204 11 2MB
German Pages 342 [346] Year 2017
Thomas Arnold Phänomenologie als Platonismus
Quellen und Studien zur Philosophie
Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante
Band 133
Thomas Arnold
Phänomenologie als Platonismus Zu den Platonischen Wesensmomenten der Philosophie Edmund Husserls
ISBN 978-3-11-052718-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052805-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052719-3 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meiner Familie gewidmet
Inhalt Vorwort
XI
Einleitung § . Motivation und Exposition a) (K)Ein Kind der Neuzeit 1 b) Platonismus als Grundkonfiguration der Phänomenologie § . Lektüren a) Platons Schriftkritik 13 18 b) Husserl als Platonleser
Teil I:
Programmatik
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft § . Epistemische Technik a) Platon: Träume vom Sein 35 38 b) Husserl: Fabriken nützlicher Sätze § . Fundiertheit a) Platon: Zum Ursprung selbst 45 47 b) Husserl: Absolute Rechtfertigung § . Reflexive Schließung a) Platon: Die königliche Kunst 54 63 b) Husserl: Erste Philosophie § . Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus. Abschnitt B Philosophie als Ethik § . Telos und Krisis a) Platon: Die Herrschaft des inneren Menschen b) Husserl: Erneuerung 88 § . Pharmakon a) Platon: Pädagogischer Optimismus 99 b) Husserl: Funktionäre der Menschheit 103 § . Kritik: Teleologie und Selbstverleugnung Abschnitt C Philosophie als Polemik § . Der Traditionalismus a) Platon: Reflexionskontamination
122
82
6
VIII
§ .
§ .
§ .
Teil II:
Inhalt
b) Husserl: Vorurteil und Rechtfertigung 126 Der Naturalismus 132 a) Platon: Wider die Erdgeborenen b) Husserl: Ein ontologisches Missverständnis 136 Der Skeptizismus 140 a) Platon: Vorsokratische Verschanzungen b) Husserl: Antiphilosophie und transzendentaler Impuls Kritik: Metaphysische Fehlschlüsse
Systematik
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt § . Die Überwindung der natürlichen Einstellung 161 a) Platon: Entfesselung, Lähmung und Tod b) Husserl: Epochê 168 § . Himmel und Feld 173 a) Platon: Aufstieg b) Husserl: Reduktion 180 § . Verantwortung und Unverfügbarkeit 190 a) Platon: Das Befreiungswerk der Erkenntnis b) Husserl: Der andere Anfang 193 § . Kritik: Flucht und Hervorgang aus der Lebenswelt Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen § . Wesentliches 207 a) Platon: Ideenannahme und Ideenlehre b) Husserl: Ideen, Wesen, Eidê 212 § . Wesensschau a) Platon: Eidetische Evidenz 226 b) Husserl: Wesensschau als Sachnähe 232 § . Anamnesis a) Platon: Präexistenz oder Apriori 241 b) Husserl: Philosophie als Artikulation 246 § . Eidetische Variation a) Platon: Vom Symbol zum Urbild 256 b) Husserl: Verlassen der Nahsphäre 260 § . Kritik: Zu wenig Dialektik
146
Inhalt
Abschnitt F Philosophie und das Absolute § . Grenzprobleme 276 a) Platon: Das Eine b) Husserl: Der Urstand 281 § . Das Materialitätsprinzip 298 a) Platon: Das Andere b) Husserl: Die Hylê 301 § . Kritik: Ein eklatanter Mangel an Absolutheit Bibliographie Primärliteratur & Siglen 318 a) Platon b) Husserl 318 Weitere Literatur 329
Personenregister Sachregister
332
IX
Vorwort Philosophia tês tôn ontôn aei epistêmês orexis, hexis theôretikê tou alêthous, pôs alêthes, epimeleia psychês meta logou orthou. (Horoi)
Die vorliegende Arbeit ist eine Überarbeitung meiner Inauguraldissertation, die ich 2015 in Heidelberg unter dem Titel „Platons Bastard. Systematische und historische Untersuchungen zu den Platonischen Elementen der Philosophie Edmund Husserls“ abgeschlossen habe. Mein Dank gilt zuerst meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. Jens Halfwassen, der mich seit Beginn meines Studiums auf eine Weise gelehrt, unterstützt und gefördert hat, wie ich es mir nur wünschen konnte. Nicht weniger danken möchte ich meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Alexander Schnell, für sein teilnehmendes und motivierendes Interesse und für seine Aufgeschlossenheit in der Begleitung dieser Arbeit. Dr. Florian Arnold, Dr. Ute Arnold, Harald Gutsch, Dr. Tobias Keiling PhD, Judith Kreuter, Dr. Simone Neuber, Niklas Noë-Steinmüller, Richard Roth, Francesco Rosada, Paolo Savino und Dr. Daniel-Pascal Zorn möchte ich ganz herzlich für ihre Kommentare zu früheren Versionen der Arbeit danken bzw. für unsere Diskussionen ganz unterschiedlicher Aspekte meines Vorhabens. Profitiert habe ich außerdem sehr vom Austausch auf verschiedenen Tagungen, Sommerschulen, Kolloquien und Seminaren, die ich besuchen durfte. Allen Organisatorinnen und Organisatoren, sowie den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern sei daher hier kollektiv gedankt. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich nicht nur während meines Studium großzügig in ideeller wie finanzieller Hinsicht gefördert, sondern vor allem auch während der Abfassung der Dissertation, in die auch die Geburt unserer Tochter fiel. Ohne diese Förderung hätte ich die Arbeit sicherlich nicht so zügig fertigstellen können; ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gilt daher ebenfalls mein warmer Dank. Ebenso möchte ich den Herausgebern der Reihe, (noch einmal) Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante dafür danken, dass sie mich in die „Quellen und Studien zur Philosophie“ aufgenommen haben, gleichfalls habe ich Dr. Gertrud Grünkorn zu danken, die mich bei allen verlegerischen Fragen sehr hilfreich beraten hat. Zudem möchte ich meinen Dank auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Husserl-Archivs in Leuven aussprechen, die mich bei meinen Recherchen zu Husserls Platonlektüre so zuvorkommend unterstützt haben.
DOI 10.1515/9783110528053-001
XII
Vorwort
Als letztes danke ich meiner Frau Nora für ihre liebevolle Unterstützung, ihre vertrauensvolle Geduld und ihr entspanntes Gewähren-Lassen. Mit der vorliegenden Arbeit habe ich mich darum bemüht, ein Desiderat der Husserlschen Phänomenologie zu erfüllen, nämlich die detaillierte systematische Rückbeziehung der Phänomenologie auf ihre Urstiftung durch Platon. Mit dieser Reflexion habe ich jedoch zugleich auch versucht, meine eigenen philosophischen Wurzeln einzuholen. So wurde ich in die Studienstiftung aufgenommen, nachdem ich beim Landeswettbewerbs der Stiftung „Humanismus heute“ einen Vortrag mit dem – von heute aus gesehen kuriosen – Titel „Die Platonische Metaphysik als phänomenologisches System“ gehalten hatte. Damals las ich Platon mit Husserl, den ich gerade erst entdeckt hatte. Die vorliegende Arbeit stellt die Verhältnisse zwischen Phänomenologie und Metaphysik nun hoffentlich vom Kopf auf die Füße. Zu den Fußnoten sei noch gesagt, dass sie ausschließlich bibliographische Angaben enthalten. Wenn es sich beim Autor eines Zitats nicht um Husserl oder Platon handelt, ist der Name in Klammern hinter die zitierte Passage gesetzt, so dass der Blick in die (vielen) Fußnoten nur dann notwendig wird, wenn die Leserin oder der Leser wissen wollen, woher genau das Zitat stammt. Werden innerhalb eines Zitats im Original griechische Buchstaben verwendet, ist der entsprechende Ausdruck mit einem „[grch.]“ gekennzeichnet.
Einleitung § 1. Motivation und Exposition Mein Leben und das Platons ist eins. Ich setze seine Lebensarbeit fort, die Einheit seiner Leistungen ist Glied in der Einheit meiner Leistungen; sein Streben, sein Wollen, sein Gestalten setzt sich in dem meinen fort.¹
So schreibt Husserl in den Vorbereitungen für das „Systematische Werk“ 1921/22. Die vorliegende Arbeit hat zur Aufgabe, diese Einschätzung Husserls zu prüfen. Darin liegt einerseits die historische oder biographische Frage nach Husserls Platonkenntnis, die auch darüber entscheidet, ob Husserl zu derlei Aussagen überhaupt berechtigt ist, andererseits die systematische Frage nach der Nähe von Husserls Phänomenologie und Platons Metaphysik, die unabhängig von Husserls Platonkenntnis entscheidbar ist. In der vorliegenden Arbeit soll die Doppelthese belegt werden, dass Husserl seine Phänomenologie sowohl (mehr oder weniger) bewusst als auch (größtenteils) zurecht als (eine) Endstiftung der Platonischen Urstiftung versteht. Lohnt es sich aber überhaupt, für diese These zu argumentieren? D. h. ist sie prima facie wirklich unplausibel oder nicht-trivial genug, um die Anstrengung einer ausführlichen Arbeit zu rechtfertigen? (§ 1. a) Und wann wäre sie bewiesen? Und welchen Gewinn würde ein solcher Beweis zeitigen? (§ 1. b) Und welcher exegetische Ausgangspunkt ist in der Beweisführung vorausgesetzt? (§ 2. a) Und in welchem Interpretationshorizont liest Husserl selbst eigentlich Platon? (§ 2. b)
a) (K)Ein Kind der Neuzeit Husserl wirkt auf den ersten Blick wie ein legitimes Kind der Neuzeit. Die Zweifelsbetrachtungen des Descartes spielen eine wichtige Rolle in Husserls Theoriebildung und die an Descartes anschließenden Philosophien der „Neueren“ bestimmen die Phänomenologie maßgeblich, wobei neben Descartes sicherlich Hume² und Kant³ die größte Rolle spielen: „phenomenology continues the transcendental of Kant, the originary of Hume, and the doubt and cogito of Descar-
Hua XIV (Intersubjektivität II), S. 198. Berger, „Husserl und Hume“, S. 210. Vgl. Kern, Kant und Husserl. DOI 10.1515/9783110528053-002
2
Einleitung
tes.“⁴ (Ricoeur) Innerhalb der Neuzeit kombiniert Husserl verschiedene Ansätze frei, um jeweils spezifische Schwächen einzelner Theorien auszugleichen. So eignet sich Husserl z. B. den Cartesianischen Radikalismus und den (Neu‐)Kantianischen Transzendentalismus auf eigene Weise an, stellt aber ebenso fest, dass das Cartesianische und das (Neu‐)Kantianische Vorgehen „nicht der Forderung auf Evidentmachen, auf zur unmittelbaren Anschauung Bringen“⁵ (Landgrebe) entspricht. Diese Forderung auf Evidentmachen findet er dann wiederum bei Hume erfüllt: „Die Methode des direkten Aufweises der transzendentalen Subjektivität, die Kant, regressiv konstruierend verfährt, nicht kennt, ist vom englischen Empirismus zu lernen.“⁶ (Seebohm) In diesem Sinn ließe sich Husserls Denken als „eigenartige Synthese des kritischen und intuitionistischen Denkens“⁷ (Seebohm) charakterisieren. Trotz aller Mischung und Kreuzung bliebe die Phänomenologie dabei gleichwohl fest in der Neuzeit verwurzelt. Dass die „Idee der Phänomenologie“ zunächst von einem klassischen Problem der neuzeitlichen Erkenntnistheorie ihren Ausgang nimmt, bestätigt diese Einschätzung. Ausgangspunkt der Phänomenologie als „Erkenntnistheorie“ oder „Erkenntniskritik“⁸ ist nämlich die „Bedenklichkeit der Transzendenz“, d. h. die Frage „wie kann Erkenntnis über sich hinaus, wie kann sie ein Sein treffen, das im Rahmen des Bewusstseins nicht zu finden ist?“⁹, wie Husserl im Problemaufriss der fünf Vorlesungen zur Idee der Phänomenologie zu Beginn des Sommersemesters 1907 formuliert. Aber auch die weitere Entwicklung der Phänomenologie in eine transzendentale Konstitutionstheorie mit ihren statischen, genetischen und generativen Perspektiven scheint aller antiken Metaphysik diametral entgegengesetzt. Aus großer theoretischer Höhe betrachtet, stellt sich Platons Denken nämlich als vertikal dar: Die Seinsebenen des Kosmos schichten sich auf zwischen dem Einen und dem Vielen, der Idee des Guten und der Materie, der Chora, hierarchisch geordnet nach dem Grad ihrer Einheit, Ordnung und Bestimmtheit (und damit auch Erkennbarkeit), wobei wir Menschen uns einordnen in diesen großen Zusammenhang.¹⁰ Wir sind dabei ontologisch mehr oder weniger unschuldig, d. h. uns ist die Bürde der Letztkonstitution der Welt genommen, nur ihre Erkenntnis müssen wir leisten und unsere Seele ordnen, wenn wir unserem Mensch-Sein
Ricoeur, Husserl, S. 4. Landgrebe, „Abschied vom Cartesianismus“, S. 173. Seebohm, Die Bedingungen der Möglichkeit, S. 42. Seebohm, Die Bedingungen der Möglichkeit, S. 86. Hua II (Die Idee der Phänomenologie), S. 3. Hua II (Die Idee der Phänomenologie), S. 5. Vgl. Gadamer, „Die Griechische Philosophie und das moderne Denken“.
§ 1. Motivation und Exposition
3
nachkommen und glücklich werden wollen. Platon kennt zwar klarerweise Merkmale des Selbstbewusstseins, aber es ist in der Metaphysik ontologisch dezentriert. Husserl dagegen geht es um Phänomenalität, um Gegebenheit, um die Leistungen der transzendentalen (Inter‐)Subjektivität; die transzendentale Phänomenologie steht daher in gewissem Sinn ‚orthogonal‘ zu allen klassischen Fragen nach dem Sein: „What Husserl does seek in the domain of Erlebnisse is the „origin“ of [the] givenness of objects […] Not the being of objects, but their being for me is what has to be accounted for.“¹¹ (Carr) Für Husserl gilt daher, „dass es andere philosophische Probleme als die von Sinn, Geltung und Bedeutung überhaupt nicht gibt.“¹² (Gurwitsch) Der Versuch, die „Elementargrammatik des transzendentalen Geistes“¹³ zu verstehen, ist kein ontologisches Projekt, wird zumindest von Husserl nicht als ein solches eingeführt und „dass die Subjektivität der Objektivität an Seinsdignität vorher geht“¹⁴, ist eine äußerst unplatonische Annahme. So stehen sich scheinbar ein vertikales Ordnungs- oder Bestimmungsdenken und ein horizontales Geltungs- oder Bewusstseinsdenken unversöhnlich gegenüber. Dazu kommt beim späten Husserl ein Erwachen des Geschichtsbewusstseins, das das „Ende des Platonismus“¹⁵ (Lübbe) bereits in der Phänomenologie des Gründers scheinbar restlos besiegelt, insofern der Platonismus angeblich nicht wirklich Geschichtlichkeit denken könne. Das Verhältnis von Platon und Husserl stellt sich, kurz gesagt, als paradigmatische Instanz der (höchst problematischen)¹⁶ Antithese von Antike und Moderne dar. Vor diesem Hintergrund mag man geneigt sein, in Husserls Denken eher wenige genuin Platonische Momente zu sehen oder zu suchen: „Die einzige Gemeinsamkeit Husserls und Platos ist […] in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Psychologisierung idealer Gegenstände zu suchen, darüber hinaus sind Parallelen schwer zu finden.“¹⁷ (Seebohm) – Und selbst diese Gemeinsamkeit ist keine spezifische. Denn während Platon und Husserl hier zwar auf derselben Seite stehen mögen, dürften Freges Antipsychologismus, Natorps transzendentale Psychologie und natürlich Brentanos Theorie der Intentionalität und der intentionalen Inexistenz viel größeren Einfluss auf Husserls Positionierung gehabt
Carr, The Problem of History, S. 13. Gurwitsch, „Rezension: Berger“, S. 226. Briefe Dok III/9, S. 110. (Brief an Albrecht 1934) Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 215 Lübbe, „Das Ende des Platonismus“. Vgl. Schmitt, Die Moderne und Platon. Seebohm, Die Bedingungen der Möglichkeit, S. 141.
4
Einleitung
haben als Platons ursprüngliche Ausführungen. Wer eine Beziehung zwischen Platonismus und Phänomenologie herzustellen wünscht, scheint bei den ‚realistischen‘ Phänomenologen besser aufgehoben zu sein als bei Husserl.¹⁸ Dieser würde dann nur insofern am Platonischen Fußnotenroman mitschreiben, als Whiteheads Charakterisierung von Platons Einfluss letztlich jeden europäischen Denker in Platons Einflussbereich bringt: The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato. I do not mean the systematic scheme of thought which scholars have doubtfully extracted from his writings. I allude to the wealth of general ideas scattered through them. His personal endowments, his wide opportunities for experience at a great period of civilization, his inheritance of an intellectual tradition not yet stiffened by excessive systematization, have made his writings an inexhaustible mine of suggestion.¹⁹ (Whitehead)
Im Folgenden soll dagegen gezeigt werden, dass Husserl nicht nur gewisse „general ideas“ aus Platons unerschöpflicher Miene aufnimmt, die durch die Zeiten von Athen bis nach Halle, Göttingen oder Freiburg diffundiert sind, sondern dass er die Phänomenologie in vielerlei Hinsicht so konzipiert, dass wir sie als bewusste, wenn auch eigenwillige Endstiftung desjenigen philosophischen Projekts verstehen können, dessen Urstiftung Platon geleistet hat:²⁰ „Twentieth century phenomenology articulates itself in terms of both an implicit and explicit interpretation of Greek philosophy. ‚Phenomenology‘ is not only a Greek-based word, it signifies a Greek way of thinking.“²¹ (Murray) Die Kombination von griechischem und neuzeitlichem Denken bei einem Übergewicht des ersteren spiegelt sich in Husserls Einschätzung des Verhältnisses von Platon und Descartes. So hält Husserl 1922 am University College London Vorträge über die „Phänomenologische Methode und phänomenologische Philosophie“. In ihnen reflektiert er auch über die Frage, welche Denker ihn am meisten geprägt haben: Sollte ich heute unter dem Aspekt der mir zugereiften Gesamtüberzeugungen sagen, welche Philosophen mir im Rückblick auf die Geschichte der Philosophie vor allen hervorleuchten, so würde ich vor allem zwei nennen, die ich darum nicht etwa auf eine Rangstufe stellen möchte: an erster Stelle den ganz unvergleichlichen Platon, den Schöpfer der Idee strenger Wissenschaft oder philosophischer Wissenschaft, in dem ich überhaupt den eigentlichen
Landmann, „Socrates as Precursor“, S. 23 f; vgl. Lübbe, „Das Ende des Platonismus“, S. 654. Whitehead, Process and Reality, S. 39. Hua VI (Krisis), S. 73. Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 501.
§ 1. Motivation und Exposition
5
Begründer unserer wissenschaftlichen Kultur sehen möchte. Als zweiten Namen würde ich Descartes nennen, ohne ihn damit als den Größten der Neueren einschätzen zu wollen.²²
Dieselbe Passage findet sich in seinen Vorlesungen zur Einleitung in die Philosophie aus demselben Jahr,²³ außerdem in seinen Erste Philosophie-Vorlesungen von 1923/24,²⁴ er meint es also offenbar ernst: Der unvergleichliche Platon steht für ihn an erster Stelle. Auf die innere Beziehung zwischen Husserl und Platon wurde zwar immer wieder hingewiesen, Husserls Konzept der Wesensschau etwa lädt dazu ein, die Phänomenologie als „Wiedergeburt des Platonismus“²⁵ (Diemer) zu katalogisieren, aber wenige Interpreten haben die Verbindungen zwischen Husserl und Platon bzw. Phänomenologie und Platonismus wirklich eingehend untersucht;²⁶ unter anderem vielleicht auch deshalb, weil gewisse Textpassagen, die für dieses Unternehmen entscheidend sind, nicht zugänglich waren. So beziehen wir uns im Folgenden immer wieder auf Texte aus den Husserliana-Bänden 41 und 42, sowie auf den Materialien-Band 9, die alle erst vor kurzem erschienen sind. Zu den Arbeiten, die sich des Verhältnisses von Husserl und Platon näher annehmen, zählen unter anderem Schriften von Landmann, Souche-Dague, Held und Hopkins, dessen Arbeiten sich nicht nur dadurch auszeichnen, dass er die Tübinger Schule rezipiert, sondern auch dadurch, dass er einerseits Husserl mit Platon und andererseits Platon mit Husserl liest – und so das hermeneutische Desiderat erfüllt, die „Husserlsche Lehre von der eidetischen Intuition“ als „Interpretationsmittel“ auf das zurückzuwenden, „was ihre Begriffe als ihr Modell nennen, auf die platonische Ideenlehre“²⁷ (Ebert). Die vorliegende Arbeit soll über die bisherigen Ansätze insofern hinausführen, als in ihr nicht nur detaillierter als bisher vorgegangen wird, sondern auch holistisch oder konfigurativ gedacht wird. Was bedeutet das?
Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 313. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 52 Hua VII (Erste Philosophie I), S. 7. Diemer, Edmund Husserl, S. 3. Vgl. Hopkins, „Transcendental and Eidetic Reductions“, S. 81 und dort FN 2 für eine begrenzte Literaturübersicht bzw. eine Übersicht über die begrenzte Literatur. Ebert, Meinung und Wissen , S. 16.
6
Einleitung
b) Platonismus als Grundkonfiguration der Phänomenologie „Platonismus“ wird im Folgenden nicht nur als Bezeichnung einer Familie von realistischen Positionen innerhalb des Universalienstreits²⁸ oder spezieller der Ontologie der Mathematik²⁹ verstanden, d. h. als Synonym einer schmal verstandenen ‚Ideenlehre‘, sondern vielmehr als Name einer ganzen Philosophie. Während der zeitgenössische, partikularistische Begriff nur eine Seite in einer bestimmten Streitfrage benennt, meint der traditionelle Begriff des Platonismus eine Philosophie im eminenten Sinne, d. h. eine Struktur oder Konfiguration von vernetzten Annahmen und Argumenten, die sich über theoretische wie praktische Philosophie erstreckt und letztlich eine Weltsicht oder Lebenseinstellung bildet. Je nachdem, welche Eck- oder Ankerpunkte wir für diese Struktur anlegen wollen, müssen wir z. B. Aristoteles, Plutarch, Plotin, Augustinus, Fichte oder Gödel ebenso als Platoniker verstehen wie Platon selbst.³⁰ Die Abschnitte dieser Arbeit präsentieren die Kernpunkte, die den Platonismus als Philosophie im hier gemeinten Sinn auszeichnen. Dazu gehören ein bestimmtes Verständnis von Wissenschaftlichkeit und der Beziehung zwischen Philosophie und Wissenschaft (Abschnitt A), ein bestimmtes Verständnis des wahren Selbst von Person und Gesellschaft und der Rolle, die Philosophie bei ihrer Entwicklung zu spielen hat (Abschnitt B) und ein kontroverses Verhältnis zu gewissen anderen Formen des Denkens (Abschnitt C), außerdem die Abständigkeit vom alltäglichen oder natürlichen Denken (Abschnitt D), das Abzielen auf Wesenseinsichten (Abschnitt E) und letztlich die Suche nach dem Absoluten (Abschnitt E). Die ersten Abschnitte bilden unter dem Stichwort „Programmatik“ den ersten Teil der Arbeit. Sie betreffen Aufgabe und Stellung der Philosophie. Die letzten drei Abschnitte werden im zweiten Teil unter dem Titel „Systematik“ behandelt. Sie betreffen das Vorgehen des Philosophen. Die einzelnen Gebiete stehen dabei nicht zusammenhangslos nebeneinander, sondern bilden als Konfiguration oder Struktur eine innere Einheit, so dass sich nicht nur die Systematik aus der Programmatik ergibt, sondern auch die programmatischen Ansätze aufeinander verweisen. Mit Deleuze und Guattari kann man sagen, in der Husserlschen Philosophie werden Platonische Begriffe und Platonische Begriffskomponenten auf transzendentaler Ebene reaktiviert, wodurch sich eben wieder neue, ganz eigene Begriffe bilden, aber eben auch Spannungen innerhalb der phänomenologischen
Siehe Balaguer, „Platonism in Metaphysics“. Siehe Linnebo, „Platonism in the Philosophy of Mathematics“. Vgl. dazu Arnold, „Configuration and Transposition“.
§ 1. Motivation und Exposition
7
Immanenzebene.³¹ Die so erscheinende, auf den ersten Blick vielleicht paradoxe Gestalt eines phänomenologischen Platonismus lässt sich durch drei (heuristische) Metaphern besser verstehen. a) Husserls Phänomenologie ist eine Transposition von Platons Metaphysik in das Milieu der modernen Transzendentalphilosophie, eine Adaption, eine Neuinstrumentierung sozusagen. Husserl nimmt Motive und Themen von Platon auf, überträgt sie von einer antiken in eine moderne Tonart und ändert die Besetzung des Ensembles (wie von Chor mit Lyra, Kithara oder Aulos zu Geige oder Klavier und Orchester). Die Platonische Melodie lässt sich in der Phänomenologie noch erkennen, gleichwohl klingt sie merklich anders. Platonismus im partikularistischen Sinne ist im Feld dieser Metapher nur ein Motiv oder Thema unter anderen. b) Wir hatten oben bereits skizziert, wie sich Platons vertikal-ontologisches Ordnungsdenken und Husserls horizontal-subjektivistisches Geltungsdenken orthogonal zueinander verhalten. Die These von der systematischen Übereinstimmung lässt sich dann als Kongruenzthese neu formulieren: Platon und Husserl sind zwar nicht identisch orientiert, aber in vielen Fragen sind ihre Positionen trotzdem deckungsgleich. c) Die Metapher, die der Arbeit ihren ursprünglichen Titel Platons Bastard gab, entspricht dem genealogischen Denken des Aristokraten Platon: Parmenides ist der Vater seiner Philosophie (Sophistês),³² der Eros treibt Philosophen und Nomotheten zur Zeugung unsterblicher Kinder und ist selbst Produkt eines Samenraubes, d. h. ein Bastard (Symposion).³³ Die Materie, die Chôra, bezeichnet er als „Amme des Werdens“, die wiederum nur durch ein gewisses „Bastard-Denken (nothô logismô)“³⁴ erfassbar ist (Timaios). Ein philosophischer Bastard ist dann zu verstehen als ein Denken, das die Gene einer Theoriefamilie mit denen einer ganz anderen mischt, so dass es zwar Züge des ersten Theoriestranges zeigt, aber doch nicht ganz zur Familie gerechnet werden darf; der Platonismus im partikularistischen Sinn ist hier ein Merkmal neben anderen. Die Illegitimität des Bastards ergibt sich aus Platonischer Perspektive durch die Zentrierung der Philosophie um das transzedentale Subjekt. Insofern alle europäischen Philosophien nach Platon in seinem Erbe stehen, müssen sie alle mehr oder weniger als die Bastarde Platonischen Denkens gelten, wobei diese genealogische Formulierung vielleicht noch besser passt als Whiteheads schon zitierte „Fußnoten“-Bemerkung; denn Platon ist der Schrift gegenüber, in der Fußnoten überhaupt erst auftauchen können, bekanntermaßen skeptisch, was es weiter unten noch zu bedenken gilt. Während also fast alles europäische Denken an Platons theoretischen Genen (oder genê) teilhat, gilt dies
Deleuze, Guattari, Was ist Philosophie, S. 35, 38. Soph. 241D. Sym. 203C, 207Aff. Tim. 52B.
8
Einleitung
für Husserls Phänomenologie in besonders markanter Weise. Sie hat zwei Eltern, deren Züge man sehr deutlich erkennt: Sozusagen mütterlicherseits finden wir die moderne Subjektivitätstheorie, die von Descartes, Hume und Kant herstammt, auf der anderen Seite „den ganz unvergleichlichen Platon“, wie Husserl in seinen Londoner Vorträgen formuliert. Diese Familiengeschichte drückt sich unter anderem in Husserls Sprache aus, die sich zu beinahe gleichen Teilen aus griechischer und neuzeitlicher Terminologie zusammensetzt.³⁵ Die Platonischen Gene der Phänomenologie herauszuarbeiten, ist die systematische Aufgabe der vorliegenden Arbeit. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie genau wir die Verwandtschaftsbeziehung zwischen zwei Philosophien – jenseits eventuell überlappender Terminologie und teleologischer Selbstzuschreibungen³⁶ – prüfen können. Die Metaphern der Transposition, der Kongruenz und der Bastardisierung implizieren alle gleichermaßen, dass wir keine simplen Identitäten zwischen Husserl und Platon erwarten sollten; denn zwei kongruente Figuren sehen nicht identisch aus, sie unterscheiden sich durch ihre Lage, ein transponiertes Musikstück klingt nicht genau so wie in der ursprünglichen Tonart und ein Bastard trägt vielleicht Züge des legitimen Elternteils, aber eben auch Züge des anderen. In einer leichten Abänderung des Bildes können wir das moderne Subjektivitätsdenken in diesem Metaphernfeld statt als Mutter eben so gut auch als Milieu betrachten, in dem sich die Platonischen Gene anders ausprägen als im antiken Umfeld: „If Husserl was to turn to first philosophy, he had to do so within the setting given him by his day and age. He had to think through the turn to the subject.“³⁷ (Sokolowski) Dann ist die transzendental-subjektive Anlage der Phänomenologie zwar durchaus der „point [en ce] que se situe l’opposition décidée de la phénoménologie au platonisme traditionnel“³⁸ (Souche-Dague), aber kein „point decisif“³⁹ (Lowit) der absoluten Divergenz, an dem Husserls Phänomenologie und Platons Metaphysik gänzlich inkompatibel werden; vielmehr ist die transzendentale Herangehensweise Husserls Versuch, den Platonismus zu vollenden: „We can interpret his turn to the subject not as an innovation but as a return, in a modern vocabulary, to the perennial philosophical issue.“⁴⁰ (Sokolowski) Die Husserlsche Transzendentalphilosophie ist auf diese Weise keine antiker Platonismus, sondern ein subjekti-
Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 502 ff. Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 502. Sokolowski, „Husserl on First Philosophy“ S. 20. Souche-Dague, „Le Platonisme de Husserl“, S. 356. Lowit, „Pourquoi Husserl N’est Pas Platonicien“, S. 336. Sokolowski, „Husserl on First Philosophy“, S. 8.
§ 1. Motivation und Exposition
9
vierter, transzendentalisierter oder „konstituierter“⁴¹, eben ein moderner Platonismus. Zugleich zeichnet sich der Platonismus im holistischen Sinn, wie oben schon bemerkt, auch nicht durch die Übereinstimmung in einer bestimmten DetailDiskussion aus. Um die Platonische Konfiguration oder Grundmelodie der Phänomenologie erkennbar zu machen, müssen wir daher alle oben genannten Bereiche einzeln durchgehen, jeweils die Art und Weise der Transposition zeigen und den inneren Zusammenhang aller Teilgebiete aufweisen. Wir werden, um die lokalen und globalen Analogien zwischen Husserls und Platons Denken aufzuweisen, zunächst jeweils die Platonische Position skizzieren, um daraufhin Husserls Variante vorzustellen, wobei sowohl Identitäten als auch Divergenzen zu überprüfen sind. Dadurch ergibt sich eine Darstellungsweise, die in ihrer Dichotomie etwas schulisch wirken mag. Das Verhältnis von Thema und Variation lässt sich jedoch nicht anders als in Abfolge darstellen, die Frage ist dabei nur, in welche Einheiten sie am günstigsten zu gliedern ist. Eine sehr kleingliedrige Verfahrensweise droht, den Gesamtzusammenhang aus dem Blick verschwinden zu lassen, während eine gröbere Einteilung wiederum relevante Detail-Übereinstimmungen verdecken könnte. Es wäre sicherlich möglich gewesen, z. B. jeweils die Abschnitte dichotomisch zu bearbeiten, also für jeden der sechs genannten Bereiche zuerst Platons und dann Husserls Position im Ganzen zu entwickeln. Dies hätte vermutlich den Lesenfluß verbessert. Um die Behauptung, die Phänomenologie sei eine (eigenwillige) Variante des Platonismus, zu untermauern, reicht es jedoch nicht, darauf hinzuweisen, dass beide Denker in den genannten Bereichen ähnliche Gedanken hatten. Vielmehr müssen die spezifischen Übereinstimmungen herausgearbeitet werden, die sich innerhalb der Bereiche als Thesen manifestieren (lassen). Es bedarf zum Gelingen der Arbeit mithin – mit Husserl gesprochen – des „Kleingeldes“. So sind also nicht die Abschnitte dichotomisch geteilt, sondern eben die Paragraphen, in denen es jeweils um bestimmte Positionen innerhalb der Themenbereiche geht. Die Arbeit geht mithin auf der Ebene (konkreter) Thesen, nicht (abstrakter) Themen vor. Innerhalb der einzelnen thematischen Abschnitte werden die folgenden Thesen diskutiert: – Abschnitt A: Die sogenannten Wissenschaften sind bloße Techniken, insofern sie ihre Voraussetzungen nicht aufklären können. Wissenschaft muss absolut fundiert sein. Absolute Fundierung ist Fundierung im Absoluten. Nur Philosophie kann die Normen der absoluten Reflexion erfüllen. Sie ermöglicht damit Wissenschaft und ist selbst absolute Wissenschaft.
Tieszen, „Mathematical Realism“.
10
–
–
–
–
–
Einleitung
Abschnitt B: Der Mensch realisiert sein Wesen – und damit ein gelingendes Leben, Freiheit und Authentizität – nur durch die vernünftige Orientierung an idealen Normen. Nur die Philosophie ist imstande, das von ihr entdeckte telos zu aktualisieren. Abschnitt C: Die unhinterfragte Tradition ist insofern Gegner der Philosophie, als sie die Notwendigkeit der Rechenschaftsabgabe und ihre eigene Klärungsbedürftigkeit nicht anerkennt. Der Naturalismus ist einseitig; er versperrt den Blick auf relevante Probleme oder die Mittel, sie zu lösen. Antiskeptizismus ist ein integrales Moment Platonischer Philosophie, da der Skeptizismus die Möglichkeit von objektivem Wissen bezweifelt. Abschnitt D: Philosophie erfordert den Bruch mit dem natürlichen Weltleben. Dialektik und Phänomenologie erschließen sich jeweils einen eigenen, nichtnatürlichen Gegenstandsbereich. Die Umwendung zur Philosophie ist Schicksal und zugleich Akt der Freiheit. Abschnitt E: Philosophie ist Ideenwissenschaft. Ideen sind Seiendes sui generis. Die Anschauung der Ideen fundiert philosophische Urteile. Ideenerkenntnis ist Explikation von Vorgegebenem.Wesenserkenntnis basiert auf der Universalisierung des bloß Typischen. Dazu dienen gewisse variative Verfahren. Abschnitt F: Das Absolute fungiert als Einheits-Pol, ist ungegenständlich und anonym. Ihm eignet onto-epistemologische Primordialität Das Absolute fungiert in einem Milieu der Vielheit. Ihm ist ein Prinzip des Stoffs untergeordnet.
a) Welchen Sinn hat diese Untersuchung der Verbindungen zwischen Husserl und Platon? b) Und widersetzen wir uns damit nicht Husserls Forderung zur systematischen Forschung an den Sachen selbst? Zu a) Alles in allem erhoffen wir uns aus ihr dreifachen Gewinn. Erstens liefert sie einen historischen Beitrag zur Husserlforschung, insofern sie Husserls Platonkenntnisse näher untersucht; zweitens zeigt sie, sozusagen für die Platoniker, wie sich Platonische Grundgedanken in die Umgebung moderner Subjektivitätstheorie transponieren lassen; und drittens eröffnet sie dank der Platonischen Optik eine neue Perspektive auf die programmatische und systematische Grundkonfiguration der (Husserlschen) Phänomenologie, was jenen Phänomenologinnen und Phänomenologen, die um einen klaren Blick auf die eigenen philosophischen Voraussetzungen bemüht sind (zu denen der Autor sich selbst auch zählt), zugute kommen könnte. Zu b) Was eine mögliche Husserlsche Kritik der vorliegenden Arbeit angeht, so ist die Aufgabe der Phänomenologie zwar die reflexive Erforschung subjektiver Konstitutionsprozesse, aber zu ihr gehört – qua umfassend fundierter Wissen-
§ 1. Motivation und Exposition
11
schaft – ebenso die Reflexion auf das eigene Denken; der historische Rückgang zur Urstiftung ist Teil dieser Selbstbesinnung der Philosophie.⁴² Husserl selbst spricht in einem Brief an Felix Kaufmann in diesem Zusammenhang von „geschichtsphilosophischen Untersuchungen, die eigentlich der oberste Abschluss der Selbstverständigung u. systematischen Gestaltung der transzendentalen Phänomenologie sind“⁴³. Innerhalb des phänomenologischen Umgangs mit der Geschichte der Philosophie soll die „kritische Besinnung auf die Philosophiegeschichte […] den einheitlichen Aufgabensinn, der die Philosophiegeschichte geleitet hat, herausstellen.“⁴⁴ (Vasquez) Die Philosophie kommt bei aller ahistorischen Sachforschung nicht umhin, ihren eigenen Werdegang nachzuzeichnen. Andere Berufe haben gewiss eine Geschichte, die Verwirklichung ihrer Aufgaben bedarf jedoch nicht einer Reflexion auf diese Geschichte und ihren konstituierenden Sinn. Anders die Philosophie, deren Aufgabe erst durch die Selbstbesinnung des Philosophen auf die Sinnesgenesis dieser Aufgabe zu einer Gegebenheit kommt, die dann zur verantwortbaren Selbstentscheidung dient.⁴⁵ (Vasquez)
Eine „historische Rückbesinnung der in Rede stehenden Art ist also wirklich eine tiefste Selbstbesinnung auf ein Selbstverständnis dessen hin, worauf man eigentlich hinaus will, als der man ist, als historisches Wesen.“⁴⁶ Unter der (Hegelschen) Voraussetzung einer teleologischen Entwicklung der Philosophigeschichte kann dann die historische Besinnung sogar als „eigenständige Einleitung in die Phänomenologie“ fungieren, „insofern sie die Umwendung zur Transzendentalität zu motivieren vermag“⁴⁷ (Vasquez), wie es Husserl auf unterschiedliche Weisen in seinen Erste Philosophie-Vorlesungen von 1923/24 und in der Krisis versucht hat. Letztlich versteht sich die vorliegende Arbeit als Durch- oder Weiterführung eines Husserlschen Programmpunkts, nämlich der historischen Selbstbesinnung, d. h. des genetischen Rückgangs auf die Urstiftung einer Geistesgestalt. So hat Carr überzeugend dafür argumentiert, dass Husserl in der Krisis nicht nur die objektivistische Traditionslinie kritisiert, indem er den Umschlag von methodischer Abstraktion und Interpretation in ontologischen Reduktionismus nachzeichnet, sondern auch seinen eigenen naiven Umgang mit übernommenen philosophischen Vorurteilen, wie sie sich vor allem in seinem Weltbegriff niedergeschlagen
Vgl. Carr, Phenomenology and the Problem of History, Kapitel 2. Briefe Dok III/4, S. 210 (Brief an Kaufmann). Vasquez, Intentionalität, S. 19. Vasquez, Intentionalität, S. 18. Hua VI (Krisis), S. 73. Vasquez, Intentionalität, S. 19.
12
Einleitung
hatten, bevor er die Notwendigkeit einer historischen Selbstbesinnung sah. Indes geht diese „historische Reduktion“ in der Krisis nur bis zum Anfang der Neuzeit.⁴⁸ Husserls Wurzeln reichen aber sehr viel tiefer – eben (mindestens) bis zu Platon. Darüber war er sich in Ansätzen durchaus klar, wie seine ständigen Platonbezüge zeigen. Konkret und detailliert durchgeführt hat Husserl die Rückbesinnung seines Denkens auf Platon allerdings nie. „What is so remarkable about the fact that Husserl speaks Greek […] is that despite his constant proclamations about radical self-reflection and re-examination, Husserl never really attends to this massive fact of his own thought.“⁴⁹ (Murray) Das soll nun präzise Aufgabe der vorliegenden Studie sein. Husserl selbst hat sich übrigens über eine Arbeit, die dem Vergleich von Husserl mit Platon gewidmet war, sehr gefreut. In einem der letzten Briefe an Heidegger berichtet er von seinen Vorträgen in Amsterdam: „Auch waren von Leiden und Utrecht die wissenschaftlich Interessierten herübergekommen. Ein junger Dr überreichte mir seine Leidener DrArbeit: Plato und Husserl (!!).“⁵⁰ (Diese Bemerkung bezieht sich auf Henri Schmidt Degeners Utrechter (nicht Leidener) Dissertation, Proeve eener vergelijkende studie over Plato en Husserl. Bijdrage tot de transcendentale psychologie, Groningen 1924. Hätte Husserl sie gelesen, dürfte er sich wohl weniger gefreut haben, denn Schmidt Degener sieht ihn vor allem nah an Kant, nicht an Platon.⁵¹) Ähnlich wie in Heideggers und Derridas Arbeiten zu Husserl soll es darum gehen, Linien zwischen Platon und Husserl zu ziehen, um ein gewisses zu Verständnis ermöglichen, einen – hoffentlich neuen – Blick auf Sinn und Sache des Husserlschen Denkens zu gewinnen. Anders als bei den Genannten soll diese neue Perspektive allerdings nicht genutzt werden, Husserl einen Strick aus seiner Herkunft zu drehen. Der Rückgang auf Platon ist weder eine Rechtfertigung (Deduktion) noch eine De(kon)struktion, sondern dient vor allem dazu, den Sinn der Husserlschen Phänomenologie als Nachstiftung vor dem Hintergrund der Platonischen Urstiftung zu verstehen. Aus diesem Blickwinkel, der die Platonischen Themen als „Brennpunkte“⁵² (Adorno) versteht, lassen sich dann Inkonsistenzen in Husserls Philosophie aufspüren. Sofern es in ihr also um eine genealogisch-kritische Selbstbesinnung der Phänomenologie geht, handelt sich bei der vorliegenden Studie primär um eine phänomenologische, nicht um eine historische Arbeit.
Vgl. Carr, The Problem of History, S. 178 ff. und S. 274. Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 503. Briefe Dok III/4, S. 155, Brief an Heidegger vom 9. 5.1928. Kortooms, „Netherlands and Flanders“, S. 485. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 9.
§ 2. Lektüren
13
§ 2. Lektüren a) Platons Schriftkritik Bevor wir mit der eigentlichen Untersuchung beginnen können, sind noch einige eher philologische Fragen zu beantworten, die den Rahmen der Arbeit wesentlich mitbestimmen: Wie sollen wir Husserl lesen? Wie sollen wir „Platon lesen“⁵³ (Szlezák)? Wie liest Husserl Platon? Wie lässt sich verhindern, dass aus dem Durch-einander-Lesen ein Durcheinander-Lesen wird, d. h. wie lässt sich verhindern, dass die jeweiligen Lektüren von vorneherein so aufeinander abgestimmt sind, dass das Ergebnis trivial ist? Die beiden mittleren Fragen erhalten ihre Berechtigung aus den Eigenarten des Platonischen Werkes, die seine Interpretation viel schwieriger machen als die anderer Autoren. Während schon beim Begründer der Phänomenologie ein Titel wie „The Other Husserl“ (Welton) tiefgreifende Differenzen in den Auslegungsmöglichkeiten anzeigt, so deutet der Titel „The Other Plato“ (Nikulin) auf wahre Abgründe hin. Wir stellen uns in der vorliegenden Arbeit in beiden Fällen klar auf die Seite dieser „Anderen“ und setzen den „other Husserl“ mit dem „other Plato“ in Verbindung. Für Husserl gestaltet sich die Auslegung dabei nicht wesentlich schwieriger als für andere Autoren. Die genannte Perspektive des „anderen Husserl“ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass einerseits das ganze Werk berücksichtigt wird, inklusive transzendentaler ‚Wende‘ und den Entwicklungen der konstitutiven, genetischen und generativen Phänomenologie. Andererseits wird dabei davon ausgegangen, dass kein fundamentaler Bruch zwischen den verschiedenen Phasen seines Denkens vorliegt, sondern sie eine Entwicklung darstellen.⁵⁴ Platon dagegen stellt die Interpretation bekanntermaßen vor einzigartige, sozusagen genuin Platonische Probleme.⁵⁵ Vor allem der literarisch-dialogische Charakter der Platonischen Texte, die Aporien und die Schriftkritik, die sich im Phaidros und im 7. Brief findet, erschweren die Deutung und erfordern eine Herangehensweise an die Dialoge, die sich von der Hermeneutik anderer Texte merklich unterscheidet. Die Literarizität der Dialoge hat zur Folge, dass wir ihre Funktion nicht auf die traktathafte Mitteilung von Platons Thesen reduzieren dürfen. Dass Platon nicht darauf aus war, fertige Theorien vorzulegen, obwohl er darüber verfügte, zeigt sich daran, dass so viele Dialoge aporetisch enden und die Szlezák, Platon lesen. Vgl. Welton, „Introduction“ in The Other Husserl. Vgl. Arnold, Halfwassen, „Plato“, in: International Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences 2nd edition, 2015.
14
Einleitung
Aporien zugleich ganz offensichtlich so geschickt und offensichtlich auf der Basis systematisch weit gediehener Überlegungen konstruiert sind, dass ein kluger Leser sie auflösen kann.⁵⁶ Schließlich ist die im Phaidros und 7. Brief vorgebrachte Schriftkritik zu bedenken: Die Schrift kann uns, wie Sokrates ausführt, demnach keine wirklich deutlichen und sicheren Inhalte liefern,⁵⁷ weil sie die in ihr präsentierten Thesen weder erklären oder verdeutlichen noch verteidigen oder sichern kann;⁵⁸ vielmehr sagt sie immer dasselbe und ist damit argumentativ hilflos, pädagogisch unfähig und angewiesen auf den „Vater“, d. h. den philosophischen Autor, der ihr dank seines tieferen Verständnisses des in der Schrift behandelten Themas jederzeit zur Seite springen kann. Der „inhaltliche Überschuss“⁵⁹ (Szlezák) gegenüber den eigenen Schriften und die Möglichkeit, auf Wesentlicheres (timiôtera) zurückzugreifen, zeichnen den Philosophen vor anderen Schriftstellern aus. Anders als der Philosoph kann die Schrift auch nicht selbst darüber entscheiden, wem sie sich mitteilt, sondern sie „treibt sich herum“⁶⁰. Schriften sind daher nicht viel mehr als ein Spiel und der Dialektiker geht mit seinen Gedanken ebenso vorsichtig um wie der kluge Landmann mit seinen Samen, d. h. er pflanzt vielleicht einige Samen zum Vergnügen in ein Adonisgärtchen, das schnell erblüht und schnell verwelkt, aber den Samen, von dem er sich viel Ertrag wünscht, pflanzt er in den sorgsam ausgesuchten Boden. Dem Adonisgärtchen entspricht die philosophische Schrift: Auch sie ist bloß Spiel für den Dialektiker, der mit den logoi ebenso sorgsam umgeht wie der Landmann mit den Samen und sie nicht „ins Wasser schreibt“ (en hydati grapsei), sondern direkt in die Seelen der wirklich für die Philosophie geeigneten Schüler. Diese „lebendige Schrift“ in den Seelen der begabten Anfänger ist der „legitime Bruder“⁶¹ des bastardisierten, d. h. verschriftlichten logos. Er ist mit Einsicht in die Seele des Lernenden geschrieben und krankt an keiner der Eigenschaften des verschriftlichten Bruders. Nicht nur können die lebendigen logoi sich selbst helfen, sie können sogar ihrem Säer beiseite stehen; zu denken ist hier wohl daran, dass der Schüler irgendwann einmal auch dem Meister helfen oder ihm zuarbeiten kann. Zenon und Parmenides im gleichnamigen Dialog könnten hierfür ein Beispiel sein. Der lebendige Gedanke weiß darüber hinaus, wem er sich eröffnen kann und darf. Als lebendige Entität ist er unsterblich: Er pflanzt sich ewig fort, von philosophischer Seele zu philosophischer Seele. Dabei
Erler, Der Sinn der Aporien. Phaidr. 275C. Phaidr. 275E Szlezák, Schriftlichkeit, S. 11. Phaidr. 275E. Phaidr. 276 A.
§ 2. Lektüren
15
dient er seinem Wirt aufs höchste, denn er macht ihn „so glücklich, wie es einem Menschen möglich ist“⁶². Zugleich ist diese Macht des lebendigen Gedankens in der Seele auch bedenklich, wie Sokrates im Protagoras festhält, denn wer nicht aufpasst, welche Kenntnisse er in seine Seele lässt, läuft Gefahr, sich mit Sophismen zu vergiften. Anders als bei Speisen und Getränken gibt es nämlich für Kenntnisse gar kein anderes Gefäß als die Seele, d. h. „hast du den Preis bezahlt, so musst du sie, in deine Seele selbst aufnehmend, lernen und hast deinen Schaden oder Vorteil schon weg, wenn du gehst.“⁶³ Die sophistischen Ansichten sind freilich nicht wie der wahre logos imstande, sich wirklich zu verteidigen und sie bringen ihrem Wirt auch kein Glück, aber sie vermehren sich umso schneller und auf jedem Boden. Und da sie kein tiefes Verständnis erfordern, wird ihre Verbreitung durch die Beschränkungen der Schrift nicht verhindert. Wenn die Gedanken des Philosophen teure Samen sind, die machnmal spielerisch in Adonisgärtchen gepflanzt werden, dann sind die sophistischen Tricks und Versprechungen eher wie giftiges Unkraut, das sich überall festsetzen und seine Wirkung in (fast) jedem Boden, d. h. jeder Seele entfalten kann. Bei der Lektüre solcher Texte ergibt sich notwendigerweise das Problem der Selbstanwendung. Um es zu lösen, kann man zunächst versuchen, die Schriftkritik zu leugnen; für den Siebten Brief wurde dies immer wieder versucht. Man kann auch versuchen, die Bedeutung der Schriftkritik so weit herunterzuspielen, dass eine gänzlich andere, schwächere These daraus wird. Dies läuft darauf hinaus, Platons allgemeines Verdikt gegen die Schrift zu verstehen als spezifischen Angriff gegen die Form des Traktats, wodurch die Dialoge selbst nicht getroffen würden. Diesen Weg wählten zuerst Schleiermacher und Schlegel, denen nun die zeitgenössische analytische Platon-Deutung auf verworrenen Wegen folgt.⁶⁴ Dabei sind Schleiermachers Irrungen hinglänglich bekannt und widerlegt: „So seine Fehldeutung der Schriftkritik des Phaidros mit befremdlichen Auslassungen, seine Ignoranz der indirekten Platonüberlieferung und die metaphorische und allegorische Umdeutung der Schriftkritik in ein Lob des Literaturdialogs.“⁶⁵ (Krämer) Ähnliches gilt für Schlegel. Im Phaidros geht es ganz generell um „graphê“ und „grammata“ in metrischer wie unmetrischer Form, nicht um einen bestimmten Typ von Schrift.⁶⁶ „Da es nichts Geschriebenes gibt, das weder metrisch noch unmetrisch wäre, ist die Frage
Phaidr. 277 A. Prot. 314B. Siehe Krämer, „Der halbierte Platon“. Krämer, „Der halbierte Platon“. Phaidr. 277E.
16
Einleitung
müßig, ob die eigenen Dialoge Platons etwa von diesem Urteil ausgenommen seien.“⁶⁷ (Szlezák) Und eine spezielle Vermengung von Spiel und Ernst für die Dialoge ist ebenso ausgeschlossen. „So gerne wir auch um der platonischen Dialoge willen Spiel und Ernst miteinander verwoben sehen würden – das Gleichnis tut uns nicht den Gefallen, diese Vorstellung zu bestätigen.“⁶⁸ (Szlezák) Nun mag man einwenden, dass die platonischen Schriften doch durchaus nach dem Muster der Dialektik gestaltet sind und dass sie dem aufmerksamen Leser folglich zumindest in Grundzügen das Wahre als Wahres lehren könnten. Dazu ist wiederum festzuhalten: „Selbstverständlich haben Platons Werke einen hohen pädagogischen Wert […], nur muss man sehen, dass Platons Begriff der didachê nicht „pädagogisches Wirken durch Schriften“ meint.“⁶⁹ (Szlezák) Dass der verschriftlichte logos mit dem lebendigen verbrüdert ist, räumt Sokrates freimütig ein, nur ist ihre Beziehung eben nicht symmetrisch, sondern die von Urbild und Abbild. Die Platonischen Texte sind wie Gemälde,⁷⁰ sie wirken lebendig, wir können uns an ihnen erfreuen, sie bestaunen und vielleicht das ein oder andere lernen, aber der tote Text bleibt – für den Platonischen Sokrates und den Autor des 7. Briefes – nichtsdestotrotz ein bloßes eidolon des lebendigen, dialektischen Gespräches. „Und das ist wohl die äußerste Annäherung an Dialektik, die der Schrift möglich ist.“⁷¹ (Szlezák) Keine der vorangegangenen Überlegungen stellt in Frage, dass das Platonische Philosophieren ‚systematisch‘ ist, d. h. darauf abzielt, einen größeren argumentativen Zusammenhang zu stiften. Wenn Platon uns auch nicht den Gefallen (?) getan hat, eine Liste von Argumenten zu schreiben und ausdrücklich auf alle ihre Verknüpfungen hinzuweisen, ergeben die in den Dialogen geäußerten Gedanken (zusammen mit den Auslassungsstellen und den Lösungen der Aporien) doch einen logischen Gesamtzusammenhang, dessen vollständige Verschriftlichung Platon aber aus den genannten schriftkritischen Gründen für nicht wünschenswert hielt. Welche Funktion können jedoch die Schriften vor diesem Hintergrund noch haben? Und wie wirkt sich dies auf die vorliegende Arbeit aus? Laut Sokrates sind Schriften höchstens „Erinnerungshilfen (hypomnemata) für das vergessliche Alter“, ergötzliche Spielereien (paidia) oder Wegweiser für diejenigen, die „derselben Spur (ichnos)“ folgen,⁷² die allerdings, wie Platon im 7. Brief formuliert, „auch
Szlezák, Schriftlichkeit, S. 17. Szlezák, Schriftlichkeit, S. 14. Szlezák, Schriftlichkeit, S. 18, FN 16. Phaidr. 275D. Szlezák, „Gilt Platons Schriftkritik“, S. 262. Phaidr. 276D.
§ 2. Lektüren
17
selbst nach wenigen Hinweisen“⁷³ auf den Gedanken kommen würden. Diese Bemerkung zur Natur des Lesers erlaubt es uns, die Frage nach der Funktion der Schriften als Frage nach den Rezipienten zu stellen. Für wen schreibt Platon also? „Platon schreibt für alle.“⁷⁴ (Szlezák) Die Dialoge variieren zwar stark in der Komplexität der Gespräche, d. h. in ihren Ansprüchen an den Leser, aber jeder Leser kann Gewinn aus ihnen ziehen. Die Laien können sich zum Denken überhaupt anregen lassen. Gegenüber der literarisch gebildeten, aber philosophisch unbelehrten Öffentlichkeit können die Dialoge eine protreptische oder sogar provozierende Wirkung entfalten. Die philosophisch Fortgeschrittenen schließlich können sich an den Subtilitäten der Aporien und an den versteckten Hinweisen abarbeiten, vor allem, wenn sie als Schüler der Akadmie bereits der „Spur“ folgen und die Dialoge als Übungsstücke und Variationen bereits bekannter innerakademischer Argumente erkennen. Verweise auf solche ‚esoterischen‘ Debatten lassen sich in vielen Dialogen finden; mehr als Andeutungen oder Hinweise auf schulinterne Diskussionen dürfen und können die Schriften aufgrund ihrer Schriftlichkeit freilich nicht enthalten: „Auf die Schule hin konvergieren gleichsam die im Dialog nur angedeuteten, nicht ganz ausgezogenen Linien“⁷⁵ (Gaiser) Neben der protreptischen und der gymnastisch-hypomnematischen Funktion dürfte Platon für seine Dialoge auch eine kulturbildende oder politische Absicht gehabt haben, jedenfalls scheinen seine Ideen im Kreis der politischen Klasse Athens de facto Anklang und Aufnahme gefunden zu haben – Platon wäre durch seine Schriften dann nicht nur ein Gründervater der westlichen Philosophie, sondern auch „the western world’s first think-tank activist and its first message man“⁷⁶ (Allen). Was kann es aber vor diesem Hintergrund noch heißen, einen Gedanken „Platonisch“ zu nennen oder gar von einer „Platonischen“ Philosophie zu sprechen? Jedenfalls kann es nicht um eine detaillierte oder historisch akkurate Rekonstruktion von Platons persönlichen Meinungen gehen. Die Distanz, die er zwischen sich und seine Texte bringt, erlaubt es uns gerade, die in den Texten vorgetragenen Definitionen, Thesen und Argumente so zu prüfen, dass wir ihre wahre Urheberschaft (aber gerade nicht ihren literarischen Kontext!) ignorieren. Auch ein solcher Verzicht auf die Rekonstruktion aus bloß philologisch-historischem Interesse ist eine Konsequenz aus dem sokratischen Imperativ, man solle „einen Mann nicht höher achten als die Wahrheit“⁷⁷.
Epist. 7, 341E. Szlezák, Platon lesen, S. 41. Gaiser, „Platons Menon“, S. 292. Allen, Why Plato Wrote, S. 4. Pol. 595C.
18
Einleitung
Nachdem Sokrates als Einleitung in die Schriftkritik den Theuth-Mythos vorgetragen hat, spottet Phaidros, Sokrates habe leicht reden mit irgendwelchen ägyptischen Geschichten, woraufhin ihm dieser entgegnet: Sollen doch, o Freund, in des Zeus dodonäischen Tempel einer Eiche Reden die ersten prophetischen gewesen sein. Den Damaligen nun, weil sie eben nicht so weise waren wie ihr Jüngeren, genügte es in ihrer Einfalt, auch der Eiche und dem Stein zuzuhören, wenn sie nur wahr redeten. Dir aber macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und von woher er kommt. Denn nicht darauf allein siehst du, ob sich so oder anders die Sache verhält.⁷⁸
Nicht, ob Platon die eine oder andere Figur als Sprachrohr benutzt und er dieses oder jenes Theorem wirklich geglaubt hat, muss uns als Philosophen interessieren, sondern ob die präsentierten Gedanken es wert sind, übernommen und weiter diskutiert zu werden – wie Husserl es tut.
b) Husserl als Platonleser Eine Transposition ist denkbar, ohne dass der jüngere Autor sich seiner Verbindungen zum älteren bewusst ist. Die genetische Metapher der Vererbung verdeutlicht diese Möglichkeit: Nachkommen müssen ihren Erbgang nicht kennen, um die Gene ihrer Vorfahren zu tragen. Für Platon und Husserl dürfen wir jedoch nicht exklusiv von einer solchen unbewussten Beeinflussung ausgehen. Husserl selbst hat zwar keinesfalls alle Platonischen Momente seiner Philosophie, die wir im Verlauf der Arbeit herausarbeiten werden, gesehen, aber er kannte Platon besser, als sein Ruf des Geschichtsvergessenen vermuten lässt. Die Frage nach Husserls Platonlektüre erhält zusätzliches Gewicht durch seinen späten Quereinstieg in die Philosophie und seine notorische Unkenntnis anderer wichtiger Originaltexte der Philosophiegeschichte. So erinnert sich etwa Plessner: „Seine große Vorlesung über Geschichte der Philosophie folgte dem Überweg-Heinze“⁷⁹ (Plessner) Dass Husserl sich dagegen zumindest mit Platon sehr direkt beschäftigt hat, wird sich im Verlauf der Arbeit zeigen; einige allgemeine Ausführungen zu seiner Leseerfahrung, seinen wesentlichen Interpretationsquellen und seine grundsätzliche Haltung zu den Platonischen Texten werden uns später dabei helfen, die einzelnen Bezugnahmen auf Platon besser zu verorten.
Phaidr. 275B. Plessner, „Bei Husserl in Göttingen“, S. 34.
§ 2. Lektüren
19
Husserls Umgang mit der Geschichte der Philosophie und besonders mit Platon ist konstruktiv in folgendem Sinne: „According to the constructive program, the purpose of phenomenology is to carry forward philosophical thought, while revising and shifting it, in order to build and complete the edifice of Greek philosophical science.“⁸⁰ (Murray) – Den Vorgang der Revision oder Verschiebung haben wir mit den Metaphern der Transposition, der Variation und der Bastardisierung beschrieben. Der konstruktiv-transponierende Zugriff auf Platon ist einerseits dekonstruktiven, andererseits rekonstruktiven Ansätzen entgegengesetzt. Rekonstruktiv sind alle historisch-philologischen Arbeiten. Als dekonstruktiv sind vor allem Nietzsches und Heideggers Platonrezeption zu verstehen, die beide versuchen, den Platonischen ‚Bann‘ zu brechen, indem sie sich entweder der Tragödie oder den Vor-Sokratikern zuwenden.⁸¹ Husserl dagegen integriert die gesamte Geschichte des europäischen Denkens in ein großes – Platonisches – Projekt und versteht sie „als eine Abfolge stets wieder, und zwar aus Ungeduld und Systemtrieb, gescheiterter Versuche, zur Phänomenologie zu kommen.“⁸² (Plessner) Blumenberg weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Husserl den Bezug zu Platon im Nachwort zu den Ideen sogar polemisch gegen alle jene gleichzeitigen Strömungen der Philosophie einsetzt, die nicht in der Phänomenologie kulminieren wollen, nämlich Lebens- und Existenzphilosophie wie auch Anthropologie.⁸³ Die modernen Quellen der Phänomenologie, Descartes, Hume und Kant stehen jedenfalls trotz ihrer Neuerungen und Abweichungen vom Platonismus für Husserl in der Platonischen Erblinie. Husserl understands these modern thinkers as a continuation of the path of Greek science, even if they provide certain diversions from it. Thus Husserl is not a champion of the moderns in the ancient versus moderns debate, any more than Hegel. There is a unitary Western philosophical tradition, which the moderns are carrying forward. […] While Hegel and Husserl belong to the jointly pro-ancients-and-moderns, Nietzsche and Heidegger belong to the anti-ancients-and-moderns, where the ancient is understood as classical philosophy.⁸⁴ (Murray)
Eine Folge des konstruktiven Zugriffs bei Husserl ist das Ausbleiben philologisch präziser Auseinandersetzung, d. h. Husserl ist kaum darum bemüht, die Details der Philosophien zu entwickeln, die vor der Phänomenologie kamen – und wo doch, richtet er seine Aufmerksamkeit vor allem auf Denker der Neuzeit.
Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 501. Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 501. Plessner, „Bei Husserl in Göttingen“, S. 34. Blumenberg, Beschreibung, S. 24. Murray, “Husserl and Heidegger”, S. 503.
20
Einleitung
Trotzdem: Noch vor den vielen Platonverweisen, -zitaten und -anspielungen, die über Manuskripte wie Briefe verteilt sind, bezeugt seine Bibliothek, wie gut Husserl Platon wirklich kannte. In Leuven aufbewahrt finden sich folgende Platon-Ausgaben aus Husserls Besitz: 1. Sämtliche Werke, übersetzt von Apelt (Meiner, Leipzig); 2. Sämtliche Werke, übersetzt von Müller (Brockhaus, Leipzig); 3. Opera, herausgegeben von Hermann/Wohlrab (Teubner, Leipzig). Daneben besaß Husserl viele Dialoge in Einzelbänden, darunter Schleiermacher-Übersetzungen des Laches, des Symposion und des Phaidros in Reclam-Ausgaben, außerdem einige Ausgaben einzelner Dialoge für den Schulgebrauch. Während Husserl offenbar die meisten Frühdialoge (mit Ausnahme der Apologie und des Kriton) sowie Politikos und Nomoi mehr oder weniger ignoriert hat, finden sich in den übrigen späten sowie in allen mittleren Dialogen und selbst in den Briefen sehr viele Markierungen und einige Annotationen. Einige dieser Spuren, vor allem in den griechischen Ausgaben, gehen sicherlich auf Wolfgang Husserl zurück. So klebt etwa in der Hermann/Wohlrab-Ausgabe des Phaidon und anderer Dialoge ein exlibris Husserls, aber daneben steht: „Dieses Buch gehört: Wolfgang Husserl“. Außerdem ist der Helm der Teubner-Minerva mit Bleistift ausgemalt.⁸⁵ Der allergrößte Teil dieser Spuren stammt jedoch sicher von Husserl selbst. An ihnen ist deutlich zu sehen, dass Husserl, mag er sonst auch wenige Primärtexte gelesen haben, Platon ziemlich eingehend studiert hat. Und während er selten genau zitiert, dürfen wir die Vagheit seiner Platonverweise nicht als Zeichen der Unkenntnis, sondern eher als Mangel an philologischem Interesse verstehen. Den Lesespuren in verschiedenen Ausgaben nach zu urteilen, haben besonders Phaidon, Politeia, Theaitetos und Sophistes Husserl gefesselt; viele der Dialoge, wie etwa den Phaidros, aus dem er immer wieder das Bild der befiederten Seele verwendet, hat Husserl offenbar sogar in mehreren Übersetzungen gelesen. Wann genau er die Platon-Lektüre aufnahm, ist schwer festzustellen. Die Müllersche Ausgabe ist bereits in den 1850er Jahren erschienen, so dass er sie vor Erscheinen der LU gelesen haben könnte. Die meisten Einzelbände und die ApeltAusgabe sind jedoch erst nach den LU erschienen, so etwa der stark markierte Einzel-Band Der Staat, übersetzt von Horneffer (Klinkhardt, Leipzig 1908). Auch die Müllersche Ausgabe muss Husserl gleichwohl später (noch einmal?) zur Hand genommen haben, denn im zweiten Band findet sich nicht nur die Annotation „Nietzsche!“ (zu Kallikles’ Ausführungen Gor. 483C), sondern auch die Bemerkung „C’est la guerre“, die sich, solange sie nicht den Beginn des Deutsch-Französischen Krieges meint (und eventuell von einem Vorbesitzer der Bücher stammt),
In Leuven unter BA 1341 zu finden.
§ 2. Lektüren
21
nur auf den Ersten Weltkrieg beziehen kann.⁸⁶ Für eine Beschäftigung Husserls mit Platon in dieser Zeit spricht auch, dass die (von Husserl stark benutzte) ApeltAusgabe erst im Verlauf der 1910er Jahre erschienen ist, wie auch die offenbar gründlich gelesene Schleiermacher-Übersetzung des Phaidros, die von 1915 stammt. Eine Meditation über die Rolle philosophischer Vorläufer und den Umgang mit ihren Texten aus dem Kontext der Krisis ist hier einschlägig und scheint die Vermutung einer relativ späten Platonlektüre zu bestätigen. Der eine greift zu diesen, der andere zu jenen in seiner Zeit überhaupt oder für ihn verfügbaren literarischen Dokumenten, und wenn er z. B. von Plato sogar entscheidende Impulse erhält, sodass man ihn später zu den Platonikern rechnet, so hat er vielleicht niemals in dem Drang seiner philosophischen Lebensarbeit Zeit, Möglichkeit, Lust gehabt, alle platonischen oder als platonisch geltenden Schriften zu studieren, geschweige denn die indirekt auf die platonische Philosophie bezüglichen und sie erleuchtenden Berichte oder Kritiken anderer Denker. Er liest, als der, der schon eine philosophische Erziehung in seiner Gegenwart durchgemacht hat, selbst schon Philosoph geworden ist und vielleicht schon literarisch aufgetreten ist – er liest und versteht natürlich das Gelesene von dem Boden seiner Gedanken aus, er apperzipiert Plato in seiner Weise, auf dem Grunde der „Perzeption“ seiner schon gebildeten Begriffe, Methoden, Überzeugungen. Durch diese Apperzeption gewinnt er Neues, sich als Philosoph weiterentwickelnd.⁸⁷
Die unpersönlichen Formulierungen verdecken nicht, dass Husserl hier offensichtlich über sich selbst spricht. Dreierlei ist für unseren Zusammenhang an der zitierten Passage interessant: 1. Husserl erkennt in ihr wieder einmal Platon ohne Zurückhaltung als wesentlichen Einfluss an, was die vorliegende Arbeit insofern legitimiert, als sie Husserl ja tatsächlich in gewissem Sinn „zu den Platonikern rechnet“; 2. Husserl hat keinerlei rekonstruktiv-philologisches Interesse an Platon, was Platon, den obigen (philologisch-historischen) Ausführungen gemäß wohl gefallen hätte; 3. Wenn wir die LU als das Werk ansehen, mit dem Husserl „Philosoph geworden“ und als solcher „literarisch aufgetreten ist“, dann ist seine Beschäftigung mit Platon eine Sache des 20. Jahrhunderts. Husserls (wiederholte?) Platonlektüre könnte auch als Teil seiner späten Entdeckung der Historizität verstanden werden, die man mit Ricoeur nicht nur als Konsequenz einer systematisch durchgeführten genetischen oder sogar generativen Phänomenologie der Lebenswelt, sondern auch als Effekt des geistigen Elends der Zwischenkriegszeit verstehen kann:
BQ 371/2, S. 446 bzw. S. 411. Hua VI (Krisis), S. 511.
22
Einleitung
Der alte Husserl, der den Nationalsozialisten als Nichtarier, als wissenschaftlicher Denker und noch grundsätzlicher als sokratisches Genie und Infragesteller verdächtig war, konnte, pensioniert und zum Schweigen verurteilt, nicht umhin zu entdecken, dass der Geist eine Geschichte hat, die für die Geschichte im Ganzen bedeutsam ist, dass der Geist krank sein kann und dass die Geschichte für den Geist der Ort der Gefahr und des möglichen Verlustes ist.⁸⁸ (Ricoeur)
Anders als Andere war Husserl, „as the lights were going out all over Europe“⁸⁹ (Critchley) nicht gewillt, dem Irrationalismus nachzugeben. „Zu Ehren des Rationalismus musste gesagt werden, wer der Kranke war und wo folglich der Sinn des Menschen zu finden war und wo der Widersinn. So wurde der unhistorischste der Professoren von der Geschichte gezwungen, sich historisch zu interpretieren.“⁹⁰ (Ricoeur) Wie sich im zweiten Abschnitt der Arbeit zeigen wird, fand Husserl vor allem in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg in Platons Schriften offenbar den Entwurf eines Lebens und Denkens, der der Menschheit ihren Sinn zurückgeben könnte. Von den Grundlagenproblemen der Mathematik in die Philosophie getrieben, beginnt Husserl sein Philosophiestudium jedenfalls definitiv nicht mit Platon. Husserls älterer Studienfreund Masaryk – der spätere Mitbegründer und erste Präsident der Tschechoslowakei – rät ihm zur Beschäftigung mit den Philosophen der Neuzeit, Leibniz und dem englischen Empirismus, obwohl Masaryks „Leibund Lieblingsphilosoph“ selbst „Plato“⁹¹ war. Husserl folgt jedoch seinem Rat und nicht seinem Vorbild:⁹² „ich befasste mich intensiv mit Locke, Berkeley, und vor allem Hume und immer wieder Hume, auf der anderen Seite mit Leibniz; ich versuchte mich vergeblich an Kant, las aber noch mehr Laas’ Kantkritiken, deren positivistische Motive mich zugleich abstießen und anzogen“⁹³. Zugleich „litt“ Husserl, wie er in einem Brief an Hans von Arnim schreibt, „an der Enge meiner einseitig mathematisch-naturwissenschaftlichen Ausbildung“⁹⁴. Es könnte sein, dass eben derselbe Hans von Arnim, ein Kollege und Freund aus der Altphilologie, den Husserl 1888 in Halle kennengelernt hatte, für Husserls (spätere) PlatonKenntnis zumindest mitverantwortlich war. In einem anderen Brief beschreibt Husserl von Arnim nämlich als „Platonjünger“, „an dessen Seele sich die meine
Ricoeur, „Husserl und der Sinn der Geschichte“, S. 232. Critchley, Dead Philosophers, S. 223. Ricoeur, „Husserl und der Sinn der Geschichte“, S. 233. Briefe Dok III/1, S. 101, Brief vom 20. I. 78 Chronik, S. 5. Bleistifttext auf dem zweiten Fragment einer Vorrede zu den LU, September 1913; Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 430. Briefe Dok III/9, S. 141.
§ 2. Lektüren
23
entzündete“⁹⁵ und später erinnert sich Husserl an die „Seelengemeinschaft [mit von Arnim], in der platonisch gesprochen die „befiederten“ Seelen sich emporschwangen zu den lichten Höhen der Kunst, der Wissenschaft, der Philosophie⁹⁶. Beide Zitate beziehen sich vermutlich vor allem auf gemeinsam verbrachte Sommerferien der Familien Husserl und von Arnim, 1889 in Tweng (Salzburger Land) und 1893 in Tabarz (Thüringen).⁹⁷ Immens wichtig für die vorliegende Arbeit ist die Tatsache, dass sich Husserls Platonbild im Verlauf seiner Denkentwicklung anscheinend kaum verändert hat. Das bedeutet für uns, dass wir in der Auswahl der Textpassagen, in denen sich Husserl zu Platon äußert, keine Rücksicht auf verschiedene Phasen der Platondeutung nehmen müssen, sondern frei wählen können. Der „entscheidende Impuls“⁹⁸ des Platonismus – nicht unbedingt der PlatonLektüre! – erreicht Husserl in seiner Fixierung auf die Neuzeit „zu Anfang der neunziger Jahre“⁹⁹ über Lotze, namentlich durch dessen „geniale Interpretation der platonischen Ideenlehre“¹⁰⁰. Die voll bewusste und radikale Umwendung und den mit ihr gegebenen „Platonismus“ verdanke ich dem Studium der Logik Lotzes. So wenig Lotze selbst über widerspruchsvolle Inkonsequenzen und über den Psychologismus hinausgekommen ist, so steckte mir geniale Interpretation der platonischen Ideenlehre ein erstes helles Licht auf und bestimmte alle weiteren Studien. Schon Lotze sprach von Wahrheiten an sich und so lag der Gedanke nah, alles Mathematische und ein gut Stück des traditionell Logischen in das Reich der Idealität zu versetzen.¹⁰¹
Husserl betont seine Abhängigkeit von Lotze an mehreren Stellen. In einer Buchbesprechung von 1902 etwa schreibt er: „Was speziell meine Begriffe von „idealen“ Bedeutungen, den idealen Vorstellungs- und Urteilsinhalten anbelangt, so kommen sie, wie schon der Ausdruck „ideal“ besagt, gar nicht ursprünglich aus Bolzanos, sondern Lotzes Logik. Besonders dessen um die Interpretation der Platonischen Ideenlehre sich gruppierenden Gedankenreihen haben auf mich tief eingewirkt.“¹⁰² Auch in der zweiten Auflage der LU lobt Husserl Lotze, „dessen Briefe Dok III/9, S. 137, Brief vom 7. Januar 1917. Briefe Dok III/9, S. 144, Brief vom 23. März 1933 an von Arnims Witwe und ihre Kinder. Siehe Briefe Dok III/9, S. 141, FN 15 & 16. Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 414. Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 417. Hua V (Ideen III), S. 58. Eine vertiefte Diskussion des Verhältnisses von Husserl zu Lotze liefern Hartimo 2009, Hauser 2003, Rollinger 1993 und 2004. Zwei Fragmente zu einer Vorrede der LU, September 1913; Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 297. Hua XXI (Arithemtik), S. 156.
24
Einleitung
Interpretation der platonischen Ideenlehre wir zu größtem Dank verpflichtet sind“¹⁰³. Selbst seinem alten Lehrer und dem Aristoteles-Spezialisten Brentano gegenüber hebt Husserls Lotzes Rolle bei der Entwicklung seiner eigenen Gedanken zur eidetischen Ontologie hervor: „Dank schulde ich für diesen „Platonismus“ dem bekannten Kapitel in Lotze’s Logik, wie sehr seine Erkenntnistheorie und Metaphysik mich stets abstiess.“¹⁰⁴ Um zu verstehen, wofür Husserl Lotze so dankbar ist, d. h. worin der „entscheidende Impuls“ des Platonismus eigentlich bestand, bedarf es einer Skizze der Platoninterpretation, die Lotze im dritten Band seiner Logik im Kapitel „Die Ideenwelt“ entwirft.¹⁰⁵ Den Kern seiner Überlegungen bildet die Differenzierung verschiedener Arten von Wirklichkeit, „deren keine auf die andere zurückführbar oder in ihr enthalten ist“¹⁰⁶. Er unterscheidet die Wirklichkeit der Dinge, die einfach wirklich sind, von der Wirklichkeit von Sachverhalten, die wirklich bestehen, davon wieder die Wirklichkeit von Ereignissen, die wirklich geschehen, und davon schließlich die Wirklichkeit von Sätzen, die wirklich gelten. Die vier irreduziblen Modi der Wirklichkeit sind also Sein, Bestehen, Geschehen und Gelten oder Geltung. Ausgehend von dieser Klassifikation versucht Lotze nun Platon gegen den Vorwurf der Ideen-Hypostasierung zu schützen, indem er den Ideen jede Seins-Wirklichkeit ab und stattdessen Geltungs-Wirklichkeit zuspricht, insofern sie als Bedeutungs-Elemente in Urteile eingehen, ja diese erst ermöglichen. Die Entwicklung der Ideenlehre sieht Lotze dabei zunächst als Reaktion auf eine extreme herakliteische Position: Ewig, weder entstehend noch vergehend ([grch.] aidia, agennêta, anôlethra) mussten die Ideen genannt werden gegenüber dem Fluß des Heraklit, der auch ihren Sinn schien mit sich fortreißen zu sollen; die Wirklichkeit des Seins allerdings kommt ihnen bald zu bald nicht zu, je nachdem vergängliche Dinge sich mit ihnen schmücken oder nicht; die Wirklichkeit der Geltung aber, welche ihre eigne Weise der Wirklichkeit ist, bleibt unberührt von diesem Wechsel.¹⁰⁷
Die Ideen sind dabei Eigenschaften, an denen die wirklichen, vergänglichen Dinge teilhaben, die sich aber selbst nicht verändern: In unserer Wahrnehmung ändern die Sinnendinge ihre Eigenschaften; aber während das Schwarze weiß wird und das Süße sauer, ist es doch nicht die Schwärze selbst, die in Weiße
Hua XIX/I, S. 138, Anmerkung 3. Briefe Dok III/6, S. 460. Vgl. Arnold, „Plato’s Ideas in Lotze’s Light“. Lotze, Logik, S. 512. Lotze, Logik, S. 514.
§ 2. Lektüren
25
übergeht, und nicht die Süßigkeit wird zur Säure; jede dieser Eigenschaften vielmehr, ewig sich selbst gleich bleibend, tritt an diesem Dinge ihre Stelle einer andern ab, und die Begriffe, durch welche wir die Dinge denken, haben nicht selbst an der Veränderlichkeit Theil, die wir, um ihres Wechsels willen, von den Dingen aussagen, deren Prädicate sie sind.¹⁰⁸
Außer Heraklit ist es auch die sophistische Skepsis, gegen die die Ideenlehre ins Feld geführt wird. „In etwas anderer Form, und gegen Protagoras, wird die eigenständige Geltung der Ideen hervorgehoben, wenn sie als an sich seiend, was sie sind ([grch.] auta kat’ auta onta) der Relativität entzogen werden, in die sie der berühmte Ausspruch dieses Sophisten verwickeln wollte.“¹⁰⁹ Diese Beziehung zwischen Platonischer Metaphysik und sophistischer Skepsis hat auch Husserl später immer wieder betont. Die Ideenlehre ist in Lotzes Augen im Großen und Ganzen also richtig, wenn Platon sich auch zu sehr auf die einzelnen Bedeutungselemente (Ideen) der ewig wahren Sätze konzentriere, und kranke nur daran, dass Platon bzw. die griechische Sprache nicht über die Differenz von Sein und Geltung verfügte.¹¹⁰ Was Husserl aus dieser Platoninterpretation Lotzes gewinnen konnte, war die Vorstellung einer ewigen Geltungs-Wirklichkeit von Sätzen und der sie ermöglichenden Bedeutungsstrukturen, die nicht beschränkt ist auf den Bereich der mathematischen Sätze. So erklärt sich auch die ungewöhnliche Verbindung von Platon und Hume in Husserls Denken: „Humes relations of ideas erleuchteten sich nach kritischer Reinigung der Lotze-Platonischen Ideenlehre als Wesensgesetze.“¹¹¹ Hume hatte Husserl gezeigt, dass sich Vorstellungsverhältnisse erforschen lassen, Lotzes Platonismus erlaubte ihm, die Gesetze, denen die „relations of ideas“ unterliegen, als nicht-mathematische Wesensgesetze, d. h. als Wahrheiten an sich zu denken. Eine ähnliche platonisierende Aneignung ließ Husserl auch Bolzano angedeihen: „Schritt für Schritt konnte ich […] an den Bolzano’schen Darstellungen die „platonische“ Interpretation bewähren, die Bolzano selbst gänzlich fern lag“¹¹², insofern dieser „ideale Wesenheiten der Wesensintuition in meinem platonisierenden Sinn“¹¹³ gar nicht kannte. Die Annahme der Existenz solcher Wahrheiten an sich, d. h. von Propositionen mit ewiger oder zeitloser Geltung können wir als „logisch inspirierten Platonismus“ titulieren, insofern es
Lotze, Logik, S. 508. Lotze, Logik, S. 515. Lotze, Logik, S. 513. Zwei Fragmente zu einer Vorrede der LU, September 1913; Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 290. Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 298; cf. Hua XXI (Arithemtik),I, 156. Hua V (Ideen III), S. 57.
26
Einleitung
dabei um das „absolute Sein logischer Geltung“¹¹⁴ (Bernet et al.) geht; dieser logische Platonismus ist bei Husserl besonders präsent in den Prolegomena,¹¹⁵ wo Husserl Genesis und Geltung logischer Gesetze so differenziert, dass die Idealität der Geltung nicht kontaminiert wird durch die Kontingenz des Auffindungszusammenhangs.¹¹⁶ Zugleich zog Husserl aus seiner Lotze-Lektüre offenbar noch eine weitere Variante des Platonismus: Meine Gedanken hafteten am Problem der Evidenz, und zuletzt konnte ich nur sagen: „Vernunftwahrheiten“ sind ein „Sehen“ von Relationen zwischen Ideen, aber nicht Ideen, wie Hume sie definiert hatte, sondern der allgemeine Sachverhalt wird eingesehen und das Einsehen ist ein Selbstgegebenhaben, ein Sehen, nur anderer Art wie das gewöhnliche Sehen. Lotzes Interpretation der Ideenlehre Platons gab mir aber erst den Mut, vollen Ernst damit zu machen und somit Ideen als Gegenstände anzusetzen. […] [U]nd so wie nun die Mathematik eine Ideenwissenschaft ist, so muss es eben solche Wissenschaften in allen Seinssphären, auch den außermathematischen geben. Von vornherein hob sich durch Lotze selbst ein außermathematisches Gebiet apriorischer Seinserkenntnisse ab, das der sinnlichen Gegebenheiten.¹¹⁷
„Ideen als Gegenstände anzusetzen“ ist nicht dasselbe wie „Wahrheiten an sich“ zu postulieren; im letzten Fall geht es um Propositionen und ihre Geltung, im ersten Fall um den ontologischen Status von Wesen – wir nennen diese zweite Variante des Platonismus daher „ontologischen Platonismus“. Husserl scheint sich dieser Differenz nicht voll bewusst zu sein, eben so wenig wie der Tatsache, dass Lotze ausschließlich einen logischen Platonismus verteidigt. Tatsächlich leugnet Lotze ja den Seins-Status der Ideen und begreift sie als unselbstständige Geltungs-Elemente; ontologisch ist Lotze also eher Anti-Platoniker. Obwohl Husserl also eine Position in Lotze hineinliest, die dieser nicht vertritt und außerdem seine Erkenntnistheorie strikt ablehnt,¹¹⁸ lassen sich mehrere ‚Platonische‘ Momente in Husserls Denken ausmachen, die durch seine LotzeLektüre beeinflusst sein dürften. 1. Wie Husserl selbst betont, wählt Lotze seine Beispiele für apriorische Gesetze nicht aus dem Bereich der Mathematik, sondern dem der „sinnlichen Gegebenheiten“; damit war Husserl durch Lotze die Möglichkeit von materialen Wesensgesetzen angezeigt. 2. Husserls Konzeption der
Bernet et al., Edmund Husserl, S. 34. Vgl. Moran, „Husserls Transcendental Philosophy“, S. 410. Hua XVIII (Prolegomena), § 36. Bleistifttext auf dem zweiten Fragment einer Vorrede zu den LU, September 1913; Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 430 – 31. Farber, The Foundation of Phenomenology, S. 207.
§ 2. Lektüren
27
Idealität von Wesen und Wesensgesetzen ist zwar nicht identisch mit Lotzes Geltungs-Wirklichkeit, dürfte aber von ihr abgeleitet sein,¹¹⁹ insofern sie zumindest strategisch eine identische Funktion erfüllen, nämlich nominalistisch-psychologistische und naturalistische Reduktionismen auszukontern (siehe unten, Abschnitt E). 3. Eine Reihe von Beispielen zusammenfassend schreibt Lotze: „die ewigen Beziehungen, die zwischen den einzelnen Ideen stattfinden, die einen miteinander verträglich machen, andere einander ausschließen lassen, bilden wenigstens die Grenzen, innerhalb derer das liegt, was in der Wahrnehmung möglich sein soll“¹²⁰. Lotze verfolgt diesen Gedanken nicht weiter, aber damit ist offensichtlich eine regionale, nämlich nur die Wahrnehmungsgesetze betreffende Variante von Husserls allgemeiner Bestimmung der Wesen als reiner Möglichkeiten formuliert (siehe unten, Abschnitt E).¹²¹ Wenn es auch Lotzes Platoninterpretation war, die Husserls Platonismus zunächst bestimmte und ihn vermutlich auch am meisten prägte, kannte Husserl natürlich auch Natorps Arbeiten zu Platon;¹²² Natorps großes Platonbuch hat er sogar vom Verfasser selbst erhalten¹²³ und, wie aus den Markierungen zu ersehen ist, gründlich studiert, ebenso wie das Nachwort zur zweiten Auflage.¹²⁴ Zudem hat er sich brieflich mit Natorp über seinen Platonismus ausgetauscht.¹²⁵ Obwohl auch diese Interpretation ihn sicherlich beeinflusst hat, liegt Husserls Platon jedoch sozusagen näher bei „Plotze“ als bei „Platorp“¹²⁶ (Grondin), da er Natorps neukantianischen Hintergrund ablehnt. Vor allem interpretiert er die Ideen nicht, wie Natorp, nomologisch, d. h. als naturwissenschaftliche Gesetze, sondern vielmehr als Erkenntnisgegenstände sui generis, unter denen die zur Ontologie der Natur gehörigen nur eine Untergruppe bilden. Und auch die Interpretation des Hypothesis-Gedankens spielt in Husserls Platonrezeption – anders als bei Natorp – kaum eine Rolle. Tatsächlich erkennt Husserl im Platonismus sowohl Momente, die der Ausprägung der Naturwissenschaft eher hinderlich waren, als auch solche, die sie überhaupt erst ermöglichen. „Die skeptische Lähmung, welche die griechische Philosophie oder Wissenschaft betraf, wurde durch Sokrates und Platon in einer
Hartimo, „Holism, Contextuality and Compositionality“, S. 5. Lotze, Logik, S. 510. Siehe z. B. Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 74, S. 403; Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 342; Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), 311. Vgl. Souche-Dagues, „Le Platonisme de Husserl“, S. 345, 350. Chronik, S. 73. Siehe Husserls Ausgaben von Platos Ideenlehre in Leuven. Brief an Natorp vom 7.9.1901; Hua XXI (Arithemtik), S. 399. Grondin, Gadamer, S. 79.
28
Einleitung
Form überwunden, die einer Entwicklung der Naturwissenschaft nicht günstig war, obschon Platon doch gerade durch seinen Idealismus nach verschiedenen Richtungen die wichtigsten Vorbedingungen für eine exakte Naturwissenschaft beistellte.“¹²⁷ Die wichtigste dieser Vorbedingungen ist für Husserl die „idealistische Umgestaltung der Mathematik zu einer apriorischen Wissenschaft“¹²⁸. Warum wurden Husserl zufolge diese Vorbedingungen nicht zur Realisierung der Idee einer echten Naturwissenschaft genutzt? Eine Leistung derart, wie sie die neue mathematische Naturwissenschaft vollzieht, die Möglichkeit, allem Vagen und Fließenden der Erscheinung feste kausale Eigenschaften zu unterlegen, die durch quantitative Methoden als exkate bestimmbar sind, die Möglichkeit, exakte Naturgesetze mathematischer Gestalt zu entdecken, in denen sich ein generelles Ansich der Natur, frei von aller Relativität auf die zufälligen Subjekte, bestimmt, blieb ihm verborgen. Die Sinnenwelt ist ihm Scheinwelt und nicht Erscheinungswelt.¹²⁹
Auch das „mystische System des Neuplatonismus“¹³⁰ verhinderte in Husserls Augen die Entwicklung einer rationalen Naturwissenschaft. Anders als Natorp versteht Husserl den Platonismus also nicht einfach als (quasi-kantianische) Proto-Naturwissenschaft. Im Gegensatz zu Natorp hat Husserl außerdem keinerlei „philologische Orientierung“¹³¹ (Lembeck), d. h. er interessiert sich letztlich nie für Platons eigene Position, die Echtheit der Texte oder die Frage nach einer internen Entwicklung,¹³² sondern nur für den philosophischen Gewinn, den er zum Zweck der Weiterentwicklung der Phänomenologie aus dem Platonischen Material schlagen kann. Während beide Denker in gewissem Sinne Antiphilologen sind, stellen Husserl und Platon trotzdem zwei völlig unterschiedliche Extreme im Umgang mit Texten dar. Platons Werke lassen sich – inklusive aller dubia und spuria – in fünf handlichen Oxford-tomoi abdrucken. Dagegen umfassen die Husserliana inklusive der Materialien zusammen bereits jetzt über fünfzig Bände. Die quantitative Differenz geht auf eine gänzlich gegensätzliche Haltung zur Verschriftlichung zurück. Platons skeptische Haltung gegenüber der Schrift als Medium philosophischer Gedanken zwingt ihn, zwischen sich und die eigenen Texte maximale Distanz zu bringen. Husserl dagegen praktizierte offenbar nichts Geringeres als eine allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben, was das Lesevergnügen
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 194. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 195. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 195. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 209. Lembeck, Platon in Marburg, S. 174. Lembeck, Platon in Marburg, S. 174.
§ 2. Lektüren
29
beim Studium der Manuskripte bekanntermaßen nicht unbedingt erhöht. Gegen die elegante, im eminenten Sinne witzige Platonische Prosa wirken viele Husserlsche Meditationen schlicht dröge, ja sprachlich unbeholfen (und notorisch unterreflektiert in Bezug auf die eigene Sprache).¹³³ In manchen Texten assoziiert sich Husserl unter fast zwanghaften Wiederholungen derselben Thesen (teilweise beim „Einschreiben“) langsam von Gebiet zu Gebiet, ohne seine Ausgangsfrage je wirklich zu klären oder sie systematisch und konzise zu beantworten. Und obwohl dieses träge, teilweise mühselige Mäandern auf tausenden von Seiten in so offensichtlicher Differenz zu den geschliffenen Platonischen Pointen und Aporien steht, gehorcht Husserls grundsätzliche Haltung im Grunde trotzdem der Schriftkritik: Seine Manuskripte sind nämlich gar nichts anderes als „Erinnerungshilfen für das vergessliche Alter“ oder Hinweise für diejenigen, die „derselben Spur“ folgen, wie Platon im Phaidros formuliert.¹³⁴ So ist auch das Verhältnis zur Terminologie nahezu identisch, wenn auch ganz unterschiedlich vermittelt; denn der „Sorglosigkeit Husserls im Gebrauch und von seiner Abneigung gegen die Fixierung der Termini“¹³⁵ (Landgrebe) entspricht bei Platon die Sorgfalt, mit der er in den Dialogen gerade eine fixe Terminologie vermeidet. Und Husserl hat sicherlich darauf gehofft, dass seine Manuskripte ihre Leser philosophisch fördern, aber er hat niemals geglaubt, durch seine Schriften die Evidenz des „rechtmäßigen Bruders“ des verschriftlichen logos, d. h. des lebendigen Gedankens ersetzen zu können: „Gedruckte Philosophien sind keine lebendigen Philosophien. In ihnen ist die existenzielle Triebkraft des Philosophen nicht mitgedruckt.“¹³⁶ *** Vor Beginn des Hauptteils bleibt noch die Frage zu beantworten, wie sich das hermeneutische Problem lösen lässt, dass das Ergebnis der Arbeit nur von der gewählten Lektüre-Perspektive abhängt: Wer von vorneherein Platon phänomenologisch oder Husserl platonisch liest, findet quasi a fortiori Übereinstimmungen; wer dagegen andere Perspektiven wählt, kommt eben zu anderen Ergebnissen. Die Leistung der Arbeit bestünde dann nicht darin, verborgene Übereinstimmungen und gemeinsame Motive aufzudecken, sondern beliefe sich lediglich darauf, die beiden Denker so aufeinander hin oder durch einander zu lesen, dass die Kongruenzthese bereits aus dieser Zurichtung folgt. Anders gefragt:
Vgl. Vongehr, Siehe Kuster, Wege der Verantwortung, S. 77. Landgrebe, „Ist Husserls Phänomenologie eine Transzendentalphilosophie?“, S. 322. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 217.
30
Einleitung
Gibt es eine Methode, Platon Platon und Husserl Husserl sein zu lassen und so zu verhindern, dass die Kongruenzthese trivial wird? Es handelt sich dabei um ein Pseudo-Problem, denn die Qualität der Auslegung bemisst sich nicht an einem externen Standard, der verfehlt oder erreicht werden kann. Jede Auslegung eines Textes, die dem Text gerecht wird, ist eine gute Auslegung. Ob eine Auslegung gelingt, ist aber wiederum immer wieder nur in der Lektüre eben desselben Textes zu ermitteln, d. h. in neuen Auslegungen. Selbst der Verweis auf die Autorintention hilft dabei nicht weiter, denn die Autorschaft allein garantiert nicht die beste Interpretation eines Werkes, wie Platon übrigens sehr wohl wusste, wenn er die Überlegenheit des Autors gegenüber seinen Texten als Merkmal des idealen Philosophen kennzeichnet. Und da der Text selbst auch nicht imstande ist, alle seine möglichen Auslegungen, geschweige denn alle ‚guten‘ Auslegungen vorab zu reglementieren, bleibt die Möglichkeit einer ‚besseren‘ Auslegung stets offen. Ein ‚phänomenologischer‘ Platon ist folglich genau dann ein ‚echter‘ Platon, wenn sich die Interpretation am Text bewähren kann; dasselbe gilt für einen ‚platonischen‘ Husserl. Welche Perspektive oder Hinsicht bei der Lektüre motivierend wirken mag, ist kein Kriterium für die Qualität der Auslegung; vielmehr sollte in der Bewertung der Auslegungen nur zählen, ob sie in sich stimmig und am Text orientiert sind und ob die Kongruenzen und Variationen plausibel herausgearbeitet werden. Die Platonischen Gedanken bilden in der vorliegenden Arbeit vor allem Hinsichten, unter denen Husserls Werk wieder einmal neu erschlossen werden kann. Ist die vorliegende Arbeit damit eine rein doxographische? Fink beschreibt die „doxographische Methode“ als eine „unparteiliche, überstandpunktliche und historische Beschreibung der philosophischen Lehrmeinungen“. Aus dieser höchst verdächtigen, letztlich naiven „Unvoreingenommenheit“ heraus zielt eine doxographische Vergleichung zweier Denker auf ein „objektives Wissen um die inneren Gemeinsamkeiten und Differenzen der beiden Systeme, sowie ein historisches Verständnis des geschichtlichen Zusammenhanges“¹³⁷ (Fink). Leider behandelt die Doxographie jede Philosophie qua Werk als Ding, genauer als Kulturding, oder als „in ihrem Text dokumentierte, ‚geistige Tatsache‘, die zwar nicht schlicht gegeben ist, aber doch unter objektiv faßbaren Zugangsbedingungen steht.“¹³⁸ (Fink) Ontologisch ist die Doxographie daher „nichts anderes als der methodologische Reflex“¹³⁹ (Fink) des Naturalismus, nämlich illegitime Objekti Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 10. Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 11. Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 12; vgl. „Die Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls“, S. 54.
§ 2. Lektüren
31
vierung, hier eines ursprünglichen Fragens. Reine Doxographie stellt sich dem Werk als Ding gegenüber und will die darin enthaltenen Meinungen ‚objektiv‘ darstellen, statt durch die Philosophie hindurch die Sachen selbst zu verstehen. Fink zeichnet den „Voreingenommenen“, d. h. den „von ihrem Problem Eingenommenen“ daher vor dem Unvoreingenommenen aus, der nur ein dokumentarisches Interesse an einer Philosophie (als Werk) hat.¹⁴⁰ Ähnliche Kritik übt Fink auch an einer bloß biographischen Erschließung einer Philosophie, die diese nur als Äußerung oder Dokument des Lebens eines Denkers erfasst.¹⁴¹ Auch die Auffassung einer Philosophie als Lehre gerät in die Gefahr, den eigentlichen Sinn der Philosophie zu verfehlen, denn die Dokumentation einer Lehre im Text ist immer auch „Selbstaussetzung der Philosophie im Reich des ‚gesunden Menschenverstandes‘“, die allerdings zugleich auch die Möglichkeit der „Bewahrung und Tradierung philosophischen Denkens“¹⁴² bedingt und dem „ihr innerlich Entgegenkommenden den bedeutenden Wink“¹⁴³ geben kann. Bei „Wink“ verweist Fink dann schließlich in einer Fußnote selbst ausdrücklich auf Platons 7. Brief (341e2). Ein der Philosophie angemessener Zugang ist nur der Zugang über die Sachen selbst, d. h. ein Zugang, der die Sache einer Philosophie als Problem ernstnimmt und sich von diesem Problem mitreißen und einnehmen lässt, die eigene vermeintliche Unvoreingenommenheit also von vorneherein zugunsten eines entsetzenden Problembewusstseins aufgibt;¹⁴⁴ „denn das Problem allein ist der Geist einer Philosophie“, ihre „äußerste Gefahr […] die Orthodoxie und in ihrem Gefolge Autoritätsgläubigkeit, Schulbildung und Propaganda.“¹⁴⁵ (Fink). Zwei Philosophien auf die richtige ‚problematische‘ Weise miteinander in Beziehung zu setzen, bedeutet also, jeweils vom Problem her zu denken und beide Philosophien als Weisen der Exposition, Variation und Behandlung bestimmter Sachprobleme zu verstehen – und als solche auch zu kritisieren. Bei der Interpretation von Positionen stehen zu bleiben, hieße, „den Einsprung in die eigentliche Frage“¹⁴⁶ zu verfehlen. In den folgenden sechs Abschnitten soll daher nicht nur aufgewiesen werden, wie viele und welche Platonischen Motive, Metaphern, Postulate und Theoreme in der Husserlschen Philosophie aufgehoben sind. Diese Husserlschen Anver-
Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 14. Fink, „Die Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls“, S. 47, 53. Fink, „Die Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls“, S. 57. Fink, „Die Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls“, S. 58. Fink, „Die Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls“, S. 62. Fink, „Die Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls“, S. 59 Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 15.
32
Einleitung
wandlungen sollen vielmehr jeweils zum Ende des Abschnitts auch einer konzisen Kritik unterzogen werden. Bei den kritischen Bemerkungen geht es aber gerade nicht um eine Austreibung des Platonismus aus der Phänomenologie; sie zielen vielmehr auf stillschweigende Annahmen Husserls, die im Bezug auf Platon besonders deutlich werden, und die entweder phänomenologisch unhaltbar sind oder mit anderen Motiven von Husserls Denken im Widerstreit stehen. Gerade dort, wo man vielleicht die deutlichste Übereinstimmung vermuten mag, nämlich bei der Ideenlehre, wird sich schließlich zeigen, dass Husserl in manchen Dingen noch gar nicht Platonisch genug gedacht hat.
Teil I: Programmatik
Was ist das Programm, d. h. was sind Anspruch und Aufgabe der theoretischen Philosophie? „Seit den Anfängen hat die Philosophie den Anspruch erhoben, strenge Wissenschaft zu sein, und zwar die Wissenschaft, die den höchsten theoretischen Bedürfnissen Genüge leiste und in ethisch-religiöser Hinsicht ein von Vernunftnormen geregeltes Leben ermögliche.“¹ Mit Beantwortung der Frage gibt sich Husserl sein Programm und postuliert zusammen mit seinen Zielen auch die Bedeutung der eigenen Philosophie. Im ersten Teil dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass und inwiefern Husserls philosophisches Programm im Wesentlichen eine phänomenologische Ausprägung bzw. Transposition der ursprünglichen Platonischen Antwort darstellt – und wie weit Husserl sich dieses Erbes bewusst war. Dabei werden wir eine Auffassung von Rolle und Normen der Philosophie herausarbeiten, die wir „programmatischen Platonismus“ nennen und die das gemeinsame programmatische Grundgerüst der Platonischen Metaphysik und der Husserlschen Philosophie ausmacht – und zwar sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Das theoretische Programm werden wir ausgehend vom Verhältnis der Philosophie zur Mathematik und den übrigen Wissenschaften exponieren (Abschnitt A). Dann entwickeln wir die praktische Dimension einer Platonischen Philosophie aus einer Betrachtung des Verhältnisses von Philosophie, Selbstrealisierung und Kultur (Abschnitt B). Abgeschlossen wird der erste Teil durch eine Analyse der wichtigsten philosophischen Gegnerschaften, mit der wir dem Platonischen Programm weitere Kontrastschärfe geben können (Abschnitt C).
Hua XXV (Aufsätze I), S. 3.
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft § 3. Epistemische Technik Die sogenannten Wissenschaften sind bloße Techniken, insofern sie ihre Voraussetzungen nicht aufklären können.
a) Platon: Träume vom Sein Wann ist eine epistemische Unternehmung eigentlich Wissenschaft? Für Platon genau dann, wenn sie ihre eigenen Voraussetzungen hinterfragt und in einem Unhinterfragbaren fundiert ist. Selbst die Mathematik kann daher keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben: Ich denke, du weißt, dass die, welche sich mit der Messkunst und den Rechnungen (peri tas geômetrias te kai logismous) und dergleichen abgeben, das Gerade und Ungerade und die Gestalten und die drei Arten von Winkel [spitze, rechte und stumpfe] und was dem sonst noch verwandt ist, in jeder Verfahrensart voraussetzend (poiêsamenoi hypotheseis), als ob sie dies alles genau erkannt hätten (hôs eidotes), keine Erklärung weiter darüber weder sich noch anderen glauben geben (logon didonai) zu müssen, als sei dies schon allen deutlich, sondern hiervon beginnend gleich das Weitere ausführen und dann anerkanntermaßen (homologoumenôs) bei dem anlangen, auf dessen Untersuchung sie ausgegangen waren.¹
Mathematik kann keine Erklärung oder Rechenschaft ablegen (logon didonai) betreffs ihrer Voraussetzungen oder Grundlagen. Dies liegt für Platon im Wesen der von ihrer Gegenstände und der auf sie angewandten Methode begründet: „Diese Gattung [von Gegenständen] also […] sei allerdings auch Erkennbares, die Seele aber sei genötigt, bei der Untersuchung derselben sich der Voraussetzung zu bedienen, nicht so, dass sie zum Ursprung (archên) zurückgeht, weil sie sich nämlich über die Voraussetzungen hinauf nicht versteigen kann“². Mathematik ist eine Erkenntnisunternehmung, die es zwar mit echten, d. h. idealen Erkenntnisgegenständen zu tun hat, die dabei aber deduktiv arbeitet, „von ihren Voraussetzungen ausgehend (ex hypotheseôs)“, ohne „zum Ursprung (ep’ archên) zurückzugehen“³ und die reflexiven Ressourcen nicht zur Verfügung hat, um
Pol. 510CD. Pol. 511 A. Pol. 511D. DOI 10.1515/9783110528053-003
36
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
bestimmte Rückfragen in Bezug auf ihre (epistemologischen, ontologischen) Voraussetzungen zu beantworten. Mathematik muss ihre Voraussetzungen gesetzt sein lassen, um von ihnen aus fortzuschreiten, statt sie einzuholen. Sie ist deduktiv und positiv, nicht reflexiv – der diagnostizierte blinde Fleck ist ein Wesensmerkmal der Mathematik.Wir können auch sagen: Philosophie der Mathematik ist nicht Mathematik, d. h. Fragen nach dem Wesen mathematischer Gegenstände und dem erkenntnistheoretischen Status ihres Vorgehens fallen nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. In Ermangelung der Aufklärung ihrer Voraussetzungen behandelt die Mathematik das, was ihr im Rücken liegt (ihr Apriori) notwendig als Selbstverständlichkeit („hôs eidotes“). Platon spricht der Mathematik, solange sie diese Selbstverständlichkeiten nicht in Verständlichkeiten überführt hat, nur den Rang der Technik (technê) zu, nicht den echter Wissenschaft (epistêmê)⁴. Neben der Reflexionslosigkeit zeichnet sich die Technizität der Wissenschaften darüberhinaus auch durch eine thematische Uneigentlichkeit aus, die darin besteht „dass sie sich der sichtbaren Gestalten bedienen und immer auf diese ihre Reden beziehen, unerachtet sie nicht von diesen handeln, sondern von jenen, dem diese gleichen, und um des Vierecks selbst willen und seiner Diagonale ihre Beweise führen, nicht um dessentwillen, welches sie zeichnen.“⁵ Die eigentlichen Themata der mathematischen Forschung sind reine Denkgegenstände, d. h. unsichtbar. Sie werden durch sichtbare Gestalten bezeichnet. Die Techniker beziehen sich nun nach Platon ausschließlich auf die Zeichen, statt bei den Sachen selbst zu sein – und reflektieren wiederum weder diese Tatsache noch die Tatsache, dass dieses Vorgehen durchaus erfolgreich ist, wobei der Mangel an Reflexion vermutlich gerade darauf beruht, dass die Mathematik so erfolgreich ist. Der Vorwurf der thematischen Uneigentlichkeit lässt sich mit einer epistemologischen Unterscheidung verbinden, der wir uns erst weiter unten (Abschnitt E) ausführlich annehmen werden, die wir hier allerdings schon ins Spiel bringen können, nämlich die Differenz zwischen anschaulichem und unanschaulichem Denken. Das unanschauliche Denken hat seine Objekte nicht präsent, es ist leer und daher bloße Meinung, keine Erkenntnis.⁶ Die technische Fixierung auf die „sichtbaren Gestalten“, d. h. die Zeichen, zuungunsten der Sachen selbst, lässt sich nun paradoxerweise als Fall von Unanschaulichkeit charakterisieren, insofern Anschauung gerade nicht Wahrnehmung, sondern Präsenz besagt. Im technischen Vorgehen ist die Präsenz der Sachen selbst für die Wahrnehmung
Pol. 511C und 533D. Pol. 510D. Pol. 479E.
§ 3. Epistemische Technik
37
ihrer Zeichen aufgegeben. Thematische Uneigentlichkeit ist also ein Fall von Unanschaulichkeit, die also zusammen mit der Reflexionslosigkeit das technische Denken bestimmt und vom echten Wissen im Sinne Platons distanziert. Trotz dieser epistemologischen Abwertung der Mathematik bezweifelt Platon nicht die epistemische Effektivität der mathematischen Methoden, sie erreichen ihre Ziele ja „anerkanntermaßen (homologoumenôs)“, d. h. zwischen Platon und seinen mathematischen Kollegen gab es „in rein mathematischen Angelegenheiten keine grundsätzlich verschiedenen Auffassungen“⁷ (Gaiser). Unklar oder mathematisch unbegründet sind für Platon nicht die Sätze der Mathematik; unhinterfragt und fraglich ist primär der onto-epistemologische Status ihrer (idealen) Gegenstände.⁸ Der Dialektiker ist nicht der bessere Mathematiker.⁹ Wie die philosophische Fundierung der Mathematik aussehen könnte, zeigt Platon in den Theaitetos-Dialogen, dem Theaitetos und dem Sophistês. Hier wird auch klarer, was überhaupt unter den „Voraussetzungen“ der Mathematiker zu verstehen ist; der Kontext der oben zitierten Passagen der Politeia lässt verstehen, dass es sich dabei nicht nur um das Verständnis einiger mathematischer Grundbegriffe oder gewisse versteckte Prämissen der damaligen Forschung geht, sondern, wie wir bis jetzt stillschweigend interpretierten, das philosophische Apriori, d. h. die Möglichkeitsbedingungen von Mathematik und Erkenntnis überhaupt. Der junge Theaitetos – ein realer Freund Platons¹⁰ – nimmt die Herausforderung an, zunächst die epistemologischen Investitionen der Mathematik einzuholen und das Wesen dessen zu klären, auf was die Mathematik Anspruch erhebt: Erkenntnis. Nachdem er sich Sokrates als Student der Geometrie und anderer mathematischer Wissenschaften vorgestellt hat, identifiziert Sokrates als Ziel der Wissenschaften die Erkenntnis (epistêmê) und schlägt das Thema der folgenden Unterredung vor: „Dies ist nun eben, worüber ich zweifelhaft bin und was ich durch mich selbst nicht hinreichend ergründen kann, die Erkenntnis, was die wohl eigentlich sein mag. Sollten wir es wohl bestimmen können? Was sagt ihr?“¹¹ Im Verlauf des Dialogs diskutiert Theaitetos dank Sokrates’ Mäeutik zwar mehr, als er sich jemals zugetraut hätte, aber das Wesen der Erkenntnis bleibt verborgen.¹² Unabhängig davon, wie mit der dreifachen Schlussaporie genau umzugehen ist, symbolisiert Platon mit diesem Ausgang, dass die Mathematik
Gaiser, Ungeschriebene Lehre, S. 300. Mittelstraß, „Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen“, Abschnitt 11.3. Mittelstraß, „Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen“, S. 247. Erler, Platon, S. 233. Theait. 145Eff. Theait. 210Bff.
38
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
(vertreten durch Theaitetos) nicht imstande ist, die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis selbst zu lösen. Im Sophistês nähert sich der junge Mathematiker mithilfe des Fremden aus Elea auch den ontologischen Voraussetzungen der Mathematik, thematisiert sie aber noch nicht als solche. Theaitetos steht so für die Gestalt einer Mathematik, die beginnt, sich mithilfe der Philosophie Rechenschaft über ihr (onto-epistemologisches) Apriori abzugeben. Dem menschlich-kommunikativen Verhältnis der Dialogpartner entspricht also ein systematisches Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften.¹³
b) Husserl: Fabriken nützlicher Sätze Das phänomenologische Wissenschaftsideal findet Husserl explizit bei Platon vorgezeichnet, insofern dieser – nach Husserl – zum ersten Mal darauf insistiert, dass echte Wissenschaft wesentlich eine „selbst von vollkommenster Einsicht erfüllte Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt“¹⁴ impliziert. Fast immer, wenn Husserl von der „Idee strenger Wissenschaft“ spricht, verknüpft er dies mit dem Namen Platons und manchmal auch mit denen des Sokrates und Aristoteles.¹⁵ (Indes hält Husserl auf Aristoteles insofern wenig, als er in dessen Philosophie eine Abschwächung des Platonischen Radikalismus sieht.¹⁶) Jedenfalls hat Husserl die oben angeführten Passagen der Politeia offenbar aufmerksam gelesen: Dass Platon die ihm historisch vorgegebenen Wissenschaften als bloße Vorstufen [echt rationaler] Wissenschaften wertet (als solche aber darum nicht geringer wertet), darüber hat er sich in den Schlusskapiteln […] des VI. Buches vom Staat völlig klar ausgesprochen. Die Mathematiker, so führt er aus, reden so, als ob ihre Sätze von den sichtbaren (den auf die Tafel gezeichneten oder in bloß sinnlicher Phantasie entworfenen) Gestalten gelten würden. Aber ihre eigentliche Intention geht, ohne dass sie sich das zum reinen Bewusstsein bringen, gar nicht auf die sichtbaren; sie geht auf das, was man sinnlich nicht sehen, aber denkend einsehen kann. Diese Mathematik steht also noch mit einem Fuß in der Sinnlichkeit, sie ist noch nicht die echte, die Ideen-Mathematik, die von allen empirischen Mitbenutzungen befreite Wissenschaft ist, aus reiner Vernunft. Ähnlich steht es, meint Platon, mit allen Wissenschaften im Sinne der gewöhnlichen Rede und Ausführung, sie sind bloße Vorstufen
Vgl. Gaiser, Ungeschriebene Lehre, S. 32 ff. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 32. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 296; vgl. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 324 und S. 362; Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 3. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 56.
§ 3. Epistemische Technik
39
der konkreten, der eigentlich philosophischen Wissenschaften, die ihrem Sinn als Wissenschaften in reiner Weise und völlig bewusst genugtun.¹⁷
Zur Überwindung der Vorstufe und um der „Platonischen Idee absoluter Rechenschaftsabgabe“ hinsichtlich ihrer Voraussetzungen gerecht zu werden,¹⁸ fordert Husserl in Übereinstimmung mit Platon eine ursprüngliche Fundierung und Rechtfertigung der ‚geraden Forschungsrichtung‘ der nicht-philosophischen, d. h. positiven Wissenschaften. Auch für Husserl gilt nämlich, dass ein geradehin auf die Natur und die Menschenwelt [oder auch die mathematischen Gegenstände] gerichtetes theoretisches Interesse keineswegs schon fähig ist, sich in Gestalt exakter Wissenschaften auszuwirken, dass vielmehr dergleichen strenge Wissenschaft erst möglich wird durch entgegengerichtete Reflexionen und Forschungen, nämlich gerichtet auf das erkennende Bewusstsein, auf Erkenntnisform und -methode.¹⁹
Damit ist Platons Forderung nach Rückgang auf die Voraussetzungen einerseits bestätigt, andererseits in ein transzendentales Register transponiert: „Die bisherigen Wissenschaften genügen nicht – in der Naivität ihrer positiven Wahrheitsbegründung. Die transzendentale Subjektivität […] bleibt anonym. Vollkommene Wissenschaft muss auch Wissenschaft der transzendentalen Ursprünge sein.“²⁰ Solange diesem philosophischen Engpass der Einzelwissenschaften nicht abgeholfen ist, geht ihnen nach Husserl – und hier zitiert er geradezu die Platonische Unterscheidung zwischen technê und epistêmê ²¹ – überhaupt der Charakter der Wissenschaft ab, denn in „Wahrheit sind Wissenschaften, […] die mit Grundbegriffen operieren, die nicht aus der Arbeit der Ursprungserklärung und Kritik geschaffen sind, überhaupt keine Wissenschaften, sondern bei aller ingeniösen Leistung bloß theoretische Techniken.“²² Wie Platon sieht Husserl die Reflexionslosigkeit der sogenannten Wissenschaften als ein entscheidendes Kriterium ihrer Technizität an. Eine weitere Begründung dafür, warum Wissenschaft ohne philosophische Reflexion nicht möglich sein soll, lässt sich aus einer Passage des Logos-Artikels gewinnen, in der Husserl zumindest für die Philosophie den Willen zur Philosophie für notwendig erklärt. Philosophie geschieht nicht unbewusst oder aus
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 328; vgl. z. B. Hua XXI (Arithemtik),X, S. 156; Hua XXXII (Natur und Geist), S. 196. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 324. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 23. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 356. Siehe Held, „Husserl und die Griechen“, S. 139. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 189; cf. Hua VI (Krisis), S. 201; vgl. Held 1989.
40
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Versehen, sondern absichtsvoll und mit bewusstem Anspruch. Dann aber brauchen wir einen Begriff von Philosophie, der unser Wollen lenken kann und den wir zumindest in der ersten Fassung Platon verdanken: „Ein solcher vollbewusster Wille zu strenger Wissenschaft beherrscht die Sokratisch-Platonische Umwendung der Philosophie.“²³ Ähnliches muss aber ebenso für die übrigen Wissenschaften gelten: Solange wir keinen Begriff von Wissenschaft haben, können wir sie nicht betreiben wollen; wenn wir sie nicht betreiben wollen können, gibt es sie nicht. Wissenschaft kann es nicht ohne Vorsatz geben, denn während viele wissenschaftlich relevanten Phänomene zufällig entdeckt werden und auch die Entwicklung von Theorien von allerlei Kontingenzen abhängt, kommt die zur Wissenschaftlichkeit entscheidende Systematisierung nicht ohne Intention aus. Ebenfalls wie Platon erkennt Husserl noch eine weitere Dimension der Technisierung: „Die technisierte Methode verläuft in einem Operieren mit gedankenlosen, nämlich der ursprünglichen und eigentlichen Bedeutung und Geltungsmodi leer gewordenen Worten und Zeichen. Das Denken wird ein Denken mit Surrogaten“²⁴, es entbehrt also der Anschaulichkeit. Die Technisierung „vermehrt ständig die Zeichenwerte, die nominalen Repräsentationen, die ungedeckten Anweisungen“²⁵ (Blumenberg), in ihr „entzieht sich der Mensch der Redlichkeit des einsichtigen, auf originärer Anschauung bestehenden Vollzuges seiner Praxis in jenem weitesten Sinne, der auch die Theorie einschließt“²⁶ (Blumenberg). Dem entspricht Platons Kritik an der Fixierung auf die „sichtbaren Gestalten“, d. h. den Zeichnungen (also Zeichen), denen sich die Mathematiker widmen, obwohl sie sich ihrer nur bedienen sollten. Bei aller Kritik stellt jedoch auch der Mathematiker Husserl niemals die technische Leistungsfähigkeit der Einzelwissenschaften infrage; sie mögen noch keine Wissenschaften im eminenten Sinne sein, aber gewaltige epistemische, im Fall der Mathematik sogar eidetische Leistungen sind ihnen eben doch nicht abzusprechen – eine Leistungsfähigkeit, die Husserl zufolge allerdings doch wiederum auf Platon zurückgeht, dessen „unsterbliches Verdienst“²⁷ es ist, der Mathematik „dank der in der Platonischen Dialektik geleisteten subjektiv-methodologischen Vorarbeit ihr spezifisches wissenschaftliches Gepräge“ verliehen und zur eidetischen Unternehmung gemacht zu haben.²⁸
Hua XXV (Aufsätze II), S. 6. Hua XXI (Arithemtik),X (Ergänzungsband zur Krisis), S. 35. Blumenberg, Lebenswelt, S. 209. Blumenberg, Lebenswelt, S. 208. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 51. Hua V (Ideen III), S. 42; vgl. Gaiser, Ungeschriebene Lehre, S. 304 f.
§ 3. Epistemische Technik
41
Es gewinnt vor allem die Mathematik erst dank der in der Platonischen Dialektik geleisteten subjektiv-methodologischen Vorarbeit ihr spezifisches wissenschaftliches Gepräge. Erst dadurch wird sie zu einer reinen Geometrie und Arithmetik, dass sie die empirisch anschaulichen Raum- und Zahlengebilde hinter sich lässt, indem sie sie als Sprungbretter für die in ihnen durch denkmäßige Einsicht (Ideenschau) herauszuschauenden reinen Ideen benützt, d.i. für ideale Limes, denen sich jene sinnlichen Gebilde in mehr oder minder vollkommener Teilhabe approximieren.²⁹
Husserl findet also nicht nur die Reflexionsforderung an echte Wissenschaft bei Platon vorgezeichnet, sondern auch seine eigene Kritik an der Unanschaulichkeit der technisierten Wissenschaften, ebenso wie die Konzeption der „philosophischen Wissenschaften“. Sie entstehen für Husserl dadurch, dass sie durch philosophische Fundierung ihre „Verantwortungslosigkeit im Sinne theoretischer Naivität“³⁰ (Kuster) aufgeben: Philosophische Wissenschaften – das kann für uns, solange wir die Platonische Idee der Philosophie als oberste Zweckidee der Erkenntnis festhalten, nur bedeuten: Wissenschaften aus absoluter Rechtfertigung, also Wissenschaften, die ihre Erkenntnis in jeder Hinsicht vertreten können oder, anders gesagt, in denen der Wissenschaftler jedes Erkenntnisgebilde in jeder erdenklichen Hinsicht voll zu rechtfertigen vermag, so dass keine Rechtsfrage, die hierbei zu stellen ist, unbeantwortet […] bleibt³¹
Philosophische Wissenschaften sind (oder wären) mithin keine Techniken mehr, d. h. nicht bloß anschauungs- und reflexionslose „Fabriken sehr wertvoller und nützlicher Sätze“³², denen ihr ursprüngliches Ziel, nämlich „Weltverständnis, die Einsicht in die Wahrheit“³³ verloren gegangen ist; philosophische Wissenschaften sind so er- und damit ge- und begründet, dass sie „nach allen wesensmäßig erdenklichen Fragedimensionen zu theoretischer Frage und Antwort bereit und wohlgerüstet“³⁴ sind. Die zeitgenössische Philosophie und Wissenschaft ist von diesem Platonischen Ideal jedoch in Husserls Augen weit abgeirrt. Die Wissenschaft ist in der spezialwissenschaftlichen Form zu einer Art theoretischer Technik geworden, die […] viel mehr auf einer […] „praktischen Erfahrung“ beruht […] als auf Einsicht in die ratio der vollzogenen Leistung. Damit hat die moderne Wissenschaft das seit Platon in den Wissenschaften lebendig wirkende Ideal echter Wissenschaft und praktisch den Radi-
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 328.Vgl. z. B. Hua XXI (Arithemtik),X, S. 156; Hua XXXII (Natur und Geist), S. 196. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 27. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 36 f. Hua V (Ideen III), S. 95. Hua V (Ideen III), S. 96. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 177.
42
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
kalismus wissenschaftlicher Selbstverantwortung preisgegeben. […] Den verselbstständigten Spezialwissenschaften fehlt das Verständnis für die prinzipielle Einseitigkeit ihrer Leistungen³⁵
Selbst Mathematiker, versteht Husserl durchaus, dass Wissenschaft auf „technische Rationalität“³⁶, d. h. gewisse Prozesse der Technisierung, Mechanisierung oder Automatisierung angewiesen ist: „Sie selbst bedarf solcher „Mechanisierung“, und kein Leben ist ohne mechanisierende Gewohnheit und ohne wirksame Tradition denkbar.“³⁷ Die bekannteste Analyse dieser Prozesse findet sich in § 9 der Krisis, in dem Husserl die „Sinnentleerung“ der Wissenschaften im Ausgang der Galileischen Mathematisierung der Physik beschreibt. Nicht nur fehlt den Wissenschaften damit eine angemessene Fundierung, sondern es ermangelt ihnen letztlich an durchgängig evidentem Verständnis ihrer eigenen Ergebnisse. Husserl diagnostiziert aufgrund der genannten inhärenten Tendenzen einen „Zusammenbruch der Wissenschaft durch die Wissenschaft selbst in ihrer Methodisierung als Technisierung. Verlust der ratio durch Auswirkung der ratio selbst.“³⁸ Diese selbstzerstörerischen Tendenzen der Wissenschaften können in Husserls Augen nun ausschließlich durch radikale philosophische Reflexion behoben werden,³⁹ da die Möglichkeit der radikalen Selbstverantwortung nicht in der Reichweite der methodischen Ressourcen der Einzweilwissenschaften liegt. In einem Brief an Brentano von 1905 formuliert Husserl diese Situation für die Mathematik: Das eigentlich philosophische Interesse bleibt durch Bolzano u. die modernen Mathematiker freilich ganz unbefriedigt. Denn dieses hängt nicht an den technischen Ausführungen dieser Theorien (Sache des Mathematikers, des Technikers […]), sondern an ihrem letzten Sinn, an ihrer erkenntnistheoretischen Aufklärung (Sache dr Philosophie). Es giebt [sic] fundamentale Schwierigkeiten, die nicht Schwierigkeiten der [formalen, mathematischen] logischen Theorie, sondern der Theorie des Logischen sind, welche also durch die allervollkommenste Ausgestaltung der der logischen (bzw. mathematischen) Theorien nicht behoben werden.⁴⁰
Die Probleme, die die Phänomenologie im Kontext der Mathematik entdeckt, sind – wie schon bei Platon – keine spezialwissenschaftlichen.⁴¹ Die genuin philoso-
Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 7. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 249. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 179. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 430. Vgl. dazu Rang, „Die bodenlose Wissenschaft“. Husserl an Brentano, Hua Briefe Dok III/1., S. 29. Hua V (Ideen III), S. 13.
§ 3. Epistemische Technik
43
phischen Grundlagenprobleme, die gerade nicht Fragen der „mathematischen Technik“ oder der „letztlichen Axiomatik“⁴² betreffen, sind nicht von „unphilosophischen Fachmännern“⁴³ anzugehen, denn „sie zu interpretieren kann nur der befähigt sein, der in der Philosophie seine Lebensaufgabe hat“.⁴⁴ Zumindest liegt die Erforschung der philosophischen Dimensionen einer Wissenschaft „außerhalb des thematischen Rahmens dieser Wissenschaften“⁴⁵, die hier zu stellenden Fragen sind „entgegengerichtet den Arbeitsfragen, dem systematisch schon vorgezeichneten Gang der Wahrheitsbildung“⁴⁶ und daran „zu denken, das hieße diese Arbeit nicht fördern, sondern unterbrechen.“⁴⁷ In diesem Sinne würde Husserl vermutlich Feynmans Einschätzung teilen: „Philosophy of science is about as useful to scientists as ornithology is to birds.“⁴⁸ Im wissenschaftlichen Alltag kann die Philosophie die Wissenschaften nicht unbedingt unterstützen – wohl aber liefert sie ihnen die „Rechtfertigung höheren Stiles, eine prinzipielle Normierung“⁴⁹, die sie selbst nicht erbringen können. Und „Streitfragen über den prinzipiellen Sinn ihrer Grundbegriffe, der allgemeinsten Begriffe, die ihre Gebiete und ihre Metode beschreiben“ sind zwar nicht unbedingt im wissenschaftlichen Alltag zu diskutieren, aber nichtsdestotrotz sind es keine für die Wissenschaften irrelevanten Fragen; denn sind diese allgemeinsten Begriffe in Verworrenheit, Begriffe wie Natur und Geist, wie Raum, Zeit, Realität, Kausalität, Motivation, Personalität, personale Gemeinschaft usw., so lassen uns die Wissenschaften im Stich, wenn wir als Summe ihrer Leistungen nun ein echtes, durch und durch klares Wissen ziehen wollen. Die Wissenschaft darf nicht im Stande einer naiven theoretischen Praxis verbleiben und sich damit begnügen, mit technischen Erfolgen zu glänzen und sich zu rechtfertigen. Sie darf nur eine Rechtfertigung aus fragloser Klarheit gelten lassen.⁵⁰
Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade der Entdecker des Unvollständigkeitssatzes Kurt Gödel – selbst ausgemachter Platoniker – ein lebhaftes Interesse an den Möglichkeiten entwickelt, die die Phänomenologie dem an Grundlagenfragen laborierenden Mathematiker bietet.⁵¹ Besonders in einem Vortragsmanuskript von
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 226; vgl. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 6. Hua VI (Krisis), S. 9. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 216. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 2. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 186. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 185. Richard Feynman, BBC-Horizon Interview 1981. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 39. Hua XIV (Intersubjektivität II), S. 396. Føllesdal, S. 367 f.
44
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
1961 macht Gödel deutlich, wie er sich die phänomenologische Assistenz vorstellt. Ausgangspunkt ist das Problem, wie die „Sicherheit der Mathematik“ angesichts des Scheiterns des Hilbert-Programms noch zu denken ist, da ja offenbar nicht alle mathematischen Wahrheiten – nämlich die der Axiome – auf mechanisch-symbolischem Wege erreichbar sind. Statt im sinnentleerten, mechanisch-endlichen Formelspiel sein Glück zu suchen, sollte der Mathematiker sich nach Gödel darauf verlegen, die Erkenntnis der „abstrakten Begriffe“ zu erweitern, die als Grundlage jener „mechanischen Systeme“ dienen, was aber nicht durch weiteres formales Definieren geschehen kann. „Denn dann braucht man ja dafür offenbar andere undefinierbare abstrakte Begriffe und für sie geltende Axiome. Sonst hätte man ja nichts, woraus man definieren oder beweisen könnte. Das Verfahren muss also wenigstens zum Teil in einer Sinnklärung bestehen, die nicht im Definieren besteht.“⁵² (Gödel) Die Lage der Mathematik, wie Gödel sie hier beschreibt, gleicht in gewissem Sinne derjenigen, die Platon vorgefunden und diagnostiziert hat.⁵³ Denn Definitionen im technischen Sinn enthalten eben gerade undefinierbare Voraussetzungen (Platonisch gesprochen: hypotheseis), von denen aus die Wissenschaft ihren Lauf nehmen kann. Stattdessen muss der Mathematiker sich auf diese bisher unhinterfragten Voraussetzungen zurückwenden und ihren Sinn klären. Nun gibt es ja heute den Beginn einer Wissenschaft, welche behauptet, eine systematische Methode für eine solche Sinnklärung zu haben, und das ist die von Husserl begründete Phänomenologie. Die Sinnklärung besteht hier darin, dass man die betreffenden Phänomene schärfer ins Auge fasst, indem man die Aufmerksamkeit in einer bestimmten Weise dirigiert, nämlich auf unsere eigenen Akte bei der Verwendung dieser Begriffe, auf unsere Mächte bei der Vollführung unserer Akte etc. Man muss sich dabei klar darüber sein, dass diese Phänomenologie nicht eine Wissenschaft im selben Sinn ist wie die anderen Wissenschaften. Sie ist vielmehr (oder sollte jedenfalls sein) ein Verfahren oder Technik, welches in uns einen neuen Bewusstseinszustand hervorbringen soll, in dem wir die von uns verwendeten Grundbegriffe unseres Denken detaillieren oder andere bisher uns unbekannte Grundbegriffe erfassen.“ (Gödel)⁵⁴
Die phänomenologische Verfahrensweise (nichts anderes meint „Technik“ hier) erlaubt eine Begriffsklärung, die dank ihrer Reflexivität nicht den Charakter der mathematischen Definition annimmt und so die Regressprobleme der Axiomatik vermeidet und damit die Grundlagen der Mathematik mithilfe nicht-mathematischer Methode sichert.
Gödel, „The modern development of the foundations of mathematics …“, S. 382. Vgl. Gaiser, Ungeschriebene Lehre, S. 38. Gödel, „The modern development of the foundations of mathematics …“, S. 382.
§ 4. Fundiertheit
45
§ 4. Fundiertheit Wissenschaft muss absolut fundiert sein. Absolute Fundierung ist Fundierung im Absoluten.
a) Platon: Zum Ursprung selbst Reicht die Thematisierung der eigenen Voraussetzung dafür aus, eine epistemische Unternehmung zur Wissenschaft zu machen? Nicht ganz. Im Phaidon leitet Sokrates seine Freunde an, wie mit Angriffen auf ihre eigenen Voraussetzungen umzugehen ist: „Und solltest du dann von jener [Voraussetzung] selbst Rechenschaft geben (didonai logon), würdest du sie nicht auf die gleiche Weise geben, nämlich eine andere Voraussetzung wieder voraussetzend (hypothesin hypothemenos), welche dir eben von den höherliegenden die beste (tôn anôthen beltistê) dünkte, bis du eine hinlänglich starke Position (hikanon) erreichst.“⁵⁵ Der Dialektiker zeichnet sich dadurch aus, dass er auf höhere Voraussetzungen zurückgreifen kann, um seine Position zu stützten – was auch sein Verhältnis zu seinen eigenen Schriften ausmacht. Was dabei in diesem Rückgriff als „hikanon“ gilt, ist kontextabhängig. Der Dialektiker muss nur so weit gehen, wie sein Gesprächsteilnehmer fordert. Die Dialoge zeigen, dass unterschiedliche Gesprächspartner verschieden leicht zu befriedigen sind, genau, wie sie verschieden leicht in Aporien geführt werden können. Aber stellen wir uns ein wirklich philosophisches Gespräch vor, in dem sich die Partner nicht so einfach abspeisen lassen, kommt dann die Dialektik mit ihrer Aktivität des Gebens und Forderns von Gründen oder Erläuterungen und dem darauf reagierenden Setzen stets höherer Voraussetzungen jemals an ein Ende? Gibt es ein Ziel, bei dem sie zur Ruhe kommt, ohne bloß arbiträr zu verstummen? Gibt es eine letzte, fundamentale Fessel (desmos)? Gibt es ein sozusagen ein „hikanotaton“, ein nicht mehr hinterfragbares, nicht mehr bezweifelbares Fundament? Platon geht nicht nur davon aus, dass es dieses Ziel gibt, sondern dass gerade der Dialektiker die Verpflichtung hat, es zu erreichen – und dass auch nur er allein dazu imstande ist: „Einzig das dialektische Verfahren (dialektikê methodos) […] hebt die Voraussetzungen (hypotheseis) auf und macht sich auf den Weg dorthin: zum Ursprung (archê) selbst, um festen Stand zu gewinnen.“⁵⁶ „Die Voraussetzungen aufhebend“⁵⁷, soll die Philosophie fortfahren „bis zum Aufhören aller
Phaid. 101Df. Pol. 533CD. Übers. Rufener. Pol. 533C.
46
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Voraussetzungen (mechri anhypothetou)“⁵⁸. Platon fordert also nicht nur ontoepistemologische Reflexionen von den Wissenschaften, er spezifiziert auch die Reichweite der geforderten Reflexionen: Sie haben eben bis „zum Ursprung (ep’ archên) zurückzugehen“⁵⁹. Damit wird das Reflexionsgebot um ein Fundierungsdesiderat ergänzt. (Diese Ergänzung ist nicht trivial, denn es ist zumindest prima facie denkbar, dass die Reflexion entweder die Gestalt eines skeptischen Problembewusstseins annimmt, oder in ihrer Thematisierung der Voraussetzungen nie an ein Ende kommt. Nicht unproblematisch ist auch das Verhältnis von Dialektik und Prinzipienlehre, denn während Platon in der Politeia offenbar keinen Unterschied zwischen beiden macht, lassen sich Gründe anführen, weshalb beides doch nicht in eins fällt. An dieser Stelle sei „Dialektik“ stets weit genug gefasst, die Prinzipienlehre einzuschließen.⁶⁰) Das doppelte Unvermögen, die eigenen Voraussetzungen reflexiv zu thematisieren und ein Absolutes zu erreichen, mag zwar innerhalb der einzelnen nichtphilosophischen epistemischen Unternehmungen unproblematisch sein, wird aber unter einem philosophischen Maßstab zum Problem: [Die Wissenschaften], denen wir zugaben, dass sie sich etwas mit dem Seienden befassen, die Messkunde und was mit ihr zusammenhängt, sehen wir wohl, wie sie zwar träumen,von dem Seienden, ordentlich wachend aber es wirklich zu erkennen nicht vermögen, solange sie, Annahmen voraussetzend, diese unbeweglich lassen, indem sie keine Erläuterungen darüber abgeben (logon didonai) können. Denn wovon der Ursprung (archê) ist, den man nicht kennt, Mitte und Ende aber aus gerade diesem, das man nicht kennt, zusammengeflochten sind, wie soll wohl, was auf solche Weise angenommen wird, jemals eine Wissenschaft sein können?⁶¹
Platon scheint hier ein mereologisches Argument vorzubringen, in dem sich die Reflexionsforderung und das Fundierungsdesiderat verbinden. Der Ursprung oder das Prinzip wird – neben Mitte und Ende – als Teil der mathematischen Forschung dargestellt. Da gemäß der Reflexionsforderung Wissenschaft erst durch vollständige Selbsterkenntnis zustande kommt, das absolute Fundament aber Teil (Prinzip) der Forschung ist, gehört seine Kenntnis zu den Kriterien der Wissenschaftlichkeit. Die Reflexionsforderung wird auf diese Weise selbst zur Forderung nach absoluter Reflexion. Zugleich ist in der zitierten Passage das Fundierungsdesiderat auch dadurch ins Spiel gebracht, dass Platon für die Beschreibung des epistemologischen Status der vor-philosophischen Wissenschaften die Metapher
Pol. 511B. Pol. 511D. Vgl. Krämer, „Prinzipienlehre und Dialektik“. Pol. 533BC.
§ 4. Fundiertheit
47
des Traumes verwendet, die eindeutig skeptische Szenarien evoziert, denen durch eine vernünftige Fundierung vorzubeugen ist.⁶² Die archê, deren Erreichen uns „festen Stand“ gewährt, hat keine Voraussetzungen, Bestimmungen oder Bedingungen mehr, die hinterfragt oder aufgehoben werden können. Diese archê, auf die die Dialektik abzielt, können wir epistemologisch daher näher charakterisieren als diejenige aitia, hinter der es keine weitere aitia mehr darzulegen gibt, die also alle Darlegung fundiert und so als Regress-Stopper fungiert.⁶³ Der epistemologische Sinn des Absoluten ist es, formales Ziel (telos) der Letztbegründung zu sein: Es gibt einen letzten logos, der nicht weiter begründbar ist und auch nichts enthält, das weiterer Analyse und Abstraktion fähig ist: Die archê oder das Absolute ist das Worüber, das tinos dieses logos. Platon geht also davon aus, dass die dialektische Reflexion an einen Punkt kommen kann und muss, an dem sie nicht sinnvoll mehr weiter fragen kann und der ihr Analyseunterfangen abschließt. Dialektik soll diesen Schlussstein (thrinkos) liefern, d. h. es soll keinen ewigen Aufstieg von höherer Voraussetzung zu höherer Voraussetzung geben.
b) Husserl: Absolute Rechtfertigung Auch für Husserl reicht die bloße Thematisierung der Voraussetzungen noch nicht zur eigentlichen Wissenschaftlichkeit hin; auch er fordert eine absolute Fundierung. Die von der Philosophie geforderte Absolutheit enthält vor allem zwei Momente. (a) Absolutheit als Universalität. Husserl sagt über die frühe griechische Wissenschaft, dass sie ihrer Tendenz nach in diesem Sinne absolut ist: „Was sie, die anfangende Wissenschaft überhaupt will, ist absolute Allerkenntnis, das All des Seins im Begreifen und Erklären zu umspannen, absolut, also nicht etwa durch irgendwelche Erkenntnisgrenzen beschränkt, das ist das Ziel.“⁶⁴ Auch die von der Philosophie angestrebte reflexive Geschlossenheit ist in diesem Sinne absolut, insofern in ihr die Allheit der reflexiven Fragen beantwortet ist; dieses Ende der Phänomenologie liegt in „einem generell schauenden Verständnis, das keine sinnvolle Frage mehr offenlässt.“⁶⁵ (b) Absolutheit als Zweifelslosigkeit. Die transzendentale Subjektivität als konkretes transzendentales Ego ist absolut, insofern die Reduktion sie als „Ar-
Theait. 158BC; vgl. Gabriel, Antike und moderne Skepsis, S. 35. Vgl. Wieland, Formen des Wissens, S. 217. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 8. Hua XXV (Aufsätze II), S. 35.
48
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
beitsfeld“⁶⁶ eröffnet, dessen Bearbeitung gegen alle Zweifel immunisiert sein soll. Wenn wir Sein als Korrelat von zweifelsfreier Einsicht verstehen, ist die transzendentale Subjektivität gerade als epistemisch Absolutes auch ein absoluter Seinsboden, d. h. ein Themengebiet, in dem zweifelsfreie Evidenz zu haben ist: „Beim ego angelangt, wird man dessen inne, dass man in einer Evidenzsphäre steht, hinter die zurückfragen zu wollen ein Unsinn ist.“⁶⁷ Diese epistemologische Absolutheit des Ego ist Cartesianisch; in Husserls Augen wird erst mit Descartes die Subjektivität als „absoluter Erkenntnisboden“⁶⁸ erkannt. „Absolut“ ist in diesem Sinn auch ein epistemologischer Index für die „AAA“-Qualität⁶⁹ (apodiktisch, apriori, adäquat) ultimativer Erkenntnis. Was genau unter dieser epistemologischen Absolutheit zu verstehen ist, stellt ein ganz eigenes Problem dar, dem wir hier aber zum Glück nicht nachgehen müssen. (Für die Ethik lässt sich Absolutheit außerdem als notwendige Geltung eines Wertes bestimmen. Diese Gestalt der Absolutheit schließt eng an die soeben besprochene an, betrifft aber spezifisch ethische Gebote bzw. Werte; „und zwar sagt „absolut“ Doppeltes: Es ist kein hypothetischer Wert, und es ist kein bloß relativer“⁷⁰. Ein kategorischer Imperativ ist in diesem ethischen Doppelsinn absolut, insofern er nicht situationsabhängig bloß im Hinblick auf ein bestimmtes kontingentes Ziel gilt.) Im Kontext der Wissenschaftslehre scheint Absolutheit jedenfalls primär zwei (adjektivische) Bedeutungen anzunehmen: (a) absolut = universal, reflexiv geschlossen, (b) absolut = zweifellos, unmittelbar. Insofern Husserl davon ausgeht, dass es unmittelbare und zweifellose Einsichten gibt, die alles Wissen fundieren müssen, ist Husserl ein paradigmatischer erkenntnistheoretischer Fundamentalist.⁷¹ „Letztbegründung“ heißt in diesem Zusammenhang die Rückführung aller Wissensansprüche auf die Anschauung: „Wesenserschauung [ist] der letztbegründende Akt,“⁷² der in einem „einem generell schauenden Verständnis“ mündet, „das keine sinnvolle Frage mehr offenlässt.“⁷³ Dieses epistemologischadjektivische Verständnis von Absolutheit erzwingt nun aber nicht unbedingt die Annahme eines primordialen Ursprungs (archê), der sich als substantivisches Absolutes ansprechen lässt. Zu Husserls Programm gehört letzteres jedoch ohne jeden Zweifel dazu: „Nur dadurch können sie [sc. die relativen Wissenschaften] zu
Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 32. Hua VI (Krisis), S. 192. Hua VI (Krisis), S. 83. Vgl. Hefernan „Miscellaneous Lucubrations …“, S. 63. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 119. Fumerton, „Foundationalist Theories of Epistemic Justification“. Hua III (Ideen I), S. 21. Hua XXV (Aufsätze II), S. 35.
§ 4. Fundiertheit
49
absolut begründeten Wissenschaften werden, dass von ihren Anfängen und Gründen aus ein Abstieg erfolgt zu den Urgründen, Uranfängen, zu den wahren [grch.] archai.“⁷⁴ Wie bei Platon geht es Husserl letztlich um „Archäologie“⁷⁵, allerdings setzt Husserl hier pointiert 1. den Aristotelischen Plural⁷⁶ und 2. anstelle des Aufstiegs zum Absoluten einen Abstieg, der – trotz vertikaler Metaphorik⁷⁷ – freilich in anderen Gefilden endet als der Platonische Weg, nämlich im „Reich der „Mütter““⁷⁸, bei der „Quelle“⁷⁹ allen Sinns, d. h. der (Ur‐)Subjektivität. Husserls Forderung absoluter Fundierung ist trotz dieser transzendentalen Variation eindeutig zu verstehen als die Forderung einer Fundierung im Absoluten. „Letztbegründung“ heißt hier nicht mehr nur Rückbindung von Wissensansprüchen auf Anschauungen, sondern Rückführung auf ein Absolutes, das die Quelle aller Akte ist. Dieser Doppelsinn von „Letztbegründung“ ist festzuhalten. Bei der geforderten „absoluten Wissenschaft“ handelt es sich für Husserl offensichtlich nicht nur um eine zweifelsfreie und reflexiv geschlossene, d. h. absolut durchgeführte Wissenschaft, sondern um „Wissenschaft vom Absoluten“⁸⁰ – und zwar auch als Selbstentfaltung des Absoluten. Fink legt diesen dreifachen Sinn des Ausdrucks „absolute Wissenschaft“ konzise auseinander: 1. „Der Gegenstand der absoluten Wissenschaft ist das Absolute.“⁸¹ (Fink) 2. „Das „Subjekt“ der absoluten Wissenschaft ist das Absolute selbst.“⁸² (Fink) In den phänomenologischen Fundamentalbetrachtungen „vollbringt es sein Für-sich-Werden“⁸³ (Fink) oder, wie Husserl formuliert: „Philosophie selbst [ist] nur systematische Entfaltung der transzendentalen Subjektivität in Form systematischer transzendentaler Selbsttheoretisierung“⁸⁴. 3. Die Erkenntnisweise der absoluten Wissenschaft ist natürlich selbst absolut: „Das Selbsterkennen des Absoluten ist nicht „relativ“; es gibt für das Absolute keine Außenwelt.“⁸⁵ (Fink) Wie kommt Husserl dazu, das Absolute als Objekt der absoluten Wissenschaft anzusetzen? Weshalb belässt er es nicht bei reflexiver Thematisierung und ego-
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 169. Mat VIII (C-Manuskripte), S. 356 f. Aristoteles, Metaphysik 981B. Blumenberg, Beschreibung, S. 87. Dok. III/4, S. 410. (Brief an Metzger 1919); Hua VII (Erste Philosophie I), S. 73 u. ö. Hua XXXVI (Transzendentaler Idealismus), S. 70. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 248. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 163. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 166. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 166. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 167. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 169.
50
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
logischer Zweifelsfreiheit? Weil die Konstitutionsforschung, die das eigentliche Mittel der Fundierung der Wissenschaften ausmacht, erst zur Ruhe kommt, wenn sie im analytischen „Abbau“ der konstitutiven Bewusstseinsleitungen auf eine Struktur stößt, die selbst nicht wieder in einer tieferen Schicht konstituiert ist, aber alle höheren Schichten konstituiert. Eine absolute Fundierung ist also erst vollzogen, wenn die Analyse der Fundierungsbeziehungen beim Ursprung aller Konstitution angelangt ist. Der Ursprung aller Konstitution ist aber gerade das phänomenologische Absolute, auf das die Phänomenologie im Verlauf der Einholung des Apriori aller Erkenntnis stößt. Ohne diese Untersuchungen bleibt jede epistemische Unternehmung den geforderten logos zu ihren Voraussetzungen schuldig und damit „wissenschaftlich in der Luft stehen“⁸⁶; sie wäre „bodenlos“⁸⁷ (Rang) Nachdem wir bereits die transzendentale oder egologische Variation des Platonischen Fundierungs-Themas bemerkt haben, müssen wir diesen Programmpunkt nicht eher der Cartesischen als der Platonischen Erblinie zuschreiben? Schließlich ist auch Descartes bekanntermaßen auf der Suche nach einem „fundamentum inconcussum“ für alle Wissenschaften,⁸⁸ von dem aus Weiteres erschlossen werden kann. Das cogito erweist sich als solches Fundament, insofern es sich in der Durchführung des methodischen Skeptizismus als unbezweifelbar erweist; dem Satz „cogito, ergo sum“ eignet eine gewisse Form epistemologischer Absolutheit. Tatsächlich ist Husserls Beschreibung seines absoluten Projekts ambivalent. Einerseits beruft er sich auf Platon, andererseits spricht er von der „Cartesianischen Idee einer Philosophie als einer universalen Wissenschaft aus absoluter Begründung“⁸⁹. Manchmal bezieht er sich sogar auf beide Denker gleichzeitig, etwa im zweiten Teil der Erste Philosophie-Vorlesung von 1924, wenn er von der „Platonischen und Cartesianischen Idee einer universalen Wissenschaft aus absoluter Rechtfertigung“⁹⁰ spricht. Auch den philosophischen Radikalismus findet er bei beiden: „In der Tat, das ist das erste, was die Phänomenologie, wie an Platon, so an Descartes bewundert und was zugleich ihr eigenes philosophisches Ethos charakterisieren mag: dieser wissenschaftliche Radikalismus bis aufs Letzte, der sich nicht mit Halbheiten begnügen will, wo nur das Ganze das Gesollte und auch das allein Hilfreiche ist.“⁹¹ Dabei stehen Descartes und Platon geradezu
Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 236. Rang, „Die bodenlose Wissenschaft“, S. 88. Descartes, Meditationes S. 39, 51. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 156. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 5. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), 59.
§ 4. Fundiertheit
51
paradigmatisch für zwei einander direkt entgegengesetzte Formen des Fundamentalismus. Auch ohne eine detaillierte Analyse des Cartesischen Projekts vorzunehmen, lassen sich klarerweise wesentliche Unterschiede zwischen Descartes und Platon ausmachen: Platons Absolutes ist ein ontologisch Erstes und ein methodologisch Letztes, uneinholbare, d. h. transzendente Urquelle allen Seins und aller Erkennbarkeit und das letzte Ziel der Analyse. Der Dialektiker startet gerade nicht beim Ursprung, sondern muss ihn erst erreichen. Descartes’ methodologisch Absolutes ist andererseits absolut immanent, ein deduktiv Erstes und ein ontologisch Sekundäres – weil Endliches, Geschaffenes – gegenüber Gott. Platons Absolutes ist ungegenständlich, Descartes’ Absolutes ist ein Axiom. Wo steht Husserl? Der Versuch, die eigene Philosophie gegen Zweifel zu immunisieren, ist sicherlich keine cartesianische Erfindung. Ebensowenig kann Husserl für Descartes einen exklusiven Anspruch auf den „ernsten Willen zur Vorurteilslosigkeit“⁹² beanspruchen. Auch die oben angeführte Suche nach einer unangreifbaren Position im Phaidon muss als Versuch „der durchgängigen und letzten Begründung aus absoluten Einsichten“⁹³ gewertet werden. So kann Kern zu folgendem Ergebnis kommen: „Husserls Philosophie ist in ihrem Wesen kaum Cartesianisch. Höchstens ihre Grundtendenz nach einer apodiktischen und absoluten Evidenz bildet eine allgemeine und vage Parallele zu Descartes. Dabei geht es ihr aber nicht darum, das Seiende vor einem skeptischen Geist zu sichern, sondern darum, das Seiende zu verstehen.“⁹⁴ (Kern) Es ist noch zu bemerken, dass Husserls Distanzierung vom Cartesianischen Weg oder sein Begehen des Weges über die Ontologie keineswegs das Fallenlassen des Ideals der Philosophie als einer strengen Wissenschaft bedeutet. Allerdings wird dieses Ideal damit grundsätzlich modifiziert: Die Philosophie hat nun keine absolute Evidenz als Anfangspunkt mehr, sondern ihr Gang besteht darin, eine absolute Evidenz durch immer radikalere Besinnung und Selbstkritik zu suchen. Die absolute Evidenz ist nicht mehr etwas Gegebenes, sondern etwas Aufgegebenes.⁹⁵ (Kern)
Als genuin Cartesianisch darf höchstens der Ansatz angesprochen werden, dieses epistemologische Absolute im Ego selbst zu suchen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, worauf Husserl selbst wiederholt hinweist. Denn obwohl Husserl immer wieder ‚Cartesianisch‘ spricht und die Phänomenologie zunächst rein epistemologisch motiviert, nimmt er doch von seinem „cartesianischen Weg“ spätestens in
Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 25. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 3. Kern, Husserl und Kant, S 236. Kern, Husserl und Kant, S. 237.
52
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
der Krisis deutlich Abstand.⁹⁶ Die Idee, absolute Evidenz als Ziel nicht als Beginn der philosophischen Arbeit zu setzen, entspricht jedenfalls eher dem Gang eines Platonischen Dialogs als den Cartesianischen Meditationen. Zwei Vorwürfe gegen Descartes zeigen, dass Husserls Projekt letztlich ganz anders gelagert ist. An erster Stelle steht die Cartesianische „Selbstmissdeutung“⁹⁷. Descartes hatte mit seinem Radikalismus eigentlich schon die transzendentale Sphäre als Feld absolut gesicherter Erkenntnis erschlossen. „Aber des eigentlichen Sinnes dieser Entdeckung konnte sich Descartes selbst nicht bemächtigen. […] Es ging Descartes wie Columbus, der den neuen Kontinent entdeckte, aber davon nichts wusste und bloß einen neuen Seeweg nach dem alten Indien entdeckt zu haben meinte.“⁹⁸ Statt die transzendentale Sphäre als solche zu erfassen, deutet Descartes das cogito um, macht daraus eine Substanz, eine Seele, kurz gesagt ein „Stück“⁹⁹ oder „Endchen der Welt“¹⁰⁰ und fällt damit in den Objektivismus zurück, so dass Husserl sich hier schon wieder von ihm verabschiedet.¹⁰¹ „Descartes ist vor der von ihm eröffneten Pforte der transzendentalen Philosophie, der allein wahrhaft radikalen Philosophie, stehen geblieben.“¹⁰² Er ist indes nicht nur davor stehengeblieben; mit seinem Gottesbeweis zeigt er, dass er den Sinn seiner Entdeckung gänzlich verfehlt hat. Er will ‚zurück‘ in die Außenwelt und findet glücklicherweise Gott, der sich als ontologisch primordial erweist und – als guter Gott – auch als Instanz, die versichert, dass eine bestimmte Klasse von Urteilen wahr ist, womit der Weltkontakt sichergestellt ist. Zwar überschreitet auch bei Husserl der Einzelne seine Primordialsphäre, aber Gott hat damit absolut nichts zu tun: „Whereas Descartes transcends the cogito by means of God, Husserl transcends the ego by the alter ego. Thus Husserl sought a more sound foundation for objectivity in a philosophy of intersubjectivity than Descartes had sought in the divine veracity.“¹⁰³ (Ricoeur) Husserls Verdikt ist entsprechend hart: „Dass die Flucht in die Theologie nur zu einer Scheinbegründung der Theorie der Erkenntnisgeltung und ebenso der Theorie der ethischen Verbindlichkeit führen kann, das wird sofort klar, wenn wir die Frage aufwerfen, wie es mit der Quelle des Rechts für unseren Glauben an Gott stehe.“¹⁰⁴
Hua VI (Krisis), S. 156. Hua VI (Krisis), S. 80. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 63. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 26. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 25. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 3. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 73. Ricoeur, Husserl, S. 84. Hua XXXVI (Einleitung in die Ethik), 131.
§ 4. Fundiertheit
53
Ähnlich schwer wie dieses transzendentale Missverständnis wiegt zu allem Übel auch die – in Husserls Augen – völlig verfehlte methodologische Prämisse, dass es sich beim „ego cogito um ein apodiktisches „Axiom“ handle, das im Verein mit mit aufzuweisenden anderen und dazu eventuell induktiv begründeten Hypothesen das Fundament für eine deduktiv erklärende Weltwissenschaft abzugeben habe, eine nomologische Wissenschaft, eine Wissenschaft ordine geometrico, eben ähnlich wie die mathematische Naturwissenschaft.“¹⁰⁵ Das cogito spielt bei Husserl gerade nicht die Rolle eines Axioms. „The cogito plays, rather, the role of „origin“ (Ursprung), of „antecedent foundation,“ instead of that of initial theorem.“¹⁰⁶ (Ricoeur) Die Husserlsche Fundierung im Absoluten besteht nicht im deduktiven Ausgang von einem – satzförmigen¹⁰⁷ – fundamentum inconcussum á la Cartesius; „im Gegensatz zu Descartes gilt auch bei Husserl das cogito nicht als Prinzip ontologisch-deduktiver Begründung, sondern nur als Prinzip von Sinnhaftigkeit“¹⁰⁸ (De Palma). Spätestens die Einführung der genetischen Phänomenologie muss jedwedes Cartesianisch-deduktive Vorurteil aufheben, da die phänomenologische Forschung sich damit in Sphären begibt, in denen es noch gar keine logischen Zusammenhänge gibt.¹⁰⁹ Der ganze Stil der Husserlschen Philosophie ist dezidiert nicht-deduktiv, nicht-objektivistisch und daher also nicht Cartesianisch. Es ist also viel eher die Platonische Forderung nach der Begründung in einer archê, unter deren Maßgabe die Husserlsche Phänomenologie operiert und die ihre Wissenschaftlichkeit mitbestimmt: „Philosophie ist […] ihrem Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen, von den [grch.] rhizômata pantôn.“¹¹⁰ Philosophische Radikalität bedeutet also nicht einfach nur die Disposition zur Verantwortung oder Erläuterung der eigenen Tätigkeit, sondern ganz wörtlich den Rückgang zu den Wurzeln¹¹¹ von allem Sinn und aller Erkenntnis. „Uranfang“, „Ursprung“, „Wurzel“, „Quelle“, „Reich der Mütter“ sind alles Namen des Absoluten. Ohne schon zu wissen, wer oder was für Platon und Husserl jeweils die Rolle der archê spielt, lässt sich also festhalten, dass beide Programme neben der Aufforderung, die eigenen Voraussetzungen zu hinterfragen, den Bezug auf ein Absolutes als zentrale Forderung enthalten, nämlich als Ziel und Vollendung des kritischen logon didonai über die Voraussetzung aller Wissenschaften – und
Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 25. Ricoeur, Husserl, S. 141. Descartes, Meditationes, S. 41. De Palma, „Die Welt und die Evidenz“, S. 221. Luft, „Review: Mertens“, S. 161. Hua XXV (Aufsätze II), S. 61. Hua XXXVI (Transzendentaler Idealismus), S. 70.
54
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
wiederum der Philosophie selbst. Statt von einer „Cartesian obsession“¹¹² (Sokolowski) sollten wir daher eher von einer Platonischen Obsession sprechen – zumal Husserl sich gerade die einschlägige Stelle zur Hypothesis-Forschung im Phaidon unterstrichen und markiert hat und explizit eine „Platonische Idee absoluter Rechenschaftsabgabe“¹¹³ als Regulativ phänomenologischer Forschung aufstellt.
§ 5. Reflexive Schließung Nur Philosophie kann die Normen der absoluten Reflexion erfüllen. Sie ermöglicht damit Wissenschaft und ist selbst absolute Wissenschaft.
a) Platon: Die königliche Kunst Nietzsche – dessen frühen Schriften Husserl ein „lively interest“¹¹⁴ (Cairns) entgegenbrachte – beobachtet sehr scharfsichtig, dass sich mit Sokrates/Platon eine grundsätzliche Wandlung im epistemischen Verhältnis des (europäischen) Menschen zu seinem Tun vollzieht: Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. „Nur aus Instinct“: Mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen.Von diesem Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt [auf] mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral.¹¹⁵
Die Fragen danach, was ein Ausdruck eigentlich genau meint, wie jemand zu einer Behauptung gelangt ist und wie er sie rechtfertigen kann, werden sicher nicht zum ersten Mal von Sokrates gestellt, aber offenbar besonders eindrücklich und systematisch. Im Angesicht der bloß instinktiven oder auch traditionellen Verfahrensweisen der Meisten verlangt es Sokrates nach Explikation und Begründung; und Husserl fragt – in einer ähnlichen moralischen und wissenschaftstheoreti
Sokolowski, „Husserl’s Discovery“, S. 169. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 324. Cairns, Conversations, S. 60. Nietzsche, Geburt, S. 89; siehe Ebbighausen, Genealogie der Krisis, S. 330.
§ 5. Reflexive Schließung
55
schen Krise – in eben diesem Sinne: „Sollen wir also nur nach Instinkt und Takt, nach überschauenden Vermutungen urteilen?“¹¹⁶ Die Frage setzt bereits ein erwachtes methodologisches Bewusstsein voraus und ihre negative Antwort eröffnet der Philosophie u. a. das Problemgebiet der Wissenschaftslehre. Der Dialektiker erforscht und artikuliert, unter welchen Bedingungen wir eine epistemische Unternehmung als Wissen-schaffende gelten lassen. Zugleich ist die Dialektik die einzige Instanz, die ihre eigenen Forderungen erfüllen kann, mithin ist sie selbst absolute Wissenschaft; indem sie die Voraussetzungen der übrigen sogenannten Wissenschaften einholt, fundiert sie sich selbst. Platon gibt an keiner Stelle ganz genau an, was unter den in der Politeia erwähnten Voraussetzungen, die es aufzuheben gilt, zu verstehen ist; der Kontext verweist auf onto-epistemologische wie prinzipientheoretische Fragestellungen, lässt aber auch eine logische Lesart zu. Verstreut über die Dialoge reflektiert Platon jedenfalls die logischen (α), erkenntnistheoretischen (β) und ontologischen (γ) Voraussetzungen allen Wissens; außerdem wird die dabei verwendete Methode (δ), nämlich die Dialektik selbst thematisiert, womit auch eine methodologische Schließung erreicht ist. Die Prinzipientheorie (ε) erfüllt schließlich auch die Fundiertheitsforderung. (α) Ziel der Wissenschaften ist Erkenntnis und ihr Medium ist der logos. Logik ist daher notwendig zur Klärung der Voraussetzungen aller Wissenschaften. Die grundlegende Minimalbedeutung von „logos“ ist bei Platon das ausgesprochene Urteil, der geäußerte Gedanke, der Satz.¹¹⁷ Aus solchen ausgesprochenen Urteilen lässt sich dann eine Rede zusammensetzen, eine Deskription liefern oder eine Argumentation konstruieren und damit Rechenschaft ablegen. Logische Untersuchungen finden sich vor allem im Kratylos und im Sophistês. Dabei wird zunächst festgestellt, dass Urteilen oder Sprechen Normen folgt, denn alle „Handlungen (praxeis) gehen nach ihrer eigenen Natur (kata ton auton ara physin) vor sich und nicht nach unseren Vorstellungen (doxan).“¹¹⁸ Woraus sich ergibt, dass nur richtig spricht, wessen Rede der „Natur des Sprechens und Gesprochen-Werdens angemessen ist (pephyke)“¹¹⁹. Was die Natur oder das Wesen des logos ist, wird von Theaitetos unter Anleitung des Fremden aus Elea ermittelt: Ein Satz oder Urteil ist eine Verknüpfung von Wörtern, die die Rolle von Subjekt und Prädikat spielen, die etwas bestimmt (perainei) und kund tut (dêloi).¹²⁰ Die Behauptung, dass jeder logos etwas kundmache, impliziert dabei die Behauptung
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 12. Soph. 263E; Theait. 206D. Krat. 387 A. Krat. 387B Soph. 262C.
56
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
der logischen Intentionalität: Jeder logos ist ein logos tinos, d. h. ein Satz oder Urteil über etwas.¹²¹ Von der Urteilslehre schreiten Theaitetos und der Fremde zur Wahrheitslehre. Allgemeine Normen der Wahrheit wurden bereits vor Platon ausgegeben, vor allem von Parmenides: „Nötig ist zu sagen und zu denken, dass nur das Seiende ist; denn Sein ist und Nichts dagegen ist nicht; das heiße ich dich wohl beherzigen.“¹²² (Parmenides) Platon widerlegt diese alte „Weg-Kunde (mythos hodoio)“ freilich im Sophistês und begeht damit ein Stück weit Vatermord, aber die Idee allgemeiner (formaler) Normen der Wahrheit übernimmt er und formuliert im selben Dialog abstrakte Gesetze der wahren und falschen Rede, die besagen, dass ein Urteil genau dann wahr ist, wenn es aussagt, was der Fall ist, oder wie etwas ist, und falsch, genau dann, wenn es etwas als der-Fall-seiend bestimmt, obwohl es nicht der Fall ist.¹²³ Da Sätze wahr sind, wenn sie sagen, was der Fall ist, es aber – für Platon – nie der Fall sein kann, dass ein Widerspruch im Seienden liegt,¹²⁴ folgt aus dem ontologischen Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch eine aletheologische oder logische Norm, die allerdings erst Aristoteles als solche formuliert. Nach Platon kann kein Satz wahr sein, der einen Widerspruch behauptet, da es keine Widersprüche im Seienden gibt. (Ungleich viel überzeugender als der Schritt von einer problematischen Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit zu einer Widerspruchsfreiheit der Wahrheit ist Aristoteles’ reflexionslogischer Beweis des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch.¹²⁵ Operativ setzt freilich auch schon Platon den logischen Widerspruch ein.) Platon versteht solche logischen Untersuchungen offensichtlich auch als Reflexion der eigenen Voraussetzungen, denn der logos ist eine notwendige Bedingung für Philosophie, insofern von ihm gilt: „dessen beraubt, wären wir, was das Schlimmste wäre, auch der Philosophie beraubt.“¹²⁶ (β) Platon etabliert die Epistemologie dezidiert als wesentlichen Teil der Philosophie. Bereits im Charmides wird eine epistêmê epistêmês ¹²⁷ als mögliche Bestimmung der gesuchten Besonnenheit (sôphrosynê) thematisiert. „Der Besonnene also allein wird sich selbst erkennen (heauton gnôsetai) und imstande sein, zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht; und ebenso wird er vermögend sein, andere zu beurteilen, was einer weiß und auch zu wissen glaubt, da er es ja weiß, und auch wieder, was einer zu wissen glaubt, es aber nicht
Soph. 262E. Vgl. Heidegger, Sophistes, S. 598. Parmenides, Fragment 6. Soph. 263AB. Pol. 436B; vgl. Theait. 165B; Soph. 259CD. Vgl. Zorn, Vom Gebäude zum Gerüst, Bd. I, Kap. 5.3. Soph. 260 A. Char. 169 A, D u. ö.
§ 5. Reflexive Schließung
57
weiß“.¹²⁸ Obwohl der Dialog aporetisch endet, nachdem sowohl Möglichkeit als auch Nutzen einer solchen Erkenntnis der Erkenntnis in Zweifel gezogen wurden, ist offensichtlich, dass die Charakterisierung, die Sokrates vom auf solche Weise Besonnenen gibt, ein Selbstbildnis ist – er ist der „bedeutende Mann“¹²⁹, der zur Scheidung von Wissen und Nichtwissen fähig ist. Denn zu prüfen, wer etwas weiß und wer nur vermeint zu wissen, stellt gerade das Geschäft (pragma)¹³⁰ dar, das Sokrates treibt, um das Delphische Orakel zu widerlegen (elenxôn to manteion)¹³¹ und das edle, aber faule Pferd Athen wachzuhalten.¹³² Um dieser Tätigkeit der Prüfung nachgehen zu können, muss Sokrates klarerweise selbst so weit das Wesen der Erkenntnis erkannt haben, dass er über Kriterien von Erkenntnis verfügt. Verteilt über die Dialoge finden wir auch tatsächlich immer wieder Merkmale und Kriterien von Erkenntnis. 1. Erkenntnis ist stets Erkenntnis von etwas: „Also, diese [im Charmides gesuchte] Erkenntnis ist doch eine Erkenntnis von (oder über etwas) (tinos epistêmê) und ihr eignet eine Struktur, die es ihr ermöglicht, (dynamis) „von etwas“ (oder „über etwas“) (tinos) zu sein.“¹³³ 2. „Erkenntnis unterscheidet sich von wahrer Meinung (orthês doxês) durch das Gebundensein (desmô).“¹³⁴ Die Bindung geschieht „aitias logismô“¹³⁵, d. h. durch eine Darlegung dessen, was die Behauptung begründet. Bloß richtige Vorstellung ist keine Erkenntnis, denn nichts ohne logos (alogos)¹³⁶ ist Erkenntnis. 3. Jede Erkenntnis ist formulierbar: „Wovon wir aber wissen, davon müssen wir doch auch sagen können, was es ist?“¹³⁷ Damit ist Erkenntnis zugleich vermittelbar.¹³⁸ Wirklich etwas erkannt hat deshalb nur derjenige, der das, was er erkannt hat, wiederum vermitteln kann: „Denn daran erweist sich besonders gut, dass jemand etwas erkannt hat, wenn er imstande ist, auch jemand anderen (dies) erkennen zu lassen.“¹³⁹ Oder, wie Aristoteles formuliert: „Überhaupt ist es ein Zeichen des Wissens, dass man den Gegenstand lehren kann.“¹⁴⁰ (Aristoteles)
Char. 167 A. Char. 169 A. Apol. 20C. Apol. 21C. Apol. 30E. Char. 168B; vgl. Pol. 476E. Men. 98 A. Men. 98 A. Symp. 202 A. Lach. 190C. Men. 87C. Alk. I, 118D. Aristoteles, Metaphysik 981B.
58
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Die Thematisierung der Möglichkeit und Nützlichkeit von Erkenntnis und der Erkenntnis von Erkenntnis ist eine bewusste Abweichung vom üblichen ‚sokratischen‘ Tugenddiskurs: „Es handelt sich beim Charmides […] nicht um einen sokratischen Dialog, sondern um eine Schrift, in der die Grundlage der dort vorgeführten Methode reflektiert wird.“¹⁴¹ (Erler). Bereits in den Frühdialogen gehorcht Platon also dem erst später ausgesprochenen Reflexionsgebot, die eigenen Voraussetzungen nicht einfach hinzunehmen. Dass die Diskussionen im Charmides und im Theaitetos aporetisch enden, impliziert nicht die Unmöglichkeit einer Erkenntnis der Erkenntnis, sondern liegt, wie immer, am Niveau der Gesprächspartner.¹⁴² (γ) Wenn ein wahrer logos dadurch wahr ist, dass er Seiendes als seind bestimmt, dann gäbe es keine Erkenntnis ohne Sein oder Seiendes;¹⁴³ so darf die Frage nach dem Sein nicht ungestellt bleiben, wenn die Philosophie wirklich alle Voraussetzungen aufheben will. Die Aufforderung an alle Wissenschaftler, einen logos ihrer Voraussetzungen zu präsentieren, betrifft also nicht nur die subjektive Seite der Wissenschaften, sondern auch die dazu korrelative Seite ihrer objektiven Thematik, des Seienden selbst. Dialektik ist daher ebenso Ontologie wie Logik oder Erkenntnistheorie. Obwohl Platon an keiner Stelle eine Differenzierung seiner ontologischen Versuche vornimmt, können wir in den Dialogen formal-ontologische Überlegungen „im Sinne Husserls“¹⁴⁴ (Gadamer) und materiale oder regionale Untersuchungen unterscheiden. Ausgangspunkt ist dabei – zumindest vor dem Timaios – die basale Dichotomie von Sicht- und Denkbarem, wobei das Denkbare ewig und identisch, d. h. ideal ist, ohne statisch zu sein.¹⁴⁵ Regionale Ontologien finden sich etwa im Phaidon (Ontologie der psychê), in der Politeia (Ontologie der Kunst) oder im Timaios (Ontologie der Natur); neben pädagogischen und epistemologischen Querelen der Ethik stellt auch die Ontologie der Tugend ein Problem dar, bis sie im Gorgias und weiter in der Politeia als „Ordnung“¹⁴⁶ erkannt wird. Über die Dialoge hinausgehend rekonstruiert Gaiser auch eine Ontologie der mathematischen Gegenstände und der Geschichte.¹⁴⁷ Die Gigantomachie des Sophistês sowie den ersten Teil des Parmenides könnte man außerdem als Ontologie der Ideen, also als Ideenlehre im eminenten Sinne bezeichnen, insofern hier mindestens auseinan-
Erler, Platon, S. 106. Vgl. Zehnpfennig, Platon, S. 87. Par. 142 A. Gadamer, Griechische Philosophie III, S. 292. Pol. 509D, Phaid. 78E, Soph. 248 A. Gor. 504D. Vgl. Gaiser, Ungeschriebene Lehre.
§ 5. Reflexive Schließung
59
dergelegt wird, wie die Ideen nicht zu verstehen sind (siehe dazu unten, Abschnitt E). Überlegungen dazu, was ein Seiendes qua Seiendes ausmacht, abstrahieren von jeder materialen Bestimmung; wir können sie daher plausibel mit einem Husserlschen Begriff als formal-ontologische bezeichnen. Objekte dieser formalen Ontologie sind die „megista genꓹ⁴⁸, die höchsten Ideen oder Gattungen, deren Theorie hauptsächlich im zweiten Teil des Parmenides und im Sophistês entwickelt, im Theaitetos, Timaios und Philebos angerissen wird.¹⁴⁹ Anders als andere, regionale oder materiale Ideen, sind die megista genê nicht in Subsumtionsverhältnissen organisiert, vielmehr ist die Struktur ihrer Verbindung die eines Netzes (symplokê)¹⁵⁰, d. h. die höchsten Gattungen haben gegenseitig aneinander teil. In der dialektischen Analyse des Seinsbegriffs erkennen Theaitetos und der Fremde aus Elea, dass die Idee des Seins an der Idee der Ruhe und der Idee der Bewegung teilhaben muss: An der Idee der Ruhe, weil sich das Erkennbare nicht ständig verändern kann, ohne unerkennbar zu werden, an der Idee der Bewegung, weil Erkanntwerden im ursprünglichen Sinne des Wortes passiv, d. h. eine Form von Erleiden, d. h. eine Form von Bewegtwerden, d. h. eine Form von Bewegung ist. Beide Ideen müssen wiederum am Sein teilhaben, sonst wären sie ja nicht(s). Zugleich differieren alle drei bisher eingeführten Ideen voneinander, haben also offenbar teil an der Idee der Differenz; gleichzeitig müssen sie mit sich selbst identisch sein. Und insofern sie schließlich alles andere außer ihnen selbst nicht sind, haben sie auch Teil am Nicht-Sein. Im Sophistês wird nicht das ganze Netz der megista genê entfaltet, aber wir können ohne weitere Diskussion erkennen, dass Platons Ontologie genau wie seine Logik und seine Erkenntnistheorie auch dazu dient, die Voraussetzungen allen Wissens zu klären: Die formale Ontologie untersucht nämlich unter anderem, wie das Seiende beschaffen sein muss, um überhaupt erkennbar zu sein; damit erfragt die Ontologie aber zugleich ihre eigene Möglichkeit, genau wie später das „transcendentale Fragen“¹⁵¹ (Fink) bei Kant. Dagegen sichert die (materiale) Ontologie der Ideen die Existenz der Objekte des philosophischen Denkens, deren Leugnung die „die Möglichkeit der Dialektik gänzlich vernichtet“¹⁵². Dazu mehr in Abschnitt E. (δ) Das Absehen auf Erkenntnis und die Verwendung von Urteilen teilen sich alle epistemischen Unternehmungen, philosophische wie nicht-philosophische.
Soph. 254D. Vgl. Krämer „Prinzipienlehre und Dialektik“, S. 411. FN 39. Soph. 259E. Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 26. Par. 135C.
60
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Erst das dialektische Verfahren unterscheidet die Philosophie von Mathematik und empirischer Forschung. Um der Reflexionsforderung nachzukommen, muss Platon also auch das Wesen seiner eigenen Methode reflektieren – was er schrittweise tut. Ein Dialektiker ist zunächst einfach eine Person, die ein philosophisches Gespräch richtig zu führen weiß.¹⁵³ So verstanden, ist Dialektik eine Art dialogische Rhetorik und ein Organon der Maieutik; ein Werkzeug, das der Gesprächsführer verwendet, um den Partner in seinen logischen Wehen zu begleiten. Von der sophistischen Rhetorik unterscheidet sie sich auf dieser Stufe dadurch, dass sie das Gegenüber nicht um jeden Preis glauben machen will, sondern ehrlich belehren oder überzeugen¹⁵⁴ – selbst in der existentiellen Extremsituation einer Gerichtsverhandlung.¹⁵⁵ Philosophische Gespräche führen zu können, erfordert – für Platon – die Fähigkeit der Wesenserfassung. Näher bestimmt ist der Dialektiker daher derjenige, der imstande ist, Wesen begrifflich zu erfassen: „Du nennst doch den Dialektiker, der von jeder Sache eine Erläuterung ihrer eidetischen Struktur findet (ton logon hekastou lambanonta tês ousias).“¹⁵⁶ Die Fragen und Antworten im philosophischen Gespräch drehen sich darum, den „logos tês ousias“ irgendeiner Sache ausfindig zu machen, d. h. zu einem Wesensurteil oder sogar zu einer umfassenden Definition zu gelangen.¹⁵⁷ Die philosophische Wesenserfassung fordert daher vor allem die Fähigkeit zur Differenzierung der eidetischen Verhältnisse.¹⁵⁸ Die Kunst des Dialektikers besteht demgemäß darin, „nach Wesen zerteilen zu können (kat’ eidê diatemnein), gliedermäßig, wie jedes gewachsen ist (pephyken)“¹⁵⁹. Diese Bestimmung der Tätigkeit des Philosophen als Analyst konnte Platon von Heraklit übernehmen, der über seine eigene Tätigkeit sagte, dass er Dinge „erörtere (diêgeumai), nach seiner Natur ein jegliches zerlegend (kata physin diaireôn) und erklärend, wie es sich verhält (phrazôn hokôs echei).“¹⁶⁰ Dieser Herakliteischen Analysetätigkeit fügte Platon allerdings die Parmenideische Synthese hinzu. Der Dialektiker analysiert nicht nur, er ist auch Synoptiker, er sieht zusammen, was er in den Wesensanalysen erarbeitet hat.¹⁶¹ Arbeitsmaterial sowohl der Analyse als auch der Synthese sind, wie gesagt, stets eidetische
Men. 75D, Krat. 390C; vgl. Pol. 534D. Gor. 454Dff. Apol. 35C. Pol. 534B. Krämer, „Prinzipienlehre und Dialektik“, S. 400. Soph. 253B – E. Phaidr. 265E. Heraklit, Fragment 1. Pol. 537C.
§ 5. Reflexive Schließung
61
Strukturen: „Es ist das, was die vernünftige Rede (logos) selbst mit dem Vermögen der Auseinandersetzung (dialegesthai dynamis) anrührt. […] Dabei nimmt sie überhaupt nichts Wahrnehmbares zu Hilfe, sondern nur die Ideen selbst, schreitet so von Idee zu Idee und endet auch bei Ideen.“¹⁶² Anders als die Mathematiker bedienen sich die Philosophen keiner sichtbaren Hilfsmittel, um ihre eidetischen Ergebnisse zu erzielen – eine Praxis, die zu den oben angesprochenen aufklärungswürdigen Problemen der Mathematik gehört, da die Mathematiker sich realer Gestalten (Zeichnungen, Symbole etc.) bedienen, um ideale Strukturen zu erforschen, ohne die Beziehung zwischen Zeichen und der Gattung der idealen Bedeutungen, mit denen sie es eigentlich zu tun haben, zu hinterfragen.¹⁶³ Obwohl es die Aufgabe der Philosophie ist, die Voraussetzungen allen Wissens zu thematisieren und zu fundieren, arbeitet auch die Dialektik mit Voraussetzungen, wie Sokrates im Phaidon ausführt: „Indem ich jedes Mal den Gedanken voraussetze (hypothemenos … logon), den ich für den stärkeren halte (krinô errômenestaton), so setze ich, was mir mit diesem übereinzustimmen scheint, als wahr […], was aber nicht, als nicht wahr.“¹⁶⁴ Die Konsequenzen einer Voraussetzung (ta symbainonta ek tês hypotheseôs)¹⁶⁵ werden geprüft und die Voraussetzung selbst so auf ihre Tragfähigkeit getestet.¹⁶⁶ So beruht ein Großteil der sokratischen Elenktik auf der reductio ad absurdum, die zeigt, dass die Voraussetzungen der Gesprächspartner eben nicht besonders stabil sind – meistens, weil sie sie nie systematisch reflektiert und angepasst haben. Diese Blindheit für die eigenen Voraussetzungen betrifft nicht nur die Mathematik, sondern vielmehr alle nichtphilosophische Tätigkeit. Die Voraussetzungen der Philosophie sind dagegen Voraus-Setzungen: In ihnen werden gezielt logoi artikuliert, versuchsweise gesetzt und in ihre Implikationen verfolgt – und dann variiert. So fragt der alte Parmenides seinen jungen Gesprächspartner im eponymen Dialog nach dem Ende der ersten Hypothesis: „Willst du also, dass wir noch einmal von vorn auf unsere Voraussetzung (hypothesin) zurückgehen, ob sich etwas verändert darstellen wird, wenn wir sie noch einmal durchgehen?“¹⁶⁷, woraufhin das mühselige Spiel der Dialektik noch weitere sieben bzw. acht Male mit Varianten derselben Annahme (bzw. ihres Gegenteils) gespielt wird.
Pol. 511BC, Übers. Rufener. Pol. 510D. Phaid. 100 A. Par. 135E. Phaid. 101D. Par. 142B.
62
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Platon war sich also offensichtlich klar darüber, dass ein angemessenes Verständnis des eigenen Vorgehens eine wesentliche Bedingung für erfolgreiche Philosophie darstellt; so lässt er den Fremden im Politikos die Eminenz des Methodenbewusstseins explizit hervorheben, wenn er durch ihn Hörer (im Dialog) und Leser (des Dialogs) gemahnt, am meisten aber und zuerst das Verfahren (methodon) selbst in Ehren zu halten, dass man der Differenzierung nach eidetischen Grenzen mächtig sei, und daher auch eine Rede, wenn sie gleich noch so lang müsste gesprochen werden, um den Hörer erfinderischer zu machen (heuretikôteron), dennoch zu verfolgen […]. Ferner auch, dass, wer in solchen Verhandlungen die Länge der Rede tadelt und das Herumgehen im Kreise (en kyklô periodous) sich nicht will gefallen lassen, dass der […] zeigen müsse, wie es kürzer könnte gewesen sein und doch die Unterredenden dialektischer gemacht haben und erfinderischer in der Kundmachung des Seienden durch die Rede (tês tôn ontôn logô dêlôseôs heuretikôterous)¹⁶⁸
Durch eine solche Reflexion der Dialektik gelingt Platon auch eine methodologische Schließung der Philosophie. (ε) Da uns die Prinzipientheorie in Abschnitt F noch ausführlich beschäftigen wird, sei hier nur darauf hingewiesen, dass eine Theorie des Absoluten mit der Quelle allen Seins, aller Einheit, aller Bestimmtheit oder allen Sinns notwendigerweise auch ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen enthüllt. Das nämlich, so Sokrates, „was dem Erkennbaren Wahrheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen hergibt, sage, sei die Idee des Guten (tên tou agathou idean)“¹⁶⁹ und diese ist nichts anderes als die Gestalt, in der die archê in der Politeia auftritt. So ist die Prinzipienlehre Platons als „Protologie“¹⁷⁰ (Reale), d. h. als Lehre von den (ersten) Prinzipien des Seins und der Erkenntnis zu verstehen. Zugleich ist sie damit aber auch „Metatheorie“¹⁷¹ (Hoffmann) von sich selbst, der Ideenlehre und aller anderen Platonischen Theorien, d. h. diejenige Lehre, die die Strukturprinzipien aller anderen Lehrstücke enthält. Erst mit einer Prinzipientheorie ist also die absolute Reflexion auf die Voraussetzungen allen Wissens abgeschlossen. Als Logik, Erkenntnistheorie, Ontologie und Protologie fundiert die Philosophie jegliche epistemische Tätigkeit und ermöglicht so Wissenschaft; in der Reflexion auf ihre eigene Methode zeigt sie sich zugleich selbst als höchste Wissenschaft oder „königliche Kunst“¹⁷², da sie in sich alle Voraussetzungen aufhebt und sich selbst reflektiert, nämlich ihr Medium (logos), Ziel (epistêmê), Objekt
Politik. 286D – 287 A. Pol. 508E. Reale, Zu einer neuen Interpretation, S. 199. Hoffmann, Ordnung, S. 14. Phaidr. 266B.
§ 5. Reflexive Schließung
63
(on), ihr eigentümliches Verfahren (dialektikê methodos) und letztes Fundament (archê). „Einzig das dialektische Verfahren […] hebt die Voraussetzungen auf und macht sich auf den Weg dorthin: zum Anfang selbst, um festen Stand zu gewinnen. Und sie zieht allmählich das Auge der Seele aus dem barbarischen Morast, in dem es tatsächlich vergraben war, hervor und richtet es nach oben.“¹⁷³
b) Husserl: Erste Philosophie Husserl teilt diese Selbsteinschätzung Platons zu Status und Funktion der Philosophie grundsätzlich, wobei er die Platonische Dialektik vor allem als Wissenschaftslehre interpretiert, mit der die Naivität der Vorsokratiker überwunden wird; die Phänomenologie ist ihre abschließende Erfüllung (α). Zugleich fasst er die Fundierungsaufgaben in einem onto-epistemologischen Forschungsprogramm zusammen und transzendentalisiert es (β). Schließlich übernimmt er für die Phänomenologie den Anspruch der Dialektik, absolute Wissenschaft zu sein, jetzt allerdings als Transzendentalphilosophie (γ). (α) Das Bewusstsein für die Naivität und damit Reflexionsbedürftigkeit wissenschaftlicher und philosophischer Methode, das sich in Platons Theorieanlage so deutlich Bahn bricht, ist, was Platon in Husserls Augen so bewunderungswürdig macht. Nach der naiven Philosophie der Vorstufenperiode beginnt eigentliche Philosophie und Wissenschaft mit den Sokratischen und Platonischen Reflexionen über die Methode, und die Platonische „Dialektik“ ist das erste und Grundstück einer Wesenswissenschaft von der Wissenschaft, einer Wissenschaftslehre, und von nun ab gehört zu jeder Philosophie der Folgezeit eine Logik als Disziplin von der Methode wahrer Erkenntnis und Wissenschaft.¹⁷⁴
„Logik“ meint für Husserl stets mehr als die „relativ armselige“¹⁷⁵ formale, mathematische Logik. Eine bloß formale Konsequenzlogik wäre höchstens eine „amputierte Wissenschaftslehre“¹⁷⁶ (Ebbighausen); Husserl versteht Logik vielmehr „als apriorische Normenlehre“¹⁷⁷, „als universale Methodenlehre der Erkenntnis“ oder „Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit echter […] Wissenschaft“¹⁷⁸ und begreift sie als „die volle in der Platonischen Dialektik an-
Pol. 533C. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 80 f. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 217. Ebbighausen, Genealogie der Krisis, S. 335. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 212. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 32.
64
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
gelegte Wissenschaft“¹⁷⁹: „Immerfort den reinen Möglichkeiten eines erkennenden Lebens überhaupt nachgehend, will sie die Wesensform der echten Erkenntnis und Wissenschaft in allen ihren Grundgestalten zutage bringen und die Wesensvoraussetzungen, an die sie gebunden sind“¹⁸⁰. Eine so verstandene Dialektik ist – unter der Annahme, dass a) die Reflexionsforderung zurecht besteht und b) die sogenannten Wissenschaften nicht dazu imstande sind, diese zu erfüllen – tatsächlich die Voraussetzung von Wissenschaft im eminenten Sinne, da ohne die Dialektik qua Wissenschaftslehre die den übrigen epistemischen Projekten inhärente Naivität nicht zu überwinden ist. Wissenschaft in einem neuen Sinne erwächst zunächst aus der platonischen Begründung der Logik, als einer Stätte der Erforschung der Wesenserfordernisse „echten“ Wissens und „echter“ Wissenschaft und damit der Herausstellung von Normen, denen gemäß eine bewusst auf durchgängige Normengerechtigkeit abzielende Wissenschaft, eine ihre Methode und Theorie bewusst rechtfertigende aufgebaut werden könne. Der Intention nach ist diese logische Rechtfertigung durchaus eine solche aus reinen Prinzipien. Wissenschaft im platonischen Sinne will also nicht mehr bloß naive Betätigung aus rein theoretischem Interesse sein.¹⁸¹
Husserl geht dabei sogar so weit, methodologische Reflexionen als Hauptbeschäftigung Platons zu beschreiben: „Die platonische Lebensarbeit geht auf eine universale methodologische Reform, […] nicht nur [auf] die wahre Methode der Wissenschaft, […] sondern die wahre Methode des gesamten Lebens“¹⁸² – Spätestens hier wird auch klar, dass Husserls Methodenbegriff nicht derjenige ist, gegen den z. B. Feyerabend anschreibt. Wenn Husserl etwa stipuliert „Wissenschaft ist Wissenschaft nur aus rationaler Methode“¹⁸³, so ist hier „Methode“ gerade nicht technisch-algorithmisch oder mechanisch zu verstehen, im Gegenteil. Im Verlauf der Arbeit wird sich immer wieder zeigen, dass Husserl gegen eine solche Abstraktion vehement angeht. „Rationale Methode“ heißt vielmehr ausweisbares, reflektiertes und fundiertes Vorgehen – echte (im Gegensatz zu bloß instrumenteller) Rationalität ist vor allem Überwindung von Naivität und Besinnungslosigkeit. „Echte Wissenschaft kann nur werden auf Grund einer Besinnung über das [grch.] telos der Wissenschaft und die Bedingungen der Möglichkeit, die für seine Form und seine allgemeinen Gehalte und für die subjektiven Weisen
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 42; ebs. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 12; Hua XXV (Aufsätze II), S. 137. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 352. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 5. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 29. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 324.
§ 5. Reflexive Schließung
65
seiner Verwirklichung notwendig bestimmend sind. Echte Wissenschaft setzt „Dialektik“ […] voraus.“¹⁸⁴ Husserl versteht dann die Phänomenologie als eine „historische Anknüpfung an Platon, den Schöpfer der Idee der Philosophie als eines universalen Systems absolut zu rechtfertigenden Wissens und Wegbereiter einer vorgängigen rationalen Wissenschaft von der Methode“¹⁸⁵; die transzendentale Phänomenologie stellt in Husserls Augen nichts anderes dar als „die Verwirklichung der Idee der Wissenschaftslehre, die […] in der Platon’schen Dialektik das erste Mal hervortritt“¹⁸⁶. Für seine Konzeption der Dialektik als Logik verweist Husserl in seiner Einleitungsvorlesung von 1919/20 ganz allgemein auf Phaidon und Theaitetos: „Naturgemäß gerät Platon in seinen universellen methodologischen Bemühungen zunächst auf die Idee der Logik als einer [grch.] technê, einer Denkkunst, Erkenntniskunst (Phaidon).“¹⁸⁷ „In der Tat zielen in diese Richtung manche der tief bohrenden dialektischen Erörterungen Platons, wie zum Beispiel solche im Theaitetos, wie sehr sie auch noch in Allgemeinheiten stecken bleiben.“¹⁸⁸ Auch auf die Bücher 6 und 7 der Politeia verweist er in einem ähnlichen Kontext, wie oben schon angedeutet.¹⁸⁹ Darüber hinaus hat er auch in Phaidros, Parmenides, Sophistês und Philebos vor allem Stellen markiert, in denen über epistemologische Themen gesprochen wird. Von den späten Werken sind überhaupt nur Politikos und Nomoi gänzlich ohne Markierungen. Damit deckt Husserls Leseerfahrung tatsächlich die wichtigsten Quellen ab, aus denen sich die Grundzüge einer Platonischen „Logik“ (inklusive Epistemologie und Methodologie) rekonstruieren lassen, wie wir es oben versucht haben. (β) Dialektik ist in Husserls Augen, wie gesehen, einerseits „Wissenschaft von der Methode, eine Wissenschaft von den Ideen als den ewig gültigen Normen aller Vernunfterkenntnis und alles durch sie vermittelten vernünftigen Lebens, andererseits aber auch eine Wissenschaft von dem im letzten Sinne wahrhaften Sein gegenüber dem bloßen Sein als Erscheinung.“¹⁹⁰ Er sieht in ihr also den Versuch, zwei (korrelative) Fragen zu beantworten, nämlich: „Was sind die Wesensbedin-
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 324. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 365. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 362; vgl. S. 302 und S. 372 Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 65. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 67. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 328; Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 60. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 33.
66
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
gungen echter Wissenschaft überhaupt und, korrelativ, was die Wesensbedingungen eines im echten Sinne seienden Gegenstandes überhaupt?“¹⁹¹ Und an dieses onto-epistemologische Programm schließt sich Husserl bereitwillig an, transponiert es allerdings ins transzendentale Register. Unter den „Voraussetzungen“ der Wissenschaften, derer sich die Philosophie annimmt, sind nicht „Prämissenvoraussetzungen“ oder explizite „Hypothesen“ zu verstehen, auch keine direkten onto-epistemologischen Annahme, den Status ihrer Gegenstände betreffend, sondern „intentionale Implikate“ und andere apriorische „Selbstverständlichkeiten“¹⁹², die durch die phänomenologische Forschung zu Verständlichkeiten werden (sollen). Denn für den Transzendentalphilosophen Husserl ist jede Logik fundiert in einer transzendentalen oder noetischen Logik,¹⁹³ die Wissenschaftslehre ist also zurückgebunden an die phänomenologische Erforschung der subjektiven Konstitution von Wissenschaft. Mit Erfahrung und Urteil und Formale und Transzendentale Logik (und verschiedenen Vorlesungen zur Urteilstheorie) liegt eine ziemlich weitreichende transzendental-phänomenologische Theorie des logos – als Urteil verstanden – vor, die eine Genealogie des Urteils, eine noetisch-noematische Betrachtung der formalen Logik und eine Mannigfaltigkeitslehre umfasst. Bereits die Logischen Untersuchungen sind zu großen Teilen damit beschäftigt, die Bedingungen der Möglichkeit verschiedener Erkenntnisleistungen aufzuklären; die Phänomenologie tritt überhaupt zunächst als „Methode der Erkenntniskritik“¹⁹⁴ und „Erkenntnistheorie“¹⁹⁵ auf. Zu Husserls Theorie der epistêmê gehört vor allem auch die Lehre von den intentionalen Synthesisleistungen der Erfüllung und der Modifikation, die Differenzierung von immanenter und transzendenter Erkenntnis, apodiktischer, apriorischer und adäquater Evidenz etc., wobei stets das auch für die Phänomenologie selbst relevante Problem im Hintergrund steht, wie doxa in epistêmê zu überführen ist.¹⁹⁶ Was die ontologische Fragerichtung angeht, sieht Husserl die „alte durch den Kantianismus und Empirismus so verpönte Idee einer apriorischen Ontologie“¹⁹⁷ gerade durch seine Logischen Untersuchungen rehabilitiert, in denen er tatsächlich nicht nur „die formale Logik zugleich als eine Apophantik und als eine apriorische
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 64. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 207. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 212. Hua II (Die Idee der Phänomenologie), S. 3. Hua II (Die Idee der Phänomenologie), S. 4. Hua VI (Krisis), S. 332. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 90.
§ 5. Reflexive Schließung
67
formale Gegenstandslehre charakterisiert“¹⁹⁸, sondern mit der dritten Untersuchung auch konkrete ontologische Analysen vorlegt, nämlich eine detaillierte formale Mereologie. Während Husserl die (formale) Ontologie also weiterhin als entscheidendes Moment der philosophischen Fundierung der Wissenschaft(en) sieht, da nur sie den „Sinn des gesamten Seins, das sie [sc. die Wissenschaft] zu erkennen beansprucht“¹⁹⁹ klären kann, geht er gleichwohl davon aus, dass die Ontologie ebenso wenig wie die Logik selbstständig sein kann, sondern letztlich auf die Phänomenologie angewiesen ist. Die Differenz zwischen apriorischer Ontologie und Phänomenologie lässt sich dabei zunächst als Unterschied ihres Verhältnisses zur Zeit formulieren: Die ontologische Betrachtungsweise ist sozusagen katastematisch. Sie nimmt die Einheiten in ihrer Identität und um ihrer Identität willen als wie ein Festes. Die phänomenologischkonstitutive Betrachtung nimmt die Einheit im Fluss, nämlich als Einheit eines konstituierenden Flusses, sie verfolgt die Bewegungen, die Abläufe, in denen solche Einheit […] das Identitätskorrelat ist. Diese Betrachtung ist gewissermaßen kinetisch oder „genetisch“.²⁰⁰
Für den Phänomenologen gilt, „dass alles Sein, transzendental betrachtet, in einer universalen subjektiven Genesis steht.“²⁰¹ (Wie leicht eine solche transzendentale Betrachtung in einen dogmatischen Subjektivismus kippen kann, wird uns an anderer Stelle noch beschäftigen.) Die Ontologie fällt also nicht mit der Phänomenologie zusammen, aber sie steht zu ihr in einem Verhältnis der „Einbezogenheit“²⁰². Der Ontologie geht es um Wesensgesetze sowohl der Gegenständlichkeit als auch der Welt, denn „Ontologie, das ist geradehin durchgeführte Erkenntnis von einer Welt als solcher“²⁰³, der Phänomenologie dagegen um die Korrelation zwischen Bewusstsein und Gegenständlichkeit. Der Phänomenologe erforscht die notwendigen Strukturen der mannigfaltigen Prozesse des Erscheinens von Sein, Identität, Differenz etc., wobei in der noematischen Blickrichtung, d. h. im Blick auf den Gegenstand im Wie seiner Gegebenheit, die Bedeutung des Aktes thematisiert wird,²⁰⁴ nicht der Gegenstand selbst; „das Noema überhaupt ist […] nichts weiter als die Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Akte.“²⁰⁵ Die Wesensgesetze der Ontologie „stehen nur als Indices
Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 93. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 70 Hua V (Ideen III), S. 129. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 225. Hua V (Ideen III), S. 77. Vgl. Arnold, Keiling, „The Ways of the World“. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 502. Vgl. Crowell, Normativity, S. 10. Hua V (Ideen III), S. 89.
68
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
für noematische Zusammenhänge“²⁰⁶, die „ontologische Wahrheit indiziert noematische Regeln für synthetisch-einstimmige Erfahrungen“²⁰⁷, die formale und regionale Ontologie sind daher eigentlich nur „Einseitigkeiten des Apriori“²⁰⁸. (Ähnliches gilt übrigens auch für alle anderen Wissenschaften, deren Ergebnisse man „zu formal-transzendentalen Fragestellungen sozusagen umkehren“²⁰⁹ kann.) Erst die phänomenologische Reduktion (siehe unten, Abschnitt D) bringt das Korrelationsapriori in seiner konkreten Fülle in den Blick und ermöglicht die Entwicklung einer „konkreten Ontologie“, „die alle zum Seienden gehörigen Korrelationen des Apriori systematisch umspannt“ und zu der also „Noetik und Noematik“ gehören.²¹⁰ Dadurch werden die ursprünglichen Fragen der naiven, objektiven Ontologie in das transzendentale Register transponiert, und es kann sich eine „transzendentale Ontologie“²¹¹ entwickeln, die zusammen mit der transzendentalen Logik nichts anderes ist als „die echte Transzendentalphilosophie“²¹², die damit – bei aller Wertschätzung der antiken Metaphysik durch Husserl – die „Grundlegungsfunktion“²¹³ (Fonfara) der (direkt) ontologischen Metaphysik übernimmt. Jede Ontologie oder Logik, die nicht transzendentalphänomenologisch in den Akten der Subjektivität gegründet ist, zieht sich in Husserls Augen den Vorwurf der „Selbstvergessenheit“²¹⁴, der Naivität und des Dogmatismus zu. Eine Ontologie, die ihr Ziel erfüllt, ist daher für Husserl nur in phänomenologischer Einstellung und d. h. nach Vollzug der transzendentalen Reflexion möglich: „Alle philosophischen Ontologien sind transzendental-idealistische Ontologien“²¹⁵. Hierin sehen wir die Transposition oder die Einflüsse des transzendentalen Milieus am Werke. Hinsichtlich der Themen der – nunmehr transzendentalisierten – Ontologie sieht sich Husserl einig mit Platon, dem er z. B. in seinen frühen Freiburger Einleitungs-Vorlesungen (1919/1920) attestiert, die „Idee einer formalen Ontologie“ erreicht oder doch wenigstens „berührt“ zu haben.²¹⁶ In einer Randbemerkung verweist er explizit auf den Theaitetos als eine Quelle der formalen Ontologie
Hua V (Ideen III), S. 92. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 109, FN1. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 224. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 342. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 214. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 212. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 215. Fonfara, „Das Selbst und die Begründung der Philosophie“, S. 55. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 227. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 482. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 85; vgl. ebd. S. 60.
§ 5. Reflexive Schließung
69
Platons und die Markierungen in seinem Exemplar lassen darauf schließen, dass er dabei wohl vor allem Theaitetos 185CD im Blick hatte; relevante Stellen im Sophistês und Parmenides sind allerdings ebenfalls markiert. Über die dort diskutierten Ideen sagt er: Offenbar sind das formale, in jedes mögliche Gebiet von Gegenständen hineingehörige Begriffe. […] Es sind aber diese allgemeinsten Gegenstandsbegriffe offenbar a priori, sie sind nicht aus der Erfahrung zu schöpfen. […] absolute Gleichheit ist eine Idee, ebenso wie das absolut Gerade der Geometrie, eine Idee, in Bezug auf welche eben von Annäherung zu sprechen ist, die aber aus der Erfahrung nie geschöpft, in ihr nie wirklich im Einzelfall konstatiert werden kann.²¹⁷
Die Platonische und die Husserlsche Liste der angepeilten formalen Strukturen („Kategorien der Gegenständlichkeit überhaupt“²¹⁸, „die die universalste Universalität haben, so dass sie in jedem möglichen Wissenschaftsgebiet Anwendung finden können“²¹⁹) deckt sich offenbar in vielen Punkten: „Gegenstand, Eigenschaft, Beziehung, Verbindung, Ganzes und Teil, Ordnung, Menge, Zahl usw.“²²⁰ nennt Husserl in einer seiner späteren Einleitungen in die Philosophie; Sein und Nichtsein, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Zahl, Teil, Ganzes, Anfang, Ende, Grenze, Identität, Differenz, Beziehung (logos), Ruhe, Bewegung sowie Ordnung (kosmos, taxis) u. a. finden sich bei Platon. Über die formale Wissenschaftslehre und Ontologie hinaus gehört zu jeder Wissenschaft auch eine konkrete Wissenschaftslehre, z. B. eine „Naturwissenschaftslehre“²²¹ sowie – korrelativ – eine regionale oder materiale Ontologie: „Jeder positiven Wissenschaft steht zur Seite eine Philosophie, der Physik eine Philosophie der Physis, der Biologie eine Philosophie des Organischen, der Rechtswissenschaft eine Rechtsphilosophie, der Sprachwissenschaft eine Sprachphilosophie usw.“²²² Diese regionalen Philosophien haben nicht bloß ancillarische Funktion: „Vollkommene Methode setzt die systematische Ausbildung der Ontologie, d.i. die Wesenslehre, die zu zu dieser Gegenstandskategorie gehört, voraus. Der Gesamtbestand von Erkenntnissen, die sie bietet, ist eine unbedingte Norm für alles, was mögliche empirische Erkenntnis […] je bieten kann […] Jeder
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 55. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 59, FN. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 7 Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 8. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 10. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 5.
70
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Fortschritt in ontologischer Hinsicht […] [muss] der empirischen Wissenschaft zugute kommen.“²²³ (γ) Auch die dialektisch oder phänomenologisch aufgeklärten und fundierten Wissenschaften wären indes nur „Zweite Philosophien“²²⁴, bloß relative Wissenschaften, „wobei als relativ eine Wissenschaft dann gelten soll, wenn sie sich der Aprioris ihrer Forschung nicht durch diese Forschung selbst versichern kann“²²⁵ (Kuster). Da die Wissenschaften ihre Voraussetzungen gesetzt sein lassen müssen, bezeichnet Husserl sie auch als „dogmatische“ im Unterschied zur Philosophie, deren „einzigartige Funktion“ darin liegt, nicht nur die Voraussetzungen der zweiten Philosophien zu klären, sondern auch ihre eigenen.²²⁶ Diese Doppelfunktion findet Ausdruck im Titel der ‚ersten Philosophie‘.²²⁷ Im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften, die sie in wahre Wissenschaften verwandeln soll, ist die Philosophie zu ihrer Fundierung nicht auf eine weitere Wissenschaft verwiesen, sondern „auf sich selbst notwendig zurückbezogen“²²⁸: „Ihr eigenes Wesen ist es, vollkommene Klarheit über ihr eigenes Wesen zu realisieren und somit auch über die Prinzipien ihrer Methode.“²²⁹ Ohne diese Rückbezogenheit wäre die Philosophie – gemäß der Reflexionsforderung – schließlich keine Wissenschaft oder wiederum auf eine höhere, eigentlich erste Wissenschaft bezogen. Der Reflexionsforderung ist nicht allein durch eine einmalige Durchführung der Epochê und Reduktion Genüge getan; auch Phänomenologie lässt sich gewissermaßen naiv betreiben und verbleibt dann unterhalb der Schwelle echter Wissenschaft. Diese „Naivität höherer Stufe“²³⁰ macht eine „Selbstverständigung der Erkenntnis über ihre eigene Leistung“²³¹, eine „Phänomenologie der phänomenologischen Subjektivität“²³² erforderlich, d. h. eine „Kritik der phänomenologischen Erfahrung“²³³, eine „Theorie und Kritik der phänomenologischen Vernunft“, „oder eine Kritik der phänomenologischen Evidenz“²³⁴. Philosophie soll also „Quellenwissenschaft für alle
Hua V (Ideen III), S. 23. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 248. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 54. Hua III (Ideen I), S. 147. Vgl. Luft „Phenomenology as First Philosophy“, S. 108. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 81; vgl. Hua III (Ideen I), S. 153; vgl. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 106. Hua III (Ideen I), S. 151; vgl. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 116 Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 217. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 123. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 276, FN2. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 378. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 478. Vgl. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie.
§ 5. Reflexive Schließung
71
Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt“²³⁵, inklusive ihrer selbst sein, wobei „Kritik“ oder „Theorie“ immer die Möglichkeit der Rechtfertigung und Verantwortung beschließen.²³⁶ Philosophie ist somit „Wissenschaft aus letzter Begründung, oder, was gleich gilt, aus letzter Selbstverantwortung, in der also keine prädikative oder vorprädikative Selbstverständlichkeit als unbefragter Erkenntnisboden fungiert.“²³⁷ Auch dieses Ideal der Philosophie sieht Husserl bei Platon vorgezeichnet: Erinnern wir uns der Idee der Philosophie, welche das Platonische Philosophieren bewegte, so war es die einer Wissenschaft, und schließlich einer allumspannenden Wissenschaft, die in absolut zureichender Weise rechtfertigt: d.i. so, dass sie nicht nur vernünftig begründet, sondern die [grch.] epistêmê selbst, das begründende Vermögen und das Wesen seiner unbedingte Wahrheitsgeltung schaffenden Leistungen, zum Thema der Forschungen macht.²³⁸
Während die Doppelfunktion der Phänomenologie derjenigen der Dialektik analog ist, verändert sich die Art ihrer Implementierung mit der Transposition des Platonischen Projekts in die moderne Transzendentalphilosophie: Keine Wissenschaft kann voll evidente Grundlagen haben – nur die Phänomenologie kann sie sich geben und kann strenge Wissenschaft […] schaffen, eben dadurch, dass sie sie begründet im universalen Zusammenhang der Allwissenschaft, bezogen auf das All des letztlich Seienden, also bezogen auf die absolute Subjektivität, als die Ureinheit, in der sich alle wirkliche und mögliche Erfahrung, Selbstgebung jeder möglichen Art nach subjektiven Wesensgesetzen gestaltet und in der sich damit alles mögliche Sein wesensmäßig konstituiert.²³⁹
Husserls Lehre vom absoluten Ur-Ich und vom Urstrom und seiner Selbstzeitigung oder -objektivierung (die uns in Abschnitt F noch beschäftigen wird) thematisiert sowohl die Bedingung der Möglichkeit der Weltkonstitution im Bewusstseinsstrom der Monade, als auch – zugleich – die Bedingung der Möglichkeit einer Theorie dieser Weltkonstitution, denn die „Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Phänomenologie ist vor allem die Frage nach der Selbstobjektivation der Subjektivität in der transzendentalen Erfahrung.“²⁴⁰ (Seebohm) Wie die Prinzipientheorie Platons ist die phänomenologische Lehre vom Absoluten zugleich Protologie und Metatheorie, wenn auch auf verwandelte Weise.
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 199. Vgl. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 29. Hua V (Ideen III), S. 139. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 356. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 224. Seebohm, Bedingungen der Möglichkeit, S. 110.
72
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Diese absolute Reflexion und Fundierung der Wissenschaften durch die Philosophie und der Philosophie durch sich selbst wird durch eine Integrationsbewegung begleitet, die zur „einen einzigen Wissenschaft, die alle Wissenschaften im Pluralis eben nur als Zweige in sich fasst“²⁴¹ führt. Die Philosophie liegt dann tatsächlich – mit Platon gesprochen – „wie ein Schlussstein (thrinkos) über allen anderen Kenntnissen“, über den „keine anderen Kenntnisse mehr mit Recht aufgesetzt werden können, sondern bei dem die Kenntnisse zum Ziel (telos) gekommen sind.“²⁴² – Auch diese Passage hat sich Husserl deutlich markiert.
§ 6. Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus. Die „platonisch inspirierte“²⁴³ (Bernet et al.) Wissenschaftslehre Husserls sieht sich mehreren Gruppen von Einwänden ausgesetzt; einerseits solchen, die ihr inhaltlich direkt widersprechen oder unhaltbare Voraussetzungen aufzeigen, andererseits solchen, die auf widerstreitende Motive innerhalb der phänomenologischen Wissenschaftslehre hinweisen. Dabei ist vorab zu betonen, dass die Kritik sich nicht gegen die Platonisch-Husserlsche Diagnose richtet, der gemäß die bestehenden Wissenschaften in vielfacher Weise unreflektiert und trotz (bzw. wegen) ihrer technischen Rationalität im Grunde unvernünftig sind. Die Einwände zielen vielmehr auf die extremen revisionistischen Ansprüche ab, die Husserl dieser Diagnose folgen lässt. (α) Husserl nimmt nämlich – wie oben ausführlich dargestellt – an, dass echte oder wahre Wissenschaft nur als absolut fundierte, reflektierte und damit absolut unbezweifelbare denkbar ist; diese These impliziert, dass es außerdem nur einen einzigen Begriff von Wissenschaft gibt (nämlich den phänomenologischen), unter den alle konkreten Wissenschaften als Instanzen fallen (müssen). Insofern keine der heute so genannten Wissenschaften diese Kriterien erfüllt (auch nicht die verschiedenen Philosophien), ist Husserls Begriff revisionär: Nach Husserl gäbe es heute strenggenommen keine Wissenschaft – und eigentlich auch kein Wissen oder keine Erkenntnis. Leider gibt uns Husserl keinen Grund, weshalb wir seine extreme Revision akzeptieren sollten; er wiederholt einfach nur ständig seine Setzung als einzig richtige Analyse des Begriffs oder der Idee der Wissenschaft. Bereits ein kursorischer Blick auf die aktuellen Wissenschaften und die dazugehörige Wissenschaftstheorie zeigt jedoch sehr deutlich, wie wenig deskriptiv Briefe Dok III/IX, S. 79. (Brief an Albrecht 1931); vgl. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 278. Pol. 534E – 535 A. Bernet et al., Edmund Husserl, S. 78.
§ 6. Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus.
73
und (daher) problematisch Husserls revisionistischer Ansatz ist. Wissen und Wissenschaft sind nämlich dem allgemeinen Verständnis nach offensichtlich ohne absolute Fundierung wie auch in onto-epistemologischer bzw. transzendentaler Blindheit realisierbar und tatsächlich realisiert: Es scheint Wissenschaft zu geben, obwohl die transzendentale Phänomenologie zu keiner endgültigen Fassung gelangt ist. Auch absolute Zweifelsfreiheit scheint kein Kriterium für Wissenschaftlichkeit zu sein – im Gegenteil.Wissenschaft ist in den meisten Fällen offenbar auch nicht zweiwertig, Modelle passen mehr oder weniger, Theorien sind mehr oder weniger ergiebig, Interpretationen mehr oder weniger plausibel. Dementsprechend beruht auch die erfolgreiche Abgrenzung ‚echter‘/‚guter‘ Wissenschaft gegen ‚unechte‘/‚schlechte‘ Wissenschaft offenbar nicht auf vollständiger Reflexion oder zweifelsfreier Fundierung im Absoluten. In den Wissenschaften haben sich vielmehr je eigene Kriterien entwickelt, gute von schlechten Beiträgen zu unterscheiden, z. B. Reproduzierbarkeit, statistische Relevanz, Textnähe oder Konsistenz – je nach Feld, vielleicht sogar je nach Thema. Diese unterschiedlichen Formen epistemischer Aktivität unterscheiden sich also nicht nur dadurch, dass sie sich auf verschiedene Gegenstände beziehen; sie sind nicht auf einen einzigen Satz von Wissensbedingungen reduzierbar. So könnte etwa die von Husserl ständig wiederholte Forderung nach absoluter Reflexion ein der Philosophie spezifisches Kriterium darstellen; andere Wissenschaften könnten von ihr unbetroffen sein. Diese Forderung über die Philosophie hinaus a priori auszudehnen, wäre dann nichts anderes als arroganter Dogmatismus. (Davon zu unterscheiden ist die Prüfung, wie reflexiv eine Wissenschaft ist bzw. wie sie reflexiv ist.) Auch von ‚unechten‘ Wissenschaften, d. h. Pseudowissenschaften können sich die Wissenschaften mehr oder weniger erfolgreich mithilfe nichtabsoluter Bereichskriterien abgrenzen. Ähnliches gilt für das Verhältnis von wissenschaftlicher Arbeit gegenüber dem alltäglich-situativen Wissenserwerb, der bloßen Meinung oder Ideologie, sowie – auf andere Weise – der Technik. Auch Husserls deskriptiv plausible Überlegung, dass Wissenschaft eine willentliche Tätigkeit ist und daher einen Begriff voraussetzt, der dem Willen sein Objekt bestimmt, stützt seine extreme Position nicht. Denn die Orientierung des Willens bedarf sicherlich nicht der vollständigen begrifflichen Aufklärung seines Ziels. Absichten können (und müssen) wir auch aufgrund vager Vor-Begriffe bilden, die im Verlauf der Willensausübung Konturen gewinnen oder sich verschieben können. Jedenfalls ist es deskriptiv schlicht unzutreffend, dass „vor der Wissenschaft Wissenschaftstheorie als die Norm“²⁴⁴ steht – Wissenschaft ist nicht erst nach ihrer Normierung durch die Philosophie möglich. Wissenschaftliche
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 324.
74
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Revolutionen brechen vielmehr notwendigerweise mit den jeweils gängigen Normen und etablieren neue, ohne dass die revolutionären Ansätze dadurch zu ‚bloßen‘ Techniken würden. Philosophische Wissenschaftstheorie ist dagegen Reflexion, also die Zurückwendung auf bereits Gegebenes; die Eule der Minerva erzeugt nicht die Dämmerung. Deskriptiv problematisch ist schließlich auch Husserls Auffassung der Wissenschaften als hauptsächlich kognitiv: „Husserl’s transcendental subjectivity is again a pure cognitive subjectivity. One does not have to be a Marxist in order to insist that the empirical reality is constituted by the subject of thought and of action, theory and practice.“²⁴⁵ (Marcuse) Wissenschaft ist – eventuell mit Ausnahme der Mathematik – nie ‚reines‘ Denken. Selbst der Phänomenologe reduziert sein faktisches Erleben und bleibt so stets an es verwiesen als das, was in Klammern bleiben muss. Zudem ist auch die kontemplative Ruhe der Reflexion oder der mathematischen Deduktion ein minimaler Modus der verkörperten Aktivität, die Reflexion selbst eine bestimmte weltliche Tätigkeit, die intersubjektiv erscheint, z. B. auch als katatonische Abwesenheit oder Versunkenheit, wie sie Alkibiades Sokrates zuschreibt, als er dessen Verhalten vor Potidaia schildert.²⁴⁶ Deskriptiv plausibler (und argumentativ besser zu verteidigen) als Husserls epistemologischer Monismus und Fundamentalismus scheint daher ein epistemologischer Pluralismus zu sein,²⁴⁷ der keine einheitliche Bestimmung von Wissenschaft ansetzt und der auf absolute Reflexion und Fundierung verzichtet. Der platonisierenden Annahme, die Grenzen der (einen) Wissenschaft seien a priori gezogen und a priori erkennbar, kann man dabei widersprechen, ohne die Platonische Differenz zwischen epistêmê und doxa, zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft aufzugeben. Jedoch pluralisiert und lokalisiert sich diese Unterscheidung dann; das Demarkationsproblem wird zu Demarkationsproblemen und der Begriff der Wissenschaft zu einem, dessen Instanzen in einem Verhältnis der Familienähnlichkeiten zueinander stehen.²⁴⁸ Dieser Zug, die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu lokalisieren, entspricht letztlich auch viel eher der phänomenologischen Forderung „Zu den Sachen selbst!“ als Husserls programmatischer wie totaler Revisionismus. Denn erst, nachdem die Notwendigkeit eingesehen ist, die konstitutiven Regeln für Wissenschaft lokal – und vielleicht an den jeweiligen Paradigmata – zu thematisieren, kann die phänomenologisch detaillierte ‚Feldarbeit‘ eigentlich beginnen. Einen Ausgangspunkt, die lokal differenzierten
Marcuse, „On Science and Phenomenology“, S. 289. Sym. 220C. Vgl. z. B. Gabriel, Sinn und Existenz, § 11. Pigliucci, „The Demarcation Problem“.
§ 6. Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus.
75
Instanzen des Wissenschaftsbegriffs philosophisch zu erfassen, bietet z. B. die Idee der Systematizität: Wissenschaft ist jeweils systematischer als alltäglicher Wissenserwerb oder Pseudowissenschaft.Was diese Systematizität je auszeichnet, unterscheidet sich dabei von Bereich zu Bereich; trotzdem stellt sie ein nichtfundamentalistisches und nicht-essentialistisches, aber dennoch deskriptiv einholbares Kriterium dar, das die relevanten Unterschiede zu ziehen ermöglicht.²⁴⁹ (β) Ähnlich problematisch wie der extreme Anspruch der Husserlschen Forderungen ist die postulierte Unilateralität im Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaften, die auf einem privilegierten Zugriff auf Erkenntnisse apriori beruhen soll. Obwohl Platon offensichtlich auf der Höhe der Mathematik und Astronomie seiner Zeit denkt und die (mathematischen) Wissenschaften als Zuträger²⁵⁰, „Mitarbeiterinnen und Mitleiterinnen“²⁵¹ im pädagogischen Prozess und Vorläufer der Philosophie²⁵² sieht, ist das Verhältnis zwischen Dialektik und allen anderen wissenschaftlichen Unternehmungen unilateral, d. h. die Ergebnisse der Philosophie sind nicht durch Ergebnisse der anderen Wissenschaften zu erschüttern, jedoch wiederum für diese bindend – die Dialektik ist eben eine „königliche Kunst“. Husserl scheint diese Platonische Begründungsordnung zwischen Philosophie und Wissenschaft – zumindest zeitweilig – zu übernehmen.²⁵³ Gegen eine solche Unilateralität in der Beziehung von Philosophie und Wissenschaft lassen sich, je nach Themengebiet, jedoch mehr oder weniger plausible Einwände vorbringen, zumal im Blick auf eine deskriptiv-analytische Philosophie wie die Phänomenologie eine zu sein vorgibt. Eine philosophische Theorie des Raumes kann spätestens nach Riemann und Einstein nicht mehr ohne Weiteres behaupten, ‚der Raum‘ sei euklidisch.²⁵⁴ Ähnliche gravierende Auswirkungen hat die Relativitätstheorie natürlich auch auf Theorien der Zeit. Auch kann Kausalität nach der Quantenmechanik nicht mehr mechanistisch gedacht werden. Und eine Beschreibung von Organismen ist dank Fortschritten in der mathematischen Biologie und der Systemtheorie inzwischen mit mathematischen Mitteln zu leisten – ganz ohne teleologisches Vokabular.²⁵⁵ Eine philosophische Anthropologie kann etwa die Ergebnisse der Evolutionsbiologie, der Ethnographie, der empirischen Sozialwissenschaften oder der Paläoanthropologie nicht einfach ignorieren. Sogar die formale Logik musste den
Hoyningen-Huene, Systematicity. Euthyd. 290B. Pol. 533D. Tim. 47 A. Bernet et al., Edmund Husserl, S. 210. Aber vgl. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit, S. 73 f. Thompson, Mind in Life, S. 138.
76
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Geltungsbereich der klassischen Logik einschränken, da sich mithilfe komplementärer Größen (z. B. Ort und Impuls) Gegenmodelle zum Distributionsgesetz bilden lassen.²⁵⁶ Und selbst die Ontologie als formale Gegenstandslehre kommt, wenngleich „ohne Interesse“ an, so doch nicht „ohne Berücksichtigung“²⁵⁷ (Spiegelberg) von anderweitig erforschbaren (mathematischen oder empirischen) Gehalten aus. Diese Bedingtheit ist kein Grund für existentielle Sorgen seitens der Philosophie, im Gegenteil, der Fortschritt der Wissenschaften verschafft der Philosophie immer wieder neue Themen, Denk- und Kritikmöglichkeiten, die den Wissenschaften selbst gar nicht zugänglich sind; Husserl hat völlig Recht, wenn er „bedeutende philosophische Gehalte“²⁵⁸ in den Ergebnissen der Einzelwissenschaften ahnt, die diesen nicht zugänglich sind – gleichwohl lassen sich diese Gehalte nur heben, wenn die Philosophie ihren formalen Unilateralismus aufgibt und wiederum zur konkreten Analyse, Deskription und Kritik übergeht und sich einschlägigen empirischen Befunden stellt, wie etwa Merleau-Ponty es getan hat oder es große Teile der aktuellen Phänomenologie auf verschiedene Weise praktizieren. Wie weit Philosophie im eigentlichen Sinne tatsächlich reicht (und was dieser eigentliche Sinn überhaupt ist, wenn es ihn denn geben sollte), muss der Sache nach immer neu verhandelt werden. (Husserl selbst fragt jedenfalls an einer Stelle der Ideen III: „Und warum sollten dann nicht auch instrumentelle Hilfsmittel und experimentelle Veranstaltungen […] auch dazu helfen können, Anschauungsmaterial bester Art zu gewinnen?“²⁵⁹) Denken wir Philosophie mehr als Praxis der Hinsichtnahme statt als sachliche Lehre, stellt ihre Beschränktheit keine Beleidigung unserer Eitelkeit dar. (γ) Unilateralität und der Anspruch auf reflexive Schließung werden ineins auch noch von anderer Seite untergraben. Wie einerseits jede Wissenschaft philosophisch reflektiert werden kann, ist andererseits auch die Philosophie dem Blick anderer Wissenschaften ausgesetzt. Philosophie lässt sich nicht nur in philosophischer Hinsicht thematisieren; sie erschöpft nicht die Menge aller Hinsichten. Während die Philosophie zwar ihre onto-epistemologischen Voraussetzungen thematisieren kann, hat sie unter ihren Voraussetzungen gleichwohl auch solche, die ihr selbst nicht zugänglich sind, z. B. biologische, soziologische oder psychologische. So wie es eine Philosophie der Soziologie gibt, gibt es eine Soziologie der Philosophie, die etwa die sozio-ökonomischen Bedingungen untersucht, unter denen Philosophie möglich wird, oder eine Psychologie der Philosophie, die untersucht, welcher Typ Mensch sich für eine philosophische Kar
Vgl. Putnam und Dummett, „Is logic empirical?“ Spiegelberg, Über das Wesen der Idee, S. 5. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 216. Hua V (Ideen III), S. 52.
§ 6. Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus.
77
riere entscheidet und wie sie ihn verändert. (Verkomplizierungen entstehen dann durch Reflexionsstufungen, z. B. in der philosophischen Reflexion der soziologischen Reflexion der Philosopie. Diese Verkomplizierungen werden wiederum komplex, wenn auf höheren Reflexionsstufen weitere Wissenschaften hinzukommen, z. B. in der (möglichen) gender-theoretischen Perspektive auf die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen der soziologischen Reflexion der Philosophie etc.) Die Reflexionsbeziehungen zwischen diesen Wissenschaften sind also multilateral. Historische, soziologische, psychologische etc. Untersuchungen der Philosophie gehören genauso zur Einholung der eigenen Möglichkeitsbedingungen wie onto-epistemologische oder phänomenologische Reflexionen; die Philosophie hat nicht nur ein philosophisches Apriori, sondern eben auch ein linguistisches, historisches, anthropologisches etc. Philosophie ist mithin nicht imstande, alle Bedingungen ihrer Möglichkeiten zu thematisieren, womit ihr Anspruch auf absolute transzendentale Selbstbegründung im Sinne der Aufklärung aller ihrer Möglichkeitsbedingungen erlischt. Die Philosophie kann keine ‚absolute‘ Wissenschaft im Sinne einer völlig reflexiv geschlossenen Disziplin sein, weil nicht alle ihre Möglichkeitsbedingungen in ihren Themenbereich fallen. Insofern es überhaupt Themen gibt, die sie qua Philosophie nicht thematisiert, kann sie folglich auch keine absolute Wissenschaft im Sinne einer Universalwissenschaft sein. (Damit ist das Problem des uneinholbaren Reflexionsrests oder des konstitutiven Entzugs, das uns im letzten Kritikparagraphen beschäftigen wird, übrigens noch gar nicht berührt.) (δ) Husserls Wissenschaftslehre steht nicht nur im Widerspruch zur Beschreibung der tatsächlichen Lage der Wissenschaften und zu unserer Rede und Theorie über sie, sondern sie steht auch in einem komplexen Spannungsverhältnis zur Definition der Phänomenologie als deskriptiver und kritischer Transzendentalphilosophie. Den oben zitierten, absolute Sicherung aller Erkenntnis fordernden Passagen stehen so etwa die bekannten Formulierungen aus der Krisis entgegen, in denen Husserl das sichernde und Wissenschaft erst ermöglichende Fundierungsprogramm zugunsten einer Fundamentalhermeneutik aufgibt: „Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen.“²⁶⁰ Der Sicherheit und Letztbegründung versprechende regulative Übergriff auf alle anderen Wissenschaften wird abgelöst durch den Versuch des Zurückverstehens; die Phänomenologie soll spätestens jetzt nicht mehr Wissenschaft durch Reflexion und Letztbegründung ermöglichen oder ableitend sichern,²⁶¹ sondern „transzendental
Hua VI (Krisis), S. 192. Vgl. Patočka, Ketzerische Essays, S. 173.
78
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
verständlich machen“, „erklären“, was unser Bewusstsein sowohl im Alltagsleben als auch in der Wissenschaft immer schon leistet. Mit Tugendhat lässt sich die Spannung zwischen Transzendentalhermeneutik und Letztbegründung als der Konflikt eines kritischen und eines dogmatischen Motivs charakterisieren, wobei das kritische Motiv die Letztausweisung als „regulative Idee“ postuliert, auf die hin alle Wahrheitsansprüche hin geprüft werden und vor deren Hintergrund sich die konstitutive Auslegung vollzieht, während das dogmatische Motiv durch die Suche nach letztausgewiesenem Wissen bestimmt ist.²⁶² Geht man weiterhin mit Tugendhat davon aus, dass das kritische Motiv der Aufklärung aller konstitutiven Leistungen der Subjektivität die Phänomenologie bestimmt, lässt sich Husserls Platonische Konzeption der Philosophie als „einer auf Endgültigkeit der Begründung gerichteten Wissenschaft“²⁶³ eigentlich nicht in die Phänomenologie integrieren – oder die „Letztbegründung“ kann nurmehr im „Sinn einer letzten Aufklärung“²⁶⁴ (Tugendhat) verstanden werden. Die von Husserl geforderte Fundierung der Wissenschaften besteht dann vor allem darin, die Bedingungen ihrer Möglichkeit(en) zu reflektieren, wobei zu einem solchen Aufklärungsprojekt im Grunde nicht nur transzendentale, sondern auch anthropologische, soziologische und kognitionswissenschaftliche Untersuchungen gehören. Die Überwindung der „Krisis“ der europäischen Wissenschaften kann dann nicht mehr darin bestehen, ihnen ein absolut sicheres philosophisches Wissen des Absoluten zu unterlegen. Die „Überwindung der Krise heißt danach, den Anschluss der wissenschaftlichen Positivität an ihre elementaren Voraussetzungen wiederherzustellen. Die Phänomenologie integriert die von ihrer Herkunft und Fundierung abgerissene Theorie wieder ihrem „Urstiftungssinn“, Erkenntnis durch Anschauung zu rechtfertigen.“²⁶⁵ (Blumenberg) Die elementaren Voraussetzungen der Wissenschaften sind aber, wie schon angedeutet, erstens kein rein philosophisches Problem; und zweitens umfasst die phänomenologische Reintegration der Wissenschaften im von Blumenberg ausbuchstabierten Sinn keinen Rückgang in ein Absolutes, d. h. keine (dogmatische) Letztbegründung. Angesichts einer kritischen, nicht dogmatischen Aufgabenstellung kann übrigens auch das Kantische Deduktionsprojekt nicht ohne Weiteres als Pate für die Phänomenologie angesehen werden;²⁶⁶ „[Phenomenology] transforms transcendental philosophy from an epistemic project of justifying certain a priori
Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 195. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 296. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 216. Blumenberg, Beschreibung, S. 425. Vgl. Z. B. Hua V (Ideen III), S. 25.
§ 6. Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus.
79
principles into a (so to speak) „semantic“ project of clarifying intentionality through reflection on the evidence of first-person experience.“²⁶⁷ (Crowell) Ob eine solche semantische Klärungsarbeit noch viel mit den Letztbegründungsprojekten der Platonischen Tradition zu tun haben kann, ist sehr fraglich. Jedenfalls gehört der Anspruch auf Letztbegründung nicht zwingend zur Phänomenologie, sondern eher zu Husserls ganz eigener philosophischer Position. (ε) Der Titel „königliche Kunst“, den der Fremde aus Elea der Dialektik verleiht, darf nicht nur als wertsteigerndes Epitheton oder Rangzuweisung gelesen werden, sondern muss in seinem normativen Anspruch ernst genommen werden – einem Anspruch, der nur schwer mit dem explizit deskriptiven Anspruch der Phänomenologie vereinbar ist. Husserl hat dabei natürlich jedes Recht, ‚seine‘ Phänomenologie so (Platonisch) zu normieren, wie es ihm gefällt, aber solange sie als deskriptives Unterfangen auftritt, ist jede Normierung jenseits der Selbstnormierung übergriffig und für eine Phänomenologie unzulässig. Die Phänomenologie ist dabei selbst darstellbar als Theorie der Normativität;²⁶⁸ und in ihrer Selbstfundierung entdeckt und kritisiert sie die Normen, denen sie selbst gehorcht: „Die Seinserkenntnis ist kein Letztes, sie bedarf der „Wert“-Erkenntnis“, denn das „Tatsache-sein“ und „In-Wahrheit-sein“, das die Wissenschaft herausarbeitet, lässt sich nicht verstehen, wenn man nicht die Vernunft als nach „Normen“ leistende versteht, deren Leistungsergebnis eben die Tatsache ist.“²⁶⁹ Aber eine Theorie der Normativität ist keine normative Theorie. Husserl kann die Normstrukturen aufdecken, die für bestimmte Phänomene gelten, darunter auch die Normen, unter denen sich wissenschaftliches Wissen zu einer gegebenen Zeit konstituiert, aber er kann die Durchsetzung oder Übernahme dieser Normen nicht erzwingen wollen oder gar eigene Normen für die Wissenschaften erfinden. Damit würde er sein kritisches Unterfangen einer deskriptiven Klärung der konstitutiven Leistungen der Subjektivität aufgeben. (ζ) Hardy hat sich bemüht, den von Prendergast schon vorgebrachten Vorwurf des Dogmatismus mit dem Hinweis zu entkräften, dass der Husserlsche „Dogmatismus“ sich nur auf die formalen, eidetischen Disziplinen beschränke, seine Forderungen also nicht die (empirischen) Natur- und Geisteswissenschaften beträfen.²⁷⁰ Dies entspricht schlicht nicht dem Husserlschen Selbstverständnis; gerade in seinen allgemeinsten Forderungen nach Reflexion und (intuitiver wie transzendentaler) Fundierung unterscheidet Husserl nicht mehr zwischen den Wissenschaften, z. B. wenn er im dritten Buch der Ideen, das den Untertitel Die
Crowell, Normativity, S. 15. Vgl. Crowell, Normativity. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 233. Hardy, „The Idea of Science in Husserl“, S. 20; ebs. Nature’s Suit S. 195 f.
80
Abschnitt A Philosophie als Wissenschaft
Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften trägt, schreibt: „Alle Entdeckungen und Erfindungen der Fachmänner bewegen sich im Rahmen eines absolut unüberschreitbaren Apriori, das man nicht von ihren Lehren, sondern nur aus der phänomenologischen Intuition schöpfen kann.“²⁷¹ Hier verknüpfen sich Apriorismus, Fundamentalismus und die phänomenologische Übergriffigkeit. Letztere wird noch aufdringlicher in der folgenden Passage. „Es gilt, die Wissenschaften auf ihren Einsicht und strenge Geltung verlangenden Ursprung zurückzuführen und sie in Systeme einsichtiger Erkenntnis zu verwandeln durch klärende, verdeutlichende, letzt-begründende Arbeit“²⁷²; hier ist nicht von bestimmten Wissenschaften die Rede, die durch die Phänomenologie erst zu „einsichtiger Erkenntnis“ gebracht werden sollen, sondern von allen Wissenschaften. Husserls Wissenschaftslehre wirkt in ihren absoluten Ansprüchen seltsam extrem. Denn „ist die Erkenntnis nicht unbedingt, so soll sie sogleich hinfällig sein. Es wird, mit einem Gestus, der nicht umsonst an das biphasische Denken mancher Psychotiker gemahnt, zweiwertig, nach dem Schema Alles oder Nichts geurteilt.“²⁷³ (Adorno) Dies ist jedoch eine falsche Alternative, denn das Gegenteil von „Alles“ ist nicht „Nichts“, sondern „Nicht-Alles“. Ohne auf die psychologischen Motive der Husserlschen Forderungen weiter eingehen zu wollen, müssen wir jedenfalls festhalten, dass seine wissenschaftstheoretischen Bestrebungen inkonsistent mit der kritischen und deskriptiven Aufgabenstellung der Phänomenologie sind, denn sie sind unbegründet revisionär, sie setzen unhinterfragt voraus, dass es eine einzige Wissenschaft gibt, die auf einen einzigen Satz ewiger Normen rekurieren muss, sie sind unilateral, sie vergessen dabei (größtenteils) das nicht-philosophische Apriori, das ebenfalls zu den Bedingungen der Möglichkeit von Philosophie und Wissenschaft gehört; sie sind fundamentalistisch statt kritisch, und schließlich normativ statt deskriptiv. Offenbar wurden schließlich auch Husserl die Schwierigkeiten seiner Ansprüche bewusst, weshalb er in der Einleitung der Krisis betont, dass die Krise der Wissenschaften gerade nicht in mangelnder Wissenschaftlichkeit bestehe, sondern eher in ihrer existenziellen Bedeutungslosigkeit,²⁷⁴ um dann im Verlauf der Krisis wieder das kritisch-hermeneutische Moment der Phänomenologie stark zu machen, das wir oben schon als Gegenspieler des Absolutismus angeführt hatten. Mit Ablehnung seiner normativen Wissenschaftslehre seien jedoch, wie oben schon betont, Husserls wirklich deskriptive Ergebnisse nicht in Zweifel gezogen; seine Untersuchungen zu Technisierung, Sedimentierung und Unreflektiertheit
Hua V (Ideen III), S. 22. Hua V (Ideen III), S. 97. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 95. Hua VI (Krisis), S. 3.
§ 6. Kritik: Übergriffigkeit und Dogmatismus.
81
der Wissenschaften, zu ihrer lebensweltlichen Einbettung und teleologischen Verflechtung und schließlich zum Wesen der Wissenschaft als „Aufhebung der Lebenswelt“²⁷⁵ (Marcuse) im dreifachen Sinn der Entmachtung der direkten natürlichen Erfahrung, ihrer Bewahrung in ihrer Systematisierung und ihrer Erhebung durch dieselbe zur Allgemeinheit, bleiben maßgeblich. Auch seine genuin phänomenologischen Beiträge zum wissenschaftstheoretischen Problemfeld Realismus/Antirealismus sind durch die obigen Bemerkungen gar nicht betroffen.²⁷⁶
Marcuse, „On Science and Phenomenology“, S. 285. Vgl. z. B. Wiltsche, „What is Wrong with Husserl’s Scientific Anti-Realism?“ für eine antirealistische Lesart Husserls und Hardy, Nature’s Suit für eine realistische.
Abschnitt B Philosophie als Ethik § 7. Telos und Krisis Der Mensch realisiert sein Wesen – und damit ein gelingendes Leben, Freiheit und Authentizität – nur durch die vernünftige Orientierung an idealen Normen.
a) Platon: Die Herrschaft des inneren Menschen Welche Rolle kann und soll Philosophie im Leben der Menschen jenseits der Fundierung der Wissenschaften spielen? Was ist ihre existentielle Relevanz? Platon beschreibt die Entwicklungs- und Ordnungsbewegung, in der der Mensch sein eigenes Wesen realisiert, bekanntermaßen als „Angleichung an Gott (hômoisis theô) soweit als möglich; und diese Verähnlichung, dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht (meta phronêseôs)“¹. Es ist nach Platon die Aufgabe des Menschen, „in der Ausübung der Tüchtigkeit (aretên) Gott ähnlich zu werden, soweit das einem Menschen möglich ist“², wobei zwei Attribute des Göttlichen die Telosformel mit Inhalt füllen: Güte³ und Wissen⁴. Um göttlich zu werden, muss der Mensch sein Innenleben ordnen und seinen „inneren Menschen“, d. h. das logistikon zur Herrschaft bringen (α). Damit richtet er sich zugleich auf die Ideen und erlangt Einsichten, die ein wahrhaft vernünftiges Handeln und ein glückliches Leben ermöglichen (β). Erst durch diese Neuausrichtung oder Erweckung seines Denkens wird er frei und ist imstande, sein Leben zu verantworten (γ). Die Orientierung an den Ideen oder am Göttlichen ermöglicht außerdem eine besonders stabile Form der Selbstübereinstimmung (δ). Die Angleichung an Gott ist dabei keine exklusiv individualethische Aufgabe, sondern vielmehr ein Kulturideal (ε). (α) Der Platonischen Psychologie gemäß besteht unsere Seele wesentlich aus drei Teilen,⁵ dem epithymêtikon, d. h. den Begierden oder der Emotionalität, dem thymoeidês, d. h. dem „muthaften“ Seelenteil, einer Art Willens- oder Ent-
Theait. 176B. Pol. 613 A. Pol. 379B. Phaidr. 247D; vgl. Tornau, „Ähnlichkeit“, S. 38. Pol. 435C.
DOI 10.1515/9783110528053-004
§ 7. Telos und Krisis
83
schlussinstanz, und schließlich dem logistikon, d. h. der Vernunft.⁶ (So präsentiert es uns jedenfalls die Politeia. Diese Trichotomie scheint z. B. in den Nomoi durch eine Dichotomie ersetzt zu werden.⁷) Eine anschauliche Darstellung findet diese Psychologie in den Bildern des Ungeheuers, des Löwen (oder Hirtenhundes⁸), des inneren Menschen⁹, sowie, in leichter Abwandlung im Bilde vom geflügelten Seelenwagen.¹⁰ Diese Seelenteile können in sehr unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Verhältnissen zueinander stehen und je nach Konfiguration hat die Seele teil an der Gerechtigkeit oder an der Ungerechtigkeit. Eine ungerechte Seele ist eine unharmonische, ungeordnete, (dadurch) tyrannische und damit letztlich auch unglückliche Seele,¹¹ wobei die Ungerechtigkeit Abstufungen zulässt, je nachdem, ob etwa die Begierden herrschen oder wenigstens das Muthafte. Wahrhaft gerecht – und damit glück- und luststiftend – ist nur die Herrschaft des logistikon: „Wenn also die ganze Seele ihrem philosophischen Teile gehorcht und nicht im Aufruhr gegen ihn steht, dann ergibt sich für jeden Teil, dass er den anderen gegenüber das Seine tut und gerecht ist und dass überdies ein jeder seine eigene Lust, und zwar die beste und wahrste, erntet, die möglich ist.“¹² Eine solche harmonische Seelenkonfiguration herzustellen, ist letztlich das Ziel aller Erziehung und Bildung bei Platon. Bildlich ausgedrückt muss der innere Mensch die Herrschaft über die anderen Seelenteile übernehmen, indem er mithilfe des Löwen bzw. Hirtenhundes das Ungeheuer im Zaume hält und für die Erhaltung des ganzen Menschen fungieren lässt. So befreit er sich von der Tyrannei der Begierden und entflieht den „Fesseln (desmoi)“¹³ der körperlichen Unmittelbarkeit, indem er den Begierden selbst Fesseln anlegt. Die Herrschaft des inneren Menschen ist Selbstbeherrschung (enkrateia).¹⁴ Der sich aufdrängende Ausdruck „Autonomie“ ist in diesem Zusammenhang indes mit Vorsicht zu gebrauchen. Das logistikon setzt nicht (willkürlich) sich selbst Gesetze; es erfindet keine Gesetze, sondern findet sie nur. Es ist daher weder autonom in einem idealistisch-positiven Sinne der freien Setzung von Gesetzen, noch im existentiell-negativen Sinne einer absoluten Freiheit zum „Nein“. Solange mit „Autonomie“ aber gemeint ist, dass der Mensch die für ihn gültigen Gesetze
Pol. 436Aff. Vgl. Müller, „Der Mensch als Marionette, Psychologie und Handlungstheorie“. Pol. 440D. Pol. 588Dff. Phaidr. 246Aff. Pol. 588B. Pol. 586E; vgl. 581B. Phaid. 67D. Phaid. 108 A, Phaidr. 256B.
84
Abschnitt B Philosophie als Ethik
selbst mithilfe seiner Vernunft sucht, findet, prüft und befolgt, anstatt seinen Trieben oder äußerlichen Zwängen zu gehorchen, dann findet im Bild von der Herrschaft des inneren Menschen die Idee der Autonomie einen eindrücklichen Ausdruck. (β) Die Angleichung an Gott hat ineins mit ihrer ethischen auch eine epistemische Dimension, denn göttlich ist die Erfassung der Ideen, an denen sich der Vernünftige orientiert. Die „befiederte Seele“ des Philosophen sieht, „Gott nachwandelnd (symporeutheisa theô)“¹⁵, am „überhimmlischen Ort“ das eidetische Sein, d. h. die Ideen, nämlich das „farblose, gestaltlose, stofflose, wahrhaft seiende Wesen, das nur der Seele Führer, die Vernunft, zum Beschauer hat“¹⁶. Diese Schau ist ethisch-praktisch relevant, denn erst solche eidetische Einsicht ermöglicht wahrhaft vernünftiges Handeln, sei es in Fragen der Politik,¹⁷ im juristischen Kontext,¹⁸ in der Pädagogik¹⁹ oder der Kunst²⁰. Wissen, Erkenntnis, Einsicht orientieren unsere Praxis in vielerlei Hinsicht. Zwar kann diese Orientierungsfunktion auch zeitweilig von richtiger Meinung (orthê doxa) erfüllt werden, denn sie „trifft ja das Sein“ und ist insofern nicht Unverstand (amathia);²¹ aber wahre Meinungen haben trotz ihres Wahrheitsgehalts den entschiedenen Nachteil, dass sie „nicht lange zu bleiben pflegen, sondern aus der Seele des Menschen entweichen“²², wenn man sie nicht mit Gründen fesselt und so zu Erkenntnis macht. Einsicht der idealen Normen, die die ethischen Ideen darstellen, ist eine notwendige Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Der Besitz von Gütern allein macht nämlich nicht glücklich, erst ihr richtiger Gebrauch;²³ die prinzipielle Richtigkeit dieses Gebrauchs kann aber wiederum nur die Einsicht (epistêmê) oder Weisheit (sophia) garantieren. Ähnliches gilt für Macht, denn Macht ohne Tugend und Einsicht macht nicht glücklich.²⁴ Daran hält Sokrates sowohl gegenüber Alkibiades im Dialog selben Namens als auch gegenüber Polos im Gorgias fest.Wir zielen stets auf das Gute und das Glück und wählen die Mittel, die wir zu seiner Erreichung geeignet wähnen, die uns also glücksfördernd zu sein scheinen; aber der Schein kann trügen, so dass die Mächtigen zwar glauben, die richtigen Mittel
Phaidr. 249C. Phaidr. 247C. Alk. I 106Cf. Euthyphr. 5D. Lach. 185 A, 190B. Ion 531Eff. Sym. 202 A. Men. 98 A. Euthyd. 280Bff. Alk. I 134E.
§ 7. Telos und Krisis
85
zu wählen, aber in ihren Handlungen am Guten vorbei-agieren – wie ein „der steuermännischen Vernunft und Tugend“ beraubter Steuermann.²⁵ Freie Verfügung über unbegrenzte Mittel garantiert also nicht den Erwerb oder Vollzug des Guten, so dass bloße Macht ohne Einsicht sogar etwas sehr Schlimmes sein kann.²⁶ Daran ändert auch der Erfolg der Unwissenden bei den Unwissenden nichts;²⁷ selbst der erfolgreich durchgeführte Justizmord des Toren (Anytos) am Weisen (Sokrates) gewährt Anytos kein gelingendes Leben und raubt Sokrates das seine nicht. Aus dem Gesagten ist bereits klar geworden, dass die theologische Teleologie Platons nichts mit Volksreligion oder Kultus zu tun hat, ihnen vielmehr diametral entgegensteht. Gott ist für Platon nichts anderes als nous, d. h. Vernunft oder Vernünftigkeit.²⁸ Daher ist auch der Autor des 8. Briefs zumindest auf Platons Linie, wenn er schreibt „Gott aber ist für besonnene Menschen das Gesetz“²⁹: Besonnene Menschen orientieren sich denkend am Prinzip aller Ordnung, in der wissenschaftlichen wie auch der ethischen Praxis, und sie trachten danach, selbst geordnet, d. h. göttlich zu sein. Die Anähnlichung an Gott ist daher aufzufassen als absolute Forderung, selbst vernünftig zu werden, wobei mit der Platonischen Ethik der bemerkenswerte Fall einer Ethik vorzuliegen scheint, die so radikal von jeder Situiertheit absieht, dass sogar von den existentiellen Grund-Situationen der Diesseitigkeit und der Jenseitigkeit abstrahiert wird. Paradox gesprochen, ist es gleichgültig, in welchem Zustand wir uns befinden, wir müssen uns am Sein orientieren – tot oder lebendig. (γ) Die Ausrichtung auf das Sein und vor allem auf das Gute, die mit der Angleichung an Gott einher geht, ist die einzige Möglichkeit, frei zu werden, denn frei „macht allein die Ausrichtung auf das wirklich Gute“³⁰ (Erler). Schließlich erlangt der Mensch Autonomie im oben erläuterten Sinne erst durch diese Orientierung, da er nur dank ihrer über den absoluten Maßstab verfügt, an dem er seine Wünsche und Begierden messen und schließlich verwerfen oder abschließend begründen kann. Die Dialektik heißt aus genau diesem Grund auch die „Wissenschaft freier Menschen“³¹: Wer sie betreibt, befreit sich zu sich selbst, da er sein logistikon von der triebhaften Unmittelbarkeit des Körpers³² (oder der bloß
Alk. I 135 A. Gorg. 469B. Gorg. 459 A. Menn, God as Nous. Epist. 8, 355 A. Erler, Platon, S. 389. Soph. 253C. Vgl. Pol. 571Cff.
86
Abschnitt B Philosophie als Ethik
technischen Rationalität der Einzelwissenschaften) losmacht und sich Wahrheit und Wissen erarbeitet,³³ die ihm Unabhängigkeit von der bloßen Meinung ermöglichen. Und der Mensch bedarf dieses Maßstabes zur radikalen Ver-Antwortung dringend, weil er sich radikal selbst überantwortet ist. Denn für Platon gibt es keine Theodizee: „Gott ist schuldlos (theos anaitios)“³⁴. Es geht Platon mithin um nichts weniger als die „sittliche Selbstverantwortung des Menschen.“³⁵ (Jaeger) (δ) Die strikte Orientierung an den Ideen (vor allem der des Guten) als ewigen Normen ermöglicht nicht nur gutes Handeln, sondern zugleich eine Form der Selbst-Identität oder Auto-Homologie, die eine exklusive Möglichkeit des Philosophen darstellt, wie Sokrates im Vergleich seiner beiden Lieblinge, Alkibiades und der Philosophie, verdeutlicht: Denn eben sie behauptet immer,was du jetzt von mir hörst, und sie macht mir weit weniger zu schaffen als jener andere Liebling. Denn dieser Sohn des Kleinias führt freilich bald solche Reden, bald solche; die Philosophie aber immer die nämlichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jetzt wunderst; du warst ja auch selbst dabei, als es gesagt wurde. Entweder also widerlege jener das, was ich eben behauptete, dass also Unrecht tun und nicht dafür bestraft werden, das ärgste aller Übel sei; oder wenn du dies unwiderlegt lässt, bei dem Hunde, dem Gott der Ägypter, so wird Kallikles niemals mit dir stimmen, o Kallikles, sondern dir misstönen das ganze Leben hindurch. Und ich wenigstens, du Bester, bin der Meinung, dass lieber auch meine Lyra verstimmt sein und misstönen möge oder ein Chor, den ich anzuführen hätte, und die meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als dass ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müsste.³⁶
E contrario wirft Sokrates damit der Sophistik des Kallikles vor, kognitive Dissonanz zu erzeugen, was Sokrates durch seine Liebe zur Philosophie zu vermeiden weiß. Wer sich stets nach bestem Wissen und Gewissen um vernünftige Rechtfertigung bemüht und sein Leben stets der Wahrheit und dem Guten gemäß ausrichtet, kann nicht mit sich selbst in Konflikt geraten. Die verantwortlich-verantwortende Orientierung am Idealen erlaubt überhaupt erst die Etablierung eines stabilen Ich jenseits der Alltäglichkeit einerseits und dem Heiligen andererseits, die beide nur Formen der Unmittelbarkeit darstellen, welcher der vor-philosophische Mensch verfallen ist. Durch die Doppelbewegung der staunenden Distanznahme von der Welt und der dialektischen Hinwendung zum Göttlichen bedeutet die Philosophie den „Aufschwung aus dem
Phil. 68B. Pol. 617E. Jaeger, Paideia III, S. 102. Gor. 482 A
§ 7. Telos und Krisis
87
Verfall“³⁷ (Patočka); so „erfüllt die philosophische Theorie ihre Sendung, die eigentliche Domäne zu sein, in der unser Ich zu sich selbst und zum Erlebnis seines allmählich begriffenen Wesens gelangt.“³⁸ (Patočka) (ε) Die Herrschaft des inneren Menschen (die Angleichung an Gott) ist zwar zunächst ein individual-ethisches Ideal, aber die Analogie von Einzelseele und Polis erlaubt eine Übertragung von den inneren auf die äußeren Verhältnisse, ja fordert sie sogar, sofern das Zusammenleben der Menschen demselben Sollen unterliegt wie die Einzelseele. „Eben damit wird Platon zum Begründer der Sozialethik als der vollen und wahren Ethik“³⁹, wie Husserl bemerkt. Das Telos dieses ethischen Sollens ist letztlich Ordnung: Die Angleichung an Gott ist Ordnung der Verhältnisse in der Seele wie im Staat.⁴⁰ Der Akt des Ordnens ist selbst eine Angleichung an Gott, weil Gott (der Demiurg) die Welt (kosmos) dadurch erschafft, dass er das Ungeordnete zur Odnung (taxis) bringt, dem Guten gemäß.⁴¹ Göttlich ist also auch der Mensch, der Ordnung schafft. Platon erkennt zugleich eindeutig, dass damit ein Kulturideal in die Welt tritt, das es erlaubt, menschliche Gesellschaften nicht mehr nach Rasse oder Sprache zu differenzieren, sondern die Kulturen nach dem Grade ihrer Vernünftigkeit zu vergleichen. Denn das Telos der Herrschaft des inneren Menschen ist grundsätzlich in jeder Kultur erreichbar, da der Bezug auf die Ideen (und damit die Umwendung und Neukonfiguration der Seele) in jeder Sprache möglich ist; solange die Sprache ihre Werkzeug-Funktion richtig erfüllt, spielt es keine Rolle, welche konkrete Realisierung vorliegt. „Denn auch nicht jeder Schmied, der zu demselben Zwecke dasselbe Werkzeug macht, legt dasselbe Bild in dasselbe Eisen. Dennoch, solange er nur dieselbe Gestalt (idea) wiedergibt, wenn auch in anderem Eisen, ist doch das Werkzeug gut und richtig gemacht, mag es einer hier oder unter den Barbaren gemacht haben. Nicht wahr?“⁴² Die Linien zwischen den Kulturen verlaufen also entlang der Frage, wie sie sich zu Geist und Vernunft verhalten. Gegenüber den sie umgebenden Kulturen können die Griechen überhaupt nur Geschick (epimeleia) und Weisheit (sophia) vorweisen, „denn dies allein ist der Rede Wert bei den Hellenen“⁴³; dem entspricht die hellenische „Philomathie“, d. h. die Liebe zum Lernen, „die man etwa am ehesten bei uns suchen dürfte“⁴⁴. Platon ist also, wie
Patočka, Ketzerische Essays, S. 123. Patočka, Ketzerische Essays, S. 125. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 54. Tim. 90D. Tim 30 A. Krat. 390E. Alk I 123D. Pol. 435E.
88
Abschnitt B Philosophie als Ethik
etwa auch Thukydides und Isokrates, überzeugt von der „Kulturmission Athens“⁴⁵ (Jaeger) – an der auch Husserl explizit zu arbeiten wünscht.⁴⁶ Telos des einzelnen Menschen wie auch das der Gemeinschaft ist jedenfalls für Platon Rationalität im Sinne der Herrschaft des inneren Menschen, des logistikon, in allen Dingen, d. h. die Vergöttlichung als vernünftige Orientierung am Sein. In diesem Sinn ist es nicht allzu weit hergeholt, wenn Husserl für das Platonische Menschheitsideal die Entwicklung von „Philosophie, Wissenschaft“ als die „historische Bewegung der Offenbarung der universalen, dem Menschentum als solchen „eingeborenen“ Vernunft„⁴⁷ ausmacht. Und die „praktische Idee einer universalen Kultur aus Vernunft“ zu realisieren, wäre dementsprechend wirklich die „höchste Auswirkung des Platonischen Ideals“⁴⁸.
b) Husserl: Erneuerung Der Gedanke einer Menschheit, die sich teleologisch zu einer solchen rationalen Kultur ausprägt, der in der Krisis den etwas unglücklichen Ausdruck des „europäischen Menschentums“ erhält, hat nach Husserl seinen Ursprung in Griechenland.⁴⁹ Freie Philosophie und Wissenschaft als Funktion autonomer theoretischer Vernunft entwickelt sich in der griechischen Nation und bestimmt in fortschreitender Bewegung die Entwicklung eines allgemeinen Geistes freien Kulturlebens aus autonomer Vernunft, der sich über diese Nation hinaus sieghaft ausweitet und die Einheit einer hellenischen Kultur und damit das spezifisch Europäische schafft.⁵⁰
Unter den Griechen wiederum nimmt freilich Platon den Ehrenplatz ein: „Alle radikale Neugestaltung der Menschheit zu einer autonomen setzt voraus eine radikale Philosophie. Und damit stehen wir vor dem sinngemäßen Anfang der Menschheitsbefreiung: durch die Philosophie und, um ihre ersten Bahnbrecher zu nennen, durch Platon bzw. durch den Platonischen Sokrates.“⁵¹
Jaeger, Paideia III, S. 135. Vgl. Briefe Dok III/9, S. 164 (Brief an Darkow). Hua VI (Krisis), S. 13 – 14. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 94. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 84. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 68. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 107.
§ 7. Telos und Krisis
89
Husserl schließt sich der Platonischen Ethik und Teleologie in allen wesentlichen Punkten an.⁵² Obwohl er sich der zentralen philosophischen Stellung des Problemkomplexes um das telos des Menschen bewusst war, ist von allen Veröffentlichungen allein in den Kaizo-Artikeln „das ethische Problem von Erneuerung und Wissenschaft zentrales Thema“⁵³ (Nenon/Sepp), während es im LogosAufsatz und in der Krisis eher randständig bleibt bzw. zur Einleitung dient. Auch in den von Husserl nicht veröffentlichen Manuskripten bleiben Ethik und Teleologie (trotz der Ethik-Vorlesungen) quantitativ eher unterrepräsentiert. Noch 1931 ist die Husserlsche Teleologie so wenig entwickelt, dass Husserl Cairns gegenüber doppeldeutig formulieren kann: „Teleologie, das ist Zukunftsmusik“⁵⁴. Um so willkommener ist die Herausgabe der Texte zur „späten Ethik“ in Husserliana Band 42, auf die wir uns hier, zusammen mit den Kaizo-Artikeln hauptsächlich stützen. Husserl verwendet zur Beschreibung der ethischen Aufgabe des Menschen auch die Gottesmetapher: „im wissenschaftlichen Forschen und seinem Ergebnis kommt die Menschheit zum Selbstbewusstsein ihres Telos: reines Gottmenschentum. Alles Bewusstsein ist auf dem Weg zur Vollendung, in allem waltet die Richtung auf Entelechien, die die Entwicklung teleologisch bestimmen.“⁵⁵ Die Philosophie – denn nichts anderes kann „wissenschaftliches Forschen“ hier heißen – entdeckt als Ziel der Menschheitsentwicklung die Angleichung des Menschen an Gott, d. h. „Gottmenschentum“. In dieser Theo-Teleologie sind mehrere philosophische Gotteskonzepte investiert; so beschreibt Husserl in einem seiner späten Manuskripte die theo-teleologische Entwicklung so, als „ob ein aristotelischer Gott dem Monadensystem zugehörte als Entelechie seiner inneren Entwicklung mit mannigfaltigen relativen Entelechien, alle hingeordnet im Eros auf eine „Idee des Guten“.“⁵⁶ Neben Aristoteles, von dem er übernimmt, „Gott als Entelechie, Gott als [grch.] energeia“⁵⁷ zu denken, und Leibniz (bzw. Manke) ist es wiederum vor allem Platon, auf den Husserl häufig zurückgreift, wenn er das Ziel der Menschheitsentwicklung als Gott erläutert.⁵⁸ In den Einleitungsvorlesungen von 1919/20 entwickelt er seinen Zuhörern die Platonische Konzeption folgendermaßen:
Ricoeur, „Husserl und der Sinn der Geschichte“, S. 250. Nenon/Sepp in: Hua XXVII (Aufsätze II), S. XVI. Cairns, Conversations, S. 51. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 176. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 242. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 168. Vgl. Held „Gott in Edmund Husserls Phänomenologie“, S. 726.
90
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Das ideale Subjekt eines absolut vollkommenen Lebens projiziert sich ins Metaphysische als Idee der Gottheit, die, wie sie für jede strebende Menschenseele als Leitstern fungiert und teleologisch ihre edlen Tätigkeiten regelt, so gedacht wird als der teleologische Pol, der das Weltall, seinen gesamten Werdens- und Entwicklungsgang regiert und so die ganze Welt als idealer göttlicher Sinn beseelt.⁵⁹
Entgegen der (in gewissem Sinne) anti-metaphysischen Tendenz der Phänomenologie vollzieht auch Husserl selbst diese metaphysische Projektion, sie stellt sich ihm sogar als notwendig dar: „Der Mensch kann nur zufrieden sein, wenn er auf das Ideal seiner selbst als absolut vollkommenes Wesen hin leben und es selbst tätig in unendlichem Streben verwirklichen kann. Er muss einen Gott in sich tragen.“⁶⁰ Diese Theo-Teleologie verquickt sich in Husserls Axiologie mit mathematischer Metaphorik: „Der absolute Limes, der über alle Endlichkeit hinausliegende Pol, auf den alles echt humane Streben gerichtet ist, ist die Gottesidee. Sie selbst ist das „echte und wahre Ich““⁶¹. Die „Gottesrealisation“⁶² ist daher das Ziel alles vernünftigen, authentischen Handelns. Die Vorstellung eines Gottes, den wir in uns tragen, der sogar unser eigentliches Ich ausmacht, erinnert unter anderem an das Bild des Meergottes Glaukos, das Sokrates im zehnten Buch der Politeia vorträgt. Hier erscheint der Mensch wie eine überwucherte Statue, deren eigentliche, göttliche Gestalt erst freigelegt werden muss. Auch diese Passage hat Husserl sich deutlich markiert.⁶³ Mit der Unterscheidung zwischen wahrem, innerem Menschen und dem bloß einheitlich erscheinenden, irdischen Konglomerat führt Platon im Grunde eine semantische Differenzierung des Begriffs „Mensch“ durch, nach der es einen mundanen und einen philosophischen Begriff des Menschen gibt. Diese Unterscheidung lässt sich verwenden, um Husserls Abneigung gegen die Anthropologie mit seinem Interesse am „Menschentum“ zu vereinen: Das Menschentum, um das es ihm zu tun ist, darf nicht als historische, biologische oder soziologische Bestimmung des Tieres homo sapiens sapiens verstanden werden; vielmehr ist es die Endgestalt der zu sich selbst kommenden, sich intersubjektiv realisierenden Vernunft. Die Bestimmungen dieses Telos sind rein philosophisch. Mithin soll „Menschentum“ bei Husserl keine anthropologische oder überhaupt mundane, sondern eine genuin transzendental-phänomenologische Vokabel sein.
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 29. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 175. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 33 f. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 168. BQ 370.
§ 7. Telos und Krisis
91
Für die Platonischen und generell die philosophischen Elemente seiner TheoTeleologie gilt sicherlich Husserls Warnung vor der Mode, „die hinter jedem philosophischen Busch (das) ‚selbstverständlich‘ sich versteckende säkularisierte Christentum hervorsucht“⁶⁴; die Phänomenologie ist paradoxerweise trotz aller Theo-Teleologie inhärent anti-theologisch oder atheistisch, insofern sie nicht – wie z. B. Descartes – methodologisch auf Gott angewiesen ist. Die Berufung auf Gott als dezidiert erkenntnistheoretischer Zug stört Husserl an den Cambridge Platonists daher in demselben Maße wie an Descartes. Die Erkenntnistheorie als die Wissenschaft von der Aufklärung der theoretischen Vernunft als Quelle aller theoretischer Geltung, und ebenso alle Vernunfttheorie überhaupt, bewegt sich in ihrer ganzen Entwicklung bis zur reinen Phänomenologie zwischen der Scylla des Theologismus, in die der Rationalismus immer wieder hineingerät, und der Charybdis des Anthropologismus und Biologismus, welcher der Abgrund ist, in den aller Empirismus verfällt⁶⁵
Daher gilt in der Phänomenologie „Tolerance then for religions, but intolerance for theologies.“⁶⁶ (Cairns) Aber, wie Husserl in einem Brief an Gustav Albrecht formuliert: „für mich ist schließlich die Philosophie mein a-religiöser Weg zur Religion, mein a-theistischer Weg zu Gott“⁶⁷. Tatsächlich ist für Husserl jede Philosophie ein a-religiöser Weg zu Gott, denn „autonome Philosophie, wie es die aristotelische war und wie sie eine ewige Forderung bleibt, kommt notwendig zu einer philosophischen Teleologie und Theologie – als inkonfessioneller Weg zu Gott.“⁶⁸ Trotzdem spielt natürlich auch das Christentum eine wesentliche Rolle in Husserls Theo-Teleologie. Während er bei Platon die Idee der Vergöttlichung des Menschen findet, so entnimmt er den Evangelien die umgekehrte Idee der Verkörperung des Ideals: Lese ich die Evangelien, so bewegen mich die Wunder gar nicht. Aber die Gestalt Christi, so unbestimmt legendarisch sie verbleibt […], wie sie sich in ihren ethischen Grundrichtungen bekundet durch mancherlei Aussprüche und Gleichnisse, weckt in mir ein Reich vollkommener Güte. Ich habe die Evidenz, dass so geartetes Tun […] ein rein gutes ist, dass so sein zu können Seligkeit wäre.
Ms. K III 28, S. 7, zitiert nach Vasquez, Intentionalität als Verantwortung, S. 203 FN 14. Hua XXXVI (Einleitung in die Ethik), S. 132. Cairns, Conversations, S. 52, 57. Dok. III/9, S. 124. (Brief an Albrecht vom 22.12.1935) Hua XLII (Grenzprobleme), S. 259.
92
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Christus kann Husserl sich entsprechend „nur denken selbst als Verkörperung der reinen Menschengüte: als idealen Menschen. Ich lese die Evangelien wie einen Roman, wie eine Legende, ich fühle mich ein, und ich werde mit unendlicher Liebe zu dieser überempirischen Gestalt, dieser Verkörperung einer reinen Idee erfüllt“⁶⁹ (Wobei die Verkörperung des Gottes zugleich der Verweltlichung des transzendentalen Ego entspricht.)⁷⁰ Das Telos jeden Ichs hatte sich oben ja bereits als das ideal-vernünftige Leben desselben Ichs herausgestellt; kein empirisches Ich, keine Person, die diese Tatsache begriffen hat, kann sich – so Husserl – der Personalisierung des Telos mehr entziehen: Die personale Auffassung ist unvermeidlich. Das ideale absolute Ich ist als Korrelat zum idealen absoluten System der Wahrheit (aller Formen) ein Identisches gegenüber allen empirischen Einzel-Ich, ein Seiendes, Gültiges, Absolutes, das sie in sich aufnehmen, das sich in ihnen offenbart als das ewige Über-Sein personaler Form, das sich in allen empirischen Ich „abschattet“, aber eigentlich nur, sofern sie schon freie Ich sind, die dem absoluten Sollen zuhören.⁷¹
Was für Husserl im Christentum zählt, ist nicht der Glaube an bestimmte Sachverhalte; für ihn bleibt die wissenschaftliche, d. h. die freie griechische Vernunft dominant in allen Fragen der Wahrheit. Entscheidend ist für Husserl, wie er sagt, das christliche „Tun“, an dem sich – als an einem inkorporierten Ideal – der Mensch ausrichten soll. Mit Nietzsche gesprochen: „die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist „Gott““⁷², diese Praktik aber ist eben „[n]icht ein Glauben, sondern ein Thun“⁷³ (Nietzsche). Ideal zu handeln, ist göttlich, göttlich aber ist absolute, (richtig verstanden) autonome Rationalität. So verschränkt sich in Husserls Theo-Teleologie das Platonische Motiv der Angleichung an Gott als nous mit der christlichen „Abschattung“ Christi in allen freien Ich, „die dem absoluten Sollen zuhören“. Dem absoluten Sollen hörig, d. h. vernünftig zu werden, ist wiederum gerade das Ziel der von Husserl in den Kaizo-Artikeln so vehement für jeden Einzelnen und die menschliche Kultur geforderte „Erneuerung“, d. h. die „Urstiftung oder Urzeugung, welche die methodische Selbstentwicklung gegen die absolute ethische Idee hin inszeniert“⁷⁴.
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 100 f. Cairns, Conversations, S. 25. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 177. Nietzsche, Antichrist, S. 206. Nietzsche, Antichrist, S. 211. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 43.
§ 7. Telos und Krisis
93
Telos des Menschen und damit auch Ziel der Erneuerung ist nach Husserl universale⁷⁵ oder totale⁷⁶ Selbstverantwortung, d. h. der ideale Mensch „ist bereit, jederzeit Rede und Antwort zu stehen vor sich selbst.“⁷⁷ Husserl formuliert dazu einen „kategorischen Imperativ“: „Sei ein wahrer Mensch; führe ein Leben, das du durchgängig einsichtig rechtfertigen kannst, ein Leben aus praktischer Vernunft.“⁷⁸ Die Erfordernisse der Erfüllung dieses Imperativs, ihre Implikationen und Konsequenzen spiegeln die oben herausgearbeiteten Momente der Platonischen Gottwerdung. Zunächst muss sich der Mensch sich selbst unterwerfen und seine Vernunft zur Geltung bringen (α). Die dadurch ermöglichten Einsichten erlauben wahrhaft vernünftiges Handeln (β) und freie Selbstverantwortung (γ); der Mensch ist dann im Zustand der Echtheit (δ). Wie gesehen ist auch für Husserl die ethische Aufgabe des Menschen keine exklusiv individualethische, sondern betrifft die Menschheit als Ganzes (ε). (α) Husserl geht von einer Trias der reflektiven Möglichkeiten des Menschen aus, nämlich „der Selbsterkenntnis, Selbstwertung und praktischen Selbstbestimmung (Selbstwollung und Selbstgestaltung).“⁷⁹ Die ersten beiden Fähigkeiten lassen sich als normatives Selbstbewusstsein im starken Sinne zusammenfassen, d. h. als Fähigkeit, über sich selbst und sein Leben in moralischen Kategorien bewusst nachzudenken.⁸⁰ Weder das Verständnis von Normen, noch die ethische Reflexion sind aber hinreichend für die Erfüllung des kategorischen Imperativs. Die Vernunft muss auch im Stande sein, das „Streben“⁸¹ oder Wollen des Menschen wirklich zu lenken, also sich selbst zu bestimmen und zu gestalten; Platonisch gesprochen muss das logistikon das thymoeides auf seine Seite ziehen. Der Mensch hat nach Husserl die Fähigkeit, sein passives Tun […] und die es passiv motivierenden Voraussetzungen (Neigungen, Meinungen) in ihrer Auswirkung zu „hemmen“, sie in Frage zu stellen, entsprechende Erwägungen zu vollziehen und erst aufgrund der resultierenden Erkenntnis der bestehenden Sachlage […] eine Willensentscheidung zu treffen. In ihr ist das Subjekt im prägnanten Sinne Willenssubjekt, es folgt nicht mehr „willenlos“ dem affektiven Zuge (der „Neigung“), sondern von sich aus, „frei“, trifft es seine Entscheidung⁸².
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 442. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 453. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 451. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 36. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 23. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 23. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 25. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 24.
94
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Ein derart freies Willenssubjekt hat sich erhoben über die Stufen der Passivität und die in ihnen herrschenden Trieb- und Instinktkräfte: „In der höheren Stufe, der der freien Spontaneität, ist das Subjekt […] nicht wie auf der niederen Stufe ein bloßer passiver Schauplatz miteinander ringender Motivkräfte. Es überschaut sein Leben, und als freies strebt es bewusst, und in verschiedenen möglichen Formen, sein Leben zu einem befriedigenden, einem „glückseligen“ zu gestalten.“⁸³ Das „praktische Apriori“⁸⁴ des wahrhaft ethischen Menschen umfasst „Selbstregierung“⁸⁵, ja „geistige Dressur“, d. h. „Selbstdressur“⁸⁶, denn ein wirklich ethisches Leben ist nur möglich, indem das eigene Wollen nicht nur normativ reflektiert, sondern auch bewusst allgemeinen Werten unterworfen wird; die Metapher der Dressur weckt Assoziationen an das Gleichnis vom Seelenwagen und tatsächlich hat Husserl den Phaidros offenbar sowohl in der Apelt- als auch in der Schleiermacher-Übersetzung gelesen. Die Möglichkeit der vernünftigen „Selbstregierung“ ist im Menschen (qua Menschen) angelegt,⁸⁷ denn „Vernunft ist das Spezifische des Menschen“⁸⁸ und der „Entwicklungsgang der Menschheit [muss] als Entwicklungsgang zur Vernunft aufgefasst werden“.⁸⁹ In Bezug auf diese Entwicklung der Vernunft spricht Husserl von einem zunächst latenten „Vernunfttrieb“⁹⁰, der patent wird oder von einer „Vernunftanlage“⁹¹, die sich realisiert. Der Prozess dieser Realisierung gehört dabei schon auf eigentümliche Weise zu seinem Ziel: „Der Mensch ist vernünftig – als auf Vernunft gerichtet und in Stufen der Vernünftigkeit“⁹². „Menschsein“ ist „Teleologischsein und Sein-sollen“.⁹³ Vernünftig sein zu wollen ist daher schon (ein Stück weit) vernünftig sein – und vice versa. Nach der vorgängigen Analyse muss klar sein, dass die „absolute Autonomie“⁹⁴, die Husserl als Wesen des echten Menschen ansetzt, genau so zu verstehen ist, wie die oben besprochene Platonische enkrateia, nämlich als Herrschaft der Vernunft im Sinne der Orientierung an gewissen Werten, nicht als Fähigkeit zu willkürlicher Setzung. Die Selbstregierung ist stets zugleich eine Unterwerfung
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 25. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 37. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 39. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 451. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 438. Hua VI (Krisis), S. 272. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 241. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 225; vgl. 243. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 443. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 227. Hua VI (Krisis), S. 275. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 437.
§ 7. Telos und Krisis
95
unter die von der Vernunft aufgewiesenen Normen. Husserl versteht den Platonischen „Begriff des Logos als autonomer Vernunft“ in diesem Sinne, wenn er in den Kaizo-Artikeln schreibt, dass es sich dabei um das Vermögen „„selbstlosen“ Urteilens, das als Urteilen aus reiner Einsicht ausschließlich auf die Stimmen der Sachen „selbst“ hört“ handelt.⁹⁵ Dazu passt, dass Husserl sich die folgende Passage im achten Buch der Politeia unterstrichen hat: „es ist der Vorteil jedes Menschen, unter der Herrschaft von etwas Göttlichem und Vernünftigen zu stehen.“⁹⁶ Das Göttliche, unter dem eine vernünftige Person steht, sind für Husserl wie für Platon die Ideen, die sein Tun normieren; im Christentum findet Husserl dann die Konkretisierung dieser Ideale in Gestalt der Person Christi. (β) Die Einsicht in absolute Normen ermöglicht erst vernünftiges Handeln: „Was soll ich tun? [Diese Frage] betrifft ein absolutes Sollen und hat nur einen Sinn, wenn ich eine Idee aufweisen kann als inhaltsreiche und schlechthin überempirische Norm dieses Sollens.“⁹⁷ Erst, wenn ich die „Idee echter Humanität“⁹⁸ in „vollkommener Klarheit und Bestimmtheit“⁹⁹ vor mir habe, kann ich mich an ihre Verwirklichung machen. Der Praxis muss also die Theorie – sozusagen die dialektische oder phänomenologische Praxis – vorausgehen. „Denn einsichtig handeln können wir nur, wo wir einsehend vorstellen und denken.“¹⁰⁰ Husserl teilt und übernimmt mithin einen weiteren Aspekt des Platonischen ‚Intellektualismus‘:¹⁰¹ Nur wer (eidetische) Einsicht hat, handelt richtig:¹⁰² „Dem echten Wissen folgt das Handeln.“¹⁰³ Die Phänomenologie soll praktisch die Funktion haben, dem Leben Halt oder „Sinn zu geben“: „Der autonome Mensch hat also in seinem Dasein durch autonome Vernunft Bodenständigkeit seines gesamten Daseins“¹⁰⁴. Husserl konzipiert „phenomenology as the attempt to make understandable that which presents itself as brute fact, by making evident its (rational) constitution. This in the end will give man a life he can honestly and fully accept in a world he can accept, in spite of brute facts like wars and death.“¹⁰⁵ (Cairns) Husserl und Platon sind sich darin einig, dass zwischen ethischen und theoretischen Einsichten kaum ein Hua XXVII (Aufsätze II), S. 83. BQ 370, S. 321; (entspricht Pol. 590D). Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 47. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 10. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 5. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 27. Ebbighausen, Genealogie der Krisis, S. 399. Vgl. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 14. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 87. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 229. Cairns, Conversations, S. 4
96
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Unterschied besteht, in beiden Sphären (wenn man diese Trennung einmal auf Platon projizieren darf) gibt es objektive Erkenntnis, beide Felder lassen sich absolut fundieren.¹⁰⁶ Nur so lässt sich verhindern, dass Wissenschaft wie Leben „bodenlos“¹⁰⁷ (Rang) bleiben. (γ) Die Bewusstseinsgestalt, in der der Mensch sich darüber klar ist, dass alles Handeln „nicht nur hinterher und wie zufällig rechtfertigt [werden kann], sondern, als durch einsichtige Vernunfterwägungen begründet, im Voraus die Gewähr seines Rechtes mit sich führt“ nennt Husserl „das ethische Gewissen“ oder „das Verantwortlichkeitsbewusstsein der Vernunft“¹⁰⁸. Erst die bewusste Entscheidung, Selbstverantwortung übernehmen zu wollen, macht ein ethisches Leben möglich:¹⁰⁹ „Ein wahrer Mensch sein ist ein wahrer Mensch sein wollen.“¹¹⁰ So führt etwa reine Selbsterhaltung nicht von alleine dazu, das wahre Telos des Menschen zu erstreben.¹¹¹ Die „Gesinnung höchster Selbstverantwortlichkeit“¹¹² hängt in ihrer Umsetzung wesentlich am vernünftigen Verständnis für Normen im Gegensatz zu bloßen Fakten, insofern – für Husserl – nur eine Norm, d. h. ein Sollen eine Handlung begründen kann.¹¹³ Findet eine solche vernünftige Verantwortung oder Begründung statt, ist der Mensch frei, da „er seine Freiheit erweist, sofern er in der Autonomie der Vernunft lebt“¹¹⁴. Freiheit ist für Husserl einerseits „das Vermögen“ und der erworbene „Habitus kritischer Stellungnahme zu dem, was sich […] als wahr, als wertvoll, als praktisch seinsollend bewusstseinsmäßig gibt“, andererseits die Einstellung „“auf Grund“ von Überlegung„¹¹⁵ zu handeln. Freiheit gehört, wie die Vernunft, mit der sie im Grunde identisch ist, immer schon zum philosophisch betrachteten Wesen des Menschen. (δ) Sofern wir das ethische Ideal als ein vernünftiges Selbstverhältnis verstehen, das der Mensch durch freie Entwicklung eigener Anlagen herstellen kann, wird auch nachvollziehbar, weshalb Husserl das Telos des Menschen als „Echtheit“¹¹⁶ ansprechen kann. Ein echtes Leben ist ein „Leben im absoluten Sollen, das durchaus von absoluten Gesolltheiten geregelt ist“, die ich in freien (d. h. nicht
Vgl. Nenon, „Martin Heidegger and Grounding of Ethics“, S. 187. Rang, „Die bodenlose Wissenschaft“, S. 88. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 32. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 456. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 46. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 174. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 87. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 59. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 241. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 63. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 394 ff.; vgl. S. 215, S. 234, S. 434 ff.
§ 7. Telos und Krisis
97
instinktiv-triebhaften) Entscheidungen übernommen habe.¹¹⁷ Es ist echt (authentisch), insofern mich in ihm nichts fremdes mehr bestimmt, sondern ich mich nur selbst bestimme – mit Blick auf die Ideale der Vernunft. Das telos des Menschen ist dann „in der absoluten Fassung das Ideal seines eigenen, vor sich selbst absolut gerechtfertigten, nur in absolut zu rechtfertigenden Akten lebenden Ich.“¹¹⁸ Ein echtes Leben ist mithin ein Leben, das sich völlig der eigenen Vernunft unterworfen hat; die „Idee des „echten und wahren Menschen““ koinzidiert mit der Idee des „Vernunftmenschen“¹¹⁹ – anders ist auch die für das ideale Leben geforderte Möglichkeit absoluter Rechtfertigung nicht zu denken, die nur durch die Vernunft zu leisten ist. Echtheit ist nicht losgelöst denkbar von gewissen Inhalten, die die Vernunft erfasst, es herrscht keine „content-neutrality“¹²⁰ (Drummond). Phänomenologische Authentizität ist vielmehr an Wahrhaftigkeit und Vernünftigkeit und damit Sach- bzw. Normorientiertheit gebunden. Diese Orientierung soll zugleich wahre personale Identität garantieren: Soweit ich vernünftig handle, will und denke, werde ich – als Vernünftiger – stets auch mit der Person, die ich früher war, übereinstimmen.¹²¹ Ich kann nicht Mensch sein, ich kann nicht Person sein, wenn ich jedem Reiz blind folge, wenn ich bloss instinktiv in gleichen Linien reagiere, wenn ich bloß Subjekt psychophysischer Dispositionen bin, die mich passiv in gleichen Reaktionstypen dirigieren. Ich kann Person nur sein, […] sofern ich bleibende „Überzeugungen“ habe, selbsterworbene, selbsttätig gewonnene Überzeugungen, durch tätige Stellungnahmen vom Ich her, bleibende Wertungen, bleibenden Willen, bleibend in dem Sinn, dass für mich selbst konstituiert ist dieses Identische.¹²²
Darin übernimmt Husserl die Platonische Konzeption der Auto-Homologie, die erst durch den Bezug auf die (ewig identischen) Ideen möglich wird. Philosophisch-phänomenologische Authentizität ist aber nicht nur Selbst-Erhaltung im Sinne der Selbst-Übereinstimmung, sondern zugleich Selbst-Realisierung: „I realize myself as a truthful and responsible agent. I come to have truthful convictions about things precisely because I have achieved self-responsible, justified jugdments about those things, and I am the subject of those convictions.“¹²³
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 434. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 35. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 33. Drummond, „Self-Responsibility“, S. 453. Vgl. Jacobs, „Personal Identity“, S. 355. Hua XIV (Intersubjektivität II), S. 196. Drummond, „Self-Responsibility“, S. 453.
98
Abschnitt B Philosophie als Ethik
(Drummond) Erst durch rationale Eigenverantwortung werde ich überhaupt erst zur Person: „The essence of the person is clarified by the telos of rational autonomy, or, to put it metaphorically, by the ideal of becoming God.“¹²⁴ (Welton) The authenticity of this kind of life is responsible self-realization, taking responsibility for one’s convictions and for disclosing the evidence that warrants those convictions. It is in this moment of self-responsibility, I believe, that we properly find the eudaimonistic character of a phenomenological axiology. It is the self-responsible life that is the flourishing life for rational agents.¹²⁵ (Drummond)
Wie für Platon fallen also auch für Husserl schließlich das vernünftige, echte, gute und glückselige („flourishing“) Leben in eins: „Wo das Telos erreicht ist, erweckt es ‚Seligkeit‘ der Subjekte“¹²⁶, denn Echtheit ist „Seligkeit im reinen Willen“¹²⁷. (ε) Obwohl er durchaus Formulierungen aus Horaz’ Ode III 3 zur constantia des Weisen adaptiert,¹²⁸ ist Vernunft für Husserl nie eine Privateangelegenheit im hellenistischen Sinn. Vielmehr dehnt er die Platonische Idee einer durchgängig vernünftigen Existenz, in der das logistikon herrscht, gemäß der „Platonischen Analogie zwischen Einzelmenschen und Gemeinschaft“¹²⁹ auf die Kultur aus: Durch solche Anschauungen zeichnet sich die Idee einer neuartigen Kultur vor; nämlich als einer Kultur, in der nicht nur unter anderen Kulturgestalten auch die der Wissenschaft erwächst und immer bewusster ihrem Telos „echter“ Wissenschaft zustrebt, sondern in der die Wissenschaft die Funktion des [grch.] hêgemonikon alles Gemeinschaftslebens und damit aller Kultur überhaupt zu übernehmen berufen und immer bewusster bestrebt ist – ähnlich wie in der Einzelseele der [grch.] nous gegenüber den anderen Seelenteilen.¹³⁰
Rationale Autonomie als Telos des Einzelnen überträgt sich damit für Husserl per analogiam auf die Organisation des menschlichen Zusammenlebens. Konsequenterweise transportiert Husserl auch die Forderung der Angleichung an Gott auf die Intersubjektivität. In dem Augenblick, in dem die Monadengemeinschaft dieses Platonische Ideal realisiert hat, realisiert sie sogar Gott selbst,wird Gott,wie Husserl etwa in einen Brief-Entwurf von 1909 an Carl Stumpf formuliert: Das wahrhafte Sein einer Welt ist nichts anderes als immanentes, intentionales Sein, aber intentionales Sein der ratio einer idealen abgeschlossenen rationalen Wissenschaft. […]
Welton, The Other Husserl, S. 323. Drummond, „Self-Responsibility“, S. 452. Hua XIV (Intersubjektivität II), S. 272. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 395. Siehe Luft, Asper, „Husserl, Horaz“. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 5; vgl. Hua XXI (Arithemtik),X, S. 231. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 15.
§ 8. Pharmakon
99
Dieses ist selbst ein ewiges (zeitloses) Produkt Gottes. Er ist das Subjekt der ewigen Vernunfttätigkeit. Und sofern er das ist, ist er absoluter Verstand. Der göttliche Verstand ist entfaltet in der Allheit rationaler Wissenschaften.¹³¹
Husserl fasst seine Teleologie also nicht ausschließlich als individualethische Lehre auf, sondern gibt ihr eine intersubjekitv-transzendentale Wendung, der gemäß Gott seine „Weltschöpfung in uns, in unserem transzendentalen, letztlich wahren Sein“¹³² vollzieht, wobei der teleologische Aspekt Gottes stets präsent bleibt: Die Welt zu konstituieren ist das ideale Ziel der Entfaltung der Wissenschaften; ihre (kollektive) Angleichung an Gott ist die wissenschaftliche Konstitution der Welt. (Diese Idee Gottes als „community of transcendental egos“ ist jedoch, so Cairns, für Husserl „„private opinion““ (Cairns), d. h. kein Teil der offiziellen phänomenologischen Lehre.¹³³)
§ 8. Pharmakon Nur die Philosophie ist imstande, das von ihr entdeckte telos zu aktualisieren.
a) Platon: Pädagogischer Optimismus Der Platonische Sokrates ist „Urbild des theoretischen Optimisten, der [im] Glauben an die Ergründlichkeit der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin beilegt.“¹³⁴ (Nietzsche) Platon fasst diesen optimistischen Intellektualismus in der Formel zusammen: Das „zielführendste (teleôtaton) und beste Medikament (pharmakon) ist Wissen (epistêmê)“¹³⁵. Wenn wir den oben entwickelten Maßstab für Wissen hier wieder ansetzen, wird klar, dass nur die Philosophie als Pharmako-logie fungieren kann; nur der Dialektiker hat also Zugang zu ethisch relevantem Wissen, weil nur er Zugang zu echtem Wissen überhaupt hat. In einer kurzen Gefechtspause mit den beiden Sophisten Euthydemos und Dionysodoros diskutieren Sokrates und Kleinias über das ergon, d. h. die Funktion verschiedener Tätigkeiten. Dabei führt Sokrates das Folgende aus:
Dok. III/1, S. 175. Dok. III/9, S. 84. (Brief an Albrecht vom 3.6.1932) Cairns, Conversations, S. 14. Nietzsche, Geburt, S. 100. Kritias 106B.
100
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Keine Art der Jagd aber geht doch auf etwas Weiteres als eben auf das Erjagen und Einfangen. Haben sie aber eingefangen, was sie jagten, so sind sie selbst nicht imstande, es zu gebrauchen, sondern die Jäger und Fischer übergeben es den Köchen, die Geometer aber und Rechner und Sternkundigen, nämlich auch diese sind Jagende (thêreutikoi), weil sie ja ihre Figuren und Zahlenreihen nicht machen (poiousi), sondern diese sind schon, und sie finden sie nur auf (anheuriskousin), wie [oder dass] sie sind (onta); wie also diese auch nicht selbst verstehen, sie zu gebrauchen, sondern nur zu jagen, so übergeben sie, so viele ihrer nicht ganz unverständig sind, ihre Ergebnisse den Dialektikern, um Gebrauch davon zu machen.¹³⁶
Aus dem Kontext wird klar, dass der „Gebrauch“, um den es hier geht, nicht bloß die erfolgreiche Anwendung der mathematischen Wissenschaften betrifft, sondern den existenziellen Sinn dieser Anwendung. In Abwesenheit des Wissens um diesen Sinn müsste selbst „eine Kunst, die uns unsterblich macht“¹³⁷, sinnlos bleiben. Die Wissenschaften können nicht selbst darüber entscheiden, wie ihre Ergebnisse sinnvoll, d. h. zum Nutzen (onêsis, ophelos)¹³⁸ und Frommen (eudaimonia, makaria)¹³⁹ der Menschheit zu behandeln sind. Dafür gibt es (mindestens) zwei Gründe. Erstens ist die ethisch fundamentale Erkenntnis die Selbsterkenntnis, denn „wenn wir uns selbst nicht erkennen, und nicht besonnen sind, wie könnten wir wohl wissen, was für uns gut und übel ist?“¹⁴⁰ Die Selbsterkenntnis umfasst in gewisser Weise alle anderen ethisch relevanten Einsichten: Kenne ich mein eigenes Wesen, so auch mein Telos; dann aber auch meine Tugend(en), d. h. die Normen, nach denen ich leben soll. Die Reflexionsleistungen, die das delphische Gebot der Selbsterkenntnis erfüllen können, liegen aber außerhalb der Reichweite aller nicht-philosophischen Wissenschaften. Zweitens fordert Platons Ethik – im Gegensatz zu Konzeptionen kontextsensitiver Phronesis, wie etwa Isokrates oder Aristoteles sie vortragen¹⁴¹ – prinzipielle, fundamentale Einsicht in das Wesen des Guten. Damit sind alle nichtphilosophischen Aktivitäten des logistikon als ethisch relevante Erkenntnisdisziplinen disqualifiziert, da, wie oben gesehen, nur die Philosophie zum Absoluten vorstößt. Die Realisierung des menschlichen telos ist gesellschaftliche Aufgabe des Philosophen, wobei Platon zwei Strategien vorstellt, eine sozusagen Sokratische und eine sozusagen Platonische. Die Sokratische Strategie ist in gewissem Sinne apolitisch und jedenfalls nicht institutionell, insofern sie vor allem in der indi-
Euthyd. 290BC. Euthyd. 289B. Euthyd. 288E; 289 A. Euthyd. 289Cff.; 290D. Alk. I 133C. Vgl. Jaeger, Paideia, S. 219.
§ 8. Pharmakon
101
viduellen Kritik oder Provokation besteht, die sich im besten Fall durch Mimesis – nicht durch Lehre – zu öffentlicher Diskussion auswächst: „Still und ruhig“ zu leben, hieße, dem „Gotte ungehorsam sein“¹⁴²; zwar spricht Sokrates hier explizit von Apoll, aber auch der namenlose Gott, der als Telos der Angleichung fungiert, d. h. die Vernunft, fordert das wache philosophische Agieren. Sokrates sagt als gottgesandter Stachel (myops) der Trägheit den Kampf an, der Philosoph ist der Sporn, der das edle, aber faule Pferd Athen wach hält, indem er Wissensansprüchen öffentlich eine kritische Prüfung angedeihen lässt.¹⁴³ Die genuin Platonische Strategie ist dagegen explizit politisch wie institutionell. Dem Programm der Politeia gemäß muss die Philosophie politischen Einfluss gewinnen, um dann Erziehung und Bildung (paideia) teleologisch umstellen zu können. Nichts anderes ist der Sinn des Philosophenkönigsatzes,¹⁴⁴ wie ja überhaupt die paideia das Hauptthema der Politeia (und mehr oder weniger unterschwellig auch fast aller übrigen Dialoge) ausmacht. Ein Philosophenkönig oder eine Philosophenkönigin hätten einerseits schon von philosophischer paideia profitiert, andererseits wären sie die Garanten der „Erhaltung des Geistes der wahren Erziehung“¹⁴⁵ (Jaeger). Auch außerhalb der Utopie von Kallipolis sieht Platon aber offenbar die Aufgabe der wahren Politiker darin, die Bürger unter ihrer Herrschaft besser (und das heißt letztlich vernünftiger) zu machen, etwa im Gorgias ¹⁴⁶. Den „prägnanten Ausdruck der platonischen Paideia“¹⁴⁷ (Jaeger) finden wir nun – erwartungsgemäß – in der Anähnlichung an Gott, wie wir sie oben ausgeführt haben. Das ganze pädagogische Programm der Politeia zielt darauf, in den Seelen der Kinder dem inneren Menschen zur Herrschaft zu verhelfen, sie also göttlich zu machen, so weit es die natürlichen Anlagen jedes Kindes eben zulassen. Dazu reformiert Platon die ganze überkommene Erziehung nach den Maßstäben der Philosophie: Musik, Sport und Mythologie werden dahingehend umgestaltet, dass die in ihnen Erzogenen den logos, wenn sie ihm schließlich begegnen, als etwas Bekanntes begrüßen.¹⁴⁸ Die höhere, eigentlich philosophische Erziehung zieht dann endgültig „das Auge der Seele aus dem barbarischen Morast, in dem es tatsächlich vergraben war, hervor und richtet es nach oben. Dabei nimmt sie als Mitarbeiterinnen und Mitleiterinnen die erwähnten Fächer [Arithmetik,
Apol. 37E. Apol. 30E. Pol. 473C. Jaeger, Paideia, S. 1. Gor. 517C. Jaeger, Paideia, S. 10. Pol. 402 A.
102
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Geometrie, Astronomie, Harmonik] zu Hilfe.“¹⁴⁹ Das Curriculum des Platonischen Idealstaats nimmt folglich die mathematischen Wissenschaften sehr ernst und man darf vermuten, dass auch in der Platonischen Akademie Geometrie und Astronomie in großem Ausmaß betrieben wurden. Der Grund dafür lässt sich unter anderem darin finden, dass die mathematischen Wissenschaften ihren Schülern Zugang zur Idealität gewähren und sie darin üben, strenge Beweise zu führen.¹⁵⁰ Wissenschaftliche Einsicht dient sozusagen dem inneren Menschen als Nahrung, sie lässt ihn wachsen und stark werden – was den inneren Menschen wiederum als göttlich ausweist, denn es ist gerade das Merkmal der Götter, sich von reiner Wissenschaft „zu ernähren“¹⁵¹. Höchster Lehrgegenstand (megiston mathêma) ist allerdings kein mathematisches Theorem, sondern das Gute selbst.¹⁵² Erst die Erkenntnis des Guten schließt die paideia des Philosophen wirklich ab und legitimiert seine Herrschaft. (Mai hat aufgewiesen, dass sich dieses Erziehungsziel wie auch der Erziehungsstil in den Nomoi ändert. Vernünftigkeit bleibt zwar Ziel, aber die Erziehung erhält eine symphonische oder liturgische Komponente, um die tatsächliche Affektivität und Spiritualität des Menschen besser einzubeziehen, als es die intellektualistische Pädagogik der Politeia vermochte.¹⁵³) Darin zeigt sich auch wieder Platons dezidierter Anti-Kontextualismus: Höchster Herrscher und damit auch erster Erzieher wird nicht, wer sich durch politischen Spürsinn und kontextsensitive Flexibilität auszeichnet, sondern wer das Absolute erkennt. Diese Erkenntnis ist wiederum die einzige für Platon akzeptable Grundlage aller Erziehung. In Bezug auf Pädagogik ist Platon zweifellos Fundamentalist.¹⁵⁴ Die Lehre von der Idee des Guten muss daher neben ihrer ontoepistemologischen Bedeutung sicherlich wesentlich auch als Kern einer wahrhaften „Metaphysik der Paideia“¹⁵⁵ (Jaeger) verstanden werden (diese prinzipielle Einheit von Ontologie, Epistemologie, Teleologie, Pädagogik, Politik und, so muss man ergänzen, Ästhetik macht offensichtlich einen wesentlichen Reiz des Platonismus aus). Der Effekt der metaphysisch fundierten Erziehung sollte jedenfalls ein Staat sein, in dem einerseits das Innenleben jedes Bürgers maximal vernünftig, gerecht und harmonisch ist, andererseits das Zusammenleben völlig unter den Gesetzen der Vernunft steht, so dass herrscht, wer herrschen soll und beherrscht
Pol. 533Cf. Vgl. Mittelstraß, „Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen“. Phaidr. 247D. Pol. 505 A. Mai, Platons Nachlass. Vgl. dazu Arnold, „(Selbst‐)Zumutung oder Neuansatz?“. Siehe Jaeger, Paideia, S. 143. Jaeger, Paideia, S. 11.
§ 8. Pharmakon
103
wird, wer beherrscht werden soll. Nur dann ist zugleich das Telos eines jeden Individuums wie auch eine philosophische Kultur realisiert.
b) Husserl: Funktionäre der Menschheit Wie Platon geht Husserl davon aus, dass die realen Einzelwissenschaften und ihre technischen Fortsätze letztlich nicht dasjenige Wissen liefern (können), das die Erfüllung des telos ermöglichen würde. Die technisch-instrumentellen Erfolge der Wissenschaften sind ethisch jedenfalls irrelevant, denn weder machen sie den Einzelnen frei oder selig, noch tragen sie zur Entstehung einer Vernunftkultur bei. „Sind wir seliger als unsere Vorfahren, da wir drahtlos telefonieren und sprechen können durch Tausende von Kilometern? Werden die Nachkommen seliger sein, wenn sie mit Mars- oder Siriusbewohnern sich werden unterhalten können? […] Steigern wir die menschlichen Kräfte zu Riesenkräften in infinitum […]: Macht das aber selig?“¹⁵⁶ „An die Einzelwissenschaften schließen sich technische Disziplinen vielfach , und in jeder möglichen Weise dienen sie der wissenschaftlichen und politischen Praxis. Aber eine wissenschaftliche Vernunftkultur, ein echtes Zeitalter der „Aufklärung“ durch reine Wissenschaft kommt nicht zustande.“¹⁵⁷ So formuliert Husserl in den Kaizo-Artikeln. Einige Jahre später verschäft sich die ethische Irrelevanz der realen Wissenschaft zur Krise: „In unserer Lebensnot – so hören wir – hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen.“¹⁵⁸ „Diese Wissenschaft“ ist hier zu verstehen als bloßes Konglomerat von Einzelwissenschaften, d. h. für Husserl als Verfallsform der echten Wissenschaft. Die bloß „technische Rationalität“ dieser Wissenschaften ist gerade „nicht diejenige Rationalität, zu der emporzuführen die Wissenschaft im Platonischen Geiste berufen war.“¹⁵⁹ Die Wissenschaft im Platonischen Geiste nämlich „soll uns frei machen, zunächst theoretisch frei und dann frei in unserem ganzen Wirken und Schaffen. Aber die sich spezialisierende und dabei technisierende Wissenschaft macht uns nicht einmal zu theoretisch Freien.“¹⁶⁰ Während bei Platon die Einzelwissenschaften einfach bloß unfähig dazu sind, ein wahrhaft vernünftiges (freies, selbstverantwortetes, authentisches) Leben zu ermöglichen, entwickeln sie sich für Husserl also geradezu zu einem Hindernis der Realisierung des menschlichen telos, obwohl sie ihrem ursprünglichen Sinn nach gerade das Gegenteil bewirken sollten.
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 112 f. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 117. Hua VI (Krisis), S. 4. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 249. Hua XXXII (Natur und Geist), 177– 8.
104
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Husserl sieht den Grund dieses Mangels in Tendenzen, die der erfolgreichen Entwicklung der Spezialwissenschaften inhärieren, nämlich den oben schon angesprochenen Bewegungen der Technisierung und Spezialisierung. Es ist klar, dass das Elend dieser Zeiten (entgegen allen überschwänglichen Erwartungen der Aufklärungsepoche im achtzehnten Jahrhundert) in eins mit dem Fortschritt der Wissenschaften sich ergeben hat, und sich ergeben hat, obschon dieser Fortschritt selbst die überschwänglichsten Erwartungen erfüllt hat, gerade eine Folge dieser Erfüllung aber die Erfüllung in Form technisierter Spezialwissenschaften ist.¹⁶¹
Husserl spricht dabei zwar nicht gerade von einer (soziologisch-dialektisch gedachten) „Selbstzerstörung der Aufklärung“ in einem „blindlings pragmatisierte [n] Denken“¹⁶² (Horkheimer/Adorno), wohl aber von einer inhärenten „Tragik“ der wissenschaftlichen Entwicklung, die ihrer eigenen Mechanisierung gerade dann erliegt, wenn sie Erfolg hat. Die sinnentleerte wissenschaftliche Rationalität zeigt sich somit in Husserls „radical reexamination of the Western concept of Reason“¹⁶³ (Marcuse) als „end“ im Doppelsinn, d. h. als Erfüllung und Zerstörung des Griechischen Ideals der Vernunft. Es bekundet sich in der modernen Fortentwicklung der wissenschaftlichen Kultur eine tiefe Tragik jenes platonischen Menschheitsideals, nämlich dass es in seiner rationalen Notwendigkeit anerkannt werden und uns außerdem die Entwicklung bestimmen musste, andererseits aber in seiner Auswirkung (wiederum nach immanenter Notwendigkeit) die Gestalt einer mechanisierten und mechanisierenden wissenschaftlichen Kultur annahm, die dem Ideal seine freie Geistigkeit weckende und fördernde Kraft raubte.¹⁶⁴
Die „Tragik“ der Wissenschaft besteht also darin, dass sie nur mittelbar fortschreiten kann, durch Spezialisierung der Methode, während ihrer wahrer Sinn durch eben diese Bewegung verloren geht bzw. immer stärker verdeckt wird. „So ist Technisierung und Spezialisierung notwendig und zugleich – wenn die Gegenbewegung auf Sinnklärung bis in die Totalhorizonte, also das philosophische Universum, hin fehlt – ein Verfall.“¹⁶⁵ Die Bewegung der Technisierung der Wissenschaften selbst ist begleitet von einem wachsenden praktischen Interesse an der Technisierung allen Lebens. Das Interesse an der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung schwindet, dafür wächst das „Interesse für ihre Nützlichkeit, für ihre Theorien als Instrumente der
Hua XXXII (Natur und Geist), S. 178. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 3. Vgl. Marcuse, „On Science and Phenomenology“, S. 279. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 209; ebs. Mat IV, S. 11. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 209.
§ 8. Pharmakon
105
technischen Erfindungen“; die naturwissenschaftlichen Theorien sind dementsprechend aus solch utilitaristisch-technischer Perspektive „bloße Maschinen höherer Stufe, geistige Maschinen für die Konstruktion von physischen und psychotechnischen Maschinen.“¹⁶⁶ Die Aufklärung im engeren Sinne ist für Husserl dabei eine konkrete Phase dieser tragischen Entwicklung unter anderen, in der vor allem „aus Natur und Freiheit eine unverständliche Antinomie“¹⁶⁷ wird. Husserls Platonische Teleologie hat sich oben bereits als Platonische Theologie entpuppt. Dementsprechend hat auch das Scheitern der Vernunft, das Versanden der Rationalität im Rationalismus oder die Selbstverkürzung der Vernunft im eminenten Sinne zur bloßen ratio,¹⁶⁸ für Husserl eine quasi-theologische Bedeutung – der diagnostizierte „Verfall“ ist nichts weniger als der Fall aller Fälle: „Die europäische Menschheit ist von ihrem eingeborenen Telos abgeirrt. Sie ist sündhafter Entartung verfallen, sofern sie sich dieses Telos schon bewusst geworden war (vom Baum der Erkenntnis genossen hatte), aber […] diesem [Lebens‐] Sinn untreu geworden ist.“¹⁶⁹ Nicht der Genuss der Frucht der Erkenntnis ist der Sündenfall, sondern dass der Mensch seine Diät danach wieder geändert hat. Wenn es wirklich die Aufgabe der Wissenschaft im ursprünglichen Sinne ist, uns frei zu machen, kann der Effekt ihres Scheiterns auf die europäische bzw. menschliche Kultur gar nicht überschätzt werden. An ihrem Versagen scheitert die Bewegung der Erneuerung aus wissenschaftlichem Sinn. Entsprechend düster fällt Husserls Verdikt über die zeitgenössische Kultur (hier von 1922/23) aus: „Die wissenschaftliche Vernunft ist nicht ihr Hegemonikon, die trägen Massen sind die Beute der sie nach egoistischen Interessen (individual- und nationalegoistischen) treibenden Führer.“¹⁷⁰ Mit der Anspielung auf die Platonische Psychologie gibt uns Husserl einen Hinweis auf eine weitere Ursache des Scheiterns der Platonischen Idee, die nicht in der Aktivität der Wissenschaften liegt, sondern vielmehr in der dumpfen Trägheit des noch nicht „erneuerten“ Menschen, denn „Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit“¹⁷¹. „Die Unvernunft, das blinde Dahinleben in der Unklarheit, die träge Passivität, die es unterlässt, sich klärend um das echte Wissen vom Guten und Schönen selbst zu bemühen, das ist es, was den Menschen unselig macht, was ihn törichten Zielen nachjagen lässt.“¹⁷² Noch deutlicher: „Die Trägheit ist das radikal
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 233. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 230. Vgl. Nenon, „Husserls antirationalistische Bestimmung der Vernunft“, S. 181. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 118. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 117. Hua VI (Krisis), S. 348. Vgl. Critchley, Dead Philosophers, S. 223. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 10.
106
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Böse im Menschen“¹⁷³. Und diese Trägheit schleicht sich sogar in die wissenschaftliche Betriebsamkeit selbst ein, denn es vollzieht sich der gefürchtete „Verfall in Passivität, in Unfreiheit einerseits als Schwäche, als Nachlassen der Anspannung freier Kraft, als Nachgeben den bloßen Trieben, andererseits als notwendiger Prozess der Technisierung der Vernunft, der inneren Umwandlung der Aktivität in sekundäre Passivität.“¹⁷⁴ Wenn aber Trägheit und Passivität dem Menschen sowie Technisierung und Spezialisierung der Wissenschaft wesentlich sind, sieht sich der Diagnostiker dann nicht an einen tiefschwarzen Vernunfts- und Wissenschafts-Pessimismus als einzig intellektuell ehrliche Position verwiesen? „Ist Wissenschaft als autonome Theorie und Wissenschaft als Norm praktischer Autonomie zu verwerfen, davon motiviert, dass sich ihr Segen schließlich auch als Unsegen, ja als Fluch ausgewirkt hat für das menschliche Dasein?“¹⁷⁵ Zumindest für Husserl ist dies kein gangbarer Weg. Nicht zufällig hat sich Husserl, der erklärte Feind der Trägheit, die Passage aus der Apologie deutlich markiert, in der Sokrates seine Funktion als myops verteidigt.¹⁷⁶ Trägheit, Technisierung und den damit verbundenen Sinnverlust kann nur die Wissenschaft im ursprünglichen Platonischen Sinn überwinden, d. h. für Husserl die Phänomenologie. „Nur der phänomenologische Idealismus gibt dem Ich und gibt der absoluten kommunikativen Subjektivität (die das Absolute der Menschheit ist) die wahre Autonomie und gibt ihm die Kraft und sinnvolle Möglichkeit der absoluten Selbstgestaltung“.¹⁷⁷ Die Entfaltung der wahren Philosophie ist für Husserl die Erfüllung des telos der Menschheit, wie wir es oben herausgearbeitet haben: „Das Erwachsen der Philosophie besagt Erwachsen einer absoluten, und zwar absoluten universalen Autonomie, als ein Sein und Leben, das sich in jeder Hinsicht absolut verantworten kann“¹⁷⁸. Und wenig später im selben Text: „Sie ist es, die dann eine Regeneration des Lebens in absoluter Echtheit und Ursprünglichkeit wieder möglich macht, aber auf einer höheren Stufe, in einem Radikalismus der Bewusstheit des idealen Endsinnes und der Progression darauf hin, die einen endgültigen Progressus für die gesamte Menschheit in ihrer Einheit möglich macht.“¹⁷⁹
Ms. F I 24, S. 81, zitiert nach Kuster, Wege der Verantwortung, S. 66. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 441. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 248. BQ 362. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 506. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 438. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 440.
§ 8. Pharmakon
107
Husserl scheint dabei vor allem die diagnostische Funktion der Phänomenologie für ethisch relevant zu halten, denn die transzendentale Phänomenologie schafft die Einsicht, dass es die transzendentale Naivität ist, welche die Schuld trägt an der unseligen historischen Entwicklung, und dass diese nur eine notwendige Folge der Autonomie war, solange die Naivität nicht durchbrochen werden konnte. In eins damit erwächst aber zugleich die Einsicht, dass „Niedergang“ oder vielmehr Bankrott der europäischen Kultur als Kultur aus griechischer autonomer Wissenschaft (universal gesprochen: aus „Philosophie“) eine teleologische Notwendigkeit war, im Ruf, über die Menschheit die echte Autonomie aus einer reformierten, einer absoluten Wissenschaft zu gewinnen, einer Wissenschaft, die alle Naivität überwindet, auf absolutem Boden steht und von vornherein Wissenschaft vom Absoluten ist¹⁸⁰.
Zwar nimmt Husserl die Frankfurter Diagnose vom Versagen einer bestimmten Form von Rationalität vorweg, aber gleichzeitig zeigt er einen erstaunlichen Vernunfts-Optimismus im Angesicht der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaften und der Menschheit im Ganzen.¹⁸¹ Die Krise, die Husserl erkennt, ist für ihn daher tatsächlich eine Chance zur Entscheidung (krisis), eben ein „Ruf“, dem die Philosophie in Form der Husserlschen Phänomenologie folgen muss, um die teleologische Entwicklung der Menschheit wieder auf die Bahn zu bringen. Diese Erneuerung muss ihren Ausgang bei der Klärung des der Menschheit eigenen Telos und der Überwindung ihrer Naivität nehmen; die Verfalls-Diagnose hat die „Notwendigkeit der Selbstbesinnung und Selbstkritik“¹⁸² überdeutlich gemacht. Die transzendentale Phänomenologie versteht sich als der notwendige Weg eines vollkommen durchsichtigen Selbst- und Weltverständnisses, somit als die selbst absolut durchsichtige, absolut „voraussetzunglose“, in letztlich apodiktischer Evidenz verlaufende Methode, eben dieses Verständnis systematisch und konkret für den Philosophen (als das sich absolut besinnende Subjekt) und für die philosophische Gemeinschaft (als die Subjektivität der absoluten Besinnung) zu verwirklichen in einem ins Unendliche fortgehenden Prozess.¹⁸³
Nur die „absolute Besinnung“ macht diejenigen Einsichten zugänglich, die – wie oben bereits thematisiert – ein vernünftiges, gutes, echtes und glückseliges Leben ermöglichen:
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 248; die Passage stammt aus einem Brief an Baudin, vgl. Briefe Dok III/7, S. 18. Derrida, „The Ends of Man“, S. 43. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 441. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 248.
108
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Nur wer philosophierend […] über sein Leben und die es bewegenden Zwecke nachdenkt, nur wer in dieser Einstellung die Einsicht gewinnt, was hierin wahrhaft schön und unschön, edel oder niedrig, gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht sei und so philosophierend die echten Normen der praktischen Vernunft erkennt, kann dann, von ihnen bewusst geleitet, sein Leben als ein praktisch vernünftiges wirklich ins Spiel setzen. […] Philosophie ist eine Funktion der vernünftigen Praxis, sie ist das ihr die wahren Ziele zur Erkenntnis bringende Organ. Dem echten Wissen folgt das Handeln.¹⁸⁴
Wie können wir uns überhaupt selbst bejahen, uns „selbst-verwirklichen“ wollen, wenn wir nicht wissen, was dieses Selbst ausmacht? „Die Erstrebung des wahren Selbst setzt […] die Kenntnis seiner Wahrheit voraus, d. h. das Wissen um seine Art, Struktur usw., wie sie in Wahrheit beschaffen ist.“¹⁸⁵ (Schuhmann) Aus genau diesem Grund ist auch ein Leben ohne Selbsterforschung für Sokrates nicht lebenswert¹⁸⁶ – so formuliert in einer Passage, die wiederum Husserl sich in seiner Ausgabe der Apologie unter- und angestrichen hat.¹⁸⁷ Vor der philosophischen Selbsterkenntnis kann auch jedwede „Selbsterhaltung“¹⁸⁸ von Individuen oder auch Staaten nicht mehr als bloß animalisches Am-Leben-Bleiben sein, da es kein echtes Selbst gibt, das erhalten werden könnte. Husserl sieht eine wesentliche Funktion der Ideenlehre bzw. der Eidetik darin, solche ethisch-philosophische Klärungsarbeit zu leisten: „Nur strenge Wissenschaft kann hier sichere Methode und feste Ergebnisse schaffen, nur sie kann also die theoretische Vorarbeit liefern, von der eine rationale Kulturreform abhängig ist.“¹⁸⁹ Denn „Echtes Menschentum fordert […] höchste Bewusstheit“¹⁹⁰ und die methodisch gesicherte „Wesensbetrachtung“ allein eröffnet den Weg zur Erneuerung.¹⁹¹ Daraus folgt auch das einsame (Platonische) Recht des Philosophen, das Sokrates Kriton gegenüber formuliert, nämlich „dass von den Ansichten, welche die Menschen vertreten, man einige sehr hoch achten müss[t]e, andere aber nicht.“¹⁹² Oder, in Husserls weniger subtiler Diktion: „Der eine Einzige, der ein-
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 87; vgl. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 314 Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 134. Apol. 38 A. BQ 362. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 187. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 5 f. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 216. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 12. Krit. 46D.
§ 8. Pharmakon
109
sichtig eine Idee des Richtigen erschaut und sich von ihr bestimmen lässt, hat Recht gegenüber einer ganzen Welt, die andere Wege wählt.“¹⁹³ Das unreflektierte Streben, das dem Menschen eigen ist, wird erst durch philosophische Reflexion und Information zu einem Vernunftstreben, d. h. einem „Streben, das in den entsprechenden Hinsichten „Wahre“ – wahres Sein, wahre Urteilsinhalte, wahre oder „echte“ Werte und Güter – in der einsichtigen Selbsterfassung herauszustellen, an dem die bloßen Meinungen das normierende Maß der Richtigkeit und Unrichtigkeit haben.“¹⁹⁴ Da erst diese theoretischen Leistungen die Realisierung des Telos ermöglichen (und natürlich gleichzeitig – als rationale Tätigkeit – schon aktualisierte autonome Rationalität sind) und die Realisierung des Telos selig macht, hängen Philosophie und seliges Leben auch für Husserl eng zusammen: Gelingende Praxis und wirkliche „Seligkeit“ – Husserl hat diesen in seinem Vokabular immer wieder vorkommenden Terminus augenscheinlich von Fichte übernommen – wirkliche „Seligkeit“ fußt auf Erkenntnis des Selbst, auf Selbsterkenntnis. […] Diese universale, auf endgültige Wahrheit hin ausgerichtete, diese schlechthin „wissenschaftliche Selbstbesinnung der transzendentalen Subjektivität“ (Hua XVII, 280) ist in Husserls Augen aber nichts anderes als eine transzendentale Phänomenologie. Sie allein vermag dem Aufruf des delphischen Orakels zur Selbsterkenntnis in vollem Umfang nachzukommen.¹⁹⁵ (Schuhmann)
Dass Husserl sich unter demselben delphischen Gebot wie Sokrates wirken sieht, macht er – unter anderem – im allerletzten Absatz der Cartesianischen Meditationen selbst deutlich. Die von Schuhmann festgestellte Nähe zu Fichte spielt uns im Übrigen direkt in die Hände, denn Husserl selbst sieht Fichte in mehrfacher Hinsicht als Platoniker – indem er sich mit ihm identifiziert, identifiziert er sich selbst als Platoniker: Man kann sagen, in Fichte feiert der herrliche, wenn auch ungereifte Typus der Platonischen Weltinterpretation seine Auferstehung. […] Fichte gleicht Platon auch darin, dass für ihn, der […] durchaus idealistischer Praktiker ist, die theoretische Weltinterpretation als Fundament gilt für eine praktische Menschheitserhöhung und -erlösung, für eine innere Umschaffung des Menschen durch Aufweisung der sich aus ihr ergebenden Menschheitsziele.¹⁹⁶
Die Erfüllung dieser Menschheitsziele und die sie bedingende „Umschaffung“ beruht auch für Husserl im Wesentlichen auf einer bestimmten Erziehung: „Die aus Normen der Freiheit geregelte vernünftige Erziehung wird […] zum Grundstück
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 48. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 26. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 135. Hua XXV (Aufsätze II), S. 278.
110
Abschnitt B Philosophie als Ethik
der Entwicklung“¹⁹⁷. Der Phänomenologe hat als Funktionär der Menschheit die Aufgabe, das menschliche Dasein mithilfe von „transzendentalpädagogischen Impulsen“¹⁹⁸ (Fink) „zu einem neuen Menschentum zu erziehen“¹⁹⁹. Dementsprechend formuliert Husserl vor allem in seiner Korrepondenz immer wieder den Wunsch, die existentielle Bedeutung der Phänomenologie den Jugendlichen zu vermitteln und so „die Jugend zu radikaler Redlichkeit des Denkens zu erziehen“²⁰⁰. In einem Brief an Masaryk aus dem Jahr 1922 etwa schreibt er noch recht zuversichtlich: Man kann die Jugend für sich gewinnen, wenn man ihr nur sichtlich macht, dass die echt wissenschaftliche Philosophie die Richtung hält nicht auf theoretische Specialitäten, sondern auf die letzten und höchsten Ziele alles theoretischen, aber auch practischen Menschheitsstrebens; vor allem aber: dass echte Philosophie durchherrscht ist vom Ethos radicaler, in jeder Hinsicht rücksichtsloser Wahrhaftigkeit, der jede Pose und Phrase zuwider ist.²⁰¹
Prominenter als die Pädagogik ist bei Husserl die Platonische Losung von der archontischen Rolle der Philosophie. Zwar propagiert Husserl kein Philosophenkönigtum, er will also keinen einzelnen Philosophen an der Macht sehen, aber die Philosophie selbst muss das kommende Zeitalter prägen, ihr Geist muss herrschen, sonst wird es, Platonisch gesprochen, „mit dem Elend kein Ende haben“. Dem Philosophenkönig entsprechen bei Husserl die Philosophen als „Funktionäre der Menschheit“²⁰², wie er es in den einleitenden Paragraphen der Krisis formuliert. Anders als Platon denkt Husserl die Philosophie zwar nicht aristokratisch,²⁰³ aber als Funktionäre der Menschheit sind die Philosophen, selbst, wenn sie in einer Gemeinschaft arbeiten, doch Einzelerscheinungen, die sozusagen den inneren Menschen in der Gesellschaft als Ganzes vertreten. Dieser Rolle entsprechen sie durch kritische Diskussion und theoretische Klärung aller teleologischen Fragen, vor allem nach dem Telos der menschlichen Kulturentwicklung, und der absoluten Fundierung der Ergebnisse, die wiederum die Aktivitäten der Politik und der Pädagogik fundieren sollen. Die Philosophen verwalten und verantworten außerdem „das Prinzip der Verantwortung selbst“²⁰⁴
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 442. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 110. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 216; vgl. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 207. Dok. III/7, S. 206 (Brief an Rudolf Otto). Dok. III/1, S. 115. Hua VI (Krisis), S. 15. Vgl. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 46. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 48.
§ 8. Pharmakon
111
(Kuster), d. h. sie sollen als Repräsentanten der Vernunft das Einschlafen des Spiels des Gebens und Forderns von Gründen verhindern. Obwohl bei Husserl die Philosophen also eine gewisse ‚archontische‘ Funktion haben, sind sie „ihm zufolge nicht zur Leitung eines Staats, sondern zur Unterweisung der Menschheit berufen. Als Archonten müssen sie nicht darauf bedacht sein, Könige zu werden.“²⁰⁵ (Schuhmann) Die Philosophie selbst hat eine „Menschheitsfunktion“²⁰⁶ und darf deshalb nicht zum bloßen Herrschaftsdiskurs mutieren: „Ebensosehr wie in der Funktion der Herrschaft steht die Phänomenologie […] in der Funktion der Dienerschaft und Verantwortung gegenüber der Allsozietät. Dies und nichts anderes meint Husserls oft missverstandenes Wort [von den Phänomenologen als Funktionären der Menschheit].“²⁰⁷ (Schuhmann) Dieser Rolle als Funktionäre der Menschheit können die Philosophen nie entkommen; selbst, wenn sie nicht als politische Akteure aktiv sind (wie Sokrates), hat ihre Praxis überpersönliche Bedeutung: „Die ganz persönliche Verantwortung für unser eigenes wahrhaftes Sein als Philosophen in unserer innerpersönlichen Berufenheit trägt zugleich in sich die Verantwortung für das wahre Sein der Menschheit, das nur als Sein auf ein Telos hin ist und, wenn überhaupt, zur Verwirklichung kommen kann durch Philosophie“²⁰⁸. Im Verlauf des philosophischen Bildungsganges kommt der Philosoph also zur Einsicht, als philosophierendes Ego Träger „der zu sich selbst kommenden absoluten Vernunft“²⁰⁹ zu sein. Es war wohl Masaryk, der Husserl die ethisch-archontische Aufgabe der Philosophie zuerst angezeigt hat.²¹⁰ In den Kaizo-Artikeln verwendet Husserl zwar noch nicht die Vokabel des Funktionärs, die Idee ist aber offensichtlich schon im Spiel und wird eingebettet in eine Überlegung darüber, welche soziale Gestalt die Philosophie annehmen soll: Die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass eine Vernunftgemeinschaft sich konstituiere, ist die, dass sich über philosophierende einzelne hinaus ein Stand der Philosophen und eine objektive Gütergestalt bzw. ein objektiv sich entwickelndes Kultursystem Philosophie herausstelle. Die Philosophen sind die berufenen Repräsentanten des Geistes der Vernunft, das geistige Organ, in dem die Gemeinschaft ursprünglich und fortwährend zum Bewusstsein ihrer wahren Bestimmung (ihres wahren Selbst) kommt²¹¹
Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 164 f. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 205. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 167. Hua VI (Krisis), S. 15. Hua VI (Krisis), S. 275. Schuhmann, „Husserl and Masaryk“, S. 152. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 54.
112
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Interessanterweise bemerkt Husserl, dass solche „Repräsentanten des Geistes“, wie Wissenschaftler überhaupt, tendenziell in einer „kommunistischen Willenseinheit“²¹² leben und wirken (wollen), da ihr Wille durch ihre theoretische Praxis schon auf Erkenntnis und Wahrheit hin orientiert ist, ohne weiterer Herrschaftsstrukturen zu bedürfen. Dem steht gegenüber die größere „imperiale Gemeinschaft“ eines Staates, „in der alle Willenssubjekte einer Willenszentralisation einbezogen sind, in der Form einer Machtorganisation des Herrschens und Dienens, in der jedermann ihm aufgetragene Funktionen zu erfüllen hat“²¹³. Diese Aufteilung erinnert wohl nicht zufällig an die unterschiedlichen Lebensweisen der drei Stände in der Platonischen Utopie, mit der eine Version philosophischer Kultur „im Himmel als Musterbild für den aufgestellt ist, der es sehen will“²¹⁴. Ist das bei Platon auch nur in Bezug auf die Idee einer griechischen Polis durchgedacht, so ist die universale Extension auf die Idee einer beliebig weit zu fassenden und schließlich die ganze irdische Menschheit überhaupt umfassende Gemeinschaft leicht zu vollziehen, soweit irgendeine Menschheit durch Gemeinschaftsbande geeinigt zu denken ist. Auch hier liegt, sehen wir dann, ein bedeutsamer Keim für eine Idee von oberster prinzipieller Dignität: Nämlich es ist damit der Idee einer neuen Menschheit und Menschheitskultur die Bahn eröffnet, einer Menschheit und Kultur aus philosophischer Vernunft. In höchster und letzter Ausgestaltung wäre es eine Menschheit, die sich voll bewusst und willentlich in der strengen Philosophie platonischen Sinnes das universale Vernunftorgan schaffte und mittels dieser Philosophie nun ein wahrhaft philosophisches Leben, ein Leben aus echter praktischer Vernunft auf die Bahn brächte.²¹⁵
§ 9. Kritik: Teleologie und Selbstverleugnung (α) Wie genau sich Husserl das „Leben aus praktischer Vernunft“ vorstellt und vor allem wie genau er es verwirklichen will, ist unklar. Anders als im Bereich der theoretischen Philosophie können wir schwerlich behaupten, dass Husserl über programmatische Ansätze in der Ethik (oder Politik oder Pädagogik) herausgekommen ist. In diesen Dingen beruft er sich zwar auf Platon, bleibt aber in der systematischen Ausführung weit hinter ihm zurück. Die operative Begrifflichkeit, deren Husserl sich hier bedient, bleibt oft merkwürdig unbestimmt und unreflektiert. Seine Rede vom „wahren Selbst“, das in der Liebesgemeinschaft realisiert wird, oder von der „ethischen Echtheit“ sind schmerzliche Paradebeispiele für eher
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 53, FN. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 57. Pol. 592B. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 54 f.
§ 9. Kritik: Teleologie und Selbstverleugnung
113
suggestive als kritisch geklärte Begriffe. Ja, selbst mit dem Leitbegriff der „Vernunft“ wird eher wie mit einem Passepartout hantiert.²¹⁶ (Schuhmann)
Ebenso ist es „bedauerlich, dass Husserl kein Instrumentarium entwickelt hat, das ihm die Umsetzung seines sozialen Ideals in den Testfall, in die Realität seiner Zeit erlaubt hätte.“²¹⁷ (Schuhmann) Einerseits erfüllt er damit das Klischee des tatenlosen Elfenbeinturmbewohners; andererseits blieben ihm – anders als seinem berühmtesten Schüler – dadurch peinliche Ausflüge nach Syrakus erspart. (β) Trotz dieser spärlicheren Ausbeute sind ähnliche Bedenken wie in Bezug auf Husserls Wissenschaftslehre auch für seine teleologische Ethik einschlägig. Während Theorien der Personalität, der Handlung und der Werte (und der „Wertnehmung“) oder auch die Proto-Ethik im Sinne Levinas’ in die theoretische Reichweite der Phänomenologie fallen, ist mindestens unklar, wie eine deskriptive Transzendentalphilosophie die Übernahme moralischer Werte fordern kann. Normative, materiale Wertethik ist kein Teil deskriptiver Phänomenologie.²¹⁸ Ähnliches gilt für die Teleologie. Auch sie kann kein Bereich der deskriptiven Phänomenologie sein, sondern nur Teil der „metaphysischen Tiefendimension“²¹⁹ (Schuhmann) von Husserls privater Philosophie, weil sie Gegenstände betrifft, die sich der phänomenologischen Beschreibung entziehen, nämlich vor allem die Gesamtheit menschlicher Geschichte. Es handelt sich bei Husserls normativen und teleologischen Überlegungen eher um (vage) Spekulationen, die „ihre eigene Art der Rechtfertigung und ihre spezifische Vorsicht der Anwendung“²²⁰ (Blumenberg) jenseits der phänomenologischen Arbeit haben mögen, aber nicht um genuin phänomenologische Ergebnisse. Zwar enthält die Phänomenologie Theorien zur Teleologie der Bewusstseinsakte (parallel zur Theorie ihrer Normativität),²²¹ jedoch betrifft diese nur die Tendenz auf optimale Selbstgebung der intendierten Gegenstände.²²² Husserl macht selbst sehr deutlich, „dass geistig-verstehende Aufklärung durch Motivation nicht teleologisch im gewöhnlichen Sinne sein muss: nach der Kategorie des zwecktätigen Machens.“²²³ „Eine teleologische Welterklärung will das Weltall […] verstehend erklären.“²²⁴
Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 186. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 177. Vgl. Cairns, Conversations, S. 50 f. Schuhmann, Husserls Staatsphilosophie, S. 201. Blumenberg, Lebenswelt, S. 192. Vgl. Crowell, Normativity. Vgl. Welton, The Other Husserl, S. 216. Mat. IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 202 FN 1.
114
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Aussagen über den notwendigen Gang der Geschichte überschreiten dagegen gänzlich die „Zuständigkeit der strengen phänomenologischen Deskription und Analyse“²²⁵ (Blumenberg).Wenn Husserl behauptet, er sei „als Phänomenologe so fest ist im Glauben an die absolute, alles Sein jeder Art, jedes Sinnes umspannende Teleologie“²²⁶, so spricht er also gegen seine eigenen deskriptiven Prinzipien, denn „als Phänomenologe“ dürfte er nur Aussagen über Konstitutionsleistungen der Subjektivität treffen, nicht über das ganze Sein oder die Geschichte – schon gar nicht solche, die auf „Glauben“ basieren. Geschichtsoptimismus oder -pessimismus sowie Annahmen über den wahren Menschen oder die optimale Gestalt der Kultur, also das Telos des Einzelnen und der Gemeinschaft, sind keine phänomenologischen Theoreme im engen Sinn. Eine genuin phänomenologische, gegenüber der Metaphysik ‚andere‘ Ethik versucht dagegen z. B. Werner Marx zu entwickeln. Diese Ethik ist jedoch gerade nicht normativ, sondern zeigt kontrafaktisch mögliche Wege zum Mitleid auf. (γ) Wie in Bezug auf die Wissenschaften auch, macht sich Husserl in Bezug auf die Ethik schlicht eines dogmatischen Essentialismus schuldig. Ohne Begründung nimmt er an, es gäbe ein einheitliches Telos für jeden Menschen und jede Kultur. Ohne Begründung nimmt er weiterhin an, es gäbe überhaupt eine Teleologie jenseits der animalisch-kontextuellen (und daher endlichen) Zwecksetzung; er akzeptiert eine allgemeine Teleologie der Geschichte einfach als „das große Wunder der Wirklichkeit“²²⁷, wobei die Entwicklung der Phänomenologie integraler Teil dieses Wunders sein soll – immerhin ist ihre Realisierung nicht nur das Telos der Menschheit, sondern auch die „Selbstentwicklung der Gottheit“²²⁸. (δ) Damit hängt auch zusammen, dass Husserl der Phänomenologie bzw. ihrer Abwesenheit eine absurde historische Signifikanz zuspricht, wenn er behauptet die transzendentale Phänomenologie schafft die Einsicht, dass es die transzendentale Naivität ist, welche die Schuld trägt an der unseligen historischen Entwicklung, und dass diese nur eine notwendige Folge der Autonomie war, solange die Naivität nicht durchbrochen werden konnte. In eins damit erwächst aber zugleich die Einsicht, dass „Niedergang“ oder vielmehr Bankrott der europäischen Kultur als Kultur aus griechischer autonomer Wissenschaft (universal gesprochen: aus „Philosophie“) eine teleologische Notwendigkeit war, im Ruf, über die Menschheit die echte Autonomie aus einer reformierten, einer absoluten
Mat. IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 204. Blumenberg, Lebenswelt, S. 192. Briefe Dok III/7, S. 14. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 163. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 177.
§ 9. Kritik: Teleologie und Selbstverleugnung
115
Wissenschaft zu gewinnen, einer Wissenschaft, die alle Naivität überwindet, auf absolutem Boden steht und von vornherein Wissenschaft vom Absoluten ist²²⁹
Husserl übersieht gänzlich, dass Geschichte nicht nur Geistesgeschichte ist, genau, wie er in Bezug auf die Wissenschaften übersieht, dass es nicht nur ein geistiges Apriori gibt, und infolge dessen davon ausgeht, dass alle Krisen der Wissenschaften auf einen Mangal an transzendentaler Phänomenologie beruhen. Er begründet auch an keiner Stelle, weshalb gerade ein Mangel einer Wissenschaft vom Absoluten verantwortlich sein soll für „unselige“ Zustände und nicht vielmehr bestimmte Formen der Ökonomie oder Politik. Es ist eine Wunschvorstellung, dass es eine Krise der Neuzeit infolge der Unzuverlässigkeit ihrer philosophischen Grundlagen gebe. Die Krise ist nicht die der Zugänge des Subjekts zu seinen Objekten; nichts hat sich glänzender bewährt als dieser. Die Krise steckt in der Unzugänglichkeit des Subjekts für sich selbst, in der überraschenden Wahrnehmung seiner Undurchsichtigkeit nicht nur und nicht primär für die anderen.²³⁰ (Blumenberg)
Ob etwa ein früherer Einsatz der transzendentalen Phänomenologie die umwälzenden Folgen der Industrialisierung abgemildert oder beide Weltkriege verhindert hätte, ist doch sehr fraglich und jedenfalls nicht phänomenologisch ausgewiesen. Ebensowenig erläutert Husserl, wie genau eine deskriptive Transzendentalphilosophie in Zukunft imstande sein soll, die „brennenden“ existentiellen Fragen nach „Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“²³¹ zu beantworten. Ganz abgesehen davon stellt er sich offenbar nie die Fragen, ob das menschliche Dasein überhaupt eine sinnfähige Ganzheit darstellt, ob es einen relevanten Unterschied zwischen einem postulierten Sinn des Lebens im Ganzen und Sinn innerhalb meines Lebensabschnitts gibt oder was „Sinn“ in diesem Kontext eigentlich bedeuten kann.²³² (ε) Diese Nachlässigkeiten sind umso ärgerlicher, als die Phänomenologie zwar keine fertigen Sinnangebote liefern kann, aber durchaus die Ressourcen bietet, Fragen nach Sinn und Bedeutung unserer Leben, sowie der Natur der Normen, die uns bedingen, philosophisch tiefgreifend und umfassend zu beantworten. Die phänomenologische Reduktion erlaubt es, gerade diejenigen Konstitutionsprozesse zu thematisieren, in denen sich Sinn in unserem Leben zeigen kann, besonders, wie wir Sinn und Bedeutung intersubjektiv konstituieren.
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 248; die Passage stammt aus einem Brief an Baudin, vgl. Briefe Dok III/7, S. 18. Blumenberg, Beschreibung, S. 895. Hua VI (Krisis), S. 4. Vgl. z. B. Metz, Meaning in Life.
116
Abschnitt B Philosophie als Ethik
Husserls Theorie der Lebenswelt weist uns dann den theoretischen Ort an, an dem wir nach Entstehen und Vergehen von (existentiellem) Sinn und Sinnlosigkeit suchen sollten, nämlich den habitualisierten Weisen, gemeinsam alltägliche wie außergewöhnliche Situationen zu meistern. Heidegger, Sartre, Camus, Levinas, Marx, Ricoeur, Bourdieu und andere haben alle zu diesem komplexen phänomenologischen Projekt beigetragen, zu dem auch Fragen nach dem Wesen der Person, der Existenz eines freien Willens, der Verantwortung und der Würde des Menschen gehören. Kombiniert mit dem phänomenologischen Anti-Reduktionismus ergeben die phänomenologischen Überlegungen einen existentiellen Pluralismus, dem gemäß Sinn und Sinnlosigkeit nicht ein für alle Mal feststehen, sondern sich dynamisch und stets gebunden an einen faktischen Horizont intersubjektiv konstituieren. Husserls manchmal nachgerade kruder Rationalismus entspricht nicht den Standards, die er der Phänomenologie als Disziplin sonst auferlegt. (ζ) Eben diese Disziplinarität ist aber ein wichtiges Merkmal der Phänomenologie neben Kritizität und Deskriptivität; sie ist eine „methodenzentrierte Disziplin“, in der Husserl „selbst nur ein Mitarbeiter, allerdings ein wichtiger Mitarbeiter“²³³ (Lohmar) ist, und die bestimmte überpersönliche Ziele zu erfüllen hat. Diese Ausrichtung an gewissen Zielen gibt der Phänomenologie einen spezifischen Charakter: „The task-oriented character of „pure phenomenology“ […] signals that it is not a finished philosophical system but a method of research and, above all, that a research agenda drives its methodology.“²³⁴ (Hopkins) Reine Phänomenologie ist also ein unendliches Forschungsprojekt – diese Bestimmung der Phänomenologe ist offensichtlich eng verknüpft mit dem kritischen Motiv, insofern letzteres kein Ende kennt. Zugleich verkompliziert die Unendlichkeit der Theorie die Aktualisierung des kritischen Motivs immens, da für Husserl jede Kritik an evidente Anschauung und sozusagen lebendige Reflexion gebunden ist, unendliche Anschauung jedoch nicht im Bereich unserer Kräfte liegt: „Die Unendlichkeit der Theorie als ‚Forschung‘ erfordert Übertragbarkeit, Methodisierung, Formalisierung, Technisierung.“²³⁵ (Blumenberg) Die (kritische) Forderung nach anschaulicher Evidenz und die postulierte Unendlichkeit der Forschung generieren eine empfindliche Antinomie.²³⁶ Ganz anders bei Platon: Zwar sieht der junge Sokrates im Parmenides die dialektischen Untersuchungen noch als „unmöglich zu bewerkstelligendes Un-
Lohmar, „Phänomenologische Methoden“, S. 195. Hopkins, The Philosophy of Husserl, S. 96. Blumenberg, Lebenswelt, S. 219. Blumenberg, Lebenswelt, S. 214.
§ 9. Kritik: Teleologie und Selbstverleugnung
117
terfangen (amêchanon […] pragmateian)“²³⁷ an, aber der alte Sokrates, der Fremde aus Elea, Parmenides oder Diotima dürfen ohne Frage als Weise gelten, die auf ihre Weise ihr Selbst erfolgreich be-sorgt haben. Das Ende der ethischen wie auch der allgemeinen philosophischen Bemühungen ist bei Platon also zumindest denkbar (solange man seine Philosophie nicht romantisch als unendliche Annäherung interpretiert), was sich deutlich an den verwendeten Bildern festmachen lässt: Sowohl die architektonische Metapher des Schlusssteins für die Rolle der Dialektik, als auch die Jagdmetapher, wie auch der Aufstieg aus der Höhle und der darauf folgende Abstieg – den Husserl größtenteils ignoriert – implizieren Endlichkeit (wenn auch nicht Sterblichkeit der Seele); der im Höhlengleichnis Entfesselte und zur Anschauung der Ideen Geführte absolviert diese höchste Aufgabe des Philosophen offenbar in einem endlichen Zeitraum, so dass er in die Höhle als Lehrender mit einem gesicherten Besitz an Erkenntnis zurückkehren kann. In die theoretische Welt der „unendlichen Aufgaben“ [Husserls] lässt sich dieser Abschluss des Gleichnisses kaum übertragen.²³⁸ (Blumenberg)
Damit sei nicht behauptet, Platon kenne keine unendliche Erkenntnis; die „Unendlichkeitsimplikation“ der Phänomenologie unterscheidet sich jedoch wesentlich von der Platonischen, insofern „der einzelne konkrete Mensch angesichts der unendlichen Aufgabe notwendig weder erfüllend noch erfüllt sein, sondern nur als Funktionär in einen ihn übergreifenden Zusammenhang eintreten kann.“²³⁹ (Blumenberg) Dies widerspricht jedoch den Ansprüchen einer normativen Ethik Platonischen Zuschnitts. Die Sorge um das Selbst (oder den Staat und die Kultur als Selbst im Großen), um die es in einer Platonischen Ethik schließlich gehen muss, würde nämlich innerhalb einer ‚wissenschaftlichen‘ Ethik, die wesentlich mit der Phänomenologie verschlungen ist, abgelöst durch eine für den Einzelnen nie erfüllbare und nie zu erfüllende Aufgabe. Der Phänomenologe ist „niemals und in keinem Falle Nutznießer der fortschreitenden Lösung seiner Aufgabe“²⁴⁰ (Blumenberg); er ist vielmehr ewiger Mitarbeiter. Die Selbstlosigkeit des Phänomenologen führt nicht, wie im Falle des Dialektikers zum wahren Selbst zurück, sondern „überfordert ihn, als diesen einzelnen, dieses Individuum, dieses Leben mit seinem Glücksverlangen, seiner abweichenden Erfüllungsintention. Er muss
Par. 136C. Blumenberg, Lebenswelt, S. 177. Blumenberg, Lebenswelt, S. 219. Blumenberg, Beschreibung, S. 120.
118
Abschnitt B Philosophie als Ethik
sich mit einem anderen Selbst identifizieren, das er doch nie ausfüllen, nie aneignen, nie sein kann.“²⁴¹ (Blumenberg) Diese konstitutive Selbstverleugnung ist zutiefst unplatonisch. Es wäre für Platon undenkbar, Philosophie nur als Funktionär oder Mitarbeiter zu betreiben. Die Sorge um die Seele ist Sorge um die Seele jedes Einzelnen, nicht um das unendliche – und unendlich verschiebbare – Großprojekt der Gottwerdung der Menschheit durch Wissenschaft. Jeder einzelne Mensch hat daher als Subjekt und Objekt der Sorge ein existenzielles Interesse am Gelingen der Be-Sorgung, das kein bloßes Mitarbeiten jemals befriedigen kann. (η) Damit sei natürlich weder behauptet, es könne keine phänomenologische Ethik im Sinne einer deskriptiven Theorie des Ethischen geben, denn das wäre evidentermaßen falsch; nicht nur entwickelt Husserl selbst verschiedene Ansätze zur Ethik,²⁴² Levinas erhebt Ethik sogar zur phänomenologischen Fundamentaldisziplin (ein Ansatz, der in der aktuellen Debatte um die Bedingungen der Möglichkeit von ‚intentional content‘ von Crowell stark gemacht wird).²⁴³ Noch sei behauptet, die deskriptive Phänomenologie habe keine entscheidenden Beiträge zu einer normativen, materialen Ethik geliefert – Max Scheler sei nur als ein Beispiel dafür erwähnt. Trotzdem müssen wir daran festhalten, dass die Platonische Sorge um das (eigene) Selbst und die Husserlsche Phänomenologie vom Typus der Tätigkeit (endlich/unendlich, persönlich/disziplinär) her betrachtet, diametral entgegengesetzt sind. Die doppelte Spannung zwischen Normativität und Endlichkeit einerseits, phänomenologischer Deskriptivität und Unendlichkeit andererseits lässt sich jedoch – anders als die vorher beschriebenen Probleme – teilweise lösen. Denn die Disziplin der Phänomenologie zwingt uns zwar nicht zur Übernahme von extradisziplinären Normen, ist auch keine Quelle von Normen und in diesem Sinne nicht normativ, aber sie verbietet natürlich auch nicht, neben ihr eine normative, endliche Theorie des guten Lebens und der Verwirklichung des wahren Selbsts zu entwickeln. Sie lässt normative Fragen einfach größtenteils offen, so dass nichtphänomenologische Motive neben ihr zum Austrag kommen können. Husserls Fehler besteht daher vor allem darin, seine Platonische Programmatik unbedingt als Moment der Phänomenologie als unendlicher, deskriptiv-kritischer Disziplin verstehen zu wollen; er will, dass die phänomenologischen Funktionäre die „normative Leitung“²⁴⁴ der Menschheitsentwicklung übernehmen. Stattdessen sollten wir zwischen der Phänomenologie im engen Sinn einer deskriptiven,
Blumenberg, Beschreibung, S. 191. Vgl. z. B. Melle, „From Reason to Love“. Vgl. Crowell, „Levinas in Phenomenological Context“. Husserl in einem Brief an Ingarden, siehe Hua VI (Krisis), Einleitung S. XIII.
§ 9. Kritik: Teleologie und Selbstverleugnung
119
transzendentalen Disziplin oder einem philosophischen Werkzeug und Husserls restlicher Philosophie unterscheiden, die auch seine Wissenschaftslehre, seine normative Ethik und seine Teleologie enthält und die sich in den voranstehenden Untersuchungen in den genannten Teilen als wesentlich Platonisch erwiesen hat. Dass auch die heutige Phänomenologie noch zum Kampf gegen die intellektuelle Passivität, Trägheit und Müdigkeit beitragen kann und soll, allerdings ohne den überzogenen Anspruch, der Menschheit ihr Telos vorzugeben, bleibt damit außer Zweifel.
Abschnitt C Philosophie als Polemik Im Verlauf der vorangegangenen beiden Abschnitte hat sich uns gezeigt, dass Husserl sowohl im Bereich der Wissenschaftslehre als auch im Bereich der Ethik und Kulturkritik explizit auf Platon zurückgreift; er findet in ihm die Basis seiner Kritik an den Zeitgenossen wie auch die Vorzeichnung seiner teleologischen Normen.¹ Beiden Denkern geht es dabei letztlich um onto-epistemologische wie auch sittliche Reflexion und die Möglichkeit der Selbstverantwortung als Fähigkeit und Disposition zur restlosen Ver-Antwortung, d. h. zum logon didonai in allen, besonders aber den letzten metaphysischen und ethischen Fragen: „Selbstbesinnung, Selbstverständigung, Selbstverantwortung“². In der Wissenschaftslehre findet dieser Rationalitätsbegriff Ausdruck in der Forderung lückenloser und aufs Absolute zielender Reflexion des Apriori aller Wissenschaften, in der Kulturkritik erweist sich rationale Autonomie als Wesen und Telos des Menschen und der Menschheit, das zu reflektieren und zu aktualisieren die Philosophen als Könige bzw. „Funktionäre der Menschheit“ berufen sind. Diese „Haltung letztverantwortlicher Rechenschaft“ kann man sicherlich als das „sokratische Motiv“³ (Held) in Husserls Denken bezeichnen. Obwohl wir die ‚theoretische‘ und die ‚praktische‘ Seite dieses Platonischen Programms in unterschiedlichen Abschnitten behandelt haben, darf nie der Eindruck entstehen, es seien hier zwei völlig voneinander getrennte Rationalitäten im Spiel: Für Husserl wie für Platon gibt es nur eine einzige Vernunft, die sich auf dieselbe Weise in allen Gebieten auswirkt. Die Autonomie der wachen Vernunft übergreift die Trennung von ‚Praxis‘ und ‚Theorie‘.⁴ Philosophie ist – reflexiv – zugleich auch immer „Kritik aller Vernunft in Wissenschaft und Leben“⁵. Auf gleiche Weise übergreift auch ihr Gegenteil die theoretisch-praktische Dichotomie: Eine träge Vernunft, die ihrer Bestimmung nicht nachkommt und einer stummen Technisierung nicht Einhalt gebietet, ist sowohl in der Wissenschaft wie in der Moral der wesentliche Verfallsfaktor. Es kann daher nicht überraschen, wenn wir in zentralen Werken beider Autoren, nämlich der Politeia und der Krisis, eine eigentümliche Einheit von Wissenschaftslehre und Kulturkritik finden. Wenn überhaupt, liegt das Gewicht letztlich auf der vernünftigen
Souche-Dague, „Le Platonisme de Husserl“, S. 353. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 4. Held, „Husserl und die Griechen“, S. 139. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 432. Mat. IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 209.
DOI 10.1515/9783110528053-005
Abschnitt C Philosophie als Polemik
121
Praxis. Denn zwar tituliert Husserl Platon als „wissenschaftstheoretischen Reformator“⁶, schreibt ihm aber doch einen Primat des Praktischen zu – korrespondierend zu seiner eigenen Entwicklung hin zur Konzeption des Philosophen als „Funktionär der Menschheit“: „Ich erinnere noch daran, dass für den Sokratiker Platon Philosophie im vollen und weiten Sinn nicht bloß Wissenschaft ist, und dass die Theorie oder theoretische Vernunft ihre Würde darin hat, praktische Vernunft allein möglich zu machen.“⁷ Am Programm der Philosophie als strenger Wissenschaft und Führerin der Menschheit hat Husserl übrigens bis zum Ende seines Lebens festgehalten. Der vielzitierte Satz aus einer Notiz vom Sommer 1935, der „Traum“ von Philosophie als strenger Wissenschaft sei „ausgeträumt“, ist keine Resignation, sondern eine ironisch-bittere Persiflage des Zeitgeistes.⁸ Husserl hat stets an die Möglichkeit der Rettung der europäischen Kultur durch eine Erneuerung des Platonischen Geistes geglaubt: Und es ist weiter klar, dass [die] Tragik der wissenschaftlichen Kultur nur überwunden werden kann in einem neuen und in neuem Sinne philosophischen Zeitalter, einem Zeitalter, das die platonische Idee wissenschaftlicher Vernunft nicht preisgibt, sondern rettet und sie rettet durch die mit der spezialwissenschaftlichen Arbeit Hand in Hand gehende philosophische Arbeit, die überall auf letzte Klärungen, auf eine beständige Verlebendigung und Vertiefung der Einsicht abzielt, überall auf die Urquellen der Erkenntnis zurückgeht, auf die letzten Sinngebungen.⁹
Husserl will durch philosophische Besinnung zu einem gewissen (onto-epistemologischen wie sittlichen) Fundament vorstoßen und darauf aufbauend operieren; Platonismus ist in diesem Sinn für Husserl vor allem philosophischer Radikalismus, der von der Möglichkeit (und Gebotenheit) getragen ist, Theorie und Praxis rational zu fundieren. Drei Parteien lassen sich identifizieren, die aufgrund dieser Doktrin für Husserl und Platon gleichermaßen Gegner abgeben: I. die unhinterfragte Tradition, die im Kampf um die Rechmäßigkeit der eigenen Ansprüche die Strategie der Unverantwortlichkeit gewählt hat, II. die Naturalisten, die den Bereich der Rechtfertigungsressourcen illegitim verkleinern und III. der sophistische Relativismus oder Skeptizismus, der jeweils die Möglichkeit einer objektiven Rechenschaftsabgabe überhaupt infragestellt. Alle drei Positionen werden von Platon und Husserl gleichermaßen kontrovers diskutiert; ihnen gegenüber wird Philo
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 9. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 314. Vgl. Marbach, „Einleitung“, S. XLIIff. Hua XXXII (Natur und Geist), 178.
122
Abschnitt C Philosophie als Polemik
sophie zur Polemik im eminenten Sinn, nämlich zur Kunst der Auseinandersetzung. Gegen die verstockt-stockende Tradition, die Einseitigkeiten der Reduktionismen und vor allem die Übel des Skeptizismus gibt es nach Husserl nämlich nur „ein Heilmittel: wissenschaftliche Kritik und dazu eine radikale, […] in sicheren Fundamenten gründende und nach strengster Methode fortschreitende Wissenschaft: die philosophische Wissenschaft, für die wir hier eintreten. Weltanschauungen können streiten, nur Wissenschaft kann entscheiden, und ihre Entscheidung trägt den Stempel Ewigkeit.“¹⁰
§ 10. Der Traditionalismus Die unhinterfragte Tradition ist insofern Gegner der Philosophie, als sie die Notwendigkeit der Rechenschaftsabgabe und ihre eigene Klärungsbedürftigkeit nicht anerkennt.
a) Platon: Reflexionskontamination Über die vielen heftigen Diskussionen mit unzähligen Sophisten und der fundamentalen Kritik an den philosophischen Vorgängern übersieht man leicht, dass sowohl die Sophisten als auch die Naturalisten wenigstens mit Sokrates diskutieren, sich also auf das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen durchaus einlassen. Der böseste Feind des Philosophen ist aber derjenige, der sich dem Leben des (wachen) Geistes grundsätzlich entzieht und dessen Gegnerschaft keine intellektuelle, sondern eine somatisch-politisch ist. Die Anhänger der Tradition radikalisieren sich infolge der philosophischen Provokation zu dogmatischen Traditionalisten und stellen jede intellektuelle Auseinandersetzung ein. Ihre Unreflektiertheit wird vom Faktum zum Dogma und die unhinterfragte Tradition zur niemals zu hinterfragenden Tradition. Das Motto der Traditionalisten müsste folglich das Inverse des Sokratischen sein: Nur ein durch Reflexion nicht kontaminiertes Leben ist lebenswert. Repräsentiert wird diese Haltung in den Dialogen durch Anytos, dessen Auftritt im Menon ein Paradigma der hasserfüllten Ungeistigkeit abgibt. Im Gespräch mit Menon hat sich wieder einmal die Frage ergeben, ob Tugend lehrbar sei; Anytos wird hinzugezogen und befragt, ob nicht die Sophisten Lehrer der Tugend seien, was er heftig verneint, obwohl er zugibt, weder je etwas von ihnen erlitten zu haben, noch irgendeinen von ihnen zu kennen.
Hua XXV (Aufsätze II), S. 57.
§ 10. Der Traditionalismus
123
Sokrates: Du bist also ganz und gar unbekannt mit den Männern? Anytos: Und ich wünsche es auch immer zu bleiben. Sokrates: Wie kannst du Wunderlicher von dieser Sache wissen, ob sie etwas Gutes an sich hat oder nur Schlechtes, wenn du ganz unbekannt damit bist? Anytos: Gar leicht. Diese kenne ich ja doch wohl, was für Menschen sie sind, mag ich auch selbst mit ihnen unbekannt sein oder nicht. Sokrates: Du bist eben ein Wahrsager, Anytos. Denn wie du sonst etwas über diese wissen kannst, nach dem, was du selbst sagst, begreife ich nicht.¹¹
Nach Anytos ist jeder „rechtschaffene Bürger“ besser dazu geeignet, jemandem Tugend zu lehren als die Sophisten.¹² Auf die Nachfrage, woher die Bürger ihre Tugend haben, reagiert Anytos bereits patriotisch-gereizt: „Auch sie denke ich, haben es von den Früheren gelernt, die auch gut und rechtschaffen waren. Oder meinst du nicht, dass es viele rechtschaffene Männer gegeben hat in dieser Stadt?“¹³ Sokrates beschwichtigt und korrigiert ihn, indem er darauf hinweist, dass dies nicht infrage gestellt wurde, sondern nur, ob sie auch gute Lehrer waren. Immerhin habe keiner der großen Politiker es geschafft, seine Söhne besonders gut zu machen, so dass, wenn selbst diese es nicht könnten, Tugend wohl nicht lehrbar sei. Anytos sieht sich zwar gezwungen, der Argumentation bis hierher zu folgen, ist aber trotzdem nicht imstande, ihren Sinngehalt zu verstehen und fühlt sich jetzt nicht nur in seinem patriotischen Stolz gekränkt, sondern offenbar geradezu persönlich beleidigt, was in der folgenden (ziemlich unverhohlenen) Morddrohung resultiert: „O Sokrates, du scheinst mir sehr leichthin schlecht von den Menschen zu reden. Ich möchte dir wohl raten,wenn du mir folgen willst, dich vorzusehen, denn auch anderwärts mag es leichter sein, jemandem etwas Böses anzutun als Gutes, hier in dieser Stadt ist es gar vorzüglich leicht. Und ich denke, dass du das auch selbst weiß.“¹⁴ Spricht’s und entschwindet. Anytos ist damit der Antiphilosoph schlechthin: Dumm, reizbar, uneinsichtig, allzu konkret entzieht er sich der Debatte, die er nicht versteht und droht Sokrates stattdessen mit dem Tod. Sein Vorwurf der üblen Nachrede zeigt, dass er weder die Diskussion verstanden, noch das Konzept der üblen Nachrede begriffen hat.¹⁵ Anytos’ Haltung ist präpositiv: Er setzt nicht selbstbewusst Werte und Wahrheiten, er verharrt in unreflektierter Tradition und geht seinen durch Hörensagen gestützten Ressentiments nach und beruft sich, wenn zur expliziten Stellungnahme gereizt, dogmatisch auf Vorgegebenes. Seine Negativität ist antidialektisch und unproduktiv, denn sie ist
Men. 92B. Men. 92D. Men. 93 A. Men. 94E. Men. 95 A.
124
Abschnitt C Philosophie als Polemik
gegen das dialegesthai überhaupt gerichtet, nicht gegen eine bestimmte Position im Spiel des Gebens und Nehmens der Gründe. Anytos ist sozusagen der mörderische große Bruder der thrakischen Magd. Weniger dramatische Zusammenstöße zwischen Tradition und Philosophie spielen sich in vielen Dialogen ab. So wird etwa die traditionelle Auffassung der Dichtung in verschiedener Hinsicht ad absurdum geführt. Der Ion zeigt auf karikierende Weise, dass Rhapsoden als Lehrer nicht mehr tragbar sind, weil sie über kein Fachwissen verfügen; im Hippias minor zeigt sich unter anderem, dass moralische Diskussionen sich inzwischen auf einem Niveau bewegen, dem die Dichter-Exegese kaum mehr gerecht wird; und natürlich bestreitet Platon in der Politeia der Dichtung ihre pädagogische Funktion aus onto-epistemologischen wie psychologischen Gründen. In diesem pädagogischen Zusammenhang findet sich auch die tiefgreifende Kritik an der bisherigen Mythologie und Theologie – der Ausdruck „Theologie“ wird hier von Platon erstmalig eingeführt. Die traditionelle Priesterlichkeit verliert im Euthyphron ihre Glaubwürdigkeit, als der Namensgeber des Dialogs, der gerade auf dem Weg ist, seinen eigenen Vater zu verklagen, nicht einmal angeben kann, was „fromm“ eigentlich heißt.Vor allem in den frühen und mittleren Dialogen betreffen Sokrates’ Fragen überhaupt traditionelle Werte (aretai), ihre Lehrbarkeit, ihre Beziehung untereinander und ihr Wesen. Die Aporien zeigen, wo die Tradition bzw. ihre Exponenten den Ansprüchen der Philosophie auf explizite Rechtfertigung (logon didonai) nicht mehr gerecht werden. Entscheidend ist in allen Fällen, dass die Tradition unter dem wachsamen Auge und fragenden Blick der Philosophie keine ausreichenden Gründe für ihre Ansprüche vorbringen kann und damit – gemäß der oben vorgestellten Standards – kein sicheres Fundament für ernst zu nehmende wissenschaftliche und ethische Praxis darstellt. Tradition kann sich höchstens in Weltanschauungen niederschlagen, aber diese sind, mit Platon gesprochen, nichts als doxa,¹⁶ so dass ihr „wissenschaftliches Manko im Verzicht auf den Radikalismus der Begründung gesehen werden [muss]“¹⁷ (Kuster). Dass Werte oder Urteile weitergegeben werden, hat keinen Einfluss auf ihre Geltung. Traditionalität ist wahrheitsneutral – und deshalb auch nicht begründungsrelevant. Obwohl Platon in den Dialogen viele Theoreme als alte Mythologeme einführen lässt, dient die sakrale Altehrwürdigkeit der überkommenen Weisheiten niemals als Begründung. Selbst die mythologisch vorgetragene Anamnesis-Lehre des Menon will Sokrates nicht wörtlich verteidigen; nur für den
Vgl. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 37. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 35.
§ 10. Der Traditionalismus
125
heuristischen Wert der Lehre will er an dieser Stelle wirklich einstehen.¹⁸ Erst durch die explizite und theoretische Verknüpfung von Ideenlehre und AnamnesisLehre im Phaidon wird die letztere philosophisch vertretbar. Ähnliches gilt für andere ‚althergebrachte‘ Weisheiten, wie z. B. die Schriftkritik im Phaidros, die zwar innerhalb eines Mythologems auftaucht, danach aber dialektisch diskutiert wird. Platon verwendet also noch Mythen und mythologische Metaphern, steht aber schon eindeutig auf der Seite des logos, denn dass Sokrates manche Mythen als wahr erscheinen, hat seinen Grund nicht in spontanen Regressen oder mythophilen Restbeständen der Sokratischen Psyche, sondern darin, dass Sokrates den Wahrheitsgehalt der Mythen dialektisch gehoben und geprüft hat. Der vermeintliche Respekt vor der Ursprünglichkeit der Mythen beruht darauf, dass sie sich als dialektisch gehaltvoll gezeigt haben. Die dialektisch grundierte Verwendung der Mythen ist also einerseits der Anerkennung ihres dialektisch sicherbaren Gehalts geschuldet, andererseits ist der häufige Einsatz von Mythen vielleicht auch als Versuch der Anknüpfung an den Denk-Horizont seines erweiterten Publikums zu verstehen. Platon verwendet mithin Mythen, jedoch ohne zu mythologisieren. Die Kritik am Traditionalismus besteht letztlich in der Diagnose eines Kategorienfehlers: Wer glaubt, Traditionalität wäre begründungsrelevant, verwechselt schlicht – schon mit Husserl gesprochen – Genesis und Geltung. Traditionelle Werte sind mithin nicht per se abzulehnen, der Philosoph muss sie sich allerdings denkend aneignen und darf sie nicht unhinterfragt übernehmen. Nicht-aporetische Dialoge oder Dialogstrecken stellen dann eine solche philosophische Aneignung dar. Sokrates’ eigenes Leben ist eines der philosophischen Aufhebung der Tradition. Er lebt gemäß der Sitten und Gesetze Athens, erfüllt seine Pflichten vorbildlich und zeichnet sich durch Tapferkeit in der Schlacht von Poteidaia aus; er stirbt sogar lieber, als die Gesetze zu verletzen, wie er seinem Freund Kriton im eponymen Dialog erläuert. Trotzdem bemüht er sich um kritische Selbstverantwortung, philosophische Durchdringung der Sitten und Werte, die ihn umgeben und denen gemäß er lebt. Sokrates entzieht sich dem überkommenen Leben durch sein Theoretisieren nicht, er ist kein Kyniker, vielmehr wünscht er die ordnungsstiftende Funktion von Tradition im philosophischen Register weiterzuführen, denn, wie Husserl sagt, „Theorie, das Wissen als echtes Wissen, hat auch für Sokrates die Funktion, Wissen einer wahren Praxis und ihrer Normen zu schaffen und nur dies.“¹⁹ In diesem Sinne ist Sokrates für Husserl „ethisch-
Men. 86B. Husserl, „Sokrates-Buddha“, S. 5.
126
Abschnitt C Philosophie als Polemik
praktischer Reformator“²⁰ und gerade kein fanatischer Revolutionär, der die Tradition einfach verwirft. Er ist ihr wichtigster philosophischer Kritiker – aber Kritik bedeutet eben nicht einfach Ablehnung. Die Begründungsirrelevanz der Traditionalität impliziert keine globale Irrelevanz, vor allem in Hinblick auf die pädagogische und die juristische Praxis gilt vielmehr das genaue Gegenteil. Zwar muss der Philosophenkönig seinen Staat autonom und nur nach Maßgabe der Idee des Guten optimieren, indem er das Erziehungs- und Bildungswesen dem wahren Wesen des Menschen gemäß umorganisiert und neue Gesetze aufstellt, aber ohne eine gesicherte Tradition dieser Einrichtungen wird die philosophische Kultur kaum gedeihen können. Vor allem in den Gesetzen lässt Platon seinen Athener viel Wert auf die Unveränderlichkeit seiner Anordnungen legen, Platon schließt also den uns wohlbekannten Reigen von Bildungsreformen aller Arten kategorisch aus – höchstens aus schwerwiegenden philosophischen Gründen dürften solche Änderungen am Bildungssystem initiiert werden.
b) Husserl: Vorurteil und Rechtfertigung Husserl sieht die Kritik an der Tradition als ein Initialmoment aller Philosophie. Im Vortrag mit dem Titel „Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie“, gehalten am 7. und 10. Mai 1935 im Wiener Kulturbund, beschreibt Husserl das Novum der heraufziehenden Philosophie bei den Griechen, wie sie in „vereinzelten Persönlichkeiten wie Thales“²¹ zur Geltung kommt, folgendermaßen: „[Es] ist das Wesentliche der theoretischen Einstellung des philosophischen Menschen die eigentümliche Universalität der kritischen Haltung, die entschlossen ist, keine vorgegebene Meinung, keine Tradition fraglos hinzunehmen, um sogleich für das ganze traditionell vorgegebene Universum nach dem an sich Wahren, einer Idealität zu fragen.“²² Diese griechisch-kritische Urstiftung schreibt sich im Verlauf der europäischen Geschichte immer wieder fort. So fragt sich Husserl in den einleitenden Überlegungen zur Krisis, warum wohl die Renaissance (in ihrer eigenen Abwendung von der unmittelbaren Tradition) sich gerade an der Antike orientiert – und findet als Antwort wiederum den griechischen Geist der universalen Kritik an allem Vorgegebenen:
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 298. Hua VI (Krisis), S. 332. Hua VI (Krisis), S. 333.
§ 10. Der Traditionalismus
127
Was erfasst [das europäische Menschentum] als das Wesentliche des antiken Menschen? Nach einigem Schwanken nichts anderes als die „philosophische“ Daseinsform: das frei sich selbst, seinem ganzen Leben, seine Regel aus reiner Vernunft, aus der Philosophie Geben. Theoretische Philosophie ist das Erste. Eine überlegene Weltbetrachtung, frei von den Bindungen des Mythos und der Tradition überhaupt, soll ins Werk gesetzt werden, eine universale Welt- und Menschenerkenntnis in absoluter Vorurteilslosigkeit.²³
Da Husserl, wie oben bereits angeführt, davon ausgeht, dass es die Griechen waren, die die Philosophie urgestiftet haben, ist diese Charakterisierung zugleich historisch und über-historisch, insofern in dieser scheinbar bloß historischen Beschreibung der griechischen Geisteslage eben der ursprüngliche Sinn von Philosophie überhaupt liegt. Dementsprechend kommen die Anforderungen, die Husserl in der ausgearbeiteten Krisis-Schrift an den aktuellen Philosophen stellt, mit dem (idealisierten) griechischen Geist überein. „Selbstdenker sein, autonomer Philosoph im Willen zur Befreiung von allen Vorurteilen, fordert von ihm die Einsicht, dass alle seine Selbstverständlichkeiten Vorurteile sind, dass alle Vorurteile Unklarheiten aus einer traditionalen Sedimentierung sind“²⁴ Der Philosoph kann also nicht weiter in traditionalen Geltungszusammenhängen leben: „Ich, der ich bin als persönliches Ich, als Ich von Stellungnahmen (Stellunghaben), als Ich, das Stellung hat aus eigener (und intersubjektiver) Tradition, enthebe mich aller Tradition.“²⁵ Fink bestimmt Phänomenologie geradezu als „Aufstand gegen die Geschichte“ und als „Wille zur Traditionslosigkeit“²⁶, wobei Tradition hier „nicht nur die Seins-Auslegung der vergangenen Philosophie, sondern auch die fast unfassbare Fülle von Wissens-Auflagen, die in unseren Alltag und in die alltäglichste Verrichtung und Beschäftigung mit den Dingen eingegangen ist.“²⁷ (Eine besonders „stille und gefährliche Weise der Tradition“ ist übrigens die Sprache selbst, gegen die sich die Phänomenologie durch eine „sozusagen ständig in Fluß gehaltene, den Differenzierungen des Seienden sich gleichsam anschmiegende Art der Prädikation [wehrt], die so die in der Sprache liegenden Verfestigungen auflockert. Das allein ist Sinn der vielberedeten Methode der Description.“²⁸) (Funk) Das grundlegende Erlebnis, das die erste Form der Urteilsenthaltung (Epochê) erfordert, indem es die Selbstverständlichkeiten der Tradition als Selbstverständlichkeiten sichtbar und damit problematisch werden lässt, ist nach Husserl
Hua VI (Krisis), S. 5. Hua VI (Krisis), S. 73. Mat VIII (C-Manuskripte), S. 225. Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 33. Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 33. Fink, „Die Idee der Transcendentalphilosophie“, S. 34.
128
Abschnitt C Philosophie als Polemik
die Entdeckung der „Geltungsrelativität der Welt“²⁹. Diese – von den Sophisten besonders gerne in Anspruch genommene – Geltungsrelativität fordert den Philosophen zur radikalen Prüfung aller Geltungen, prominenterweise auch der des Mythos. Auf diese Weise vollzog sich im Philosophen, im Zuge der universalen theoretischen Erkenntnishaltung, eine radikale Entmythisierung der Welt, eine Stellungnahme gegen alle traditionalen Geltungen, soweit sie sich nicht theoretisch rechtfertigen ließen. Es entsprang die Scheidung zwischen [grch] doxa und [grch.] episteme, die erstere das Feld der traditionalen Erkenntniswahrheiten, axiotischen [sic] und praktischen Wahrheiten, die letztere das Reich der theoretischen Welterkenntnis als der Erkenntnis der an sich seienden Welt.³⁰
Im Gegensatz zu den Philosophen reicht doxa dem Rest der Bevölkerung in Fragen des praktischen Lebens völlig aus, er will die überkommenen Werte nicht klärend fundieren oder durch evident geschöpfte ersetzen. „Bei der Trägheit der menschlichen Natur genügt dem Menschen im weitesten Umfang ein symbolisches, sei es völlig leeres, sei es nur in geringem Maß anschauliches […] Nachverstehen.“³¹ Das leere Nachverstehen mündet in unbewusster Fremdbestimmtheit, da kein eigenes Urteil bewusst gefällt, sondern eben nur noch nachverstanden wird; es findet nurmehr ein leerer (wenn auch vielleicht sogar begeisterter) Mitvollzug von Vorurteilen statt. Werden die Vertreter dieser Haltung herausgefordert, reagieren sie mit Gewalt. „Es geht durch die ganze „europäische“ Geschichte von ihrem Anfangen an dieser Kampf zwischen der erwachten Vernunft und den Mächten der historischen Wirklichkeit.“³² Denn die Philosophie wird ihre Ziele nur in einer Weise erreichen können, nämlich wenn wir mit dem Radikalismus, der zum Wesen echter philosophischer Wissenschaft gehört, nichts Vorgegebenes hinnehmen, nichts Überliefertes als Anhang gelten lassen und uns durch keinen noch so großen Namen blenden lassen, vielmehr in freier Hingabe an die Probleme selbst und die von ihnen ausgehenden Forderungen die Anfänge zu gewinnen suchen.³³
In praktischer Hinsicht bedeutet dies einen Willen zur radikalen Umgestaltung der bestehenden Lebenswelt, ja ihrer ständigen Vernichtung, insofern die Lebenswelt der Inbegriff der unhinterfragten, prämodalen, traditionalen Selbstverständlich-
Hua XXVII (Aufsätze II), S. 188. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 189. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 110. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 106. Hua XXV (Aufsätze II), S. 60.
§ 10. Der Traditionalismus
129
keiten, d. h. der „Zustand vor aller Theorie“³⁴ (Blumenberg) ist: „Die historische Welt ist die Welt der Vergangenheiten und die Welt der Gegenwart, soweit sie als Tradition die Niederschläge der Vergangenheit in sich birgt. Ein neues Leben, eine neue Menschheit fordern eine Umgestaltung dieser lebendigen Gegenwart“.³⁵ (Damit ist freilich nur ein bestimmter Sinn des Terminus „Lebenswelt“ thematisch. Statt Lebenswelt und Philosophie einander entgegenzusetzen, ist es auch durchaus möglich, ein Konzept der Lebenswelt aus Husserls Werken zu gewinnen, das eine philosophische oder phänomenologische Lebenswelt denkbar macht; diesem – nicht primär epistemologischen oder kritischen – Konzept gemäß wäre die Lebenswelt vor allem der Horizont unserer Lebensvollzüge, die natürlich nicht ausschließlich in der Naivität der natürlichen Einstellung geschehen müssen.)³⁶ Die Radikalität der Phänomenologie selbst, kombiniert mit dem Selbstverständnis ihrer Stellung in der teleologischen Entwicklung des Menschen in Richtung Rationalität, erzwingt den Antagonismus zwischen Tradition (doxa) und Philosophie (epistêmê), denn diese „kann nicht anders, als in offener Entschiedenheit ihre Wege von aller Vergangenheit abscheiden, sie kann nicht und darf nicht paktieren, sie muss Feindschaft herausfordern“³⁷; diese Feindschaft kann – der Natur der Gegner gemäß – nicht intellektuell sein: „Die in der Tradition konservativ Befriedigten und der philosophische Menschenkreis werden einander bekämpfen, und sicherlich wird der Kampf sich in der politischen Machtsphäre abspielen“³⁸. Der Zustand der prämodalen Selbstverständlichkeit weiß sich also gegenüber ihrem „Widersacher“, nämlich der Philosophie und der Wissenschaften, in Akten der „Verteidigung“ und „Selbstreparatur“³⁹ (Blumenberg) zu verteidigen. Im Falle des Sokrates haben die traditionalistischen Gegner mit einem Justizmord geantwortet – und noch Husserls Mitarbeiterin Edith Stein wurde als Andersdenkende (oder einfach Denkende) ermordet, ebenso wie Husserls Schüler und Kopf der Charta 77, Jan Patočka, der 1977 im hohen Alter ein Opfer der Polizeigewalt wurde; er erlitt im Zuge von wiederholten Verhören einen Schlaganfall. Unterhalb der fatalen Folgen dieser Auseinandersetzung hallt stets das Echo der Thrakischen Magd durch die Geschichte,⁴⁰ deren Gelächter indes auch nur eine weitere Verteidigungsstrategie der Selbstverständlichkeit darstellt.
Blumenberg, Lebenswelt, S. 78; vgl. S. 80. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 107. Ich danke Hans Rainer Sepp für den Hinweis auf die Bedeutung der Vieldeutigkeit des Lebenswelt-Begriffs in diesem Kontext. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 327. Hua VI (Krisis), S. 335. Blumenberg, Lebenswelt, S. 27. Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin.
130
Abschnitt C Philosophie als Polemik
Die offenbare Ungeschicklichkeit der Philosophierenden, die sich nicht mehr auf die Wichtigkeiten des betriebsamen Lebens verstehen und den Spott der thrakischen Mägde erregen, ist nur der Widerschein der Wandlung, die sich vollzieht, wenn der Mensch seine Benommenheit vom Seienden loslässt in der verwunderten Frage, was diese eigentlich sei. Die Verlorenheit an die Dinge ist zugleich die tiefe Vergessenheit, in der das Selbstverständliche da ist und uns in seinem Bann hält. Diese Vergessenheit, dieser Schlaf der Welt, bricht in der Verwunderung, im Erwachen der Philosophie.⁴¹ (Fink)
Eine spezielle Ausprägung des Traditionalismus findet Husserl in den geschichtlichen Gestalten der Religion, gegen die die „griechische Geistesart“ in seinen Augen grundsätzlich gerichtet ist: „Philosophie ist die Idee strenger Wissenschaft aus freier Vernunft“ im Kampf gegen „Ströme der traditionalistischen religiösen Kultur und die von Gemütsmotiven regierten religiösen Bewegungen des Christentums“⁴². Die Religionen bzw. ihre Theologien haben nach Husserl keine theoretischen Rechte: „Das religiös geforderte Nein, wie absolut sich die Religionsforderung auch geben mag, muss der wissenschaftlichen Begründung weichen, eben weil diese Ausdruck ist einer die Wahrheit absolut selbstgebenden Einsicht.“⁴³ Denn „So weit strenge Wissenschaft reicht, ist sie absolute Autorität.“⁴⁴ In diesem Sinn ist die Phänomenologie, wie oben schon angedeutet, antireligiös und auch atheistisch, d. h. sie kommt methodologisch ohne Gott aus, beruft sich nur auf die Vernunft des Phänomenologen bzw. der phänomenologischen Gemeinschaft. Zugleich will Husserl als gläubiger Protestant das Kernphänomen des Glaubens nicht verleugnen: Diese „moderne“ [eigentlich nämlich griechische] Stellung zum Glauben besagt nicht Verwerfung des Glaubens als religiöser Erfahrung und auch nicht Verwerfung seiner wesentlichen Glaubensinhalte […] Aber freilich besagt die Vernunftautonomie eine Ablehnung der aller Entscheidung vorangehende Verpflichtung, die Glaubensinhalte auf Autorität der Kirche oder die Autorität des Glaubens selbst vor der freien Kritik hinzunehmen.⁴⁵
Wenn die Glaubensinhalte aber weder verworfen noch einfach übernommen werden sollen, bleibt ihnen nur die philosophische Aneignung übrig, wie sie im Zusammenhang mit Husserls Theo-Teleologie bereits auftauchte. Generell hat der Philosoph nur zwei Möglichkeiten, sich zur Tradition zu verhalten: „Entweder das traditional Geltende wird ganz verworfen, oder sein Inhalt wird philosophisch
Fink, „Philosophie als Überwindung der „Naivität““, S. 99. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 89. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 182. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 182. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 92.
§ 10. Der Traditionalismus
131
übernommen und damit auch im Geiste philosophischer Idealität neu geformt.“⁴⁶ Damit bleibt Husserl auch hier der oben bezeichneten Sokratischen Maxime der freien vernünftigen Abwägung treu. Obwohl die Überkommenheit selbst keine Begründungsfunktion übernehmen kann, spielt Traditionalität gleichwohl für die Möglichkeit aller Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Wie Derrida herausgearbeitet hat, stellt nämlich die „incarnation historique“⁴⁷ der mathematischen Gegenstände in Form der Sprache in Husserls später Theorie der Geometrie die wesentliche Bedingung dafür dar, die idealen Gegenstände der Mathematik aus dem Kopf des Denkers befreien zu können und für alle mathematisierenden Wesen zugänglich und damit auch tradierbar zu machen. Ohne die Möglichkeit, Einsichten weiterzugeben, könnte sich keine Wissenschaft entwickeln, da ohne die Tradition kein systematischer Zusammenhang entstehen könnte, der über die aktuelle Fassungskraft des Einzelnen hinausginge. In einem längeren Auszug aus dem jüngst veröffentlichten Husserliana-Band 42 wird Husserls Verständnis der intrikaten Relation von Vernunft und Tradition sehr klar: Vernunft und Wissenschaft streiten auch nicht prinzipiell gegen „Tradition“, gegen gewohnheitsmäßige Verfahrungsweisen, gegen uneigentliche Erkenntnis, uneigentliche Wertung und gewohnheitsmäßige Praxis überhaupt. Sie selbst bedarf solcher „Mechanisierung“, und kein Leben ist ohne mechanisierende Gewohnheit und ohne wirksame Tradition denkbar. Aber ihre mechanische Verfahrungsweise, ihre mechanisierende Methode ist, wenn die Wissenschaft echte ist und der Wissenschaftler ein echter ist, durch und durch einsehbar, in eigentlich intuitives Erfahren und Denken zu verwandeln. Ihr Kampf gegen unechte Wissenschaft ist Kampf gegen die unechte Traditionalisierung der Vernunft, gegen das Operieren mit symbolischen Niederschlägen von Denkergebnissen, die nicht aus einsichtigem Denken entsprungen sind. Sie bekämpft einen Wissenschaftsbetrieb, in dem die theoretischen Arbeiter mit Mechanismen und mit Ergebnissen arbeiten, für die sie nicht jederzeit Rechenschaft und volle Rechenschaft geben können. Nur für die Anwendung der Wissenschaft in der Praxis kann dergleichen gestattet sein, sofern nicht jeder praktische Arbeiter die Wissenschaft betreiben und verstehen kann. Aber gefordert ist dann eine relative Rationalität, nämlich dass er von der Art der Wissenschaft eine Vorstellung gewinnt und der Autorität aus einem indirekten Verständnisgrund zu folgen vermag. Die Vernunft in ihrer Sphäre fordert eine rationale Tradition, eine jederzeit zu rechtfertigende, weil sie als Wissenschaft nur traditionalisierte Einsicht ist. So bekämpft Wissenschaft auch sonst nur solche Tradition, die ihre mögliche Rechtfertigung verloren hat oder die in der Verschiebung und Umbildung der Traditionen nun ein Gebilde darstellt, das sich überhaupt nicht rechtfertigen lässt. Doch universale Wissenschaft sucht eben auch alle Traditionen zu umspannen, einerseits dadurch, dass sie in Allgemeinheit die Gesetze für alle Erkenntnisgebiete als allgemeine Normen und damit auch Normen für alle Traditionen aufstellt, andererseits da-
Hua VI (Krisis), S. 335. Derrida, L’Origine, S. 71.
132
Abschnitt C Philosophie als Polemik
durch, dass sie als Universalgeschichte die universale, für jedes Subjekt dieser Geschichte gleich bedeutsame Erkenntnis liefert, durch die das Werden der Menschheit nach allen Hauptgestaltungen ihrer Strukturen und Leistungen verständlich wird und somit alle Traditionen und Verschiebungen von Traditionen als Tatsachen verständlich werden und durch die dann in weiterer Folge unter Behelf anderer in Frage kommender Wissenschaften die Auswertung der Traditionen vollzogen und zwischen rechtmäßig wirksamen und unrechtmäßigen geschieden werden kann.⁴⁸
In dieser gehaltvollen Passage zeigt sich auch, dass das Verhältnis von Vernunft und Tradition kein Randproblem ist, sondern vielmehr tief in die theoretische und praktische Programmatik der Phänomenologie hineinreicht, da sie die Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt betrifft. Das Konzept einer „rationalen Tradition“, d. h. einer Vorurteils-Struktur, die aus Evidenz erwachsen und jederzeit in Originarität reaktivierbar ist, bildet eine Brücke zwischen der kaum aufrechtzuerhaltenden universalen und radikalen Rechenschaftsabgabe einerseits und der rechtfertigungs- und evidenzschwachen, aber praktikableren (weil technisierten) Betriebsamkeit andererseits. Eine ständige prinzipielle Rechtfertigung verhindert wissenschaftlichen Fortschritt, aber ihre prinzipielle Möglichkeit konstituiert Wissenschaftlichkeit. Das Gleiche gilt natürlich auch für die sittliche Reflexion: Ständige moralische Rechtfertigungen machen die Lebenspraxis unmöglich, aber ihre prinzipielle Möglichkeit und gelegentliche Realisierung macht ein sittliches Leben aus. Ein Aspekt der Sokratischen Funktion der Philosophie, Sporn und Stachel zu sein, besteht dann darin, die Rationalität jeder Tradition immer wieder mit den Mitteln der reinen Vernunft zu prüfen.
§ 11. Der Naturalismus Der Naturalismus ist einseitig; er versperrt den Blick auf relevante Probleme oder die Mittel, sie zu lösen.
a) Platon: Wider die Erdgeborenen Anders als die unhinterfragte Tradition und die Skepsis gehören reduktionistische Programme durchaus in die Philosophie, insofern sie Versuche darstellen, gewisse philosophische, nämlich ontologische Fragen anzugehen, statt sie einfach als sinnlos abzuschreiben oder für unbeantwortbar zu erklären. Die Reduktionisten aller couleur erliegen bei diesem Unterfangen nur leider unterschiedlichen Hua XLII (Grenzprobleme), S. 179.
§ 11. Der Naturalismus
133
Missverständnissen, die sie unter anderem in verschiedene Einseitigkeiten abrutschen lassen, die die Entwicklung einer sachgerechten Philosophie verhindern. Bei Platon finden sich an verschiedenen Stellen Angriffe oder zumindest Seitenhiebe auf verschiedene Formen dieser Philosophie mit Schlagseite, etwa in der Schilderung des (fiktiven) philosophischen Werdegangs, die Platon Sokrates im Phaidon geben lässt, außerdem in der ‚Gigantomachie‘ der Naturalisten und Idealisten im Sophistês; ein Seitenhieb auf Empedokles im Menon ist ebenfalls aufschlussreich. Unzufrieden mit dem Verfahren (methodos) der Naturphilosophen im Umgang mit archêo- und aitiologischen Fragen, wendet sich Sokrates der nous-Lehre des Anaxagoras zu, in der Hoffnung, hier eine wirklich philosophische Behandlung der Fragen nach Entstehen und Vergehen der Dinge zu finden. Diese Hoffnung gründete sich auf Anaxagoras’ Annahme, „dass die Vernunft (nous) das Anordnende ist und aller Dinge Ursache“⁴⁹. Bei diesem vielversprechenden Anfang blieb es leider: „von dieser wunderbaren Hoffnung, o Freund, fiel ich ganz herunter, als ich fortschritt und las und sah, wie der Mann mit der Vernunft gar nichts anfängt und auch sonst gar nicht Gründe (aitias) anführt, die sich beziehen auf das Anordnen der Dinge, dagegen aber allerlei Luft und Äther und Wasser vorschiebt und sonst viel zum Teil Wunderliches.“⁵⁰ Husserl kommentiert diese Verwicklung folgendermaßen Hier war auch der Punkt, wo […] die anaxagoreische [grch.] nous-Lehre als unbefriedigend empfunden wurde. Obschon sie als Prinzip der Weltgeschehnisse einen universalen ordnenden Geist ansah, ließ sie ihn wie einen stoßenden Gott wirken, ohne die Art eines teleologischen Prinzips und die Art einer teleologischen Vergeistigung der Welt zu einem systematischen Verständnis zu bringen.⁵¹
Im Prinzip verfügt Anaxagoras also über das richtige Prinzip, nur weiß er damit nichts anzufangen, „Anaxagoras treats nous in the same way that he treats gold or the hot“⁵² (Menn) – und verfällt deshalb trotz Nous in einen einseitigen Naturalismus. Dieser kann nur erfassen, was bei Platon im Timaios den Namen „Mitursache“ (synaitia)⁵³ trägt und im Phaidon folgendermaßen charakterisiert wird: wenn aber einer sagte, dass, ohne dergleichen zu haben, Sehnen und Knochen und was ich sonst habe, ich nicht imstande sein würde, das auszuführen, was mir gefällt, der würde
Phaid. 97B. Phaid. 98B. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 210. Menn, God as Nous, S. 26. Tim. 46C; u. ö.
134
Abschnitt C Philosophie als Polemik
richtig reden. Dass ich aber deshalb täte, was ich tue, und es insofern mit Vernunft (nô) täte, nicht wegen der Wahl des Besten, das wäre doch eine große und breite Untauglichkeit der Rede, wenn sie nicht imstande wäre zu unterscheiden, dass bei einem jeden Dinge eines die Ursache ist, und etwas anderes jenes, ohne welche die Ursache nicht Ursache sein könnte [d. h. die Mitursache]⁵⁴
Platon unterscheidet hier offenbar zwischen physischen Ursachen und motivierenden Gründen; und nur der Bezug auf solche motivierenden Gründe erlauben die Zuschreibung von Handeln „mit Vernunft“ (nô). Auch diese Abschnitte hat Husserl sich markiert und wenn er „Motivation“ als „Kausalität der Geistigkeit“ von der natürlichen Kausalität unterscheidet,⁵⁵ zieht er eine Unterscheidung, die er – zurecht – Platon anrechnet.⁵⁶ In Husserls Augen scheiterte der anaxagoreische Naturalismus gerade daran, dass er diese Differenz ignorierte, d. h. „weil er das Geistige sinnlos materialisierte und dabei also auch geistiges Wirken, das Gestalten nach Zweckideen, nach physischen Gesetzen wie denen des Stoßes und Gegenstoßes interpretierte und übersah, dass physische Kausalität und geistige etwas prinzipiell Verschiedenes seien.“⁵⁷ Wie der Platonische Sokrates sieht indes auch Husserl Anaxagoras eher als gescheiterten Freund denn als Gegner: von der sinnlichen Anschauung konnte sich Anaxagoras doch nicht ganz frei machen, und er gebrauchte in der Kennzeichnung des [grch.] nous sinnliche Ausdrücke, wie die „es sei das Feinste, das einzig absolut Reine“. Aber er bezeichnet doch als seine Wesensprädikate außer der Einfachheit und Selbstständigkeit Wissen und Macht. Immerhin war so das Geistige scharf allem Nicht-Geistigen gegenübergestellt und sozusagen der gute Wille da, beiden Seinsarten Grundeigenschaften zuzuteilen, die total verschieden und unvergleichlich sind. Eine eigene geistige Realität ist damit als Prinzip der Weltordnung aufgestellt.⁵⁸
Während Anaxagoras als verirrter Vorgänger gelten darf, kennt Platon auch Naturalisten, denen der gute Wille abzusprechen ist, beispielsweise Empedokles. Im Menon fragt Menon Sokrates, was Farbe sei, der ihm daraufhin anbietet, auf die Weise des Gorgias zu antworten, der sich auf Empedokles bezieht. Demnach ist Farbe „der dem Sehen entsprechende, wahrnehmbare Ausfluss aus den Gestalten“⁵⁹ und Menon gefällt diese Art der Antwort ausnehmend gut. Sokrates führt dies auf den Charakter von Fragendem und Antwort gleichermaßen zurück, denn
Phaid. 99 A. Z. B. Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 10. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 201. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 210. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 192. Menon, 76D.
§ 11. Der Naturalismus
135
solche naturalistischen Antworten seien eben „tragikê“⁶⁰. Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, was Platon damit meint, aber im Kontext des Gesprächs scheint Sokrates sich über Menons Bedürfnis lustig zu machen, dass Erklärungen im Grunde dramatisch sein, d. h. irgendein Geschehen enthalten müssen; sicherlich ist Empedokles’ Theorie über Farbe spektakulärer als Sokrates’ knappe Definition von „Gestalt“, die er Menon vorher gegeben hat: „Gestalt ist die Grenze eines Körpers“. Bei Empedokles ‚passiert‘ wenigstens etwas: Teilchen fließen aus den Körpern hervor, strömen in uns hinein und lösen dann etwas in uns aus. Damit ist freilich nicht erklärt, was Farbe ist, sondern höchstens, was geschieht, wenn wir Farbe wahrnehmen, aber Menons Bedürfnis nach Spektakel – mechanischer Kausalität – ist befriedigt. Wir schlagen daher als Übersetzung von „tragikê“ den Ausdruck „spektakulär“ vor – auch im Gegensatz zu „spekulativ“. Ein Beispiel für einen solchen spektakulären Reduktionismus stellt die Position der Materialisten in der „Gigantomachie“⁶¹ im Sophistês dar. Sie behaupten ohne Weiteres „das allein sei, woran man sich stoßen und was man betasten könne, indem sie Körper und Sein für einerlei erklären; und wenn von den anderen einer sagt, es sei auch etwas, was keinen Leib habe, achten sie darauf ganz und gar nicht und wollen nichts anderes hören.“⁶² Diese Erdgeborenen verabsolutieren also einen Typ von Erkenntnisweise und das ihr korrelative Sein. Der Fremde aus Elea führt gegen diese Ansicht Tugenden als Beispiele von unkörperlichen Eigenschaften ins Feld: Jemand ist z. B. gerecht durch Anwesenheit der Gerechtigkeit und wiederum ungerecht durch ihre Abwesenheit. „Aber dass,was bei einem anwesend sein kann und abwesend, doch auf alle Weise etwas sei, werden sie wohl auch sagen?“⁶³ Damit müssen die Materialisten ihre Gleichung Sein = Körper-Sein aufgeben, da die an- oder abwesende Idee der Gerechtigkeit keinen Körper hat, aber gleichwohl ist. (Logisch noch effizienter ist freilich die Strategie, die Theorie der Materialisten selbst als Beispiel immateriellen Seins ins Feld zu führen und ihnen so einen performativen Widerspruch nachzuweisen.) Unabhängig von Erfolg oder Misserfolg solcher Widerlegungen bildet der Kampf gegen so oder ähnlich gearteten Materialismus geradezu einen Grundpfeiler des Platonismus: „the core of Platonism negatively defined is the enterprise of drawing out the conclusions of the rejection of nominalism and materialism“⁶⁴ (Gerson) – des Antinominalismus werden wir uns in Abschnitt E
Menon, 76E. Soph. 246 A. Soph. 246 A. Soph. 247 A. Gerson, Aristotle and other Platonists, S. 42.
136
Abschnitt C Philosophie als Polemik
annehmen, aber der Antimaterialismus kann als Kernthese des Platonismus hier schon festgehalten werden.
b) Husserl: Ein ontologisches Missverständnis Die Platonischen Vorwürfe gegen Anaxagoras erinnern durchaus an die Einwände, die Husserl selbst gegen einige seiner Vorgänger richtet. Der ‚Anaxagoras Husserls’ ist dabei Brentano. Er entdeckt die Intentionalität als Thema (wieder), ist aber nicht imstande, eine echte transzendentale Phänomenologie zu entwickeln oder auch nur anzuerkennen: „Noch Brentano war […] Naturalist; so etwas wie intentionale Implikationen und Intentionalanalyse […] hat er noch nicht gesehen.“⁶⁵ Die Sokratischen Vorwürfe ähneln zugleich auch der Kritik, die Husserl immer wieder gegen Descartes richtet. „Es ging Descartes wie Columbus, der den neuen Kontinent entdeckte, aber davon nichts wusste und bloß einen neuen Seeweg nach dem alten Indien entdeckt zu haben meinte. Das lag bei Descartes daran, dass er den tiefsten Sinn des Problems einer neu und radikal zu begründenden Philosophie nicht erfasste, oder, was im wesentlichen damit eins ist, den echten Sinn einer im ego cogito verwurzelten transzendentalen Erkenntnis- und Wissenschaftsbegründung.“⁶⁶ Wie Anaxagoras konnte Descartes mit seiner Entdeckung nichts anfangen, oder schlimmer noch, nur das Falsche.⁶⁷ Descartes ist für Husserl so paradoxerweise der neuzeitliche Entdecker der transzendentalen Subjektivität und zugleich einer der Urväter des modernen Objektivismus, der ein Naturalismus ist, also auch nur „allerlei Luft und Äther und Wasser vorschiebt und sonst viel zum Teil Wunderliches“. Ähnlich wie Descartes’, leistet dann in Husserls Augen auch Spinozas Spielart des Rationalismus dem Naturalismus Vorschub: „Das Geistige wird als zweite Natur gedacht. Determinismus. Wie die physische Natur eine Natur ist, so muss (für Spinoza wenigstens) die Geistigkeit eine Geistesnatur sein und eine parallele. Hier wie dort eine Eindeutigkeit der Kausalität, […] Mechanismus.“⁶⁸ Auch hier wird also – angeblich – zwischen „Motivation und induktiver Kausalität“⁶⁹ nicht unterschieden, das Teleologische und das Mechanische identifiziert.
Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 37. Hua VI (Krisis), S. 64. Vgl. z. B. Hua I (Cartesianische Meditationen), § 10; Hua VI (Krisis), § 17– 20; Hua VII (Erste Philosophie I), 10. Vorlesung. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 238, FN 3. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 238, FN 3.
§ 11. Der Naturalismus
137
Trotzdem geht Husserl für alle Formen des Rationalismus davon aus, dass in ihnen „ein Erbstück des platonischen Apriori erhalten geblieben ist, ohne das sozusagen Vernunft niemals zur Vernunft kommen kann.“⁷⁰ Aus diesem Grund betrachtet er diese Philosophien seiner Vorgänger auch trotz aller Fehler als „Vorstufen zu einer künftigen wissenschaftlichen Philosophie“⁷¹. Den Vergleich zwischen der Sokratisch-Platonischen Situation und beginnender Neuzeit zieht Husserl selbst: Dieser objektivistische Zug [der cartesianischen und nach-cartesianischen Philosophie] forderte die Ausbildung psychologistischer und naturalistischer Theorien der Vernunft, mit deren verborgenem Widersinn sich nun die Jahrhunderte mühen mussten. Die Lage hatte einige Ähnlichkeit mit der nachplatonischen im Altertum, in der wir ganz wohl schon von Psychologismus und Naturalismus sprechen können. Hier wie dort bezeichnen diese Worte grundverkehrte Theorien der Vernunft, entspringend aus Vermengungen transzendentaler Fragestellungen mit psychologischen oder biologisch-naturwissenschaftlichen.⁷²
Anaxagoras, Descartes und Brentano verfielen in den Augen ihrer Kritiker dem Naturalismus, weil sie ihre eigenen Entdeckung nicht verstanden haben. Sowohl Platon als auch Husserl kennen indes auch Spielarten des Reduktionismus, die nicht bloß knapp und aus Versehen an der wahren Philosophie vorbeitheoretisieren, sondern die auf radikalen Missverständnissen basieren, die schließlich in ebenso radikalen Einseitigkeiten resultieren.⁷³ Trotz einer langen Geschichte von Widerlegungsversuchen kämpft nämlich auch Husserl noch gegen die „Erdgeborenen (gêgeneis)“⁷⁴ – seine Markierungen in den entsprechenden Passagen des Sophistês erlauben die Annahme, dass er sich dieser Kontinuität wohl bewusst wahr. Wie auch Platon streitet Husserl im Namen der Idealität: „Der Bann des urwüchsigen Naturalismus besteht auch darin, dass er es uns allen so schwer macht, „Wesen“, „Ideen“ zu sehen oder vielmehr, da wir sie ja doch sozusagen beständig sehen, sie in ihrer Eigenart gelten zu lassen, statt sie widersinnig zu naturalisieren.“⁷⁵ In der Krisis liefert Husserl bekanntlich eine philosophische Ätiologie der neuzeitlichen Naturalisierungs-Tendenz, die trotz aller phänomenologischen Einsprüche bis heute höchst wirksam ist. Im Grunde handelt es sich – nach
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 243. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 243. Hua VII (Erste Philosophie I), 74. Vgl. Moran, „Husserl’s Transcendental Philosophy“. Soph. 248C. Hua XXV (Aufsätze II), S. 32.
138
Abschnitt C Philosophie als Polemik
Husserl – beim Naturalismus um ein Missverständnis. Die moderne Naturwissenschaft beginnt mit der Beschränkung ihres Arbeitsbereich auf Phänomene, die sich mathematisieren lassen; sie misst dem Ausschnitt der Natur, den sie untersucht, „ein wohlpassendes Ideenkleid an“⁷⁶, das ihr erlaubt, mathematische Methoden erfolgreich auf natürliche Phänomene anzuwenden. Der methodische Charakter dieses make-overs wird dann bekanntlich missverstanden als ontologischer: „Das Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist […] die Ideenverkleidung macht es, dass der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der „Theorien“ unverständlich blieb“⁷⁷ Der dadurch (illegitim) festgelegte ontologische Bereich wird daraufhin immer stärker erweitert, bis er schließlich alles Sein umfasst. Die Natur wird aus methodischen Gründen idealisiert und mathematisiert, die Idealisierung wird ontologisiert und schließlich alles Sein darauf reduziert. „Das alles ist Entdeckung-Verdeckung, und wir nehmen das bis heute als schlichte Wahrheit.“⁷⁸ Nota bene: „Es ist nicht die naturwissenschaftliche Methode an sich, die der Kritik unterzogen wird, sondern die illegitime Ausdehnung ihres Herrschaftsbereiches auf eine Seinsregion, welche von sich aus die Ausbildung eines eigenen, ihr angemessenen Intrumentariums erfordert.“⁷⁹ (Kuster) Wie immer wieder deutlich wurde, bezweifelt Husserl nie die epistemische oder technische Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften; er befragt allerdings ihren epistemologischen Status (Abschnitt A), ihre existenzielle Bedeutung (Abschnitt B) und nun die Sinnigkeit des sich auf sie fälschlicherweise berufenden Naturalismus.⁸⁰ Der Einseitigkeit der Naturalisten stehen natürlich andere Einseitigkeiten gegenüber, bei Platon etwa die der „Ideenfreunde“ im Sophistês, die sich in einen sterilen Ideen-Himmel zurückziehen wollen (vermutlich eine Karikatur der Megariker),⁸¹ bei Husserl vor allem die Anhänger des Historizismus. „Naturalisten und Historizisten kämpfen um die Weltanschauung, und doch sind beide von verschiedenen Seiten am Werk, Ideen in Tatsachen umzudeuten und alle Wirklichkeit, alles Leben in ein unverständliches ideenloses Gemenge von „Tatsachen“ zu verwandeln. Der Aberglaube der Tatsache ist ihnen allen gemein.“⁸² Dieser Aberglaube wird in Husserls Augen zum existentiellen Problem, denn „[b]loße
Hua VI (Krisis), S. 51. Hua VI (Krisis), S. 52. Hua VI (Krisis), S. 53. Kuster. S. 30. Vgl. Meixner, „Die Aktualität Husserls“, Abschnitt VIII. Cassirer, „Die Philosophie der Griechen“, S. 465. Hua XXV (Aufsätze II), S. 56.
§ 11. Der Naturalismus
139
Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen“⁸³, d. h. Menschen, denen ein Zugang zu Normativität fehlt. So wird auch klar, weshalb philosophischer Reduktionismus kein bloßes Fachproblem darstellt, sondern wesentlich zum oben behandelten Scheitern einer Vernunftkultur beiträgt. Dogmatische Einseitigkeit (sei es des Naturalismus, des Historizismus, des Rationalismus oder anderer ‚Ismen‘) gebiert Ungestalten der Philosophie, „Philosophien, aber nicht Philosophie“⁸⁴. Die wahre Philosophie dagegen „streitet gegen das Leben in Stücken, gegen die Verabsolutierung der Stücke“⁸⁵ und damit nicht nur gegen den (naturalistischen) Atomismus, sondern gegen alle Formen des Reduktionismus. Das größte Problem an den verschiedenen Spielarten des Reduktionismus besteht gleichwohl nicht in ihnen selbst. Selbst eine absurde reduktionistische Position ist prima facie bloß eine Philosophie unter vielen, was den philosophischen Fundamentalisten vielleicht kränkt, den Rest der Gesellschaft aber nicht bedroht. Abstrakt formuliert verhindern die verschiedenen Reduktionismen jedoch den Zugriff auf gewisse Kategorien; dieser theoretische Mangel verhindert wiederum die adäquate Erfassung gewisser Phänomene, was schließlich darin resultiert, dass entweder ein theoretisches Verständnis solcher Phänomene oder die Existenz der Phänomene selbst geleugnet wird. Die oben beschriebenen Naturalismen etwa verkürzen alles auf körperliche Kausalrelationen, womit die Dimension der Motivation und der Normen (oder, Platonisch gesprochen, des Guten) unzugänglich wird. Die Unterscheidung von naturaler Kausation und Motivation ist aber von zentraler Bedeutung für Husserls Ethik, denn für ihn gilt wie für Platon: „Freedom and responsibility apply to beings to which motivational (as opposed to simply causal) categories apply.“⁸⁶ (Nenon) Für Husserl wie für Platon lassen sich in diesem Zusammenhang daher zwei (korrelative) Effekte des Naturalismus unterscheiden. Das Eigenwesen eines rationalen Bewusstseins besteht darin, durch Normen motiviert zu sein. Der Naturalismus verstellt sich nun aber die Sicht sowohl auf die subjektive Seite von Rationalität und Normativität (den rationalen Agenten) als auch auf die objektive Seite (die Norm). Im Blick auf das Subjekt entwickelt sich in Folge einer naturalistischen Position nämlich eine „Blindheit für das Eigenwesen des Bewusstseins, Rationalität“⁸⁷; im Blick auf die Objekt-Seite der Rationalität dagegen eine „Blindheit für Ideen und Idealgesetze im richtig verstandenen Platonischen Sinn“⁸⁸.
Hua VI (Krisis), S. 4. Hua VI (Krisis), S. 16. Hua XLII (Grenzprobleme), S. 178. Nenon, „Freedom“, S. 1. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 238, Randbemerkung zu FN 3. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 127.
140
Abschnitt C Philosophie als Polemik
Damit reduzieren wir uns jedoch die Mittel weg, vernünftig motiviertes – und d. h. objektiv normiertes – Handeln jenseits der bloßen körperlichen Triebbefriedigung überhaupt denken, geschweige denn verteidigen zu können: Ohne deskriptive keine präskriptiven Ressourcen. Der ‚bloß theoretische‘ Naturalismus bildet so unversehens die Grundlage für den radikalen Zweifel an allen vernünftigen Normen im persönlichen wie öffentlichen Leben, in der Theorie wie in der Praxis: „Der Psychologismus und Biologismus hat seine unentrinnbare Konsequenz in einer Skepsis, die im Wesen mit denselben Absurditäten behaftet ist wie die antike Skepsis der Sophisten.“⁸⁹ Der eigentliche theoretische Gegner ist also der Skeptizismus, Antiskeptizismus mithin der negative Kern des Platonischen Programms.⁹⁰
§ 12. Der Skeptizismus Antiskeptizismus ist ein integrales Moment Platonischer Philosophie, da der Skeptizismus die Möglichkeit von objektivem Wissen bezweifelt.
a) Platon: Vorsokratische Verschanzungen Eine Philosophie, die auf Letztbegründung aus ist und für die ein ethisches Leben nur durch die Orientierung an objektiven Werten möglich ist, muss jede Position bekämpfen, die die Möglichkeit objektiver Rechtferigung und die Existenz objektiver Werte in Zweifel zieht oder sogar verleugnet. Dazu gehören prominenterweise die skeptischen Thesen des Gorgias als auch der Relativismus des Protagoras. Letzteren lässt Platon vor allem im Theaitetos in aller Breite (auf über 20 Stephanus-Seiten) von Theaitetos und Sokrates, dann sogar mit Unterstützung des Theodoros diskutieren, wobei das eigentlich schlagende (retorsive) Argument folgendermaßen läuft: Sokrates:
Wie ist es aber mit dem Protagoras selbst? Wird er nicht gestehen müssen, dass wenn er selbst nicht glaubte, dass der Mensch das Maß ist, noch auch die Leute – wie sie es tatsächlich auch nicht glauben –, dass dann diese Wahrheit für niemanden wäre, die er geschrieben hat? Und wenn er es glaubt, die Leute aber es nicht mit ihm glauben: so weißt du doch zuerst, dass sie alsdann um desto mehr nicht ist als ist, je mehrere nicht so vorstellen, als so vorstellen?
Hua XXI (Arithemtik),V, S. 147. Gerson, From Plato to Platonism.
§ 12. Der Skeptizismus
141
Theodoros: Allerdings, da sie ja nach Maßgabe der einzelnen Vorstellungen auch sein wird und nicht sein. Sokrates: Hernach ist doch dieses das Schönste bei der Sache. Er gibt gewissermaßen zu, dass die Meinung der entgegengesetzt Vorstellenden über seine Meinung, vermöge deren sie dafür halten, er irre, wahr ist, indem er ja behauptet, dass alle, was ist, vorstellen. Theodoros: Allerdings.⁹¹
Husserl hat den Theaitetos offenbar sehr gründlich gelesen – sowohl die Müllersche als auch die Apelt-Ausgabe zeigen viele Markierungen⁹² – und kann daher voller Überzeugung behaupten: „Nehmen wir solche [sophistischen] Behauptungen völlig extrem, so extrem wie sie Platon und Aristoteles genommen und zu widerlegen versucht haben, so gestaltet sich die Widerlegung in der bekannten und völlig befriedigenden Weise.“⁹³ Ein solch kruder Relativismus („frecher Skeptizismus“) ist in der Tat selbst-aufhebend: „Die Lehre ist sowie aufgestellt, schon widerlegt“⁹⁴. Damit erfüllt der Relativismus des Protagoras auch das strenge Kriterium für erkenntnistheoretischen Skeptizismus, das Husserl in den Logischen Untersuchungen aufstellt. Skeptisch sind alle Theorien, „deren Thesen ausdrücklich besagen oder analytisch in sich schließen, dass die logischen oder noetischen Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt falsch sind.“⁹⁵ Der Platonische Protagoras verletzt die Bedingung, dass eine Theorie als Erkenntnisgebilde ihre Berechtigung ausweisen können muss: Der homo mensuraSatz impliziert mit seiner eigenen Ausweisbarkeit in genau gleichem Maße die Ausweisbarkeit seines Gegenteils, wie Platon zeigt. Die Lehre des Protagoras ist nicht die einzige Theorie in Platons Werk, die diese Eigenschaft zeigt, vor allem die herakliteische Flusslehre krankt am selben Problem – weshalb es nicht wundert, dass Sokrates im Theaitetos die Lehre des Sophisten mit letzterer engführt.⁹⁶ Tatsächlich lässt sich der Satz des Protagoras sogar als Konkretisierung der Flussthese begreifen; wenn alle Wahrheit und alles Sein relativ zur Meinung der einzelnen Menschen ist, die Meinung der Menschen aber nicht konstant ist, d. h. fließt, so fließt auch alles zu ihr Relative. Dass die Meinung der Menschen sich ständig verändert, ist nun nicht nur einfach kontingent offensichtlich, sondern wird von der Tätigkeit der Sophisten (implizit) als Bedingung ihrer Möglichkeit vorausgesetzt. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ impliziert auf diese Weise „Alles fließt“.
Theait. 170E. Siehe BQ 366, BQ 371, Band 3. Hua XXVIII (Ethik und Wertlehre), S. 20. Hua XVIII (Prolegomena), S. 123. Hua XVIII (Prolegomena), S. 120. Theait. 152D.
142
Abschnitt C Philosophie als Polemik
Die skeptischen Konsequenzen der Flussthese werden nun von Platon in gleich zwei Dialogen mittels Retorsion aufgewiesen, einerseits im Theaitetos, andererseits im Kratylos. Im Theaitetos zeigt Sokrates seinem Freund Theodoros, dass die Flusslehre ihre eigene Behauptbarkeit untergräbt, denn wenn alles sich immer veränderte, gäbe es keine stabile Semantik. Nicht einmal indexikalischdeiktische Bezugnahme funktionierte noch, z. B. in „So, wie die Flusslehre es sagt, ist es.“ „Denn auch dieses „So“ darf man nicht behaupten, weil das „So“ sich nicht bewegt; noch auch „nicht so“, denn auch das wäre keine Bewegung; sondern die, welche diesen Satz behaupten, müssen eine andere Sprache dafür einführen, denn bis jetzt gibt es für ihre Voraussetzungen keine Worte“⁹⁷. Im Kratylos führt Sokrates ähnliche Punkte aus, gibt dem Argument dann aber eine ontologische Wendung: Wenn alles sich ständig verändert, so „ändert sich auch die Idee der Erkenntnis selbst“⁹⁸, damit aber gibt es einfach gar keine Erkenntnis, womit wiederum die „Bedingungen für die Möglichkeit einer Theorie überhaupt“ angegriffen sind. Der Relativismus des Protagoras hat, wie Husserl sieht, zwar schon die Struktur des späteren Psychologismus, fungiert im Platonischen Kontext aber nicht als Grundlage einer bestimmten Erkenntnistheorie, sondern primär als die „sophistische Begründung der Rhetorik“⁹⁹ (Niehues-Pröbsting). Der sophistische Relativismus ist weniger am Denken und Urteilen, als vielmehr am (öffentlichen) Sprechen orientiert. Das wird auch daran deutlich, dass die sogenannte ‚Episode‘ des Theaitetos, in der einmal mehr das Verhältnis von Philosophie und Rhetorik diskutiert wird, sich direkt an die Diskussion des homo-mensura-Satzes anschließt.¹⁰⁰ Die sophistische Rhetorik versteht sich als Überredungstechnik, die im Grunde der tyrannischen Machtausübung dient.¹⁰¹ Durch die subjektivistische Relativierung der Wahrheit gewinnen die Sophisten die theoretische Freiheit, den politischen Erfolg als wesentliches Kriterium ihrer Leistungen auszeichnen zu können: Wenn es keine objektive Wahrheit und – korrelativ – kein objektives Sein gibt, können wir uns nur an den Schein halten, d. h. an das, was uns jeweils in einer bestimmten Situation als gut oder angemessen erscheint; dementsprechend wäre diejenige Kunst, die das Scheinen-Lassen lehrt, die höchste und beste.¹⁰² Platons Antirelativismus tritt folglich eher in Gestalt eines antirhetorischen Ge-
Theait. 183 A. Krat. 439C. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 127. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 44. Gorg 466B. Vgl. Niehaus-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 117.
§ 12. Der Skeptizismus
143
fechtsdispositivs auf – jedenfalls insoweit Rhetorik als bloße Überredungstechnik verstanden wird. „Abgelöst von der anthropozentrischen Orientierung ist Rhetorik der platonischen Philosophie dagegen durchaus willkommen, ja unentbehrlich.“¹⁰³ (Niehues-Pröbsting) Entscheidend für den Unterschied zwischen sophistischer und philosophischer Rhetorik ist die Zielsetzung und Fundierung. Eine philosophische Rhetorik ist nicht „der Überredung Meisterin (peithous dêmiourgos)“¹⁰⁴, sondern dient der Wahrheitsfindung und der Vermittlung von Einsicht. Obwohl Platons Antiskeptizismus in Anpassung an seine Gegner also eher die Gestalt eines Antirhetorismus als eines Antipsychologismus annimmt, dürfen wir Platon trotzdem guten Gewissens auch Husserls „antipsychologistischem Gefechtsdispositiv“¹⁰⁵ (Bernet et al.) zurechnen, wie der – auch von Husserl gelesene¹⁰⁶ – Anfang des Parmenides zeigt. Hier diskutiert der junge Sokrates mit dem alten Parmenides einige fundamentale Probleme einer kruden Version der Ideenlehre und stößt dabei auch auf einen psychologistischen Gedanken. Aber, o Parmenides, habe Sokrates gesagt, ob nicht etwa jedes Eidos nur ein Gedanke (noêma) ist, welchem nicht gebührt, irgendwo anders zu sein als in den Seelen? […] Wie also, habe jener [Parmenides] gesagt, jeder von diesen Gedanken wäre einer, aber ein Gedanke von nichts? Unmöglich. Also von etwas? (tinos) Ja. Was ist oder was nicht ist? Was ist. Nicht wahr, von einem Etwas (henos tinos), was jener Gedanke als in allen Dingen befindlich bemerkt als eine gewisse Idee? Ja. Und dies soll nicht das Eidos sein, was so als Einheit gedacht wird, immer dasselbe seiend in allem? Das scheint wieder notwendig.¹⁰⁷
Damit ist nicht nur die Intentionalität von Gedanken ins Spiel gebracht, ihre ‚aboutness‘ (der englische Ausdruck gibt das Platonische „tinos“ sehr gut wieder) erlaubt auch die Sicherung der Eigenständigkeit des Gedachten qua Gedachtes gegenüber dem Denken; die Differenz von Denkakt und Denkinhalt zu verstehen und ernst zu nehmen, bedeutet, jede psychologistische Reduktion von vorne-
Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 62. Gorg. 453 A. Bernet et al., Edmund Husserl, S. 29. Vgl. BA 1351. Par. 132B.
144
Abschnitt C Philosophie als Polemik
herein zu unterlaufen. Soweit der anfängliche Psychologismus für Platon eine Gefahr darstellt, hat er ihn also durchaus im Blick und zeigt seine problematische Konsequenz. Die verschiedenen Spielarten des Relativismus bilden sozusagen die positive Seite des Skeptizismus, insofern sie beliebig viel wahr sein lassen. Das andere Extrem bildet Gorgias’ direkt skeptischer Dreischritt, wie ihn Sextus überliefert,¹⁰⁸ dem gemäß nichts ist, wir nichts wissen oder nichts kommunizieren können. Platon diskutiert diese Position nirgends explizit, obwohl sie sich einer retorsiven Behandlung natürlich ebenso anbietet wie der homo-mensura-Satz – die Gorgiassche Skepsis jedoch, so spekuliert Husserl, „erschien zu sehr als paradox und frivol“¹⁰⁹ als dass Platon sich ernsthaft mit ihr hätte auseinandersetzen wollen. Bei dieser Einschätzung übersieht Husserl jedoch, dass vor allem im Sophistês zentrale antiskeptische Gedankenfiguren auftauchen; der ganze Dialog lässt sich geradezu als Erwiderung auf Gorgias’ Nihilismus lesen. Zwar werden Gorgias’ Thesen nicht explizit diskutiert, aber der Dialog reagiert auf sie, indem er ihre eleatischen Grundlagen demontiert. „Gorgias will den Eleatismus von innen heraus aufheben und zeigen, dass in ihm sein Gegenteil angelegt ist;“¹¹⁰ (Hösle) die Negation des Seins ist daher nur die sophistische Kehrseite der positiven Parmenideischen Ontologie. Platon wiederum reagiert auf diese sophistische Übernahme des Eleatismus nicht durch einen Rückfall in den ursprünglichen Eleatismus; vielmehr hebt auch er Parmenides auf – er rettet das Sein sogar mit Gorgiasschen Mitteln,¹¹¹ insofern er nicht nur das Sein des Nicht-Seins postuliert, sondern seine notwendige Bezogenheit auf alles Seiende (und vice versa) beweist. Die Seinskugel des Parmenides wird also aufgelöst zugunsten des oben schon dargestellten Netzes von megista genê. Das Sein wird – bildlich gesprochen – von einem Block zu einem Bereich, zu einem Ort, an dem sich alle Ideen (materiale wie strukturelle) finden. Zugleich wird die Idee des Seins im engeren Sinne eine Idee unter vielen. Platon arrangiert auf diese Weise eine „Dekompression des Parmenideischen Seins“, die letztlich darin besteht, „es als Nous zu denken, dessen Gehalt die Totalität aller Ideen darstellt“¹¹² (Gabriel). Damit ist der Eleatismus im Hegelschen Dreifachsinn aufgehoben: Er ist in seiner ursprünglichen Form zerstört (denn es gibt Nicht-Sein, das Sein hat sogar notwendigerweise Teil daran), zugleich aber bewahrt (denn Sein ist – im Widerspruch zu Gorgias) und schließlich auch erhöht, d. h. dem
Gorgias, B 3. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 33. Hösle, Wahrheit und Geschichte, S. 229. Newiger, Gorgias’ Schrift Über das Nichtseiende, S. 188. Gabriel, Skeptizismus, S. 89.
§ 12. Der Skeptizismus
145
sophistischen Zugriff entzogen (da die Platonische Ontologie komplex genug ist, sophistische Spielchen nicht ohne Weiteres unbeantwortet lassen zu müssen). Sophistês und Theaitetos sind mithin als geballte Reaktion auf den sophistischen Skeptizismus zu lesen; sie sind „komplementär“¹¹³ (Niehues-Pröbsting), insofern im Theaitetos Protagoras und die seiner Position eng verwandte herakliteische Flußlehre, im Sophistês dann (implizit) Gorgias und seine „eleatische Verschanzung“¹¹⁴ (Niehues-Pröbsting) destruiert werden. Angriffe auf die theoretischen Grundlagen der Sophistik finden sich darüber hinaus natürlich in vielen anderen Dialogen, neben den oben zitierten Kratylos-Passagen ist vor allem der Parmenides zu nennen, in dessen Verlauf (vor allem in der 5. Hypothesis) auch das Sein und Nicht-Sein des Seins wie auch des Nicht-Seins thematisiert werden;¹¹⁵ unter den frühen Dialogen deutet primär der Euthydemos wesentliche ontoepistemologische Probleme an und präsentiert bereits jene „Figur der Selbstaufhebung“¹¹⁶ (Hösle), die von Augustinus über Hegel bis zu Husserls Logische Untersuchungen immer wieder gegen skeptische Positionen vorgebracht wird. Der Zweifel an Wahrheit und Sein ist nicht direkt sozial gefährlich oder moralisch bedenklich. Protagoras und Gorgias selbst sind in den Dialogen keine unangenehmen Zeitgenossen. Ein echter urbaner Skeptiker, wie Sextus ihn darstellt, ist sogar eher konservativ, denn er folgt bloß den Phänomenen,¹¹⁷ und er wird auch niemanden von irgendetwas überzeugen wollen; ein wirklicher Skeptiker stellt keine Bedrohung für die Philosophie oder seine Mitmenschen dar – jedenfalls nicht absichtlich. Sextus war immerhin Arzt. Gefährlich sind vielmehr die nicht-skeptischen Positionen, denen derartige Zweifel zum Nährboden werden können, literarisch dargestellt durch die jüngeren und radikaleren Anhänger der großen Sophisten, wie Polos und Kallikles im Gorgias. Diese sind keine Skeptiker, sondern Immoralisten, die also auf der Basis anti-objektivistischer Einwände dezidiert gewisse Annahmen vertreten, z. B. über das widersinnige ‚Recht des Stärkeren‘¹¹⁸, und folglich keine Skeptiker sind. Ihr Erscheinen markiert vielmehr den ewigen Umschlag von Skeptizismus in Dogmatismus.
Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 111. Niehues-Pröbsting, Überredung zur Einsicht, S. 145. Vgl. Par. 162 A. Hösle, Wahrheit und Geschichte, S. 273. Sextus, Grundriss, I, 19. Gor. 484D.
146
Abschnitt C Philosophie als Polemik
b) Husserl: Antiphilosophie und transzendentaler Impuls In Protagoras und Gorgias erkennt Husserl die Urgestalten aller Formen von Skeptizismus, die auch die Phänomenologie noch zu überwinden hat. „Aller Skeptizismus ist Subjektivismus; ursprünglich repräsentiert ist er durch die beiden großen Sophisten Protagoras und Gorgias.“¹¹⁹ Protagoras’ Skeptizismus tritt auf in der zunächst positiven Gestalt eines Relativismus: „Ein ursprünglicher Begriff [von Subjektivismus und Relativismus] ist umschrieben durch die Protagoreische Formel „Aller Dinge Maß ist der Mensch“, sofern wir sie in dem Sinne interpretieren: Aller Wahrheit Maß ist der individuelle Mensch.“¹²⁰ Die Gestalt oder Manifestationsform des Relativismus, die Husserl selbst am stärksten bekämpft, ist bekanntermaßen der Psychologismus: „In der Tat ist der Psychologismus in allen seinen Abarten und individuellen Ausgestaltungen nichts anderes als Relativismus, nur nicht immer erkannter und ausdrücklich zugestandener.“¹²¹ Die Grundformulierung des Psychologismus lautet nach Husserl folgendermaßen: „Wahr ist für einen jeden, was ihm als wahr erscheint, für den einen dieses, für den anderen das Entgegengesetzte, falls es ihm so erscheint.Wir können hier also auch die Formel wählen: Alle Wahrheit ist relativ – relativ zu dem zufällig urteilenden Subjekt.“¹²² Die subtileren oder vielleicht auch bloß weniger konsequenten Formen des Psychologismus,¹²³ die sich nicht durch eine einfache Retorsion, wie wir sie oben bei Platon gesehen haben, aushebeln lassen, bilden nun tatsächlich einen Nährboden für den Skeptizismus,¹²⁴ da sie alle versuchen, „das Ideale aus dem Realen, spezieller: die Notwendigkeit der Gesetze aus der Zufälligkeit von Tatsachen herzuleiten.“¹²⁵ Dieser Versuch einer Reduktion des Idealen auf das Reale scheitert jedoch an der Bedeutung der idealen Begriffe selbst: Wahrheit ist Wahrheit an sich, „Wahrheit für mich“ ist ein unsinniger Ausdruck, der eigentlich nur „Meinung“ beschreibt; mathematische und logische Gesetze gelten außerdem nicht zufälligerweise oder ungefähr, ihre Geltung ist keine empirische etc. – die Husserlschen Argumente gegen die verschiedenen Formen des psychologistischen Reduktionismus sind wohlbekannt und müssen hier von uns nicht en detail
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 58. Hua XVIII (Prolegomena), S. 122. Hua XVIII (Prolegomena), S. 130. Vgl. Landmann, „Socrates as a Precursor of Phenomenology“, S. 24. Hua XVIII (Prolegomena), S. 122. Hua XVIII (Prolegomena), S. 88. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 134. Hua XVIII (Prolegomena), S. 131.
§ 12. Der Skeptizismus
147
wiederholt werden. Wichtig ist nur der zentrale Punkt, dass jede Theorie ihrem Sinn nach auf logischen und d. h. idealen Gesetzen aufbaut, die ihrem Inhalt Struktur geben. Ideale Strukturen gehören also zu den Möglichkeitsbedingungen jeder Theorie. Eine Theorie, „welche die logischen Prinzipien aus irgendwelchen Tatsachen ableitet“¹²⁶, wie es der Psychologismus tut, hat damit letztlich eine skeptische Grundform, da sie – aufgrund ihrer reduktionistischen Grundanlage – ihren eigenen (idealen) Bedingungen Bestand absprechen muss. Gegenüber dem Relativismus des Protagoras, der die absolut positive Grundform des Skeptizismus darstellt (alles ist wahr), repräsentiert Gorgias in Husserls Augen einen strengen Solipsismus¹²⁷ und eine absurde Leugnung von Wahrheit überhaupt, d. h. die absolut negative Form des Skeptizismus (nichts ist wahr).¹²⁸ „Der extreme Skeptizismus eines Gorgias sagt, es gibt keine Wahrheit. Gerade indem er das aber sagt, setzt er wie jeder, der eine Behauptung macht, und dadurch, dass er sie macht, voraus, dass es eine Wahrheit gibt, nämlich: die er da ausspricht und verficht.“¹²⁹ Diese Position hebt sich noch schneller selbst auf als der homo mensura-Satz, da bereits mit der Aussage ein performativer Widerspruch begangen ist – wie überhaupt „jeder logische Negativismus sich durch Widersinn aufhebt“¹³⁰. Trotzdem ist Gorgias in Husserls Augen der „radikalere und darum philosophisch der vornehmlich interessante“¹³¹ Sophist, der dem aufmerksamen Gegenüber „höchst bedeutsame philosophische Motive“¹³² vorführt. Die Haltung Husserls zum Skeptizismus ist also ambivalent, einerseits sieht er in ihr den Feind, den die Philosophie zu bekämpfen hat und an dem sie sich immer wieder messen muss, andererseits erkennt er ebenso eine „transzendentale Motivation, die in der Skepsis verborgen lag“¹³³. Der Skeptizismus stellt für Husserl also zugleich Gefahr und Quelle philosophischer Motive dar. „Denn die Skepsis kann sich einerseits zur Antiphilosophie sedimentieren, andererseits besitzt sie die Kraft, zur Kritik der Erfahrung zu motivieren und damit den Weg zur transzendentalen Subjektivität zu eröffnen.“¹³⁴ (Vasquez) Aufschlussreich für Husserls Verständnis des (sophistischen) Skeptizismus sind vor allem die Vorlesungen zur Einleitung in die Philo-
Hua XVIII (Prolegomena), S. 130. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 331. Siehe Landmann, „Socrates as a Precursor of Phenomenology“, S. 25. Hua XXI (Arithemtik),V, S. 147. Hua XXVIII (Ethik und Wertlehre), S. 19. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 58. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 58. Hua VI (Krisis), S. 68. Vasquez, Intentionalität als Verantwortung, S. 19 f.
148
Abschnitt C Philosophie als Polemik
sophie von 1919/20 und 1922/23 sowie seine Ausführungen in den Vorlesungen Erste Philosophie von 1923/24, die alle ähnliche Ansichten über die Rolle und Gestalt der Sophistik bzw. des Skeptizismus ausdrücken. Der Skeptizismus ist nicht bloß ein intellektueller Sparring-Partner, von dem der Philosoph bestimmte ‚Züge‘ oder ‚Tricks‘ lernen kann, sondern aufgrund seiner ethischen und politischen Konsequenzen eine wirkliche Bedrohung, wie Husserl in seiner VS zur Einleitung in die Philosophie ausführt: Welche grauenvolle Konsequenz ein […] sozialethischer Skeptizismus hat, das ist gerade in unserer Zeit offenbar geworden. Diesen Skeptizismus zu überwinden, ist die Funktion strenger Wissenschaft. Obschon die sokratische These, dass die Tugend lehrbar sei und dass mit der rechten Einsicht der rechte Wille ohne Weiteres gegeben sei, sicherlich eine Übertreibung ist, so liegt doch in dieser Lehre nach einer Hauptseite eine große Wahrheit. Alle Hoffnung auf eine Besserung des Elends der Menschheit beruht doch auf einer Besserung ihrer Einsicht.¹³⁵
Das ursprüngliche skandalon des Skeptizismus ist für Husserl also der Zweifel an überindividuellen Werten, der droht, sich zu einem generellen Werte-Vakuum auszuwachsen, oder der es bestimmten Gruppen erlaubt, ihren Irrsinn zu verbreiten. Die Sophistik „eines völlig entarteten Nationalismus“ etwa bedient sich laut Husserl gewisser Begriffe, deren „klärende Auseinanderlegung die Kräfte des ungeschulten Denkens völlig übersteigt“¹³⁶; es ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie, solchen Machenschaften logisch den Garaus zu machen – und das nicht nur, indem sie sie öffentlich widerlegt, sondern auch, indem sie eine Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung schafft bzw. aufrecht erhält, in der solche Widerlegungen möglich und wirksam sind. Wie oben schon beschrieben, ging auch Sokrates gegen die stur tradierten Werte vor, allerdings eben in völlig anderer Absicht als Sophisten wie Kallikles oder Thrasymachos, nämlich nicht, um die Geltung von Werten überhaupt anzuzweifeln, sondern, um Moral vernünftig zu sichern.¹³⁷ Dieses praktische Interesse hat der „Sokratiker Platon“¹³⁸ in Husserls Augen beibehalten, wenn er auch die Entwicklung der theoretischen Philosophie vorantreibt, da nämlich ohne sie – wie oben bereits diskutiert – die Moralphilosophie ihren Grund vermissen würde. Damit der Ethik durch den radikalen Zweifel an aller Objektivität nicht die Grundlage entzogen wird, muss die theoretische Philosophie Grundlegungsarbeit leisten, indem sie sich selbst gegen die skeptischen Einwände onto-epistemolo
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 174. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 5. Hua XXVIII (Ethik und Wertlehre), S. 36. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 314.
§ 12. Der Skeptizismus
149
gisch re-fundiert. Die ethische Problematik wird so zu einem wesentlichen Katalysator der Entwicklung der oben behandelten Idee reiner Wissenschaft: „Gegen die sophistische Dialektik reagiert die für ihre Selbsterhaltung kämpfende, für die Realisierung ihrer Idee ringende objektive Wissenschaft durch die Begründung der positiven, nämlich der Platonischen Dialektik und ihrer Fortbildungen.“¹³⁹ Wie Sokrates und Platon auf den Skeptizismus reagieren, so stellt auch der Skeptizismus seinerseits für Husserl schon eine „Peripetie“¹⁴⁰ in der Entwicklung wahrer Philosophie dar, keinen Anfang. Er ist selbst schon Reaktion auf die „ganze überkühne kosmische Wissenschaft“¹⁴¹ der Vorsokratiker (die schließlich selbst wiederum als erste positive Stufe des Denkens nach Überwindung der nichtwissenschaftlichen Prä-positivität betrachtet werden darf). Die Sophisten spielen einfach die „Widersprüche in und zwischen den […] Philosophien gegen diese“¹⁴² aus. „Leicht gelang es ihnen, die Unvollkommenheit der Begriffe, ihre Vieldeutigkeit und Verschiebbakeit, frivol auszunutzen und nach Belieben Trugschlüsse zu konstruieren“¹⁴³. Enorm hilfreich ist der Sophistik dabei die Tatsache, dass scheinbar kaum ein Vorsokratiker dem „postulate of provability“¹⁴⁴ (Landmann) gehorcht, d. h. stringente Beweise vorlegt; erst die jeweiligen Nachfolger bemühen sich um eine argumentierende Fundierung (z. B. Zenon). Der sophistische Skeptizismus dagegen entwickelt eigene philosophisch-logische Techniken und scheut auch nicht davor zurück, Heraklit und Parmenides für ihre elenktischen Zwecke zu pervertieren. Im Gegenteil, er bedient sich großzügig bei all seinen Vorgängern, deren problematische Konsequenzen er im Grunde nur deutlich macht, ja deren Widersprüche ihn überhaupt erst auf den Plan riefen. Die Gemengelage der sich widersprechenden Philosophien der Vorsokratiker nämlich „motivierte […] das Erwachen eines Skeptizismus, der die Möglichkeit von so etwas wie „Philosophie“, von objektiver, von jedem in sachlicher Einsicht als unbedingt gemein geltender feststellbarer Wahrheit und Wissenschaft .“¹⁴⁵ Platon hat offensichtlich sehr genau verstanden, dass die Philosophien seiner Vorgänger sowohl in instrumentaler wie motivationaler Hinsicht die Quelle des Skeptizismus bilden, weshalb er so viel Zeit darauf verwendet, die wichtigsten Positionen seiner Vorgänger aufzuheben, d. h. sie entweder ad absurdum zu führen oder zu verstärken und in sein Denken zu integrieren. Platon stellt dadurch
Hua XXV (Aufsätze II), S. 126; vgl. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 5. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 11. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 11. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 12. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 25. Landmann, „Socrates as a Precursor of Phenomenology“, S. 16. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 80.
150
Abschnitt C Philosophie als Polemik
die Positivität der Philosophie, nachdem sie in ihrer ersten, naiven Form von den Sophisten in Negativität überführt wurde, auf höherer Ebene wieder her. „Übrigens zeigt sich hier eine schöne und wohlverständliche Teleologie in der historischen Entwicklung. Die erste, natürlich naive Entwicklung objektiv gerichteter Wissenschaft musste gelähmt, unterbunden werden durch eine skeptische Gegenwirkung“¹⁴⁶. Der Skeptizismus spricht in diesem Sinne durchaus Wahrheiten aus, denn solange alles Denken und Handeln noch auf „der sinnlichen Erfahrung und der verworrenen auf Konvention, Tradition u. dgl. beruhenden Meinung“¹⁴⁷ basiert, haben Protragoras und Gorgias beide auf ihre Weise Recht, wenn sie behaupten, alle Wahrheit sei relativ bzw. gar nicht verfügbar. Auf diese „Antiphilosophie“¹⁴⁸ wiederum folgt die „denkwürdige“¹⁴⁹ „sokratische Reaktion“¹⁵⁰. Die von Husserl skizzierte Folge (Naive Philosophie, Skeptizismus, Platonismus) entspricht damit genau dem Hegelschen Dreischritt (Position, Negation, Negation der Negation), den Hösle für das Verhältnis von Vorsokratikern, Sophistik und Platonismus präzise herausgearbeitet hat; auf die Nähe von Husserl und Hegel in der Charakterisierung und Einschätzung des Skeptizismus kann hier nicht weiter eingegangen, sondern nur hingewiesen werden. Der Skeptizismus stellt für Husserl jedenfalls keinen kontingenten Vorläufer der Philosophie Platonischer Prägung dar, denn „mochten die Sophisten sogar ihre eigenen Theorien vielleicht selbst nicht ganz ernst nehmen, – Epoche machend waren diese Theorien darum doch, und zwar dadurch, dass sie die Philosophie in der wirksamsten Form skeptischer Argumentation zwangen, auf die im Wesen aller Erkenntnis liegenden radikalen Schwierigkeiten den Blick zu fixieren.“¹⁵¹ Die Bedrohung des Skeptizismus bedingt auf diese Weise Platons „große Erkenntnis, dass naive Philosophie, in naiver Betätigung des theoretischen Interesses sich auswirkende Erkenntnis, noch keine echte Philosophie, kein System sachlicher Gültigkeiten ermöglicht“¹⁵² – „Man kann danach auch so sagen: Alle Wissenschaft verdankt ihre methodische Kraft und somit ihr wahrhaftes Sein als echte und strenge Wissenschaft der Philosophie: der negativen als Skepsis, der positiven als Überwindung der Skepsis.“¹⁵³ Die „skeptische Hydra“ dient der
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 20, Beilage. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 34. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 12. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 22. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 25. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 12. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 80 f. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 21 (FN 1 S. 20).
§ 12. Der Skeptizismus
151
Philosophie und der Wissenschaft als stete Mahnung, dass sie ihrem Ursprungssinn, „Erkenntnis aus absoluter Rechtfertigung“¹⁵⁴ zu sichern, noch nicht gerecht geworden ist, und zwar bis in die Neuzeit.¹⁵⁵ Zugleich ist der Skeptizismus für Husserl nicht nur als Kontrastfolie und Mahnung für die Philosophie wichtig. Er enthält vielmehr das Denkmaterial für wesentliche philosophische (anti-skeptische) Einsichten. „Schon hinter den ältesten skeptischen Argumentationen, denen der alten Sophistik, steckt ein Wahrheitsgehalt, dessen sich die Philosophie niemals bemächtigen konnte.“¹⁵⁶ Damit nähern wir uns der Beantwortung der Frage, weshalb Gorgias’ Argumentation für Husserl „trotz ihres üblen Rufes von einer gewaltigen problemgeschichtlichen Bedeutung ist.“¹⁵⁷ Genau genommen sind es nicht die überlieferten Thesen des Gorgias, die Husserl interessieren, sondern ihre möglichen Begründungen bzw. die sie motivierenden Überlegungen. Diese rekonstruiert Husserl folgendermaßen: „Selbstverständlich ist alles, was ich als seiend erkenne, meine Erkenntnis, Vorstellung […] meines Vorstellens, Gedanke meines Denkens. Wenn aber ein Vorstellen ein „Äußeres“, dem Vorstellen Transzendentes vorstellig macht, so ist es eben das Vorstellen in sich selbst, welches dieses „Außen“-sein vorstellt.“¹⁵⁸ Daraus kann das Problem des Solipsismus erwachsen, denn es „ergibt sich der skeptische Schluss: Ich komme über meine Subjektivität, über den Bereich meines dahinströmenden Bewusstseinserlebens nicht hinaus; […] Ich bin und meine Erlebnisse sind […] eben nichts sonst, ich – ich allein, solus ipse.“¹⁵⁹ Es ist offensichtlich, wie nah dieser Solipsismus für Husserl an seinen methodischen Solipsismus und das Problemfeld der immanenten Transzendenz heranreicht. Demnach wäre das Problem, wie die transzendentale Subjektivität so etwas wie „objektive Bedeutung gewinnen“¹⁶⁰ kann, im Grunde schon mit Gorgias gestellt. Aufgrund dieser Nähe zum transzendentalen Denken nimmt Husserl ihn als Vernunftkritiker auch sehr viel ernster als Protagoras. Gegen die Parmenideische These von der „Identität“ von Denken ([grch.] noein) und Sein, deren Sinn offenbar der war, dass das im „vernünftigen“ Denken Gedachte und das wahrhaft Seiende unabtrennbare Korrelate sind, wendet Gorgias, indem er das Sein im natürlichen Sinn als objektives (bewusstseinsjenseitiges) Sein versteht, ein: Denken ist Vorstellen, Vorstellen ist aber nicht Vorgestelltes. Sonst müßte auch ein Wagenkampf auf dem Meer, wenn
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 57. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 20. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 58. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 16. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 59. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 18; vgl. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 331. Hua XXXV (Einleitung in die Philosophie 1922/23), S. 268.
152
Abschnitt C Philosophie als Polemik
ich mir einen solchen vorstelle, sein. Darin scheint der Möglichkeit vernünftiger Erkenntnis eine ganz andere Kritik geführt zu sein als in den sonstigen sophistischen Argumentationen (z. B. in der Form des dialektischen Prinzips: Man kann alles beweisen und alles widerlegen).¹⁶¹
In Husserls Augen steht Gorgias also bereits direkt vor der Entdeckung der Korrelation zwischen dem Denkakt und dem Gedachten sowie der „transzendentale [n] Funktion“ des Bewusstseins.¹⁶² Dabei geht er nicht davon aus, „dass ein Sophist schon so weit geblickt und dass er überhaupt sich selbst und sein Argument so ernst genommen hätte“¹⁶³ – im besten Fall handelt es sich bei der Sophistik nämlich nur um „frivoles Spiel“. Die sophistischen Argumentationen führen nicht in eine ernste Transzendentalphilosophie, sondern, über Subjektivismus und Relativismus schließlich in einen skeptischen Solipsismus. Aufgabe der platonischen Philosophie wäre es nun nach Husserl gewesen, die in dieser Herausforderung enthaltenen Wahrheiten zu sichern und so den sophistischen Skeptizismus in einen „integrativen Antiskeptizismus“¹⁶⁴ (Heidemann) zu transformieren, statt in einem exklusiven, und daher weniger Erfolg versprechenden Antiskeptizismus zu verharren. Die sophistische Reduktion aller Werte auf ‚bloß‘ Subjektives hätte umgewandelt werden müssen in eine philosophische Reduktion auf die transzendentale Subjektivität, so dass diejenige skeptische Operation, die der Objektivität das Fundament entziehen sollte, den Zugang zum absoluten Fundament aller Erkenntnis erst erschlossen hätte; der radikale Zweifel erzwingt und ermöglicht zugleich radikale Begründung. Platon hat nach Husserls Meinung sowohl die Notwendigkeit der philosophischen Reaktion bemerkt, als auch ihren systematischen Ort ausgemacht, nämlich die Methodologie. Darüber hinaus hat er sich, wie oben angerissen, in der gebotenen Weise des Reduktionismus und vor allem des homo-mensura-Satzes entledigt, nämlich mittels Retorsion und reductio. Im Umgang Platons mit Gorgias stellt Husserl jedoch einen gravierenden Mangel fest und findet es merkwürdig, aber bei der ganzen geistigen Lage wohl begreiflich, dass Platon sich auf das mit Gorgias (mindestens, wenn die historische Tradition nicht trügt) auf den Plan getretene Problem der Möglichkeit einer Erkenntnis von einem der Erkenntnis transzendenten Sein gar nicht eingelassen hat […] Zwar ist die Frage nach dem Wesen von echter Erkenntnis ([grch.] episteme gegenüber der bloßen [grch.] doxa) von ihm – ich erinnere insbesondere an den Theaitetos – viel erörtert worden, sie ist für ihn in der Tat eine Grundfrage; aber über die
Hua XXV (Aufsätze II), S. 135. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 60. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 19. Zitiert nach Gabriel, Skeptizismus, S. 10.
§ 12. Der Skeptizismus
153
formalen Bestimmungen, wie sie in der logisch-methodischen Arbeit notwendig und wertvoll sind, kommt er nicht hinaus.¹⁶⁵
Darum entgehe aber sogar ihm die „transzendentale Motivation“¹⁶⁶, die im sophistischen Skeptizismus liegt: „Der große philosophische Sinn, mit dem Platon auf eine völlig radikale Methodenlehre Erkenntnis ausging, verlor sich alsbald bei seinen Nachfolgern. Und das umso leichter, als er die in der Gorgiasschen Skepsis […] liegenden Keimpunkte einer transzendentalen Philosophie nicht ergriff.“¹⁶⁷ Nach Husserl wurde dieser Lapsus in der Antike auch nie wieder korrigiert. „Im Altertum ist Platon der Anfänger, der, auf die Skepsis blickend, die Möglichkeit der Erkenntnis radikal in Frage stellt und über ihre positive Lösung unter dem Titel „Dialektik“ meditiert und erste Entwürfe versucht. Aber schon seit Aristoteles schwächt sich […] der Schwung dieses Radikalismus“¹⁶⁸. Dagegen feiert die Skepsis laufend Erfolge: Sowohl was ihren Einfluss angeht, als auch in Hinsicht auf ihr systematisches Raffinement erreicht sie in nachplatonischer Zeit immer beeindruckendere Höhen; die mittlere Akademie ist sogar selbst als skeptisch zu bezeichnen. Diese Siege der Skepsis beruhen in Husserls Augen auf der Ignoranz der Philosophie gegenüber der Wahrheit des Skeptizismus und auf dem Verlust philosophischer Radikalität. Schuld daran sei die Trägheit, d. h. der bereits bekannte und oben als Grund der Technisierung ausgemachte mangelhafte Wille zu wachem Denken. Der nachplatonische, „empiristische Skeptizismus“ „hätte historisch nicht so erstarken können, wenn nicht der Anfang einer theoretischen und idealen Erforschung der Erkenntnis und Wahrheit, die seit Platons Vorgang immer wieder aufkeimt, allzeit wieder gehemmt worden wäre durch das schon in der aristotelischen Logik sichtliche Überwuchern des praktischen Gesichtspunkts.“¹⁶⁹ Husserl nimmt hier indes nicht den Primat des Praktischen zurück, sondern meint mit dem „Überwuchern des praktischen Gesichtspunkts“ vielmehr die spezialwissenschaftliche und anwendungsorientierte Ausrichtung der Aristotelischen Philosophie, die von der radikalen Erkenntnisbegründung Abstand nimmt und Logik eher als neutrales Werkzeug (organon) konzipiert – und damit der für die Philosophie so gefährlichen Technisierung Vorschub leistet. So kommt es, dass für Husserl Platon wie eine Insel im Meer der Skepsis liegt, umgeben von Naturalismen, Psychologismen und Spielarten der Skepsis sowie Vorgängern und vor allem Nachfolgern, die an seine Radikalität
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 30. Hua VI (Krisis), S. 68. Hua XXV (Aufsätze II), S. 127. Hua VII (Erste Philosophie I), 74. Hua XXVIII (Ethik und Wertlehre), S. 35.
154
Abschnitt C Philosophie als Polemik
nicht heranreichen und seine Idee reiner Wissenschaft nicht weiter verwirklichen. Denn zunächst bleibt die Notwendigkeit und Eigenart einer solchen Wissenschaft dem ganzen Altertum unsichtbar, während sich gleichwohl ihr Mangel immerfort irgendwie fühlbar macht, also sich fühlbar macht die Unzulänglichkeit bisheriger Wissenschaft. Der historische Index dieser Sachlage ist sozusagen die Unsterblichkeit des Skeptizismus. Als unbesieglicher Geist der Verneinung begleitet er die blühende Entwicklung der antiken Wissenschaften, darin unermüdlich, jeder neuen Gestalt der Philosophie eine neue Antiphilosophie gegenüberzustellen.¹⁷⁰
Nachdem Platon das transzendentale Motiv der Sophistik übersehen hatte, glichen seine Nachfolger diesen Fehler nicht aus, sondern ent-radikalisierten sich sogar; die Geschichte der antiken Philosophie ist daher für Husserl in gewissem Sinn eine Verfallsgeschichte; erst mit Descartes beginne eine „im Grundcharakter neue Entwicklungsreihe“¹⁷¹, die auch eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus ermöglicht habe.
§ 13. Kritik: Metaphysische Fehlschlüsse (α) Husserls Einschätzung des Verhältnisses von Philosophie und Skeptizismus ist historisch wie systematisch bedenklich. Tatsächlich weist Husserls historische Annahme, dass erst mit Descartes’ vermeintlicher Entdeckung des Subjekts der Skeptizismus wirklich widerlegbar geworden ist, auf einen systematischen Fehler hin, nämlich eben auf die Annahme, nur ein phänomenologischer, d. h. transzendentaler Idealismus sei eine valide antiskeptische Strategie. Dies ist eine falsche Dichotomie zwischen Skeptizismus und Phänomenologie. Wir haben oben versucht, für Platon nachzuweisen, dass er sowohl Protagoras wie Gorgias systematisch widerlegt, ohne direkt einen transzendentalen Idealismus im Sinne Husserls zu entwickeln. Auch für den Neuplatonismus ist jedoch nachgewiesen, dass in der Philosophie Plotins der Skeptizismus in einer Form des Idealismus aufgehoben ist und diesen sogar motiviert, Plotin also klarerweise den „sachlichen Ernst der Problematik“, die durch den Skeptizismus aufgeworfen wurde, erkannt hat,¹⁷² wiederum jedoch ohne direkt auf einen transzendentalen Idealismus im Sinne Husserls zu verfallen. Dass wiederum schon Augustinus über
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 57. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 60. Vgl. Gabriel, Skeptizismus.
§ 13. Kritik: Metaphysische Fehlschlüsse
155
eine Variante des ego cogito verfügte, räumt Husserl sogar selbst ein: „In gewisser Weise zugeeignet hatte sich [den „transzendentalen Subjektivismus“] freilich schon Augustin, schon er hatte auf die Zweifellosigkeit des ego cogito hingewiesen.“¹⁷³ Husserl ist jedenfalls immerhin zuzugestehen, dass er, selbst, wenn ihm die Entwicklungen des neuplatonischen Idealismus aufgrund historischer Unbildung entgangen sind, die Wurzeln des Solipsismus und gleichzeitig Transzendentalismus schon in platonischer Zeit verortet. Die Leistung, diese Anlagen voll zu entwickeln, gesteht Husserl jedoch, wie gesehen, aber erst der Neuzeit zu, denn ihre Entwicklung geht dahin, den paradoxen, spielerischen, frivolen Subjektivismus, der die Möglichkeit objektiver Erkenntnis und Wissenschaft leugnet, durch einen neuartigen, ernsten Subjektivismus, durch einen in radikalster theoretischer Gewissenhaftigkeit absolut zu rechtfertigenden Subjektivismus zu überwinden, kurz gesagt, durch den transzendentalen Subjektivismus.¹⁷⁴
Die historische Fehleinschätzung ist insofern interessant, als an ihr Husserls Vorurteil zugunsten des transzendentalen Idealismus deutlich wird. Denn Husserl hat zwar Recht, wenn er der Antike einen spezifisch phänomenologischen Idealismus abspricht, übersieht dabei aber gänzlich, dass nicht jedes (erfolgreiche) antiskeptische Projekt die Gestalt eines transzendentalen Subjektivismus bzw. Idealismus annehmen muss, in dem jedes einzelne Ich die Welt monadologisch konstituiert. Denn selbst in der Neuzeit nimmt nicht jeder anti-skeptische Idealismus die Gestalt eines transzendentalen Subjektivismus an, denn auch Hegels absoluter Idealismus, der den Skeptizismus bekanntermaßen aufheben soll, verortet die Welt-konstituierende Subjektivitätsstruktur nicht im je einzelnen transzendentalen Ego, sondern in Idee und absolutem Geist. Gleichwohl sind auch solche Theorien objektiven Geistes dezidiert gegen jeden „frivolen Subjektivismus“ gerichtet, so dass sie als idealistische antiskeptische Alternative zum transzendentalen Idealismus ernst genommen zu werden verdienten. Husserl war dazu nicht recht imstande; so kennt er zwar die zitierte SophistêsStelle aus eigener Lektüre¹⁷⁵ und erwähnt sie sogar in einer Vorlesung,¹⁷⁶ übersieht aber offenbar ihre systematische Relevanz im Versuch, den Skeptizismus zu überwinden. Ein Grund für diesen exegetischen Lapsus in Bezug auf Platon besteht – neben Husserls systematischen Scheuklappen – sicherlich darin, dass die
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 61. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 61. BQ 365. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 197.
156
Abschnitt C Philosophie als Polemik
Einsicht in die teleologische Rolle der Sophistik bei Platon nicht explizit formuliert wird, sondern literarisch-performativ dargestellt ist: Der sophistisch-skeptische Anstoß ist in fast allen Werken Platons präsent, sei es in Form leibhaft anwesender Sophisten, durch Verweise anderer Dialogpartner, versteckte Anspielungen oder Sokratische Selbst-Einwürfe. Diese Dimension der Dialoge ist Husserl offenbar entgangen und so konnte ihn auch seine Platonlektüre nicht von der falschen Dichotomie zwischen Skeptizismus und Phänomenologie befreien. (β) Eine zweite falsche Dichotomie in Bezug auf den Skeptizismus zeigt sich besonders deutlich im ersten Teil der Krisis, nämlich die Dichotomie zwischen Skeptizismus und Metaphysik, die für Husserl in der Krisis zwar mit der Dichotomie von Skeptizismus und Phänomenologie zusammenfällt, aber eigentlich streng von ihr zu unterscheiden ist. In den einleitenden Abschnitten der Krisis bestimmt Husserl die Metaphysik als „Wissenschaft von den höchsten und letzten Fragen“, die alle „Probleme der Vernunft“ behandelt, die wiederum Fragen nach wahrer Erkenntnis, echter Wertung, ethischer Handlung, nach dem Menschen als „Vernunftwesen“, der „Vernunft in der Geschichte“, der „Unsterblichkeit“ und schließlich das „Gottesproblem“ umfassen.¹⁷⁷ Metaphysik behandelt also nach Husserl normative und teleologische Fragen, inklusive der oben bereits erwähnten „brennenden“ Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit des Lebens. Zugleich ist sie aber „Wissenschaft von der Totalität des Seienden“¹⁷⁸. Wie genau diese Bestimmungen zusammenhängen, bleibt völlig ungeklärt. Prima facie betreffen Fragen nach dem Sinn des Lebens oder der Geschichte nur einen sehr kleinen raumzeitlichen wie materiellen (ontischen) Ausschnitt des Seienden überhaupt, so dass dafür eigentlich keine Theorie von Allem nötig sein sollte; ganz abgesehen davon, dass Husserl seine (phänomenologisch wie dialektisch problematischen) Annahmen, es gebe überhaupt eine Totalität des Seienden und es könne eine Theorie davon geben, gar nicht begründet. Für das Verhältnis zum Skeptizismus ist jedenfalls entscheidend, dass Husserl offenbar annimmt, nur die Metaphysik als Wissenschaft von Allem (in Gestalt der Phänomenologie) sei imstande uns vor der „skeptischen Sintflut“¹⁷⁹ und dem aus ihr resultierenden Nihilismus zu retten. Diese Annahme beruht jedoch auf einem simplen logischen Fehler, denn das Gegenteil von „Alles“ ist nicht „Nichts“, sondern „nicht Alles“. Die Leugnung absoluter Vernunft und absoluter Theorie im Sinne einer Theorie der Totalität impliziert schlicht nicht die Absenz aller Vernunft und Theorie. Eben sowenig impliziert die Leugnung eines totalen, umfassenden, ewigen Sinns des gesamten
Hua VI (Krisis), S. 7. Hua VI (Krisis), S. 6. Hua VI (Krisis), S. 12.
§ 13. Kritik: Metaphysische Fehlschlüsse
157
menschlichen Daseins die Annahme, dass es überhaupt keinen Sinn im menschlichen Leben geben könne; Sinn im Leben ist nicht dasselbe wie Sinn des Lebens. Zwischen der völligen Unmöglichkeit aller Theorie (Skeptizismus) und der allumfassenden Theorie (Metaphysik) liegen unendliche viele Möglichkeiten der partiellen Theoriebildung; zwischen der gänzlichen Sinnlosigkeit und dem totalen Sinn liegen unendlich viele Möglichkeiten der partiellen Sinnbildung. Sich in dieser kritischen Zone zwischen Skeptizismus und Metaphysik, Unsinn und absolutem Sinn zu bewegen, ist jedenfalls nicht zwingend Zeichen einer „faulen Vernunft“¹⁸⁰. Wie bereits im Falle der Wissenschaftslehre neigt Husserl in der Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus dazu, dogmatisch exzessive Vorannahmen zu treffen, die wiederum die Gestalt falscher Dichotomien annehmen.¹⁸¹ Hier fehlt ihm also ein weiteres Mal die Platonische Aufmerksamkeit für die eigenen Voraussetzungen, die er selbst immer wieder einfordert. (γ) Zur systematischen Widerlegung des Skeptizismus und Relativismus sei schließlich noch angemerkt, dass eine einfache Retorsion selbst für die Zurückweisung der protagoreischen Position natürlich nicht ausreicht. Für Husserl ist die Auseinandersetzung mit dem Relativismus mit der oben beschriebenen ersten Retorsion zwar (meistens) vorbei, aber der Relativist ist an dieser Stelle eigentlich noch nicht gezwungen, sich geschlagen zu geben, denn der Widerspruch, der durch die Retorsion erzeugt wird, entsteht nur aus einer objektivistischen Perspektive, in der die beiden Positionen – die relativistische und ihr anti-relativistisches Gegenüber – zusammen in ihrem Widerspruch gedacht werden. Der Relativist ist aber nicht verpflichtet, diese Perspektive zu akzeptieren, er kann einfach daran festhalten, dass für seine Gegner die Theorie zwar falsch ist, für ihn aber wahr bleibt. Er ist nicht gezwungen, die Wahrheitswerte anderer Perspektiven zu importieren, ein objektives Wahrheitsprädikat anzunehmen oder einen objektiven Standpunkt zuzulassen. Damit sei gleichwohl nur bemerkt, dass die Debatte an dieser Stelle nicht zu ende sein kann – eine systematische Verteidigung eines phänomenologischen Idealismus oder Realismus als aktuell attraktiver antiskeptischer Position einerseits¹⁸² oder gegenüber realistischen Angriffen andererseits¹⁸³ geht über den Rahmen dieser Arbeit freilich weit hinaus.
Hua VI (Krisis), S. 14. Vgl. Zorn, Vom Gebäude zum Gerüst I, Abschnitte 6.3.3 und 4. Vgl. z. B. Zahavi, „Internalism, Externalism, and Transcendental Idealism“. Vgl. Zahavi, „The end of what?“, sowie Arnold, Keiling, „The Ways of the World“.
Teil II: Systematik
Nachdem wir im ersten Teil den programmatischen Übereinstimmungen zwischen Platon und Husserl nachgegangen sind, werden wir im zweiten Teil überprüfen, in wie weit Husserl sich auch Platonisches Gedankengut zueigen macht, wenn es um die konkrete Ausführung des Platonischen Programms, d. h. die philosophische Systematik geht. Dazu widmen wir uns zunächst dem Beginn der Philosophie und ihrem Verhältnis zur Lebenswelt (Abschnitt D), untersuchen danach die eidetische Methode und ihre Implikationen (Abschnitt E) und enden beim Ende der Philosophie, dem Absoluten (Abschnitt F).
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt § 14. Die Überwindung der natürlichen Einstellung Philosophie erfordert den Bruch mit dem natürlichen Weltleben.
a) Platon: Entfesselung, Lähmung und Tod Zu philosophieren bedeutet unter anderem, bestimmte Verhaltens- und Denkweisen des Alltags nicht fortzusetzen oder gar zu bekämpfen. Philosophie und natürliches Weltleben befinden sich […] geschichtlich in einem notwendigen Antagonismus, da die philosophische Reflexion das geradehin in die Welt Hineinleben und -wirken des Menschen radikal in Frage stellt und damit durchbricht. Die Weltpraxis sträubt sich vor der radikalen kritischen Reflexion aus Angst vor dem Verlust ihrer Verabsolutierungen und Idole und versucht, den Philosophen zum Verrat an seiner Wahrheit (Metabasis) zu bringen oder ihn loszuwerden, indem sie ihn lächerlich macht oder verurteilt¹. (Kern)
Da es in dieser Auseinandersetzung nicht um einzelne Urteile oder Handlungen, sondern um zwei grundsätzliche Haltungen geht, können wir Husserls Terminologie der Einstellungen auch für Platon übernehmen. Philosophie als Einstellung zu bestimmen, bedeutet auch, sie nicht mit einer Menge von Sätze, d. h. mit einer Lehre zu identifizieren. Sokrates meint seine Anklagewiderlegung also völlig ernst, er lehrt nicht,² Philosophie muss vielmehr (gemeinsam) vollzogen werden.³ Der Philosoph kennt sich auch nicht einfach nur auf einem bestimmten Gebiet besonders gut aus oder hat stattdessen (wie ein Fünfkämpfer) ein bisschen Ahnung von allem, wie der Autor der Anterastai Sokrates beweisen lässt.⁴ Philosophie besteht daher weder aus spezialwissenschaftlichen Fachkenntnissen noch aus breit aufgefächertem Halbwissen.⁵ Desgleichen beläuft sich Philosophie auch nicht auf eine bestimmte Technik, z. B. die der Dihairese. Abgesehen von der Tatsache, dass die dihairetischen Begriffsbäume höchstens eine Folge dialekti-
Kern, „Die drei Wege“, S. 348. Apol. 23C. Epist. 7 340B; 341B. Anterastai, 138E. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 982 A.
DOI 10.1515/9783110528053-006
162
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
scher Tätigkeit darstellen, wäre die Subsumtion von Dingen oder Fällen unter Begriffe sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal der Philosophie. Die Differenz zwischen der natürlichen und der philosophischen Einstellung wird bei Platon auf die Charaktere verteilt: „Socrates is the paradigm of the philosophical life and his interlocutors represent, in different ways, the people involved in the natural attitude.“⁶ (Sokolowski) Die Dialoge sind dann nichts anderes als eine gigantische Variation des Themas der Wendung oder HerumFührung („periagôgê“⁷) der Seele von einer Einstellung zur anderen. Platon verwendet mehrere Metaphern, um Momente des Bruchs der Philosophen mit dem natürlichen oder alltäglichen Leben darzustellen, darunter die der Lähmung (α), der Entfesselung (β) und schließlich der des Todes (γ). Man mag daneben zum Beispiel auch den Schluckauf aus dem Symposion unter diese Metaphern rechnen, ebenso wie Sokrates’ Tendenz einfach stehenzubleiben, wenn ihn ein Gedanke gefangenhält, die sich im Symposion sogar gleich zweimal manifestiert. (α) Nachdem Sokrates Menon in die Aporie geführt hat, beschreibt dieser die Wirkung, die Sokrates bei ihm bewirkt, folgendermaßen: du dünkst mich vollkommen, wenn ich auch etwas scherzen darf, in der Gestalt und auch sonst jenem breiten Seefisch, dem Krampfrochen zu gleichen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm zu nahe kommt und ihn berührt, erstarren. Und so dünkt mich, hast du auch mir jetzt etwas ähnliches angetan dass ich erstarre. Denn in der Tat an Leib und Seele bin ich erstarrt und weiß dir nichts zu antworten;⁸
Erler hat gezeigt, dass die Aporien der Frühdialoge stets verstanden werden können als Effekte einer konsequenten Auslegung einer gewöhnlichen, alltäglichen, d. h. vor- oder anti-philosophischen Position. Platon lässt Sokrates den „Verständnishorizont“ (Erler) der Gesprächspartner oder -gegner einnehmen, aus dem heraus sich die vorgelegten Fragen nicht lösen lassen. Sokrates zeigt den Gesprächspartnern durch die Erzeugung von Aporien die Schwächen ihrer implizit oder explizit vertretenen Position angesichts der entwickelten Frage und versetzt ihr Urteilen in die „Modalität der angekränkelten Gewissheit“⁹, wie man mit Husserl formulieren kann, was eine „cognitive interruption“¹⁰ (Arp) der natürlichen Gewissheit bedeutet. Die daraus resultierende aporetische Lähmung ist so das primäre Indiz für die Unhaltbarkeit einer Einstellung. Die Aporie dient dem
Sokolowski, „Husserl’s Discovery“, S. 173. Pol. 518D. Men. 80 A. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 333. Arp, „Penetrability“, S. 225.
§ 14. Die Überwindung der natürlichen Einstellung
163
Innewerden des Nichtwissens als einem erheblichen Mangel;¹¹ dieses hilflose Mängelbewusstsein (die Lähmung) bildet dann den Ausgangspunkt der dialektischen Arbeit. Die Aporie ist sozusagen philosophisches Oxytocin und die Lähmung das erste Anzeichen philosophischer Wehen.¹² Zur Revitalisierung nach der Lähmung, d. h. zur Auflösung der Aporien bedarf es dann einer „Sichtweise“, „welche nicht innerweltlich-technisch orientiert und auf bloße Bewältigung von Situationen des Lebens aus ist“¹³ (Erler), eben der Philosophie. Im Menon wird exemplarisch deutlich, welche Typen von Antwort durch die Sokratische Lähmung ausgeschaltet werden: Einerseits die bloße Angabe von Beispielen anstelle einer Definition; zu Beginn des Dialogs führt Menon auf die Frage, was Tugend sei, eine Menge Tugenden an, woraufhin Sokrates ironisch antwortet: „Gar besonders glücklich, o Menon, scheine ich es getroffen zu haben, da ich nur eine Tugend suche und einen ganzen Schwarm von Tugenden finde, die sich bei dir niederlassen“¹⁴. Diese Umwendung von der Vielheit des Schwarms zur Einheit der Idee ist klarerweise eine Instanz der eidetischen Reduktion, der wir uns später annehmen werden. Andererseits muss Menon auch vom oben besprochenen Versuch ablassen, ‚spektakuläre‘ materialistische Geschichten zu erzählen, denn durch sie kann er niemals zum Sein gelangen: Natürliche Abläufe sind stets konkret und Teil des Werdens und höchstens ihre (eidetische) Bestimmtheitsstruktur kann – als Seiendes – Objekt echten Wissens werden. Um das Wesen dieser Sokratischen Lähmung zu begreifen, ist es wichtig zu verstehen, dass Menons geäußerte Urteile nicht als falsch erwiesen, sophistisch widerlegt oder skeptisch bezweifelt werden:¹⁵ Alle Verhaltensweisen, die er als Beispiele für Tugend anführt, sind wirklich Instanzen von Tugend, und Farbwahrnehmung mag wirklich ein materieller Prozess sein. Trotzdem verfehlt er mit diesem Typ des Urteils die (eidetische) Dimension, in der die Aufklärung seiner ursprünglichen Frage möglich ist. Die aporetische Lähmung zielt mithin im Menon nicht primär auf die Widerlegung des Gesprächspartners, sondern dient der Vorbereitung eines Blickwechsels, indem bestimmte ‚natürliche‘ Typen von Urteilen inhibiert werden. Ähnliches gilt für alle Dialoge, in denen die Gesprächspartner keine Feinde sind, aber noch in ihren herkömmlichen Denkweisen gefangen, wie etwa Laches und Nikias im Laches oder Alkibiades und Lysis in den eponymen Dialogen.¹⁶ Selbst die Prognosen der Höhlenbewohner über die Er-
Ebert, Meinung und Wissen, S. 88. Theait. 151 A. Erler, Der Sinn der Aporien, S. 90. Men. 72 A. Vgl. Landmann, „Socrates as Precursor“, S. 15. Vgl. Erler, Der Sinn der Aporien, S. 289.
164
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
scheinung der Schatten im Höhlengleichnis müssen nicht falsch sein; problematisch an ihrem Treiben ist vielmehr, dass sie sich ihrer Situation nicht bewusst sind und die Tiefendimension des Seins zugunsten der Oberflächlichkeit des Höhlenkinos übersehen. (β) Die Fessel (desmo) steht im Höhlengleichnis primär für Torheit (aphrosynê), im Phaidon für die triebhafte Körperlichkeit.¹⁷ Torheit (aphrosynê oder amathia) im weiteren Sinn ist unangebrachte Selbstsicherheit; Platon reichert den Begriff zunächst um die technische Bedeutung an, dass der Tor seinen eigenen epistemischen Zustand nicht kennt, wie er Sokrates vor allem in der Apologie erläutern lässt. Nennen wir dies „epistemologische Torheit“. Sokrates’ Weisheit besteht demgegenüber in einer Form der reflektiven Bescheidenheit: „Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er [sc. ein sogenannter Weiser], dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.“¹⁸ Sokrates kennt sich z. B. in Handwerksdingen nicht aus, weiß aber zugleich um sein handwerkliches Unwissen; aus diesem Kontext stammt das berüchtigte „Ich weiß, dass ich nichts weiß“¹⁹, das also zu lesen ist als „Ich weiß, dass ich nichts weiß, was Handwerk angeht“. Eine solche Haltung erfordert nicht nur eine Reflexion auf die Inhalte des eigenen Wissens und Nicht-Wissens, es verlangt auch epistemologisches Verständnis über das Wesen des Wissens selbst, andernfalls würde sich Sokrates in Widersprüche verwickeln. Erstens würde er einen Anspruch erheben (nämlich zu wissen, dass er etwas nicht weiß), dessen Bedeutung er nicht explizieren könnte (weil er nicht wüsste, was er mit „ich weiß, dass p“ eigentlich sagt), was seinem Gebot des logon didonai widerspräche. Zweitens könnte er auch Sinn und Bedeutung des Gewussten (nämlich des Nicht-Wissens) nicht explizieren, was seiner eigenen Analyse des Wissens zuwiderliefe, die ja wesentlich auf Explizierbarkeit abhebt. Etwas zu wissen, impliziert für Sokrates auch, jeweils das Gegenteil (die Kontrastklasse) zu verstehen;²⁰ da er nun den Anspruch erhebt, um sein NichtWissen zu wissen, muss er also ebenso um dessen Gegenteil, d. h.Wissen wissen – sonst könnte er den Inhalt seines Wissens (sein Nicht-Wissen) nicht explizieren und wüsste es folglich nicht. Die in der Höhle Gefesselten können ihren Blick nicht zurück wenden, können also die geforderten Reflexionen nicht leisten; sie bleiben epistemologische Toren. In dieser Unfähigkeit, den Blick zu wenden, drückt sich zugleich eine ontologische Dimension der Torheit aus: Ein ontologischer Tor verwechselt Sein und Werden, er hält die Welt der wechselnden Erscheinungen mit unangebrachter Gewissheit für
Pol. 515C; Phaid. 67D. Apol. 21D. Apol. 22C. Ion 532C.
§ 14. Die Überwindung der natürlichen Einstellung
165
das einzig wahre Sein, wie die Höhlenbewohner, die ihr ganzes Leben lang auf flackernde Schatten starren (die gar keine zulässigen Objekte für Wissen darstellen), ohne sich ihrer onto-epistemologischen Irrtümer oder Naivitäten je bewusst zu werden. Die durch die Fesseln verschuldete Unfähigkeit, den Blick zu wenden, symbolisiert allerdings nicht nur die spezifische Unfähigkeit, die eigene Beschränktheit oder den Unterschied zwischen Sein und Schein zu erkennen, sondern auch die generelle Unwilligkeit, diejenigen Voraussetzungen zu reflektieren, die unsere Reden und Handlungen informieren und strukturieren. Als gefesselt müssen also nicht nur die Toren gelten, sondern auch, wer spricht und handelt, ohne je die (begrifflichen) Vorstellungen zu thematisieren, die er dabei immer schon investiert. Der Gefesselte lebt also in einem unreflektierten Selbstverhältnis, insofern er nie die in seinen „Handlungen und Absichten implizierten Meinungen, sowohl die Meinungen über Faktisches als auch die normativen Meinungen, in Frage stellt“²¹ (Tugendhat). Die epistemische Situation der Gesprächspartner vor der Entfesselung lässt sich daher treffend als „passively received doxa“²² (Hopkins) beschreiben: Erst die Aktivität des Philosophen durchbricht die natürliche Passivität und hinterfragt die überkommenen Meinungen und verwandelt sie in oder ersetzt sie durch wahres Wissen. Das Bild der Fessel wird also ergänzt durch das der Passivität oder Trägheit, der nur Sokrates’ Sticheleien ansatzweise entgegenwirken können.²³ Das ‚natürliche‘ Geistesleben der Menschen ist dabei im Durchschnitt so wenig rege, dass Sokrates sich unwillkürlich an die düsteren Verse eines Tragikers erinnert sieht: „Ich wenigstens wollte mich nicht wundern, wenn Euripides Recht hätte, wo er sagt „Wer weiß, ob unser Leben nicht ein Tod nur ist, gestorben sein dagegen leben?“, und ob wir vielleicht in der Tat tot sind. Was ich auch sonst schon von einem der Weisen gehört habe, dass wir jetzt tot wären, und unsere Leiber (sôma) wären nur unsere Gräber (sêma)“²⁴. Im Phaidon verbinden sich die Metaphern des Leib-Grabes und der Fesselung zu einem bedrückenden Bild: Das Sein nur „wie durch ein Gitter“ betrachtend wälzt der Mensch sich „in Torheit“ herum und verengt seine eigenen Fesseln stets nur weiter.²⁵ Der Leib ist das Gefängnis (desmôtêrion) der Seele.²⁶ Insofern ein freies, wahres Leben ein vernünftiges, d. h. an
Tugendhat, Selbstbewusstsein, S. 236; vgl. S. 30. Hopkins, „Paradoxical Inception“, S. 32. Apol. 30E. Gor. 493 A. Phaid. 82E. Krat. 400C.
166
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
den Ideen orientiertes Leben ist, verhindert unsere Fesselung an den Leib gerade ein solches Leben. Denn der Leib macht uns tausenderlei zu schaffen wegen der notwendigen Nahrung, dann auch, wenn uns Krankheiten zustoßen, hindern uns an der Jagd auf das Sein und auch mit Gelüsten und Begierden, Furcht und mancherlei Schattenbildern und vielen Kindereien erfüllt er uns; so dass recht in Wahrheit, wie man auch zu sagen pflegt, wir um seinetwillen nicht einmal dazu kommen, auch nur irgend etwas richtig einzusehen (phronesai).²⁷
Nicht nur lenken die leiblichen Begierden uns ab, verhindern normgerechtes Verhalten und motivieren uns sogar zu Kampf und Krieg, die Sinneswahrnehmung ist außerdem eine wenig geeignete Registratur zur Erfassung der Wahrheit, insofern das eigentlich wahrheitsfähige Sein (to alêthestaton) und das Wesen (ousia) der Dinge gar nicht vermittelst des Leibes erfasst, sondern nur im Denken erschaut werden können.²⁸ Die reine Sensorik macht uns nichts Wesentliches, d. h. Wesenhaftes zugänglich; genau genommen hat sie nicht einmal einen Gegenstandsbereich, da ein Wirrwarr oder eine Mannigfaltigkeit von wechselnden Sinnesdaten noch kein Gegenstand ist. Die kategorialen Formen der uns umgebenden Welt werden nicht durch die Sinne aufgenommen.²⁹ Das, was auch schon den Schatten und Erscheinungen an der Höhlenwand ihren geringen Grad an Bestimmtheit verleiht, übersehen wir daher, wenn wir – mit Hegel gesprochen – auf der Stufe sinnlicher Gewissheit beharren. Unsere Fesselung an den Leib zwingt uns bei Platon also eine gewisse Motivationsdimension (Triebe) und gewisse begrenzte Registraturen (Sensorik) auf. Sich in dieser Fesselung einzurichten bedeutet, am Leiblich-Triebhaften orientiert, ganz bei der natürlichen Umwelt zu sein, d. h. beim konkret Sichtbaren, Schmeckbaren, Fühlbaren etc., d. h. bei den Abbildern, nicht bei den Urbildern. (γ) Die Aussicht, sich aufgrund des Prädikaments der Verleiblichung auf ewig nur mit den Schatten des Seins begnügen zu müssen, ist in den Augen des Philosophen hinreichend schlimm, um die Fesselung an den Körper mit dem elenden Schicksal der Schatten in der Unterwelt zu vergleichen. Ist dann also die Entleibung die einzige Möglichkeit, der Fesselung an den Leib zu entkommen? Platon denkt den Leib zwar nicht als transzendentales Organ, das die Konstitution einer Welt überhaupt erst ermöglicht, aber sein Verhältnis zum Leib ist gleichwohl nicht gnostisch. Um die Störungen durch den Leib zu minimieren, bedarf es einfach eines rigorosen Trainings,wie es etwa in der Pädagogik der Politeia entworfen oder
Phaid. 66B. Phaid. 65D Phaid. 75 A.
§ 14. Die Überwindung der natürlichen Einstellung
167
noch im Timaios von allen Geistesarbeitern eingefordert wird.³⁰ Um das orphischpythagoreische Cotard-Syndrom der Verleiblichung zu überwinden, bedarf es nicht des physischen Todes, wohl aber des philosophischen Sterben-Lernens. Denn: Heißt dies nicht Tod, Erlösung und Absonderung (lysis kai chorismos) der Seele von dem Leibe? – Allerdings, sagte jener. – Und sie zu lösen streben immer am meisten, sagte er, nur allein die wahrhaft Philosophierenden; und eben dies also ist das Geschäft der Philosophen, Befreiung und Absonderung der Seele von dem Leibe, oder nicht? – Offenbar. […] In der Tat also, o Simmias, trachten die richtig Philosophierenden danach zu sterben und tot zu sein ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar.³¹
Der philosophische Tod ist nicht der leibliche Tod, sondern eine Abwendung der Seele vom Werden und damit auch eine Neukonfiguration ihrer inneren Herrschaftsverhältnisse. Dazu gehört der onto-epistemologische Themen-Wechsel von Werden/Wahrnehmung auf Sein/Denken und der ethische Motivations-Wechsel von Begierde auf Vernunft, d. h. sozusagen die Machtergreifung des inneren Menschen und die Orientierung an den Ideen. Wer so stirbt, hört zwar nicht auf, einen Körper zu haben, wendet seinen Blick und sein Interesse aber – mehr oder weniger – vom Reich der sinnlichen Gegenstände ab. Sokrates selbst trinkt kräftig mit seinen Freunden und treibt Sport; dass er zu Letzterem nach dem Gelage bei Agathon als Einziger imstande ist, symbolisiert zugleich seine Unbetreffbarkeit durch Weltliches – in diesem Fall Alkohol. Auch die Sokratische Weigerung, sein Leben an die politischen Wirren seiner Zeit aufzugeben, ist ein Echo dieses Todes, denn wer mit der Philosophie sterben lernt, stirbt für das Spiel um Macht und Besitz. Aus genau diesem Grund würde man sich in einer Stadt „guter“, d. h. philosophischer Männer „um das Nichtregieren ebenso streiten wie jetzt um das Regieren“³², wenn nicht sogar mehr; wer den philosophischen Tod gestorben ist, hat wenig Interesse daran, Regierungsgeschäfte zu übernehmen, sieht aber – qua philosophisch-wissenschaftlicher Bildung – am deutlichsten, was getan werden muss: „Welche anderen also willst du nötigen, mit der Fürsorge (phylakê) für den Staat sich zu befassen, als welche sowohl dessen am kundigsten sind, wodurch ein Staat gut verwaltet wird, als auch welche zugleich andere Belohnungen kennen und eine andere Lebensweise als die staatsmännische?“³³ Wer philosophisch gestorben ist, lässt sich nach Platon mit mundanen Mitteln nicht mehr korrumpieren.
Tim. 88C; vgl. Tim 90Cff. Phaid. 67Dff. Pol. 347C. Pol. 521B.
168
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
b) Husserl: Epochê „Die Phänomenologie bedeutet als philosophische Wissenschaft, als episteme, einen Bruch mit der natürlichen Einstellung, der doxa“³⁴ (Held). Analysiert man die natürliche Einstellung als eine bestimmte, habitualisierte Art und Weise des Sprechens, dann involviert der Schritt in die Phänomenologie „a radical break with certain normalized modes framing both everyday discourse and philosophical analysis.“³⁵ (Welton).Wie vollziehen die Phänomenologen diesen (Diskurs‐) Bruch? Wir können die unter den Metaphern der Lähmung, der Entfesselung und des Todes explizierten Momente auf das Husserlsche Vorgehen abbilden: Der Sokratischen Lähmung entspricht die Inhibition der natürlichen Urteilspraxis (α), der Entfesselung die Gewinnung der transzendentalen Unbefangenheit (β) und dem philosophischen Tod, was Husserl Aufgabe der „Weltkindschaft“ nennt (γ). (α) In Ideen I charakterisiert Husserl den ersten Schritt in die Phänomenologie folgendermaßen: „Die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis setzen wir außer Aktion, alles und jedes, was sie in ontischer Hinsicht umspannt, setzen wir in einem Schlage in Klammern“³⁶. Was bedeuten diese Metaphern? Die sogenannte Einklammerung soll „eine voraussetzungslose Beschreibung jener Sinnstrukturen ermöglichen, die aller Erkenntnis zugrunde liegen. Hierzu müssen wir unser Interesse von den Dingen, über deren Sein und Sosein wir im Alltag und in den Wissenschaften urteilen, zurücknehmen, uns indifferent gegenüber allen auf sie bezüglichen Erkenntnisansprüchen verhalten.“³⁷ (Rinofner-Kreidl) Das heißt zunächst einmal, keine Wissenschaft mehr zu betreiben (keine wissenschaftlichen Urteile mehr zu fällen) und auch unseren Alltagstätigkeiten nicht mehr nachzugehen (keine lebensweltlichen Urteile mehr zu fällen). Korrelativ dürfen wir uns auf keinen einzigen Gegenstand mehr geradehin beziehen, d. h. ihn so betrachten, behandeln, bedenken, beurteilen, wie wir dies sonst tun. Der Bruch mit der natürlichen Einstellung ist daher „eine universale Modifikation der Natürlichkeit“³⁸, d. h. es bleibt kein mundanes Urteil in Geltung und keine mundane Apperzeption unberührt – darin besteht die Reinheit der phänomenologischen Einklammerung, im Gegensatz zu den lokalen Urteilsenthaltungen, wie sie auch in den Einzelwissenschaften oder im Alltagsleben vorkommen können, bei denen nicht alle Urteile und Apperzeptionen ausge-
Held, „Husserl und die Griechen“, S. 139 Welton, The Other Husserl, S. 28 f. Hua III (Ideen I), S. 67. Rinofner-Kreidl, Mediane Phänomenologie, S. 97. Mat VIII (C-Manuskripte), S. 119.
§ 14. Die Überwindung der natürlichen Einstellung
169
schaltet werden.³⁹ „Im wissenschaftlichen Rahmen der Phänomenologie kommt also […] kein Satz vor, der die Welt […] betrifft“⁴⁰. „The epoché, then, has the essentially negative function of inhibiting the ontological assumptions that keep „the life on the plane“ from recognizing its dependence on the meaning-constituting „life of depth“.“⁴¹ (Crowell) Diese Bezogenheit oder Abhängigkeit zu erkennen und zu explizieren, ist jedoch schon Aufgabe der eigentlichen phänomenologischen Reduktion, d. h. der zweiten, positiven Phase der Umwendung bei Husserl, der wir uns weiter unten widmen. Die Epochê macht die negative Seite jener Bewegung aus, in ihr grenzt sich der werdende Philosoph von allen Spielarten der natürlichen Einstellung ab,vor allem aber auch von allen anderen (vermeintlich) philosophischen Positionen; so schafft sie überhaupt „Freiheit von philosophischen Vorurteilen“⁴² (Keiling). Die Epochê bleibt im Verlauf der Forschung in Kraft, da sie die Funktion hat, die sich entwickelnde Philosophie vor einer „Kontaminierung“⁴³ durch bloß positive Welterschließung zu bewahren.⁴⁴ Denn „der Transzendentalphilosophie droht beständig eine [grch.] metabasis eis allo genos, d. h. eine Metabasis von der Transzendentalität in die Positivität, von der transzendentalen Einstellung in die objektiv-mundane“.⁴⁵ (Kern) „Der Sinn der Einklammerung“ nach dem ersten Vollzug der Epochê „ist also der einer Mahnung, nicht geradehin ontisch zu urteilen und von ontischen zu ontischen Urteilen fortzuschreiten, nicht geradehin den Sachen des Gebiets und ihren Zusammenhängen nachzugehen, in natürlicher Betätigung der Evidenz“⁴⁶. Obwohl er den Bruch mit der habitualisierten Urteilspraxis mit dem skeptischen Terminus „Epochê“ belegt und dessen Universalität „analog“⁴⁷ zum universalen Zweifel des Skeptikers ist, stellt die Epochê für Husserl keine skeptische Operation dar, da sie die Urteile und die doxischen Vollzüge, auf die sie angewandt wird, nicht einfach einer negativen Modifikation unterzieht; vielmehr werden sie inhibiert oder neutralisiert. „Von einer skeptischen Einstellung, einer skeptischen [grch.] epochê ist hier also keine Rede“⁴⁸. Insofern die natürlichen Urteile nicht dem Zweifel anheimgegeben werden, sondern vielmehr die gesamte Einstellung,
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 418. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 423. Crowell, Normativity, S. 46. Keiling, „Phänomenologische Freiheit“, S. 243. Kern, Husserl und Kant, S. 227. Vgl. Kern, Husserl und Kant, § 18 (c), S. 218 ff. Kern, Husserl und Kant, S. 220. Vgl. S. 223. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 502. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 374. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 109.
170
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
auf deren Boden sie gefällt werden, „ausgeschaltet“, „außer Aktion gesetzt“, „suspendiert“ oder „inhibiert“ wird, wiederholt die Husserlsche Epochê die Sokratische Lähmung (und zwar in großer metaphorologischer Nähe). Die von Husserl angenommene Motivationslage für die Epochê ist ebenfalls Platonisch:⁴⁹ Bei konsequenter Explikation gewisser ‚natürlicher‘ Positionen stellt sich heraus, dass diese ihre Ziele nicht mithilfe ihrer eigenen Ressourcen erreichen können. Diese Diagnose liegt allen „Wegen“ in die Phänomenologie zugrunde, die damit als Erfüllung eines Zieles inszeniert wird, das anderweitig keine Erfüllung finden könnte, oder als Ausweg aus einer mundan nicht zu lösenden Schwierigkeit.⁵⁰ Auf dem ersten, cartesianischen Weg soll sich die Phänomenologie als einzige Möglichkeit erweisen, der Cartesianischen Forderung nach einer absolut apodiktischen Wissenschaft nachzukommen, indem sie auf die absolute Gegebenheit der Subjektivität zurückgeht. Auf dem zweiten Weg über die Psychologie soll allein die Phänomenologie imstande sein, den ursprünglichen psychologischen Anspruch,Wissenschaft von der Subjektivität zu sein, einzulösen, indem sie die partiellen Einklammerungen der Psychologie totalisiert und ihre positivistische Abstraktion aufhebt und die Paradoxie der Subjektivität durch die Einführung des transzendentalen Ego auflöst. Und auch auf dem dritten Weg über Ontologie und Logik soll sich herausstellen, dass nur die Phänomenologie in der Lage ist, alle Fragen nach dem logisch-ontologischen Apriori konkret und abschließend zu beantworten, indem sie in transzendentaler Reflexion der Rückbindung des Ontischen an das Transzendentale nachgeht. Für alle Wege wird die Wendung zur Phänomenologie und vor allem der erste Schritt der Epochê also durch ein von Husserl diagnostiziertes Ungenügen vorgängiger Anstrengungen motiviert. Dass damit das Motivationsproblem der Phänomenologie nicht annähernd gelöst ist, wird sich unten zeigen. (β) Auch das Metaphernfeld der Entfesselung und der Befreiung wird in der Phänomenologie bedient, wenn etwa Fink schreibt, Funktion der Epochê sei, „Befangenheit-in-einer-Geltung sprengen und die Geltung überhaupt als Geltung erkennen“⁵¹ (Fink). Ziel der Epochê ist in seinen Worten die „transzendentale Unbefangenheit“⁵² (Fink) des Philosophen gegenüber der „Weltbefangenheit“⁵³
Hopkins „Paradoxical Inception“, S. 43. Kern, „Drei Wege“. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 44. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 46 Cairns, Conversations, S. 95.Vgl. dazu Giubilato, Reduktion und Freiheit, Kap.V. Die vorzügliche Arbeit von Giubilato konnte leider für die Überarbeitung dieser Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden, obwohl sie für viele in der vorliegenden Arbeit angezeigten Probleme darlegt, wie Fink über Husserl hinausdenkt. Ich danke Hans Rainer Sepp für den Hinweis auf Giubilatos Arbeit.
§ 14. Die Überwindung der natürlichen Einstellung
171
(Fink bei Cairns) des natürlichen Menschen. Husserl formuliert denselben Punkt in geradezu Hegelianischem Vokabular: Durch die phänomenologische Umwendung „befreie ich mich von der „unbewussten“ „Abstraktion“ der Positivität und erkenne das Positive selbst zugleich als bloßes Abstraktum, als Unselbstständiges“⁵⁴, nämlich als unselbstständig gegenüber der transzendentalen Subjektivität.⁵⁵ In diesem Sinne lässt sich dann die „transzendentale Wendung“ auch als eine „nochmalige Distanzlegung zu jedem Naturalismus, Physikalismus, Psychologismus und Anthropologismus“⁵⁶ (Blumenberg) verstehen. Die Spannung zwischen natürlicher Einstellung und Philosophie ist die „zwischen psychologisch irgendwie erwachsenem (und in natürlicher Denkfaulheit als bequeme Gewohnheit hingenommenen) Zwang und andererseits Autonomie, deren Wesen überall Freiheit ist.“⁵⁷ Die Umwendung ist also auch für Husserl die Befreiung der Menschheit von irrationaler und kontingenter Trägheit hin zu rationaler, notwendiger und freier Tätigkeit – von Fink, der geradezu als Denker der Freiheit gelten muss, ganz zu schweigen. (γ) Durch die universale Epochê ergibt sich nun ein am Dasein und Sosein der mundanen Dinge „uninteressierter Zuschauer“⁵⁸, der durch die Lähmung der Einklammerung befreit ist vom „Motivationszwang des natürlichen Lebens“⁵⁹ und damit auch in „Indifferenz“ „zu seiner Leiblichkeit“⁶⁰ (Blumenberg) steht.Wie der Meergott Glaukos seine Hülle abstreift, so nimmt auch der phänomenologische Beobachter sich ganz aus dem Weltgeschehen heraus, andernfalls bliebe ihm der reflexive Blick verwehrt – transzendentale Reflexion und mundane Immersion schließen sich gegeseitig aus. Der Phänomenologe ist daher nicht nur kontingent „uninteressiert“⁶¹. Wenn der uninteressierte Zuschauer integraler Bestandteil der Phänomenologie ist, dann scheint sie jedoch zumindest in dieser Hinsicht geradezu anti-Platonisch, denn Sokrates ist prima facie sicherlich kein uninteressierter Zuschauer, sondern eher „Gefolgsmann der Unruhe“, der „den Dissens als solchen in die Gesellschaft trug“⁶² (Konersmann). Sokrates hätte sich auf den ersten Blick jedenfalls nicht auf „Husserls Zauberberg“ in dessen „theoretisches Sanatorium“⁶³ (Sloterdijk) entrücken lassen. Die Sokratische Dialektik will keine Theorie derer
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 285. Vgl. Cairns, Conversations, S. 46. Blumenberg, Beschreibung, S. 22. Mat IX; S. 38. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 92. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 79. Blumenberg, Beschreibung, S. 107. Hua VI (Krisis), S. 242. Konersmann, Die Unruhe der Welt, S. 63. Sloterdijk, Philosophische Temperamente, S. 119.
172
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
sein, die aus ihrem „Reservat“⁶⁴ heraus „ohne Gefahr bedenklicher Antworten radikal fragen wollen.“⁶⁵ (Adorno) Sokrates ist vielmehr derart umtriebig, dass die konservativen Kräfte sich zu einem Justizmord genötigt fühlen. Dagegen ist einzuwenden, was wir oben bereits ausgeführt haben: Sokrates ist für das natürliche Leben ‚gestorben‘, denn er hat sich bewusst nie auf das politische Treiben Athens eingelassen. Das politische Leben ist aber für Platon, ganz anders als für Husserl, die wichtigste Spielform der natürlichen Einstellung: „The „foil“ for philosophy in Husserl is science (especially psychology) and ordinary life, but the main foil for Plato is politics. Political life is the analogue in Plato to the natural attitude in Husserl, and in Plato Socrates (or his replacement) is the one who has carried out the transcendental reduction.“⁶⁶ (Sokolowski) Es waren keine natürlich-mundanen (z. B. machtpolitischen oder unternehmsberaterischen, d. h. sophistischen) Umtriebe, die Sokrates zum Verhängnis wurden, sondern gerade seine Entrücktheit. Sloterdijks Bemerkung über „Husserls Zauberberg“, in der der kritische Spott über Husserls „Residualtheorie“⁶⁷ (Adorno) anklingt, hat eine absolut präzise antike Entsprechung, nämlich in Aristophanes’ Bild des verschrobenen Sophisten Sokrates in den Wolken (in den Wolken), der sein Tun Strepsiades gegenüber mit den Worten erklärt: „Ich wandle Luft und überseh die Sonne.“⁶⁸ Husserl denkt die Abwendung von der natürlichen Einstellung auf gewisse Weise als Ent-Menschung, denn im Verlauf der Umwendung werden „wir unser Menschsein übersteigen, durch phänomenologische Reduktion aufsteigen zur universalen Apperzeption und zur transzendentalen Subjektivität als der Stätte ihrer Leistung“⁶⁹. Der Phänomenologe übersteigt sein Menschsein, indem er die Selbstapperzeption „Mensch“ inhibiert. Nach der Umwendung bin ich folglich „nicht der Mensch in der Welt, sondern das Ich, durch dessen „transzendentales“ Leben […] eben ein Menschen-Ich erst ist.“⁷⁰ Die Phänomenologie erfüllt so die „große Aufgabe“, unsere „Weltkindschaft“ aufzugeben.⁷¹ Die Epochê verwandelt das mundane Ich in das Ego, „das frei über allen Geltungen, über dem Geltungsuniversum, über der totalen naiv seienden Welt steht.“⁷² Ricoeur nennt daher die Epochê zurecht einen „act of rupturing“⁷³. Fink formuliert sogar noch dras
Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 52 Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 115; vgl. S. 140, S. 158. Sokolowski, „Husserl’s Discovery“, S. 173. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 23. Aristophanes, Die Wolken, V. 225. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 300. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 266. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 123. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 219. Ricoeur, Husserl, S. 95.
§ 15. Himmel und Feld
173
tischer: „der Mensch entmenscht sich sich im Vollzug der Epoché“⁷⁴. Zu diesem phänomenologischen Drang, sich aus dem natürlichen Leben herauszunehmen, bemerkt schließlich Blumenberg lakonisch: „Der letale Fall geht der theoretisch optimalen Reflexionslage voraus.“⁷⁵ – Womit auch der Bogen zu Sokrates’ Charakterisierung der Philosophie als Sterben-Lernen geschlagen wäre, denn Blumenberg hat ganz recht, sofern wir den „letalen Fall“ metaphorisch genau im Sinne der oben beschriebenen radikalen Abwendung vom natürlichen Leben verstehen. Der Phänomenologe muss dann wirklich denselben philosophischen Tod sterben wie der Dialektiker, durch den er die Lebenswelt verlässt und sich gegen sie immunisiert. „Unbetroffenheit und Unbetreffbarkeit“⁷⁶ (Blumenberg) durch Weltliches zeichnet auch in der Phänomenologie ein „gottgleiches Reservat“ aus, das die Philosophie im Menschen schafft. Dies ist zugleich die Austreibung der Anthropologie aus der Phänomenologie: „Das phänomenologische Subjekt bemerkt sich selbst als den, der Gott sein kann; in demselben Augenblick wird es sich als Mensch gleichgültig.“⁷⁷ (Blumenberg)
§ 15. Himmel und Feld Dialektik und Phänomenologie erschließen sich jeweils einen eigenen, nicht-natürlichen Gegenstandsbereich.
a) Platon: Aufstieg An Lähmung, Entfesselung und Tod schließt sich in der Metaphorik des Höhlengleichnis’ der Aufstieg von den Schattenbildern (skia) der Höhle zu den echten Dingen (on) der Oberwelt an.⁷⁸ Analog dazu erlangen die Seelen der Menschen auch im Phaidros die Erkenntnis der Ideen am „überhimmlischen Ort“ nur nach steilem Aufstieg.⁷⁹ Der Platonischen Ontologie gemäß findet hier also eine ontologische Umorientierung statt: Vom sichtbaren Werden (unten) zum unsichtbaren Sein (oben). Da das Werden nur Abbild (eidôlon) des Seins ist, ist das entdeckte Sein auch das Sein des Werdens: Wer jenseits der Höhle die Ideen und
Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 44. Blumenberg, Zu den Sachen, S. 330. Blumenberg, Beschreibung, S. 386. Blumenberg, Beschreibung, S. 190. Pol. 515D. Phaidr. 247B.
174
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
die mathematischen Gegenstände schaut, versteht dasjenige, was an an den Schatten innerhalb der Höhle überhaupt bestimmt ist. Sein ist Bestimmtheit.⁸⁰ Was an einem realen Tisch intelligibel ist, ist nichts anderes als die Idee des Tisches, die dem Werden einen gewissen Grad an Bestimmtheit verleiht. Ganz abstrakt gesprochen wendet sich der Philosoph also von den mehr oder weniger bestimmten, sich ständig verändernden Einzeldingen zur Dimension der Bestimmtheit dieser Einzeldinge selbst. Statt z. B. um das Wesen der Tugend dreht sich das natürliche Gespräch nur um einzelne Fälle; statt das Wesen des Wissens zu klären, reicht es dem natürlichen Menschen, so zu (er)scheinen, als besäße er Wissen etc. Unter Verwendung einer anderen (Husserlschen) Metapher lässt sich dieser Aspekt der Umwendung auch als Wechsel von der Oberfläche in eine strukturelle Tiefe beschreiben: Wir sind nach der Umwendung nicht mehr an Identitäten und Differenzen auf der Ebene der Mannigfaltigkeit von Einzelfällen interessiert, sondern an den sie als Exemplare oder Instanzen bedingenden Wesensstrukturen; wir interessieren uns nach der Umwendung für die Hinsichten, unter denen Identität und Differenz möglich sind. Bei Platon spiegelt sich dieser Wechsel von Oberfläche zu Tiefe auch im Umgang mit Sprache: Die meisten Gesprächspartner des Sokrates sind zwar halbwegs kompetente Begriffsverwender, die Bedeutung der Worte, die sie verwenden („Tapferkeit“, „Klugheit“, „Wissen“ etc.), kann indes kaum jemand explizit angeben. Sokrates unterbricht diesen unreflektierten Gebrauch der Sprache zugunsten der Explikation allgemeiner Bedeutungen – die Etablierung des Wesens-Diskurses ist der semantische Niederschlag des Aufstiegs; literarisch ist er markiert durch Wendungen wie das berüchtigte „ti estin;“ Platon kann diesen Wechsel zum Wesens-Diskurs als Aufstieg, d. h. als Erringung einer überlegenen Überblicks-Perspektive verstehen, weil er es erlaubt, dasjenige an allen natürlichen Diskursen in den Blick zu nehmen, das ihnen allen überhaupt Bestimmtheit verleiht, nämlich die Ideen. Der – quasi horizontale – Wechsel zwischen den alltäglichen, gewöhnlichen, natürlichen Diskursen der Tagespolitik, der Rhapsoden, der Handwerker oder auch der Militärs erlaubt dagegen kein solches fundierendes Verständnis, da die Diskurse alle auf derselben, mundanen Ebene ablaufen. Ein Vordenker dieser Unterscheidung ist ohne Frage Heraklit, wenn er sagt „sie [die Masse] verstehen nicht,wie das Unterschiedene (diapheromenon) mit sich übereinstimmt (homologeei): wi(e)der-wendige Übereinstimmung (palintropos harmoniê), wie des Bogens und der Leier.“⁸¹ Bogen und Leier scheinen völlig
Hölscher, Der Sinn von Sein. DK 22, B 51.
§ 15. Himmel und Feld
175
unterschiedlich zu sein; oberflächlich betrachtet, vereint sie wenig, vor allem gehören sie zwei völlig unterschiedlichen Lebensbereichen an. Die tiefere Übereinstimmung liegt in ihrer gemeinsamen Form oder Struktur des Gebogen-Seins, die natürlich selbst auch figural eine „gegenstrebige Vereinigung“ darstellt (so die DK-Übersetzung von „palintropos harmoniê“); dazu kommt ihre symbolisch-mythologische Einheit in Apoll, dessen ambivalente Attribute sie gemeinsam bilden. Dass die breite Masse diesen strukturellen Blick nicht entwickelt, hat seine Gründe nicht bloß bei der – von Heraklit gerne betonten – intellektuellen Unfähigkeit des Durchschnittsmenschen, sondern ist auch dem Charakter der Übereinstimmung von Bogen und Leier selbst geschuldet, sie ist nämlich „unsichtbar“ oder „unscheinbar“ (aphanês)⁸². Da die Übereinstimmung hier aber das Wesentliche ist, ist das Wesentliche also unsichtbar, wie auch Platon immer wieder betont.⁸³ Die ontologische Umwendung ist zugleich auch eine epistemologische Veränderung. Dies folgt unmittelbar aus der onto-epistemologischen Korrelationsthese, die Platon im Liniengleichnis expliziert. Die Schatten der Höhle sind demnach – als werdende – nicht wirklich erkennbar, erst das Jenseits der Höhle ist der „Bezirk des Einsehbaren (noêtos topos)“⁸⁴; die ontologische Bestimmung des Themas der Philosophie als des Unsicht-, dafür aber Denkbaren (noêton)⁸⁵ rekuriert selbst ja schon auf unsere Zugangsweise zum so Charakterisierten, nämlich das Denken dieses Nur-Denkbaren. Der Aufstieg aus der Höhle hat daher den Tausch von bloßer Meinung zugunsten echter Erkenntnis zum Ziel. Vordenker für diesen epistemologischen Einstellungswechsel ist einerseits sicherlich wieder Heraklit, andererseits aber Parmenides, insofern die „streitreiche Prüfung (polydêris elenchos)“⁸⁶ der beiden ontologischen Optionen in seinem Lehrgedicht anhand der epistemologischen Kriterien der Denkbarkeit, Beweisbarkeit und Verlässlichkeit entschieden wird: Nur ein Weg ist denkbar, beweisbar und verlässlich, der andere dagegen unerkundbar, unerkennbar, unsagbar.⁸⁷ Wer dem falschen Weg nachgeht, ist „stumm zugleich und blind“⁸⁸. Parmenides weist außerdem auf das alethiologische Element der philosophischen Umwendung hin: Der Weg des Seins und der Überzeugung „folgt nämlich der Wahrheit“⁸⁹, der „wohlgerundeten“, die den (bloßen) „Meinungen der Sterblichen (brontôn doxas)“ entgegen-
DK 22, B 54. Phaid. 78Eff; Soph. 247 A. Pol. 517B. Pol. 509D. DK 28, B 7. DK 28, B 2 & 8. DK 28, B 6. DK 28, B 2.
176
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
gesetzt ist.⁹⁰ Im Liniengleichnis wird diese Zuordnung von Wahrheit zu Wissen und Unwahrheit zu Meinung explizit wiederholt.⁹¹ Der Unterschied zwischen vorphilosophischem Denken und Philosophie beruht dabei nicht darauf, dass der Philosoph andere Gegenstände kennt oder thematisiert als der Nicht-Philosoph. Philosophisches Wissen im Gegensatz zur Meinung ist nicht nur einfache Kenntnis der Ideen, sondern eben Erkenntnis, die wiederum methodisch errungen, d. h. ganz anders vermittelt ist als bloße Kenntnis.⁹² Wie der Philosoph zu eidetischem Wissen gelangt, wird Thema des folgenden Abschnitts. Aus der Korrelation von Werden-Meinung-Unwahrheit folgt jedenfalls, dass die Höhlenbewohner niemals Wissenschaft im Platonischen Sinn betreiben (können), denn ihre hauptsächliche epistemische Tätigkeit besteht im Versuch, die vorüberziehenden Schatten zu kennenzulernen und ihr Auftauchen zu prognostizieren.⁹³ Schatten sind nicht nur Teil des Werdens, sie sind außerdem ontologisch abhängig vom Gegenstand, der sie wirft; solange nur Seiendes gewusst werden kann (und überhaupt wahres Wissen wiederum die Erkenntnis des ontoepistemologischen Apriori einschließt), ist eine ‚Wissenschaft der Schatten‘ gänzlich unmöglich. Erst der Aufstieg, d. h. die Orientierung an den ewigen, nur denkbaren Bestimmtheitsstrukturen aller Dinge, kombiniert mit einem dialektisch-erkennenden Zugriff darauf, ermöglicht also Wissenschaft, da erst durch ihn der Bereich des Seins zugänglich wird. Auch in diesem Sinne ist die Umwendung ein Aufstieg oder vielmehr ein Fortschritt, jedenfalls ein philosophischer Landgewinn. Mit der Umwendung werden also gewisse Wege der Forschung freigelegt, beschritten und gesichert, die der natürlichen Einstellung verborgen sind. Hier zeigt sich auch, dass Platons Methoden-Begriff ebensowenig wie der Husserlsche in dem der technisch-algorhitmischen Regelanwendung aufgeht: Die „dialektikê methodos“ besteht nicht aus einem Satz von Regeln, die sich mechanisch anwenden ließen, sie ist vielmehr der Weg, der den Philosophen und seine Begleiter erst vor ihr eigentliches Thema bringt und ihnen dann erlaubt, es angemessen zu erforschen. Die Dialektik ist methodische Philosophie, insofern sie diesen Weg bewusst geht, d. h. sich reflexiv über ihre eigenen Normen und Ziele klar wird und sich ihre Objekte sucht. Der oben besprochene Metaphernkomplex beschreibt dann das, was dem Beschreiten dieses neuen Weges vorhergehen muss: Die Möglichkeit des Aufstiegs
DK 28, B 1. Pol. 510 A. Ebert, Meinung und Wissen. Pol. 516D.
§ 15. Himmel und Feld
177
wird erst sichtbar, wenn wir uns alle anderen Wege selbst versperren, philosophisches Urteilen wird erst möglich, wenn wir ‚natürliches‘ Urteilen inhibieren. Diese Inhibition bedeutet zugleich eine Absetzung des Philosophen gegenüber der ‚natürlich‘ vor-sich-hin-denkenden Masse. Auch darin übernimmt Platon Motive seiner Vorgänger, die wiederum auch für Husserls Denken bestimmend sind: So ist die Philosophie ihrem frühesten Selbstverständnis nach definiert durch die Selbstunterscheidung von einer selbstverständlichen, allen Menschen gemeinsamen Denk- und Verhaltensart, die man durchaus mit Husserl als „natürliche Einstellung“ bezeichnen kann. Auch Platon übernimmt diese älteste Idee von Philosophie: Als episteme, als Wissen im emphatischen Sinne, profiliert sich das platonische Denken durch den Mund des Ironikers Sokrates als Kritik an der doxa, der „bloßen Meinung“. In dieser platonischen Fassung hat Husserl die älteste Idee von Philosophie in der Krisis übernommen.⁹⁴ (Held)
Die Abgrenzungsbewegung geht so weit, dass Parmenides’ Göttin den Protagonisten des Lehrgedichts sogar „außerhalb von der Menschen Pfade (anthrôpôn ektos patou)“⁹⁵ sieht, was sich bei Platon z. B. im „überhimmlischen Ort“ des Phaidros spiegelt, an dem die wahren Philosophen im Gefolge der Götter das Sein schauen. Platon treibt die Abwendung vom normalen Menschen so weit, dass Sokrates manchmal in geradezu un-menschlichem Licht erscheint – Alkibiades’ scharfsichtiger Vergleich mit dem Silen Marsyas beruht sicherlich nicht nur auf Sokrates’ satyrischem Aussehen; Sokrates ist eine dämonische Gestalt – wie der Eros, dem er folgt.⁹⁶ Die Genealogie des Eros gibt uns schließlich die metaphorische Gesamt-Deutung der zweiphasigen Umwendung: Als Sohn der Penia kennt der Eros die Armut, den Mangel, das Nicht-Haben, er ist „der Dürftigkeit Genosse“⁹⁷, wie Schleiermacher übersetzt. Philosophisch übersetzt ist der mütterliche Aspekt des Eros die Aporie, d. h. der Mangel an Urteilsmöglichkeiten. Der Eros treibt uns jedoch nicht nur aus der natürlichen Einstellung hinaus, er ist auch Sinnbild der philosophischen Dynamis, die uns über die leere Negativität der Abwendung von der natürlichen Einstellung in das Reich der Philosophie trägt. (Die pyrrhonische Skepsis mit ihrer Isosthenie und permanenten wie universalen Epochê ist im Platonischen Sinn also äußerst un-erotisch, weil nur der Penia verhaftet. Alle Ressourcen werden zur Aufrechterhaltung der Aporie verwendet.) Als Sohn des Poros verfügt er nämlich über die Ressourcen, die aporetische Lähmung zu überwinden, denn er ist „ein gewaltiger Jäger, allezeit irgend Ränke schmiedend, nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philo
Held, „Husserl und die Griechen“, S. 140. DK 28, B 1. Sym. 215B. Sym. 203D.
178
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
sophierend“⁹⁸. Der Eros kennt den Weg (poros) aus dem Zustand des hermeneutischen Mangels (penia), d. h. der Ratlosigkeit (aporia), er gibt der Umwendung die Richtung.Wiederum philosophisch übersetzt ist der väterliche Aspekt des Eros die methodische Aufhebung der aporetischen Lähmung, wobei der bewahrende Aspekt der Aufhebung hier unbedingt mitzudenken ist, denn der Bruch mit der natürlichen Einstellung bleibt auch dann bestehen, wenn der Philosoph seine unnatürliche Tätigkeit aufgenommen hat. Die Inhibition des natürlichen, bloß meinungshaften Urteils verdammt deshalb nicht zum skeptischen Schweigen, weil der Eros den Weg zum Sein und mithin zum eigentlichen Themengebiet aller philosophischen Urteile weist. Den Eltern des Eros entsprechen überdies die zwei Haltungsmomente, die die ganze Umwendung bedingen: Passivität oder Rezeptivität einerseits und Aktivität oder Spontaneität andererseits, wobei Platon deren gegenseitige Verschlingung dadurch verdeutlicht, dass er der typischerweise passiven (aufnehmenden) Gestalt, nämlich der Mutter Aporia die aktive Rolle des Samenraubs zuschreibt. Alle Bilder, Metaphern und Mythen, die Platon verwendet, um den Einstieg in die Philosophie zu beschreiben, enthalten ein Moment der Angewiesenheit. So empfängt etwa Menon seine Lähmung vom Zitterrochen Sokrates. Die Entfesselung der Gefangenen in der Höhle ist auf bereits Entfesselte angewiesen, das „Befreiungswerk der Erkenntnis“⁹⁹ (Jaeger) muss also immer schon im Gange sein.¹⁰⁰ Ähnlich verhält es sich in Symposion und Theaitetos, insofern die philosophisch Zeugungswilligen auf einen (schönen) Empfangenden angewiesen sind, die philosophisch Schwangeren auf einen philosophischen Geburtshelfer. Diese mäeutische Konfiguration von einem mehr oder weniger Disponierten und einem, der die Disposition aktualisieren helfen will, bildet die Grundstruktur aller nicht bloß polemischen Dialoge, wobei die Rollen sowohl durch unterschiedliche Personen besetzt sein können, als auch unterschiedlich gut (bis gar nicht) ausgefüllt werden können. In der Apologie erläutert Sokrates seine dialektischen Umtriebe als Reaktion auf das delphische Orakel, das Chairephon eingeholt hatte.¹⁰¹ Da er das Orakel nicht versteht, wendet er sich schließlich (ungern, mogis) der Untersuchung des göttlichen Aus- bzw. Anspruchs zu. Auch das philosophische Ur-Erlebnis des Staunens ist göttlich vermittelt: „es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu ha-
Sym. 203D. Jaeger, Paideia, S. 18. Vgl. Arp, „Penetrability“, S. 228. Apol. 21B.
§ 15. Himmel und Feld
179
ben.“¹⁰² Der Verweis auf die Götterbotin soll die Transzendenzbewegung der Philosophie anzeigen, für uns ist hier die mythisch-personifizierende Rede von Thaumas jedoch wichtiger, denn das Wunder als Gott anzusprechen, hat wiederum den Effekt, seine Unverfügbarkeit und Jenseitigkeit herauszustellen. Der Unverfügbarkeit und Angewiesenheit entsprechen die Passivität und Rezeptivität als Momente der Philosophie. So liegt es zunächst in der Verantwortung des dialektischen Anwärters, sich vom ‚Geburtshelfer‘ führen zu lassen, nicht eitel an seinen Vorurteilen festzuhalten und den Bruch zu erleiden. „Dazu gehört es, eingangs zu staunen, das Nichtwissen verwundert einzugestehen, innezuhalten und sich auf die Fraglichkeit der Sache nachfragend und nachsuchend immer tiefer einzulassen.“¹⁰³ (Janke) Dieses Staunen ist vor dem Umschlag in die Aktivität des Nachfragens zuächst „pathos“¹⁰⁴, also ein Widerfahrnis, das bewusst zu erleiden ist. Wer wirklich staunt, gesteht damit zugleich aber auch sein Nichtwissen ein, denn „wer in Zweifel und Verwunderung über eine Sache ist, der glaubt sie nicht zu kennen.“¹⁰⁵ (Aristoteles). Phänomenologisch ausgedrückt ist das „‚Staunen‘ oder die ‚Verwunderung‘ […] ein Moment der Distanzierung vom Selbstverständlichen“¹⁰⁶ (Zorn). Sich nach diesem Eingeständnis (aktiv) „fragend auf ein Aufsuchen von Ursachen, Gründen und letzten Ursprüngen“¹⁰⁷ (Janke) einzulassen, liegt dann natürlich ebenfalls in der Verantwortung des Einzelnen. Wie Husserl bemerkt, ist der Übergang von der Passivität des Staunens, in dem wir uns dem Wunder überantworten, zur Aktivität des Fragens, in dem wir uns einem Problem stellen, ein wichtiger Schritt Richtung Wissenschaft, denn das „Wunder ist ein Unbegreifliches, das Problematische in der Gestalt wissenschaftlicher Probleme ist ein Begreifliches, es ist das Unbegriffene, das sich für die Vernunft in der Problemlösung als begreiflich und begriffen herausstellt.“¹⁰⁸ Eigenverantwortliche Tätigkeit fordert auch der disziplinäre Charakter der Philosophie, der dem Anfänger beständige Übung abverlangt, wie Parmenides gegenüber Sokrates im Parmenides ausführt: „Schön allerdings, das wisse nur, ist der Trieb, der dich treibt zu diesen Forschungen. Strecke dich aber zuvor noch besser und übe dich […], solange du noch jung bist; denn wo nicht, so wird dir die Wahrheit doch entgehen“¹⁰⁹. Dies gilt
Theait. 155D. Janke, S. 43. Theait. 155D. Aristoteles, Metaphysik 982B. Zorn, Vom Gebäude I, S. 345. Janke, Antike Theologien des Staunens S. 44. Hua V (Ideen III), S. 75. Par. 135E.
180
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
für den Phänomenologen übrigens ebenso wie für den Dialektiker, denn auch die phänomenologische Methode „muss systematisch geübt werden“¹¹⁰ und vor dem metaphysischen „Aufschwung“ zu den letzten Problemen liegt viel „schmutzige Arbeit“¹¹¹ (und natürlich das berüchtigte Husserlsche „Kleingeld“¹¹²).
b) Husserl: Reduktion „Die leere Allgemeinheit der Epochê klärt noch nichts auf, sondern ist nur das Eingangstor, mit dessen Durchschreiten die neue Welt der reinen Subjektivität entdeckt werden kann. Die wirkliche Entdeckung ist Sache der konkreten, höchst diffizilen und differenzierten Arbeit.“¹¹³ Die Phänomenologische Reduktion ist beides, sowohl das allgemeine „Durchschreiten“ des Tores, als auch die konkrete „Arbeit“, die auf das Durchschreiten folgen muss. „Reduktion heißt einerseits „Rückgang“ auf ein bewusst methodisch verarmtes Erfahrungsfeld und andererseits die konkrete „Zurückführung“ der zu prüfenden Setzung auf die anschaulichen Gegebenheiten in diesem Erfahrungsfeld.“¹¹⁴ (Lohmar) Wir werden uns im Folgenden der Reduktion im allgemeineren Sinne der Eröffnung des neuen Erfahrungsfeldes widmen, Fragen nach dem konkreten Vorgehen heben wir uns für den nächsten Abschnitt auf. Um in Husserls (letztlich parmenideischem) Bild zu bleiben: Die Epochê hat uns „außerhalb von der Menschen Pfade“¹¹⁵ geführt, bis zum „Tor“, das den Eingang zur Philosophie markiert – die Reduktion trägt uns über die Schwelle und bringt uns vollends auf den Weg der Wahrheit. Die philosophische Reduktion ist also die Bewegung, durch deren Vollzug der Philosophierende überhaupt erst einmal vor sein Thema gebracht oder geführt wird. Die transzendentale Reduktion kann dabei nicht im selben Sinn Reduktion sein wie die naturalistische oder materialistische Reduktion. Die „positivistische Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft“¹¹⁶ ist eine Verkleinerung oder Verengung des Bereich möglicher ontologischer Grundbestimmungen auf Dinge und mundane Tatsachen. Die phänomenologische Reduktion
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 122. Cairns, Conversations, S. 23. Gadamer, Griechische Philosophie III, S. 122. Hua VI (Krisis), S. 260. Lohmar, „Die Idee der Reduktion“, S. 768. DK 28, B 1. Hua VI (Krisis), S. 3.
§ 15. Himmel und Feld
181
ist gerade kein ontologisches „replacing“, sondern eine „redirection of thought“¹¹⁷ (Thompson), die der Epochê folgt. Mit letzterer „ist der Einbruch in die Fragwürdigkeit vollzogen, deren meditative Bewältigung der Vollzug der Reduktion darstellt“¹¹⁸ (Fink). Epochê besagt: „Wir bringen am Objekt gleichsam eine ausschaltende Klammer an, einen Index, der sagt: Hier will ich jedes Mitgeltenlassen, jedes Seinsinteresse, Wertinteresse usw. inhibieren“. Die Epochê ist total für den Gegenstandsbereich der Welt. Aber das „Seinsall des Weltkindes ist nicht das Seinsall schlechthin.“¹¹⁹ Korrelativ ausgedrückt: Der natürliche Diskurs ist nicht der einzig mögliche. (Dass wir von Diskursen sprechen, hat unter anderem den Zweck, den Einstellungswechsel etwas greifbarer zu machen; „we can get a more secure handle on this philosophical attitude, and we can be more convinced that it is something real, by considering it as an adjustment in our discourse than by thinking about it as a shift in attitudes alone.“¹²⁰ (Sokolowski) Zudem stellen sich auch in der universitären philosophischen Bildung Kenntnis und Verständnis eines Denkens mitunter als die Fähigkeit dar, ein gewisses Sprachspiel zu spielen. Wer Phänomenologie betreibt, spricht z. B. anders als ein Hermeneut oder ein Analytiker.) Der Schritt aus der Inhibition heraus führt über eine Neuausrichtung der theoretischen Aufmerksamkeit, die in gewissem Sinne aus dem Programm der Philosophie selbst resultiert. „Das ursprüngliche Ziel war eine Philosophie, eine universale Wissenschaft aus absoluter Rechtfertigung.“¹²¹ Wie bei Descartes zieht dieses Ziel für Husserl einen „Umsturz aller Vorurteile“¹²² nach sich, d. h. die Epochê; die anschließende Frage, „was ich [jenseits der Epochê] als erstes in Anspruch nehmen kann und darf, lenkt dabei notwendig den Blick auf die transzendentale Subjektivität, so dass die Methode eo ipso zur Methode der transzendentalen Reduktion wird.“¹²³ Der durch die Epochê etablierte „uninteressierte Selbstbeschauer und Selbsterkenner“ ist zwar ohne mundanes Interesse, transzendental jedoch höchst engagiert, weil philosophisch urteilsfreudig:¹²⁴ „ich will das Objekt nur als intentionales seines Aktes, des Aktes, der ihm Geltung zumisst, gelten lassen“¹²⁵ und korrelativ setze ich an, „dass jedes geradehin ge-
Thompson, Mind in Life, S. 18. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 39 Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 166; vgl. Hua III (Ideen I), S. 67. Sokolowski, „Husserl’s Discovery“, S. 172. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 164. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 165. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 165. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 97. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 111.
182
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
fällte Urteil in den Zusammenhang der urteilenden Subjektivität hineingestellt, als Geurteiltes des Urteilens, als Begründetes des Begründens etc. studiert werden solle.“¹²⁶ D. h. „das universale Vorurteil der Positivität“¹²⁷, dass die Welt ist, wird ausgesetzt zugunsten der unbeteiligten Beobachtung der Prozesse, in denen sich Geltung und Sinn erst im transzendentalen Leben konstituieren.¹²⁸ Damit ist die Reduktion als „thematische Umstellung“¹²⁹ (Zahavi) schon vollzogen, insofern ich aus der universalen Inhibition heraus neuartige Geltungen setze und Urteile vollziehe, die keine mundanen Objekte mehr haben. Indem ich Objekte als intentionale Gegenstände und Urteile als Leistungen der Subjektivität betrachte, habe ich einen transzendentalen Diskurs begonnen und die genuin „philosophische Dimension“¹³⁰ betreten, in der die Strukturen der transzendentalen Konstitution thematisch werden. Der Gewinn in der Erschließung dieses Feldes ist anders geartet als derjenige, den die Neuentdeckung eines mundanen Forschungsfeldes verspricht. Wie für Platon wird auch für Husserl erst durch den zweiten, positiven Schritt der Umwendung das Wissen zugänglich, dessen Besitz die Philosophie ihrer „Platonischen und Cartesianischen Idee“ gemäß anstreben muss, nämlich solches aus „absoluter Rechtfertigung“¹³¹, da nur in der philosophischen Dimension die verschiedenen Reflexionsbewegungen fündig werden (können): Husserl’s reduction constitutes the original breakthrough. It announces the transcendental move that once and for all opens the field of phenomenological research, thereby permitting an investigation of the dimension of phenomenality as such. It is a move from a straightforward metaphysical or empirical investigation of objects to an investigation of the very framework of meaning and intelligibility that makes any such straightforward investigation possible in the first place.¹³²
Die Reduktion hat damit auch die an Platons Aufstieg bemerkte methodologische Bedeutung, echte Wissenschaft reflexiv zu ermöglichen – was nicht überraschen darf, da die ganze Veranstaltung der Reduktionen ja explizit der „Ursprungsbegründung aller Wissenschaften“¹³³ dient, d. h. der Schaffung echter Wissenschaft
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 503. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 461. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 462. Zahavi, „Phänomenologie und Transzendentalphilosophie“, S. 82. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 2. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 5. Zahavi, “Husserl and the ‚absolute‘”, S. 88. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 278.
§ 15. Himmel und Feld
183
nach dem in Abschnitt A skizzierten Platonischen Muster, die dann wiederum Basis einer vernünftigen Kultur werden kann. Husserl kennt das Höhlengleichnis und den in ihm beschriebenen „Auftieg zum erhabenen Reich der Idee durch völlige „Umwendung der Seele“, durch völlige Abkehr von der verworrenen und niedrigen Sinnlichkeit„¹³⁴ selbstverständlich und spielt immer wieder darauf an, etwa, wenn er den Weg in die Phänomenologie in seinem Nachwort zu den Ideen seinerseits als „Aufstieg von der mundanen Subjektivität (dem Menschen) zur „transzendentalen Subjektivität“„¹³⁵ charakterisiert. Den (naheliegenden) Vergleich¹³⁶ zwischen dem Aufstieg in den Ideenhimmel und dem Schritt auf das Feld des transzendentalen Bewusstseins zieht Husserl an mehreren Stellen. Am Ende des zweiten Teils der VS Erste Philosophie etwa vergleicht er den phänomenologischen Anfänger, der sich eine „ganz ferne Vorahnung von [der] Bedeutung der neuerschauten transzendentalen Subjektivität“ verschaffen konnte, mit „der – platonisch gesprochen – “befiederten“ Seele, der mit den Schwingen sehnsuchtsvoller transzendentaler Schau ausgestatteten“.¹³⁷ Ein ausführlicheres Bild malt er in einer Vorlesung zur Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis von 1909: Die außerordentlichen Schwierigkeiten, die die Phänomenologie dem Anfänger bietet, beruhen vor allem auf der völlig neuen Einstellung, welche die Beschäftigung mit absoluter Selbstgegebenheit voraussetzt. Es gehört ein eigenes intellektuelles Training dazu, um die natürliche Blickrichtung und die natürliche Weltbetrachtung auszuschalten, zu der uns sozusagen die Natur selbst erzogen hat, und stattdessen nicht bloß momentan, sondern dauernd die phänomenologische Blickrichtung zu üben.Wir müssen da überhaupt erst sehen lernen, was wir gar nicht zu sehen gewohnt sind: die Welt absoluter Selbstgegebenheiten und die zu ihnen gehörigen Wesensgesetze. Wer wird hier nicht erinnert an das berühmte platonische Gleichnis von der dunklen Höhle, in der der natürliche Sinnenmensch angekettet ist und in die nur matte Abschattungen der ihm unbekannten sonnigen Welt des [grch] ontôs on hineindringen. Befreit von seinen Fesseln und in diese Lichtwelt plötzlich eintretend, ist er dann zunächst so geblendet, dass er nichts zu unterscheiden, geschweige denn zu beschreiben und zu erforschen vermag. Alles verschwimmt in einem vagen blendenden Lichtnebel, und sein erster Eindruck ist der, die Schatten der dunklen Höhle, das seien die einzigen wirklichen Gegenständlichkeiten, die Lichtsphäre sei aber eine Sphäre verworrenen und verwirrenden Lichtscheins. So geht’s dem Anfänger, wenn er in die ihm unbekannte und von ihm nicht geahnte Sphäre der phänomenologischen Gegenständlichkeiten eintritt. Hier aber heißt es Geduld haben und nicht ablassen, bis das intellektuelle Auge das Neue sehen gelernt hat.¹³⁸
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 60. Hua V (Ideen III), S. 140; vgl. auch Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 270. Vgl. Arp, „Penetrability“, S. 222; Ricoeur, Husserl, S. 94. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 167. Mat VII, S. 166.
184
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
Zentral ist für Husserl in der zitierten Passage eindeutig, was wir oben bei Platon die ontologische Dimension der Umwendung genannt haben, d. h. die Eröffnung der „Sphäre der phänomenologischen Gegenständlichkeiten“ als neuem, unbekanntem Gegenstandsbereich, der gleichwohl in „absoluter Selbstgegebenheit“ verfügbar ist. Dass es sich um einen Wechsel des Gegenstandsbereichs handelt, ist das entscheidende Moment der Reduktion. Soll die Phänomenologie eine eigenständige, von den positiven Wissenschaften unterschiedene Wissenschaft sein, so kann ihr Gegenstandsbereich nicht zugleich der einer positiven Wissenschaft sein. Die phänomenologische Reduktion transzendiert sämtliche Gegenstandsbereiche positiver Wissenschaften, indem sie die Sinngehalte jener Urteile, die in der Wissenschaft (wie auch im Alltagsleben) gefällt werden, zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht. Eine Verwechslung des Gegenstandsbereichs (metabasis eis allo genos) zu vermeiden bedeutet, die phänomenologische Untersuchung freizuhalten von einer […] Naturalisierung des Bewusstseins¹³⁹. (Rinofner-Kreidl)
Der neu erschlossene, ‚unnatürliche‘ Gegenstandsbereich umfasst alle transzendentalen Strukturen, von den Momenten der Wahrnehmungs-Intentionalität (Noesis, Noema, Horizontalität Abschattungen, Modifikationen etc.) bis zum inneren Zeitbewusstsein (Impression, Retention, Protention, Hyle etc.); all diese Strukturen sind wiederum ausschließlich Gegenstände des transzendentalen Diskurses, dessen Etablierung die Reduktion leisten soll. Durch die Husserlsche Ausnahme-Rhetorik droht dabei allerdings das sachliche Problem verdeckt zu werden, inwiefern der transzendentale Diskurs nicht bloß einen neuen, exklusiven, sondern einen wirklich andersartigen und ‚höheren‘ Diskurs darstellt, der aber zugleich eine philosophisch-transzendentale Durchdringung ‚natürlicher‘ Probleme sein soll. Auch innerhalb des natürlichen Bewusstseins können nämlich „Wechsel der „Einstellung““¹⁴⁰ stattfinden, z. B. von der typisch-alltäglichen zur exakt-wissenschaftlichen oder von einer lebenspraktischen zu einer ästhetischen, von einer geisteswissenschaftlichen zu einer naturwissenschaftlichen etc. Nur die durch die Epochê eingeleitete Reduktion stellt jedoch eine wirklich radikale Einstellungsänderung dar, deren Radikalität den Philosophen auch von den anderen Wissenschaftlern trennt: „Das philosophierende Subjekt hat das Streben nach kritischer Rechtfertigung der erzielten Wahrheiten mit dem Wissenschaftler gemein […] Es unterscheidet sich von diesem durch den absoluten Radikalismus der Begründung.“¹⁴¹ (Landgrebe) Nur durch die genuin philosophische Umwendung wird jeder positive, d. h. geradehin setzende Diskurs verlassen und dadurch
Rinofner-Kreidl, Mediane Phänomenologie, S. 97. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 263. Landgrebe in Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 302.
§ 15. Himmel und Feld
185
fundierbar. Auch Husserl kann seine philosophische Umwendung also als Ebenenwechsel verstehen, insofern der transzendentale Diskurs diejenigen Strukturen thematisiert, die Intelligibilität – und damit alle mundanen Diskurse – überhaupt erst ermöglichen. Mit der Erschließung eines neuen Gegenstandsfeldes ist korrelativ auch die „Sphäre einer neuartigen, der transzendentalen Erfahrung“¹⁴² eröffnet, denn zu „jeder Grundart von Gegenständlichkeiten […] gehört eine Grundart der „Erfahrung“, der Evidenz und ebenso des intentional indizierten Evidenzstiles„¹⁴³; „die phänomenologische Methode ermöglicht erst transzendentale Erfahrung“¹⁴⁴, „transzendentale Empirie“¹⁴⁵. Es wäre sicher nicht in Husserls Sinn, den Ausdruck „transzendentale Erfahrung“ mystisch überhöht zu verstehen, vielmehr muss es sich um etwas handeln, das jeder Phänomenologe aus dem Arbeitsalltag kennt, das zugleich aber niemandem bekannt ist, der nicht in irgendeiner Weise eine Form der transzendentalen Reduktion vollzogen hat. Transzendentale Erfahrung ist Erfahrung der transzendentalen Dimension, also das, was transzendentalen Behauptungen ihren Rechtsgrund gibt. Mit seiner Theorie transzendentaler Erfahrung vermeidet Husserl also den Fehler, den der Deutsche Idealismus bereits Kant nachgewiesen hat, nämlich die mangelnde Reflexion auf die eigene philosophische Erfahrung als Grundlage seiner kritischen Urteile. Die phänomenologische Denkerfahrung ist transzendentale Erfahrung, sie ist Erfahrung der transzendentalen Konstitution, die durch die Umwendung und die dazugehörige Begrifflichkeit ermöglicht wird. Der Phänomenologe macht Erfahrungen mit den Phänomenen als Phänomenen und ineins damit mit den verborgenen Tiefenstrukturen der transzendentalen Konstitution, denn „Phänomenologie ist die Enthüllung der sozusagen anonymen, der völlig verborgenen Einheit der absoluten Subjektivität, welche die Welt als beständige Leistung in sich trägt.“¹⁴⁶ Wir können so mit Gurwitsch auch sagen, die phänomenologische Reduktion ist überhaupt nichts anderes als „die radikalste und tiefgreifendste Explikation der absolut fundamentalen Implikation, nämlich der Implikation des ‚cogito‘ in allem, was existiert und erfahren werden kann“¹⁴⁷ (Gurwitsch). Das „Helmholtz’sche Bild von den Flächenwesen, die von der Tiefendimension, in der ihre Flächenwelt eine bloße Projektion ist, keine Ahnung haben“¹⁴⁸,
Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 29; vgl. ebd. S. 92. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 169. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 301. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 360. Mat VIII (C-Manuskripte), S. 390. Gurwitsch, S. 226. Hua VI (Krisis), S. 121.
186
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
das Husserl vor allem in der Krisis wählt, um die Differenz der Gegenstandsbereiche von natürlicher und phänomenologischer Einstellung, wie auch die eigentümliche phänomenologische Erfahrung darzustellen, lässt sich hervorragend in das Platonische Bild des Höhlenkinos eintragen: Der Philosoph nimmt sowohl bei Platon als auch bei Husserl die verborgenen Tiefenstrukturen der Welt in den forschenden Blick, während der natürlich eingestellte Mensch bei den mundanen Einzeldingen bleibt. Im Sinne dieser Erschließung einer neuen Dimension oder eines neuen Gegenstandsbereichs spricht Husserl daher auch davon, die Reduktion bringe „ein neues Seinsfeld in den Blick“¹⁴⁹. Husserls Metaphorik ist dabei weder so durchdacht noch so einheitlich wie die Platonische. Blumenberg weist in diesem Zusammenhang etwa auf eine Passage aus Formale und Transzendentale Logik hin, in der „innerhalb weniger Zeilen, die elementaren und gegensätzlichen Metaphern von Positivismus und Rationalismus beieinander [sind]: Boden,Wolke, Strom.“¹⁵⁰ (Blumenberg) Am liebsten beschreibt Husserl sein „neues Reich der Erfahrung“¹⁵¹ jedoch als Feld (Arbeitsfeld, Erkenntnisfeld, Seinsfeld), das er mithilfe der Phänomenologie und unter der Mitarbeit aller jetzigen und zukünftigen Phänomenologen bestellen will. Die Metapher des Feldes ist signifikant, denn sie ist zentraler Ausdruck von Husserls Verständnis der Philosophie als Wissenschaft: (a) Auf Feldern können wir Früchte „entdecken“¹⁵², d. h. finden und nicht bloß er-finden, womit der Anspruch auf Objektivität metaphorisch formuliert ist; das phänomenologische Feld ist ein „Erkenntnisfeld“¹⁵³, keine Stätte der beliebigen Erfindung. (Adorno kann dann eben diese geographischen Metaphern als feigen Szientismus auslegen, insofern bereits durch die Metaphern des Feldes, des Gebiets oder der Domäne „die spontane Teilhabe am Prozess der Erzeugung“¹⁵⁴ (Adorno) für die Philosophie ausgeschlossen wird. Die vermeintliche „Entdeckung“ von ewigen Wahrheiten auf diesem „Feld“ ist für Adorno nichts anderes als verdrängte Kreativität, insofern die Phänomenologie diese Gebiete und die ihnen zugehörigen Begriffe ja doch allererst erfunden hat.¹⁵⁵) Derselbe Objektivitätsanspuch ist übrigens Teil des metaphorischen „Aktäon-Komplexes“¹⁵⁶ (Sartre), der sich in Platons Jagd-Metaphern
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 309. Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, S. 189; gemeint ist Hua XVIII (Prolegomena), S. 288. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 163. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 78. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 92. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 60. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, S. 160. Sartre, Das Sein und das Nichts, 991.
§ 15. Himmel und Feld
187
ausdrückt. Neben den Philosophen, die mit der „Jagd nach dem Sein“¹⁵⁷ ihr Leben verbringen, sind so auch die Mathematiker „Jagende (thêreutikoi), weil sie ja ihre Figuren und Zahlenreihen nicht machen (poiousi), sondern diese sind schon, und sie finden sie nur auf (anheuriskousin), wie sie sind (onta)“¹⁵⁸. (Gerade diesen philosophischen Jägern (Platon) und Sammlern (Husserl) will Heidegger vermutlich seinen Hüter und Hirten entgegensetzen.) (b) Das Feld ist zugleich als „Seinsboden“ ein Fundament, auf das sich epistemologisch bauen lässt. Die Phänomenologie entdeckt sozusagen das Ur-Feld, auf dem alle anderen wissenschaftlichen Gebäude schon immer stehen müss(t)en. (c) Felder lassen sich auf lange Zeit bestellen; anders als z. B. die Systeme des Deutschen Idealismus ist die Phänomenologie eine Arbeitsphilosophie, d. h. ein theoretischer Rahmen, in dessen Grenzen sich sukzessive Forschung betreiben lässt. Husserl selbst geht davon aus, dass er das „Gelobte Land“ der transzendentalen Subjektivität zwar erreicht, in seinen ganzen Bemühungen aber nur „sozusagen geographische Hauptstrukturen enthüllt“¹⁵⁹ hat. Die transzendentale Subjektivität ist ein unendliches „Arbeitsfeld“¹⁶⁰, dessen theoretische Fruchtbarkeit niemals ein Einzelner ausschöpfen kann. Bei alldem ist jedoch niemals zu übersehen, dass die phänomenologische und die dialektische Umwendung zwar strukturell, d. h. in ihrer zweiphasigen Bewegung der Unterbrechung und des Aufstiegs identisch sind, aber nicht in denselben Diskurs münden; der Ideenhimmel ist nicht der Bewusstseinsstrom, das Jenseits der Höhle ist nicht das Arbeitsfeld des Phänomenologen. Die Platonische periagôgê kann nämlich, aller programmatischen und schematischen Übereinstimmung zum Trotz, aus Husserls Sicht nicht als transzendentale Reduktion verstanden werden. Denn zwar reagiert Platon auf den Skeptizismus, überwindet ihn aber gerade nicht dadurch, dass er den in ihm gelegenen „transzendentalen Impuls“ aufnimmt, d. h. eine transzendentale Reflexion durchführt und zu einer subjektivistischen Konstitutionstheorie ausbaut; „trotz der primitiven Anregungen der Sophisten und späteren Skeptik kommt es nicht in der philosophischen Besinnung so weit, dass man das „Bewusstseinsleben“ des Menschen systematisch und […] in der Frage erforschte, wie das Bewusstsein in seinen mannigfaltigen Sondergestalten die Leistung der „Weltvorstellung“ zustande bringt.“¹⁶¹ Hierin teilt Husserl Hegels Perspektive, der gemäß wir erst mit Descartes „Land“
Phaid. 66C; vgl. Phil. 23E; Lach. 194B. Euthyd. 290B. Hua V (Ideen III), S. 161. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 32. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 229.
188
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
rufen dürfen, da erst mit der Neuzeit Selbstbewusstsein oder Subjektivität als „wesentliches Moment des Wahren“ (Hegel) wirklich erkannt ist.¹⁶² Der scheinbare Lapsus hat seinen Grund sicher nicht darin, dass Platon das Phänomenfeld der Subjektivität, d. h. des Selbst, des Ich, des Bewusstseins etc. nicht kannte. Ohne Platon hier schließlich doch eine spezifisch transzendentale Reflexion oder eine moderne Subjektivitätstheorie unterschieben zu wollen, wäre es abwegig, den „Ursprung der Geistmetaphysik“¹⁶³ (Krämer) nicht bei Platon zu suchen oder – spezifischer – zu leugnen, dass sich in den Dialogen „Vorläufer der modernen Selbstbewusstseinstheorien“¹⁶⁴ (Gloy) finden lassen. Platon thematisiert, wie inzwischen hinlänglich bekannt ist, zentrale Strukturen der Subjektivität in verschiedenen Kontexten. Im Charmides präsentiert Platon im Verlauf der Diskussion um das Wesen der Besonnenheit nicht nur Probleme der epistemischen¹⁶⁵ und sensorischen¹⁶⁶ Reflexivität, sondern auch eine erste Definition der Intentionalität als Potenz (dynamis) der Erkenntnis, von oder über etwas zu sein (tinos).¹⁶⁷ Im Alkibiades I ist erfragt der „Kern des Menschen, das, was seine Subjekivität ausmacht“¹⁶⁸ (Kutschera); dieser Kern stellt sich als Seele (psyche) heraus,¹⁶⁹ die als Selbst das Prinzip der Spontaneität ist, das notwendigerweise am Anfang jeder Handlung steht und den Körper als Werkzeug benutzt.¹⁷⁰ Auch die Synthesis-Tätigkeit des Bewusstseins ist Platon bekannt, wenn er im Theaitetos schreibt, die Wahrnehmungen lägen nicht „wie im hölzernen Pferde“ in uns nebeneinander, sondern liefen in einer Einheit zusammen (synteinei).¹⁷¹ Im selben Dialog postuliert Sokrates außerdem die Unmittelbarkeit unseres Bezuges zu unseren eigenen Eindrücken, d. h. die These vom privilegierten Zugriff auf unser Bewusstsein.¹⁷² Und obwohl die transzendentale Konstitutionstheorie bei Platon tatsächlich nicht zur Ausprägung kommt, sieht sogar Husserl selbst bei Platon Ansätze zur Korrelationsforschung: So ist dann Platons Dialektik, als erster Versuch einer Erforschung der Möglichkeit der Philosophie, also einer Wissenschaft überhaupt, eo ipso nach all diesen korrelativen Rich-
Hegel, Geschichte der Philosophie III, S. 120. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik.. Vgl. Halfwassen, „Der Ursprung der Geistmetaphysik“. Gloy, „Platons Theorie […] als Vorläufer der modernen Selbstbewusstseinstheorien“, S. 137. Char. 165B, 166C. Char. 167C. Char. 168B. Kutschera, Platon Bd. III, S. 259. Alk. I, 130C. Alk. I, 129D. Theait. 184D. Theait. 160C.
§ 15. Himmel und Feld
189
tungen orientiert. Er selbst schaut allererst aus den sophistischen Paradoxien heraus die zur Idee der Philosophie gehörige Wesenskorrelation von wahrem Sein,Wahrheit und Erkennen, und so geht seine Meditation bald auf das eine und andere, nach Zielsinn und Wesensbedingungen der Möglichkeit. […] Er hat aber auch schon im forschenden Blick auf die Form der Urteilsinhalte bezogene Normen, und bekannt ist, wieviel er sich um den Sinn des wahren Seins selbst bemüht, das Korrelat an sich gültiger Wahrheiten sein soll; wiefern die sinnliche Welt, die in unserem gemeinsamen Erfahren vermeintlich identische und sich bewährende Welt, das Korrelat der Wahrnehmungsurteile, die die sinnliche Erfahrung zum Ausspruch bringen, bloß subjektive Schattenwelt sei, und andererseits doch, als eine Schattenwelt, eine Welt von unzureichenden Bildern, auf an sich Seiendes, auf wahres Sein zurückweise; was dieses urbildliche Wahre eigentlich sei und wie es erkennbar sei.¹⁷³
Husserl spielt damit offensichtlich auf Platons Ausführungen rund um das Liniengleichnis an, denn hier entwickelt Platon seine eigene Version der onto-epistemologischen Korrelationthese: Den Seinsstufen entsprechen gewisse Erkenntnisweisen.¹⁷⁴ Platon kennt also Subjektivität, Bewusstsein und sogar das Korrelationsapriori durchaus; in diesem Sinne muss man ihn vor Hegel als „prometheischen Denker“ in Fragen der Subjektivität verteidigen, als „philosophischen Gründer der Thematik“¹⁷⁵ (Karl), gegen den Hegel selbst eher den Epimetheus gibt – Hegels eigene Philosophie ist in wichtigen Punkten wesentlich vom Neuplatonismus geprägt. Anders als der Deutsche Idealismus oder Husserl selbst interpretiert Platon die Zusammenhänge zwischen Sein und Erkenntnis allerdings nicht transzendental-phänomenologisch, d. h. er versteht die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt (oder Erkennen und Sein) nicht als subjektive Konstitution. Dem Ideenkosmos steht keine ihn konstituierende Subjektivität gegenüber, vielmehr wird den Ideen selbst bzw. dem Ideenkosmos als Ganzem „Bewegung“ (kinêsis), „Leben“ (zôê), „Denken“ (phronêsis) und schließlich sogar „Seele“ (psychê) zugeschrieben.¹⁷⁶ Es ist aber gerade die Analyse des Korrelationsapriori als Konstitutionsapriori, die den Unterschied zwischen phänomenologischer und vor- oder nicht-phänomenologischer Philosophie macht,¹⁷⁷ da erst mit ihr das transzendentale Feld als solches eröffnet ist.¹⁷⁸ Dialektik ist daher Reflexion im weitesten Sinne als Nachdenken über das eigene Leben (Handeln, Denken, Sprechen) und sie ist Reflexion im engeren Sinne, insofern sich in ihr das Denken auf seine eigenen Voraussetzungen zurückwendet; sie ist jedoch keine tran-
Hua VIII (Erste Philosophie II), S.322 f. Pol. 510 A. Karl, Selbstbestimmung, S. 20. Soph. 248E. Welton, The Other Husserl, S. 172. Welton, The Other Husserl, S. 199.
190
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
szendentale Reflexion in Husserls Sinn, da sich in ihr die transzendentale Subjektivität noch nicht als solche thematisiert. Die Platonische „Leitidee“¹⁷⁹ (das Leitmotiv) einer absoluten Fundierung von Wissenschaft und Ethik, ermöglicht durch einen absoluten Bruch mit dem Alltag, konstituiert zwar für Husserl den radikalen Sinn von Philosophie, d. h. das, was sie von der Wurzel her ausmacht. Jedoch ist diese Leitidee methodologisch und systematisch unterbestimmt und jede Epoche der Philosophie beantwortet die Frage, wie ihre Ziele am Besten zu erreichen seien, auf neue Weise; das Leitmotiv wird durch die Geschichte hindurch also immer wieder aufgegriffen, transponiert und variiert. Es erhält gegenüber seinen bisherigen Varianten durch die „Rückweisung auf die „transzendentale“ Subjektivität“ einen der Methode nach „neuen Sinn“.¹⁸⁰ Der „neue Sinn“, den Husserl der Platonischen Leitidee geben will, erwächst ausschließlich aus der Transposition in die subjektivistische Tonart, d. h. aus der transzendentalen Reduktion. Während Husserl also das (Platonische) „Motiv des Rückfragens nach der letzten Quelle aller Erkenntnisbildungen“ zwar explizit übernimmt, so hat doch diese Quelle bei Husserl den (unplatonischen) „Titel Ich-selbst“¹⁸¹ – womit nicht gesagt sei, dass die dialektische Reflexion nicht auf das Denken stoße; weit gefehlt, die Rückwendung auf das Denken (die „Flucht in die logoi“¹⁸²) ist integraler Bestandteil der Platonischen Philosophie, aber dem einzelnen Bewusstsein ist nichtsdestotrotz ein gänzlich anderer Platz angewiesen als in der transzendentalen Phänomenologie.
§ 16. Verantwortung und Unverfügbarkeit Die Umwendung ist Schicksal und zugleich Akt der Freiheit.
a) Platon: Das Befreiungswerk der Erkenntnis Obwohl alle Menschen qua Menschen anamnetische, d. h. philosophische Kapazitäten haben, ist wirkliche philosophische Begabung selten und unverfügbar, d. h. sie lässt sich niemals in einem Schüler erzeugen (empoiêsai)¹⁸³, wie es die Sophisten fälschlicherweise behaupten; die philosophische Erziehung kann die
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 30 Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 28. Hua VI (Krisis), S. 100. Phaid. 99E. Pol. 518C.
§ 16. Verantwortung und Unverfügbarkeit
191
natürlichen Resourcen des Schülers nutzbar machen und ihn sozusagen zu sich selbst erwecken, aber sie ist nicht imstande, sie ihm ein-zu-bilden, sie ihm wie Lebensmittel mitzugeben¹⁸⁴ oder – wie Wein – „einzufüllen“¹⁸⁵. Manche Seelen sind einfach „unvermögend (adynatousai)“¹⁸⁶, den Göttern an den überhimmlischen Ort zu folgen. Der Pseudo-Mythos der Politeia über die drei Geschlechter¹⁸⁷ dient unter anderem dazu, diese Unverfügbarkeit von Begabung zu verdecken und zugleich ihre Förderung im Nachhinein pseudo-genealogisch zu legitimieren, obwohl die Wahl der zukünftigen Herrscher keinerlei genealogischen, sondern rein meritokratischen Prinzipien folgt. Die philosophische Begabung einmal vorausgesetzt, welche Motivation kann es geben, sich auf das ungeheure, anstrengende, schmerzhafte und in mehrfachem Sinne lebensbedrohliche Geschehen der philosophischen Umwendung einzulassen und z. B. die natürliche Maxime situierter Nützlichkeit zugunsten der Suche nach absoluter Wahrheit aufgeben? Wie oben gesehen ist es offenbar das Motiv der absoluten Fundierung und Selbsterkenntnis, das der Philosophie nach Platon ihren Sinn gibt. Die Philosophie allein erlaubt es uns, „auf die Natur der Seele hinsehend, die schlechtere und die bessere Lebensweise“¹⁸⁸ zu differenzieren – ein Gedanke, der sich in Variation in allen Phasen des Platonischen Denkens wiederfinden lässt. Philosophie ist für Platon schlicht das Nützlichste, das wir betreiben können. Nur mit ihrer Hilfe können wir überhaupt bedenken, was Nützlichkeit ist und also auch, was nützlich (zu tun, zu unterlassen oder zu besitzen) ist. Und nur durch sie haben wir die Chance, unser wahres menschliches Selbst zu verwirklichen, wie oben im zweiten Abschnitt schon ausführlich besprochen. Wie der in die Höhle zurückkehrende Philosoph scheitert Sokrates zwar vor dem weltlichen Gericht – zugleich lebt er durch die Philosophie das einzig lebenswerte Leben und nur er umsorgt seine Seele auf angemessene Weise. Die Jenseitsmythen verbildlichen, dass die qualität des philosophischen Lebens und die Integrität des philosophischen, d. h. wahren Selbst nicht durch den Tod betroffen wird. Wer imstande ist, dies einzusehen, hat ein starkes existentielles Motiv, die Umwendung zu vollziehen. Gleichwohl setzt diese Einsicht im Grunde bereits voraus, was sie begründen soll, nämlich die philosophische Umwendung, in deren Verlauf wir erst verstehen, dass die Jagd auf das Sein, d. h. die Wahrheitssuche und die Sorge um die Seele
Prot. 314B. Symp. 175D. Phaidr. 248 A. Pol. 414B. Pol. 618D.
192
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
identisch sind¹⁸⁹ und des Bruchs mit der natürlichen Einstellung bedürfen. Es ist daher kein Zufall, dass die Begründung für die Philosophie erst in den letzten Abschnitten der Politeia in dieser Klarheit und Universalität ausgesprochen wird, nachdem Glaukon und seine Freunde durch zehn Bücher hindurch darauf vorbereitet wurden. Einsicht lässt sich nicht erzwingen und die Dialoge enthalten genug Beispiele, wie man trotz aller philosophischen Anregung in der natürlichen Einstellung beharren kann, sei es bewusst und zufrieden (z. B. Euthydemos und Dionysodoros), bewusst und verärgert (z. B. Kallikles oder Thrasymachos), ignorant und zufrieden (z. B. Ion) oder ignorant und verärgert (z. B. Anytos); und selbst so begabte junge Geister wie Alkibiades können den Sinn der Sokratischen Annäherung noch verfehlen. Wenn Einsicht nicht zu erzwingen ist, ist eine philosophische Konversion dann einfach dem „Gesetz der Adrasteia“¹⁹⁰ unterworfen, erzwungen durch den Dämon Eros, d. h. unverfügbares Schicksal? Oder ist sie unserem vorerst grundlosen Entschluss anheimgegeben, d. h. Inhalt unserer freien Verantwortung und Willkür? Im Er-Mythos am Ende der Politeia konfrontiert Platon seine Leser mit dem phantastischen Bild von der kosmischen „Spindel der Notwendigkeit“¹⁹¹, die an den Bändern des Himmels befestigt ist und zu deren Füßen die „am Haupte bekränzten Töchter der Notwendigkeit, die Moiren Lachesis, Klotho und Athropos“¹⁹² zur Harmonie der Sirenen singen. Den eintreffenden Seelen werden nun von einem Propheten verschiedene Lebenslose ausgegeben, die das zukünftige mundane Leben bestimmen. Soweit malt Platon die Dimension der Notwendigkeit, des Schicksals und damit der Unverfügbarkeit aus. In der Rede des Propheten jedoch durchdringen sich die Dimensionen der Unverfügbarkeit und der Eigenverantwortung: „Eintägige Seelen! Ein neuer todbringender Umlauf beginnt für das sterbliche Geschlecht. Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. […] Die Tugend ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld (aitia) ist des Wählenden; Gott ist schuldlos.“¹⁹³ Wenn die Seelen schuldig werden können, d. h. verantwortlich sind, müssen wir ihnen – uns – Freiheit zugestehen. Das Bild der Wahl des Lebensloses drückt gerade diese Freiheit aus. Damit ist die Situation paradox geworden, denn eigentlich macht uns nur unser Entschluss zu einem philosophischen Leben frei; zugleich aber muss jede Seele immer schon frei gewesen sein, ihr Lebenslos zu wählen, andernfalls wäre sie
Vgl. Apol. 29E. Phaidr. 248C. Pol. 616C. Pol. 617C. Pol. 617D.
§ 16. Verantwortung und Unverfügbarkeit
193
nicht dafür verantwortlich; wie Husserl formuliert, muss der Mensch „schon in der Freiheit sein um Freiheit verwirklichen zu können.“¹⁹⁴ Innerhalb der Dialoge zeichnet sich keine Lösung dieser widersprüchlichen Situation ab. Philosophie ist für Platon sowohl Produkt als auch Bedingung von Freiheit und Vernunft.
b) Husserl: Der andere Anfang Anders als bei Platon ist für die Phänomenologie Husserls davon auszugehen, dass die für die Umwendung benötigten Ressourcen jenseits der individuellen Konstitution in der natürlichen Einstellung selbst zu finden sind.¹⁹⁵ Die Möglichkeit der Umwendung beruht nämlich auf ‚natürlichen‘ kognitiven „Vorformen, die einen Sprung in die Theorie vorbereiten“¹⁹⁶ (Kuster). Dazu gehören unter anderem die Kapazität der natürlichen Reflexion¹⁹⁷ und die „Verhaltenheit der Alltagsklugheit und das Habituelle jeder berufsmäßigen Einstellung“¹⁹⁸ (Kuster), die erlauben, einen „Habitus für eine neue Art theoretischer Forschungen“¹⁹⁹ zu etablieren. Der Übergang von Nicht-Philosophie zu Philosophie weist nun „zwei Wesenszüge auf: Er hat einen Sprung- und einen Wegcharakter.“²⁰⁰ (Staehler) Der Wegcharakter besteht in der Neuverwendung der bereits gegebenen natürlichen Kapazitäten, insofern dadurch eine Kontinuität der Kapazitäten besteht. Einen Sprungcharakter nimmt die Umwendung dagegen einerseits dadurch an, dass sie die natürlichen Kapazitäten totalisierend gegen sich selbst richtet und die natürliche Einstellung als Ganzes mit einem Schlag verlässt. Es handelt sich bei der Umwendung andererseits auch deshalb um einen Sprung, weil augenscheinlich keine natürliche Motivation in den transzendentalen Diskurs führt, obwohl Husserls „Wege“ ja alle bei „natürlichen“ Problemen ansetzen, d. h. „no mundane motivation is adequate to the transgressing of the world that takes place in the transcendental reduction, and in the asking back into transcendental constitutional horizons (as opposed to mundane horizons).“²⁰¹ (Fink bei Cairns) – So lautet
Hua XLII (Grenzprobleme), S. 444. Welton, The Other Husserl, S. 28. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 98. Carr, Problem of History, S. 24. Kuster, Wege der Verantwortung, S. 99. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 419. Staehler, Die Unruhe des Anfangs, S. 87. Cairns, Conversations, S. 93.
194
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
die „Paradoxiethese“²⁰² (Luft) zum Problem der anfänglichen Motivation. Wie kommt es zu dieser für die Phänomenologie höchst problematischen Behauptung? Husserl versteht Philosophie aus der Idee der absoluten theoretischen wie praktischen Selbstverantwortung, die unmittelbar an unseren Wahrheitsbezug geknüpft ist: „Philosophie ist nach Husserls Vorbegriff nichts anderes als der aufs äußerste radikalisierte Wahrheitsbezug überhaupt, im Sinn der unbedingten Forderung nach Ausweisung.“²⁰³ (Tugendhat) Tugendhat weist nun allerdings zurecht darauf hin, dass unser Wahrheitsinteresse zwar das Interesse an Rechtmäßigkeit, nicht aber an Rechtfertigung und Verantwortung impliziert, schon gar nicht an absoluter. Die „Gegenmotivation der Unverantwortlichkeit“²⁰⁴ ist vielmehr „offensichtlich die natürlichere“, da sie das Interesse an Rechtmäßigkeit ganz unmittelbar befriedigt: „man kann, um die Rechtmäßigkeit der eigenen Setzungen für sich zu sichern, gerade an denjenigen Setzungen, die man bereits vollzogen hat, unbedingt festhalten wollen und muss dann die Frage nach einer Rechtfertigung, in der sie sich als unwahr erweisen könnten, verhindern“²⁰⁵ (Tugendhat) – wenn die Epochê und die transzendentale Reduktion wirklich „Sache unserer vollkommenen Freiheit“²⁰⁶ sind, können wir sie eben auch unterlassen. Genau dies tun die oben schon als Feinde der Philosophie ausgemachten Anhänger der unhinterfragten Tradition. Die Strategie der Unverantwortlichkeit ist daher anzusehen als ein Moment der ständigen (Re‐)Konstitution oder auch „Selbstreparatur“²⁰⁷ (Blumenberg) der Lebenswelt, hier verstanden als Universum der Selbstverständlichkeit, die im Übrigen in ihrer Begründungs- und Reflexionslosigkeit nicht irrational, sondern ökonomisch ist;²⁰⁸ selbst Anytos handelt in gewissem Sinne rational, wenn er in einer Zeit, in der das Überleben der Athener und Athens in der bisherigen Form nicht selbstverständlich ist, die Problematisierung der übriggebliebenen Selbstverständlichkeiten unterbinden will. In der „Konkurrenz zwischen Selbsterhaltung und Reflexion“²⁰⁹ (Blumenberg) schlägt sich Anytos einfach auf die Seite der Selbsterhaltung. Die Berufung auf das allgemeine Wahrheitsinteresse reicht jedenfalls nicht hin, um eine Idee der absoluten Verantwortung gegen die militante Selbstverständlichkeit der Lebenswelt zu etablieren; der „Alltagsmensch“ in seiner „Nah-
Luft, Phänomenologie der Phänomenologie, S. 80. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 190. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 191. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 192. Hua III (Ideen I), S. 65; vgl. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 6 f. Blumenberg, Lebenswelt, S. 27. Blumenberg, Lebenswelt, S. 90 ff. Blumenberg, Lebenswelt, S. 84.
§ 16. Verantwortung und Unverfügbarkeit
195
sphäre“ braucht keine unendliche Erkenntnis, „um praktisch durchzukommen“²¹⁰, ja er wehrt sich (wie Anytos) gegen alle Philosophie. „Dabei hat er auch allgemeine Erkenntnis, zureichend für alle Fälle, vom Stil der Erkenntnis für Unendlichkeiten – die Unendlichkeit hat den Stil der Endlichkeit, der Nähe.“²¹¹ Der natürliche Mensch beruhigt sich aber bei einem Informations- und Verständnisstand, der nur dem „Erfahrungskreis der Situation“ entspricht, in der er sich konkret befindet, und der seinen „zufälligen faktischen Bedürfnissen gemäß ist“²¹²; das „Letzt-erdenkliche“ und absolut Notwendige interessiert ihn nicht.²¹³ Ähnliches gilt mutatis mutandis für die Normalwissenschaften, die, wie im ersten Abschnitt diskutiert wurde, zu einer „essentially situational affair“²¹⁴ (Cairns) degeneriert sind. Zum endlichen, natürlichen Verhalten kann auch durchaus die Akzeptanz von Widersprüchen gehören. Da z. B. Normen nicht universal formuliert und angewandt werden müssen, um situationsgerecht zu fungieren, können Widersprüche zwischen Normen auftreten, die aber dank ihrer Lokalisierung nicht problematisch für den Lebensvollzug werden müssen. Das bloße Bestehen irgendeiner Paradoxie oder sogar Antinomie hindert mich weder daran, meinen alltäglichen Geschäften nachzugehen, noch, mich der wissenschaftlichen Forschung zu widmen, solange der Widerspruch mich nicht direkt (performativ) betrifft; in der heutigen Wissensgesellschaft dürfte auch der „Stachel des Skeptizismus“²¹⁵ im Alltag nicht besonders schmerzen, weil der pragmatische Erfolg, sowie die erkenntnistheoretische Zurückhaltung der (modelltheoretisch-konstruktiv agierenden) Wissenschaften die Möglichkeiten des fundamentalen Zweifels als eingestaubtes philosophisches Spezialproblem erscheinen lassen. Wenn Husserl also sagt: „Naive Erkenntnis genügt nicht, naiv betätigte Wissenschaft kann sehr exakt werden, und doch genügt sie nicht“²¹⁶, dann müssen wir ergänzen, dass naiv betätigte, positive Wissenschaft nur unter den extremen Maßgaben der Universalität, der absoluten Selbstfundierung, der Konsistenz in allen Domänen und der Apodiktizität, d. h. der „regulativen Idee der Endgültigkeit“²¹⁷ nicht genügt. Keines der von Husserl diagnostizierten Probleme der natürlichen Einstellung zwingt uns ohne diese Voraussetzung zum Philosophieren. Im Falle der Wissenschaften etwa wird „die Unvollkommenheit der Spezialität
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 342; vgl. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 311. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 342. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 244. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 245. Cairns, Conversations, S. 81. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 27. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 245. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 371.
196
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
gegenüber der Vollkommenheit der Universalität“²¹⁸ uns nur stören, wenn unser Forschen immer schon von einen bestimmten Universalitätsanspruch dominiert ist. Ähnliches gilt für den Cartesianischen Weg: Die Absenz einer anfänglichen Apodiktizität ist nur ein Mangel unter Maßgabe eines Ansatzes, der schon einen absolut evidenten Ausgangspunkt einfordert. Die Wissenschaften und die historische Philosophie „entbehren einer letzten Begründung, in der sie ihre Ergebnisse und Methoden letztlich verantworten können“²¹⁹ nur dann, wenn absolute Rechenschaftsabgabe wesentlich zu Philosophie und Wissenschaft gehört – andernfalls haben sie zwar keine letzte Begründung, „entbehren“ ihrer jedoch auch nicht. Dass der Einsatz der Umwendung durch eine Kritik der Wissenschaften nur motiviert werden kann, wenn ganz bestimmte normative Vorstellungen von Wissen(schaft) und Verantwortlichkeit bereits im Spiel sind, weiß Husserl selbst: Nun habe ich vor dem Anfang – nämlich dem Anfang mit der Reflexion über die Struktur der Erfahrungswelt – notwendig einen anderen Anfang durchführen müssen: allgemeine Meditationen über das Ziel der Erkenntnis und Wissenschaft, über Normen, die ich mir in natürlicher Einsicht stelle. Dabei meditiere ich selbst, und vor allem, auch über Einsicht, über Evidenz, über Kritik der Evidenz, ich mache mir klar, wie das urteilende Leben zum erkennenden werden und sich selbst rechtfertigen kann.²²⁰
Der „andere Anfang“, in dem das Wissenschaftsideal gewonnen wird, das schließlich in die Philosophie führt, liegt vor allen transzendentalen Reflexionen. Der „Entschluss zur absoluten Verantwortung und Rechtfertigung kann nicht durch die Einsicht, dass die Welt für mich ist, was sie ist, kraft meiner freien Stellungnahme, motiviert sein, sondern das Bewusstsein um die Notwendigkeit von Verantwortung und Rechtfertigung ist die Voraussetzung dafür, überhaupt zu dieser Einsicht zu gelangen.“²²¹ (Landgrebe) Dieses „Bewusstsein um die Notwendigkeit von Verantwortung und Rechtfertigung“ entsteht nach Husserl im „Erwachen des „erkenntnis-ethischen“ Gewissens, welches motiviert sein kann durch eine Kritik der Wissenschaften: sie entbehren in Wahrheit derjenigen vollen Rationalität, die für die Idee der Wissenschaft konstitutiv ist.“²²² Husserl formuliert hier aber vorsichtig genug: Das erkenntnis-ethische Gewissen „kann“ geweckt werden durch eine Kritik der Wissenschaften, womit er offensichtlich der Kontingenz dieses Erwachens Rechnung trägt. An diesem Erwachen des kritischen
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 293. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 369. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 254. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, S. 197. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 251.
§ 16. Verantwortung und Unverfügbarkeit
197
Bewusstseins hängt jedoch alles, denn Philosophie kann „prinzipiell nicht in naivem erkennendem Tun entstehen, sondern nur aus freien Selbstbesinnungen bzw. aus freien Selbstbestimmungen des Erkennenden, nur aus radikaler reflektiver Klarheit über sich selbst und über das, worauf das Subjekt als philosophisches eigentlich hinaus will“²²³. Anders ausgedrückt: „Niemand kann in die Philosophie hineingeraten.“²²⁴ Damit haben wir Finks Diagnose eingeholt: Philosophie in Husserls Sinn beruht auf einem bewussten Entschluss, auf einem anderen Anfang, in dem sich ein Mensch selbst als Philosoph erschafft, indem er sich die Idee der absoluten Selbstverantwortung zueigen macht, wobei dieser absolut freie Akt der Selbstbestimmung offenbar niemals zwingend motiviert werden kann (auch, wenn Husserl dieses Ergebnis ablehnen sollte). Die „absolute Situation“²²⁵, in der dieser andere Anfang stattfinden kann, ist ein philosophisches „Vakuum“²²⁶ (Tugendhat), der Anfang aller Philosophie erscheint dementsprechend als „Resultat eines nicht weiter befragbaren Willensaktes“²²⁷ (Blumenberg) mit dem der Philosoph aus der natürlichen Einstellung ausbricht.²²⁸ Damit sind jedoch zugleich Verantwortbarkeit und Verstehbarkeit des Anfangs annuliert;²²⁹ „der voluntaristische Zug der Begründung theoretischer Einstellung aus der Lebenswelt heraus“ ist dementsprechend bei Husserl „nicht nur der kritische Punkt, sondern das radikale Ungenügen seiner Philosophie der Lebenswelt. Philosophie darf nicht als aus Nicht-Philosophie entstehend gedacht werden, sondern als aus der Unmöglichkeit von Philosophie hervorgehend.“²³⁰ (Blumenberg) Während Fink Unmotiviertheit von Motivlosigkeit trennt und Philosophie als radikal mundan unmotiviert – und daher aus Freiheit zur Freiheit kommend – konzipiert,²³¹ bemüht Husserl sich, diesem Problem auf verschiedene Weise zu entkommen, indem er die Entscheidung für die Philosophie als Reaktion beschreibt. Die vergeblich gesuchte Motivation zur Umwendung wird also nunmehr von einer aktiven zu einer passiven Motivation, d. h. zu einem Widerfahrnis. Die Umwendung ist jetzt nicht mehr ursprünglich Sache des bewussten, vernünftigen Entschlusses, sondern sie „überkommt den Menschen“²³² (Luft). Das philoso
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 7. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 19. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 22. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 192. Blumenberg, Lebenswelt, S. 74. Vgl. für Fink, Giubilato, Reduktion und Freiheit, Kapitel IV, §§ 5 – 6. Blumenberg, Lebenswelt, S. 120. Blumenberg, Lebenswelt, S. 132. Vgl. Giubilato, Reduktion und Freiheit, S. 12 und Kap. III. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie, S. 88.
198
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
phische Leben ist in diesem Sinn zu verstehen als „Leben aus absoluter Berufung“²³³, wobei der „Ruf, der [dem Philosophen] von der Idee einer sapientia universalis entgegentönt“²³⁴ nur ge- und erhört wird, wenn ihm eine „unbedingte Affinität“ entspricht, d. h. ihm aus der „innersten Innerlichkeit“ „eine Wertung entgegenkommt“²³⁵, die ihn auf- und absolut ernstnimmt. Über diese Affinität disponieren wir nicht frei; Husserl selbst sah sich „gedrängt“²³⁶ zur Philosophie, verstand Philosophie als „harte Gnade“²³⁷, sah es sogar zeitweilig voller „Verzweiflung“ als „Unglück“ an, „in die Philosophie verliebt zu sein“²³⁸. Schließlich rekuriert Husserl, um den Drang, dem die Entscheidung zur Philosophie entspricht, zu beschreiben, auf ein Platonisches Motiv: „Der Daimon, der zum wahren Beruf führt, spricht durch Liebe.“²³⁹ „Der forschende Eros“²⁴⁰ ist die unverfügbare Triebkraft, die den anderen Anfang bedingt. Wir philosophieren „„aus Liebe““²⁴¹. Was versteht Husserl darunter? Denken wir hier an die wundersame Eroslehre des Symposion und Phaidros. Der hohe Eros, der Eros im spezifischen und reinen Sinne, ist die begeisterte Liebe zu den reinen Ideen, zu jenen urbildlichen Echtheiten, Vollkommenheiten, die sich empirisch nur unvollkommen vereinzeln, und sie ist die Seelenhaltung, in der am empirisch Einzelnen das Ideal erschaut und an diesem gemessen wird. Der Eros ist also Ausdruck für das liebende Erschauen aller Arten absoluter Werte, und zwar ein Erschauen, in dem sie der Schauende innerlich ganz zu eigen hat, mit ihnen ganz und gar erfüllt und eins ist. Ist dann nicht die notwendige Konsequenz, dass der Schauende auch zum ethischen Subjekt im hohen und echten Sinne wird, dass er, wo und so weit es praktisch möglich ist, das Empirische den reinen Allgemeinheiten gemäß, diesen allgemeinen Idealen gemäß, zu gestalten sucht?²⁴²
In der absoluten Situation des anderen Anfangs hört der wahre Philosoph die Stimme des Eros. Ein philosophisches Leben ist daher auch kein Zufall, das aus einer unmotivierten, willkürlichen Wahl entsteht, denn es entspricht dem Eros; aber es ist auch kein erzwungenes Leben, insofern die „Seelenhaltung“ des liebenden Erschauens niemals erzwungen werden kann, sondern immer Sache des freien Entschlusses bleibt, auf den drängenden Ruf zu antworten.
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 11; vgl. Ricoeur, Husserl, S. 86 f. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 17. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 16. Hua V (Ideen III), S. 57. Briefe Dok III/7, S. 14. Hua V (Ideen III), S. 162. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 146 FN 1. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 336. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 13. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 197 f.
§ 16. Verantwortung und Unverfügbarkeit
199
Und wie bei Platon hat die erotisch-philosophische Entscheidung existentielle Bedeutsamkeit, ist also eine „Lebensentscheidung“²⁴³ (Landgrebe), eine „Urstiftung, die Selbstschöpfung ist“²⁴⁴; „folge ich diesem Ruf, was tue ich anderes als mich, mich als endliches, als sinnliches, als unechtes, unwahres Ich verlieren, um mich selbst, mein echtes und wahres, mein unendliches, vom Irdischen gereinigtes Ich zu gewinnen?“²⁴⁵ In eminent Platonischer Diktion präsentiert Husserl seinen Studenten wenige Zeilen später den Gedanken, dass dieses Unterfangen „absolute Hingabe“²⁴⁶ fordert. Philosoph ist nur,wer sich der Philosophie weiht,wie nur der Künstler ist, der sich selbst ganz und gar der Kunst weiht. Sich für Philosophie interessieren, gelegentlich über Wahrheitsfragen nachdenken und selbst daran fortlaufend arbeiten, ist noch nicht Philosoph sein, ganz so wie dilletierendes Malen und Modellieren, und sei es selbst ein ganzes Leben lang, noch nicht heißt, Künstler sein. Was da fehlt ist der Radikalismus des Willens zum Letzten, der die Unendlichkeit der reinen Idee und die Unendlichkeiten einer ganzen Ideenwelt vor Augen hat und sich nur genugtun kann im Hinleben gegen die ewigen Pole, in welchem Hinleben und Sich-schöpferisch-tätig-ausleben er sich selbst als ewiges Ich verwirklicht.²⁴⁷
Auch Husserl sieht den Anfang der Philosophie also zwischen Aktivität und Passivität, Wille, Hingabe und Hingerissen- oder Gerufen-Sein; ihr Ende ist die Verwirklichung des ewigen Ich. „It is difficult not to compare this elevation of the meditating ego with the Platonic conversion by which the psyche, „captivated“ by reality, draws closer to the [grch.] nous from which it came.“²⁴⁸ (Ricoeur) Das Motiv der Gewinnung unseres wahren Selbst durch die Philosophie konnten wir bereits im zweiten Abschnitt der vorliegenden Arbeit als wesentliche Gemeinsamkeit von Platons und Husserls Ethik ausweisen; nunmehr hat es sich auch gezeigt als ein gemeinsamer, fundamentaler Grund für die Entscheidung, die natürliche Einstellung zu verlassen. Dadurch erhält zugleich jede Rechtfertigung und Motivierung der Philosophie „den Charakter einer Selbstrechtfertigung“²⁴⁹ (Landgrebe). So versteht auch Husserl – wie Sokrates – sein Tun aus dem Apollinischen Auftrag,²⁵⁰ d. h. als Endstiftung „des systematischen Vollzuges jenes reinen „Erkenne
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 302. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 19. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 16. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 17. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 17. Ricoeur, Husserl, S. 94. Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 302. Hua I (Cartesianische Meditationen), S. 161.
200
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
dich selbst!“, aus dem, wie sich immer deutlicher zeigen wird, die gesamte Philosophie entquillt.“²⁵¹ Die Umwendung erlaubt so nicht nur die Erfüllung der wissenschaftstheoretischen Forderungen, die wir in Abschnitt A skizziert haben, sondern zugleich auch die der existentiellen Ansprüche, die das Thema von Abschnitt B bilden. Die Abwendung von der natürlichen Einstellung und die Eröffnung eines neuen, methodisch gesicherten philosophischen Diskurses sorgt zugleich für eine Überwindung aller Gegner aus Abschnitt C. Dabei ist abschließend noch einmal zu betonen, dass die dialektische periagogê und die phänomenologische Reduktion trotz aller metaphorischen und systematischen Nähe nicht einfach inhaltlich zu identifizieren sind; die durch sie etablierten Diskurse unterscheiden sich in wesentlichen Punkten. Der Ideenhimmel ist, wie gesagt, nicht das Feld der transzendentalen Subjektivität. Identisch ist vielmehr ihre zweiphasige Struktur der Abwendung vom natürlichen Leben und der Eröffnung neuer, fundamentaler Diskurse, die Verwebung von Unverfügbarkeit und Eigenverantwortung in ihren Bedingungen sowie ihre methodologische Funktion innerhalb der beiden Philosophien.
§ 17. Kritik: Flucht und Hervorgang aus der Lebenswelt (α) Durch die Platonische Umwendung wird in den Dialogen vor allem der eigentliche (philosophische) Sinn einer (vor-philosophischen) Frage oder Diskussion geklärt. Sokrates und seine Kollegen zeigen den Gesprächspartnern, dass sie eigentlich immer schon nach den Ideen fragen und ermuntern sie, entsprechend ‚wesentlich‘ zu antworten. Das bedeutet aber, dass die Umwendung selbst keine Änderung des Themas impliziert, sondern vielmehr nur eine Verdeutlichung desselben. Bei aller Umstellung von doxa auf epistêmê und von Werden auf Sein bleibt die thematische Ausrichtung also erhalten: Wenn der Dialog etwa mit einer naiven, d. h. vor-philosophischen Diskussion über Tugend beginnt, dann geht es nach der Umwendung sozusagen erst recht und eigentlich um Tugend, nämlich um die Idee der Tugend, die nunmehr dialektisch erforscht wird. Dass sich dabei Umwege als nötig erweisen können, ändert nichts daran, dass die Umwendung den Bezug zum ursprünglichen Thema nicht löst, sondern eigentlich erst herstellt. Im krassen Unterschied dazu besteht bei Husserls Darstellung der phänomenologischen Reduktion die Gefahr, dass sie erscheint, als würde sie den Phänomenologen von allen vor-phänomenologischen Problemen gänzlich ab-
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 121
§ 17. Kritik: Flucht und Hervorgang aus der Lebenswelt
201
schneiden und einen transzendentalen Abgrund aufreißen. Wenn Husserl etwa proklamiert, in der Phänomenologie komme „kein Satz vor, der die Welt […] betrifft“²⁵², so liegt der Verdacht nahe, das Motto der Phänomenologie „Zu den Sachen selbst!“ habe sich unter der Hand in eine Aufforderung zur Flucht verwandelt: „Weg von der Welt!“²⁵³ (Blumenberg) Der Wechsel des Gegenstandsbereichs von den mundanen Bereichen hin zum transzendentalen Feld wäre dann eine derart radikale und totale thematische Umstellung, dass im Grunde keine Anknüpfungs- oder Vermittlungsmöglichkeit zwischen mundanen und philosophisch-phänomenologischen Diskursen bestünde. Ganz anders als bei Platon würde die philosophische Umwendung nach Husserl jeden Diskurs zerstören, auf den sie angewandt würde, da die Gegenstände der Phänomenologie den natürlichen Diskursen restlos, d. h. absolut fremd sind. Die Totalität der Reduktion impliziert daher eigentlich einen Gesprächsabbruch. Dies kann jedoch nicht in Husserls Interesse liegen, der die Phänomenologie ja auch als Antwort auf bisher ungelöste Probleme der Erkenntnistheorie, Logik und Psychologie verstehen will. (Im Übrigen ist die Behauptung, in der Phänomenologie komme „kein Satz vor, der die Welt […] betrifft“, wie Husserl behauptet, natürlich inkonsistent, denn die Welt ist – auch bei Husserl – ständig Thema der Phänomenologie.) Hier streiten offensichtlich wieder einmal mehrere Motive Husserls miteinander, nämlich einerseits das Beharren auf der thematischen Innovation der Phänomenologie und der entgegengesetzte Wunsch, traditionelle Themen aus phänomenologischer Perspektive zu klären; andererseits auch Husserls TotalitätsSehnsucht, einen radikalen, universellen Bruch zu vollziehen und wiederum die dem entgegenstehende Absicht, plausible deskriptive Detailarbeit zu leisten. Eine mögliche Lösung dieser Konflikte besteht darin, Husserls Überschwänglichkeiten in Bezug auf die absolute Distanz, die Epochê und Reduktion zwischen natürlicher und phänomenologischer Einstellung erzeugen sollen, wie in Bezug auf den Neuheitswert des phänomenologischen Vorgehens nicht völlig ernst zu nehmen. Eine andere,vielleicht plausiblere Lösung nimmt die Distanz und die Innovativität der Phänomenologie ernst, leugnet aber die Totalität der Reduktion. So führen sowohl Fink als auch Merleau-Ponty gute Gründe an, weshalb eine vollständige Reduktion im Sinne eines totalen Kontaktabbruchs mit der Welt ohnehin nicht möglich ist, nämlich einerseits aufgrund der Endlichkeit, Situiertheit oder Faktizität des Reflektierenden,²⁵⁴ andererseits aufgrund des Problems der „tran-
Hua VIII (Erste Philosophie II), S. 423. Blumenberg, Beschreibung, S. 108. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Einleitung, § 16.
202
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
szendentalen Prädikation“²⁵⁵, das darin besteht, dass jede Sprache, deren sich der Phänomenologe jemals bedienen kann, immer eine natürliche Sprache sein oder einen natürlichen Ursprung haben muss.²⁵⁶ Die Reduktion muss dieser Lösung zufolge weiterhin als thematische wie methodische Neuorientierung verstanden werden, durch die ein spezifisch transzendentaler Diskurs etabliert wird. Allerdings sollte dies nicht einfach als totaler Wechsel des Themas verstanden werden, sondern vielmehr als neue Auslegung oder Aneignung von bereits Gegebenem, d. h. als eine thematische Verschiebung (statt einer völligen Abwendung). Husserls Neigung, vergegenständlichend vom „Feld“ der Phänomenologie zu sprechen, leistet dem Missverständnis Vorschub, die Phänomenologie würde einfach über ‚unnatürliche‘ Dinge sprechen, im Gegensatz zu den natürlichen Dingen, die angeblich Thema der natürlichen Diskurse seien; mit Zorn gesprochen läge damit eine „ontologische Auslegung“²⁵⁷ (Zorn) des Themas der Phänomenologie vor, wodurch dieses Thema irrigerweise zu einer Sache verdinglicht würde. Rinofner-Kreidl behält recht, wenn sie, wie oben zitiert, im „Wechsel des Gegenstandsbereichs“ das „entscheidende Moment der Reduktion“ sieht, insofern dadurch erst die Differenz zu den anderen Wissenschaften gesetzt wird; insofern der Wechsel des Gegenstandsbereichs jedoch gerade „die Sinngehalte jener Urteile, die in der Wissenschaft (wie auch im Alltagsleben) gefällt werden, zu ihrem Untersuchungsgegenstand macht“²⁵⁸ (Rinofner-Kreidl), entfernt sie sich thematisch eben doch nicht vollständig von den natürlichen Diskursen. So bearbeitet die Phänomenologie durchaus traditionelle Problemfelder wie Wahrheit und Erkenntnis, Wertbildung oder Wahrnehmung, Personalität und Empathie, allerdings jeweils unter der – neuen – Perspektive der (inter‐) subjektiven (Sinn‐)Konstitution. Die Phänomenologie verändert die Optik eines Problems, also die Problematik – wie auch alle anderen Schulen oder Methoden jeweils eigene Diskurse oder Optiken oder Problematiken eröffnen. Dadurch verändert sich, was am Gegenstand auf welche Weise thematisiert wird, nämlich die Strukturen seines Erscheinens oder die Normen der Genese von Sinn – und insofern ist die Phänomenologie thematisch innovativ. Husserl kann also zurecht beanspruchen, den unterschiedlichen Weisen der philosophischen Problematisierung verschiedener Themen durch die Eröffnung des transzendentalen Feldes eine neue hinzugefügt zu haben.Wahrnehmung als transzendentales Konstitutionsgeschehen zu thematisieren, zeitigt z. B. völlig andere Ergebnisse als die Thematisierung von Wahrnehmung als biologisches Phänomen oder die
Fink, VI. Cartesianische Meditation, S. 93. Vgl. Kerckhoven, Mundanisierung und Individuation, S. 387– 410. Zorn, Vom Gebäude zum Gerüst, Bd. I, Kap. 4.4. Rinofner-Kreidl, Mediane Phänomenologie, S. 97.
§ 17. Kritik: Flucht und Hervorgang aus der Lebenswelt
203
Thematisierung unserer Verwendungsweise von „Wahrnehmung“. Dabei ist die eine Weise der Thematisierung nicht ‚eigentlicher‘ als die andere. In dieser Auffassung der Reduktion als Möglichkeit, die transzendentale Dimension eines Themas als Forschungsperspektive zu eröffnen, spielt die vermeintliche Totalität der Reduktion keine Rolle. Die Phänomenologie erlaubt es zwar wirklich, jedes Phänomen auf seine Phänomenalität und seine konstitutiven Strukturen hin zu befragen, aber zur Durchführung konkreter phänomenologischer Forschungen reicht es, die Reduktion jeweils in Bezug auf den konkreten Forschungsgegenstand und alle seine Implikationen durchzuführen und kein mundanes Urteil zuzulassen. Und selbst das Thema „Welt“ ist dabei nur ein Thema neben anderen, wenn auch ein wichtiges. Für alle jeweils nicht-aktuellen Themen oder nicht aktuell thematisierten Phänomene muss ich keine Reduktion durchführen. Eine grandios-totale „Aufgabe der Weltkindschaft“ ist also nicht nur unmöglich, sie ist auch nicht nötig. (β) „Der Anfang der Philosophie muss ein Selbstanfang sein, autonom aus dem Lebensvollzug hervortetend, aber nicht selbst faktisch-voluntaristisch, schicksalhaft, erleuchtungshaft oder zufällig.“²⁵⁹ (Blumenberg) Der Ruf des Eros ersetzt die faktisch-voluntaristische Konzeption des Anfangs, ist in seiner Unverfügbarkeit jedoch gerade vom Typ eines Schicksals; wenn Husserl sich zur Philosophie „gedrängt“²⁶⁰ fühlt und es als „Unglück“ ansieht, „in die Philosophie verliebt zu sein“²⁶¹, dann bestätigt er gerade diese Schicksalshaftigkeit. Die Rede von der „harte[n] Gnade“²⁶² lässt die absolute Situation des philosophischen Anfangs außerdem in einem theologischen Licht erscheinen, das an ihr einen Offenbarungscharakter sehen lässt, so dass der philosophische Anfang doch „erleuchtungshaft“ zu denken wäre. Im Blick auf die faktische Verteilung der erotisch-philosophischen Affinität muss schließlich auch die Zufälligkeit dieser Verteilung der philosophischen Disposition augenscheinlich werden: Manche Menschen hören den Ruf, die meisten nicht. Indem Husserl die Entscheidung zu philosophieren gut Platonisch als erotisches Geschehen denkt, entgeht er also dem reinen Dezisionismus, verfehlt aber durch seine Berufung auf den Eros und seine Faktizität trotzdem „das Verständnis für die Rationalität dieses Hervorgehens der Theorie aus der Lebenswelt.“²⁶³ (Blumenberg) Wenn die Philosophie einen Zweck und vor allem einen Grund (ratio) haben soll – und das muss sie für Husserl offensichtlich –, dann reicht es für eine phänomenologisch befriedigende
Blumenberg, Lebenswelt, S. 121. Hua V (Ideen III), S. 57. Hua V (Ideen III), S. 162. Briefe Dok III/7, S. 14. Blumenberg, Lebenswelt, S. 78.
204
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
Selbstaufklärung ihres Anfangs nicht aus, auf den rein faktisch-individuellen Ruf des Eros zu verweisen. Eine genetisch-kritische Theorie des Anfangs der Philosophie hat vielmehr die doppelte Aufgabe, sowohl die Bedingungen der Möglichkeit wie auch die Notwendigkeit dieses Prozesses einzuholen: „Philosophie muss anfangen müssen, wenn sie nicht ein bloßes Kulturfossil sein oder werden können soll.“²⁶⁴ (Blumenberg) Da Husserl dieses Antezendenz sicherlich teilt, greift sein Platonischer Rückgriff also zu kurz bzw. ist systematisch inkonsequent, obwohl er sicherlich seinem persönlichen „Ethos des Philosophierens“ (Blumenberg) entspricht,²⁶⁵ denn der Antwort auf den Ruf oder das Drängen des Eros eignet nicht weniger bloße Faktizität als dem absolut freien, d. h. willkürlichen Entschluss, der dadurch abgelöst wird; die nötige Notwendigkeit des Entschlusses zur Philosophie wird auch durch diese Verschiebung nicht erreicht. Und eben sowenig beleuchtet Husserl die Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt erst möglich wird. Platon selbst hat dieses Problem nicht, weil seine philosophische Ausgangssituation völlig anders verfasst ist; als einzig effektives Mittel, der Sorge um das Selbst Genüge zu tun, ist Philosophie für Platon genug begründet, und mit Eros, Orakel und den Kräften der Freiheit im Höhlengleichnis auch das Intialmoment genügend bestimmt. Der Verweis auf den nach Unsterblichkeit strebenden Eros, auf das delphische Orakel, d. h. den Auftrag Apolls, oder auf den anonymen Entfessler und die darin jeweils implizierte Exogeneität und Unverfügbarkeit stehen Husserl nicht zu: „Der Punkt, an dem in Platos Gleichnis der anonyme Eingriff der Entfesselung und gewaltsamen Verschleppung aus der Höhle mit dichterischer Mühelosigkeit in Anspruch genommen wird, kann für das Heraustreten aus der Lebenswelt nicht mit gleicher Lässigkeit bezeichnet werden: Der endogenen Fraglosigkeit hilft kein exogener Fragesteller auf den Weg.“²⁶⁶ (Blumenberg) Den Ruf des Eros nun durch den Stachel des Skeptizismus – als scheinbar der Lebenswelt immanente Motivation – zu ersetzen, führt auch nicht weiter. Denn die Skepsis nötigt zwar wirklich die Philosophie, wie Husserl formuliert, „aus dem bequemen Bett der natürlich-naiven Weltbetrachtungen herauszutreten und das Triviale zum Problem zu machen […] Denn in gewisser Weise ist die Philosophie die Wissenschaften von den Trivialitäten; und das Wunderbare ist, dass eben an das Trivialste sich die größten Rätsel des Daseins knüpfen.“²⁶⁷ Aber während damit der Reiz der Phänomenologie (als der Wissenschaft vom Selbstverständli
Blumenberg, Lebenswelt, S. 121. Blumenberg, Lebenswelt, S. 197. Blumenberg, Lebenswelt, S. 167. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 24.
§ 17. Kritik: Flucht und Hervorgang aus der Lebenswelt
205
chen) pointiert beschrieben ist, macht Husserl auf diese Weise nicht mehr verständlich als durch seine voluntaristischen und erotischen Erklärungsversuche des Anfangs der Philosophie, solange er nicht wiederum erklären kann, weshalb und wie die Skepsis lebensweltlich endogen entstehen kann und muss (und warum die Philosophie sich dadurch motivieren lassen sollte). Skepsis ist ja vielmehr selbst eine denkbare Denk- und Lebensform. Dabei wären seine Ansätze zur Theorie der Lebenswelt der kritisch-genetischen Doppelaufgabe durchaus gewachsen. Blumenberg deutet an, wie eine phänomenologisch befriedigende Aufklärung des Anfangs der Philosophie zu konzipieren wäre: Störung bleibt Incitament der Philosophie. Will man das Hervorgehen des Denkens aus der Lebenswelt verstehen, muss man sich die Art des Denkens ansehen, wie es in der Lebenswelt vorkommt. Etwa das, was wir als das Aufkommen von Nachdenklichkeit bezeichnen. Denn, was auch immer man sagen mag, Denken ist Ausnahmezustand, reines Denken die Ausnahme vom Ausnahmezustand. Nicht zu denken ist durchaus normal – was auch immer Berufsdenker darüber denken und von anderen verlangen mögen.Wir denken nicht, weil wir erstaunen, hoffen, oder fürchten; wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken.²⁶⁸ (Blumenberg)
Eine Phänomenologie des Anfangs der Phänomenologie müsste also bei den Strukturen der Lebenswelt ansetzen und z. B. zeigen, dass und wie deren Instabilität das Denken und die Abwendung von der natürlichen Einstellung (reines Denken) ermöglicht und zugleich notwendig macht. Blumenbergs phänomenologische Anthropologie der Reflexion als Folge der Hominisation, nämlich als notwendige Selbst-Objektivierung in der passiven Optik, die zur Selbstaufrichtung gehört, wäre sicherlich ein wichtiges Bestandsstück dieser genetisch-kritischen Theorie. Eine andere, bei Husserl selbst angelegte Variante präsentiert Luft, die sich Husserls späte Überlegungen zu Heim- und Fremdwelt zunutze macht, insofern erst „die Erfahrung des Fremden als Fremden“ das „Interesse am Eigenen als Eigenen“²⁶⁹ (Luft) weckt. Die notwendige Motivation zur Philosophie entsteht demgemäß nicht aus dem Eros, sondern aus der Entfremdung. Der zur Einheit strebende Eros²⁷⁰ der Platonischen Philosophie wäre vor diesem Hintergrund seinerseits als Reaktion auf Erfahrungen kultureller Diversität zu verstehen – und die Spaltung der Kugelmenschen in der Rede des Aristophanes im Symposion ließe
Blumenberg, Lebenswelt, S. 61. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie, S. 100. Vgl. Reale, „Alles, was tief ist, liebt die Maske“.
206
Abschnitt D Philosophie und das Ende der Lebenswelt
sich sogar dementsprechend lesen. Eine solche Interpretation kann freilich nicht mehr Sache dieser Arbeit sein.
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen § 18. Wesentliches Philosophie ist Ideenwissenschaft. Ideen sind Seiendes sui generis.
a) Platon: Ideenannahme und Ideenlehre Mit was genau setzt sich die Philosophie eigentlich auseinander? Und wie? Ideen sind die intelligible Struktur der Dinge, d. h. das, was ihre erkennbare, allgemeine Bestimmtheit ausmacht, ihr „Prinzip der Bestimmtheit“ oder das „Organisationsprinzip einer Gegenstandseinheit“¹, d. h. auch das „Kriterium“² (Uhlmann), dem gemäß ein Gegenstand ein solcher und nicht ein anderer Gegenstand ist. „Eine platonische Idee enthält die Antwort auf die Frage, was etwas ist, weil sie all das in sich umfasst, was etwas sein kann, wenn es etwas Bestimmtes ist.“³ (Uhlmann) So erklärt Sokrates im Phaidon, dass „durch das Schöne alle schönen Dinge schön werden“⁴; die „Teilhabe an“ (methexis)⁵, die „Anwesenheit von“ (parousia) oder „Gemeinschaft mit“ (koinonia) dem Schönen selbst ist der „Grund“ (aitia)⁶ der Schönheit in allen Dingen; die Idee „macht“ (poiei)⁷ die Dinge schön. (Dass dabei an keine kausale Produktionsthese gedacht ist, ergibt sich daraus, dass Kausation – und a fortiori Produktion – eine raumzeitliche Relation ist, allgemeine Wesen jedoch nicht raumzeitlich lokalisiert sind, also auch nicht kausal wirksam sein können; Eidê produzieren nichts, weshalb die Ideenlehre – wie Aristoteles moniert – auch keinen Beitrag zum Problem der Bewegungsgenese liefert.⁸) Das allgemeine Wesen eines Gegenstandes macht im Gegensatz zum konkreten Wesen das aus, was einen Gegenstand als einen solchen Gegenstand überhaupt bestimmt, z. B. seine Funktion (ergon oder dynamis).⁹ Als reine, d. h. nicht raumzeitlich indivuierte Bestimmtheiten sind die Ideen das „ewig Seiende
Uhlmann, „Platons Ideenlehre“, S. 26. Uhlmann, „Platons Ideenlehre“, S. 43, Uhlmann, „Platons Ideenlehre“, S. 62. Phaid. 100D. Phaid. 100C. Phaid. 100C. Phaid. 100D. Aristoteles, Metaphysik 991 A, 1079B. Vgl. Uhlmann, „Platons Ideenlehre“, FN 6. Vgl. Prot. 330 A; Pol. 352E.
DOI 10.1515/9783110528053-007
208
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
(aei on)“¹⁰, d. h. das „immer auf gleiche Weise sich Verhaltende (aei kata tauta echon)“¹¹. Wesenswahrheiten sind, genau wie mathematische Wahrheiten, nämlich notwendige Wahrheiten, das Indikativ Präsenz von philosophischen Urteilen indiziert keine aktuelle Gegenwart in einem Zeitfluss. Wie gelangen wir nun aber zu Urteilen über Wesen? Nachdem Menon Sokrates auf dessen Frage nach dem Wesen der Tugend eine Menge (vermeintlicher) Beispiele für Tugend genannt hat, antwortet ihm Sokrates: „Gar besonders glücklich, o Menon, scheine ich es getroffen zu haben, da ich nur (eine) Tugend suche und einen ganzen Schwarm von Tugenden finde, die sich bei dir niedergelassen.“¹² In dieser ironischen Kritik ist ex negativo die Anleitung zur eidetischen Reduktion enthalten, d. h. die Aufforderung, im Vollzug philosophischer Überlegungen die Aufmerksamkeit von konkreten Einzelfällen auf die erfragten Ideen selbst zu lenken, d. h. vom Bestimmten auf die Bestimmtheit, wobei der Dialektiker jeweils die Teilhabe-Verbindungen der Ideen – qua Bestimmtheitsstrukturen – untereinander untersucht.¹³ Der wahre Dialektiker „schreitet so von Idee zu Idee und endet auch bei Ideen“¹⁴. Philosophie ist daher ohne Ideen nicht denkbar: O Sokrates, sagte Parmenides, wenn jemand auf der anderen Seite nicht zugeben will, dass es Wesen von dem, was ist (eidê tôn ontôn), gibt, weil er eben auf alles Vorige und mehr Ähnliches hinsieht und kein Wesen für jedes Besondere bestimmt setzen will, so wird er nicht haben, wohin er seinen Verstand (dianoian) wende, wenn er nicht eine Idee für jegliches Seiende zulässt, die immer dieselbe bleibt, und so wird er das Vermögen der Untersuchung (dialeghestai dynamin) gänzlich aufheben¹⁵
Die Annahme, dass es solche Ideen gibt, auf die wir uns epistemisch erfolgreich beziehen können, ist also eine Voraussetzung, die wir als Philosophen im Platonischen Sinne immer machen müssen. Damit ist indes nicht gesagt, dass wir von vorneherein Geltung für unsere Position beanspruchen dürfen; es kann sich immer herausstellen, dass unsere Explikation zu kurz greift oder es gar keine einheitliche Idee gibt, wo wir sie vermutet hatten. Tatsächlich ist eine minimale Form der Ideenannahme bereits in unserem alltäglichen Denken und Sprachgebrauch impliziert, denn wer sich über allgemeine Bestimmtheiten, d. h. Wesen (Wesensdefinitionen, Wesensgesetze, We-
Tim. 27D. Phaid. 79 A. Men. 72 A. Soph. 253B. Pol. 511C. Par. 135B.
§ 18. Wesentliches
209
sensstrukturen) unterhält, hat (zumindest performativ)¹⁶ die Existenz dieser Wesen auf gewisse Weise anerkannt. In diesem Sinne ist die Ideenannahme kein Ergebnis des Platonischen Denkens, sondern eine notwendige Implikation aller Erkenntnisansprüche, die der Philosoph nur bewusst einholt. Platon gibt uns durch mehrere Protagonisten deutlich zu verstehen, dass diese basale Ideenannahme wirklich „nicht als schwierige und komplizierte Theorie“¹⁷ (Wieland) aufzufassen ist, z. B. durch den alten Parmenides oder Sokrates im Kerker, der die Ideen als etwas „Abgedroschenes“¹⁸ einführt. Platon präsentiert mithin zunächst weniger eine Ideenlehre in Form einer Doktrin als vielmehr Performanzen der philosophischen Einstellung und Hinweise darauf, wie sie zu erreichen ist. Von einer Ideenlehre ist eigentlich erst dort zu sprechen, wo Platon auf die Ideenannahme reflektiert und Missdeutungen zum Wesen der Ideen aus dem Weg räumt. Der populäre Ausdruck „Ideenlehre“ enthält also zwei ziemlich unterschiedliche Bezüge zu den Ideen. Einerseits ist damit die eidetische Einstellung gemeint, die (performativ) die Annahme impliziert, dass es Wesen gibt, die wir erkennen können. Mit Ideenlehre in dieser minimalen Bedeutung haben wir es also schon bei der ‚gewöhnlichen‘ philosophischen Tätigkeit der Diskussion verschiedener Wesen zu tun, wie auch in anderen Tätigkeitsfelder, wie sich weiter unten zeigen wird. Andererseits titulieren wir als Ideenlehre auch die Platonischen Reflexionen auf die metaphysischen Voraussetzungen der Philosophie selbst, die etwa die Abwehr mentalisierender und reifizierender Deutungen beinhaltet. Der onto-epistemologischen Korrelation gemäß gehören die Ideen in der grundlegenden Dichotomie von Sichtbarem (horaton) und Denk- oder Einsehbaren (noêton) zum Bereich des Denkbaren.¹⁹ Diesen Bereich teilen sie sich mit den mathematischen Gegenständen, die ebenfalls denkbar und ewig sind. Sprachlich signalisiert Platon diesen gemeinsamen Status mit den Ausdrücken „idea“²⁰ oder „x selbst (autos)“²¹, mit dem er sowohl die Ideen im Gegensatz zu ihren Instanzen als auch die Zahlen auszeichnet.²² Die Gegenstände der Mathematik sind für Platon, wie Husserl formuliert, „zwar von ganz anderem Ursprung und anderer Funktion“ als die Ideen, aber sie teilen mit ihnen „die merkwürdige Eigenschaft der Apriorität“²³, gehören also im weiteren Sinne durchaus zum Sein; sie „haben
Wieland, Formen des Wissens, S. 123. Wieland, Formen des Wissens, S. 116. Phaid. 100B. Pol. 509D. Phaid. 104D. Pol. 510D. Z. B. prominent Phaid. 100C; früh Euthyphr. 5D. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 50.
210
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
alle Grundeigenschaften der Ideen“²⁴. Die Ideen unterscheiden sich von den mathematischen Gegenständen primär dadurch, dass sie „anumerisch“²⁵ (Spiegelberg), d. h. nicht zu vervielfältigen sind. Sokrates gibt in der Politeia ein Beispiel für diese wesentliche Identität „Nehmen wir also, was du willst von solchem Vielen! Wie, wenn es dir recht ist, gibt es doch viele Bettgestelle und Tische? […] Aber Ideen (ideai) gibt es doch nur zwei für diese Geräte, der eine das Bett, der andere der Tisch.“²⁶ Etwas ausführlicher erläutert Sokrates denselben Gedanken im sechsten Buch: Vieles Schöne, sprach ich, und vieles Gute, was einzeln so sei, nehmen wir doch an und bestimmen es durch Erklärung (tô logô). […] Dann aber auch wieder das Schöne selbst und das Gute selbst und so auch alles, was wir vorher als vieles setzten, setzen wir als eine Idee eines jeden, indem wir annehmen, dass sie nur eine ist, und nennen es jegliches, was es ist (ho estin).²⁷
Die Ideen wiederholen sich also identisch in ihren Instanzen, die Teilhabe an ihnen ist allen ihren Instanzen gemein; insofern sind Ideen ‚allgemeine Gegenstände‘. Natürlich beschränkt sich ihre Instantiierung nicht auf sinnlich anschauliche Dinge. Auch tugendhaftes Verhalten ist zum Beispiel eine wiederholte Instantiierung ein und derselben Bestimmtheit, nämlich der Tugend an sich oder dem allgemeinen Wesen Tugend,²⁸ wie auch alle Fälle von Frömmigkeit Instanzen der „Frömmigkeit selbst“ sind.²⁹ Während sich nun das Eidos Tugend nicht vervielfältigen, sondern nur multipel instanziieren lässt, sind Zahlen und andere mathematische Gegenstände beliebig oft wiederholbar (und teilweise wiederholt zerstückbar)³⁰. Die Wiederholbarkeit mathematischer Gegenstände zeichnet sie – in Platons Augen – ontologisch als zu einem eigenen Bereich gehörig aus, der ‚unterhalb‘ der Ideen anzusiedeln ist, da Wiederholung eine Form der Vervielfachung darstellt und damit in einer nach Einheit hierarchisierten ontologischen Ordnung eine Rangminderung nach sich zieht. Der „Mangel der Numerität“ bei gleichzeitiger Einfachheit³¹ aufseiten der Ideen kann daher geradezu als „Ideeitätsprinzip“³² (Spiegelberg) schlechthin gelten.
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 51. Spiegelberg, Das Wesen der Idee, S. 99. Pol. 596 A. Pol. 507B. Men. 73C. Euthyphr. 5C. Aristoteles, Metaphysik, 987B. Symp. 211B; Phaid. 78D. Spiegelberg, Das Wesen der Idee, S. 98.
§ 18. Wesentliches
211
Aus den skizzierten Bestimmungen folgt, dass die Ideen vor allem zweierlei nicht sind: Dinge oder subjektive Denkinhalte. Im Parmenides versucht der junge Sokrates, der Schwierigkeiten, in die ihn sein bisheriges Verständnis der Ideen geführt hat, durch eine Reduktion der Ideen auf bloße Gedanken Herr zu werden. Parmenides hat ihn mit dem Problem des dritten Menschen (wie Aristoteles es später nennt)³³ konfrontiert, woraufhin Sokrates zurückfragt, ob nicht vielleicht jede dieser Ideen (eidôn) ein Gedanke (noema) ist, welcher sich nirgendwo anders einfinden kann als in den Seelen! Auf diese Weise nämlich wäre jede von ihnen eine, und es würde ihr nicht mehr das zustoßen, was eben gesagt wurde. Was also, habe er gefragt, jeder der Gedanken ist einer, aber Gedanke von nichts? Das ist ja unmöglich, war die Antwort. Sondern von etwas (tinos)? Ja. Von etwas, das ist, oder von etwas, das nicht ist? Von etwas, das ist. Nicht von einem etwas, das jener Gedanke als auf allen Dingen seiend schaut, und zwar eine Hinsicht (idean)? Ja. Und wird dies nicht die Idee (eidos) sein, was als eins seiend gedacht wird und immer als dasselbe seiend bei allen? Das scheint wiederum notwendig zu sein.³⁴
Platon verbietet also – auf der Basis des Theorems der Intentionalität von Gedanken – ausdrücklich die ‚Mentalisierung‘ der Ideen. Er wehrt sich andererseits ebenso gegen ein Verständnis der Ideen, das aus ihnen seltsame Dinge macht. Die Entgegensetzung von Idee (Urbild) und raumzeitlich lokalisiertem Individuum (Abbild) verhindert eine Auffassung der Ideen als gewöhnliche Dinge, aber auch diejenigen, die sie als eigentümliche (ätherische) Dinge ansetzen, wie die „Ideenfreunde“³⁵ aus der ‚Gigantenschlacht‘ des Sophistês, sitzen hinsichtlich ihres Seinssinns einem reifizierenden Missverständnis auf. Vor allem im Parmenides wird klar, dass es bei der philosophischen Umwendung unter anderem darum geht, ein sozusagen un-sachliches Verhältnis zu den Zielpunkten des eigenen (eidetischen) Interesses zu entwickeln.³⁶ Hier versucht sich der junge, enthousiasmierte Sokrates noch an dingliche Analogien zu klammern, um das Teilhabe-Verhältnis zu verstehen. Der alte Parmenides zeigt ihm jedoch, dass ihn derartige Ansätze auf ein mereologisches Verhältnis zwi-
Aristoteles, Metaphysik 1079a 13, 1039a 2, 1059b 8 u. a. Par. 132B. Soph. 248 A. Par. 131Cff.
212
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
schen Ideen und Instanzen festlegen würden. Die Instanzen sind aber keine Stücke der Idee und die Ideen sind nicht wie ein Segeltuch, das viele Einzeldinge mit unterschiedlichen seiner Teile bedeckt. Vielmehr bestimmt die Idee jede ihrer Instanzen in Gänze. Der echte Philosoph steuert zwischen Skylla (Mentalisierung) und Charybdis (Reifizierung) hindurch, denn beides sind verdinglichende Fehlinterpretationen.
b) Husserl: Ideen, Wesen, Eidê Auch Husserl konzipiert seine Philosophie bekanntermaßen als „Wesensforschung“³⁷ oder Eidetik: „Das spezifisch Phänomenologische besteht in der Wesenserwägung“³⁸. Und wenn Husserl seine Phänomenologie als „apriorische Wissenschaft“ tituliert, versteht er sie damit immer als „eidetische Wissenschaft“³⁹, als „Wesenswissenschaft“⁴⁰, d. h. Wissenschaft, die eidê erfasst; „Phenomenology is an eidetic as well as transcendental noetic science, and the progress of its knowledge (as that of all genuine knowledge) is measured by idealities.“⁴¹ (Murray) Platon und Husserl teilen diesen eidetischen oder methodologischen Idealismus (um einen Terminus von Ricoeur zu entfremden). Tatsächlich definiert der Begriff „Eidos“ für Husserl „den einzigen der Begriffe des vieldeutigen Ausdrucks apriori, den wir philosophisch anerkennen“⁴²; „der echte Begriff des Apriori“ ist der „des Wesens und des Wesensgesetzes“⁴³. Husserl legt sich also hinsichtlich der Platonisch-Kantianischen „Dualität“⁴⁴ (Kern) des Terminus „Apriori“, eindeutig auf eine nicht-kantianische Lesart fest.⁴⁵ Mindestens drei Gründe lassen sich dafür anführen. Erstens entspringen nach Husserl bei weitem nicht alle eidetischen Gesetze aus der Subjektivität, sondern gehören zum Wesensgehalt des Gegebenen.⁴⁶ Zweitens hat Kants Apriori in Husserls Augen nur „die Bedeutung eines allgemeinen anthropologischen Faktums“ und so „verfehlt Kants Vernunftkritik die Idee einer absoluten Grundwissenschaft, die unmöglich a
Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 253. Hua V (Ideen III), S. 133. Hua III (Ideen I), S. 8. Hua III (Ideen I), S. 6. Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 511. Hua XVII (Formale und transzendentale Logik), S. 255 FN1. Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 415/417. Kern, S. 143; vgl. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 199. Vgl. Tugenhat, Der Wahrheitsbegriff, S. 163 ff. Vgl. De Palma, „Fakta“ S. 207 ff.
§ 18. Wesentliches
213
priori in seinem, sondern nur im echt Platonischen Sinne sein kann“⁴⁷. Drittens kann Husserl mit Kants Anschauungskonzeption im Kontext seiner Eidetik nichts anfangen: „Die Idee wird nicht in reiner Kantischer Anschauung gesehen, sondern nur in apriorischer Schauung.“⁴⁸ So entscheidet sich Husserl klar gegen ein Kantisches und für ein Platonisches Verständnis des Apriori: „Der echte Sinn des ‚a priori‘ ist bestimmt durch das Reich der […] Wesenswahrheiten“⁴⁹; dementsprechend bestimmt Husserl seinen Platonismus Brentano gegenüber als „energisches Eintreten für eine universale Ontologie, also für die Erarbeitung von Wesenseinsichten (für das echte Apriori) in allen Erkenntnisphären“⁵⁰. Platons Ideenlehre gilt ihm entsprechend als Meisterstück: „Man wird sie trotz mancher, bei bahnbrechenden Anfängen unvermeidlichen Mängel zu den größten Entdeckungen aller Zeiten rechnen müssen.“⁵¹ Da Husserls Verwendung von „Idee“, „Eidos“ und „Wesen“ nicht stabil ist, bedarf es zunächst einer kurzen terminologischen Klärung.⁵² Husserl schreibt in der Einleitung zu den Ideen, er wolle mit der Verwendung des Ausdrucks „Eidos“ sowohl eine Verwechslung mit Kants „Begriff der Idee“ vermeiden, als auch die „ärgerlichen Äquivokationen“ des Ausdrucks „Wesen“ umgehen.⁵³ Gemeint ist vor allem die Verwechslung von „Wesen“ verstanden als „Gesamtinbegriff der Prädikabilien“⁵⁴ eines Gegenstandes einerseits, mit „Wesen“ im Sinne des Allgemeinen andererseits.Wenn wir vom Wesen eines Gegenstandes sprechen, können wir also entweder die (fiktive) Gesamtheit dessen, was ihm an Bestimmungen zukommt, meinen (das konkrete Wesen) oder – gut Platonisch – seine allgemeine Bestimmung (das allgemeine Wesen). Das konkrete Wesen ist, was jeweils die individuelle Identität eines Gegenstandes ausmacht: „Von jedem individuellen Sein […] können wir sagen, dass es ein Wesen (Essenz, Inhalt) hat.“⁵⁵ Diese Essenz bleibt in allen Bezugsmodi gleich. „Die „Ideation“, die Wesensschauung, besagt hier: Ich sehe diesen Gegenstand, ich achte aber nur auf den Inhalt, auf das, was unempfindlich ist gegen „Wahrnehmung“ und „Phantasie“ oder Erinnerung. […] Damit gewinnen wir aber keine Arten und Gattungen.“⁵⁶
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 199. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 88. Manuskript F I 28, S. 298/99. Briefe Dok III/6, S. 460. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 36. Vgl. zum Folgenden Hering, „Bemerkung über das Wesen“. Hua III (Ideen I), S. 9. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 149. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 212. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 213.
214
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
Husserls Theorie der Abschattung von Dingen in der Wahrnehmung ergibt, dass sich uns das konkrete Wesen eines Dings niemals ganz adäquat enthüllt, weil das Ding nie alle seine Momente und Merkmale gibt. Jeder individuelle Gegenstand hat also zwar ein „konkretes Wesen“; dessen Gegebenheit, d. h. die „adäquate Dinggegebenheit“ ist aber nur eine „Idee im Kantischen Sinne“⁵⁷, eine ideale Vorzeichnung kontinuierlicher, aber niemals abzuschließender Enthüllungen des Wesens des individuellen Dings. In diesem Sinne von Kantischer Idee kann Husserl sagen „die Gestalt eines Dinges ist eine Idee. Die gegebene Gestalt ist immer nur Erscheinung der wahren Gestalt, die immerfort eine Idee ist.“⁵⁸ Diese „wahre Gestalt“ ist wiederum Teil des konkreten Wesens. Das konkrete Wesen ist dabei immer Instanz eines allgemeinen Wesens: „Jedes Exempel von Mensch hat sein individuelles eigenschaftliches Wesen: Er ist, der er ist. Aber sein individuelles Eigenwesen ist Exemplar seines allgemeinen Wesens, und dieses hat er gemein mit allen erdenklichen Menschen.“⁵⁹ Im Folgenden seien „Wesen“, „Idee“ und „Eidos“ austauschbar als „allgemeines Wesen“, nie als „konkretes Wesen“ im Sinne der individuellen Essenz zu verstehen. Wesen sind für Husserl die intelligiblen Bestimmtheitsstrukturen der Gegenstände und das, was ihnen ihre Möglichkeiten apriori vorgibt;⁶⁰ ein Gegenstand, der ein Eidos instantiiert, hat in diesem Eidos seine Bestimmung: „Das Eidos ist Bestimmung des Einzelnen und jedes Einzelnen, das unter dem Eidos steht“⁶¹, es ist die „Sinnesgestalt“⁶² der es instanziierenden Gegenstände und „[grch.] hen epi pollôn“⁶³. „Eidos designates the essential invariant structures of those things that fluctuate (like perceptual objects) as well as those that do not (like geometric objects).“⁶⁴ (Murray) Die Eidê stellen als Invarianten identische Einheitspole gegenüber der Mannigfaltigkeit ihrer Instanzen dar, sie sind – in diesem spezifischen Sinne der Invarianz – das „absolute Ansichsein“⁶⁵. Diese ontologische Stabilität macht die Eidê für Husserl auch wahrheitstheoretisch relevant: „Echte, übersubjektive Wahrheit ist nur im Rahmen der Idee möglich und korrelativ sind nur Ideen und Ideale „seiend“ im strengen, von allem Fluss und aller wechselnden Subjektivität freien Sinne. Die empirische Welt ist wahrhaft
Hua III (Ideen I), S. 350. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 95. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 387. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 234 Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 351. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 116. Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 78. Murray, „Husserl and Heidegger“, S. 511. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 190.
§ 18. Wesentliches
215
seiend nur so weit, als sie in sich Ideales enthält.“⁶⁶ Die Trennung von Idee und Instanz ist dabei nicht einfach die Unterscheidung von Ding und Eigenschaft; die Ideen bilden vielmehr eine eigene Gegenstandsklasse: „Nein, es ist ganz scharf, blutig ernst gemeint: neuartige Gegenstände.“⁶⁷ – „neuartig“ natürlich nur für die zu Husserls Zeiten florierende psychologistische Erkenntnistheorie. Obwohl also Ideen nicht einfach als abhängige Eigenschaften zu denken sind, bleiben sie (in dieser Unabhängigkeit) doch auf ihre Instanzen verwiesen: „Es gibt keine Idee, es sei denn eine Idee zu Exemplaren. Damit ist nicht nur gesagt, dass es zu der Idee in der Regel Exemplare gibt oder geben kann, sondern dass die Idee selbst über sich hinausweist vermöge eines Index. Sie ist Idee von möglichen a.“⁶⁸ Die Eigenständigkeit der Ideen als Themata eidetischer Untersuchungen wird so ergänzt durch ihre notwendige Verwiesenheit an mögliche Verwirklichungen. Anders als Platon versteht Husserl auch die Mathematik als Ideen-Wissenschaft, nämlich als exakte und deduktive eidetische Wissenschaft.⁶⁹ Er wirft Platon daher vor: „Platon reduziert die Idee auf das allgemeine Wesen (ideale Wesen) als Gegenstand, übersieht aber, obschon er das Ideale anderer Modalität mehrfach berührt, doch die radikal durchzuführenden Unterscheidungen.“⁷⁰ Die in der Mathematik behandelten eidetischen Strukturen werden in exakten (formalen) Begriffen erfasst.⁷¹ Es ist indes nicht alle Eidetik deduktiv: „Das Gebiet oder die Gebiete der Mathematik fordern eine Methode und einen Typus von Wissenschaft, der ihnen angepasst ist, und keineswegs gehört dieser Typus zu jederlei Apriori.“⁷² Eidetische Erkenntnis zielt auf notwendige Wahrheiten (im Gegensatz zu kontingenten), die das Wesen einer Sache betreffen. Mathematik und Logik erheben und erfüllen solche eidetischen Ansprüche durch ihr axiomatisch-deduktives Vorgehen. Von den exakten Wesen der logisch-mathematischen Sphäre sind die „morphologischen Wesen“⁷³ zu unterscheiden, mit denen unter anderem die Phänomenologie zu tun hat. Diese morphologischen Wesen haben auf ihrer niedrigsten Differenzierungs-Ebene (etwa der Bewusstseinsstrukturen) letztlich den Charakter des Typischem, da die Phänomene hier selbst unscharf sind. Die Phänome-
Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 53. Hua XXX (Logik), S. 31. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 87. Vgl. Hua III (Ideen I), S. 22. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 117. Vgl. Hua III (Ideen I), S. 170. Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 50. Hua III (Ideen I), S. 170.
216
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
nologie reagiert darauf mit der Entwicklung einer „apriorischen Typik“⁷⁴, denn „können wir in gewissen Sphären nur typische Unterschiede finden, so müssen wir Typenbegriffe bilden.“⁷⁵ Diese apriorischen Typenbegriffe haben nicht den gleichen Grad von Trennschärfe wie die morphologischen Wesensbegriffe höherer Stufe (oder die exakten Wesen der Mathematik), unterscheiden sich aber gleichwohl in mehrfacher Hinsicht von den bloß empirischen typischen Allgemeinbegriffen, vor allem durch ihre Apriorizität – dazu später mehr. Den deduktiven eidetischen Theorien steht jedenfalls eine Reihe von (notwendigerweise) nichtdeduktiv-axiomatischen und nicht-symbolischen⁷⁶ eidetischen Theorien gegenüber, vor allem die regionalen Ontologien der Natur und des Geistes als nichttranszendentale und die Phänomenologie als transzendentale Eidetik.⁷⁷ Die Phänomenologie unterscheidet sich von den anderen eidetischen nichtdeduktiven Wissenschaften vor allem durch die phänomenologische Reduktion, die ihr die transzendentale Subjektivität und damit ein ganz eigentümliches „Feld eidetischer Erkenntnisse“⁷⁸ eröffnet. Die Reduktion auf das Transzendentale und die eidetische Reduktion bilden zusammen die „Zugangsmethode zum Arbeitsfeld der neuen Wissenschaft“⁷⁹ und stellen folglich die zwei wesentlichen operativen „Achsen“⁸⁰ (Welton) der Phänomenologie dar. Die Betonung des eidetischen Charakters der Arbeit an den Phänomenen ist unter anderem wichtig, um der häufigen Misidentifkation von Phänomenologie und introspektiver Erlebnispoesie vorzubeugen, insofern es der Phänomenologie letztlich nicht um die adäquate Beschreibung konkreter Erlebnisabläufe geht, ja, gar nicht gehen kann: Das einzelne in seiner Immanenz kann nur als „dies da!“ – diese dahinfließende Wahrnehmung, Erinnerung u. dgl. – gesetzt und allenfalls unter die der Wesensanalyse verdankten strengen Wesensbegriffe gebracht werden. Denn das Individuum ist zwar nicht Wesen, aber es „hat“ ein Wesen, das von ihm evidentgültig aussagbar ist. […] Für [die Phänomenologie] ist das Singuläre ewig das [grch.] apeiron. Objektiv gültig kann sie nur Wesen und Wesensbeziehungen erkennen⁸¹
Hua V (Ideen III), S. 133. Hua V., S. 136. Vgl. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 284 Vgl. Hua XXVII (Aufsätze II), S. 11; Hua V (Ideen III), S. 59. Hua V (Ideen III), S. 143; vgl. ebd. S. 44. Hua III (Ideen I), S. 149. Hua V (Ideen III), S. 142. Welton, The Other Husserl, S. 59 f. Hua XXV (Aufsätze II), S. 36.
§ 18. Wesentliches
217
Die Phänomenologie als Transzendentalphilosophie beschränkt sich auf diese (immer noch unendliche) Arbeit der Bewusstseinsanalyse; sie ist „Eidetik der transzendentalen Subjektivität“⁸². Es gibt folglich viele eidê, für die der Phänomenologe sich nicht interessiert und die ihn als Phänomenologen auch nichts angehen, selbst, wenn sich zu jeder beliebigen eidetischen Frage eine eidetische Frage zur Konstitution des ersten Eidos ergänzen lässt. Dialektik und Phänomenologie unterscheiden sich wesentlich in dieser thematischen Fixierung, immerhin soll sich nach Platon jede Frage nach einem eidos dialektisch behandeln lassen, selbst die nach dem Wesen des Angelfischers. Von Platon aus gesehen erscheint Husserls Eidos-Begriff also prima facie als zu weit, weil er auch Mathematika umfasst, und die eidetische Reichweite der Phänomenologie als zu gering, da sie sich ‚nur‘ mit den Wesensstrukturen der transzendentalen Sphäre auseinandersetzt. Die transzendentale Reduktion ist von Platonischer Warte aus folglich eine unzulässige Verkleinerung des Interessenfeldes. Von Husserl aus gesehen erscheint Platons Eidos-Begriff dagegen als zu eng, aber die eidetische Reichweite der Philosophie als zu hoch, da z. B. die eidetische Bestimmung des Angelfischers eine regionale ontologische Frage betrifft, die nicht in den Bereich der Philosophie qua Transzendentalphänomenologie fällt. Eidetische und transzendentale Reduktion stehen „methodisch“ „in der transzendentalen Forschung auf einer Ebene“⁸³ (Seebohm) – hinsichtlich der Begründungsverhältnisse ist erstere jedoch sekundär, weil erst durch die transzendentale Reduktion ihrem Sinn nach verstehbar. Trotz dieser Divergenzen ist die Frage zulässig, ob es nicht tiefere Übereinstimmungen in der Wesentlichkeit derjenigen Wesen gibt, die jeweils Objekte der Philosophie der beiden „great eidetic thinkers of Western thought“⁸⁴ (Hopkins) sind. Hoffnung darauf macht zunächst die Tatsache, dass Husserl die exakten und die morphologischen Wesen, d. h. die mathematische und die nicht-mathematische Sphäre von Idealität auf dieselbe Weise differenziert wie Platon. Er unterscheidet für alle Ideen zunächst „eidetische Vereinzelung“ und „individuierende Vereinzelung“; die letztere ist einfach Instantiierung durch konkrete Gegenstände (Individuen). Unter „eidetischer Vereinzelung“ versteht Husserl nun zweierlei, einerseits die „generische Vereinzelung, Vereinzelung nach Gattung und Art“, andererseits die „numerische“ Vereinzelung, die eine „besondere Art eidetischer Vervielfältigung“⁸⁵ oder „eidetische Wiederholung“⁸⁶ darstellt. Erstere liegt etwa
Hua VII (Erste Philosophie I), S. 183. Seebohm, Die Bedingungen der Möglichkeit, S. 133. Hopkins, „Paradoxical Inception“, S. 27. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 152. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 153.
218
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
auch der dialektischen Analyse und Subsumtion zugrunde: Die Gattung des Fischers vereinzelt sich etwa in die Spezies des Angelfischers und des Harpunenfischers; die eidetischen Vereinzelungen stehen also „platonisch gesprochen, im Verhältnis der Teilhabe“⁸⁷ mit ihren Wesen. Letztere Art der Vereinzelung, die numerische, betrifft exakte Wesen, d. h. ideale Gegenstände wie Raum, Zeit, Zahlen und Mengen. Zahlen und Strecken z. B. unterliegen den Möglichkeiten und Gesetzen der „Addition und Zerstückung“⁸⁸, was den morphologischen Wesen abgesprochen werden muss. Die Eidê, auf die es die Philosophie abgesehen hat, lassen auch für Husserl keine „eidetische Vervielfältigung“ zu, da sie nicht multiplizierbar sind, sie sind anumerisch, nicht zählbar. Mit Blumenberg lässt sich diese Position ein wenig hyperbolisch so zusammenfassen: „Gezählt werden immer nur Exemplare. Gezählt wird Faktisches, nicht Wesentliches. Zu zählen ist nicht wesentlich.“⁸⁹ (Blumenberg) Nicht zu verwechseln mit der Form eidetischer Wiederholung der exakten Wesen ist die Wiederholbarkeit der Instantiierung aller Wesen. Jedes Wesen, egal ob exakt oder morphologisch, lässt sich in unbegrenzt vielen Möglichkeiten instantiiert denken. Wesen überhaupt wird von Husserl daher „definiert als Identisches möglicher […] Wiederholungen, und zwar im reinen Sinn möglicher, an kein wirkliches Dasein gebundener.“ Das Wesen ist daher „das Identische der reinen Möglichkeiten“⁹⁰. Die Ideen im engeren Sinne von nicht-mathematischen Wesen sind – anders als die idealen Gegenstände der Mathematik – zwar nicht wiederholbar, dafür aber verallgemeinerbar. „Es ist unmöglich, ideale Gegenstände zu verallgemeinern, zu allgemeinen idealen Gegenständen, während es immer möglich ist, individuelle Ideen zu allgemeinen zu verallgemeinern. In der idealen Zahlenreihe gibt es nicht „Zahl überhaupt“, es gibt in ihr nur einzelne Zahlen.“⁹¹ Eine eidetische Verallgemeinerung der Zahlenreihe ergäbe das Wesen der (natürlichen) Zahl und die dazugehörigen eidetischen Bestimmungen, wie Platon sie im Phaidon andenkt.⁹² Mithin gilt für Husserl aus denselben Gründen wie für Platon: „Ideen sind zu scheiden von idealen Gegenständen“⁹³ im weiteren Sinn. Platon und Husserl teilen also die Differenzierung der idealen Sphäre.
Hua IX (Phänomenologische Psychologie), S. 79. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 153. Blumenberg, Beschreibung, S. 370. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 151. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 88. Phaid. 104Aff. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 88.
§ 18. Wesentliches
219
Zugleich kämpfen sie gegen dieselben Einwände und Missverständnisse ihrer Lehren der Idealität. „Zwei Missdeutungen haben die Entwicklung der Lehren von den allgemeinen Gegenständen beherrscht.“⁹⁴ Einerseits die „metaphysische Hypostasierung des Allgemeinen, die Annahme einer realen Existenz von Spezies außerhalb des Denkens“ andererseits die „psychologische Hypostasierung“⁹⁵, d. h. die „Identifikation zwischen Wesensbewusstsein und Wesen selbst“⁹⁶; sofern das Eidos „ideales Wesen ist, gehört weder die Immanenz eines reellen Inhalts noch die Transzendenz eines realen Gegenstandes zu ihm.“⁹⁷ (De Palma) Die psychologistische Hypostasierung (Mentalisierung) widerlegt Husserl in den Prolegomena sehr gründlich, für seine eigene Philosophie problematisch wurde eher das Problem der Reifizierung. So schreibt Husserl im ersten Fragment der Vorrede zur zweiten Ausgabe der LU: „Sehr viel Anstoß hat der in dem vorliegenden Werk [sc. den LU] vertretene „Platonismus“ erregt; den Vorwurf „platonischer Hypostasierung“, der Erneuerung des „scholastischen Realismus“ habe ich schon oft genug über mich ergehen lassen müssen. Dieser Vorwurf ist völlig unberechtigt […] Mein sogenannter Platonismus besteht nicht in irgendwelchen […] Substruktionen„⁹⁸. Später entwendet Husserl den Begriff der Hypostase sogar seinen Kritikern und gibt ihm einen phänomenologischen Sinn: [Das] platonische Eidos, das reine Wesen mag man die „hypostasierte“ Möglichkeit nennen, aber das ist das absolut Eigene, dass diese „Hypostasierung“ in sich ihr absolutes Recht hat, dass […] das Identische zu reiner Identität gebracht und als Gegenstand für sich gesetzt werden kann – ein Gegenstand, der mit sich führt einen offenen Horizont von möglichen Einzelheiten überhaupt, in denen er sich „wiederholt“, sich individualisiert, vereinzelt, aber nicht als Faktum, sondern als pure ideale Möglichkeit⁹⁹
Dem korrespondieren folgende Zeilen aus § 22 der Ideen: Besonderen Anstoß erregte es immer wieder, dass wir als angeblich „platonisierende Realisten“ Ideen oder Wesen als Gegenstände hinstellen […] Besagt Gegenstand und Reales, Wirklichkeit und reale Wirklichkeit ein und dasselbe, dann ist die Auffassung von Ideen als Gegenständen und Wirklichkeiten allerdings verkehrte „Platonische Hypostasierung“. Wird aber, wie es in den „Logischen Untersuchungen“ geschehen ist, beides scharf getrennt, wird Gegenstand definiert als irgend etwas, also z. B. als Subjekt einer wahren (kategorischen,
Hua XIX (Logische Untersuchungen, Erster Band), S. 127. Hua XIX (Logische Untersuchungen, Erster Band), S. 127. Hua III (Ideen I), S. 51. De Palma, „Fakta“, S. 207. Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 282. Hua XI (Passive Synthesis), S. 403.
220
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
affirmativen) Aussage, welcher Anstoß kann dann übrig bleiben – es sei denn ein solcher, der aus dunklen Vorurteilen herstammt?¹⁰⁰
Ideen sind also keine wirklichen, d. h. raumzeitlich bestimmten Individuen (res), sondern vielmehr der „„Gegenwurf“ des Individuellen“¹⁰¹. „Die Idee, das Wesen ist, wie Platon im Gastmahl ausführt, natürlich nicht irgendeiner der empirischen Einzelfälle von schön genannten Objekten, etwa einer von jenen, von denen sich das sokratische Verfahren leiten ließ.“¹⁰² Irreale Gegenstände wie Wesen können zwar in gewissem Sinne raumzeitlich auftreten, nämlich indem sie sich verkörpern, sind aber „durch die Verkörperung nicht individuiert.“¹⁰³ Wenn wir salopp davon sprechen, die Ideen seien als Strukturen in den Gegenständen, darf dies folglich nie raumzeitlich verstanden werden. Das eidetische „in“ signalisiert kein reelles Enthalten-sein,¹⁰⁴ allen Fehlinterpretationen der Kritiker zum Trotz. In Husserls Augen wurde nun dieser echte Platonismus oder dieses echt Platonische von seinen Kritikern missverstanden als „„Platonismus“ und „Logizismus““¹⁰⁵ im Sinne einer für den Phänomenologen unzulässigen (reifizierenden) Interpretation. Husserl vermeidet die Selbstkennzeichnung seines Systems als platon(ist)isch in diesem Kontext vor allem, um gerade diesem Vorwurf der Hypostasierung der Wesen nicht auch noch terminologisch zuzuarbeiten.Wir können jedenfalls festhalten, dass weder Husserl noch Platon vom Vorwurf des ‚Platonismus‘ tangiert werden:¹⁰⁶„The philosophical status of Plato’s eidê is just as free of the metaphysical interpretation […] as are Husserl’s own phenomenological essences.“¹⁰⁷ (Hopkins) Die Ideen sind keine sichtbaren Dinge und keine Gedanken, aber sie sind nichtsdestotrotz in einem bestimmten Sinn eigenständige Gegenstände, wie Husserl festhält: Die „Ideen sind Gegenstände, insofern als man über sie selbst, über ihren konstitutiven Gehalt, über die ihnen zugehörigen Gesetze – Wesensgesetze – wieder urteilen und höchst wichtige Wahrheiten für sie bzw. zur Normierung möglicher Einzelfälle feststellen kann.“¹⁰⁸ Denn Gegenstand ist, „was durch Prädikate in Wahrheit bestimmt werden kann“¹⁰⁹, d. h. „Substrat für mög
Hua III (Ideen I), S. 48. EU, S. 393. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 44. EU, S. 320. Siehe Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 40; S. 74. Hua III (Ideen I), 146. Landmann, „Socrates as Precursor“, S. 21. Hopkins, „Transcendental and Eidetic Reductions“, S. 111. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 40, FN. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 43.
§ 18. Wesentliches
221
liche gültige Prädikationen“¹¹⁰. Für Platon folgt daher in Husserls Augen, „dass er Recht hatte, Ideen und Dinge der Erfahrungswelt gegenüberzustellen und Ideen als ein eigenes Reich von seienden Gegenständen zu bezeichnen und zu erforschen.“¹¹¹ Husserls Ideenlehre ist genuin Platonisch, insofern das allgemeine Wesen, auf dessen Erkenntnis die Philosophie zielt, gerade „das Eidos, die [grch.] idea im platonischen Sinne [ist], aber rein gefasst und frei von allen metaphysischen Interpretationen, also genau so genommen, wie es in der auf solchem Wege entspringenden Ideenschau uns unmittelbar intuitiv zur Gegebenheit kommt.“¹¹² Der ‚reine‘ Sinn der Platonischen Ideenlehre besteht letztlich darin, die irreduziblen ontologischen und epistemologischen Eigenarten der Wesenssphäre anzuerkennen, d. h. einzuräumen ein „Eigenrecht des Eidetischen“¹¹³. (Dass die metaphysischen Entwürfe, die in den Gemeinbegriff des Platonismus eingegangen und zu denen nach Husserl auch Hypostasierung und Substruktion zu rechnen sind, nicht unbedingt auf Platon zurückführbar sind, ist Husserl übrigens selbst klar. So ergänzt er in der zweiten Auflage der LU von 1913 hinter „platonischem Realismus“ ein vorsichtiges „(im Sinne der traditionellen Auffassung)“¹¹⁴ – man könnte auch sagen „Im Sinne der aristotelischen Auffassung“.) Wie schon Platon bestreitet Husserl den Theorie-Status dieses echten, aber immer wieder missverstandenen Platonismus explizit: „In dem „Platonismus“ liegt keine Erkenntnistheorie, sondern die einfache ehrliche Hinnahme eines ganz offenbar Gegebenen“¹¹⁵. Platonismus ist in diesem Sinne eigentlich kein -Ismus, keine theoretische Ideologie, sondern theoretische Ehrlichkeit, denn „dass es im wahren und wirklichen Sinn allgemeines Denken, allgemeines Vorstellen, allgemeines Anschauen gibt, ist nicht die Erfindung eines verstiegenen Platonismus, sondern eine Lehre, die uns das Bewusstsein selbst gibt, wofern wir es nur befragen“¹¹⁶. Verstiegener Platonismus ist die Annahme von allgemeinem Denken, Vorstellen und Anschauen zwar vielleicht nicht, aber nichtsdestotrotz gibt es Ansichten, die von diesem Basal- oder Minimalplatonismus abweichen: „Andere philosophische Richtungen waren und bleiben bis heute für das Eigenrecht des Apriori überhaupt blind“¹¹⁷. (Andernfalls wäre es natürlich auch uninteressant, die hier von Platon zu Husserl gezogene Linie derart detailliert zu verfolgen.)
Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 314; Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 43. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 43. EU, 411. Hua III (Ideen I), S. 146. Hua XIX (logische Untersuchungen), 127. Hua XX (logische Untersuchungen), 299. Hua VII (Erste Philosophie I), S. 130. Mat IX (Einleitung in die Philosophie 1916 – 20), S. 151 FN 2.
222
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
Während es also durchaus möglich, vielleicht sogar üblich ist, selbst diesen Minimalplatonismus zu leugnen, diagnostiziert Husserl einem solchen Antiplatoniker gleichwohl eine bestimmte philosophische Pathologie: Die Ideenblindheit ist eine Art Seelenblindheit, man ist durch Vorurteile unfähig geworden, was man in seinem Anschauungsfelde hat, in das Urteilsfeld zu bringen. In Wahrheit sehen alle und sozusagen immerfort „Ideen“, „Wesen“, sie operieren mit ihnen im Denken, vollziehen auch Wesensurteile – nur dass sie dieselben von ihrem erkenntnistheoretischen „Standpunkte“ aus wegdeuten. Evidente Gegebenheiten sind geduldig, sie lassen die Theorien über sich hinwegreden, bleiben aber, was sie sind. Es ist Sache der Theorien, sich nach Gegebenheiten zu richten, und Sache der Erkenntnistheorien, Grundarten solcher zu unterscheiden und nach ihren Eigenwesen zu beschreiben.¹¹⁸ Ich behaupte sogar, dass ideale Gegenstände keineswegs etwas besonders Hohes sind,womit man paradieren könnte, sondern das Allergemeinste, so gemein wie die Steine auf der Straße. Alle Leute kennen sie in einer gewissen naiven Weise, da sie ja von Zahlen und Tönen u. dgl. in idealer Weise reden. Nur die Philosophen wollen sie nicht kennen. Sie tun sie mit dem Wort ab: Platonische Ideen. Zugestanden, sage ich!¹¹⁹
Diesem Hinnehmen des Gegebenen entspricht die Ideenannahme bei Platon. Parallel zur Unterscheidung von Ideenannahme und Theorie der Ideen bei Platon differenziert Fink in der 6. Cartesianischen Meditation für den Ausdruck „transzendentale Eidetik“ zwei Bedeutungen, einerseits die der „Eidetik hinsichtlich des transzendentalen Seins“¹²⁰, die eidetische Gesetze der transzendentalen Konstitution betrifft. Eidetik in diesem ersten Sinne ist die Suche nach Wesensgesetzen, sozusagen das täglich Brot des Phänomenologen, das der ‚gewöhnlichen‘ Wesensforschung des Dialektikers entspricht, wie sie z. B. in vielen der frühen Dialoge betrieben wird. Andererseits ist „transzendentale Eidetik“ die „transzendentale Theorie des Eidetischen“¹²¹, die der Konstitution der eidê selbst nachgeht: „Das Erfassen von Wesen, von eide, ist nicht eine Erkenntnisart, die erst von Husserls Phänomenologie entwickelt wurde […] Die Leistung der Phänomenologie besteht vielmehr darin, dass sie durch eine transzendentale Klärung der Gegebenheitsweise von idealen Gegenständen den Sinn dieser Gegebenheitsweise klärte“¹²² (Seebohm) Eidetik in diesem zweiten Sinn stellt schon die Reflexion auf die eidetische Praxis dar, analog zur Platonischen Reflexion auf die Ideenimplikation der dialektischen Praxis. Husserl nennt diesen Komplex der phänomeno-
Hua III (Ideen I), S. 49. Hua XXX (Logik), S 34. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 88. Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 88. Seebohm, Die Bedingungen der Möglichkeit S. 133.
§ 18. Wesentliches
223
logischen Diskussion um Anschauung, Evidenz und prädikative Explikation der Wesen „transzendentale Dialektik“¹²³, im Sinne der Dialektik als Wissenschaftslehre. Transzendentale Dialektik ist also die (transzendentale) Theorie der transzendentalen Theoriebildung, zu der auch die historische oder ideengeschichtliche Aufklärung im Sinne der vorliegenden Arbeit gehört. Für Platon und Husserl lassen sich also übergreifend zwei Bedeutungen von „Eidetik“ unterscheiden: Eidetik als die Tätigkeit, Wesensfragen zu stellen und zu beantworten und Eidetik verstanden als (eidetische) Reflexion auf die philosophische Wesensforschung selbst, d. h. Ideenlehre im eminenten Sinn bzw. transzendentale Dialektik. Mit Blick auf Erfahrung & Urteil und andere späte Texte Husserls könnte sich Widerstand gegen die hier vorgelegte Engführung der Husserlschen mit der Platonischen Eidetik regen, insofern die genetische Theorie zur Konstitution der Allgemeinheiten gegen den Ewigkeits-Status der Wesen bei Husserl zu sprechen scheint. Der Einwand beruht jedoch auf einer Verwechslung. Zunächst ist in diesem Kontext noch einmal ganz allgemein auf den Unterschied zwischen konstituierendem Akt und konstituiertem Gegenstand hinzuweisen, denn eine genetische Theorie der Konstitution von Allgemeinheiten wird sich sicherlich mit der spontanen Erzeugung und Auf-Stufung von gewissen Akten beschäftigen, vor allem Urteilsakten. Das bedeutet jedoch beileibe nicht, dass damit die Urteilsgegenstände auf einmal selbst zu Erzeugtem gemacht werden: „So ist auch im spontanen Abstrahieren nicht das Wesen, sondern das Bewusstsein von ihm ein Erzeugtes“¹²⁴. Es ist richtig, dass Husserl die Ewigkeit, d. h. Zeitlosigkeit idealer Gegenstände (Wesen und Geltungen bzw. Propositionen) genetisch auf zeitliche Strukturen zurückführt: „Die Zeitlosigkeit der Verstandesgegenständlichkeiten, ihr „überall und nirgends“, stellt sich also als eine ausgezeichnete Gestalt der Zeitlichkeit heraus […] Überzeitlichkeit besagt Allzeitlichkeit.“¹²⁵ Damit ist scheinbar „die Affinität der Phänomenologie zum Platonismus […] beseitigt“¹²⁶ (Blumenberg) – zumindest dann, wenn Platonismus ausschließlich als „Abschirmung gegen die genetische Fragestellung“¹²⁷ (Blumenberg) verstanden wird. Tatsächlich erläutert Husserl aber nur, wie Überzeitlichkeit erscheint, nämlich als Allzeitlichkeit. Allzeitlichkeit ist die Erscheinungsweise von Über- oder Unzeitlichkeit; die genetisch-temporale Analyse zeitigt also keineswegs die Reduk-
Dok II/1 (Fink, Cartesianische Meditation), S. 29 FN 61. Hua III (Ideen I), S. 51. EU, S. 313. Blumenberg, Beschreibung, S. 71. Blumenberg, Beschreibung, S. 342.
224
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
tion des ontologischen Merkmals der Ewigkeit der Wesen und Wesensgesetze auf eine Form der Temporalität. Die von der Allzeitlichkeit implizierte Zeitlichkeit liegt aufseiten des konstituierenden Bewusstseins, nicht des Sinns der konstituierten Gegenstände. Wesen (und andere ideale Gegenstände wie Geltungen) haben auch in Erfahrung & Urteil den Sinn „überzeitliche Einheit“¹²⁸, denn ein Verstandesgegenstand hat nun einmal „keine Dauer als eine zu seinem Wesen gehörige Bestimmung.“¹²⁹ Man kann die Übereinstimmung zwischen Husserl und Platon urteilstheoretisch so ausdrücken, dass das Präsenz eines Wesensurteils nicht auf eine konkrete Gegenwart verweist; es ist „detensed“¹³⁰ (Sellars), kontrastiert also nicht mit Vergangenheit und Zukunft. Und an dieser Zeitlosigkeit der Wesen und der Wesensurteile hält Husserl ganz offensichtlich auch in Erfahrung und Urteil fest – unabhängig von seinen genetischen Überlegungen zur Sedimentierung und Habitualisierung. Dass aufseiten des konstituierenden Bewusstseins eine Zeitbestimmtheit auftaucht, ist nicht weiter verwunderlich, denn auch die Erscheinung eines Wesens ist ein Erlebnis und jedes „konkrete Erlebnis ist eine Werdenseinheit und konstituiert sich […] in der Form der Zeitlichkeit.“¹³¹ Die Allzeitlichkeit der Idealitäten ist die „Gegebenheitszeit“¹³², nicht ihre eigene Zeitbestimmung.Wesen sind ihrer Konstitution nach „irreal im Sinne der Allzeitlichkeit“, da sie als „identisch bleibende in mannigfaltigen möglichen Vermeinungen anschaulich oder unanschaulich vermeint“ sein können; das bedeutet, dass ein und dasselbe Wesen identisch zu allen Zeiten (in unterschiedlichen Modi) gegeben sein kann.¹³³ Wer eine „Umwälzung des Platonismus“¹³⁴ (De Palma) bei Husserl sucht, wird am ehesten in Formale und Transzendentale Logik fündig, wo Husserl einen „Seinsvorzug der realen vor den irrealen Gegenständen“ postuliert, insofern „alle Irrealitäten [also auch Eidê] wesensmäßig auf wirkliche oder mögliche Realität zurückbezogen“¹³⁵ seien. Versteht man unter diesem „zurückbezogen“-Sein, dass jedes Eidos Eidos von etwas sein muss, würde dem auch Platon zustimmen. (Wer die angezeigte Stelle dagegen als ontologische Behauptung der Existenzabhängigkeit der idealen Gegenstände von realen Gegenständen verstehen will, gerät
EU, S. 313. EU, S. 311. Sellars, „Time and the World Order“, S. 529. EU, S. 304. EU, S. 316. EU, S. 311. De Palma 2014, S. 207. Hua XVII (Formale und Transzendentale Logik), S. 177; vgl. Hua XLI (Zur Lehre vom Wesen), S. 315.
§ 19. Wesensschau
225
sofort in einen extremen subjektiven Idealismus, da Husserl zwei Paragraphen zuvor die „allgemeine Idealität aller intentionalen Einheiten gegenüber den sie konstituierenden Mannigfaltigkeiten“ behauptet; darin bestünde „die „Transzendenz“ aller Arten von Gegenständlichkeiten gegenüber dem Bewusstsein von ihnen“¹³⁶, so dass nunmehr jeder Gegenstand irreal gegenüber dem einzig Realen wäre, nämlich der transzendentalen Subjektivität.) In keinem Fall gibt Husserl an dieser Stelle seinen Platonismus in Bezug auf die Existenz oder Überzeitlichkeit idealer Gegenstände auf, auch, wenn in der Bewertung des Seinsstatus Husserl in FTL eventuell von Platon abweicht.¹³⁷ Obwohl Husserl den (logisch-ontologischen) Platonismus in eigenen Worten zunächst „mehr auf Probe annahm“¹³⁸, kann keine Rede davon sein, dass er ihn jemals widerrufen hätte: „Husserl’s assessment of mathematical (and other categorial) objectualities in Erfahrung und Urteil does not lead to any sort of constructivism, but at most to a refinement of his platonistic conception.“¹³⁹ (Haddock) Husserl selbst hält Platonische Deskriptionen idealer Gegenstände für phänomenologisch adäquat: „In der Tat, Gegebenheiten wie die natürliche Zahlenreihe oder wie die Reihe der Tonspezies, wenn man sie als Gegenständlichkeiten anerkennt, kann man gar nicht anders beschreiben als mit den Worten, mit denen Platon sie in seiner Ideenlehre beschrieben hat: als ewig, sich selbst gleich, als unzeitlich, unräumlich, unbewegt, als unveränderlich u. dgl.“¹⁴⁰ Statt Husserls genetische Logik gegen seinen Platonismus zu richten, dürften wir vielmehr bei Platon Ansätze einer genetischen Theorie der Konstitution der Ideen finden: Die Bewegung des Aufstiegs zum Schönen im Symposion lässt sich durchaus als Paradigma der Genese eidetischen Bewusstseins verstehen. Erst der Durchgang durch die vielen schönen Gegenstände auf verschiedenen onto-epistemologischen Ebenen, beginnend, wie bei Husserl, mit der Wahrnehmung des Einzeldings, gibt uns eidetische Einsicht.
§ 19. Wesensschau Die Anschauung der Ideen fundiert philosophische Urteile.
Hua XVII, S. 174. Erhard, Denken über Nichts, S. 95. Hua XX/1 (LU-Ergänzungsband, Erster Teil), S. 415. Haddock, „Husserl’s epistemology of mathematics“, S. 97. Hua XXX (Logik), S. 34.
226
Abschnitt E Philosophie und das Eigenrecht des Eidetischen
a) Platon: Eidetische Evidenz Wir haben trivialerweise keine Wahrnehmungsdaten von Wesen, anders als von den vielen raumzeitlichen Individuen, die sie instanziieren, wie Sokrates in der Politeia konzise formuliert: „von jenem vielen sagten wir, dass es gesehen werde (horasthai), aber nicht gedacht; von den Ideen hingegen, dass sie gedacht werden (noeisthai), aber nicht gesehen.“¹⁴¹ Gleichwohl verwendet Platon bekanntermaßen Wahrnehmungsmetaphern, um die denkende Erfassung der Ideen zu beschreiben. Warum? Die Wahrnehmungsmetaphern erlauben es, zunächst die Unmittelbarkeit und die Objektivität der Ideenerkenntnis zu betonen. Denn wer etwas sieht, hat einen unverstellten Blick auf einen in seinem Wahrnehmungshorizont präsenten realen Gegenstand, der von ihm unabhängig ist; genau so ist die Idee dem Dialektiker unmittelbar und in Fülle präsent: „Anschauung […] besagt die unmittelbare Präsenz des Angeschauten.“¹⁴² (Halfwassen) Bei diesem Präsenzerlebnis kann es für den Philosophen jedoch nicht bleiben. Natorp hat in seiner Kritik an Husserls Ideen I zurecht darauf hingewiesen, dass Platon, „der so sinnlich lebendig, besonders in seinen mythischen Einkleidungen, die geistige „Schau“ beschreibt, sich dabei keineswegs beruhigt“¹⁴³. Zwar sollten wir bei Natorps neukantianischem Hintergrund stets darauf achten, dass nicht das logische Begreifen die „Schau“ heimlich unterwandert und die Ideen als Gesetze aufgefasst werden, aber der Gedanke ist denk-würdig: Die Intuition des Denkbaren ist bei Platon kein Endziel. Sie ist nicht ohne kontextuelle Bedeutung oder Funktion, namentlich die der Fundierung von Urteilen und die der Normierung von Tätigkeiten. Letztere ist offensichtlich für die Ethik entscheidend (gemäß dem oben skizzierten Platonischen ‚Intellektualismus‘): Nur, wer die Idee des Guten anschaut, d. h. präsent hat, kann gut handeln, gerade so, wie nur der seinen Weg sicher geht, der ihn sehen und sich dank unverstellter Sicht orientieren kann. Auch für die Sphäre der Produktion ist der Ideenkontakt wichtig. Während nämlich den Handwerkern qua Handwerkern ein dialektisches, d. h. explizites Verständnis eidetischer Strukturen abgeht, wird doch klar, dass ein fähiger Handwerker qua seines Handwerker-Seins zumindest einen unartikulierten Bezug zum intelligiblen Urbild dessen haben muss, das er herstellt.¹⁴⁴ Da z. B. der Tischler seine Verrichtungen nicht von einem konkreten Einzelnen leiten lässt, sondern sich (erfolgreich) an allgemeinen Vorstellungen zur Funktion und Gestalt
Pol. 507B. Halfwassen, Der Auftsieg, S. 247. Natorp „Husserls >IdeenIdeenIdeenDas Cogito in Husserls PhilosophieIdeen zu einer reinen Phänomenologie