Studien zu den platonischen Nomoi [2 ed.]


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Studien zu den platonischen Nomoi [2 ed.]

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ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR

KLASSISCHEN

ALTERTUMSWISSENSCHAFT

IN GEMEINSCHAFT KARI.

BÜCHNER,

HELLFRIED

DAHLMANN,

HERAUSGEGEBEN ERICH

BURCK

UND HEFT

MIT

VON

HANS 3

ALFRED

DILLER

HEUSS

STUDIEN

ZUDEN

PLATONISCHEN

NOMOI

VON

GERHARD

MÜLLER

Zweite, durchgesehene Auflage mit einem

C.H.BECK’SCHE

Nachwort

VERLAGSBUCHHANDLUNG MÜNCHEN

1968



1968 by C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandkung (Oscar Druck

der CH.

Beckschen

Buchdruckerei

Printed in Germany

Beck) München

Nördhngen

VORWORT Die vorliegende Untersuchung erscheint hier in der Form, in der sie im Wintersemester 1946/47 der Philosophischen Fakultät zu Kiel als Habilitationsschrift vorgelegen hat. Inzwischen erschien Jaegers Behandlung der Nomoi im dritten Band der „Paideia“‘ (Berlin 1947). Da die von mir angewendete Betrachtungsweise von der Jaegers völlig abweichend ist, scheint mir der Verzicht auf eine nachträglich einzuarbeitende Auseinandersetzung mit Jägers Interpretationen gerecht-

fertigt. Soweit mir das Thema betreffende ausländische Literatur aus den Jahren seit 1939 nicht zur Kenntnis gekommen ist, muß ich um Nachsicht bitten. Es sei mir erlaubt,

dem

Dank,

den

ich

anläßlich der Publikation

meiner Arbeit lebhaft empfinde, auch öffentlich Ausdruck zu geben. Ich habe zu danken: der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft für einen hohen Zuschuß zu den Druckkosten und den Herren Herausgebern, Erich Burck und Hans Diller in Kiel, nicht nur die Aufnahme meiner Schrift in die „Zetemata“, sondern auch

für für

vielerlei freundliche Hilfe vor und bei der Drucklegung. Am Lesen der Korrekturen beteiligte sich auch mein Freund Wolf Steidle in Würzburg. Kiel, im Juli 1951 Gerhard

Müller

INHALT Einleitung Hinführung zum Problem

.

13

Die Philosophie der Nomoi . u

Der Stil der Nomoi und der Stil der Epinomis

.

98

III Das Staatsideal der Nomoi

. 131

. Schluß

Zusammenfassende Thesen und Erörterung der Aporie .

. 184

Nachwort zur zweiten Auflage

.

Register der Platonstellen

. 2]}

191

EINLEITUNG Hinführung

zum Problem

Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man die Nomoi das am wenigsten erforschte Werk Platons nennt. Sie nahmen in der Geschichte der neueren Platonforschung immer eine eigentümliche Sonderstellung ein. Schleiermacher, der mit seiner Übersetzung diese Platonforschung eröffnete, ließ sie aus; tatsächlich fügen sie sich in das von ihm erfaßte Bild der einheitlichen platonischen Philosophie nicht ein. Die philosophischen Besonderheiten und sonstigen Mängel des Werkes veranlaßten Eduard Zeller in seiner scharfsinnigen Jugendarbeit (,Platonische Studien“, 1839), es als Ganzes dem Platon abzusprechen, nachdem schon Fr. Ast, ein großer Kenner Platons und vortrefflicher Emen-

dator seines Textes, mit einem Angriff auf die Echtheit der Nomoi vorangegangen war (,‚Platons Leben und Schriften‘‘, 1818). Doch hielt

Zeller in seiner großen, das der griechischen Philosophie freilich nicht sagen, daß er Anstößigen und eine positive

Jahrhundert beherrschenden Darstellung seine Athetese nicht aufrecht. Man kann eine überzeugende Erklärung alles einst Interpretation des ganzen Werkes an ihre

Stelle setzte. Vielmehr schwächte er nur die Schärfe seiner Kritik ab,

legte sich vieles Absonderliche zurecht und schob, was dann noch blieb, auf das hohe Alter, das Platon bei der Abfassung

des Werkes

hatte,

oder auf den unvollendeten Zustand des von Platon nicht mehr herausgegebenen Textes. Alles dies aber tat er nicht in einer systematischen

Auseinandersetzung mit seinen eigenen Aufstellungen, vielmehr größtenteils in den Anmerkungen utter dem Text seiner Darstellung des Lehrgehaltes der Nomoi (,‚Die Philosophie der Griechen‘, II, 4. Aufl. 1889, 946 ff.). Daßauf diese Weise das Problem mehr beiseitegeschoben als durchgefochten wurde, war ein Unglück für die Erforschung der Nomoi.

Seitdem sind sie nämlich,

mit all ihren Besonderheiten,

bei-

nahe in einer Art von Halbdunkel liegengeblieben. Man gewöhnte sich vielfach, ihre Sonderstellung anzuerkennen, sie aber gleichzeitig doch für irgendwie harmonierend mit den früheren Werken Platons zu halten, ohne das Besondere und das irgendwie Harmonierende genau abzugrenzen und das Verhältnis zu erklären.

8

Hinführung

Für den von

K. Fr. Hermann

zum

Problem

begründeten

entwicklungsgeschicht-

lichen Zweig der Platonforschung (,‚Geschichte und System der platonischen Philosophie‘‘, 1839) war von vornherein das Bestreben maßgebend, die gedanklichen Besonderheiten der Nomoi aus einer letzten Phase philosophischer Entwicklung Platons begreiflich zu machen. Von diesem Standpunkt aus mußten die kritischen Einwände in Zellers Jugendarbeit am entschiedensten abgelehnt werden. Bis heute gibt es die beiden Möglichkeiten der Erklärung: entweder man fügt die Nomoi harmonisierend einer einheitlichen Konzeption der platonischen Philosophie ein! oder man versteht ihre Besonderheiten genetisch,? wobei die Verbindung beider Möglichkeiten naheliegend und notwendig ist, denn die Entwicklung Platons muß immer als einem einheitlichen

Richtungssinn unterworfen gedacht werden. Es darf gesagt werden, daß eine eindrucksvolle und sich durchs setzende Lösung des speziellen Problems der Nomoi von keinem Standpunkt aus vorgebracht wurde. Denn Wilamowitz in seiner Platonbiographie richtet sein Interesse eingestandenermaßen nicht auf das Philosophische, sondern auf das Biographische. Ohne genaue Analyse des dogmatischen Gehaltes aber können die Nomoi nicht letztlich beurteilt werden. Eine große Zahl von Arbeiten beschäftigte sich mit der schwierigen Komposition des Werkes. Ihre mit sachlichen Schwierigkeiten verkoppelten

Absonderlichkeiten

wurden

von

I. Bruns

(,‚Platons Gesetze

vor und nach der Herausgabe durch Philippos von Opus“, Weimar 1880) in Verbindung gebracht mit einer antiken Überlieferung (Diog. Laert. III 37 und Suidas s. ν. φιλόσοφος) von der Herausgabe der Nomoi 1 So tut es, von hoher Warte und aus profunder Kenntnis, E. Hoffmann (vgl. die Andeutung

Gnomon

1939

S. 648),

der

die

Kosmologie

der

Nomoi

der

Ideenlehre

subaumiert, aber auch der bretonische Canonicus Dies in seinen in Deutschland zu wenig bekannten Aufsätzen (Autour de Platon, Paris 1927, vgl. besonders II 523 ff.).

Hierher gehört auch, philosophisch weniger ernst, der Amerikaner Shorey: The Unity of Plato’s Thought and Plato’s Laws, Class. Phil. 1914 5. 345. 2 Da mit den neuen Elementen in der Philosophie der Nomoi die ältesten aus den

platonischen Frühdialogen sich verbinden, kann es eine konsequente und abstrakte Anwendung der zweiten Möglichkeit der Erklärung nicht geben. Nahe steht ihr immerhin 1. Stenzel, der einen tiefen Wandel Platons vom Wertdenken zum Begriffisdenken in den

Dialogen

Parmenides,

platonischen Denkens

Sophistes

als Anwendung

und

Politikos annimmt

und

die letzte Phase

des alten Wertdenkens auf die neugewürdigte

Erfahrungswelt charakterisiert. Eine Sonderstellung nehmen die Schotten Burnet und Taylor ein, welche

die mit der Kosmologie

der Nomoi

identifizierte Seelenlehre

des

Phaidros ganz von der für sokratisch erklärten Ideenlehre lösen und als Platons selbständige Schöpfung interpretieren. In diesem Sinne ist das die reinste Form genetischer Auffassung.

Hinführung

zum

Problem

9

durch Philippos von Opus. So zerlegte Bruns das Werk in einen Anteil Platons und einen des Philippos, ein Versuch, der bei allem aufgewendeten Scharfsinn doch kein überzeugendes Ergebnis hatte. Andere vorsichtigere oder modifizierte Überarbeitungstheorien folgten, denen im einzelnen nachzugehen nicht mehr wichtig ist. (Im Literaturverzeichnis der Apeltschen Übersetzung, Leipzig 1916, findet man alles bis dahin Erschienene beisammen). Grundsätzlichen Widerspruch gegen die Annahme eines in den Text eingreifenden Herausgebers erhoben vor allem Ritter (,‚Platons Gesetze‘‘, Kommentar Leipzig 1896, passim) und Th. Gomperz (,‚Platonische Aufsätze“ III, Sitz.-Ber. Wien. Ak. 1902, S. 1-36), die die Anstöße der Analytiker bestritten oder ab-

schwächten und die Nomoi zwar für unfertig oder unausgefeilt, aber im wesentlichen in der von Platon gegebenen Gestalt vorliegend erklärten. In dieser Richtung dürfte bis heute die communis opinio liegen, soweit man von einer solchen in Sachen der Nomoi sprechen kann. Wilamowitz

behandelte

in seinem

Platonwerk

(I 647ff.)

wie

alle

Dialoge so auch die Nomoi als Zeugnis der platonischen Biographie. Er nennt sie ein .„‚wunderliches

Chaos“, hält aber doch jedes

Wort für

platonisch. Philippos, der gerade durch die Absonderung seiner eigenen Arbeit, der Epinomis, seine Ehrlichkeit beweise, habe das Werk unverändert und ziemlich rasch nach Platons Tode herausgegeben. (Im

Herbst 346 spricht Isokrates im Philippos 12 von πολιτεῖαι καὶ νόμοι als von Ideen ohne praktische Wirkung.) Die kompositionellen Schwierigkeiten des Werkes erklärte Wilamowitz durch hastigen und gewaltsamen

Abschluß,

den

Platon,

müde

geworden,

„über

das

Knie

ge-

brochen“ habe (,„Es ist eine Übertreibung des Richtigen, daß das Werk äußerlich noch nicht abgeschlossen war“), die Rätsel des Gehaltes durch die resignierte Gemütsverfassung des Greises. So entstand aus Wilamowitz’ Interpretation der Eindruck einer in hohem Maße zwiespältigen Beschaffenheit des Werkes. Gerade davon blieb aber in der Platonforschung nach Wilamowitz, in der Stenzel, Jaeger und Friedländer führend waren, nicht das Ge-

ringste übrig. Es muß gesagt werden, daß diese Forschung die Auseinandersetzung mit Wilamowitz’ so erfreulich konkreter Beurteilung des Werkes nicht aufnahm, sondern sich auf die Verwertung des philosophischen

Gehaltes

beschränkte,

den sie nicht scharf gegen

frühere

Phasen der platonischen Philosophie abgrenzte. Dabei wurde von den Nomoi immer im Tone uneingeschränkter Bewunderung gesprochen,

10

Hinführung

zum

Problem

als wenn ibren Gedanken und ihrer Form keinerlei Mängel anhafteten. Das „wunderliche Chaos“ Wilamowitz’, dessen Gedanken ‚‚weithin Schärfe und Klarheit vermissen lassen‘ (Wil. II 321), verschwand aus

den Augen. Lediglich den unvollendeten Zustand der Nomoi erwähnten Jaeger und Stenzel (Plat. der Erzieher 104) gelegentlich. Stenzel nannte in seinen Vorlesungen die Nomoi einen Kommentar Platons zu seiner Philosophie, und das, obwohl er sie durch die Ver-

wandtschaft zu der für echt gehaltenen Epinomis (in den Vorlesungen und in „Zahl und

Gestalt bei Platon

und Aristoteles“, 2. Aufl. 1933,

S. 104) mit Gedanken belastete, die auch von der späteren Phase platonischer Entwicklung sehr weit wegführen. Gerade die Epinomis aber war für Jaeger (Aristoteles S. 140 ff.), der das Herauswachsen des Aristoteles aus der spätplatonischen Philosophie verfolgte, das Zeugnis einer schlechthin unplatonischen Geistesart. Sie ziehe sich, parallel zu Aristoteles und sogar nicht ohne Einfluß von ihm, unter Verzicht auf die Ideenlehre auf die kosmologische Seite der Doppelwelt des Timaios zurück und eröffne mit jenem zusammen die Theogonie des Hellenismus und des Spätaltertums. Dabei setzt Jaeger offenbar voraus, daß die Nomoi noch auf dem alten Boden stehen. Durch seinen Schüler Fr. Müller („Stilistische Untersuchung der Epinomis des Philippos von Opus“, Diss. Berlin 1928) ließ er zeigen, wie sich der unplatonische Geist der kleinen Schrift in einer ganz unplatonischen Form ausdrücke. Zwischen Nomoi und Epinomis liegt nach dieser Auffassung die Linie, die die klassische griechische Philosophie vom Hellenismus trennt. So gaben über eine entscheidende Frage, die die Nomoi aufs engste berührt, zwei führende Platoniker das entgegengesetzte Urteil ab. Friedländer nahm zur Epinomis überhaupt nicht Stellung. In der Interpretation der Nomoi (Platon 11 623 ff.) ging er auf die Einwände der Analytiker so ein, daß er das kompositionell oder sachlich Widersprüchliche und Schwierige durch eine Art von Dialektik zusammenzuzwingen und zu verstehen suchte.! Alle drei genannten Forscher rechneten, ohne speziell sich zu äußern,

offensichtlich nicht mit einem Anteil des Herausgebers. Weder die be-

sondere Eigenart noch der äußere Zustand der Nomoi war Gegenstand ihrer Problemstellung.

Die letzte mir bekannte Äußerung von

K.v. Fritz (38. Halbbd.

1938

steht im RE.-Artikel Philippos

5. 2358 ff.), wo

in vorsichtigen

For-

I Gegen seine Betrachtungsweise fühlen sich die folgenden Analysen in dauerndem sachlichen Gegensatz.

Hinführung

zum

Problem

11

mulierungen die Abtrennung der Epinomis bezweifelt und für die Nomoi eine leichte Überarbeitung durch den Herausgeber, das heißt die Herstellung eines gerade lesbaren Zusammenhangs, angenommen wird. Mit Recht fordert v. Fritz eine neue Untersuchung des Nomoiproblems. Man

muß

also

feststellen,

daß

eine

einheitliche

Auffassung

des

großen und entscheidend wichtigen Werkes nach Wilamowitz nicht erreicht wurde, daß aber Wilamowitz’ Beurteilung ganz den Augen entschwunden zu sein scheint. Eine begrenzte und bescheidene Aufgabe suchte meine Dissertation (,,Der Aufbau

der Bücher II und

VII von

Platons

Gesetzen“,

Diss.

Königsberg 1934) zu lösen, nämlich am Beispiel der Erziehungslehre im II. und VII. Buche die kompositionelle Einheitlichkeit und Harmonie der Nomoi konkret zu zeigen, zugleich aber für jede Schwierigkeit des schweren Textes in diesen beiden Büchern entweder eine Lösung

oder eine Diagnose zu geben.

mentation in beiden Büchern

Die enge Konsistenz der Argu-

(und im ersten Buch) ließ sich gegen

Bruns und Wilamowitz, der (1 655 ff.) von Unfertigkeit und vielfacber

Erweiterung der ersten beiden Bücher gesprochen hatte, nämlich Erweiterung und Änderung des Planes durch Platon selbst, aufzeigen. Der Gedankengang ist so, wie er vorliegt, gewollt, nicht wider ursprüng-

liche Absicht von Platon erzwungen oder gar vom Herausgeber nachträglich hergestellt oder vervollständigt. Es spricht alles dafür, daß das im ganzen Werk so ist. Freilich überschätzte ich, von der Situation

der Platonforschung befangen, im Sinne Stenzels, Jaegers und Friedländers

die Harmonie

und

Vollkommenheit

des Aufbaus,

des Gedan-

kensystems und des Stiles bei weitem. Daß die Verbindungen der Teile etwas Dünnes und Künstliches haben (wie von Fritz a. ἃ. O. S. 2359 betont), ist nicht zu leugnen, auch wenn man an der Einheitlichkeit festhält und keinen Anteil eines Herausgebers

zuläßt.

Die Künstlich-

keit ist ein wesentlicher Zug der Nomoi, der sich nicht nur auf die Komposition beschränkt. Entscheidend wichtig wurde mir die Beobachtung (vgl. meine

Diss.

S. 37 ff.), daß ein Stück im fünften Buche (732d-734e) philosophisch und stilistisch sehr schlecht ist, welches ich ohne Beziehung zur Heraus-

geberhypothese athetieren wollte. Dies Stück machte mich zum ersten Male auf die tiefgreifenden Mängel der Nomoi aufmerksam, die mir bisher durch Bewunderung verdeckt waren. Das ‚„‚wunderliche Chaos“ Wilamowitz’ trat wieder in den Gesichtskreis, nur daß ich das Wun-

derliche und Chaotische nicht mehr primär im angeblich von Platon

12

Hinführung

zum

Problem

gewaltsam hergestellten Zusammenhang der Teile, sondern in den philosophischen und stilistischen Unklarheiten des Werkes wahrzunehmen glaubte. Indem ich mir diese in breiterer Anschauung vergegenwärtigte, verzichtete ich auf die Suche nach einzelnen Interpolationen, die das Unvollkommene in ein vollkommen angelegtes

Ganzes hineingetragen haben sollten, sondern erkannte die im Kern des Werkes, seinen philosophischen Begriffen, seinem Staatsideal und seiner stilistischen Form liegende Gebrochenheit. Sie zu analysieren, wurde so zur Aufgabe dieser Arbeit. Das Kompositionsproblem wurde dadurch ganz sekundär. Gestützt wurde die gewonnene Einsicht in die Natur der Nomoi durch die Erkenntnis der inneren Verwandtschaft der Epinomis, deren Unabtrennbarkeit sich mit einer gewissen inneren Evidenz zu ergeben

schien. Alles, was zur Charakteristik des kleinen Werkes gesagt worden war, durfte nun auch zur Charakteristik des großen dienen.

Aus allen Beobachtungen und Überlegungen ergab sich die radikale These,

daß

die

Nomoi

philosopbisch

und

stilistisch

mit keinem

der

übrigen Werke Platons zusammengehen, sondern in scharfer Absonderung von ihnen zu betrachten sind. Freilich ist damit die höchst schwere Frage gegeben, wie man denn von Platon aus dies eigentümliche, ja wunderliche Werk begreiflich finden soll. Die entstehende Aporie wird von der Untersuchung getrennt und an den Schluß verwiesen, wo sie in Auseinandersetzung mit Wilamowitz zu erörtern ist. Die drei Kapitel

der Untersuchung beschränken sich bewußt darauf, den Sachverhalt ohne

Hypothese

analytisch

zu

beschreiben.

Die

Form

der

Unter-

suchung am Text ist durchgehends festgehalten, nirgends wird Darstellung erstrebt. Textkritik erscheint nach Bedarf und darüber hinaus als specimen künftigen editorischen Bemühens.

I

DIE

PHILOSOPHIE

DER

NOMOI

Wenn man von der Philosophie der Nomoi handeln will, so bietet sich als Ausgangspunkt die Tatsache an, daß die Worte Philosophie und Philosoph in den N. nicht vorkommen.! Damit wird man gleich aufetwas Wesentliches zur Charakteristik der N. aufmerksam gemacht. Denn es fehlt mit den Worten auch die Sache. Als der Staat der Philosophen gegründet wurde, mußte die Philosophie entwickelt werden, mit der sie den Staat retten sollten. Im Nomoistaat könnte man diese Philosophen nicht gebrauchen, ihre Wahrheit würde mit Sicherheit zur

Irrlehre erklärt, und sie selbst würden ein Opfer der Inquisition werden. An die Stelle der Philosophie ist die Theologie getreten, an die Stelle der Seinserkenntnis der Beweis der Göttlichkeit der Gestirne und des Kosmos. Freilich sind wesentliche Elemente des ersten Staates in diesen neuen übernommen, die Tugendlehre und die Paideia. Es ist natürlich,

daß sie ihre Herkunft nicht verleugnen, und unser Versuch, sie zu verstehen, ist nicht ohne dauernde Orientierung an der Politeia möglich. Das System der vier Kardinaltugenden wurde in der P. (427-434 ἃ) mit echt griechischer Klarheit und Durchsichtigkeit, geradezu gleich einem axiomatischen System der Mathematik, entwickelt, und zwar sind es zunächst die Tugenden in der Struktur des Staates, deren Be-

deutung

bestimmt

wird.

Ohne

diese Struktur haben

die Tugenden

keinen Bestand, denn sie sind als Relationen zwischen den drei Stän-

den definiert.? In der Seele ist die gleiche Gliederung in drei übereinander geordnete Schichten da. Aus ihr ist sie ja in den Staat gekommen (435e οὐ γάρ που ἄλλοϑεν ἐκεῖσε ἀφῖχται, vgl. 5444 6ff.). Nachdem sie bestimmt

zelnen

sind (434 ἀ- 44] ο), können

auch die vier Tugenden

des ein-

Menschen analog zu denen im Staate definiert werden? (441c

1 Lediglich φιλοσοφοῦντες werden 967 c erwähnt, die die Sterne für unbeseelt halten und dadurch Schmähungen von Dichtern auf die Philosophie ziehen (Umbildung von Pol. 607b). Im 10. Buch heißen diese Gegner nur σοφοί. -- Im Folgenden: N. = Nomoi, P. — Politeia. 2 Die drei Stände sind also philosophisch gefordert. Kompositionell ist klar, daß die Institution der Stände dem Tugendsystem vorangeben muß. Da die Stände aber nach ihrer ἀρετή bestimmt sind, muß dieser Institution die Paideia vorausgehen. So folgt der Aufbau dem philosophischen Prinzip. ® Nur weil sie im Staate leichter erkennbar sei, war das Gespräch über Gerechtigkeit

(368 de) überhaupt auf den Staat gekommen. 434 de kommt es wieder zurück zur Ge-

14

Die

Philosophie

der

Nomoi

bis 443b), auch sie ein System bildend, dessen Koordinaten durch die Trichotomie der Seele bereitgestellt werden.! Das kunstvolle Gefüge ist nur als einheitlicher Zusammenhang von Relationen zu verstehen. So ist die Einheit der Tugenden, die ein Hauptproblem der früheren Dialoge war, auch ohne daß sie in der P. explizit erörtert wird, im System garantiert, und man kann nicht zweifeln, daß die Einheit im Wissen liegt. Wie etwa das Gespräch über die Tapferkeit (im Laches) und das über Besonnenheit (im Charmides) auf ein Wissen von Gut und

Böse hinausführen,

das nur in sokratischer

Methode

unter dem

Schein der Ratlosigkeit beiseite geschoben wird, so lehren die Definitionen der P. (429a-432b und 441c-443b) die Zugehörigkeit beider Tugenden zur systematischen Einheit des Wissens, da die eine als Bewahrung der richtigen δόξα, die andere als ὁμοδοξία mit dem führenden

Seelenteil sich darstellt. Die Gerechtigkeit unterliegt ohnehin nicht dem Verdacht, außerhalb des Wissens zu liegen. Man muß ja wissen, was „das Seinige“ ist, um es zu tun. Gewiß werden die irrationalen Mittel

der Erziehung sehr reichlich verwendet (401a-402a), aber nur, um in der Jugend durch Erweckung des guten Ethos vorzubereiten auf den Logos, wenn er kommt (402a), und wenn auch die höhere Paideia (ἀκριβεστάτη παιδεία 503 4), wie sie später entwickelt wird, nämlich „Dialektik und ihre Propädeutik“ (536.d), nur für die kleine Oberschicht bestimmt sein wird, so lassen doch die Formulierungen keinen Zweifel, daß die Tugenden alle im Wissen gegründet sind. Allerdings erweist sich Tapferkeit als „Bewahrung richtiger Meinung, kraft des Gesetzes durch die Paideia erworben‘ (429c). Natürlich ist diese auch ein Wissen, mag es auch nicht autonom erworben sein. Das strenge Wissen durch Eidos kommt erst an späterer Stelle der P. ins Spiel. Es wird dann (504d) ausdrücklich gesagt, daß die Skizze (ὑπογραφή) „der Gerechtigkeit und dessen, was wir durchgesprochen haben‘, nicht genügt,? sondern daß die vollkommene Ausführung (τελεωτάτη ἀπεργασία) nötig und von der höchsten Wissenschaft (μέγιστον μάϑημα), von der Idee des Guten aus möglich ist. Nur die echten Philosophen besitzen rechtigkeit im Einzelnen. Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis der P. Die sachliche Priorität der Tugenden in der Seele ist ernst zu nehmen, Der Staat ist nur philosopbische Konstruktion nach dem Bilde der echten Philosophenseele, so wie die schlechten Staaten Analoga zu ihren Menschentypen sind (544d 6 ff.).

1 Man vergleiche die bezeichnende Formulierung 5048 τρία εἴδη ψυχῆς διαστησάμενοι συνεβιβάζομεν δικαιοσύνης πέρι καὶ... ὃ ἕκαστον εἴη. X Schon 435d, bevor die Rede auf Tugenden in der Seele kam, wurde auf die mangeinde Strenge der Behandlung hingewiesen und von einem „längeren und weiteren

Tugendlehre

15

die vier Kardinaltugenden in Reinheit, gipfelnd in der dialektischen Erfassung des &v. So findet das System der Tugenden, das im 4. Buch entwickelt war, als wir von Philosophie noch nichts wußten, seine Erfüllung erst im vollkommenen Tugendwissen. Dann darf auch, entsprechend dem Hinweis αὖϑις.. .. ἔτι κάλλιον δίιμεν, die Einschränkung aufgehoben werden, die Platon für die Tapferkeit 430c gemacht hatte, als er sie „bürgerliche Tugend“ nannte. Dieser Ausdruck bedeutet bei

Platon eine starke Minderung, schließt aber eine relative Anerkennung nicht aus. So erscheint im Schlußmythos der P. einer, der ‚‚durch Gewöhnung ohne Philosophie an Tugend Anteil hatte, weil er in einem

geordneten Staate lebte‘ (619d). Er versagt bei der Wahl der Lebenslose, um seinen Fehlgriff sofort zu bereuen. Immerhin hatte er ‚Anteil

an Tugend‘. Im Phaidon (82b) ist die Rede von einer „volkstümlichen und bürgerlichen Tugend, die man Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt, aus Gewöhnung und Übung erwachsen, ohne Philosophie und Geist‘.

Wer

sie hat, kommt

zwar

im Jenseits

nicht

zur Ideenschau

(εἰς ϑεῶν γένος), aber er ist unter den vom Höchsten Ausgeschlossenen der Glücklichste. Aus solchen werden ordentliche Leute (μετρίους ἄνδρας).

So muß

diese bürgerliche

Tugend

getrennt

gehalten

werden

von denen, über die das Verdammungsurteil Phaidon 68c ff. (besonders 69a-c) ergeht: alle von φρόνησις getrennte Tugend, die nur durch Tausch größerer und geringerer Lust- und Unlustquanten entsteht, vermöge der im Protagoras 357 ironisierten falschen Meßkunst, sei eine Täuschungskunst (σκιαγραφία) und „in Wahrheit sklavisch‘“ und habe „nichts Gesundes und Wahres“. Solche

Menschen sind aus Zügellosig-

keit besonnen (wie der Oligarch, der nur, weil er „für sein Vermögen zittert‘, sich beherrscht, Pol. 554 cd) und aus Feigheittapfer, sie haben nur οἷον ϑάρρος τι, wie im Menon 88b in Übereinstimmung mit Laches und Protagoras geurteilt wird. Gegen eine solche sklavische und tierische Tapferkeit fällt auch an unserer Ausgangsstelle (P. 430 b) im Vorübergehen ein Seitenhieb. Die bürgerliche Tapferkeit aber, auf Wissen,

obzwar nicht autonom erworbenes, gegründet, behauptet ihren Platz im Staat der Philosophen als Tugend des zweiten Standes, dem sie durch Erziehung von den Philosophen eingepflanzt wird.! Erst wo Weg‘‘ gesprochen, der zur richtigen Behandlung führe. Auf ihn kommen wir jetzt, 504b. Die Beziehung der Stellen aufeinander scheint sachlich und kompositionell natürlich, doch hat sie Wilamowitz II 219 zwar gesehen, aber verworfen und die Sache umgedeutet, schwerlich mit Recht. 1 Völlig beteronom ist dann (590 cd), was der dritte Stand der βάναυσοι an Tugend hat. Für sie vertreten die erziehenden Herrscher die fehlende φρόνησις. So werden

16

Die

Philosophie

der Nomoi

Ideenwissen herrscht, wird Tugend nicht mehr nur durch Gewöhnung und Übung „hineingebracht“ (ἐμποιεῖσϑαι 518e) wie körperliche Fähigkeiten, sondern erwächst als „‚selbsteigenes Wissen“ (olxeia ἐπιστήμη) durch Entfaltung innerster Seelenkraft. Die bürgerliche Tugend gehört in den Bereich der ἀληϑὴς δόξα, die nicht durch eigene Schau der Ideen erwächst. Bürgerliche Tapferkeit verhält sich zur philosophischen wie ἀληϑὴς δόξα zu σοφία. Die Stellen über bürgerliche Tugend waren durchzusprechen, damit gesichert werden konnte, daß die Einheit des Tugendwissens in der P. nirgends angetastet ist, obwohl es den Ständen entsprechend eine Abstufung

der Tugenden

gibt.

Mit dieser Vorbereitung blicken wir auf die Nomoi und fragen, was für eine

Funktion in ihrem Staat die Tugend

habe.

Ein Gefüge von klassischer Durchsichtigkeit finden wir in der Tugendlehre der N. ebensowenig wie in ihrem Staatsaufbau oder in ihrer

literarischen Komposition. Vielmehr müssen wir in der schwer durchdringlichen Masse vergleichend und interpretierend feste Punkte suchen. Gleich im ersten Buch wird die Tugend zentrales Problem des Gespräches und letzter Richtpunkt der Gesetzgebung; doch wie es geschieht, versetzt uns in Unklarheit. Es wird festgestellt, daß die Gesetze nicht nur auf den niedersten Teil der Tugend, die Tapferkeit, ausgerichtet sein dürfen, die als Verwegenheit wüster Söldner erscheint, sondern auf volle Tugend (σύμπασα ἀρετὴ 630b): „Gerechtigkeit, Besonnenheit und Weisheit, sich vereinend mit Tapferkeit‘ (630b). Ein-

heit der Tugend im höchsten Wissen scheint sich anzukündigen, doch könnte der Söldnermut keinen Platz in ihr finden, der ja nicht einmal den Rang der bürgerlichen Tugend verdient. Nun wird eine Tafel der Güter

aufgestellt

(631b-d),

die über dem

Leben

des Staates

zu

stehen hat. Da erscheinen die vier Kardinaltugenden als göttliche Güter obenan, die körperlichen Vorzüge und Reichtum als menschliche ihnen untergeordnet. Dies alles stimmt zu P.591b-d und zu Menon 88d-89c. Der Weisheit gebührt der oberste Rang, wenn Tugend Wissen ist (so lehrte es Menon 88e). Der „Führer Geist“ ist sichtlich Reminiszenz an den Wagenlenker aus dem Phaidros. Die sonstige Reihenfolge

der Tugenden ist Neuerung der Nomoi, eine Systematisierung, die wie in ähnlichen Fällen (z. B. bei den ἀξιώματα τοῦ ἄρχειν 690 a-c, bei der von dem $etov καὶ φρόνιμον alle im Staat zusammengeschlossen μάλιστα μὲν οἰκείου ἐνόντος (ἔχοντος codd.) ἐν αὐτῷ, ei δὲ un, ἔξωϑεν ἐφεστῶτος. Die glänzende Emendation Madvigs für dietypische Majuskelkorruptel£xovroshat Burnet leider verschmäht.

Tugendlehre

17

Liste der Bewegungen 893-894%a und bei vielen Gesetzen) an keiner Stelle des Gedankengangs irgendeine Bedeutung gewinnen wird, wie sie ja auch keinen philosophischen Sinn hat von dem Gefüge sich gegenseitig bedingender Elemente aus, das die P. zeigte. Die Einheit der vier Tugenden wird stark betont durch Mittel, die logisch dem Sinn der Aufzählung von vier geordneten Größen widersprechen: δεύτερον δὲ μετὰ νοῦ σώφρων ψυχῆς ἕξις (Nebenüberlieferung; νοῦν codd., wäre aber leer), ἐκ δὲ τούτων μετ᾽ ἀνδρείας κραϑέντων τρίτον. Hier müssen wir den Mangel gedanklicher Klarheit bemerken. Da sich solche Dinge häufen werden, soll nicht durch Streichung abgeholfen werden. Nach einer Beurteilung wird zu fragen sein. Wie steht es aber sachlich mit der Einheit?

Es wird ein Programm

aufgestellt (632e): es sollen für

jede einzelne Tugend, von der Tapferkeit angefangen, die zugehörigen Einrichtungen des Staates aufgezählt werden, die ἀρετῆς ἐπιτηδεύματα. Sollen sie also getrennt erstrebt und erworben werden können? Man denkt an die volkstümliche Tugend, zu der in der P. die Philosophen das Volk erziehen, wobei ja die irrationalen Mittel Musik, Gymnastik

u.a.

die

größte

Rolle

spielen,

sie

alle auf die

Wissenstugend

vor-

bereitend. Freilich sehen manche der aufgezählten ἐπιτηδεύματα sehr nach dem vulgären Draufgängertum aus: die ἁρπαγαί, die spartanische xpurteix und vollends die Jagd (633 bc). An anderer Stelle (824 4) er-

hält die Jagd zu Pferde auf Vierfüßler im Gegensatz zum Fallenstellen das erstaunliche Lob, daß sie zur !}six ἀνδρεία erziehe. Wir gewinnen keine Klarheit. Es wird weiter dargelegt (033 ἃ), daß Tapferkeit nicht nur Aushalten

in Schmerz

und

Gefahr

bedeuten

soll, sondern

verführerischer Lust. Das war in der P. kein Problem

auch

gewesen.

in

Die

Bewahrung eines Wissens war die gleiche in beiden Fällen (442c Bewahrung διὰ λυπῶν xal ἡδονῶν). Ist nun nicht der Verdacht berechtigt,

daß mit der ersten Hälfte die Tapferkeit im vulgären Sinn gemeint ist? Die für die zweite, neugewonnene Seite dieser Tugend

geforderten Er-

ziehungsmittel lassen sich nicht finden, so wird der Gegenstand abrupt abgebrochen und mit ἀλλ᾽ εἰ τὸ μετὰ ταῦτα διεξίοιμεν! der Übergang zur Besonnenheit gemacht. Sie aber ist Selbstbeherrschung gegenüber der Lust, also dasselbe wie die eben genannte zweite Seite der Tapferkeit.

Das zuerst Getrennte ist nun identisch, ohne daß das gesagt oder die ! Ebenso abrupt. ohne daß das Vorhergehende irgendwie abgeschlossen wäre. χαὶ δὴ τὸ μετὰ τοῦτο 964 5, ebenso Epinomis 980a 7, wo Theiler (Gnomon 1933 S. 352) es als unerlaubt moniert. Wir werden noch mehr Dinge in den Nomoi finden, die der

Epinomis sehr verargt worden sind. 2

Müller, Nomot

18

Die

Philosophie

der Nomoi

fehlende Antwort auf die 6356 offengelassene Frage nachgetragen würde. Der logische Fehler ist von den Erklärern! mit Recht beanstandet worden. Die Unklarheit geht aber noch weiter. Es wird 643e ff. die παιδεία definiert und dazu abgehoben gegen anderes, bloß technisches Wissen, nämlich als Fähigkeit ἄρχειν τε καὶ ἄρχεσϑαι.... μετὰ δίκης also als eine σοφία μετὰ νοῦ καὶ δίκης (wie aus dem Gegensatz 644 a 3 erhellt). Das ist aber das Herrscherwissen der P. (428b ff., 442c), das auch ausdrücklich von dem technischen Wissen unterschieden war: μόνην δεῖ τῶν ἄλλων ἐπιστημῶν σοφίαν καλεῖσϑαι 429a. Das bestätigt sich zwei Seiten weiter (6454 b): das Bild der Marionetten habe den οομῦϑος ἀρετῆς gerettet‘ und den Sinn des χρείττων αὑτοῦ εἶναι. Die Stadt müsse den λόγος ἀληϑής zum Gesetz machen und so ἑαυτῇ τε ὁμιλεῖν καὶ ταῖς ἄλλαις πόλεσιν. Diese Worte sind evident eine Reminis-

zenz der Definition P. 428d: die Herrscherweisheit berät sich über die ganze Stadt, ὅντιν᾽ ἄν τρόπον αὐτῇ τε πρὸς αὑτὴν καὶ πρὸς τὰς ἄλλας πόλεις ἄριστα ὁμιλοῖ. Also ist mit der Tugend hier wie 643e die Weisheit der P. gemeint (sie heißt sonst φρόνησις 63] ς, so aber auch, obwohl seltener, in der P. 431d 1, 4324 5, 433d 1). Aber diese σοφία ist identisch mit dem xpelttwv αὑτοῦ εἶναι, und wir stehen im Zusammenhang I Bruns, Piatons Gesetze vor und nach der Herausgabe d. Philippos 18ff. - Friedländer, Platon II 637, will die Unlogik verdecken und führt die Verschmelzung der

Tapferkeit

und

Besonnenheit

im Tugendsystem

des

Staates und

am

Schluß

des

Politikos (305e 8.) an -- mit Unrecht. Es müssen verschiedene Dinge auseinandergebalten werden. Aus dem ungeteilten Tugendwissen der P. kann man selbstverständlich die Elemente nicht lösen. Von da aus könnte man aber auch nicht der Tapferkeit und Besonnenheit, die unter Voraussetzung der Trichotomie kunstvoll definiert werden,

als isolierbaren Fähigkeiten besondere ἐπιτηδεύματα zuweisen. Wenn man aber, von der Naturanlage des ϑυμοειδές und des πρᾶον ausgehend, wie es die P. 373e-376c tut, deren Erziehung und Verschmelzung für die Funktion der Wächter fordert, rechnet man gerade mit zwei entgegengesetzten φύσεις und ἀρεταί, die nur durch Musik und Gymnastik in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, jedoch nie zu identifizieren sind

(410a-412b; so auch im Politikos). In jedem Falle bleibt der logische Anstoß an unserer Stelle voll bestehen. Übrigens kann man nur diese bürgerlichen Tugenden durch irrationale Erziehungsmittel einpflanzen: ἐμποιεῖν (Politikos 309d), τιϑέναι εἰς ἀνθρώπων ἤϑη (P. 500d), „„bineinbringen“, wie körperliche Fähigkeiten; dagegen ἡ τοῦ

φρονῆσαι

dpern setzt eine innere περιαγωγή und Entfaltung des im Seelengrund

ruhenden Wissens voraus. Dies ist an der wunderbaren Stelle Ρ. 518 ἃ f. expliziert. Auf φρόνησις angewendet, ist also der Ausdruck ἐμποιεῖν anstößig: N. 688e. Die

philosophische Subtilität ist verloren. Eine φρόνησις als bürgerliche Tugend

ἔϑεσι

χαὶ μελέτῃ ἐμποιουμένη ist ein Unbegrifl.

2 Der

Genetiv ἀρετῆς scheint mir, entgegen meiner Diss. S. 10, gesichert durch

713} 5 μῦϑος γάμου vielleicht auch 663 e 5 τὸ τοῦ Σιδωνίου μυϑολόγημα, wenn intakt; poetischer Sprachgebrauch (vgl. Eur. Hipp. 130) wie sonst in den Nomoi. So ist auch

die Konjektur σοφίαν von Dale für σφόδρα 643 ε 2 zu erwägen.

Tugendlehre

19

einer Untersuchung zur σωφροσύνη. Also vertauschen sich nicht nur Tapferkeit und Besonnenheit, sondern auch Besonnenheit und Weisheit. Wenn noch ein Zweifel wäre, würde ihn die Paideiadefinition am Anfang des 2. Buches beheben (653a b), wo die „volle Tugend“ (a 6 auch φρόνησις genannt) als συμφωνία zwischen dem λόγος und den

Trieben definiert wird. Diese συμφωνία ist nämlich das Stichwort für Besonnenheit in der Politeia (430d, 442c). Seltsame Verquickung! Die Tapferkeit zeigte die Züge der Besonnenheit, ohne doch ihren Charakter als Furchtlosigkeit zu verlieren, die φρόνησις tut dasselbe, ohne doch ihren Charakter als höchste σοφία zu verlieren. Die Gerechtigkeit wird nicht behandelt. Sie wurde lediglich 630c charakterisiert als πιστότης ἐν τοῖς δεινοῖς (in Übereinstimmung mitdem, was P. 442 ff.

von ihr gesagt war; sie ist völlige Verläßlichkeit). Auch μεγίστη ἀρετή darf sie heißen, wo sie doch auch in der P. so ausgezeichnet wurde (443b 4) und vom Anfang des Gespräches an stellvertretend für Tugend

überhaupt fungierte. Demgemäß wird auch Nomoi 660-664 das Glück des Gerechten gepriesen in Nachwirkung der Thematik der P. und übrigens unter starker Anlehnung

an Gorg. 474-478.

Aber

definiert

wird die Gerechtigkeit in den Nomoi nirgends, und ἐπιτηδεύματα δικαιοσύνης werden nicht erwähnt. Ernstlich ist ja überhaupt nur ein Erziehungsmittel

für die Tugend

da: das Symposion

Was bedeutet das alles? Wir sind zu der Behauptung

mit der

gedrängt, daß,

abgesehen von der vulgären Tapferkeit, de facto überhaupt

ein Phänomen von Tugend

Musik.

nur noch

aus dem stolzen Katalog der Kardinal-

tugenden übriggeblieben ist: der Sieg des Geistes über die Triebe, daß

aber mit dem Namen, um nicht zu sagen mit der Fiktion der alten ehrwürdigen Kardinaltugenden operiert wird, so daß eine bemerkenswerte Unklarheit entsteht.! Dies bedeutet nur die Feststellung eines Befundes und enthält nichts von einer Hypothese. 1 Die Unklarheit im Kompositionellen geht parallel. Das Programm 632 e führt nicht zu einer durchsichtig gegliederten Behandlung, eben weil die vier Tugenden sich so vermengen. Was für ἀνδρείχ angesetzt wurde, wird für σωφροσύνη weitergeführt und gleitet unmerklich in den Bereich der φρόνησις über: das musische Symposion. Die kunstvolle Wiederkehr des leitenden Themas, die in der P. so bewundernswer* ist, suchen wir hier vergebens. Nachrechnend stellt man fest, daß anmı Ende vom 2. Buch

das Versprechen eingelöst ist. Die weitere Ankündigung 632e 5: ὕστερον δὲ ἀρετῆς πάσης (d.i. der φρόνησις, also nach Buch 2) ᾧ γε νυνδὴ διήλθομεν (der 631b-d gegebene Aufriß des Staztes, der sich in zrübsten Zügen mit der Gliederung der Bücher 6-12 deckt, vgl. Friedländer II 630) ἐκεῖσε (πρὸς ἀρετὴν πᾶσαν) θλέποντα ἀποφανοῦμεν weist auf die Masse der Gesetzgebung summarisch hin. Freilich steht das 3. Buch dazwischen, völlig unvermittelt einsetzend (in der P. und sonst bei Platon unerhört) 2"

20

Die

Philosophie der Nomoi

Der Befund bestätigt und erweitert sich ım 3. Buch. Es wird die Ursache für den Verfall des dorischen Staatenbundes gesucht. Sie war nicht Mangel an Tapferkeit, auch nicht an kriegstechnischem Wissen, sondern an einem anderen Wissen: τῇ περὶ τὰ μέγιστα τῶν ἀνθρωπίνων πραγμάτων ἀμαϑίᾳ (6884). Darum muß der Gesetzgeber seiner Stadt Weisheit

einflößen:

φρόνησιν,

ὅσην

δυνατόν,

ἐμποιεῖν,

τὴν

δ᾽

ἄνοιαν

ὅτι μάλιστα ἐξαιρεῖν (68Be).! Was ist nun diese größte Unwissenheit,? die nicht bloß technisch ist? Es ist διαφωνία λύπης τε nal ἡδονῆς πρὸς τὴν zar& λόγον δόξαν (689a), also das Fehlen der bekannten συμφωνία. Diese συμφωνία verdient größte Weisheit zu heißen, über anderem, technischem Wissen (689d): πῶς γὰρ ἄν, ὦ φίλοι, ἄνευ συμφωνίας γένοιτ᾽

ἄν φρονήσεως καὶ τὸ σμικρότατον εἶδος. Hier haben wir zunächst eine Bestätigung des vorher Gefundenen: φρόνησις ist gleich σοφία, also objektgerichtetes Wissen, aber auch gleich συμφωνία, also Relation der Seelenteile,

die

in der

P. σωφροσύνη

hieß.

Von

dieser φρόνησι:

oder

σοφία erfahren wir aber zu unserer größten Überraschung 696 b-e,? daß sie ohne den Zusatz (πρόσϑημα) der σωφροσύνη nichts tauge, ebensowenig wie Tapferkeit oder Gerechtigkeit, ja selbst technisches Wissen, daß aber diese Zusatzbesonnenheit ihrerseits für sich allein weder

wertvoll noch wertlos ist. Sie muß 710a auch zu den guten Anlagen des edlen Tyrannen

näher

hinzutreten,

gekennzeichnet

σεμνύνων

ἂν

λέγοι,

um

sie verwertbar

zu machen.

Sie wird

als τὴν δημώδη γε, ὦ IReıvia, καὶ οὐχ, ἥν τις

φρόνησιν

προσαναγχάζων

εἶναι!

τὸ

σωφρονεῖν,

ἀλλ᾽

ὅπερ εὐθὺς παισὶν χαὶ θηρίοις .«... σύμφυτον ἐπανθεῖ ..., ὃ χκαὶ μονούμενον ... οὐκ ἄξιον εἶναι λόγου. Diese vulgäre Besonnenheit kann, da sie Kindern und Tieren eignet, nichts mit Platons bürgerlicher Tugend zu tun haben, sondern sie ist naturhaft, unberührt von φρόνησις (Phaidon 69b), also sklavisch und verächtlich nach dem Urteil dieses Diaund erst 682e ff. und am Schluß (702 a) verbunden. Die plötzlich zur Sprache gebrachte Gründung veranlaßt dann, ab ovo zu beginnen (Anfang des 4. Buches). ! Boeckh

und Ast wollen

bier, 689b 3 und

691d, für ἄνοιχν

ἄγνοιαν einsetzen,

weil

&vorx Geistesverwirrung ist. Aber dreifache Änderung ist unwahrscheinlich. ἄνοια muß hier abweichend

als Fehlen des νοῦς zefaßt werden, vl.

ἄνους 96211.

Phaidr. 3574

2.

5 Ein erstaunliches Abgleiten des Gedankens ist. daß die &4x9tx nun μεγίστη heißen soll, nicht nur im Sinne von &04%77. oder im Vergleich zu anderen &uxdix:. sondern weil sie Sache der grüßten Masse in der Seele, τοῦ πλέϑους ψυχῆς. ist. Ähnlich gleitet die Auffassung 691a 5: συμφωνία fehlt nicht mehr zwischen Seelenteilen, sondern zwischen drei verbündeten Ilerr-chern; trotzdein wird ihr Fehlen noch ἀμχϑία genannt. 3 Das technische Wissen 696 2 paßt »o wenig in den Kreis der Tugenden wie 733e die Gesundheit.

Tugendlehre

21

loges. gleichartig mit der tierischen und sklavischen Tapferkeit (Politeia 430b). Wie weit muß die φρόνησις heruntergekommen sein, um einen solchen Zusatz nötig zu haben, sie, die doch mindestens Selbstbeherrschung, aber sogar höchstes Wissen zu sein beansprucht! Der Text gibt uns ausdrücklich recht, daß wir die φρόνησις der Nomoi mit

der σωφροσύνη des Staates identifizieren. Die Tapferkeit muß von der niederen Art sein, wenn sie möglicherweise mit ἀκολασία gepaart ist. Über den dreisten Eindringling, den τεγνιχός. der wuhl nur die Vierzahl vollmachen soll, wollen wir uns nicht einmal erregen, denn wir müssen etwas viel Wesentlicheres feststellen: den völligen Verfall des einheitlichen Tugendwissens der Politeia. Es scheiden also sachlich aus dem Verband

der vier Tugenden

zwei als logosfrei aus, die Tapferkeit

und

die Besonnenheit. Das wird 963e für die Tapferkeit offen gesagt, im flagranten Widerspruch zu Laches 197 a, Protagoras 350c ff.; die Epinomis wiederholt es für beide (977d). Es gibt keine Stelle der Nomoti,

die dem widerspräche.? Allerdings, die Unterordnung dieser Tugenden unter den

„Führer

Geist‘,

wie

-ie 63led

verkündet

wird

(τὰ δὲ ϑεῖα

εἰς τὸν Tyeuova νοῦν βλέπειν. wie ja ebenda auch die menschlichen Güter auf die göttlichen ..hinblicken“), muß sie nicht dasselbe bedeuten wie an der ganz gleich klingenden Stelle im Menon 88e: τὰ μὲν ἄλλα πάντα εἰς τὴν ψυχὴν ἀνηοτῆσϑαι, τὰ δὲ τῆς ψυχῆς αὐτῆς εἰς φρόνησιν εἰ μέλλει ἀγαθὰ

εἶναι ᾽ Im Menon ist ja aus

breiter Durchführung des Problems

von

71c-89c klar, daß Wissen das ‚.eine Eidos ist, wodurch sie alle Tugenden sind‘ (72c) oder ‚die eine Tugend, die durch alle diese hindurch

geht“ (74a). Es besteht also der Schein gleichen Sinnes für 631cd; aber durchführen läßt er sich in den Nomoi nicht, sondern wir müssen um-

gekehrt eine große Unklarheit in 631cd und in den gesamten Ausführungen der Nomoi über die Tugenden konstatieren: ein Gedankensystem, seine Begriffe und selbst geprägte Wendungen

aus der Politeia

und anderen Dialogen sind als wiederkehrend zu greifen, aber der philosophische Sinn lebt nicht mehr in ihnen. Wir stellen vor einem ver-

fallenen Gebäude. 1693c dieselbe Gleichsetzung, pı%tx tritt hinzu, nach P. 590 dl: die Herrschaft des φρόνιμον, autonom oder heteronom, macht alle Stände einander befreundet. Die Tugend stiftet κοινωνίχ und φιλία (Gorg. 507d fl.). 2 Der vulgäre Sinn von @vögstx und σωφροσύνη, ist an zahllosen Stellen klar, z. B. 83le. 836 cd fl.. 840a (ein Athlet!). Vom Denken der Politeia aus könnte nicht verlangt werden, daß der über Theateraufführungen urteilende κριτής zu seiner φρόνησις hinzu noch ἀνδρείχ haben soll (659a). Man kann nur beide zusammen oder keine von beiden haben.

22

Die

Dieser Verfall hängt

Philosophie der Nomoi

damit

zusammen,

daß

das stützende

Gerüst

der Seelentrichotomie! weggenommen ist. Der tiefe Sinn des auf sie gestützten Tugendsystems lag ja in der harmonischen Relation zwischen den Seelenfunktionen, welche die unteilbare Tugend unter vier Aspekten sich darstellen ließ. Nun sind die Elemente freigeworden, erscheinen aber doch noch in Formulierungen, die dem alten System zugehörig sind. Daher die großen Unklarheiten bei 635e. Eines ungeduldigen Einwandes sind wir gewärtig, der von einer Betrachtungsweise aus erhoben werden muß, wie sie Friedländer übt, der in seinem interpretierenden Referat über die Nomoi im 2. Bande seines „Platon“ gerade da

einen besonders bedeutungsvollen Sinn findet, wo andere Mängel konstatieren zu müssen glauben. Man dürfe, wird von dort aus gesagt werden, Platon nicht so pedantisch beim Wort nehmen, da alle seine Formulierungen nur hindeutenden Charakter haben und in einer „‚dialek-

tischen Schwebe“ (II 78) verbleiben. Demgegenüber wird hier das Recht auf konkrete Fragen an den Text und auf das Zupacken an der philosophischen Aussage beansprucht. Friedländer scheint uns von dem Begriff der „dialektischen Schwebe‘“ wie von dem der Ironie einen

übermäßigen Gebrauch zu machen. Daher kann er sich allen Einwänden dialektisch entwinden. Eine notwendige Folge seiner Haltung ist,

daß er keine unechten Stücke im platonischen Corpus anerkennt. Platon muß aber in Wahrheit sachlich viel positiver genommen werden. Im vorliegenden Fall dürfen wir mit gutem Gewissen Kritik üben, weil

die philosophischen Gedanken einerseits in sich unklar sind, andrerseits die Spuren ihrer Herkunft aus einem durchsichtigen Zusammenhang an sich tragen. Wir bemühen uns dabei konsequent, alle Hypothesen zu vermeiden und nur das Phänomen

zu beschreiben.

Nachdem die Dreiteilung der Seele verschwunden ist, die Tapferkeit und Besonnenheit ins Ungeistige abgesunken sind und die Gerechtigkeit sozusagen unter den Tisch gefallen ist, bleiben nur noch λόγος und ἡδοναὶ καὶ λῦπαι übrig, Vernunft? und Sinnlichkeit. 644c treten noch ! Analog fällt auch die dreifache Gliederung des Staates weg. Nomoi (744b) stammen nicht aus einem philosophischen Prinzip, Da haben wir den Unterschied der beiden Staaten. Die Abstufung klassen betrifft de facto nur Besitz und politische Rechte, nicht

Die vier sondern der vier ethische

Stände der aus Attika. VermögensFähigkeiten

und Aufgaben. Die Interpreten entsetzen sich aber nicht, daß trotzdem das Prinzip der geometrischen Gleichheit auf siebezogen wird (757a ff.). Darüber s.u.S. 77und 179.

2 Natürlich heißt λόγος nicht Vernunft in den Nomoi, sondern vernünftige Rede, Sinn, auch Definition. Bekanntlich ist Epin. 986c λόγος = νοῦς wie bei den Stoikern

anzuerkennen. Etwa 689} könnte neben ἐπιστῆμαι und δόξαι ohne weiteres νοῦς für

Gedankengang

φόβος

und

von Nomoi XII

Ende

23

ϑάρρος hinzu, ersichtlich nur Projektionen von λύπη und

ἡδονή. als solche immer behandelt. Es ist die ethische Situation, wie sie in der ersten moralisierenden Sokratesrede des Phaidros (2374 ff.) gesehen wird; die zweite metaphysische Rede auf den Eros setzt die

Trichotomie voraus. Das Wissen vom transzendenten Guten beherrschte und durchwirkte auch in der P. die Tugend. Wo ist es bei dem Verfall des Tugendsystems geblieben? Unter den Unklarheiten, die uns befremdeten, war dies die erstaunlichste, daß φρόνησις einer συμφωνία

gleichgesetzt wurde und ihren Bezugspunkt zu verlieren schien. Als sie φρόνησις τοῦ ἀγαϑοῦ war (Pol. 502bc), war sie eine Herrscherin, der sich alle Wissenschaften und alles ethische Handeln unterordneten. Jetzt scheint sie verarmt und ihrer hohen Verwandtschaft beraubt. Ist nicht die Welt des Eidos und die Kraft der Dialektik auch zunichte

geworden? Diese schwere Frage stellen wir an den Schluß der Nomoi (960 ff.), wo von dem nächtlichen Rat und seinem höchsten Wissen gehandelt wird. Wir müssen sehr scharf zusehen, um dem Text, der dunkel genug ist, das Letzte abzugewinnen. Der Gedankengang ist sehr

umständlich und mühsam, darum präparieren wir den Faden einmal pedantisch heraus: Die

Rettung bringt die Verbindung von Geist und scharfer Wahr-

nehmung! (961d). Der Geist richtet sich beim technischen Wissen auf bestimmte sachliche Ziele; Beispiele sind der Arzt, der Steuermann und der Feldherr (961e-962a). Welches ist das Ziel, nach dem der Geist des Politikers sich ausrichtet (962a9-b 2)? Wir brauchen eine Behörde, die dies Ziel erkennt (962bc). Das ist vermutlich der nächtliche Rat (962c 5 ff.). Er muß volle Tugend haben, d.h. vor allem auf ein Ziel sich richten (962d 5). Die Mißstände in den bestehenden Staaten erklären sich daraus, daß ihnen dieses eine Ziel fehlt (962 d-e). Wir in

unserer Gründung haben längst dies eine politische Ziel, ἀρετή, die vierλόγος eintreten. Man sieht, wie der Übergang möglich ist. Im übrigen vgl. den subtilen Artikel von Kleinknecht in Kittels Wörterbuch. 1 Geist und scharfe Wahrnehmung werden hier fast gleichgeordnet: ihre Mischung bringt die Rettung (961d). Das ist nicht nur im Gleichnis so, sondern die jüngeren Wächter,

die dem

Auge

des

Staates

verglichen werden,

müssen

den älteren,

die den

Geist des Staates darstellen, melden, was sie im Staate gesehen und sich gemerkt haben (964 e). Mögen sie dann auch nur dienende Funktion haben, so ist doch die Bedeutung, die die Wahrnehmung auf solche Weise bekommt, schon ein Hinweis, daß der Geist nicht mehr der das Eidos schauende Geist ist. Das Verhältnis der beiden Faktoren und ihre Verteilung auf verschiedene Personen, Inquisitoren und Spitzel, wäre in der Politeia unmöglich. Ganz nebenbei wird für die Philosophen selbst ἐμπειρία gefordert (484d, 539e), aber ihr βουλεύεσθαι hängt nicht davon ab wie 965 ἃ.

24

Die Philosophie der Nomoi

fach, aber vom Führer Geist regiert ist (963a). Dieser politische Geist kann aber, zum Unterschied von dem Geist der Techniker. sein Ziel nicht nennen (963a 10-c 2). Die vier Tugenden haben jede einzeln ihr Wesen, sind aber doch eines, nämlich Tugend (963c-d 3). Wir müssen also Einheit und Verschiedenheit bestimmen (963d). Tapferkeit und Wissen unterscheiden sich dadurch, daß das letztere den Logos voraus-

setzt, die erstere nicht. sind; ebenso müssen

Nun

müssen

wir auch

wir zeigen. wieso sie doch eines

Einheit und

Verschiedenheit

der beiden

anderen Tugenden zeigen (963c-964a 5). Nun (χαὶ 8% τὸ μετὰ τοῦτο) müssen wir bedenken, daß man von wichtigen Dingen nicht nur den Namen, sondern auch den Logos wissen muß (964 a 5-b 1). Das Wich-

tigste für den Gesetzeswächter sind die vier Tugenden. mehr

als andere

über

Tugend

aus

voller

Einsicht

also muß er

belehren

können

(964 b-d 2). Also müssen die Gesetzeswächter, von denen die jüngeren gleichsam das scharfe Auge. die älteren der Geist des Staates sind, über Tugend eine höhere Bildung als die bisherige haben (964 d-965 b 3). Diese höhere Bildung ist schen die erwähnte Fähigkeit, von vielem

Ungleichen auf .‚eine Idee‘ zu blicken (965b-c). Also müssen die Gesetzeswächter die Einheit der vier Tugenden erkennen können. Das ist lebenswichtig für den Staat, da es sich um sein letztes Ziel handelt (965 c-966a 4). Auch für das Schöne und Gute müssen sie Vielheit und Einheit erfassen und im Logos darlegen können (966a 5-b 3). Ebenso müssen sie von allen wichtigen Dingen die Wahrheit wissen und im

Logos entwickeln, aber auch

mit der Tat vollziehen können (966b).

Eins der wichtigsten ist der Glaube an Existenz und Wesen der Götter, den jeder Gesetzeswächter erarbeiten muß (966c-d 5). Zwei Lehren

beweisen den Gottesglauben, die vom Primat der Seele und die vom Geist in den Gestirnen. Die Astronomie führt nur bei mechanischer Betrachtung des Kosmos zum Atheismus (966d-967 a). Der Versuch des Anaxagaras,

den Geist im All anzuerkennen,

den Vorrang der Seele vor dem

blieb stecken, weil er

Körper verkannte (967 bc). Frömmig-

keit setzt erstens die beiden erwähnten wissenschaftlichen Grundlehren voraus, zweitens die auf sie vuorbereitenden Wissenschaften, drittens

die Einsicht in den inneren Zusammenhang der Musik mit dem Kosmischen, der für die ethische Erziehung auszuwerten ist, viertens die

Dialektik. Dies ist die Bildung, die zu den beiden vulgären Tugenden hinzukommen muß, um jemanden zım Herrschen zu befähigen (967ἃ 4-968a 4). Wir wollen uns also bemühen, den nächtlichen Rat zu konstituieren und mit dieser höchsten Bildung auszustatten (968a 4-b).

Dialektik

in Nomoi

XII?

25

Eine nähere Erläuterung über Gegenstände und Lehrgang dieser höchsten Bildung kann erst in ausführlicher Untersuchung gefunden werden, ohne die alle Angaben unverständlich bleiben müßten (968b 11 bise5). Diese ausführliche Untersuchung wollen wir zusammen durchführen, indem wir in das Wagnis der Staatsgründung eintreten (968 ε 6-969a 3). Gewiß wird die Gründung schwer sein, aber ein regierendes Kollegium von der Bildung des nächtlichen Rates verspricht bisher nicht erlebte Möglichkeiten. Der athenische Fremdling wird bei der Gründung helfen (969 a-d).! Unsere Hauptfrage war die nach der Dialektik und ihrem Verhältnis zur μεγίστη σοφία. Ist die Rolle, die sie faktisch spielt, so groß wie

die Umständlichkeit ihrer sich fast im Kreise drehenden (962d, 963a) Behandlung in diesem Abschnitt? Welches ist ihr letzter Bezugspunkt, ihr σχοπός Das Bild des σκοπός als Ziel des Lebens gehört zur platonischen

Philosophie, die sich auf ein Letztes und Höchstes richtet. Im Gorgias (507d) heißt es: οὗτος ἔμοιγε δοκεῖ ὁ σκοπὸς εἶναι, πρὸς ὃν βλέποντα δεῖ ζῆν. Das ist die σωφροσύνη, die die πλεονεξία überwindet und die εὐδαιuovix in dem gemäß geometrischer Gleichheit geordneten sittlichen Kosmos garantiert. Das objektive Ziel wird dann Politeia 519c erst voll enthüllt: die nicht Philosophen sind, dürfen nicht regieren, denn σκοπὸν Ev τῷ βίῳ οὐκ ἔχουσιν Eva, οὗ στοχαζομένους δεῖ πάντα πράττειν, ἃ ἂν πράττωσιν ἰδίᾳ τε καὶ δημοσία. Dies Ziel ist die Idee des Guten, wie sich 534c bestätigt. Im gleichen Sinne erziehen die philosophischen Politiker der Politeia (484cd, 500d, 501b), wie Maler auf das Modell εἰς τὸ ἀληθέστατον ἀποβλέποντες oder πρὸς τὸ φύσει δίκαιον καὶ καλὸν καὶ σῶφρον. Auch hier ist die transzendente Welt gemeint, zu der der Dialektiker Zutritt hat.? Die Nomoi meinen mit dem σκοπός 693c die

φρόνησις als Leitziel der Politik, ebenso 701d, 706 43 und, auf die Gesetze

über den

Kultus

angewendet,

717a;

Seele. also ἀρετή, Ziel der Gesetzgebung.

auch

hier ist

Reinheit

der

Wir werden aus allen diesen

1 Den beiden Änderungen (969a 7) von Wilamowitz II 405 stimme ich nicht zu. Auch das Scheitern des richtigen Versuches wird Ruhm bringen: also ἤ. Der Genetiv nach dem Superlativ ist unanfechtbar wie Thuk. 11,1 und VII 66, 2. Ὁ Das Guteals

σκοπός.

bei dem Urteil über Nacktheit bei der Gymnastik, 452e: πρὸς

ἄλλον τινὰ σχοπὸν στησάμενος (vielleicht oxeyxuevoz eher als στοχαζόμενος ἢ). Der Sutz ist auch syntaktisch nicht eingearbeitet und vielleicht Zusatz von fremder Hand. 3 Hier tritt der τοξότης zum Bild hinzu, den. sicher nach den: Muster der Nomoi, auch

ein subalternes Werk der Spuria, Sisyphos 39] a, anschaulich verwendet: die Kunst der

Schützen kanı man nur vom Ziele her beurteilen, nach dem sie gemeinsam schießen.

26

Die

Philosophie

der Nomoi

Stellen nicht klüger,! denn ob ein metaphysischer Sinn hinter dieser Tugend steht, lehren sie nicht. Dies scheinen die Formulierungen des skizzierten Schlußabschnittes manchmal nahezulegen, besonders 965c, 966a, aber schlagend widerlegt es 963e. Denn das Eidos in den Tugenden, das den transzendenten Bezug herstellen würde, φρόνησις (nach Menon 89a), ist ausgestoßen, die beiden niederen Tugenden, die Tapferkeit, und, wie man nach 710a ergänzt, die Besonnenheit, haben sich

seiner entledigt. Das gesuchte ἕν in den heterogenen Vier, das ja nie gefunden zu werden scheint, könnte nur ein ri ἐν τῇ ψυχῇ oder ἕξις ψυχῆς sein, also etwas bloß Formales. Dem widerspricht aber der eindringliche, ja beschwörende Ernst, mit dem immer wieder die Tugend, ihr Wesen und ihre Einheit gesucht wird. Die Frage nach der Einheit blieb 964a unbeantwortet, und mit καὶ δὴ τὸ μετὰ τοῦτο, einer Formel,

deren-Anwendung wir auch 635e und Epin. 980a bemängeln müssen, geht es, als ob der vorausgehende Punkt erledigt wäre, zu Name und Logos, d.h. Definition über. Von wichtigen Dingen muß man eine Definition geben können, aber das Wichtigste sind die Tugenden: da sind wir plötzlich wieder beim alten Thema (964b 3). Was heißt ‚die Definition geben‘‘? 895d gibt uns ein Beispiel: von der Wesenheit (οὐσία) Seele gibt es den Namen, aber auch den Logos: sich selbst bewegende Bewegung. Dazu ist also gar kein Eidos nötig, man kann das schon Begriff nennen. Um nun die Definition der Tugend zu finden, müssen die Wächter eine höhere Bildung, d.h. diese Tugend selbst haben (964c-9654). Ist es so, daß, wer sie hat, sie definiert, wer sie definiert,

sie hat? Diese Bildung, heißt es nun weiter (965e), ist ja aber gerade die Dialektik. Also wäre die Dialektik die Tugend, wie sie es ja in der Politeia ist? Die Formulierungen klingen hier sehr nach der Ideenlehre, und Phaidros 265d-266b liegt zugrunde. Aber 963e und 964 a stellten wir ja fest, daß es sich nur um Definition der Tugend handeln könne. Noch einmal werden wir dringlich erinnert, wie wichtig diese Definition ist (965de). Ob die Tugend dasein und wirken wird, hängt davon ab, daß man ihren Sinn und ihre Einheit kennt. Ein neuer Punkt

(τί δὲ δή 9664): auch vom Guten und Schönen muß man die Einheit erkennen und im Logos entwickeln. Vielleicht scheint schon die Trennung ἐννοεῖν — ἐνδείκνυσθαι nicht der echten Dialektik gemäß. Aber sonst ist die Formulierung ganz im Sinne der Ideenlehre. Wie geht es

aber weiter?

Der Gedanke

wird verallgemeinert für „alle wichtigen

1934b handelt es sich um das richtige Strafmaß. Da ist das Bild bloß Formel.

Dialektik

in

Nomoi

XII?

27

Dinge‘‘ (θ66}), es gelte da das Gleiche (ὁ αὐτὸς λόγος), aber von der σύνοψις ist nicht mehr die Rede, nur von εἰδέναι τὴν ἀλήϑειαν αὐτῶν,

λόγῳ ἑρμηνεύειν, ἔργοις συνακολουϑεῖν, κρίνειν τὰ καλῶς γιγνόμενα καὶ τὰ un. Es wird klar, daß das Gute nicht mehr letztes Ziel dieser Dialektik

ist, sondern neben anderen Objekten steht, an denen sich die Dialek-

tik auslegend und beurteilend betätigt.

Wir können

also sicher sein,

daß die Dialektik nicht mehr das ist, was sie in der Politeia war, daß sie nur noch Begriffswissenschaft ist, auf alle Gegenstände anwendbar,

während sie ja in der Ideenlehre erst einsetzt, wenn die dianoetischen Wissenschaften am Ende sind, und sich streng vom ἀνυπόϑετον zu den ὑποϑέσεις bewegt (510b ff.). Nun handelt es sich also nur noch um eine bloße Hilfswissenschaft, so sehr der Schein besonders 965b und 966a

dagegen sprach. Nicht die Dialektik kann die höchste Bildung und Tugend von 965b 1 sein, sondern diejenige Wissenschaft, in die sich die Dialektik jetzt verwandelt. Denn πάντα τὰ σπουδαῖα 966} 4 war nur ein verschleierter Ausdruck. Der nächste Satz zeigt schlagend: es geht nur um die Gotteswissenschaft, die Astronomie,

die jetzt nach so

langer Umkreisung endlich gepackt wird. Auf sie war von Anfang a alles angelegt. Jetzt enthüllt sich die πίστις περὶ ϑεῶν (966c) als die höchste Tugend und Bildung.! Es ist nicht zu leugnen, daß, gemessen an der Stringenz der Politeia,

der Gedanke sich unbehilflich und in immer neuen Ansätzen zum Ziel gewunden hat. Aber andrerseits erkennt man die Absicht, einem gro-

Ben, ja dem schlechthin wichtigen Gegenstand (σπουδαῖον. Ev τῶν καλλίστων ironisch abgeschwächt 966 c 1) sich nur langsam und mit wieder-

holter Ankündigung seiner Wichtigkeit zu nähern.? Sachlich sind wir am Ziel des Gedankens: von den Göttern muß man wissen, was sie sind (τὴν ἀλήϑειαν αὐτῶν), muß das entwickeln können, wozu man die Dialektik braucht, muß sich im Leben dem Göttlichen anschließen (suvaxoAoußeiv) und dabei urteilen, was göttlich und widergöttlich im Menschenleben ist (κρίνοντας), wieder mit Hilfe der Dialektik. Wir werden an die beiden Theoreme erinnert, die im 10. Buch bewiesen waren.

Dieser

Beweis

macht

nicht unfromm,

sondern erweckt Frömmigkeit,

die also eine Wissenschaft ist. Der ganze Inhalt der im 10. Buch ent1 In der allgemeinen Umschichtung steigt die πίστις, die in Politeia Sl1e, 5348 die vulgäre δόξα des Empirischen war, zu hoher Würde auf: sie wird das apodeiktisch Gesicherte,

aus

dem

höchste,

lebensbestimmende

Gewißheit

fließt.

2 Genau so wird 82la-822c das erhabene Theorem, daß die Planeten sich gesetzmäßig bewegen, lange vorbereitet und hinausgezögert.

28

Die

Philosophie der Nomoi

wickelten Theologie strömt jetzt in die Tugendlehre ein. In Wahrheit ist die Frömmigkeit die lang gesuchte δύναμις τῆς ἀρετῆς. Sie tritt an die Stelle der ideenverwandten

Weisheit der Politeia, die zur bloßen

συμφωνία herabgesunken schien. Die eindeutige Formulierung für die neue Sachlage steht 967a: ἀστρονομίᾳ re καὶ ταῖς μετὰ ταύτης ἀναγχαίαις ἄλλαις τέχναις. Jetzt wissen wir, was der σχοπός ist: die theologisch wissenschaftliche φρόνησις. Es wird auch klar, daß die Wächter die Fröm-

migkeit definieren müssen, weil sie eine Wissenschaft ist. Dann haben sie sie aber auch, und umgekehrt, um dieses Wissen zu definieren, müs-

sen sie seiner mächtig sein. Es bleiben bedeutende Unklarheiten. Wieso kunnte die so prägnant

formulierte Synopse πρὸς μίαν ἰδέαν (965c) so einfach in das λόγῳ ἑρμηνεύειν oder Evdeixvvodar (966b) übergehen, wie konnten die Formulierungen

aus der Ideenphilosophie

so ohne

ibren genuinen

Sinn

an-

gewendet werden? In noch höherem Maße besteht Unklarheit über das ἕν in den vier Tugenden, nach dem so uft geforscht wurde. Wenn nunmehr die Astronomie die höchste Tugend ist, soll sie dann auch das ἔν in allen vier Tugenden sein können, das die Ideen -φρόνησις mit vollem

Recht war? Wie soll in der irrationalen Tapferkeit das theologische Wissen stecken? Hier geht die Rechnung nicht auf. Man könnte an den universalen Seelenzusammenhang denken, der die Seelenkräfte (ἔμψυχοι δυνάμεις) der Menschen mit denen der göttlichen Gestirne zusammenschließt (906b); auch das irrational Seelische reicht ja über den Menschen hinaus, sonst könnte es im Kosmos nicht einen ‚„unend-

lichen Kampf“ (906a) geben. Aber das es anzunehmen, geht wohl zu weit. Man und sie wie die anderen verstehen aus sophie in eine völlig andere Auffassung, noch

mitgeschleppt

wird nirgends ausgeführt, und muß die Unklarheit feststellen dem Übergang der Ideenphilobei der das alte Begriffsgehäuse

wird.

Der lange Satz 967d faßt das Ergebnis zusammen, bestätigt unsere Interpretation und wirft neue Fragen auf. Frömmigkeit entsteht durch die beiden astronomischen Grundlehren; diese erfordern propädeutische Wissenschaften. Welche sind das? Man vermutet von vornherein die mathematischen Disziplinen, die bei der elementaren Bildung (819 bis 822) ebenfalls der Astronomie vorangingen. Freilich fehlte uns eine

Aufklärung über den Sinn dieses Zusammenhanges zwischen Propädeutik und ihrem Ziel. Dieses System der Wissenschaften ist ja eine Umordnung des Systems in der Politeia. Auch da gab es die propädeu-

tischen

Disziplinen. deren eine jetzt an die böchste Stelle aufrückt,

Unklarheit

des

Wissensbegriffes

29

wodurch nicht nur die anderen ihre Funktion gründlich verändern, sondern am meisten sie selbst: in der Politeia hieß es τὰ δ᾽ ἐν τῷ οὐρανῷ ἐσομεν (330b): der dianvetischen Betrachtung sind die Bewegungen der Sterne nicht mehr wert als mathematische Zeichnungen, nämlich nur unvollkommene Hilfsmittel. Da nun aber das kosmische Geschehen göttlich gesprochen ist. kann die Mathematik nicht mehr bloß methodisch bedeutung=voll bleiben (παραχλυητιχκὰ τῆς διανοίας 524d), sondern sie wird sachlich das All konstituieren. Daß hier eine wichtige Erläute-

rung fehlt, beweist auch 818cd. wo ebenfalls die Arithmetik und astronomische Bewegungslichre ἀναγχαῖα μαϑήματα für die κάλλιστα μαϑήματα heißen, und wo gesagt wird, ein Mensch könne nur ϑεῖος γενέσϑαι (= ϑεοσεθής 901ἀ). wenn er zählen lerne am Wechsel von Tag und Nacht und die Umschwünge der Sterne kenne. Wir verlangen über diesen Zusammenhang aufgeklärt zu werden, zumal da 822c der Nach-

weis der gesetzmäßigen

Planctenbewegung in Aussicht gestellt wird,

den das 10. Buch aber noch nicht liefert. Noch dunkler bleibt die Gemeinsamkeit des Musischen mit dem Mathematischen (967e 2), die ja nicht so bleiben kann wie in der Politeia, wo Musiktheorie und

Astronomie

Schwestern,

aber beide dianoe-

tisch vom anschaulichen Gegenstand gelöst sind (530c ff.). Die Anwendung des gemeinsamen Prinzips auf τὰ τῶν ἠἡϑῶν ἐπιτηδεύματα καὶ νόμιμα, d.h. auf die erzieherische Musik im Sinn des 2. Buches, wird erst nach der hier noch fehlenden Erläuterung als Verbindung zwischen kosmischem Gesetz und musischem Kultus deutlich werden können. An letzter Stelle erscheint unter den Hilfswissenschaften die Dialektik,

allgemein als ein Vermögen der Definition (λόγον διδόναι) bestimmt. Die Stelle läßt nicht die Auslegung zu, daß Dialektik das Ziel der anderen Wissenschaften sei. Das bisherige Ergebnis unseres Gedankenganges ist erstaunlich: eine völlige Umwandlung der Begriffe gegenüber der Politeia tritt ein. Die φρόνησις heißt nun ϑεοσέβεια (967 ἃ 4 ϑεοσεβῆ) und ist die Wissenschaft

vom im Kosmos sichtbaren Göttlichen geworden.

Die ganze Ideen-

1 Wir fordern zu diesem Programm seine Erläuterung, ja sogar eine noch eindeutigere Fassung des Programms selbst. Wird doch, soviel um die Sache herumgeredet worden ist, nicht einmal präzise die Identität der Astronomie mit der höchsten Tugend ausgesprochen. Wir müssen sie vielmehr erschließen. Eine Bestätigung des Schlusses liegt dann in den Worten πρὸς ταῖς δημοσίαις ἀρεταῖς 96Ba 2, aus denen folgt, daß das vorher beschriebene Wissenssystem die nicht gemeine Tugend darstellt. δημόσιχι muß gleich δημώδεις 710a sein: die ungeistigen Tugenden. An die „‚bürgerliche Tugend“ ist nicht zu denken, sie gibt es in den Nomoi nicht, so wenig wie ἀληϑὴς

δόξα als getrennte Stufe (trotz 632c).

30

Die

Philosophie

der

Nomoi

welt mit ihrer heiligen Spitze, dem jenseits des Seins thronenden einen Guten, existiert nicht mehr; der Dialektiker hat sein höchstes Amt ein-

gebüßt. Dieser Sachverhalt mußte freilich mühsam ermittelt werden, weil er nicht in einem geschlossenen Gedankensystem entwickelt wird wie die Philosophie der Politeia, sondern merkwürdig unter der Kruste der alten Begriffe sich herausbildet und erst am Schluß einigermaßen überhaupt

erkennbar wird. Es ist kein Wunder,

daß man ihn verken-

nen konnte, wo er sich mehr verbirgt als ausspricht. Freilich hätte man an vielen Stellen sich mehr wundern und dem Unverständlichen nachforschen sollen. Etwa 886b durfte nicht überlesen werden: die Ursache des Atheismus, so sagt der Athener dort, ist nicht die bloße Leichtfertigkeit, sondern ἀμαϑία τις μάλα χαλεπὴ, δοκοῦσα εἶναι μεγίστη φρό-

γησις. Diese ist aber die materialistische Lehre vom Kosmos 88646. Also ist die echte Astronomie, die das 10. Buch entwickelt, μεγίστη φρόνησις.

Die beiden Ausdrücke

sind aber terminologisch fixiert 688e

bis 689d als διαφωνία und συμφωνία der Triebe mit dem Logos.

Das

reimt sich nur zusammen, wenn die φρόνησις als oberster Seelenteil der frommen Astronomie oder astronomischen Frömmigkeit gleich ist. Die

Verwandlung der Ideentugend in Astronomie ließ sich also schon ım 10. Buch vermuten. Allerdings bedrängt uns sogleich die schwerste Frage, wie diese Wissenschaft συμφωνία und σοφία zugleich sein kann. In Verfolgung dieser Frage werden wir weitere tiefe Strukturwandlungen des Denkens herausfinden. Vorher aber müssen wir erst nach der vermißten Aufklärung über die notwendigen Hilfswissenschaften suchen. Nach dem langen Wege

seit 961 erwies sich das Ergebnis 966e und 967de doch noch als unvollständig und der Erläuterung bedürftig. Auch die Gesprächspartner sprechen von weiterer Bemühung (ἁμιλληϑῶμεν 968b 5), und einer stellt die Frage: τίς δὲ ὁ τρόπος ἡμῖν γιγνόμενος ὀρθῶς γίγνοιτ᾽ ἄν: (e 1). τρόπος ohne Zusatz ist undeutlich. Es muß auf beides gehen, auf die Befugnisse und auf die wissenschaftliche Bildung des Rates. Gesetze darüber (περὶ τῶν τοιούτων, neutral = diese Einrichtung des Rates) kann man erst nach seiner Einsetzung geben, dann werden seine staatsrechtlichen Befugnisse! kodifiziert werden. Dies weist auf einen Punkt außerhalb des Dialoges, auf die Realität: ἀλλὰ ἤδη τὸ τὰ τοιαῦτα xaraoxevalov διδαχὴ μετὰ συνουσίας πολλῆς γίγνοιτ᾽ ἄν, el γίγνοιτο ὀρθῶς. 1 Möglicherweise heißt χυρίους ὧν αὐτοὺς Wissen sie verfügen sollen.

δεῖ γενέσϑαι 968c sogar: über welches

Hilfswissenschaften

zum

höchsten

Wissen

3]

Für κατασχευάζον ergibt sich aus 964d 5, 965a 5 der Sinn „ausrüsten“, fast gleich „‚erziehen‘‘. nön! kann nur bedeuten: jetzt, d. h. vor der realen Gründung. Wir übersetzen also: „Aber was jetzt zur Ausrüstung dieses Rates geschehen kann, das kann, wenn es richtig sein

will, nur Belehrung mit langem Zusammensein sein.“ Es ist also kein Zweifel, daß noch eine Behandlung der höchsten Bildung vorgesehen ist. Drei Punkte, diese Bildung betreffend, werden bezeichnet. Erstens muß eine Liste aller derer aufgestellt werden, ‚die geschaffen sind zur

Eignung für das Wächteramt? nach Alter, Fähigkeit zu Wissenschaften und nach Art und Gewöhnung der sittlichen Haltung. Sodann, was zu lernen ist, ist weder leicht zu finden noch ist es leicht, darüber eines anderen Schüler zu werden, der es gefunden hat. Außerdem, was die Zeiten

betrifft, die? man annehmen und in denen man die einzelnen Lehrgegenstände aufnehmen muß, so ist es vergeblich, dies in Geschriebenem anzugeben. Denn auch dem Lernenden ist nicht klar, daß die Gegenstände zur rechten Zeit gelernt werden, ehe nicht im Innern der Seele jedem von dem Lehrgegenstand ein Wissen entstanden ist. So dürfte alles, was

hierher gehört, wenn es ‚nicht sagbar‘ benannt

wird, nicht richtig be-

nannt werden, wohl aber, wenn es ‚nicht vorher

sagbar‘

genannt

wird,

weil es, vorher gesagt, nichts klarmacht von dem, was gesagt wird“. ἀπρόρρητα bedeutet: in endgültiger, apodiktischer Form, geschweige denn im Gesetz (ἐν γράμμασιν) kann über diese Bildung nicht gesprochen werden, bevor sie nicht sachlich entwickelt und angeeignet worden ist. Insbesondere kann ein Lehrplan nicht aufgestellt werden, denn die zeitliche Folge ergibt sich bei so schweren Dingen aus dem Wachstum der philosophischen Einsicht im Vollzug der Aneignung der Sache.

Eine frühere Stelle (818d) bestätigt das, wo gesagt wird, daß der Jünger der höchsten Weisheit, geleitet von den propädeutischen Wissenschaften, sich dem höchsten Wissensziel nähert, wobei er Art, Menge,

Zeitpunkt und Kombination der Wissensstoffe auf dem Wege erfaßt. Es folgt auch an jener Stelle die Erklärung, man könne das nicht vor1 Taylor in der Übersetzung und Ritter fassen es richtig, England und Apelt übergehen es. 2 φυλακῆς φύσιν ist parallel mit ἀρετὴ σωτηρίας 969c: Tüchtigkeit für die Aufgabe des Retters. Die lockende Konjektur σωτῆρας (Winckelmann) ist abzuweisen. Zu vergleichen μαϑημάτων δυνάμεις 9684 2, ἀρετὴ τῆς χρείας 722}. τῆς τοῦ πράγματος 643 ἃ ist also gegen Schanz und meine Diss. 5. 9 zu halten. τῆς ἀρετῆς expliziert , vgl. 738e 1 (οὗ durch ἢ... εἶναι expliziert) oder Ep. VII 332c 4-6. 3 England und Taylor fassen οὗς καὶ ἐν οἷς als Reihenfolge und Dauer, aber es ist nur ein gekünstelter Ausdruck wie so oft. Die unpräzisen Worte geben nichts sehr Präzises her.

32

Die

Philosophie der Nomoi

her (rporaZazuevov) regulieren, das werde in strenger Betrachtung später geschehen. Aber unzweideutig war eben (968c) von der συνουσία πολλή die Rede, die jetzt das Thema behandeln soll, und Kleinias fährt fort: Was

müssen

antwortet: 0698

wir

unter

diesen

Umständen

tun?,

worauf der

Athener

Die Situation verlangt das Letzte von uns {πάντα ποιητέον

1), das wollen wir zu leisten versuchen, und ich will euch ‚meine

l.chre über die jetzt zur Erörterung gebrachte Bildung und Erziehung darlegen und erklären‘. Es müßte also diese Darlegung selbst den philosophischen Weg zum Wissen ἐντὸς τῆς ψυχῆς gehen. Andrerseits wird wieder alles von der realen Gründung des Staates abhängig gemacht, die ein zu leistendes Wagnis sei (968e) und bei der der Athener helfen soll, so daß die erkenntnispädagogische Schwierigkeit mit der

realpolitischen

zusammenfließt.

Das προρρηϑέντα

schillert zwischen:

„vor derGründung‘‘ und „vor dem dialektischen Innewerden der Wahr-

heit‘, eine Zweideutigkeit, an der schon das πρὶν ὅν χοσμηϑῇ

968c zu

leiden scheint, wie ja auch unklar bleibt, ob nun am Ende ἐν γράμμασιν wird geredet werden können oder nicht. So hat die ganze Erörterung etwas Schwankendes. Ihre eigentliche Intention ist im Grunde nur die, auf die Einzigartigkeit des geforderten Wissens und seine Heilsbedeutung hinzuweisen. Weil es nichts Gewöhnliches ist, kann es auch nicht in direkter Aussage vermittelt, sondern es muß erarbeitet werden. Das

aber wird versprochen, daran ist nicht zu rütteln; und wir behaupten mit Sicherheit, daß, wenn die Nomoi

zu Ende sind, dies noch aussteht.

So muß die Ergänzung, die die Epinomis geben will, geradezu erwartet werden.

Das gewisse Schwanken in den Aussagen dieses Schlußpassus macht cs verständlich, daß man die Ankündigung

nicht anerkannt.

sondern

sie für einen Hinweis auf das dialektische Geheimnis gehalten hat. Offensichtlich klingt 968cd an die Erkenntnistheorie des 7. Briefes (341 Ὁ

bis 344c) an, die ja die Unmöglichkeit direkter Aussage des höchsten Gegenstandes lehrt und von einem Aufleuchten des Wissens in der Seele ἐκ πολλῆς συνουσίας γιγνομένης περὶ τὸ πρᾶγμα αὐτὸ καὶ τοῦ συζῆν (341ς, 343c, 344}) spricht. Dort sind Eidos und dialektisches ἕν wenigstens für den ersten Eindruck gegenwärtig,! während sie hier, wie I Es ist freilich zu betonen, was in den Interpretationen auch bei Stenzel und Pasquali nicht scharf herauskommt, daß eine Weiterentwicklung vorliegt: nicht nur das Geschriebene wird entwertet im Sinne des Phaidros und zugunsten des dialektischen Logos, sondern der Logos selbst wird in seinem Rang herabgesetzt und durch eine dialektische, aber innerseelische Erleuchtung ersetzt (343b, 341d). Schon daß er von

Epinomisproblem

33

wir zeigten, de facto nicht mehr gegenwärtig sind. Die Erkenntnistheorie wird also auf ein anderes höchstes Wissen angewendet, wobei nicht nur der Gegenstand, sondern sogar die Zeiten des philosophischen Lehrgangs der direkten Sagbarkeit entzogen werden -eine außerordentliche Steigerung des Gedankens. Von diesem Wissen wird wie von einer Geheimwissenschaft

geredet (ἀπρόρρητα 908c4). aber am

Ende

soll es

doch sagbar werden. Seine höchsten Theoreme sind schon im 10. Buch bewiesen und soeben von neuem hingestellt worden. Es scheint also geboten, in diesen Ausführungen keinen zu großen Tiefsinn zu suchen,

sondern sie als reale Ankündigung eines weiteren Gespräches über die Weisheit zu nehmen, eine Ankündigung, die in dem gleitenden Charakter und der Umständlichkeit ihrer Formulierungen ebenso wie in dem sie erfüllenden inbrünstigen Eifer für die vertretene Sache völlig dem ganzen Gedankengang von 96la gleicht, den sie abschließt. Einstweilen ist nur gezeigt, daß die Nomoi eine Ergänzung fordern. Ob die Epinomis, die sich als solche anbietet, berechtigt ist, als solche zu gelten, folgt daraus nicht. Es wird sich aber zeigen, daß sie den Er-

wartungen, die man stellen darf, durchaus entspricht. Diese Behauptung, die wir im Widerspruch zu maßgebenden Platonforschern, Wilamowitz, Jaeger u. a., und zu den eindringenden Untersuchungen von

Fr. Müller: Stilistische Untersuchung der Epinomis des Philippos von Opus, Diss. Berlin 1928,! und Theiler, stellen, ist zu begründen. „Verabredungsgemäß

kommen

Gnomon

wir zusammen,

1931, 5. 335 ff., aufum

zu verhandeln,

durch welche Wissenschaft man Weisheit erwirbt“, so beginnt Kleinias, „denn sonst sind wir mit der Gesetzgebung fertig, aber ohne die φρόνηςσις (oder σοφία) wäre sie doch unvollendet.‘“ Wer kann leugnen, daß wir gerade eine solche Fortsetzung zu den Untersuchungen des Schluß-

stückes von Buch 12 verlangen müssen? Dieses Schlußstück begann ja mit der Frage nach dem τέλος, dem krönenden Abschluß des Ganzen (960 b 5 ff.), und fand sie in der auf Wissenschaft gegründeten Weisheit, ließ aber bei ihrer Bestimmung noch Fragen offen und verwies auf wei-

tere Behandlung. Was sagt nun die Epinomis über diese Weislieit aus? ἐπιστήμη und νοῦς getrennt wird (342b), deren legitimer Ort er früher war (Phaidon 75d, Soph. 360 8). ob nun in oder außer der Seele (denn Denken ist ja ἐντὸς τῆς ψυχῆς πρὸς &xurnv διάλογος, Soph. 263e ff.), ist eine Veränderung. Ein Grundpfeiler ist erschüttert. - Entschiedener urteile ich über die Frage der Echtheit des 7. Briefes neuerdings im Archiv für Philosophie, Jahrgang 3 5. 251-276: ‚‚Die Philosophie im pseudoplatonischen 7. Brief.“ ı Vgl. 3

auch

Fr. Müller,

Müller, Nomoi

Gnomon

1940, 289 fi.

34

Die

Philosophie

der

Nomoi

Zunächst spricht sie von dem technischen Wissen in seinen verschiedenen Formen und hebt davon das wahre Wissen ab (974d-976c). Wir erinnern uns, daß nicht nur die Politeia das (428b ff.) tat, sondern auch

die Nomoi, als sie 643d ff. die technische Bildung von der sittlichen, 689c die demiurgische Unwissenheit von der sittlichen trennten. Daß das jetzt ausführlicher geschieht, wo die Weisheit von Grund auf de-

finiert werden soll, ist in der Ordnung. Im Eifer des Suchens nach einem Höchsten geht der Sprecher die nichtigen Dinge durch, um sie sogleich zu verwerfen.! Dann erscheint als gesuchte Weisheit die Arithmetik,? vom Kosmos erlernt, durch die Zahl am Logos teilnehmend, „Hauptteil der gesamten Tugend“ (977d 3). Wir dürfen nicht daran Anstoß nehmen, daß dies Wissen noch nicht identisch mit der astronomischen

Frömmigkeit

von 966c ff. ist, aber sicherlich sind wir schon auf dem

richtigen Wege.

Das Zählen lehrt nun aber an Hand

Nacht und der periodischen

von Tag und

Umlaufzeiten (d.h. Tag, Monat, Jahr) der

göttliche Kosmos (978c-979a), der, dem Demiurgen des Timaios gleich, ohne φϑόνος ist (988b) und die Zahlenverhältnisse, die in sich notwendig sind, allen sichtbar macht. So war es aber schon 818c.

Gottverwandtschaft und schönste Wissenschaft hat der zählende Schüler des Kosmos,? und wenn nach 809cd laufszeiten

der

Gestirne

entsprechen

der Kult des Staates den

und

so die Menschen

Um-

„lebendig

und wach“ und „über die Sterngötter weise‘ (ἔμφρονας, d.h. zu Trägern von φρόνησις) machen soll, so ist die Kongruenz mit den Auffas-

sungen der Epin. 985 de vollständig. Entscheidend aber wird der Charakter der σοφία, der in Nomoi und Epin. völlig der gleiche ist. Diese σοφία

ist

an

unserer

Stelle

977d

Wissen,

das

am

und

im

Kosmos

1 Der Getreidebau als Überwindung der Menschenfresserei wie Epin. 975a so auch Nomoi 782bec. 2 Der Nutzen der Zahlenlehre für praktische τέχναι als Folie 747b, 809c, 819c;

genau so 977e. Den Satz e 5-978a 2 halte ich bei Burnet für intakt. πᾶς ἄν τις ist im O neben πᾶς μάντις überliefert. Der Sinn ist: an den Nutzen der Zahlen für geringe Dinge glaubt Hinz und Kunz, aber den für die Frömmigkeit erkennt nicht mehr

jeder Beliebige: οὐκ ἄν ἔτι πᾶς ἄν τις γνοίη. Dieser Sinn ist bestätigt durch 990b 1 und

9794

1

und

der

Konjektur

von

Tbeiler,

Gnomon

1931

5. 351

Anm.

3,

vor-

zuziehen. Pavlu (Wiener Studien 1938, 36) z. St. überzeugt nicht. 8 Ich halte gegen Theiler, Gnomon 1931 5. 351, die Stelle 818c für eine kurze Andeutung dessen, was 978} ff. an seinem Platze ausgeführt wird. 4 &ypnyopuiav 809d 5 in Verbindung mit dem höchsten Wissen (ἔμφρων), wozu 819c und auch 747bc (vgl. νυστάζοντα) parallel sind, geht zurück auf Pol. 476cd, wo

der Ideenkundige ‚„‚wach lebend“ heißt, der Empiriker „träumend‘. Auch hier haben wir die Umwertung. Ganz und gar umgekehrt aber ist das ursprüngliche Verhältnis 969b und 746a: das Wachen gehört nun zur Realität, das Träumen zur bloßen ‚‚Idee“.

Epinomisproblem

35

Zahlenverhältnisse erfaßt und dadurch Eudaimonie verleiht. Dies Wissen ist aber auch πάσης ἀρετῆς τὸ μέγιστον μέρος, während ‚‚die übrige Tugend“, also Tapferkeit und Besonnenheit, als logosfremd sekundär ist. Evident ist die inhaltliche Beziehung zu 963e, freilich nicht evident scheint die Übereinstimmung. Denn Fr. Müller S.11 ff. und Theiler ἃ. ἃ. Ο. 5.349 legen einen starken Akzent auf die Verschiedenheit, indem sie an der Nomoistelle den vollen Gehalt des alten platonischen Tugendbegriffs erfüllt sehen. Wir glauben freilich gezeigt zu haben, daß in Wahrheit auch dort schon die astronomische Weisheit gemeint war, daß sie aber in der Verpuppung unter dem Tugendbegriff erscheint, um sich dann, 966c-967e, aus der Verpuppung zu enthüllen als ein dem alten Tugendbegriff völlig heterogenes Wissen, das mit dem

Eidos keine Verbindung mehr hat, sondern auf den sichtbaren Kosmos sich richtet, das aber zugleich Frömmigkeit und höchste Tugend ist. Die Zerstörung des alten &perr,-Begriffes verriet sich uns schon in der Scheidung der ἀνδρεία vom λόγος, die an unserer Epin.-Stelle wiederkehrt und auf die σωφροσύνη ausgedehnt wird, in Harmonie mit früheren Äußerungen der Nomoi (696b ff., 710a). Die Unterscheidung der höchsten Tugend von ‚‚der übrigen“, geistlosen war 968a (πρὸς ταῖς

δημοσίαις ἀρεταῖς) ausgesprochen. Wir müssen also die sachliche Übereinstimmung entgegen dem Schein feststellen. Freilich von Frömmigkeit, wie die Nomoistelle 967d, spricht 977d noch nicht. Aber die bisher in der Epin. gegebene Bestimmung der

σοφία ist ja noch nicht vollständig. Nur der erste entscheidende Schritt ist getan.

Ein

Übergangsstück,

979b 3-e, nimmt

die Frage neu auf:

„Bei dem Forschen über Gesetze‘, also in den Nomoi, waren die untergeordneten Güter, Leib und Besitz, leicht zu finden, aber das wahre

Gut

der Seele schwer.

Ob nun

wirklich die gefundene

Wissenschaft

dies wahre Gut ist, also weise und gut macht, ist von neuem zu unter-

suchen.

Diese Ankündigung

bleibt nicht unerfüllt, wie man

gemeint

hat (vgl. bei Müller, Gnomon 1940, 298 Anm. 3), sondern nachdem die 1 Die Gütertafel Seele - Leib - Besitz, immer als Leitstern der Gesetzgebung, steckt in der zweigeteilten Gütertafel 631c, expliziert ist sie 697b, 743 de, 870b; für die Per-

son, ohne politischen Bezug, 728de. Zugrunde liegt offenbar ein altes pythagoreisches Schema, wie man zu Gorg. 477b ff. annimmt. Politeia 591ce erscheint es als Wertordnung für den Weisen, der den echten Staat in seiner Seele hat. An unserer Epinomissteile liegt die Beziehung zum Politischen nicht ferner als in den Nomoi. Darüber weiter unten. - Der Satz ς 3 f. scheint zu bedeuten: „Die anderen Wertc alle zu erwerben ist, nach

streichen. 3*

dem

bekannten

Wort,

Das bekannte Wort

möglich

und

nicht

wäre Abwandlung

schwer.‘

ze ist

mit

Bekker

von Pol. 499ἃ 2 (vgl. Nomoi

zu

1711 ἀ).

36

Die

Philosophie

der

Nomoi

Untersuchung die fünf Klassen der ζῷα von den Gestirnen bis zu den Menschen aufgestellt (980 a-986a) und (durch ein sehr einfaches Mittel anknüpfend:

„Nun

kommt

mich jetzt dies an,

sollst

du klar wissen‘“‘)

von den acht Himmelssphären und ihrer Bedeutung gehandelt hat (986 a-988e), nimmt sie diese Frage wieder auf (989a): „Wir wollen sehen, ob wir die langgesuchte Weisheit in einer Bildung oder einem Wissen erkennen, dessen wir nicht ermangeln dürfen, wenn wir nicht ohne Einsicht in das Gerechte sein wollen, dadurch, daß wir seiner er-

mangeln.“! Und nun wird uns dieses Wissen endlich vollständig entwickelt (989b-Ende). „Das Größte von der Tugend“ (989a 6), bisher nicht richtig geübt ‚‚wegen der größten Unwissenheit‘, ist die Frömmigkeit, so wird uns sogleich enthüllt. Diesen Platz hatte aber 977d die σοφία des Arithmetikers bekommen. Also wären σοφία und εὐσέβεια (990 a ϑεοσέβεια) identisch, wobei die Arithmetik sich als ἀστρονομία darstellen würde, die endlich 990a bei Namen genannt wird? Dann ist aber die einheitliche

Dreiheit von

Frömmigkeit,

Tugend

und

Wissen-

schaft, die wir im Schlußteil der Nomoi herauspräparierten, wieder beisammen. Wirklich ist die Sachlage genau die gleiche wie 964 d, und wir sind wie dort gezwungen, den ppövnoız-Begriff als συμφωνία (688e Β΄.

denn ἀμαϑία 989} 3 ist ja laut 689a διαφωνία) und gleichzeitig σοφία heranzuziehen. So ergibt sich eine große Identifizierung φρόνησις = coφία —= εὐσέβεια (ϑεοσέβεια) = πᾶσα ἀρετή = παιδεία (9894 2, N. 965} 1)

= συμφωνία -Ξ ἀστρονομία -- πίστις. Ein sehr schweres Problem schließt die συμφωνία in sich, aber daß die Tugend Frömmigkeit und Wissenschaft geworden ist, hebt sich klar als gemeinsames Fundament der Nomoi und der Epinomis heraus. Ausdrücklich wird uns in der Epin. 977d,

989a

gesagt,

was

wir in den

mußten, eben diese Identität der Tugend Kosmos.

Nomoi

mühsam

erschließen

mit der Wissenschaft

vom

Die seit 968de erwarteten Auskünfte über diese Wissenschaft werden in dem Schlußteil der Epin. wirklich gegeben, und zwar, der Ankündigung 968d entsprechend, zuerst über die Eignung. Dies steht 1 Burnets Interpunktion nach δικαίων 9898 3 scheint mir den Satz unverständlich zu machen. ὄντες τοιοῦτοι, pleonastisch, ist stilgemäß, vgl. 841b 1 und 967} 2, wo das konditionale Partizip auch doppelt ist. Übrigens ist der letztere Satz grammatisch unhaltbar: wird ὅπως für ὅτι genommen, ist μήποτ᾽ untragbar; wird ὅπως μὴ von

ὑπωπτεύετο abhängig, wie natürlich, so fehlt die Negation: ὅπως un «οὔν»ποτε ἢ Doppeltes ἄν gibt es nicht allzuselten, oder wäre es ein Hinweis auf die Verderbnis 9 (vgl. Kühner-Gehrt

Möglichkeit des

II 2, 396 und Krüger,

ὅπως- 5412685).

Sprachlehre 54, 8, 11, zur syntaktischen

Epinomisproblem

37

989} 4-4 7. Es wird zweierlei verlangt, erstens Vereinigung des bedächtigen und draufgängerischen

Wesens, erläutert durch: „die Tap-

ferkeit schätzend und zur Besonnenheit zu gewinnen“, und zweitens Gedächtnis und Lernfreudigkeit. Das erste sind die gewöhnlichen Tugenden, die auch 968a δημόσιαι hießen, 710a δημώδης (vgl. auch 696b). Daß mit εὔκολος eine unplatonische Note hereinkommt, hat Fr. Müller 4.8.0. S. 25 behauptet, aber Nomoi 791c 8 steht τὸ μὴ δύσκολον καὶ τὸ δύσκολον von der Tapferkeit der Säuglinge, die janach 963e die Tapferkeit schlechthin ist, und 752} 9 steht εὐκόλως καὶ ἀφόβως. Auffällig ist τὴν δ᾽ ἀνδρείαν ἀγαμένη. Das mageinseltsamer Ausdruck sein (Müller S. 35 u. Gnomon

1940, 302), aber eine verschiedene Bewertung der Tapfer-

keit gegenüber den Nomoi beweist er nicht, denn es handelt sich um die bloße Naturanlage. Die zweite Forderung ging Politeia 487a an die Philosophen (neben anderen hier wegfallenden) und war auch Nomoi

709e und 747b erwähnt. Das ist also die Erfüllung des ersten Punktes, der 968c genannt war: καταλεχτέος ἂν ein χατάληγος, vielleicht zu hochtrabend für diese Erfüllung, aber was sollte sachlich unter den Voraussetzungen des Nomoischlusses noch gesagt werden? Es fehlt aber nicht der Hinweis auf die Herrscherpflichten dieser Begabten: 989c τοὺς πλείστους αὐτῶν καὶ γείρους χατέχειν (wobei αὐτῶν für ihre Mitbürger sehr lax gesagt ist).! Es folgt die Antwort auf den Punkt ἃ δεῖ μαϑεῖν

(989e 1-992a). Der dritte Punkt. die Zeiten des Lehrgangs, soll sich ja mit der Sache ergeben und fällt weg: die Methode ὡς δεῖ μαϑεῖν ist von der Sache nicht zu trennen. Die lange zurückgehaltene Astronomie erscheint mit Namen jetzt erst. so wie am Schluß der Nomoi die ent-

scheidende Sphären

Lehre

sind

ihr

lange

auf sich warten

Gegenstand,

auf

(986. a ff.) nur kurz zurückgedeutet Sprache

kommen

soll, Arithmetik,

dessen

ließ.

Die homozentrischen

ausführliche

Entwicklung

wird.” weil die Propädeutik Geometrie

und

Stereometrie.

zur Allc

drei Dimensionen werden vom Prinzip des διπλάσιον durchwaltet, und unter Rationalisierung des Irrationalen in den beiden höheren Potenzen ! Die gleitende und springende Art der Gedankenführung läßt den Zweifel zu, ob nicht κυριώτατον 989 ( 2 im Sinne von κατέχειν sich auf die Macht bezieht, vgl. 9685, wo zu5tons auch nicht völlig eindeutig ist. Aber die Verbindung mit ἀχϑεῖν liegt doch näher. ® Der Satz 990c 1 ff. ist schwierig durch das unbeziehbare τούτων, Deswegen nahm Theiler (S. 353 Anm. 1) eine l.ücke vor τούτων an. Aber τούτων geht auf alle Gestirne, die man sich genau so aus den Zusammenhanr erzänzen muß. wie zu αὐτῶν 989c die Bürger. b 6 halte ich πρώτην; die Mondphasen »ind das erste Phänomen, an dem man lernt, die Sonne das zweite (θτ8 1F.).

38

Die

(das

Problem

war

Philosophie

schon

bei

der Nomoi

der elementaren

Bildung

820c ff. an-

gedeutet, und Geometrie und Stereometrie flossen auch dort in diesem Problem zusammen) baut sich der Kosmos in rationaler Proportion auf ebenso wie die musikalischen Harmonien.! Jetzt verstehen wir die xoı-

νωνία κατὰ τὴν μοῦσαν 967d und den Zusammenhang der propädeutischen Wissenschaften mit der Astronomie; alle sind sie vom gleichen Prinzip beherrscht; nur darum konnte am Anfang der Epinomis die Arithmetik

schon den

Rang

einnehmen,

der der Astronomie

gebührt.

Es besteht ein Band (δεσμός 992a 1), das alle Wissenschaften und alle Seinsgebiete verbindet. Diese Einheit zu sehen, ist die Aufgabe der Dialektik:: τὸ καϑ᾽ ἕν τῷ κατ᾽ εἴδη προσακτέον ἐν ἑκάσταις ταῖς συνουσίαις 99] ς, ὀρϑῶς τις εἰς ἕν βλέπων 99] 6. Genau so wie hier war, wie wir zeigten, die Dialektik in den Nomoi vom Eidos gelöst und zu dienender Funk-

tion degradiert. Das Zusammenschauen von 965bc erwies sich in der Folge als ebenso eidosfremd wie das exemplarische συνορᾶν der Zahlen

durch den Kosmosgott. Zu vergleichen ist auch ἐρωτῶντά τε καὶ ἐλέγya TR αὐ 201.02 ϑηθέντα 99] 63. mit χρίνωντας τὰ τε χχαλῶς τι νόμεν. χαὶ τὰ un Nomoi 966b 7. Der Prüfstein 991c und die Prüfung ἐξετάσαι

διὰ λόγων πάντων καὶ πάντῃ λεγομένων 974c5 bedeuten im Grunde genau dasselbe wie εἰδέναι τὰ περὶ τὴν ἀλήϑειαν αὐτῶν καὶ λόγῳ ἱκανοὺς ἑρμηνεύειν εἶναι

Nomoi

966}.

Die sachliche

a.a.0.S. 35 sieht, kann ich nicht anerkennen.

Epinomis 986c

das

τέλος

sei, kann

Differenz, die Fr. Müller Daß die Dialektik in der

ich v. Fritz (RE, s. v. Philippos

1938 5, 2358 ff.) nicht zugeben, der gerade dadurch die Schrift an die Nomoi binden will. Mit Recht bält er sie für unabtrennbar von ihnen.

Er überschätzt aber den Dialektikbegriff. Der Schein ihres alten echten Sinnes haftet der Dialektik in der Darstellung der Epinomis nicht weniger an als in den Nomoi. Die Formulierungen sind ganz gleichartig, aber der sachliche Zusammenhang weist ihr hier wie dort eine dienende Rolle und einen geminderten Sinn zu. Die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaften sind völlig fließend, in Wahrheit handelt es sich nur um die eine Wissenschaft vom

kosmischen

Logos, in dessen

Zu-

sammenhang der Mensch hineingehört. Das stimmt genau zum Schlußteil der Nomoi,

wo sich ja auch, wie wir sahen, die Dialektik unmerk-

lich in die Astronomie verwandelte.

Das Ziel dieser Wissenschaft ist

1 Die schwere mathematische Stelle 990 ἃ ff. hat jetzt der Mathematiker v. d. Waerden (Hermes 1942 S.185 £.) neu und eindringend behandelt, gegen die frühere Interpretation von Toeplitz. Im Sprachlichen sind einzelne Unterschiede zwischen ihm und Theiler S. 345, die sich in dem unpräzisen Stil schwer entscheiden lassen.

Epinomisproblem

39

das Anschauen des sichtbaren Kosmos,!in dem Einheit, Vernunft, Ge-

setz und göttliche Vollkommenheit dem Wissenden sich offenbaren. Der Kosmos selbst lehrt dieses Wissen, man mußihm nur folgen: &xoXovϑείτω 977}, διδάσκοντος αὐτοῦ συνακολουϑήσει 988} 2, εἰ μὴ ϑεὸς ὕφης γοῖτο 9894. Nachträglich wird die Formulierung der N. (966}) erst ganz deutlich: τοῖς ἔργοις συνακολουϑεῖν: unmittelbar vor Erwähnung des göttlichen Kosmos ist dieser Ausdruck schon auf ihn abgestimmt. Die Nachfolge in Taten ist mit der im Wissen verknüpft, dieses Wissen macht ja ϑεοσεβής (966e, 967d). Die Gottesbeweise des 10. Buches sollten doch durch theoretische Belehrung zum gottverwandten Leben erziehen. Schon die elementare Erziehung der breiten Masse gipfelte in der kosmologischen Wahrheit, die, aus der Lehre von den homozentri-

schen Sphären abgeleitet, zum frommen Leben führen sollte: μέχρι τοῦ μὴ βλασφημεῖν περὶ αὐτά, εὐφημεῖν δὲ ἀεὶ ϑύοντάς τε καὶ ἐν εὐχαῖς εὐχομένους εὐσεβῶς 821d, nicht anders als Gottesdienst Wandel

aus

der

höchsten

Wissenschaft

der

und gottgefälliger

Epinomis

fließt

(982a,

988 a). Auch in der spezifischen Bedeutung von πίστις, πιστεύειν besteht völlige Übereinstimmung: wissenschaftlich bewiesener Glaube ist es eindeutig

Nomoi 966c und

Epinomis 983, e 4, 991d 1, 980c 4: ὁ nı-

στεύσας ὡς ὁ λόγος ἀληϑὴς γέγονε (99] ἃ 1). Der Gegensatz intellektuellreligiös (Müller 5. 15) trifft nicht. Ferner: die oft wiederholte Mahnung der Epinomis zur richtigen Methode des Lernens, nämlich κατὰ τρόπον, unter Führung des Gottes 989d, durch Vorbelehrung und Gewöh-

nung

990c,

gewarnt

vor falschen

βάσανοι 99]ἃ, richtig aufnehmend,

notfalls unter Anruf des Gottes oder der göttlichen τύχη 991d, 992a, macht

überhaupt erst verständlich,

warum

am Schluß der Nomoi

so

geheimnisvoll von diesem Wissen und seiner Aneignung geredet wurde: das überwältigende Erlebnis des richtig angeschauten Wunders der Sternenwelt läßt sich nicht einfach als lehrbare Methode voraus fixieren. Darum wurde Nom. 968d der erkenntnismethodische Gedanke aus dem ganz andersartigen Konnex der Dialektik auf diese fromme

Wissenschaft

übertragen.?

1 ϑείαν γένεσιν 991 b 6 ist nicht etwa göttliches Werden, sondern so gut wie θείαν φύσιν (cf. 977e 5). Ebenso γένεσις neben τροφὴ καὶ πχίδευσις Nomoi 740a 2. ° Genau wie die Wissenschaft, so kehrt auch die niedere Tugend in der Epinomis wieder. „Die übrige Tugend“ (992cd und 977d 1) meint unzweideutig Tapferkeit und Besonnenheit (vgl. 989b), an der man φύσει teilhat (992c), nicht durch Wissen. Es herrscht auch hier in beiden Werken die gleiche Auffassung. - Theiler findet mit Rechi auch in ἀνχφανῆναι Epin. 99le 4 den Anklang an Epist. VII 341c.

40

Die

Philosophie der Nomoi

Nach all diesen gedanklichen Übereinstimmungen scheint es uns erlaubt, die These aufzustellen, daß die Epinomis in vollständiger Harmonie mit dem Schlußstück der Nomoi ist. Sie erläutert die dort nicht ganz herausgearbeitete Wissenschaft und ist so die genuine Fortsetzung des ganzen Werkes. Darüber hinaus ist ganz unmittelbar einleuchtend, daß das gleiche religiöse Gefühl das 10. Buch der Nomoi

und ihr Schlußstück mit der Epinomis verbindet. Der im 10. Buch apologetisch entwickelte Beweis der Existenz der Götter ist die Quintessenz des in den Nomoi gesuchten und in der Epinomis beschriebenen Wissens. Als solche wird er eindrücklich hingestellt in den

berühmten

zwei Thesen (966e),! und

als solche wird er auch wieder

! Das Wortverständnis der klassischen Stelle ist noch nicht gesichert. „Das immer neu strömende Sein des seelischen Innenlebens“ versteht Jaeger, Aristoteles S. 165, und mit ihm gewiß viele. Mit Recht erklärt aber England z. St. die Superlative πρεσβύταχτον und θειότατον wie Komparative. (896cd: Seele und geistige Bewegung sind ehrwürdiger als Körper und körperliche Bewegung.) Also nur in der Körperwelt fließt alles. ὧν muß für οἷς stehen, wie oft. 2. B. 717e 1, 721d 4. κίνησις wird Bewegung der Körperwelt sein, die den Körpern das Fließen verleiht, so wie etwa die Bewegung 893 d allen homozentrischen Kreisen die gleiche Schnelligkeit gibt (nach der evidenten Konjektur Apelts πορίζουσα statt πορεύουσα). Man muß aber zugeben. daß auch die sich selbst bewegende Bewegung der Seele gemeint sein künnte, die als πρωτουργόώς mit Hilfe der deureswupyot κινήσεις 8978 5, d.h. mit Hilfe der γένεσις die Veränderung der Körperwelt bewirkt. So faßt es Wilumewitz 168%'. Eine zwingende Entscheidung findet sich nicht. Ich neige zur ersteren Auffassung deswegen, weil bei ihr das Possessivpronomen weniger vermißt wird. γένεσιν παραλαβοῦσα ist: „zuHilfenchmend das Werden‘ im Gegensatz zur Unsterblichkeit der Seele (vgl. die parallele Stelle 961 d). „Alles, was an Entstehung (γονῆς) teilhat‘ (nicht unsterblich ist), ist dann fast tautologisch, paßt also genau zum Stil, der nicht intensiv genug sein kann. ἀέναον οὐσίαν versteht man im Sinne der logischen Dreiteilung οὐσία, λόγος, ὄνομα 895d. Die οὐσία des Körperlichen ist das ewige Fließen. Es ist also ein kühner Ausdruck für οὐσίαν τοῦ devann, wie etwa Politeia 505b κτῆσιν ἀγχϑὴν für κτ. ἀγαθοῦ, oder Nomoi 80] ἢ ἀργυροῦς πλοῦτος. Die Seele als ἀϑάνατος 967d fließt nicht, sondern ist bewegt κατὰ τὰ αὐτὰ

rungen

χαὶ πρὸς τὰ αὐτά usw.

unterworfen

ist 895a.

898a, während

(Freilich macht

die Körperwelt

unendlichen

das ἀνώλεθρον

904a noch viel Kopf-

Verände-

zerbrechen.) Ich übersetze also: „‚Eines, das wir über die Seele aussagten, daß sie ehr-

würdiger und göttlicher ist als alles das, welchem seine Bewegung, das Werden zu Hilfe nebmend, die Natur des ewigen Fließens verlieh.“ Von der Ideenlehre aus gesehen ist ἀένχον οὐσίαν paradox, aber nicht eine erstrebte Paradoxie, sondern der alte Sinn von οὐσίχ ist nicht mehr gegenwärtig, so wie 903c εὐδαίμων οὐσία nur Umschreibung von εὐδαιμονία ist. Das fehlende Substantiv zu ἀένχον wird also umschrieben. Die schönen Ausführungen von Jaeger über Sinn und Nachwirkung der Stelle will ich nicht antasten, nur würde ich anmerken, daß, da die Idee des Guten verschwunden

ist, der ursprüngliche Platonismus gar nicht mehr vorliegt, sondern eine Spätform, freilich die historisch wirksame. Da evidente Konjekturen rar sind, muß man jede solche vor Vergessenwerden schützen: ὡς οἴονται (für ὡς οἵόν re) 967a 3 (Apelt) ist wirklich schön.

Polemisches

sum

Epinomisproblem

41

aufgenommen am Ende der Epinomis (991d). Die drei apologetischen Themata des 10. Buches leiten die Götterlehre der Epinomis ein (980 d), das zweite davon klingt auch 99] ἃ nochmals an. Über allen Einzelheiten ist es der gleiche Geist, der die Verbindung herstellt. Gerade das wird aber von sehr sachkundiger Seite bestritten. Der Grund ist der, daß man dem Schein des alten platonischen AreteGedankens in der Schlußpartie der Nomoi, besonders 963e, traute, den

wir zerstört zu haben glauben. einer sorgfältigen Widerlegung.

Die Gegenargumente Vom

bedürfen

aber

Stilistischen sehen wir zunächst

ab. Aber Fr. Müller in seiner stilistischen Untersuchung (5. 12 ff., 67 ff.) und Theiler in seiner Rezension davon haben gesagt, daß die φρόνησις

der Nomoi den idealen Staat konstituiere, daß aber die σοφία Epinomis private Eudämonie in der empirischen Polis garantiere. die Stelle der praktischen gemeinschaftszieligen Vernunft tritt individuell theoretische‘ (Theiler 5. 348). Das halten wir nicht

der „An die für

richtig und unterstützen und verschärfen den Widerspruch von v.Fritz

(a. a. Ο. 5. 2358 ff.). Zunächst ist es nicht richtig, was Müller 5. 12 ff. ausführt, daß die Epinomis ihrer Weisheit nirgends die Beziehung auf den Nomoistaat gebe. Es kommt nur nicht so sehr auffällig heraus. Aber schon im Eingang wird gesagt (973 ab), daß die Untersuchung περὶ νόμων ohne die Weisheit ἀτελές bliebe. Das ist der Gedanke von 960b. Verhüllt war da auf die σωτῆρες hingedeutet, die die σωτηρία bringen sollen. Die Wendung ἄρχων re καὶ ἀρχόμενος ἐνδίκως 976d, die von

der Funktion

S. 69), könnten

des regierenden

Rates

abzulenken

scheint (Müller

wir als unscharf, wie so vieles auch in den

Nomoi,

auf

sich beruhen lassen, wenn nicht sogar Nomoi 643e eine ganz ähnliche

Wendung stünde (ἄρχειν τε x. ἄρχεσϑαι μετὰ δίκης). Aber schlagend ist, daß die Hochbegabten 989cd vermöge ihrer Weisheit und Frömmigkeit die Masse beherrschen und den Kultus regulieren sollen, da sie allein die echten Diener des Göttlichen seien. Das sind aber die Wächter

des

nächtlichen

Rates.

Dessen

ausdrückliche

Erwähnung

am

Schluß der Epinomis ist alsonicht abzuschwächen oder umzudeuten, wie Müller (S. 67f.) tut. Von den Trägern der höchsten Weisheit sollen die Alten die höchsten Ämter bekleiden, die Jungen sollen „ihnen folgen“, d.h. ihre ὑπηρέται sein, wie Nomoi 968a, 964e; „und nächtlichen Rat zu dieser Weisheit aufrufen, indem

wir müssen den wir hinreichend

alle kennenlernen und aufs richtigste prüfen‘. Müller scheint σύλλογον

als Subjekt zu fassen, ἡμᾶς πάντας als Objekt.! Aber daß die GesprächsI πάντας kann auch zu ἡμᾶς gehören, wie ἄπαντες 973a ] und b 5, von den dreien

42

Die

Philosophie der Nomoi

partner vom Rat zugezogen werden, scheint nicht natürlich, wo sie ihn erst begründen. M.s eigenartiger Umdeutung kann ich nicht folgen. Ferner wird auf die Aufgabe des Nomoigespräches, Gesetze zu finden, im allgemeinen hingewiesen 979}, 985c-e, 986c. Gesetze für den Kult der kosmischen Götter und der dämonischen Zwischenwesen erscheinen

988a 5 wie Nomoi 738b ff. und 828aff., Weisungen aus Delpbi wie Nomoi

759c, 738b ff. und öfter. Die Ausdrücke εἰς νόμους ϑέσϑαι und

νομοϑέτης 987 a-b, von Müller S. 16 bemängelt, sind wirklich politisch zu verstehen. Name und Kult des Gottplaneten sind Sache der Gesetzgebung, vgl. 984d 4 und für viele Stellen der Nomoi nur: 904a ol xara νόμον ὄντες ϑεοί und 8904 ϑεῶν, οἵους ὁ νόμος προστάττει διανοεῖσθαι δεῖν. Dies ist aber nur das Äußerlichste zur Widerlegung der Trennung von Epinomis und Nomoi. Das stärkste Argument ergibt sich aus unserer Analyse des ppöwmaors-Begriffes der Nomoi, die sich im Schlußstück als die Frömmigkeit der Epinomis entpuppte. Ist diese Analyse richtig,

dann

muß

als sicher

gelten,

daß

der

„spezifisch

politische

komplexe Aretebegriff““ (Müller S. 69), die platonische Tugendlehre (Theiler S. 348), in den Nomoi nicht mehr existieren. Es darf nicht abgeschwächt werden (Müller S. 13, Theiler S. 348, meine Diss. S. 45), daß die φρόνησις der Nomoi schon 689d und 696c, aber auch 6448 μεγίστη σοφία genannt worden war. Daß am Schluß des 12. Buches der Terminus σοφία nicht vorkommt, ist purer Zufall. Übrigens hieß das höchste Wissen ja auch in der Politeia vorwiegend σοφία (428b ff.), nur selten (431d, 433d) φρόνησις. Schon das macht die Entgegensetzung der Termini bedenklich. Aber ist überhaupt „individualistisch‘* und „„ge-

meinschaftszielig‘‘ ein echter Gegensatz für platonisches Denken?! Die Ideenschau der Philosophen in der Politeia ist ein Akt zwischen Seele und

Sein;

es können

sich

zwar

viele

einzelne

verbinden

und

in der

Erkenntnis fördern, und im richtigen Staat wird der Philosoph selbst wachsen (497 a), gewiß. Aber es ist nicht so, als ob der platonische Mensch nur in der staatlichen Gemeinschaft sein Wesen erfülle. Im Gegenteil, die Philosophen müssen gezwungen werden zu regieren (519c ff.), sie fühlen sich in der Philosopbie wie auf den Inseln der Seligen und entziehen sich der obersten Bürgerpflicht gerne. Die zentrale Frage der Politeia ist ja viel umfassender als die nach dem Staat: gesagt, von Müller 5.67 beanstandet. Aber auch Nomoi 905c 5 σύμπασα ἣδε ἢ Yepovσία von drei bestimmten Personen. ! Ich kann hier dem Widerspruch von Taylor (Plato and the authorship of the Epinomis 5. 14 f.) und von v. Fritz (a. a. Ὁ. 5. 2358) die Berechtigung nicht bestreiten.

Polemisches

zum

Epinomispröoblem

43

περὶ τοῦ μεγίστου ἡ σκέψις, ἀγαθοῦ τε βίου καὶ κακοῦ 578 6. Ganz und gar steht in den Nomoi beste Staatsverfassung und beste private Lebensführung von vornherein schon im Programm nebeneinander: 643e, 645b, 702a und sonst häufig, vgl. etwa 628d, 7144. (Natürlich geht das auf die Parallelität Staat - Einzelseele aus der Politeia zurück, nur

ist der Nomoistaat nicht nach der Struktur der Seele konstruiert.) Es trennt die Epinomis also nicht von den Nomoi, daß zwei Möglichkeiten, ἰδία und δημοσία, nebeneinander stehen (992 cd; selbst in der Politeia, 519c, begegnet diese Antithese). Die lange ethische Ermahnung 726 4--734ἃ ist rein an den Menschen gerichtet; man kann sie aus dem politischen Zusammenhang lösen. Die Theologie des 10. Buches steht keineswegs in engerer Beziehung zum Nomoistaat als die Epinomis. Schließlich, wer will sagen, ob der Exkurs über ‚‚die mensch-

lichen

Dinge‘

(803a-804b)

individualistisch

oder

gemeinschaftsbe-

zogen ist?

Es kommt hinzu, daß an der konkreten Gesetzgebung der Nomoi sehr vieles die Rücksicht auf die fingierte kretische Kolonie vermissen läßt. Es gibt genügend Lehren für richtiges Leben und vernunftgemäße Politik im allgemeinen. Es wird auch öfters von anderen Gründungen gesprochen, z.B. 757 ἃ (ἄλλην re ἄν ποτέ τις οἰκίζῃ). Indieser Beziehung steht die Epinomis den Institutionen der Nomoi viel näher als manches, was in den Nomoi vorkommt. Um ein Beispiel für viele anzuführen: die Theologie des 10. Buches wird Staatsgesetz, aber 948b ff. wird der Eid der Parteien vor Gericht abgeschafft, weil die Menschen

‚‚heutzutage“,

an

glauben,

Götter

anders

sondern

als zu Rhadamanthys’

an die drei Thesen

Zeiten, nicht

der Atheisten,

die im

10. Buch widerlegt waren. Vernunftgemäße Gesetze müssen also den Eid des mythischen Richters fallen lassen (948d). Ebenso wie hier ist an zahllosen Stellen der Nomoi einfach an die empirische Polis gedacht. Auch in folgender Einzelheit kann ich verschiedenen Geist in Nomoi und Epinomis nicht zugeben. Die Masse befürchtet von der Astronomie Atheismus (Nomoi 82la, 966e). Aber Epin. 982cd steht die Masse selbst auf dem Standpunkt der materialistischen Astronomie. Darin sieht Müller (Gnomon 1940 S. 306) eine verschiedene geistige Lage. Aber es kann ja unter den πολλοί viele Anhänger der tradierten Religion und viele Anhänger des Anaxagoras geben (Nomoi 886e, 888e sind die letzteren πάμπολλοι). Andrerseits wird die Befürchtung der Altväterischen auch Epinomis 988a angedeutet.

44

Die

Philosophie

der Nomoi

Wie steht es nun aber mit dem subjektiven religiösen Pessimismus der Epinomis, den Müller (5. 13 ff.) sehr stark herausarbeitet? Vom Leiden am Leben gehe die Epinomis aus (973b ff.); nur wenige erreichten Eudaimonie durch σοφία, und auch sie vollkommen erst im Tode (992b). So bekomme der soplx-Begriff „die dunkle Färbung subjektiven Empfindens“. Die Weisheit solle wenige Begabte ‚von der Last des irdischen Daseins befreien‘. Als Charakteristik der Epinomis ist dies völlig zutreffend, nur darf man es nicht gegen die Nomoi wenden, deren Glaube (πίστις 966c) sich als identisch mit der Weisheit der Epinomis erweist. Die Apologetik des 10. Buches, Apodeiktik und priesterlicher Zuspruch zugleich, will den Menschen, der sich hoffnungslos der Gewalt der Materie und des Zufalls preisgegeben sieht und die Götter in seinem Leben nicht findet, den universalen Seelen-

zusammenhang

des göttlichen Kosmos sehen lehren, damit er, durch

sein Wissen ins vollkommene

Ganze versetzt, das Leiden des irdischen

Lebens und das scheinbare Glück der Bösen richtig würdige als Teilerscheinung und an göttlicher Fürsorge und Rechtsordnung nicht ver-

zweifle. Der Höhepunkt dieser Theodizee liegt in dem Abschnitt 903b-905d. Nicht anders als in der Epinomis wird der Einzelne hier emporgerissen zur Glückseligkeit in der Schau des kosmischen Ganzen, nicht anders erreicht er auch hier durch Tugend,

das ist aber durch

Weisheit, erst als vom Körper befreite Seele das Ziel dieser Glückseligkeit (vgl. 904e 1: μετέβαλεν τόπον ἅγιον ὅλον, μετακομισϑεῖσα εἰς ἀμείνω τινὰ τόπον ἕτερον mit 9864, 992b). Wer den kosmischen Zusammenhang nicht kennt, weiß nichts von Glückseligkeit und ihrem Gegenteil (905c). Die wenigen Gerechten werden im Jenseits, d. ἢ. als Seelen im räumlichen

Kosmos,

vollkommen;

Nomoi

959b ff. deutet

das

an:

τὸν δὲ ὄντα ἡμῶν ἕκαστον ὄντως. Das Attribut der Ideenwelt, ὄντως ὄντα, kommt nun der aufnehmenden Seele zu, wie die räumliche Kos-

moswelt die Würde der Ideenwelt geerbt hat. Epin. 986d, 992b führt das weiter aus. Ich kann da nicht mit Theiler (a. a. Ὁ. 5. 350) einen Gegensatz sehen, sondern nur Explikation. „Ethisch gerichtet“ ist die Nomoistelle der Formulierung nach, aber das sind ja innerlich aus-

gehöhlte Scheinformulierungen. Wir dürfen also folgern: der bloße Sachverhalt ist in beiden Werken ebenso derselbe wie das subjektive Pathos und die Leidenschaft priesterlicher Mahnung.! Ist es ferner möglich, das Leiden am Dasein und 1 Zu dem pathetischen Ausruf 9928, den Müller (5. 65, 73) allein für genügend hält, die Unechtheit zu beweisen, vergleiche man Nomoi 886e 6: τί οὖν δή; τί

Polemisches

zum

Epinomisproblem

45

die Erlösungsbedürftigkeit stärker auszudrücken als durch das Wort, daß die menschlichen Dinge großen Ernstes nicht wert sind (803b ff.), daß

der Mensch

Weg

zu

den

„seliger

nur eine Marionette

Göttern

Ernst‘

und

zur

der Götter ist; und ist etwa der

Eudaimonie

das kultische ‚Spiel‘ und

ein

anderer,

die Bildung

wenn

als

gezeigt wird?

Diese Stelle gehört zur Behandlung der elementaren Bildung, nur deswegen ist die erhabene Wissenschaft ihr noch fern. Aber der musische Kultus befreite auch 653d von der Lebensnot, nicht anders als παιδιά und εὐδαιμονία zusammengesehen sind Epin. 9804. Die völlige Kon-

formität der Auffassung ist mit Recht schon von I. Bruns! behauptet worden, der sie nur zu der nicht haltbaren Zerteilung der Nomoi verwertete. Er hat auch (5. 105) auf eine Einzelheit hingewiesen, die kennzeichnend ist: dem μακάριον μάϑημα der Epinomis (991d) entspricht die μακαρία σπουδὴ der Nomoi 803 c, neben der erlösenden Weisheit steht die erlösende Musik. Wir fügen εὐδαίμονι χορεία 991b und ὕμνοις καὶ εὐδαιμονία 980} hinzu.? Die

Summe

von

allem ist, daß

wir den

von

F. Müller

und

Theiler

nach dem Vorgang von Jaeger (SB. Berliner Ak. 1928, 304) aufgestellten Gegensatz in der geistigen Verfassung der Nomoi und der Epinomis

nicht gelten lassen, sondern die Werke nur zusammen sehen können. Was

beide Gelehrte über die Epinomis, ihren Gehalt und ihre Form,

ausgesagt

haben,

bleibt

darum

doch

erhalten

als treflende

Inter-

pretation. Nur fiel das volle Licht dieser Betrachtungsweise immer auf

die Epinomis, niemals auf die Nomoi, die die Stellung des vollkommenen

Vorbildes

Zwitternatur

genossen,

darum

nicht

und

deren

eigentümliche

berücksichtigt

keiten der Epinomis liegen in den

Nomoi

wurde.

philosophische

Alle

Erstaunlich-

schon vor, nur oft verhüllt

unter dem Schleier andersklingender Formulierung. Nachdem wir sie bloßstellten, wurden wir der geistigen Gemeinsamkeit zwischen der großen Staatsschrift und dem kleinen angehängten Protreptikos zur Weisheit inne. Die Trennungslinie liegt philosophisch nicht zwischen Nomoi

und

Epinomis,

sondern

vor den

Nomoi,

in denen

Eidos

und

λέγομεν; τί χρὴ δρᾶν ἡμᾶς; das ist derselbe missionarische Eifer gegenüber den Atheisten. Welch ateınlosesPathos vollends atmet die Stelle 904 ε ff.! 1 Platos Gesetze vor und nach ihrer Herausgabe durch Philippos von Opus S. 100 ff. 2 Der Ideenkosmos heißt Pol. 526e tiefsinnig τὸ εὐδαιμονέστατον τοῦ ὄντος. Von ihm übertrug der Timaios das Prädikat auf sein Abbild: εὐδαίμονα ϑεόν 34b. Auch nachdem

das Urbild verschwunden

ist, darf der sichtbare

Kosmos

dies Prädikat

tra-

gen, Epin. 979a εὐδαίμονι τύχῃ. Nomoi 903 ς εὐδαίμων οὐσία (beides Umschreibungen von εὐδαιμονία), ebenso aber alles, was zu ihm hinführt.

46

Die

Philosophie

der Nomoi

Arete, bis dahin die Grundpfeiler des platonischen Philosophierens, entmachtet und unmerklich von neuen Gehalten verdrängt sind. Wenn die Nomoi die Tugend als Leitziel ihres Staates aufstellen, so wird uns wunderlicherweise erst am Ende ihres 12. Buches enthüllt und erst im

Anhang weiter expliziert, was diese Tugend eigentlich ist. Alles, was die

Epinomis

über

die

Nomoi

hinaus

ausführt,

dürfen

wir

also

zur Erklärung der Nomoi heranziehen.! Ja, die richtige Erfassung des Wesens der Epinomis, wie sie durch Fr. Müller und Theiler gewonnen ist, setzt uns allererst in den Stand, manche eigentümlichen

Züge der Nomoi

zu verstehen.

Wenn

die Epinomis

als Protreptikds

sich erweist, nach der Formulierung Jaegers,? so werden wir, statt einen Kontrast zu dem nur scheinbar um das Tugendwissen im Sinn der Politeia zentrierten Nomeidialog zu statuieren, vielmehr auf das starke

protreptische Element in den Nomoi aufmerksam und werden uns Gedanken darüber zu machen haben, wie es sich mit dem gesetzgeberischen verbindet. Das soll später geschehen. Es gibt natürlich noch mehr gemeinsame Züge zwischen Nomoi und

Epinomis als hier aufgewiesen wurden. Aber soweit sie sich als Nachahmung eines sekundären Autors erklären lassen, können sie hier unerwähnt bleiben. Einige Einzelheiten seien nachgetragen. Solmsen (Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik 5. 138; berechtigter Widerspruch, nur nicht glücklich formuliert, bei Taylor a. ἃ. Ὁ. 5. 85 Anm. 1) hat zu Epin. 976e den Begriff einer irrationalen τύχη, die nicht ϑεία τύχη ist, als für den alten Platon unmöglich gebrandmarkt. Aber 991d 8 und 992a 2, nebeneinandergestellt, zeigen, daß τύχη, auch ohne Yeix genannt zu sein, geradezu für ϑεός substituierbar ist. So ist sie auch hier 1 So die eudoxische Sphärentheorie, die Nomoi 821 ff. angedeutet worden war, die Dämonenlehre, die die Theorie gibt zu den ständig in den Nomoi spukenden Dämonen, ohne daß die systematisierende Einteilung in drei Elementarklassen eine Rolle spielte. -Daß die Tugend vom τόπος abhängt, ist für die Wissenstugend der Politeia grotesk zu denken, aber Nomoi und Epinomis nehmen den Gedanken aus guter ionischer Tradition auf, Nomoi 747d-e, Epinomis 987 d-e. „„Der göttliche Anhauch“ 747e4 ist nicht

geistig wie Pol. 499c, sondern, da die Götter kosmische Gewalten und die Dämonen, denen der τόπος durch das Los zugewiesen (lt. Epin. 984d ff.), sehr real zu verstehen.

ist, Äther-,

Luft-

und

Wasserwesen

sind

2 Aristoteles 5. 147. Abhängigkeit der Schrift von Aristoteles ist undenkbar, wenn sie

zu den Nomoi gehört. Das gilt auch von der ohnehin sehr unsicheren Hypothese Jaegers, daß die Epinomis den Äther von Aristoteles übernommen habe, desgleichen von den Argumenten Einarsons (mir nur durch Müller [Gnomon 1940, 290] und v. Fritz [a.a.O. S. 2366] bekannt), die allein offenbar nicht zwingend und ausreichend sind. - Paviu

(vgl. bei M., Gnomon 1940, 290, 305) rückt die Schrift in das letzte Viertel des 4. Jahrh.

Polemisches

zum

Epinomisproblem

47

die im göttlichen Dienst stehende Macht. (Natürlich ist 9% = oder, denn μᾶλλον

weist zurück

auf die ἐπιστήμη).

Nomoi

709 ab

gibt es zuerst

eine irrationale τύχη, die dann stillschweigend zur Helferin des Gottes gemacht wird. Eher würde ich das als unklar beanstanden. Auch sonst ist konsequente Durchführung fraglich: 877a ist οὐ παντάπασιν καχὴν τύχην... καὶ τὸν δαίμονα eindeutig, aber die verhinderte ἐπάρατος τύχη

καὶ συμφορά doch schwerlich anders als irrational und sinnlos. Pasquali, Le lettere

tiven

di Platone,

Dämon,

in

Firenze

Auswirkung

1939,

des

S. 151,

vermutet hier einen

Dualismus

der

guten

und

nega-

bösen

Weltseele (896e ff., worüber unten). Das ist mir schon der Formulierung nach unwahrscheinlich. Nomoi 835c 8 steht die eigentümliche Wendung λόγῳ ἑπόμενος μόνῳ μόνος. Der ethische Mahner steht allein unter den Mitbürgern, wieso ist aber der Logos allein? Sollte hier der gleiche Gedanke vorliegen wie Epin. 986d 3 μεταλαβὼν φρονήσεως εἷς ὧν μιᾶς, nur daß die Angleichung schon im irdischen Leben anfınge? Es wäre die Parallele zu jener Umoder Verbildung des Motivs des ἕν aus der Ideenlehre (vgl. Theiler, a.a. Ο. 5. 351). Oder es handelt sich um eine Nachbildung von Lysis 214d 5 ὁ ἀγαϑὸς τῷ ἀγαϑῷ μόνος μόνῳ φίλος, die die Sinnhaftigkeit des

Vorbildes nicht erreicht. Epinomis 980d wird an die Widerlegung

der Atheisten erinnert:

„Ihr habt doch Aufzeichnungen gemacht?“ Daran ist nicht nur bemerkenswert das Herausfallen aus der Szenerie der Nomoi,! sondern

vielmehr,

was

die Stelle

geistig

mit den

Nomoi

verbindet: daß, wo

es um den zentralen Beweis geht, nicht auf die ὁμολογία über die Sache, sondern

auf Geschriebenes

Ausführungen

rekurriert wird,

das

nach

den

tiefsinnigen

des Phaidros (275a, 276b ff.) für den Dialektiker nur

untergeordneten Wert hat. Genau so gilt nämlich Nom. 89] ἃ das geschriebene Gesetz, die geschriebene Mahnung, die vom Unbegabten wiederholt gelesen werden kann, als wesentliche Hilfe der Erziehung.

Wir sind hier also genau so weit von dem echten Wissen entfernt wie in der Epinomis. (Ganz anders Philebos 24e 1, Gorg. 513c 8, vgl. auch Epist. VII 3444.) Die

krasse

und

wiederholte

Unterstreichung

der

Wahrheit

sciner

Ausführungen durch den Hauptunterredner hat Theiler (5. 352 Anm. 2) an mehreren Epinomisstellen als schülerhaft gerügt. Aber ganz gleich1 Jaeger,

Aristoteles

Epinomis abzutrinnen.

26 A. 1.

Es

ist eine Einzelheit,

die

allein

nicht

genügt,

die

48

Die

Philosophie der Nomoi

wertig ist das Selbstlob des Atheners

Nomoi

968b 7 ff., 715ς 1; dem

entspricht die Selbstüberzeugtheit Nomoi 897 d 5 (προσλαμβάνειν heißt hinzunehmen, niemals helfen; nur der Genitiv ist sehr ungewöhnlich)

und der Dogmatismus 965c, dem Kleinias gläubig folgt, und 969a 2: „mein

Dogma“.

Wie

weit

entfernt

ist auch

das

von

dem

ironischen

Infragestellen und den immer wiederholten Vorbehalten des Sokrates! Epinomis 976e5:

„ich muß den Gott nennen“, καίπερ ἄτοπον ὄντα καί

πως οὐκ ἄτοπον αὖ. Das tadelt Müller 5. 23 als Mangel innerer Distanz und Widerspruch zu Nomoi 716c 4. Aber das Denken der Nomoi ist auch darin nirgends streng und einheitlich: die Menschen sind χτήματα der Götter 906a (was fast Sklaven heißt), aber die Götter sind die ersten χτήματα des Menschen noch vor der Seele 726a (μετὰ ϑεούς von England mit Unrecht gestrichen, vgl. 727a). Die Götter vernachlässigen uns nicht, wird oft gesagt. Aber auch wir sollen die Götter nicht vernachlässigen (Epin. 992a, 988 4), sondern für sie sorgen.

Die

Distanz ist an allen diesen Stellen der Nomoi und der Epinomis gleich gering. - Der Ausdruck: „seltsam und doch wieder nicht seltsam‘, der auch 973b steht, dient ähnlich auch Nomoi 767a, 776c dazu, zwei-

seitige oder zweifelhafte Sachverhalte einzuführen. Die Differenz in der Zahl der Elemente - in der Epinomis (θ98] ff., 984c) fünf, in den Nomoi (889b ff.) vier, im Timaios (32b, 53c) vier -ist gegen die Zugehörigkeit der Epinomis zu den Nomoi angeführt worden. Es ist aber zu beachten, daß der Widerspruch zu den Nomoi scheinbar ist, denn nur polemisch reden sie von den von anderen angenommenen vier Elementen. Trennung der Epinomis von den Nomoi folgt aus der Differenz nicht. Die Nomoi mit der Epinomis

zusammen stehen aber auch sonst für sich, da ist diese doxographische Besonderheit noch die äußerlichste und harmloseste Abweichung von den anderen Werken Platons. Sie stünde neben der Differenz

über

die Richtung des Fixsterohimmels (Timaios 36c nach

rechts, Epinomis 987b nach links), die freilich mit Boeckh (Untersuchungen zum kosmischen System des Platon S.29) leicht durch verschiedenartigen Standpunkt erklärbar ist. Daß es zur Annahme dieses

von fort

fünften

Elementes

kommen

konnte,

liegt nahe,

nachdem

vier

den fünf stereometrischen Körpern des Timaios (55a-56c) somit den vier Elementen gleichgesetzt wurden und der fünfte

(Dodekaeder) leer ausging. Warum soll nicht die Folgerung von NomoiEpinomis

zuerst

gezogen

worden

sein,

wie

Xenokrates

fr. 53

Heinze

bestätigen würde? Der Äther ist 984c der Rangordnung nach an zwei-

Polemisches

sum

Epinomisproblem

49

ter Stelle, 98lc aber, wo es auf die Rangordnung nicht ankommt, an fünfter Stelle. Aus letzterem hat Jaeger (Arist. 8. 146) geschlossen, die Epinomis übernehme den Äther als πέμπτον σῶμα (wie er später bei den Doxographen heißt) aus Aristoteles’ περὶ φιλοσοφίας, wo er zuerst verwendet sein müsse, und füge ihn in die Elementargötterklassen des Timaios (39e) ein. Das scheint nicht plausibel. Denn erstens ist das Vorkommen des Äthers in περὶ φιλοσοφίας nicht sicher (vgl. die Bemerkung bei Theiler, Zur Geschichte der teleol. Naturbetrachtung, Zürich 1924

S.83), zweitens liegt in πέμπτον 98] c gar nichts Pointiertes, wie es bei Übernahme eines Terminus sein müßte, sondern es ist bloß die Zahlenstelle.

Drittens aber ist der Ausdruck ‚‚Elementargötterklassen“ für Ti-

maios 39e falsch; es handelt sich um Sterne, Vögel, Fische, Erdbewoh-

ner. Das steht nicht auf einer Stufe mit Epinomis 984c. Die von Jaeger behauptete Übernahme und Umbildung ist also zu wenig begründet. Was

die in den drei

mittleren

Elementen

hausenden,

dem

πάϑος

unterworfenen Dämonen der Epinomis (984d ff.) angeht, so muß man zugeben, daß sie in den Nomoi nicht offen vorkommen, daß man sie vielmehr nachträglich an den zahlreichen Stellen, wo Dämonen überhaupt genannt werden, hinzuverstehen muß. Aber das ist ja auch sonst so, z. B. die Theologie des 10. Buches muß nachträglich in alle Äußerungen über die Götter hineingesehen werden. Die Elementardämonen

stehen dann neben anderen, volkstümlichen, wie die Stern-

götter neben den überlieferten Göttern. Die Macht der Volksreligion war so groß, daß selbst die Politeia, die ein höchstes Prinzip zum Gott macht und den überlieferten Gottesbegriff kritisiert, doch den Göttern des Volkes Verehrung zugestehen muß (427 b,c). Auch der Phaidros läßt sie gelten, wenn er auch eine Kritik an ihrem Begriff andeutet (246c). Der Timaios läßt sie neben den Sterngöttern bestehen in bloß äußerer

Anerkennung

der

Tradition,

obwohl

„wahrscheinliche

und

zwingende Beweise‘ fehlen (40 ff.), aber er läßt ihnen praktisch keine Funktion.

Ganz

wie dort heißt es auch 886c,

man

könne den Alten

keine Vorwürfe machen über ihre Theologie. Praktisch spielen die Volksgötter aber die größte Rolle im Nomoistaat, ja selbst der Gottesbeweis verschmäht die Hilfe der Tradition nicht (887 c ff.). Das Nebeneinander dieser Götter und der Sterngötter ist allerdings überhaupt nicht ausgeglichen, und die Diskrepanz wird wirklich empfindlich, die in Politeia und Timaios nicht wirksam wurde. Das fügt sich in das allgemeine Bild der Nomoi, wie wir es zeichnen. Epinomis 984 ἃ gleicht völlig der Timaiosstelle, nur daß jede Kritik unterbleibt. 4

Müller, Nomoi

50

Die

Philosophie

der Nomoi

Ein völlig heterogener daluwv-Begriff scheint 732c vorzuliegen: der δαίμων eines jeden“ c 5 ist der mythische Führer von Phaidon 1074 und von Pol. 617el, der jetzt real geworden ist. (Denn der oberste Seelenteil, der im Timaios 90a δαίμων heißt, kann hier doch nicht gemeint sein.) Die schwierige Stelle erklärt sich einleuchtend so: ὁ 5 Gegensatz zu εὐπραγία; der δαίμων (jetzt pluralisch) leistet gegen „‚unüberwindliche und steile Schwierigkeiten durch Aktivität Widerstand‘‘. Pasqualis (Le lettere di Pl. 151) Annahme guter und böser Dämonen hier und 877a ff. ist nicht wahrscheinlich, sondern an beiden

Stellen ist der persönliche δαίμων anzunehmen. (Die ethische Mahnung zum Maßhalten

kehrt

wieder Menexenos 248a,

hier wie dort

von

Gehaltenheit des im Sein Geborgenen, für den die Übel keine

der

Übel

sind, verschieden.)

Nun gründet sich freilich die Position von Fr. Müller und Theiler zur Hälfte auch auf stilistische Argumente. Die Dissertation von M. geht aus von dem primären Gefühl völliger Verschiedenheit der Formgebung in Nomoi und Epinomis und will dieses Gefühl dann analytisch verifizieren. Es sei mir erlaubt zu gestehen, daß ich zwar stark die völlige stilistische Verschiedenheit zwischen Nomoi und Epinomis einerseits und den vorher liegenden Werken Platons andrerseits empfinde, daß ich aber nach langem

Umgang

den

Unterschied

zwischen

Nomoi und Epinomis auch hier nicht empfinden kann. So schließe ich mich den schon von v. Fritz (a. a. Ὁ. 5. 2357) geäußerten Zweifeln an. Alle Ungeheuerlichkeiten des Epinomisstiles, wie sie M. und Th. feinfühlig gezeigt haben, sind zuzugeben, aber richtet man einmal die Schärfe des synkritischen Blickes auf die Nomoi, statt sie nur als Folie für den Nachahmer zu nehmen, so wird man gleichartige und gleichwertige Ungeheuerlichkeiten finden. Eine Probe solcher Betrachtung wird im 2. Kapitel dieser Arbeit gegeben werden.

Für unsere

Unter-

suchung über die Philosophie der Nomoi genügt uns die sachliche Übereinstimmung der Epinomis.

Die bei Diog. Laert. III 25, 37 und Suidas s. v. Philippos erhaltene antike Überlieferung, die Philippos von Opus zum Verfasser der Epinomis

macht,

könnte,

auch wenn

es nicht andere antike Meinungen

gäbe (Diog. Laert. III 68), uns nicht veranlassen, ein aus dem Werk selbst gewonnenes Urteil preiszugeben (vgl. die Diskussion bei v. Fritz ἃ. ἃ. Ὁ. S. 2360 ff.). Wir stellten den Verfall des platonischen Tugendsystems in den Nomoi fest und behielten neben anderen Unklarheiten, die wir als

Sinn des unfreiwilligen

Unrechts

51

Symptome dieses Verfalls werteten, eine große Schwierigkeit zurück: die φρόνησις war συμφωνία geworden, nämlich der Triebe und des Logos (689 d), sie war aber andrerseits am Schluß der Nomoi als Wissenschaft erkannt worden. Wie verträgt sich das miteinander? Wie verhält sich der Gegenstand dieser Wissenschaft zu dem ethischen Phänomen? Beherrscht dieses Wissen das menschliche Handeln? So war es ja bei dem Ideenwissen,

das die Politeia klassisch entwickelte.

Das

Wissen

der

Idee des Guten ordnete sich jegliches Sachwissen unter, aber es lenkte auch das menschliche Handeln mit Absolutheit. Das Böse war nichts anderes als Verschwinden oder Verdunkelung dieses Wissens. Das höchste Objekt des Wissens, alles theoretisch Gewußte unter sich lassend, übte eine die Seele überwältigende

Macht

aus, die nur versagte,

wenn es selbst aus dem Blick entschwunden war. Anschaulich dafür war etwa das Phänomen des Tyrannen, dessen Seele τυραννουμένη war (Politeia 577e): er tut nicht, was er will, d. h. der Logos ist nicht da, auf Grund dessen er allein wollen kann, sondern die Triebe

herrschen. Von diesem Ideenwissen galt der Satz, daß niemand freiwillig Unrecht tut (Protagoras 345e), daß also das sittliche Unterliegen eine Unwissenheit ist, die sittliche Beherrschung aber ein Wissen (Protagoras 358c f., Menon 77b 8). Das wahre Wissen geht dem Menschen nur

unfreiwillig verloren (Pol. 413a-c), indem er es vergißt oder sich bereden oder sich von Schmerz und Lust überwältigen läßt. Die Triebe waren

gebändigt

von

der

geistgetragenen

diese zerbrochen ist, sind Tapferkeit

und

Tugendeinheit.

Besonnenheit

worden und zu δημόσιαι ἀρεταί herabgesunken,

Nachdem

geistfrei ge-

Nomoi 968a, oder, wie

die Epinomis (992c 7) sagt, zu pücıs-Tugenden.! Ob man sie hat oder nicht, hängt nicht vom

Wissen

ab; ohne

sie ist aber auch die höchste

Wissenstugend wirkungslos. So hieß es ausdrücklich Nomoi 696} f. Aber schon dort kommt man über den Widersinn nicht hinweg, daß der Wissende mit seiner συμφωνία noch die gucoıc-Tugend der Besonnenheit nötig hat. Man sieht, wie hier der Verfall seine krasseste Wirkung tut. Wenn es Tugend der Selbstbeherrschung gibt, die im Bereich der 1 Der Satz könnte irreführen, aber ϑεῖοι und σώφρονες bedeutet die φῤόνησις (Nom. 710a), τῆς ἄλλης ἀρττῆς bedeutet eben die vulgären Tugenden. φύσει hat genau den Sinn wie 975b 6, gegensätzlich zum Wissen. Derselbe Gegensatz Nom. 875b (vgl.

auch Epin. 989b). Da ist πρὸς δὲ τούτοις ὅσα uadnuarog

ἔχεται usw. merkwürdig

unklar, wo doch σώφρονες schon das Wissen in sich schließt. Das ist aber nur die übliche Unpräzision: 60x ἔχεται kann ja allgemein auf die ἀναγκαῖα μαϑήμχτα 967e gehen. 4

52

Die

Philosophie

der Nomoi

φύσις verbleibt, in welchem Sinn heißt dann das astronomische Wissen

höchste Tugend und συμφωνία ἢ Etwa als ein zweiter Weg, selbständig und

in.der Absolutheit

dem

Ideenwissen

gleich? Aber die geistfreie

Tugend wird für sie vorausgesetzt. Es scheint also, daß etwas logisch Unhaltbares hier doch gehalten werden soll. Streng genommen könnte der Satz von der Unfreiwilligkeit des Unrechts nicht mehr gültig sein. Denn das hellste Wissen ist nicht mehr ausreichende

Bedingung

für Vermeidung

des

Unrechts.

Das

zeigen

denn auch folgende Stellen: „Du möchtest nicht einen Nachbarn haben“ - heißt es 696c - der wissend und im Besitz der Harmonie von Geist und Trieben ist, aber doch sich nicht beherrschen kann. Von der Unlogik abgeseben, heißt das: es kann sein, daß einer das Wissen tat-

sächlich besitzt, daß aber die φύσις dem Wissen nicht folgt. Dasselbe ergibt sich 689a: „Wenn einem etwas schön oder gut zu sein scheint und

er es doch

nicht liebt, sondern

haßt, das schlecht und

unrecht

Scheinende aber liebt und begrüßt‘, das ist διαφωνία. Hier ist also die Spaltung schon ohne die niedere Tugend vorhanden, so daß die Unlogik der vorigen Stelle wegfällt; abgesehen davon ist der Sinn derselbe.

Die

Formeln

Politeia, nämlich

aus

der

der Vergleich

andersartigen der Triebe

ethischen

Situation

mit der Volksmasse

der

in der

Stadt, können an dem Phänomen nichts ändern. Der nächste Satz ist eine Wiederholung, in der aber die Formulierung ὁπόταν καλοὶ Ev ψυχῇ λόγοι ἐνόντες μηδὲν ποιῶσι πλέον, ἀλλὰ δὴ τούτοις πᾶν τοὐναντίον besonders deutlich ist für das, was wir suchen.! Das Wissen, das, obwohl in voller

Kraft vorhanden, doch die Seele nicht notwendig lenkt, ist eben nicht

mehr totale Entfaltung der Seelenkraft, die durch eine Hinwendung zum außerweltlichen Guten „brauchbar und nützlich‘ wird (Pol.518e), sondern es ist ein bloß intellektuelles Sachwissen, eine Lehre. Die Frömmigkeit beruht auf Beweisen, so leidenschaftlich der Eifer ist, der

für sie wirbt. Neben der bloß intellektuellen Einsicht sind die irratio-

nalen

Seelenkräfte

eine selbständige

Macht.

Das

kommt

sehr

klar

! Es läßt sich doch nicht leugnen, daß der Satz in dem Bestreben, die Parallelität Seele- Staat (die ja, nebenbei

bemerkt, keinen

konstitutiven Sinn mehr hat,

wie in der

Politeia, sondern nur noch veranschaulichenden) recht berauszubringen, doch gedanklich schlecht geraten ist. Bis ταὐτόν ist alles in Ordnung, aber lästig ist, daß mit καὶ δὴ καὶ die erste Seite des Vergleichs nochmals zur Sprache kommt, die aber doch nicht

reinlich durchgeführt wird, sondern es wiederholt sich die Parallele πόλεως ἑνὸς ἑκάστου.

Ebenso schwer

gere in der Gedankenführung

re καὶ

ist die Unlogik 714a 2-8 und 628d 5; eine nicht gerin-

des Satzes 6894 6—e 1. Hier ist ἀλλὰ...

ἀμαϑαίνων

geradezu töricht. Es geht nicht an, daß solche Dinge übergangen werden und die Gedankenführung der Nomoi als untadelig gilt.

Sinn

des

unfreiwilligen

Unrechts

heraus 875a ff.:! gesetzesfreie Herrschaft

53

einzelner ist schlechter als

Herrschaft des Gesetzes, weil kein Mensch imstande ist, „das dem Menschen Nützliche in politischen Dingen zu erkennen, und, wenn er es erkannt hat, das Beste immer tun zu können und zu wollen“. Mit

dem Besten ist ein allgemeines Prinzip gemeint: τὸ γὰρ κοινὸν συνδεῖ, τὸ δὲ ἴδιον διασπᾷ τὰς πόλεις.2 aber bei diesem (τούτῳ τῷ δόγματι b 4) kann der Mensch nicht bleiben, sondern die ϑνητὴ φύσις (b 7) treibt ihn, persönliche Vorteile zu suchen. Er hat von Rechts wegen nicht die Entschuldigung der Unfreiwilligkeit, denn er hat das Gute ja gewußt. Hier haben wir den uns in Theorie und Praxis so geläufigen Tatbestand: das

Gute

wissen,

aber

es nicht

wollen

und

tun;

es gibt

sogar

die

Formulierung, die der apostolischen gleicht: das Gute wollen, aber aus Trägheit nicht tun (902e 8 ff.). In der Philosophie der Politeia gab es

diesen (schon Eurip. Hipp. 381 genannten) Tatbestand nicht.” die

menschliche

richtigen bracht.

Natur

Handeln Jetzt

wurde

gelenkt

ist sie dem

dort

durch

höchstes

zu

ihrer

eigenen

und

Wissen feindlich;*

oder

Denn

Wissen

Erfüllung

wenigstens

ist

zum

geder

1 In der Interpretation all dieser Stellen hat Ferber, Der Lustbegriff in Platons Gesetzen, Neue Jahrb. 1913, 5. 338 ff., richtig gesehen, noch viel mehr, als ich in meiner Diss. 8. 44 Anm. 1 zugegeben habe. 2 In der Politeia (412de) waren die Wächter gerade puAaxıxol τούτου τοῦ δόγματος, d.h. des höchsten Wissens (vgl. auch 462bc), also muß sich hier die Natur des Wissens‘ geändert haben. In der Politeia stand auch hinter diesem Prinzip das absolute Gute. Die Wächter müssen sich vor Verlust des Wissens davon hüten (413a-c). Was dem Staat und ihnen selbst zugleich nützt (412de), ist ja das Gute, auf das die Seele sich unmittelbar gerade auch in der konkreten Situation richtet. Hier, Nomoi 875a, richtet sich das Denken nicht in unmittelbarem Innewerden eines Eidos auf den Nutzen der Stadt, sondern auf den allgemeinen Satz, „‚daß dem politischen und wahren Wissen, nicht am Privaten, sondern am Gemeinsamen liegen muß“, ein Lehrsatz, den man

intellektuell erfassen kann (ἐν τέχνῃ γνῶναι b 2), wenn auch schwer. Ein so erfaßter Lehrsatz ist kein seelenbeherrschendes Wissen mehr. Immer wieder werden in den No-

moi Lehren, Grundsätze eingeschärft, die man begreifen soll. Die gewaltige Bedeutung der Gesetze und ihrer Vorreden hängt damit zusammen, von denen die Politeia gar nichts erwartet (427a). ® Darum muß

diese Philosophie dem Rückblickenden als intellektualistisch gelten,

wie sie es bis heute,

bis in die „Ethik“

von Nicolai

Hartmann,

gilt.

4. Ja, sie erscheint wie ein urböses Prinzip der Auflehnung (70]ὁ): τὴν λεγομένην παλαιὰν Τιτανικὴν φύσιν ἐπιδεικνῦσι καὶ μιμουμένοις. Das gewinnt freilich keine grundsätzliche Bedeutung. Zu vergleichen ist auch οἷστρός τις ἐμφυόμενος ἐκ παλαιῶν καὶ ἀκαθάρτων... ἀδικημάτων, περιφερόμενος ἀλιτηριώδης 854b. Verwandte Motive aus anderen Gedankenkreisen sind herangezogen, ohne philosophisch einverleibt zu werden. Es kann sogar (nach 927a ff. und 865 ἃ fl.) die Seele des Toten auf das Diesseits wirken -- ein Seelenbegriff, der zur Tragödie gehört, aber nicht zur platonischen Vernunftseele. Er kommt denn auch sonst nur noch im sicher unechten 2. Brief (311 b)

und im verdächtigen Menexenos (248b) vor.

54

Die Philosophie der Nomoi

sterbliche Teil der Menschenseele ein selbständiger Faktor geworden. Seine

Bändigung

ist aber

Sache

der

δημόσιαι

aperat,

die

sich

vom

Wissen gelöst haben. Aber dieses Wissen hieB doch auch Tugend (τὸ μέγιστον ἀρετῆς Epin. 989a)? Man muß hier sehen, daß der entscheidende Schritt zur Scheidung der ethischen und der intellektuellen Tugend schon getan ist, die Aristoteles dann vollenden wird. Dieser Scheidung entspricht ein Ausdruck wie: geeignet als Wächter

μαϑημάτων δυνάμεσι καὶ τρόπων ἤϑεσι καὶ ἔϑεσιν 968d (vgl. Epinomis 989}, 992cd). Ethos gehört in den Nomoi oft zur Physis, nicht zum Geist, wie 963e 5 und viele andere Stellen beweisen.! Das Ethos hatsich emanzipiert, wie notwendig, nachdem die Ideenlehre gefallen ist. Aller-

dings ist die Scheidung nicht reinlich. Name und Charakter der συμφωνία, die das Wissen aus dem Zusammenbruch des Tugendsystems übernommen hat, widersprechen der Tatsache, daß das Wissen nicht mehr notwendig die Triebe beherrscht, und machen die Situation staunenswert unklar, so daß die alte Tugendlehre immer wieder in die

Nomoi bineingesehen werden konnte. Dies Ergebnis ist wahrhaft erstaunlich und wird unglaubhaft erscheinen. Aber wiederholte gewissenhafte

Überprüfung

bestätigt es immer

wieder.

Es ist, wie wenn

ein

Gebäude eingestürzt ist und die Bewohner sich in den Trümmern wieder einrichten, obwohl Steinblöcke den Weg versperren und riesige Löcher in den Wänden klaffen. Der Trennung von Wissen und Tugend, wenn wir sie einmal als reinlich annehmen, entspricht die mehrfach wiederkehrende Beschreibung des ethischen Versagens. Die Atheisten (886 ab) sind verdorben (διαφϑορᾶς für διαφορᾶς a 9 evident Cornarius, vgl. 888 a5; die gleiche

Korruptel 648 4) erstens durch sittliche Unbeherrschtheit, zweitens durch ἀμαϑία τις μάλα χαλεπὴ δοκοῦσα εἶναι μεγίστη φρόνησις, d.h. durch das fehlende

Wissen über die Kosmosgötter.

Atheismus

oder falsche

Theologie treiben den Menschen (885b) gegen seinen Willen zu gottlosem Tun und Reden. Ferner 902a ff.: daß die Götter sich nicht um die

Menschen

kümmern,

müßte

zur

Ursache

haben

entweder

das

Nichtwissen über die Aufgabe oder sittliche Schwäche. (Die Formulierung a9ff. ist sehr instruktiv für die Ohnmacht des intellektuellen Wissens: sie wissen, daß anderes besser ist als was sie tun, aber 1 Da eine gleichartige Formulierung auch Epist. VII 343 e 3 sich findet (εἰς τὸ μαϑεῖν καὶ τὰ λεγόμενα ἤϑη) muß man a priori schließen, daß auch dort die Ideenlehre nicht mehr gilt. Das ist sehr überraschend im Hinblick auf die übliche Auffassung der Erkenntnislehre 34]ς ff. Aber diesem Problem können wir hier nicht nachgehen.

7,905 und συμφωνίχ

55

trotzdem tun sie das Bessere nicht.)! Schließlich 934a: Diebstahl oder andere Vergehen werden erklärt durch ἄνοια (Fehlen des νοῦς wie 688ε) oder

durch. ἀκράτεια.

An

diesen

Stellen

sind

die

beiden

Faktoren,

intellektuelles Wissen und ethisches Vermögen, klar geschieden. Das Versagen eines von beiden ist notwendige und hinreichende Bedingung für jegliches Unrecht. Man schließt, daß auch beide zugleich versagen können, das ist aber nur dann möglich, wenn die Charakterisierung der Wissenstugend als συμφωνία keinen Sinn hat, denn zu dem Fehlen der συμφωνία könnte nicht noch die vulgäre ἀκράτεια hinzutreten. Diese Sinnlosigkeit der συμφωνία beweist sich uns aber tatsächlich und end-

gültig 734b:? ἢ γὰρ δι ἀμαϑίαν ἢ δι᾿ ἀκράτειαν ἢ δι’ ἀμφότερα, τοῦ σωφρονεῖν ἐνδεὴς ὦν, ζῇ ὁ πᾶς ἀνθρώπινος ὄχλος. Hier zeigt δι᾿ ἀμφότερα schlagend, daß Wissen und ethische Tugend unverbunden nebeneinander stehen. Es wiederholt sich aber in τοῦ σωφρονεῖν ἐνδεῆς die Unklarheit; denn es ist unmöglich,

zu entscheiden, an welche von den beiden

Arten von Besonnenheit (710a, 696c) hier zu denken ist. Nun soll der eben zitierte Satz beweisen, daß ‚notwendig jeder unfreiwillig zügellos

ist“. Was soll denn die Lehre von der Unfreiwilligkeit, die wir schon tot

glaubten,

noch

bedeuten,

und

wie

soll sie auf die

Alternative



δι ἀμαθίαν ἢ δι ἀκράτειαν angewendet werden? Der ursprüngliche Sinn, Abwesenheit des selbsteigenen Wissens, das den innersten gottverwandten

Seelenkern,

die von allen Krusten

und

Entstellungen

be-

freite Seele im Sinne von Pol. 6lld (wozu die Vorstellungen des Phaidon stimmen) mit der göttlichen Ideenwelt verknüpfte, kann nicht mehr erhalten sein; es muß notwendig ein rein psychologischer Sinn dafür eingeflossen sein. Abwesenheit des intellektuellen Wissens,

d. h. mangelnde Erfassung der richtigen Lehren und Grundsätze einerseits, Schwäche der Natur andrerseits, lassen den Menschen gegen seinen Willen zügellos handeln. Was ist aber sein Wille? In der Politeia war es die metaphysische Richtung der Seele auf das Gute, ihr Wissen,

dessen Fehlen gleichzeitig Fehlen der eigentlichen βούλησις ist (577e). Hier ist es das empirische

Streben nach dem lustvollen Leben.

Dies

spricht im Hinblick auf die Unfreiwilligkeit der vorangehende

Satz

1 Beide Seiten der Alternative werden dann gemeinsam mit πῶς γὰρ ἄν; b3 abgelehnt. So muß man wohl die keineswegs leicht durchsichtige Stelle verstehen. Der Gedanke wiederholt sich 903a: da Wissen und Wollen bei den Göttern vorhanden ist, könnte nur Bequemlichkeit oder Schwäche sie an den menschlichen Dingen teilnahmlos machen. 2 Daß das Stück 732 ἃ 8-734e 2 entgegen meiner Diss. 5. 42 f. von den Nomoi ebensowenig wie die Epinomis zu trennen ist, zeige ich unten.

56

Die

Philosophie

der

Nomoi

aus:xal τόν γε βουλόμενον ἡδέως ζῆν οὐχέτι παρείκει ἑκόντα γε ἀκολάστως ζῆν 134} 2. Freiwillig -- mit Betonung ἑκόντα γε -- kann niemand mehr

das zügellose Leben wählen, seitdem im vorhergehenden erwiesen ist, daß das besonnene

Leben, weil es weniger erregt, eine positive Lust-

bilanz hat, und nach der geht doch das Streben des Menschen. Zweifel war also immerhin

Unser

gerechtfertigt, ob die Unfreiwilligkeit des

Unrechts in der alten Form weiterbestehen könnte.! Denn sie hat ihren Sinn tiefgreifend verändert und ist mit dem Hedonismus einen Bund eingegangen. Diese schwerwiegende Feststellung wird uns später zu weiteren Überlegungen veranlassen. Hier bestätigt sie uns das Über-

gleiten des Unfreiwilligkeitsbegriffes ist nun

das, was

ins Psychologische.

unserer Lusttendenz widerspricht

Unfreiwillig

(ἀβούλητόν τε καὶ

ἀκούσιον 733d 7), sei es aus Schwäche der Natur, sei es aus Unkenntnis

über die tatsächlichen ὄντων βίων 733ἃ 5).?

Bilanzen

(διά

τινὰ

ἄγνοιαν

καὶ

ἀπειρίαν

τῶν

Im Strafrecht kollidiert auch dieser ἀκούσιον- ΒΕΡΤΙΗ mit dem juristischen des unbeabsichtigten Vergehens, da ja alle Vergehen im philosophischen Sinne unfreiwillig sind. Ein Exkurs zur Behandlung des Strafrechts, nämlich 857b-864c, beseitigt diese Kollision durch eine neue Begriffsbildung. Der Exkurs kommt 860d nach umständlichen Vorerörterungen zu dem

Satze:

„Alle

Schlechten

sind

in

allen

Stücken

unfreiwillig

schlecht.‘“ Da nun der Ungerechte schlecht ist, ergibt sich der syllogistische Schluß, daß auch der Ungerechte unfreiwillig ungerecht ist. Die conclusio wird freilich nicht ausgesprochen und der zweite Schritt getan, ehe der erste vollendet ist. Die conclusio besagt nämlich in anderer Form: Unrecht ist unfreiwillig. Wer nun aber diesen Schluß gezogen hat, meint doch, daß der Ungerechte auch unfreiwillig Unrecht tut. Denn es hat keinen Sinn, daß Freiwilliges unfreiwillig getan

wird. Jedenfalls wird als ehrgeizige Spitzfindigkeit die Unterscheidung zwischen unfreiwillig ungerecht sein und freiwillig ungerecht handeln abgewiesen.? Es kann durch diese Unterscheidung nicht die Kollision ! Auf die höchst aufregende Stelle im Timaios, 86 ἃ ff., wo sogar Körper und schlechte Erziehung das unfreiwillig Böse erzwingen, kann ich hier nicht eingehen. 3 Des sachlichen Objektes wegen steht ἄγνοιαν -- τὸ μὴ γιγνώσκειν, während sonst &vorx dasselbe Phänomen bezeichnete (934a, 688e fl. u. ö.), das keinen gen. obj. bei sich haben kann, sowenig wie νοῦς. 3 Die Änderung Solmsens (Entwicklung d. aristot. Logik u. Rhetorik, Berlin 1929 5. 256) κακίαν für ἀδικίαν ἃ 7 ist eine Scheinbesserung, auf der Suche nach Syliogismen erzwungen. Die Paraphrase oben zeichnet die einzelnen Denkschritte nach, die

Strafrechtsexkurs

in Nomoi

IX

57

zwischen dem philosophischen Satz, der als wahr nicht preisgegeben werden

darf!

(86ld),

und

dem

notwendigen

juristischen Gegensatz

zwischen absichtlichen und unabsichtlichen Gesetzesübertretungen vermieden werden. Also muß dieser Gegensatz anderswie begründet und definiert werden (861d 5). Dazu ist notwendig, daß der Begriff der Gerechtigkeit wie des Unrechts nicht vom Faktum des angerichteten Schadens

aus bestimmt wird - denn es kann ja auch ein Nutzen, der

jemandem zugefügt wird, ungerecht sein - sondern vom ἦϑος καὶ τρόπος des Handelnden aus (862b). Die juristische Einteilung in absichtliche und unabsichtliche Übertretungen hat also ihr Recht nur für die βλάβαι, die Fakten. Eine unabsichtliche βλάβη ist überhaupt kein Un-

recht, eine absichtliche βλάβη ist ein unfreiwilliges Unrecht: demgemäß hat die Strafe den Ersatz des Schadens und die Heilung der Ungerechtigkeit als einer Krankheit der Seele zum Ziele, soweit nicht Unheilbarkeit vorliegt. Die Erörterung ist am Ziel,? es wird aber noch der Begriff des δίκαιον oder ἄδικον ἦϑος καὶ τρόπος, der vorher undefiniert gebraucht war, in Beziehung gesetzt zur Psychologie, d.h. zum Phanomen der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit. Wir möchten gern, sagt Kleinias 863a, noch

genauer ausgeführt hören „den Unterschied

von

Ungerechtigkeit und Schaden und den von freiwillig und unfreiwillig, wie er unter sie (Ungerechtigkeit und Schaden) mannigfach gemischt ist‘. Es folgt nun eine systematisch sich gebende Einteilung der Übertretungen nach ihren Motiven.

Zunächst werden

ἡδονή

und ϑυμός als

Motive genannt (863b)? mit Betonung scharf getrennt, während sie in den Nomoi sonst immer zusammen erscheinen, wie ja auch die Trichotomie der Seele nirgends eine Rolle spielt. Hier entsteht der Schein einer solchen Rolle. Die Ursache dürfte die juristische Bedeutung der freilich -das entschuldigt die Änderung Solmsens - nicht präzis herauskommen. Die logische Entwicklung ist nicht so korrekt, wie Solmsen meint. Was für ein Wunder an Formklarheit ist dagegen der Beweis Phaidros 245c fl. 1 Zum Gedanken cf. Pol. 607c. - τοῦτο ὡς ὀρϑῶς εἴρηται 86] ἃ 1 muß über das unmittelbar Vorhergehende auf ταῦτα δύο ὄντα ce 2 und den Gedanken d 5 zurückweisen, eine harte, aber sinngemäß notwendige Beziehung. England z. St. sicher falsch. d 6 ist Wilamowitz’ Streichung des ἀλλά nicht berechtigt. In üblicher Exuberanz der Aussage gehört die Klausel mit ἀλλά in den el un-Satz.

3 DaB das alles nicht juristisch gedacht

ist, liegt ebenso auf der Hand,

wie daß

nach Abschluß dieser philosophischen Erörterung das Strafrecht stillschweigend zum normalen Begriff des Absichtlichen und Unabsichtlichen zurückkehren muß. Die Abweisung terminologischen Streits gibt ihm ein Recht dazu.

® μετὰ ἀπάτης βιαίου 863} 8 taste ich nicht an, wie England u.a. Auch die Täuschung

übt eine Gewalt aus, und nur der λογισμός ist πρᾶος 6454 6.

58

Die

Philosophie der Nomoi

im ϑυμός geschehenen Vergehen sein, die denn auch im Strafrecht ausdrücklich besonders behandelt werden, wobei sie im Widerspruch zur philosophischen

Distinktion als „zwischen absichtlich und unabsicht-

lich‘ liegend bezeichnet werden (867 a, 878b). Eine größere Bedeutung als diese hat die scheinbare Dreiteilung an unserer Stelle nicht. Das dritte Motiv ist ἄγνοια (863c). Hier liegt es nahe, an die ἄγνοια und ἀμαϑία zu denken, die uns 733d, 734} begegnete, es ist aber nicht möglich. Die Antithese fehlender Wissenstugend und ethischer Unbeherrschtheit liegt hier gamicht vor. Das Unrecht wird hier (863e) lediglich als Tyrannis von ϑυμός und ἡδονή in der Seele definiert, ganz in den Bahnen der Politeia. Auch darin zeigt sich, wie wenig das Denken der Nomoi prinzipienhaft und streng durchgebildet ist. Für den hier erstrebten Zweck genügt die Unbeherrschtheit gegenüber den Trieben; die sittliche ἀμαϑία hätte, hier hereingebracht,

außerordentlich technischen

kompliziert.

Charakters;

Denn

die ἄγνοια 863c1

aus ihr ergeben sich Verseben

die Sachlage

ist ersichtlich und

alles, was

man landläufig ἀκούσιος ἀδικία nennt (864 a), was aber Platon garnicht als Unrecht, sondern als Gesetzesübertretung (ἁμάρτημα) rechnet. Von dieser Unwissenheit wird 863d 10 gesagt, daß man ihrer nicht Herr sein und

ihr nicht unterliegen

könne,

wie

der Lust

und

dem Affekt,

d.h. aber, daß sie gar kein sittliches Phänomen ist. Ja, an ihre Stelle

wird stillschweigend 864a ἡ τοῦ ἀρίστου δόξα! und 864} ἐλπίδων καὶ δόξης τῆς ἀληϑοῦς περὶ τὸ ἄριστον ἔφεσις substituiert, sehr zum

Kopf-

zerbrechen der Interpreten. Es ist aber klar, daß die Stellen intakt sind. Die richtige sittliche Meinung oder das gerechte Ethos (862 b)? können

zwar

mit technischem

Irrtum

zusammengehen,

können

aber

auch dann (κἂν σφάλληταί τι 864a 4) nur etwas Gerechtes bewirken, wenn es auch ein ἁμάρτημα ist. Von dieser Art von Gesetzesübertretung liegt das Motiv im „Streben von Erwartungen und wahrer Meinung, die sich auf das Beste richten“ (b 6f. ἔφεσις macht Schwierig-

keiten, aber Phaidros

2374 9 δόξα ἐφιεμένη τοῦ ἀρίστου und

Nomoi

1 Die Formulierung erweckt Bedenken: „wie dies (τοῦτο für τούτων -- τὸ ἄριστον Cousin) auch nach dem Glauben einer Stadt oder einiger Einzelner sei‘. Also das tat-

sächlich Geltende ? Aber die technische Irrtumsmöglichkeit wird zugestanden. Der Irrtum geht nur hier sehr weit, sogar bis zum höchsten Ziel des Staates! - a 8 ist πάντα

ἄνδρα intakt und Apelts πανϑ᾽ ἃ ἄν δρᾷ nicht zu erwägen (vgl. England z. St.). 5 Der Begriff des Ethos schwankt in den Nomoi zwischen dem Wissen (so hier) und

der bloßen Physis (so etwa 963e, 968e und öfter), während er in der Politeia (vgl. 400 6) vom Wissen nicht lösbar ist. Wie man ihn im 2. Buch der Nomoi fassen soll, ist schwer zu sagen. Es wäre aber verwunderlich, wenn es anders wäre, da ja die Scheidung des Wissens vom Ethos so unreinlich ist.

Strafrechtsexkurs

in

Nomoi

IX

59

717a 5 sichern es völlig). Die ἐλπίδες sind nach 644 c δόξαι τοῦ μέλλοντος. Ernstlich anstößig ist, daß der begleitende technische Irrtum nicht

ausgedrückt ist, der doch a4 in κἂν σφάλληταί τι lag. Trotzdem erscheint Englands Konjektur ἀμαϑοῦς so wenig akzeptabel wie Ritters «μὴ» ἀληϑοῦς, weil dann das Nichtwissen auf τὸ ἄριστον zu beziehen wäre. Man muß vielmehr das Fehlende in Gedanken hierherziehen. Der gedankliche Mangel ist geringer als andere, die wir aufwiesen. Die dritte, nicht ungerechte Klasse von ἁμαρτήματα wird kompliziert unterteilt, wie es scheint, aus bloßer Freude am Systematisieren.

Die Gesetzgebung im folgenden berücksichtigt ebensowenig dies wie die zweite Teilung 864c in offene und heimliche Vergehen. An der Unklarheit dürfen wir nicht vorübergehen, daß sich (863c) mit der technischen

Unwissenheit der „Wahn

des Wissens‘ verbinden und, wenn

die Kräfte vorhanden sind, große und grobe (ἀμούσων) Verfehlungen erzeugen kann.

größtes

Dieser Wahn,

aus Selbstliebe fließend, die „als aller-

Übel den meisten Menschen in der Seele eingewachsen ist“

(731d), wurde schon 7328 ff. gerügt und blieb dort schwerlich frei von

sittlichem Vorwurf. Trotzdem rangieren seine Taten hier nicht unter den verwerflichen, und wir stellen wieder einen Mangel des Begriffssystems

fest; eine schuldhafte

technische

Unwissenheit

muß

es doch

pbilosophisch nicht weniger als juristisch geben. Die Stelle konnte irreführen, darum war sie zu klären. Etwas Neues über unser Problem der Tugend gibt sie nicht aus, aber auch keinen Widerspruch zu der von uns gezeigten inneren Verschiebung des Unfreiwilligkeitsbegriffes. Dasselbe gilt von der letzten Stelle, die wir dazu

heranziehen, 731c. Die Ungerechtigkeit kann nicht freiwillig sein, weil niemand in der Seele das größte Unheil haben will. Diese Begründung ist

ganz wie die in Politeia 367 a, 445ab, Gorg. 477 aff., also wissensethisch im alten Sinne. Aber das beweist gar nichts gegen die Verschiebung, weil ja viele Formulierungen der Nomoi in alten Denkbahnen gehen, auch wo evident ein neuer Gehalt da ist. Das führt uns zu der höchst dringlichen Frage nach dem Hedonismus, der auch unter ethischer Verkleidung sich einzuschleichen scheint.

Der Begriff des Unfreiwilligen verband sich 733d und 734b mit dem Luststreben. Der ganze Abschnitt 732d 8-734e 2 ist eindeutig im hedonistischen Geiste gehalten. Er geht aus von der Urtatsache (φύσει ἀνθρώπειον μάλιστα 732e), daß der Mensch „mehr Lust und weniger Schmerz sucht in seinem ganzen Leben“ (733a), und stellt die These auf und begründet sie, daß das sittlich beste Leben dies Streben des

60

Die

Philosophie

der

Nomoi

Menschen am meisten befriedigt. Die Begründung liegt offenbar darin

(734 a), daß das beherrschte Leben von mäßigen Affekten getragen ist, unter denen die lustvollen überwiegen, daß dagegen das zügellose Leben von heftigen Leidenschaften

erfüllt ist, unter denen die schmerz-

lichen überwiegen. Es wird bei der Beurteilung von seiten des Menschen eine Messung von Lust- und Unlustmengen angewendet, die positive oder negative Erträge ermittelt. Diese Gedanken sind in so schreiender Disharmonie zum Wesentlichsten der platonischen Philosophie, und es kommen in diesem Abschnitt so viele gedankliche und stilistische

Anstöße

hinzu,

daß

ich

den

Abschnitt

aus

den

Nomoi

zu streichen vorschlug als mißverstehenden Zusatz des Herausgebers Philippos (Diss. S. 42 ff.). Nachdem wir uns aber von der inneren Disharmonie in der Begriffsbildung der Nomoi haben überzeugen müssen, kann dieser Abschnitt nur als eine Bestätigung und als ein allerdings besonders krasser Ausdruck dieser Disharmonie gelten. Die Athetese ist also zu widerrufen und die enge Affinität zu den Nomoi zu zeigen, wobei das Stilistische, wie bei der Epinomis, zunächst zurückgestellt wird. Die Athetese hatte Wert nur, sofern sie auf tiefgreifende philosophische Veränderungen aufmerksam machte. Daß der hedonistische Abschnitt mit dem Gedankensystem der Politeia nicht vereinbar ist, liegt auf der Hand. Aber das Hauptargument

der Athetese war die vermeintliche Unvereinbarkeit mit der Pädagogik des 2. Buches der Nomoi, die in scharfer Abwehrstellung gegen den Hedonismus entwickelt wird und ganz von ihm unberührt zu sein scheint.

Aber genau so, wie sich unter dem Tugendbegriff der Nomoi die Weisheit der Epinomis verbarg, so unter der musischen Pädagogik ein tüchtiges Stück von Hedonismus. In beiden Fällen war die Verkennung

begreiflich. Ein verräterischer Satz steht 663b: „keiner nämlich wird sich frei-

willig bereit finden zu tun, was nicht mehr Freude als Schmerz zur Folge hat‘‘. Das ist genau der Ausgangspunkt der hedonistischenTheorie 732e, in einer Formulierung,

die die Beziehung

zur 733a-d

vor-

geführten Meßkunst nicht verleugnet. Freiwillig bedeutet in diesem Satz: im Einklang mit dem Luststreben, genau wie 734b. Wie verhält sich nun aber diese hedonistische Grundauffassung zu der ethischen Erziehung, die hier entwickelt werden soll? Die Chorlieder, die als eine immer wiederholte Beschwörung

jung und

alt erziehen sollen, dürfen nur das eine Thema variieren: die Glückseligkeit des Gerechten (660 b-664b). Der Gerechte, so heißt es thematisch

Hedonismus

660e,

ist glückselig,

in

Nomoi

II

61

‚‚ob er groB und stark oder klein und schwach

ist, und ober reich ist oder nicht.‘“ Es muß also eine Glückseligkeit sein,

die von den „‚menschlichen‘ Gütern (631b) des Leibes und des Besitzes unabhängig ist. So wird denn auch die richtige Ordnung der Güter wiederholt und die Folgerung gezogen (661d 1 ff.), daß alle Güter nur für den Gerechten

Güter sind, „daß

aber die sogenannten

Übel Güter

für die Ungerechten sind, aber Übel für die Gerechten‘‘. Also wäre die Glückseligkeit doch nicht unabhängig von den sog. Gütern, Gesundheit,

Reichtum usw., wie es 660e schien und im Sinne des Gorgias und

der Politeia sein müßte. Ganz anders als hier redete Sokrates, Pol.613a, von

den

„scheinbaren

Übeln“,

die den

Gerechten

nicht treffen.

Hier

sind sie auf einmal „sogenannte“ für die Ungerechten geworden, dagegen wahre für die Gerechten. Aber weiter. Der Athener wirft, da der Partner Zweifel andeutet, die Frage nach dem Unglück des Ungerech-

ten neu auf! und erhält 662a das Zugeständnis, daß der Ungerechte häßlich lebe, aber nicht schlecht, d. ἢ. nicht ‚‚ohne Lust‘ und ‚‚nicht

ohne Nutzen für sich‘. Es ist richtig von E. Zeller? gesehen worden, daß dies genau die Fragestellung von Gorg. 474cd ist. Dort gab Polos zu:

Unrecht tun ist nicht schlecht, aber häßlich, und Sokrates inter-

pretierte „häßlich‘“ durch

die Alternative „„ohne Lust‘

oder,,‚ohne Nut-

zen“. Ohne Lust sei es klärlich nicht, aber ohne Nutzen, weil es Scha-

den in der Seele stifte. Also sei Unrechttun schlecht, d. h. unglücklich. Der Schaden in der Seele des Ungerechten und die richtige Verfassung der Seele (die ψυχὴ κόσμον ἔχουσα τὸν ἑαυτῆς 5066) machen Glück und Unglück (das εὖ πράττειν und κακῶς πράττειν 507}0) aus. Es ist klar, daß der Kosmos in der Seele sich gründet auf das echte Wissen und seine Wahrheit; die Eudaimonie ist homogen mit der der PoliteiaPhilosophen,

die auf den „Inseln

der Seligen‘““ leben, ein Stehen im

Sein und in der Wahrheit. (Sokrates wirft dem Polos Gorg. 472b vor, er wolle ihn ἐκβάλλειν ἐκ τῆς οὐσίας καὶ τοῦ ἀληϑοῦς.)

Diese Eudaimonie

zu erwarten könnten wir uns berechtigt halten, wenn 662a der Ansatz

dem des Gorgias völlig gleicht. Aber freilich gibt es in den Nomoi das philosophische

Wissen

und

Sein nicht

mehr;

so ist zu erwarten,

daß

auch die Eudaimonie ins Leere fällt. Es folgt dem Ansatz keine dialek1 An 66le 6 εἶεν, einer Formel des Abschlusses, stößt man stark an, da die Frage nach dem unglücklichen Tyrannen nicht beantwortet war; ebenso an dem: „was müs-

sen wir danach sagen ?‘‘ Das rd μετὰ τοῦτο erschien in gleichartiger Funktion gleich

unerlaubt 964a 5 und Epin. 980a 7. % In seinen „Platonischen

Studien“

1839,

5. 102.

62

Die Philosophie der Nomoi

tische Untersuchung der Begriffe, sondern nach erneuter Versicherung der Wahrheit der These und ihrer pädagogischen Bedeutung im Staat werden die Götter um Entscheidung gebeten, die natürlich die Eudaimonie nur dem gerechten Leben zusprechen (662d).! Auch Eltern und Gesetzgeber können nicht anders tun. Worin besteht nun die Eudai-

monie? (663a). Dieses Gut ist nicht τῆς ἡδονῆς κρεῖττον, ist nicht χωριζόμενον ἡδονῆς. Denn κλέος καὶ ἔπαινος πρὸς ἀνθρώπων τε καὶ ϑεῶν sind

lustvoll. Hier ist unzweifelhaft die Eudaimonie verloren. Grundlegend für Philosophie und Aufbau der Politeia war die Unterscheidung zwischen dem Nutzen und dem Glück der Gerechtigkeit selbst einerseits und ihrem nachfolgenden Lohn, den εὐδοχιμήσεις bei Göttern und Menschen andrerseits. Sie wurden am Anfang des Gespräches in der Rede des Adeimantos

362e ff. beiseitegeschoben und dürfen erst am Schluß,

612a ff., wieder besprochen werden, nachdem im ganzen Werk der innere Wert und die in ihm beschlossene Eudaimonie der Gerechtig-

keit herausgearbeitet war. Hier, N.663a, ist nur der Ruhm übriggeblieben, als wenn er das Wesen der Sache wäre.?

Die zweite Kennzeich-

nung der Eudaimonie lautet: μήτε τινὰ ἀδικεῖν μήτε ὑπό τινος ἀδικεῖσθαι. Ist nicht hierin das Leben in der vollkommenen Gemeinschaft der Philosophen beschlossen, das dem Gerechten auch den irdischen Lohn nicht versagt (Pol. 613d)? Es wären nun also in dieser Formulierung? die innere Eudaimonie, die nur am μὴ ἀδικεῖν hängt, und die äußeren angenehmen Folgen vermengt, und das Entscheidende käme nicht heraus, daß man die δύναμις τοῦ μὴ Adıxetv,! das philosophische Wissen, 1 Eine entgegengesetzte Antwort wäre ἄτοπος 662 ἃ 6. Es erscheint aber als respekt-

los und ἀνόσιον, wenn auch nur die Möglichkeit einer solchen Antwort angenommen wird, zumal bei der sonst so gesteigerten Gottesfurcht der Nomoi. 3 Es wird offenbar, bei deutlichem Anklang, der Standpunkt der Eltern ganz anders

gewertet als Pol. 363a, wo sie getadelt wurden, weil sie die εὐδοχιμήσεις zu sehr berücksichtigen.

δ μήτε ἀδικεῖν μήτε ἀδικεῖσθαι Pol. 3598}

als Wunschbild der Schwachen, 500c

vom Ideenkosmos, Nom. 829a als Vorbedingung der Eudaimonie. Erstaunlich ist dabei, daß man die δύναμις τοῦ μὴ ἀδικχεῖν leicht erwirbt, der Sokrates das ganze Leben

widmet, dagegen die ὃ, τοῦ μὴ ἀδικεῖσϑαι schwer, und zwar τελέως γενόμενον dyaϑόν. Gemeint ist Wehrhaftigkeit, wie das folgende beweist. Also ist in τελέως ἀγαϑόν der Sinn der vollen Tugend nicht mehr gegeben, sonst wäre das Urteil unbegreiflich.

ἀγαϑός ist im Sinne von frühgriechischem ἀνὴρ ἀγαθός gebraucht, aber 829} 3 ist vom νοῦς die Rede. Aus der Tugend folgt ja nicht τὸ μὴ ἀδικεῖσϑαι. Aber auch dem τὸ μὴ ἀδικεῖν fehlt die Beziehung auf die volle Tugend, sonst wäre es nicht leicht.

Man sieht, wie die Begriffe durcheinander geben, und in jedem Fall ist sicher hier wie 663a der Sinn der Eudaimonie zerstört. - 830a 1, c 8: der „‚größte Kampf“ ist Vaterlandsverteidigung, erstaunlich neben Gorg. 526e, Polit. 608b.

* An den beiden δυνάμεις hängt der Gedankengang des Gorgias. Zentral ist 509ὁ ff. Die δύναμις τοῦ μὴ ἀδικεῖν, nach der 509de gefragt und die 510a 3-5 ausdrücklich

Hedonismus

in

Nomoi

II

63

zur Eudaimonie braucht, dagegen die δύναμις τοῦ μὴ ἀδικεῖσϑαι nicht nur nicht, sondern daß man sie σὺν τοῖς φιλτάτοις (Gorg. 513a) erwirbt.

Wir müssen also wieder feststellen, daß ein Begriff der Wissensphilosophie, die Glückseligkeit der Gerechten, nicht etwa durch Uhntersuchung abgeändert, sondern scheinbar beibehalten, in Wahrheit aber

unmerklich seines Sinnes entleert wird. So ergibt sich, daß die 662a aufgeworfene Frage keine Antwort findet, die dem ursprünglichen Sinn der Begriffe entspräche. Was bleibt nun aber übrig? Daß der angeborene Drang zur Lust seine beste Befriedigung im gerechten und guten

Leben findet. Das ist aber genau der Hauptgedanke des hedonistischen Abschnittes

im

5. Buch,

der

Philosophie des 2. Buches. so irreführend,

daß

man

also

wesentlich

übereinstimmt

mit

der

Viele Formulierungen des 2. Buches sind

das übersehen

konnte.

Wie ist der hedonistische Hauptgedanke näher zu bestimmen? Was Gerechtigkeit und das Gute ist, wurde in der Politeia kunstvoll und systematisch konstruiert. Es erschien als letzte Sicht jenseits des Seins

das Sein und Wahrheit spendende Gute. In den Nomoi wird der Gerechtigkeit und dem Guten nicht ihr philosophischer Ort zugewiesen, sondern sie werden als gebräuchliche Münze übernommen und verwendet. Die höchste Form des Seins ist der beseelte Kosmos, die höchste Tugend ist fromme Wissenschaft davon; daneben gibt es als vulgäre Tugenden

die Selbstbeherrschung

und

die Tapferkeit,

auch

sie nicht

konsequent voneinander getrennt. Offensichtlich kann nur an die niedere

Tugend

gedacht

sein im 2. und

im 5. Buche,

da die höhere

erst

später ins Spiel kommt. Das Gute wäre also Selbstbeherrschung, die die beste Lustbilanz gäbe. Es liegt also nicht der rohe Hedonismus des Kallikles vor, der das Gute als Lust definierte, sondern das Gute wird,

wie konventionell immer, unabhängig von der Lust gefaßt und nur durch den Kalkül als Erfüllung des Lustverlangens erwiesen. Nur da-

durch konnte der Eindruck antihedonistischer Auffassung entstehen. für notwendig erklärt wird, soll sich später, 521d, als die πολιτικὴ τέχνη des Sokrates erweisen. Die drei Zeilen 5104 3-5 haben Vretska (PhW

1933, 507) und, ohne den Vor-

gänger zu kennen, Von der Mühll (Philologus 1938, 490) als „bösartige Interpolation*

athetiert, weil die βούλησις ja genüge (509 ε 7 ff.). Das ist aber ein Mißverständnis. Man tut

Unrecht

gegen seinen Willen, so wird 509e erinnert.

Also schützt

die βούλησις

nicht vor dem Unrecht, sondern es muß eine δύναμις καὶ τέχνη erworben werden, die dann an späterer Stelle klar werden wird. δύναμις enthält beides (510e): die Macht im Staat und das Können im Sinne des Wissens, darum ist τέχνη hinzugefügt. Es handelt sich also um einen Angelpunkt des Dialoges, der auf keinen Fall angetastet werden darf. — Sonst hat Von der Mühll recht, daß es Zusätze im Gorgias gibt, z, B. 456d 3-5 scheint ziemlich sicher ein solcher.

63

Die

Philosophie

der Nomoi

Zwei einst unvereinbare Positionen, die des Kallikles und die des Sokrates im Gorgias, sollen hier vereint werden. Das vom Gorgias über die Politeia zum Philebos einheitliche Denken Platons über die Lust wird hier und nur hier preisgegeben, doch so, daß Spuren und Formen dieses Denkens erkennbar bleiben. Es ist ein Zwittergebilde, das entsteht. Das muß

mit aller Entschiedenheit ausgesprochen

Beschreiben wir das Zwittergebilde noch genauer. Kennzeichen ist die rein quantitative

Bewertung

werden.

Das wichtigste

der Lüste

und der

mit dieser Bewertung geführte Nachweis der Überlegenheit des von Tugend getragenen Lebens, dessen eigenständiges Wesen dabei entschwindet. Sowohl die Stelle 663b als der Passus im 5. Buch messen die Menge der Lust, kennen aber nicht die qualitativen Unterschiede, die im Gorgias, in Politeia und Philebos grundlegend sind, nämlich zwischen reiner Lust, die im Aufnehmen von schönem Gegenständlichen, zunächst in den Wissenschaften, erwächst, und gemischter Lust, die bei der Überwindung einer körperlichen Disharmonie, also eines Schmer-

zes, auftritt, um schließlich bei der Wiederherstellung der Harmonie mit dem Schmerz zusammen zu verschwinden, Die letztere heißt auch ἐσχιαγραφημένη, den Gemälden der σκιαγραφία gleich, nur Vortäuschung!

(Pol. 583b, 586 b.).? Genau so ist die körperliche Lust Gorg. 4900 ς--497ἃ und Philebos 42c-47b beschrieben. Von der Messung der Lustmengen und der Tugend,

die sich auf solche Messung aufbaut,

indem sie klei-

nere Lust um größerer willen verschmäht, spricht Platon mit starkem

Ton der Verachtung (Phaidon 69a ff.)®. Diese Tugend ist auch eine σκιαγραφία und wahrhaft sklavisch. Nachdem diese sklavische Tugend aber im Widerspruch zum alten Tugendsystem in den Nomoi zugelassen ist, wenn

auch

ohne

völlige

Klarheit,

aber doch

auch

wieder

als

ethische Tugend schlechthin, ist es nur logisch, daß auch die sklavische I Das Wort hat auch sonst immer negativen Sinn: Pol. 365e Vortäuschung, 523b ılas von ferne unsicher Geschene, 602d Gaukelei, Kritias 107 ς trügerische Darstellung, Phaidon 69b Scheintugend. = In der Schilderung der Lüstlinge ist ein Textzusatz evident, Pol. 586b 2-4: [δι ἀπληστίαν...

πιμπλάντες], inhaltlich leer wiederholend; δι᾽ ἀπληστίαν ist nach ἕνεχα

πλεονεξίας überflüssig, der Dativ τοῖς οὖσιν anstößig (a 5 und 5854 11 der Genitiv) und τὸ or£yov aus sich nicht verständlich, Reminiszenz von Gorg. 493b 1-3. - Ein Beispiel für viele. 3 Die Meßkunst wird im Protagoras 356d ff. nur scheinbar empfohlen. Sokrates argumentiert vom Standpunkt des Hedonismus, um zu zeigen, daß auch dieser ohne daa

Wissen als Grundlage der Ethik nicht auskommt.

Überzeugend v. Arnim, Platons

Jugenddialoge, 8. 11 ff. Die Einwände bei Überweg-Prächter S. 226 f. sind nicht stichhaltig.

Hedonismus

in Nomoi

II und

V

65

und trügerische Lust mit der Meßkunst die Herrschaft antritt. Die Affinität des hedonistischen Passus im 5. Buch zu den übrigen Nomoi bestätigt sich entscheidend. Die Nomoi gehen tatsächlich von dem unersättlichen Drang der empirischen Menschennatur aus, den Sokrates im Gorgias so drastisch unter dem Bilde des Fasses ohne Boden (493 d) und des Siebes und noch drastischer unter dem Bilde der Ente, in die

vieles hinein- und aus der vieles herausläuft (494 b), kennzeichnete, und den der Philebos (23c) ἄπειρον nannte, das in der wahren Güterordnung (66 a-c) nicht vorkommt, wo doch selbst die ungemischte Lust den letzten Rang einnimmt. Ein Unterschied zwischen guten und schlechten Lüsten, wie ihn selbst Kallikles (Gorg. 495a—499b) zugeben mußte, und wie ihn auch der späte Philebos (63e) kennt, wird primär nicht aufgestellt, sondern Quanten werden verglichen (733 a-d, 663b 4 ff.). Nun wird aber die ὀρθότης sehr stark betont; nur ‚wer aus den beiden Quellen, Lust und Schmerz, schöpft, von wo und wann und wieviel man

muß! (636d-e), der ist glückselig, Stadt, einzelner Mensch und jegliches Lebewesen‘“.? Worin liegt aber die ὀρϑότης ἢ Klärlich (733a ff.)® in der Berechnung des größtmöglichen Endeffekts an Lust, den bietet aber das Leben der Tugend. Da der ideenschauende Geist nicht mehr das Maß setzen kann, muß es der rechnende Verstand tun, das entspricht der

dargestellten Denaturierung des Wissens. Das Widersprüchliche ist dabei aber dies, daß neben Hedonismus und Meßkunst Tugend und Paideia stehen, ja sie halb verdecken. Der Hedonismus scheint scharf abgewehrt zu werden (655d): es sei „unerträglich und unfromm“,

zu

sagen, daß die Lust das Kriterium der Musik sei. Andrerseits kann aher vermöge der Relation zwischen dem Ethos des Hörers und dem des dargestellten Werkes die Lust doch wieder Kriterium sein, nämlich die Lust der „Besten und hinlänglich Gebildeten‘ (658e). Hier tritt der Schein einer höheren Instanz gegenüber dem Lustkalkül ein.* Das steht aber unverbunden nebeneinander, letztlich weil eben die Wissenstugend 1 Gleichartig hieß es Protagoras (357 a), in richtiger Wahl von Lust und Unlust liege die Rettung desLebens. Das ist aber nicht platonische Lehre. Gemeint ist: wenn wirklich die Lust das Gute ist, dann ist richtige Wahl die Rettung.

3 Daß auch Tiere das richtige Maß erfassen können wie der Staat der Tugend, darf uns nicht wundern, wo 369 e die Tapferkeit der Hochgebildeten der der Tiere homogen ist.

8 Über die schlechte Logik gulär in den Nomoi. 4 Da diese Leute doch wohl ihr Ethos auch mehr sein als und niederer Tugend scheint zu erlauben, s

Müller, Nomoi

von 733a-d vgl. meine Diss. 5. 42. Sie ist aber nicht sindie höchste wissenschaftliche Bildung haben sollen, muß das der Physis. Das unklare Verhältnis zwischen höherer mir kein klares Urteil über den Ethosbegriff der Nomoi

δά

Die

Philosophie

der Nomoi

und die Ethostugend, wie gezeigt, sich nicht klar zueinander verhalten. Das Urteil der Guten ist denn auch letztlich für den Beweis maßgebend, daß das gerechte Leben das glückselige sei (663c). Das ist wie das Urteil des Philosophen in der Politeia (5824),

der allein die Freude

des

Wissens maßgeblich über die anderen Freuden stellen darf, weil er allein sie kennt. Aber dort war es eine andere

Dimension,

aus der über

Lust geurteilt wurde. Hier ist das nicht mehr so; es wird zwar das Bild einer verschiedenen Perspektive (663 bc)! gebraucht, aber die andere Sehweise muß dabei schließlich doch wieder auf Meßkunst hinauslaufen. Nach diesem Gedanken wird der Beweis des Unglücks des Un-

gerechten abgeschlossen (663d 2-4), der so wenig einheitlich und streng war, daß wir das zu beweisende Thema (661e 6 ff.) erst wieder suchen müssen.? An dem hedonistischen Abschnitt im 5. Buche ist im einzelnen manches schwer verständlich.

Der entscheidende

Punkt

ist der, daß das

Leben der Tugend schwächere Lüste, dafür aber mehr Lüste hat bei

quantitativer Bewertung.

Da besteht folgende Beziehung:

Es heißt im Gorgias (498ab), die Guten und die Schlechten haben im

Ganzen gleich starke Lüste und Schmerzen, die Schlechten eher noch stärkere. Das verschärft der Philebos (45c-e) dahin, daß die intensiv-

sten Lüste und Schmerzen in körperlicher Krankheit und in bybrider Geistesverfassung sich finden; diese Lüste kennzeichnen sich als λυπῶν

ἀπαλλαγαί, d.h. als gemischt mit Schmerzen. Als Beispiel wird die Lust des Kratzens bei der Krätze genannt (46a, wie Gorg. 494 c, dort sogar

die χίναιδοι 494 6), Es wird dabei unterschieden zwischen stärkeren Lüsten (τῷ σφόδρα καὶ τῷ μᾶλλον ὑπερεχούσας) und mehr (πλείους) Lüsten (45 ο): die Hybriden und die Kranken haben nicht mehr, aber stärkere Lüste. Das ist rein phänomenologisch als Beschreibung der gemischten Lust gemeint ; denn nichts liegt dem Philebos ferner als das ἄπειρον der 1 ἐσκιχγραφημένα 663c 2 wird nur hier im Platon ohne Tadel gebraucht: das Gerechte und das Ungerechte sind „‚perspektivisch gesehen“. Denn Unsicherheit und Täuschung kann es nur für die Perspektive des Ungerechten geben. Der Gebrauch ist seltsam. -- τῷ τοῦ δικαίου wollte ich einst streichen: der Stil ist so, daß man oft mit

Streichung den Satz zu verbeasern glaubt. Aber es ist wohl nur eine Neutrumsumschreibung für τῷ δικαίῳ, im Dativ härter ala im Nominativ, wo sie häufiger ist (z. Β, 89944, 6364 5).

* Im folgenden ist 663e die Erwähnung des Myıhos von Kadmos' Drachensaat wirklich seltsam, wie E. Zeller (a. a. Ὁ,

5. 126) bemerkte.

In der Politeia erschien dieser

Mythos als ψεῦδος, das pädagogisch für die Motivierung einer grundlegenden Institution verwendet wurde (414c-415d). Hier ist er nur Beispiel, während die pädagogische Lehre kein ψεῦδος, sondern etwas Bewiesenes ist. Wozu dann aber das Beispiel ?

Hedonismus

in Nomoi

II und

V

67

unreinen Lüste zum Prinzip zu erheben, da ja nicht einmal die reinen Lüste Prinzip sind. Der Gedanke kehrt aber an unserer Nomoi-Stelle genau wieder. Das scheint also übernommen und zum Prinzip gemacht zu sein, im Zuge der Nivellierung der Lustphänomene auf eine Dimension. Daraus ließe sich einmal das sachliche Urteil erklären, dann aber auch die Tatsache, daß gerade am besonnenen Leben und nur an ihm die Bilanz durchgeführt wird, und schließlich auch das befremdende

Eindringen der Gesundheit in den Kreis der geistigen Tugenden! (734b). Das wäre Nachwirkung des Philebos. Nur der allgemeine Verfall des Tugendsystems erlaubt eine solche Verwischung der Rangunterschiede und den Ausfall der Gerechtigkeit. Viel gravierender ist der Verlust der Würde des geistgebundenen Lebens. Wieder zeigte sich uns innere Verschiebung älterer Gedanken und Verfall ihrer Stuktur. Wie verstehen wir nun die Antithese göttlich-menschlich, mit der der hedonistische Passus 732e angefügt wird? In der Politeia (497c) ist der Gegensatz völlig klar als ein solcher des Wertes und Unwertes. Die

„göttliche“ Fundierung der Ethik geschieht (Nom. 631c) von den Tugenden selbst und ihrem inneren Wert aus; damit ist der Traktat 726-732d gemeint. Diesen Sinn von „göttlich“ vertritt aber 733a 1 der schwerfällige Ausdruck τῷ σχήματι κρατεῖ πρὸς εὐδοξίαν. Da ist εὐδοξία dasselbe wie κλέος τε καὶ ἔπαινος πρὸς ἀνθρώπων τε καὶ ϑεῶν (663 6), und

σχῆμα muß auch Glanz und Ansehen bedeuten,? noch reiner das Äußerliche kennzeichnend. Es verhält sich also das äußere Ansehen des Gerechten zu seiner Freude wie göttlich zu menschlich. Da ist wieder der Verfall, ja fast die Verkehrung der Begriffe ganz deutlich, die in der Politeia herrschten. Denn dort würde gerade die Freude des Gerechten das dem Göttlichen Verwandte sein, da sie nicht wie hier von

der richtigen Seelenverfassung losgelöst war, wohl aber die εὐδοξία, die εὐδοκιμήσεις (363a), die als Lohn zum Werte hinzukommen (612b).? i Eine Parallele

hat es im τεχνικός 696c, der auch in den einst so erhabenen Kreis

eindringt.

2 Am nächsten kommt Nomoi 685c, wo es fast Prestige ist. Dagegen ist es Epinomis 989c trügender Schein, ebenso wie Politeia 365c; σχηματίζομαι wird immer so gebraucht. 3 Politeia 589 2 steht πρὸς εὐδοξίαν zwischen ἡδονὴν und ὠφελίαν, die dem inneren Werte der Gerechtigkeit entsprechen (wie Gorg. 474d ἡδονὴ und χρεία als Bedingungen des καλόν) -überraschend,wo doch erst 612} die δόξα δικαιοσύνης zur Sprache kommen darf. Wo so viele Zusätze im Text sind, könnte man die kleine Streichung verantworten, andrerseits belastet die Zufügung des Wortes den Gedanken nicht wesentlich. 49

68

Die Philosophie der Nomoi

Die Verwirrung wird nur bestätigt, wenn hinwiederum 950c zwischen dem εὔδοξος βίος und dem wahrhaften Gutsein geschieden wird.! Ander-

wärts kann εὐδοξία auch wieder echtes Korrelat der Tugend sein (731). Hier, 732e, bringt ein solches aber Unklarheit; denn auf das Sein im

Gegensatz zum Schein, im Sinne von Theaetet 176b, kommt es gerade an. Das Fazit ist: gerade das, was gedanklich unklar und anstößig ist am hedonistischen Passus des 5. Buches, verbindet es eng mit der gebrochenen Begriffswelt der Nomoi. Auch das 2. Buch hat in Wahrheit den Feind, den es zu bekämpfen vorgibt, in den eigenen Mauern.? Wir wenden uns nun den philosophischen Gedanken in der Ansprache zu, die an die Siedler der neuen Kolonie gerichtet wird. Nach einem theologisch bestimmten ersten Teil folgt eine sozusagen methodologische Unterbrechung, von 718a bis zum Ende des 4. Buches. Dann kommt eine lange ethische Ermahnung (726-734e), die von der Seele als wichtigstem Besitztum nächst den Göttern? anhebt. Wilamowitz hat diese Reden ‚Predigten‘ genannt. Sie sind etwas Neues im Platon.

Sorge für die Seele war ja - Sokrates’ Wirkung - das eine große Thema der platonischen Dialoge. Immer aber, vom Mythos abgesehen, führte dialektische Erörterung zu Wesen und Bestimmung der Seele hin; auch 1 Daß auch die Schlechten ein richtiges Urteil über Gut und Böse haben (950), ist nur bei dieser denaturierten Tugend möglich. In der Politeia (409b ff.) ist solche Be-

urteilung nur ἐπιστήμῃ, nicht ἐμπειρίᾳ οἰκείᾳ zulässig und möglich, weswegen die Richter alt und erfahren sein müssen. 3 Was die Erziehungslehre des 2. und 7. Buches angeht, so sind ihre philosophischen

Fundamente Ethos und Mimesis. Die Ethoslehre entspricht der der Politeia (398c bis 403c),

nur

daß

das

Verhältnis

des

Ethos

zum

Geist

durch

die

Schwierigkeiten

der

Tugendscheidung nicht klar wird. Ein tiefgreifender Unterschied aber ist die unbekümmerte

Verwendung

der Mimesis in den Nomoi, da sie doch in der Politeia erst

(392 c-398b) so weit wie möglich zurückgedrängt und dann (595c-601b) prinzipiell und mit Notwendigkeit aus dem Ideendenken heraus verworfen wurde. Ebenso notwendig verliert die Mimesis das negative Kennzeichen, nachdem die Ideenphilosophie fiel. 859e ff. ist vom

κοινωνεῖν

τοῦ

δικαίου

die Rede,

das ist aber nicht

mehr

als:

das

Prädikat .,‚gerecht‘* tragen. Es fällt der anspruchsvolle Ausdruck: diejenige Musik sei richtig, die ähnlich sei „dem Vorbilde des Schönen‘ (668b), was auf ein Eidosvorbild weist,

das

es doch

hier nicht

geben

kann,

abgesehen

davon,

daß

der Dichter

nach

platonischer Lehre (Politeia 597e) τρίτος ἀπὸ τῆς ἀληϑείας ist. Es liegt in der Konsequenz

der Lage, daß die Nomoi die Dichter nicht aus einem philosophischen Prinzip

ablehnen, sondern weil sie sie am Maßstab der Gesetze messen. Homer wird gar nicht abgewiesen, ja er wird aus Gründen des Inhalts, nicht der Form, gelobt 658 de, 680c. Der Lage gemäß ist auch der Sinn von ὀρϑότης 667b ff. rein empirisch. 8 μετὰ ϑεούς 72623 war England begreiflicherweise ärgerlich; wo der Mensch Sklave

der Götter (κτῆμα ϑεῶν) ist, sollen die Götter κτήματα des Menschen sein. Ich stimme aber angesichts dieses Stiles der Streichung nicht zu. Außerdem spricht μετὰ ϑεούς 727a 1 dagegen.

Geschick

der Seele

69

die paränetischen Teile entwickelten sich in systematischem Bezug auf gewisse feste Richtpunkte des Denkens. Das Denken war axiomatisch. Hier haben wir zum erstenmal unsystematisch aneinandergereihte Ermahnungen, verbunden nur durch den Begriff’ des τιμᾶν, gipfelnd in der Definition: ‚ehren heißt für uns, um es zusammenfassend zu sagen, dem

Besseren nachfolgen, am Schlechteren aber, das besser zu werden fähig ist, eben diese Besserung [hier allgemein, nicht nur im Sinn von Strafe, wie Politeia 445a] so gut wie möglich vollziehen‘ (728c). Vor allem fehlt der eine systematische Grundzug alles platonischen Redens über die Seele, daß ihre Natur Wissen ist. Wir können nicht annehmen, daß

die Tugend, von der diese Predigt spricht, die der Kinder und Tiere von 710a ist; aber die Ermahnungen zielen nicht auf Erhellung des Wissens. Wir fühlen uns fast wie von einer hellenistischen Diatribe angesprochen. Eine schwerwiegende Änderung der Begriffe erkennen wir an der Stelle 728bc, die deutlich eine Umbildung von Theaet. 176d ff. ist. Dort hieß es, der größte Schaden der Ungerechtigkeit seien nicht die Strafen, denen man ja entgehen kann, sondern das Ähnlichwerden

zu

dem Diesseitig-Stofflichen und der Verlust der Eudaimonie, die in der Annäherung an das reine, göttliche Sein der Ideen liegt. Die Ungerechten verlieren die Ideenschau! nach dem Tode, und im Leben ‚‚werden sie immer einen Wandel haben, der so ist, wie sie sind, denn sie sind als

Schlechte mit Schlechtem verbunden“ (177a).? An der Nomoi-Stelle besteht der Schaden der Ungerechtigkeit auch in einer ὁμοίωσις, aber an die „Männer, die schon schlecht sind“, und in einer Entfernung, aber

nicht vom wahren Sein, sondern aus der guten Gesellschaft. An die schlechte

Gesellschaft

leiden, was solche gemeint, daß ein zugrunde richtet, Lehre wird.? Hier

„angewachsen,

muß

man

notwendig

tun und

einander zu tun und zu sagen pflegen“. Offenbar ist solcher Mensch mit der schlechten Gesellschaft sich wie der Gottlose 716a 8ff., und dadurch anderen zur machen also gerade empirische Leiden das Unglück

1 Das ist parallel zu Phaidon 81 c ff. Die stofflich gebundenen Seelen irren als sichtbare εἴδωλα umher. Nomoi 959b sind aber die Körper der Toten diese εἴδωλα, eine erstaunliche Änderung. Der Unterschied zwischen reiner und stofflich getrübter Seele ist nicht mehr

gegeben.

2 Wil. 11 433 „schlecht unter Schlechten“. Ich fasse mit Campbell κακοῖς als Neutrum, nämlich als das „unglückliche, ungöttliche Musterbild‘‘ das Stofflich-Böse (176e,

vgl. Politeia 367 a). 5 Ich balte also chiastische Beziehung

des ὁ δὲ... ἀπολλύμενος c 5 auf ὅ τε τυχών

für wahrscheinlich, nicht evident. Auch die nicht chiastische Beziehung ist möglich. In beiden Fällen geht die Sache gedanklich nicht rein auf; vergeblich wende ich seit

70

Dis

Philosophie

der Nomoi

des Ungerechten aus, in genauer Umkehrung der Wertung der TheaetetStelle. Aber auch ohne derartige Leiden ist er unglücklich, weil un-

erkannt und nicht durch Strafe geheilt. So sagte auch der Theaetet (176d): man kann den Strafen bisweilen entgehen. Hier ist also an der Nomoi-Stelle ein Rest vom alten Sinne dieses Unglücks (vom „Hinausgeworfensein aus Sein und Wahrheit‘, Gorg. 472b), vielmehr nur ein Rest der Formulierung. Denn schon die Aufspaltung in zwei Möglichkeiten, die sich nicht mit heilbar-unheilbar, aber auch nicht mit be-

straftem-unbestraftem Seelenschaden (Gorg. 478d) decken, zeigt die verwirrte Auffassung.! Nun erscheint aber im Zusammenhang mit der Seelenwanderung 9046 die Wendung: es ist Rechtsordnung, „daß, wer schlechter wird, zu den schlechteren Seelen, wer besser wird, zu den Jahren die Stelle hin und her. Verwunderlich ist, daß der Fall der Heilung garnicht in Betracht gezogen wird. Bezieht man chiastisch, dann entgeht der Schlechte, der nicht in schlechte Gesellschaft gerät, der Heilung, wohl weil er ganz verborgen bleibt. Der Tod der Unheilbaren war Politeia 410a und Nomoi 862e Sache der Richter, hier ist er

automatisch. Das gibt eine der größten Dunkelheiten der Nomoi. Die terminologische Fixierung von τιμωρία und δίκη ist Neuerung der Nomoi; Gorg. 472e gebraucht die Worte gleichartig (ist nicht e 7 τυγχάνει τιμωρίας zu lesen?). Theaetet 177a 2 steht gerade entgegengesetzt δίκην τίνουσι. Nom. 904e und 9054} steht aber widersprüchlich δίκη, nicht nur des Homerverses wegen, sondern auch um der kosmischen Rechtsordnung willen. Konsequenz fehlt auch hier. 735e und 857a sind die Termini kopuliert,

so auch 716b, wo der Ausdruck im Einklang mit 728c ist. τιμωρία οὐ μεμπτὴ τῇ δίκῃ 716b ist eben nur verständlich aus Pol. 536b, wo nur allgemein die Richtigkeit eines Verhaltens durch Berufung auf das Urteil der δίκη stark ausgedrückt ist (parallel 487 a).

- Aus dem Unterschied des Tempus τυγχάνων - τυχών ist so wenig eine Nuance des Sinnes herauszupressen wie in den analogen Fällen 739e 8-740a 2 und 8134 2; das letztere ist ganz leere Wiederholung.

1 Strafe als Wiederherstellung gestörter Ordnung in der Seele ist in den beiden Äußerungen der Nomoi über die Strafe 862 ἃ ὁ und 934 a b nicht im strengen Sinne gegenwärtig. 934a weist ja die Formulierung auf die gleich formulierte Stelle Protagoras 324b, wo Protagoras die Strafe als Abschreckung für die Zuschauer bestimmt. Das

unterscheidet sich von der Auffassung des Sokrates ebenso, wie des Protagoras’ Außerlicher Begriff der Lehrbarkeit der Tugend, die Sokrates zum Schein bestreitet, um

sie

später tiefer zu begründen, nämlich auf das echte Wissen. (Die eigentümliche Vertauschung der Standpunkte erschwert die Interpretation des Protagoras.) Es kommt dem Protagoras nicht auf die Heilung des gestörten Seelenkosmos an, sondern ganz einfach auf das Nichtwiedertun (ἵνα μὴ αὖϑις ἀδικήσῃ). Das Wort Heilung fällt garnicht. In die Nomoi 934 ab ist das nahezu wörtlich übernommen,

zwar ohne das Stich-

wort ἀποτροπή, aber auch ohne ἴασις, wiewohl μισῆσαι τὴν ἀδικίαν in die Richtung des Heilungsbegriffes weist. 862 de wird auf das völlig gleiche Phänomen doch der

Ausdruck ἰᾶσθαι angewendet. Der Unterschied zwischen dem Abschreckungsbegriff und dem echt platonischen Heilungsbegriff (Gorg. 525b ff.) scheint verwischt. Abschreckend wirkt im Gorgias nur die Strafe der Unheilbaren auf die anderen, nirgends

irgend eine andere Strafe auf den Bestraften selbst. Die Verwischung, um nicht zu sagen Kontaminierung, der Auffassungen folgt notwendig aus dem Verfall des echten Seelen- und Wissensbegriffes.

6 1τ085448

Geschick der Seele

71

besseren geht und im Leben und im wiederkehrenden Tode leidet und tut, was einander anzutun sich gehört für gleich und gleich“. Glück und Unglück, Strafe und Lohn reichen über die irdische Existenz der Seele hinaus. Aber es ist ein Wirkungszusammenhang je der guten und

je der schlechten Seelen untereinander, der Glück und Unglück ausmacht und so die Stelle der geistigen und der stofflichen Sphäre einnimmt,

die früher die Seele glücklich und unglücklich machten.

Dabei

steht auf einer Stufe, was die Seelen einander im Diesseits und was sie einander im Jenseits antun. Scheinhafte und wahre Leiden müssen notwendig durcheinandergehen, das ist die Folge davon, daß die Ideen-

welt ibre Rechte an den Kosmos abgetreten hat und der Bereich des Göttlichen jetzt ein im Raum ausgebreiteter Zusammenhang von Gestirnseelen geworden ist. So war 890b-899d bewiesen worden. Zwar besteht Klarheit im Falle der guten Seele: die Seligkeit der geistigen Schau ist geblieben, aber gerichtet auf göttlich-seelische Ordnung des sichtbaren Weltalls. So lehrt die Epinomis 986d, 992b. Daß diese Schau eben die Wechselwirkung zwischen guten Seelen ist, scheint gegeben, ohne daß die Vorstellungen wirklich ausgeglichen und deutlich werden. Aber wenn die von irdischer Vielfalt befreite Seele, zur Einheit

der φρόνησις geworden, εἰς τόπους προσήκοντας ἀρετῇ gelangt und in der Schau des „Schönsten, was sichtbar ist“ (E,pin. 986d), verharrt, so ist das dasselbe, was 904d in bezug auf die Wechselwirkung der Seelen ausgeführt

wird: „Wenn

sie, mit göttlicher Tugend

sich verbindend,

außergewöhnlich tugendhaft [τοιαὐτῇ wird, dann tauscht sie auch einen außerordentlichen Ort, einen ganz und gar heiligen, ein, indem sic an einen anderen, besseren Ort übersiedelt.‘“ Dort erweisen ihr andere gute Seelen „das Zukommende“, ἀ. ἢ. die Kosmosseele, „sich

mitfreuend! ohne Mißgunst, daB er gut wird‘ (Epin. 988b), lehrt ihn die göttliche Ordnung. Hier tritt die ὁμοίωσις dei ein, von der die theo-

logische Einleitung der großen Rede an die Siedler spricht (716a-d), das συνέπεσθαι ταπεινὸς καὶ κεχοσμηνένος (716a), das συνακολουϑεῖν (T16be, ganz wie Epin. 977b, 988b, aber auch Nom. 966b), das schon

in der irdischen Gemeinschaft guter Seelen, der ὁμιλία γενομένη ἰσχυρά (904.d), beginnt. Soweit besteht Klarheit auch nach dem großen Szenen-

wechsel von der Ideenspkäre zum göttlichen Kosmos. Aber im Fall der 1 Hier freut sich der Kosmosgott wie der Deminrg im Timaios 37c, aber dies mythische Wesen darf das, während cs der Kosmosgott nicht darf, denn ‚ein Gott, der den vollkommenen Grad der Göttlichkeit hat, ist außerhalb von diesem, von Leid und

Freude

(Epin. 985a wie Phil. 33b).

72

Die

Philosophie

der Nomoi

schlechten Seele treten die Schwierigkeiten in Erscheinung, die wir an-

deuteten. Die irdische schlechte Gesellschaft mit ihren Leiden hatte die Stelle der Gottferne der ungeistigen Seelenverfassung eingenommen. Nun wird diese schlechte Gesellschaft von Seelen ins Überirdische verlängert. Bleibt dann auch bestehen, daß die Leiden, die sie sich antun,

keine heilenden Leiden sind (728b)? Die Formulierungen über diese Leiden gleichen sich aufs Haar (728c 1 und 904e 7); und τείσεις δὲ αὐτῶν! τὴν προσήκουσαν τιμωρίαν εἴτ᾽ ἐνθάδε μένων εἴτε usw. ruft die Antithese δίκη-τιμωρία (728c) zurück, besonders da das ἐνθάδε μένων erwähnt wird. Aber dann würde ja der Sinn des jenseitigen Gerichtes verlorengehen, welches zur Besserung Leiden verhängt und nur einzelne Unheilbare der Qual ewiger Verdammnis überantwortet. Das Geschick der Seele ist ja gerade Wanderung zwischen Gut und Böse in beiden Richtungen (903d, 904c) und Wandlung aus eigenem Wollen oder durch

eine andere Seele (903d). Nun hat aber die Gemeinschaft schlechter Seelen nur niederziehende Wirkung, und Heilung kann aus ihrem Tun nicht erwachsen. Unter der Voraussetzung der Ideenlehre bestanden die jenseitigen Leiden der Seele in der Ferne von der reinen Sphäre der Ideen, in der Versagung einer Kommunikation, die ihr innerstes Wesen zur Erfüllung brächte. Gericht und Heilung konnten diese Ferne überwinden. Nachdem es nun aber das Geistige an sich in den Nomoi nicht mehr gibt, sondern das Seelische höchste Seinsstufe ist, fehlt der Be-

zugspunkt für die Begriffe Gericht und Heilung. Daher kommt diese Unstimmigkeit über die Natur der Leiden und über den Sinn des προσἦχον (vgl. diesen Ausdruck 904e, 905a mit dem gleichen Gorg. 525a, 526b, Phaidon 108c), die wir nicht aufheben, sondern nur als Symptom parallel allen früheren feststellen können. Diese Unstimmigkeit führt auf eine allgemeinere Schwierigkeit. Die schlechten

Seelen müssen nach

dem Tode im kosmischen

Be-

reiche irgendwo existieren. Denn es ist nicht zu vergessen, daß die τόποι, von denen geredet wird (903d, 904b ff.), nicht mythische Bilder sind, wie in den Jenseitsmythen des Gorgias und des Phaidros, sondern 1 Die Beziehung des αὐτῶν ist schwierig. England bezieht es auf die Götter (ol τάἔαντες a 3), aber es ist zwar ihre δίκη, 904e 4, aber als nichtheilendes

ihr Werk. Außerdem verlangt προσήχουσαν vorher das Bild des Sünders gezeichnet,

Unglück

nicht

τιμωρίαν ein Genetiv-Attribut. Nun wird

der vor der Verantwortung

fliehen will, aber

nicht kann. Auf dessen Taten geht αὐτῶν sehr lax. In diesem Stile halte ich das absolut für möglich. Die Parallelen sind alle etwas milder, immerhin ist etwa 889 a4 die Be-

ziehung des αὐτῶν auch ziemlich hart.

Geschick

im kosmischen

der Seele

73

Raum liegen.! Hades ist zwar ein mythischer Name,

aber der Aufenthaltsort der schlechten Seelen, den er bezeichnet, muß

unbedingt real-räumlich sein. Wir befinden uns nicht in mythischer Sphäre,? sondern in bewiesener Realität des Weltraums. Wie sich nun dies negative Seelische zum vollkommenen Seelischen der Gestirnseelen verhält, mit dem es im gleichen Weltraum lokalisiert wird und mit dem es zusammen einen ewigen Kampf im Weltraum kämpft (906a), auf diese berechtigte Frage gibt es nirgendwo eine Antwort im Text. Von dieser größeren Unklarheit ist die vorher genannte Unstimmigkeit nur eine Teilerscheinung. Ehe wir diese Linie weiter verfolgen, fordert die Ansprache noch einige Betrachtung. Der Gott, mit dem sie 715e anhebt, wird sogleich durch den παλαιὸς λόγος, den der Scholiast orphisch nennt, als ein Gott bezeichnet, der das Ganze der Welt hat oder das Ganze ist. Dazu stimmt die offenbar auf die Orphiker zielende Angabe im Sophistes (242d), schon vor Xenophanes habe man das sogenannte Ganze für eines erklärt. Die Nomoi können das mit ihrem Kosmosgott identifizieren, ob-

wohl dieser ja erst viel später definiert wird. Aber das ist nur eine Frage der Komposition. Sehr wahrscheinlich ist außer dem feierlichen Wort von „Anfang, Mitte und Ende der Dinge“ auch die Δίκη rıuwp6c* orpbisch (frg. 160 Kern), hier ethisches Kosmosgesetz, das als letzte Instanz über dem Staat steht. Die ethische Norm der Kreisbewegung ist in εὐῚθείαδ ausgedrückt, das mit περιπορευόμενος nicht, wie England z. St. annimmt, ein beabsichtigtes mysteriöses Paradoxon bildet. Vielmehr legt die sonstige gedankliche Beschaffenheit der Nomoi einen nicht beabsichtigten Widerspruch nahe. Indem εὐθείᾳ im Sinne des geraden Rechts wie im Hesiod (Erga 9 und 36), Aischylos und Pindar 1 Allerdings verkoppelt auch die Politeia zeigt als das Topographische dort räumlich; dagegen in den Phaidon vgl. Friedländer

der Phaidon eine richtige Topographie mit dem Mythos, und Szenerie den Weltraum mit der Weltspindel. Trotzdem muß Bild für das Geistige sein. Der νοητὸς τόπος ist eben nicht Nomoi ist der Raum der wirkliche. - Zur Topographie des im 1. Band seines Platon.

3 Nur scheinbar spricht am Anfang des Abschnitts

ἐπῳδῶν

μύϑων

W3b1

gegen

diese Behauptung. Die häufige Vermischung zwischen λόγος und μῦϑος in den Nomoi

werden wir unten zeigen. 5 Kern,

Orphicorum fragmenta Nr. 21. Daß der in Ps.-Aristot. περὶ κόσμου über-

lieferte Hymnus alt sei, nimmt Kern zu Fragment 22 nicht mit Recht an; vgl. Harder, Philologus 1930 5. 283 ff. « Δίκη ist- mit England und Friedländer-716b, 872e und hier als Personenname zu schreiben, aber auch Politeia 536b, wo der Μῶμος von 4878 es erzwingt.

5 Viel schlimmer ist 747a 5 εὐθυπορίαν.... τῆς x. περιφορᾶς, wo ich der Versuchung widerstehe, den Akkusativ herzustellen.

74

Die

Philosophie der Nomoi

verwendet wird, ist sein räumlicher Ursinn vernachlässigt.

Die Nach-

folge dieses Gottes verlangt ὁμοίωσις, wie im Theaetet, durch awppoσύνη. Der Gorgias (507e fl.) nannte diese Verähnlichung κοινωνία, die nach dem Wort der „Weisen“ den Kosmos zusammenhalte. Diese „Weisen“ dürften Pythagoreer sein, denen die „geometrische Gleichheit‘ (508a) ähnlich sähe. So ist auch 716c das „alte Wort“, nicht nur

das Sprichwort, daß Gleich und Gleich sich gem gesellt (Homer p 218), sondern ein pythagoreischer Grundsatz, zumal τὸ μέτριον (Politikos 284e) das Maßvolle, Maßhaltende, das Bedingung für die φιλία ist, im Philebos (66a) oberstes Element der Mischung des Guten ist und der Philebos mit seiner philosophischen Mathematik (wahrlich einer anderen, als die der Nomoi und Epinomis ist), auf die Pythagoreer weist.! Der Gedanke, daß nur die Guten untereinander Gemeinschaft halten können, oder besser die, die gut sein wollen, mit den Guten, ist all-

gemein platonisch (Gorg. 507e, Pol. 351 ἀς, Lysis 214} ff.), aber hier ist die Norm des Guten nicht mehr transzendent, sondern im Kosmos.

Dies der Sinn des Satzes, daB Gott das Maß aller Dinge ist. Die Schwierigkeiten, mit denen wir den Tugendbegriff der Nomoi belastet fanden, werden hier nicht sichtbar. Doch ist notwendig, was hier σωφροσύνη und δικαιοσύνηξ heißt, identisch mit der zwiespältigen Wissenstugend der Epinomis, die ὁμοίωσις identisch mit dem συναχολουϑεῖν von Epinomis 988b, wenn es auch hier noch nicht herauskommt.

Daß die ethischen Ermahnungen am Anfange des 5. Buches den vollen Sinn der ethischen Begriffe, mit denen sie operieren, nicht bewahren, ist nach allem, was wir ermittelten, nicht verwunderlich. Unter den

Forderungen an die Natur der Philosophen nahm Politeia 485c die Liebe zur Wahrheit den ersten Platz ein, denn ἀλήϑεια ist der σοφία am nächsten verwandt, ja, der Philosoph heißt (487a) Freund und Verwandter der Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenbeit (ἀλήϑεια ist also geradezu für σοφία eingetreten), und er „zeugt Geist und Wahrheit‘ (490b). Das ist ersichtlich nicht nur Aufrichtigkeit, sondern richtiges Wissen des Seienden, also das Gegenteil des ὡς ἀληϑῶς ψεῦδος, 1 Wie sich das Pythagoreische

zum Orphischen verhält, ist völlig dunkel, wie im

allgemeinen, so an dieser Stelle. - Auch Lysis 214b ist zu vergleichen, wo der Satz „den

Weisesten‘‘ zugeschrieben wird. Auch Empedokles’ Lehre (Erkenntnis nur durch Gleiches) weist ebendahin. 2 716d 3 ist logisch der von dem vorsichtigen Burnet in den Text genommene Vorschlag Ritters καὶ «ὁ» ἄδικος voll begreiflich, aber trotzdem abzulehnen. Eine solche Präzision gibt es hier nicht. Daß

ἄδικος

zum

Prädikat,

statt zum

gleicht haarscharf dem logischen Zustand des Satzes 689d 7-el.

Subjekt

gehört,

Ethische

der ἄγνοια, wovon

Begriffe

die „Unwahrheit

in

Nomoi

V

in Worten“

75

nur ein Abbild

ist

(382ab). Wieder heißt es Nomoi 730b von der Wahrheit, daß sie für Götter und Menschen allen Gütern vorangeht (wie Politeia 490a 1 mit

Bezug auf 485 ο). Aber sie ist hier bloß die Ehrlichkeit,! die Vermeidung des ψεῦδος ἐν τοῖς λόγοις. Das ψεῦδος ἐν τῇ ψυχῇ scheint durch ὅτῳ δὲ ἀκούσιον, ἄνους wiedergegeben, nur ist bedenklich, daß das mechanisch und unverbunden neben dem ψεῦδος ἐν τοῖς λόγοις steht; denn der Wortlaut erlaubt nicht zu denken, daß ἄνους und ἄπιστος beide dem Ober-

begriff μὴ ἀληθής subsumiert werden. Es müßte aber die Lüge der sittlichen Unwissenheit untergeordnet sein. Nun ist aber das von beiden hervorgerufene Unglück gekennzeichnet durch das Fehlen der Freundschaft, das als Symptom der Zerstörung philosophischer Seelenordnung in Gorg. 507e und Pol. 577c ff. (vom Tyrannen) erschien, und so auch Nomoi 691d. Der Begriff der ἄνοια war oben als innerlich gebrochen erwiesen worden, so daß sich an unserer Stelle das anstößige logische Verhältnis von ἄνους zu ἄπιστος erklärt. Das Wissen ist eben kein echt sitt-

liches mehr, sondern Sachwissen. Im Grunde ist also hier nicht mehr ge-

meint als: lügnerische und unbelehrbare Menschen sind im Alter ohne Fürsorge ; darum muß man ehrlich sein und sich belehren lassen. Zu diesem Sinn fügt sich gut der heftige Tadel gegen die Eigenliebe, die intechnischer Unbelehrbarkeit sich äußert (131 ff.). Überall ist der metaphysische Sinn der Begriffe entschwunden. Das zeigt sich auch in der Bemerkung über den φϑόνος 7306. Wer selbst Weisheit usw. besitzt, aber aus Mißgunst ‚‚freiwillig keinem freundschaftlich Anteil geben will an gewissen Gütern“, nämlich den Tugenden, den soll man tadeln. Als ob

der φϑόνος, der ἔξω ϑείου χοροῦ ἴσταται (Phaidros 247a), in einer vom Wissen des schlechthin Guten erfüllten Seele Platz hätte. Er kann also hier nur sehr real dies bedeuten: daß sich ein Wissender an Belehrung, Bestrafung, Denunziation (d5) nicht beteiligen will. Schließlich wäre auch der volkstümlich empirische Satz, „daß der Liebende blind wird

gegenüber dem, was er liebt‘‘ (731 6), vom metaphysischen Sinn der φιλία aus, die ja mit Wissenstugend verknüpft ist, undenkbar. Das lehrt etwa Gorgias 507e, vor allem aber die ganze Durchführung des Lysis, wo die φιλία über jedes begrenzte Objekt auf ein πρῶτον φίλον, das Gute, gerichtet ist, das man durch Wissen erreicht. Diese geisterfüllte Liebe, die 1 Der Wahrhaftige und Zuverlässige erscheint Phaidon 89 d nur beispielahalber, aber

auch dort steht letztlich das richtige Wissen dahinter. 3 ἄνους 730 ς 5 ist ἄνευ νοῦ, aber kann, wie ἀμαθής c 6, auch auf technisches Wissen gehen (689c), wie esz. B. auch einen νοῦς χυβερνητικός gibt (Lysis 210b, Nomoi 961e).

76

Die

Philosophie

der Nomoi

durch überschwengliches Wissen die volle Seelenkraft lenkt, nennt Pla-

ton im Symposion, zu dem der Lysis geradezu eine thematische Vorbereitung ist, Eros. Auch der Eros tritt in den Nomoi in verarmter Form auf, aber so, daß seine alte Wesensbestimmung noch erkennbar durch die Entstellung durchscheint. 837 a-842a handelt von der Erotik der Staatsbürger und ihrer ethischen Bändigung. Es werden zwei Arten des Eros unterschieden, der zwischen Gleichen an Tugend und der zwischen

Entgegengesetzten, wobei der letztere charakterisiert wird als: „es liebt das Bedürfende das im Reichtum Lebende, dem es an Art entgegengesetzt ist‘ (837a).! Evident ist das die Formulierung für den Eros der Diotimarede (Symp. 203a ff.) und für die φιλία des Lysis (212a). Dieser Eros wird aber im Fortgang (837 bc) auf den Körper bezogen und negativ bewertet, dagegen der andere ist „ruhig und lebenslänglich zweiseitig‘“, auf die philosophischen Tugenden der Seele gerichtet, die ausdrücklich aufgezählt werden? (837 c). Gerade diese philosophische Tugend erfüllte sich aber nach dem Lysis und dem Symposion im geisterfüllten Streben des Bedürftigen nach der Fülle der Schönbeit und des Seins. Die ruhige Freundschaft zwischen Gleichen galt da gar nicht als echte φιλία (Lys. 216c ff.); eine solche nüchterne Moralität ließ die Diotimarede weit unter sich; sie ist charakterisiert im Phaidros (2566) als „gemischt mit irdischer Besonnenheit, irdische und geizige Gaben verwaltend, unedle Gesinnung, von der Menge als Tugend gepriesen, in der geliebten Seele zeugend“. (Dies ist das vollkommene Ebenbild dessen, was unsterbliche Banalität bis heute „platonische Liebe‘ nennt.) Die völlige Zerrüttung der alten philosophischen Gesinnung und Begriffsbildung ist bier mit Händen zu greifen, eine notwendige Folge vom Verfall des echten totalen Wissensbegriffes. Die Konformität mit der Entartung der Tugend bestätigt sich zum Überfluß darin, daß die um athletischer Siege willen geübte Abstinenz

des Ikkos aus Tarent (840 a) als Muster der Tugend, ja als Beweis ihrer Möglichkeit? hingestellt wird. Kein Beispiel könnte drastischer die 1 φίλον ὅμοιον ὁμοίῳ ist ἐρᾶται, dagegen φίλον τὸ δεόμενον τοῦ πεπλουτηκότος ist ἐρᾷ (dazu vgl. die Frage Lysis 2124). Was die aus beiden Formen gemischte dritte soll, die dann mit der zweiten der Ablehnung verfällt, läßt sich nicht ermitteln. 3 Für die Gerechtigkeit tritt τὸ μεγαλοπρεπές ein, die große Gesinnung, die seit Pol. 486a Kennzeichen der echt philosophischen Natur ist (vgl. auch 709e, 795e, Epin. 975c, 982e, wo der Begriff sogar auf den Gegenstand, die Gestirnbewegungen, übertragen ist).

® Daß etwas κατὰ φύσιν und „nicht über Menschenkraft‘‘ (839d) ist, wird hier durch historische Tatsachen bewiesen (ἐλεγχϑὲν ἔργῳ), wie für die Syssitien. Die militärische Ausbildung der Frauen wird als „möglich“, d.h. naturgemäß bewiesen

Eros. Geometrische

Gleichheit

77

verächtliche sklavische Tugend, die irdische Besonnenheit der Phaidrosstelle, anschaulich machen, die um einer Lust willen die andere ver-

schmäht. Aber wir haben ja gezeigt, daß diese sklavische Tugend in den Nomoi zu Ehren gekommen ist. Die erstaunliche Übertragung des philosophisch gemeinten Sachverhaltes auf das körperliche Begehren hat ihr Gegenstück in der Verwendung der „geometrischen Gleichheit‘, die die verschiedenen Rechte der vier Stände des Nomoistaates motivieren soll (757a—e). Zwar fällt der Name „geometrische Gleichheit‘ nicht, aber die Charakteristik: die jeweilige Zuteilung ‚‚des naturgemäß Gleichen an die Ungleichheit“ (757d) und „Ämter und Ehren in möglichster Gleichheit zum Un-

gleichen, aber dem Maß Entsprechenden empfangen“ (744 c)! laßt unzweideutig die proportionale Gleichheit im Unterschied zur arithmetischen erkennen. Pythagoreischer Weisheit entstammend (παλαιὸς λόγος 757a, φασὶν ol σοφοί Gorg. 507e), konstituierte die geometrische Gleichheit im Gorgias gegenüber der Pleonexie des Kallikles die Gemeinschaft des sittlichen Kosmos (508a; bei den Pythagoreern natürlich des räumlichen Kosmos), indem sie jedem durch σωφροσύνη das Seinige gab. Verwandelt fundierte sie in der Politeia als das Prinzip des τὰ ἑαυτοῦ πράττειν den Staat, dessen drei Stände nach sittlicher Physis proportional verschiedene Funktionen hatten. In den Nomoi dagegen soll sie die Ungleichheit der Ämter und

Rechte für die vier nach Ver-

mögen unterschiedenen Stände begründen. Ein Schwanken der Erörterung ist freilich nicht zu leugnen. Zuerst (744b ff.) werden die vier Klassen eingeführt, „damit sie die Einschätzung des rechten Wertes für die Einzelnen, Ehren und Ämter, nicht nur nach Tugend der Vor-

fahren und eigener, und nicht nach körperlicher Kraft und Wohlgestalt, sondern auch nach Verfügung über Reichtum und nach Armut in möglichster Gleichheit zum Ungleichen, aber dem Maß Entsprechenden empfangen und so sich nicht unterscheiden.‘“2 Also die vier Klassen aus dem Beispiel der Sauromatinnen (804 ff.). In der Politeia dagegen war die φύσιςBegründung wirklich aus der φύσις abgeleitet (454a-456c). Der methodische Wert der Fakten als Beispiele für philosophische Wahrheit wird im 3. Buch stark betont (683e: οὐ περὶ κενόν τι ζητήσομεν, ἀλλὰ περὶ γεγονός τε καὶ ἔχον ἀλήϑειαν. Was nicht geschieht, hat keine Wahrheit!), ja, die Geschichtsbetrachtung des 3. Buches ruht darauf. Eine Welt trennt diese Auffassung von der der Politeia. 1 Es ist wohl nicht zu leugnen, daß der Ausdruck mehr erraten als erfassen läßt und logisch äußerst unklar ist. Man erwartet, daß die Ämter der Ungleichheit der Naturen entsprechend sind. 2 Die glaubhafteste Diagnose des schweren Satzes schien mir lange die Annahme

einer Lücke nach διανομαί b 6, nicht Asts und Schanz’ Streichungen. Doch ziehe ich

78

Die

Philosophie der Nomoi

bringen finanzielle Unterschiede zu den bestehenden an Tugend der Seele und des Körpers hinzu? Oder sollte gemeint sein, jene Vorzüge wüchsen

mit

dem

Besitz,

die reicheren

unter den herzuströmenden

Siedlern (744b 3) seien edler, kräftiger und schöner? Das letztere muß allen Ernstes angenommen werden, denn es können nicht Freunde wer-

den ‚in gleicher Einschätzung lebend! Gute und Schlechte, denn den Ungleichen würde die (arithmetische) Gleichheit zur Ungleichheit? werden, falls sie nicht das richtige Verhältnis findet‘ (d. h. in Proportion verwandelt

wird,

757b)

und

‚so teilt sie denn den an Tugend

Größeren immer größere Ehren zu, den an Tugend und Bildung jenen Entgegengesetzten das beiden Gebührende im Verhältnis‘? (757c). Der sittliche Unterschied der Stände, der in.der Politeia aus der Trichotomie deduziert war, scheint hier dem von Solon übernommenen timo-

kratischen

Unterschied gewaltsam angehängt, spielt auch im Leben

dieses Staates keine Rolle, es sei denn die der Fiktion, auf die sich Vor-

rechte gründen. Wir dürfen also sagen, daß hier eine philosophische Norm unter Einbuße ihres wesentlichen Sinngehaltes auf politische Realitäten übertragen wird. Denn es kann keine Rede davon sein, daß politische Institutionen in der Weise der Politeia aus einem philosophischen Prinzip konstruiert werden. In allen Stücken nehmen die Nomoi eine Sonderstellung ein. Das wird auch für die Kosmotheologie des 10. Buches gelten, die wir zuletzt betrachten. Denn von aller platonischen Kosmologie sonst hebt sich diese dadurch ab, daß in ihr zum ersten Male der Kosmos wirklich

autark und höchste Stufe des Seins ist. Die Beziehung zum höchsten Sein der Ideen und des Guten fehlt hier völlig. So fügt sich die Kosmologie der philosophischen Situation der Nomoi bestens ein,? gerade auch in den Unklarheiten, die ihr, wie zu zeigen ist, anhaften. zögernd die Möglichkeit eines sehr harten Anakolutbs mit völlig neuem Einsetzen nach

διανομαί in Erwägung. Gleichwertiges wäre in Nomoi und Epinomis durchaus beizubringen. Die Wiederholung des Objekts τιμήν durch τιμάς τε καὶ ἀρχάς ist eine alltägliche Erscheinung in diesem Stil. 1 διαγορευόμενοι unhaltbar; διαγόμενοι Stobaeus, medial gefaßt, ist durch 758a 6 nahegelegt, durch Pol. 344e 2, wo es διαγωγή wiedergibt, gesichert. 3 Genau nach Politeia 558c (Tadel der demokratischen ἰσότης). 8. Die Illogik, die durch ἑχατέροις hereinkommt, ist so völlig im Stil dieses Denkens, daß ich mich der Hinzufügung, die Ast will, widersetze.

4 Der Übergang in eine andere Klasse (744c) wird natürlich finanziell erzwungen durch Verluste in Gestalt von Geldstrafen oder Gewinne usw. Da wird Koppelung des

Sittlichen mit dem Vermögensstand absurd. In der Politeia hatte solcher Übergang einen wesentlichen geistigen Sinn und geistige Voraussetzungen (415 bc). δ᾽ Von der kompositionellen Merkwürdigkeit ist hier abzusehen, daß die grundlegende

Platonische Kosmologie

79

Den von Geist und Seele gelenkten Kosmos setzen schon Phaidros und Philebos voraus. Grundlegend für die Nomoi wird der Begriff der Selbstbewegung werden, aufdender Unsterblichkeitsbeweis im Phaidros

245 fl. sich gründet. Zwar enthält der Phaidros überhaupt keine Kosmologie,! aber eine unzweideutige Wendung (245d 7-- 2) beweist, daß das Prinzip der Selbstbewegung auch für den Kosmos gilt. Das geht freilich nebenbei; im Ganzen des Dialoges spielt es gar keine Rolle, der Thematik entsprechend. Es ist nun unwahrscheinlich, daß der kinetische Seelenbegriff von Platon erst konzipiert worden sei, als er den Phaidros schrieb, und daß also zwei Perioden platonischer Seelenauffassung, statische und kinetische, zu scheiden seien.?2 Denn einerseits

setzt der Phaidros in der Trichotomie der Seele und der mythischen Ideenschau (246a-247b) ebenso wie in seinen Verhandlungen über Dialektik

und

Rhetorik

den

‚statischen‘

Seelenbegriff voraus:

die

Seele ist Trägerin des Ideenwissens, nicht anders als im Phaidon; andererseits scheint der dritte Beweis im Phaidon (103 c ff.), der sich auf den Begriff des Lebens, das ist der Selbstbewegung, stützt, dem Phaidrosbeweis sachlich so nahe und logisch so homogen? daß kein Grund besteht, die kinetisch gedachte Seele aus dem Phaidon auszuschließen und Selbstbewegung und Vernunfttätigkeit für unvereinbar zu halten. Bewegung heißt hier doch seelischer Akt.* Die klassische AuseinanderTheologie so spät behandelt wird, daß man sie nachträglich erst in die scheinbar ganz

anders gerichtete Philosophie der ersten 9 Bücher hineinlesen muß. - Daß das 10. Buch einen klaren Zusammenhang

unterbricht, ist evident (Wil. II 314), aber ebenso, daß

es mit dem Schluß des 12. Buches unlösbar zum Ganzen hinzugehört. Das erzwingen schon die äußerlichen, aber darum nicht wegdeutbaren Verweise: 8214 fi., 93la, 948c und

die vorlaufenden

Hinweise

auf den nächtlichen

Rat:

632c, 95] ἃ ff. Mit Unrecht

halt Zeller (II 967) 951d-952b für eingesprengt. 1 Die Götter 246c ff. sind die mythischen, nicht die Sterne, trotz Stenzel, ζῷον und κίνησις Progr. Breslau 1914 5. 4. Das beweist der mythische Zusammenhang, vor allem

aber die Kritik an der Menschengestalt der Götter 246c, der dann sogleich ein Verzicht auf diese Kritik folgt: „Die Benennung

und

unsterblich bekommt

Seele) überhaupt aus keinem durch Denken gefundenen

(die Einheit von Leib

Grunde, sondern wir

bilden, ohne ihn zu sehen oder hinlänglich zu denken, einen Gott als ein unsterbliches

Lebewesen mit Seele und Leib, die aber für alle Zeit zusammengewachsen sind.‘ Die Artikulierung des Gedankens spricht gegen Wilamowitz’ (II 362) ἄλλο für das überlieferte ἀλλά. 3 Vgl. Theiler, Gesch. d. teleol. Naturbetr., Zürich 1924, 5. 64 ff.; v. Arnim, Platons Jugenddial. u. d. Entstehungszeit d. Phaidr., Berlin 1914, 5. 176 ff. 3 Die Vorstellung, daß Platon einen Beweis, den er im Phaidon nicht anführt, auch nicht kennt, ist ganz von der Arbeitsweise desmodernen Gelehrten übertragen (v. Arnim

a.a.0. 4 Hier

5.179). muß

ich v. Arnim

ἃ. 8. O.

S. 177ff.

entschieden

widersprechen,

der

sie für

körperlich nimmt. Seelengeschehen als χίνησις auch Pol. 583e. Ob die Bewegung und

80

Die

setzung (98 a-b) geleistet Sein hat

mit eine wird und

Philosophie

der Nomoi

der mechanischen Naturerklärung im Phaidon vermißt Erklärung des Kosmos aus dem νοῦς, die dort aber nicht noch werden kann, weil die räumliche Welt kein wahres nicht Objekt wahrer Wissenschaft sein kann. Es ist aber

nicht einzusehen, warum

Platon im Phaidros einer Wissenschaft

vom

Kosmos näherstehen soll. Die Erwähnung des beseelten Kosmos und die Selbstbewegung scheint das durchaus nicht zu beweisen. Daß der Kosmos

beseelt ist, muß

Platon immer

geglaubt

haben,

seitdem er

pythagoreischer Weisheit sich öffnete, zu der auch diese Lehre gehört. (Alkmaion von Kroton, Vors. 24 A 12.) In der Politeia, der Hochburg der Ideenlehre, wird auch schon der vom Demiurgen „so schön wie

möglich

zusammengestellte

Himmel‘

erwähnt,

ebenso

wie

die

„Götter am Himmel“ (508a, vgl. auch Crat. 400a), unter ausdrücklicher Ablehnung der auf den sichtbaren Kosmos (530a) gerichteten Astronomie, aber sinngemäß müßte im Phaidros das Urteil über sie genau so ausfallen,! wenn Gelegenheit wäre, es auszusprechen. Daß das nicht bloß eine vage Vermutung ist, erweist der Philebos. Er führt (28a ff.) mit Berufung auf die Pythagoreer (σοφοί 28c, πάλαι drropnvaμένοις 30d), möglicherweise auch auf die Anaxagoreer (30d),? den von Geist und Seele regierten Kosmos ein und hebt ihn weit über die Menschenwelt hinaus. Die vier Elemente sind stärker als in uns im All, das

uns nährt (29 a-c) ; unsere Seele stammt aus der vollkommenen Weltseele (30 a-d). Es hat keinen Sinn (30c 1), daß die vierte Gattung, die αἰτία (30a 10), bei uns Seele und Wissen geschaffen haben soll, aber nicht in der Himmelswelt

(30b), vielmehr ist durch die Kraft der ‚‚Ursache“

(30d 2) königliche Seele und königlicher Geist im Himmel. diese gewaltige

‚Ursache‘?

Sie wurde

Was

ist

26e als „das Schaffende‘‘

be-

zeichnet, dann aber (27 ab) als das, was die drei anderen Gattungen, πέρας, ἄπειρον und das aus ihnen gemischte „Werden zum Sein“ Beseelung des Seienden im Sophistes (248a ff., 250c) wirklich eine Vorwegnahme des Kosmos des Timaios ist, wie zuletzt Theiler a. a. ©. S. 66ff. sehr dezidiert behauptete,

oder nicht doch mit Zeller (II 689) eine Bewegung Tim, 37d, 39e, anzunehmen dürfen.

der Ideenwelt, des ἀΐδιον ζῷον

ist, scheint mir erneuter Untersuchung durchaus

zu be-

1 Die Inadäquatheit körperlicher Erscheinung zur Idee kann nämlich für den ideenschauenden Geist im Phaidros unmöglich gemindert sein, die Begründung Pol. 530 ab

muß also dort unverändert gelten. -- Ich streiche die syntaktisch (auch mit Madvigs ζητήσει) nicht eingearbeiteten Worte 530} 3f. [σῶμά re... λαβεῖν], einen der üblichen Zusätze.

3 Vgl. Theiler a. a. O. 5. 72, wo auf Diogenes von Apollonia für „‚die königliche Seele in der Natur des Zeus‘ gedeutet wird.

Platonische

Kosmologie

81

erschafft (δημιουργοῦν) ; alsokannsienichts anderes sein alsder Demiurg, der im Timaios Seele und Kosmos schafft.! Obwohl nun aber der Kosmos eine vornehme Genealogie bekommt, spricht derselbe Dialog in grundesätzlicher Schärfe (57e-59d) der Naturwissenschaft den Charakter echter Wissenschaft ab. Weil der Kosmos als werdender keine Festigkeit hat, kann es über ihn kein festes Wissen geben (59b). Also ob-

wohl in ihm „‚königlicher Geist“ ist (30.d), gibt es über ihn „keinen Geist oder irgendeine Wissenschaft“ (59b), als welche sich nur die Dialektik mit ihrer Propädeutik bezeichnen darf (58a, 55c-57e). Damit dürfen wir behaupten, daß vom Phaidon bis zum Philebos das Urteil über den philosophischen Unwert der Kosmologie gleichgeblieben ist und die Bewegungsseele des Phaidrosbeweises keine Änderung darin bewirkt. Es zeigt sich, wenn das wahr ist, wieder, wie gegen

neuere Platoninterpreten hervorzuheben ist, der einheitliche zusammenhang platonischer Gedanken, der überall zu bestehen wo die Ideenlehre noch gegenwärtig ist. Wir brauchen uns naiven Ernstnehmen philosophischer Aussagen Platons nicht chen zu lassen. Im Timaios ist die Ideenlebre auf den ersten Blick darin

Systemscheint, also im irremawieder-

zufinden, daß der νοητὸς κόσμος Vorbild der geschaffenen Welt ist (28a, 29a, 374, 39e). Außerdem ist der Demiurg da. Die Gleichung Schöpfer-

gott = Idee des Guten, aufgestellt von Zeller, ist öfters angefochten worden,

zuletzt von Theiler (4. 8. Ὁ. 5.70 f.). Dafür, daß sie aufrecht-

zuerhalten ist,? scheint folgendes zu sprechen: die Weltseele heißt 37a: τῶν νοητῶν del τε ὄντων ὑπὸ τοῦ ἀρίστου ἀρίστη γενομένη τῶν γεννηϑέντων „Von

der Hand

des Besten unter dem

Intelligiblen und immer

Seienden ist sie als Beste unter dem Geschaffenen geworden.‘ Die fast wörtliche Parallele 29a 2-6 bestätigt diese Auffassung. Das Beste unter dem Intelligiblen ist die Idee des Guten. Von dieser heißt es Pol. 508b 12 ff., sie erzeuge sich die Sonne, die Spitze des Kosmos, als ihr „Analogon“‘, und 506e, das Gute sei der Vater dieses Sprößlings. Das deckt 1 Diese Beziehung ist offenbar zuerst gesehen von Theiler ἃ. ἃ. Ο. S. 72, der allerdings die Identifizierung

mit der Idee des Guten

bestreitet, an der wir festhalten, und den

Demiurgen der Seele gleichsetzt, die er doch Philebos 27a-b, Timaios schafft.

30a-d ebenso wie im

3 Im gleichen Sinn wie wir äußert sich kurz E. Hoffmann, Gnomon 1939 S. 466. 3 Wilamowitz II 388 ficht wie Proklos diese naheliegende Auffassung an, weil der Demiurg nicht zu den νοητά gehören könne, und sprachlich, weil der komplementäre Ausdruck ὑπὸ τοῦ ἀρίστου ἀρίστη durch sie verdorben würde. Beidesleuchtet mireben-

sowenig ein, wie ich Wilamowitz’ eigene Erklärung wahrscheinlich finden kann. 6

Müller, Nomoi

82

Die Philosophie der Nomoi

sich mit dem „Schöpfer und Vater dieses Alls‘‘ (Tim. 28c). Andrerseits ist die Idee des Guten in der Politeia auch Ursache des Intelligiblen (508b-509c), wie aus der Analogie der Sonne deutlich gemacht wird; so schafft der Gott die Idee der χλίνη (597c). Diese Funktion wird dem Demiurgen im Timaios nicht gegeben, weil dessen Blick auf die irdische Welt gerichtet ist, wohl aber im Philebos, wo die αἰτία schlechthin gleicherweise das Ideenhafte, das Körperhafte und das „Werden

Sein“ schafft (27b). 2 Tim. 28a 4) und αἰτία dem Schöpfer Ideenhafte stellt sie

zum

Die enge Berührung der Formulierungen (Phil.26e der Terminus δημιουργοῦν (Phil. 27b 1) stellen diese des Timaios, ihre Überordnung auch über das der Idee des Guten gleich.!

Wenn man auf solche Weise den Demiurgen als Idee des Guten versteht, ist über die Frage noch nicht präjudiziert, ob die Schöpfung als Wirklichkeit oder als Darstellungsmittel zu nehmen sei.?2 Für unseren Zusammenhang ist aber nur wesentlich die Präsenz des Noetischen und seiner höchsten Spitze im Timaios. Ihr entspricht der methodische Unterschied, der zwischen πίστις und ἀλήϑεια (29c) gemacht wird, in völliger Parallele zu Politeia 5114 und Philebos 59b. Die gesamte Wissenschaft des Timaios wird von vornherein unter den Vorbehalt gestellt: εἰκὼς μῦϑος (29d, 48d, 59c, 68d, 69b) oder auch εἰκὼς λόγος

(306 7, 594 1). Nur mit diesem Vorbehalt wird Wissenschaft vom Kosmos und vom Menschen hier möglich, die sonst im Platon immer beiseitegeschoben wurde. Der Timaios bietet zwei Aspekte. Man kann sagen, daß er mit der Trennung von Sein und Werden (28a ff., 3] ε ff.) und mit seinem noetischen Vorbild und Schöpfer in voller Harmonie zur Ideenphilosophie ist. Aber man kann ebenso sagen, daß die Abhängigkeit vom Vorbild nur formell bleibt, daß der einmal geschaffene Kosmos sich unabhängig bewegt, autark (68e) auch gegenüber dem Vorbild, daß er das Göttliche wirklich zur Erscheinung bringt und

Gegenstand der Anbetung wird, indem er Schöpfer und Vorbild nicht formell, aber faktisch verdrängt. Vom Schöpfungsakt aus gesehen, mag 1 Die

Gleichsetzung

des Demiurgen

und

der „Ursache“

mit der Weltseele,

die

Theiler ἃ. ἃ. ©. 5. 70ff. beredt vertritt, scheint aus den Nomoi bzw. der Epinomis herausinterpretiert. Gerade diese Übertragung will ich als nicht möglich erweisen. Auch bleibt der Einwand, daß die Seele von der ‚Ursache‘ oder dem Schöpfer gerade

gemacht wird (vgl. Philebos 30 a-c). * Für die erstere Auffassung, die des Aristoteles und Theophrast, plädierte zuletzt Harder, Okellos, Berlin 1926,

5.152 Anm.

2, für die letztere, die des Xenokrates

und

Speusipp, Theiler a. a. Ο. 5. 73. Eine zwingende Entscheidung scheint deswegen unmöglich, weil die Zeit mit der Seele zugleich erschaffen wird; dann ist die Seele ja zeitlich anfanglos. Man kann sie erschaffen und unerschaffen nennen.

Timaios

und

Ideenlehre

83

die Methexis der Ideenlehre gewahrt bleiben,! aber vom Leben des Kosmos aus gesehen, ist sie hinfällig, oder vielmehr sie wird ersetzt durch die Nachahmung der vollkommenen voüs-Bewegung am Himmel durch die unvollkommene seelische Bewegung in uns (47b ff., 89d, 90d).

Das

bedeutet,

daß

die

Ethik

sich,

bei

Wahrung

der

Seelen-

trichotomie, die sich aber durch Lokalisierung der drei Teile (69 a-70a) veräußerlicht,? nicht auf das Sein der Ideen, sondern auf den Kosmos

bezieht. Damit geht zusammen die Begründung der Unfreiwilligkeit durch körperliche Mängel und falsche Erziehung, nicht durch Verdunkelung des Wissens (86b-e). Praktisch bleibt keine Beziehung zu der Ideensphäre übrig. Der Himmel ist es, der dem Menschen die Philosophie schenkt (47a). Der εἰκὼς λόγος bemächtigt sich auch der Verhältnisse,

die sonst

nur

axiomatisch

vom

Eidos

her darzustellen

waren. Auf diese Weise kann es dahin kommen, daß das Körperliche wie

eine

selbständige

minderen

Ranges

Substanz

ist; ja es geht

erscheint sogar

(31b fl., 34c ff.), die

als „Teilbares‘‘

nur

oder als „das

Andere“ in die Weltseele ein (35a ff.).3 Auch in einer anderen Hinsicht steht der Timaios in einem Zwielicht. Es ist nicht bedeutungslos, daß für εἰκὼς μῦϑος auch εἰκὼς λόγος

gesagt werden konnte (29d, 30b u. ö.), daß also Beweisen und Fabulieren nicht getrennt wurden. Nirgends sonst im Platon ist das Mythische und das Apodeiktische untrennbar ineinander verschlungen, wie es hier ist, ohne

daß beide Elemente

ihren

Charakter

verlieren.

Deutlich hebt sich etwa die Lage im Phaidros ab: Beweis und mythische Erzählung, so sehr ihr Inhalt sich ergänzt, stehen doch deutlich nebeneinander, verflechten sich nicht ineinander. Auf keinen Fall ist diese

Ampbhibolie der Begriffe, die im Timaios begegnet, auf eine Stufe zu stellen mit der Charakterisierung des Gorgiasmythos als Logos (523a), denn diese soll nur dem in der Form rein erhaltenen Mythos einen höchsten Wahrheitsgehalt zusprechen. Dagegen hat das wahrscheinliche Wissen des Timaios auf Grund seiner eigentümlichen Unsicher1 Nur soviel kann ich E. Hoffmann zugeben, der (Gnomon 1939 S. 648) den Timaios und die Nomoi unter die Einheit der Ideenlehre einbeziehen will. Vollends für die Nomoi muß man gänzlich widersprechen. 3 Dazu kommt, daß die beiden unteren Seelenteile, nur von Untergöttern erschaffen, sterblich

sind, wie sie es in der Politeia nicht waren.

® Andrerseits

wird

nirgends eindeutig entwickelt,

wie das Böse

zu verstehen

ist.

42bc ist es, wie Pol. 611} ff., Verdunklung ursprünglicher Seelennatur durch die Materie. Aber es kann auch Nachfolge des ταὐτόν in der Seele gegenüber dem wesensnotwendig zu ihr gehörenden θάτερον sein (37a-c). 65"

84

Die Philosophie der Nomoi

heit eine Durchdringung durch den Mythos erfahren, wie sie dem strengen Eidoswissen nie widerfahren konnte. Es scheint also die Herrschaft der Ideenlehre im Timaios zu Ende zu gehen. Ohne ihre alles durchdringende Kraft ist sie doch noch vorhanden. Der Schöpfergott stellt sein Geschöpf hin, dies aber übernimmt seine Würde und Heiligkeit. Wenn es nun aber geboten ist, eine gewisse Trennungslinie zwischen den früheren platonischen Dialogen und dem Timaios zu ziehen, so muß geradezu eine tiefe Kluft zwischen den Nomoi und allem Platonischen, was vor ihnen liegt, aufgerissen werden. Ohne Einschränkung ist in den Nomoi der Kosmos autark und allein göttlich. Nicht erst die Epinomis und Aristoteles, wie Jaeger (Aristoteles, Berlin 1924, S. 140 ff.) will, sondern schon die Nomoi begründen die Theologie des Hellenismus. Die Funktion der Idee des Guten, die mit der Ideenwelt völlig verschwunden ist, ist auf den Kosmos übergegangen, der nun zum αἴτιον γενέσεως schlechthin geworden ist (Nomoi 89] 6. zu vergleichen mit Tim. 28a-c, Phil. 26e, 27b). Das δημιουργεῖν ist vom Schöpfer des Timaios und von der „Ursache“ des Philebos auf die Weltseele übergegangen (Epin. 981b, 983d, 984b). Dazu gehört Nomoi 904 a: ‚Unser König‘ (nach Philebos 28c der Geist im All, dort eingeführt als Lehre der σοφοί, hier nicht eingeführt) ordnet die Verteilung der Seelen im All, d.h. das Gericht im Jenseits geschieht vor der Weltseele, von der wie vom Demiurgen als schaffender Kraft geredet wird. Sie heißt auch (gleichfalls mit einem unvermittelten Bilde) rerreurn; 903d. Es ist nicht möglich, den Methexisbegriff doch noch in den Nomoi zur Geltung zu bringen und den absoluten Gegensatz zwischen den Gottesbegriffen der Politeia und der Nomoei zu überbrücken.! Es gibt wirklich in den Nomoi sowenig wie in der Epinomis noch ein anderes Teilhabeverhältnis als das zwischen Menschenseele und Kosmos. Das 10. Buch und die Epinomis kennen überhaupt kein Gutes außerhalb des Kosmos, und wie es um die Dialektik im Schlußteil der Nomoi steht, glauben wir in unserer Untersuchung klar enthüllt zu haben. Wie der Kosmos

seine Würde

von einem höheren Sein, so hat der

Beweis seiner Göttlichkeit die Denkmittel aus der Philosophie über 1 Das versucht Hoffmann, Gnomon 1929 5. 647f. Gerade hiergegen muß ich Widerspruch erheben, so sehr ich mich durch die auf umfassender Kenntnis ruhenden und klar formulierten Thesen H.s immer gefördert fühle.

Kosmologie der Nomoi

85

dies höhere Sein entliehen.! Denn der Nerv des Gottesbeweises 885 e bis 899d stammt aus dem Unsterblichkeitsbeweis Phaidr. 245c ff. :2 die Selbstbewegung ist Ursprung der Bewegung. Aus diesem Gedanken wird aber abgeleitet: „Die Seele ist ehrwürdiger als der Körper‘‘ (896c). Damit hätte sich die Ideenphilosophie nicht begnügt; denn diese Tat-

sache war ja Ausgangspunkt

(Phaidon 80a); der Körper war nicht-

seiend, die Seele ein Mittelwesen,

dessen

Unsterblichkeit das eigent-

liche Anliegen war, weil an ihr Verantwortung und οἰκεία ἐπιστήμη hing. Die Unsterblichkeit wird in den Nomoi ohne Beweis vorausgesetzt (z. B. 959b mit Berufung auf den ‚ererbten Brauch“, ähnlich

allerdings auch Epist. VII 335a). Nun heißt es aber, merkwürdig angesichts der Seelenwanderung und dunkel (904a 8), „daß unvergänglich 181,3 aber nicht ewig, Seele und Körper, wie die dem Gesetz entsprechenden Götter“. Hier ist „unvergänglich‘“, das immer dem

ἀϑάνατον gleich war (2. B. Phaidon 106c), eine niedere Stufe gegenüber „ewig“, das Tim. 37d bei der Erschaffung der Zeit die Zeitlosigkeit der Ideenwelt bezeichnete. Der Wortlaut gestattet nicht, wie England z. St. will, οὐκ αἰώνιον nur auf die Verbindung der Elemente zu beziehen, nicht auf die Elemente selbst, wozu die Wendung ‚‚wie die dem

Gesetz entsprechenden Götter‘ zu raten scheint. genau

wie

8904,

891e,

die Gestirngötter,

auch

Das- sind nämlich, sie Lebewesen,

bindungen von Leib und Seele,* denen der Schöpfer Tim. 41b 1 Ebenso

stammen

die drei Thesen

der Atheisten,

die den

Aufbau

des

Ver-

sagt, sie 10. Buches

gliedern, aus Pol. 365d. Die materialistische Kosmologie spielte dort keine Rolle, wie

ja auch die 2. und 3. These nicht zu den Materialisten passen. Schließlich stammt auch das Ergebnis ψυχὴ πρεσβυτέρα σώματος aus Tim. 34c. Die Erschaffung der Seele wurde später erzählt als die des Weltkörpers;

das wird

richtiggestellt durch die Er-

klärung, daß die Seele an Alter und Rang vorangehe. Daher die Begriffe προτέρα und πρεσβυτέρα, die in den Nomoi keinesfalls zeitlichen Sinn haben. 3 Dies wundervolle Beispiel griechischer Gedankenstrenge und Formschönheit bleibt wesentlich unverstanden, wenn nicht die Lesung des Papyrus Oxyrh. 1017 αὐτοκίνητον ὁ 5 für das überlieferte und noch von Cicero (Tusc. 153-55, De re publ. VI 25) übersetzte ἀεικίνητον angenommen wird, die selbst Wilamowitz übersehen hat. Solmsen (Die Entw. der aristotel. Logik u. Rhet. 283 ff.), der Syllogismen sucht, läßt sich gerade diesen wichtigsten entgehen, so daß er an demlogischen Aufbau ein wenig vorbeiredet. Ein strenger Logiker hätte die Lesart a priori fordern müssen. Die erste Prämisse ist: das Selbstbewegte ist unsterblich; die zweite: die Seele ist selbstbewegt (e 2-6). Präziser

kann der Gedankengang nicht artikuliert werden. Übrigens steht die Variante ἀεικίνης τον am Rand des Papyrus; fälschlich verteidigt sie P. Maas, Textkritik 19502, 23.

3 ὃν γενόμενον entweder wie γενόμενόν ἐστι (vgl. 66] ε 2) oder wie ὃν γίγνεται (vgl. 846e 2, 909 ς 3), in jedem Fall häßliche Umschreibung. Hermanns «τὸ» γενόμενον ist abzulehnen, da von Entstehung nicht die Rede ist. 4 Auch die ϑεοὶ αἰὲν ἐόντες Homers sind (vgl. Phaidr. 246 cd) solche Verbindungen,

aber nicht οὐκ αἰώνιοι. An sie ist hier also (trotz Tim. 40e 3) nicht zu denken. Außer-

86

Die

Philosophie

der Nomoi

seien als geschaffen nicht völlig unsterblich und unlöslich, aber durch seinen Willen für immer gebunden. Das geht klärlich auf die Verbindung. Diese geminderte Unsterblichkeit hatte in der mythischen Erzählung ihren Platz; und sie war, da die Götter unsterblich sein sollen, die Verbindung Leib-Seele es aber nicht ist, durchaus begreiflich. Sie wäre nun aber hier in den Nomoi auf Leib und Seele als getrennte übertragen. Das wäre im Timaios vielleicht möglich, wo mindestens

die

Seele

geschaffen

wird;

in den

Nomoi

aber

hat

die

Schöpfung keine Stelle. Was bedeutet nun also die dunkle Wendung? Der einfache Sinn: „Leib und Seele müssen allezeit bestehen“ ist durch die Einbeziehung von zwei fremden Begriffen, den der Zeitlosigkeit und den der Unlösbarkeit (die möglicherweise untereinander identifiziert sind) kompliziert und verunklärt. Das ist so horrend, daß man gerne die störenden

Worte etwa als gelehrte Glasse entfernen würde. Aber abgesehen von anderen schon behandelten Begriffsverwirrungen spricht dagegen, daß Epin. 98le 6 ff. und 983e 3 ff. zwei Möglichkeiten! zur Wahl gestellt werden: die Gestirngötter sind entweder selbst göttlich und ganz unsterblich, oder sie sind Abbilder (εἰκόνες, ἀψάλματα) von Göttern und dann sehr langlebig (μακραίωνα βίον). Daß hier der Sachverhalt von Timaios 37c und 41b in eine Alternative umgebildet wird, wäre höchst

verwunderlich schon dann, wenn es noetische Sphäre und Schöpfer noch gäbe. Aber die unklare Verwendung der geminderten Unsterblichkeit wird für 904a sehr wahrscheinlich gemacht. Mindestens ist der Grad der Unklarkeit der gleiche. Aber noch etwas anderes lehrt 904a mit wünschenswerter Eindeutigkeit: Körper und Seele sind in gleicher Weise unsterblich; sonst könnten ja keine neuen Lebewesen entstehen. Eine Art von Substanzhaftigkeit des Körperlichen hatte sich schon im Timaios herausgebildet, aber da galt ja immerhin der Vorbehalt des εἰκὼς λόγος, der hier nicht mehr dem sprechen die Parallelen Tim. 41b, Epin. 98le dagegen. Auch kann man, der Wortstellung nach, nicht καθάπερ Beol zu αἰώνιον ziehen, wie England will. - Wilam. II 318

versteht unter den „Götten nach dem Gesetz“ die der Volksreligion; dagegen spricht Nom.

891e 2, obwohl,

wider

die Ethopoiie,

Kleinias

da

von

den Sterngöttern

reden

muß.

1 Daß Nomoi 9048 von diesen zwei Möglichkeiten die zweite allein und zweifelsfrei genannt wird, ist kein Argument für Abtrennung der Epinomis. So erscheinen etwa 898d ff, drei Möglichkeiten,

wie

Seele sich mit Sternleibern verbindet;

nur

die erste

aber, Verbindung als ζῷα, wird dann in Nomoi und Epinomis stillschweigend vorausgesetzt.

Leib

und

Seele.

Böse

Weltseele

87

gilt. Eine solche Gleichwertigkeit der Substanzen ist nun aber philosophisch nicht ausgeglichen damit, daß die Seele das Herrschende und Göttliche gegenüber dem Dienenden und Ungöttlichen der Körperwelt ist. Es zeigt sich wieder, wie das Weltbild der Nomoi durch einen Verfall des Weltbildes der Ideenlehre entstanden ist. Daß das Körperliche zum Sein gehört und das Seelische höchstes Sein geworden ist, hat bedeutende Folgen. Bisher verhielt sich in der platonischen Philosophie böse zu gut wie körperlich nichtseiend zu noetisch seiend. Das Böse war also eine Negation, Nichtvorhandensein des wahren Wissens in der durch Verhaftung ans Körperliche getrübten Seele. In den Nomoi aber kann das nicht mehr so sein, da die

Voraussetzungen zerstört sind. Die Untersuchung hat ja auch früher schon gezeigt, daß das Wissen die Seele nicht mehr beherrscht. Also muß das Böse eine positive Kraft in der Seele sein. Mit dem Körper hat es nichts mehr zu tun (vgl. die Formulierung 9044 ff.). Wir dürfen also nicht überrascht sein, daß 896e unvermittelt zwei Weltseelen eingeführt werden: „die Gutes schaffende und die, die das Gegenteil be-

wirken kann.‘‘ Das Böse muß in dem großen Seelenzusammenhang des Kosmos seinen Platz haben, denh auch die bösen Menschenseelen sind

Teile dieses Zusammenhangs. So stellt sich denn 906a das kosmische Geschehen als ein ewiger Kampf zwischen Gut und Böse dar, in dem das Gute immer obsiegt, aber auch nie das Böse vertreibt.! Es ist nicht zu leugnen, daß die böse Weltseele 896e positiv eingeführt wird,? nicht nur hypothetisch, und daß sie nie widerrufen wird. 897 b-898 wird gezeigt, daß nur die gute Seele die Welt lenkt, ohne daß die Annahme der bösen richtiggestellt würde. Aber 904a ff. und 906a ist die böse zweifelsfrei vorausgesetzt als dauernd neben oder unter der guten bestehend. Wir entwickelten, wieso sie aus den inneren Voraussetzungen der Nomoi

heraus notwendig

ist. Freilich ist ebenso sicher,

daß sie nirgends philosophisch bestimmt wird in ihrer Funktion und Stelle im Kosmos. Auch die Epinomis kann natürlich (988e) nur das 1 Auch im Theaetet geht das Böse nie zugrunde, als Gegensatz zum Guten, aber da ist es ein Nichtseiendes im Diesseits. Im göttlichen Bereich ist nach platonischer An-

schauung nur Gutes (Theaet. 176a 5). - Soph. 246c meint den ständigen Widerstreit Idealismus-Materialismus.

» J. Kerschensteiner (Platon und der Orient, Stuttgart 1946) will die böse Weltseele eliminieren (5. 68, 88), in einer Weise, die mir nicht zulässig erscheint. Das gilt übrigens auch für P. Stöcklein, Die philos. Bedeutung v. Platons Mythen, Philol. Suppl. 30, 3,

1937,5.37 ff. Doch sieht St. richtig die Entfernung der Nomoi vom echten Mythos; das muß nur noch schärfer formuliert werden.

88

Die

Philosophie

der

Nomoi

906a Gesagte wiederholen. Das Problem, aus innerer Verschiebung des Begriffissystems entstanden, ist eben sachlich unter den gegebenen Voraussetzungen nicht lösbar. Die Schwierigkeiten, in die das jenseitige Leben der bösen Menschenseelen und das Gericht über sie uns oben

führten,

sind ein Ausdruck

derselben

Not.

Diese

Not

ist eine

zwangsläufige Folge des inneren Abbaus der Ideenphilosophie und allen anderen Nöten gleichgeordnet, die wir aus der gleichen Ursache hergeleitet haben. So wird die böse Weltseele zur wichtigsten Be-

stätigung der inneren Gebrochenheit im Denken der Nomoi, die wir behaupten. Allein der allem platonischen Ideendenken ins Gesicht schlagende Dualismus sollte davor bewahren, die Nomoi doch noch der Ideenlehre unterzuordnen. Es ist notwendig, auf andere Interpretationen einzugehen. Wilamowitz! hat die Unklarheit natürlich gesehen: ‚So muß man freilich zugestehen, daß dieser ganzen Ausführung Schärfe und Klarheit fehlt; aber das gilt viel weiter in den Gesetzen!“ (II 321). Er gibt zwei Erklärungen der bösen Weltseele, die sich eigentlich widersprechen,

aus

der ungeordneten Bewegung der Materie (diese hat mit Recht schon Theiler S.80 bestritten, 8. ο. 5. 792) und aus der Analogie zu den unteren Teilen der Menschenseele. Aber das genügt nicht; es müssen, wie gezeigt, noch andere Bedingungen erfüllt sein, damit das Böse eine kosmische Potenz wird. Wenn die böse Weltseele wirklich aus dem Denken der Nomoi heraus notwendig ist, können wir dem geistreichen Apergu Jaegers (Aristoteles S. 133 ff.) nicht zustimmen, der sie aus Einwirkung des iranischen Dualismus erklärt. Es könnte natürlich sein, daß die innere

Situation dem äußeren Einfluß entgegenkam. Aber um das zu behaupten, müßte man doch stärkere Argumente für den äußeren Einfluß haben, als sie Jaeger vorbringt. Einen Dualismus wie den zwischen πέρας und ἄπειρον im Philebos oder zwischen der Eins und dem GroßKleinen der Lehrschrift kann man doch nicht mit den beiden Weltseelen auf eine Stufe stellen. Vor allem aber hat Jaeger nicht wahrscheinlich gemacht, daß Aristoteles in περὶ φιλοσοφίας Platons zwei Weltseelen mit Ormuzd und Ariman in Verbindung bringt. In frg. 6. I Zum Text: 897b I καὶ πᾶσιν οἷς ψυχὴ

χρωμένη.

Hier setzt καὶ πᾶσιν =

xal

πάντα die vorhergehenden Akkusative fort. [καὶ] Cornarius scheint mir trotz Wilam. 11 316 gar nicht nötig. Auch b 2 halte ich, wenn ϑεῖον aufgenommen ist, nichts außer

ϑεοῖς für korrupt und ϑέουσα (Winckelmann) für sehr erwägenswert; in diesem Stil ist das Wort vielleicht verwendbar (vgl. Crat. 410b); sonst loüca ?

Böse

Rose

Weliseele.

steht überhaupt

1091b 8 erscheinen

nichts

Gottesbeweis

von

als Vertreter

im

Platon. der Lehre,

Nomoi

X

89

In der Metaphysik die das

Gute

mit

N 4, dem

ersten Erzeugenden gleichsetzt, Pherekydes, die Magier, Empedokles und Anaxagoras. Von Platon fällt kein Wort, aber im folgenden Satz wird die andersartige Lehre der Platoniker genannt. Selbst wenn nun aber der Platon der Nomoi den ersteren beigesellt wird, beweist die Stelle nicht im mindesten, daß er den Dualismus von den Magiern übernahm, oder daß Aristoteles dies glaubte. Aber auch die Plutarchstelle (Is. et Osir. 370e) gibt nichts aus für Jaegers These, denn sie setzt nur alle möglichen dualen Prinzipien von Homer über Heraklit, Empedokles und die Pythagoreer bis zu den zwei Wesenbheiten Tim. 35a und den beiden Weltseelen der Nomoi mit dem Dualismus der Magier in Parallele. Würde man schließen dürfen, die beiden Wesenheiten des Timaios seien persisch beeinflußt, die dritte gemischte aber ägyptisch,

weil Plutarch sie’ anschließend mit Ägyptischem vergleicht? Außerdem ist die persische Lehre sachlich wesentlich anders als die Lehre von den beiden Weltseelen; denn nur zeitweise bekämpfen sich dort die beiden Geister. Man darf auch annehmen, daß eine so enge Beziehung der Lehre durch einen Hinweis, etwa ‚wie einige Weise sagen“ oder

ähnlich angedeutet wäre, wie ja auch die Epinomis sich für die Planetenbahnen offen auf orientalische Weisheit beruft (986e, 987}, d ff.).

Die böse Weltseele ist im Gottesbeweis des 10. Buches der einzige nicht entliehene Gedanke; alle anderen finden wir in früheren Dialogen Platons. Wir können also das Material des Beweises und seine logische Form mit anderen Platonstellen vergleichen und seine Art beleuchten. Nach umfänglichen Vorreden! wird die These von der Priorität der Seele aufgestellt (892 c-893 a). Zum Beweis werden zehn Arten der Bewegung aufgezählt (893b-894 c), wenig präzis, so daß man sie mühsam und nur wahrscheinlich zusammenbekommt. Sie stehen logisch nicht nebeneinander; die zweite bis achte sind der neunten zu subsumieren, also für den Beweis überflüssig; die erste ist die Bewegung einer Kreisscheibe oder Kugel um die feststehende Achse; sie wird dann mit der zehnten, der Selbstbewegung, in eins gesetzt werden. Nur die neunte und zehnte Bewegung also werden benutzt, und man begreift den Sinn der pedantisch-schulmäßigen Aufzählung nicht. Natürlich handelt es sich allein um den Gegensatz körperlicher und geistiger Bewegung, doch koinzidieren diese beiden in der konzentrischen Kreis1885d 3 wird Wilamowitz’ Konjektur «ὥστε» widerlegt durch Theaetet 149c 1.

90

Die Philosophie der Nomoi

bewegung. Es wird nun (894d-895b) die neunte zur zweiten erklärt, die zehnte zur ersten und zur ἀρχή aller Bewegung, wie im Phaidros.! Nun folgt die zweite Prämisse: das Wesen der Seele ist diese Selbstbewegung (895 c-896a 5). Die Überleitung ist (genau so wie 840c 11) wie von ungefähr und sehr gesprächsweise: „Da wir nun an diesem Punkte des Gedankenganges sind, wollen wir folgende Antwort geben,“ wodurch der logische Konnex nicht bezeichnet wird. Die zweite Prämisse wird durch den Mittelbegriff des Lebens bewiesen, aber das wird unvollendet liegen gelassen (c 13) und mit „wohlan denn, beim Zeus“ (d 1) neu eingesetzt und, wie Phaidros 245e, gesagt, daß die Definition des Wesens, das den Namen Seele hat, Selbstbewegung ist. Dann folgt die Conclusion (896a 5-6). Die Formulierungen sind wortreich, umständlich, unpräzise und übertreibend (z. B. die maßlose Betonung des Ergebnisses 896} 10 ff.). Die Dialogform als solche erklärt diese Diskrepanz von der unerbittlichen Stringenz nicht, die wir an logischen Entwicklungen auch in Dialogform bei Platon gewöhnt sind, und die gerade den Phaidrosbeweis in der Unentrinnbarkeit jedes Denkschrittes zu einem bewundernswerten Höhepunkt platonischer Denkkunst macht. Es sind Unschärfe des Denkens und geringeres stilistisches Vermögen, die den Abfall verursachen. Dies auszusprechen, ist Pflicht gegenüber der Wahrheit. Von dem ersten (896c) aus ergibt sich leicht, daß seelische Bewegungen, die körperlichen zu Hilfe nehmend (wie schon Tim. 46e ff., im Prinzip zuerst Phaidon 99b), die Welt regieren (896c-897b 6). Da zwei Seelen angenommen sind, muß (897 b-898c) bewiesen werden, daß nur die gute wirklich herrscht, und zwar daraus, daß man in der Himmels-

bewegung die Bewegung des νοῦς wiedererkennt (898c 6). Das Wesen der Bewegung des νοῦς muß dazu gezeigt werden (897d 3 ff.); es ist die gleichmäßige konzentrische Kreisbewegung (898 8). Dieser Gedanke war im Timaios begründet. Die Selbstbewegung des Phaidros war streng genommen Denktätigkeit ; die sichtbare Bewegung des beseelten Leibes könnte dann schon nicht mehr Selbstbewegung heißen. Der Timaios übernimmt den Begriff der Selbstbewegung geradezu als Synonym für Seele (37b 5). Nun sind aber die Himmels1895a 6ff.: „Wenn

das All stehen

bleibt

und

zusammenstürzt,

wie

die meisten

solcher Leute sagen“ (d. h. der Materialisten, deren Welten periodisch vergehen), dann kann nur die von ihnen nicht anerkannte Selbstbewegung den neuen Anfang bringen.

Die Möglichkeit des Stillstandes diente im Phaidrosbeweis (245e 1), rein logisch angenommen und ohne Bezug auf eine Theorie, dem indirekten Beweis des Gedankens, daß die ἀρχή nicht werden oder vergehen kann, weil sonst der Stillstand da wäre.

Gottesbeweis

bewegungen

in Nomoi

auch von Selbstbewegung

X

0]

gelenkt, sind deren sichtbare

Darstellung und werden als solche verehrt. Die gleichmäßige Kreisbewegung hat in sich etwas Vollkommenes, sie entspricht dem Denken desselben über dasselbe (40b 1). Sie gehört zu Geist! und Denken (34a). Unser Denken wird - das ist das Neue im Timaios -dem Seelengeschehen am Himmel,ja sogar-dahin

geht es im Timaios unmerklich

über - den

vollkommenen räumlichen Bewegungen am Himmel verwandt. So können diese die Prädikate des νοῦς bekommen; die Fixsternsphäre heißt geradezu ἡ τοῦ κρατίστου φρόνησις 40a 5; das geordnete Denken hinwiederum

kann

die Prädikate

der

Himmelskreise

annehmen:

die „Um-

schwünge der unsterblichen Seele“ (43a, 4) kann gesagt werden. Dem „Umschwung des Selbigen und Gleichen in sich“ (42c) soll man nachfolgen. (Hier kummt noch die Wesenheit des ταὐτόν in der Seele -ein-

geführt Timaios 35a -- hinzu, die sich automatisch mit der Selbstbewegung identifiziert. So sind schließlich Denken und Bewegung des Alls dasselbe, „die beste Bewegung in sich [d. h. um sich] selbst durch sich selbst“, 8B9a.} Die ethische Vorbildlichkeit der Himmelsbewegungen, die ja

im

Timaios

herausgehoben

noch

von

der

Ideenwelt

abstammen,

wird

sehr

(47b 6 1{.. 90ed).

Diese Gedanken des Timaios dienen auch in Nomo: 897 d ff. dazu,

die

Bewegung des von: zu bestimmen. Ein Abbild soll dabei helfen, denn man kann den νοὺς nicht sehen: man würde blind davon „wie die, die

in die Sonne sehen und sich Finsternis am hellen Tage herbeiführen“ (897 ἃ 8). Das erinnert an den, der aus der Ilöhle an die Sonne kommt? (Politeia 5166). Doch liegt der νοῦς im noetischen Sinne unendlich fern, von ihm könnte es ja auch kein irdisches Abbild geben (vgl. Phaidros 250 4). Es ist nur die nicht sichtbare Seele, deren Bewegung räumlich darzustellen ist durch eine gedrechselte Kreisscheibe oder Kugel. Das wird aber nicht direkt gesagt, sondern, der Unruhe des Denkens und Stiles entsprechend. heißt erst die Kreisbewegung der des Geistes verwandt,

Kreise“

sie

(898a

ihrerseits

5).?

Im

aber

heißt

nächsten

„ein

Satz

Abbild

werden

der

dann

gedrechselten

beide,

Geist

"Es ist, als ob sie mit der Bewegung die Rule vereinigte und κὸ das unveränderliche Sein ins Werden bineinziehe. Politikos 269 de gilt sie als beste, weil sie die geringste Abweichung der Bewegung von der Rube ist. ® Natürlich auch an Phaidon 99d, nur ist dort das logische Verhältnis umgekehrt, und Platon widerruft sofort sein Bild. - ἐξ ἐναντίας antworten“ ἃ 8 ist ein unklarer

und unschüöner Ausdruck

für „statt Erhellung eine Verdunkelung geben.‘ Genau a0

schlecht ΘΕ αὶ ἃ,

Ὁ Das τὶ verbietet,

μίμημα (wie 658}. 669e) als Urbild zu verstehen. - a 8-9:

die

92

Die

Philosophie

der Nomoi

und Kreisbewegung,

den Schwüngen einer gedrechselten Kugel ver-

glichen; nicht etwa die Holzkreise sind ein Abbild des Geistes. Es handelt sich also wirklich nur um einen Vergleich, durchaus nicht um ein echtes ulunu«-Verhältnis im alten Sinne. Es ist also der echte μέϑεξιςBegriff, auf den doch deutlich Anspruch erhoben wird, faktisch mit der noetischen Sphäre verschwunden. Man kann gleicherweise sagen: die Geistbewegung ist ein Abbild der Gestirnbahnen, wie: diese sind ein Abbild jener; und das, obwohl an der Vollkommenheit der Himmelswelt mit besonderem Pathos festgehalten wird. Es folgt nun der nach 897b 7 sehr leere Satz: jetzt ist es also nicht mehr schwer zu sagen, daß entweder die gute oder die schlechte Seele.

den Himmel lenkt (898c). Die Entscheidung für die gute fällt dann Kleinias ohne Begründung als die, daß es sonst unfromm wäre. Die zweite Stufe des Gottesbeweises ist erreicht. Aber eine logische Form und Notwendigkeit hat er nicht. Die Beseelung der Sterne ist eben Zeichen ihrer Göttlichkeit. Dieser Gedanke hätte mit wenigen Sätzen zwingend entwickelt werden können. Im dritten Teil des ‚‚Be-

weises“, der 8984 1 mit: „in Folgendem gib noch nach!“ wieder sehr locker angehängt ist, werden drei Theorien über die Verbindung der Seele mit Sternleibern aufgestellt. Vorausgesetzt wird wieder etwas Methodisches: die Seele sei nur νοητόν (e 2),! mit dem νοῦς zu erfassen. An so hohe Dinge wie Phaidros 247c ist bei dieser Schau nicht zu denken, sondern an bloße psychophysische Hypothesen. Das Seelische ist allein übriggeblieben als Sphäre des νοητόν (vgl. Epin. 981c; so schon Tim. 90d neben dem echten νοητόν). Von den drei Theorien wird im Fortgang und in der Epinomis (wie einst im Timaios) nur die der ζῷα wie selbstverständlich verwendet. Die beiden anderen sind bloß gelehrte Hinweise auf in der Akademie aufgestellte Hypothesen, ebenso-

wenig zum Gegenstand gehörig und ebenso merkwürdig wie die Aufzählung der zehn Bewegungen. Nun kommt endlich 899ab,? erst für Häufung der Ausdrücke ist Eigenart des Stiles, der nicht stark genug auftragen kann. So braucht man nicht peinlich nach dem Sinn von πρὸς ταὐτά zu fragen (Scholz bei Friedländer II 677).

1 Daß die Seele um den Körper herumwächst (898 e 1) ist unverständlich, es sei denn, daß das mythische Bild Tim. 34} 4, „er umhüllte den Weltkörper von außen mit der

Seele“ hier nachwirkt, was ich nach so staunenswerten Beispielen nicht für unmöglich halte. 2 αὐτοῦ δὴ ἄμεινον 8994 7 ist schwierig. Wilamowitz 11 friedigt nicht, denn das Folgende tritt nicht in Konkurrenz Andere Vorschläge dürfen übergangen werden. Ich halte Worte intakt sind: man muß ‚‚als etwas Bedeutungsvolleres

317! αἱροῦ δὴ ἄμεινον bemit dem Vorhergehenden. für sehr möglich, daß die als dies‘ glauben, daß...

Gottesbeweis

in

Nomoi

X

93

die Sonne, dann für alle Gestirne, die Conclusion des Beweises:

wenn

Seele sie regiert, müssen sie Götter sein. Also, so wird das Ergebnis zusammengefaßt, ist alles voll von Göttern.! Elemente der Ideenphilosophie und solche des εἰκὼς λόγος mischten sich für diesen Beweis. Es kann also keine unterschiedlichen Grade der Wahrheit mehr geben wie im Timaios. Die Widerlegung der zweiten, nicht materialistischen, aber sophistischen These, daß die Götter sich nicht um die Menschen kümmern

(899 d-905d), ist unterteilt in eine Widerlegung aus dem Begriffe des Göttlichen und (ab 903 b) in eine positive Theodizee. Vorausgeschickt ist ein Zuspruch {(παραμυϑητέον) an den Vertreter der zweiten These, der wider besseres Wissen, obwohl er (899 d-900b) den Sieg des Unrechts in dieser Welt sieht, doch durch eine συγγένεια ϑεία nicht völliger Atheist geworden

ist.?

Die Widerlegung operiert mit derselben ethischen Situation, die immer in den Nomoi angenommen wird. Das Versagen erklärt sich nämlich, wenn man vom technischen Unvermögen (90] 6) absieht, entweder aus mangelndem Wissen oder aus ethischem Unterliegen (902ab); beides bei den Göttern anzunehmen, wäre unfromm und unwahr.

— Der logische

Zustand

des Gedankengangs

ist hier genau

so

mangelhaft wie vorher; das sei übergangen. Die Theodizee, auf die schon der Zuspruch hindeutete, gibt dem Gottesbegriff den konkreten Sinn der Gestirnseelen, während die Widerlegung noch mit dem ganz allgemeinen Begriff des Göttlichen operierte, wie er im 2. und 3. Buch der Politeia zugrundelag, und lediglich 902b unvermittelt, aber auch ohne Einfluß auf den Beweisgang, auf die Seelennatur des Menschen anspielte, die ihn durch die Frömmigkeit zu einem Sklaven (κτῆμα hat diesen Sinn wie 776b und 906a) der stärkeren Lebewesen am Himmel macht. Die weltumfassende Verbindung alles Seelenhaften, die jetzt den jenseitigen noetischen Ort ersetzt, Ähnlich steht Epin. 988d e zweimal ϑαῦμα οὐδέν: wir behaupten als etwas keineswegs Wunderbares,

daß...

1 Der Satz kehrt wieder Epinomis 991d. Der Differenz zwischen πλήρη und πλέα, ist kein Gewicht

beizulegen,

wie Fr. Müller Diss. S. 33 tut.

Der Satz

ist

gegen

alle

Gewohnheit nicht als Zitat gekennzeichnet. Sollte die Formulierung etwa aus den Nomoi stammen und von Aristoteles (Vors. I A 22) nur auf einen gleichen Gedanken des Thales angewendet worden sein, der überall Kräfte wirken sah wie im Magneten? 3 Die ϑεία μοῖρα gab freilich sonst immer eine nicht durch Wissenschaft erworbene Einsicht;

das ist hier nicht

volles außergeistiges Band.

mehr

so, sondern hier handelt

es sich um

ein geheimnis-

94

Die

Philosophie der Nomoi

garantiert den Ausgleich von Gut und Böse in der Welt und widerlegt den scheinbaren Triumph des Unrechts. Offensichtlich gehen hier zwei Dinge eine Verbindung ein: die von Platon in den Mythen des Gorgias, Phaidon und der Politeia erzählte Seelenwanderung mit Gericht, Strafe und Seligkeit im Jenseits und die im Timaios mit der Methode wahrscheinlichen Wissens beschriebene Welt der Sternseelen. In den Jenseitsmythen zeigte Platon, orphisches Gut auf seine Seinsmetaphysik hin umbildend, in Bildern den einen Sinn von Gericht, Lohn und Strafe, der in Nähe oder Ferne zum wahren

Sein lag. Mit dem Wegfall der Ideenlehre fehlt der Bezugspunkt. Nun müssen Lohn und Strafe sich immanent im kosmischen Seelenzusammenhang erfüllen. Dieser aber ist, nach den Voraussetzungen der Nomoi, eine beweisbare und bewiesene Realität. Die Abstufung des Wahrscheinlichen, die für den Timaios grundlegend war, ist nämlich nunmehr, da die höhere Stufe abgebaut ist, weder möglich noch notwendig. Es ist also eine große Nivellierung im Methodischen eingetreten, in die der Mythos natürlich einbegriffen werden mußte. Der echte Mythos Platons ist mit der Ideenlehre zusammen im Timaios zurückgedrängt, in den Nomoi schlechthin eliminiert.! Strenges Wissen mit Dialektik und Apodeiktik, wahrscheinlicher Logos, mythisches Erzählen, diese drei sind jetzt eins geworden.? Es ist nicht wahr, daß erst Aristoteles den Mythos abgebaut habe, sondern de facto haben es die Nomoi getan, mag es auch durch die unklare Mischung der Elemente verhüllt erscheinen. Die vielfältige Verwendung des Wortes μῦϑος in den Nomoi scheint gegen diese Behauptung zu sprechen. In Wahrheit beweist gerade sie, vage und verwirrt wie sie ist, das Verschwinden des Mythos.

Natürlich sind im Platon auch sonst λόγος und μῦϑος öfters vertauscht, aber immer mit besonderer Pointe und Motivierung. 50 können die Untersuchungen über Tod und Unsterblichkeit im Phaidon 6] 6 διασκοπεῖν re καὶ μυϑολογεῖν heißen, weil Sokrates vorher gesagt hatte, er könne keine Mythen erfinden. Nun sind dies die Mythen, die er erı Wili, Versuch einer Grundlegung der platonischen Mythopoiie, Zürich 1925 S. 17 ff., 37ff. findet viel Mythisches in den Nomoi, weil er einen viel zu weiten Begriff davon hat. Bloße Gleichnisse oder prähistorische Erzählungen dürfen nicht Mythos heißen, auch wenn sie diesen Namen tragen. Philosophisch wesentlich ist Mythos nur als Erzählung vom jenseitigen Geschick der Seele. Auch die Analogie 713 cd ist nicht eigentlich mythisch. 3 Das Nebeneinander von ὄντως re καὶ εἰκότως Epin. 976d 2, von Fr. Müller Diss.

S. 38 gerügt, gibt also genau die methodische Situation der Nomoi wieder.

Mythos

in den Nomoi

95

zählen soll. Im Theaetet geht (156c) μῦϑος spielend auf die eben vorher genannten μυστήρια, eine pythagoreische Lehre. Ähnlich ist es ebenda 164de. Im Phaidros (276e) heißt alles Geschriebene παιδιά, edler Zeitvertreib, darum auch μυϑολογεῖν, womit offenbar die Politeia gemeint ist. Diese

selbst nannte ihren Staatsbau

als nicht real einen solchen,

ἣν μυϑολογοῦμεν λόγῳ (501 6); von Erziehung wurde im gleichen Sinne „wie im Märchen‘

erzählt (376d).

Der Timaios weist 26c

auf diesen

Märchenstaat zurück. Die Nomoi nennen ihre Verhandlungen, obschon sie einer konkreten Gründung gelten, doch in Nachahmung der Politeia μυϑολογία (752a, so auch 632e) als Zeitvertreib der wandernden Greise. Anders dagegen will die historische Betrachtung (699e 1) nicht μύϑων ἕνεκα, des Geschichtenerzählens halber, sondern für die Gesetz-

gebung (οὗ λέγω δ᾽ ἕνεκα) angestellt sein. Dies alles ist motiviert. Doch liegt eine schlechte Vertauschung beider Begriffe an vier Nomoistellen vor, wo μῦϑος für reine Untersuchung gebraucht wird: 771c 7, 773b 4, 790c 3, 812d; ebenso an einer Epi-

nomisstelle: 9804 5.1 Hier ist einfach μῦϑος für λόγος gesetzt. Es versteht sich, daß der μῦϑος, ohne seinen Charakter als solcher aufzugeben,

den Wahrheitswert von λόγος haben kann; so ist es Timaios 22c (die ἐν μύϑου σχήματι erzählte Phaethongeschichte hat eine naturwissenschaftliche Bedeutung) und Gorgias 523a: alle Jenseitsmythen Platons haben ihre zur Ideenphilosophie gehörige Wahrheit. Solcherart aber sind die genannten schlechten Vertauschungen nicht. Nun wird die Theodizee als „‚beschwörende Mythen‘ eingeführt (903b 1) und dem zwingenden Logos entgegengesetzt. Dieser Gegensatz, der ursprünglich (722b: πειϑώ und βία) zwischen Prooemium und Gesetz obwaltete,? täuscht eine methodische Abstufung vor, die nicht besteht; nicht nur, weil sogleich b4 rel} wuev λόγοις gsagt wird, sondern weil die mit beschwörender Leidenschaft vorgetragene Lehre vom Weltzusammenhang eine zuerkennende ist. „Wer ihn (den göttlichen Beitrag des Einzelnen

zum

Ganzen)

nicht erkennen

kann,

wird

über-

haupt niemals einen Umriß sehen oder ein Wort beitragen können über das Leben in Ansehung von Glück und Unglück“ (903c). Als Nicht1 Der von Fr. Müller

(Diss. S. 16) gegen

diesen Gebrauch

gerichtete Tadel

ist be-

rechtigt, muß aber auf die Nomoistellen ausgedehnt werden. 3 Auch das Gesetzesvorwort kann μῦϑος heißen(927c). Da ist es allerdings die „alte Lehre“, daß Seelen von Verstorbenen auf das Diesseits wirken können. Sie hieß 865 ἃ ἀρχαῖος μῦϑος,

927a aber λόγος und παλαιὰ φήμη; auch da die Verwirrung. 872el

gibt es einen μῦϑος oder λόγος oder „‚wie man es nennen soll“ von alten Priestern.

96

Die Philosophie der Nomoi

wissender wird der Vertreter der zweiten These angeredet. Das stimmt zur Epinomis, die über den Kosmos belehren und damit gleichzeitig zur Frömmigkeit beschwören will. Die Seelenwanderungslehre wird zum Grundgesetz der Weltveränderungen erhoben und einer materialistischen Lehre entgegengestellt (903e). Da nur eine Verschiebung der Seelen stattzufinden braucht, ist das Geschehen viel einfacher, als es

bei der komplizierten Verwandlung von Elementen ineinander sein würde.! Auch sind die Herrscher in den einzeluven Teilen der Welt eben die in der Epinomis 981b ff. apodeiktisch entwickelten Dämonen, die auch Nomoi 717b, 747e zu verstehen sind. Man muß folgern, daß auch die Seelenwanderung und die einstige mythische Wahl der Lebenslose (90%c 1,c 7) als Realitäten des Kosmos zu denken sind. Die verbleibenden mythischen Formeln sind nicht anders zu beurteilen als die restlichen Motive und Formeln der Ideenlehre. Freilich entsteht kein System, das man denkend nachvollziehen kann. Die Unklarheit über Gericht und Strafe, wie sie zu denken seien, und über das Böse, wie es unterzubringen sei, wurden oben entwickelt. Sie

alle sind Symptome der großen Nivellierung von Ideenphilosophie, Mythos und εἰκὼς λόγος. Dieselbe Situation liegt übrigens in der Epinomis vor. Daher ist die eben besprochene Partie der Nomoi neben dem Schlußstück des 12. Buches der stärk ‚te Beweis für die Zugehörigkeit der Epinomis zu den Nomoi. Die dritte These, daß die Götter wider das Recht Gunstbewerbungen zugänglich seien, war ja schon Politeia 365 e ff. beredt vertreten worden. Ihre Widerlegung, in der Politeia nirgends ausdrücklich geleistet (vgl. 390e), folgt aus dem platonischen Begriff des Gottes, der an Wahrheit und Recht geknüpft ist (Politeia 379a-383c). Nur aus diesem allgemeinen Begriff heraus kann auch hier argumentiert werden: es wäre schlimm,

wenn

man

die

Götter

mit

unzuverlässigen

Steuerleuten,

Schäferhunden usw. vergleichen müßte. Der spezielle Gottesbegriff der Nomoi wird 905 e 3? eingeführt, dann aber genau wie bei der Widerlegung ! Ich halte den Satz 903e 4ff. für nicht verständlich obne die Konjekturen ἢ (Cornarius) für μὴ und Zuyuypov(Stallbaum)für ἔμψυχον. Dagegen halte ich e4 μὲν gegen die späte Änderung. Der Ton liegt auf μετασχηματίζων: die Seelen brauchen nicht μετασχηματίζεσϑαι. Merkwürdig der Anklang an Tim. 54 cd, der fast wie ein Widerruf klingt.

5 Ich lese mit Ast und Friedländer gegen Burnet ἐνδελεχῶς e 3. - W6b 4 ist λῆμα gleichberechtigte Variante zu λῆμμα.

Innere

Widersprüchlichkeit

97

der ἀμέλεια (902 b) Gottes sozusagen erst hinzugefügt, und zwar ganz äußerlich und, ohne etwas zumGedankengang beizutragen (906a 2-b 3).!

Unsere Untersuchung des philosophischen Gehaltes der Nomoi ist beendet. Das Ergebnis und Urteil läßt sich in wenigen Worten zusammenfassen:

Es ist überhaupt kein einheitlicher Gedankenbau vorhanden. Die ldeenlehre mit ibrem mythischen Annex ist in Wahrheit gänzlich verschwunden. Doch bestehen Motive und Begriffe davon weiter fort, aber ohne ihren Halt ım alten System und ohne ihren echten Sinn. Zwischen ihnen bilden sich neue Ansätze, die aber nicht zu einem durchsichtigen

System zusammengeschlossen werden. Grundzüge der im Timaios entwiekelten Kosmologie werden übernommen, ohne den methodischen Vorbehalt des Wahrscheinlichen und nicht Gefestigten. Das Mythische

wird real genommen und mit der Kosmologie verbunden. Die Mischung dieser verschiedenartigen Elemente ohne ein tragendes Prinzip hat Unklarheiten und Widersprüche schwerer und konstitutioneller Art zur

Folge. Es liegt also eine eigentümliche Spät- und Verfallsform der platonischen Philosophie vor. Die Philosophie der Nomoi ist ein Zwitter-

gebilde.

1 Wie äußerlich die Hinzufügung ist, sieht man daran, daß man das Stück beinahe

wie ein Einschiehsel ausschneiden könnte. Nur die Worte ἐπὶ γῆς οἰκοῦσαι würden es hindern, die ganz äußerlich von den kosmischen

Seelen zu den menschlichen zurück-

leiten müssen, weil eine innere Verbindung der Gedanken fehlt. Auch 906a 2 ist kein logisches Band da: ἐπειδὴ γὰρ (Tunktionsgleich 903 d 3: ἐπεὶ δὲ) setzt, um überhaupt verständlich zu sein, etwa den unausgesprochenen Gedanken voraus: „Die Lage ist doch die‘. Der Gedankengang wird von diesem sozusagen eingefügten Stück überhaupt nicht berührt, wie auch dem Satz c 2-6, der die πλεονεξία in Körpern, Jahreszeiten und Stunten parallclisiert, jede Beziehung auf den zu entwickelnden Hauptgedanken fehlt. Es wird ja nicht die ἀδικία erläutert durch die Parallele, sondern ea handelt sich

um eine üußerliche Anmerkung, die geradezu imitativ wirkt neben Politeia 564 al, wo

das Übermaß in Witterung, Pßanzen und Körpern, das einen schädlichen Umschlag zur Folge hat, sinnvoll das Übermaß der Freiheit illustriert, die in das Gegenteil umschlägt;

ein

Übermaß

ethischer

Art, wie

es in der Ideenphilosophie

πλεονεξία

ist,

nämlich Gegenteil von σωφροσύνη, dürfte, wenn es seinen alten Sinn hätte, nicht auf Außermenschliches übertragen werden.

I

DER

STIL

DER NOMOI UND DER EPINOMIS

DER

STIL

Es ist von vornherein zu erwarten, daß der zwiespältige Eindruck, den wir von der gedanklichen Struktur der Nomoi gewonnen haben, sich auch gegenüber ihrer sprachlichen Form bestätigen wird. Die Mängel dieses Stile sind denn auch im Altertum wie in der modernen Platonforschung oft und stark empfunden worden. Trotzdem gibt es offenbar ein einheitliches Urteil über den Stil der Nomoi heute nicht. Wilamowitz hat ein sehr scharfes Urteil abgegeben (15, 656): ‚‚Der Stil ist überall künstlerisch oder besser künstlich geformt, überall unfrisch, oft

maniecriert.... Besonders fällt

auf,

daß

Platon

nun

häufiger

und

anders als sonst die grammatische Korrektheit des Satzbaus durchbricht, was doch mit der ganzen Formgebung im Widerspruch steht... Jetzt schwankt

man,

ob man

darin

unbeabsichtigte

Ungleichheiten

einer ungefeilten Niederschrift oder beabsichtigte Verkünstelung erblicken soll... Wer dafür empfänglich ist, wird auch darin einen besonderen

Reiz empfinden,

zu sehen,

wie einer der sprachgewaltigsten

Stilisten diereichste und bildsamsteSprache verbildet und vergewaltigt.“ Trotz dieser scharf gesehenen Mängel des Nomoistiles scheint ihm die Epinomis durch ihren stilistischen Charakter ihren himmelweiten Abstand von den Nomoi und ihre Unechtheit zu beweisen. Er spricht (1 647) von

lich‘,

dem

„kläglich

bei der „Masse

der

ausgefallenen‘

Unkundigen“

und

nur,

‚‚wie unvermeid-

erfolgreichen

„Versuch

des

braven Famulus Philippos‘, die Sprache der Nomoi nachzuahmen. Man darf sagen, daß sich mit dieser Vorstellung vom Verhältnis des Stils beider Werke schwer arbeiten läßt. Denn wenn das Original schon sehr verschroben

und

gekünstelt ist, wird sich der Anteil des

Nach-

ahmers an der Unvollkommenheit der Nachahmung nicht eindeutig bestimmen lassen. Wer will die Grenze zwischen der einfachen und der potenzierten Künstlichkeit finden und den Beweis der Unechtheit auf die Überschreitung dieser Grenze gründen? Tatsächlich hält denn auch Fr. Müller in seinem stilistischen Vergleich der beiden Werke! die Wiı „‚Stilistische Untersuchung der Epinomis 1928; dazu Theiler, Gnomon 1933 5, 337ff.

des Philippos von Opus“,

Diss.

Berlin

Stand

des

Problems

99

lamowitzsche Vorstellung nicht aufrecht, sondern er sieht ein vollkommenes Original von einem gutwilligen, aber unfähigen Schüler nachgeahmt. Von den Mängeln der Nomoi ist überhaupt nicht mehr die Rede. Auch Theiler! in seiner ausführlichen Rezension der Müllerschen

Untersuchung

arbeitet

den

Wertunterschied

zwischen

beiden

Werken sehr stark heraus und spricht von der „ganz verschiedenen Tektonik des Stiles‘‘ und von seiner „durchgängigen Höhengleichheit“ in den Nomoi (a.a.O. S. 338). Die stilistische Vollkommenbheit der Nomoi wird in beiden Untersuchungen immer vorausgesetzt, und keinerlei wesentliche Trübung dieser Vollkommenbheit wird je erwogen. Wilamowitz’ entgegengesetzte Charakteristik scheint völlig überwunden.

Unter den wenigen Äußerungen zum Problem sind die von A.E.Taylor und K. v. Fritz! schon deswegen hervorzuheben, weil sie beide den Wertgegensatz im Stil der Nomoi und Epinomis leugnen oder in Frage stellen. Taylor in seiner Widerlegung der Fr. Müllerschen Thesen erklärt die Epinomis für die legitime Fortsetzung der Nomoi und hält ihre stilistische Eigenheiten, soweit er sie zugibt, für durch das hohe Alter, in dem Platon sie schrieb, oder sekundär durch Fehler in einem nicht durchgesehenen Diktat verursacht. Im wesentlichen sieht er stili-

stisch die Fortsetzung in Harmonie mit dem Hauptwerk, dies aber seinerseits ohne den grundsätzlichen Tadel, den Wilamowitz ausgesprochen hatte. v. Fritz dagegen gibt zwar die Mängel der Epinomis zu, drückt aber starke Zweifel an dem stilistischen Gegensatz zu dem großen Werk aus, wie ihn Theiler in Verteidigung Müllers gegen Taylor so stark betont hatte. „Auf der anderen Seite kann kein Zweifel darüber

bestehen, daß der Stil der Epinomis trotz dieser Mängel dem von Platons Gesetzen nähersteht nicht nur als der irgendeines anderen bekannten Autors, sondern auch als der von Platons eigenen früheren Dialogen von den frühesten bis mindestens zum Theaetet.‘‘ v. Fritz hält es schwerlich

für entscheidbar,

Ungeschicklichkeit ursacht habe.

des

ob stilistisches

Nachahmers

Erlahmen

die Mängel

Platons

oder

der Epinomis

ver-

1 Taylor, „„Plato and the authorship of the Epinomis“, Proc. British Academy, Oct. 1929. - v. Fritz, RE s. v. Pbilippos von Opus, 1938, 5. 2362 ff. - Friedländer in seinem umfangreichen Platonwerk berührt solche Fragen überhaupt nicht, offenbar aus Verachtung der Echtheitskritik. - Raeder: Platons Epinomis, Kopenhagen 1938, kenne ich nur aus der Rez. von Fr. Müller, Gnomon 1940 S. 289ff. Daselbst 5. 290 einige

kleinere Arbeiten zum ’

Problem.

100

Der Stil der Nomoi

und der Ssil der Epinomis

In dieser Situation geben wir aus von der Müller-Theilerschen Kritik am Stil der Epinomis. Sensibles Stilgefühl hat hier eine große Menge schwerer Anomalien, die sich bis ins Ungeheuerliche steigern, in der Epinomis aufgewiesen. Die Gegenposition Taylors scheint hier sehr schwach; subtile Stilkritik, so wird man sagen dürfen, ist nicht seine Sache. Daß diese Mängel bestehen, scheint nicht bezweifelbar, und wir

gehen von ihnen als erwiesen aus. Andrerseits ist uns die von K. v. Fritz behauptete stilistische Nähe der Epinomis zu den Nomoi und die ihr mit den Nomoi gemeinsame Ferne von dem Stil der früheren Dialoge bis zu den späten, Timaios einbegriffen (die Briefe nehmen eine Sonderstellung ein), unmittelbar gewiß. Die wissenschaftliche Lage ist hier delikat. Fr. Müller und Theiler haben nicht geschieden zwischen stilistischen Unterschieden zu den Nomoi und solchen zu dem Platon vor den Nomoi. Sie wählen die Vergleichsstellen überwiegend aus den Nomoi, in zweiter Linie erst aus den anderen Dialogen. Der tiefe Gegensatz zu den letzteren war ihnen nach der Loslösung von den Nomoi automatisch klar. Man könnte sicher in der Stilkritik Fr. Müllers und Theilers für die Vergleichsstellen aus den Nomoi immer solche aus den früheren Dialogen einsetzen. Wer für platonische Sprachkunst überhaupt ein Organ hat, wird dann den Wertgegensatz spüren. Wir leugnen allerdings schlechthin den Wertgegensatz zu den Nomoi. Wie ist es aber zu erklären, daß eine feinfühlige Stiluntersuchung diesen Gegensatz behaupten und zu erweisen beanspruchen konnte? Es liegt hier das eigentümliche, psychologisch begreifliche Phänomen vor, daß beide Gelehrte von den stark und richtig gefühlten Anomalien der Epinomis ausgehend in dem umfangreichen Nomoitext Stellen gesucht und gefunden haben, die diesen Anomalien gegenüber das normal Platonische vertreten, daß sie dagegen nicht eigentlich die Nomoi um ihrer selbst willen stilistisch untersucht haben. Hätten sie das getan, so hätten sie gefunden, daß die Nomoi genau die gleichen stilistischen Anomalien, verglichen mit dem früheren Platon, aufweisen wie

die Epinomis. Dies ist unsere These, die in diesem Kapitel zu begründen sein wird. Der scharfe Widerspruch Taylors gegen die Müllersche Untersuchung ist zwar im Unrecht, soweit er die Mängel der Epinomis leugnet, aber er scheint durchaus berechtigt, soweit er deren Zusammengehörigkeit mit den Nomoi verteidigt. Die Auseinandersetzung, die wir zu führen haben, geht also nach zwei Seiten. Sie will die beiden Werke zusammenführen, aber andererseits das große Werk mit all den Anschuldigungen belasten, die gegen das kleine mit Grund erhoben

These

101

worden sind. Parallel mit dem im 1. Kap. über den philosophischen Gehalt Ausgeführten will sie die Trennungslinie vor die Nomoi verlegen. Die stilistische Charakterisierung wird also mindestens zum Teil auf dem Umweg über die Epinomis geleistet. Das ist die Folge des augenblicklichen Standes der Erörterung. Es kommt dabei aber alles Wichtige von dem zur Sprache, was zum Wesen des Nomoistiles gehört, und unsere Beobachtungen ergeben eine evident einsehbare Disharmonie zu dem, was jedem Platonleser als platonischer Stil sonst vertraut ist. Trotzdem bleibt das Bedürfnis nach einer breiteren Untersuchung, die die Nomoi stilistisch mit den anderen Altersdialogen erschöpfend vergleicht. Diese wird die Ergebnisse der Sprachstatistik in der Form, die ihr v. Amim

(SB. Wien. Akad. 1929: „Die sprachliche

Forschung

als

Grundlage der Chronologie platonischer Dialoge‘) gegeben hat, heranziehen, sie aber durch eine wirklich interpretierende Methode des Ver-

gleichs ergänzen müssen. Sie muß der Zukunft vorbehalten bleiben. Aus unserer begrenzten Untersuchung wird sich aber doch ein Ergebnis herausstellen, das in Analogie zu dem im ersten und dritten Kapitel festgestellten Befund steht. Fr. Müller ging von einer Untersuchung des Wortmateriales aus und von dem abweichenden Gebrauch, den die Epinomis davon macht. Was er (a. ἃ. Ὁ. S. 11-16) über die den Nomoi angeblich widersprechende Verwendung

der Begriffe πίστις, σοφία,

μῦϑος, εἰς νόμους ϑέσϑαι aus-

führt, haben wir im ersten Kapitel von der Philosophie der Nomoi aus widerlegt und wiederholen uns nicht. Die Anwendung dieser Begriffe entsprach in Wahrheit genau der geistigen Lage, die wir in den Nomoi analytisch feststellten. Das läßt sich nun auch für andere Begriffe der Epinomis zeigen. Der μεμυημένος ἀληϑῶς τε καὶ ὄντως (θ86 2, M.S.16)! ist aus Phaidon 69c

zu erklären:

ein ἀμύητος καὶ ἀτέλεστος, wie Platon in Übernahme

der Terminologie der Mysterien sagt, schaut die Ideen nicht. Davon überträgt die Epinomis den Ausdruck auf die Schau des Kosmos mit Hilfe der Astronomie. Diese Umsetzung ist genau die Art der Nomoi, die alles Ideenhafte und Mythische auf ihren Kosmos transponieren. λόγος (986c 4, Μ. 17) hat ohne Zweifel den Sinn von νοῦς. In den Nomoi hat es diesen Sinn nicht. Immerhin könnte man 689} 2 ὅταν οὖν ἐπιστήμαις ἢ δόξαις ἣ λόγῳ ἐναντιῶται, τοῖς φύσει ἀρχικοῖς für λόγος vielleicht auch νοῦς setzen, der ja führend in der Seele ist; mindestens 1 Im folgenden wird die Arbeit Fr. Müllers nur mit M. und Angabe der Seitenzahl

(M. 3.) zitiert.

102

Der

Stil der

Nomoi

und der Stil der Epinomis

sieht man hier den Übergang. Es ist aber sachlich durchaus im Sinne der Nomoi, daß die denkende Weltseele durch ihren λόγος den Kosmos ordnet. Übrigens ist auch schon Timaios 42d 1 (vgl. auch 46d 4) für λόγος die Bedeutung Vernunft zu erwägen (trotz Taylor im Kommentar zur Stelle). 975c 7 (M.S.18): Von der Seherkunst heißt es, daß sie τὸ λεγόμενον οἶδε μόνον, el δ᾽ ἀληϑές, οὐκ ἔμαϑεν. Hier ist wirklich anstößig οἵδε, denn

die Wahrheit von dem Gesagten weiß sie eben nicht. Aber wir sahen oben das Wahrheitswissen verfallen. 902a: Zwei Gründe für die Götter sind logisch möglich, die Welt zu vernachlässigen. Entweder erkennen sie (τὸ [Eusebius] γιγνώσχειν τοὐναντίον a4) ihre Aufgabe, versagen aber ethisch, oder sie erkennen sie nicht. Dies letztere wird aber so ausgedrückt: γιγνώσκοντες, ὡς... οὐδενὸς... ἐπιμελεῖσϑαι δεῖ a2. Das Unwahre wird also nicht gewähnt, sondern erkannt; das ist aber dasselbe wie an der Epinomisstelle. Der volle Sinn von γιγνώσκειν ist hier sowenig gegenwärtig wie dort der volle Sinn von οἶδε. Die von Theiler (a. a. Ὁ. S. 341) getadelte Erläuterung des γιγνώσκων durch ἀληϑοῦς δόξης ἐπιλαβόμενος Epinomis 978} 4 wird bestätigt durch N. 689} 2. 9154 2 (M.S.18 und Gnom. 1940, 300): παιδιά... μιμητικὴ μὲν τὸ πλεῖστον, ἀλλ᾽ οὐδαμῇ σπουδαία ist evident unlogisch. Aber es gibt eine παιδιά, die σπουδή ist, die gottesdienstliche Feier und die Paideia, N. 803d, 798} 6 ff., 659e. Die Epinomis nennt 980ab in voller Übereinstimmung damit ihre Theologie, die doch wirklich σπουδὴ ist, παιδιά. Dagegen ist die mimetische Kunst, die Musik und die Malerei, nicht σπουδαία, da sie ja nichts Bildendes hat, nämlich

sofern sie nach ihrer

technischen Seite erlernt und betrieben wird. (Nur an diese technische Seite darf man denken, sonst würde ein grober Widerspruch schon zu 980ab und 991b 4 bestehen. Auch N. 802b 6 ff. wird die technische und die ethische Beurteilung der mimetischen Kunst geschieden.) Ein Widerspruch zur ra.d. ἀεὶ καλῶν τι συνέπηται μόνῳ, nach dem Ziel, ‚dem allein von diesen in jedem Falle wertvollen Gütern (καλά =

ἀγαϑά, Teilen der Tugend im Sinne von 63] ἃ ff.) eines anschließend mitfolgt“. Reichtum, Gesundheit usw. sind nicht in jedem Fall Güter (661b). - Da die Tugend selbst das Ziel ist, scheint der Ausdruck nicht ganz natürlich; vielleicht ist der Bogenschütze

schuld, der ein Ziel treffen will, dem ein guter Siegespreis folgt. Hermann: to... [του]τῶν auch möglich, aber Evidenz gibt cs hier nicht. 9*

τοῦ[ του].

132

Das

Staatsideal

der

Nomoi

plötzlich auf einen allgemeinen Satz über: ἀλλ᾽ ὄντως ἐστὶν νομοϑεσία καὶ πόλεων οἰκισμοὲ πάντων τελεωτάτων (Badham, -ov codices)! πρὸς ἀρετὴν ἀνδρῶν. Von der eben erwähnten Schwierigkeit aus ist der Satz nur unbestimmt zu verstehen (sachlich vgl. 637d, 704d 5); er gleicht vielmehr einem abrupten Neueinsatz, der zu allgemeinen Überlegungen überleitet. Nach ihnen wird 712b die Behandlung der Verfassung oder doch ihres obersten Grundsatzes, der Gesetzesherrschaft, sachlich an 708d anschließend, folgen. Die Technik des Abspringens aus konkreter Materie in allgemeine Besinnung über philosophische Grundfragen hat mehrere Beispiele in diesen Büchern: 718a-724b, wo in die Rede an die Siedler eine Darlegung über die Funktion dieser Rede eingelegt ist; 803a3-804c, wo sogar der Zusammenhang zwischen Disposition und Ausführung eines Gegenstandes unterbrochen wird ; 857 b864c,

wo zwischen Gesetzen des Strafrechts der Sinn der Strafe und

des Begriffs der Freiwilligkeit erörtert wird ; schließlich das ganze zehnte Buch, mit dessen ersten Zeilen die ersten Zeilen des elften Buches sich decken, während die Theologie dazwischengeschoben ist (vgl. Wilamowitz II 314). In all diesen Fällen haben wir die reine Form des Exkurses, wie er auch hier, 708d ff., vorliegt. Die Einfügung ist formell ganz in Ordnung; auch die Technik, daß eine starke oder abrupte Behauptung aufgestellt

und

dann

vom

Partner

durch

die Frage:

„wie ist das

ge-

meint ?“ ihre Erklärung eingeleitet wird, ist ganz gewöhnlich in den Nomoi? (z. B. 705c 9, 776c 4 u. ö.). Um so mehr Mühe wird uns der Inhalt des Exkurses machen, der uns nötigen wird, auf einige für das Verständnis der Nomoi entscheidende Fragen Rede zu stehen. Es überrascht uns die These, daß ein wahrer Staat verwirklicht wer-

den kann am leichtesten von einem Bund zwischen dem echten Gesetzgeber und einem hochgesinnten, sittlich beherrschten Tyrannen,

aber

auch nur - stufenweise schwerer - von einem ebensolchen Bund mit den Machthabern

eines

Königreiches,

einer

Demokratie,

einer Oligarchie.

Es entsteht die Frage, was das überhaupt bedeutet und zumal im Zusammenhang der Nomoi, deren Situation ja konkret bestimmt ist I Der Satz Emendation der Männer ® Die Form

ist keine Frage, wie Badham wollte; εἴρηκας ἃ 8 entscheidet; aber die ist evident. τελεώτατον πρὸς kann nicht heißen: wirksam für; Tugend paßt nicht her. der Frage des Partners mag trocken und unlebendig sein. 705d 2 blickt

die schriftstellerische Absicht peinlich durch die Frage: der Partner kann ja nicht wissen, daß die zunächst unverständliche These dl sich auf τι τῶν εἰρημένων bezieht. Aber der Dialog der Nomoi ist selten lebendig und nie von der wundervollen Natürlichkeit der Politeia.

Anfang

von Nomoi IV

133

durch die von einer Zehnmännerkommission unter dem Patronat von Knossos durchzuführende Koloniegründung, die keine dieser vier Möglichkeiten zuläßt. Insbesondere ist zu prüfen, ob diesem Gedanken eine biographische Bedeutung zukommt, indem auf Platons politische Versuche in Syrakus angespielt wird. Wir versuchen, den Gedankengang nachzuvollziehen. Der Athener setzte neu ein 708d 6: wahrhaftig können schwere Aufgaben der Gesetzgebung nur solche meistern, die selbst die höchste Tugend

haben

(so schon 704d 5). Er fährt nun fort: „Lieber Freund, es scheint, wenn

ich über Gesetzgeber ein Lob ausspreche! und Betrachtungen anstelle, werde

ich zugleich

auch etwas

Herabsetzendes

über sie sagen.‘‘

Das

schadet nichts, wenn es richtig ist, aber überhaupt sind solche Hemmungen nicht berechtigt, da ja alle menschlichen Dinge demselben negativen

mächtig und

Urteil unterliegen, d. h. ebenso wie die Gesetzgebung ohn-

sind.

Nur

Schicksale

und

Unglücksfälle®

bestimmen

Form

Geschick der Staaten. ‚Schicksale sind so ziemlich alle mensch-

lichen Dinge.‘ Aber genau so richtig ist dies: ‚Gott ist alles, und mit

Gott regieren Schicksal und Gelegenheit alle menschlichen Dinge. Besonnener® freilich ist es zuzugeben, daß als drittes diesen das Wissen

folgen muß. Denn daß bei Gelegenheit eines Sturmes die Steuermannskunst

mit anfaßt,

möchte

ich für weit vorteilhafter erachten,

als daß

sie es nichttut.‘“ Das Analogegilt für die anderen Künste, die einer ganz knappen Induktion wegen eingeführt sind, und so auch für die Gesetzgebung, die zur Eudaimonie des Staates erforderlich ist. Die Wahrheit

des Ausgangssatzes bleibt also unangetastet, schränkt durch die ϑεία τύχη. 1. ἐπαινῶν scheint mir durch das ἅμα und den Gegensatz

nur irgendwie

einge-

φαῦλον indiziert. ἐρεῖν τι

φαῦλον wie 804} 6: διαφαυλίζεις. 3 ἀκαιρίαι ἃ 7 nicht zu ändern, schlechte Jahre stehen neben Seuchen; Stellung des re nicht unerhört, vgl. Pol. 465el. ® ϑεός mit διχκυβερνῶσι zu verbinden (wie Pasquali, Le lettere di Platone 5. 149, u. a.), widerrät das πάντα, dessen Wiederbolung in ἅπαντα unschön wäre. Schlagend

ist Aischylos fr. fr. 21a). Warum heißt, nicht alles Dem wird ϑεός 4 Für

und

70 Nauck?: Ζεύς τοι τὰ πάντα (Beziehung zu Orphischem? vgl. Kern, soll auch der Gott, der 716a 1 Anfang, Mitte und Ende aller Dinge sein ? Es ist ja der Kosmos. (Vorher, b 1, hieß es: die τύχαι sind alles. entgegengesetzt.)

diese Auffassung

spricht

die Konstruktion,

da sonst

δεῖν in der Luft hinge,

der Gegensatz zu ἄξειεν a8 (anders Pasquali 5. 149).

δ ἀληϑείας ἐχόμενον 709c 8 — ἀληϑῆ erklärt England überzeugend (ebenso ist πιϑαvörnrog ἐχόμενος 839d 8 = πιϑανός). Ein Bedeutungsverfall: Pol. 362a 5 hieß noch: mit der Wahrheit, gegen den Schein zusammenhängend. Da die Sphäre

das des

ὄντως dv für die Nomoi nicht mehr vorhanden ist, darf man hier die erfüllte Bedeutung

der Wendung

nicht anehmen.

134

Das

Sıaatsideal

der

Nomoi

Was bedeutet das? Die Not und Ohnmacht des Menschen wird stark empfunden und drängt zu der übereilten (ἄξειεν ἃ 8),} affektgeladenen Äußerung: alles ist Schicksal, der Mensch vermag nichts. Die sinnlose τύχη wird freilich sofort entmachtet und unter die Lenkung Gottes gestellt.2 ὁμοίως b 4 ist nur facon de parler:

sobald

der Gott

anerkannt

ist, der alles ist, gibt es nur ϑεία τύχη. Nun muß freilich die Übereilung zurückgenommen

und in größerer Ruhe (ἡμερώτερον) das menschliche

Wissen in seine Rechte eingesetzt werden, die es 708d 6 besaß (denn die höchste Tugend ist nicht ohne Wissen möglich).

Das religiöse Pa-

thos der Abhängigkeit und Schwäche ist ein Grundzug der Nomoi, die Theologie im zehnten Buche ist davon geladen; der Exkurs 803a fl. „macht das Menschengeschlecht schlecht‘ (διαφαυλίζεις 804b) im Hinblick auf den Gott und „aus dem Erlebnis heraus“ (παϑὼν ὅπερ εἴρηκα), daß der Mensch nur ein Spielzeug Gottes und großen Ermstes nicht wert sei. Solche Töne erklangen sonst im Platon nicht. Wir erfassen also etwas Wesentliches für die Nomoi, wenn wir die berühmte Formulierung:

„es sind nun freilich die Angelegenheiten der Menschen großen Ernstes nicht wert‘‘ (803b 4) von der gleichlautenden der Politeia (604c 1) ab-

heben.

Der Gehalt der Worte

konnte

an der Politeiastelle

hat sich völlig verändert;

fortgefahren

werden,

wie

unmöglich

in den

Nomoi,

ἀναγκαῖόν γε μὴν σπουδάζειν. Denn es war ja die Meinung, man solle sein Leid nicht wichtig nehmen, sondern das φρόνιμον καὶ ἡσύχιον ἦϑος (604 ε) bewahren, das über das Klagen hinaus ist. Gleichsinnig beißt es Pol. 608c d: Die Menschenseele, ein unsterbliches Ding, kann nicht nur für

die kurze Lebenszeit denken und sorgen (ἐσπουδακέναι), und 486a: der Philosoph

hat die Schau „aller Zeit und

alles Seins“,

er strebt

‚‚nach

dem Allund Ganzen, menschlichem und göttlichem‘“, so scheint ihm das Menschenleben nichts Großes und der Tod kein Schrecknis. (Theaetet

174a harmoniert hiermit.) Es ist klar, daß die philosophische Tapferkeit, wie sie Laches, Protagoras, Pol.442 c lehrten, hinter diesen Formu-

lierungen steht, und

mit ihr die wahre Welt des ewigen

Mensch ist geborgen in seiner Verbundenheit

Seins.

mit dem Sein.

Das

Der Ur-

bild dieser Haltung ist der Sokrates der Apologie (41d): οὐκ ἔστιν ἀνδρὶ ἀγαϑῷ καχὸν οὐδὲν οὔτε ζῶντι οὔτε τελευτήσαντι. Wie sehr verschiebt sich der Sinn des οὐκ ἄξιον μεγάλης σπουδῆς, wenn es hier in den Nomoi wie-

deraufgenommen

wird.

Verschwunden

ist die Sphäre des Seins, ver-

1 ἅττειν ist poetisch, im Platon nur hier außer [Alkib. 1] 118b; der Sinn paßt hier vorzüglich. 2 ϑεός und τύχη identisch Epinomis 99] ἃ 8, 992a 2.

Anfang

von Nomoi IV

135

schwunden mit ihr die Geborgenheit des Philosophen. Wir stehen im Zusammenhang der Kosmosreligion, die Götter sind Gestirnseelen, wäh-

rend in der Politeia nur traditionell von Göttern geredet, in Wahrheit aber ein unpersönliches, unsichtbares Göttliches vom Geistmenschen erschaut wurde. Jetzt ist die ganze Welt ein gesetzmäßiger Zusammenhang des Seelischen geworden, der von den kosmischen Seelenkräften (906b) überwacht wird. Die ethischen Funktionen, im Menschen schwach und oft unterliegend, sind mit großer Kraft und Reinheit in

den kosmischen Seelen mächtig, die entgegenstehende böse, aber schwächere Seelenkräfte in einem ewigen Kampfe niederhalten. Ihnen gegenüber fühlt sich der Mensch klein und ohnmächtig und hält seine Angelegenheiten für großen Ernstes nicht wert, bleibt sich aber in der

unglücklichen

Lage (οὐκ εὐτυχές) dessen, der sich doch Mühe

muß, seiner Abhängigkeit

und Schwäche

bewußt.

geben

Für diese ist ein ein-

drucksvolles Sinnbild die Marionette (ϑαῦμα 804 b), das Spielzeug (παίγνιον 803c, 644d): ϑαῦμα μὲν ἕκαστον ἡμῶν ἡγησώμεϑα τῶν ζῴων ϑείων: (Boeckh,

nach Tim. 396: θεῖον codd.).?2 Der Mensch

leidet unter seiner

Kleinheit im Kosmos und dem Mangel an Glückseligkeit im irdischen Dasein. Doch gibt ihm kultisch-musisches Spiel einen Weg, die Götter gnädig zu machen, d. h. Tugend zu erwerben (vgl. 653d die musischen Feste als Erholung von Daseinsnot und die ganze Pädagogik des 2. Bu-

ches). So hat er, als Spielzeug Gottes, doch einen Anteil an Wahrheit ! Die Konjektur Boeckhs scheint mir zwingend, ζῴων allein wäre unverständlich. England: Living creatures though we are; aber man würde verlangen: ζῴων ὄντων. 2 Die Funktion des Bildes scheint nicht einheitlich, denn 644d soll ja das ethische Phänomen der Selbstbeherrschung verdeutlicht werden, nicht die Abhängigkeit und Schwäche gegenüber den Göttern. Aber eben unsere seelischen Antriebe kommen aus kosmischen

Seelenpotenzen,

offenbar auch

die schlechten,

so daß

sich der kosmische

Kampf bei uns wiederholt. Damit wäre auch Ritters Einwand (Kommentar 5. 197) begegnet, daß doch die κακία nicht von den Göttern kommen könne. - Freilich, in die Bewunderung Friedländers (II 639) für die formbildende Kraft kann ich nicht einstimmen, soweit die Selbstbeherrschung durch die verschiedene Substanz und Festigkeit der Drähte (golden und weich einerseits, eisern und hart andererseits) ausgedrückt werden soll. Ich kann das nicht sehr bildkräftig finden (neben den Seelenrossen des Phaidros oder dem dreigeteilten Wesen von Pol. 588b, die dasselbe Phänomen abbilden), besonders nicht, wenn, wie es scheint, die Metalle erst durch gedankliche Kon-

tamination

mit

Durchführung

dem

Mythos

ist recht

von

unklar,

den

drei Ständen

645a ff.;

das

(Pol. 415a)

Nebeneinander

von

hereinkommen. ἄλλας

δὲ und

Die τὰς

δ᾽ ἄλλας ist sehr störend: also nicht Textverderbnis, sondern gedankliche Unklarheit ? Das Problem wird allgemeiner sich wiederholen. καὶ μονοειδῇ cod. Riccard. muß mißverstehender

Zusatz

sein, als ob

παντοδαποῖς

nicht

bedeutete:

Jeder

Draht

ist aus

anderem Metall. An die von Schanz behauptete Lücke glaube ich nicht; was sollte da hingehören ?

136

und

Das

Eudaimonie,

Staatsideal

der

und die übertreibende

Nomoi

Formulierung

μεγάλης σπου-

δῆς οὐκ ἄξια muß (804c 1) abgemildert werden, in völliger gedanklicher Parallele zu dem ἡμερώτερον 709b. Nur ist es hier nicht die παιδιά, die aus Not und Pessimismus herausreißt, sondern das Wissen (τέχνη 709d) des Gesetzgebers, ohne das seine höchste Tugend nicht bestehen kann (vgl. 967d ff.). Dieser zweite und entscheidende Weg zur Eudaimonie wird hier auch

als solcher bezeichnet:

es muß

zugestanden

werden,

daß es auf Gesetzgebung entscheidend ankommt, ei μέλλει (Stob., -οἱ codd.) ποτὲ εὐδαιμόνως οἰκήσειν scil. χώρα (709c 5). Es wäre ja auch das mühsame Werk, das die Gesetzgebung schon λόγῳ mit sich bringt, sinnlos ohne eine solche Überzeugung. Sie muß sich nur aus dem starken pessimistischen Affekt erst hochreißen. Die Züge, die wir hier an den Nomoi finden, lassen sich bestätigen an der Epinomis, die auch ausgeht von dem Fehlen der Eudaimonie unter den Menschen (973c ff.), um ein höchstes Wissen zu suchen und zu finden, das diese Eudaimonie ihren wenigen Trägern, eben den Gesetzgebern der Nomoi (wie 992 d gesagt wird), verschafft. Die Epinomis kennt aber auch den anderen, sozusagen elementaren Weg zur Eudaimonie, die kultische παιδιά, auf welche 992d

(εὐφημεῖν, der Sinn wie

821d) und 980 ab angespielt wird, während sie 991b an zentraler Stelle im System der Welt erscheint. Wir fahren im Text fort. 709d: Wer das nomothetische Wissen hat, kann allein (denn nur, wer νοῦς hat, kann das; 688b) richtig beten um

das, was zu seinem Wissen durch die göttliche τύχη hinzukommen muß.! Er bittet verblüffenderweise um eine Stadt mit einem Tyrannen, der ganz untyrannische Eigenschaften hat, vor allem die der Selbstbeherrschung. Mit ihm kann er am leichtesten und schnellsten den guten Staat verwirklichen; es ist aber auch, obwohl weniger leicht, möglich

mit Königen (offenbar zweien, wie in Sparta, vgl. 691d ff.), dann mit demokratischen Führern und schließlich am wenigsten leicht mit Oligarchen, bei denen die tatsächliche Macht auf die meisten Personen verteilt ist. Es geht also nach

der Anzahl

der Machthaber;

zwei nehmen

schwerer den rechten Geist an als einer usw. Ihr Beispiel bestimmt den Geist des Staates, dessen Heil darin liegt, daß die höchste Macht

mit

Denken und Besonnenheit sich verbinde (712 4). Man sieht leicht, daß die Situation der kretischen Kolonie preisgegeben ist. Es handelt sich 1 d2 kann das Interrogativum nicht bleiben. τι, ὃ glänzend Stephanus, noch besser die Modifikation ὅ τι Wagner. Schanz (ἐπιδέον) verschlechtert gegen seine Gewohnheit den

Satz.

Idealsiaat

und

kretische

Kolonie

137

vielmehr darum, wie aus den bereits bestehenden schlechten Staaten

ein guter werden kann. Es erscheinen die vier Typen schlechter Staaten aus dem

achten und neunten

Buch der Politeia, nur daß, damit eine

Klimax in der Zahl der Machthaber entsteht, das Königtum statt der Timokratie eintritt. Aus 739a ff. ergibt sich nun aber, daß der νομοϑέτης τυραννῶν dem vollkommenen Staat zugeordnet ist (denn die Abweichung von diesem wundert den, der nur tyrannische Gesetzgeber kennt); aus 735d ergibt sich dasselbe, wenn nämlich der Tyrann und Gesetzgeber die ideale Reinigung unter der Bürgerschaft durchführen kann, der Gesetzgeber obne Tyrannei aber nur eine behelfsmäßige. Die Beziehung beider Stellen beweist, daß der ganze Abschnitt (708d-712a) im Zusammenhang nicht fehlen kann, wie man sonst vermuten könnte.

Inhaltlich folgt aus ihnen, daß tatsächlich die Entstehung des Politeiastaates aus den empirischen Staaten das Problem unseres Exkurses ist. Auch sind wiederkehrende Formulierungen aus der Politeia mit Händen zu greifen. Aber was in aller Welt soll dies Problem hier, wo gerade eben die äußeren Bedingungen für eine neue Siedlung fixiert sind und deren Verfassung erörtert werden soll, die mit dem Politeiastaat nichts zu schaffen hat? Hier setzt nun die biographische Deutung ein, die Wilamowitz (II 545) gegeben hat. Er sagt, der Tyrann sei Dionysios II., der Gesetzgeber sei Platon selbst. Platon spreche hier also in schmerzlichem Rückblick von seinen schönen Hoffnungen, die scheiterten, weil Dionys die geforderte bürgerliche Tugend der Maßhaltung nicht besaß noch lernte. Diese persönliche Konfession sei „seltsamerweise nicht nur nicht unterdrückt, sondern gewaltsam auf Kosten des Zusammenhangs unter-

gebracht.“ Es ist schwer vorstellbar und jedenfalls ohne Beispiel in seinem übrigen Werk, daß Platon Persönlichem gestattet haben soll, den gedanklichen Zusammenhang zu ignorieren oder zu verderben. Die Wilamowitzsche Auffassung ist nur erklärlich aus seiner Deutung des ganzen Werkes als eines Produktes der Resignation und inneren Zwiespältigkeit des Greises,

der wechselnden

Stimmungen,

bald düsterer

Enttäuschung, bald leidenschaftlicher Treue zu seinen Idealen, Raum und Ausdruck gebe. Zunächst muß schlechthin geleugnet werden, daß von Enttäuschun-

gen und unerfüllten Hoffnungen irgend etwas auch nur angedeutet wird. Der Bund Gesetzgeber-Tyrann wird als Möglichkeit behandelt, wiewohl eine schwere und seltene, ganz wie Pol. 502bc u. ö., wo die-

selben Wendungen auch von Wilamowitz immer im Sinn der Hoffnung

138

Das

Staatsideal

der

Nomoi

interpretiert wurden. Wenn es 711. 8 heißt: οὐ τοῦτ᾽ ἐστὶν ἀδύνατον οὐδὲ χαλεπῶς ἄν γενόμενον, nämlich die Nachfolge der Regierten, so weicht doch die Fortführung der Logik des Satzes aus: ἀλλὰ τόδ᾽... χαλεπὸν καὶ ὀλίγον, nicht ἀδύνατον. Diese Bestätigung ist schlagend. Nun ist freilich nicht zu leugnen, daß die Nomoi (739a ff.) den Politeiastaat für unmöglich erklären, darum wollen sie ihn ja ersetzen. Er bleibt zwar, durch Weiber- und Besitzgemeinschaft zur größten Einheit befähigt, ideales Muster, übersteigt aber die Kräfte der jetzt Lebenden. (739d: εἴτε που θεοὶ 7 παῖδες ϑεῶν αὐτὴν οἰκοῦσι. 7404: ἐπειδὴ

τὸ τοιοῦτον μεῖζον ἣ κατὰ τὴν νῦν γένεσιν καὶ τροφὴν καὶ παίδευσιν εἴρηται [γένεσιν = φύσιν]). Das ist aber eine völlig andere und neue Begründung: hier liegt es auf einmal an den Regierten, die den Institutionen nicht gewachsen sind, nicht an den Regierenden, die sich nicht zur Tugend bekehren. Der Widerspruch, daß die Nachfolge des Volkes hinter dem Beispiel der Führenden 71] οἀ für selbstverständlich und leicht, 7394 und 740a aber das Leben nach den Grundsätzen des Idealstaates für unmöglich erklärt wird, ist geeignet, die Unklarheit über den Sinn unseres Exkurses noch zu steigern. Aber daran ändert er nichts, daß aus unserem Exkurs nicht auf gescheiterte Pläne Platons geschlossen werden kann. 50 haben denn auch andere! umgekehrt geschlossen, dieser Passus müsse geschrieben sein, als Platon noch an seine sizilischen Pläne glaubte, also vor 360. Der Passus zöge dann, fügen wir hinzu, zwangsläufig 735d und 739a, also das fünfte Buch, nach sich, ein Kernstück des Ganzen. Aber selbst wenn er das nicht täte, wie un-

wahrscheinlich ist es, daß Platon den Hinweis auf seine Hoffnungen stehen ließ, als er sie nicht mehr aufrechterhalten konnte, ohne die leiseste Andeutung, daß die Probe auf seine Gedanken gemacht, aber miß-

lungen ist? Die beiden Hinweise im fünften Buch aber stehen in unlös-

barem Konnex mit der Konstituierung der kretischen Kolonie, die doch erst konzipiert werden konnte, als die sizilische Politik gescheitert war (Wilamowitz I 650 ff.). Was sollen dann aber an entscheidender Stelle die Hinweise auf einen tatsächlich als trügerisch erkannten Glauben, in einer Form, als wenn er es nicht wäre? : 30 Überweg-Prächter, Philos. d. Altert. S. 316; Pasquali, Le lettere di Platone 5.149; Stenzel, Platon d. Erzieher 5. 106. - F. Döring, De leg. Plat. compos., Diss.

Leipzig 1907,

spricht (laut

England, Komm.

geschrieben, als er noch die Anschauungen

I 426) von einer Interpolation Platons,

der Politeia hatte. Taylor dagegen (Ein-

leitung zur Übersetzung, London 1934 5. 12) benutzt die Stelle zu der Folgerung, daß die Nomoi

von 360 an, nach

dem

to already belonged to the past.

Scheitern,

geschrieben

wurden:

The

events alluded

Biographische

Diese Erwägungen

Deutung

von 7094ff.

139

allein schalten aber die biographische

Deutung

noch nicht völlig aus. Der sachliche Gehalt des Exkurses muß vor allem geprüft werden.

Da ist zu erinnern, daß neben den Tyrannen noch drei

andere Arten von Machthabern genannt werden, die den wahren Staat schaffen könnten. Schon das spricht, bei aller Bevorzugung des Tyrannen, nicht für die biographische Beziehung. Ferner scheint es doch

nur Art der Darstellung zu sein, wenn die beiden zu vereinigenden Faktoren,

Wissen

und

Macht,

auf zwei

Personen

verteilt

werden.

Denn

735d und 739a wird die Personalunion hergestellt, aber auch 711d ff. schon ist der Gesetzgeber ganz weggefallen, und 712a wird von der Verbindung von Wissen und Macht ‚im Menschen“ allgemein geredet. Der Bund zwischen Tyrann und Gesetzgeber ist also gar nicht der Kar-

dinalpunkt der Erörterungen. Doch genügt das alles noch nicht. Wirklich urteilen können wir über den Passus, der ja offensichtlich die Umbildung eines zentralen Gedankens aus der Politeia enthält, erst dann,! wenn wir, weiter ausholend, diesen Gedanken und seine Stellung in der

Politeia zu verstehen uns bemüht haben. Wir machen also - wie die Nomoi - selbst einen Exkurs und betrachten den Zentralsatz der Politeia. Auch in der Politeia wurde, wie in den Nomoi, ein Staat gegründet: τῷ λόγῳ ἐξ ἀρχῆς ποιῶμεν πόλιν (369c). Es ist sein augenfälliges Kennzeichen, daß er nicht um seiner selbst willen entworfen

wird, d. h. nicht

für einen auch nur literarisch fingierten praktischen Zweck der Verwirklichung, wie der Nomoistaat, sondern um eine im Gespräch behandelte Frage, die nach Wesen und Nutzen der Gerechtigkeit, besser beantworten zu können. Diese Frage ihrerseits reicht viel weiter als die Frage nach

dem

Staat,

nämlich

so weit,

wie

die

menschliche

Seele

reicht, die ein „unsterbliches Ding‘‘ (608c) ist, führt uns also bis ins Jenseits, zu dem uns der Mythos den Schlüssel gibt. Der Staat wird nur in Gedanken,

Platon

sagt „in der Rede‘,

man sagen, einer mathematischen

konstruiert;

er gleicht, darf

Zeichnung, die wieder weggewischt

wird, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Darum werden auch nur die für

den Zweck notwendigsten Umrisse gezeichnet. Der institutionelle Leib des Politeiastaates ist so ätherisch, wie der des Nomoistaates

massiv

und kernig ist. Die Umrisse sind folgende: die Gliederung in drei Stände (412b-415d), aus der dann die Tugenden sich ablesen lassen; das Fehlen jeden Privatbesitzes in den beiden ersten Ständen, um deren Funktion als ἄρχοντες und φύλακες rein, ungestört

von Erwerbs-

ı Friedländers Behandlung des Passus (II 657 ff.) scheint uns über die Schwierigkeiten hinwegzugleiten. Es muß viel schärfer zugepackt werden.

140

Das

Sıaatsideal

interessen, herauszuarbeiten, wodurch

der Nomoi

die Gerechtigkeit erst sichtbar

wird (415d-417b); drittens die Weibergemeinschaft, die den Staat eint und zu einer großen Familie macht. Sie war 423e ff. angedeutet, wohl als notwendiges Komplement des Kommunismus, wird aber erst später, nachdem die Gerechtigkeit gefunden ist, entwickelt (457 c-464 c),! offenbar aus dramaturgischen Gründen. Dazu kommen, schon nicht mehr eigentlich institutionell, die Grundsätze über die Erziehung, die

den Menschen zu einem Gerechten machen hilft (376c-412b), einschließlich der Gleichheit der Erziehung für beide Geschlechter (45] ἃ bis 457c); ergänzt wird die Erziehungslehre durch die Verteilung der Lehrgegenstände auf die Lebensjahre (536c-540c). Im Unterschiede zum Nomoistaat ist der Staat der Gerechtigkeit weder nach Ort noch nach

Zeit fixiert, seine Größe ist nicht numerisch bestimmt,? weil das

ohne jedes Interesse ist. Alle übrigen Gesetze, also das, was in den Nomoi die Masse des Textes ausmacht, werden ausdrücklich für überflüssig erklärt oder für vergleichbar mit Heilmitteln, die nicht nützen,

wo einzig innere Umkehr hilft (425b-427a). Nur das heilige Recht soll in Ehrung der Tradition aus Delphi geholt werden (427b). In welchen Formen die Regenten diesen Staat regieren sollen, d.h. alles Verfassungsmäßige, wird nicht mit einer Silbe besprochen. Dieser Schemen von einem Staatsentwurf, dieses ganz unkonkrete und unpolitische Gebilde, von der Phantasie des Denkers aus dem Nichts erfunden, an keine konkrete oder historische Gegebenheit 1 In dem folgenden Stück, 464 c-466.d, das noch zum Thema

an-

der Weibergemeinschaft

zu gehören beansprucht, sind bedeutende Unstimmigkeiten, die zu kritischem Eingreifen nötigen. Es kann nicht anders sein, als daß das Problem mit den drei Anhängen (466e-471c) zusammenhängt, die nicht zum Thema des Dialoges gehören und nach

Wilamowitz (I 201) „auf gewaltsame Weise eingeschmuggelt‘‘ sind. Ich gedenke die Frage außerhalb dieser Arbeit zu behandeln. 5 Ich halte χίλιοι 423a für hypothetisch.

Selbst wenn die Stadt so klein ist, kann sie

doch wahrhaft groß sein. Aristoteles und die neueren Erklärer nehmen die Zahl ernst. Daß die Zahl aber in Wahrheit nicht als schon bestimmt gelten soll, beweist 423b, wo das ethische Prinzip zu ihrer Bestimmung an die Hand gegeben wird. - Der nächste Satz ist bei Adam und Shorey nicht klar erfaßt: ‚denn eine in diesem Sinne große Stadt

wirst Du nicht leicht bei Griechen und Barbaren finden, wohl aber viele, die groß und von vielfacher Größe der ihrigen scheinen“. Ich streiche μίαν, das im Sinne von „einheitlich‘‘ den Gegensatz stört ; im Sinne von „eine einzige‘‘ wäre οὐδεμίαν zu erwarten,

bei anderer Stellung. Mißverstehend fügte jemand μίαν im Sinne der vorhergehenden und folgenden Gedanken zu. Über solche kleine Zusätze „‚feißiger Leser‘ vgl. Wila-

mowitz II 381. Ich glaube noch viel mehr zu finden; sie sind stilistisch leicht kenntlich. Seit Wilamowitz’

Buch ist für den Platontext nichts getan worden.

Jachmann,

Der Platontext, Göttingen 1942, gibt einen starken Impuls zu neuem kritischen Arbeiten.

Staat

der

Politeia

141

geknüpft, dieses aus Wachs (wie es in anderem Zusammenhang heißt, 588d) geknetete Präparat, an dem ethische Funktionen demonstriert werden, wäre real zu nehmen, als ob es alsbald in historische Wirklich-

keit hätte umgesetzt werden können oder sollen? Scheint

uns

das

von

vornherein

unwahrscheinlich,

so dürfen

wir

doch unser Urteil nicht überstürzen. Denn an zentraler Stelle des Dialoges wird die Frage breit und wiederholt erörtert, ob und wie dieser Staat möglich sei. Was hat es damit auf sich? Die Gesprächspartner erinnern am Anfang des fünften Buches den Sokrates an den früher (424a) ausgelassenen Punkt der Weibergemeinschaft und fordern, daß er nachgeholt werde. Mit dem sachlichen Interesse der Aristonsöhne verbindet sich lüsterne Neugier der Polemarchos und Thrasymachos, die die Sensation eines pikanten Themas reizt. Platon bedient sich dramaturgisch dieses allzu menschlichen Interesses, um das Gespräch auf den Weg zu bringen, der es zu dem höchsten Gegenstand, zu Philosophie und wahrem Sein, hinführt.! Sokrates windet sich gegenüber ihrem Drängen, und diese ironische Besorgnis vor der Utopie (εὐχή 4504 1) begleitet den Dialog, bis der thematische Satz 473d erscheint. Der erste Punkt, der verhandelt wird, ist gleiche

Erziehung zu gleichen Funktionen im Staat für beide Geschlechter. Daß sie nützlich sei, wird gezeigt (456c—457c), weil sie die Frauen als Wächterinnen tüchtiger macht; vorher geht der Nachweis, daß sie möglich sei (452 ε-456 ο), weil die weibliche Physis — der männlichen gleichartig, nur nicht gleichwertig - sie zulasse: οὐχ ἄρα ἀδύνατά γε οὐδὲ εὐχαῖς ὅμοια ἐνομοϑετοῦμεν, ἐπείπερ κατὰ φύσιν ἐτίϑεμεν τὸν νόμον (456c 1). Utopie (εὐχή) ist eben nur das, was dem Sinn des Menschlichen in uns widerspricht. Diese Begründung gibt uns einen Fingerzeig für den Hauptpunkt: daß eine Einrichtung δυνατόν ist, folgt daraus, daß die menschliche Physis δυνατή ist, sie zu leisten. So wird auch dort die menschliche „Möglichkeit“ den Staat möglich machen. Einstweilen sind die Schwimmer der ersten Woge entgangen (457b); eine zweite, größere Woge folgt, nämlich die Weibergemeinschaft, bei der die Frage nach der Möglichkeit zurückgestellt (458ab), dafür aber ausführlich das Wie (458b-461e) und das Wozu (ὠφέλιμον, 461e-464c) behandelt wird. Nun erwartet der Leser, daß der Dialog der Möglichkeit der Weibergemeinschaft sich zuwenden und so die zweite Woge bestehen wird.? 1 Friedländer II 380 hat dies fein bemerkt.

3 Es scheint auch 466cd etwas Derartiges anzuklingen, aber bei näherem Zusehen

142

Das

Stıaatsideal

der

Nomoi

Statt dessen ruft Glaukon 471c den Sokrates von der Ausmalung der

Vorteile der Weibergemeinschaft „daß

dieser Staat

fähig

zurück

zur entscheidenden

ist, Wirklichkeit

zu werden,

und

Frage,

auf welche

Weise er denn dazu fähig ist.‘“ Es verschmilzt also die Möglichkeit der Weibergemeinschaft völlig mit der des gesamten Staates, von der sie nur eine Institution, freilich die kühnste

und paradoxeste, ist. Weil sie

das ist, zeigt sich in dieser beispielhaften Verschmelzung am eindringlichsten,

daß

stitutionen, sinnes,

alle

Institutionen

zu würdigen

der das

Herz

dieses

Staates

nicht für sich, als

In-

sind, sondern nur als Träger eines Gesamt-

des

Staates

ist.!

Wir

sind

also unbemerkt

(nur

nachträglich merken wir, daß mit dem Nutzen der Weibergemeinschaft die zweite Woge

Woge

durchschwommen

herangekommen.

Eine

ist) an die dritte und gefährlichste

wahrhafte

Paradoxie

(οὕτω

παράδοξον

λόγον 472a) wird ausgesprochen werden müssen.

Die scheinbaren Vor-

bemerkungen

(472b-473b)

gleichgültig,

fixieren

das

schon

sind

Wesentliche.

freilich nicht Es

darf nicht

vergessen

sondern

werden,

so

heißt es, daß die Gerechtigkeit selbst und der wahrhaft Gerechte Ziel des Gespräches

waren, nicht wie sie möglich sind, sondern ihre Idee,

ihr Sein als παράδειγμα. So hat auch die Konstruktion des guten Staates als Idee und Paradeigma ihren vollen Sinn, ohne den Blick auf die empirische Wirklichkeit. Die λέξις hat ja mehr Wahrheit als die πρᾶξις, so sehr das gegen den normalen Menschenverstand geht (xäv εἰ un τῳ

δοκεῖ 473a 2). Dies ist aber die Grundlehre

der platonischen Ideen-

philosophie :? εἰς τοὺς λόγους καταφυγόντα ἐν ἐκείνοις σκοπεῖν τῶν ὄντων

τὴν ἀλήϑειαν, wie Sokrates im Phaidon (996) lehrt, unter ausdrücklicher Verwahrung dagegen, daß die „‚Zuflucht‘‘ des Bildes zu wörtlich genommen

werde: vielmehr seien die λόγοι der genuine

heitserkenntnis.

Ort der Wahr-

Unzweideutig lehrt im Lichte dieser Auffassung un-

sere Stelle, daß der Politeiastaat seine Wirklichkeit ‚‚nur‘‘ in der Idee

hat, und daß die politische Wirklichkeit der empirischen Staaten, wenn sie denn etwa einmal

Gutes

haben

sollten, sich zu dieser Idee so ver-

hält, wie alle empirische Wirklichkeit zur Idee nach platonischer Weltansicht sich verhalten muß, nämlich im Verhältnis der μέϑεξις (der sieht man, daß von der Möglichkeit der gleichen Erziehung geredet wird, die längst er-

ledigt war. Das ist ein schwerer Anstoß, zu dem sich andere gesellen. 466c 5 ist ein Bruch des Gedankens, d 9-e 1 ein noch schwererer. Dies das erwähnte Textproblem. Für unsere Absicht kann es beiseite bleiben. 1 Ähnlich Friedländer II 380.

3 Sie klingt im Grunde schon an in der leisen Ironie, mit der Sokrates in der Apologie (32a) sagt: Ich bringe euch als Beweise nicht λόγους,

ἀλλ᾽ ὃ ὑμεῖς τιμᾶτε, ἔργα.

Zentralsatz

Terminus

472c 2).

Damit

der

Politeia

ist aber die Frage

Staates reduziert auf die des Zuganges

143

der „Möglichkeit“

dieses

zur Ideenwelt: nur die echte

Philosophie kann diesen Staat zur Wirklichkeit werden lassen, d.h. nur die wenigen, die Physis und Paideia zur echten Philosophie befähigt,! sind imstande (δυνατοί), ihn zu schaffen, oder die Machthaber selbst, wenn sie dieser echten Philosophie sich zuwenden.

Wie in einer

geschlossenen Deduktion geradezu hat sich so der lange hinausgezögerte, für die unplatonische Weltansicht paradoxe Zentralsatz von den Philosophen,

die Herrscher, und von den Herrschern, die Philosophen

werden, ergeben (473d). Es zeigt sich, daß in der Politeia dasselbe verkündet wird, wie im Gorgias, nämlich: nur der wahre Staatsmann kann

den Staat, ja die Eudaimonie des Menschengeschlechtes retten; dort war es Sokrates, hier, von Sokrates gezeigt und gefordert, der Ideenschauer.

Wir

Standpunkt

ziehen

also

den

Schluß,

daß

Platon

auf dem

gleichen

steht wie im Gorgias und nicht im geringsten zur Politik

zurückgekebrt ist, von der er sich dort abgewendet hatte. Nicht politischen

Einfluß,

wenn

auch

mit noch

so idealen

Mitteln,

erstrebt

er,

sondern Umwandlung der Seelen. Welche Änderung,? - so heißt 473b die Frage - muß eintreten, um die Mißstände der Politik zu beseitigen? „Am

liebsten nur eine, andernfalls zwei, sonst möglichst wenige Ände-

rungen an Zahl, möglichst geringe an Gewicht.‘ Es wird also die Forderung einer möglichst schonenden Reform erhoben. Die Antwort aber lautet, daß nur eine

Änderung

eintreten muß,

die nicht gering und

nicht leicht, aber möglich ist; d. h. die Reform muß wirklich einen ganz neuen Grund legen. An Stelle immer neuer Scheinheilmittel muß der 1(473d) ἀνάγκης

... τῶν

δὲ νῦν πορευομένων

ἀποχλεισϑῶσι....

χωρὶς

ἐφ᾽ ἑκάτερον

Hier kann ἀποχλεισϑῶσι

al πολλαὶ

φύσεις ἐξ

nur bedeuten: eliminiert, nicht:

an der ausschließlichen Verfolgung eines der beiden Ziele gehindert (Adam). Ferner kann πορευομένων, gegen Adam, nur partitiv sein, dann heißt aber αἱ πολλαὶ φύσεις: die meisten von ibnen (186 motley horde, Shorey, ist unmöglich). Wieso die meisten ὃ Weil die meisten schlecht sind? Aber wozu dann die Umschreibung mit φύσεις statt ol πολλοί ? Offenbar ist πολλαί kormupt und novnpat(Liebhold)hochwahrscheinlich: die schlechten Naturen unter den Philosophen und den Politikern sind auszuschalten, damit die guten bleiben und die Verbindung von Macht und Geist vollziehen. Die Ver-

wendung von φύσεις ist bei πονηραί notwendig, bei πολλαξ unmotiviert. πολιτικαὶ (Apelt) ist undiskutabel. χωλαὶ (Madvig) scheint ingeniös, aber die einseitigen Philosophen sollen nicht ausgeschaltet werden, sondern sie sollen die Macht übernehmen. 2 Es

bedarf keines

Stück muß

Wortes,

daß

τίνος,

ἑνός

usw.

bedeuten:

welches

Element

oder

sich ändern. Doch hat Friedländer II 657 das auf die Zahl der Personen

bezogen, konform mit N. 710de:

bei einem vollziehe sich die Änderung leichter als bei

zweien usw. Das ist aber ein Mißverständnis des Textes,

144

Das

Sıaassidesal

der

Nomoi

wahre Arzt zugezogen werden, den man bisher für den ärgsten Feind des Staates gehalten und zum Tode verurteilt hat (s0426a-