug ist nicht ein „freischwebender", sondern er wird im Vollzug des Lebens gehabt (GA 59, S. 63). Der Bezugs- und Vollzugssinn des Lebens ist gerade das, was die überlieferte Philosophie außer Acht gelassen hat. Das Formal-leere der formalen Anzeige versucht, den Bezugsund Vollzugssinn herauszuheben. In diesem Sinne deutet die formale Anzeige auf keine feste bestimmte Bedeutung, sondern sie ,,zeig[t] in ein konkretes Gebiet hinein" (GA 58, S. 248), welches nie objektiv-theoretisch, sondern einzig vollzugshaft erfahren werden kann. Die formale Anzeige knüpft damit an die grundlegende Absicht der frühen Vorlesungen Heideggers an: die Suche nach einer vortheoretischen Philosophie als Urwissenschaft. Die formale Anzeige steht in diesem Sinne im Dienste der Aufgabe des aufmerksam machenden Ursprungsverstehens (GA 59, S. 85). Die Entformalisierung der formalen Anzeige enthält das Problem einer nicht-objektiven bzw. nicht-theoretischen Konkretisierung, sie muß vollzugshaft durchgeführt werden. Darüber schreibt Heidegger im WS 1921/22:
222
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
„Es liegt in der Anzeige, daß die Konkretion nicht ohne weiteres zu haben ist, sondern eine Aufgabe eigener Art und Aufgabe für einen Vollzug eigener Verfassung darstellt" (GA 61, S. 32, k. g.v.m.). Die hier gewonnenen frühen Einsichten werden auf dem philosophischen Weg Heideggers erhalten bleiben, so daß wir ein Jahrzehnt später folgendes lesen können: Weil die Begriffe, sofern sie echt gewonnen sind, immer nur diesen Anspruch solcher Verwandlung ansprechen lassen, aber nie selbst die Verwandlung verursachen können, sind sie anzeigend. Sie zeigen in das Dasein hinein. Da-sein aber ist immer - wie ich es verstehe - meines. Weil sie bei dieser Anzeige zwar ihrem Wesen nach je in eine Konkretion des einzelnen Daseins im Menschen hineinzeigen, diese aber nie in ihrem Gehalt schon mitbringen, sind sie formal anzeigend" (GA 29/30, S. 429).
Da die philosophische Begrifflichkeit bzw. die formale Anzeige, wie wir bereits vorweggenommen haben, „aus der Weise, wie der Gegenstand ursprünglich zugänglich wird" (GA 61, S. 20) zu verstehen ist, wenden wir uns zunächst der Analyse des hermeneutischen Zugangs zur Konkretion bzw. zum Leben zu. Viertes Kapitel
Die hermeneutische Reduktion Die formale Anzeige erweist sich jedoch nicht nur als hinweisend, wie wir sie bisher betrachtet haben. Sie hat eine Doppelstruktur: hinweisend und abwehrend bzw. prohibitiv. Dieser Abwehr-Charakter der formalen Anzeige wird von Heidegger deutlich im WS 1921/22 ausgedrückt: „Die formale Anzeige verwehrt jede Abdrift in eigenständige, von Interpretationsvoraussetzung, Interpretationsvorgriff und Interpretationszusammenhang und Interpretationszeit abgelöste, blind dogmatische Fixationen des kategorialen Sinnes zu Ansichbestimmtheiten einer auf ihren Seinssinn undiskutierten Gegenständlichkeit" (GA 61, S. 142). Dieser zurückweisende bzw. verbietende Charakter der formalen Anzeige beabsichtigt, ein mögliches Mißverständnis abzuwehren, nämlich, den Grundsinn des Lebens als „feste Grundeigenschaften" zu begreifen, die zu einer „ontologischen Metaphysik des Lebens" führen könnten (ebd., S. 141). 1 2 8
128
Hier wird dies bezüglich Bergsons und Schelers gesagt.
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
223
In einem ganz anderen Sinne als bei Husserl können wir von diesem abwehrenden Charakter als einer Reduktion sprechen. Die Reduktion gehört bei Heidegger in die hermeneutische Zugangsmethode zum faktischen Leben. Daher können wir von der hermeneutischen Reduktion sprechen. Ehe wir den Blick auf die Analyse derselben richten, müssen wir zunächst einige Bemerkungen zum Begriff ,Zugangsmethode' und zum Verhältnis zur methodischen Behandlungsart anführen. Danach werden wir den Unterschied zu Husserls Reduktion herausheben, damit der positive Begriff der hermeneutischen Reduktion sachgemäß gewonnen werden kann.
§ 24. Die Reduktion und ihr Ort innerhalb der hermeneutischen „Zugangsmethode". Der Unterschied zu Husserls transzendentaler Reduktion a) Behandlungsart und „Zugangsmethode" Im Laufe der Analyse haben wir zwischen der Behandlungsart der Phänomene zum einen und der Zugangsmethode zum anderen unterschieden. Die Behandlungsart kommt in der Phänomenologie Husserls sowohl in der vortranszendentalen als auch in der transzendentalen Gestalt als Reflexion zustande. Έποχή und Reduktion bilden ihrerseits die „Zugangsmethode zur transzendental-phänomenologischen Sphäre", 129 wie Husserl selbst schreibt. Wir haben bereits bemerkt, daß sowohl die Behandlungsart als auch die Zugangsmethode Husserls nur innerhalb eines theoretischen Bodens vollzogen werden können. Die Reflexion behandelt alle Phänomene theoretisch als das Gegenständliche, insofern sie nur als Zum-Gegenstand-machen (Reflexion im weiten Sinne) bzw. als eine bestimmte „theoretische" Betrachtung des Gegenstands (Reflexion im engeren Sinne) möglich ist. Sie bricht das jeweilige Erlebnis und zwar in allen Momenten seiner intentionalen Struktur: Bei der Reflexion im weiten Sinne wird das Erlebnis zum erblickten Erlebnis und dementsprechend ist das reflektierende Ich modifiziert: es lebt nicht mehr im vorreflektierten Erlebnis, sondern gerade im reflektierenden. Bei der Reflexion im engeren Sinne wird der Gegenstand zum „theoretischen" Gegenstand, d. h. es gibt eine neue Gegenständlichkeit. Das Ich befindet sich dabei in einer „theoretischen" Einstellung. Die έποχή und Reduktion können ihrerseits nur durchgeführt werden, weil die Generalthesis auf einer bereits theoretisch bestimmten Auffassung der Welt beruht: auf der wahrnehmungsmäßigen Auffassung der Welt. Der Glaube an die natürlich wahrnehmungsmäßige Existenz der Welt muß ein129 Vgl. „Nachwort zu den Ideen I", in: Hua V, S. 141. Vgl. dazu § 13 der vorliegenden Arbeit.
224
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
geklammert werden, damit die konstituierende Region erreicht werden kann. Έποχή und Reduktion gehören in die Zugangsmethode, da durch sie die transzendental-phänomenologische Sphäre bzw. die konstituierende Region zugänglich wird. Dabei geschieht unumgänglich eine Einstellungsänderung. Durch έποχή und Reduktion verlassen wir die natürliche Einstellung und treten in die transzendentale ein. Weiter unten werden wir sehen, in welchem Sinne Konstitution und Einstellung zum Theoretischen gehören. Zusammenfassend können wir sagen, daß sich sowohl die Behandlungsart als auch die Zugangsmethode Husserls stets innerhalb des Theoretischen bewegen. Beide enthalten zweierlei vorausgesetzte Charaktere des Theoretischen: negativ als ein Brechen des Erlebnisses bzw. Ausschalten der Generalthesis des wahrnehmungsmäßigen Weltglaubens. Positiv als ein durch das erblickte Erlebnis Zum-Gegenstand-machen bzw. eine durch die transzendentale Einstellung zustande kommende Entdeckung der absoluten Region. Weiter oben haben wir darauf aufmerksam gemacht, daß die reflexive Behandlungsart die ganze Phänomenologie Husserls bestimmt, d.h., die Reflexion wird auf verschiedenen Ebenen durchgeführt. Daher werden auch die durch die transzendentale Einstellung entdeckten Phänomene reflexiv behandelt. Somit können wir bestätigen, daß die Phänomenologie Husserls von Hause aus sowohl in ihrer Behandlungsart als auch in ihrer Zugangsmethode theoretisch bestimmt ist. Aber wie steht es mit der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers? Gibt es hier eine entsprechende Teilung in Behandlungsart und Zugangsmethode? Falls ja, wie verhalten sie sich zueinander? Das zweite Kapitel des Hauptteils der vorliegenden Untersuchung hat diese Fragen bereits teilweise beantwortet: Die Weise, wie die Phänomene behandelt werden, ist bei Heidegger nicht reflexiv, sondern hermeneutisch. Die Hermeneutik kann aber auch als ein „Zugang" betrachtet werden, insofern das Leben und Erleben durch das Ausdrücklichmachen des unausdrücklichen ursprünglichen Erlebnisses „zugänglich" wird. Im SS 1923 macht Heidegger dies deutlich: „Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen" (GA 63, S. 15, k.g. v. m.). Wenn wir im Laufe der Untersuchung „Zugang" im Sinne Heideggers in Anführungszeichen schreiben, wollen wir damit auf eine andere Auffassung des Zugehens hindeuten. Es darf auf keinen Fall im Sinne eines Brechens oder einer Einstellung gesehen werden. Vielmehr wollen wir mit „Zugang" die Weise ausdrücken, wie das Leben selbst thematisch werden kann. Die Eigenschaftswörter , hermeneutisch-phänomenologisch ' bestimmen diese konkrete Weise, in der der Zugang zu verstehen ist. In diesem Sinne ist der
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion hermeneutisch-phänomenologische
„Zugang"
zum faktischen
225 Leben
die
Weise, wie das Leben und Erleben philosophisch thematisiert werden können. Das Hermeneutisch-Phänomenologische des „Zugangs" zum faktischen Leben besagt dabei dreierlei: 1. Das philosophische Thematisieren des faktischen Lebens gründet auf dem Prinzip aller Prinzipien bzw. auf der Forschungsmaxime Zu den Sachen selbst! Genauer besehen: auf der vortheoretischen ursprünglichen Gestalt des Prinzips. 2. Die Weise, wie das Phänomen Leben zu behandeln ist, ist keine Reflexion,
3. Das Leben wird „zugänglich dern hermeneutisch-zugänglich.
sondern
Auslegung.
aber nicht transzendental-zugänglich,
son-
Insofern wird auch die Beziehung zwischen der Behandlungsart und der „Zugangsmethode" bei Heidegger sich von derjenigen Husserls unterscheiden. Wir können sagen, daß die hier bezüglich der Phänomenologie Husserls charakterisierten Weisen der Methode bei Heidegger ein einheitliches Verfahren bilden: Im Behandeln
des Phänomens
Leben wird dieses
zugäng-
lich. Daher finden wir bei Heidegger eine andersartige Struktur der Behandlungsart, die sich in eins als „Zugangsmethode" erweist. Auf diese Weise läßt sich die folgende Analyse als eine Analyse der „Zugangsmethode" bei Heidegger weiter entfalten. M.a.W., die hier zu entfaltenden Momente der „Zugangsmethode", nämlich Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion, zeigen uns die Weise, wie im Behandeln des Phänomens Leben zugleich eine hermeneutisch-phänomenologische Thematisierung möglich ist. Da bei diesem Unternehmen Husserl der Hauptgesprächspartner ist, wenden wir uns zunächst dem ersten Moment der hermeneutischen „Zugangsmethode" zu, nämlich der Reduktion im Unterschied zu Husserls transzendentaler Reduktion.
b) Der Unterschied zu Husserls transzendentaler Reduktion Bereits Courtine 1 3 0 und Caputo 1 3 1 haben auf zwei bekannte Interpretationen bezüglich der Reduktion bei Husserl und Heidegger hingewiesen. Die erste Interpretation besagt, daß die Reduktion bei Heidegger „vollständig fehlt". 1 3 2 Die andere versucht die Reduktion Heideggers auf der Basis der transzendentalen Reduktion Husserls zu be-greifen. 133 130
J. F. Courtine, Heidegger et la Phénoménologie, S. 218 ff. J. Caputo, The Question of being and Transcendental Phenomenology: Reflections on Heidegger's Relationship to Husserl, in: J. Sallis (Hrsg.), Radical Phenomenology, S. 84-105, bes. S. 86 ff. 132 Dies ist die Interpretation W. Biemels in , Husserls Encyclopaedia-britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu', in: Tijdschrift voor Philosophie 12 131
15 Xolocot/i
226
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Andere Auslegungen haben die Reduktion Heideggers in einer mißgedeuteten Beziehung zu den methodischen Momenten der Phänomenologie Husserls herausgehoben. Eine Interpretation versucht, die Reduktion bei Heidegger als die „Entsprechung der Leistung der Husserlschen Reflexion" nachzuweisen. 134 Eine andere sieht ihrerseits die hermeneutische Reduktion
(1950), S. 246-280 (Wiederabgedruckt in: W. Biemel, Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 173-207). Auf Seite 276 (202) schreibt Biemel: „Da Husserls Fragen auf das Ego zurückführt, steht seine Methode ganz unter dem Eindruck der Reduktion, durch welche eben das A l l des Seienden eingeklammert wird, um das reine Ego zu erhalten. Bei Heidegger fehlt die Reduktion vollständig" (k. g. v. m.). Hierzu müssen wir sagen, daß Biemel eine ungeschickte Ausdrucksweise gebraucht. Was er eigentlich sagen möchte, ist, daß es bei Heidegger eine Reduktion im Sinne Husserls nicht geben kann, aber nicht, daß sie überhaupt in der hermeneutisch-phänomenologischen Methode fehlt. 133 Diese Auslegung kann so gelesen werden: die hermeneutische Reduktion Heideggers, die zum Umwelterlebnis zurückleitet, also zu einem in SuZ entfalteten Charakter des In-der-Welt-seins, wird aufgrund der transzendentalen Phänomenologie Husserls verstanden. Diesen Interpretationsfehler begehen M. Merleau-Ponty und E. Tugendhat. Merleau-Ponty schreibt in , Phénoménologie de la percepcion', S. IX: „ Γ ,In-der-Welt-sein' de Heidegger n'apparaît que sur le fond de la réduction pénoménologique " (k.g.v.m.). Tugendhat seinerseits schreibt in ,Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger', S. 263: „Gerade durch die Epoché betritt also Husserl die Dimension von Heideggers In-der-Welt-sein. Heidegger benötigt die Epoché nicht mehr, um in die Dimension der Gegebenheitsweisen zu gelangen, weil er, nachdem sie von Husserl eröffnet wurde, von vornherein in ihr steht und sie nun aus ihren eigenen Verhältnissen heraus - nicht mehr in ausschließlicher Orientierung auf eine Welt von Gegenständen - entfalten kann" (k.g.v.m.). Beide Interpretationen sehen den entscheidenden Differenzpunkt zwischen der reflexiven Methode Husserls und der hermeneutischen Heideggers nicht. Die hermeneutische Reduktion und überhaupt die hermeneutische Methode Heideggers stehen nicht „von vornherein" in der transzendentalen Reduktion Husserls, weil diese bereits eine entformalisierte Position bildet: die transzendentale Position Husserls. Wir haben bereits erläutert, daß Heidegger dem Prinzip aller Prinzipien treu bleibt, insofern er dieses Prinzip in seinem vortheoretischen Charakter betrachtet. Daher bewegt sich die hermeneutische Reduktion von Hause aus in einem vortheoretischen Gebiet, das ursprünglicher ist als die transzendentale Position Husserls. 134 Dies ist die Interpretation B. Merkers in »Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserls'. Auf S. 268 schreibt sie: „In der Trias von Reduktion, Destruktion und Konstruktion, die Heidegger im Gegensatz zu Husserl entwickelt, sind, trotz der mit ihnen intendierten Modifikationen, unschwer die Leistungen wiederzuerkennen, die auch die Grundoperationen der Husserlschen Phänomenologie erbringen sollen: Die phänomenologische Reduktion in der Fundamentalontologie entspricht der Leistung der Husserlschen Reflexion, insofern auch jene die Abkehr von der intentio recta vollzieht" (k.g.v.m.). Merker begeht einen Interpretationsfehler, insofern sie die Leistung der hermeneutischen Reduktion in bezug auf die Leistung der Husserlschen Reflexion auslegt. Wir haben in den §§ 17 und 18 ausführlich die Leistungen der Reflexion bei Husserl erläutert. Die ganze Phänomenologie Husserls hängt von der Leistung der Reflexion ab. Die Reflexion als Zum-Gegenstand-machen prägt die Phänomeno-
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
227
als eine „gewandelte Reduktion" der Husserlschen. 135 Ferner finden wir eine weitere Auslegungsmöglichkeit, in welcher die Reduktion Heideggers in zwei Reduktionen aufgespalten w i r d . 1 3 6 logie Husserls mit einem theoretischen Charakter. In diesem Sinne ist die Leistung der Reflexion wesenhaft theoretisch: sie erlaubt die Phänomene nur als Gegenstände zu sehen. Die hermeneutische Reduktion erweist sich jedoch als ein vortheoretisches methodisches Moment, welches das Phänomen in ursprünglicherer Weise erschließt: in seinem Seinssinn bzw. ontologisch. In diesem Sinne kann die „Leistung" der hermeneutischen Reduktion der Leistung der Reflexion grundsätzlich nicht entsprechen. 135 Dies ist die Lektüre von R. Rodriguez . In ,Herméneutica y Subjetividad', S. 79, schreibt er: „[la epojé Husserliana] que muestra todo objeto en su darse (Gegebensein) y aunque este concepto sea ya teòrico, sirve no obstante para exponer la intrìnseca referencia de todo lo vivido a la vida. Si se le despoja de su caràcter de puro espectàculo objetivo, de la actitud teòrica que impone soterradamente el concepto de ser corno posición , el anàlisis intencional brinda la posibilidad de expresar la estructura de la vida"\ und weiter unten: „Por el uso de una reducción fenomenològica transformada, Heidegger logra despiegar y decir los momentos definitorios del ser-en-el-mundo, mostrândolos a la vez en su caràcter aprióricotrascendental" (k.g.v.m.). Dazu ist zu sagen, daß diese Interpretation die hermeneutische Reduktion als eine „Modifikation" der Reduktion Husserls darstellt. Jene wird dabei nicht radikal genug gesehen. Doch die hermeneutische Reduktion kann keine Umwandlung der Husserlschen έποχή und Reduktion sein, da diese niemals dem theoretischen Boden entgehen können. Wenn Rodriguez sagt, daß bei Heidegger eine von ihrem theoretischen Charakter entkleidete έποχή gebraucht würde, dann ist dies eben keine έποχή mehr. Die έποχή ist grundsätzlich nur theoretisch zu verstehen, wie wir weiter unten nachweisen werden. 136 J. Caputo (1978) und J. L. Marion (1989) sprechen von einer „doppelten Reduktion" bei Heidegger. In ,The Question of Being . . . ' bezieht sich Caputo auf zwei Reduktionen bei Heidegger: Die erste ist „an analogue to the phenomenological reduction". Die zweite ist „an essay in transcendental phenomenology; it inquires into the Being of the being which constitutes the world, and so there is a reduction to (Heidegger's version of) transcendental subjectivity', S. 100. Dazu ist aber zu sagen, daß es nicht klar ist, was Caputo unter „Analogie" versteht, und die „zweite Reduktion" zeigt sich als ein Mißverständnis, insofern Caputo die Phänomenologie Heideggers als eine „version" der transzendentalen Phänomenologie Husserls auslegt. In diesem Sinne übersieht Caputo völlig den ontologischen Ansatz Heideggers und dementsprechend den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Sein überhaupt und der Frage nach dem Sein des Daseins. J. L. Marion schreibt seinerseits in ,Réduction et donation': „Husserl n'envisage que deux termes qui constituent les deux versants d'une seule réduction (thèse du monde/phénomène réduit), sans soupçonner que Heidegger en voit trois, aménagés en deux réduction phénoménologique purement husserlienne, puis encore étant/sens d'être par interprétation phénoménologique", S. 104. Einige Seiten weiter unten klärt er diese „doppelte Reduktion": „La réduction se redouble: elle ne vise plus seulement à manifester de quel être l'étant est (être comme conscience ou bien être comme monde); mais, à partir de ce premier résultat et de cette première réduction, elle vise enfin à dégager l'être comme tel", S. 108. Marion begeht den bereits erwähnten Interpretationsfehler, insofern er die unüberbrückbare Differenz nicht sieht, die das seinsverstehende faktische Leben und das transzendentale Bewußtsein trennt. Heidegger
1
228
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Diese Interpretationen sehen leider den entscheidenden Differenzpunkt zwischen Husserl und Heidegger nicht. Zwar finden wir auch in der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers eine Reduktion, diese ist aber nicht in Anlehnung an die transzendentale Reduktion Husserls, als eine modifizierte Gestalt dieser, zu verstehen. Sachgemäß von der Heideggerschen Reduktion handeln muß daher heißen, sie in ihrem Unterschied zur Husserlschen auslegen. Im § 13 sind wir auf die Reduktion und έποχή bei Husserl eingegangen. Dort haben wir die Notwendigkeit und Kohärenz der transzendentalen Methode Husserls dargestellt. Έ π ο χ ή und Reduktion sind als Zugangsmethode nur im natürlichen Bewußtseinsleben verhüllten transzendentalen Region zu verstehen. Diese Region wird durch eine Einstellungsänderung entdeckt, die durch die έποχή zustande kommen kann. Das, was ausgeschaltet wird, ist die Generalthesis des Weltglaubens, des Für-mich-einfach-Daseins der Welt. Dementsprechend ist das, was nach dieser Einklammerung bzw. Ausschaltung übrig bleibt, ein Residuum, und dieses erweist sich als die gesuchte konstituierende Region der transzendentalen Phänomenologie Husserls. Bei Husserl kann die Reduktion dann nur durch die Ausschaltung erfolgen, die eine Änderung der natürlichen Einstellung fordert: Durch έποχή und Reduktion geht man von der natürlichen in die transzendentale Einstellung über. Dadurch gelangt man in die reine konstituierende Region des Bewußtseinslebens. Diese absolute Region wird von Heidegger an verschiedenen Stellen scharf kritisiert. Eine sehr deutliche Bemerkung finden wir etwa in der Marburger Vorlesung vom SS 1925. Dort heißt es : Wie ist es überhaupt möglich, daß diese Sphäre absoluter Position, das reine Bewußtsein, das durch eine absolute Kluft von jeder Transzendenz getrennt sein soll, zugleich sich mit der Realität in der Einheit eines realen Menschen einigt, der selbst als reales Objekt in der Welt vorkommt? Wie ist es möglich, daß die Erlebnisse eine absolute reine Seinsregion ausmachen und zugleich in der Transzendenz der Welt vorkommen? (GA 20, S. 139).
Die Richtung der Kritik, die in diesen Fragen gesehen werden kann, finden wir bereits in den fFV\ schon dort erscheint für Heidegger der gesamte transzendentale Ansatz Husserls und d.h. die Rolle der έποχή und Reduktion höchst problematisch. Im WS 1919/20 deutet Heidegger darauf hin: „.Phänomenologische Reduktion: nach ihrem Vollzug, sofern man ihn überhaupt für notwendig hält (was nur auf transzendentaler Vorstandpunktnahme der Fall ist), entstünde erst das eigentliche Problem: was nun?" (GA kann seine hermeneutische Phänomenologie nicht auf der transzendentalen Reduktion Husserls aufbauen, weil der „Gegenstand" faktisches Leben einen ganz andersartigen Zugang verlangt.
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
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58, S. 151). Ein Jahr später wird er auf die Aufgabe der transzendentalen Reduktion Husserls kritisch eingehen, ohne Husserl dabei zu nennen: „ A m bequemsten ist es allerdings, sich außerhalb der Welt und des Lebens gleich ins Land der Seligen und des Absoluten zu setzen" (GA 61, S. 99). Aufgrund des bisher Entfalteten muß klar geworden sein, daß es sich bei Heidegger um keine transzendentale Reduktion im Sinne Husserls handeln kann. Hier tauchen allerdings folgende Fragen auf: Wenn Heidegger etwas ganz anderes meint, warum spricht er weiter von einer Reduktion? Enthält die Reduktion bei Heidegger etwa doch noch einen versteckten Zug der Phänomenologie Husserls? Wie soll die Reduktion bei Heidegger positiv verstanden werden? Der Terminus ,Reduktion' besagt eine Zurückfiihrung bzw. einen Rückgang. Wenn aber die Dimension, auf die zurückgeführt wird, keine transzendentale ist, was besagt sie dann? Dies haben wir bereits im Laufe der Untersuchung beantwortet: Dieses ursprüngliche Gebiet ist ein umweltliches. Die Zurückleitung bzw. Zurückführung richtet sich dann auf das ursprüngliche Umwelterlebnis. In diesem Sinne geschieht ein Rückgang, ein Rückstieg von der naiv-unausdrücklichen a-theoretischen Erlebenssphäre zur ausdrücklich gewordenen vortheoretischen umweltlichen Sphäre. Die Reduktion zentriert sich bei Heidegger also nicht auf einen fixierten erkenntnistheoretischen Bereich, sondern gerade auf das Gegenteil: Sie eröffnet erst die Möglichkeit einer vortheoretischen vollzugshaften Interpretation des Lebens, die nicht auf blind dogmatischen bzw. erkenntnistheoretischen Fixationen beruht. Die blind dogmatischen Fixationen sind diejenigen, die den ursprünglichen Seinssinn des Lebens nicht sehen können. Daher wird das Phänomen Leben nur gegenständlich ausgelegt. Die Möglichkeit eines ursprünglicheren Sehens, ursprünglicher als das Sehen der erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeit, kann nur innerhalb einer vortheoretischen Vorgehensweise zustande kommen. Im Laufe der vorliegenden Analysen haben wir wiederholt betont, daß uns ein solches vortheoretisches Verständnis des Phänomens Leben zum umweltlichen Erlebnis führen muß. D.h., die weltlichen Gegenstände, die im Leben erlebt werden, werden zunächst nicht als erkannte Gegenstände, sondern als Umweltliches bzw. Bedeutsames erfahren. Die Bedeutsamkeit bildet dann den Seinssinn des „Gegenstands" der Philosophie: „Die Gegenständlichkeit der Philosophie hat nicht den sachartigen theoretischen Charakter, sondern den der Bedeutsamkeit" (GA 59, S. 197). Im WS 1919/20 macht Heidegger klar, wie dies möglich ist: „Zur Gewinnung des reinen verdinglichungsfreien Lebens aus Bedeutsamkeiten. Alles Bedeutsamkeitslose, nicht Verstehbare wird ausgeschaltet oder aufgesogen (phänomenologische Reduktion!!)" (GA 58, S. 156), und später im selben
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Vorlesungstext: „um die Bedeutsamkeit' näher zu charakterisieren, können wir nicht anders verfahren, als Alles von ihr abscheiden, was sie nicht ist" (ebd., S. 217). „Ausschalten" bzw. „Abscheiden" deutet auf ein reduzierendes Verfahren hin: auf die Reduktion. Aber dies besagt nicht, daß durch diese Reduktion eine neue Region im Sinne der transzendentalen Region Husserls gewonnen wird. Sie deutet nur auf die im Begreifen der Gegenständlichkeit vorausgesetzte und übersprungene Grundstruktur der Welt hin. Im WS 1919/20 schreibt Heidegger hinsichtlich dessen, was wir als Reduktion betrachten, folgendes: „Die abgewehrten Tendenzen sind nicht zufällig. Das Abscheiden steht im Zusammenhang mit der Sicht des Phänomens selbst. Ich muß das Phänomen schon haben, ehe ich „gegensehen" kann. Trotzdem hat das „nicht" der Abscheidung eine produktive Bedeutung, denn dadurch realisiert man erst die spezifisch phänomenologische Situation" (ebd., S. 218). Das Abscheiden der hermeneutischen Reduktion zeigt zunächst einen Zusammenhang mit dem Sichtigen des Phänomens. Wir sind bereits im § 21 auf den Unterschied zwischen dem Sichtigen und dem Gegebenen im Phänomen eingegangen. Das Reduzierte als die unabgehobene Bedeutsamkeit wird nicht gesehen, aber sie ist ursprünglich gegeben. Der Weg zur Enthüllung dieser Ursprünglichkeit hat den Charakter einer Gegenbewegung, insofern durch die Reduktion das leichte Verständnis der theoretischen Gegenständlichkeit „ausgeschaltet" wird. Es wurde bereits klar, daß bei Husserl die Reduktion nur im Zusammenhang mit einem bestimmten Aufheben der Generalthesis des Weltglaubens möglich ist. Für Heidegger aber sind dieses Aufheben bzw. Außer-AktionSetzen und die Gewinnung der transzendentalen Sphäre nicht ursprünglich, da sie aufgrund eines theoretischen Ansatzes zustande kommen können. Dies müssen wir in drei Punkten erläutern, um den Unterschied zwischen der Reduktion Husserls und der Heideggers deutlicher herauszustellen: 1. Der Königsweg der Reduktion findet bei Husserl durch έποχή statt. D.h. durch die Ausschaltung bzw. Einklammerung der Generalthesis des Weltglaubens. Dadurch ergibt sich ein Residuum, das sich als die neu entdeckte Region der Phänomenologie Husserls zeigt. 2. Diese Region bzw. Sphäre ist eine reine bzw. transzendentale Sphäre, die sich als die konstituierende Sphäre erweist. Auf diese Weise sehen wir, daß die Reduktion die Aufgabe hat, das Konstituierende der in der natürlichen Einstellung vollzogenen Akte zu enthüllen. M.a.W., durch die in dieser reinen Sphäre enthüllte Konstitution werden die Akte und Gegenstände der natürlichen Einstellung als konstituierte gesehen. Diese Begreifensmodifikation kann aber nur durch eine Einstellungsänderung zustande kommen. 3. Durch die Reduktion wird die natürliche Einstellung verlassen und der Eintritt in eine transzendentale Einstellung vollzogen. Erst diese Einstel-
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
231
lungsänderung ermöglicht einen Zugang zu den in der natürlichen Einstellung verhüllten Phänomenen. Ad 1. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die Phänomenologie nicht unumgänglich transzendental durchgeführt werden muß, sondern daß die Möglichkeit besteht, eine „mundane" Phänomenologie zu entfalten. Husserl selbst ist in der Fundamentalbetrachtung der , Ideen Γ und ferner in der ,Krisis-Schrift' auf diese Möglichkeit eingegangen. Er ist aber aufgrund seines wahrnehmungsmäßigen Ansatzes stets innerhalb eines theoretischen Rahmens geblieben. Erst Heidegger entdeckte die Eigentümlichkeit einer „mundanen" Phänomenologie in radikaler, d.h. einer a-theoretischen Weise. Ihm ist es nicht nur gelungen, eine nicht transzendentale Phänomenologie im Sinne Husserls auszuarbeiten, sondern eine ursprünglichere Gestalt der „mundanen" Phänomenologie als eine vortheoretische Ursprungswissenschaft zu entfalten. Durch die Entdeckung des Umwelterlebnisses wurde die ursprünglichste vortheoretische und fundierende Sphäre des Lebens erschlossen und zugleich deren ursprünglichste philosophische Thematisierung. In diesem Sinne taucht bei Heidegger keine transzendentale Ausschaltung bzw. Einklammerung auf. Vielmehr wird eine hermeneutische Reduktion benötigt, die jedoch nur einen Rückgang zum ausdrücklich erlebten Umwelterlebnis leitet. Dieser Rückgang ist ein verstehender, insofern wir von vornherein im Erlebnis stehen, allerdings in einer unausdrücklichen Weise. Wir schalten den Glauben an die Welt nicht aus, da die Welt primär keine Wahrnehmungswelt, sondern eine bedeutsame Welt ist. Die εποχή hat nur einen Sinn in bezug auf eine natürlich-wahrnehmungsmäßig aufgefaßte Welt. Dies hat Heidegger im WS 1919/20 deutlich ausgedrückt: Damit scheint Husserls „phänomenologische Reduktion" in ihr Gegenteil verkehrt. Dort mache ich gerade nicht mit, nehme keine Stellung, übe εποχή. Doch ist dies nur die negative Seite der Sache. Man kann die phänomenologische Reduktion nur dann so charakterisieren, wenn man von vornherein die Erlebnisse sämtlich als intentionale ansieht und außerdem noch von dingerfassenden Erlebnissen (z.B. Wahrnehmungen) ausgeht (GA 58, S. 254). 1 3 7
Ist aber die Welt bedeutsamkeitsmäßig betrachtet, dann fällt die Idee der Einklammerung weg. Im verstehenden Ansatz des hermeneutischen Zugangs hat daher die εποχή keinen Platz.
137 Wenn Heidegger sich hier negativ auf die intentionalen Erlebnisse bezieht, bedeutet dies nicht eine Ablehnung der Intentionalität überhaupt, sondern nur derer erkenntnistheoretischen Gestalt. Im § 25 werden wir auf das Verständnis der Intentionalität bei Heidegger eingehen: auf eine umwelterlebende a-theoretische Intentionalität.
232
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Ad 2. Im SS 1920 übt Heidegger grundlegende Kritik an der Idee der Konstitution und Einstellung. Aufgrund des Nachweises, daß die Konstitution von Hause aus in die „Vorherrschaft des theoretischen Bewußtseins" gestellt ist (GA 59, S. 141), zieht Heidegger den Schluß: „Die Idee der Konstitution ist motiviert im Erkenntnisproblem und soll selbst das Theoretische sicherstellen" (ebd., S. 142). 1 3 8 Da die philosophische Thematisierung ursprünglich auf der Basis einer a theoretischen Gestalt zu betrachten ist, hat sie im Grunde ihr Motiv „in einer selbstweltlichen Bekümmerung", daher „bedeutet die Konstitutionsidee als Vorgriff der Philosophie den Abfall von ihr selbst' (ebd., k.g.v.m.). Die Explikation des natürlichen Lebens durch das konstituierende Bewußtseinsleben zeigt sich als das „Leichte": „Sie ist leicht, weil sie der selbstweltlichen Bekümmerung enthoben ist, sich ihrer selbst enthebt, eine Bekümmerung, die schwer ist" (ebd.). In diesem Sinne wird Heidegger im WS 1921/22 die Reduktion Husserls als eine „ruinante Flucht" charakterisieren, insofern sie dem Gegenstand der Untersuchung nicht ursprünglich in seinem Vollzugs- und Bezugssinn begegnet, sondern einfach von ihm weg geht (GA 61, S. 39). Das leichte Weg-Gehen vom Gegenstand der Untersuchung ist nur möglich aufgrund der Konstitutionsidee, die die natürliche wahrnehmungsmäßige Einstellung ausschalten muß. Durch dieses Vorgehen wird der Gegenstand nur sachhaltig betrachtet. Die Konstitution kann durch die Einklammerung nur das Sachhaltige der Gegenstände sehen. Diese Einsicht hat Heidegger im SS 1920 deutlich ausgedrückt: „ M i t dem Vorgriff der Konstitution ist alles - Objektives und Subjektives - zum Beziehungszusammenhang, zu einer Sachlichkeit oder Dinglichkeit im weitesten Sinne prädestiniert" (GA 59, S. 142, k.g.v.m.). Durch die Konstitution wird das eigentliche Ursprüngliche des Phänomens Leben überhaupt nicht gesehen. Vielmehr wird es verdeckt, insofern es durch die Konstitution theoretisch nur als konstituiertes Gegenständliches betrachtet wird. Ad 3. Der philosophische Entfernungscharakter der Reduktion bezüglich des Gegenstands der Untersuchung kommt durch die notwendige Einstellungsänderung der Reduktion Husserls in verstärkter Weise zum Anschein.
138 An dieser Stelle müssen wir die Interpretation Gethmanns für eine Mißdeutung halten. In , Verstehen und Auslegung' schreibt er: „Der Begriff der transzendentalen Konstitution wird jedoch entscheidend neu interpretiert, so daß Heidegger es vorzieht, den Terminus zu vermeiden. Der terminologische Unterschied darf aber nicht übersehen lassen, daß es Heidegger im Ansatz um eine transzendental-phänomenologische Ontologie geht und der Sinn von Sein formal die Funktion des universalen phänomenologischen Konstituens übernimmt, S. 51.
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
233
Heidegger wird in diesem einstellungsmäßigen Charakter der Reduktion einen tieferen theoretischen Zug sehen: „Die Einstellung ist Vollzug einer Selbstwelt, aber gerade ein solcher, daß in ihm der Bezug gerade selbstunbekümmert ist" (ebd., k.g.v.m.). In diesem Sinne ist die Einstellung „Wegstellung" von der Selbstwelt. Da die Einstellungsänderung von der Idee der Konstitution geleitet wird und diese Heideggers Kritik zufolge ein Abfall von der Philosophie selbst ist, ist die Philosophie als Einstellung eine „Abdrängung von ihrem eigenen Sinn" (ebd., S. 142 f.). Auf diese Weise läßt sich verstehen, warum Husserls Phänomenologie zu einer philosophischen Position gelangt ist: „Die Position gründet also in einem einstellungsmäßigen Vorgriff [...]" (ebd., S. 144). Wenn die Phänomenologie einstellungsmäßig vorgeht, dann wird sie, wie bei Husserl, zu einer festgefahrenen philosophischen Position. Ist aber die Phänomenologie als ein Unterwegs verstanden bzw. in ihrem vorläufigen Charakter, 139 dann wird sie nicht als eine „wirkliche" Einstellung begriffen, sondern als offene Möglichkeit.
Aufgrund des Gesagten können wir den vorläufigen Charakter der hermeneutischen Phänomenologie als eine Bewegung sehen, die in keiner Weise als Einstellung verstanden werden darf. Die vorläufige Bewegung der hermeneutischen Phänomenologie läßt auch sehen, daß sie keinen erkenntnistheoretischen Charakter trägt: sie trägt kein Telo s in sich. Die reflexiv transzendentale Phänomenologie Husserls bewegt sich einstellungsmäßig, weil sie das Telos der Erkenntnis mit sich trägt: sie ist zuunterst teleologisch bzw. erkenntnistheoretisch. Die Rede von Reduktion bei Heidegger meint also eine gänzlich andere Sache als die Husserlsche Reduktion. Die dargestellten Betrachtungen waren nötig, um sich vor terminologischen Mißverständnissen zu hüten. Somit können wir zur positiven Analyse der hermeneutischen Reduktion übergehen.
§ 25. Die Notwendigkeit der Rückführung zum Umwelterlebnis a) Der Sinn der Reduktion in den fFV Im § 5 der Vorlesung vom SS 1927, ,Die Grundprobleme der Phänomenologie', bezieht sich Heidegger auf den methodischen Charakter der Ontologie. Dabei werden die methodischen Momente, die eine ontologische Fra139
Vgl. Nachschrift Brecht (KNS), S. 13. Ferner § 19b der vorliegenden Arbeit.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
gestellung ermöglichen, herausgehoben. Obwohl die ausführliche Thematisierung der Methode dem Aufriß der Vorlesung nach im letzten Kapitel einen Platz hätte haben sollen, ist dies nicht zustande gekommen, so daß nur im genannten Paragraphen eine knappe Darstellung der methodischen Momente zu finden ist. Daß an dieser Stelle die Methode ausdrücklich in Hinsicht auf die Frage nach dem Sein gestellt wird, heißt jedoch nicht, daß die methodischen Momente in frühen Ausarbeitungen nicht zu finden seien. Nicht nur dem Begriff, sondern dem Phänomen nach sind die methodischen Momente bereits in den fFV zu finden. Daß die Frage nach dem Sein in den Dozenten-Vorlesungen nicht in einer so ausdrücklichen Weise wie in SuZ oder in ,Die Grundprobleme der Phänomenologie' (1927) dargestellt wird, heißt nicht, daß sie völlig ausgeschlossen wäre. Um diese Feststellung zu belegen, geben wir zwei Gründe: 1. Die hermeneutische phänomenologische Zugangsweise zu den unzerstörten Umwelterlebnissen führt in die atheoretische Erlebnissphäre überhaupt hinein, und innerhalb dieser so gewonnenen atheoretischen Erlebnissphäre werden sich die Grundfragen der Philosophie neu stellen. Diese Fragen sind in der Überlieferung auf dem Boden der theoretischen Einstellung gestellt worden und haben dort ihre entsprechende Antwort gefunden. Wenn aber eine methodische Zugangsweise zu einem Phänomenbereich gefunden ist, der als solcher bislang nicht gesehen wurde, dann stellen sich von selbst die überlieferten Grundfragen der Philosophie neu. Die Analytik des Ereignischarakters des Lebens und Erlebens führt, wenn sie weit genug getrieben wird, in diese a-theoretische Erlebnissphäre hinein, führt von selbst in die atheoretische Ontologie im weiten Sinne. Das heißt, sie führt in die atheoretische Ontologie des Daseins und damit in die a-theoretische Fundamentalontologie, deren Beginn jene ist. D.h., die atheoretische Ontologie im weiten Sinne wird nicht von außen an die Erlebnissphäre herangetragen, sondern aufgrund eines tieferen Hineindringens in die Analytik des Lebens und Erlebens ersichtlich. 2. Dieses Hineinführen in die ontologischen Fragen darf nicht, wie einige Autoren meinen, als eine „ontologische Wende" verstanden werden. 1 4 0 Wir 140
So z.B. Th. Kisiel, Das Entstehen des Begriffsfeldes ,Faktizität' im Frühwerk Heideggers, in: Dilthey-Jahrbuch 4 (1986-87), S. 91-119. Auf S. 113 schreibt Kisiel: „Heidegger nimmt nicht den Weg Kierkegaards auf [...] Statt dessen bereitet Heidegger schon in dieser Vorlesung [SS 1921, Α. X.] seine ontologische Wende vor" (k.g.v.m.). Einige Seiten später heißt es: „Heideggers Denkweg zu SuZ gliedert sich in zwei Hauptstrecken. Von 1921 an wird er, zum Teil unter dem Einfluß von Aristoteles, ausdrücklich ontologisch [...] Die vorläufige Phase von 1919 bis 1921 [... könnte ...] [terminologisch gesehen [...] die lebensphilosophische Phase genannt werden", S. 116 (k.g.v.m.). 1993 hat Kisiel dies allerdings anders ausgelegt. In The Genesis of Being and Time S. 224 schreibt er: „The hermeneutic breakthrough of KNS ist at once and from the start designed to be an ontological break-
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
235
haben bereits bemerkt, daß der Denkweg Heideggers in keiner Weise als eine Reihe von „Phasen" oder „Etappen" zu verstehen ist, in welchen das Ontologische eine „neue Phase" bildet. Eine solche Interpretation verkennt in der alleinigen Beachtung der terminologischen Modifikationen die wesentlichen bleibenden Einsichten des Heideggerschen Denkens. Bereits 1922 hat Heidegger seine ontologische Absicht deutlich ausgedrückt: „Die Problematik der Philosophie betrifft das Sein des faktischen Lebens. Philosophie ist in dieser Hinsicht prinzipielle Ontologie [...]" (PIA, S. 246, k.g.v.m.). 1 4 1 Aber wie gelangt Heidegger zu dieser Einsicht? Was hat die Philosophie als Ontologie ermöglicht? Was können wir als Leitfaden nehmen, um dem ontologischen Weg Heideggers zu folgen? Heidegger selbst nennt die Intentionalität als Antwort auf diese Fragen: „M// dieser Entdeckung der Intentionalität ist zum ersten Mal in der ganzen Geschichte der Philosophie der Weg für eine radikale ontologische Forschung gegeben" (GA 17, S. 260). In diesem Sinne sieht v. Herrmann mit Recht die Intentionalität als Ausgang und Leitfaden für die fundamentalontologische Frage nach dem Sein des Daseins bzw. faktischen Lebens und dem Sein überhaupt. 142 Da die Intentionalität bereits seit der ersten Dozenten-Vorlesung als eine umwelterlebende Intentionalität ausgelegt wird, können wir sehen, daß die Zugangsmethode zum faktischen Leben die a-theoretische Intentionalität als Ausgang und Leitfaden nimmt. Daher sind die Momente der Zugangsmethode a-theoretisch-intentional zu betrachten. In diesem Sinne müssen wir die seit den Dozenten-Vorlesungen berücksichtigten methodischen Momente der Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion anhand der vortheoretischen Intentionalität auslegen. In ,Die Grundprobleme der Phänomenologie' legt Heidegger die Reduktion als „die Rückführung des phänomenologischen Blicks von der wie immer bestimmten Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins through" und weiter unten: „The hermeneutics of facticity is in its gestation already understood not merely as a phenomenology of life but also an ontology of life [...]". In-Suk Kim folgt der ersten Interpretation Kisiels: „Die Phänomenologie des Lebens wandelt sich von einer Phänomenologie zu einer Ontologie des Daseins", Phänomenologie des faktischen Lebens, S. 85. 141 Im selben Jahr drückt Heidegger dies in einem Lebenslauf wieder aus: „Die Untersuchungen, auf denen die vollständig ausgearbeiteten Vorlesungen gründen, haben das Ziel einer systematischen phänomenologisch-ontologischen Interpretation der Grundphänomene des faktischen Lebens [...]", Vita in: GA 16, S. 44 (k.g.v.m.). 142 Ich möchte Prof. Dr. v. Herrmann für die Möglichkeit danken, ein unveröffentlichtes Manuskript lesen und zitieren zu dürfen. Der Aufsatz wird unter dem Titel ,Die Intentionalität in der hermeneutischen Phänomenologie' erscheinen. Hier S. 8 im Manuskript.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
(Entwerfen auf die Weise seiner Unverborgenheit) dieses Seienden" aus (GA 24, S. 29). Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß sich die Reduktion in den Dozenten-Vorlesungen als eine Rückkehr zum Umwelterlebnis zeigt. Wenn wir im Auge behalten, daß das Umwelterlebnis anhand der Bedeutsamkeit zu sehen ist und diese „kein Sachcharakter, sondern ein Seinscharakter ist" (GA 63, S. 89), dann ist bereits in der frühen Gestalt der Reduktion die ontologische Richtung der Frage bzw. Methode angezeigt. Dies müssen wir kurz erläutern. Am Anfang der phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles' stellt Heidegger drei Elemente der philosophischen Forschung dar: die Blickrichtung,
den Blickstand
und die Sichtweite
( P I A , S. 237). Diese Ter-
mini nennen der Sache nach die von uns als Momente der Methode erarbeiteten Begriffe Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion. Wir bringen alle diese Begriffe in einen Zusammenhang, da die „οδός [...] eine Weise des Gehens und zugleich des Sehens [meint]" (SS-1922, S. 63). D.h., daß die Methode der philosophischen Forschung etwas sehen lassen muß. Die drei Momente der Methode deuten auf die Schritte dieses Sehens hin: auf die Richtung, den Stand und die Weite. In diesem Sinne läßt sich die Reduktion auch als die Blickrichtung der Methode charakterisieren, d.h. die Richtung, in „der sich [...] das ,als was', in dem der Interpretationsgegenstand vorgrifflich genommen und das ,woraufhin', auf das er ausgelegt werden soll [bestimmt]" (PIA, S. 237). Die Richtung, in die die Reduktion blickt, ist das Sein des faktischen Lebens. Daher können wir sagen, daß die Reduktion, da sie den Blick auf das Sein richtet, hinsichtlich der Ontologie zu begreifen ist. 1 4 3 Die in den Dozenten-Vorlesungen entfaltete Reduktion als die Rückführung von der dogmatisch fixierten Gegenständlichkeit auf das ursprüngliche Umwelterlebnis findet in der Fundamentalontologie als der Rückführung von der Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins ihre kohärente Fortsetzung. Die ausdrückliche Fragestellung nach dem Sein bedarf der Reduktion, da „das Sein [...] erfaßt und zum Thema gemacht werden [soll]" (GA 24, S. 28). Das Sein und zunächst das Sein des Daseins ist verborgen und muß enthüllt werden. Die in der Fundamentalontologie charakterisierte Verborgenheit des Seins des Daseins findet ihre Entsprechung in der erkenntnistheoretischen Gegenständlichkeitsauffassung des Lebens. Das Leben wird im erkenntnistheoretisierenden Zugang ent-lebt. Bereits im KNS sah Heidegger diesen Entlebungsprozeß, der das Leben in seinem ursprünglichen Charakter verhüllt. Hier zeigt sich die Notwendigkeit eines methodischen
143
Vgl. weiter unten c) im vorliegenden Paragraphen.
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
237
Moments, das einen „Zugang" zur vortheoretischen vollzugshaften Sphäre des Lebens gewähren kann. Dies wird die Aufgabe der hermeneutischen Reduktion. Aber an dieser Stelle müssen wir den Entlebungsprozeß näher erläutern, damit sich die Notwendigkeit der Reduktion und ferner der hermeneutischen Methode rechtfertigt.
b) Der Entlebungsprozeß Das Verb „entleben" hatte im Mittel- und frühen Neuhochdeutschen die lateinische Bedeutung von vita privare, des Lebens berauben, also töten. 1 4 4 In diesem Sinne ist dieses Wort geeignet, den Erlebnismodus des Erkennens im Unterschied zum Erlebensmodus des Umwelterlebens zu kennzeichnen. Entleben heißt also: dem Umwelterlebnis das ursprüngliche Leben und Erleben entziehen, so daß es zum erkennenden Erleben kommt. Dieser Entzug besagt, daß das primäre umweltliche Leben zugunsten des abständig betrachtenden Erkennens entzogen ist. Das Gegenständliche und Erkannte ist jetzt aus der Nähe, in der es als Umweltliches begegnete, in eine Ferne versetzt. In einem abständig betrachtenden Erkennen ist das Seiende nicht mehr ein umweltliches Ding in seiner Nähe, sondern in die Ferne gesetzt, in der es abständig betrachtend erkannt wird. Das Erkennen ist aus dem umweltlichen Erleben herausgesetzt. Aber hier zeigt sich zugleich, daß nicht nur das Erkennen aus dem umweltlichen Erleben herausgehoben ist, sondern korrelativ auch das Erkannte aus dem umweltlichen Erleben. Dieses Erkannte ist als Entferntes kein Umweltliches mehr, kein Nahes im Sinne eines Umweltlichen in meinem Umgangsverständnis von ihm. Das Erkannte bewegt sich als Gegenstand nicht mehr in einem /7rawe/izusammenhang, sondern jetzt nur noch in einem Sac/zzusammenhang. Der £/mw/izusammenhang modifiziert sich zum Sac/izusammenhang. Zusammenfassend: Sowohl das Gegenständliche als auch das Erkannte sind als solche in eine Ferne gesetzt in bezug auf das erkennende Ich, während es zuvor im Umwelterleben für das umwelterlebende Ich gerade in einer eigenen Nähe war. „ I m theoretischen Verhalten bin ich gerichtet auf etwas, aber ich lebe nicht (als historisches Ich) auf dieses oder jenes Welthafte zu" (GA 56/57, S. 74). Im theoretischen Verhalten bin ich auf ein Erkanntes gerichtet. Das Erkannte ist der intentionale Gegenstand. Das erkennende Verhalten ist die intentionale Erkenntnisweise. Aber im Sinne der primären Selbstgegebenheit und Vollzugsweise des Ichs lebe ich nicht als historisches Ich in diesem erkennenden Verhalten. Im erkennenden Sichver144 Vgl. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, 3. Band, Leipzig: Hirzel, 1862. Sp. 568.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
halten zum Erkannten bin ich gerichtet auf ein Erkanntes, aber dieses theoretische Gerichtetsein auf ein Erkanntes ist nicht mehr ein Hinleben auf ein Weltliches, wie im a-theoretischen Erleben. Im a-theoretischen Erleben bin ich auch intentional bezogen, aber gerade in der Weise des Hinlebens auf ein jeweiliges Bedeutsames. Das Mitschwingen im Erleben und Hinleben auf das umweltlich Erlebte ist die spezifische Vollzugsweise der a-theoretischen Intentionalität, die als solche von der reflexiven Phänomenologie niemals gesehen und thematisiert worden ist. Das a-theoretische Leben und Erleben in seiner Faktizität ist je schon aufgebrochen, denn das Erleben in diesem a-theoretischen Modus hat die Wesensverfaßtheit der Intentionalität, doch der umwelterlebenden
Intentionalität.
Wenn von theoretischem und historischem Ich die Rede ist, muß man bemerken, daß es nur um ein Ich in unterschiedlicher Vollzugsweise geht. Die primäre ichliche Vollzugsweise, in der ich mir selbst primär als Ich eröffnet bin, ist das atheoretische Mitschwingen in meinem Erleben und Hinleben auf das Erlebte. Und diese primäre atheoretische Selbsteröffnetheit des Ichs modifiziert sich in die theoretische Einstellung. In dieser hat sich die primäre Vollzugsweise des a-theoretischen Ichs verhüllt. Wenn der Bedeutungscharakter des Umweltlichen aufgehoben und durch die reflexive Zuwendung die Sache als ein Wahrgenommenes mit bestimmten Charakteren festgestellt wird, verblaßt das Umweltliche zum bloßen Ding. Die „Qualitäten" sind dementsprechend nicht mehr Bedeutsamkeiten, sondern Wahrnehmungsqualitäten. Das Maßgebende ist jetzt das Dinghafte am Ding und nicht das Bedeutungshafte des Umweltlichen. Wir müssen im Auge behalten, daß die ganze sinnliche Wahrnehmung zwar konstitutiv für das Umwelterlebnis ist, aber nicht fundierend. Das, was ich darin wahrnehme, ist geführt durch das Umwelterleben und das im Umwelterleben Bedeutsame. Um diese Einsichten deutlicher zu machen, zitieren wir dazu eine Stelle aus dem KNS, die den Entlebungsprozeß zusammenfaßt: „Das Bedeutungshafte ist ent-deutet bis auf diesen Rest: Real-sein. Das Umwelt-erleben ist ent-lebt bis auf den Rest: ein Reales als solches erkennen. Das historische Ich ist ent-geschichtlicht bis auf einen Rest von spezifischer Ich-heit als Korrelat der Dingheit [...]" (ebd., S. 89, k.g.v.m.). Anhand dieses Zitats lassen sich drei Momente im Entlebungsprozeß herausstellen: 1. Schon in der theoretischen Einstellung hat sich das Bedeutungshafte des erlebten Umweltlichen ent-deutet, dies meint, das Sich-entziehen des Bedeutungshaften, in welchem sich immer Umweltliches überhaupt zeigt. Das Real-sein oder die Realität ist der Rest dieser Ent-deutung des Bedeutungshaften (erlebtes Um weltliche —» ent-deutet). 2. Zum Ent-deuten gehört aber auch das Umwelterleben als ent-lebtes, d.h. als das modifizierende Verschließen des ursprünglichen Umwelterle-
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
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bens. Das Verschließen ist nicht total, sondern modifizierend bis auf den Rest des Erkennens. Das Erleben ist nicht mehr das Ursprüngliche, sondern das ent-lebte Erleben im Sinne von Welterkennen, Erkennen von Realem in seiner Realität (Umwelterleben —> ent-leben). 3. In dieser Modifikation wird das historische Ich als die primäre Vollzugsweise des Ich ent-geschichtlicht. Das historische Ich als das umweltlich erlebende Ich modifiziert sich in das theoretische Ich, wird zu einem abständig betrachtenden erkennenden Ich (historisches Ich —» ent-geschichtlicht).
c) Die Gewinnung der intentional ursprünglicheren Erfassung des faktischen Lebens Die Entdeutung des erlebten Umweltlichen, die Entlebung des Umwelterlebens und die Entgeschichtlichung des historischen Ichs zeigen die fixierte dogmatische Gegenständlichkeit, in der das Leben und Erleben theoretisch thematisiert wird. Die Aufgabe der phänomenologisch-hermeneutischen Methode besteht darin, diesen Entlebungsprozeß rückgängig zu machen. In diesem Sinne richtet sich die phänomenologisch-hermeneutische Methode gegen die theoretischen Feststellungen. Der „Gegencharakter" dieser Methode kommt in ihren Momenten: Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion zum Ausdruck. 1 4 5 Nur indem die verhüllte ursprüngliche Ebene des faktischen Lebens, d.h. das Umwelterlebnis, zum Aufweis kommt, läßt sich die Adäquatheit dieser Methode nachweisen. Dies ist dann der Fall, wenn 1. das Was als das Bedeutungshafte des erlebten Umweltlichen, 2. das Wie als das Umwelterleben und 3. das Daß als das historische Ich gesehen werden können. Dies müssen wir zunächst erläutern. Ad 1. Das, was wir im ursprünglichen Erlebnis finden, ist zunächst nicht als ein Gegenstand zu betrachten, sondern als Bedeutsames. Das Was des Erlebnisses ist dann das Bedeutungshafte des erlebten Umweltlichen. Daher charakterisiert Heidegger die Bedeutsamkeit als den Seinscharakter des Was. Das Was bzw. der Gehaltssinn des ursprünglich vortheoretischen Erlebnisses erweist sich als Welt. 146 Die Bedeutsamkeit bildet die Grundstruktur der Welt. In SuZ wird dies als die Weltlichkeit der Welt weiter entfal-
145 Heidegger wird im WS 1919/20 sogar schreiben, daß die phänomenologischphilosophische Methode „in eigenartiger Weise mit Negationen [arbeitet]", GA 58, S. 240. 146 Vgl. GA 61, S. 86. 147 Vgl. SuZ § 18. Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der Welt.
240
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Ad 2. Aber im Entdecken des Bedeutsamen findet nicht nur ein Was statt, sondern dieses Was geschieht im Umwelterleben, d.h. in einem Wie. Die Beziehung zwischen dem umwelterlebenden Wie und dem bedeutsamen Was haben wir oben als eine ursprüngliche Gestalt der Intentionalität bei Heidegger gesehen. Das umwelterlebende Wie zeigt sich als a-theoretisches intendo , während das bedeutsame Was das α-theoretische intentum bildet. Da dieses Gerichtetsein kein erkenntnistheoretisches, sondern ein vortheoretisches ist, finden wir bei Heidegger eine ursprünglichere Aneignung der Intentionalität Husserls. Wir haben sie als eine α-theoretische umwelterlebende Intentionalität charakterisiert. Somit sehen wir, daß Heidegger die Intentionalität niemals, wie einige Kommentatoren Heideggers meinen, verlassen, sondern sie in ursprünglicherer Weise gesehen hat. 1 4 8 Da unser Problem der „Zugang" zum Leben und Erleben ist, müssen wir an dieser Stelle in Erinnerung rufen, daß bei Husserl eine mögliche Thematisierung der intendo bzw. des Aktes nur durch Reflexion stattfinden kann, d.h. durch ein Zum-Gegenstand-machen aufgrund eines wahrnehmungsmäßigen Fundaments. Daher haben wir im § 22 angedeutet, daß für Husserl ein Zugang zum Wie nur durch die Rückkehr zum Was möglich ist. Das Wie wird als Was interpretiert, da das Wie für Husserl nur „Charaktere der unterschiedlichen Wahrnehmungsgegebenheit" besitzt. 149 Das Wie in seinem Seinscharakter bleibt für Husserl grundsätzlich verhüllt.
148
Hier müssen wir uns vor dem Interpretationsfehler hüten, den z.B. G. Agamben und R. Rodriguez begehen. Agamben schreibt: „L'abandon de la notion d'intentionalité (et de celle de sujet qui lui était corrélative) a été rendu possible par la mise en place de cette catégorie [facticité, Α. X.]; le chemin a été ici: intentional ité-facticité-Dasem", La passion de la facticité in: Heidegger, Questions ouvertes, S. 65 f. R. Rodriguez schreibt: „Intuition hermenéutica - interpretación - y destruction ο meditación sobre las palabras clave de la tradición en la que estamos inmersos sustituyen al anâlisis intencional", La impotencia de la reflexion in: Hermenéutica y subjetividad, S. 89. In der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers gibt es kein Verlassen (Agamben) und keine Ersetzung (Rodriguez) der Intentionalität, sondern nur ihre ursprünglichere Auslegung. Es handelt sich um keine erkenntnistheoretische Intentionalität, sondern um eine a-theoretische umwelterlebende Intentionalität. Faktizität, hermeneutische Anschauung, Destruktion deuten auf die Ursprünglichkeit der Analyse hin, aber sie sind auf keinen Fall „Ersatzteile" der Intentionalität. Wie sich die Intentionalität als ein Leitfaden der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers erweist, hat v. Herrmann in ,Die Intentionalität in der hermeneutischen Phänomenologie' (unveröffentlicht) gezeigt. P. von Ruckteschell folgt diesem Weg in seiner Dissertation ,Von der Ursprungswissenschaft zur Fundamentalontologie: Die Intentionalität als Leitstruktur im frühen Denken Heideggers', Freiburg, 1998. Siehe auch die Dissertation von R. Buchholz, Was heißt Intentionalität? Eine Studie zum Frühwerk Martin Heideggers, bes. S. 54 ff. und S. 80 ff. 149 v. Herrmann, Die Intentionalität ... S. 9.
241
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
Wenn das umwelterlebende Wie in seiner Ursprünglichkeit zugänglich werden muß, kann dieses nur in einer vollzugsmäßigen Weise gesehen werden, da es auf einen Seinscharakter hindeutet. Das umwelterlebende Wie wird durch die phänomenologisch-hermeneutische Methode in seinem Vollzugssinn „zugänglich", und dies weist auf eine ursprünglichere Auslegung des intentionalen Bezugs Wie-Was hin: auf die a-theoretische umwelterlebende
Intentionalität.
A d 3. Im Mitschwingen im Erleben und Hinleben auf das um weltlich Erlebte spielt sich das historische Ich ab. Die hermeneutische Analyse zeigt, daß das abgehobene Ich Husserls, das ego cogito cogitatum, nicht zum vortheoretischen Erlebnis gehört. In der ursprünglicheren Sphäre des Umwelterlebens gibt es kein abgehobenes Ich, sondern das Ich lebt auf das Erlebte hin. Der Unterschied zu Husserl besteht darin, daß das Ich seine Erlebnisse zunächst nicht im Blick hat, sondern sie durchlebt. In diesem Sinne, haben wir betont, bleiben die Erlebnisse in der hermeneutischen Zugangsweise durchlebte
Erlebnisse.
Indem Heidegger darauf hinweist, daß die Abgehobenheit des ego nicht zur ursprünglichen vortheoretischen Sphäre gehört, setzt er sich besonders mit der Husserlschen Phänomenologie auseinander und grenzt sich von dieser ab. Heidegger geht es um die hermeneutische Zugangsweise zu dem auf das Erlebte hinlebenden Ich, um die Seinsweise des Ichs in seinen Erlebnissen, nicht um einen abgehobenen Ichpol, um das Ich als ego. M.a.W., es geht um das Ich, das im Erlebnis hinlebt auf das Erlebte. Der hermeneutisch geschaute Erlebnissinn hat keinen Bezug zum abgehobenen Ich, sondern ist in bezug auf das auf das Erlebte hinlebende Ich, der primären Gegebenheitsweise des Ichs, zu sehen. Ein volles Verständnis des auf das Erlebte hinlebenden Ichs gewinnen wir erst, wenn wir dieses Ich hinsichtlich seines Seins betrachten. Im WS 1921/22 schreibt Heidegger: „Also bei dem Ansatz des „ich bin" als Orientierung der kategorialen Interpretation handelt es sich nicht um eine Zentrierung der philosophischen Problematik in dem „Ichproblem" in irgendeiner seiner möglichen Denominationen. Hier zugespitzt: Im eigentümlichen Seinscharakter
„ich""
des „ich
bin"
ist das „bin"
entscheidend
und nicht
das
(GA 61, S. 173 f., k.g.v.m.).
Aber wie geschieht die „Verschiebung" des Problems Ich auf das Grundproblem des bin bzw. des Seins? Dies gelingt Heidegger durch den Terminus ,Faktizität'. In PIA deutet Heidegger darauf hin: „ I n der Faktizität zentriert die mögliche radikale Seinsproblematik des Lebens" (PIA, S. 246). Im WS 1921/22 heißt dies: „Das Sein des Lebens als seine „Faktizität" (GA 61, S. 114). Aber was genau besagt ,Faktizität'? Gibt sie etwa den „wirklichen" bzw. „realen" Charakter des Ichs? Wie soll , faktisch 4 im 16 Xolocotzi
242
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Jaktischen Leben' verstanden werden? Im ,Manuskript Bröcker 4 vom SS 1922 finden wir einen Hinweis auf das hier Gemeinte: „Ein Sein, das so ist, daß es ihm darauf ankommt, das also selbst in einer Grundbewegtheit des Lebens steht als das Worauf dieser Bewegtheit. Dieses Sein des faktischen Lebens, das wir zusammenfassend bezeichnen als Faktizität, hat seine entscheidende Grundstruktur in dem Daß-Charakter. Der Seinssinn des Faktischen ist ein Daß-sein" (SS-1922, S. 50). Die „Ichhaftigkeit" des Ichs zeigt sich im vortheoretischen umweltlichen Ansatz nicht als Tatsächlichkeit oder Wirklichkeit, sondern als eine historische Faktizität. Und da „das Historische [...] im Sinn der Faktizität [liegt]", ist die Ichhaftigkeit als eine historische Ichhaftigkeit zu sehen (GA 61, S. 76). Daher kann die Rede vom historischen Ich nur anhand seiner Faktizität bzw. seines „bin" sachgemäß betrachtet werden. In der Faktizität finden wir bereits die Grundcharaktere des Lebens bzw. des Daseins, die Heidegger in SuZ in einer terminologisch abgewandelten Weise zum Aufweis bringen wird, nämlich Existenz und Jemeinigkeit. Existenz wird als die eigentümliche Seinsweise des Lebens bzw. Daseins beschrieben. Das Leben ist kein vorhandener Gegenstand unter anderen, sondern es existiert. Existenz besagt dann keine der zur Vorhandenheit gehörenden Seinsmodalitäten, nämlich Wirklichkeit, Möglichkeit oder Notwendigkeit. Vielmehr deutet sie auf die eigenartige Weise des Seins des Lebens bzw. Daseins hin. Um Mißverständnissen vorzubeugen, gebraucht Heidegger in SuZ den eingedeutschten Terminus ,Existenz' für seinen Ansatz, dagegen wird er den lateinischen Terminus ,Existentia' verwenden, um sich auf die in der Tradition verstandene Seinsmodalität der Wirklichkeit zu beziehen. 150 Daß Heidegger die Faktizität als den Seinssinn des Lebens gesehen hat, bezeugt die Vorlesung vom SS 1923 deutlich: „Faktizität ist die Bezeichnung für den Seinscharakter ,unseres' ,eigenen' Daseins" (GA 63, S. 7). Anhand dieses Zitats können wir an den in Beziehung zur Existenz zu bringenden Charakter der Jemeinigkeit anknüpfen. Das durch die Faktizität charakterisierte Ich ist nicht reflexiv-theoretisch als Ichpol der Erlebnisse zu verstehen, sondern als historisches Ich in der Weise der Jemeinigkeit. Die Bezeichnungen „Unseres" und „eigenes" im letzten Zitat weisen auf diesen Charakter hin. Das Sein des Lebens bzw. des Daseins ist je meines, d.h. jeweils meines in ursprünglicher Weise. Zusammenfassend können wir im Daß-sein-Charakter der Faktizität die Grundbestimmung des Lebens bzw. Daseins finden, die später in SuZ als Jemeinigkeit und Existenz bezeichnet werden.
150
Vgl. SuZ, S. 42.
4. Kapitel: Die hermeneutische Reduktion
243
Aufgrund des Entfalteten wird deutlich, daß das, was Heidegger durch den Begriff faktisches Leben' beabsichtigt, nicht in die Reihe der „lebensphilosophischen" Überlegungen einzuordnen ist. Vielmehr meint er mit faktischem Leben den ursprünglich einheitlichen ontologischen Charakter unserer seinsverstehenden Existenz. Im Terminus ,Leben' wird das Was-Wie ausgedrückt, in , Faktizität' das Daß-sein, d.h. die eigenartige Seinsweise des Was-Wie. Das Verhältnis zwischen dem Was-Wie und dem Daß hat Heidegger in einem 1922 geschriebenen Brief an Jaspers angedeutet: „Es gibt Gegenstände, die man nicht hat, sondern „ist"; und zwar noch solche, deren Was lediglich ruht in dem „Daß sie sind" [...]" (Briefe H-J, S. 26 f., k.g.v.m.). Das Was wurde in der Tradition als die Grundbestimmung der Gegenstände betrachtet, d.h. als das Wesen. Treffen wir das Was des Erfragten, dann treffen wir sein Wesen. Wenn aber unsere Seinsweise nicht bloß auf einem gehaltlich vorhandenen Was beruht, wie soll dann unser Wesen verstanden werden? Im zuletzt herangezogenen Zitat klärt Heidegger dies: das Was-Wie des Lebens bzw. das Wesen des Lebens beruht in dem Daß es ist. M.a.W.: Das Was-Wie des Lebens beruht in der Faktizität. Der Sache nach meint dies dasselbe, was in einem berühmten Zitat aus SuZ, so wiedergegeben wird: „Das „Wesen" des Daseins liegt in seiner Existenz" (SuZ, S. 42). Das hier genannte „Wesen" des Daseins wird in den ersten Dozenten-Vorlesungen a-theoretisch-intentional in seinem Was-Wie gesehen: als das Umwelterleben in bezug auf das bedeutungshafte erlebte Umweltliche. Die in SuZ charakterisierte Existenz (und Jemeinigkeit) wird in den fFV als Daßsein bzw. historisches Ich ausgelegt. Somit sehen wir, daß durch die Reduktion das faktische Leben in seinem umweltlichen Charakter eröffnet wird. Dadurch wird zugleich der Entlebungsprozeß abgewehrt und der ursprüngliche ontologische Charakter des Lebens in seinem Was-Wie-Daß ausgelegt. Das Ausdrücklichmachen des durch die Reduktion bzw. durch die ontologische Blickrichtung Enthüllten wird als Rekonstruktion bzw. Blickstand bezeichnet. Die Reduktion und die Rekonstruktion werden von einer bestimmten Destruktion bzw. Blickweite begleitet. Im nächsten Kapitel wenden wir uns diesen weiteren methodischen Momenten zu.
16*
244
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Fünftes Kapitel
Die mitmachende Rekonstruktion und die phänomenologische Destruktion Nachdem wir auf die Analyse des ersten methodischen Moments des „Zugangs" zum Leben eingegangen sind, gehen wir in diesem Kapitel zum zweiten und zum dritten Moment über: zur mitmachenden Rekonstruktion und zur „begleitenden" phänomenologischen Destruktion. Im WS 1919/20 schreibt Heidegger: „Das faktische Leben gibt sich in einer bestimmten Deformation. Diese Ausformung in Objektsgebilde muß rückgängig gemacht werden" (GA 58, S. 240). Durch die Entfaltung des Entlebungsprozesses wurde die bestimmte Deformation näher gesehen und zugleich erwies sich die Notwendigkeit einer Zugangsmethode zur vordeformierten Sphäre des faktischen Lebens. Der erste Schritt im Zugehen auf das ursprüngliche Leben hat sich als die Reduktion gezeigt. An dieser Stelle müssen wir bemerken, daß die Momente der Methode nicht als ein bloßes Nacheinander verstanden werden dürfen. Gleichwohl müssen wir dennoch bezüglich der ersten beiden Momente von einer gewissen Folge sprechen; die Rekonstruktion ist nur aufgrund der Reduktion möglich. M.a.W., rekonstruiert werden kann nur das, was bereits reduziert wurde. Das dritte Moment jedoch, die Destruktion, folgt nicht der reduktiven Rekonstruktion nach, sondern begleitet die ersten zwei Momente im Laufe ihrer Durchführung. Die durch die Reduktion gewonnene Ontologie wird von einer Logik strukturiert, und dies wird von einer geschichtlichen Kritik begleitet. Die Rekonstruktion läßt sich als die positive Seite des hermeneutischphänomenologischen Thematisierens des Lebens charakterisieren. Sie erweist sich als das Ausdrücklichmachen der durch die Reduktion eröffneten unausdrücklichen Umweltsphäre. Wenn das reduzierte Umwelterlebnis nicht erkannt, sondern verstanden wird, dann wird das Verstandene durch das Ausdrücklichmachen in die Auslegung übergeführt. Wir können bereits vorwegnehmen, daß das methodische Moment der Rekonstruktion den Übergang vom Verstehen zur Auslegung betrifft. Daher läßt sich die Rekonstruktion als das Moment der Methode bezeichnen, in dem wir ausdrücklich blickend stehen: als ein Blickstand. Da dieser Blickstand philosophisch ausdrücklich geschieht, wird dabei eine „kategoriale Interpretation des Ansprechens und Auslegens" des durch die Reduktion Enthüllten vollzogen. Es wird dadurch eine im bestimmten Sinne erfaßte Logik erzielt. Bevor wir dies im § 27 in Anlehnung an Aristoteles entfalten, gehen wir zunächst auf eine nähere Betrachtung des Verstehens und der Auslegung ein (§ 26). Zuletzt werden wir sehen, daß sowohl die durch die Reduktion gewonnene
245
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
Ontologie als auch die durch Rekonstruktion gewonnene Logik von einer durch die Destruktion zustande kommenden geschichtlichen Kritik begleitet werden (§ 28).
§ 26. Verstehen und Interpretieren a) Grundstufen der phänomenologischen Forschung: Auffassung und Ausdruck I m § 21 sind wir auf das Verstehen eingegangen. Dort haben wir von der verstehenden Anschauung gesprochen, da das Verstehen als Anschauung zu sehen i s t : 1 5 1 „Alles Verstehen vollzieht sich in der Anschauung" (GA 58, S. 240). Die verstehende Anschauung bzw. das Verstehen bietet den Boden für die Entfaltung der hermeneutischen Phänomenologie. In diesem Sinne bildet sie das grundlegende Element für unsere wieteren Überlegungen bezüglich des philosophischen „Zugangs" zum Leben. Im WS 1919/20 schreibt Heidegger: „Die erste Stufe der phänomenologischen
Forschung
ist
das Verstehen. (Das Ganze der phänomenologischen Erkenntnis ist ein Zusammenhang
von Stadien
der Auffassung
und des Ausdrucks)"
(ebd.,
S. 237 f., k.g.v.m.). Das damit Gesagte läßt den Unterschied zwischen Husserls und Heideggers Phänomenologie sachgemäß begreifen. 1 5 2 Das Verstehen ist kein außenstehender Charakter im philosophischen Thematisieren des Lebens, sondern bildet die allererste Stufe im „Zugang" zum Leben. Wenn Heidegger von einer ersten Stufe spricht, gibt er zu verstehen, daß es weitere Stufen gibt. Wie diese weiteren Stufen zu sehen sind, wurde im Zitat angedeutet: Die Stufen der hermeneutisch-phänomenologischen Forschung spielen sich im Zusammenhang von Stadien der Auffassung und des Ausdrucks
ab.
Festzustellen ist somit, daß die zwei Hauptstadien der Forschung Auffassung und Ausdruck sind. Die ganze Bewegung des „Zugangs" zum Leben geht dann von der Auffassung zum Ausdruck. Was aber w i r d aufgefaßt und
ausgedrückt? Dies haben wir bereits erläutert: Die ursprünglichen Erlebnisse bzw. Umwelterlebnisse. Das Leben und Erleben wird ursprünglich im Umwelterlebnis aufgefaßt. Da das Umwelterlebnis zunächst nicht erkannt, sondern verstanden wird, ist das Verstehen ein auffassendes bzw. erfassendes Verstehen. Im WS 1919/20 macht Heidegger dies deutlich: „Die Struktur des reinen Verstehens selbst als Erfassungsform der Erlebnisse" (ebd., 151
Vgl. GA 58, S. 185. An diesem Punkt hat bereits J. Greisch mit Recht den Unterschied zu Husserls Phänomenologie angesetzt: „C'est cette Phrase qui contient à notre avis l'essentiel de la mutation herméneutique de la phénoménologie", Ontologie et temporalité, S. 25. 152
246
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
S. 138, k.g.v.m.)· Anders gewendet heißt das, daß die Auffassung als Verstehen stattfindet. Aber das auffassende Verstehen bildet die erste Stufe bzw. das erste Hauptstadium der hermeneutischen Forschung. Die Auffassung geht in den Ausdruck über. Sie wird ausgedrückt bzw. ausdrücklich gemacht. Das Ausdrücklichmachen der Auffassung bzw. des Verstehens haben wir im Laufe der Untersuchung als die Auslegung bzw. Interpretation angesprochen. Das Ausdrücklichmachen bzw. die Auslegung ist dann kein Element, das sich von außen her kommend dem Verstehen überstülpt, sondern es bildet ein bestimmtes „Hinsehen", das aus einem zugrundeliegenden Orientiert-sein bzw. einer Auffassung erwächst. M.a.W., das oben genannte „Ganze der phänomenologischen Erkenntnis" besteht im Prozeß der Überführung von der Auffassung der ursprünglichen Erlebnisse zum Ausdruck derselben. Anders gewendet: Die „phänomenologische Erkenntnis" besteht in der Bewegung vom Verstehen zur Auslegung. Daher bezeichnet Heidegger die Auslegung als eine „Steigerung des Verstehens" (ebd., S. 186). 1 5 3 Für Heidegger besteht kein Zweifel daran, daß die Auslegung aus dem Verstehen heraus zu sehen ist. In diesem Zusammenhang schreibt er im SS 1923 folgendes: „Das Hinsehen erwächst aus einem Orientiert-sein über sie, aus einem schon Bekanntsein mit den Seienden" (GA 63, S. 74). Das Hinsehen deutet auf die Weise hin, wie das ursprüngliche Orientiert-sein ausgedrückt wird, nämlich auf die Auslegung. Das Orientiert-sein besagt die Weise, wie das Leben zunächst und zumeist auf das Erlebte hinlebt, nämlich im verstehenden Umwelterlebnis. Wenn das auslegende Hinsehen aus dem verstehenden Orientiert-sein erwächst, dann müssen wir dieses Orientiert-sein bzw. Verstehen näher betrachten, damit die Überführung zum Hinsehen bzw. zur Steigerung deutlicher begriffen werden kann.
b) Vertrautsein und Selbsthaben als Grundcharaktere des Verstehens Im WS 1919/20 schreibt Heidegger: „Ich lebe in Bedeutsamkeitszusammenhängen selbstgenügsamen Ausmaßes; das Erfahrene spricht an, aber in einer Weise, die uns immer irgendwie vertraut ist. Es selbst ist so, daß es auch immer irgendwie angeht, daß ich dabei bin. Ich habe mich dabei 153 Im § 9 sind wir auf die Steigerung bei Dilthey eingegangen. Dort haben wir gesehen, daß ,Steigerung' bei Dilthey immer die Steigerung der Bewußtheit bedeutet (vgl. GS X I X , S. 355), da diese Steigerung eine theoretische grundlegende Struktur der Erkenntnis ist. Heidegger seinerseits meint mit Steigerung' nur den vortheoretischen Übergangsprozeß vom Verstehen zur Auslegung. Dies ist aber nicht in einen theoretischen Rahmen einzustellen, wie wir bereits entfaltet haben. Wird die Auslegung als Erkenntnis betrachtet, wäre der Grundansatz Heideggers verfehlt.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
247
selbst irgendwie" (GA 58, S. 157, k.g.v.m.)· Aufgrund dieses Zitats können wir deutlich zwei Grundcharaktere des Verstehens heraus-heben: aa) Vertrautheit mit der gelebten Welt und dabei bb) das Sich-selbst-haben. aa) Vertrautheit Wir leben immer in Bedeutsamkeitszusammenhängen, in welchen uns das Erlebte irgendwie anspricht. Die Weise, in der das Erlebte anspricht, ist die Vertrautheit. Das Vertrautsein mit der gelebten Welt drückt sich aus in solcher Art, daß ich dabei bin: „ich habe mich dabei selbst irgendwie" (ebd.). Wenn ich aus der Küche kommend in mein Arbeitszimmer eintrete und meine Tasse auf den Schreibtisch stelle, bedeutet dies keine Reihe von Vorgängen, in welchen ich zunächst Gegenstände sehe und ordne, sondern verstehend laufe ich schlechthin von der Küche Richtung Arbeitszimmer und stelle beim Hinsetzen die Tasse auf den Schreibtisch. In allen diesen verstehenden Verhaltungen bin ich mit den in diesen Verhaltungen begegnenden umweltlichen Dingen vertraut. Ich verstehe irgendwie die Sinnzusammenhänge, in denen ich mich bewege. Die Küche, mein Arbeitszimmer, die Tasse, mein Schreibtisch sind also nicht bloße Gegenstände, sondern sie bedeuten mir in bestimmter Weise. Ich erfahre sie als bedeutsam. Ohne dieses ursprüngliche Verstehen könnte ich mich überhaupt nicht bewegen. 1 5 4 Diese Art und Weise, in der wir zunächst leben, hatte Heidegger von Anfang an vor Augen, als er im KNS das Kathedererlebnis im Sinne des „es weitet" auslegte: „In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, ,es weitet' [...]" (GA 56/57, S. 73). Vertrautheit besagt also keinen erkenntnistheoretischen Ansatz, sondern die ursprüngliche Weise, in der ich lebe. „Ich bin mit den Dingen vertraut" meint nicht, daß ich die Sachen primär nach ihren Eigenschaften kenne, sondern, daß ich mit ihnen zunächst umgehen kann. Wir haben bereits erläutert, daß Erkennen ein bestimmter Zugang zu den Dingen ist, der die Dinge zunächst wahrnehmungsmäßig erfaßt. Wenn das ursprünglichste Erlebnis aber primär ein Umwelterlebnis und nicht nur ein wahrnehmungsmäßiges Erlebnis ist, dann ist unsere „Erfahrung" als die Weise des Zugehens zu den umweltlichen Dingen keine wahrnehmende Erfahrung, sondern ein Umgehen mit den Dingen. Das Umgehen zeigt als Grundcharakter die Vertrautheit. Beim Stellen der Tasse auf den Schreibtisch gehe ich mit diesen Dingen um. Sie sind mir schon vertraut und werden nicht etwa zuerst wahrgenommen als Gegenstand Tasse, Schreibtisch, usw. und dann einer Umwelt zugeordnet. Das Gegenteil ist der Fall: Primär erfahre ich die
154 Darauf kommt Heidegger in verschiedenen Texten immer wieder zurück. Wir finden diese Auslegungen z.B. in den ,Zollikoner Seminaren' S. 14 ff.
248
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Tasse, den Schreibtisch, usw. in ihrem umweltlichen Charakter als Bedeutsames. Danach kann ich sie „isolieren" und theoretisch als Gegenstand erkennend betrachten. Aber in dieser Theoretisierung sind die umweltlichen Dinge nicht mehr vertraut, sie sind mir in einer bestimmten Weise fremd geworden. Die Theoretisierung bricht mit der Vertrautheit des Umgehens. Dies haben wir bereits im Entlebungsprozeß ausführlich nachgewiesen. Da das Vertrautsein ein Grundcharakter des Verstehens ist, muß sein vortheoretischer Charakter auch in einer philosophischen Thematisierung erhalten bleiben. Das Vertrautsein darf also nicht erkenntnistheoretisch behandelt werden, denn dadurch verliert es seinen umweltlichen-umgängigen Charakter. Das Vertrautsein
muß ausgelegt und nicht bloß zur Kenntnis
genommen
werden. In der Kenntnisnahme führen wir bereits eine theoretische Modifikation des ursprünglichen Umgehens mit den vertrauten Dingen durch. 1 5 5 bb)
Selbsthaben
Aber die Vertrautheit mit den umweltlichen Dingen ist immer von mir erlebt. Das ,es weitet' zeigt sich immer in bezug auf ein Selbst. Die Rede vom Selbst kann zu Fehlmeinungen führen, daher wenden wir uns kurz in einer kritisch-destruktiven Weise diesen möglichen Mißdeutungen des Selbsthabens
zu.
Im WS 1919/20 schreibt Heidegger: „Versetzen wir uns, lebendig mitgehend, in solche Erlebnisse [Umwelterlebnisse, Α. X.], dann merken wir, daß wir
in dem Bedeutsamkeitszusammenhang,
in dem wir
leben, uns ir-
gendwie selbst haben" (GA 58, S. 250, k.g.v.m.). In dieser Vorlesung bezieht sich Heidegger auf drei Irrmeinungen, die das Phänomen des Michselbsthabens verhüllen. Der erste Interpretationsfehler stellt das Selbsthaben als ein „ich" dar, das in die Ordnung der „Iche" gehört. Weder das Ich als Ichpunkt noch das Ich als konkretes Ich treffen das, was Heidegger unter Selbsthaben meint, da „ich" bereits eine objektivierte ordnungsmäßige Konstruktion ist. Hier sind sowohl die idealistischen als auch die realistischen erkenntnistheoretischen Auslegungen gemeint. Die zweite Mißdeutung bezieht sich auf das Selbsthaben als das notwendige Korrelat der Erfahrung, d.h. als das, was die Erfahrung fordert, „was sie sich aneignet, von dem die Erfahrung eine Eigenschaft ist" (ebd., S. 258). Hier ist klar eine hegelianische dialektische Interpretation angesprochen. Die dritte irrige Meinung wird in bezug auf Husserl erwähnt. D. h. die Betrachtung des Selbsthabens als ein „Ich-bewußtsein", und zwar als „Nebenprodukt eines bestimmten Lebenszusammenhangs". Selbsthaben ist jedoch nicht mit Selbstbewußtsein gleichzusetzen. 155
In Bezug auf die Kenntnisnahme als Modifikation der faktischen Erfahrung vgl. GA 58, S. 110 ff. und 218 ff.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
249
Ferner darf das Selbsthaben weder als eine Reflexion über die Erfahrung und das Erfahrene noch als eine Einstellung innerhalb einer ordnungsmäßigen Beziehung betrachtet werden. Das „Ich", das im Selbst angedeutet wird, bedeutet nicht „etwas, das das Leben hat" (ebd., S. 165). Wenn wir vom umweltlichen Verstehen ausgehen, dürfen wir dieses „Ich" weder als einen geordneten Ichpunkt oder ein konkretes Ich eines erkenntnistheoretischen Ansatzes, noch als eine dialektische Notwendigkeit, noch als ein Selbstbewußtsein sehen. Aber wie soll dann das Selbsthaben verstanden werden? Heidegger schreibt: „Mich-Selbst-Haben ist kein Anstarren des Ich als eines Objektes, sondern es ist der Prozeß des Gewinnens und Verlierens einer gewissen Vertrautheit des Lebens mit sich selbst. Es ist etwas, was schwingungsmäßig gleichsam da ist und wieder schwindet (,Rhythmus')" (ebd., S. 258, k.g.v.m.). Hier müssen wir einige wichtige Punkte herausheben: 1. das Selbsthaben zeigt sich als ein Prozeß und nicht als ein „Anstarren" eines Objektes. Der Prozeßcharakter deutet auf die Bewegtheit hin, die das Leben charakterisiert. Dieser Punkt wird im nächsten Paragraphen im Rahmen der κινησις-Analyse bei Aristoteles wiederaufgenommen. 2. Die Bewegtheit des Lebens zeigt sich durch ein Gewinnen und Verlieren. Dies besagt ein Entdecken oder Verdecken des Phänomens Leben. 3. Das, was gewonnen oder verloren wird, ist eine „gewisse Vertrautheit" des Lebens mit sich selbst. Hier dürfen wir nicht vergessen, daß zwar das Leben von Hause aus mit sich selbst vertraut ist, es aber verschiedene Stufen dieser Vertrautheit mit sich selbst gibt. Was Heidegger hier mit Gewinnen meint, deutet auf ein ursprüngliches Niveau, das verdeckt, d.h. verloren, werden kann. Liegt der Akzent der Vertrautheit im Sich selbst des Lebens, dann ist das Leben gewonnen. Ist dies aber nicht der Fall, dann wird dies als ein Verlieren charakterisiert. Gewinnen oder Verlieren des Lebens ist nicht gleichzusetzen mit leben und nicht-leben: „Man kann leben, ohne sich selbst zu haben" (ebd., S. 260). Das Gewinnen des Selbsthabens deutet auf eine Erhellung hin, die zur Urstruktur des Lebens im Ganzen gehört. Damit können wir vorwegnehmen, daß Heidegger die Urstruktur des Verstehens des Lebens nicht von Hause aus als Verlorensein bzw. Uneigentlichkeit betrachtet, sondern als einen ,vRhythmus", d.h. als Gewinnen und Verlieren. Dies weist auf die Möglichkeit eines eigentlichen oder uneigentlichen Ausdrücklichmachens hin, das in der Auslegung zustande kommt. Wenn sich das Leben also zunächst in seiner Umwelt auslegt, befindet es sich in einer Vertrautheit mit seiner Welt, aber dies bedeutet nicht, daß das Selbst nicht mehr da ist, sondern es wird lediglich verdeckt, ausgeblendet. Mit der Betrachtung der Vertrautheit und des Michselbsthabens im Verstehen können wir besser begreifen, wie das Verstehen als erste Stufe der
250
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
phänomenologischen Forschung das Leben und Erleben erfaßt. Es bleibt noch die Frage, wie das Verstehen ausdrücklich gemacht wird.
c) Rekonstruktion als Interpretation Die Tatsache, daß Verstehen durch Vertrautheit und Selbsthaben gebildet wird, bestätigt, daß es sich bei Heidegger um keinen wahrnehmungsmäßigen Ansatz handelt und von daher keine Rede von „Ausschaltung" sein kann. Vielmehr taucht mit dem Verstehen ein Mitgehen mit der Situation bzw. dem Umwelterlebnis auf. Dies drückt Heidegger folgendermaßen aus: „Geht man vom Verstehen selbst aus, so kommt man gerade zur Forderung des „Mitmachens" der persönlichen Lebenserfahrung mit größter Lebendigkeit und Innerlichkeit" (ebd., S. 254). Die Forderung des „Mitmachens" ist, wie wir schon wissen, gegen die Husserlsche έποχή angesetzt. Der Zugang zur Welt und zum Leben kann bei Husserl nur durch den ausschaltenden Blick gewonnen werden. Dieser Ansatz kann zustande kommen, weil Husserls Auffassung der Welt primär eine wahrnehmungsmäßige ist, die es erlaubt, den Glauben an die Welt auszuschalten. Husserl blieb der Blick auf die ursprünglichste Struktur der Welt als Bedeutsamkeit versperrt. Da die Bedeutungszusammenhänge der Welt zunächst nicht wahrgenommen, sondern verstanden werden, muß der ursprüngliche Zugang zum Leben ein andersartiger sein, der die Eigentümlichkeit haben muß, das Leben und Erleben mitgehend einzubeziehen. Im SS 1923 sieht Heidegger dies deutlich und nennt diesen „Zugang" Hermeneutik: „Der Terminus besagt [...] eine bestimmte Einheit des Vollzugs des ερμηνεύειν (des Mitteilens), d.h. des zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringenden Auslegens der Faktizität" (GA 63, S. 14). 1 5 6 Weiter oben haben wir bereits expliziert, daß das Leben in seiner Faktizität, d.h. in seinem Daß-sein, an ihm selbst verstehend (und nicht erkennend) und so auch verstehend zugänglich werden muß. Dies bildet die erste Stufe des methodischen Zugangs. Eine weitere Stufe wird im mitgehenden Mitteilen des Verstandenen durchgeführt, also in einem Ausdrücklichmachen. Aber wie kommt dieses Ausdrücklichmachen bzw. Auslegen zustande? Im WS 1919/20 stellt Heidegger diese Frage in einer abgewandelten Form: „Wie kann sich die Anschauung von Lebenssituationen explizieren?" und antwortet: „ I m reinen Verstehen, das sich ausformt in der Interpretation von Sinnzusammenhängen" (GA 58, S. 233). 156 Wir müssen uns daran erinnern, daß die Hermeneutik nicht erst im SS 1923 auftaucht. Bereits seit dem KNS (1919) ist die Rede von hermeneutischer statt reflexiver Intuition, vgl. GA 56/57 S. 117.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
251
Somit wird eine Grundeinsicht gewonnen, die den hermeneutisch-philosophischen Weg Heideggers prägen wird: Die Auslegung bildet nicht das Verstehen, sondern das Verstehen bildet sich aus bzw. formt sich aus in der Auslegung. Dies ist der Sache nach bereits das, was Heidegger später im § 32 von SuZ entfalten wird: „Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung" (SuZ, S. 148). Die in SuZ genannte Ausbildung des Verstehens wird der Sache nach im WS 1919/20 als „Konstruktion" bzw. „Rekonstruktion" charakterisiert: „Interpretation von Sinnzusammenhängen und damit interpretative Konstruktion möglicher sinnmäßiger dominierender Tendenzsituationen als letzte Ausdrucksgestalten von möglichen reinen Dominanten ursprünglichen Lebens" (GA 58, S. 138). Die interpretative Konstruktion müssen wir als eine Rekonstruktion betrachten, insofern sich das faktische Leben in seinem auslegenden Verstehen auslegt. Die Rekonstruktion bzw. interpretative Konstruktion erweist sich damit als eine Explikationsgestalt des Verstehens, als eine „Steigerung des Verstehens" (ebd., S. 186). Zunächst müssen wir an dieser Stelle einige Punkte abheben: Interpretation ist stets Interpretation von Sinnzusammenhängen und dies besagt: eine auslegende Re-konstruktion der möglichen „letzten Dominanten der Lebenssituationen" (ebd., S. 233). Was bedeutet dies? Die auslegende Re-konstruktion enthüllt die dominierenden Tendenzen der Situation, die nicht objektmäßig verstanden werden dürfen. Die Tendenzen und die Situation sind keine objektive Wirklichkeit. Sie müssen immer bedeutsamkeitsmäßig gesehen werden, daher spricht Heidegger nicht von „wirklichen Dominanten", sondern von möglichen. „Möglich" deutet auf eine andere Erfassungsweise der Elemente der Interpretation hin. Die möglichen Dominanten der Lebenssituationen haben wir bereits als die Grundstruktur des Verstehens gesehen: Jede Situation wird hinsichtlich des Vertrautseins und Sichselbsthabens verstanden. Diese werden als Dominanten der Lebenssituationen charakterisiert, weil sie das Leben jeweils in seiner Situation bestimmen. Sie bilden die Situation aus. Die interpretative Konstruktion bzw. Rekonstruktion als eine „Steigerung" des Verstehens hebt dessen Struktur heraus. Dies besagt aber nicht, daß die mitteilende Interpretation bloß eine „Nachahmung" des Verstehens ist. Da die Rekonstruktion dem Verstehen entspringt und entwächst, erweist sie sich als eine in einer Dominanten des Verstehens fundierte Stufe. In diesem Sinne kann die Rekonstruktion zweifach zustande kommen: einerseits aufgrund der Dominanten Vertrautsein und andererseits aufgrund der Dominanten Sichselbsthaben. M.a.W., die Auslegung kann sich zunächst auf das verstehende Vertrautsein oder auf das verstehende Sichselbsthaben beziehen. Richtet sich die Interpretation zunächst auf das Vertrautsein, dann
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
ist das ruinante bzw. verfallende Leben rekonstruiert bzw. ausgelegt. Richtet sich die Interpretation dagegen auf das Sichselbsthaben, dann kommt das gegenruinante Leben zum Vorschein. Wenn zum Verstehen das Vertrautsein und das Sichselbsthaben wesenhaft gehören, können wir auf dieser Stufe nicht sagen, daß eine Dominante wichtiger sei als die andere. In jeder Situation ist uns die Welt vertraut, und dabei haben wir uns selbst irgendwie. Erst in der Ausformung des Verstehens kann eine bestimmte Neigung auftauchen, die das Gewicht auf die eine oder andere Dominante richtet. Auf diese Weise läßt sich dem Mißverständnis vorbeugen, den verstehenden Umgang schlechthin in ruinanter Weise zu betrachten. 157 Der Umgang, d.h. die alltägliche ursprünglichere Weise, in der sich das verstehende Umwelterlebnis zeigt, ist nicht einfach mit der Ruinanz bzw. Uneigentlichkeit gleichzusetzen. Zum Umgang gehört sowohl das Vertrautsein mit den umweltlichen Dingen als auch das Sichselbsthaben bzw. Worumwillen (in SuZ). Erst durch Abdrängung einer der beiden Dominanten kann die Rede von Ruinanz bzw. Uneigentlichkeit oder Gegenruinanz bzw. Eigentlichkeit sein. Im ruinanten Leben wird dann das Sichselbsthaben ausgeblendet zugunsten des Vertrautseins mit den umweltlichen Dingen. Daher betrachtet Heidegger 1922 das ruinante bzw. verfallende Leben als eine „welthafte Auslegung seiner selbst" (PIA, S. 242). Es enthält drei Grundcharaktere: Es ist versucherisch, beruhigend und entfremdend. 158 Das ruinante Leben ist versucherisch, da diese Auslegung leicht durchgeführt werden kann: Es ist ein Sichleichtnehmen (ebd.). Aber zugleich ist es beruhigend, da es „in den Lagen seiner Verfallenheit [festhält]" (ebd., S. 243). Zuletzt ist es entfremdend, da „das faktische Leben [...] im Aufgehen in seiner besorgten Welt sich selbst mehr und mehr fremd [wird]" (ebd.). Der Kampf gegen diese Gestalt der Rekonstruktion wird durch eine Gegen-Bewegung möglich. Die gegenruinante Bewegung ist dann die Weise, wie das Leben aufgrund des Sichselbsthabens bzw. Worumwillens rekonstruiert werden kann. Dabei wird das Vertrautsein anders gewichtet, aber niemals ausgeschlossen. Dies wird in SuZ als Eigentlichkeit bezeichnet. Der hier entfaltete Zusammenhang zwischen Ruinanz und Gegenruinanz wird in SuZ folgendermaßen ausgedrückt: „Das Verstehen kann sich primär 157
Es würde zu weit führen, auf dieses verbreitete Mißverständnis näher einzugehen. An dieser Stelle können wir nur einige der Hauptvertreter dieser Interpretation nennen: Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers; G. Vattimo, Introduzione a Heidegger; A. Luckner, Martin Heideggers „Sein und Zeit". 158 Vgl. ebd. S. 242 f.
253
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt das Dasein kann sich zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen. Oder aber das Verstehen w i r f t sich primär i n das W o r u m w i l l e n , das heißt das Dasein existiert als es selbst" (SuZ, S. 146). Sowohl die Ruinanz als auch die Gegenruinanz sind die Weisen, w i e das faktische Leben rekonstruiert, d.h. w i e es auslegend ausdrücklich gemacht werden kann. Dieses Ausdrücklichmachen darf nicht, w i e w i r wiederholt betont haben, als eine theoretische Erkenntnis betrachtet werden, ferner auch nicht als eine ausschaltende M o d i f i k a t i o n des Verstehens, d.h. als ein zweites reflektierendes
E r l e b n i s . 1 5 9 Die Auslegung als ein ausgebildetes
Verstehen enthält den vortheoretischen Charakter dieses Verstehens. D . h . sie ist ein m i t dem Umwelterlebnis mitgehendes M o m e n t , das eine D o m i nante der Grundstruktur des verstehenden Umwelterlebnisses ausblendet. Daß die Rekonstruktion bzw. Auslegung kein von außen herangetragenes M o m e n t ist, bestätigt Heidegger, indem er die Interpretation als ein Grundwie des Lebens selbst sieht: „das Auslegen selbst ist ein mögliches ausgezeichnetes W i e des Seinscharakters der Faktizität" ( G A 63, S.
15).160
Dieses Wie des faktischen Lebens deutet auf die Weise hin, w i e das Leben „überwunden" werden kann: „ N u r Leben überwindet L e b e n " schreibt Heidegger 1919 an Elisabeth Husserl i n Anlehnung an D i l t h e y . 1 6 1 Die Ausle-
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Hier läßt sich die Interpretation B. Merkers in »Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis' widerlegen. Die hermeneutische Phänomenologie Heideggers ist nicht bloß eine „Übersetzung" der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls. In diesem Sinne ist die Uneigentlichkeit bzw. Ruinanz keine „Übertragung" der natürlichen Einstellung Husserls, wie Merker nachzuweisen glaubt, vgl. z.B. Merker, S. 8. Im Laufe der vorliegenden Untersuchung ist klar geworden, daß das philosophische Verhältnis Husserl-Heidegger komplexer ist als meist angenommen und zugleich beide philosophischen Gestaltungen deutlich zu trennen sind. Die Uneigentlichkeit kann der Sache nach aus zwei Gründen nicht „an die Stelle der natürlichen Einstellung Husserls" gesetzt werden: 1. weil alle Einstellungen der Phänomenologie Husserls reflexiv geprägt sind und 2. weil das volle Verständnis der natürlichen Einstellung aus der transzendentalen Einstellung erfolgt. Die natürliche Einstellung Husserls ist „die Eigenschaft des Lebens, nicht zu wissen, daß es ein weltkonstituierendes Leben ist" (vgl. § 12 f der vorliegenden Untersuchung). Daher kann ein vollständiges Verständnis der natürlichen Einstellung nur im Rahmen der transzendentalen Phänomenologie Husserls möglich sein. Die Uneigentlichkeit ihrerseits ist im Rahmen der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers zu sehen, und dies heißt in keinem reflexiv-transzendentalen Ansatz. In bezug auf die Uneigentlichkeit vgl. ferner v. Herrmann, HPhD, S. 155 ff. und 206 ff. 160 Dieser Punkt wurde bereits von J. Greisch herausgehoben, vgl. Ontologie et temporalité, S. 37; ders., Hermeneutik und Metaphysik, S. 187. 161 Genau heißt es in dem Brief vom 24. April 1919: „Unser Leben muß aus der Ausgebreitetheit in vielheitliche Sachlichkeiten zurück zur ursprünglichen Quellung wachsenden Gestaltens [...] Nur Lehen überwindet Leben - nicht Sachen und Dinge - auch nicht logifizierte „Werte" und „Normen" - wiederum nur Leben, das des
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
gun g als Wie bzw. Selbstüberwindung des Lebens geschieht dann als ein Wachsein des faktischen Lebens für sich selbst, wie Heidegger im SS 1923 sagt. 1 6 2 Die Auslegung als Grundwie bzw. Wachsein gehört dann in die eigenartige Bewegung des Lebens selbst. Im nächsten Paragraphen werden wir dies deutlicher sehen. Zusammenfassend können wir sagen: 1. Das Verstehen erweist sich als die erste Stufe der phänomenologischen Forschung. Diese Stufe zeigt sich als ein Zusammenhang zwischen Vertrautsein mit den umweltlichen Dingen und Sichselbsthaben, welcher als Rhythmus des Lebens charakterisiert werden kann. Da dabei kein Gewicht auf eine der Dominanten gelegt wird, können wir das Verstehen als neutral sehen. 2. Die Auslegung ist eine Ausformung des Verstehens. In der Auslegung wird das Verstehen rekonstruiert. Dabei tritt eine bestimmte Neigung der Dominanten auf, die die Auslegung in eine bestimmte Richtung lenkt. 3. Wenn das Leben sich zunächst aus seiner vertrauten Welt heraus auslegt, ist sein Sichselbsthaben abgedrängt. Hier geschieht ein gewisses (aber nie vollständig) Verlorensein des Lebens oder, wie Heidegger in PIA sagt: ein „Sichselbstausdemweggehen" des Lebens (PIA, S. 243). Es wird dann ruinant bzw. uneigentlich rekonstruiert. 4. Legt sich dagegen das Leben primär im Sichselbsthaben bzw. Worumwillen aus, dann geschieht hier eine Gegenbewegung, die das Sichselbsthaben des Lebens ausdrücklich macht. 1 6 3 Das Leben wird dabei eigentlich ausgelegt. 5. Ruinanz bzw. Uneigentlichkeit oder Gegenruinanz bzw. Eigentlichkeit erweisen sich als verschiedene Möglichkeiten der Ausformung des Verstehens. Dieses selbst darf weder eigentlich noch uneigentlich gesehen werden, sondern ist vielmehr als die fundierende Stufe der Auslegung zu begreifen. Da die reduktive schieht, müssen wir tümliche Weise des Charakteren in ihrer
Rekonstruktion als eine aufdeckende Bewegung geden kinetischen Charakter des Lebens und seine eigenάληθεύειν erläutern. Zunächst wenden wir uns diesen Thematisierung bei Aristoteles zu.
nächstverbundenen „ D u " und das des mitgehenden, ins eigene Leben irgendwie lebendig eingegangen „Andere" steigert oder hemmt, gestaltet oder verunstaltet, wühlt oder stellt still das eigene Leben". In: Aut-Aut 223-224 (1988), S. 8 (k.g.v.m.). 162 Vgl. GA 63, S. 15. 163 Die Rede von ,primär' darf nicht im Sinne von ausschließlich', sondern muß als ,bevorzugt', ,vorrangig', ,vor allem' verstanden werden.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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§ 27. Verstehen und Interpretation bei Aristoteles a) Die durch die Rekonstruktion gewonnene Logik als kategoriale Interpretation Von Anfang an haben wir die Schwierigkeit des philosophischen Durchsichtigmachens des Lebens betont. Einen sachgemäßen Weg finden wir im hermeneutisch-phänomenologischen „Zugang", da dieser nach dem Seinssinn des Lebens fragt. Dadurch wird das Leben in seiner eigenen Seinsweise entdeckt, d.h. es enthüllt sich in einer Eigenart, die sich von den Seinsweisen der vorhandenen Seienden abgrenzt. Durch die Reduktion wird das Leben a-theoretisch-intentional in seiner umweltlichen Bedeutsamkeit aufgeschlossen. Und dies erweist sich, wie wir bereits gesehen haben, als ein Seinsphänomen. In diesem Sinne haben wir in den §§24 und 25 von der ontologischen Blickrichtung gesprochen, die bei der Reduktion durchgeführt wird. Aber die durch die Reduktion gewonnene Ontologie der Faktizität wird zugleich systematisch zugänglich, indem das Leben „mit sich selbst spricht", d.h. in einer Logik. In PIA macht Heidegger dies deutlich: „Die Problematik der Philosophie betrifft das Sein des faktischen Lebens im jeweiligen Wie des Angesprochen- und Ausgelegtseins. Das heißt, die Philosophie ist als Ontologie der Faktizität zugleich kategoriale Interpretation des Ansprechens und Auslegens, das heißt Logik" (PIA, S. 246 f., k.g.v.m.). Die eigenartige Durchsichtigkeit des Lebens bedeutet, daß das Leben zunächst durch Reduktion und Rekonstruktion gewonnen werden muß. D.h., die Durchsichtigkeit des Lebens kann nur zustande kommen, wenn das Leben onto-logisch gesehen w i r d . 1 6 4 Die vortheoretische Ursprungswissenschaft als phänomenologische Hermeneutik der Faktizität wird dann systematisch als Ontologie und Logik charakterisiert, also als Onto-logie. Dies erläutert Heidegger in PIA: „Ontologie und Logik sind in die Ursprungseinheit der Faktizitätsproblematik zurückzunehmen und zu verstehen als die Ausladungen der prinzipiellen Forschung, die sich bezeichnen läßt als die phänomenologische Hermeneutik der Faktizität" (ebd., S. 247, k.g.v.m.). Aber wie soll an dieser Stelle die Rede von Logik verstanden werden? Einige Autoren versuchen, an die von Lask entfaltete Logik der Philosophie anzuknüpfen. 165 Leider sehen sie nicht, daß diese nur eine leere Logik dar-
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Im nächsten Paragraphen werden wir sehen, daß die Onto-logie von einer geschichtlichen Kritik begleitet wird. 165 Vgl. Th. Kisiel , The Genesis of Heidegger's Being and Time, S. 38 ff.; ders., Why students of Heidegger will have to read Emil Lask, in: Man and World 28 (1995), S. 197-240; G. Imdahl, Das Leben Verstehen, S. 69 ff.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
stellt, wie Heidegger selbst im SS 1922 feststellt: „Die laskische Logik steht in der Kalamität, Logik post festum zu sein, nur hat er [Lask, Α. X.] das festum noch nicht; diese Logik ist leer [...]" (SS-1922, S. 71). Im selben Vorlesungsmanuskript gibt Heidegger einen Hinweis darauf, wie die Logik zu begreifen ist: „Die Logik der Philosophie ist aber nicht etwas neben der philosophischen Forschung, eine Disziplin, wo man sich ausruht, sondern die Weise der Besinnung, die mit jedem forschenden Schritt mitgeht' (ebd., k.g.v.m.). Das Mitgehen der Logik deutet auf den bereits erläuterten Charakter der Zugangsmethode Heideggers hin. Daher muß die durch die Rekonstruktion gewonnene Logik als eine vortheoretische mitgehende gesehen werden. Dies müssen wir erläutern. Auf die Frage, wie die Rekonstruktion und die durch die Rekonstruktion gewonnene Logik verstanden werden müssen, antwortet Heidegger: „Das Wie ihrer Forschung [des faktischen Lebens hinsichtlich seiner Faktizität] ist die Interpretation dieses Seinssinnes auf seine kategorialen Grundstrukturen: das heißt die Weisen, in denen faktisches Leben sich selbst zeitigt und zeitigend mit sich selbst spricht (κατηγορεΐν)" (PIA, S. 246). Im WS 1921/22 wird deutlich, in welchem Sinne das Kategoriale zu verstehen ist: Die Kategorien sind nichts Erfundenes oder eine Gesellschaft von logischen Schemata für sich, „Gitterwerke", sondern sie sind in ursprünglicher Weise im Leben selbst am Leben\ am Leben, daran Leben zu „bilden". Sie haben ihre eigene Zugangsweise, die aber keine solche ist, die dem Leben selbst fremd wäre, auf dieses von außen her losstieße, sondern die gerade die ausgezeichnete ist, in der das Leben zu sich selbst kommt (GA 61, S. 88).
Aber was besagt es, daß die Kategorien die „Funktion" haben, am Leben Leben zu „bilden"? Einige Seiten vorher hat Heidegger dies folgendermaßen geklärt: „.Kategorien, so heißt das: etwas was seinem Sinn nach ein Phänomen in einer Sinnrichtung in bestimmter Weise, prinzipiell, interpretiert, das Phänomen als Interpretai zum Verstehen bringt" (ebd., S. 86). Daß das Leben als Phänomen am Leben „gebildet" wird, weist auf die bereits im vorangegangenen Paragraphen entfaltete Ausbildung bzw. Ausformung des Verstehens hin. Dort haben wir gesehen, daß das ursprüngliche Auffassen des Lebens als Verstehen geschieht. Diese Auffassung formt sich im Ausdrücklichmachen aus, so daß wir sagen können, daß es konstruiert bzw. „gebildet" wird. Da sich dabei das Leben selbst auslegt, haben wir von einer Rekonstruktion gesprochen. Das rekonstruktive Ausdrücklichmachen des auffassenden Verstehens geschieht, sagten wir, als Auslegung bzw. Interpretation. Aufgrund des insoweit Enfalteten müssen wir an dieser Stelle hinzufügen, daß die Auslegung nicht eine bloße Ausbildung ist, sondern vielmehr kategorial durchgeführt wird. Daß das philosophische „Bilden" bzw. die Rekonstruktion des Lebens kategorial geschieht, und daß dies in der Aus-
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legung zustande kommt, macht Heidegger klar, indem er die Kategorie als interpretierend sieht: „Kategorie ist interpretierend [...]" (ebd.). Daß das Phänomen Leben als Interprétât und dementsprechend die Kategorien als interpretierend zu verstehen sind, deutet auf den eigentümlichen λόγος hin, in dem das Leben zugänglich wird. Im SS 1922 wird dies von Heidegger erläutert: „Gegenstände vom Sinncharakter verlangen eine eigentümliche Zugangsweise, die der Auslegung, eine auslegungsmäßige Aneignung und Verwahrung" (SS-1922, S. 9, k.g.v.m.). Somit sehen wir, daß die Rede von Logik in bezug auf die Hermeneutik folgendes besagt: 1. Die Logik ist keine leere Logik, die im „zweiten Stockwerk" (ebd., S. 71) gebaut wird. 2. Sie ist vielmehr die Weise, wie der durch die Reduktion gewonnene ontologische Blick auf die kategorialen Grundstrukturen aufgefaßt wird. 3. Dies besagt nichts anderes als die Weise, wie das Leben „sich selbst zeitigt und zeitigend mit sich selbst spricht" (PIA, S. 246). 4. Das κατηγορεΐν ist aber keine an die Ontologie angeklebte Methode, sondern im Leben selbst am Leben „gebildet". 5. Das „Bilden" bedeutet die Weise, in der „das Leben zu sich selbst kommt" (GA 61, S. 88). 6. Dies, haben wir gesehen, geschieht als Auslegung. Die Kategorien sind daher als interpretierende Kategorien zu betrachten. An diesem Punkt kommen wir auf die Frage zurück: Wie ist die Auslegung bzw. Interpretation möglich? Was heißt konkret: Das Verstehen bildet sich in der Auslegung aus? Im vorangegangenen Paragraphen haben wir einen ersten Blick auf die Auslegung geworfen, die hinsichtlich der Methode als Rekonstruktion charakterisiert wurde. Zunächst gilt es zu zeigen, daß diese Rekonstruktion nicht nur den vortheoretischen Charakter trägt, sondern wie sie die Logik ermöglicht. M.a.W., wir müssen genauer untersuchen, in welcher Weise die Auslegung nicht erkenntnistheoretisch geleitet ist und wie sie als ein philosophisches kategoriales Ausdrücklichmachen gesehen werden muß. Dazu wenden wir uns Aristoteles zu, da er für die hermeneutische Phänomenologie Grundanstöße in bezug auf diese Problematik gegeben hat.
b) Aristoteles und der Zugang zum Leben Bereits herausragende Forscher wie Gadamer und Riedel haben auf die Bedeutung von Aristoteles für die hermeneutische Phänomenologie Heideggers hingewiesen. 166 Heidegger selbst wiederholt an verschiedenen Stellen, 166 Vgl. H. G. Gadamer , Wahrheit und Methode, S. 295 ff.; ders., Die Griechen, in: Gesammelte Werke 3, S. 286; ders., Praktisches Wissen, in: Gesammelte Werke 5, S. 239 ff. M. Riedel, Heidegger und der hermeneutische Weg zur praktischen Philosophie, in: Für eine zweite Philosophie, S. 179 ff. Auch G. Figal hat in ver1
Xolocotzi
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
wie bestimmend Aristoteles für seinen philosophischen Weg war. 1 6 7 Es würde uns zu weit führen, einen weitergehenden Blick auf die Anstöße, die Heidegger von Aristoteles bekommen hat, zu werfen. 1 6 8 Wir können hier nur einige Punkte bezüglich der methodischen Momente des Zugangs zum Leben herausheben. Im Laufe der Untersuchung haben wir mehrmals betont, daß die Methode kein bloß technisches Mittel ist, das rücksichtslos auf jegliche Gegenstände angewendet werden kann. Vielmehr wird die Methode durch den Gegenstand der Forschung bestimmt. In diesem Sinne muß sich die hier entfaltete Zugangsmethode dem aufzudeckenden Phänomen Leben fügen. Das Leben wird dabei in einer bestimmten Weise zugänglich. Daß das Leben zugänglich wird, heißt, daß es ausdrücklich entdeckt wird. Das Entdecktsein des Lebens weist auf eine bestimmte Weise hin, in der es wahr ist. Die bestimmte Weise, in der das Leben zugänglich, also entdeckt wird, können wir anhand von Aristoteles als eine bestimmte Weise des άληθεύειν, des Wahrseins, charakterisieren. Aristoteles sah mit Recht, daß es verschiedene Weisen des άληθεύειν, d.h. verschiedene Weisen, in denen Seiendes enthüllt wird, gibt. Das Durchsichtigmachen des Lebens, also seine Enthüllung, geschieht in einer eigenartigen Weise des άληθεύειν. Da Aristoteles vor Augen behält, daß die Weisen des άληθεύειν vom Gegenstand abhängen, ist die eigenartige Weise des άληθεύειν des Lebens von dessen Sein her ermöglicht. Das Leben bzw. die ζωή aber hat bei Aristoteles sein Sein in der Bewegung bzw. κίνησις. Daher hängt das bestimmte Durchsichtigmachen des Lebens mit dessen kinetischem Sein zusammen. Die eigenartige Weise des άληθεύειν schiedenen Schriften die Notwendigkeit der Mitberücksichtigung von Heideggers Auseinandersetzung mit Aristoteles herausgehoben, vgl. z.B. Der Sinn des Verstehens, bes. S. 35 ff.; ders., Die Gegenwart der Geschichtlichkeit, in: Philosophische Rundschau 39 (1992), S. 293-303, bes. S. 296 ff. 167 Vgl. Mein bisheriger Weg (1937/38), in: GA 66, S. 412; Die Grundfrage nach dem Sein selbst (1946), in: Heidegger Studies 2 (1986), S. 1-2 (wiederabgedruckt in GA 16, S. 423-425); Antrittsrede vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1957), in: Wissenschaft und Weltbild 12 (1959), S. 611 (wiederabgedruckt in GA 1, S. 55-57); Ein Vorwort (Brief an Richardson) (1962), in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964-65), S. 397 f.; Mein Weg in die Phänomenologie (1969), in: Zur Sache des Denkens, S. 86; Über das Zeitverständnis in der Phänomenologie und im Denken der Seinsfrage (1969), in: Phänomenologie - lebendig oder tot? S. 47. 168 Die Auseinandersetzung Heideggers mit Aristoteles wird in herausragender Weise von Franco Volpi ausgearbeitet, besonders in: Heideggers Verhältnis zu Brentanos Aristoteles-Interpretation, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 32 (1978), S. 254-265; ders., Heidegger e Aristotele, Padova: Daphne, 1984; ders., Dasein comme praxis. L'assimilation et la radicalisation heideggérienne de la philosophie pratique d'Aristote, in: F. Volpi (Hrsg.), Heidegger et l'idée de la phénoménologie, La Haya, 1988, S. 1 - 41.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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des Lebens und dessen Ermöglichung durch sein Sein bilden m.E. die Grundanstöße für das hermeneutische Zugehen auf das Leben bei Heidegger, wie wir weiter unten sehen werden. An dieser Stelle müssen wir bemerken, daß die grundlegenden Phänomene, die Aristoteles entfaltet hat, von Heidegger in radikaler Weise ausgelegt worden sind: in einer α-theoretischen Weise. Obwohl Aristoteles mit der φρόνησις als eigenartige Weise des άληθεύειν des Lebens, das durch κίνησις bestimmt wird, etwas Entscheidendes gesehen hat, hat er das Leben in einem praktischen Rahmen angesetzt. Da das Praktische aber nur im Gegensatz zum Theoretischen verstanden werden kann, hat Aristoteles das sowohl für das Praktische als auch für das Theoretische vorausgesetzte A-theoretische nicht sehen können. Daher läßt sich sagen, daß Aristoteles in einem im weiten Sinne verstandenen theoretischen Ansatz befangen blieb. Erst Heidegger ist es gelungen, einen ursprünglichen a-theoretischen „Zugang" zum faktischen Leben bzw. Dasein zu entfalten. Grundanstöße hierzu hat er allerdings von Aristoteles übernommen. Aber was genau konnte Heidegger in Aristoteles bezüglich des Zugangs zum Leben entdecken? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir den Ansatz von Aristoteles anhand der ,Nikomachischen Ethik' ausführlicher entfalten. 169
c) Λόγον εχον als eigentümliche Weise der κίνησις in menschlicher ζωή Weiter oben haben wir gesagt, daß die Durchsichtigkeit, in der das Leben zugänglich wird, ein Modus der Entdeckheit, d.h. ein Modus der Wahrheit ist. Dadurch gewinnen wir ein „Wissen" vom Leben. Daß wir einen thematischen Zugang zum Leben gewinnen können, bedeutet, daß wir uns in einem bestimmten Modus des άληθεύειν bewegen. Aber wodurch wird dieser Modus des άληθεύειν ermöglicht? Wir haben dies bereits vorweggenommen: durch das Sein des Lebens bzw. der ζωή als κίνησις. Das bewegende Streben nach dem Durchsichtigmachen bzw. Entdecken wird von Aristoteles dem Wesen des Lebens des Menschen zugeordnet: πάντες άνθρωποι του είδέναι ορέγονται φ ύ σ ε ι . 1 7 0 Das είδέναι besagt ein bestimmtes „ Wissendas nicht von Anfang an theoretisch auszulegen ist, 169
Vgl. ferner F. Volpi, „Sein und Zeit". Homologien zur Nikomachischen Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 96 (1989), S. 225-240. 170 Aristoteles, Metaphysik I 1, 980a 21. Im SS 1922 übersetzt Heidegger folgendermaßen: „Das Leben im Sehen, das Aufgehen im Sehen macht das Wiesein des Menschen mit aus", SS-22, S. 3. Im SS 1925 gibt Heidegger eine abgewandelte Übersetzung wieder: „ I m Sein des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens", GA 20, S. 380. 1*
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
sondern es besteht die Möglichkeit, es in vortheoretischer Weise zu vollziehen. Daher sprechen wir, Heideggers Interpretation zufolge, von einem mehr Sehen bzw. einem mehr an Einsicht: μάλιστα ε ί δ έ ν α ι . 1 7 1 Aber was wird durch mehr Einsicht erzielt bzw. gewonnen? Das Mehr an Einsicht bedeutet die Suche nach den άρχαΐς, nach den Prinzipien. Die Möglichkeit des μάλιστα είδέναι ist keine von außen herangetragene Möglichkeit, sondern bereits in der Weise, wie Aristoteles den Menschen sieht, angesetzt. Das Leben des Menschen ist nicht jegliches Leben, sondern für Aristoteles ist es als ζωή zu verstehen. 172 Daher ist der Mensch ein ζωον, d.h. ein ζωή-Habender. Daß die ζωή des Menschen die Suche bzw. das Streben nach den άρχαΐς wesentlich mit sich trägt, deutet auf das bereits bestimmte Sein des Lebens hin: auf die κίνησις. Κίνησις bildet in diesem Sinne das Sein des Menschen in bestimmter Weise. Aber wie wird dies nachgewiesen? Wie kann κίνησις als das Sein des Lebens begriffen werden? Die Bewegung der ζωή wird durch die berühmte Definition des Menschen angedeutet: ζωον λόγον έ χ ο ν 1 7 3 oder, wie es im ersten Buch der ,Nikomachischen Ethik 4 heißt: πρακτική τις του λόγον έχοντος. 1 7 4 Die zum Wesen des Menschen gehörende μάλιστα είδέναι, d.h. das Mehr an Einsicht, kommt durch den λόγος zustande. Durch diesen geschieht eine bestimmte Beweglichkeit im menschlichen Leben: das Mehr an Einsicht. Daher schreibt Heidegger im SS 1922, daß „der Grieche [...] den Logos als eine bestimmte Weise der kinesis [sieht]" (SS-1922, S. 34). So wie das είδέναι zunächst nicht in erkenntnistheoretischer Weise zu verstehen ist, so auch der λόγος. Λ όγος ist in diesem Sinne nicht gleich Theorie oder „Bestimmen" zu setzen. 175 Vielmehr muß er in seinem hermeneutischen Charakter verstanden werden: Das άποφαίνεσθαι des λέγειν der ζωή erweist sich zunächst als έρμηνεύειν, 1 7 6 wie Heidegger im § 7 von SuZ ausdrükken wird: „Der λόγος der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter 171
Für die Ausarbeitung des vorliegenden Paragraphen stütze ich mich auf die Marburger Vorlesung Heideggers vom WS 1924/25 ,Piaton: Sophistes' (GA 19), bes. §§ 4-9, § 17. Dies scheint durchaus legitim, insofern die Auseinandersetzung mit Aristoteles, die Heidegger seit den Freiburger Vorlesungen geführt hat, in den Marburger Vorlesungen in ausführlicher Weise entfaltet wird. Die in Anlehnung an Aristoteles gewonnenen hermeneutischen Grundeinsichten sind jedoch bereits in den fFV anzusetzen. Vgl. ferner W. Β rocker, Aristoteles, bes. §§ 1-3. 172 In bezug auf ζωή schreibt Heidegger in PIA: „Dazu ist grundsätzlich im Auge zu behalten, daß der Terminus ζωή, vita, ein Grundphänomen bedeutet, in dem die griechische, die alttestamentliche, die neutestamentlich-christliche und die griechisch-christliche Interpretation menschlichen Daseins zentrierten", S. 240. 173 Aristoteles, De anima Β 2, 432 a 30. 174 Aristoteles, Ethica Nicomachea (Eth. Nie.) I, 6; 1098 a 3. 175 Vgl. die weitergehende Analyse des λόγος in der Marburger Vorlesung vom WS 1925/26 ,Logik. Die Frage nach der Wahrheit' (GA 21), bes. §§ 12 und 13.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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des έρμηνεύειν" (SuZ, S. 37). Die Hermeneutik als das „Geschäft der Auslegung" ist die sachgemäße Weise, um die ζωή zugänglich zu machen. Damit aber kommen wir hier auf die leitende Frage zurück, wie der λόγος der ζωή durch das Auslegen möglich ist. Dabei können wir den viel zitierten Einwand wiederholen, wie dieser hermeneutische λόγος trotz seines bewegenden Charakters des μάλιστα είδέναι vortheoretisch betrachtet werden kann. M.a.W., wenn wir uns an die Einwände Natorps erinnern, kann die Frage gestellt werden, wie ein nicht objektivierender bzw. theoretischer λόγος zustande kommen kann. Diesbezüglich relevante Grundeinsichten, um in die Möglichkeit des vortheoretischen λόγος einzudringen, finden sich bei Aristoteles.
d) Grundweisen des άληθεύειν Wenn Aristoteles die Bewegung der ζωή beim Haben des λόγος sieht, besagt dies keine „allgemeine Formel". Da das Leben sich in einer Mannigfaltigkeit von Verhaltungen vollzieht, spricht Aristoteles von zwei Grundarten, in denen die Mannigfaltigkeit der menschlichen Verhaltungen im λόγος gehabt werden: κ α ι ύποκείσθω δύο τ ά λόγον έχοντα (Eth. Nie. 1139a 6). Dies heißt, daß es zwei Grundarten des λόγον έχον gibt: λεγέσθω δε τούτων τό μέν έπιστημονικόν τό δέ λογιστικόν (ebd., 1139a 11-12). Ersteres zeigt sich als die Bewegung, die feststellt: als Ausbildung des Wissens. 177 Letzteres dagegen als eine Bewegung, die erwägt: als Ausbildung des Überlegens. Der feststellende Teil bezieht sich auf Seiendes, dessen άρχαί nicht anders sein können: εν μέν φ θεωποΰμεν τ ά τοιαύτα των όντων δσων αί άρχαί μή ένδέχονται άλλως έχειν. Der erwägende Teil auf Seiendes, dessen άρχαί auch anders sein können: εν δ έ φ τ ά ενδεχόμενα (ebd., 1139a 6-8). Daher sind die Weisen des άληθεύειν verschieden: zum einen werden die άρχαί entdeckt, die nicht anders sein können: μή ένδέχονται άλλως 176
Vgl. dazu GA 29/30 §§ 71-73. Die Eigentümlichkeit dieser Problematik ist bereits in ausgezeichneten Ausarbeitungen entfaltet: F. Volpi, La question du λόγος dans L'articulation de la facticité chez le jeune Heidegger, lecteur d'Aristote, in: J. F. Courtine (Hrsg.), Heidegger 1919-1929. De l'herméneutique de la facticité â la métaphysique du Dasein, S. 33-65; ders., Σημαίνειν, λέγειν, άποφαίνεσθαι als έρμηνεύειν. Die Ontologisierung der Sprache beim frühen Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles, in: E. Rudolph und H. Wismann (Hrsg.), Sagen, was die Zeit ist. Analysen zur Zeitlichkeit der Sprache, S. 21^-2; A. Vigo, Wahrheit, Logos und Praxis. Die Transformation der aristotelischen Wahrheitskonzeption durch Heidegger, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1994, S. 73-95; E. Berti, Heidegger ed il concetto aristotelico di verità, in: J. F. Courtine und R. Brague (Hrsg.), Herméneutique et Ontologie, S. 97-120. 177 Vgl. GA 19, S. 28. Ferner Bröcker, S. 33.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
εχειν, zum anderen, die, die anders sein können: ένδεχόμενον άλλως εχειν (ebd., 1140a 1). Als zum feststellenden Teil gehörende Weisen des άληθεύειν sieht Aristoteles die επιστήμη und die σοφία; als zum erwägenden Teil, die τέχνη und die φρόνησις. Der νους seinerseits erweist sich als das Vermögen der Prinzipien. Daher sagt Heidegger im WS 1924/ 25, daß „alle vier Weisen des άληθεύειν im νοεΐν da sind; sie sind eine bestimmte Vollzugsart des ν ο ε ΐ ν " (GA 19, S. 28). In PIA zitiert Heidegger diejenige Stelle der ,Nikomachischen Ethik 4 , in der dies angesprochen wird, und bietet selbst eine einleuchtende Übersetzung: Εστω δή οΐς άληθεύει ή ψυχή τω κ α τ α φ ά ν α ι ή άποφάναι, πέντε τον άριθμ ό ν ταΰτα δ 5 εστί τέχνη, επιστήμη, φρόνησις, σοφία, νους" ύπολήψει γάρ κ α ι δόξη ενδέχεται διαψεύδεσθαι (1139b 15-18). „Es seien also der Weisen, in denen die Seele Seiendes als unverhülltes in Verwahrung bringt und nimmt und das in der Vollzugsart des zu- und absprechenden Explizierens - , fünf angesetzt: verrichtend-herstellendes Verfahren, hinsehend-besprechend-ausweisendes Bestimmen, fürsorgliches Sichumsehen (Umsicht), eigentlich-sehendes Verstehen, reines Vernehmen" (PIA, S. 255).
Da der Leitfaden unserer Untersuchung der Zugang zum Leben ist, können wir an dieser Stelle die Eigentümlichkeit der Übersetzung Heideggers nicht ausführlich kommentieren. Es genügt hier nur zu sehen, wie erhellend diese Übersetzung ist. Statt die versteinerten Termini ,Kunst 4 , ,Wissenschaft 4, ,Klugheit 4 , ,Weisheit4 und ,Vernunft 4 zu gebrauchen, dringt Heidegger tiefer ein in ein Verständnis dessen, was diese Termini für die Griechen ausgesagt haben. Die Weisen des άληθεύειν sind daher keine „Lehre 44 , die bloß wiederholt werden soll, sondern sie gewähren Aneignungsmöglichkeiten des philosophischen Problems in der Gegenwart. In diesem Sinne können die Weisen des άληθεύειν in einen Zusammenhang mit dem Phänomen Leben gebracht werden. Daher lassen sich folgende Fragen stellen: welche Weise des άληθεύειν gewährt einen sachgemäßen Zugang zum menschlichen Leben, zur ζωή? Gehört das Leben in die άρχαί, die μή ένδέχονται άλλως εχειν, bzw. was nicht anders sein kann, oder in die ένδεχόμενα, bzw. was auch anders sein kann? Welche von diesen Bewegungen trifft die άρχή des Lebens? M.a.W., wie kann ein Mehr an Einsicht in das Leben gewonnen werden? Das Bestimmende des έπιστημονικόν ist, daß seine άρχαί umwandelbar sein müssen. Der Gegenstand in diesem Modus des λόγον εχον ist das αιδιον, das Immerseiende. 178 Wissen im engeren Sinne besagt ein Wissen von dem, was nicht anders sein kann, also vom Immerseienden (Eth. Nie. 1139b 20). Daher richtet sich hier das Mehr an Einsicht auf die άρχαί 178
Vgl. Eth. Nie. 1139b 23.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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dessen, was nicht anders sein kann, also auf das Immerseiende. Επιστήμη bildet die erste Weise des Wissens, indem sie feststellt, was ist. Sie enthält aber die Möglichkeit, lehrbar (διδακτή) und lernbar (μαθητόν) zu sein (ebd., 1139 b 25). Und gerade diese Möglichkeiten machen sie zu einer mitteilenden Verhaltung, zu einer Lehre (διδασκαλία), welche ein eigentliches Aufdecken der αρχών nicht benötigt. Sie geht von vorher Erkanntem, προγινωσκομένων, aus: Sie setzt eine Grundlage voraus. In diesem Sinne ist die επιστήμη nicht die βέλτιστη έξις (ebd., 1139 a 15), die höchste Möglichkeit, innerhalb des έπιστημονικόν, da sie die αρχή eigentlich nicht erschließen kann. Die aufdeckende Bewegung der αρχών bleibt bei der επιστήμη begrenzt. Daher muß es eine andere Bewegung geben, die die άρχαί im αιδιον erschließen kann. Und dies ist die σοφία. Σοφία erweist sich als die βέλτιστη εξις im έπιστημονικόν. Anders gewendet heißt dies, daß σοφία nicht nur eine Bewegung ist, die sich auf das, was nicht anders sein kann, richtet, sondern daß dabei die άρχαί erschlossen werden. Daher wird der σοφός derjenige, dem die höchste wissenschaftliche Möglichkeit offen steht. Wenn wir uns das, was in den vorangegangenen Paragraphen ausgearbeitet wurde, in Erinnerung bringen, können wir auf die Frage nach der Art der άρχή des Lebens folgendes antworten: Das Leben als historisches Leben, also zeitlich bestimmt, kann nicht ein Seiendes innerhalb des Immerseienden sein. Das Immerseiende „leidet nichts von der Zeit, da es ja nicht in der Zeit ist": τ ά αίεί οντα [...] ουδέ πάσχει ουδέν υπό του χρόνου ώς ουκ δντα έν χρόνω schreibt Aristoteles in der ,Physik'. 1 7 9 Das Leben wird seinerseits in bestimmter Weise „von der Zeit gelitten", indem es sich als historisches Leben enthüllt. In diesem Sinne ist es nicht ein Seiendes, das nicht anders sein kann. Die άρχή des Lebens kann nicht unwandelbar bzw. unveränderlich sein. Daher trifft weder die έπιστήμη noch die σοφία das Eigentümliche des Lebens selbst.
e) Exkurs: Aristoteles und Dilthey An diesem Punkt taucht die Schwierigkeit auf, ob der Zugang zum Leben durch eine Weise des άληθεύειν, die zum λογιστικόν gehört, als Wissen bzw. als Mehr an Einsicht gesehen werden kann. Aristoteles und die ganze Überlieferung haben dies verneint. Eigentliches Wissen gibt es nur innerhalb einer Grundart des λόγον έχον: innerhalb des έπιστημονικόν. Wissen als solches ist Wissen von Seienden, deren άρχαί nicht anders sein können: πάντες γάρ ύπολαμβάνομεν, δ έπιστάμεθα, μηδ' ένδέχε179
Aristoteles , Physik I V 12, 221b 6-7. Zekl übersetzt πάσχει als ,widerfährt', statt ,leidet', wie es Heidegger im WS 1924/25 macht, GA 19 S. 34.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
σθαι άλλως εχειν (Eth. Nie. 1139b 19-21). Wenn aber die άρχή eines Seienden anders sein kann, wird dies eigentlich nicht als Wissen betrachtet. Gadamer und Riedel haben bereits auf den Zusammenhang zwischen dieser seit der Griechischen Philosophie vorherrschenden Einsicht und dem Zweifel daran aufmerksam gemacht, der durch die Grundlegung der Geisteswissenschaften bei Dilthey auftaucht. 180 Aus diesem Grund glauben wir, daß Heideggers Interesse an Dilthey in keiner Weise bloß von „weltanschaulich lebensphilosophischen" Gründen motiviert wurde, sondern von der Suche nach einem kategorial-wissenschaftlich atheoretischen Weg zum Seinssinn des Lebens, also zur ontologischen Problematik des Lebens. Die Trennung zwischen dem έπιστημονικόν und dem λογιστικόν, von Aristoteles eingeführt, wurde später in der abendländischen Philosophie als Theorie und Praxis bestimmt. Die Philosophie als die höchste Möglichkeit des έπιστημονικόν wurde dann zur höchsten Möglichkeit des θεωρεΐν, zur höchsten theoretischen Erkenntnis. Dies wurde im Laufe der Tradition communis opinio . Im § 7 haben wir bereits darauf aufmerksam gemacht, daß diese Selbstverständlichkeit von Dilthey in Zweifel gezogen wurde. Durch die Grundlegung der Geisteswissenschaften hat Dilthey gerade eine andere Möglichkeit des Wissens, das nicht abstrakt theoretisch bestimmt wird, gesucht. An jener Stelle haben wir zugleich gezeigt, in welchem Sinne dieses Unternehmen gescheitert ist. Erst Heidegger gelang es, eine radikale Entfaltung eines anderen „Erkennens" durchzuführen. Dies ist jedoch nicht schlechthin als Gegensatz zum Theoretischen zu verstehen, also als das in der Tradition verstandene Praktische. Vielmehr handelt es sich bei Heidegger um das sowohl für die Theorie als auch für die Praxis vorausgesetzte A-theoretische. Wenn wir Theorie als έπιστημονικόν und Praxis im weiten Sinne als λογιστικόν verstehen, müssen wir im Auge behalten, daß beides Grundarten des λόγον έχον sind, also Grundarten, in denen sich die Bewegung des Lebens als μάλιστα είδέναι zeigt. Dies setzt aber die ursprünglichste verstehende Haltung, in der das Leben von Anfang an angesetzt ist, voraus. Das Mehr an Einsicht ist dann nur eine gewisse „Modifikation" des ursprünglichen Sehens. Dieses ursprüngliche Sehen haben wir bereits als die verstehende Anschauung erarbeitet. Von daher läßt sich die radikale Ausarbeitung Heideggers von denen des Aristoteles und Diltheys abgrenzen. Sowohl für Aristoteles als auch für Dilthey war diese ursprüngliche verstehende Anschauung nicht zugänglich, da sie von Anfang an auf dem bereits theoretisch geprägten Dilemma Theorie-Praxis standen. Wenn dem so ist, was hat Heidegger dann bei Aristoteles und Dilthey an Anstößen gefunden? Die Frage Diltheys, die Heidegger ernst nimmt, näm180
Gadamer, WuM, S. 295 ff.; Riedel, Für eine zweite Philosophie, S. 69.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
265
lieh das Zweifeln an der philosophischen Erkenntnis als Theorie bezüglich des Allgemeinen, hat seinen Ursprung in der von Aristoteles eingeführten Dichotomie. Da das Leben nicht als ein Allgemeines (Dilthey) bzw. Immerseiendes (Aristoteles) verstanden werden kann, sieht Heidegger die Bedeutung des Einzelnen (Dilthey) bzw. der Grundart des λογιστικόν (Aristoteles). Das Leben ist etwas, das auch anders sein kann, also muß seine Weise des Entdeckendseins, des άληθεύειν, innerhalb des λογιστικόν zu finden sein.
f) Φρόνησις als sachgemäße Weise des άληθεύειν der ζωή bzw. des faktischen Lebens Nach Aristoteles finden wir zwei Weisen des άληθεύειν im λογιστικόν: τέχνη und φρόνησις. Parallel zum feststellenden Teil finden wir beim erwägenden Teil eine Möglichkeit, die einen Mangel hat, und eine andere, die die höchste Möglichkeit ist. Τέχνη deutet auf die Möglichkeit der ποίησις, des Herstellens hin, aber da sie nur im Werden zustande kommen kann, ist die τέχνη für das ποιητόν, das έργον, das sie herstellt, nie vorhanden. Das ποιητόν bzw. έργον als fertiggestelltes Werk ist nicht mehr ein Gegenstand der τέχνη, sondern er liegt neben der τέχνη, neben der Hantierung. Die τέχνη hat ihr Werk außer sich, es ist außer ihrer Macht, wie Bröcker sagt. 181 In diesem Sinne kann die τέχνη ihre άρχή nicht erschließen. Die φρόνησις ihrerseits geschieht als πραξις im engeren Sinne. Dabei wird das πρακτόν das Leben selbst, die ζωή. Die φρόνησις erweist sich als die Weise des άληθεύειν, die das Leben durchsichtig machen kann. Da sie innerhalb des λογιστικόν zu finden ist, besagt dies, daß sie ein Mehr an Einsicht bedeutet, das nicht als θεωρειν zu sehen ist. In ihr geschieht keine Ausbildung des Wissens des Immerseienden, sondern eine ganz andersartige Weise des Wissens. 182 Durch die φρόνησις wird gezeigt, wie die ζωή zu eigen ist. Die Übersetzung Heideggers von φρόνησις sagt, wie dieses andere Wissen zu sehen ist: fürsorgliches Sichumsehen (Umsicht). Die Silbe ,um' spricht sich auch aus im Wort ,Umwelt 4 , das wir im ,Umwelterlebnis' kennengelernt haben. Das Umwelterlebnis ist die Weise, wie wir zunächst und zumeist, um die Sprache von SuZ zu gebrauchen, leben. In unserer umweltlichen Alltäglichkeit werden die Umwelterlebnisse durch das Verstehen aufgefaßt. Daher sieht Heidegger das Verstehen als die erste Stufe der phäno181
Bröcker, S. 34. Vgl. Eth. Nie. V I 5, 1140a 24 ff. 8-9, 1141b 33 ff.; Ethica Evdemia V I I I 1, 1246 b 36. 182
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
menologischen Methode. Das unthematische Sehen, das im Umwelterlebnis geschieht, haben wir als die verstehende Anschauung charakterisiert. Da das, was im Umwelterlebnis gesehen bzw. angeschaut wird, Umweltliches ist, wird dieses Sehen als Sichumsehen bzw. als Umsicht charakterisiert. Verstehen deutet daher auf kein gerichtetes objektivierendes Sehen, sondern auf ein Umsehen hin, in dem die Dinge zunächst als Umweltliches bzw. Bedeutsames angetroffen werden. Wie aber kann hier, sofern doch dieses Sehen unthematisch geschieht, ein angemessener philosophischer Zugang geschaffen werden? Die Aristotelischen Weisen des άληθεύειν, so haben wir gesehen, stellen die Möglichkeit des Zugehens, also des Ausdrücklichmachens, dar. Da dem Leben seine umweltlich-umsichtigen Grundcharaktere erhalten werden müssen, damit es nicht zu einer bloßen Objektivierung wird, gewinnt die vollzugshafte Thematisierung des Lebens in der φρόνησις ihre Grundanstöße. Das Mehr an Einsicht, das in der φρόνησις geschieht, ist keine „objektive" Erkenntnis, sondern eine Bewegung, die im Leben selbst liegt und die Weise zeigt, wie es sich zu eigen ist. Der φρόνιμος ist nicht der Mensch, der objektiv oder sachlich betrachten kann, sondern der, der sachgemäß überlegen kann: καλώς βουλεύσασθαι (Eth. Nie. 1140 a 26). Und zwar in bezug auf sein eigenes Leben. Der Gegenstand der φρόνησις ist der βουλετικός selbst. Daher wird im βουλεύεσθαι des φρόνιμος die ζωή selbst gesehen bzw. aufgeschlossen. Das τέλος der φρόνησις ist dann kein von außen herangetragenes Element, sondern ή εύπραξία, das angemessene Handeln (ebd., 1140b 6 ff.). Daher schreibt Heidegger im WS 24/25: „Bei der φρόνησις ist vielmehr der Gegenstand des Überlegens die ζωη selbst; das τέλος ist vom selben Seinscharakter wie die φρόνησις", und weiter unten: „Bei der φρόνησις ist das πρακτόν vom selben Seinscharakter wie das άληθεύειν selbst" (GA 19, S. 49). An diesem Punkt können wir an das im vorangegangenen Paragraphen Entfaltete anknüpfen. Wenn die φρόνησις eine eigentümliche Weise des Entdeckens ist, welches denselben Charakter wie der zu entdeckende Gegenstand hat, d.h. denselben Charakter des Lebens, dann läßt sich hier der Anstoß für die hermeneutische Phänomenologie Heideggers deutlicher sehen. M.a.W., wenn bei der Aristotelischen φρόνησις ein Entdecken des Lebens möglich ist, das zum Leben selbst gehört, dann wird in dieser Interpretationslinie (allerdings in radikaler Weise begriffen, d.h. nicht reflexivtheoretisch) die thematisierende Auslegung der hermeneutischen Phänomenologie gesehen. Die Auslegung zeigt sich als die zum selben Charakter des Lebens gehörende Ausbildung des Verstehens. So wie es sich in der φρόνησις zeigt, ist die Auslegung vom selben Seinscharakter wie das Verstehen. Sein τέλος ist nichts anderes, als das Leben selbst ausdrücklich zu
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
267
machen. Daher schreibt Heidegger in SuZ: „In der Auslegung wird das Verstehen nicht etwas anderes, sondern es selbst" (SuZ, S. 148). Somit können wir sehen, daß das Hermeneutische der Phänomenologie Heideggers ihre Grundanstöße zunächst in Dilthey fand, diese aber führten zu Aristoteles zurück, so daß sie ursprünglich bei Aristoteles zu finden sind. Inwieweit Heidegger die Grundeinsichten für den hermeneutisch-phänomenologischen „Zugang" zum Leben in der von Aristoteles behandelten φρόνησις fand, wurde hier angedeutet. Die aristotelische φρόνησις als Weise des άληθεύειν bringt das Leben zum Sichzeigen. Heidegger wird diese Möglichkeit radikalisieren und den Zugang zum Leben bzw. zum Entdecktsein des Lebens nicht theoretisch, aber auch nicht praktisch entfalten, sondern vortheoretisch. Somit können wir sehen, daß der Übergang vom Verstehen zur Auslegung einen Grundanstoß von der nicht im θεωρειν zu findenden Möglichkeit des Sichzeigens des Lebens als φρόνησις bekommen hat. Da sich aber diese Möglichkeit in einem im weiteren Sinne theoretischen Rahmen befindet, geht bei Heidegger der Übergang vom Verstehen zur Auslegung über den aristotelischen Ansatz hinaus. Die Radikalisierung der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers liegt darin, daß dabei der Übergang nicht theoretisch und nicht praktisch geschieht, sondern vortheoretisch, und dies besagt ein Hinausgehen über das Dilemma λογιστικόν und έπιστημονικόν des άληθεύειν. Mit der Verdeutlichung des Übergangs vom Verstehen zur Auslegung wird die Kontinuität der Methode, also der Schritt von der Reduktion zur Rekonstruktion, und dementsprechend der Bezug von der Ontologie zur Logik ersichtlich. Im § 25 haben wir die philosophische Forschung durch drei Elemente charakterisiert: Blickrichtung, die in der durch die Reduktion gewonnenen Ontologie zustande kommt, Blickstand, der aufgrund der durch die Rekonstruktion gewonnenen Logik möglich ist, und drittens: die Sichtweite, die sich als eine durch die Destruktion zustande kommende geschichtliche Kritik erweist. Die Reduktion und die Rekonstruktion haben wir bereits erläutert, wenden wir uns nun der Destruktion zu.
§ 28. Die „begleitende44 phänomenologische Destruktion a) Vorbemerkung Die Blickrichtung auf das Ontologische und deren kategoriale Interpretation haben uns zwei vom faktischen Leben selbst geforderte Momente der Zugangsmethode dargestellt. Um in eine sichere Freilegung des faktischen Lebens zu gelangen, bedürfen wir aber eines dritten Moments: der Destruk-
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
tion. 1 8 3 Warum muß ein solches drittes Moment hinzugefügt werden? In welcher Weise kann sich die Notwendigkeit dieses Moments nachweisen? Inwiefern ist die Destruktion kein willkürlicher Schritt? Die Destruktion ist kein von außen herangetragenes Moment, das bloß an die bereits gesehenen Momente anknüpft, sondern seit den Dozentenvorlesungen wird ihre eigenständige Bedeutung und Aufgabe deutlich dargestellt. 1922 schreibt Heidegger diesbezüglich: „Die Hermeneutik bewerkstelligt ihre Aufgabe nur auf dem Wege der Destruktion" (PIA, S. 249). 1 8 4 Fünf Jahre später in Marburg (SS 1927) wird die Rolle der Destruktion ausführlicher erläutert: Daher gehört notwendig zur begrifflichen Interpretation des Seins und seiner Strukturen, d.h. zur reduktiven Konstruktion des Seins eine Destruktion, d.h. ein kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind. Erst durch die Destruktion kann sich die Ontologie phänomenologisch der Echtheit ihrer Begriffe voll versichern" (GA 24, S. 31).
Daß die reduktive Konstruktion vom dritten Moment der Methode, d.h. von der Destruktion, begleitet wird, darauf weist Heidegger im WS 1919/ 20 hin: „Im Verlauf (des ,Mitgehens' oder) der ,Artikulation' arbeitet die phänomenologische Methode schon mit Hilfe einer kritischen Destruktion der Objektivierungen, die immer bereit sind, sich den Phänomenen anzusetzen" (GA 58, S. 255). Die kritische Destruktion der Objektivierungen meint der Sache nach das, was Heidegger 1927 als einen kritischen Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe charakterisiert. Dies kann folgendermaßen expliziert werden: Jegliche philosophische Besinnung hat Begriffe als „Werkzeug", d. h. die Philosophie kommt nur durch ihre Arbeit mit Begriffen zustande. Es sind aber überkommene Begriffe, die - selbstverständlich oder nicht - bereits theoretisch
183
Die Destruktion ist in der neuerlich erschienenen Sekundärliteratur vielfältig ausgearbeitet worden, vgl. z.B. /. Fehér, Die Hermeneutik der Faktizität als Destruktion der Philosophiegeschichte als Problemgeschichte, in: Heidegger Studies 13 (1997), S. 47-68; Β. Vedder, Die Faktizität der Hermeutik: ein Vorschlag, in: Heidegger Studies 12 (1996), S. 95-107; J. Grondin, Die Hermeneutik der Faktizität als ontologische Destruktion und Ideologiekritik, in: /. Fehér (Hrsg.), Wege und Irrwege des neueren Umgangs mit Heideggers Werk; Ch. Bambach, Phenomenological research as Destruktion. The early Heidegger's Reading of Dilthey, in: Philosophy Today 1993 (Summer), S. 115-132; F. Volpi, L ' approccio fenomenologico alla storia della filosofia nel primo Heidegger, in: Aut-Aut 223/223 (1988), S. 203-230. 184 Aber wie die Destruktion in ihrer Aufgabe zu verstehen ist, das ist der entscheidende Punkt. Einige Kommentatoren haben versucht, eine „Entsprechung" der Destruktion in einem Moment der Husserlschen Phänomenologie zu finden. B. Merker versucht z.B. zu zeigen, daß die Destruktion bei Heidegger der phänomenologischen Reduktion Husserls entspricht, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis, S. 268. Daß diese Behauptung ein totales Mißverständnis ist, bedarf hier keiner weiteren Erläuterung.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
269
geprägt s i n d . 1 8 5 Der bereits i m § 20 genannte übliche Einwand, daß alles Zu-tun-haben m i t Begriffen schon eine Objektivierung ist, deutet auf eine Selbstverständlichkeit der Philosophie hin. D a diese selbstverständliche Tatsache eine „Voraussetzung" geworden ist, w i r d nicht gesehen, daß sie bereits v o m Theoretischen beherrscht wird. D i e Vorherrschaft des Theoretischen setzt schon bei den Begriffen als „Werkzeuge" der Philosophie an. Daher ist als communis Objektivieren
opinio
überliefert, daß alles Begreifen bereits ein
ist. Dementsprechend
sind die Begriffe
i n der
Tradition
schlechthin Objektivierungen. Wenn Heidegger aber die Vorherrschaft
des Theoretischen i n Z w e i f e l
zieht und dadurch die M ö g l i c h k e i t aufgeschlossen wird, das Begreifen und die Begriffe nicht-theoretisch, d.h. a-theoretisch, zu deuten, dann liegt hier die konkrete Aufgabe des dritten Moments i m Zugehen auf das Leben. Anders gewendet heißt dies, daß die ganze Reihe von Begriffen, die das Leben ursprünglich-philosophisch zu thematisieren versuchen, z . B . Subjekt, Bewußtsein, Ich, Person, usw., stillschweigend theoretisch
belastet sind. Sie
müssen kritisch abgebaut werden. I n P I A erläutert Heidegger diese Aufgabe der Destruktion: Jede Interpretation muß nach Blickstand und Blickrichtung ihren thematischen Gegenstand überhellen. Er wird erst angemessen bestimmbar, wenn es gelingt, ihn nicht beliebig, sondern aus dem zugänglichen Bestimmungsgehalt seiner her ihn zu scharf zu sehen und so durch Zurücknahme der Überheilung auf eine möglichst gegenstandsangemessene Ausgrenzung zurückzukommen. Ein immer nur im Halbdunkel gesehener Gegenstand wird erst im Durchgang durch eine Überhellung gerade in seiner halbdunkelen Gegebenheit faßbar" (PIA, S. 252, k.g.v.m.).
185 Daß die Begriffe etwas Grundlegendes für die philosophische Arbeit bilden, wollen wir nicht bestreiten. Hier kommt es nur darauf an, den theoretischen Charakter der Begriffe in Zweifel zu ziehen und auf die Möglichkeit einer a-theoretischen Begriffsbildung hinzuweisen. Der theoretische Charakter der Begriffe in der philosophischen Tradition wurde in eigentümlicher Weise von den Neukantianern ausdrücklich gemacht. So schreibt z.B. Hermann Cohen in seinem opus magnum ,Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums' (1919), daß der Begriff „das eminente Zeugnis aller Wissenschaft [ist]" (S. 6). Die Quelle der Begriffe ist aber, Cohen zufolge, die Vernunft: „Die Vernunft ist das Organ der Begriffe" (ebd.). Die Tatsache, daß die Vernunft die Quelle bzw. das Organ der Begriffe bildet, zeigt eine höchst herausgehobene Gestalt des theoretischen Charakters der Begriffe. Diese Einsicht wurde aber in der ganzen philosophischen Tradition mehr oder weniger ausdrücklich vertreten. Die philosophischen Begriffe waren in gewisser Weise nur in bezug auf die bildende Instanz zu sehen: Seele, ego cogito, Subjekt, Bewußtsein, usw. In diesem Sinne befanden sie sich von Hause aus in einem theoretischen Bildungsrahmen. Die Analyse des faktischen Lebens in der hermeneutischen Phänomenologie hat gezeigt, daß es dabei nicht um einen theoretischen Ansatz geht. Wenn dem so ist, dann müssen die formal-anzeigenden philosophischen Begriffe a-theoretisch sein, wie wir weiter unten sehen werden.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Der Blickstand und die Blickrichtung, deuten auf die reduktive Rekonstruktion hin, wie wir bereits erläutert haben. Dabei ist der Gegenstand noch durch herrschende begriffliche Verdeckungen bestimmt. Wenn wir das erste Moment der Zugangsmethode, d. h. die Reduktion bzw. Blickrichtung als Ausgang betrachten und das zweite, d.h. die Rekonstruktion bzw. den Blickstand als Zugang im engeren Sinne, dann erweist sich das dritte, nämlich die Destruktion bzw. Sichtweite als ein Durchgang. Diese Einsicht bleibt im § 7 von SuZ erhalten: „Daher fordern der Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung" (SuZ, S. 36). 1 8 6 Der Durchgang, der durch die Destruktion ermöglicht wird, ist kein selbständiges Moment der hermeneutischen Methode, sondern er begleitet die reduktive Rekonstruktion. Er geht mit der Reduktion und mit der Rekonstruktion einher.
b) Die Destruktion als gerichteter Abbau des Theoretischen Im SS 1920 geht Heidegger auf die Destruktion zunächst via negativa ein. Er geht vom möglichen Mißverständnis aus, das im Wort ,Destruktion' stecken kann. Destruktion kann einerseits als eine Art Analyse verstanden werden, andererseits als ein Zertrümmern. 187 Dazu ist aber zu sagen, daß solche Interpretationen allzu kurzatmig bleiben im Hinsicht auf das, was Destruktion in der hermeneutischen Methode besagt. Daher wendet sich Heidegger dem ersten Mißverständnis zu und schreibt, daß Destruktion keine richtungslose Analyse ist: „sie greift nicht zufällig Wortbedeutungen auf, um sie mit anderen aufgegriffenen zu erklären" (GA 59, S. 35). Ebenso jedoch besagt Destruktion auch „kein bloßes Zertrümmern, sondern ,gerichtete[n]' Abbau" (ebd.). 1 8 8 Was heißt dies? Heidegger erläutert es 186
Vgl. ferner v. Herrmann, HPhD, S. 357 ff. An diesem Punkt müssen wir uns hüten, die zur hermeneutisch-phänomenologischen Methode gehörende Destruktion mit der Derridaschen Dekonstruktion zu verwechseln. Die Kritik Derridas an Heidegger, daß dieser in einem „Logozentrismus" bzw. „Phonozentrismus" befangen bleibt, läßt nur sehen, daß Derrida die radikale Interpretation des λόγος bei Heidegger nicht verstanden hat. Die atheoretische Frage, in der sich die hermeneutische Phänomenologie bewegt, wird überhaupt nicht bemerkt, sondern einfach in die theoretische Linie der Tradition eingeordnet. Die hermeneutische Destruktion ist aber als ein Moment des atheoretischen Zugangs zum Leben zu sehen. Daher darf hier die Destruktion nicht mit der Dekonstruktion Derridas verwechselt werden. Vgl. dazu ferner Gadamer, Destruktion und Dekonstruktion, in: Gesammelte Werke 2, S. 361-372. 188 1969, im Seminar in Le Thor, wird folgendes gesagt: „Er [Heidegger] beginnt damit, indem er den eigentlichen Namen der befolgten Methode nennt: die „De187
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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weiter: „Sie führt in die Situation des Verfolgs der Vorzeichnungen, des Vollzugs des Vorgriffs und damit der Grunderfahrung" (ebd.). Anhand des zuletzt herangezogenen Zitats können wir sehen, worauf die Destruktion abzielt: letztlich führt sie in die Grunderfahrung. Aber wird nicht die Grunderfahrung durch die reduktive Rekonstruktion aufgeschlossen? Dies trifft zu, aber die Grunderfahrung, d.h. das verstehende Umwelterlebnis, zu entdecken, bedeutet, diese zugleich begrifflich aufzuschließen. Das ursprüngliche Umwelterlebnis ist nicht etwa begriffslos, sondern, weil es zugleich begrifflich aufgeschlossen wird, bedürfen wir der Destruktion, um einen sachgemäßen Zugang zum Leben gewinnen zu können. Daher schreibt Heidegger, daß die Destruktion, um zur Grunderfahrung zu gelangen, durch „die Situation des Verfolgs der Vorzeichnungen, des Vollzugs des Vorgriffs" führen muß. Aber in welcher Weise ist der Verfolg der Vorzeichnungen bzw. der Vollzug des Vorgriffs entscheidend, um einen adäquaten Zugang zum ursprünglichen Leben zu gewinnen? In derselben Vorlesung deutet Heidegger darauf hin: Wissenschaftliche und philosophische Begriffe, Sätze und Betrachtungsarten durchsetzen mehr oder minder umfänglich die faktische Lebenserfahrung, setzen sie aber nicht zusammen; und zwar durchsetzen sie diese im Charakter des Verblaßten, d.h. sie sind aus dem ursprünglichen Existenzbezug abgefallen" (ebd., S. 37).
Nachdem wir im § 25 den Entlebungsprozeß analysiert haben, sollte der hier genannte Charakter des Verblaßten verständlich werden. M.a.W., zu dem dreifach ausgearbeiteten Entlebungsprozeß, nämlich der Ent-deutung des erlebten Umweltlichen, der Ent-lebung des Umwelterlebens und der Ent-geschichtlichung des historischen Ichs, gehört der begriffliche Modus des Verblaßten. Dies bedeutet, daß die Begriffe, die wir im ent-lebten Leben treffen, verblaßte Begriffe sind, und d.h. sie sind bereits aus dem ursprünglichen vortheoretisehen Umwelterlebnis abgefallen und in die theoretischen Betrachtungsarten verfallen. Nicht der ursprüngliche Charakter der Grunderfahrung des Lebens wird dabei gesehen, sondern allein die tradierten theoretischen Gestaltungen, an die die Begriffe theoretisch anknüpfen. Daß die tradierten Begriffe durch das Nicht-ursprünglicher-sehen der Überlieferung verblaßt sind, deutet aber auf die Möglichkeit hin, daß ein ursprüngliches Sehen der Grunderfahrung die Begriffe in einer nicht-verblaßten, d.h. nicht theoretischen Weise aufschließen kann. Dies kommt erst struktion", - die streng als de-struere, ,Ab-bauen' und nicht als Verwüsten verstanden werden muß. Was aber wird abgebaut? Antwort: was den Sinn von Sein verdeckt, die übereinander angesammelten Strukturen, die den Sinn von Sein unkenntlich machen", GA 15, S. 337.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
zustande durch die formal-anzeigende Begriffsbildung in der hermeneutischen Phänomenologie. Der verblaßte Charakter, in dem in der philosophischen Tradition die faktische Lebenserfahrung entdeckt wird, ist eine Weise des Verdecktseins der Ursprünglichkeit des faktischen Lebens. Diese wird verblaßt bzw. verdeckt durch die vorausgesetzten überlieferten Begriffs- und Betrachtungsweisen. Die selbstverständlichste Voraussetzung im verblaßten Charakter des faktischen Lebens ist, wie schon bemerkt, seine theoretische Interpretation. Gegen den tradierten theoretischen Charakter der Begriffe und der Betrachtungsweisen setzt nun die Aufgabe der Destruktion an. Ihre Aufgabe besteht also nicht in einem bloßen Reinigen, sondern in einem Abbau des möglichen restlichen Theoretischen, das in den Begriffen und Betrachtungsweisen auftauchen kann: „Destruktion ist also nicht Überleitung und Vorbereitung theoretischer Sauberkeit und Begriffsbestimmung zu Erkenntniszwecken, auch nicht als ,klare' (rationalistische) Erhellung der ,übrigen Einstellungen' - rationalistisch mißdeutete Echtheit (vgl. Husserl!)" (ebd., S. 185). Wenn die selbstverständlichste Interpretation des faktischen Lebens theoretisch gesehen wird, dann erweist sich die notwendige Rolle der Destruktion in ihrem Zugehen zur ursprünglich vortheoretischen Lebenssphäre. Weiter oben haben wir darauf hingewiesen, daß die Tradition das faktische Leben nur gegenstandsmäßig, aber nicht vollzugsmäßig gesehen hat. Ein vollzugsmäßiges Verständnis des faktischen Lebens können wir allerdings nur gewinnen, wenn zugleich das Theoretische, das eine ursprünglichere Sicht verhindert, gesehen wird, d.h. wenn dessen Vorherrschaft gebrochen wird. Durch die hermeneutische Phänomenologie wird nicht nur das Theoretische als verdeckend gesehen, sondern die Ursprungssphäre des Lebens entdeckt. Da die Destruktion eine wichtige methodische Aufgabe in diesem Zugehen zum Ursprung des Lebens hat, deutet Heidegger im WS 1919/20 auf ihren Verdienst hin: „Durch kritische Destruktion wird das Verstehen als Vollzugssinn herausgehoben" (GA 58, S. 257). Aufgrund des Gesagten läßt sich die Destruktion als ein Abbau der „tragenden und nie ganz abzustoßenden Ausgelegtheit des faktischen Lebens" bezeichnen (PIA, S. 248). Da diese Ausgelegtheit ein Element der faktischen Lebenserfahrung ist, zeigt sie sich im Modus des Lebens selbst: geschichtlich. Destruktion bedeutet also eine Auseinandersetzung der philosophischen Forschung mit ihren Begriffen und Betrachtungsweisen, mit ihrer Geschichte. In diesem Sinne muß auch die Heideggersche Rede von der philosophischen Forschung bezüglich der Destruktion als einem im radikalen Sinne verstandenen „historischen" Erkennen verstanden werden. 189 In 189
Vgl. PIA, S. 249; GA 24, S. 31.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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PIA wird dies näher geklärt: „Die Destruktion ist [...] der eigentliche Weg, auf dem sich die Gegenwart in ihren eigenen Grundbewegtheiten begegnen muß, und zwar so begegnen, daß ihr dabei aus der Geschichte die ständige Frage entgegenspringt, wie weit sie (die Gegenwart) selbst um Aneignungen radikaler Grunderfahrungsmöglichkeiten und deren Auslegungen bekümmert ist" (PIA, S. 249). Geschichte ist also in bezug auf den Vollzugsmodus des Lebens selbst zu verstehen, daher schreibt Heidegger im WS 1919/20: „Geschichte ist hier nicht verstanden als historische Wissenschaft, sondern als lebendiges Miterleben, als Vertrautsein des Lebens mit sich selbst und seiner Fülle" (GA 58, S. 252, k.g.v.m.). Einige Semester später wird er sogar sagen: „Geschichte ist etwas, was wir selbst sind" (GA 17, S. 113 f.). In diesem Sinne sehen wir, daß die Möglichkeit der Destruktion vom geschichtlichen Grundcharakter des faktischen Lebens abhängt. Nur weil das faktische Leben bzw. Dasein sich ursprünglich geschichtlich vollzieht, ist Destruktion möglich. Der methodische Durchgang, der als eine geschichtliche Kritik geschieht, ist die Hauptaufgabe der Destruktion. Indem die philosophische Forschung sich als ein historisches Erkennen erweist, wird der geschichtliche Charakter des Lebens herausgehoben, d.h. die Ent-geschichtlichung des faktischen Lebens rückgängig gemacht. Diese Tatsache deutet auf keine Neuheit, keine „neue Wende" im philosophischen Weg Heideggers hin, sondern nimmt die bereits im letzten Kapitel seiner Habilitationsschrift gestellten Fragen wieder auf. Dort hat Heidegger die Frage nach der Hineinstellung des Kategorienproblems in das Urteils- bzw. Subjektsproblem und die Frage nach der Deutung der Geschichte als ein bedeutungsbestimmendes Element für das Kategorienproblem als Aufgaben offen gelassen. Eine sichere erste Konkretion dieser Suche finden wir in der ontologischen Interpretation des faktischen Lebens, die hermeneutisch-phänomenologisch seit der ersten Dozentenvorlesung geschieht. Im ersten Kapitel der vorliegenden Untersuchung haben wir auf den Zusammenhang beider Fragen hingewiesen. 1 9 0 Dort haben wir gesehen, daß die Frage nach dem faktischen Leben von der Frage nach dem Sein motiviert wurde, die bei Heidegger in ihrer ersten Gestalt als die Frage nach den Kategorien auftaucht. Die Heraushebung des geschichtlichen Charakters des Lebens durch die Destruktion bildet aber kein unabhängiges Thema, das dem Kategorienproblem fremd wäre. Vielmehr bildet sie eine Betonung im Verlauf der Vorbereitung der Fragestellung nach dem Sein. Diese Betonung können wir als ein „Schärfen" der Frage nach dem Sein charakterisieren: Diese zu stellen besagt zunächst, das Sein des Fragenden selbst zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Sein des faktischen Lebens bzw. Daseins
190
Vgl. bes. § 4 der vorliegenden Untersuchung.
18 Xolocotzi
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
zu verstehen. M.a.W., die Frage nach dem geschichtlichen faktischen Leben muß sachgemäß ihren Ort im philosophischen Weg Heideggers haben, und dies bedeutet, daß die Thematisierung des faktischen Lebens bzw. Daseins nicht bloß im Rahmen einer „Lebensphilosophie" oder des „Existenzialismus" zu betrachten ist. Es besteht eine eigentümliche Korrelation zwischen der Frage nach dem Sein überhaupt und der Frage nach dem Sein des Daseins. Diese Korrelation muß man sich stets vor Augen halten, wenn man den philosophischen Weg Heideggers adäquat begreifen will.
c) Die formale Anzeige und die Momente des Zugehens auf das Leben Anhand dessen, was wir bezüglich des dritten Moments des Zugangs auf das Leben entfaltet haben, können wir die Frage nach dem Bezug zu der im dritten Kapitel des Hauptteils ausgearbeiteten formalen Anzeige stellen. Anders gewendet: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der formalen Anzeige als philosophischer Begrifflichkeit und der Destruktion als dem versichernden Moment der Echtheit der philosophischen Begriffe? Als wir im § 22 auf die formale Anzeige eingegangen sind, haben wir bemerkt, daß ihre volle Entfaltung erst nach der Ausarbeitung der Zugangsmethode verständlich wird. Anders gewendet heißt dies: Da sich durch die Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion die Weise zeigt, wie das Phänomen Leben zugänglich wird und die formale Anzeige nur „aus der Weise, wie der Gegenstand ursprünglich zugänglich ist" verstanden werden kann, ist die formale Anzeige von der Zugangsmethode her zu sehen, und nicht umgekehrt bzw. unabhängig. 191 Die philosophische Begrifflichkeit ist mißverstanden, wenn sie als „fester allgemeiner Satz" (GA 63, S. 80) gesehen wird. Formale Anzeige darf nicht als ein solcher allgemeiner bzw. fester Satz verstanden werden, der ordnungsmäßig bzw. klassenmäßig geprägt i s t . 1 9 2 Die formal-anzeigenden 191
Diese Einsicht teilt auch Kalariparambil in seiner Dissertation Das befindliche Verstehen und die Seinsfrage, bes. S. 96. Kalariparambil geht in einem soeben erschienenen Aufsatz auf die Fehlinterpretation Kisiels bezüglich der formalen Anzeige ein, Towards Sketching the „Genesis" of Being and Time, in: Heidegger Studies 16 (2000), S. 189-220. 192 An diesem Punkt können wir uns an die bereits in der Fußnote 5 des vorliegenden Paragraphen angedeutete ausdrückliche theoretische Thematisierung der Begriffe im Neukantianismus erinnern, diesmal aber anhand der Rickertschen Wertphilosophie. In Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft schreibt Rickert: „Die Aufgabe der Erkenntnis besteht dann darin, aus dem unmittelbar gegebenen Material Vorstellungen oder Begriffe zu bilden, die mit jener transzendentalen Welt übereinstimmen" (S. 31). Daher kommt Rickert in Anlehnung an „Piatons Erkenntnistheorie" zu dem Schluß, daß „ [ . . . ] das Wesen des Begriffs in seiner Allgemeinheit ge-
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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Sätze und Begriffe sind in diesem Sinne keine Mitteilung einer ordnungsmäßigen Erkenntnis, sondern sie beruhen auf einem radikalen Verständnis, auf einer „Urerkenntnis". In der Überlieferung wurde die Erkenntnis in Form einer allgemeinen zeitlosen Begrifflichkeit tradiert. Für die Überlieferung ist Begreifen im strengen Sinne Erkennen. Daß wir, wenn wir etwas begreifen, die Sache schon erkannt haben, schien den Rang eines Gemeinplatzes zu haben. Die hier durch allgemeine Begriffe zustande kommende Erkenntnis ist der Tradition zufolge eine allgemeine zeitlose Erkenntnis. Wenn Heidegger aber in der phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität den Gegenstand der Forschung nicht dem Allgemeinen und Zeitlosen zuordnet, sondern dem Einzelnen und Zeitlichen bzw. Geschichtlichen, dann hat er dementsprechend eine radikale Neuauffassung von „Erkenntnis" und Begriffsbildung vor Augen. Dies kann folgendermaßen expliziert werden: Der „Gegenstand" der Forschung, also das Problem, das zugänglich wird, ist das Leben in seinem Ursprung. Durch das erste Moment des Zugangs zu ihm hat sich ergeben, daß das Leben in einem vortheoretischen Charakter zu sehen ist: das sich in der Bedeutsamkeit vollziehende Umwelterlebnis. Das Ursprünglichste des Lebens ist nicht das Leben hinsichtlich der wahrgenommenen objektivierten Gegenstände, sondern der Welt als Bedeutsamkeit. Da die Bedeutsamkeit ein Seinsphänomen ist, ist das Leben hinsichtlich seines Seinssinns zu sehen. Indem die Reduktion eine Rückkehr zum ursprünglichen Umwelterlebnis anstrebt, richtet sie sich auf eine „Ontologie der Faktizität". Die Blickrichtung, die durch die Reduktion ermöglicht wird, ist die Blickrichtung auf das Sein. Das reduzierte Umwelterlebnis kann nicht mehr als ein theoretischer Gegenstand erfaßt werden, sondern das Erfassen des Umwelterlebnisses geschieht primär vortheoretisch als Verstehen. Daher sagt Heidegger, daß Verstehen die erste Stufe der Methode bildet. 1 9 3 funden [wird]" (ebd.). Durch diese Allgemeinheitsfunktion der Begriffe ist es möglich, über die „Heterogeneität alles Wirklichen" (S. 35) hinaus zu gehen: „ W i r können also mit den Begriffen nur Brücken über den Strom der Realität schlagen, mögen die einzelnen Brückenbogen auch noch so klein sein" (S. 37 f.). Die a-theoretisch-hermeneutische Begriffsbildung widersetzt sich jedoch jeglicher Allgemeinheitsfunktion der Begriffe und legt diese in ihrem formal-anzeigenden, d.h. a-theoretischen Charakter aus. 193 An dieser Stelle müssen wir uns vor dem Mißverständnis hüten, das Verstehen im Rahmen des von der Tradition geprägten Sinnes von Methode einzuordnen. Es wurde bereits in der Sekundärliteratur herausgehoben, daß der Grundunterschied zwischen dem hermeneutischen Ansatz Heideggers und den vorphänomenologischhermeneutischen Ausarbeitungen darin liegt, daß Heideggers Hermeneutik weder eine Methode der Textinterpretation im Sinne Schleiermachers noch eine Methode der Geisteswissenschaften im Sinne Diltheys ist. Die Eigentümlichkeit von Heideggers Hermeneutik, so einige Interpreten, liege darin, daß bei Heidegger das Verstehen als eine Grundstruktur des faktischen Lebens bzw. Daseins gesehen wird. Dies 18*
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Aber das durch Reduktion Gewonnene bildet die negative Seite des Zugangs zum Leben. Erst durch eine weitere Stufe wird dies positiv ausdrücklich gemacht. Das Ausdrücklichmachen ist die Weise, wie das Reduzierte sich ausspricht und anspricht. Sprechen heißt griechisch λέγειν. Λ έγειν besagt aber άποφαίνεσθαι bzw. Sichzeigen. D.h., im λέγειν wird ein Blickstand gewonnen, der die Überführung in das eigens Philosophische ermöglicht. Worauf aber sieht das Philosophische? Auf das Prinzipielle, auf die άρχαί. Die Erfassung der άρχαί wurde als κατηγορεΐν bekannt. In diesem Sinne ist das philosophische Ausdrücklichmachen ein hinsichtlich der Kategorien zustande kommendes λέγειν. Das Sichzeigen, das durch den λόγος ermöglicht wird, ist ein Sichzeigen der Kategorien. Da wir durch die Reduktion eine ursprünglichere Sphäre entdeckt haben, beziehen sich die Kategorien nicht auf theoretische Objekte, sondern auf das vortheoretische umwelterlebende Leben. Wenn das vortheoretische Umwelterlebnis nicht theoretisch erkannt, sondern vortheoretisch verstanden wird, dann sind die Kategorien als verstehende Kategorien zu sehen. In diesem Sinne haben wir von einer Logik gesprochen, also von einer kategorialen Interpretation der Ontologie. Die Weise, wie das reduzierte Verstehen ausdrücklich gemacht wird, bildet die zweite Stufe der Zugangsmethode. Heidegger nennt dies Konstruktion. Da sich dabei das Leben selbst in seinen kategorialen Strukturen auslegt, haben wir von Rekonstruktion gesprochen. Sie entwächst der ersten Stufe, indem sie sich als eine Ausformung der ersten Auffassung des Umwelterlebnisses erweist. Die Rekonstruktion bzw. Auslegung zeigt sich dann als eine Ausformung des Verstehens. Die durch die Rekonstruktion ausdrücklich gemachte „Erkenntnis" ist aber kein Allgemeines, sondern in ihr bleibt das Vortheoretische der ersten Stufe erhalten. Wie ist dies möglich? In Anlehnung an die durch Aristoteist zutreffend, aber der Unterschied ist m. E. nicht vollständig betont, solange der a theoretische Ansatz Heideggers unberücksichtigt bleibt. Der Unterschied liegt nicht nur darin, ob das Verstehen eine Methode oder eine Struktur bildet, sondern darin, ob das Verstehen in einem theoretischen oder in einem a-theoretisehen Rahmen angesetzt wird. Dies scheint mir wichtig zu betonen, um Fehlinterpretationen vorzubeugen, die versuchen, das Verstehen bei Dilthey nicht methodisch, sondern strukturell nachzuweisen (so z.B. R. Makkreel). Dabei wird aber nicht gesehen, daß für Dilthey das a-theoretische Zugehen auf das Leben bzw. die vortheoretische Umweltsphäre des Lebens verhüllt bleibt. Wenn Heidegger selbst im WS 1919/20 (GA 58, S. 237 f.) auf das Verstehen als „die erste Stufe der phänomenologischen Methode" eingeht, bezieht er sich nicht auf eine allgemeine, von der Tradition geprägte Idee von Methode, sondern auf seinen a-theoretischen Ansatz, den er bereits anhand der vortheoretischen Urwissenschaft seit 1919 ausgearbeitet hat. Daher können wir feststellen, daß die Rede von Methode bei Heidegger nicht mit ,Methode' im Sinne Schleiermachers oder Diltheys verwechseln werden darf.
5. Kapitel: Rekonstruktion und Destruktion
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les' Ausarbeitungen gewonnenen Anstöße haben wir gezeigt, daß das kategoriale Ausdrücklichmachen des Lebens eine bestimmte Weise des Wahrseins, des Entdeckens ist. Aristoteles hat Grundweisen des άληθεύειν gesehen: έπιστήμη, σοφία, τέχνη, φρόνησις und νους. Die φρόνησις zeigt sich als die Weise, wie die ζωή, d.h. das Leben entdeckt wird. Da die φρόνησις innerhalb des λογιστικόν und nicht innerhalb des έπιστημονικόν geschieht, weist sie auf eine andersartige Weise hin, wie der Mensch den λόγος haben kann. Das kategoriale Ausdrücklichmachen muß nicht unumgänglich innerhalb des έπιστημονικόν, also als Feststellendes bzw. Bestimmendes geschehen, sondern die φρόνησις als βέλτιστη έξις, höchste Möglichkeit, deutet auf eine nicht-theoretische Weise des kategorialen Ausdrücklichmachens bzw. des Entdeckens hin. Durch die Analyse der φρόνησις hat Heidegger Grundanstöße für ein „anderes Wissen" gewonnen, das er in einer radikalen, von Aristoteles nicht gesehenen, nämlich a-theoretischen Weise entfaltet. Aber der durch die Rekonstruktion gewonnene Blickstand arbeitet immer noch mit tradierten Begriffen, die eine gewisse Deformation des ursprünglichen Phänomens mit sich tragen. Um ein sicheres Wissen und eine sichere Begriffsbildung erlangen zu können, bedürfen wir des dritten begleitenden Moments: der Destruktion. Durch die Destruktion geschieht ein kritischer Abbau der noch verbliebenen theoretischen Elemente; durch sie gelangen wir zu einer Sichtweite. Diese Sichtweite wird also durch eine geschichtliche Kritik gewonnen. Aufgrund des Gesagten läßt sich die formale Anzeige in bezug auf den zugänglich gewordenen Gegenstand Leben deutlicher erfassen. Formale Anzeige indiziert nur faktisches Leben bzw. Dasein, indem sie als Begriff eine ganz andere Funktion als die allgemeinen Begriffe hat. Da das Leben durch Reduktion, Rekonstruktion und Destruktion in α-theoretischer Weise zugänglich wird, muß dieser α-theoretische Charakter mit den philosophischen Begriffen einher gehen. Dies geschieht, indem die philosophischen Begriffe einen anzeigenden Charakter tragen: sie zeigen die Konkretion des Lebens an. Anders gewendet: Die formale Anzeige ist die vortheoretische Gestalt der philosophischen Begriffe. Diese können den vortheoretischen Charakter aber nur tragen, wenn das Leben in seinem Ursprung aufgeschlossen wird, also wenn es durch die bereits entfaltete hermeneutisch-phänomenologische Methode zugänglich geworden i s t . 1 9 4 194
Wenn diese Tatsache auch in SuZ gesehen wird, dann versteht sich von selbst, daß dort auch die philosophischen Begriffe als formale Anzeige vorausgesetzt werden. In diesem Sinne können wir an dieser Stelle die Argumentation Imdahls widerlegen. In seiner Dissertation Das Leben Verstehen schreibt er, daß „das wichtigste Argument 4 ', um die fFV nicht in bezug auf SuZ zu sehen, sondern „aus sich selbst heraus zu interpretieren", gerade darin liege, daß in den fFV „der methodi-
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Somit haben wir einen Blick auf die Möglichkeit geworfen, das Leben in seinem a-theoretischen umwelterlebenden Ursprung zu gewinnen, und dementsprechend die radikale Auffassung der „Erkenntnis" und der Begriffsbildung bzw. der formal-anzeigenden Begriffe in der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers freizulegen.
Sechstes Kapitel
Rückblick und Ausblick: Das sachgemäße Verständnis der fFV in bezug auf die Fundamentalontologie und das seynsgeschichtliche Denken Als Leitfaden für die vorliegende Untersuchung haben wir uns eingangs den Zusammenhang zwischen den fFV und ihrer Konkretion in SuZ vorgenommen. Nachdem wir den Ansatz Heideggers in den fFV und seine Absetzung von der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls ausführlich betrachtet haben, können wir zu dem genannten Zusammenhang zurückkehren, um deutlicher sehen zu können, inwiefern in der hermeneutischen Phänomenologie eine Kontinuität waltet. Und diese Kontinuität betrifft nicht nur die Fundamentalontologie, sondern sogar das seynsgeschichtliche Denken. Dies deutet darauf hin, daß die Thematisierung des faktischen Lebens kein eigenständiges Thema in den Dozenten-Vorlesungen bildet, sondern in einer bestimmten Korrelation zur Fundamentalontologie (sie ist eigentlich innerhalb der Fundamentalontologie zu betrachten) und zum seynsgeschichtlichen Denken steht. Leider wird das sachgemäße Verhältnis der fFV zur Fundamentalontologie und zum seynsgeschichtlichen Denken in der Sekundärliteratur meist fehlinterpretiert. Daher wenden wir uns in diesem Kapitel einer näheren Betrachtung des philosophischen Wegs
sehe Ansatz der formal anzeigenden Begriffe ausführlich entwickelt wird", nicht aber in SuZ (S. 18). M. E. begründet dieses „wichtigste Argument" in keiner Weise die Notwendigkeit einer selbständigen Interpretation der Vorlesungen. Wir müssen die in den fFV vollzogene Erläuterung bezüglich der formalen Anzeige berücksichtigen, aber dies bedeutet nicht, daß diese von Pöggeler und Kisiel getaufte „formal anzeigende Hermeneutik" etwas anderes besagt als die in SuZ dargestellte Hermeneutik. Was Imdahl und Kim (letzterer in seiner Dissertation Phänomenologie des faktischen Lebens') nicht verstanden haben, ist, daß Heidegger einige Entfaltungen, wie die der formalen Anzeige, in SuZ vorausgesetzt hat. Heidegger selbst hat sich kurz nach der Veröffentlichung von SuZ dazu geäußert: „Formale Anzeige [...] ist alles für mich da, wenn ich auch jetzt nicht davon rede", Brief an Löwith vom 20. August 1927, Briefe H-L, S. 37.
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
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Heideggers zu und darin des Ortes, den die fFV darin der Sache nach bekommen müssen. In diesem Sinne ist es berechtigt, an diesem Punkt die Fragen zu stellen: Welche Einsichten, die seit dem KNS ausgearbeitet wurden, sind für den philosophischen Weg Heideggers unmittelbar, d.h. in bezug auf SuZ entscheidend? Welcher Bezug besteht zwischen den fFV und dem seynsgeschichtlichen Denken? Ist die viel besprochene Kehre als eine „Rückkehr" zu sehen, wie Gadamer und Kisiel meinen? Anhand dieser Fragen läßt sich unser Abschlußkapitel strukturieren. Zunächst werfen wir kurz einen zusammenfassenden Blick auf das bisher Gewonnene. Daraus wird sich zeigen, daß die Entdeckung des Umwelterlebnisses für den weiteren Weg Heideggers von entscheidender Bedeutung war. Wie dies unmittelbar in SuZ wiedergegeben wird, läßt sich anhand der Umweltanalyse in SuZ kurz erläutern. Dabei werden wir sehen, welche endgültige begriffliche - d.h. formal-anzeigende - Gestalt der umweltliche „Zugang" zum Leben, den Heidegger seit den ersten Dozenten-Vorlesungen stets vor Augen hatte, annimmt (§ 29). Im Anschluß daran gehen wir in groben Zügen auf den weiteren philosophischen Weg Heideggers ein. Somit wird sich die sowohl sachliche als auch methodische Kontinuität des philosophischen Wegs Heideggers zeigen (§ 30).
§ 29. Das anhand des besorgenden Umgangs zugänglich gewordene faktische Leben bzw. Dasein a) Rückblickende Betrachtung in bezug auf das bisher Gewonnene Nachdem wir eine ausführliche Darstellung des hermeneutisch-phänomenologischen „Zugangs" zum faktischen Leben durchgeführt haben, können wir rückblickend fragen, ob der interpretatori sehe Weg der Untersuchung auf festem Boden gestanden hat. Anders gefragt: Inwieweit ist unsere hier geleistete Interpretation nicht eine „einseitige" Interpretation? Dazu ist folgendes zu sagen: Von Anfang an haben wir nicht nur die primären Texte und das philosophische Programm Heideggers berücksichtigt, 195 sondern uns war klar, daß eine sachgemäße Behandlung des Problems nur hermeneutisch-phänomenologisch möglich ist. D.h. wir haben uns weder eine „Genealogie von SuZ", d.h. eine Begriffsgeschichte bzw. eine Betrachtung der Begriffswandlung, 196 noch einen „Verfolg" der möglichen „philosophi195
Dies haben wir in der Einleitung (§ 2) als die zwei Grundsäulen unserer Untersuchung betrachtet. 196 Dazu vgl. den neulich erschienenen Aufsatz von Frank Schalow, Questioning the Search for Genesis: A Look at Heidegger's Early Freiburg and Marburg Lectures, in: Heidegger Studies 16 (2000), S. 167-186.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
sehen Einflüsse" auf Heidegger vorgenommen. Vielmehr haben wir unseren forschenden Blick auf die Problematik des methodischen „Zugangs" zu dem von Heidegger selbst chararakterisierten Problem der Philosophie gerichtet: auf den „Zugang" zum faktischen Leben. Dadurch sind wir unmittelbar auf die philosophische Problematik in ihrem Ursprung eingegangen und nicht bei einer zu konstruierenden „Genesis" oder bei semantischen oder „historiographischen" Instanzen stehen geblieben. Dieses Vorgehen hat uns auch die rechtmäßige Gliederung der Untersuchung vorgezeichnet. Die entscheidende Frage dafür war: In welcher Hinsicht kann der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" zum Leben herausgehoben werden? Diese Frage wurde ihrerseits weiter zergliedert: Was meint Heidegger mit Zugang" zum faktischen Leben? In welchem Sinne ist dieser phänomenologisch? Worin besteht die Eigenartigkeit der hermeneutischen Phänomenologie gegenüber der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls? Ist die Rede vom faktischen Leben „lebensphilosophisch" zu verstehen? Was besagt genau faktisches Leben bei Heidegger? Durch diese Fragen wurde klar, daß der Beginn der Untersuchung via negativa durchzuführen war. Die Heraushebung des „Zugangs" zum faktischen Leben mußte ihren Ausgang in der Kontrastierung zu anderen philosophischen Zugängen haben. Daher haben wir im vorbereitenden Teil der Untersuchung den normativ-erkenntnistheoretischen Zugang Rickerts, den psychologisch-beschreibenden Diltheys und den phänomenologisch-transzendentalen Husserls erarbeitet. Da der von Heidegger durchgeführte „Zugang" die Eigenschaftswörter ,hermeneutisch-phänomenologisch' trägt, hat die Untersuchung hier einen weiteren Hinweis bekommen. In diesem Zusammenhang wurde gefragt: Was heißt hermeneutische Phänomenologie? Wie soll diese genauer verstanden werden? In welcher Weise ist die Phänomenologie Heideggers hermeneutisch! Wie phänomenologisch ist die hermeneutische Phänomenologie? Da die hermeneutische Phänomenologie als eine Umwandlung der reflexiven Phänomenologie geschieht, mußten wir den Schwerpunkt der Untersuchung auf die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls legen. M.a.W., für die Heraushebung des von Heidegger erarbeiteten „Zugangs" zum Leben fanden wir eine sachgemäße Vorgehensweise dadurch, daß der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang" Heideggers in seinem Zusammenhang mit und in seiner Absetzung von der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls ausgearbeitet wurde. Durch die Analyse des Husserlschen und Heideggerschen Ansatzes wurde deutlich, wie Heidegger sich das Grundprinzip bzw. die Forschungsmaxime der Phänomenologie angeeignet und radikalisiert hat. Und hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen beiden Ausarbeitungen: Wäh-
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
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rend Husserls Phänomenologie, sowohl ihre vortranszendentale als auch die transzendentale Gestalt, sich stets auf einem theoretischen Boden bewegt, wird die hermeneutische Phänomenologie Heideggers α-theoretisch vollzogen. Durch die Entdeckung der vortheoretischen Umweltsphäre des Lebens wird der „Zugang" zu ihm in α-theoretischer Weise durchgeführt. Wir müssen uns kurz daran erinnern. Die Heraushebung der Möglichkeit der a-theoretischen hermeneutischen Phänomenologie, die Heidegger auch als vortheoretische Urwissenschaft charakterisiert, bildete eine Grundabsicht der vorliegenden Untersuchung. Daher haben wir in den §§ 17 und 18 den theoretischen Charakter der phänomenologischen Behandlungsart Husserls ausführlich erläutert, welche nur als Reflexion möglich ist. Dort haben wir gesagt, daß die Phänomenologie Husserls von der Leistung der Reflexion abhängt. Aber die Reflexion bildet nicht den einzigen theoretischen Charakter seiner Phänomenologie, sondern auch das, was Husserl innerhalb seiner transzendentalen Phänomenologie als Zugangsmethode bezeichnet, nämlich Reduktion und έποχή, ist theoretisch bestimmt. Daher haben wir gesehen, daß sich die angestrebte Suche nach einer strengen Wissenschaft bei Husserl im Entdecken einer erkenntnistheoretischen transzendentalen Wissenschaft vollendet. In diesem Sinne können wir sagen, daß jegliche Gestalt der Phänomenologie Husserls theoretisch bestimmt ist. An diesem Punkt tauchte eine entscheidende Frage auf: Wenn Heideggers hermeneutische Phänomenologie als eine α-theoretische Phänomenologie verstanden werden muß, wie entgeht sie dem theoretischen Charakter? Wie kann die Phänomenologie Heideggers α-theoretisch möglich sein? Die Antwort haben wir anhand der Entdeckung des vortheoretischen Umwelterlebnisses erläutert: Im vortheoretischen Umwelterlebnis hat Heidegger eine ursprünglichere Sphäre des Lebens und Erlebens gesehen, die in der philosophischen Tradition niemals gesehen und zum Ausgangsthema gemacht wurde. Die seit 1919 zum Vorschein gebrachte Analyse des Umwelterlebnisses bildet eine Grundeinsicht, die den weiteren philosophischen Weg Heideggers bestimmen w i r d . 1 9 7 Die Umweltanalyse in SuZ nimmt also ihren Ausgang bereits im KNS. Die Entdeckung des Umwelterlebnisses, im KNS am Beispiel des Kathedererlebnisses dargestellt, ermöglicht eine radikale Interpretation des Lebens und dementsprechend des „Zugangs" zu ihm. Im Umwelterlebnis geschieht ein Verstehen des Lebens, der Welt und des Umweltlichen. Das Leben läßt sich verstehend als in der Welt auffassen. Im Leben gehen wir verstehend mit den Dingen um. Der verstehende Umgang ist also die 197
Im nächsten Paragraphen werden wir sehen, wie die Kontinuität der Philosophie Heideggers sachgemäß verstanden werden muß.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Weise, in der wir alltäglich leben. In unserer Alltäglichkeit sind wir mit den Dingen irgendwie vertraut. Umgehend mit den vertrauten Dingen verstehen wir sie. Das Verstehen der Dinge geschieht aber als ein Verstehen von Bedeutungszusammenhängen, daher begegnen wir den Dingen zunächst nicht als isolierte Objekte, sondern als Bedeutsames. In unserem verstehenden Umgang „haben" wir zugleich auf irgendeine Weise uns selbst: es geschieht dabei ein Sichselbsthaben. Daher hebt Heidegger die Vertrautheit und das Sichselbsthaben als die zwei Grundcharaktere des Verstehens heraus. Das in dieser Weise charakterisierte Verstehen erweist sich als die primäre a-theoretische Auffassungsform des Lebens. Daher betrachtet Heidegger das Verstehen als die erste Stufe der phänomenologischen Methode im „Zugehen" auf das Leben. Daß das Verstehen im Umwelterlebnis nicht gelegentlich, sondern ständig geschieht, weist auf seinen ursprünglichen Charakter hin: „Das Umwelterleben ist keine Zufälligkeit, sondern liegt im Wesen des Lebens an und für sich; theoretisch dagegen sind wir nur in Ausnahmefällen eingestellt" (GA 56/57, S. 88). Das Theoretische ist also nicht das Primäre, sondern es taucht erst als eine Modifikation des vortheoretischen alltäglichen Lebens auf. In SuZ wird dies deutlich erläutert, indem der theoretische Zugang bzw. das theoretische Erkennen als ein Abkünftigkeitsmodus bzw. fundierter Modus des a-theoretischen Umgangs im § 13 erläutert wird. Aber wie entscheidend war für den weiteren philosophischen Weg Heideggers die Entdeckung der vortheoretischen ursprünglichen Lebenssphäre und diesbezüglich des a-theoretischen Zugangs zum faktischen Leben bzw. Dasein? Dies müssen wir näher betrachten.
b) Die seit dem KNS angedeuteten Grundeinsichten bezüglich der Umweltanalyse in SuZ Im Laufe der Untersuchung wurde klar, daß das primäre erlebende Verstehen des Umwelterlebens nicht am Wesen des Menschen als animal rationale orientiert ist, sondern am Wesen des Menschen als Existenz, um die Sprache von SuZ zu gebrauchen. Das Wesen des Menschen als das existierende Seinsverständnis läßt sich zunächst zur Abhebung bringen als das Sichverstehen des Umwelterlebens in seinem eigenen Sein und im Anschluß daran das Verstehen des Seins des Umweltlichen. Diese beiden Grundcharaktere des faktischen Lebens bzw. Daseins nehmen in SuZ ihre endgültige begriffliche Fassung an: In-der-Welt-sein. Der Titel des zweiten Kapitels von SuZ faßt die Grundeinsicht Heideggers zusammen: Das In-der-Welt-sein überhaupt als Grundverfassung des Daseins. Was aber bedeutet dies? Die Überschrift des Kapitels besagt, daß das In-der-Welt-sein als Sein bei den innerweltlichen Dingen schrittweise
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
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hermeneutisch analytisch freigelegt werden muß, ausgehend von einer hermeneutisch phänomenologischen Auslegung des Umwelterlebnisses oder des Sichverhaltens zur Umwelt und zu den umweltlichen Dingen. Und dies hat als Ausgang den § 12: Die Vorzeichnung des In-der-Welt- seins aus der Orientierung am In-Sein als solchem. Die Vorzeichnung, also die vorbereitende Kennzeichnung des In-der-Welt-seins als Grundverfassung des existierenden Daseins, soll sich leiten lassen von der ersten Orientierung am InSein aus dem In-der-Welt-sein. Nun stellen wir mit Heidegger die Frage: „Was besagt In-Seiriì " (SuZ, S. 53). Anhand dieser Frage können wir sagen, daß der erste Schritt für die hermeneutisch-phänomenologische Freilegung des Daseins in SuZ vom InSein ausgeht, wenn auch noch nicht vom vollen Phänomen des In-Seins, das als solches erst im fünften Kapitel entfaltet w i r d . 1 9 8 Die Analyse geht vielmehr von einem bestimmten Charakter dieses In-Seins aus, nämlich jenem, der sich als erstes Phänomen auf diesem Weg zeigt: der Seinsverfassung dessen, was wir bereits seit dem KNS als Umwelterlebnis kennen. Das Umwelterlebnis zeigt in sich eine bestimmte Seinsweise, und diese wird in SuZ unter dem Namen In-Sein zur Abhebung gebracht. Daher wird das InSein als das Vertrautsein mit der Umwelt und deren umweltlichen Dingen gekennzeichnet. Damit wird aus dem vortheoretischen Phänomen des Umwelterlebnisses ein Seinscharakter herausgehoben, nämlich der Charakter des Vertrautseins mit der Umwelt als dem Ganzen des Bedeutsamkeitszusammenhänge und den dazu gehörenden mannigfaltigen bedeutsamen umweltlichen Dingen. Diese zunächst aufgewiesene Seinsweise nennt die Weise, wie wir uns primär in der Welt bei den innerweltlichen Dingen befinden. Das In-Sein besagt also ein solches primäres Verhältnis zur Welt, das nicht kategorial, sondern existenzial 199 als ein Wohnen bei der vertrauten Welt gekennzeichnet werden kann. Diesen Einblick in den existenzialen Seinssinn des In-seins als Wohnen bei der vertrauten Welt bringt Heidegger in SuZ terminologisch in die Wendung „Sein bei" der Welt. Das „Sein bei" ist eine abschließende und endgültige terminologische Prägung für die gesamte Daseinsanalytik. 198
Daher trägt das fünfte Kapitel die Überschrift: Das In-Sein als solches. Im Laufe einer endgültigen formal-anzeigenden Begrifflichkeit unterscheidet Heidegger zwischen ,kategorial' und ,existenzial'. Ersteres bezieht sich auf die ontologische Verfassung des nichtdaseinsmäßigen Seienden, während letzteres nur für die Seinsverfassung des Daseins verwendet wird. Wie wir uns erinnern können, wurde diese Unterscheidung in den ersten Vorlesungen nicht durchgeführt, sondern ,kategorial' auch in bezug auf das faktische Leben verwendet. Obwohl hier also nicht begrifflich unterschieden wurde, wurde der Sache nach differenziert, daher hat Heidegger das in bezug auf das faktische Leben Kategoriale als interpretierend gesehen. Vgl. dazu den § 27 a) der vorliegenden Untersuchung. 199
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Die anfängliche Analyse des In-Seins geht zunächst im § 12 auf die Analyse der Seinsweise des vortheoretischen Umwelterlebnisses ein, während im § 15 vor allem die Analyse der a-theoretisch verstandenen Seinsverfassung des im Umwelterleben erlebten Umweltlichen ausgearbeitet wird. Bis zum § 12 wird das In-Sein zunächst formal als ein wohnendes Sein bei der vertrauten Welt („Sein bei") gekennzeichnet. Im § 12 hingegen ist dieses wohnende Sein bei der Welt differenzierter gefaßt. Dies wird anhand der folgenden Fragen zustande kommen: Worin besteht denn unser natürlich-alltägliches Wohnen bei der vertrauten Welt? Welches sind die Weisen, in denen wir uns bei der vertrauten Welt aufhalten? Diese Fragen betreffen nicht irgendeinen besonderen Bezirk oder Bereich des Daseins, sondern zielen auf seine Faktizität ab. Die Faktizität ist nicht als eine solche Tatsächlichkeit anzusehen, die sowohl dem Leben bzw. Dasein als auch dem nichtdaseinsmäßigen innerweltlichen Seienden zukommen könnte. Die Faktizität ist vielmehr, wie wir bereits im § 25 c) gesehen haben, eine ganz eigenartige, einzig dem Leben bzw. Dasein zukommende Tatsächlichkeit. Mit dieser daseinsmäßigen Tatsächlichkeit hat sich das „Inder· Welt-sein des Daseins [...] je schon in bestimmte Weisen des In-seins zerstreut [...]" (SuZ, S. 56) Unsere alltäglichen und natürlichen Verhaltungsweisen, in denen wir uns zur Welt und zu den innerweltlichen Dingen verhalten, sind Weisen des wohnenden Seins bei der vertrauten Welt. Es sind die spezifischen daseinsmäßigen Verhaltungsweisen, welche das Wie des Verhaltens des Daseins zur Welt ausmachen: Die Mannigfaltigkeit solcher Weisen des In-Seins läßt sich exemplarisch durch folgende Aufzählung anzeigen: zutunhaben mit etwas, herstellen von etwas, bestellen und pflegen von etwas, verwenden von etwas, aufgeben und in Verlust geraten lassen von etwas, unternehmen, durchsetzen, erkunden, befragen, betrachten, besprechen, bestimmen ... Diese Weisen des In-Seins haben die noch eingehend zu charakterisierende Seinsart des Besorgens. Weisen des Besorgens sind auch die defizienten Modi des Unterlassens, Versäumens, Verzichtens, Ausruhens, alle Modi des „Nur noch" in bezug auf Möglichkeiten des Besorgens (SuZ, S. 56 f.).
Die eigenartige Weise, wie wir uns natürlich-alltäglich zur Welt verhalten, soll durch den Terminus ,Besorgen 4 gekennzeichnet werden: Alle genannten Verhaltungsweisen und ihre mannigfachen Modifikationen haben den Grundcharakter des Besorgens. Aber was besagt Besorgen? Heidegger gibt weitere Hinweise: „Der Titel ist nicht deshalb gewählt, weil etwa das Dasein zunächst und in großem Ausmaß ökonomisch und praktisch' ist, sondern weil das Dasein selbst als Sorge sichtbar gemacht werden soll" (ebd.). Der Ausdruck ,Besorgen' gehört also zu dem im sechsten Kapitel von SuZ sichtbar gemachten ontologischen Strukturbegriff der ,Sorge' als dem
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
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Sein des Daseins. ,Sorge' darf hier nicht im Sinne von Sorge-haben, sondern muß als Sorge-tragen-für aufgefaßt werden. Das Dasein trägt im natlirlich-alltäglichen Vollzug seines Existierens Sorge für sein jeweiliges Sein seines In-der-Welt-seins und für die jeweilige Entdecktheit des innerweltlichen Seienden. M.a.W., in jeder einzelnen aufgewiesenen Verhaltungsweise zu der vertrauten Welt trägt das Dasein Sorge für das, wozu es sich verhält, also sein eigenes In-der-Welt-sein und die jeweilige Entdecktheit innerweltlicher Dinge. 2 0 0 An diesem Punkt taucht das Verhältnis zwischen dem „Sein bei" und dem Wobei sich das besorgende „Sein bei" aufhält auf; dieses Wobei ist eben das Zuhandene, das zuhandene Zeug als das Besorgte. Wir stehen also vor einer Korrelation. Die Korrelation ist weder eine solche, in der das eine aus dem anderen abgeleitet werden kann - es ist vielmehr eine gleichursprüngliche - , noch darf aber diese Gleichursprünglichkeit als ein Zusammen· Vorhandensein aufgefaßt werden. Die Korrelation ist eher ein seinsmäßiges Verhältnis, das Verhältnis zwischen dem seinsverstehenden besorgenden faktischen Leben bzw. Dasein und der verstandenen Seinsweise des Seienden, zu dem sich das Dasein verhält. Dieser zweiseitige Bezug ist ein existenzial-kategorial ontologischer, denn das seinsverstehende Besorgen ist ein existenziales Verständnis, während das, was verstanden wird, kategorialen Charakter hat.
200 Da unsere Untersuchung den Unterschied zwischen dem A-theoretischen und dem Theoretischen herausgehoben hat, müssen wir uns vor einigen verbreiteten Mißverständnissen hüten: 1. ,Besorgen' ist zwar als ontologischer Terminus erstmals eingeführt als die eigenste Seinsweise des Umwelterlebens, also als die Seinsweise des a-theoretischen Umgangs. Dadurch aber besteht die Gefahr, daß der Terminus »Besorgen' ausschließlich als Seinsweise für den hantierend gebrauchenden Umgang verwendet wird. Das würde bedeuten, daß der modifizierte theoretisch erkennende Zugang nicht dem Besorgen zugehöre. Dazu müssen wir folgendes sagen: ,Besorgen' ist die Seinsweise sowohl des atheoretischen Umgangs als auch des theoretischen Zugangs. Das theoretische Erkennen ist daseinsontologisch interpretiert auch ein besorgendes Entdecken. Das „Sein bei" aus der Sorge hat die Seinsweise des Besorgens, nicht nur des a-theoretischen „Sein bei" dem Umweltlichen, sondern auch des theoretischen „Sein bei" dem zu Erkennenden und Erkannten. ,Besorgen' ist also nicht ein anderes Wort für ,Umgang', sondern der a-theoretische Umgang ist eine Weise des Besorgens, ebenso wie der theoretische Zugang, obwohl letzterer ein modifizierter Modus des ersteren ist. 2. Wenn auch Erkenntnis hauptsächlich als die theoretische modifizierte Weise des Besorgens betrachtet wird, so heißt das umgekehrt nicht, daß der a-theoretische Umgang keine „Erkenntnis" hätte. Auch der hantierend gebrauchend besorgende Umgang ist nicht ohne Erkenntnis, aber diese „Erkenntnis" ist gänzlich anderer Struktur als der mehr oder weniger theoretisch bestimmte Begriff der Erkenntnis. Sie ist keine „Erkenntnis" im Sinne des abständigen Betrachtens oder einer irgendwie theoretisch affizierten Erkenntnis. Vielmehr erweist sie sich als die primäre Erkenntnis der umweltlichen Dinge überhaupt im Sinne des a-theoretischen Verstehens des Bedeutsamen.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Im vierten Kapitel des zweiten Abschnitts von S u Z 2 0 1 schreibt Heidegger: „Von dem rechtverstandenen Womit des Umgangs fällt auf den besorgenden Umgang selbst ein Licht" (SuZ, S. 352). Wann ist aber das Womit ein recht verstandenes? Dies hat Heidegger, wie wir ausführlich gesehen haben, seit den Dozenten-Vorlesungen vor Augen: Wenn es nicht primär als Erfahrungs- bzw. Wahrnehmungsding gesehen wird, auf das dann andere Auffassungscharaktere und Werte aufbauen. Das Womit des Umgangs ist überhaupt nicht ein Ding, das sich durch Materialität, Substantialität, Undurchdringlichkeit usw. auszeichnet, sondern zuhandenes Zeug bzw. Bedeutsames in einer Um-zu-Verweisung, die im § 18 von SuZ als Bewandtnis charakterisiert w i r d . 2 0 2 Wenn also gesehen wird, daß diese die primäre Seinsweise des innerweltlichen Seienden ist, dann hat man es mit einem rechtverstandenen Womit des Umgangs zu tun. Der Umgang ist ein Um-zuverstehendes Verhalten. Die Betonung liegt hier darauf, daß die Einsicht der phänomenologischen Analyse, das „Sein bei" als Verstehen der Um-zuVerweisung zu deuten, gerade im Ausgang vom innerweltlichen Seienden gelingt. Das Verstehen der Um-zu-Verweisung bzw. der Bewandtnis ist ein vorgängiges Seinsverständnis, das dem Begegnen des innerweltlichen Seienden ermöglichend vorangeht. Heidegger sagt nun: „Es gilt aber, darüber hinaus zu verstehen, daß der besorgende Umgang sich nie bei einem einzelnen Zeug aufhält. Das Gebrauchen und Hantieren mit einem bestimmten Zeug bleibt als solches orientiert auf einen Zeugzusammenhang" (ebd.). Es genügt nicht, den Zeugcharakter an einem einzelnen Zeug zu sehen, sondern es muß gesehen werden, daß das einzelne Zeug ontologisch in einen Zeugzusammenhang hineingehört. Ansatz dafür ist gerade die Um-zu-Verweisung: Ein Zeug verweist auf ein anderes; dieses wiederum auf ein anderes, d.h. es verweist in einen umfassenden Zeugzusammenhang. Jedes einzelne Zeug gehört wesentlich in ein Ganzes hinein und wird dementsprechend auch verstanden (im vortheoretischen Verständnis). In diesem Sinne ist „der Umkreis des Zeugganzen [...] schon vorentdeckt" (ebd.); dies bedeutet, daß der besorgende Umgang mit diesem und jenem zuhandenen Zeug sich bereits im Verständnis der Entdecktheit eines Zeugganzen bewegt; dieses Ganze ist vorentdeckt, also schon entdeckt für den Umgang mit diesem oder jenem. Das Vorentdecken des Zeugganzen bzw. Bewandtnisganzen kann aber nur als ein Herausheben aus der schon erschlossenen Bewandtnisganzheit geschehen. Heidegger differenziert zwischen Ganzem und Ganzheit; jenes meint den ontischen Zeugzusammenhang, diese die Erschlossenheit des
201
In diesem Kapitel wird die im ersten Abschnitt vorbereitete Fundamentalanalyse auf der höheren eigentlich ontologischen Basis der Zeitlichkeit wiederholt. 202 Vgl. SuZ, S. 84.
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
287
Welthorizontes. D.h., damit überhaupt ein Zeugganzes vorentdeckt sein kann für den entdeckenden Umgang mit diesem und jenem Zeug, muß schon der Welthorizont, die Bewandtnisganzheit, erschlossen sein. In diesem Sinne können wir anhand von SuZ dreierlei unterscheiden: 1. Das Entdecken des jeweilig besorgten Zeugs; 2. die Vorentdecktheit des Zeugzusammenhangs, oder, was dasselbe meint, des Bewandtnisganzen; und 3. die Erschlossenheit der Welt, d.h. der Bewandtnisganzheit. Wenn die Bewandtnisganzheit (Welt) als ein vorgängiges Verstehen der Bewandtnis geschieht, d. h. schon erschlossen sein muß, dann muß der Terminus ,Erschlossenheit' stets in bezug auf die Gegebenheitsweise der Welt und der zu ihr gehörenden Bewandtnisganzheit gebraucht werden. 203 Hier handelt es sich nicht mehr um einen ontologischen Charakter des nichtdaseinsmäßigen Seienden, sondern um einen ontologischen Charakter des Daseins. Anders gewendet: Entdecktheit bzw. Vorentdecktheit erweist sich als die vorprädikative Offenbarkeit des nichtdaseinsmäßigen Seienden, d.h. als ontologischer Charakter des Seienden. Erschlossenheit ihrerseits deutet auf die vorprädikative Offenbarkeit desjenigen Seienden, in welchem Sein aufgeschlossen wird, d.h. des faktischen Lebens bzw. Daseins. Erschlossenheit ist also ein ontologischer Charakter der seinsverstehenden Existenz. Im § 18 von SuZ wird Welt als die im Da des Daseins aufgeschlossene Ganzheit von Sinnbezügen, d.h. Um-zu, Wozu, Dazu, Um-willen gekennzeichnet. In dieser Hinsicht wird dort Welt Bedeutsamkeit genannt. Diesen Terminus kennen wir bereits seit den Dozenten-Vorlesungen. Obwohl dort der Unterschied zwischen Entdecktheit und Erschlossenheit nicht eigens ge-
203 Die begriffliche Unterscheidung zwischen Entdecktheit und Erschlossenheit wurde von Heidegger in SuZ nicht immer durchgehalten. Dies hat einige Mißverständnisse ausgelöst. Daher muß man bei der Lektüre den Kontext berücksichtigen, damit man sehen kann, ob Heidegger der Sache nach Bewandtnisganzes oder Bewandtnisganzheit bzw. Entdecktheit oder Erschlossenheit meint. Um diesen Unterschied sachgemäß durchführen zu können, müssen wir stets das vor Augen behalten, was Heidegger im § 18 von SuZ in bezug auf diese terminologische Unterscheidung festlegt. Er schreibt: „Das Bewendenlassen, das das Seiende auf Bewandtnisganzheit hin freigibt, muß das, woraufhin es freigibt, selbst schon irgendwie erschlossen haben" (S. 85). Dies deutet darauf hin, daß, damit ein Seiendes freigegeben werden kann, das Bewendenlassen als Bewandtnisverstehen die Bewandtnis aus der Bewandtnisganzheit bzw. Welt herausheben muß. Dies bedeutet, daß das Bewendenlassen die Bewandtnisganzheit schon irgendwie erschlossen haben muß. In diesem Sinne ist das genannte Woraufhin des Freigebens die Bewandtnisganzheit und dieses „kann selbst nicht als Seiendes dieser entdeckten Seinsart begriffen werden. Es ist wesenhaft nicht entdeckbar, wenn wir fortan Entdecktheit als Terminus für eine Seinsmöglichkeit alles nicht daseinsmäßigen Seienden festhalten" (ebd.).
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
macht wird, deutet bereits der Terminus Bedeutsamkeit auf ein vorgängiges Verstehen der Bewandtnis hin: „die Gegenstände einer Welt, die weltlichen, welthaften Gegenstände sind gelebt im Charakter der Bedeutsamkeit" (GA 61, S. 90). Der Sache nach ist der spätere eigens thematisierte Unterschied zwischen Entdecktheit und Erschlossenheit eine Konsequenz der hermeneutischen Einsicht, die seit dem KNS anhand des verstehenden Umwelterlebnisses freigelegt wurde. Die ausdrückliche Thematisierung dieses Marburger Vorlesungen und zwar als eine renz durchgeführt, da in der Unterscheidung schlossenheit der Unterschied zwischen Sein
Unterschieds wird erst ab den Gestalt der ontologischen Diffezwischen Entdecktheit und Erund Seiendem waltet.
Im nächsten Paragraphen wenden wir uns der Tragweite der Thematisierung der ontologischen Differenz zu, damit wir sehen können, wie das eindringliche weitere Fragen den weiteren philosophischen Weg differenziert hat. Dabei wird sich die eigentümliche methodische und sachliche Kontinuität der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers erweisen.
§ 30. Die methodische und sachliche Kontinuität des philosophischen Wegs Heideggers a) Vorbemerkung Bereits in der Einleitung (§ 2) haben wir einen vorläufigen Blick auf die Komplexität des philosophischen Wegs Heideggers geworfen. Dort haben wir bemerkt, daß zum sachgemäßen Verständnis seiner hermeneutischen Phänomenologie ein adäquates Verständnis des jeweiligen Ortes der philosophischen Themen gehört. Daß dies keine gleichgültige, unbedeutende Angelegenheit darstellt, zeigt sich daran, daß Versäumnisse in bezug auf diese Blickrichtung Anlaß für mannigfaltige Fehlinterpretationen in der Sekundärliteratur boten. Die Schwierigkeit eines angemessenen Verständnisses der philosophischen Thematisierungen Heideggers liegt darin, daß Heidegger in zwei Hinsichten manches voraussetzt: Einige Themen werden nicht nochmals betont, da sie bereits in vorigen Ausarbeitungen entfaltet wurden, andere absichtlich nicht erläutert, weil ihre ausführliche Ausarbeitung an späterer Stelle erfolgen soll. Wenn dies bei der Lektüre der Heideggerschen Texte nicht berücksichtigt wird, liegt die Gefahr nahe, Heideggers Ausarbeitungen als verschiedene verselbständigte Thematisierungen zu betrachten und dementsprechend seinen philosophischen Weg bloß als eine „Summe" verschiedener Themen aufzufassen. Inwiefern aber die Themen ineinander verschlungen sind, wird
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
289
dabei überhaupt nicht gesehen. Unsere Untersuchung ging nicht von dieser leichten Interpretation aus, sondern von der schwierigen, die die Kontinuität des Wegs anhand eindringenden Fragens begreift, und nur so wurde die Zusammengehörigkeit der Themen sachgemäß nachgewiesen. Die Schwierigkeit, die veröffentlichten Abschnitte von SuZ angemessen zu betrachten, besteht darin, daß SuZ die in zwei Hinsichten erläuterten Voraussetzungen enthält: einerseits werden einige Analysen nicht wiederholt, weil sie bereits in frühen Vorlesungen ausgearbeitet wurden. Die formale Anzeige stellt ein deutliches Beispiel dafür dar. 2 0 4 Andererseits gehören einige angesprochene Themen zu SuZ im weiten Sinne, d.h. sie wurden in den veröffentlichten zwei Abschnitten nicht ausgearbeitet, weil sie ihren eigentlichen Ort erst im 3. Abschnitt, Zeit und Sein, erhalten sollten. Dies trifft auf die Thematisierung der ontologischen Differenz und der Transzendenz zu. In der Einleitung (§ 2 b) haben wir von SuZ in dreifachem Sinn gesprochen: SuZ im engeren Sinne deutet auf den 1927 veröffentlichten 1. und 2. Abschnitt hin: Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins und Dasein und Zeitlichkeit. Als SuZ im weiten Sinne wird dagegen das gesamte Werk anhand des im § 8 des 1. Abschnitts geplanten Aufrisses charakterisiert. SuZ im weiteren Sinne ist der Titel für die transzendental-horizontal verfaßte Zusammengehörigkeit vom Sein und Dasein. 205
b) Ontologische Differenz und transzendentaler Horizont Aufgrund dieser Bemerkungen können wir zu der im vorangegangenen Paragraphen angedeuteten ontologischen Differenz zurückkehren: Deren ausdrückliche Thematisierung gehört zu SuZ im weiten, nicht aber im engeren Sinne. Daher finden wir ihre ausdrückliche Ausarbeitung erst in der Marburger Vorlesung vom SS 1927, ,Die Grundprobleme der Phänomenologie 4 , und später in dem Husserl gewidmeten Aufsatz ,Vom Wesen des Grundes 4 (1929). Daß die Thematisierung der ontologischen Differenz ihren Ort in den genannten Texten hat, besagt indes nicht, daß sie im veröffentlichten Teil von SuZ völlig ausgeblendet wäre, sondern nur, daß sie ihren thematischen Ort nicht im 1. und 2., sondern im 3. Abschnitt hat. Bekannt ist, daß der 3. Abschnitt Zeit und Sein in seiner ersten Ausarbeitungsstufe von Heidegger selbst vernichtet wurde. Die Vorlesung vom SS 1927 ,Die Grundprobleme der Phänomenologie' ist aber Heideggers eigenem Zeugnis zufolge die neue Ausarbeitung des vernichteten 3. Abschnitts: 204 205
Ferner vgl. § 28 der vorliegenden Arbeit, letzte Fußnote. Vgl. dazu v. Herrmann, Wahrheit-Zeit-Raum, S. 144.
19 Xolocotzi
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Aber der eigentliche „systematische" Abschnitt über Zeit und Sein blieb in der ersten Ausführung unzureichend und äußere Umstände (das Anschwellen des Jahrbuchbandes) verhinderten zugleich glücklicherweise die Veröffentlichung dieses Stückes, zu der ohnehin beim Wissen um das Unzureichende kein großes Vertrauen war. Der Versuch ist vernichtet, aber sogleich auf mehr geschichtlichem Wege ein neuer Anlauf gemacht in der Vorlesung vom S.S. 1927 (GA 66, S. 413 f . ) . 2 0 6
Ein sachgemäßes Verständnis der ontologischen Differenz können wir folgendermaßen ausdrücken: Damit ich mich im verstehenden besorgenden Umgang mit dem Umweltlichen verhalten kann, muß ich einen Unterschied vollziehen. Das bereits entfaltete Umwelterlebnis muß sich wesenhaft in diesem Unterscheiden halten: im Unterschied zwischen der im Seinsverständnis geschehenden Erschlossenheit des Seins und der im Sichverhalten zu Seiendem geschehenden Entdecktheit des Seienden. Während in den fFV und in SuZ (im engeren Sinne) der Schwerpunkt auf der Enthüllung des seinsverstehenden Daseins als In-der-Welt-seins liegt, also vorwiegend auf dem Weltverständnis, wird das Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden, zu dem sich das Dasein verhält, im 3. Abschnitt Zeit und Sein ausdrücklich entfaltet. Mit der Thematisierung des Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden wird zugleich der Boden für die ausdrückliche Thematisierung der ontologischen Differenz vorbereitet. An dieser Stelle müssen wir uns vor dem Mißverständnis hüten, die ontologische Differenz als ein neues Thema in Heideggers Philosophie zu betrachten. Die ontologische Differenz im Charakter des Unterscheidenkönnens wird vielmehr bereits in den Analysen des Umwelterlebnisses bzw. in der Umweltanalyse vorausgesetzt, auch wenn sie noch nicht eigens herausgehoben wird. Das eindringende Fragen Heideggers bezüglich der ontologischen Differenz führt zur Frage nach dem Können des Unterscheidens. Da das Unterscheidenkönnen als existierendes Seinkönnen zu denken ist, schreibt Heidegger in VWG, daß der Grund des Unterscheidenkönnens im Grunde des existierenden Seinkönnens gesucht werden muß (GA 9, S. 134). In diesem Sinne muß das faktische Leben bzw. das seinsverstehende Dasein „die Wurzel seiner eigenen Möglichkeit" im Grunde seines Wesens haben. Die Wurzel der Ermöglichung ist aber nicht im Wesen des faktischen Lebens bzw. Daseins zu suchen, sondern im Grunde des Wesens des Daseins. Daher können wir zwischen dem Wesen des Daseins und dem Grunde des Wesens des Daseins unterscheiden. Ersteres wird im § 9 von SuZ deutlich als Existenz angesprochen, während das zweite in V W G aus-
206 Vgl. dazu v. Herrmann, Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie". Zur „Zweiten Hälfte" von „Sein und Zeit", Frankfurt a.M., 1991.
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
291
drücklich als Transzendenz gekennzeichnet w i r d . 2 0 7 Wir müssen diesen Zusammenhang näher betrachten. Im § 9 von SuZ schreibt Heidegger: „Das ,Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz" (SuZ, S. 42). Im vorigen Absatz schreibt er statt Existenz Zu-sein. Daß das Dasein sein existenziales Wesen im Zu-sein hat, 2 0 8 muß in einer zwiefachen Struktur gesehen werden: im geworfenen Entwurf bzw. im überantworteten Seinsverhältnis. Im § 4 von SuZ deutet Heidegger bereits auf das hin, was er später als Entwurf charakterisieren wird: „es [geht] diesem Seienden [Dasein, Α. X.] in seinem Sein um dieses Sein selbst [...] Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat" (SuZ, S. 12). Daß das Dasein zu sein hat, muß zum einen als dieses Sichverhalten zu seinem Sein verstanden werden, also als Entwurf. Aber daß ich in meinem Sein ein Verhältnis zu meinem Sein habe, ist nicht von mir aus bestimmt, sondern ich finde mich in dieses Seinsverhältnis versetzt: Ich bin diesem meinem Sein als Seinsverhältnis übergeben, überantwortet. M.a.W.: sofern und solange ich bin, bin ich in diesem ich-bin so, daß ich mich in meinem Sein zu meinem Sein vollzugshaft verhalten muß. Und dieses vollzugshafte Verhaltenmüssen weist auf den anderen Sinn von zu in Zu-sein hin: auf die Geworfenheit. In meinem Mich-in-meinem-Sein-zu-meinem-Sein-verhalten-müssen, also in meiner Existenz verhalte ich mich in meinem seinsverstehenden Sein so, daß durch dieses Verhalten das Sein, was ich in meinem Seinsverständnis verstehe, aufgeschlossen bzw. erschlossen wird. Diese Erschlossenheit des Seins ist aber nicht nur die Aufgeschlossenheit meiner Seinsweise als Existenz, sondern zugleich des Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden, zu dem ich mich in meinem entdeckenden Verhalten verhalte. Beim KuchenBacken verstehe ich nicht nur mein Sein als überantwortetes Seinsverhältnis, sondern zugleich das Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden wie Mixer oder Tisch als Zuhandensein. Daher spricht v. Herrmann mit Recht von einer zwiefachen Erschlossenheit des Seins: Zum einen von der Erschlossenheit meiner Existenz als eine selbsthaft-ekstatischen Erschlossenheit und zum anderen von der Erschlossenheit des Seins des nichtdaseins207 Vgl. GA 9, S. 35. Ferner vgl. GA 24, S. 89 ff. Eine erhellende Analyse der Transzendenz entfaltet Heidegger in seiner Vorlesung vom WS 1928/29 , Einleitung in die Philosophie', GA 27, bes. §§ 28, 29, 36-38. 208 Mit existenzialem Wesen weisen wir auf den eigengearteten Wesensbegriff hin, den Heidegger durch die Anführungszeichen des Wortes „Wesen" im Zitat beabsichtigt. Existenziales Wesen meint denjenigen Wesensbegriff, der immer nur aufgrund der Existenz als Seinsweise des Menschen geschöpft ist, nicht aufgrund des überlieferten Wesensbegriffs als essentia, welcher die kategoriale Washeit der Dinge meint. Existenziales Wesen muß also bei Heidegger stets vom essentialen kategorialen Wesensbegriff der Tradition abgegrenzt werden. 19*
292
2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
mäßigen Seienden als einer horizontalen Erschlossenheit. 209 Diese ganzheitliche Erschlossenheit steckt im Terminus ,Dasein': Im ,Da-' des ,Daseins' ist die ganzheitliche Erschlossenheit des Seins überhaupt zu denken, während im ,-sein' des ,Daseins' die Existenz als die selbsthaft-ekstatische Erschlossenheit gemeint i s t . 2 1 0 In einer Marginalie zum Wort Sein im § 9 von SuZ deutet Heidegger darauf hin: „Welches? Das Da zu sein und darin das Seyn überhaupt zu bestehen" (SuZ, S. 42, Randbem. a). Weiter oben haben wir bemerkt, daß wir in unserem alltäglichen Verhalten den Unterschied zwischen dieser zwiefachen Erschlossenheit und der Entdeckung des Seienden vollziehen, also die ontologische Differenz als Unterscheidenkönnen. Ferner haben wir angedeutet, daß sich das eindringende Fragen Heideggers auf den ermöglichenden Grund dieses Unterscheidenkönnens richtet. Dieser wird im Grunde des Wesens des Daseins aufgefunden: als Transzendenz im Sinne von Übersteigen. Das Dasein ist in seinem Unterscheidenkönnen, in seinem seinsverstehenden Existieren, immer schon übersteigend: es übersteigt das Seiende auf die Erschlossenheit des Seins hin und kommt von dieser geworfenen-entworfenen Erschlossenheit des Seins zurück auf das Seiende im vorprädikativen Entdecken des Seienden. Erst wenn sich diese Transzendenzbewegung als Ganzes vollzogen hat, können wir dem Seienden als dem Seienden begegnen, es als offenbar entdecken. Formal kann der Überstieg des Transzendierens als eine dreigliedrige „Beziehung" aufgefaßt werden: von, zu und etwas, d.h. „von" etwas „zw" etwas, wobei „etwas" überstiegen wird. Das von meint das, was übersteigt, das Transzendierende, d.h. das Dasein selbst. Das zu ist das Woraufhin, auf das das Dasein übersteigt: die Erschlossenheit des Seins. Das, was überstiegen wird, ist das Seiende, aber noch nicht als Seiendes; erst im zur Transzendenz gehörenden Rückgang wird das Seiende als Seiendes entdeckt. Aufgrund des Entfalteten können wir sehen, daß, damit ich in meinem besorgenden Umgang ein Seiendes als Seiendes entdecken kann, ich sowohl der Erschlossenheit des Seins dieses Seienden als auch der übersteigenden Bewegung des Existierens bedarf. Ersteres haben wir als die horizontale Erschlossenheit bzw. den Horizont bezeichnet, das zweite als die transzendentale Bewegung bzw. die Transzendenz. Transzendenz und Horizont sind also die Begriffe, in welchen Heidegger in einem ersten, und zwar fundamentalontologischen Versuch, den Grund des Wesens des Daseins denkt. Anders gewendet: Der transzendentale Horizont ist der fundamentalontologische Grund des Wesens des Daseins.
209 210
Vgl. v. Herrmann, HuR, S. 141. Vgl. v. Herrmann, SuD, S. 21; ders., HuR, S. 142.
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
293
Im transzendentalen Horizont denkt Heidegger, wie v. Herrmann bemerkt, die fundamentalontologische Zusammengehörigkeit von Dasein und Sein: Im Horizont zeigt sich der Bezug der Wahrheit des Seins zur Existenz des Daseins, während sich in Transzendenz das Wesensverhältnis der Existenz zur Wahrheit des Seins zeigt. 2 1 1 An dieser Stelle müssen wir einige Punkte herausheben: 1. Wir müssen zwischen der Frage nach dem Wesen des faktischen Lebens bzw. Daseins und der Frage nach dem Grund des Wesens des Daseins unterscheiden. 2. Die Frage nach dem Wesen des faktischen Lebens bzw. Daseins nimmt ihren Ausgang in den fFV und findet ihre Konkretion in der Daseinsanalytik in SuZ (im engeren Sinne). 3. Die Frage nach dem Grund des Wesens des Daseins gehört ausdrücklich in die Thematik des 3. Abschnitts von SuZ: Zeit und Sein. 4. Der transzendentale Horizont als Grund des Wesens des Daseins ist also die fundamentalontologische Auslegung der Zusammengehörigkeit von Dasein und Sein. Wenn wir uns diese Unterscheidung zwischen dem Wesen des Daseins und dem Grund des Wesens des Daseins stets vor Augen halten, können wir sachgemäß den zweiten Ausarbeitungsweg der Seinsfrage, dem Heidegger folgt, besser verstehen. Anders gewendet: Diese Unterscheidung können wir als ein Hilfsmittel für die sachgemäße Betrachtung des Übergangs von der Fundamentalontologie zum seynsgeschichtlichen Denken verwenden. Weiter oben haben wir gesehen, daß eine es sich leicht machende Interpretation den philosophischen Weg Heideggers als durch „Phasen" oder „Themenwechsel" gekennzeichnet auslegt. Das seynsgeschichtliche Denken wird gemäß dieser Sichtweise meistens als ein neuer Versuch Heideggers gesehen, der das Vorangegangene völlig zurückweist. Diese Interpretation sieht keine Kontinuität im philosophischen Weg Heideggers, sondern Heidegger soll die Fundamentalontologie als Ganzes verlassen haben. Eine sachgemäße, schwierigere Interpretation des Wegs Heideggers verlangt eine genauere Untersuchung beider Ausarbeitungsgestalten der Seinsfrage. Das Ergebnis führt uns unumgänglich zu der Tatsache, daß Heidegger die Fundamentalontologie im allgemeinen nicht zurückweist, sondern nur die horizontal-transzendentale Auslegung des Seinsverständnisses. 212 211
Vgl. v. Herrmann, Daseinsanalyse und Ereignisdenken, in: Daseinsanalyse 12 (1995), S. 6-17. Hier bes. S. 8; ders., Wahrheit-Zeit-Raum, S. 244; ders., Heideggers Philosophie der Kunst, S. 14; ders., WiE, S. 44 ff. 212 Diese Grundeinsicht verdanken wir F.-W. v. Herrmann, der in verschiedenen Ausarbeitungen das Wesentliche diesbezüglich aufgewiesen hat. Den Übergang von der Fundamentalontologie zum seynsgeschichtlichen Denken hat er bereits 1961 in seiner Dissertation ,Die Selbstinterpretation Martin Heideggers' sachgemäß behandelt. Er hat dort trotz der begrenzten Literatur (,Die Grundprobleme der Phänomenologie' und die ,Beiträge zur Philosophie' waren noch unzugänglich), eine grund-
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
M.a.W.: Nicht die in der Fundamentalontologie gewonnenen Analysen bezüglich der Frage nach dem Wesen des Daseins werden aufgegeben, sondern nur die Ausarbeitungen bezüglich der Frage nach dem Grund des Wesens des Daseins, also des transzendentalen Horizonts. Heidegger selbst hat darauf hingewiesen, daß es nur der transzendentale Horizont ist, was im seynsgeschichtlichen Denken aufgegeben wird. In den Beiträgen zur Philosophie schreibt er: „Da nun aber das Da-sein als Dasein ursprünglich das Offene der Verbergung besteht, kann streng genommen von einer Transzendenz des Da-seins nicht gesprochen werden; im Umkreis dieses Ansatzes muß die Vorstellung von „Transzendenz" in jedem Sinne verschwinden" (GA 65, S. 217). In einer Randbemerkung zu SuZ schreibt Heidegger in bezug auf den geplanten 3. Abschnitt Zeit und Sein folgendes: „Die Überwindung des Horizonts als solchen. Die Umkehr in die Herkunft. Das Anwesen aus dieser Herkunft" (SuZ, S. 39, Randbem. b). Die gewonnenen Strukturen des Daseins, die in der Frage nach dem Wesen freigelegt wurden, werden durch das Aufgeben des fundamentalontologischen Grundes, d. h. des transzendentalen Horizonts, nicht ebenso schlechthin fallengelassen. Vielmehr werden sie anhand einer ursprünglicheren Frage nach dem Grund des Wesens im seynsgeschichtlichen Denken uminterpretiert. Wenn in der Fundamentalontologie das Wesen des Daseins seinen Grund in Transzendenz und Horizont hat, also im transzendentalen Horizont, dann wird dieses Wesen jetzt in der seynsgeschichtlichen Blickbahn in seinem ereignenden Grund enthüllt. Im seynsgeschichtlichen Denken steht die jetzt geschichtlich erfahrene Wahrheit des Seyns als ereignender Zuwurf im Bezug zum seynsverstehenden Dasein, das sich als „ereignet" geworfenes Dasein expliziert. Der Bezug der Wahrheit wird gedacht als Zuwurf für das Dasein. Dasein ist aus diesem Zuwurf der Wahrheit des Seyns geworfen in die sich zuwerfende Wahrheit des Seyns. Der Übergang von der Fundamentalontologie zum seynsgeschichtlichen Denken wurde von Heidegger als Kehre bezeichnet. Bereits v. Herrmann und Coriando haben die verschiedenen Weisen, in welchen Heidegger den Terminus , Kehre 4 verwendet, nachgewiesen, 213 so daß die übliche Rede legende Untersuchung durchgeführt, die die Kontinuität des denkerischen Wegs Heideggers adäquat dargestellt hat. Die damalige Sekundärliteratur hatte dies nicht gesehen. In seiner Dissertation hat v. Herrmann den Übergang als eine umdeutende Interpretation ausgelegt; in späteren Ausarbeitungen hat er diesen in einer gewandelten begrifflichen Weise als immanenten Wandel wiedergegeben, vgl. z.B. WiE, S. 6. 213 F.-W. v. Herrmann, Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers Begriff der Kehre, in: WiE, S. 64-84; P.-L. Coriando, Der letzte Gott als Anfang, bes. §§ 4-6. Ferner vgl. Kalariparambil § 30; I. Augsberg,
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6. Kapitel: Rückblick und Ausblick von Heidegger
vor und nach der Kehre „eine äußerliche und unsachgemäße
Redeweise" i s t . 2 1 4 A n dieser Stelle beziehen w i r uns nur auf die Kehre den Übergang von der Fundamentalontologie
zum
als
seynsgeschichtlichen
Denken und nicht auf die anderen Bedeutungen von Kehre (1.- der Wendepunkt von SuZ (1. und 2. Abschnitte) z u m 3. Abschnitt Zeit und Sein, 2.die Kehre i n die Metontologie bzw. metaphysische Ontik). Kehre
als eine Bezeichnung des Wandels von der Fundamentalontologie
z u m seynsgeschichtlichen Denken sollte nach dem bereits Erläuterten als das Aufgeben des fundamentalontologischen Grundes, also des transzendentalen Horizonts, und das Aufnehmen des ereignenden Grundes verstanden werden. Eine ausführliche Thematisierung der Kehre
sprengt den Rahmen
unserer Untersuchung; es genügt hier nur anzudeuten, daß ein rechtmäßiges Verständnis der Kehre zwei Interpretationsirrtümer vermeiden muß: 1. W i e w i r weiter oben gezeigt haben, darf die Kehre
auf keinen Fall als ein
„ B e w e i s " für das „Scheitern" der Fundamentalontologie bzw. von SuZ ausgelegt werden, w i e einige Kommentatoren meinen. 2. W i r d diese Fehlinterpretation durchgeführt, dann begeht man einen weiteren Interpretationsirrtum, wenn man die Kehre als eine bloße „ R ü c k k e h r " zu den i n den fFV entdeckten Einsichten betrachtet. 2 1 5 „Wiederbringung des Seienden". Studien zur ontologischen Differenz im seinsgeschichtlichen Denken Martin Heideggers, Diss. Freiburg i.Br., 2000, bes. §§ 7b und 9c. 214 v. Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst, S. X I V . 215 T. Kisiel ist es, der beide Mißverständnisse vertritt. Er hat in verschiedenen Ausarbeitungen (allen) diesen doppelten Interpretationsfehler begangen. Als Beispiel nehmen wir ein Zitat aus einem 1996 erschienenen Aufsatz: „With the Turn, the exaggerated claims for the scientific Charakter of Philosophy give way to the judgment that the book Being and Time was an aberrant way to the one topic of philosophy and thought. When Heidegger first realizes that Being and Time was a failed project, he then re-turns to earlier insights left unpursued in order to begin again. This Re-turn is the real meaning of his self-professed and much discussed „Turn". Thus the theme of es weitet first sounded in 1919 resounds again 1929: das Ereignis reappears in the following decade with an ever increasing insistance. The Book of Genesis of Being and Time must therefore conclude by following the same trajectory, going beyond Being and Time by going back to its most incipient beginning in Kriegsnotsemester 1919" (The Genesis of Being and Time. The Primal Leap, in: L. Langsdorf und S. Watson (Hrsg.), Phenomenology, Interpretation, and Community, S. 35). Dazu ist folgendes zu sagen: Bereits in der Einleitung (§ 2) haben wir auf die sachgemäße Betrachtung der frühen Vorlesungen hingewiesen. In dieser Hinsicht haben wir bemerkt, daß SuZ auf keinen Fall als ein „failed project" betrachtet werden kann. Daß ein Wechsel der Blickbahn geschieht, bedeutet nicht, daß die erste Blickbahn, in welcher SuZ entfaltet wurde, völlig verworfen wird oder als ein „aberrant way" zu sehen ist. Im seynsgeschichtlichen Denken wird vielmehr die Frage nach dem Sein deutlicher begriffen, dabei aber die horizontal-transzendentale
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Dazu läßt sich folgendes sagen: Mit dem bisher Entfalteten sollte klar sein, daß das, was Heidegger in den fFV eigens zum Aufweis bringt, sich auf das Wesen des faktischen Lebens bzw. Daseins bezieht und nicht ausdrücklich auf den Grund des Wesens des Daseins. Die ausdrückliche Thematisierung des Grundes des Wesens des Daseins gehört in die Thematik des 3. Abschnitts von SuZ, daher wird sie erst in den Marburger Vorlesungen vollzogen. Dieser Grund wird im seynsgeschichtlichen Denken aufgegeben. Das Wesen des Daseins, die wesentlichen Existenzstrukturen, werden dagegen niemals aufgegeben, sondern nur ursprünglich umgedeutet, indem die Geworfenheit des Daseins in ihrer Herkunft aus dem ereignenden Zuwurf erfahren wird. In diesem Sinne kann die Kehre nicht als „Rückkehr" zu den frühen Einsichten gesehen werden, weil diese seit dem KNS freigelegten Grundeinsichten in das Wesen des faktischen Lebens bzw. Daseins niemals fallen gelassen wurden. Die wesentlichen Existenzstrukturen des Daseins werden in der Kehre bewahrt, auch wenn sie in ursprünglicherer Weise enthüllt werden. Wenn wir uns dies für die Interpretation der Kehre vor Augen halten, werden wir vermeiden, den Zusammenhang zwischen dem seynsgeschichtlichen Denken und den fFV lediglich anhand der terminologischen Ähnlichkeiten herzustellen, wie einige Autoren dies t u n . 2 1 6 In diesem Sinne decken sich ,Ereignis 4 , ,es weitet 4 , usw. im seynsgeschichtlichen Denken nicht mit ,Ereignis 4 , ,es weitet 4 , usw. der fFV. 2 1 7 Letzteres bezieht sich auf die we-
Perspektive der Fundamentalontologie verlassen. Dies besagt aber nicht, daß die Grundstrukturen des Daseins, die in der Fundamentalontologie freigelegt werden, schlechthin als ein „Scheitern" gesehen werden dürfen. Sondern sie bleiben in der neuen Blickbahn erhalten, werden jedoch in einer ursprünglicheren Weise ausgelegt. Viele Kommentatoren sehen leider diese Grundtatsache nicht und gehen interpretierend auf den leichten Weg des „Scheiterns" ein. Es ist schwierig, eine angemessene Betrachtung beider Blickbahnen zu gewinnen. Dies ist besonders v. Herrmann und P. Emad in verschiedenen Ausarbeitungen gelungen (vgl. z.B. v. Herrmann, Die Selbstinterpretation; ders., WiE, S. 5 ff., 64 ff.; ders., Wahrheit-Zeit-Raum, ders., Die „Beiträge zur Philosophie"; ders., Daseynsanalyse und Ereignisdenken; P. Emad, ,Heidegger Γ , ,Heidegger II', and Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), ders., A conversation with Friedrich-Wilhelm von Herrmann on Heidegger's Beiträge zur Philosophie). 216 Leider ist dies auch die Meinung Gadamer s. Er schreibt in bezug auf die Aussage „es weitet": „Auch das war die Kehre vor der Kehre", (GW 3, S. 423). An anderer Stelle heißt es: „Die Geschichte lehrt, was mir in den letzten Jahrzehnten zunehmend klarer wird, daß Heideggers sogenannte „Kehre" eigentlich nur die Rückkehr zu seiner eigentlichen Intention war, die er manchmal schon in der jugendlichen inneren Auseinandersetzung mit Husserl antizipiert hat. So erinnere ich mich wieder daran, daß der junge Heidegger bereits 1920 vom Katheder den Ausdruck gebraucht hat: ,es weitet'" (GW 10, S. 10 f., f.g.v.m.). 217 Die Rede von weiten und Ereignis in den fFV ist nicht im Sinne des späten Heidegger zu verstehen. Daß die Erlebnisse als Ereignisse zu sehen sind, oder daß
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
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sentlichen Strukturen des Daseins, welche in der Fundamentalontologie anhand von Transzendenz und Horizont interpretiert wurden. Ersteres ist innerhalb des seynsgeschichtlichen Denkens in der Zusammengehörigkeit von ereignendem Zuwurf und ereignetem Entwurf anzusetzen. In der Hermeneutik des faktischen Lebens wird nur die Geschichtlichkeit des Lebens ausgelegt, während im seynsgeschichtlichen Denken die Geschichtlichkeit der Wahrheit des Seyns selbst im Blick steht. Nach dem hier Erläuterten können wir die Rede vom einheitlichen philosophischen Weg Heideggers besser verstehen. Um einen deutlicheren Ausblick zu bekommen, wenden wir uns abschließend der Möglichkeit dieser sowohl methodischen als auch sachlichen Kontinuität und einigen jüngeren Mißinterpretationen in der Heidegger-Forschung zu.
c) Die sachgemäße Betrachtung der methodischen Kontinuität Die Frage, wie der philosophische Weg Heideggers hinsichtlich der Methode zu verstehen sei, ist in der Sekundärliteratur hauptsächlich in zwei Richtungen ausgelegt worden: 1. Die Hermeneutik Heideggers hat oder gewinnt, methodisch gesehen, von Anfang an eine Distanz gegenüber der Phänomenologie Husserls. In diesem Sinne können wir von der Selbständigkeitsinterpretation der Heideggerschen Methode sprechen. 2. Die Hermeneutik Heideggers bleibt in verschiedenen Hinsichten abhängig von der Phänomenologie Husserls. In diesem Fall sprechen wir von der Unselbständigkeitsinterpretation. Ad 1. Mit der Rede von einer „absoluten Distanz" hat die Sekundärliteratur bereits den entscheidenden Unterschied zwischen Heidegger und Husserl verfehlt. Der Zusammenhang zwischen der Phänomenologie und der Hermeneutik wird nur äußerlich betrachtet, aber die tatsächliche Umwandlung der Phänomenologie seitens Heideggers und die Grenzen der reflexivtranszendentalen Phänomenologie Husserls werden dabei nicht sachgemäß das Leben sich ereignet, muß im Kontext gesehen werden, nämlich im Kontext des Versuchs Heideggers, das Ursprünglichste des Lebens herauszuheben und den Unterschied zu den lebensphilosophischen und derartigen theoretischen Interpretationen zu betonen. Im KNS steht deutlich das Wort Ereignis als Gegenbegriff zu Vor-gang. Dies besagt, daß das Leben nicht vor-geht, sondern daß ich mir das Leben er-eigne und daß das Leben sich seinem Wesen nach er-eignet. Es geht bei Heidegger demnach um ein er-eignendes atheoretisches Leben und nicht um ein vor-gehendes theoretisches. Der Ereignischarakter des Lebens deutet in den frühen Vorlesungen auf die ständige Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls hin. Das ereignende Leben unterscheidet sich bereits vom Bewußtseinsansatz Husserls. Wenn all diese kontextuellen Heraushebungen nicht gesehen werden, dann gelangt man zu den gleichen Interpretationsfehlern wie dem der „Rückkehr".
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
gesehen. Daher finden wir hier Interpretationen, die meinen, daß Heidegger sich von Hause aus „außerhalb der Phänomenologie" befände, 218 da seine Grundeinsichten „unvereinbar" mit den Grundprinzipien der Phänomenologie seien. Andere Interpreten sehen eine bestimmte „Entwicklung" innerhalb seiner Philosophie, daß nämlich eine allmähliche Distanzierung von den Grundeinsichten der Phänomenologie erfolge. 219 Femer ist es eine verbreitete Meinung, daß diese „Distanzierung" datierbar sei: Der endgültige Abschied Heideggers von der Phänomenologie fände mit seiner 1929 gehaltenen Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? statt. 2 2 0 In diesen Interpretationen wird die Methode Heideggers als selbständig betrachtet. Sie sei befreit oder gewinne zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre „Befreiung" von der Phänomenologie. Weiter unten werden wir sehen, in welcher Weise eine solche Selbständigkeitsinterpretation eine Fehldeutung ist. Ad 2. Andere Kommentatoren sehen dagegen keinen Abschied von Husserls Phänomenologie, sondern betrachten diese im Gegensatz dazu in bestimmter Weise als konstitutiv für die Hermeneutik Heideggers. Aber hier müssen wir nach der Art des Konstitutiv seins fragen. Diese Frage wird in der Sekundärliteratur vielfältig (miß)interpretiert. Manche Autoren sehen die Abhängigkeit der Hermeneutik Heideggers darin, daß diese ausschließlich auf der Basis der reflexiv-transzendentalen Phänomenologie Husserls stattfinden könne. Einige davon betonen dabei die Rolle der Reflexion bei Heidegger, 221 andere die Notwendigkeit der transzendentalen Phänomenologie für das Ermöglichen der hermeneutischen Phänomenologie. 222 Zu Letzterem gehört die berühmte (aber inadäquate) Interpretation Merleau-Ponty s. 218
Dies ist die Interpretation von Josefina Garcia Gainza in , Heidegger y la cuestión del valor', S. 190 f. 2,9 Diese Einsicht wird besonders von R. Rodriguez in ,Hermenéutica y Subjetividad', S. 88 und 92 f. und F. Gii Ville gas in ,Los Profetas y el Mesias. Lukâcs y Ortega corno precursores de Heidegger en el Zeitgeist de la Modernidad (19001929)', S. 456, vertreten. 220 Hier finden wir besonders die Interpretation Pöggelers in ,Der Denkweg', S. 79; J. C. Morrisons in ,Husserl and Heidegger: The parting of the ways', S. 49 und C. Jammes in ,Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik', S. 89. Diese Interpretationen gehen auf den 1953 erschienenen Aufsatz von Walter Schulz, ,Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers' zurück. Schulz sieht SuZ als ein Erbe des Deutschen Idealismus bzw. als ein „Werk der Philosophie der Subjektivität" (S. 79). Erst in ,Was ist Metaphysik?' mache Heidegger einen „weiteren Schritt", in: Philosophische Rundschau 1 (1953), S. 65-93. 221 So z.B. in dem Aufsatz S. Crowells, Question, Reflection, and philosophical Method in Heidegger's Early Freiburg Lectures, S. 208 und S. 212 und in der bekannten Arbeit Β. Merkers, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis, S. 268. 222 Außer dem berühmten Zitat Merleau-Ponty s in , Phénoménologie de la perception', S. IX, finden wir diese Interpretation auch bei E. Tugendhat in ,Der
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
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Aber die Unselbständigkeit der Methode Heideggers, d. h. ihre Abhängigkeit von Husserls Phänomenologie, wird auch von anderen Kommentatoren im Sinne eines Kompositums oder im Sinne einer Fortsetzung ausgelegt. Als Kompositum wird sie gesehen, indem die hermeneutische Phänomenologie als eine „Synthese" bzw. „Verschmelzung" zwischen Husserls Phänomenologie und anderen Philosophien betrachtet wird. In diesem Sinne wird die hermeneutische Phänomenologie als eine Mischung zwischen der Phänomenologie Husserls und der Hermeneutik Diltheys 2 2 3 oder sogar zwischen Husserl und Bergson 22 4 verstanden. Als Fortsetzung wird die hermeneutische Phänomenologie gesehen, indem sie nicht in ihrer Radikalität erfaßt, sondern behauptet wird, daß das, was sie in Anspruch nimmt, entdeckt zu haben, bereits von Husserl oder von Dilthey gesehen worden sei, so daß Heideggers Einsichten nur Fortsetzungen von bereits aufgeschlossenen Wegen seien. Zu diesen beiden Interpretationsrichtungen ist folgendes zu sagen: Die hermeneutische Phänomenologie Heideggers ist abhängig bzw. unabhängig weder vom reflexiv-transzendentalen Ansatz Husserls noch vom hermeneutisch-erkenntnistheoretischen Ansatz Diltheys. Im Laufe der Untersuchung haben wir gezeigt, daß Heidegger sich nicht auf eine unbestimmte Gestalt der Phänomenologie bezieht, sondern nur auf deren Grundprinzip bzw. auf ihre Forschungsmaxime. Das Prinzip aller Prinzipien bzw. die Forschungsmaxime Zu den Sachen selbst wird von Heidegger in einer radikaleren Weise aufgenommen: in einer a-theoretischen Weise. Daher haben wir Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger', S. 263; bei J. L. Marion in Réduction et donation', S. 104 und S. 108; und bei J. Caputo in ,The Question of being and Transcendental Phenomenology: Reflections on Heidegger's Relationship to Husserl', S. 100. Sofern einige Autoren Heideggers hermeneutische Phänomenologie mehr in der Nähe der ,Ideen Γ als in der Nähe der ,Logischen Untersuchungen' sehen, also in der Nähe der transzendentalen Gestalt der Phänomenologie Husserls, können wir auch sie als dieser Interpretationslinie folgend betrachten. So z.B. R. Rodriguez in ,La Transformación Hermenéutica de la Fenomenologia', S. 38; R. Thurnher in ,Husserls Ideen und Heideggers Sein und Zeit', S. 151 und S. Crowell in ,Question, Reflection, and Philosophical Method in Heidegger's Early Freiburg Lectures', S. 203 und in ,Ontology and Transcendental Phenomenology - Between Husserl and Heidegger', S. 13-15 und 27. 223 Gadamer begeht diesen Interpretationsirrtum in ,Die Geschichte der Philosophie' (GW 3, S. 298). 224 Dies ist die Interpretation O. Pöggelers in ,Neue Wege mit Heidegger', S. 24 und In-Suk Kims in Phänomenologie des faktischen Lebens', S. 63. 225 Vgl. J. Grondin in ,Die hermeneutische Intuition zwischen Husserl und Heidegger', S. 272 f. und J. Caputo in , Husserl, Heidegger and the question of a „hermeneutic" phenomenology', S. 168 und 176. 226 Dies ist die Interpretation R. Makkreels in ,Dilthey. Philosoph der Geistes wissenschaften', S. 85 und in ,Heideggers ursprüngliche Auslegung der Faktizität des Lebens: Diahermeneutik als Aufbau und Abbau der geschichtlichen Welt'.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
gesagt, daß Heidegger von Anfang an und stets in der Phänomenologie geblieben ist, insofern mit dem Wort Phänomenologie 4 in erster Linie keine reflexive oder transzendentale Gestalt gemeint wird, sondern nur die vom Prinzip aller Prinzipien bzw. von der Forschungsmaxime geleitete Methode. In diesem Sinne kann die hermeneutische Phänomenologie keine „Version" der reflexiven vortranszendentalen oder transzendentalen Phänomenologie Husserls sein. Husserls Phänomenologie konnte die vortheoretische Ursprungssphäre des Lebens nicht entdecken, da sie das Bewußtsein bzw. das Bewußtseinsleben zum Thema hatte. Daher ist sie, wie wir mehrmals betont haben, stets in einem theoretischen Rahmen verblieben. Wenn diese Tatsache gesehen wird, dann wird auch deutlich, daß die vortheoretischen Grundeinsichten Heideggers nicht bereits Husserl zugeschrieben werden können. Für Husserl und Dilthey blieb die vortheoretische Sphäre des Lebens und der a-theoretische Zugang zu ihm verhüllt. Daher sind die genannten Fortsetzungsinterpretationen zurückzuweisen. Die Radikalität der hermeneutischen Phänomenologie zeigt sich darin, daß ihre Vorgehensweise a-theoretisch geschieht und dabei zum ersten Mal in der philosophischen Tradition ein Zugang zur vortheoretischen Sphäre des Lebens geschaffen wurde. Ferner: Das hermeneutische Element in der ,hermeneutischen Phänomenologie 4 ist kein Zusatz oder von Dilthey „geraubter 44 Ansatz, so daß mit dem Begriff ,hermeneutische Phänomenologie4 eine gewisse „Mischung 44 gemeint wäre. ,Hermeneutische Phänomenologie' besagt die a-theoretische Weise, in der die Phänomenologie ausgelegt wurde. Έρμηνεύειν als Mitteilen benennt die ausdrückliche Weise, in der das durch das phänomenologische Prinzip entdeckte Vortheoretische thematisiert wird. Wenn Phänomenologie den λόγος des φαινόμενον gibt, besagt λόγος bei Heidegger keinen reflexiven λόγος, sondern einen vortheoretischen ausdrücklich machenden λόγος, d.h. einen hermeneutischen λόγος. Die hermeneutische Phänomenologie ist also die bestimmte Weise, wie Heidegger anhand der zu fragenden Sache methodisch vorgeht. Und dies geschieht auch dann noch, wenn der Begriff ,hermeneutische Phänomenologie' nicht mehr auftaucht. 2 2 7
227 Einige Kommentatoren verstehen den Ansatz eines Autors nur, wenn sie dabei ordnungsmäßige bzw. klassenmäßige Begriffe lesen können. D.h. Heidegger wird nur dann als Phänomenologe betrachtet, wenn er ausdrücklich von Phänomenologie spricht. Dazu müssen wir sagen, daß man in diesem Fall nur an der versteinerten Begrifflichkeit hängen bleibt, aber das Phänomen und seine abgewandelte Ausdrucksweise dabei nicht sieht. Wird jedoch das Phänomen gesehen, auch wenn es nicht ausdrücklich genannt wird, dann müssen wir sagen, daß Heidegger stets innerhalb der Phänomenologie verblieben ist, auch wenn er sein Denken im „Namenlosen" fassen wollte, wie er in UzS, S. 121 zu dem Japaner sagt: „Es geschah
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
301
Wir haben bereits gesehen, daß zur Phänomenologie eine eigentümliche Zusammengehörigkeit zwischen dem Thema der Untersuchung und der Zugangsweise zu ihm gehört. Bei Husserl war die philosophische Zugangsweise Reflexion, daher zeigt sich als Wesen des Menschen nur das Bewußtsein. Bei Heidegger dagegen zeigt sich die philosophische Zugangsweise als eine ausdrücklich mitgehend-auslegende und in diesem Sinne hermeneutische, dabei wird das Wesen des Menschen als faktisches Leben bzw. Dasein enthüllt. Daher haben wir im Laufe der Untersuchung streng zwischen der reflexiven Phänomenologie Husserls und der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers unterschieden. Sie erweisen sich als zwei verschiedene eigentümliche Weisen des Philosophierens.
d) Die sachgemäße Betrachtung der sachlichen Kontinuität Abschließend wenden wir uns der sachlichen Kontinuität der hermeneutischen Phänomenologie zu. Welches war das eigentliche Thema der Philosophie Heideggers? Wenn die Frage nach dem Sein die Frage war, die sein Denken geleitet hat, wie soll dann die Thematisierung des faktischen Lebens in den Dozenten-Vorlesungen verstanden werden? Auch hier treffen wir auf eine Reihe von Interpretationen, die aus methodischen Gründen in zwei Richtungen gesehen werden können: 1. Die Philosophie Heideggers geschieht, sachlich gesehen, als eine „totale undifferenzierte Einheit". 2. Im Gegensatz zu dieser Position wird gemeint, daß es in der Philosophie Heideggers keine sachliche Einheit gibt, vielmehr komme sie in einer „Pluralität von Wegen" zustande. Ad. 1. Mit „totaler undifferenzierter Einheit" wollen wir auf die bereits erwähnten Interpretationen hinweisen, die meinen, daß es im Denken Heideggers keine Differenzierungen gäbe. Die einzig mögliche Differenzierung soll ein Abweg sein. Undifferenzierte Einheit besagt hier die Interpretation des philosophischen Wegs Heideggers anhand bestimmender Grundeinsichten, die keine Umdeutung erlauben. Anders gesagt: die Vertreter dieser Interpretation behaupten, daß schon in den Anfängen der Philosophie Heideggers die für seinen ganzen Weg unberührbaren Einsichten angelegt seien. Dabei habe er einen Abweg bzw. Irrweg beschritten, der unter dem Namen Fundamentalontologie bzw. ihrer Krönung Sein und Zeit bekannt sei. 2 2 8
nicht, wie viele meinen, um die Bedeutung der Phänomenologie zu verleugnen, sondern um meinen Denkweg im Namenlosen zu lassen". 228 So Gadamer in ,Erinnerung an Heideggers Anfänge', S. 16; G. Figal in H e i degger zur Einführung', S. 44 und 49; Kisiel in ,The Genesis of Being and Time. The primal Leap', S. 35.
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
Nachdem Heidegger den „richtigen Weg" wiedergefunden habe, so diese Autoren, führe er eine Kehre durch, die besser als eine Rückkehr bezeichnet werden solle, da Heidegger dabei einfach auf seine im KNS entdeckten Einsichten zurückkehre. 229 Mit dem oben unter b) Erläuterten sollte diese Irrmeinung hinfällig sein. 2 3 0 Ad. 2. Im Gegensatz zu dieser undifferenzierten einheitlichen Interpretation wird behauptet, daß bei Heidegger eine Pluralität von Themen zustande käme, die es unmöglich mache, von der „Philosophie Heideggers" zu sprechen. Man solle vielmehr von „Etappen", „Phasen" oder „Perioden" sprechen, deren „Summe" den philosophischen Weg Heideggers ausmache. 2 3 1 Dazu müssen wir folgendes sagen: Heidegger hat bis in seinen letzten Schriften deutlich gesagt, daß die Frage seines philosophischen Lebens die Frage nach dem Sein war. 2 3 2 An dieser Stelle können wir dies bestätigen, nicht nur anhand der Selbstinterpretation Heideggers, sondern anhand eines eigenen analytischen Eindringens in die Sache selbst. Die Frage nach dem Sein wurde auf dem philosophischen Weg Heideggers stets vor Augen gehalten, wenn auch mit verschiedenen Betonungen und Hinsichten. Wir haben gesehen, daß die Frage nach dem faktischen Leben nicht unabhängig 229 So Gadamer in ,Der eine Weg Martin Heideggers', (GW 3, S. 423); ders., Wilhelm Dilthey nach 150 Jahren, S. 159; M. Riedel in ,Die Urstiftung der phänomenologischen Hermeneutik', S. 226; Th. Kisiel in ,Das Entstehen des Begriffsfeldes ,Faktizität' im Frühwerk Heideggers', S. 119; ders., Genesis S. 3, 10, 16, 458; ders., The Genesis of Being and Time. The primal Leap, S. 35; van Buren in ,The Young Heidegger: Rumor of the Hidden King', S. 136-37; ders., The young Heidegger and phenomenology, S. 239, Imdahl in ,Das Leben Verstehen', S. 17—18; /λζSuk Kim in Phänomenologie des faktischen Lebens', S. 66. 230 Hier darf die Entdeckung des A-theoretischen im KNS nicht mißverstanden werden. Wenn wir die undifferenzierte Interpretation des philosophischen Wegs Heideggers kritisieren, wollen wir die für seine ganze Philosophie im KNS gewonnene Einsicht in das A-theoretische nicht bestreiten. Die a-theoretische Zugangs weise prägt sowohl die Fundamentalontologie als auch das seynsgeschichtliche Denken, d. h. sie ist keine nur der Fundamentalontologie zugehörende Auslegungsweise, vielmehr gehört sie zur Daseinsanalytik als Zugangsweise zum Dasein. Und die Daseinsanalytik, haben wir unter b) erläutert, wurde im seynsgeschichtlichen Denken bewahrt, wenn auch in einer umdeutenden Weise. 231 pöggeler in ,Der Denkweg', S. 27, 354 und 363; Thomä in ,Die Zeit des Selbst und die Zeit danach', S. 96 und 101; C. Jamme in ,Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik', S. 73; Kisiel in ,Das Entstehen', S. 113 und 116; In-Suk Kim in Phänomenologie des faktischen Lebens', S. 13 und 85, R. Schmitt in ,Martin Heidegger on Being Human', S. 72. 232
Am 11. April 1976, also in einer seiner letzten Schriften, schreibt Heidegger: „Die Frage, mit der ich Sie grüße, ist die einzige, die ich bis zu dieser Stunde immer fragender zu fragen versuche. Man kennt sie unter dem Titel ,die Seinsfrage'", Grußwort an die Teilnehmer des zehnten Colloquiums vom 14.-16. Mai 1976 in Chicago, in: GA 16, S. 747.
6. Kapitel: Rückblick und Ausblick
303
von der Frage nach dem Sein überhaupt zu sehen ist, sondern nur im Verlauf des „Verschärfens" dieser Fragestellung. Die übliche Interpretation von SuZ (und dementsprechend von den fFV) als philosophische Anthropologie wird hinfällig, wenn sich die Frage nach dem Dasein bzw. faktischen Leben nicht schlechthin verselbständigt, sondern in ihrem Zusammenhang mit der Frage nach dem Sein überhaupt gesehen wird. In diesem Sinne bildet die Frage nach dem faktischen Leben eine bestimmte Hinsicht der Frage nach dem Sein: Sie ist die Frage nach dem seinsverstehenden Wesen. Daher wird Heidegger in SuZ schreiben, daß die Frage nach dem Sein überhaupt ihren Ausgang in einer Analytik des Daseins bzw. des faktischen Lebens nehmen muß. Wenn die Frage nach dem Sein ihren Ausgang nicht von ungefähr nimmt, sondern im seinsverstehenden Dasein bzw. im faktischen Leben, dann wird dabei der Zusammenhang zwischen der philosophischen Thematisierung der fFV und SuZ deutlich gesehen. In diesem Sinne müssen wir die Interpretation der Pluralität der Wege zurückweisen. Der philosophische Weg Heideggers hatte seit den ersten Schriften in hermeneutischer Blickweise die Frage nach dem Sein vor Augen. Diese wurde aber erst im Laufe des Denkens entfaltet. Die Betonungen und Hinsichten ihrer Entfaltung bekommen ihren vollen Sinn in bezug auf die leitende Frage, sie sind keine eigenständigen Thematisierungen. Daher dürfen wir den denkerischen Weg Heideggers nicht als verschiedene „Etappen" oder „Phasen" betrachten. Eine solche Interpretation sieht das Entscheidende nicht und bleibt an das Äußerliche gebunden. Bedeutet dies, daß eine einheitliche Interpretation sachgemäß wäre? Hier hängt alles davon ab, wie diese Einheit betrachtet wird. Eine thematische Einheit muß m.E., um rechtmäßig zu sein, zugleich differenziert sein. D.h., hinsichtlich des philosophischen Weges Heideggers müssen wir zwischen dem, was den ganzen Weg hindurch bewahrt bleibt, und dem, was aufgegeben wird, unterscheiden, differenzieren. Anders gewendet: Im Laufe des Denkens Heideggers werden grundsätzliche Entdeckungen dargestellt, die die ganze hermeneutische Phänomenologie sowohl in ihrer fundamentalontologischen als auch in ihrer seynsgeschichtlichen Gestalt bestimmen. Die durch diese Untersuchung herausgehobene a-theoretische Zugangsweise zum faktischen Leben bzw. Dasein ist eine Zugangsweise, die niemals aufgegeben wird. Die im KNS gewonnene a-theoretische Zugangsweise zum faktischen Leben bzw. Dasein bestimmt den hermeneutisch-phänomenologischen Weg der Philosophie Heideggers im ganzen. Die Rede von der atheoretischen Zugangsweise als einer „Phase" und von der Kehre als einer „Rückkehr" sieht überhaupt nicht, inwiefern diese Grundeinsicht in die hermeneutische Phänomenologie gehört und wie sie in umdeutender Weise bewahrt wird. Eine sachgemäße Einheit des philosophischen Wegs Heideggers
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2. Teil: Der hermeneutisch-phänomenologische „Zugang"
muß daher zwischen den stets bleibenden Analysen, wie der Daseinsanalytik, und den aufgegebenen Analysen, wie der transzendental-horizontalen Auslegung der Zusammengehörigkeit von Sein und Dasein, unterscheiden. Die vorliegende Untersuchung wollte einen Beitrag zu dieser notwendigen Differenzierung leisten, indem zum einen der sachgemäße Ort d e r / F V auf dem philosophischen Weg Heideggers beleuchtet wurde und zum anderen die entscheidenden Einsichten für die hermeneutische Phänomenologie, die Heidegger seit dem KNS gewonnen hat, herausgehoben wurden. Somit wurde einerseits der methodische Zusammenhang mit und die Absetzung von der Phänomenologie Husserls und andererseits der sachliche Zusammenhang mit SuZ (und ansatzweise mit dem seynsgeschichtlichen Denken) hergestellt.
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Personenverzeichnis Adam, C. 127 Adrian, J. 18,214 Agamben, G. 240 Aguirre, A. 113, 119 ff., 123 f., 131, 194 Arendt, H. 36, 45 Aristoteles 21, 32, 34, 46, 55-60, 64, 66, 69, 78, 143, 217, 234, 236, 244, 249, 254 f., 257-267, 277 Augsberg, I. 294 Bambach, Ch. 268 Bernet, R. 20, 111, 123, 131 f., 135, 175, 180 Biemel, W. 20,118,135,226 Blochmann, E. 39 f. Boehm, R. 123, 159 Bollnow, O.-F. 31,81 Brentano, F. 67, 104 f. Buchenau, A. 127 Buchner, H. 21, 35 Buren, v. J. 18, 44, 142, 207, 302 Caputo, J. 18, 20, 58, 194 f., 225, 227, 299 Cheung, C.-F. 20, 57 Cohen, H. 269 Coriando, P.-L. 43, 174, 206, 213, 294 Courtine, J. F. 18, 135, 142, 154, 225,
261 Crowell, S.
18, 197 f., 202, 299
Dahlstrom, D. 46, 208 Dastur, F. 20, 171, 174, 176 Derrida, J. 18,270 Descartes, R. 59, 66 f., 76, 85, 126 f., 135, 184 Dilthey, W. 17, 24, 29, 31 f., 38, 44, 49, 50 f., 57 f., 62, 64, 73, 75, 77101, 104 f., 142, 147, 149, 151 f.,
184, 197, 213, 234, 246, 253, 263 ff., 267 f., 276, 299 f., 302 Eigler, G. 106 Eley, L. 103 Emad, P. 29, 35, 40, 43, 296 Fabris, A.
18
Fehér, I. 17, 20, 40, 57, 142, 149, 268 Figal, G. 17, 38 ff., 43, 50, 198, 257, 301 Fink, E. 103, 115, 120, 123 f., 130, 136, 138, 149, 169, 181 Gadamer, H.-G. 17, 34, 38, 43, 49 f., 93, 195, 214, 257, 264, 270, 279, 299, 301 f. Gander, H.-H. 17, 81, 88 ff., 93 Gaos, J. 102 Garcia Gainza, J. 153, 298 Gethmann, C. F. 44, 207, 232 Gethmann-Siefert, A. 20, 154 Gil Villegas, F. 18,298 Granel, G. 20 Greisch, J. 18, 151, 154, 184, 245, 253 Grondin, J. 17, 31, 82, 194, 268, 299 Gutiérrez, C. B. 18, 57 Happel, M. 18, 35 f. Heffernan, G. 134, 170 Held, K. 20 f., 115, 153 f., 176, 179 f., 184, 215 Henry, M. 183 v. Herrmann, F.-W. 17 f., 20 f., 28, 34 ff., 39-42, 45 f., 56, 115, 146, 153 f., 158 f., 185, 235, 240, 253, 270, 289-296 Hopkins, B. 18, 197, 202
Personenverzeichnis
329
Imdahl, G. 17, 44, 59, 207, 255, 278, 302 Ineichen, H. 81,90,95 Ingarden, R. 109, 121, 123, 153 ff.
Perego, V. 18 Pöggeler, O. 17, 20, 34 f., 43 ff., 47, 50, 57, 59, 78, 142, 153 f., 195, 206, 213, 252, 278, 302
Jamme, C. 57, 142, 197, 302 Jaspers, K. 32, 41 f., 142, 144, 243 Johach, H. 32, 90, 93, 95
Rickert, H. 31, 50 f., 58, 63, 65-76, 82, 89, 93, 100, 142, 147, 151, 274 Ricoeur, P. 165 Richardson, W. J. 34, 40, 56, 152, 258 Richter, E. 36, 174, 177 Riedel, M. 17, 81, 83 f., 97, 142, 152, 194, 257, 264, 302 Rodi, F. 32, 81 f., 86, 93 Rodriguez, R. 18, 147, 154, 178, 202, 207, 227, 240 v. Ruckteschell, P. 17, 20, 57, 240 Ruff, G. 17
Kalariparambil, T. 17, 20, 23, 28, 34, 48, 61, 84, 90, 207, 274, 294 Kelkel, A. 20 Kern, I. 86, 111, 123, 131 f., 135, 175, 180 Kierkegaard, S. 21, 78, 144 Kim, I.-S. 17, 44, 195, 207, 213, 235, 278, 302 Kisiel, Th. 18 f., 47 f., 50, 142, 149, 207, 213, 234, 255, 278 f., 295, 301 f. Klostermann, V. 20, 46 Kommerell, M. 39 Kovacs, G. 142 Krausser, P. 81 Landgrebe, L. 121 Lask, E. 59, 74, 255 f. Lee, Y. G. 114 Lehmann, K. 17, 34 Lessing H. U. 32, 81, 90 Lévinas, E. 216 Löwith, Κ . 37, 213, 278 Luther, M. 21 Makkreel, R. 78, 84, 91, 276 Marbach, E. 111, 123, 131 f., 135, 175, 180 Marcuse, H. 34 Marion, J.-L. 184, 227, 299 Mazzarella, E. 18 Merker, Β. 20, 226, 253, 268 Misch, G. 81 Mohanty, J. Ν. 219
Sallis, J. 20, 28, 171, 175, 225 Schalow, F. 48,279 Schmitt, R. 302 Sheehan, Th. 18, 34, 155 Storck, J. W. 213 Streeter, R. 207 Ströker, E. 48 f., 103 f., 106 ff., 113, 115, 125, 131, 168, 170 f., 173 Taminiaux, J. 20, 175 Tannery, P. 127 Theunissen, M. 20 Thomä, D. 57, 302 Thurnher, R. 3 1 , 4 0 , 4 9 , 2 0 2 , 2 9 9 Vedder, B. 268 Vicari, D. 18 Volpi, F. 18, 20, 258 f., 261, 268 Watanabe, J. 171, 174 Windelband, W. 51, 58, 62, 64, 66 f., 73 Yorck v. Wartenburg, P. 92
Natorp, P. 203 f.
54, 105, 155, 189-193, Zahavi, D.
105, 107
overzeichnis άληθεύειν
254, 258-267, 277
άρχαι
260-263, 276
Abfall
209 f., 232 f.
Abschattungen
128, 173
Adaequatio 135, 170 f., 178-180, 199, 202 f. Adäquation 175 αισθησις 25, 26, 119, 172, 174, 178 Aktintention 106, 164 Anfang (der hermeneutischen Phänomenologie) 18-22 animal rationale 24, 28, 118, 282 Anschauung, hermeneutische (verstehende) 140, 151, 188, 193-203, 240-250, 264-266 - kategorial 161, 169, 174-181, 201 - originär-gebende 158-160, 163167, 181 f. - reflexiv-theoretische 53 f., 125, 133-136, 140, 151, 157-159, 162, 166, 169, 186-187, 190, 201 f. - sinnliche 113, 165 f., 169-181, 201 Apodiktizität 134 a-theoretische Sphäre 117,146 Auffassung, intentionale 106 f., 164 - verstehende 245 f., 256, 276-278 Aufmerksamkeit 113 f., 174 Ausdrücklichkeit 23, 26, 186, 197, 199, 200 f., 209 Ausklammerung 124, 128 Auslegung (Ausbildung des Verstehens) 196-200, 225, 244, 246, 249, 251-257, 261, 266 f., 276 - (philosophisch) 24, 27, 34, 38, 53, 283, 293, 304 Ausschaltung 115, 159, 160, 184, 191, 228, 230 f., 250 autark 208 ff.
Bedeutsamkeit 146, 150 f., 174, 199, 212, 221, 229 f., 236, 239, 250, 255, 275, 287 f. Bedeutung (Bedeutungshafte) 198203, 238 f., 243 - (Bedeutungsintention, -erfüllung) 134, 169-173, 179 f., 199, 202, 218-
221 - (der fFV) 22, 25, 33 Begegnis 188 Begriffsgeschichte 48 f., 279 Behandlungsart 53 f., 110 ff., 121, 128, 146, 151, 158 ff., 168, 190, 200, 209, 223-225, 281 Beurteilung 67 Bewandtnis 239, 286 ff. Bewegung 34, 95, 192, 209 ff., 233, 245 f., 252, 254, 258, 260 f., 263 f., 266, 292 Bewußtsein 24, 60, 66, 70, 83-88, 91 f., 96 f., 105-107, 112 f., 116 f., 122 f., 128, 136, 146, 163 f., 167, 175, 186-195, 227 f., 269, 300 f. Bezugssinn 210, 217 f., 221, 232 Billigen 67 f., 76, 151 Blickwendung 53, 161 f., 164, 166 ff., 174, 177 ff., 201 ff. cogitatio
66, 162
cogito 18, 24, 59, 60, 65 f., 76, 85 f., 127 f., 165, 241, 269 Dasein 22 f., 28, 37, 42, 147, 188, 198, 222, 227 f., 234 ff., 242 f., 260 f., 274 f., 282-285, 287, 289294, 296 f., 303 Daseinsanalytik 28, 42, 283, 293, 302, 304 Deskription
93 ff., 99, 133
overzeichnis Destruktion (phänomenologische) 25, 54 f., 146, 212, 225 f., 235 f., 239 f., 243 ff., 267-274, 277 Dominanten (der Lebenssituationen) 251 f., 254 έρμηνεύειν 22, 250, 260 f. έπιστημη 262 f., 277 έπιστημονικόν 261 ff., 267, 277 εποχή 53, 110 f., 124-128, 134, 136 ff., 146, 154, 157, 160, 168, 191, 194, 224, 227 f., 230 f., 281 Entdecktheit 285-288, 290 Entdeutung 239 Entformalisierung 140, 158, 182 f., 185, 193 f., 200, 203, 221 Entgeschichtlichung 239 Enthüllung 42, 120 ff., 143, 180, 230, 258, 290 entleben 237 ent-leben 239 Entlebung 239 Ereignis 18, 40, 133, 206, 213, 295 ff. Erfahrung 26, 79 f., 82-91, 97, 100 f., 110 ff., 115, 121, 127, 147, 168, 210, 247 ff. Erfüllung 134, 172, 208, 211, 219 Erkenntnis 25 f., 51, 60, 62, 64-75, 84, 87 f., 92 f., 95, 97 ff., 103, 107, 128, 131-135, 138 ff., 142, 158, 160, 163, 165, 167, 170-174, 178181, 191 f., 202-206, 212, 233, 245 f., 253, 264 ff., 274-278, 285 Erkenntnistheorie 57, 64 f., 70, 80 f., 87 f., 90 f., 94 ff., 133, 140, 274 Erleben 25 f., 50, 79, 94, 98, 107, 109, 112, 125, 128 f., 145, 152, 163, 191, 193, 195-198, 200, 203, 208, 210, 224 f., 237-241, 245, 250 Erlebnis 26, 52, 79, 88, 91, 94, 9 6 102, 104-111, 121, 125, 161-164, 167, 169, 171, 173, 186, 192-199, 202 f., 209, 219, 223 f., 229, 231, 239, 241, 247, 253 Erschlossenheit 28, 253, 286 ff., 290 ff. „es weitet" 188, 247 f., 295 f.
331
essentia 291 Evidenz 68 f., 134 f., 158 f., 163, 170-173, 178, 202 existentia 127 f., 242 Existenz 23, 28, 33, 42 f., 85, 113, 120, 126, 176, 218, 223, 242 f., 282, 287, 290 f., 293 Existenzialismus 22, 27 f., 274 φαινόμενον 201, 203, 300 Forderung 68 f., 134, 157, 191, 250 formale Anzeige 22, 44, 49, 54, 204, 206 f., 211-214, 220 ff., 274, 277, 289 Formalisierung 180, 209, 213-218,
220 Forschungsmaxime 122, 157-160, 169, 181, 183 f., 187, 194, 200, 225, 280, 299 f. φρόνησις 55, 259, 262, 265 ff., 277 Frage nach dem Sein 22, 24, 27 f., 33 f., 36, 42, 44, 46 f., 51, 56, 78, 149, 174 f., 227, 234 f., 273, 295, 301 ff. Fülle 105, 134, 170, 173, 179 f., 199, 220, 273 Fundamentalontologie 17, 20, 25, 40, 57, 150, 226, 234, 236, 240, 278, 293-297, 301 f. fundamentum inconcussum 24 Für-mich-einfach-da-sein der Welt 114, 117 f., 125 Gegebene 80, 88 ff., 94-97, 117, 120, 166, 177, 188, 200 Gegebenheit 112, 115 f., 119, 159, 163, 182, 187 f., 269 Gegenstand 20, 26, 32, 65-69, 71 f., 75, 92, 102, 104-107, 109, 111, 113, 120 f., 125, 129, 133, 141-146, 161174, 177, 179 f., 182, 189 f., 199, 201 ff., 205, 207 f., 215 f., 218-224, 226 f., 232, 237, 239 f., 242, 247, 258, 262, 265 f., 269 f., 274 f., 277 Gehaltssinn 221, 239 Geltung 64 f., 67 f., 70 ff., 120, 124, 142
332 Generalisierung
Sachwortverzeichnis 180, 203, 214-217,
220 Generalthesis 114-118, 121, 124, 126 ff., 137, 160, 168, 191, 223 f., 228, 230 Genesis 18 f., 47 ff., 234, 255, 274, 279 f., 295, 301 f. Geschichte 31, 38, 41, 58-61, 64, 74 f., 77, 79 ff., 86, 195, 217, 235, 272 f., 296, 299 Geschichtlichkeit 17, 258, 297 Grundlegung 32, 61 ff., 76, 79-83, 86 f., 90 ff., 94 ff., 99, 101, 109, 264 Grundprinzip der Phänomenologie 54, 151, 156, 158 ff., 181, 183-188, 194, 203, 298 Hermeneutik 17 f., 29, 31, 38, 44 f., 57, 72, 80 ff., 88, 90, 93 ff., 97, 140, 142, 146, 197 f., 206 f., 224, 250, 253, 255, 257, 261, 268, 275, 278, 297 f., 299, 302 historisches Ich 237, 239, 242 f. Horizont 37, 42 f., 63, 114, 289, 292 ff., 297 Immanenz 60, 69, 71 Innewerden 84, 88, 91, 147 Intentionalität 17, 20, 57, 105 f., 174, 182, 186, 194, 208, 231, 235, 238, 240 f. Interpretation 18 f., 22, 27, 29-36, 44, 46, 50 f., 55, 57, 59, 72, 74 f., 78, 81, 84 ff., 91, 104, 109, 119, 123, 149, 159, 162, 194, 198, 203, 207, 211, 225-229, 232, 235, 241, 244, 246, 248, 250-253, 255-258, 260, 267-273, 276, 278 f., 281, 289, 293296, 298 f., 301 ff. Intuition (s.a. Anschauung) 104, 110, 157 f., 169, 171, 174, 181, 194 f., 197 f., 206, 212, 250, 299 Kategorienproblem 51,56-62,273 Katheder 196, 198 f., 296 κατηγορεΐν 256 f., 276 κίνησις 209, 258 ff.
KNS (Kriegsnotsemester) 22-25, 53, 133, 140, 142, 144 f., 149, 185, 187, 189, 195-197, 200, 202, 206 f., 233, 235-238, 247, 250, 279, 281-283, 288, 295-297, 302-304 Konstitution, 30, 80, 101, 116, 122, 125, 128, 130, 224, 230-233 Korrelation, 105-110, 120 f., 164, 186, 189, 193, 203, 285 kosmologisch 210 Kultur 52, 71-75, 86, 147 Leben, 117, - (als 109, 151, 232
105, 109, 138, 216, 134, 139, 274, 278,
alltäglich-natürliches 111 ff., 138, 177, 197 Bewußtseinsleben) 52, 100 f., 112, 117, 120-125, 128, 136, 156, 174, 186, 191 f., 228 f.,
- faktisches 22-27, 33 f., 50, 54 f., 57, 129 f., 149, 204-207, 211, 214, 235 f., 239, 242 ff., 256, 272 ff., 280, 283-287, 290, 293, 296 f., 301 ff. - (im intransitiven Sinne als Erlebnis) 52, 62 f., 76-80, 83-100, 147, 152, 264 - (im transitiven Sinne als Kulturleben) 51, 71 f., 74 f., 147 - (in seinem vor-theoretischen Ursprung) 25 ff., 62, 138, 141-144, 150, 185, 188, 195, 200, 208 f., 212, 221, 224, 229, 231, 234, 237, 241 ff., 246-253, 269, 275-278, 281 f., 300 - ruinantes und erhellendes 210 f., 220, 252-255 Lebensphilosophie 22, 27, 77, 78, 81, 142, 148, 274 Lebenszusammenhang 86-89, 96, 151 Leitfrage 28, 46 λόγος 21 f., 60, 201, 204, 257, 260 f., 271, 276 f., 301 logische Synthese 170 f., 173 f., 179 ff. λογιστικόν 261, 263 ff., 267, 277
overzeichnis mathesis universalis 131, 133, 216 f. Metaphysik 27, 36, 42, 57, 81, 150, 153, 206, 222, 253, 259, 294, 298 Methode 34, 63 f., 73 ff., 81, 93 f., 100, 102 f., 110, 115, 123, 128 ff., 143 f., 146, 152, 155, 158, 160, 168 f., 174, 185 f., 189-194, 200 f., 209, 212, 214 ff., 220, 225-228, 234, 236 f., 239, 241, 244, 257 f., 266 ff., 270, 275 ff., 282, 297-300 Mitbezogensein 125 Mitgegenwärtigen 113 f. Mitwelt 33 Möglichkeit (als Bedingung der Möglichkeit) 21, 120, 132, 138 ff. - (als Philosophie, der Philosophie) 144, 153, 185 f., 233, 264 - (als Reflexion, der Reflexion) 121, 128, 163, 165, 167, 178 - (als Seinsmodalität) 57, 242 - (der Erkenntnis) 88, 99, 204 - (der Thematisierung) 53, 112, 145, 195 - (des Verstehens) 29, 198, 251 - (des Zugangs) 205, 266 - vortheoretische 206, 229, 260 f., 267, 269, 271 Naivität 120, 136 f. Naturalismus 63, 74, 135 Neukantianismus 32, 56, 58, 62-65, 69, 71 f., 74 f., 94, 184, 189, 274 νόησις 25 f., 119, 172, 174, 178 Noema 109, 165 f. Noesis 109 νους 262, 277 öv 46, 57 f., 60, 62 Objekt 60, 66, 72, 75, 90 f., 104 f., 112, 139, 143, 161 ff., 166, 186, 189, 196, 228 Ontologie 24, 34, 123, 154, 216, 232236, 244 f., 253, 255, 257, 261, 267 f., 275 f. Ontologische Differenz 289 ontologische Wende 23, 234 Person
24, 269
333
Phänomen 23, 27, 29, 56, 74, 103 f., 112, 121, 124 f., 138, 146, 148 f., 159, 165, 182, 200, 217, 220 f., 225, 227, 229 f., 234, 248, 256 ff., 262, 270, 274, 283, 300 Phänomenalität 84 phänomenische Synthese 171, 174, 177, 179 ff. phänomeno-logische Synthese 171, 179 f. Phänomenologie, hermeneutische 17, 20-23, 25, 50 f., 54, 78, 112, 137, 140, 143, 146, 153, 187 f., 194 f., 197, 200-205, 217, 224, 228, 233, 245, 257, 261, 266 f., 270, 272, 278, 280 f., 288, 297-304 -Husserls 19, 21, 52 f., 100, 112, 120, 122, 128, 130, 133, 136, 138 ff., 146, 148, 152, 154, 156 f., 163, 166 f., 169, 174, 178, 184 f., 188 ff., 192, 204, 214, 216, 220, 223-226, 229 f., 233, 241, 280 f., 297-300, 304 - mundane 52, 231 -reflexive 21, 101, 106, 110, 123, 130, 133, 135, 160, 187, 194, 196, 199, 208, 233, 238, 278, 280, 297 f., 301 -transzendentale 52 f., 108 f., 119, 121, 127, 135, 148, 153 f., 156 f., 189, 202, 208, 228, 231, 233, 278, 280 f., 297 f., 300 - überhaupt 34, 53, 62, 74, 102 f., 110, 131 f., 138, 152, 154-159, 165, 185, 189 f., 298, 300 f. πολλαχώς λέγεται 57 f., 60, 62 Präsenz 42 Prinzip aller Prinzipien 53, 158 ff., 167, 169, 181-184, 187, 194, 201 ff., 205, 225 f., 299 f. πρότερον προς ήμας 170 πρότερον τ ή φύσει 171 Psychologie (Deskriptive) 80 ff., 8696, 98-105, 107, 110, 123, 133, 138, 147, 189 f., 193 Psychologismus 32, 63, 74, 77, 94, 102 f., 148 θεωρεί/ν 264 f., 267
334
Sachwortverzeichnis
ratio cognoscendi 170, 173 f., 179 f. ratio essendi 171, 174, 177, 179 f.,
202 real 102, 104, 107, 172 f., 176, 295 Realität 73, 80, 228, 238 f., 275 Reduktion, eidetische 103 f. - hermeneutische 25, 54 f., 146, 212, 222 f., 225-231, 233, 235 ff., 239, 243 f., 255, 257, 267, 270, 274-277 - phänomenologische (Heidegger) 228 f. - phänomenologische (Husserl) 120 ff., 125, 128, 134, 136 f., 146, 154 f., 159, 231 ff. - transzendentale 52, 54, 109 f., 123, 125, 128, 157, 160, 168, 191, 194, 223-230, 281 reell 102, 107 f., 110, 165, 173 Reflexion 17 f., 20, 53, 97, 110 ff., 121, 126, 128, 133, 146, 154, 160169, 174-182, 186-188, 191, 193, 195, 197, 202, 208, 223-227, 240, 249, 281, 298, 301 Rekonstruktion 54 f., 146, 191 ff., 212, 225, 235 f., 239, 243 ff., 250257, 267, 270 f., 274, 276 f. res cogitans 59 f., 65, 85 res extensa 60, 65, 69 res historica 59 Residuum 128, 138, 191, 228, 230 Rhythmus 92, 202, 249, 254 Ruinanz 210 f., 220, 252 ff. Seele 24,262,269 Seiendheit 28, 57 Seinkönnen 290 Seinsfrage 17, 20, 22, 27, 28, 33, 40, 42, 44, 47, 56, 57, 62, 174, 175, 183, 184, 207, 258, 274, 293, 302 Seinsverständnis 27, 37, 282, 286, 290, 291 Selbstbesinnung 90, 91, 93, 95, 124, 152 Selbstgenügsamkeit 144, 150, 207 ff. Selbstwelt 33,118,233 Seynsgeschichtliches Denken 36, 40, 278 f., 293-297, 302, 304 Sichselbsthaben 251 f., 254, 282
Sinn (bei der Wertphilosophie) 68-71 - (des Lebens) 72, 75, 147 - (von Sein) 28, 207, 232, 271 - (von ,Sein und Zeit') 37, 289 σοφία 262 f., 277 Sollen 64,68-72 Steigerung 95, 246, 251 Stellungnehmen 68 strenge Wissenschaft 130, 141, 208 Sturz 210 Subjekt 24, 28, 58-62, 66-72, 75, 76, 79, 83-86, 90 ff., 139, 176, 189, 269 Subjektivität 60, 62, 101, 109 f., 119, 121 f., 124 f., 136, 154, 183, 185 f., 188, 190, 298 Substanz 59 System 58, 60, 75, 147 τέχνη 262, 265, 277 Tendenz des Lebens 209 f. Theorie 32, 81, 131 ff., 135, 138, 158, 187 f., 198, 260, 264 f. Tiefsinn 135, 153 Transzendentalphilosophie 27 Transzendenz 37, 42 f., 60, 66, 68, 71, 125, 228, 289, 291-294, 297 Umformung 73, 75, 93, 98 Umgang 26, 32, 197, 203, 252, 281 f., 285, 286 f., 290, 292 Umwelt 26, 33, 113 f., 199, 238, 247, 249, 265, 283 Umweltanalyse 22, 279, 281 f., 290 Umwelterlebnis 26, 55, 139, 196, 203, 206, 212, 221, 226, 229, 231, 233, 236-239, 244-247, 250, 252 f., 265 f., 271, 275 f., 281 ff., 290 Umweltliches 188, 199, 203, 229, 237 f., 266 Unterscheidenkönnen 290, 292 Unterwegs 27, 33, 35 ff., 44, 47-50, 77, 96, 99, 233 Urerlebnis 26 Ursprung 17, 19, 25 f., 62, 67, 69, 119, 122, 125, 139, 141 f., 144 ff., 150 ff., 157, 178, 185, 188, 190, 195, 199, 204, 206 f., 218, 221, 265, 272, 275, 277 f., 280
overzeichnis Ursprungswissenschaft 17, 20, 57, 130, 140, 144, 157, 231, 240, 255 Urteil 58 ff., 67, 70, 126, 171, 220 Urwissenschaft 53, 88, 130, 136-146, 148-151, 204 f., 208, 212, 217, 221, 276, 281 Verschmelzung 139, 173, 195, 299 Verstehen 26, 27, 29, 55, 70, 80, 82, 88, 93 f., 95, 98 f., 194, 198 f., 203, 206, 235 f., 244-257, 262, 265 ff., 272, 274 ff., 281 f., 286 ff., 302 Verstehendes Mitgehen 22 Vertrautheit 247-250, 282 Vollzugscharakter 178 Vollzugssinn 210, 221, 241, 272 Vorgang 88 f., 94, 96-101, 106 Vor-gang 297 Vorhandenes 115,117 Vorhandensein 114, 117, 285 Vorherrschaft des Theoretischen 25 f., 141, 145, 205, 269 Vorstellung 35, 60, 66 f., 69 f., 76, 84 f., 294
- ( b e i Husserl) 109, 112-119, 121128, 136 ff., 147, 250 Weltanschauung
64, 77, 146-150
Weltbezogenheit
207-209
Weltverständnis
37, 290
Wert 69 ff., 76, 97 Wertphilosophie 50 f., 56, 62, 65, 67, 71, 76 f., 274 Wesen 22-25, 33 f., 66, 73, 95, 103107, 109, 118 ff., 124, 129-132, 134, 138, 149 ff., 160, 164, 168, 170 f., 181, 188, 191, 202 f., 215 f., 222, 243, 259 f., 274, 282, 289 ff., 293 f., 296 f., 301, 303 Wirkungszusammenhang 96 Wissenschaft 53, 56, 60 f., 78 ff., 87, 93, 103, 123, 128-137, 139 ff., 143 ff., 147, 149 ff., 186, 190, 193 f., 204 f., 208, 217, 258, 262, 269, 273, 281 Zeitlichkeit Zeug
Wahrheit 34, 36, 57 f., 66 f., 69, 70 f., 73, 76, 127, 142, 171, 203, 257, 259 ff., 289, 293 f., 296 f. Wahrnehmung 25, 88, 112 f., 115119, 134, 165 f., 172 f., 175 f., 181 f., 196, 199, 202, 205, 238 Wahrnehmungsfeld 113 f. Wahrnehmungswelt 116, 199, 231 Welt (als Bedeutsamkeit) 221, 231, 239, 250, 275, 287 - (als Wahrnehmung) 25, 172, 223, 250 - (bei Dilthey) 97, 98 - (bei Heidegger) 33, 197, 203, 208, 210, 228 ff., 247, 252 ff., 283 ff., 287
335
37, 42, 261, 286, 289
115, 285 ff.
Zugang 17, 21, 23-26, 30-34, 50-56, 62, 65, 71 f., 75 f., 81 f., 85-93, 96101, 109, 111 f., 116, 120, 122, 125, 129, 144 f., 147, 149, 152, 168, 172, 174 f., 187, 190-194, 196, 203 ff., 207, 212, 224 f., 227, 231, 236, 240, 245, 247, 250, 255, 257, 259, 262 f., 266 f., 270 f., 279-282, 285, 300 Zugangsmethode 52, 54 f., 122, 124 f., 146, 159, 190 f., 212, 223 ff., 228, 235, 244, 256, 258, 267, 270, 274, 276, 281 zuhandenes 286 Zuhandensein 291 ζωή 258-262, 265 f., 277