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German Pages 345 [350] Year 2023
Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen Band 238
Bärbel Bosenius
Reversio animae Studien zu den frühchristlichen Totenerweckungserzählungen
Verlag W. Kohlhammer
Für meine Mutter, Elfriede Bosenius, und meinen Vater, Otto Bosenius (13.3.1937–2.12.2017).
1. Auflage 2023 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-042582-8 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-042583-5 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhalt Vorwort .......................................................................................................... 1
Einleitung .............................................................................................. 11
Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungsund Totenerweckungserzählungen von Elia und Elisa ................................................................ 2
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Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern ................................................................................... 23
2.1 1 Kön 17,17–24: Elia und der tote Sohn der Witwe zu Sarepta ..... 2.1.1 1 Kön 17,17: Der Zustand des Knaben .................................... 2.1.2 Die antik-jüdische Konzeptualisierung des Sterbens als Prozess .................................................................................. 2.1.3 1 Kön 17,18–24: Die Wiederbelebung des Knaben ................
30 37
2.3 2 Kön 13,20–21: Elisas Gebeine und der Tote ....................................
64
2.2 2 Kön 4,8–37: Elisa und der tote Sohn der Schunemiterin ............
2.4 1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,8–37 und 2 Kön 13,20–21 als „Wiederbelebungserzählungen“ ........................................................................
3
26 29
45
67
Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in Josephus’ Antiquitates ...................................................................... 73
3.1 Ant. 8,325–327: Elia und der tote Sohn der Witwe zu Sarepta .....
3.2 Ant. 9,182–183: Elisas Gebeine und der Tote ....................................
75
88
6
Inhalt
4
Elia und Elisa als Totenerwecker im „Lob der Väter“ (Sir 48) ................................................................. 93
4.1 Die Vorstellung von der Wiederbelebung Toter als „Erweckung“ ...................................................................................... 4.2 Lob des Elia in Sir 48,5 ............................................................................
93
95
4.3 Lob des Elisa in Sir 48,13–14 ................................................................. 102
5
Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum .............................................................................. 107
5.1 Jona Vita: Elia und der tote Jona (VitProph 10,4–5) ....................... 108
5.2 Elia-Vita: Elia und der tote Sohn der Witwe zu Sarepta (VitProph 21,5) ......................................................................................... 113 5.3 Elisa-Vita: Elisa und der tote Sohn der Schunemiterin/und die Gebeine in seinem Grab (VitProph 22,11–12/VitProph 22,20) .... 116
Teil II: Totenerweckungserzählungen in antikgriechischen und hellenistisch-römischen Schriften .................................................................................... 6
119
Totenerweckungserzählungen von Polyidos .................... 121
6.1 Palaiphatos, Περὶ ἀπίστων 26: Polyidos und Glaukos ..................... 123
6.2 Apollod. 3,3.1–3,3.2: Polyidos und Glaukos ........................................ 129
6.3 Hyginus, Fabulae 136,1–7: Polyidus und Glaucus ............................. 134
7
Die Tradition von der Wiederbelebung des Tylon ......... 141
8
Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch den Arzt Asklepios .............................................................. 145
8.1 Literarische Traditionen von Asklepios als Totenerwecker vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. mit nicht namentlich genannten Wiederbelebten .................................................................. 146
Inhalt
7
8.2 Asklepios-Kataloge mit Auflistungen der Wiederbelebten und verwandte Traditionen ................................................................. 153 8.3 Erzählungen und Traditionen von Asklepios und Hippolytos ..... 8.3.1 Verg. Aen. 7,761–782: Asklepios und Hippolytos ................. 8.3.2 Ov. Met. 15,524–539: Asklepios und Hippolytos/Virbius .... 8.3.3 Ov. Fast. 6,729–762: Asklepios und Hippolytos ..................... 8.4 Asklepios-Traditionen aus dem 2. Jh. n. Chr. ........................
9
161 161 166 170 176
Euripides’ Drama „Alkestis“ und seine Rezeptionsgeschichte: Herakles und Alkestis ................................................ 179
9.1 Euripides’ „Alkestis“................................................................................ 179
9.2 Die antike Rezeptionsgeschichte der „Alkestis“ des Euripides .... 194
10 Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender ......................................................................... 199 10.1 Empedokles und die Nicht-Atmende ................................................. 201 10.2 Romane mit „Scheintoten“- Phänomenen ....................................... 205
10.3 Asklepiades von Bithynien und der beinahe bestattete Mann .... 209
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen von Jesus, Petrus und Paulus .............
217
11 Mk 5,21–43: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus ............................................................................... 219 11.1 Die polysemen Ausdrücke in Mk 5,21–43 .......................................... 222 11.2 Mehrdeutige Handlungselemente der story von Mk 5,21–24 ...... 226
11.3 Die aus Jesus herausgehende δύναμις ................................................ 231
11.4 Der markinische Jesus im Vergleich mit Elia und Elisa .................. 235 11.5 Die Tochter des Synagogenvorstehers: vom Objekt zur Erzählfigur ......................................................................................... 237
8
Inhalt
12 Mt 9,18–26: Jesus und die Tochter des Vorstehers.......... 239 13 Lk 7,11–17: Jesus und der Sohn der Witwe zu Nain ........ 247 14 Lk 8,40–56: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers .............................................................................................. 255 14.1 Die Rückkehr des πνεῦμα als Aktualisierung der Wiederbelebungsvorstellungen von 1 Kön 17,7–24......................... 258 14.2 Die Rückkehr des πνεῦμα vor dem Hintergrund zeitgenössischer medizinischer Vorstellungen ............................... 262 14.3 Die Rückkehr des πνεῦμα vor dem Hintergrund antiker (mythologischer) „Psychen“ .................................................. 263
15 Apg 9,36–43: Petrus und Tabitha ............................................... 267 16 Apg 20,7–12: Paulus und Eutychos ........................................... 277 17 Joh 11,1–46: Jesus und Lazarus ................................................... 285 18 Ergebnis und Ausblick ..................................................................... 305 Literatur .......................................................................................................... 315 Stellenregister (in Auswahl) ................................................................ 347
Vorwort Das vorliegende Buch habe ich als Privatdozentin für das Fach Neues Testament an der Humboldt-Universität zu Berlin parallel zu meiner Berufstätigkeit als Studienrätin am Gymnasium Wandlitz geschrieben. Einzelne Kapitel durfte ich mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums im Seminar für Neues Testament der Humboldt-Universität unter der Leitung von Prof. Dr. Christine Gerber und Prof. Dr. Jens Schröter diskutieren. Auch Prof. Dr. Cilliers Breytenbach, mittlerweile Emeritus der Humboldt-Universität zu Berlin, und Prof. Dr. Christina Eschner, inzwischen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, haben einzelne Abschnitte gelesen und konstruktiv kritisiert. Prof. Dr. Christiane Zimmermann, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, hat mir die Gelegenheit gegeben, einen Textbaustein in dem von ihr geleiteten Forschungskolloquium zu präsentieren, darüber hinaus hat sie auch noch andere Teile der Untersuchung gelesen und kommentiert. In zwei Neutestamentlichen Kolloquien der Ruhr-Universität Bochum durfte ich Thesen der Untersuchung vorstellen; für wichtige Hinweise sei hier Prof. Dr. Peter Wick gedankt. Dem Herausgeberkreis von BWANT, insbesondere der Neutestamentlerin Prof. Dr. Marlis Gielen, Paris Lodron Universität Salzburg, danke ich für die Aufnahme in die Reihe. Beim Lektoratsleiter, Dr. Sebastian Weigert, und beim Lektor des Kohlhammer-Verlages, Florian Specker, sowie bei meiner Schwägerin, Dipl. Ing. (Kartographie) und Marketingkommunikationswirtin Beate Reußner, bedanke ich mich herzlich für die Hilfe bei der Anfertigung der Druckvorlage. Mein ganz besonderer Dank geht an Prof. Dr. Reinhard von Bendemann, Ruhr-Universität Bochum. Er ist der eigentliche Initiator des Projektes, denn ursprünglich wollte ich nur ein kleines Büchlein zu den „Jairi-Töchterlein“-Erzählungen schreiben. Mehrere Jahre hat er geduldig abgewartet, bis endlich alle in Frage kommenden Quellen bearbeitet waren – und dann in der Schlussphase des Schreibprozesses mit konstruktiven Impulsen die Fertigstellung des Manuskriptes befördert. Melchow, im November 2022
Bärbel Bosenius
1
Einleitung
Wenn Menschen „alt und lebenssatt“ sterben, vermag das ihre Angehörigen in tiefe Trauer zu versetzen. Die Hinterbliebenen trösten sich in diesen Fällen häufig damit, dass ihre Verstorbenen „ihr Leben gelebt“ haben bzw. auf ein „erfülltes Leben“ zurückblicken können. Der Tod wird somit zumeist als „zum Leben gehörig“ akzeptiert. Anders verhält es sich beim frühzeitigen Versterben junger Menschen. Den „vorzeitigen Tod“ eines geliebten Menschen als „zum Leben gehörig“ hinzunehmen ist kaum möglich. Stattdessen drängt sich der Wunsch auf, dieser Tod möge rückgängig gemacht werden. Die sog. Totenerweckungserzählungen, die sich im Neuen Testament finden lassen,1 handeln eben davon, dass vorzeitig Verstorbene unmittelbar nach ihrem Tod wieder erweckt werden. Geschichten mit diesem plot sind in der antiken Literatur keine Einzelfälle und stellen grundsätzlich auch kein spezifisches literarisches Phänomen des entstehenden Christentums dar. Im antiken Judentum liegen mit 1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,8–37 und 2 Kön 13,20–21 ungefähr seit dem 6. Jh. v. Chr. Erzählungen von den Wiederbelebungen Toter durch Elia und Elisa vor. Bemerkenswerter Weise sind diese beiden Gottesmänner die einzigen Gestalten,2 die im jüdischen Schrifttum bis ca. zum 1. Jh. n. Chr. mit Totenerweckungen in Verbindung gebracht werden.3 Die Wiederbelebungsgeschichten aus den 1
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3
Es handelt sich in „kanonischer Reihenfolge“ um: Mt 9,18–26; Mk 5,21–43; Lk 7,11–17; Lk 8,40–56; Joh 11,1–46; Apg 9,36–43 und Apg 20,7–12. In den Paralipomena Jeremiae, die zumeist in die erste Hälfte des 2. Jh.s n. Chr. datiert und von der Forschung mehrheitlich als jüdische Schrift klassifiziert werden (vgl. ALLISON, 4 Baruch, III und 59), findet sich die Geschichte von der Wiederbelebung eines Toten durch einen Adler (ParJer 7,13–20). Grundsätzlich zeigt diese Erzählung Ähnlichkeiten mit antikjüdischen und frühchristlichen Totenerweckungserzählungen: Der Adler, der mit der Überbringung eines Briefes an Jeremia beauftragt ist, beobachtet auf einem Baum sitzend einen Leichenzug, der außerhalb der Stadt einen Toten begraben will. Zu den Trauernden gehört auch Jeremia. Um sich als göttlicher Briefbote zu autorisieren, erweckt der Adler den Toten wieder zum Leben (Καὶ κατῆλθεν ὁ ἀετὸς ἐπὶ τὸν τεθνηκότα, καὶ ἀνέζησε; ParJer 7,17). Da in ParJer 7,18 die Teilnehmer des Leichenzuges explizit aussprechen, dass ihnen im Vollzug der Totenerweckung Gott in Form eines Adlers erschienen ist, fungiert in dieser Erzählung Gott – in Adlergestalt – als derjenige, der den Toten wiederbelebt. Es erübrigt sich somit, den Adler in die Liste der jüdischen Totenerwecker aufzunehmen. Gegen die in der Forschung (vgl. VERMES, Jesus, 53; KAHL, Stories, 57, und COOK, Tomb, 474) kursierende Hypothese, dass das ins 2. Jh. v. Chr. (vgl. COLLINS, Artapanus, 63) zu datierende Fragment Artap 3,25 auch Mose als Totenerwecker präsentiert, spricht, dass die zur Begründung herangezogenen Ausdrücke ἄφωνος und ἀναβιῶσαι nicht eindeutig auf einen Todesfall verweisen. Im bei EUSEB, p.e. IX 27,24f., überlieferten Fragment des jüdischen Schriftstellers Artapanos, das in oratio obliqua zitiert wird und im Original nicht mehr erhalten ist, geht es darum, dass der Pharao Mose darum bittet, ihm den Namen seines Gottes zu nennen, um ihn zu verspotten (διαχλευάσαντα αὐτόν). Darauf flüstert
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1 Einleitung
Königebüchern und ihre Neuerzählungen in Josephus’ Antiquitates sowie in den Vitae Prophetarum im 1. Jh. n. Chr., aber auch die theologische Würdigung von Elia und Elisa als „Totenerwecker“ im „Lob der Väter“ (Sir 48,5 und Sir 48,13–14) aus dem 2. Jh. v. Chr. werden in Teil I des Buches untersucht. Auch der „pagane“ Literaturbetrieb des Altertums kennt seit (ca.) dem 6. Jh. v. Chr. Dramen und Erzählungen, in denen es um die Wiederbelebung früh Verstorbener geht. Auch hier ist die Anzahl der Figuren, die für die Rolle des Totenerweckers in Frage kommen, überschaubar: es sind der Mantiker Polyidos und der Arzt Asklepios. In Teil II des Buches werden in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung die Erzählungen von Polyidos vorgestellt, der im Zusammenwirken mit Schlangen durch das Auflegen eines Krautes den Knaben Glaukos wiederbelebt. Diese Geschichten finden sich seit dem 4. Jh. v. Chr. zunächst auf Griechisch in Palaiphatos’ mythenkritischer Sammlung Περὶ ἀπίστων, dann (etwa im Zeitraum 1. Jh. v. Chr. bis 3. Jh. n. Chr.) in (Ps.-)Apollodoros’ „Bibliotheke“ und außerdem (im 1. Jh. n. Chr.) auf Latein in Hyginus’ Fabulae. Ein Seitenblick auf ungefähr gleichzeitig entstandene Traditionen von der Mose dem Pharao die gewünschte Information ins Ohr. Wenn dieser den Namen hört, fällt er sprachlos und erholt sich nur deshalb wieder, weil er von Mose gehalten wird (τὸν δὲ προσκύψαντα πρὸς τὸ οὖς εἰπεῖν, ἀκούσαντα δὲ τὸν βασιλέα πεσεῖν ἄφωνον, διακρατηθέντα δὲ ὑπὸ τοῦ Μωΰσου πάλιν ἀναβιῶσαι). Wird der Pharao als einer bezeichnet, der ἄφωνος (vgl. PASSOW I/1, 471, s. v. ἄφωνος: „lautlos, sprachlos, stumm“) fällt, dann muss das nicht bedeuten, dass er in diesem Moment – wie VERMES, Jesus, 53, übersetzt – „leblos zusammen[bricht]“. Das bedeutet zunächst einmal nur, dass er beim Fallen keinen Laut von sich gibt. Ob er überhaupt gänzlich zu Boden stürzt, bleibt im Text auch offen, denn er wird von Mose festgehalten (vgl. PASSOW I/1, 642, s. v. διακρατέω: „festhalten, erhalten, behalten“). Somit ergibt sich keinesfalls zwingend, dass aus dem Infinitiv ἀναβιῶσαι erschlossen werden muss, dass er in der Zwischenzeit auch noch verstorben sei. Ἀναβιοῦν kann zwar im Griechischen als Ausdruck für Wiederbelebungen verwendet werden (vgl. die Ausführungen zu schol. in Pind. ad P. III 96 in Anm. 517, 153f., in der vorliegenden Untersuchung), nicht aber im jüdischen Sprachgebrauch der LXX, der für Artapanos die näher liegende Bezugsgröße darstellt: In Kontexten, die von postmortalen Geschicken handeln, kommt in der LXX vom Wortstamm ἀναβιω- allein das Nomen ἀναβίωσις vor, und zwar auch nur ein einziges Mal in 2 Makk 7,9; für die Wiederbelebung von Toten wird das Wort aber von Josephus verwendet: Ant. 8,327; 18,14. Im antiken christlichen Sprachgebrauch ist ἀναβιοῦν nur in 2 Clem 19,4 belegt. Wie ein Beleg aus dem ins 5. oder 4. Jh. v. Chr. zu datierenden Fragment der Komödie Σκευαί von Plato comicus zeigt, kann ἀναβιοῦν auch „genesen“ bedeuten. So heißt es bei Plato comicus: ἀναβιῶν’ ἐκ τῆς νόσου („[v]on der Krankheit wieder gesund werden“ [PIRROTTA, Plato comicus, 279]). Der griechische Grammatiker und Lexikograph Moiris (vgl. BAUMBACH, Art. Moiris, 343) zitiert diese Stelle aus dem Komödienfragment im 2. oder frühen 3. Jh. n. Chr. in seinem attizistischen Lexikon (vgl. HANSEN, Lexikon, 74) als Beispiel für korrekten attizistischen Sprachgebrauch, was darauf schließen lässt, dass die Verwendung des Syntagmas ἀναβιῶν ἐκ τῆς νόσου auch in semantischer Hinsicht für den Lexikographen nicht als Verstoß gegen die sprachliche Richtigkeit angesehen wurde. Aufgrund dieses philologischen Befundes erscheint es unangemessen, dem Mose in Artap 3,25 eine Totenerweckung zuzuschreiben.
1 Einleitung
13
Wiederbelebung des Tylon durch ein von Schlangen herbeigebrachtes Kraut macht deutlich, dass Totenerweckungen in diesen „paganen“ Texten ganz anders „funktionieren“ als in den antik-jüdischen Elia- und Elisa-Geschichten. Sie sind nicht theologisch fundiert, sondern erklären Wiederbelebungen durch die besondere Wirksamkeit phytotherapeutischer Therapien. Der Totenerwecker par excellence in der „paganen“ Literatur der Antike ist allerdings der Arzt Asklepios, der griechischen Mythologie nach – als Sohn des Apollon und Enkel des Zeus geboren von der Königstochter Koronis – kein ganz gewöhnlicher Sterblicher. Da die Kirchenväter den griechischen Arzt vom 2. Jh. n. Chr. an als Konkurrenten des Totenerweckers Jesus Christus ins Feld führen, werden im Anschluss an die Polyidos-Erzählungen die literarischen Traditionen von Asklepios als Wiederbeleber von Toten im Zeitraum 5. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr. sowohl in griechisch- als auch in lateinischsprachigen Schriften untersucht. Behandelt werden in diesem Teil des Buches darüber hinaus auch das von Euripides im 5. Jh. v. Chr. verfasste antike Theaterstück „Alkestis“ und seine Rezeptionsgeschichte. In diesem sehr populären Schauspiel spielt die (vermeintliche) Wiederbelebung der Alkestis eine bedeutende Rolle, sodass es als Prä- bzw. Vergleichstext für die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen berücksichtigt werden muss. Wie sich im Gang der Untersuchung zeigen wird, handelt es sich bei der Vorstellung, dass menschliches Sterben kein punktuelles Ereignis ist, sondern prozesshaft verläuft, um ein im gesamten antiken Mittelmeerraum verbreitetes Konzept. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das Vorhandensein von Erzählungen und Traditionen, welche von „Erweckungen“ wie tot Daliegender handeln, die bestattet werden sollen, obwohl sie „eigentlich“ (noch) nicht („ganz“) tot sind. Wenn deren Lebendig-begraben-Werden von kundigen Menschen verhindert wird, die zwischen tatsächlich Gestorbenen und vermeintlich Toten unterscheiden können, kommt das dem Handlungsverlauf einer Totenerweckung recht nahe. Somit werden auch die Empedokles-Tradition von der „Nicht-Atmenden“ (aber gleichzeitig auch „Nicht-Toten“), die seit dem 4. Jh. v. Chr. belegt ist, sowie einschlägige „Scheintod“-Passagen aus antiken Romanen, welche es wohl schon seit dem 1. Jh. n. Chr. gibt, und die seit derselben Zeit bekannte Tradition von Asklepiades von Bithynien, der einen wie tot Daliegenden vor der Bestattung bewahrt, als Vergleichstexte für die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen behandelt. Wegen ihres späten Entstehungsdatums im 3. Jh. n. Chr. wird die von der Forschung gerne als Parallele zu neutestamentlichen Totenerweckungserzählungen herangezogene Erzählung Philostr. Ap. 4,45 nur am Rande berücksichtigt.
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1 Einleitung
In Teil III wird dann das Gattungs-Profil der sieben4 ins Neue Testament eingegangenen Erzählungen von Totenerweckungen vor dem Hintergrund ihrer antiken jüdischen und „paganen“ Prätexte geschärft. Den Forschungskonsens, dass die frühchristlichen5 Erzählungen von der Wiederbelebung jung Verstorbener – es handelt sich um die Tochter des (Synagogen-)Vorstehers, den Sohn einer Witwe aus Nain, die Tabitha aus Joppe und den Lazarus aus Bethanien – einund derselben Gattung: nämlich der Textsorte „Totenerweckungserzählung“, angehören, teilt die vorliegende Untersuchung. Es wird allerdings ein gegenüber der älteren Forschung modifiziertes Gattungsverständnis vorausgesetzt: In der älteren Literaturwissenschaft – und in der neutestamentlichen Formgeschichte, dazu weiter unten mehr – wurden Gattungen quasi ontologisiert und wie Phänomene behandelt, die auch „außerhalb der Rezeption von Texten existieren“6. Die kognitivistische Gattungstheorie geht jedoch davon aus, dass es sich bei „Gattungen“ um kognitive Konstrukte handelt, die sich ergeben, wenn eine gewisse Anzahl von Texten, die ähnliche Merkmale aufweisen, durch diejenigen, die sie rezipieren, ein und derselben Kategorie zugeordnet werden.7 Wenn in der Literaturwissenschaft anstelle von „Gattungen“ auch von „konventionalisierten
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Die Episode Apg 20,7–12 wird als eine Erzählung gedeutet, die mit Gattungselementen von Totenerweckungserzählungen „spielt“, aber nicht von der Erweckung eines Toten handelt. Nach KOCH, Geschichte, 24, ist der Ausdruck „Frühes Christentum“ in „seiner zeitlichen Offenheit so unbestimmt, dass er als Beschreibungsbegriff für die Anfangsphase kaum geeignet ist.“ Er selbst bevorzugt die traditionelle Begrifflichkeit „Urchristentum“ und begrenzt die mit diesem Ausdruck bezeichnete Epoche auf die „Zeitspanne zwischen 30 und 150 n. Chr.“ (a. a. O., 156). Dabei dienen ihm das Aufkommen apologetischer Schriften (vgl. a. a. O., 154) bzw. „die Entstehung der Gnosis“ (a. a. O., 155) als Abgrenzungskriterien. Gemäß ÖHLER, Geschichte, 17, ist ein zeitlicher Rahmen „von der Geburt Jesu im Jahr 4 v. Chr. bis 135 n. Chr.“ sinnvoll. Er begründet dies damit, dass zu diesem Zeitpunkt „theologische und institutionelle Ansätze aus der Frühzeit […] Entwicklungen erreichten, hinter die man später nur noch selten zurückging“ (ebd.). MARKSCHIES, Fragen, 18, spricht sich hinsichtlich einer temporalen Fixierung für den Zeitraum der „ersten drei Jahrhunderte nach dem Tode Jesu“ aus, um eine „Engführung auf eine Rezeptionsgeschichte ganz bestimmter kanonisch gewordener Schriften der christlichen Bibel, insbesondere des Neuen Testamentes“ (ebd.), zu vermeiden. Mit Blick auf die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen schließt sich die vorliegende Untersuchung an Öhlers Datierung des „frühen Christentums“ an. Somit werden apokryph gewordene Totenerweckungserzählungen, die sich seit der zweiten Hälfte des 2. Jh.s n. Chr. in den sog. Apostelakten finden, nicht mehr ausführlich untersucht, sondern nur kurz im „Ausblick“ des Schlusskapitels beleuchtet. HALLET, Gattungen, 57. Vgl. HALLET, Gattungen, 56: „Immer handelt es sich, auch bei literaturwissenschaftlichen Gattungskonzepten, um kognitive Konstrukte eines ‚erkennende[n] Subjekt[s]‘ (Zymner [...]), die sich im wissenschaftlichen Diskurs stabilisieren, weil sie sich in einem pragmatischen Sinne durch die ‚tradierten Regeln der Sprachspiele‘ (ebd.) einer wissenschaftlichen community herausbilden“.
1 Einleitung
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Textsorten“8 gesprochen wird, verweist diese Begrifflichkeit darauf, dass Gattungen nicht beliebig erfunden, sondern dass im Diskurs über Texte die subjektiven Zuschreibungen einzelner mit ähnlichen Klassifikationen anderer abgeglichen werden. Das besondere Augenmerk der vorliegenden Untersuchung liegt auf der Frage, ob – und wenn ja: wie – frühchristliche Totenerweckungserzählungen sich von anderen antik-jüdischen und „paganen“ Exemplaren dieser Textsorte unterscheiden. Schlaglichtartig verkürzt stellt sich die bisherige neuzeitliche Erforschung der frühchristlichen Totenerweckungserzählungen9 folgendermaßen dar: Die rationalistische Bibelauslegung des 19. Jh.s, vertreten durch Carl Heinrich Venturini, Heinrich Eberh. Gottlob Paulus und Friedrich Schleiermacher,10 hält die Totenerweckungserzählungen des Neuen Testamentes für Berichte von tatsächlich geschehenen Ereignissen, deren wunderhafte Ausschmückungen sich rational erklären lassen. Venturini z. B. erläutert, was sich bei der Erweckung der Tochter des Jairus „wirklich“ ereignet hat: „Da trat er [sc. Jesus] an das traurige Lager, bestrich mit einer kräftigen Tinctur des todtgeglaubten Mädchens Schläfe, und tröpfelte ein wenig stärkenden Balsam auf die fast erstarrte Zunge. Bald kehrte auf das bleiche Antlitz der Lebensfrische Farbe zurück, der Athem wurde leise hörbar, und endlich fühlte Jesus auch den schwachen, noch immer unterbrochenen Pulsschlag unter seinem Finger. Jetzt rief er laut mit starker Stimme dem Kind zu: erwache, erwache!“11. Mit Aufkommen der Formgeschichte werden die Totenerweckungserzählungen des Neuen Testamentes nicht mehr rationalisiert, sondern gattungsmäßig kategorisiert und auf ihren „Sitz im Leben“ hin befragt. Martin Dibelius subsumiert diese Texte in seiner „Formgeschichte des Evangeliums“12 (11919) unter die „Novellen“, konstatiert eine große Nähe zum profanen Erzählen und analysiert die gattungstypische Topik. Er verortet diese Novellen „im Rahmen der urchristlichen Missionstätigkeit“ und spricht ihnen die Funktion zu, „die Überlegenheit des ‚Herrn Jesus‘ [zu] erweisen und die Konkurrenz aller anderen Kultgötter aus dem Felde [zu] schlagen.“13 Rudolf Bultmann sucht in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ (11921) unter der Rubrik „Wundergeschichten“, zu denen auch die Totenerweckungserzählungen gehören, bei einzelnen Gattungsexemplaren nach ‚stilgemäßen‘ bzw. ‚typischen‘ Zügen14 und erstellt einen umfangreichen Katalog von typischen Formelementen, der sowohl neutestamentliche als auch apokryph gewordene Beispiele aus der Zeit des frühen Christentums sowie vergleichbares Material aus der antik-jüdischen und 8 9 10
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BUSSE, Frame-Semantik, 102 (im Original kursiv). Vgl. zur Forschungsgeschichte: KOLLMANN, Totenerweckungen, bes. 121–124. Siehe z. B. zu deren Auslegung der „Jairi-Töchterlein“-Episoden: VENTURINI, Geschichte, 142–149; PAULUS, Leben, 244–246; SCHLEIERMACHER, Leben, 233. VENTURINI, Geschichte, 149. Nicht weniger „rationalistisch“ ist allerdings die Erklärung, die WILCOX, ΤΑΛΙΘΑ, 476, im Jahr 1982 für die „Behandlung“ des Mädchens findet: Jesus erwecke es aus einem „deep coma“, das auf einem zu niedrigen Blutzuckerspiegel basiere. Jesu Hinweis in Mk 5,43, dass dem Mädchen zu essen gegeben werden solle, interpretiert Wilcox dann als Maßnahme gegen die „hypoglycaemia“. Vgl. DIBELIUS, Formgeschichte, 66–100. Beide Zitate: DIBELIUS, Formgeschichte, 93. Vgl. z. B. bei der Besprechung von Mk 5,21–43: BULTMANN, Tradition, 229.
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1 Einleitung „paganen“ Literatur aufweist. Keineswegs sind die Wundergeschichten für ihn „als solche historische Berichte.“15 Die einzelne Erzählung wird weniger als eine in sich abgeschlossene narrative Einheit, sondern eher als ein compositum aus typischen Bestandteilen, die quasi nach einem „Baukastenprinzip“ z. T. austauschbar sind, aufgefasst. In Bezug auf die neutestamentlichen Totenerweckungserzählungen hält er den Einfluss der Elia-/Elisa-Geschichten für marginal und verweist vor allem auf „pagane“ Parallelen aus dem 2. Jh. n. Chr.16 Mit Gérard Rochais’ Buch „Les récits de résurrection des morts dans le Nouveau Testament“ (1981) liegt die erste Untersuchung vor, die sich monographisch mit dieser Gattung befasst. Rochais untersucht mit Ausnahme von Apg 20,7–12 alle im Neuen Testament vorhandenen Totenerweckungserzählungen unter sorgfältiger Anwendung des in der 2. Hälfte des 20. Jh.s etablierten exegetischen Methodenarsenals (Text- und Literarkritik, Form- und Redaktionsgeschichte). Somit rekonstruiert er mit genauem Blick auf die traditionsgeschichtlichen Vorgaben der Elia-/Elisa-Erzählungen und unter Berücksichtigung einzelner „paganer“ Vergleichstexte schwerpunktmäßig den Entstehungsprozess einer jeden Totenerweckungserzählung und legt weniger Wert auf die Untersuchung ihrer Endgestalt. Auch Rochais hält diese Geschichten für ‚unhistorisch‘17, aber theologisch bedeutsam. Er unterscheidet dabei zwischen zwei Bedeutungs-Ebenen: In der Zeit des entstehenden Christentums18 bricht sich in diesen Erzählungen das Vertrauen darauf Bahn19, dass für die Christusgläubigen der physische Tod in soteriologischer Hinsicht nur eine dem Schlafen vergleichbare Phase des Übergangs darstellt, die durch die eschatologische
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BULTMANN, Tradition, 244. Siehe dazu: BULTMANN, Tradition, 245 und 248f. – Gerd Theißen entwickelt in seiner Abhandlung „Urchristliche Wundergeschichten“ (1974) die klassische formgeschichtliche Herangehensweise an neutestamentliche Erzählungen weiter, indem er auf der Basis einer vom Strukturalismus geprägten Methodik bei der Interpretation einzelner Wundergeschichten „ein[en] synchronische[n], diachronische[n] und funktionale[n] Aspekt“ (THEIßEN, Wundergeschichten, 11) herausarbeitet. In Bezug auf die Totenerweckungserzählungen führt das zu dem Ergebnis, dass Wiederbelebungen von Toten „zu den Therapien“ gezählt werden, und zwar mit folgender Begründung: „Einmal können fast alle antiken Totenerweckungen durch Wundertäter als Wiedererweckung Scheintoter verstanden werden […], ferner sind die typischen Motive dieselben: Die Kraftübertragung geht hier wie dort durch Berührung vor sich“ (a. a. O., Anm. 25, 98). Dass Totenerweckungserzählungen offensichtlich nicht im Zentrum von Theißens Untersuchung stehen, belegt eine Äußerung, die mit Blick auf Mk 5,42f. fällt: „Eine Totenerweckung ist eine so unwahrscheinliche Sache, daß sie mehrfache Bestätigungen sinnvoll macht“ (a. a. O., 152). – Klaus Berger geht in seiner „Formgeschichte des Neuen Testaments“ (1984) auf Totenerweckungserzählungen nicht explizit ein. Weiterführend ist seine Untersuchung dennoch, da er den Gattungsbegriff „Wundererzählung“ problematisiert. Berger stellt Theißens wenig reflektiertem „Wunder“-Verständnis folgende Position entgegen: „Wunder/Wundererzählung ist kein Gattungsbegriff, sondern moderne Beschreibung eines antiken Wirklichkeitsverständnisses“ (BERGER, Formgeschichte, 305). Für die neutestamentlichen Erzählungen gilt hingegen: „Die Fähigkeit Jesu, Wunder zu wirken, ist allemal vorausgesetzt“ (ebd.). Vgl. ROCHAIS, récits, 2: „Il nous a semblé plus probable que ni Jésus ni Pierre n’avaient ressuscité de morts“. ROCHAIS, récits, 192: „dans la vie des communautés primitives“. Vgl. die plakative Kapitelüberschrift: „La parole se fait récit“ (ROCHAIS, récits, 166).
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Auferweckung beendet werden wird und deshalb auch die Trauer um bereits verstorbene Gemeindeglieder relativiert. Einer Leserschaft des 20. Jh.s können diese Geschichten ein Leben in Hoffnung20 ermöglichen. Stephanie M. Fischbach ist die erste, die 1992 im deutschsprachigen Raum eine monographische Studie zu antiken Totenerweckungserzählungen verfasst und – wie der Untertitel ihres Buches anzeigt: „Zur Geschichte einer Gattung“ – in Abgrenzung von den klassischen Vertretern der Formgeschichte nachweist, dass diese Art von Texten einer eigenen Gattung angehört und nicht den Novellen oder Wunderzählungen zu subsumieren ist. In Anlehnung an das methodische Vorgehen Theißens vertritt sie eine Art „ontologisches Gattungsverständnis“, indem sie zuerst aus den in der Untersuchung besprochenen antiken Geschichten aus dem jüdischen, frühchristlichen und „paganen“ Schrifttum „Bausteine“ extrahiert, die das „Motivrepertoire“21 dieser Textsorte bilden. Aus dieser Motivübersicht „kristallisieren sich zwei Typen […] von Totenerweckungserzählungen heraus: 1. Der Wundertäter wird zu der verstorbenen Person geholt, der Herholungstyp; 2. der Wundertäter begegnet dem Leichenzug des/der Verstorbenen, der Begegnungstyp.“22 In gewisser Weise geht sie somit zirkulär vor, indem sie im Verlauf der Untersuchung überprüft, inwiefern die analysierten Erzählungen dem von ihr selbst aus denselben extrahierten Gattungsschema entsprechen. Ihr Augenmerk liegt bei der Untersuchung der frühchristlichen Erzählungen weniger auf der Endgestalt der Texte, schwerpunktmäßig ist sie an der Geschichte ihrer Entstehung interessiert. Auch Fischbach stellt die Frage nach der Historizität der erzählten Totenerweckungen und kommt zu dem Ergebnis, dass zwar „mit einiger Wahrscheinlichkeit […] für die vormk Version der Erweckungserzählung in Mk 5,21–43 ein historischer Haftpunkt gefunden werden“ könne, „man den ntl. und überhaupt den biblischen Wunder- und Totenerweckungserzählungen nicht gerecht würde, reduzierte man die Auseinandersetzung mit ihnen auf die historische Fragestellung.“23
Die Frage danach, ob Jesus von Nazareth sowie die Apostel Petrus und Paulus in der außertextuellen Welt des 1. Jh.s n. Chr. „wirklich“ Tote wiederbelebt haben, wird in der vorliegenden Untersuchung gar nicht erst gestellt. Sie erübrigt sich angesichts der Tatsache, dass es sich bei den uns vorliegenden frühchristlichen Quellen um Erzählungen und nicht um Tatsachenberichte handelt. Gleichwohl spielt – wie sich gleich bei der Darstellung der in dieser Arbeit verwendeten Methodik zeigen wird – der Blick auf die textexterne zeitgenössische Realität im Hinblick auf thanatologische, anthropologische und theologische Vorstellungen durchgehend eine Rolle. Es wird nicht rein textimmanent vorgegangen. Grundsätzlich folgen die hier vorgelegten Interpretationen einem interaktionistischen Ansatz, dem gemäß „literarische Bedeutungsproduktion vor allem das Ergebnis der Interaktion von Leser und Text ist“24. Somit wird das aus der Allgemeinen Literaturwissenschaft stammende und mittlerweile auch in der
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ROCHAIS, récits, 209: „la vie dans l’espérance“. Vgl. zu diesem Vorgehen: FISCHBACH, Totenerweckungen, 22. FISCHBACH, Totenerweckungen, 28. FISCHBACH, Totenerweckungen 302 (erstes Zitat) und 304 (zweites Zitat). WILLAND, Lesermodelle, 216.
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neutestamentlichen Exegese25 etablierte Paradigma der Rezeptionsästhetik aufgegriffen, nach welchem „ein literarisches Werk in seiner Wirkung auf den Leser“26 betrachtet werden muss. Dabei werden auch (kognitions-)narratologische Erkenntnisse mit in die Untersuchung der Erzählungen einbezogen. Auch die Frage, inwiefern bei der Interpretation eines Textes seine Zuweisung zu einer bestimmten Gattung eine Rolle spielt, wird thematisiert. Dieser interaktionistische Ansatz, bei dem die Generierung von Bedeutung sowohl im Text als auch bei den Rezipierenden verortet wird, ist verknüpfbar mit dem forschungsgeschichtlich jüngeren27 kognitionslinguistischen Axiom, dem zufolge die Bedeutung sprachlicher Äußerungen – unabhängig davon, ob es sich um Gesprochenes oder Geschriebenes, um einzelne Wörter, Sätze oder ganze Texte handelt – nicht in den sprachlichen Produkten selbst liegt, sondern in den Köpfen der Sprachbenutzenden zu verorten ist.28 Wenn wir über die entsprechende „epistemische Vor-Ausrichtung“29 verfügen, wenn in unserem Gehirn also bereits scripts und frames30 abgespeichert sind, welche von den im Text enthaltenen Wörtern aktiviert werden, sobald wir diesen Text wahrnehmen,
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Vgl. RÜGGEMEIER, Poetik, 185–191. NEUHAUS, Grundriss, 229. Als Begründer der Rezeptionsästhetik gelten Jens Iser und Hans-Robert Jauß, die ihre rezeptions- und wirkungsästhetische Forschung in der „zweiten Hälfte der 1960er Jahre vor allem an der damals neu gegründeten Universität Konstanz entwickelt[en]“ (WILLAND, Lesermodelle, 10). Der cognitive turn in den Literaturwissenschaften setzt in den 1970er und 80er Jahren ein, den Terminus cognitive narratology hat Manfred Jahn 1997 geprägt, seit der Jahrtausendwende gilt dieser Zweig der Erzählwissenschaften als etablierte Forschungsrichtung, vgl. HERMAN, Narratology, bes. 48–51. Grundlegend für die kognitive Narratologie ist, dass sie den Leseprozess begreift als „Konstruktion und Projektion von Hypothesen durch den Leser in Form von kognitiven, bedeutungsgebenden Schemata (frames), wie sie auch für die Interpretation von realen Situationen herangezogen werden“ (SURKAMP, Perspektivenstruktur, 20). Vgl. BUSSE, Art. Bedeutung, 43: „Die Sprache als Register des Wissens erfüllt ihre Aufgabe, indem die einzelnen Zeichen und ihre spezifischen Kombinationen jeweils Wissen (Rahmen, Schemata und Rahmen/Schemakomplexe) ‚evozieren‘, wie es der Hauptvertreter der Wissensrahmen-Semantik, Charles J. Fillmore [...] ausgedrückt hat. (Damit wird zugleich deutlich, dass die Zeichen das verstehensrelevante Wissen, ihre ‚Bedeutung‘ nicht ‚enthalten‘ oder ‚transportieren‘.) Genau in dieser ‚Evokationsleistung‘ besteht die ‚Bedeutung‘ der sprachlichen Zeichen und Zeichenkomplexe.“ BUSSE, Sprachverstehen, 370. Der Ausdruck frame wurde 1974 von Marvin Minsky in die Kognitionswissenschaft eingeführt und später von der Kognitiven Semantik aufgegriffen, vgl. BUSSE, Frame-Semantik, 252. Vereinfacht ausgedrückt, kann man sich unter frames „Wissensrahmen“ vorstellen, die aus Konzepten bzw. Begriffen zusammengesetzt sind, vgl. BUSSE, Sprachverstehen, 202. Andere Kognitionswissenschaftler sprechen auch von „Schemata“ (z. B. Frederic C. Bartlett, vgl. BUSSE, Sprachverstehen, 208) oder scripts (z. B. Roger C. Schank und Robert P. Abelson, vgl. BUSSE, Frame-Semantik, 336–361), wobei mit frames eher abstrakte, mit scripts eher handlungsbezogene Wissensrahmen bezeichnet werden.
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dann können wir mit dem Text „,etwas anfangen‘“31. Anders ist es, wenn sich beim Lesen oder Hören einer sprachlichen Zeichenkette „das notwendige Wissen […] nicht einstellt“32. Dann werden wir einen Text möglicherweise missverstehen. Daraus folgt, dass wir uns als Rezipierende antiker Texte stets der Tatsache bewusst sein sollten, uns das für das historisch-kritische Interpretieren dieser Texte notwendige Wissen der Zeit häufig erst einmal aneignen zu müssen. Diese aus der jüngeren Kognitionslinguistik stammenden Leitgedanken sind in den rezeptionsästhetischen Reflexionen des (Semiotikers und) Literaturwissenschaftlers Umberto Eco vorgezeichnet. Auch für diesen liegt die Bedeutung eines Textes nicht in diesem selbst, sondern entfaltet sich erst im Rezeptionsvorgang, den – ausgelöst durch einen Text – die Lesenden vollziehen. Eco unterscheidet in seiner Hermeneutik zwischen idealen und realen Rezeptionsvorgängen und damit zwischen Modell-Lesern, Modell-Autoren, empirischen Lesern und empirischen Autoren.33 Der empirische Leser ist derjenige, der einen Text zu gegebener Zeit rezipiert und entsprechend seinen begrenzten kognitiven Fähigkeiten interpretiert, wohingegen der Modell-Leser einem Text „dazu verhilft zu funktionieren“34, indem er „an der Aktualisierung des Textes so mit[wirkt], wie es sich der Autor gedacht hat“35. Statt von dem Modell-Leser kann Eco auch vom „ideale[n] Leser“36 sprechen. Im Unterschied zu den vielen empirischen Leserinnen und Lesern, die Texte lesen und realiter auf der Basis ihrer epistemischen Vor-Ausrichtung interpretieren, verfügt die Modell-Leserschaft als eine ideale Rezeptionsinstanz über genau das „verstehensrelevante Wissen“37, das notwendig ist, um alle vom Text evozierbaren Bedeutungsaspekte zu realisieren. In der Terminologie Ecos firmiert diese epistemische Vor-Ausrichtung der idealen Rezipierenden unter der Bezeichnung „enzyklopädische Kompetenz“38. Zu betonen ist, dass die notwendige enzyklopädische Kompetenz der Modell-Leserschaft historisch festgelegt ist, und zwar ist sie zeitlich und räumlich genau in dem Zeit- und Kulturraum zu verorten, in welchem der zu rezipierende Text entstanden ist.39 Die Historizität des zum Verstehen von sprachlichen 31 32 33 34 35 36 37
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BUSSE, Sprachverstehen, 374. BUSSE, Sprachverstehen, 371. Vgl. ECO, Lector, 61–82, bes. 76. ECO, Lector, 64. ECO, Lector, 67. ECO, Lector, 72. Vgl. BUSSE, Semantik, 132, der das „verstehensrelevante Wissen“ als dasjenige Wissen ansieht, „das benötigt wird, um die epistemische Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks (ob Wort oder Satz) umfassend verstehen zu können.“ Vgl. auch BUSSE, Sprachverstehen, passim. Vgl. ECO, Lector, 94–106. Deshalb gilt für die Auswahl der Paralleltexte, die für die Interpretation der frühchristlichen Totenerweckungserzählungen herangezogen werden, das zeitliche Kriterium, dass sie nicht wesentlich jünger als die auszulegenden Quellen sein dürfen.
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Äußerungen notwendigen Wissens beruht auf der Tatsache, dass „Sprachbedeutung“ ein auf Konventionen beruhendes und somit veränderbares Phänomen darstellt: „Jedes Feststellen der ‚Bedeutung‘ eines Wortes, Satzes, Textausschnitts ist [...] in einem gewissen Sinne implizit ‚historisch‘, sofern es auf Bedeutungskonventionen (und andere sprachliche oder epistemische Regeln) zurückgreift. Die Veränderlichkeit ist der Konventionalität mithin untrennbar eingeschrieben, von ihr begrifflich-logisch nicht zu trennen. Unternehmen wir daher den Versuch, anhand von Texten, Begriffen, kulturellen Artefakten so etwas wie ‚Bedeutungen‘ (Bedeutungspotentiale, Sinnerzeugungspotentiale, epistemische Anschlussmöglichkeiten) deskriptiv zu erfassen, sind wir schon mitten in einer historiographischen [...] Tätigkeit.“40
Grundsätzlich sind damit Umberto Ecos literaturwissenschaftliche Hermeneutik, Dietrich Busses Frame-Semantik und die Axiome der kognitionswissenschaftlichen Narratologie anschlussfähig an die traditionelle historisch-kritische Exegese, deren Methode einer ihrer Urväter, Johann Jakob Wettstein, bereits 1752 mustergültig formuliert hat: si libros N.T. planius & plenius intelligere cupis, indue personam illorum, quibus primum ad legendum ab Apostolis traditi fuerunt; transfer te cogitatione in illud tempus & in illam regionem, ubi primum lecti sunt: cura ut, quantum fieri potest, illorum hominum ritus, mores, consuetudines, opiniones, sententias receptas, proverbia, parabolas, sermones quotidianos, modum & rationem aliquid alteri persuadendi & causis fidem faciendi, cognoscas.41
40 41
BUSSE, Epistemologie, 104f. WETTSTEIN, ΔΙΑΘΗΚΗ II, 878. In der Übersetzung von KÜMMEL, Das Neue Testament, 54, lautet der Text: „wenn du die Bücher des Neuen Testamentes ganz und gar verstehen willst, versetze dich in die Person derer, denen sie zuerst von den Aposteln zum Lesen gegeben worden sind. Versetze dich im Geiste in jene Zeit und jene Gegend, wo sie zuerst gelesen wurden. Sorge, soweit es möglich ist, dafür, daß du die Sitten und Gebräuche, Gewohnheiten, Meinungen, überkommenen Vorstellungen, Sprichwörter, Bildersprache, täglichen Ausdrucksweisen jener Männer erkennst und die Art und Weise, wie sie andere zu überzeugen versuchen oder Begründungen Glauben verschaffen.“
Teil I:
Antik-jüdische Wiederbelebungsund Totenerweckungserzählungen von Elia und Elisa
2
Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern
In den ersten beiden Teilen des vorliegenden Buches wird das Wissen aufgearbeitet, über das die Modell-Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen verfügt. Den Anfang macht der antik-jüdische Anteil der bei der idealen Leserschaft neutestamentlicher Schriften vorauszusetzenden Enzyklopädie, in Teil II wird die „pagane“ Sektion erarbeitet. Die in Teil I und II behandelten Geschichten werden aber nicht in erster Linie als Prätexte für jüngere Erzählungen, die ins Neue Testament eingehen, vorgestellt. Vielmehr soll jede (später zum Prätext werdende) Geschichte zuerst in die Zeit ihrer eigenen Entstehung und in den sie umgebenden Makrotext eingeordnet werden. Wenn diese Texte in methodischer Hinsicht aus der oben beschriebenen interaktionistischen Perspektive betrachtet werden, ist mit der jeweiligen „Modell-Leserschaft“ immer die ideale (Erst-)Leserschaft gemeint. Die ältesten jüdischen Erzähltexte, die von Wiederbelebungen Toter handeln, finden sich in 1 und 2 Kön.42 Diese beiden alttestamentlichen Schriften lagen ursprünglich als ein einziges Buch vor und verarbeiten eine Vielzahl verschiedenartigster Quellen.43 In Bezug auf den uns heute vorliegenden biblischen Text geht die alttestamentliche Wissenschaft von einem längeren Redaktionsprozess aus, für dessen (Re-)Konstruktion es allerdings keinen Konsens gibt.44 Hinsichtlich der Elia- und Elisa-Erzählungen, die sich im Abschnitt 1 Kön 17–2 Kön 13 finden, war „bereits in der älteren Forschung deutlich und unumstritten, dass die Erzählungen nicht ursprünglicher Bestandteil der Königebücher waren, sondern in dieses Werk eingefügt wurden. Sie heben sich in ihrer Gattung, ihrem Erzählstil und der Thematik deutlich von vielem ab, was wir sonst in den Königebüchern finden.“45 Wahrscheinlich waren einzelne Geschichten über die beiden Propheten des Nordreiches zunächst als selbstständige, mündlich verbreitete Erzähleinheiten im Umlauf und sind dann später aufgeschrieben und in die Makrostruktur der Königebücher integriert46 worden.
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In 1 Kön 17,17–24 wird von der Wiederbelebung erzählt, an der Elia beteiligt ist. Reanimationen, bei denen Elisa mitwirkt, werden dreimal thematisiert, und zwar in 2 Kön 4,8–37; 8,1.5 und 13,20f. Bei den Perikopen 1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,8–37 und 13,20–21 handelt es sich um Erzähltexte. Die vier Verweise auf die Wiederbelebung des Sohnes der Schunemiterin in 2 Kön 8,1.5 nehmen auf 2 Kön 4,8–44 Bezug. Vgl. HENTSCHEL, Königsbücher, 303f. Einen Überblick über die Hypothesen zu den Redaktionsprozessen der Elia- und Elisa-Traditionen bietet SCHMITT, Magie, 211–219; vgl. zu den divergierenden Forschungspositionen ferner: HENTSCHEL, Königsbücher, bes. 300–309, hier auch neuere Lit. SAUERWEIN, Elischa, 7. Vgl. OTTO, Jehu, 11: „Die Erzählungen von Elia und Elisa [...] nehmen in den Königsbüchern innerhalb der Darstellung der Epoche von Ahab (1.Kön 16,29) bis Jehu (2.Kön 10,36) einen
24 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Gegenwärtig „rechnet die Mehrzahl neuerer Arbeiten mit einem nach-deuteronomistischen Einbau d[ies]er Erzählungen“47. Da in der vorliegenden Untersuchung die Erzählungen des Elia-Elisa-Komplexes, die Wiederbelebungen von Toten zum Gegenstand haben, in ihrer Endgestalt betrachtet werden, ohne dass in diachroner Hinsicht literarkritisch zwischen unterschiedlichen Textstufen unterschieden wird, ist es nicht notwendig, die „Schlussredaktion“ der zur Untersuchung anstehenden Texte punktgenau zu datieren. Basierend auf dem sich aktuell abzeichnenden Minimalkonsens der alttestamentlichen Wissenschaft hinsichtlich der Datierungsfragen von 1 und 2 Kön können die zu analysierenden Elia- und Elisatexte in der Form, wie sie in die Königebücher eingegangen sind, grob in die exilisch-nachexilische Periode48 eingeordnet werden. Somit lässt sich als zeitlicher Orientierungsrahmen das 6. Jh. v. Chr. festsetzen.49 Im Folgenden wird vorausgesetzt, dass die von einer Wiederbelebung handelnde Erzählung, deren Protagonist Elisa ist, vor der Elia-Version entstanden ist. In der Forschung zu 1 Kön 17,17–24 und 2 Kön 4,8–37 wird aus den großen Übereinstimmungen, die zwischen den beiden Erzählungen bestehen, geschlossen, dass „sekundär Material von Elisa auf Elia übertragen wurde“50. Die Priorität der Elisa-Version wird damit begründet, dass sich im Elia-Text noch Spuren eines „Elisa-Prätextes“ finden lassen. Als etwas ungeschickt aus der Elisa-Vorlage in die Elia-Version übernommen gelten in der Sekundärliteratur Erzählelemente in 1 Kön 17,17–24, die nicht so recht zu ihrem unmittelbaren Kontext zu passen scheinen. In 1 Kön 17,8–16 wird davon erzählt, wie Elia eine Witwe und ihren Sohn, die nur noch über Mehlund Ölvorräte für eine einzige Mahlzeit verfügen, vor dem Hungertod rettet. Bei ihrer nächsten Erwähnung in der Folgeepisode wird die Witwe als Hausbesitzerin beschrieben, deren Wohngebäude über ein Obergemach verfügt. Diese geräumigen Wohnverhältnisse scheinen nicht zur zuvor erwähnten Armut der Frau zu passen.51 Davon, dass der Prophet im Obergemach des Hauses, das der Witwe gehört, wohnt – wie in 1 Kön 17,19 erzählt wird –, ist zu Beginn der Episode noch nicht die Rede; die
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ungewöhnlich breiten Raum ein, wobei die Elisa-Überlieferung zwischen 2.Kön 2 und 2.Kön 9/10 einen, lediglich durch die Königsrahmen 2.Kön 3,1–3; 8,16–29 unterbrochenen, geschlossenen Block bildet, während die Elia-Überlieferung in drei, durch die von anderen Propheten handelnden Erzählungen 1.Kön 20; 22,1–38 voneinander getrennten Textbereichen vorliegt (1.Kön 17–19; 21; 2.Kön 1).“ SAUERWEIN, Elischa, 7f.; vgl. auch SCHMITT, Magie, 218f. Vgl. zur Forschungs-Tendenz, insbesondere die Prophetentexte der Königebücher in die nachexilische Zeit zu datieren: KNOPPERS, Theories, 71 und 83. Vgl. WÜRTHWEIN, Könige, 503f.; BLUM, Prophet, 291; KÖCKERT, Elia, 140. Eine detaillierte Hypothese zur Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte der Elia-Elisa-Erzählungen legt OTTO, Jehu, 247–254, vor, die davon ausgeht, dass sich der Entstehungszeitraum dieser Textsammlung vom 9.–5. Jh. v. Chr. erstreckt. EGO, Elia, 20. Vgl. auch STIPP, Gestalten, 58; KÖCKERT, Elia, 124–127; SAUERWEIN, Elischa, 52. – Anders KILIAN, Totenerweckungen, 50, der von einer „Motivwanderung von Elia zu Elisa“ ausgeht. Vgl. STIPP, Gestalten, 61; SCHMITT, Totenerweckung in 1 Kön. XVII, 454, und KÖCKERT, Elia, 125.
2 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern
25
Angabe über die Wohnverhältnisse wird als „völlig unmotiviert“52 beurteilt. Dazu ist zu bemerken: Auch eine zunächst wohlhabende Hausbesitzerin kann aufgrund unglücklicher Umstände – wie z. B. einer Dürrekatastrophe – in eine Situation geraten, in der sie kurz vor dem Verhungern steht. Die Modell-Leserschaft von 1 Kön 17,17–24 wird zwischen der Armut der Frau und der Tatsache, dass ihr Haus ein Obergemach (ֲﬠִלָיּה/ὑπερῷον) hat, keinen Widerspruch gesehen haben, zumal viele Häuser im Alten Israel und in Phönizien über ein erstes Stockwerk verfügten.53 Darüber hinaus ist zu bemerken, dass die angeblich wie nachgetragen wirkende Bemerkung in 1 Kön 17,19, dass Elia im Obergemach des Hauses der Witwe wohnt, im Masoretischen Text durchaus vorbereitet ist. Hier heißt es nämlich bereits in 1 Kön 17,9, dass Elia in Sarepta wohnen solle: ְוָיַשְׁבָתּ ָשׁם.54
Da in der Rezeptionsgeschichte der Königebücher Elisa als Nachfolger des Elia erinnert wird, soll in der vorliegenden Untersuchung bei der Behandlung der beiden Erzählungen die kanonisch gewordene Reihenfolge beibehalten werden. Im Hinblick auf die vermeintliche Endgestalt der Elia- und Elisatexte ist allerdings einschränkend zu bemerken, dass aufgrund des Befundes, der für die Textüberlieferung der Königebücher vorliegt,55 kein „Urtext“ mit einem klar umrissenen Wortbestand der zur Untersuchung anstehenden Erzählungen existiert.56 Zwischen dem Masoretischen Text und den beiden LXX-Überlieferungen: 52 53
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KÖCKERT, Elia, Anm. 56, 125; vgl. SCHMITT, Totenerweckung in 1 Kön. XVII, 455. Vgl. SWEENEY, Kings, 213. Nach STAGER, Archaeology, 16, können mit dem Ausdruck ֲﬠִלָיּה im Sprachgebrauch der Hebräischen Bibel folgende Wohnstrukturen bezeichnet werden: „all structures above the ground floor, whether a single apartment (then restrictively modified), several rooms on the second story, or the second story itself.“ Grabungsbefunde (vgl. ALBERTZ, space, bes. 28–32) zeigen, dass auch kleinere israelitische Häuser eine erste Etage aufwiesen, die wohl vor allem zum Schlafen genutzt wurde. Grundsätzlich zeichnet sich in der archäologischen Forschung eine zunehmende Tendenz ab, das traditionelle israelitische Vier-Raum-Haus als ein „two-story building with the main living level on the upper floor“ (FAUST/BUNIMOVITZ, House, 23) zu konzeptualisieren. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ein Wohngebäude mit Obergeschoss sowohl zur erzählten Zeit der Königebücher (9. Jh. v. Chr.) als auch zur Zeit der Einfügung der Elia-/Elisa-Tradition in die Königebücher (wahrscheinlich 6. Jh. v. Chr.) den üblichen Standard darstellte, was aber nicht mehr für spätere Zeiten gilt: „While the standardization of the house was a long process, beginning probably at the end of the thirteenth century BCE and ending during the eleventh, its disappearance from the archaeological record in the sixth century BCE is quite sudden“ (a. a. O., 25). Faust/Bunimovitz führen diesen Abbruch der archäologischen Bautradition auf veränderte politische Verhältnisse zurück: „The house crystallized in the Iron Age I, the period of the Israelite Settlement, became prominent during the period of the Monarchy, and disappeared with the destruction of the kingdom the [sic] Judah“ (a. a. O., 30). Die LXX-Versionen (s. u.) enthalten diesen Hinweis auf das Wohnen Elias in Sarepta nicht. Vgl. zur Forschungsgeschichte im Hinblick auf die Textgeschichte der Königebücher: SCHENKER, Textgeschichte, 9–11; MCKENZIE, Kings, 18–23. Bei der Ausarbeitung der Interpretation sind der Masoretische Text und die beiden wichtigsten LXX-Rezensionen berücksichtigt worden. Da quellsprachliche Texte aus der Biblia Hebraica und aus der LXX leicht zugänglich sind, wird in der vorliegenden Untersuchung von einem synoptischen Abdruck der hebräischen und griechischen Fassung(en)
26 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen dem Antiochenischen Text und der kaige-Rezension,57 bestehen an vielen Stellen der Königebücher große Unterschiede, sodass es angeraten erscheint, die heute zugänglichen Textfassungen als „Phänomen[e] einer lebendigen und dynamischen Tradition des Bibeltextes“58 zu betrachten.
2.1
1 Kön 17,17–24: Elia und der tote Sohn der Witwe zu Sarepta
Den Teiltext 1 Kön 17,17–24 aus seinem Kontext zu lösen und gesondert zu betrachten ist dadurch legitimiert, dass in dieser Episode eine in sich gerundete Handlungssequenz vorliegt. In deutscher Übersetzung stellt sich die masoretische Fassung dieser Erzählung folgendermaßen dar: 17 Und es geschah nach diesen Ereignissen, dass der Sohn der Frau, der Besitzerin des Hauses, krank wurde (ָחָלה/ἠρρώστησεν). Und seine Krankheit wurde sehr schwer, bis dass kein Atem ( ; ְנָשָׁמהkaige: πνεῦμα; Ant.: πνοὴ ζωῆς) mehr in ihm war. 18 Da sprach sie zu Elia: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Mann Gottes (ִאישׁ ִהים7ָהֱא/ἄνθρωπε τοῦ θεοῦ)? Du bist zu mir gekommen, um an meine Schuld zu erinnern und meinen Sohn zu töten (וְּלָהִמית/θανατῶσαι).“ 19 Und er sprach zu ihr: „Gib mir deinen Sohn!“ Und er nahm ihn von ihrem Schoß und trug ihn hinauf ins Obergemach (ָהֲﬠִלָיּה/ὑπερῷον), wo er wohnte, und legte ihn auf sein Bett. 20 Und er rief zu JHWH und sprach: „JHWH, mein Gott, tust du nun auch der Witwe, bei der ich wohne, Böses an, indem du ihren Sohn tötest?“ 21 Da streckte er sich (ַו ִיְּתֹמֵדד/ ἐνεφύσησε[ν]) dreimal über den Knaben und rief zu JHWH und sprach: „JHWH, mein Gott, lass doch die Lebenskraft (ֶנֶפשׁ/ψυχή) des Knaben wieder in ihn zurückkehren (ָתָּשׁב/ἐπιστραφήτω)!“ 22 Und JHWH hörte auf die Stimme Elias, und die Lebenskraft ( ֶֽנֶפשׁ/nur Ant.: ψυχή) des Knaben kehrte in ihn zurück (ַוָתָּשׁב/nur Ant.: ἐπεστράφη)
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abgesehen. Stattdessen wird jeweils eine eigene deutsche Übersetzung des Masoretischen Textes vorgelegt. Diese wird an den Stellen, an denen es für die Interpretation relevant ist, um den entsprechenden griechischen Wortlaut der kaige- und/oder der antiochenischen Fassung ergänzt. Vgl. MCKENZIE, Kings, 18f.: „The discovery, beginning in 1947, of the ‚Dead Sea Scrolls‘ has revolutionized our understanding of the text of the H[ebrew]B[ible] and its development. [...T]he Qumran finds demonstrate the value of the Greek texts, particularly Codex Vaticanus […] and the Lucianic manuscripts […], as independent witnesses to an early Greek translation (‚Old Greek’ […]) of a pre-Masoretic Hebrew text. It has long been recognized that these Greek texts betray stages of recension toward the developing Masoretic Text […]. In Kings, the O[ld]G[reek] is preserved in [… Codex Vaticanus] only in 1 Kgs 2:12–21:29. Otherwise [… Codex Vaticanus] reflects an early recension known as kaige after its idiosyncratic translation of the Hebrew וגם. In the rest of Kings, [… the Lucianic manuscript] is the closest witness to the O[ld]G[reek]. In addition, the ‚Old Latin‘ […], the collective of extant Latin manuscripts translated from Greek before the Vulgate in the fourth century CE, frequently safeguards O[ld]G[reek] readings.“ KARRER/KRAUS, Umfang, 14.
2 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern
27
und er wurde lebendig (ַוֶיִּחי/ἀνεβόησεν). 23 Und Elia nahm den Knaben und brachte ihn vom Obergemach (ָהֲﬠִלָיּה/ὑπερῷον) in das Haus hinab und gab ihn seiner Mutter. Und Elia sprach: „Siehe, dein Sohn lebt (ַחי/ζῇ)!“ 24 Da sprach die Frau zu Elia: „Jetzt also weiß ich, dass du ein Mann Gottes bist und dass das Wort JHWHs in deinem Mund wahr ist.“
Der Anfang der Episode ist im Hinblick auf die handelnden Figuren und den Ort der Handlung sehr knapp gestaltet. In 1 Kön 17,17 werden die Erzählfiguren „Sohn“ und „Frau“ sowohl im Masoretischen Text als auch in den beiden LXXRezensionen determiniert eingeführt (ֶבּן־ָהִאָשּׁה/ὁ υἱὸς τῆς γυναικός), woraus die Leserschaft schließt, dass es sich um Erzählfiguren handelt, die in der erzählten Welt der Königebücher bereits bekannt sind. Auch die Redeeinleitung, die der Erzähler der ersten wörtlichen Rede der Frau in 1 Kön 17,18 voranstellt, führt die Figur „Elia“ in allen drei Fassungen ohne weitere Erläuterungen ein. Die Episode selbst hält allerdings mit den einleitenden Worten „und es geschah nach diesen Ereignissen“ gleich zu Beginn den Hinweis darauf bereit, dass die für eine kohärente Lesart von 1 Kön 17,17ff fehlenden Informationen beim Zurückgehen auf vorher Erzähltes zu finden sind. Wie aus der hebräischen Fassung von 1 Kön 17,8–16 hervorgeht, handelt es sich bei „der“ Frau und ihrem Sohn um eine in Sarepta lebende Kleinfamilie. In 1 Kön 17,8 hatte der Erzähler den Ort Sarepta durch den Hinweis darauf, dass er zu Sidon gehört (und damit in Phönizien liegt), noch genauer spezifiziert. In der erzählten Welt der Königebücher, deren topographische Bezeichnungen auf Orte der außertextuellen Realität referieren,59 ist Sarepta damit ein negativ konnotierter Schauplatz, weil er – insbesondere über Isebel, die Frau des Königs Ahab und die Tochter des Königs Etbaal (vgl. 1 Kön 16,31) – mit dem Baalskult verknüpft ist. Die an diesem Ort lebende verwitwete Mutter und ihr Sohn werden vom Erzähler aber nicht mit diesem Kult in Verbindung gebracht. Diese beiden Figuren zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer Armut in der durch JHWH initiierten Dürreperiode beinahe verhungert wären, hätte nicht Elia dafür gesorgt, dass den beiden das Mehl im Topf und das Öl im Kruge niemals mehr ausgehen solle. Die Figur des Elia wird der Leserschaft gleich in 1 Kön 17,1 als eine besondere vorgestellt: Aus seinen eigenen Worten ist zu erfahren, dass er im Dienst JHWHs steht.60 Was es mit diesem Dienstverhältnis auf sich hat, wird dann aus den folgenden beiden Episoden deutlich: Wenn sich Elia an den Bach Krith zurückzieht,
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Vgl. SWEENEY, Kings, 212f: „Zarephath is located eight miles south of Sidon and fourteen miles north of Tyre at the site of modern Sarafand. Archaeological investigation indicates that it was founded in the Late Bronze Age (ca. 1500 B.C.E.), and functioned as a commercial port and industrial center for the production of textiles, pottery, agricultural produce, and the purple dye for which Phoenicia was famous.“ Die Wendung ( ֲאֶשׁר ָﬠַמְדִתּי ְלָפָניוvor dem ich stehe) ist „an idiom for being at someone’s service or waiting on someone as in 1 Kgs 10:8. It also occurs in 18:15; 2 Kgs 3:14; 5:16“ (MCKENZIE, Kings, 86); vgl. KÖCKERT, Elia, 123.
28 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen um sich vor König Ahab61 zu verstecken, und wenn er sich darauf nach Sarepta begibt und damit gewissermaßen Baals-Territorium betritt, handelt er stets auf Anweisung JHWHs hin. Berücksichtigt man bei der Interpretation von 1 Kön 17,17, dass es sich bei der Frau, deren Sohn schwer erkrankt ist, um eine Witwe handelt, erscheint die Lage, die aufgrund dieser Erkrankung eingetreten ist, nicht nur als Notlage des Sohnes, sondern auch als prekäre Situation für die Mutter – zumal dann, wenn es sich, wie es im Masoretischen Text in 1 Kön 17,12.13.15 dargestellt wird, um den einzigen Sohn der Frau handelt:62 „Sons had a responsibility to maintain their mother if she became a widow“63. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit, die für den Alten Orient vorauszusetzen ist,64 stellt ein lebensbedrohlich erkranktes Kind für die Modell-Leserschaft, welche die Leerstellen innerhalb der 61
62
63 64
Mit der Erwähnung des Königs Ahab referiert der Erzähler auf die außertextuelle Realität und macht deutlich, dass die Lebensverhältnisse in der erzählten Welt vor dem Hintergrund der Lebensverhältnisse im Nordreich Israel während der Regentschaft Ahabs zu imaginieren sind. Die LXX-Rezensionen sprechen in 1 Kön 17,12.13.15 von τέκνα, wodurch sich im griechischen Text die in der vorhergehenden Episode in 17,8–11 geschilderte Notlage gegenüber der Darstellung des Masoretischen Textes verschlimmert, weil die Witwe nicht nur mit einem, sondern sogar mit mehreren Kindern vor dem Verhungern steht. Diese Sachlage hat aber zur Folge, dass der schwer kranke Sohn in den LXX-Rezensionen von 1 Kön 17,17–24 nicht als das einzige Kind der Frau erscheint. Somit wäre ihre eigene Absicherung im Alter im Falle seines Todes in ökonomischer Hinsicht nicht so stark gefährdet wie in der Version der hebräischen Fassung. Vgl. zur Unterscheidung von Witwen mit und ohne Kinder: GALPAZ-FELLER, Widow, 237: „The Bible distinguishes between a childless widow and one with children. A childless widow would return to her father’s house in many cases [...]. The fact that she is childless is important, because if she had small children, they would belong to their late father’s household, and thus there would be no apparent reason for the widow’s parents to agree to support them.“ Möglicherweise ist die Witwe von Sarepta mit Kind/Kindern im Hause ihres Mannes verblieben, weil ihre eigene Verwandtschaft sie nicht unterstützen wollte. Dass die Witwe, der Elia begegnet, Phönizierin und keine Israelitin ist, ändert nichts an der Einschätzung ihrer Lebensumstände als prekär. Die Konditionen von Frauen im Witwenstand waren im gesamten Alten Orient ähnlich: „The widow belonged to that group in society called in today’s world ‚vulnerable‘“ (STOL, Widow, 275). STOL, Widow, 286. Vgl. MEYERS, Rediscovering, 98f.: „Precise determination of mortality rates for both infants and adults in antiquity is problematic. [...R]easonable estimates are possible using data from: (1) the few tomb groups from Palestine for which skeletal remains have been analyzed; (2) other ancient societies in the Mediterranean basin; and (3) ethnographic or archival records of premodern societies from the medieval period to the present. Inadequate nutrition and the presence of endemic and epidemic disease […] to which children are especially susceptible a priori suggest that infant mortality was high. […M]ortality tables, without including the affects [sic] of endemic disease, suggest about 50 percent for the first five years of life. A severe epidemic could make the rate even higher. The greatest risk is in the first year of life, but children remain vulnerable to disease and to problems resulting from inadequate nutrition for several more years.“
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erzählten Welt mit Daten aus der außertextuellen Realität füllt, keinen Ausnahmefall dar.
2.1.1 1 Kön 17,17: Der Zustand des Knaben Bemerkenswert ist, dass der Erzähler in allen drei Versionen der Erzählepisode nicht explizit davon spricht, dass der Knabe tatsächlich an seiner schweren Krankheit verstirbt. In allen drei Fassungen von 1 Kön 17,17 beschreibt der Erzähler den Zustand des Kindes unter Bezugnahme auf dessen Atemtätigkeit: bis dass kein Atem ( ְנָשָׁמה/kaige: πνεῦμα) mehr in ihm war/bis kein Hauch des Lebens (Ant.: πνοὴ ζωῆς) (mehr) in ihm übrig war. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass in der exegetischen Literatur zu 1 Kön 17,17–24 oftmals infrage gestellt wird, ob es sich bei dem erzählten Geschehen überhaupt um die Wiederbelebung eines Toten handele.65 In der parallelen Elisa-Episode spricht der Erzähler vom Sterben des Sohnes der Schunemiterin (2 Kön 4,20: ַוָיֹּמת/ἀπέθανεν). Dass dieses Kind tot ist, wird dann in 2 Kön 4,32 noch einmal aus der Perspektive des Elisa erzählt, der dessen Tod feststellt, nachdem er den Leichnam selbst in Augenschein genommen hat. Auch über die Krankheit und den Tod des Kindes, das König David mit Bathseba gezeugt hatte, berichtet der Erzähler des Samuelbuches „im Klartext“: Das Kind wird krank (2 Sam 12,15: ַוֵיָּאַנשׁ/ἠρρώστησεν) und stirbt (2 Sam 12,18: ַוָיָּמת/ἀπέθανε). Die Diener Davids fürchten sich davor, ihrem König zu sagen, dass sein Kind tot ist (2 Sam 12,18: ִכּי־ ֵמת/ὅτι τέθνηκεν). David selbst erkennt dann aber am Verhalten seiner Dienerschaft, dass das Kind gestorben ist (2 Sam 12,19: ִכּי ֵמת/ ὅτι τέθνηκεν). Auch die Figuren verwenden in dieser Erzählung eine eindeutige Terminologie: In einem Dialog zwischen dem König und den Dienern wird der Sachverhalt, um den es geht, explizit ausgesprochen. Als David diese fragt, ob das Kind tot sei, geben sie eine eindeutige Antwort (2 Sam 12,19: ֵמת/τέθνηκεν). Ähnlich verhält es sich in der Erzählung vom Tod des Abija, Sohn von König Jerobeam, in 1 Kön 14,1–18. In 1 Kön 14,17 wird kurz und knapp konstatiert, dass das Kind stirbt, wenn seine Mutter, die den Propheten Ahija hinsichtlich des Schicksals ihres Sohnes befragt hatte, die Schwelle des Hauses betritt: ְוַהַנַּﬠר ֵמת.
In der Tat ist die Art und Weise, wie in 1 Kön 17,17 vom Tod bzw. vom Sterben des Knaben gesprochen wird, im Vergleich mit den anderen Erzählungen der Samuel- und Königebücher, in denen es um ein totes Kind geht, eine andere. Berücksichtigt man aber, dass im Alten Israel das Sterben als ein Prozess angesehen worden ist, der mit dem langsamen Schwinden der „Lebenskraft“
65
Vgl. SWEENEY, Kings, 215: „Although some view this narrative as a depiction of the boy’s resurrection, it is never clear that he is actually dead. Rather, the narrative portrays the boy as gravely ill and near death, with no breath left within him. Elijah’s action therefore is one of healing (cf. Isa 38).“ Vgl. ferner zur Forschungsdiskussion über den Zustand des Kindes: THIEL, Könige, 70; BAR, Resurrection, 14; LASINE, Matters, 117–122.
30 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen einhergeht, ergibt sich ein klareres Bild vom Zustand, in dem sich der Sohn der Witwe befindet.
2.1.2 Die antik-jüdische Konzeptualisierung des Sterbens als Prozess Im antik-jüdischen Denken wird der Vorgang des Sterbens vor dem Hintergrund der jüdischen Anthropologie konzeptualisiert. Grundsätzlich gilt: Der Mensch ist als Spezies durch Atem66 geschaffen, den JHWH ihm eingehaucht hat; der Mensch als Individuum lebt nur so lange, wie er atmet.67 Laut Gen 2,768 formt JHWH den Menschen aus Ackerboden und bläst (ַו ִיַּפּח/ ἐνεφύσησεν) ihm dann ( ִנְשַׁמת ַח ִיּיםAtem des Lebens) durch die Nasenlöcher ein, sodass er zu einer ֶנֶפשׁ ַחָיּה, einem „lebenden Wesen“69, wird. „Es wird in Gen 2,7a nicht einmal explizit gesagt, dass es sich um Gottes Lebensodem handelt, der dem Menschen eingehaucht wird (so erst Ps 104,30; Hi 27,3). V.7b liegt ganz auf dieser Linie. Die Beatmung durch Jhwh-Gott macht aus dem leblosen Körper ein lebendiges Wesen“70.
Notorisch schwierig ist es, für den quellsprachlichen Ausdruck ֶנֶפשׁ, der in der LXX zumeist mit ψυχή71 wiedergegeben wird, eine angemessene deutsche 66
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Vgl. MITCHELL, NEŠĀMÂ, 186: „out of twenty-six occasions of the use of nešāmâ in the Old Testament, eighteen, or over two thirds of them, indicate that the word refers to the breath of God, or of man received from God.“ Vgl. THIEL, Könige, 70f.: „Geht dem Menschen der Atem aus (Ps 104,29; vgl. Gen 35,18) oder kehrt dieser zurück zu Gott (Koh 12,7) oder zieht Gott ihn wieder an sich (Ps 104,29; Hi 34,14f), dann stirbt der Mensch.“ Vgl. zur Deklaration von Gen 2,7 als locus classicus: PLEIJEL, nephesch, 195–197; WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 579–582. Vgl. JANOWSKI, næpæš, 135: „Der Verbalsatz Gen 2,7 besteht aus zwei Teilsätzen, die jeweils ein Handeln JHWHs beschreiben – JHWH ‚formte‘ (jāṣar) den Menschen zunächst wie ein Tongebilde ‚aus (feuchter) Erdkrume vom Ackerboden‘ […] und ‚blies‘ (nāpaḥ) dann ‚Lebensatem in seine Nase‘ […] – und einer Folgeschilderung, die besagt, dass der erschaffene Mensch nicht ein vitales Selbst hat, sondern ein vitales Selbst ist: ‚Da wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen / Lebewesen (næpæš ḥajjāh)‘“. GERTZ, Mose, 107f. – Die über alle Zeiten hinweg gültige, auf Beobachtung beruhende Alltagserfahrung: „Der Atem ist neben dem Herzschlag das sinnfälligste Kennzeichen des Lebens“ (a. a. O., 108), kann auch als altorientalische Grundüberzeugung identifiziert werden: In ägyptischen Quellen gehört zum „Bildrepertoire der Darstellung der (göttlichen) Zeugung und Geburt des Pharaos [...], dass dem Neugeborenen oder seiner Mutter von einer Gottheit, zumeist Hathor, das Zeichen für Leben ‚Anch‘ vor die Nase gehalten wird. [...] In mesopotamischen Schöpfungstexten ist das Motiv der Belebung des von Götterhand geschaffenen Gebildes weniger prominent, wenngleich auch hier vom Menschen als einer von der Schöpfergottheit ‚beatmeten Gestalt‘ [...] die Rede ist“ (a. a. O., 106). Das griechische Lexem ψυχή ist die Standardübersetzung für das hebräische ֶנֶפשׁ. „In der LXX wird ֶנֶפשׁmehr als 650 Mal mit ψυχή wiedergegeben“ (MÜLLER, „Seele“, 14).
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Übersetzung zu finden. Wie ein Blick in einschlägige hebräische72 und griechische73 Wörterbücher74 zeigt, handelt es sich bei den beiden Lexemen ֶנֶפשׁund ψυχή um Polyseme,75 deren Bedeutung im konkreten Verwendungszusammenhang sich erst durch die vom Kontext geleistete Disambiguierung erschließt. In Zusammenhängen, die vom Leben handeln,76 bieten sich neben „Atem“77 auch 72
73 74 75
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77
Vgl. GESENIUS, 514f., s. v. ֶנֶפשׁ: „1. Hauch, Atem […]. – 2. Bezeichnung desjenigen was ein Körperwesen […] zu einem lebendigen macht, die Seele […]. – 3. animus, Gemüt, Herz […]. – 4. lebendiges Wesen […]. – 5. m. suff. ö. für: ich selbst, du selbst“. Vgl. den Eintrag bei PASSOW II/2, 2587–2590, s. v. ψυχή, der sieben Spalten umfasst! Vgl. auch den Überblick über Wörterbucheinträge zu ֶנֶפשׁbei MÜLLER, „Seele“, 95f. Vgl. PLEIJEL, nephesch, 205: „[T]here are a number of different נפשmeanings at play in the Hebrew Bible, and thus to speak of a general נפשconcept would be wrong.“ – MÜLLER, „Seele“, legt im vierten Kapitel (126–205) ihrer kognitionslinguistischen Studie das „breite[…] Bedeutungsspektrum“ (126) des hebräischen Wortes ֶנֶפשׁdar; vgl. auch LIESS, Weg, 216–219. Aus kognitionslinguistischer Sicht können Wörter bei Menschen, die dieselbe Sprache benutzen, nur die frames evozieren, die als „Wissensrahmen“ in der kollektiven Enzyklopädie ihrer Sprachgemeinschaft abgespeichert sind. Strenggenommen muss bei der Verwendung der Ausdrücke ֶנֶפשׁbzw. ψυχή oder „Leben“ zwischen verschiedenen Enzyklopädien unterschieden werden, da die Modell-Leserschaft des Masoretischen Textes, die ideale Leserschaft der LXX und die deutschsprachige Leserschaft heutiger Bibelübersetzungen über unterschiedliche epistemische Vor-Ausrichtungen verfügen – sind doch der hebräische Text und seine Übersetzungen nicht zur selben Zeit und im selben kulturellen Milieu entstanden. Auf diesen Sachverhalt weist VAN DER MEER, Anthropology, 38, hin: „[I]t is a hotly debated issue in present-day Septuagint scholarship whether the Greek translators interpreted their parent text only on the basis of Hebrew Scripture or deliberately incorporated contemporary politics and philosophy into their translation.“ Daraus folgt, dass aufgrund der differenten Vorprägungen der beiden Sprachgemeinschaften grundsätzlich der hebräische Ausdruck im Rezeptionsprozess andere frames auszulösen vermag als sein griechischer Übersetzungsterminus ψυχή. Philosophisch gebildete Griechen werden mit dem Wort ψυχή auch das dualistische platonische „Seelen“-Konzept verbunden haben (vgl. WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 146–153). Dass ψυχή im „alltäglichen“ Griechisch des 2. Jh.s v. Chr. aber auch holistisch konzeptualisiert gewesen sein kann und somit in der Bedeutung „Leben“ verwendet worden ist, belegt VAN DER MEER, Anthropology, 55f., durch einen Papyrusbrief aus Tebtunis. KILWING, Seelenverständnis, 398, verweist auf die „erstaunlichen Konvergenzen zwischen hebräischer und griechischer Seelenvorstellung gerade in der älteren Literatur“. Zu beachten ist allerdings, dass die Bedeutung eines Wortes nicht ausschließlich auf der Rezeptionsseite und damit im Sprachgebrauch der Rezipierenden verortet werden darf, sondern gleichermaßen von den Vorstellungen geprägt wird, die der Kontext evoziert, in den ein bestimmter Ausdruck eingebettet ist. Da dieser für die Verwendungen von ψυχή als Übersetzungsterminus für ֶנֶפשׁderselbe wie im Quelltext ist, wird davon ausgegangen, dass bei der Rezeption der Übersetzung von der griechisch sprechenden (und denkenden) Modell-Leserschaft nahezu deckungsgleiche Vorstellungsrahmen wie bei Rezipierenden des hebräischen Quelltextes ausgelöst werden. Auch RÖSEL, Übersetzung, 168, konstatiert, dass sich „die Übersetzung von ֶנֶפשׁdurch ψυχή weitgehend in dem vom hebräischen Denken vorgegebenen Rahmen bewegt“. Ein weiteres Beispiel liegt in Ijob 41,13 vor, wie MÜLLER, „Seele“, 136, erläutert: „Sein Atem [ֶנֶפשׁ/ψυχή] entzündet Kohlen, eine Flamme schießt (eigentlich: geht) aus seinem Maul
32 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen die Übersetzungstermini „Leben“ oder „Lebenskraft“ an. Um das Sterben in Übereinstimmung mit der Anthropologie des Alten Israel quasi als RückgängigMachen des Schöpfungsvorgangs zu konzeptualisieren, wird die schöpfungstheologisch geprägte Rede von der menschlichen ֶנֶפשׁbzw. ψυχή auch dann verwandt, wenn es um den Tod geht, wie es z. B. in Gen 35,18 der Fall ist. Hier wird im Zusammenhang des Todes von Rahel bei der Geburt ihres zweiten Sohnes mit den Worten: ְבֵּצאת ַנְפָשׁהּ ִכּי ֵמָתה/ἐν τῷ ἀφιέναι αὐτὴν τὴν ψυχήν ἀπέθνῃσκεν γάρ, davon erzählt, dass ihre ֶנֶפשׁ/ψυχή hinausgeht/weggeht. „Das Herausgehen der ֶנֶפשׁbezeichnet hier also das Versiegen der Atmung, wobei der Übergang zur Bedeutung ‚Leben(-skraft)‘ fließend ist, denn jenes bedingt auch das Ende dieser.“78 Eine verwandte Vorstellung liegt in Hld 5,6 vor. Hier wird der Schreck darüber, dass der Geliebte – anders als erwartet – nicht vor der Tür steht, von der Liebenden wie ein Herausgehen der ֶנֶפשׁ, das sonst nur dem Sterben eignet, empfunden.79 Unter der Voraussetzung, dass die Anthropologie des Alten Israel grundsätzlich holistisch geprägt ist,80 sollte bei dem Versuch, ein angemessenes deutsches Wort zu finden für die Entität, die gemäß Gen 35,18 im Sterbevorgang entweicht, von der Übersetzung mit „Seele“ abgesehen werden. Dieser Ausdruck evoziert nämlich im Sprachgebrauch des Deutschen platonische und altkirchlichen Vorstellungen von einer vom vergehenden Körper unabhängigen, nach dem Tode „weiterlebenden“ eigenständigen Komponente und setzt ein dichotomisches Menschenbild voraus.81 Dem ist jedoch entgegenzuhalten: „Tod bedeutet im Rahmen der alttestamentlichen Anthropologie Verfall des ganzen Menschen: Der ganze Mensch wird zu Staub. Ist beim Sterben vom ‚Hinausgehen‘ der ֶנֶפשdie Rede, so bezieht sich diese Aussage nicht auf eine unvergängliche Seele, sondern auf die Lebenskraft des Menschen.“82
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82
heraus. Hier ist trotz der Nennung des Mauls des Leviatans ֶנֶפשׁnicht mit ‚Kehle‘, sondern mit ‚Atem‘ wiederzugeben, weil das Entflammen eine heiße, bewegliche Substanz voraussetzt.“ MÜLLER, „Seele“, 136f. Vgl. auch KÜHN, Totengedenken, 131f. – GROß, Sterben, 472, verweist darüber hinaus auf Sir 38,23, wo „Jesus Sirach bezüglich der Trauer über einen Sterbefall [rät]: ‚Und tröste dich über das Herausgehen seiner näfäsch‘“; a. a. O., Anm. 21, 472, führt er ein weiteres Beispiel an: „Der verwundete Saul bittet hingegen nach 2Sam 1,9 angesichts der andringenden Feinde den Amalekiter um den Todesstoß: ‚denn Schwäche/Schwindel (?) hat mich ergriffen und doch ist noch meine ganze näfäsch in mir‘.“ Vgl. MÜLLER, „Seele“, 145f. VOLLENWEIDER, Ganzheitlich, 35, plädiert dafür, im Hinblick auf die Entwicklung einer biblischen Anthropologie „mitzubedenken, dass schon im Alten Testament, und vollends im antiken Judentum, die Verhältnisse differenziert wahrzunehmen sind und duale Figuren mit solchen holistischer Art in Wechselwirkung stehen.“ – Ähnlich VAN DER MEER, Anthropology, 40. Vgl. zur in der alttestamentlichen Wissenschaft geführten Diskussion darüber, ob und wann auch im israelitischen Schrifttum dicho- oder sogar trichotomische anthropologische Konzepte gefunden werden können: FREVEL, Vitality, 286f., bes. Anm. 106, 287; RÖSEL, Übersetzung, 168f. LIESS, Weg, 217. – Anders FEDER, Death, 420f., der an den Verwesungsgeruch denkt.
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Die Vorstellung vom Sich-Entfernen dieser „Lebenskraft“ im Sterbevorgang83 ist indirekt auch in der Kultgesetzgebung des Alten Testamentes belegt, was sich zunächst einmal daran festmachen lässt, dass in Bezug auf Tote davon die Rede sein kann, dass sie eine ֶנֶפשhaben,84 die verunreinigend85 wirkt. So wird in Num 6,6 für einen Nasiräer angeordnet, dass er nicht zur ֶנֶפשeines Toten hineingehen solle, für den Hohepriester gilt gemäß Lev 21,11 dasselbe.86 In einen kohärenten Zusammenhang mit Gen 35,18 können diese Aussagen dann gebracht werden, wenn das Wort ֶנֶפשals die „Lebenskraft“ verstanden wird, „die beim Sterben entweicht und die vor dem Hinabsteigen in die Scheol danach trachtet, sich einen neuen Wohnplatz zu suchen.“87 Dass diese Lebenskraft nicht mehr als mit dem Leichnam physisch verbunden, sondern als von ihm gelöst imaginiert wird, zeigt sich an der kultischen Regelung von Num 6,9, die MICHEL folgendermaßen interpretiert: „‚Wenn aber jemand ganz plötzlich in seiner [sc. des Nasiräers] Anwesenheit stirbt und damit sein geweihtes Haupt verunreinigt …‘. Dann 83 84
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Vgl. HIEKE, Unreinheit, 44. Die Rede davon, dass Tote eine ֶנֶפשhaben, die sich nach und nach von ihnen entfernt, ist grundsätzlich nicht inkompatibel mit Janowskis aus Gen 2,7 abgeleitetem und für die holistische israelitische Anthropologie als konstitutiv angesehenem Konzept, nach dem „der erschaffene Mensch nicht ein vitales Selbst hat, sondern dieses vitale Selbst ist“ (JANOWSKI, Konfliktgespräche, 206). Wird das Wort ֶנֶפשin linguistischer Hinsicht als polysem klassifiziert, kann es in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen natürlich auch verschieden gebraucht werden. FREVEL, Vitality, 262, weist darauf hin, dass im israelitischen Denken die Verknüpfung von Tod und Unreinheit vor allem im Bereich des Kultes zu verorten ist. „Not everything related to death is impure as such. […] The care of a corpse after death, before and during the burial procedure, is an important social obligation, but handling the corpse defiles the engaged person and hinders him/her from attending the cult for a given period of time“ (ebd.). – FREVEL, Purity, 377, führt folgenden Sachverhalt als Grund für den verunreinigenden Effekt des Kontaktes mit Toten an: „The realm of death is seen to contrast with the life-giving power and thus defiles the holiness of the sanctum“. A. a. O., 390, differenziert er diese Vorstellung noch weiter aus: „It is not the dead body and its characteristics: the alienating deadness, motionlessness and the strange rigor mortis or the rapid process of decay. Neither does it stem from the body or the corpse itself, or from a demon or demonic capacity, as in the Persian belief. Instead, the danger emerges from the vitality, presence, personality ( )נפשthat has gone out of the body but is not totally detached from the body.“ – Vgl. zur kultischen Unreinheit nach dem Kontakt mit Toten auch: HIEKE, Unreinheit, bes. 43; KÜHN, Totengedenken, 130. In seinem viel zitierten Aufsatz „næpæš als Leichnam?“ aus dem Jahr 1994 korrigiert Diethelm Michel die bis dahin weit verbreitete grammatisch falsche Übersetzung von נפש מת in Num 6,6 als „tote Seele“, indem er darauf hinweist, dass das feminine נפשnicht als Adjektiv eines maskulinen Nomens fungieren, sondern analog zum Syntagma נפשת מתin Lev 21,11 „nur als Genitivverbindung verstanden werden kann“ (a. a. O., 82). Vgl. ferner: FEDER, Death, 418; KÜHN, Totengedenken, 131f. MICHEL, næpæš, 84. Einen ganz ähnlichen Ablauf der Vorgänge nach dem Tod konstruiert FREVEL, Vitality, 286. – Vgl. auch MÜLLER, „Seele“, 189: „Insbesondere die Erzählung […] in 1 Kön 17 lässt vermuten, dass es die Vorstellung gab, dass die Lebenskraft im Sterben entweicht.“
34 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen nämlich genügte es zur Verunreinigung, wenn jemand sich in Gegenwart von einem Sterbenden, etwa in einem Zelt oder Raum befindet, in dem jemand plötzlich stirbt – eine Berührung des Leichnams wäre dann gar nicht vorausgesetzt!“88 Auch die Bestimmungen aus Num 19,14, nach welcher das bloße Betreten eines Zeltes, in dem ein Verstorbener liegt, alle, die im Zelt sind, für sieben Tage unrein macht, setzt voraus, dass der Zustand kultischer Unreinheit durch die räumliche Nähe zu einem Toten auch ohne Berührung seiner sterblichen Überreste ausgelöst werden kann.89 In diesem Vorstellungskonstrukt bleibt unklar, wohin sich die ֶנֶפשׁbzw. die ψυχή begibt, wenn sie den Leichnam verlässt. Eine Zusammenschau der alttestamentlichen ֶנֶפשׁ-Belege im Hinblick auf diese Frage ergibt kein ganz eindeutiges Bild.90 Katrin Müller vermutet, „dass die Vorstellung vorlag, dass sie [sc. die Lebenskraft] beim bzw. kurz nach dem Tod des Menschen ebenfalls vergeht. Die ‚Bewohner‘ der Scheol werden jedenfalls nie mit ֶנֶפשׁbezeichnet.“91 Stattdessen gibt es „im AT andere Bezeichnungen für die die Scheol bewohnenden Verstorbenen […] (z. B. ְרָפִאיםJes 14,9; 26,14.19; Ijob 26,5 oder einfach ַהֵמִּתים/die Toten in Dtn 18,11 und Jes 8,19)“92. Allerdings wäre es natürlich auch widersinnig, die Bewohner der Scheol mit demselben Ausdruck zu bezeichnen, der für eine Entität verwendet wird, die zunächst einmal in ihnen war, sich dann aber auf dem Weg in die Scheol aufgelöst hat. Überzeugender ist deshalb Christian Frevels Konstruktion: „Within the process of the natural decomposition of the body after death, the נפשdescends into the netherworld – neither gradually nor at a fixed stage or a given point of time – and becomes a weak and shadowy entity as רפאים.“93 Dieser Hypothese korrespondiert die Vorstellung „vom ‚Überlassen der ֶנֶפשׁan die Unterwelt‘“94, wie sie z. B. in den Psalmen anklingt.95 Das israelitische Konzept, unmittelbar nach dem Eintritt des Todes verlasse die ֶנֶפשׁ/ψυχή den Körper eines verstorbenen Menschen, der danach zunächst bis zum Zerfall seines Leichnams im Grab eine Art „Übergangsphase seiner ‚personalen Anwesenheit‘“96 antrete, spiegelt sich auch im archäologischen Befund wider. Wenn – wie in der Forschung vermutet – der Totenkult im Alten Israel 88 89 90
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96
MICHEL, næpæš, 82. Vgl. FREVEL, Vitality, 270f. Vgl. GROß, Sterben, 472f.: „Zwar wird häufig angenommen, die näfäsch des Menschen steige nach dessen Tod hinab in die Unterwelt. Doch ist aus dem AT keine sichere Auskunft zu erhalten.“ – Ähnlich unbestimmt: KILWING, Seelenverständnis, 396. MÜLLER, „Seele“, 189. MÜLLER, „Seele“, 194. FREVEL, Vitality, 262. LIESS, Weg, 211. „Texte wie Ps 16,10; 30,4; 56,14 oder 86,13, in denen der Beter um die Bewahrung seiner næpæš vor der Scheol bittet bzw. für die Errettung seiner næpæš aus der Scheol dankt, [zeigen], dass næpæš und Tod/Scheol in Zusammenhang gebracht werden“ (JANOWSKI, næpæš, 140). WENNING, Medien, 129.
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nur eine marginale Rolle gespielt haben sollte,97 dann überrascht es, dass in ausgegrabenen Gräbern nahezu durchgehend neben apotropäischen Objekten98 Gegenstände gefunden worden sind, die den Bereichen Essen bzw. Essenszubereitung zuzuordnen sind. Für gewöhnlich finden sich folgende Grabbeigaben: „Im Schnitt sind es nicht mehr als sieben Gefäße für eine Bestattung. Sie sind nach funktionalen Gesichtspunkten gruppiert. So wird ein großer Wasserkrug mit einem Schöpfgefäß und einer Schale am Kopfende pla[t]ziert, während nahe der rechten Hand eine weitere Schale, ein Humpen, ein Krüglein und manchmal ein Kochtopf, manchmal eine Lampe stehen. Gelegentliche Funde von Tierknochen und anderen organischen Substanzen zeigen, daß dem Toten nicht nur leeres Geschirr mitgegeben wurde.“99
Somit zeigt sich der bestattete Mensch gerüstet, den Verwesungsprozess, der offensichtlich als „liminale[r] Zustand zwischen Leben und Tod“100 konzeptualisiert war, zu überstehen. Diese Interpretation der gefundenen Grabbeigaben lässt sich kohärent zur weit verbreiteten Praxis der Zweitbestattung in Beziehung setzen, die vorgenommen wurde, wenn nach Abschluss des Verwesungsprozesses vom Körper des Verstorbenen nur noch die Knochen übriggeblieben waren. Zu diesem Zwecke verfügten die Gräber über eine vorbereitete Vertiefung. „Diese Grube war eine Knochengrube (Repositorium), in der die Knochen und die Beigaben derjenigen Bestattungen deponiert wurden, die man von den Grablegen abräumen musste, weil eine neue Bestattung erfolgen sollte. Viele der eisenzeitlichen Höhlengräber in Juda wiesen solche Knochengruben auf.“101 Mit der Verbringung der sterblichen Überreste ins Repositorium ist die Grenze zwischen Leben und Tod endgültig überschritten: „Der Tote wechselt seine Daseinsform und vollzieht gleichsam eine ‚ontologische Veränderung‘. Der Verstorbene ‚lebt‘ also nach dem Tod weiter, doch scheint dieses ‚Leben‘ rasch zu einer bloßem Fortexistenz 97
98 99
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101
Vgl. GERTZ, Zerschneiden, 558: „Man wird […] vermuten dürfen, dass das Verbot bestimmter Trauerriten, der Nekromantie und eventuell des Totenopfers keine Kernanliegen des Deuteronomiums formulieren.“ Diese These wird a. a. O., 558–561, durch die Auslegung von Dtn 14,1; 18,11 und 26,14 belegt. – Vgl. zum derzeitigen Diskussionsstand über den Stellenwert, der dem Totenkult im Alten Israel zukommt: FREVEL, Vitality, 275–281, und KÜHN, Totengedenken, 288–291. Einen etwas älteren Forschungsstand referiert KAMLAH, Grab, 258–263. Vgl. grundsätzlich zum Totenkult im Alten Orient: HIEKE, Unreinheit, 62, bes. Anm. 76. Vgl. WENNING, Medien, 127–129. WENNING, Bestattungen, 91. KAMLAH, Grab, 267f., illustriert die allgemeinen Angaben Wennings am Beispiel des Grabes 101 auf dem Tell es-Sa’idiye. Gleichzeitig modifiziert er Wennings Hypothese bezüglich der Funktion der Grabbeigaben: „Die Symbolik der Beigaben bezog sich vermutlich nicht nur auf den begrenzten Zeitraum der Verwesung, sondern allgemein auf die Zeit nach der Grablegung“ (a. a. O., 291), was er a. a. O., 274f., ausführlich begründet. ZANGENBERG, Knochen, 672. Vgl. zu den Keramikgefäßen, die als Grabbeigaben gefunden worden sind, auch: KAMLAH, Grab, 262f. KAMLAH, Grab, 274.
36 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen in der Scheol zu verkümmern, die nicht mehr als Leben im qualifizierten Sinne zu bezeichnen ist.“102 Es zeichnet sich für das Alte Israel somit die Vorstellung ab: „Je mehr Zeit […] verging, desto ‚toter‘ wurde der Verstorbene“103. In der antik-jüdischen Enzyklopädie ist der Tod somit nicht punktuell, sondern prozesshaft vorgestellt.104 Es wird differenziert zwischen einem frisch verstorbenen Menschen, dessen äußeres Erscheinungsbild sich von einem schlafenden nur dadurch unterscheidet, dass keine Atemtätigkeit mehr festzustellen ist, und den im Grab liegenden, ‚bei den Vorfahren versammelten‘105 Gebeinen. Die Art und Weise, wie im Alten Israel vom Kranksein gesprochen werden kann, entspricht diesem prozesshaften Todes-Konzept. Wie Christoph Barth in seiner klassischen Studie „Die Errettung vom Tode in den individuellen Klageund Dankliedern des Alten Testamentes“ herausgearbeitet hat, sind im hebräischen Denken Kranksein und Gesundsein den umfassenderen Vorstellungskategorien „Tod“ und „Leben“ zugeordnet. In den „älteren Teilen [des Alten Testaments] umfaßt der Begriff des Lebens Gesundheit, Heil und Glück, während der Begriff des Todes Krankheit, Bedrängnis und Unglück einschließt.“106 Vor allem in den Psalmen dient der Ausdruck „Scheol“ nicht nur, um „die Unterwelt als Aufenthaltsort der Verstorbenen“ zu bezeichnen, sondern „vorwiegend zur Beschreibung individueller Noterfahrungen im Leben; er wird zur Bezeichnung für die Sphäre des ‚Todes mitten im Leben‘.“107 Dennoch ist ein „konzeptioneller Unterschied [zwischen Leben und Tod] auch im Alten Testament deutlich erkennbar. […] Der physische Tod als Einschnitt wird auch von solchen Texten nicht marginalisiert oder ausgeblendet, die das menschliche Leben als eines ‚in der Scheol‘ schildern.“108 Aus religionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, bleibt abschließend noch zu konstatieren, dass das Alte Israel menschliches Sterben zunächst einmal nicht auf ein Handeln JHWHs zurückgeführt hat, weil der Gott Israels anfänglich als ausschließlich für das Leben zuständig angesehen und nicht mit dem Tod in Verbindung gebracht worden ist.109 Somit bedurfte es einer „göttliche[n] Kompetenzausweitung [...], die sich zwischen dem Ende des 8. Jh. (?) bis zum Beginn des 6. Jh. v.Chr. und darüber hinaus in Juda allmählich (!) vollzog“,110 um zu der 102 103 104
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LEUENBERGER, Bestattungskultur, 327. ZANGENBERG, Knochen, 672. Vgl. zum prozesshaften Verständnis des Todes im Alten Israel: FEDER, Death, 419 (mit Hinweisen auf weitere Lit.); VAN OORSCHOT, Translation, 126; FREVEL, Purity, 390f. Vgl. KRÜGER, Weg, 139f. BARTH, Errettung, 11. LIESS, Weg, 211. EBERHARDT, Unterwelt, 224. Vgl. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 226. JANOWSKI, Konfliktgespräche, 230. Vgl. auch LIESS, Weg, 298–322. Laut SCHNOCKS, Konzeptionen, Anm. 4, 318, geht die Rede von einer „Kompetenzausweitung“ JHWHs, die seine Zuständigkeit für die Lebenden auch in den Bereich des Todes hinein prolongiert, auf
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Vorstellung zu kommen, dass letztendlich JHWH/Gott für den Tod der Menschen verantwortlich ist – und nicht eine dem Gott Israels entgegenstehende Macht des Todes. Angesichts der Tatsache, dass das Sterben im Alten Israel als ein prozessuales Geschehen konzeptualisiert wird, stellt sich somit die Frage gar nicht, ob aufgrund der in 1 Kön 17,17 vorliegenden Formulierung, dass kein Atem mehr in dem Kind sei, der Sohn der Witwe als tatsächlich gestorben oder „noch nicht ganz tot“ vorgestellt werden soll. Eine Formulierung wie „bis dass kein Atem mehr in ihm war“ ist im vorliegenden Kontext nicht als eine medizinische Diagnose zu verstehen, die exakt den Zustand eines Menschen beschreibt, bei dem zwar schon die Atmung ausgesetzt hat, dessen Herz aber noch schlägt. Die Modell-Leserschaft versteht die Bezugnahme auf fehlende menschliche Atemtätigkeit als Anspielung auf Gen 2,7 und damit als Umkehrung des Schöpfungshandelns, mithin als Einsetzen des Sterbeprozesses.111
2.1.3 1 Kön 17,18–24: Die Wiederbelebung des Knaben Diese Lesart von 1 Kön 17,17, nach welcher der Sohn der Witwe als tot vorgestellt wird, bestätigt die erste wörtliche Rede der Frau, wenn diese den Tod des Sohnes als Strafe für eine früher begangenen Schuld deutet, deren genaue Ursache im aktuellen Erzählkontext allerdings eine Leerstelle bleibt.112 Im hebräischen Text beinhalten die Worte der Witwe in 1 Kön 17,18 mit der Formulierung ְלַהְזִכּיר ֶאת־ ( ֲﬠוֹ ִניum an meine Schuld zu erinnern) „eine Wendung […], die dem Vokabular
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Christoph Uehlinger zurück, der den epigraphischen Befund in Ḫirbet el-Kōm und Ketef Hinnom ausgewertet hat. Wenn sich in der antiochenischen Version von 1 Kön 17,17 die Rede von der fehlenden πνοὴ ζωῆς findet, liegt ein dem Hebräischen sehr ähnlicher Sprachgebrauch des Griechischen vor: „The Greek word πνοή or its compound cognate ἀναπνοή refers to ‚breath‘ and has the same metaphorical connotations as our word ‚breath,‘ particularly in the phrase ‚to his or her last breath.‘ The expression ἐν ἐσχάτῃ πνοῇ (‚at his last grasp‘) occurs in 2Macc 3:31 and has a striking parallel in a Ptolemaic decree from Ptolemy VII(I) Euergetes II found at Nicosia, Cyprus, dating from 145 BCE [...:] μέχρι τῆς ἐσχάτης ἀναπν[οῆς ...]. Similar phrases are found in Flavius Josephus, B.J. 2,144 and Diodore of Sicily, Bibliotheca historica 17.33“ (VAN DER MEER, Anthropology, 54f.). – Vgl. zur Konzeptualisierung des Sterbens als (letztes) Ausatmen auch: WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 582. Dass die abschlägige Antwort, welche die Witwe in 1 Kön 17,12 dem Elia erteilt, wenn dieser sie darum bittet, von ihr mit einem Bissen Brot versorgt zu werden, als „guilt of not having fulfilled God’s command to sustain Elijah“ (KALMANOFSKY, Women, 64) angesehen werden sollte – eine Schuld, die dann den Tod des Sohnes zur Folge hat, ist eine Überinterpretation dieses Verses. Elia erhält von der Witwe zunächst kein Brot, weil sie kein Brot im Haus hat, sondern nur noch eine Handvoll Mehl und ein wenig Öl vorhanden sind. Mit diesen Zutaten verfährt sie anschließend dann aber gemäß den Weisungen des Propheten, sodass er letztendlich doch von ihr mit Essen versorgt wird.
38 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen der Rechtssprache entnommen ist“113, wodurch Elia die „Rolle des Anklägers“114 zufällt, der diese Schuld aufdeckt. Grundsätzlich kommt in diesen Worten der Frau der „gemeinorientalische[...] und auch altisraelitische[...] Lebens- und Denkzusammenhang[...] von Tun und Ergehen [... zum Ausdruck, der] die Ursache des Sterbens in der Schuld des Menschen“115 sucht. Die Witwe macht in ihrer wörtlichen Rede den Propheten aber nicht nur zum Ankläger, der an ihre Schuld erinnert, sondern gleichzeitig auch noch zum Vollstrecker der Strafe, die auf diese Schuld folgt: „[Du bist gekommen, ...] um meinen Sohn zu töten.“ Wenn sie diesen Vorwurf an Elia in 1 Kön 17,18b mit der im Kontext der Königebücher für ihn ungebräuchlichen und deshalb besonders auffälligen Anrede „Mann Gottes“ (ִהיםBִאישׁ ָהֱא/ἄνθρωπε τοῦ θεοῦ) einleitet, macht sie letztendlich JHWH für den Tod des Kindes verantwortlich – ist es doch ein wesentliches Merkmal eines Gottesmannes, das Wort des Herrn zu verkünden und auf JHWHs Geheiß hin zu agieren. Der Titel „Mann Gottes“ ist in den Königebüchern eigentlich mit Elisa verknüpft, für Elia wird er nur siebenmal verwendet, die ersten beiden dieser Belege finden sich in 1 Kön 17,18.24.116 Wenn die Episode 1 Kön 17,17–24 innerhalb des Kontextes der Königebücher rezipiert wird, ruft die Anrede, welche die Witwe in 1 Kön 17,18 für Elia wählt, die Erinnerung an Schemaja117 auf, der gemäß 1 Kön 12,22–24 als „Gottesmann“ zum Empfänger und Verkünder eines „Wortes des Herrn“ wird. Darüber hinaus begegnet die Leserschaft im Durchgang durch die Königebücher in 1 Kön 13 einem namenlosen Gottesmann aus Juda, der sich in 13,2 auf Geheiß JHWHs durch die Ankündigung der Geburt des Josia hervortut, der dann gemäß 13,6 nach erfolgtem Gebet eine erstarrte Hand heilt und laut 13,18 nicht widerspricht, wenn er – als Gottesmann – von einem anderen Propheten selbst auch als „Prophet“ bezeichnet wird. Auf die Gebeine dieses Gottesmannes aus Juda wird dann später in 2 Kön 23,17.18 noch einmal Bezug genommen. In der kanonisch gewordenen Reihenfolge des Alten Testaments kommt noch Mose118 und Samuel119 der Titel „Gottesmann“ in den 113 114 115
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SCHMITT, Totenerweckung in 1 Kön. XVII, 271. SCHMITT, Totenerweckung in 1 Kön. XVII, 271. DIETRICH/VOLLENWEIDER, Art. Tod II, 588. – Die Vorstellung, dass der Tod eines Kindes mit einer Verfehlung eines Elternteils in Zusammenhang steht, findet sich in 2 Sam 12,22, wenn David „das Sterben [... seines] Kindes vor Gott [...] als Strafe für seine Verbrechen“ (HARDMEIER, Tod, 84) interpretiert. Die anderen Belegstellen sind: 2 Kön 1,9.10.11.12.13. Wie in 1 Kön 17,18.24, so wird auch in der Episode 2 Kön 1,9–16 der Titel „Mann Gottes“ zunächst von anderen an Elia herangetragen. In seinen Repliken nimmt dieser diese Bezeichnung dann aber auch selbst auf, um seine Strafaktionen mit vom Himmel fallendem Feuer zu begründen. In 2 Chron 12,5 wird Schemaja als „der Prophet“ (ַהָנִּביא/ὁ προφήτης) bezeichnet, der das Wort des Herrn verkündet – ein Vorgang, der sich in 12,15 noch einmal wiederholt. In Dtn 33,1 spricht Mose als „Gottesmann“ (ִהים7ִאישׁ ָהֱא/ἄνθρωπος τοῦ θεοῦ) vor seinem Tod den Segen; gemäß Jos 14,6 erhält er als „Gottesmann“ direkte Anweisungen Gottes. Laut Dtn 34,10 kommt Mose aber auch die Bezeichnung „Prophet“ (ָנביא/προφήτης) zu. Gemäß 1 Sam 9,6–11.18f. ist Samuel als Mann Gottes in JHWHs Pläne eingeweiht; er gilt auch als „Seher“; vgl. zur Synonymität von „Seher“ und „Gottesmann“ in diesem Kontext: THIEL, Könige, 71f.
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Schriften zu, die den Königebüchern vorangestellt sind. Ferner erzählt Ri 13,6–8 von einem namenlosen Gottesmann, der die Geburt Samsons ankündigt. Ein weiterer anonymer Mann Gottes fungiert in 1 Sam 2,27 quasi als Sprachrohr JHWHs.120
Im weiteren Verlauf der Erzählepisode wird die Meinung, dass JHWH töten kann, auch von Elia selbst vertreten, wenn er sich in 1 Kön 17,20 mit folgenden Worten an den Gott, dem er als Prophet dient, wendet: „JHWH, mein Gott, tust du nun auch der Witwe, bei der ich wohne, Böses an, indem du ihren Sohn tötest?“ Die Figurenreden der Witwe und Elias in 1 Kön 17,18.20 illustrieren einen Aspekt der Selbstvorstellung JHWHs, die sich in Dtn 32,39 finden lässt: dass er Menschen töten kann. Im Folgenden lassen sich dann aber sowohl die weiteren Figurenreden als auch die Handlungen Elias als Illustrationen der anderen, entgegengesetzten göttlichen Kompetenz verstehen: er vermag auch lebendig zu machen. Dies stellt sich im Einzelnen folgendermaßen dar: Zunächst einmal erbittet sich Elia das tote Kind der Witwe, ohne der Frau zu sagen, was er mit dem Leichnam vorhat (1 Kön 17,19a). Dann separiert er dieses räumlich, indem er mit dem toten Kind von der Frau weg nach oben in das Obergemach, in dem er wohnt, geht und den Knaben auf sein Bett legt (1 Kön 17,19b). Bemerkenswert ist, dass der Erzähler, der zu Beginn der Episode überhaupt keine Details der räumlichen Ausstattung des Schauplatzes erwähnt hat und quasi aus einer Vogelperspektive nur vom Sterben des Sohnes und dem Dialog zwischen Frau und Propheten berichtet hat, nun sogar auf ein einzelnes Möbelstück wie das Bett eingeht. Er stellt somit gleichsam seine Erzählperspektive von „Weitwinkel“ auf „Zoom“ um.121 Diese Veränderung im discourse des Erzählens deutet auf einen möglichen Umschwung in der story hin.122 Dass die Handlung eventuell eine Wendung nehmen könnte, zeigt darüber hinaus auch die mit der topologischen Angabe „hinauf“/„nach oben“ in 1 Kön 17,19 vorgenommene „Semantisierung des Raumes“123 an: Wenn Elia mit dem toten Kind nach oben in das Obergemach geht, wo sich sein Bett befindet, bestätigt diese topologische Veränderung vom Unten zum Oben nicht nur die Kenntnisse der Modell-Leserschaft über die in der Levante übliche Hausarchitektur, sondern hat noch einen semantischen Mehrwert: In einem religiös aufgeladenen Kontext, der in dieser Erzählung zweifellos vorliegt, ist das „Oben“ gleichbedeutend mit „näher bei Gott“. In der Handlung manifestiert sich die räumlich vorgenommene Annäherung an 120
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Eine Auflistung aller alttestamentlicher Belegstellen, die den Titel „Gottesmann“ anderen Figuren als Elia und Elisa zuschreiben, findet sich bei SAUERWEIN, Elischa, Anm. 9, 142. Vgl. zur Übertragung von Merkmalen des filmischen auf das literarische Erzählen: ZWICK, Montage, 96–103. „Die narratologische Unterscheidung zwischen dem ‚Was‘, nämlich der erzählten Geschichte, und dem ‚Wie‘, nämlich der Gestaltungsweise der Erzählung, geht auf den im Russischen Formalismus formulierten Gegensatz von fabula und sjužet zurück. [...] Im Englischen wurde diese Unterscheidung als story vs. discourse übersetzt“ (MARTÍNEZ, Erzählen, 1). Vgl. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 156–160.
40 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen JHWH dann auch sogleich darin, dass Elia ihn anruft (1 Kön 17,20). In dieser Figurenrede wird – wie bereits erwähnt – explizit deutlich, dass der Gottesmann JHWH die Macht zuschreibt, Menschen sterben zu lassen.124 Anschließend vollzieht Elia in 1 Kön 17,21a eine – weiter unten noch genauer zu besprechende – Handlung am toten Kind, die in der hebräischen Version und in den griechischen Fassungen unterschiedlich beschrieben ist: dem Masoretischen Text zufolge streckt sich Elia dreimal über den Knaben aus ()ַו ִיְּתֹמֵדד,125 nach den LXX-Versionen „pustet“ er den Jungen dreimal an (ἐνεφύσησε[ν]). Anschließend berichten alle drei Versionen in 1 Kön 17,21b von einem weiteren Gebet zu JHWH, das die Bitte darum beinhaltet, dieser möge die ֶנֶפשׁbzw. die ψυχή wieder in das Kind zurückkehren lassen. In der Beschreibung der Art und Weise, wie es sich beim toten Kind auswirkt, wenn JHWH auf das Gebet des Propheten eingeht und die erbetene Maßnahme einleitet, unterscheiden sich die drei hier untersuchten Versionen von 1 Kön 17,17–24 dann wieder. Die hebräische Fassung und der Antiochenische Text konstatieren in 1 Kön 17,22 unter Verwendung genau derselben Begrifflichkeit, die Elia auch in seinem Gebet verwendet hatte, dass die Lebenskraft wieder in das Kind zurückkehrt (ַוָתָּשׁב/ἐπεστράφη), ohne näher darauf einzugehen, an welchen physischen Indizien dies zu erkennen ist. Der kaige-Text hingegen stellt die Tatsache, dass JHWH das Gebet Elias erhört hat, ganz anschaulich dar, indem davon erzählt wird, dass der Junge im Anschluss an die Handlung Elias aufschreit (ἀνεβόησεν), was an einen Geburtsschrei erinnert und impliziert, dass er als wiederbelebt vorzustellen ist. Die Bitte Elias, JHWH möge doch die ֶנֶפשׁdes soeben verstorbenen Jungen wieder in diesen zurückkehren lassen, lässt sich kohärent in den weiter oben126 ausführlich skizzierten Vorstellungsrahmen: Schöpfungshandeln Gottes durch Einblasen des Lebensatems in den noch unbelebten Körper, Einsetzen des Sterbeprozesses durch Entweichen der ֶנֶפשׁ, einfügen:127 Da der Tod des Kindes gerade 124
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OTTO, Jehu, 179, bezeichnet das Gebet Elias gar als „Theodizee-Frage“ und spricht davon, dass in dieser Erzählung „die dunkle Seite Jahwes“ angesprochen werde, weil er „den Tod des Knaben letztlich zu verantworten“ habe. Die Forschung deutet die Verbform ַו ִיְּתֹמֵדדmehrheitlich als „mdd hitp ‚sich ausstrecken‘“ (SCHMITT, Magie, 251). Vgl. die Ausführungen im Abschnitt 2.1.2 in der vorliegenden Untersuchung. – Die Rede vom Zurückgebracht-Werden der Lebenskraft durch JHWH findet sich auch in Ps 23,3; Ruth 4,15 und Klgl 1,11.16, allerdings konnotiert das Herausgegangen-Sein der ֶנֶפשׁan diesen Stellen nicht Tod, sondern Krankheit oder Erschöpfung; vgl. JANOWSKI, næpæš, 66. Vgl. MÜLLER, „Seele“, 161: „Die Wiederbelebung des Kindes, dessen Tod als Verschwinden des Atems beschrieben wird, erfolgt hier durch das Wiederkommen der ֶנֶפשׁ. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass dieses Wort hier ebenso auf die Atmung referiert. Allerdings lässt das Wechseln des Wortes doch die Vermutung zu, dass nicht nur das Wiedereinsetzen des Atems, sondern auch das Zurückkehren der Lebenskraft ausgedrückt werden soll, d. h. dass die Bedeutung des Wortes hier zwischen ‚Atem‘ und ‚Lebenskraft‘ changiert. Die Folge des Zurückkommens der ֶנֶפשׁist ja gerade die Wiederbelebung des Kindes.“ – Vgl. ferner: PLEIJEL, nephesh, 202; KÜHN, Totengedenken, 134.
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eben erst eingetreten ist, befindet sich die aus ihm herausgehende „Lebenskraft“ noch in der Nähe, sodass ihre Bewegungsrichtung von JHWH umgekehrt werden soll. Der Leichnam des Knaben, der noch keinerlei Verwesungszeichen aufweist, ist quasi in dem Zustand des aus Lehm geformten Gebildes aus Gen 2,7 und es bedarf nur der (Wieder-)Hinzufügung der ֶנֶפשׁ, damit aus dem toten ein lebendiger Junge wird. Auf die Handlung, die Elia am Leichnam vollzieht, um die Rückkehr der „Lebenskraft“ anschaulich werden zu lassen, muss aufgrund der kontroversen Beurteilung, die sie innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft erfährt, ausführlicher eingegangen werden. In der älteren Forschung wird das Agieren Elias – sei es, dass er sich über dem Leichnam dreimal ausstreckt (MT), sei es, dass er den toten Knaben dreimal „anpustet“ (LXX) –, häufig als ein magischer Akt128 bezeichnet und dadurch einer Sphäre außerhalb der „offiziellen“ Religion zugewiesen. In neueren religions- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen129 wird „Magie“ allerdings nicht mehr als Gegenpol zu „Religion“ verstanden, sondern in den Bereich von „Religion“ integriert.130 Insbesondere Rüdiger Schmitt hat dieses modifizierte Magieverständnis für die alttestamentliche Wissenschaft fruchtbar gemacht. Er hält fest, „a.) dass Magie als ein ritualisiertes, symbolausdrückendes, performatives Verhalten definiert wird [...]. Primäres Wirkprinzip ist hierbei nicht der magische Akt ex opere operato, sondern [...] eine rituelle Performance, die ein göttliches Eingreifen antizipiert, und b.) dass Magie eben keine periphere Praxis ist und nicht im Gegensatz zu ‚der Religion‘ steht, sondern integraler Bestandteil und Ausdruck eines religiösen Symbolsystems [...] ist und c.) von anerkannten Ritualspezialisten [...] vollzogen“131 wird. Elias Agieren am toten Kind, das aus Gebet und körperlicher Zuwendung besteht, erfüllt somit die Kriterien für ritualsymbolische Handlungen: „Rituelles Handeln besteht nicht nur aus dem gesprochenen Wort, sondern der performative Aspekt realisiert sich mimisch-visuell in den ritualsymbolischen Handlungen, die ‚Sinn‘ augenfällig kommunizieren.“132
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„Magisch“ nennt QUELL, Phänomen, 281, das angewandte Verfahren; laut WÜRTHWEIN, Könige, 223, handelt es sich „um eine zauberähnliche Manipulation“; THIEL, Könige, 76, zufolge trägt die „beschriebene Handlung […] magische Züge. Der Wunderheiler übt Kontakt-Magie aus.“ Wenig später schwächt er aber ab: „Der ursprünglich magische Charakter der Handlung ist aber kaum noch erkennbar“ (ebd.). Noch vorsichtiger formuliert STIPP, Gestalten, 64, der von einer „der Magie entlehnte[n] Handlung“ spricht; anders SCHMITT, Totenerweckung in 1 Kön. XVII, 280: „Die Wirkkraft des Elija steht nicht isoliert für sich, sondern leitet sich von Jahwe her (antimagische Tendenz)“. Vgl. zu neueren Entwicklungen innerhalb der Forschungsdiskussion über das Verhältnis von Magie und Religion: TAMBIAH, Form, passim; VERSNEL, Reflections, passim; VON BENDEMANN, Apostelgeschichte, passim. Vgl. SCHMITT, Mantik, 1f.: „Neuere Ansätze (u. a. Catherine Bell, Clifford Geertz, Ronald L. Grimes, Stanley J. Tambiah) [...] betonen, dass ‚magische‘ Handlungen [...] einen integralen Teil religiöser Symbolsysteme und religiöser Praxis bilden. Damit einher geht die Tendenz, den problematischen Magiebegriff in einen weiteren Ritualbegriff zu integrieren.“ SCHMITT, Heilen, 184. SCHMITT, Magie, 138.
42 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Bezogen auf die Erzählung von 1 Kön 17,17–24 bedeutet dies: Eine religiöse Überzeugung wie die in Dtn 32,39 vorgeprägte, nach der JHWH nicht nur töten, sondern auch lebendig machen kann, wird narrativ ausgestaltet, indem Elia die Wiederbelebung des toten Kindes durch JHWH nicht nur durch einen performativen Sprechakt: das Gebet zu ihm, initiiert, sondern durch sein körperliches Agieren vor dem geistigen Auge der Leserschaft sichtbar macht. Im Masoretischen Text stellt sich dieser Sachverhalt folgendermaßen dar: Elia vollzieht, indem er sich über dem Leichnam dreimal ausstreckt, einen im Alten Orient bekannten performativen Akt: die Synanachrosis, deren für die Antike belegte Beispiele „in keinem Fall von einer Wirksamkeit eines Wundertäters aus eigener Machtvollkommenheit ausgehen, sondern die Einwirkung einer Gottheit als Bewirker voraussetzen.“133 Unter „Synanachrosis“134 versteht man eine ritualsymbolische Handlung, bei welcher der durch das Ritual zwischen einer Gottheit und einem Hilfsbedürftigen Vermittelnde derart auf dem „Ritualmandanten“135 zu liegen kommt, „dass seine Körperteile genau die entsprechenden Glieder des Leidenden bedecken“136. In den Königebüchern ist dieses Ritual in ausführlicher Form in 2 Kön 4,34–35 bei der von Elisa durchgeführten Reanimation des Sohnes der Schunemiterin dargestellt. „In I Reg 17,21 the ritual is depicted in one clause“137.
In den Versionen der LXX wird die Aktion, die Elia am Leichnam durchführt, mit eben der Verbform beschrieben, die auch das Schöpfungshandeln JHWHs in Gen 2,7 bezeichnet: ἐνεφύσησεν. Da der Prophet zunächst JHWH anruft, bevor er den toten Knaben anbläst, und anschließend noch einmal betet, wird auch in den griechischen Fassungen der Geschichte deutlich, dass er nicht selbstständig agiert, sondern performativ das Schöpfungshandeln JHWHs darstellt. 133
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SCHMITT, Magie, 246. Etwas vorsichtiger formuliert BECKING, Touch, 53f., mit Blick auf den mesopotamischen Befund: „In many, though not in all, Mesopotamian rituals there is a clear connection between both kinds of act: the incantation-priest says a prayer before he executes the ritual act. The prayer then has an interrogative character and might be regarded as an intercession. In this view both elements, prayer and ritual act, belong to the same and original layer of the story.“ QUELL, Phänomen, 281f., erläutert die wörtliche Bedeutung von „Synanachrosis“ folgendermaßen: „wenn der Wundertäter den eigenen lebenden Körper über den Leblosen breitet, also das vollzieht, was die Griechen συνανάχρωσις: Mitteilung der Farbe, χρώς, des lebenden Organismus oder nur der Haut an den erblaßten nennen.“ Altorientalische Belege für das Ritual der Synanachrosis finden sich bei DAICHES, II. Kön 4,34, passim; LANDERSDORFER, Ritus, 844–846; BIELER, Totenerweckung, 238f.; BECKING, Touch, 39–47. SCHMITT, Magie, 246. STIPP, Gestalten, 55. BECKING, Touch, 38. In den LXX-Fassungen ist das Ritual der Synanachrosis fast nicht mehr erkennbar. Für das dreimalige „Anpusten“ des Kindes ist aber ein naher körperlicher Kontakt zwischen Prophet und Leichnam vorauszusetzen. In jedem Fall kann aber auch die im Antiochenischen Text und der kaige-Version geschilderte Handlung Elias als performativer Akt verstanden werden, der das Wirken Gottes (des eigentlichen Atem-Gebers) antizipiert und visualisiert.
2 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern
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Nach erfolgter Wiederbelebung begibt sich Elia zusammen mit dem Sohn wieder in die untere Etage (1 Kön 17,23a) und teilt der Mutter mit: „Siehe, dein Sohn lebt!“ (1 Kön 17,23b). Aus raumsemantischer Perspektive betrachtet, kann dieser Rückkehr des Propheten an den Ausgangsort ein „Bedeutungs-Mehrwert“ zugeschrieben werden, der den alltäglichen Sachverhalt, dass jemand, der nach oben geht, irgendwann auch wieder einmal herunterkommen wird, überbietet. Der estnische Literatur- und Kulturwissenschaftler Jurij M. Lotman hat darauf hingewiesen, dass die Figuren literarischer Texte für gewöhnlich „Raumbindungen aufweisen“138, woraus sich ergibt, dass ein Verlassen des angestammten Raumes und eine eventuelle Rückkehr an den Ausgangsort der „Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes“139 gleichkommt. Angewandt auf die vorliegende Erzählepisode bedeutet dies, dass der verwitweten Frau, die ja in 1 Kön 17,17 explizit als Hausherrin bezeichnet wird ( ַבֲּﬠַלת ַהָבּ ִית/τῆς κυρίας τοῦ οἴκου), in der Erzählhandlung die untere Etage zugewiesen wird – sie begleitet den Propheten nicht auf dem Weg nach oben –, wohingegen Elia in 1 Kön 17,19 als derjenige charakterisiert wird, der ins Obergemach geht, „wo er wohnte“ ( ֹיֵשׁב ָשׁם/ἐκάθητο ἐκεῖ). Durch den Vollzug des ritualsymbolischen Aktes der Synanachrosis bekommt das Obergemach in dieser Erzählung die Konnotation: „Raum, in dem Jahwe wirkt“. Wenn Elia nach der erfolgten Wiederbelebung mit dem von Jahwe wieder lebendig gemachten Jungen ins Erdgeschoss zurückkehrt, kann dieses Wiederkommen an den Ausgangort so interpretiert werden, dass die Ordnung des Raumes, der mit der Frau verknüpft ist, der Ordnung des Obergemaches angepasst wird.140
In Bezug auf die Zeichnung der Figuren innerhalb der Episode bestätigt der Erzählabschnitt 1 Kön 17,23–24, was sich schon in den ersten Versen der Episode abgezeichnet hat: Während die Frau und der Gottesmann ungefähr gleich große Redeanteile haben, bleibt der Sohn (abgesehen von dem unartikulierten Schrei, den er gemäß den LXX-Versionen ausstößt) stumm. Er sagt nicht nur nichts, sondern er wird auch nach seiner Wiederbelebung nicht ansatzweise als selbst agierend gezeigt. Der Erzähler verzichtet darauf, irgendwelche körperlichen Anzeichen zu beschreiben, an denen zu erkennen wäre, dass die Vitalität in den vormals leblosen Körper zurückgekehrt ist. Auch im wieder lebendigen Zustand wird der Junge von Elia vom Obergeschoss aus nach unten getragen. Dass er tatsächlich wieder lebendig ist, lässt sich nur aus der wörtlichen Rede des Propheten erschließen. Angesichts seiner grundsätzlichen Passivität besteht die Funktion des Knaben innerhalb dieser Episode offensichtlich darin, ein Demonstrationsobjekt dafür zu sein, wie JHWH durch Elia als seinen Mittler handelt. Durch diese Erzählstrategie wird die Aufmerksamkeit der Leserschaft vom toten Kind weg auf den im Auftrag JHWHs agierenden Propheten gelenkt. Erstaunlich ist die Antwort, die der Gottesmann auf seine Aussage, dass der Sohn wieder lebt, von der Frau erhält: „Jetzt also weiß ich, dass du ein Mann 138 139 140
Vgl. KRAH, Literaturwissenschaft, 300. LOTMAN, Struktur, 332 (im Original kursiv). Vgl. BOSENIUS, Raum, 14.
44 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Gottes bist und dass das Wort JHWHs in deinem Mund wahr ist.“ (1 Kön 17,24; Masoretischer Text). Als die Witwe Elia bereits zu Beginn der Episode unmittelbar nach dem Tod ihres Sohnes in 1 Kön 17,18 als „Mann Gottes“ bezeichnet hatte, war für sie diese Titulierung negativ konnotiert. Zwar hatte sie das Wirken des Gottesmannes schon einmal positiv erleben können, als nämlich sie und ihr Kind durch das von Gott initiierte Handeln des Propheten vor dem Verhungern gerettet worden sind. Dass die Versorgung mit Essen für Mutter und Sohn bis zum Wiedereinsetzen des Regens dauerhaft gesichert sein soll, wird in 1 Kön 17,14 explizit auf ein „Wort JHWHs“ zurückgeführt („Denn so spricht der Herr, der Gott Israels ...“). Angesichts des Todes ihres Sohnes, den die Frau ebenfalls auf den Gottesmann und damit auf JHWH zurückführt, wird die durch dieses Gotteswort gewährte Zusage der bis zum Ende der Dürreperiode gesicherten Essensversorgung für sie jedoch irrelevant. Mehl im Topf und Öl im Krug sind für die Frau nur dann von Bedeutung, wenn sie nicht nur ihr selbst, sondern auch ihrem Sohn zukommen. Der Tod des Kindes wirkt somit wie ein Wortbruch JHWHs, dessen Zusage sie auf sich und ihren Sohn bezogen hat. Die Wiederbelebung des Kindes durch den Gottesmann versteht die Frau dann aber als ein nochmaliges „rettende[s] Eingreifen[...] Jahwes durch seinen professionellen Mittler“141, wodurch sich auch das im Kontext der Essensversorgung gesprochene Wort JHWHs im Nachhinein als wahr erweist. Dass die Erzählung 1 Kön 17,17–24 ausgerechnet mit einer wörtlichen Rede abschließt, ist kennzeichnend für ihre grundsätzlich auf Unmittelbarkeit abzielende Darstellungstechnik, welche die Distanz zwischen Leserschaft und erzählter Welt einebnet, indem alle Äußerungen der Witwe und des Propheten in wörtlicher Rede dargeboten werden. Überwiegend im dramatischen Modus142 präsentiert, ist in dieser Erzählung „die Rede der erlebenden Figuren im Rahmen der Erzählung gegenwärtig, die Distanz zum erzählten Geschehen scheint vollkommen reduziert und jede Vermittlungsinstanz ausgeschaltet zu sein.“143 Die 141 142
143
SCHMITT, Magie, 301. Wie stark Rezipierende in die erzählte Welt von Geschichten „hineingezogen werden“, hängt von der „Distanz“ ab, die der jeweilige Erzähler zum dargestellten Geschehen einnimmt. (Vgl. zum Phänomen unterschiedlicher Darbietungsweisen, die sich auf die im Rezeptionsprozess empfundene Distanz bzw. Nähe zur erzählten Welt auswirken: FLUDERNIK, Erzähltheorie, 47; MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 50–66.) Entscheidet sich der Erzähler für den dramatischen Modus (in englischer Diktion: showing), entsteht im Rezeptionsprozess „die Illusion einer unmittelbaren Nähe zum erzählten Geschehen“ (a. a. O., 50); dies gelingt z. B. dadurch, dass innerhalb der Erzählung die „Präsentation von ‚Worten‘“ (a. a. O., 53) vorwiegend bzw. ausschließlich in Form von Figurenrede erfolgt. Wählt der Erzähler den narrativen Modus (in der englischsprachigen Erzähltheorie auch telling genannt), gewinnen die Rezipierenden den „Eindruck eines gewissen Abstands zum erzählten Geschehen“ (a. a. O., 50); „auf Abstand“ werden sie gehalten, wenn Figurenrede durch indirekte Rede ersetzt wird und die Erzählstimme Handlungsabläufe nicht detailliert, sondern stark gerafft darstellt. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 53.
2 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern
45
Modell-Leserschaft erhält somit den Eindruck, bei der Wiederbelebung des toten Kindes quasi „mit dabei“ zu sein und wird von den erzählten Ereignissen in emotionaler Hinsicht wesentlich stärker berührt, als es bei einer distanzierteren Erzählweise mit Verwendung von indirekter Rede und häufigen Erzählerkommentaren der Fall wäre. Das Theologumenon aus Dtn 32,39 bzw. 1 Sam 2,6, nach welchem JHWH töten und lebendig machen kann, erfährt in dieser Geschichte eine Veranschaulichung, die ihre Leserschaft in emotionaler Hinsicht nicht unberührt lässt.
2.2
2 Kön 4,8–37: Elisa und der tote Sohn der Schunemiterin
Wie sich in Teil III der vorliegenden Untersuchung zeigen wird, sind die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen so gestaltet, dass ihre Modell-Leserschaft im Rezeptionsprozess die Geschichten von Elia und Elisa aktualisiert. Die vorliegende Untersuchung hält sich bei der Präsentation dieser Prätexte an die „kanonische Reihenfolge“, obwohl gute Gründe dafür sprechen, die Elisa-Erzählung als die ältere anzusehen und zuerst zu untersuchen. In der idealtypischen Enzyklopädie einer im 1. Jh. n. Chr. zu verortenden Leserschaft, die neutestamentliche Texte rezipiert, steht Elisa als Nachfolger des Elia allerdings an zweiter Stelle. Ein synoptischer Vergleich der drei maßgeblichen Versionen von 2 Kön 4,8–37 ergibt, dass die Erzählung von Elisa und dem toten Sohn der Schunemiterin auch über die Sprachgrenzen vom Hebräischen zum Griechischen und über die Rezensionsgrenzen zwischen dem kaige-Text und der antiochenischen Fassung hinweg in einem recht stabilen Wortbestand überliefert worden ist. Zwar gibt es Unterschiede hinsichtlich der Frage, wann die Erzählfiguren mit ihrem Eigennamen144 bezeichnet werden und wann auf sie mit Pronomina oder Rollenbezeichnungen rekurriert wird. Figurenreden werden aber in allen drei Versionen als wörtliche Rede wiedergegeben, Gliederungsmerkmale wie ַו ְיִהי/καὶ ἐγένετο treten in allen drei Fassungen jeweils exakt an derselben Stelle auf. Die einzig signifikante Abweichung liegt in 2 Kön 4,34–35 vor, wenn die ritualsymbolische Handlung, die Elisa am toten Kind vollzieht, und die Reaktion des wieder lebendigen Jungen auf die Wiederbelebungsmaßnahmen in der antiochenischen Version anders als im Masoretischen Text und der kaige-Rezension geschildert werden. Auf diese Unterschiede wird im Einzelnen noch einzugehen 144
Die LXX-Versionen bezeichnen den Propheten häufiger als der Masoretische Text mit seinem Eigennamen und nicht mit einem Personalpronomen oder dem Titel „Mann Gottes“: 2 Kön 4,16.25b (nur kaige).27 (nur kaige).29.31 (nur Ant.).33.35.36.
46 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen sein. Somit wird auch der Untersuchung von 2 Kön 4,8–37 zunächst eine deutsche Übersetzung des Masoretischen Textes, ergänzt um relevante Aspekte der kaige-Rezension und der antiochenischen Rezension, vorangestellt. 8a Und es geschah eines Tages (ַו ְיִהי ַה ֹיּום/καὶ ἐγένετο ἡμέρα), dass Elisa an Schunem vorbeikam. Und dort war eine große Frau (ִאָשּׁה ְגֹדוָלה/γυνὴ μεγάλη), die nötigte ihn zum (Brot-)Essen. 8b Und es geschah (ַו ְיִהי/καὶ ἐγένετο), so oft er vorbeikam, kehrte er dort zum (Brot-)Essen ein. 9 Und sie sprach zu ihrem Mann: „Sieh doch, ich habe erkannt, dass er ein heiliger Mann Gottes (ִהים ָקֹדושׁ7ִאישׁ ֱא/ἄνθρωπος τοῦ θεοῦ ἅγιος) ist, der immer bei uns vorbeikommt. 10 Lass uns doch ein kleines umwandetes Obergemach (ֲﬠִלַיּת/ ὑπερῷον) machen und lass uns für ihn dort ein Bett und einen Tisch und einen Stuhl und einen Leuchter hineinstellen, und es geschehe, wenn er zu uns kommt, kann er sich dorthin zurückziehen.“ 11 Und es geschah eines Tages (ַו ְיִהי ַה ֹיּום/καὶ ἐγένετο ἡμέρα), dass er dort hinkam, und er zog sich in das Obergemach zurück, und er schlief dort (ַו ִיְּשַׁכּב־ָשָׁמּה/καὶ ἐκοιμήθη ἐκεῖ). 12 Und er sprach zu Gehasi, seinem Diener: „Ruf diese Schunemiterin!“ Und er rief sie und sie trat vor ihn hin. 13 Und er sprach zu ihm: „Sprich doch zu ihr: ‚Sieh, du hast dir all diese Mühe um uns gemacht. Was ist für dich zu tun? Ist für dich bei dem König ein Wort einzulegen oder bei dem Befehlshaber des Heeres?‘“ Und sie sprach: „Ich wohne inmitten meines Volkes.“ 14 Und er sprach: „Was ist für sie zu tun?“ Und Gehasi sprach: „In der Tat, sie hat keinen Sohn und ihr Mann ist alt.“ 15 Und er sprach: „Ruf sie!“ Und er rief sie und sie trat in die Tür ( ;ַבָּפַּתחkaige: παρὰ τὴν θύραν, Ant.: παρὰ τὴν θύραν τοῦ οἴκου). 16 Und er sprach: „Im nächsten Jahr um diese Zeit wirst du einen Sohn umarmen.“ Und sie sprach: „Nicht doch, mein Herr, Mann Gottes, belüge deine Magd nicht!“145 17 Und die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn im nächsten Jahr um diese Zeit, so wie Elisa zu ihr gesprochen hatte. 18a Und das Kind wuchs heran. 18b Und es geschah eines Tages (ַו ְיִהי ַה ֹיּום/καὶ ἐγένετο), da ging es hinaus zu seinem Vater zu den Schnittern. 19 Und es sprach zu seinem Vater: „Mein Kopf, mein Kopf ( ;ר ֹאִשׁי ר ֹאִשׁיkaige: Τὴν κεφαλήν μου, τὴν κεφαλήν μου, Ant.: Τὴν κεφαλήν μου ἀλγῶ)!“ Und er sprach zu seinem Knecht: „Trag ihn zu seiner Mutter!“ 20 Und er trug ihn und brachte ihn zu seiner Mutter. Und er saß auf ihren Knien bis zum Mittag, und er starb (ַוָיֹּמת/ἀπέθανεν). 21 Und sie ging hinauf und legte ihn auf das Bett (ַﬠל־ ִמַטּת/ἐπὶ τὴν κλίνην) des Mannes Gottes und schloss hinter ihm zu und ging hinaus. 22 Und sie rief ihren Mann und sprach: „Sende mir doch einen von den Knechten und eine von den Eselinnen. Ich will zu dem Mann Gottes laufen und ich will zurückkehren.“ 23 Und er sprach: „Warum willst du heute zu ihm gehen? Es ist weder Neumond noch Sabbat.“ Und sie sprach: „Schalom (ום7ָשׁ/Εἰρήνη).“ 24 Und sie sattelte die Eselin und sprach zu ihrem Knecht: „Treibe immerfort an, halte mich beim Ritt nicht auf, es sei denn, dass ich es dir sage.“ 25a Und sie ging und kam zum Mann Gottes auf dem Berg Karmel. 25b Und es geschah (ַו ְיִהי/καὶ ἐγένετο), als der Mann Gottes sie von ferne sah, da sprach er zu Gehasi, seinem Knecht: „Sieh, da ist die Schunemiterin! 26 Nun lauf ihr doch entgegen und sprich zu ihr: ‚Ist der Schalom mit dir? Ist der Schalom mit deinem Mann? Ist der Schalom mit deinem Kind?‘“ Und sie sprach: „Schalom.“ 27 Und 145
Eine alternative Übersetzungsmöglichkeit, wenn die Verbform ְתַּכֵזּבnicht von der Wurzel כזבI, sondern von כזבII abgeleitet wird, ist: „Werde nicht wollüstig bei deiner Dienerin!“, vgl. die Ausführungen weiter unten.
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47
sie kam zu dem Mann Gottes auf dem Berg und umfasste seine Füße. Und Gehasi trat hinzu, um sie wegzustoßen. Und der Mann Gottes sprach: „Lass sie, denn ihre Seele ist bekümmert und JHWH hat es vor mir verborgen und mir nicht mitgeteilt.“ 28 Und sie sprach: „Habe ich einen Sohn von meinem Herrn erbeten? Habe ich nicht gesagt: Täusche mich nicht?“146 29 Und er sprach zu Gehasi: „Gürte deine Lenden und nimm meinen Stab in deine Hand und geh! Wenn du einen Mann triffst, grüße ihn nicht, und wenn dich jemand grüßt, antworte ihm nicht! Und lege meinen Stab auf das Gesicht des Jungen!“ 30 Und die Mutter des Jungen sprach: „So wahr JHWH lebt und so wahr deine Seele lebt, ich lasse dich nicht los!“ Und er stand auf (ַוָיָּקם/ἀνέστη) und ging hinter ihr her ( ַאֲחֶריָהPַוֵיֶּל/ἐπορεύθη ὀπίσω αὐτῆς). 31 Und Gehasi war ihnen vorausgegangen und hatte den Stab auf das Gesicht des Jungen gelegt, aber da war keine Stimme und kein Aufmerken. Und er kehrte zurück, ihm entgegen, und berichtete ihm und sagte ihm: „Der Junge ist nicht aufgewacht“ ( ;ל ֹא ֵהִקיץkaige: οὐκ ἠγέρθη; Ant.: οὐκ ἐξεγήγερται). 32 Und als Elisa in das Haus kam, sieh, da war der Junge tot (ֵמת/τεθνηκός), hingelegt auf sein Bett. 33 Und er ging hinein und schloss die Tür hinter ihnen beiden und betete zu JHWH. 34 Und er stieg hinauf und legte sich auf das Kind und er legte seinen Mund auf dessen Mund und seine Augen auf dessen Augen und seine Hände auf dessen Hände und beugte sich über es und das Fleisch des Kindes wurde warm ()ַוָיָּחם.147 35 Und er kam zurück und ging im Haus einmal hierhin und einmal dahin und er stieg hinauf und beugte sich über ihn. Da nieste der Junge siebenmal und da öffnete der Junge seine Augen.148 36 Und er rief Gehasi und sprach: „Rufe diese Schunemiterin!“ Und er rief sie und sie kam zu ihm herein und er sprach: „Nimm deinen Sohn!“ 37 Und sie kam und fiel ihm zu Füßen und beugte sich zur Erde nieder und sie nahm ihren Sohn und ging hinaus.
Interpretiert man das sich wiederholende Motiv ַו ְיִהי/καὶ ἐγένετο in 2 Kön 4,8a.8b.11.18b.25b als Gliederungsmarker,149 ergibt sich eine Unterteilung 146
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Eine alternative Übersetzungsmöglichkeit ist: „,Habe ich nicht gesagt: du wirst es mir nicht wohlig machen!?‘“ (UEHLINGER, Totenerweckungen, 22), vgl. die Ausführungen weiter unten. An dieser Stelle weichen die Fassungen erheblich voneinander ab. Kaige: Und er stieg hinauf und legte sich auf den Jungen und legte (ἔθηκεν) seinen Mund auf (επί) dessen Mund und seine Augen auf dessen Augen und seine Hände auf (επί) dessen Hände. Und er beugte sich über ihn und der Körper des Jungen wurde warm (διεθερμάνθη ἡ σὰρξ). – Ant.: Und er stieg hinauf und legte sich auf den Jungen und legte (ἐπέθηκε) sein Gesicht auf (επί) dessen Gesicht und seine Augen auf dessen Augen und seinen Mund auf dessen Mund und seine Hände auf (επί) dessen Hände. Und er beugte sich über ihn und iglaad (vgl. „Septuaginta Deutsch“, 433: „Aufgrund eines Abschreibfehlers wurde der hebr. Text unverständlich und daher von der LXX nicht übs., sondern nur transkribiert“) auf ihn. Und die Körperteile des Jungen wurden warm (διεθερμάνθησαν αἱ σάρκες; Übersetzungen nach „Septuaginta Deutsch“). Auch hier gibt es gewichtige Unterschiede zwischen den Versionen: Kaige: Und er wandte sich um und ging im Haus hin und her und stieg (wieder) hinauf und beugte sich über den Jungen bis zu siebenmal, da öffnete der Junge seine Augen (ἤνοιξεν τὸ παιδάριον τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτοῦ). – Ant.: Und Elisa wandte sich um und ging im Haus hin und her, und stieg (wieder) hinauf und beugte sich über den Jungen und hauchte ihn an und benahm sich auf dem Jungen wie ein Mann (ἠνδρίσατο) siebenmal, da bewegte sich der Junge und öffnete seine Augen (διήνοιξε τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτοῦ). Vgl. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 289 und 291.
48 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen der gesamten Erzählung in fünf Abschnitte,150 die nicht nur aus formalen, sondern auch aus inhaltlichen Gründen getrennt voneinander betrachtet werden können. Im ersten und kürzesten Abschnitt, der aus dem Teilvers 2 Kön 4,8a besteht, stellt der Erzähler die beiden Hauptfiguren vor: Elisa,151 welcher der Leserschaft der Königebücher seit 1 Kön 19,16 als designierter und seit 2 Kön 2 als berufener Nachfolger des Elia bekannt ist, und die „große Frau“ aus Schunem,152 die neu in die erzählte Welt der Königebücher eingeführt wird. Im narrativen Modus wird dargestellt, wie die Frau den Elisa bei ihrer erstmaligen Begegnung mit Nachdruck zum Essen einlädt. Dass sie über die notwendigen Ressourcen für die Bewirtung eines Gastes verfügt, ergibt sich aus ihrer Charakterisierung als „groß“153. Da in diesem Abschnitt ausschließlich von der dem Propheten gewährten Gastfreundschaft die Rede ist, scheint sich die Handlung dieser Eingangssequenz im Haus der „großen Frau“ abzuspielen. Im zweiten etwas längeren Abschnitt (2 Kön 4,8b–10), der wiederum im Haus der Schunemiterin lokalisiert ist, schildert der Erzähler, dass sich aus der einmaligen Bewirtung ein regelmäßiges Einkehren des Elisa bei der Frau entwickelt hat. Im dramatischen Modus wird dann dargestellt, wie es die Schunemiterin in 150
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In der Sekundärliteratur wird zumeist auf eine zweiteilige Struktur von 2 Kön 4,8–37 hingewiesen, wobei der Zweiteilung inhaltliche Kriterien zugrunde gelegt werden: die erste Hälfte handele von dem Gastgeschenk des Elisa: der Sohnesverheißung, die zweite von der Wiederbelebung eben dieses Sohnes, vgl. WÜRTHWEIN, Könige, 290; SAUERWEIN, Elischa, 48; SCHMITT, Magie, 242f.; PIETSCH, Prophet, 359; anders MCKENZIE, Kings, 283, der eine dreiteilige Struktur sieht, weil er ausschließlich das ַה ֹיּוםin 2 Kön 8,11 und 18b und nicht das ַו ְיִהיals Gliederungssignal berücksichtigt. Vgl. zu weiteren Gliederungsvorschlägen: PARKER, Valuable, Anm. 26, 146. Ob die Modell-Leserschaft der Königebücher den Namen „Elisa“ als einen sprechenden Namen interpretiert (vgl. SAUERWEIN, Elischa, 128, für die der „Aussagegehalt des Namens [ אל ישׁעGott/El rettet/hilft] zwar nicht ganz so programmatisch ist wie der Elias“) oder ob es sich um einen „historischen Personennamen handelt“ (a. a. O., 127), der auch auf Ostraka, in einer Inschrift und auf Siegeln belegt ist (vgl. a. a. O., Anm. 84, 127), muss offenbleiben. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, Anm. 9, 285, zufolge beinhaltet der Eigenname „keine Wertung“ und ist „somit neutral“. Schunem „liegt am südlichen Abhang des nebi daḥi, nördlich Jesreel gegenüber [...]. Einst Stadtstaat, war es um 1400 v.Chr. zerstört und später von dem Stamm Issachar besiedelt worden. Es liegt inmitten einer fruchtbaren Flur und hat entsprechend wohlhabende Einwohner“ (WÜRTHWEIN, Könige, 291). PARKER, Valuable, 138, sieht einen Zusammenhang zwischen der Lage Schunems an einer „trade route“ und dem Wohlstand seiner Bewohner. SAUERWEIN, Elischa, 49, plädiert für die Übersetzung von „ צדולהmit ‚alt/betagt‘, da vor diesem Hintergrund die Verheißung des Sohnes als etwas Unwahrscheinliches erscheint und den Widerspruch der Frau in V. 16 verständlicher macht.“ Dem ist entgegenzuhalten, dass nach Aussage des Gehasi (2 Kön 4,14) die Kinderlosigkeit der Frau auf das Alter ihres Ehemannes zurückgeführt werden muss. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 289, versteht „groß“ im Sinne von „vornehm“. Vgl. zu weiteren Übersetzungsvorschlägen: PARKER, Vulnerable, Anm. 7, 139.
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49
ihrem gastfreundlichen Verhalten dem Elisa gegenüber nicht bei Kost bewenden lassen will. Sie möchte ihm auch noch Logis anbieten.154 Dieses Ansinnen schildert sie detailliert in wörtlicher Rede ihrem Mann, der somit in 2 Kön 4,9 als dritte Erzählfigur hinzukommt. Diesem nennt sie dann auch den Grund für ihr gesteigertes Interesse an Elisa: sie hält ihn für einen heiligen155 Mann Gottes.156 Dieser Titulierung des Gastes kommt, da sie noch ganz am Anfang der Erzählung ausgesprochen wird, ein primacy effect157 und damit eine rezeptionssteuernde Funktion zu. Noch bevor die Handlung so richtig in Gang kommt, wird klar, dass Elisa die Schunemiterin bei seinen ersten Besuchen stark beeindruckt hat. An der Kategorisierung „heiliger Mann Gottes“, die sie für ihn gewählt hat, wird er im Folgenden gemessen werden. Die Leserschaft der Königebücher kennt aus der vorangegangenen Handlung bereits vier andere Erzählfiguren, denen diese Bezeichnung zugeschrieben wird: Schemaja (1 Kön 12,22), zwei namenlose Gottesmänner (1 Kön 13 und 1 Kön 20,28) und Elia (1 Kön 17,18.24 und 2 Kön 1,9–13). Auch wenn sich bei der Zusammenschau dieser unterschiedlichen Männer „kein eindeutiges Bild davon ab[zeichnet], was genau der Begriff meint“158, so impliziert der Titel jedoch zumindest, dass ein Gottesmann in „Ermächtigung durch JHWH“159 handelt. In diesem Sinne verwendet auch die Witwe von Sarepta den Ausdruck, wenn sie Elia mit „Mann Gottes“ anredet (1 Kön 17,18). Somit stellt sich bei der Leserschaft in Bezug auf Elisa
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Vgl. MCKENZIE, Kings, 292: „The distance from Shunem to Mount Carmel, assuming the latter as Elisha’s place of residence, is about a day’s journey by foot, so that her house would be a good stopping point for Elisha coming or going.“ „[T]his is the only instance where holiness is explicitly linked with a prophet“ (PARKER, Vulnerable, Anm. 15, 141). Vgl. UEHLINGER, Totenerweckungen, 20. Vgl. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 285, der darauf hinweist, dass sich im Masoretischen Text der „Titel ‚Gottesmann‘ [...,] ausgenommen V. 21, im Munde der Schunemiterin bei ihren Reden/Gesprächen mit ihrem Mann“ findet. Zu ergänzen ist: Auch in 2 Kön 4,25.27 wird in einem Erzählerkommentar auf Elisa mit „Mann Gottes“ referiert. Diese Benennung liegt allerdings auf einer Linie mit dem Befund, dass die anderen Verwendungen dieses Titels immer in wörtlichen Reden der Schunemiterin vorliegen. Die Verwendung der Titulatur in 2 Kön 4,25.27 lässt sich nämlich so verstehen, dass an dieser Stelle der Erzähler die Sichtweise der Frau auf Elisa übernimmt. Vgl. zu diesem erzählerischen Mittel: SURKAMP, Perspektivenstruktur, 77: „So spielen aufgrund des sogenannten ‚primacy effect‘ [...] die jeweils ersten Informationen eine besondere Rolle [...]. Spätere Informationen werden dann von der Leserin in die bisherige Perspektivenvorstellung integriert. Falls dies nicht möglich ist, kann die Leserin entweder die bisherige konstituierte Perspektive aufgrund eines eingestandenen Fehlurteils rückwirkend verwerfen (dies entspricht dann dem sogenannten recency effect) oder aber vermuten, daß sich eben die Figur selbst – und damit auch ihre Perspektive – verändert hat“. Vgl. auch HARTNER, Interaktion, Anm. 47, 106: „Primär- und Rezenzeffekte bezeichnen das gedächtnispsychologische Phänomen, nach dem aus einem Fluss von Daten die zuerst und zuletzt eingehenden Informationen vom Gedächtnis bevorzugt behandelt werden“. SAUERWEIN, Elischa, 142. – SCHMITT, Magie, 298, hält fest, dass der Mann Gottes „überwiegend als Helfer des Einzelnen, dessen Leben durch Hunger, Kinderlosigkeit, Krankheit, Tod, Verlust wertvoller Güter etc. beeinträchtigt ist“, erscheine. PIETSCH, Prophet, 348.
50 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen die Erwartungshaltung ein, dass sein Handeln in Rückbindung an JHWH erfolgen wird.
Das Oberzimmer, das sie für ihn errichten lassen möchte, soll dem Gottesmann als Rückzugsort dienen.160 Indem die Frau zum einen darlegt, dass sie an Elisa interessiert ist, weil sie in ihm einen heiligen Mann Gottes sieht, und zum anderen erklärt, dass der Raum als Refugium für den Propheten fungieren soll, kann sie möglichen Fehlschlüssen der Leserschaft hinsichtlich ihres Faibles für Elisa vorbeugen. Elisa hat nicht als Mann, sondern als heiliger Mann Gottes ihr Interesse erweckt. Dass innerhalb der patriarchalischen Gesellschaften des Alten Orients auch eine verheiratete Frau vorstellbar war, die „ihre Augen“ auf einen unverheirateten Mann „wirft“, zeigt sich innerhalb der Josephsgeschichte in Gen 39 an Potifars Ehefrau, die sogar zur Verleumdung greift, als ihre Annäherungsversuche von Joseph abgewehrt werden. Wie aus dem „Eifersuchtsgesetz“ in Num 5,11–31 hervorgeht, liegt eine außereheliche Beziehung auf Initiative einer verheirateten Frau hin (Num 5,20) auch im Alten Israel durchaus im Bereich des Denkbaren.
Der Ehemann und der Gottesmann bleiben in diesem Erzählabschnitt stumm, umso beredter tritt die Frau in Erscheinung, die in ihrer Figurenrede nicht nur ihre Handlungsmotivation verdeutlicht, sondern der Leserschaft das für den Gast geplante Oberzimmer durch die genaue Beschreibung der Möblierung geradezu bildlich vor Augen malt.161 Da dem Ehemann keinerlei Gelegenheit zur Gegenrede eingeräumt wird, scheint die Charakterisierung der Frau als „groß“ wohl nicht nur auf ihrem ökonomischen Status zu basieren, sondern auch ihre dominierenden Rolle innerhalb ihrer Ehe zu beschreiben. Im dritten Abschnitt der Erzählung (2 Kön 4,11–18a), der wiederum länger als der zweite ist, spielt die Handlung zunächst (2 Kön 4,11–16) in genau dem Oberzimmer, dessen Einrichtung im Abschnitt zuvor detailliert beschrieben worden ist. Der Erzähler bleibt in den ersten sechs Versen beim dramatischen Modus, indem er eine Figurenrede auf die andere folgen lässt, sodass Erzählzeit und erzählte Zeit fast deckungsgleich werden.162 Der Ehemann der Schunemiterin spielt in diesem Abschnitt als handelnde Figur keine Rolle. Da allerdings über ihn in 2 Kön 4,14 geredet wird, bleibt er als für die Gesamthandlung konstitutive 160
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Innerhalb der erzählten Welt von 2 Kön 4,8–37 wird der Erzählfigur Elisa – genau wie dem Elia innerhalb des literarischen Raumes von 1 Kön 17,17–24 – im Handlungsraum „Haus in Schunem“ ein oben gelegener Aufenthaltsort zugeordnet. Damit vollzieht sich wiederum eine Semantisierung des Raumes (vgl. die Ausführungen zum „semantischen Mehrwert“ des Obergemaches in 1 Kön 17,17–24 auf S. 39 und S. 43 in der vorliegenden Untersuchung), da die Raumbindung eines „heiligen Mannes Gottes“ an einen oben gelegenen Ort seine besondere Gottesnähe zum Ausdruck bringt. Vgl. zur Möblierung des Obergemachs, die auf den Wohlstand der dort Wohnenden schließen lässt: SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 304f. Vgl. grundsätzlich zum Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit in der gesamten Erzählung: SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 297f.
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Größe im Bewusstsein der Leserschaft präsent. Darüber hinaus kommt in diesem Abschnitt eine neue Erzählfigur hinzu, die bisher in der erzählten Welt der Königebücher noch nicht aufgetreten ist: Gehasi, der Diener des Elisa. Dieser übernimmt in den Versen 2 Kön 4,12–15 eine entscheidende kommunikative Funktion. Er wird geradezu zum Sprachrohr des Elisa, durch das der Gottesmann mit der Hausherrin kommuniziert.163 Diese „Dreieckskommunikation“ stellt sich folgendermaßen dar: Nachdem sich Elisa in das ihm zur Verfügung gestellte Oberzimmer zurückgezogen hat (2 Kön 4,11), bittet er Gehasi, die Hausherrin zu rufen (2 Kön 4,12a). Als diese dann erscheint (2 Kön 4,12b), richtet er seine Rede nicht direkt an die Gerufene, sondern kommuniziert quasi „über Bande“,164 indem er Gehasi auffordert, die Schunemiterin danach zu fragen, wie er sich für die ihnen gewährte Gastfreundschaft erkenntlich zeigen könne.165 Auf seinen – durch Gehasi vorgebrachten – Vorschlag, dass er sich beim König für sie verwenden könne, antwortet die Schunemiterin abschlägig, wobei offen bleibt, ob die Worte: „Ich wohne inmitten meines Volkes“ (2 Kön 4,13), nur an Gehasi oder an beide Männer gerichtet sind.166 In dieser Passage der Erzählung überlässt es der Erzähler seiner Leserschaft, sich die räumlichen Verhältnisse, innerhalb derer sich die Kommunikation von Elisa, Gehasi und der Schunemiterin abspielt, so vorzustellen, dass die Handlung logisch nachvollziehbar bleibt. Um einen kohärenten Erzähltext zu erhalten, müssen die Leerstellen, die sich angesichts der ungenauen räumlichen Angaben des Erzählers auftun,167 mit außertextuellem Wissen über die Bauweise von Obergemächern168 im Alten Israel 163
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Die ältere Forschung hat aufgrund dieser auffälligen Kommunikationssituation die Verse 2 Kön 4,12–15a für sekundär gehalten, vgl. WÜRTHWEIN, Könige, 290; SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4,8–37, 287, und SAUERWEIN, Elischa, 48–51. Das erklärt allerdings nicht, warum die Redaktion letzter Hand diesen „schwierigen Textbefund“ (SAUERWEIN, Elischa, 49) hat stehen lassen. Vgl. RONCACE, Elisha, 112–120, der die Kommunikation zwischen Elisa und der Schunemiterin, in der Gehasi „as an intermediary“ (a. a. O., 112) fungiert, sorgfältig nachzeichnet. PIETSCH, Prophet, 361, erklärt im Anschluss an SCHMITT, Elisa, Anm. 123, 98, dass „die Redeeinleitung in V. 13a plusquamperfektisch wiederzugeben“ sei, indem er für 2 Kön 8,13a von der „Annahme eines nachholenden Erzählstils“ ausgeht. Aber auch Pietsch nimmt an, „dass Elischa zunächst nicht selbst mit der Frau spricht, sondern Gehasi zu ihr schickt“ (ebd.). Gegen diese zeitliche Vorverlegung von 2 Kön 4,13a spricht, dass sie keinen Widerhall in den LXX-Rezensionen gefunden hat, die im Falle von 2 Kön 4,8–37 bis auf wenige Ausnahmen sehr eng am hebräischen Text bleiben. Vgl. PARKER, Vulnerable, Anm. 19, 143. Vgl. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 283: „Zwischen V. 12 und V. 15 besteht eine Spannung, denn mit V. 15 läßt Elischa die Schunemiterin erneut rufen, worauf diese auch erscheint, obgleich sie doch bereits mit V. 12 zitiert wurde und aufgetreten ist. Über ein eventuelles Abtreten der Frau von der Szenerie in der Zwischenzeit wurde der Leser nicht informiert.“ Vgl. die Überlegungen zu den baulichen Gegebenheiten des Obergemachs, das Elia gemäß 1 Kön 17,17–24 bei der Witwe zu Sarepta bewohnt, in Anm. 53, 25. In Bezug auf Elisas Oberzimmer ist zu ergänzen, dass dieser Raum den extratextuellen baulichen Gegebenheiten der erzählten Zeit entsprechend entweder „by an exterior stone staircase or an interior
52 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen gefüllt werden. Greift man auf „reale“ architektonische Sachverhalte zurück und kombiniert sie mit den topologischen Angaben des Erzählabschnittes, lässt sich die Positionierung der einzelnen Erzählfiguren folgendermaßen konstruieren: Elisa befindet sich innerhalb des Obergemaches, das gemäß 2 Kön 4,21.33 als ein Raum vorgestellt werden muss, der über eine Tür verfügt. Es liegt somit nahe zu vermuten, dass dieser Raum über eine gemauerte Außentreppe zu erreichen ist. Elisa hat sich bereits schlafen gelegt (2 Kön 4,11), also liegt er im Bett bzw. auf seiner Liege. Wenn die Frau dann, von Gehasi gerufen, „vor ihn hintritt“, ist davon auszugehen, dass sich das Personalpronomen auf den Diener, nicht auf den Herrn bezieht.169 Vorstellbar ist, dass Gehasi in der Tür stehend nach unten gerufen und dass sich die Hausherrin vom Erdgeschoss auf die Treppe zum Obergemach begeben hat und vor Gehasi steht. Sie weiß dann zwar, dass Elisa im Raum ist, kann ihn aber nicht sehen, weil sein Diener ihr die Sicht auf seinen Herrn versperrt. Es ist bei dieser räumlichen Konstellation somit möglich, dass ihre Antwort in 2 Kön 4,13: „Ich wohne inmitten meines Volkes“, von beiden Männern gehört werden kann.
Statt der Schunemiterin direkt zu antworten, wählt Elisa darauf noch einmal das Mittel der indirekten Kommunikation, indem er Gehasi danach fragt, was für die Frau als Gegengabe für ihre Gastfreundschaft getan werden könne. Daraufhin erfährt er von seinem Diener, dass seine Gastgeberin keinen Sohn hat (und – so ist zu ergänzen – wohl auch keinen mehr bekommen wird), da ihr Mann alt ist. Nachdem Elisa diese Information von seinem Diener erhalten hat, die ja wohl nicht anders zu deuten ist, als dass der Ehemann aufgrund seines Alters als nicht mehr zeugungsfähig angesehen wird, fordert er Gehasi ein weiteres Mal auf, die Frau zu rufen. Sinnvoll in den Handlungsverlauf integrieren lässt sich diese Aufforderung nur, wenn inferiert wird, dass Elisa die Schunemiterin noch näher an sich heranrufen möchte. Dem zweiten Ruf des Dieners leistet die Frau Folge, indem sie in bzw. an die Tür tritt (2 Kön 4,15)170 – zu ergänzen ist: nachdem sie zuvor noch auf der Treppe gestanden hat. Während sie in bzw. an der Tür steht, sich also auf der Schwelle zum Zimmer befindet, kommt es dann das einzige Mal innerhalb der gesamten Erzählung zu einer direkten Kommunikation zwischen der Schunemiterin und dem Gottesmann. Diesem ersten Gesprächskontakt zwischen Gast und Gastgeberin geht eine lange Phase der kontinuierlichen räumlichen Annäherung voraus. Anschließend wendet sich Elisa direkt an die Frau, indem er ihr verkündet: „Im nächsten Jahr um diese Zeit wirst du einen Sohn umarmen“ (2 Kön 4,16a).
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wooden ladder“ (KING/STAGER, Life, 34) erreicht werden kann. Vgl. zu den räumlichen Gegebenheiten auch: STAGER, Archaeology, 16. Sowohl im Hebräischen ( )ְלָפָניוals auch im Griechischen (ἐνώπιον αὐτοῦ) ist die grammatische Zuordnung des Personalpronomens in 2 Kön 4,12 nicht eindeutig. Gemäß dem Masoretischen Text ( )ַבָּפַּתחund der kaige-Rezension (παρὰ τὴν θύραν) tritt die Frau „in die Tür“, laut dem Antiochenischen Text „an die Tür des Hauses“ (παρὰ τὴν θύραν τοῦ οἴκου). Die Verfasser dieser Version konnten sich wohl nicht vorstellen, dass ein Obergemach über eine eigene Tür verfügt und verlegten deshalb den Standort der Frau an die Eingangstür des Hauses.
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An dieser Stelle kann vermutet werden, dass Gehasi während dieses direkten Dialoges zwischen der Hausherrin und dem Gast nicht mehr im Türrahmen steht, sodass die beiden in dieser Gesprächsphase Blickkontakt haben können.
Die Antwort, welche die Schunemiterin dem Gottesmann auf seine direkt an sie gerichteten Worte gibt, lautet gemäß dem Masoretischen Text: „Nicht doch, mein Herr, Mann Gottes, belüge deine Magd nicht!“ (2 Kön 4,16b). Für gewöhnlich wird in der Auslegung dieser Stelle die verneinte Piel-Form ַאל־ְתַּכֵזּבvon der Wurzel כזבI abgeleitet171 und dann mit „täusche nicht“ übersetzt. So verstehen offensichtlich auch die beiden LXX-Rezensionen ihre Vorlage, wenn sie den hebräischen Ausdruck entweder mit μὴ διαψεύσῃ (kaige) oder μὴ ἐκγελάσῃ (Ant.) übersetzen.172 Christoph Uehlinger hat jedoch darauf hingewiesen, dass die im Hebräischen vorliegende Verbform auch als „KZB II pi.“173 interpretiert werden kann. In „Verbindung mit der Präposition be [... legt sich dann die] wörtliche Übersetzung ‚schmeichle nicht mit deiner Dienerin‘ oder ‚beschmeichle deine Dienerin nicht‘ nahe[...]“174. Da die Wurzel כזבII sexuell konnotiert ist,175 kann die Aussage der Schunemiterin auch dahingehend verstanden werden, dass sie befürchtet, der vor ihr auf seinem Bett liegende Gottesmann könne sexuell übergriffig werden. Dieser Interpretationsansatz liegt nahe, weil abgesehen von der Semantik auch die gewählte grammatische Konstruktion in 2 Kön 4,16b mit der doppelten Verneinung „Nein, [...] nicht“ das Verständnis dieser wörtlichen Rede in diese Richtung lenkt: „Ein so entschiedenes doppeltes Nein gibt es nur noch an zwei anderen Stellen im Ersten Testament (Ri 19,23; 2 Sam 13,12), und beide Male soll damit eine Vergewaltigung verhindert werden!“176 171 172
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Vgl. KÖHLER-BAUMGARTNER, 446, s. v. כזבI. Diese Interpretation wird gestützt durch die Beobachtung, dass die Erzählpassage von der Geburtsankündigung an die Schunemiterin intertextuelle Bezüge zu Gen 18,9–15 aufweist. Hier ist es Sara, die daran zweifelt, noch ein Kind bekommen zu können; vgl. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 302; HEPNER, Crowd, 389f. Zu weiteren Parallelen zwischen Gen 18 und 2 Kön 4 vgl. weiter unten. UEHLINGER, Totenerweckungen, 21. Vgl. KÖHLER-BAUMGARTNER, 446, s. v. כזבII; LUTZKY, Cozbi, 547: „The Semitic root kzb has two related forms (possibly antonyms): I ‚to lie, deceive, disappoint, fail (water)‘ and II ‚to be voluptuous, luxuriant, abundant (including water)‘; ‚to be magnificent‘.“ UEHLINGER, Totenerweckungen, 21. LUTZKY, Cozbi, 547, zufolge kann aufgrund der sexuellen Konnotation von כזבII in Num 25,15.18 der Name der Midianiterin, ָכְּזִבּי, als sprechender Name interpretiert werden – wird sie doch nach dem Sexualverkehr mit einem Israeliten zusammen mit diesem von Pinhas getötet, denn: „Cozbi derives from kzb II“ (ebd.). UEHLINGER, Totenerweckungen, 21; vgl. SHIELDS, Subverting, 62. Zu bedenken ist allerdings, dass die doppelte Verneinung bei der Modell-Leserschaft, die im Alten Israel zu verorten ist, nicht den modernen „Nein-heißt-Nein“-frame evoziert, der sich insbesondere im Kontext der „Me-too“-Debatte des 21. Jh.s konstituiert hat. Wie KAWASHIMA, „No“, 2, deutlich herausarbeitet, war eine verheiratete Frau im Alten Israel, die sexuell belästigt wurde, nicht konzeptualisiert „as an autonomous subject whose rights (i.e. the right to refuse a sexual advance) must be protected, but as an object within the domain of her husband“.
54 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Es gibt noch ein weiteres Indiz dafür zu erwägen, nach diesem ersten direkten Wortwechsel zwischen der Schunemiterin und Elisa sei es zu einem sexuellen Kontakt zwischen beiden gekommen. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Worte, mit denen der Gottesmann avisiert, die vor ihm stehende Frau werde im nächsten Jahr ein Kind umarmen können, an die Geburtsankündigungen erinnern, die auch Sara(h) (Gen 18,10.14), die Frau des Manoach (und spätere Mutter des Simson) (Ri 13,3.5.7) und Hanna, die Mutter des Samuel (1 Sam 1,17), erhalten. Bei diesen drei Genannten handelt es sich allerdings um Frauen, die aufgrund eigener Unfruchtbarkeit177 nicht schwanger geworden sind (vgl. Gen 18,12.13; Ri 13,2.3; 1 Sam 1,5.6), wohingegen die Tatsache, dass die Schunemiterin keinen Sohn hat, auf das Alter ihres Ehemannes zurückgeführt wird. Die Schwangerschaften Sarahs und Hannas werden explizit als Ergebnis der Zeugungsaktivitäten des Abraham (Gen 18,12) und des Elkana (1 Sam 1,19) präsentiert. Dass es dann aber tatsächlich zur Empfängnis und schließlich zur Geburt eines Sohnes kommt, basiert letztendlich in allen Fällen auf dem Eingreifen JHWHs.178 Auch in diesen letzten beiden Punkten unterscheidet sich das SchwangerWerden der Schunemiterin von der Empfängnis ihrer intertextuellen Parallel-Figuren. Wer den Zeugungsakt in der erzählten Welt von 2 Kön 4,8–37 vollzogen hat, wird vom Erzähler nicht berichtet. Von einer Beteiligung JHWHs am Zustandekommen der Schwangerschaft ist keine Rede, auch eine göttliche Billigung dessen, was mit der Schunemiterin geschieht, geht aus dem Erzählten nicht hervor: „God is conspicuously absent in the interchange between [... Elisa] and the Shunammite woman.“179
Der Erzähler überlässt es somit seiner Leserschaft, aus den Redeinhalten der Figuren in Kombination mit der räumlichen Konstellation der Handlung und den intertextuellen Gemeinsamkeiten mit und Unterschieden zu anderen Geburtsankündigungen180 Schlüsse zu ziehen. An keiner Stelle des Textes wird explizit ausgesprochen, dass es zu einem sexuellen Kontakt zwischen Gast und Hausherrin gekommen ist.181 Die Rezipierenden können sich zwar bis zum Dialog
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Aus Dtn 22,24 geht unmissverständlich hervor, dass im Falle der Vergewaltigung einer verlobten Frau „the victim, then, is the husband (or fiancé) of the crime’s object (wife)“ (a. a. O., 16). – Vgl. auch BLENKINSOPP, Family, 63, der in Bezug auf die Sexualgesetze im Alten Israel feststellt: „what is most striking is the extent to which they were designed to protect the economic interests of either the woman’s father or her husband, depending on whether she was single or married.“ Somit ist zu vermuten, dass die intertextuellen Übereinstimmungen von Ri 19,23; 2 Sam 13,12 und 2 Kön 4,16b bei der Modell-Leserschaft nicht so sehr Empörung darüber auslösen, dass Elisa als „Herr“ und „Mann Gottes“ seine Machtposition ausnutzt und seine Gastgeberin zum – wohl nicht einvernehmlichen – Geschlechtsverkehr nötigt. Im Fokus der Wahrnehmung steht eher, dass nicht der alte Ehemann, sondern der virile Mann Gottes für die Zeugung des Sohnes infrage kommt. Andere unfruchtbare Frauen, die aufgrund des Eingreifens JHWHs letztlich dann doch schwanger werden und einen Sohn gebären, sind Rebekka (Gen 25,21) und Rahel (Gen 30,22–24). Vgl. Gen 21,1.2; Ri 13,23.24a; 1 Sam 1,19b.20. SHIELDS, Subverting, 63. Auch STIPP, Vier Gestalten, 52, verweist darauf, dass die „Sohnesverheißung [...] ganz ohne Rekurs auf JHWH“ erfolgt. SHIELDS, Subverting, 63, sieht in 2 Kön 4,11–16 „a parody of the annunciation type-scene“ vorliegen; ähnlich HEPNER, Crowd, 388. PIETSCH, Prophet, 360, kommt zu einer kohärenten Interpretation, ohne dem Elisa die Vaterschaft des Kindes zu unterstellen. Seiner Ansicht nach wird die Geburt des Kindes hier
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zwischen Elisa und Schunemiterin aufgrund des vom Erzähler gewährten showing gleichsam als unmittelbare Zeugen des Erzählten verstehen. Nach dem direkten Wortwechsel zwischen der Frau und ihrem Gast wird den Lesenden dann aber der genaue Einblick in das Geschehen verwehrt, da der Erzähler vom showing ins telling umschwenkt. Eine Antwort des Elisa auf den Einwand der Frau fehlt. Der Erzähler informiert in 2 Kön 4,17 im narrativen Modus lediglich darüber, dass die Frau tatsächlich schwanger wird und einen Sohn gebiert. Erzählzeit und erzählte Zeit divergieren von diesem Punkt der Erzählung an stark, mit wenigen Worten wird der Zeitraum von Empfängnis, Geburt und ersten Lebensjahren des Kindes überbrückt. Die Rezipierenden müssen zu ihren eigenen Schlussfolgerungen kommen: In der Eingangssequenz dieses Abschnittes ist vom hohen Alter des Ehemannes die Rede, das in einem Zusammenhang mit der Kinderlosigkeit seiner Ehefrau steht. Elisa wird in seinem Schlafgemach auf seinem Bett liegend präsentiert. Aus dieser Konstellation lässt sich hinsichtlich der Schwangerschaft der Schunemiterin deduzieren: pater semper incertus est.182 Der weitere Verlauf der Handlung wird allerdings – wie im Folgenden zu zeigen ist – die Zweifel an der Vaterschaft des Ehemannes nicht ausräumen können. Der vierte Abschnitt (2 Kön 4,18b–25a) knüpft zeitlich genau da an, wo die dritte Sequenz geendet hat: beim mittlerweile herangewachsenen Knaben. Das Erzähltempo, das sich zuletzt stark verlangsamt hatte, zieht jetzt wieder deutlich an: 183 der Erzähler nimmt nicht mehr den Zeitraum mehrerer Jahre, sondern
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„nur zu dem Zweck berichtet, es gleich wieder sterben zu lassen und Elischa als ‚heiligen Gottesmann‘ (vgl. V. 9a) zu erweisen. Darauf deutet bereits der Einwand der Frau in V. 16b hin, Elischa möge sie nicht täuschen (kzb I Pi.), d. h. ihr keine leeren Versprechungen machen. Der Vorwurf des Trügerischen kehrt in V. 28 wieder, wenn die Schunemiterin dem Gottesmann ihre früheren Bedenken in Erinnerung ruft, er möge ihr keine (trügerische) Ruhe gewähren (šlh Hif.). Das Eintreffen der Geburtsankündigung ist mit dem Verlust des Kindes infrage gestellt – beides gehört in der Erzählung zusammen. [...] Erst mit der Auferweckung des Kindes und der Rückgabe an seine Mutter kommt die Erzählung zu ihrem endgültigen Abschluss.“ Dass dieses eigentlich anachronistische lateinische Bonmot durchaus wiedergibt, was auch Männer im Alten Israel ihren Frauen unterstellt haben, zeigen die in Num 5,11–31 beschriebenen Abläufe: „the woman suspected of ‚impurity‘ consecutive to adultery is brought by her husband to the sanctuary where the priest gives her a potion to drink. The potion is supposed to have a ‚cursing‘ effect only if the husband’s suspicion is justified“ (AMZALLAG/YONA, Sotah, 384). Bezeichnend ist die Benennung des gesamten Verfahrens als „Ordnung“ bei Eifersucht ([ ַהְקָּנֹאתergänze: des Ehemannes]) in Num 5,29. MCKANE, Poison, 474, sieht somit folgenden „Sitz im Leben“ für die in Num 5,11–31 beschriebenen Vorgänge: „We have to suppose a situation where a woman is pregnant and her husband has doubts whether he is the father of the child: this is the nature of his jealousy.“ Die einzig fixe Zeitangabe macht der Erzähler in 2 Kön 4,20, wenn er davon spricht, dass das Kind am Mittag verstirbt. SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 297, schlussfolgert aus dieser Angabe, dass sich das Geschehen bis zum Tod des Kindes „streng genommen nur über einen halben Tag [ersteckt], denn der Junge stirbt gegen Mittag und die Ereignisse im Anschluß an seinen Tod finden in der zweiten Tageshälfte statt.“
56 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen nur die Zeitspanne mehrerer Stunden in den Blick. Darauf, was in diesem kurzen Zeitraum im Einzelnen geschieht, wird noch zurückzukommen sein. Während sich somit der Erzählzeitraum verkleinert, kommt es hinsichtlich des in den Blick genommenen Aktions-Raumes zu einem mehrfachen Wechsel zwischen Ausweitung und Diminution: die Handlung spielt zunächst auf den Äckern des Ehepaares aus Schunem (2 Kön 4,18b.19), dann – so ist zu implizieren – im Haus (2 Kön 4,20), darauf im Obergemach (2 Kön 4,21), anschließend auf dem Grundstück (2 Kön 4,22f.), danach auf der Wegstrecke zum Berg Karmel (2 Kön 4,24.25aα) und schließlich am Fuße des Berges Karmel. Der Erzähler wählt wiederum den dramatischen Modus. Bis auf die neu in die Erzählhandlung eingeführten Knechte des Ehemannes erhalten alle anderen handelnden Figuren dieses Abschnittes eine Figurenrede: Der Sohn klagt über Kopfschmerzen (2 Kön 4,18). Der Mann der Schunemiterin weist zum einen seinen Knecht an, das kranke Kind zu seiner Mutter zu bringen (2 Kön 4,19), zum anderen stellt er eine Rückfrage, nachdem ihm seine Frau angekündigt hat, dass sie zum Gottesmann aufbrechen wolle. Den größten Anteil an den Figurenreden erhält die „große Frau“: sie informiert ihren Ehemann über ihre Absicht, den Elisa aufzusuchen, hält ihn dann im Ungewissen darüber, warum sie sich auf den Weg dorthin macht und mahnt danach ihren mitreitenden Knecht zur Eile. Die narratologische Spannung, die der Erzähler in diesem Abschnitt auf der discourse-Ebene durch das hohe Erzähltempo, den weiten Erzählraum184 und die ständig wechselnden Figurenreden erzeugt, korreliert mit der ereignisreichen Handlung der story. Zunächst einmal ist auf die Krankheit und das Versterben des Sohnes einzugehen. Dass sich die Mutter ihres erkrankten Kindes annimmt, interpretiert die Modell-Leserschaft als ein völlig selbstverständliches Verhalten der Frau. Die Versorgung und Pflege erkrankter Familienmitglieder fiel im Alten Israel für gewöhnlich in den Aufgaben- und Kompetenzbereich weiblicher Familienmitglieder.185 Der tödliche Ausgang dieser Krankheit wird vom Erzähler ohne jedes besondere Pathos konstatiert (ַוָיֹּמת/ἀπέθανεν; 2 Kön 4,20). Wie bereits in den Ausführungen zu 1 Kön 17,17–24 dargestellt, müssen Krankheiten von Kindern, die einen tödlichen Ausgang nehmen, im Alten Israel zu den Alltagsphänomenen 184
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„Der Weg von Schunem [...] zum Gebirgszug des Karmel führt einmal quer durch die Jesreel-Ebene“ (PIETSCH, Prophet, Anm. 91, 362). Vgl. AVALOS, Illness, 251: „[I]n ancient Israel, as in Mesopotamia, it appears that the home was the only or main locus of health care for most of the duration of an illness.“ Die Krankenversorgung durch Frauen belegen innerhalb des deuteronomistischen Geschichtswerkes (abgesehen von 2 Kön 4,8–37) folgende Figuren: Michal, die vorgibt, ihren kranken Mann David zu pflegen, aber nur eine „Attrappe“ in ihrem Bett aufbewahrt (1 Sam 19, 13–16); Tamar, die sich der vorgetäuschten Krankheit ihres Bruders Amnon annimmt (2 Sam 13), der sich zu Hause im Bett liegend von seiner Schwester pflegen lässt. AVALOS, Illness, 253, verweist auf folgende Ausnahme: „home care was not the accepted procedure for illnesses such as ‚leprosy‘ [...]. Even a king struck with ‚leprosy‘ could be forced to live in a special dwelling“; vgl. 2 Chr 26,20f.
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einer Gesellschaft gerechnet werden, die im Hinblick auf medizinisches Wissen und Hygiene noch nicht den Stand moderner Gesellschaften erreicht hat. Wenn die Schunemiterin ihr Kind, nachdem es auf ihrem Schoß verstorben ist, nicht für die Beerdigung vorbereitet und betrauert, sondern stattdessen seinen Tod für sich behält und seinen Leichnam auf dem Bett des Gottesmannes ablegt, die Tür hinter ihm schließt und sich zielstrebig auf den Weg zu Elisa macht, stellt dies jedoch ein äußerst ungewöhnliches Verhalten dar.186 Zu ihrer Eigenständigkeit und ihrem Selbstbewusstsein, das vor allem zu Beginn der Erzählung deutlich geworden ist, passt zwar, dass sie ihrem Mann auf seine Nachfrage, warum sie denn zum Berg Karmel aufbrechen wolle, die ausweichende Antwort „Schalom“ gibt. Daraus, dass ihr Mann ob ihrer Absicht, sich zum Gottesmann zu begeben, stutzig wird, weil ja weder Neumond noch Sabbat sei,187 ist zu erschließen, dass der Kontakt zwischen der Schunemiterin und dem Elisa seit der Geburt des Kindes nicht abgebrochen ist – offensichtlich fand er aber nur im Rahmen religiöser Zeremonien statt. Für die Leserschaft bleibt jedoch zunächst völlig offen, warum sich die Frau in dieser Situation, statt ihr Kind zu betrauern und zu begraben, auf den Weg zu Elisa macht. Im fünften, längsten und letzten Abschnitt der Erzählung (2 Kön 4,25b–37) tritt der Ehemann der Schunemiterin nicht mehr in Erscheinung. Die Handlung wird getragen von den Figuren Elisa, Gehasi, der Schunemiterin und dem Kind. Als neue Figur kommt JHWH hinzu: zweimal innerhalb von Figurenreden als einer, über den gesprochen wird (2 Kön 4,27.30), das andere Mal als derjenige, an den sich der Gottesmann im Gebet wendet – und der dann vermittels einer ritualsymbolischen Handlung des Mittlers Elisa am Ende doch noch in die Handlung eingreift. Die Erzählung zieht die Leserschaft weiterhin durch ein hohes Erzähltempo, schnell aufeinander folgende Figurenreden und ungewöhnliche Handlungen in ihren Bann. Zu Beginn des Abschnittes zeigt der Erzähler darüber hinaus noch eine bisher ungenutzte narratologische Variante, indem er kurz seine auktoriale Perspektive ablegt und die personale Sichtweise des Gottesmannes auf das Geschehen einnimmt.188 Elisa steht in erhöhter Position auf dem Berg Karmel und sieht, wie sich die Schunemiterin nähert, dann beauftragt er seinen Diener Gehasi damit, in Erfahrung zu bringen, ob es ihr gut gehe (2 Kön 4,25–26). Durch diesen Perspektivwechsel gelingt es dem Erzähler, die Aufmerksamkeit der Rezipierenden, die zwischenzeitlich schwerpunktmäßig auf der Schunemiterin lag, wieder stärker auf Elisa zu richten. Aus auktorialer Perspektive wird anschließend erzählt, wie die Schunemiterin bei Elisa ankommt, seine Füße umfasst und 186
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Vgl. zu den in antiken Gesellschaften üblichen Trauerritualen die Ausführungen im Abschnitt zu Jos. Ant. 8,325–327 auf S. 84–86. Vgl. SAUERWEIN, Elischa, Anm. 129, 50: „Auch in anderen Texten, die in vorexilischer Zeit spielen, finden wir beide Tage nebeneinander genannt: Am 8,5; Hos 2,13; Jes 1,13. Sie sollten als Ruhetage dienen: Ex 20,8–10; 23,12; 34,21; Dtn 5,12–15.“ Vgl. STIPP, Vier Gestalten, 49.
58 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Gehasi versucht, sie wegzustoßen (2 Kön 4,27a.b). Statt sich nach dieser ausdrucksstarken körpersprachlichen Geste189 direkt an die seine Füße umfasst haltende Frau zu wenden, nimmt Elisa wieder die indirekte Form der Kommunikation auf, die der Leserschaft schon aus dem dritten Abschnitt der Erzählung vertraut ist. Er unterbindet Gehasis Abwehrreaktion mit den Worten: „Lass sie, denn ihre Seele ist bekümmert und JHWH hat es vor mir verborgen und mir nicht mitgeteilt“ (2 Kön 4,27c). Was Elisa an dieser Stelle explizit ausspricht, hat die Leserschaft schon vor ihm bemerkt: dass er als „heiliger Mann Gottes“ im bisherigen Verlauf der Handlung weder im Auftrage JHWHs gehandelt noch bei seinen Aktionen um den Beistand seines Gottes gebeten hat. Wie auch immer die Schwangerschaft der Schunemiterin zustande gekommen sein mag – der Text enthält keinerlei Hinweise darauf, dass JHWH im Hinblick auf Zeugung und Geburt des Sohnes in die Erzählhandlung eingegriffen hätte. Auch der Tod des Kindes wird – anders als in der parallelen Elia-Erzählung – nicht auf eine göttliche Intervention zurückgeführt. Die Schunemiterin versucht in dieser Situation, einen unmittelbaren Wortwechsel mit Elisa zu initiieren, indem sie ihn direkt anspricht und an die Geschehnisse vor der Zeugung und der Geburt des Kindes erinnert. Bemerkenswert ist, dass sie in diesem Augenblick, in dem ihr totes Kind unbestattet auf dem Bett des Gottesmannes liegt, diesen nicht über den Tod des Jungen informiert. Stattdessen richtet sie ihren Blick in die Vergangenheit und stellt unmissverständlich klar (2 Kön 4,28a), dass nicht sie es war, die – als Ehefrau eines alten Mannes – vor Elisa einen Kinderwunsch geäußert hat. (Die Leserschaft ergänzt: Diese Idee stammte von Gehasi und wurde von Elisa bereitwillig aufgegriffen.) Christoph Uehlinger zufolge ist der zweite Teil ihrer Figurenrede in 2 Kön 4,28b eine direkte Wiederaufnahme ihrer abwehrenden Worte aus 2 Kön 4,16. Wird die hebräische Verbform ַתְשֶׁלהals Kausativ von שלהhi. gedeutet, muss in der 189
In der Sekundärliteratur wird häufig darauf verwiesen, dass im Alten Israel die Rede vom Umfassen der Füße eines Mannes durch eine Frau als Euphemismus für eine sexuelle Handlung verstanden werden konnte; vgl. Ex 4,25; Jes 6,2. STIPP, Vier Gestalten, 50f., verweist darauf, dass Gehasis „grobes[s] Dazwischenfahren“ als Reaktion auf eine „anstößige Grenzverletzung“ gedeutet werden könne. Auch UEHLINGER, Totenerweckungen, 22, zählt „das energische Packen der Füße des Gottesmannes durch die Schunemiterin (wobei zu bedenken ist, daß mit den ‚Füßen‘ eines Mannes im Hebräischen seine Geschlechtsorgane bezeichnet werden können)“ zu den „Zweideutigkeiten“ (ebd.) dieser Erzählung. In der Tat verwendet z. B. König David diesen Euphemismus, wenn er den Ehemann der Bathseba, die von ihm – dem König – schwanger ist, mit den Worten „Geh hinab in dein Haus und wasch deine Füße“, zum Vollzug des ehelichen Verkehrs mit Bathseba schickt, um den nicht folgenlos gebliebenen Ehebruch zu vertuschen. Im Kontext von 2 Kön 4,25b–37 ist es angesichts des tot im Hause der Schunemiterin liegenden Kindes eher unwahrscheinlich, dass das Umfassen der Füße metaphorisch – und somit quasi als Versuch der Wiederaufnahme einer sexuellen Beziehung – verstanden werden soll. Die Modell-Leserschaft wird diese Geste vielmehr als „one of submission and entreaty“ (MCKENZIE, Kings, 287) gedeutet haben, vergleichbar mit dem Fußfall der Ester vor König Ahasveros (Est 8,3).
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deutschen Übersetzung eine Form von „,jemanden in den Zustand des Wohlbefindens und der Behaglichkeit versetzen‘“190 gewählt werden. Die Übersetzung des hebräischen Textes lautet dann: „,Habe ich nicht gesagt: du wirst es mir nicht wohlig machen!?‘“.191 Dieses Textverständnis impliziert, dass die Figurenrede der Frau „noch einmal auf ihren Widerstand Bezug nimmt [... und] keinen Zweifel daran [lässt], daß die Frau den Gottesmann für die Geburt des Kindes verantwortlich macht“192. Statt der Schunemiterin auf ihre direkte Anklage hin eine ebenso direkte Antwort zu geben, flüchtet sich Elisa wieder in die indirekte Kommunikation, indem er mit seinem Diener und nicht mit der Frau spricht. Er erteilt Gehasi den Auftrag, den Stab seines Herrn auf das Gesicht des Jungen zu legen. Eine Erläuterung, was es mit dieser Handlung auf sich habe, gibt er nicht.193 Der Erzähler lässt es offen, ob der Gottesmann aus der Figurenrede der Mutter erschlossen haben könnte, dass der Junge gestorben ist. Der Text enthält auch keine Indizien dafür, dass Gehasi die Vermutung hegt, zu einem toten Kind aufzubrechen. Die Leserschaft wird ebenfalls im Ungewissen über Sinn und Zweck der Aktion gelassen. Da aufgrund der aktuellen Quellenlage keine Parallelstellen bekannt sind, aus denen hervorgehen könnte, auf welches Ritual Elisa mit seiner Anordnung an Gehasi Bezug nimmt, lässt sich die „Stab-Aktion“ einzig aus narratologischer Perspektive interpretieren: sie dient als retardierendes Moment zur Steigerung der Spannung. Mit der Entsendung des Gehasi zum Kind schildert der Erzähler in 2 Kön 4,30 und 2 Kön 4,31 zwei parallel zueinander ablaufende Ereignisse: das folgenlos bleibende Handeln des Gehasi am Leichnam und die Rückkehr des Dieners zu seinem Herrn sowie den zeitversetzten Aufbruch des Elisa zusammen mit der Mutter des Jungen nach Schunem. Da parallel verlaufende Handlungen beim Erzählen sukzessive dargestellt werden müssen, beschreibt der Erzähler zunächst, was sich auf dem Berg Karmel abspielt, nachdem Gehasi aufgebrochen ist: Die Schunemiterin nötigt den Gottesmann mit denselben Worten, die schon Elisa selbst Elia gegenüber bei dessen Entrückung verwendet hat (2 Kön 2,2.4.6), mit ihr zu kommen. Indem die Schunemiterin den Elisa so anspricht, wie dieser seinen Vorgänger angeredet hatte, bringt sie der Leserschaft ins Bewusstsein, dass es sich bei dem Angesprochenen um den Nachfolger eines Propheten und 190
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192 193
UEHLINGER, Totenerweckungen, 22. A. a. O., Anm. 8, 22, verweist er auf „die analoge Verwendung der Wurzel im ugaritischen Keret-Epos ášlw bspcnh ‚ich werde behaglich sein/Ruhe finden im Glanzblick ihrer Augen‘ im Kontext eines erotischen Gedichts (KTU 1.14 III 45).“ UEHLINGER, Totenerweckungen, 22. – Die griechischen Versionen verstehen 2 Kön 4,28b analog zu 2 Kön 4,16. UEHLINGER, Totenerweckungen, 22. BRONNER, Stories, 105, deutet die Anweisung Elisas folgendermaßen: „The prophet ordered his staff to be laid on the boy, as a sign of authority, that no one dare to remove it to a tomb.“
60 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Gottesmannes handelt. Dies ist ein erstes Indiz dafür, dass die Erzählung von diesem Punkt der Handlung an in ein „theologischeres Fahrwasser“ gerät. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass durch die Schwurformel, welche die Frau verwendet, JHWH als „aktive Instanz“ in das Figurenensemble eingeführt wird. Bisher war durch die Figurenrede Elisas (2 Kön 4,27) nur die „göttliche Inaktivität“ zum Ausdruck gebracht worden. Des Weiteren ist festzustellen, dass an dieser Stelle „die Benennung [der Frau als] ‚die Mutter des Jungen‘ in V. 30a“194 gegenüber ihrer sonstigen Bezeichnung als „die/diese Schunemiterin“ (2 Kön 4,12.25.36) heraussticht, die von Elisa verwendet wird, bzw. als „die Frau“, welche der Erzähler in 2 Kön 4,8.17 wählt. Nur einmal ist im bisherigen Verlauf der Erzählung auf die Frau als „Mutter“ referiert worden, und zwar in 2 Kön 4,20 – an der Stelle, an welcher davon berichtet wird, wie das kranke Kind zu ihr gebracht wird und sie sich rollenkonform des Kranken annimmt. Dass der Erzähler die letzte wörtliche Rede, welche die Schunemiterin an Elisa richtet, einleitet, indem er sie als „Mutter des Jungen“ bezeichnet, lässt sich verstehen als ein Hinweis darauf, dass ab diesem Zeitpunkt des Handlungsverlaufes Elisa und die Schunemiterin nicht mehr in ihrer Eigenschaft als Mann und Frau, welche die dunkle Erinnerung an ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis miteinander teilen, konzeptualisiert sind. Nachdem Elisa der Schunemiterin auf ihre direkte Ansprache in 2 Kön 4,28, die auf die Ereignisse vor der Geburt des Sohnes Bezug nimmt, nicht geantwortet hat, wird die Beziehung der beiden nun unter anderen Vorzeichen beschrieben. Die Frau tritt jetzt nicht mehr in eigener Sache auf, sondern nur noch als Anwältin ihres Kindes. Zwar antwortet Elisa auch auf die letzten beschwörenden Worte der Mutter nicht verbal, aber er zeigt eine nonverbale Reaktion: er macht sich auf und geht hinter der Frau her (2 Kön 4,30) – zu ergänzen ist: in Richtung des Obergemachs, wo der Junge liegt, von dessen Tod er bisher noch keine explizite Kenntnis hat. Von diesem Zeitpunkt der Erzählung an sind Elisas Handlungen nicht mehr auf die Frau hin ausgerichtet, sondern zielen nur noch auf das Kind ab. Wenn er ganz am Ende der Erzählung noch ein letztes Mal eine direkte Rede an die Schunemiterin richten wird (2 Kön 4,36b), spricht er sie ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Mutter eines Kindes an und zeigt kein Interesse mehr an ihrer eigenen Befindlichkeit, wie das noch in dem Moment der Fall war, als sie zu ihm auf den Berg Karmel kam (2 Kön 4,25–27). Der von Elisa vorausgeschickte Gehasi, der dann mit einem gewissen zeitlichen Vorsprung im Haus der Schunemiterin ankommt, kann in der Zwischenzeit mit dem Stab des Gottesmannes, den er auf das Gesicht des darniederliegenden Jungen legt, nichts ausrichten. Der Erzähler beschreibt die ausbleibende Reaktion des toten Kindes detailgenau: „da war keine Stimme und kein Aufmerken“ (2 Kön 4,31; MT). Darüber, dass sein Einsatz erfolglos geblieben ist, informiert
194
SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 284.
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61
der Diener seinen Herrn umgehend, indem er ihm entgegengeht und vermeldet: „Der Junge ist nicht aufgewacht.“195 In erzähltechnischer Hinsicht lässt sich die gescheiterte Aktion des Gehasi, wie bereits erwähnt worden ist, als „spannungssteigerndes retardierendes Moment“196 erklären. Dass eine Wende im Geschehen unmittelbar bevorsteht, kann die Leserschaft noch zwei weiteren Elementen der discourse-Ebene entnehmen, die in 2 Kön 4,32 und 2 Kön 4,33 zu verzeichnen sind. Zunächst einmal wechselt der Erzähler ein weiteres Mal in die personale Perspektive, indem er die Sichtweise des Elisa einnimmt. Durch das „sieh“ ( ְוִהֵנּה/ἰδού) in 2 Kön 4,32 wird explizit deutlich gemacht, dass den Rezipierenden die Sicht des Gottesmannes auf das Geschehen präsentiert wird. Dieser sieht jetzt – endlich – auch, was die Schunemiterin ihm nicht direkt sagen und vor allen anderen geheim halten wollte: „da war der Junge tot, hingelegt auf sein Bett“ (MT). Nachdem durch diesen Perspektivwechsel deutlich geworden ist, dass Elisa den Ernst der Lage erkannt hat, nimmt der Erzähler die auktoriale Erzählweise wieder auf, von der er dann auch nicht mehr abweichen wird. Dass das Ende der Erzählung und damit eine Lösung des Problems nahe sind, impliziert darüber hinaus die Tatsache, dass JHWH jetzt auch als handlungstragende Figur in Erscheinung tritt. Wenn sich Elisa in 2 Kön 4,33 im Gebet an JHWH wendet, erweckt dies die Erwartung, dass ein göttliches Eingreifen bevorsteht – auch wenn der genaue Wortlaut des Gebets nicht mitgeteilt wird. Mit dem Gebet erfüllt Elisa dann auch erstmalig die Erwartungshaltung, welche die Leserschaft von Erzählbeginn an ihn herangetragen hat: dass er gemäß der Bezeichnung, welche die Schunemiterin in ihrer Figurenrede (2 Kön 4,9) für ihn wählt, als Gottesmann auftritt. Für die Modell-Leserschaft, die weiß, wie souverän Elia in 1 Kön 17,21 durch den performativen Akt der Synanachrosis die Wiederbelebung des toten Sohnes der Witwe zu Sarepta durchgeführt hat, wirken die Bemühungen, die Elisa in 2 Kön 4,34-35 anstellt, um als „Mittler göttlicher Einwirkung“197 zu fungieren, etwas ungeschickt. Aus religionsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, stellt sich die Synanachrosis, die Elisa am toten Kind vollzieht, mit der „ritualsymbolische[n] Handlung des Aufliegens (V. 34a škb qal ‚sich legen‘) bzw. Hinüberbeugens (V. 34b.35: ghr qal ‚sich beugen‘), möglicherweise terminus technicus für derartige Symbolhandlungen“198, allerdings als geradezu formvollendet dar. Das genaue Übereinanderlegen von Mund, Augen und Händen zwischen Performer und Mandant entspricht detailliert dem Ritual, wie es in der „Beschreibung dämonischer Bedrückung in der neuassyrischen Serie Utukkū limnūtû“199 195
196 197 198 199
Auf die von Elisa in der LXX-Version verwendete Terminologie wird auf S. 69 noch ausführlicher eingegangen. SCHMITT, Magie, 241. SCHMITT, Magie, 249. SCHMITT, Magie, 246. SCHMITT, Magie, 247; hier findet sich auch eine deutsche Übersetzung dieses Rituals: „5.–6. Lege nicht deinen Kopf auf seinen Kopf / 7.–8. Lege nicht deine [Hand] auf seine
62 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen dargestellt wird. In Bezug auf diesen Teil der rituellen Handlung unterscheiden sich dann auch die drei an anderen Stellen voneinander abweichenden Versionen nur minimal, in allen drei Fassungen bewirkt das Agieren des Gottesmannes, dass der Leichnam wieder warm wird. Die Erwärmung des erkalteten Körpers des toten Kindes gilt allerdings noch nicht als Wiederbelebung. Anders als bei Elia reicht ein einmaliger Ritualvollzug nicht aus. Die Spannung der Leserschaft auf den Ausgang des Geschehens wird dann weiterhin hochgehalten, indem Elisa den Raum, in welchem der tote Junge liegt, zunächst einmal verlässt, im Haus hin und her geht, wieder (ins Obergemach) hinaufsteigt200 und sich noch einmal über den Jungen beugt. Während die drei Überlieferungsvarianten bis zu diesem Punkt der Handlung im Großen und Ganzen miteinander übereinstimmen, zeigen die beiden LXX-Rezensionen erhebliche Abweichungen in der Darstellung des eigentlichen Wiederbelebungs-Momentes. Unterschiedlich ist der Anteil, der JHWH an der Reanimation zugesprochen wird. Dem Masoretischen Text und dem kaige-Text zufolge niest der Junge siebenmal und öffnet dann die Augen, nachdem sich Elisa über ihn gebeugt hat. Nach dem Antiochenischen Text reicht ein Über-den-Jungen-Beugen nicht aus, um die Wiederbelebung des toten Kindes zu bewirken: darüber hinaus kommt es noch zu einem Anhauchen und der siebenmaligen Ausführung einer Bewegung, die so beschrieben ist wie die, welche beim Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau vom männlichen Partner vollzogen wird. Diese Handlung löst zwei Reaktionen beim Kind aus: es bewegt sich und öffnet dann seine Augen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass im Antiochenischen Text der gesamte Wiederbelebungsvorgang als heterosexueller Geschlechtsakt konnotiert ist. Diese Deutung setzt voraus, dass in der antiochenischen Lesart Elisa als Vater des Kindes gilt. Dieser würde dann mit den Bewegungen, die an einen Sexualakt erinnern, an die Zeugung des Kindes anknüpfen. Bei dieser Deutung liegt es nahe, den Wiederbelebungsvorgang als magischen Akt im klassischen Sinne zu interpretieren. Die beiden anderen Versionen konzeptualisieren die Reanimation des toten Kindes als ritualsymbolische performative Akte. Hier impliziert die Rede vom Niesen des Kindes, das dem Aufschlagen der Augen vorangeht (und in der antiochenischen Fassung fehlt), dass das Sich-über-das-Kind-Beugen des Elisa einen Niesreiz ausgelöst haben muss. Da die Kenntnis des „Schöpfungsberichtes“ aus Gen 2 zur Enzyklopädie der Modell-Leserschaft der Königebücher gehört, kann sie das Niesen des Kindes als Anspielung auf das Einhauchen des Atems verstehen, das Bestandteil des Schöpfungshandelns JHWHs ist. Bei diesem Verständnis wird der performative Aspekt des Agierens Elias betont: das Über-das-Kind-Beugen
200
Hand / 9.–10. Lege nicht deinen Fuß auf seinen Fuß / 11[.]–12. Berühre ihn nicht mit deiner Hand“. Weitere Paralleltexte bei BECKING, Touch, 44ff. Zu Recht weist SCHMITT, Totenerweckung in 2Kön 4, 286, darauf hin, dass das Hinaufsteigen in 2 Kön 4,34 in der Forschung oft fälschlich als ein „Hinaufsteigen auf das Bett verstanden“ wird. Er stellt dieser Deutung gegenüber, dass man „auch an den Hinaufstieg zum ‚Obergemach‘ denken [kann ...]. Dort befand sich das Bett des Gottesmannes, auf das die Mutter ihren toten Sohn gelegt hatte (V. 21). Auch in V. 35 dürfte ‚hinaufsteigen‘ den Gang zum ‚Obergemach‘ anvisieren“ (ebd.).
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symbolisiert den göttlichen Schöpfungsakt, das Niesen des Kindes die Reaktion auf den eingeblasenen Atem.
Somit implizieren die Darstellung des Masoretischen Textes und der kaige-Rezension, dass JHWH der entscheidende Anteil an der Reanimation des toten Kindes zukommt: der Junge wird schließlich erst wieder lebendig, nachdem Elisa gebetet und die ritualsymbolische Handlung vollzogen hat.201 Der antiochenischen Rezension zufolge agiert Elisa zwar auch in Rückbindung an JHWH, seine Bemühungen um das Kind sind erst von Erfolg gekrönt, nachdem er gebetet hat. Durch die Art und Weise seines Agierens erscheint sein Anteil an der Wiederbelebung allerdings größer als in den beiden anderen Fassungen, vollzieht er doch gleichsam ein zweites Mal einen menschlichen Zeugungsakt, der sich vom symbolischen Nachvollzug eines göttlichen Schöpfungsaktes in den anderen Versionen deutlich unterscheidet. Nach der erfolgten Wiederbelebung des Kindes ruht der Blick des Erzählers ausschließlich auf Elisa und der Schunemiterin. Wie in der Parallelerzählung in 1 Kön 17,17–24 gerät der Junge nach dem Wiederaufleben im Hinblick auf sein weiteres Ergehen aus dem Fokus. In Wiederanknüpfung an den Anfang der Erzählung lässt der Gottesmann dann in 2 Kön 4,36 mit genau demselben Wortlaut wie in 2 Kön 4,12 die Frau durch seinen Diener rufen. Die Frau kommt umgehend zu Elisa. Zu inferieren ist, dass die beiden sich (zusammen mit Gehasi) im Obergemach befinden, denn von einem Ortswechsel des Gottesmannes war in der Zwischenzeit nicht die Rede. Danach spricht Elisa die Mutter des jetzt wieder lebendigen Kindes ein letztes Mal innerhalb der Erzählung direkt an: „Nimm deinen Sohn!“ Die Reaktion der Frau setzt einen überraschenden Schlusspunkt: War sie dem Elisa gegenüber im Verlaufe der Erzählhandlung zunächst als großzügige Gastgeberin, dann als diejenige, die eine Schwangerschaft deutlich ablehnt, und zuletzt als zielstrebig die Hilfe des Gottesmannes Suchende aufgetreten, so bleibt am Ende der Erzählung offen, mit welcher Haltung ihm gegenüber sie den Elisa verlässt. Dass sie ihm wortlos zu Füßen fällt und sich zur Erde niederbeugt, lässt sich sowohl als Ausdruck devoter Unterwürfigkeit als auch als Zeichen sprachloser Dankbarkeit deuten. Mit diesem quasi offenen Ende wird die Unbestimmbarkeit des Beziehungsstatus zwischen der „großen Frau“ und dem „heiligen Mann Gottes“ fortgeschrieben, der in die Erzählhandlung Einzug gehalten hat, seitdem das Figurenensemble um den Sohn erweitert worden ist. Resümierend ist allerdings zu konstatieren, dass Elisa in dieser „psychologisch durchkomponiert[en]“ und „dramatisch bewegt[en]“202 Erzählung erst zur Mittlerfigur göttlicher Macht über den Tod wird, wenn er seine Rolle als „Gottesmann“ annimmt und ausfüllt.
201
202
Vgl. SCHMITT, Magie, 246: „ritualsymbolische Handlung und Gebet sind integraler Bestandteil des Ritualprozesses.“ QUELL, Phänomen, 279.
64 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Modell-Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen bei ihrer Lektüre der neutestamentlich gewordenen Texte folgende Aspekte der Erzählungen aus 1 Kön 17,17–24 und 2 Kön 4,8–37 erinnert: – Bei den Verstorbenen handelt es sich um Kinder, die zum Zeitpunkt ihres Todes „ihr Leben noch nicht gelebt“ haben. – Elia und Elisa handeln an den toten Knaben nicht aus eigener Vollmacht, sondern als Gottesmänner. Ihre enge Beziehung zu JHWH wird raumsemantisch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie in Obergemächern agieren. – Dass eigentlich JHWH die Kinder wiederbelebt, wird durch das Beten der Gottesmänner und das von ihnen vollzogene symbolische Ritual der Synanachrosis angezeigt. – Wenn insbesondere in 1 Kön 17,17 nicht vom Tod des Jungen, sondern vom Fehlen seiner Atemtätigkeit die Rede ist, aktualisiert dies zum einen das in Gen 2,7 beschriebene Schöpfungshandeln JHWHs, zum anderen die antik-jüdische Vorstellung vom Sterben als Prozess, in dem die „Lebenskraft“ nicht punktuell, sondern sukzessive den Leichnam eines Verstorbenen verlässt. Eine Wiederbelebung ist somit als reversio animae konzeptualisiert. – Nicht das tote und später wiederbelebte Kind wird vom Erzähler in den Fokus der Wahrnehmung gerückt, sondern der Blick der Lesenden wird vornehmlich auf die trauernden Mütter und die im Zusammenwirken mit JHWH agierenden Gottesmänner gelenkt.
2.3
2 Kön 13,20–21: Elisas Gebeine und der Tote
Dass die ideale Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen den Elisa in ihrer Enzyklopädie unter der Rubrik „Toten-Wiederbeleber“ abruft, beruht nicht nur auf der Erzählung 2 Kön 4,8–37, sondern darüber hinaus auch noch auf der Geschichte aus 2 Kön 13,20–21. Innerhalb der überlieferten antiken Erzählungen, die von Reanimationen handeln, fällt diese Episode allerdings insofern aus dem Rahmen, als hier geschildert wird, wie ein Toter einen Toten wieder lebendig macht: 20 Und Elisa starb und sie begruben ihn. Moabitische Banden drangen in jenem Jahr ins Land ein. 21a Nun geschah es, dass man gerade einen Mann begrub. Sieh, da sahen sie eine Bande. Da warfen sie (ַוַיְּשִׁליכוּ/ἔρριψαν) den Mann in das Grab (ְבֶּקֶבר/ἐν τῷ τάφῳ) Elisas und gingen davon. 21b Als der Mann die Gebeine ( )ְבַּﬠְצמוֹתElisas
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65
berührte ()ַו ִיַּגּע, wurde er wieder lebendig ( ) ְיִחיund stellte sich ( )ַוָיָּקםauf seine Füße ()ַﬠל־ַרְגָליו.203
Diese „Wundererzählung in Miniaturausgabe“204 weist mehrere Leerstellen auf: Zunächst einmal ist nicht klar, wo die Handlung spielt. Aus der Angabe in 2 Kön 13,14, nach welcher der König von Israel „hinunterkommt“ ()ַוֵיֶּרד, um den todkranken Elisa zu besuchen, ist zu erschließen, dass sich der Ort, an dem dieser Besuch stattfindet, in einer tiefer gelegenen Gegend befindet: „Mit dem ירדdes Königs [...] ist wahrscheinlich das Herabziehen vom samarischen Gebirge in die Jordanebene gemeint.“205 Da Elisa unmittelbar nach dem Besuch des Königs stirbt, ist wohl auch seine Grabstätte in eben dieser Gegend zu lokalisieren.206 In Frage kommen somit Abel-Mehola, der Heimatort Elisas, und die Gegend um den Gilgal. Für letztere spricht, dass sie „in der Reichweite moabitischer Streifscharen“207 gelegen ist, deren Überfall gemäß 2 Kön 13,20 auf eine israelitische Beerdigungsgesellschaft dazu führt, dass ein Leichnam in die nächst gelegene Grabstelle – und das ist die Bestattungsstätte Elisas – „geworfen“ wird. Das „Geworfen-Werden“ des zu bestattenden Leichnams, das dann zum physischen Kontakt mit den Gebeinen Elisas führt, lässt sich im Leseprozess imaginieren, wenn ein Schachtgrab inferiert wird. Dieser ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. nachweisbare Grabtyp bietet nämlich die Voraussetzungen dafür, dass ein eilig geworfener Leichnam auf die sterblichen Überreste eines bereits Bestatteten treffen kann: Beim Schachtgrab besteht „der Zugang in einem senkrecht in die Tiefe gehenden Schacht von rundem oder quadratischem Querschnitt und der eigentliche Grabraum in einer vom Schacht aus seitlich angelegten Kammer von unregelmäßiger Form und ohne weitere Ausstattung [...]. Stellte man vor die Grabkammer einen den Eingang verschließenden Stein, so war ihre Unversehrtheit gesichert, wenn man nach der Bestattung und nach der Aufstellung jenes Verschlußsteines den senkrechten Schacht wieder zuschüttete. Bei der allgemein üblichen wiederholten Benutzung der Schachtgräber mußte sich jedoch das jedesmal notwendige Freiräumen des Schachtes als beschwerlich erweisen. Dem konnte abgeholfen werden, indem man den Grabzugang nicht senkrecht, sondern treppenförmig schräg abwärts zu der Grabkammer hin anlegte und oben mit waagerecht angebrachten Steinen zudeckte.“208
203
204 205 206 207 208
Die LXX-Fassungen weichen in 2 Kön 13,21b deutlich von der hebräischen Version ab. Kaige: und er bewegte sich (ἐπορεύθη) und berührte (ἥψατο) die Gebeine (τῶν ὀστέων) Elisas, da wurde er (wieder) lebendig (ἔζησεν) und stellte sich (ἀνέστη) auf seine Füße (ἐπὶ τοὺς πόδας αὐτοῦ). – Ant.: Und der begrabene Mann kam (ἦλθε) und berührte (ἥψατο) die Gebeine (τῶν ὀστῶν) Elisas, da wurde er (wieder) lebendig (ἔζησε) und stellte sich (ἔστη) auf seine Füße (ἐπὶ τοὺς πόδας αὐτοῦ; Übers. nach „Septuaginta Deutsch“). FISCHBACH, Totenerweckungen, 86. SCHMITT, Elisa, 174; ähnlich SWEENEY, Kings, 359; vgl. auch MCKENZIE, Kings, 475f. Vgl. SCHMITT, Care, 436. SCHMITT, Elisa, 175. GALLING, Nekropole, 75. In Frage kommt allerdings auch der „Typus des Senk- oder Schaftgrabes“, den Galling a. a. O., 79, folgendermaßen beschreibt: „Der senkrecht in die Tiefe
66 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Was die Datierung der Episode im zeitlichen Koordinatensystem der Königebücher angeht, so muss sie wohl mindestens im Abstand von einem Jahr zum Todestag des Gottesmannes angesetzt werden, da die sterblichen Überreste in Form von Knochen bzw. Gebeinen vorliegen, was auf einen längeren Verwesungsprozess des Leichnams rückschließen lässt.209 „Weder der Verstorbene noch seine Totengräber werden näher charakterisiert“,210 auch die Mitglieder der Bande aus Moab nimmt der Erzähler nicht genauer in den Blick. Die handelnden Figuren werden somit nicht in ihrer Individualität wahrgenommen, sondern eher in ihrer „Typik“ und in ihrer Funktion für die Logik der Handlung: Die Bestatter können als Gewährsmänner dafür angesehen werden, dass der am Ende der Erzählung wieder auf seinen Füßen Stehende zunächst tatsächlich tot ist. Der marodierenden Bande fällt in narratologischer Hinsicht die Funktion zu, das übereilte Handeln der Bestatter zu motivieren: die Träger des Toten entledigen sich des Leichnams nur deshalb so schnell, weil sie sich selbst vor den Angreifern in Sicherheit bringen wollen. Eine solche Eile wäre in einer ungefährdeten Situation nicht notwendig gewesen. Bei einer in Ruhe vollzogenen Beisetzung wäre der Leichnam wohl nicht einfach ins Grab geworfen, sondern an die ihm zugewiesene Stelle gelegt worden. In diesem Falle wäre es aber eher nicht zu einem physischen Kontakt des zu Bestattenden mit den Gebeinen des Elisa gekommen.211 Darüber hinaus muss aufgrund der Eile, die bei seiner Bestattung geboten ist, der Körper des Toten aus 2 Kön 13,21 von der Leserschaft als noch nicht in die Verwesung übergegangen und folglich soweit intakt imaginiert werden, dass er über die physischen Voraussetzungen verfügt, um nach dem Kontakt mit den Gebeinen Elisas wieder auf den eigenen Beinen stehen zu können: Muskeln und Sehnen sind noch vorhanden. Nach israelitischer Vorstellung geht diese physische Konstitution des frisch Verstorbenen damit einher, dass seine ֶנֶפשׁin seiner Nähe imaginiert wird,212 was den Wiederbelebungsvorgang um so nachvollziehbarer erscheinen lässt. Dass der Tote wieder lebendig ist, wird mit den Verbformen ַו ְיִחיbzw. ἔζησεν ausgesagt. Mit ָיָּקםund ἀνέστη213 wird anschließend ausgedrückt, was aus diesem Lebendig-Sein resultiert: Der ehemals Leblose kann wieder auf seinen eigenen Füßen stehen.
209 210 211
212 213
gehende Schaft von oblongem Querschnitt führt zu einer seitlich angelegten Kammer, in deren Boden ein oder mehrere Grabtröge ausgehauen sind; aber auch der Schaft selbst wurde offenbar zu Bestattungen verwendet, wie die Absätze in ihm zeigen, die jeweils mit Steinplatten geschlossen wurden, nachdem darunter eine Beisetzung stattgefunden hatte“. Vgl. MCKENZIE, Kings, 470. SAUERWEIN, Elischa, 98. Vgl. 1 Kön 13,31: Hier äußert der (namenlose) alte Prophet den Wunsch, im Grabe eines vor ihm gestorbenen Gottesmannes beerdigt zu werden, und zwar: neben (nicht auf) den Gebeinen des dort schon Bestatteten. Siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt 2.1.2 in der vorliegenden Untersuchung. Der Antiochenische Text verwendet ἔστη.
2 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in den Königebüchern
67
Versucht man, der skurrilen Erzählung von der Wiederbelebung einer eilig bestatteten Leiche durch die Gebeine des Elisa eine theologische Bedeutung zu geben, darf ihre Positionierung am Ende des Elia-Elisa-Zyklus nicht unbeachtet bleiben. Da die Figur des Elia in dieser Abfolge von Erzählungen von 1 Kön 17 bis 2 Kön 13 mit ihrer Entrückung in 2 Kön 2,1–18 einen im Grunde nicht mehr zu überbietenden Abgang aus der erzählten Welt der Königebücher erhalten hat, fungiert die Erzählung von der wiederbelebenden Potenz der Gebeine des – anders als Elia – tatsächlich verstorbenen Elisa als Gegengewicht zur Erzählung von der Entrückung seines Vorgängers. Während der eine Gottesmann um den irdischen Tod herumkommt, kann der andere aus seinem eigenen irdischen Tod heraus zumindest die Wiederbelebung eines anderen Gestorbenen bewirken. Der Wiederbelebte bleibt sowohl vor als auch nach seinem Tod namenlos, es wird weder von den Umständen seines Todes noch von seinem späteren Ergehen erzählt. Der Fokus, unter dem die Ereignisse aus 2 Kön 13,20–21 dargestellt werden, liegt ausschließlich auf der Wiederbelebungskraft der sterblichen Überreste des Elisa. Für diesen und für seinen Vorgänger Elia gilt: in der Zeit ihres irdischen Daseins als Gottesmänner im Auftrag und gemäß den Anweisungen JHWHs haben sie die totenbelebende Kraft des Gottes Israels durch ritualsymbolische Handlungen performativ darstellen können. Ihre herausgehobene Position als Gottesmänner bestätigt sich dann auch nach ihrem Tod. In Bezug auf Elisa gilt: Seine sterblichen Überreste können die Wiederbelebung eines Toten auch ohne Mitwirkung JHWHs bewirken. Mit Blick auf die Gemeinsamkeiten zwischen den Wiederbelebungen, welche die Gottesmänner in ihrem irdischen Dasein mitvollzogen haben, und dem Wiederaufleben des Toten aus 2 Kön 13,20–21 ist zu konstatieren, dass es sich bei diesem – wie bei den toten Kindern aus 1 Kön 17 und 2 Kön 4 – um einen kurz zuvor Verstorbenen handelt, dessen ֶנֶפשׁgemäß der israelitischen Anthropologie noch in der Nähe des Toten vermutet werden kann und dessen lebloser Körper noch keine Verwesungserscheinungen aufweist, die ein Weiterleben in den sterblichen Überresten unmöglich machen würden.
2.4
1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,8–37 und 2 Kön 13,20–21 als „Wiederbelebungserzählungen“
Innerhalb der biblischen Wissenschaften hat sich der Ausdruck „Totenerweckungserzählungen“214 als Gattungsbezeichnung für Geschichten, in denen Tote 214
Im 19. Jh. findet sich bei STRAUSS, Leben II, 140 und 171, der Ausdruck „Erweckungsgeschichte“ zur Kategorisierung der „Jairi-Töchterlein“- und der Lazarus-Episode. Es ist wahrscheinlich, dass die Verwendung dieses Begriffes im frühen 20. Jh. bei BULTMANN,
68 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen wiederbelebt werden, durchgesetzt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in ins Neue Testament eingegangenen Gattungsexemplaren mehrfach unter Verwendung einer Form von ἐγείρειν215 oder ἀνιστάναι216 auf den Zustand des Wiederlebendig-Seins einer verstorbenen Erzählfigur referiert wird,217 zum anderen zeichnet sich in dieser Terminologie auch die Tendenz innerhalb der exegetischen Forschung ab, die Wiederbelebungen der betreffenden Erzählfiguren mit der Auferweckung Jesu Christi in Beziehung zu setzen.218 Darüber hinaus spiegelt sich im Terminus „Totenerweckungserzählung“ der seit der Antike belegte Topos
215
216
217 218
Tradition, 229 (im Kontext der Besprechung von Mk 5,21–43 parr.), auf Strauss zurückgeht. PESCH/KRATZ, synoptisch II/1, 8, verwenden 1976 den Terminus „Totenerweckungen“ als Überschrift des Abschnittes, der Mk 5,22–24a.35–43; Mt 9,18f.23–26 und Lk 8,40–42.49–56 gewidmet ist. ROCHAIS bezeichnet die entsprechenden Erzählungen (so auch im Titel seiner 1981 erschienenen Monographie) als „Les récits de résurrection des morts dans le Nouveau Testament“. Seit Fischbachs Monographie aus dem Jahr 1992 mit dem Titel „Totenerweckungen. Zur Geschichte einer Gattung“ hat sich in der exegetischen Beschreibungssprache der Ausdruck „Totenerweckungserzählungen“ durchgesetzt (vgl. FISCHBACH, Totenerweckungen, 2 und passim). Fischbach verwendet aber gelegentlich auch noch den Begriff „Erweckungserzählungen“ (a. a. O., 30, passim). Das Wort ἐγείρειν kann grundsätzlich einen weiten Vorstellungsbereich aufrufen, wie ein Auszug aus dem Eintrag PASSOW I/2, 760f., s. v. ἐγείρω, zeigt: „Act. a) wecken, erwecken, aus dem Schlafe, von Hom. an allg., theils an u. für sich, theils mit den Zusätzen ἐξ ὕπνου […]. Bei Spät., wie bei Apollod. u. im NT., auch: vom Sitze aufstehn lassen; von Kranken: genesen machen, herstellen NT., von leblosen Dingen: errichten, aufführen (ein Gebäude) […]. Pass., erweckt werden, erwachen, in welcher Bdtg. auch das Act. sich findet […]; aufstehn; bei Spät. auch: sich erheben (von Gebäuden). […] b) zu Leben u. Thätigkeit bringen; dah. aa) erregen, […] bb) anregen, anreizen, aufreizen, ermuntern, befeuern“. – Der Imperativ Präsens Aktiv ἔγειρε ist darüber hinaus im griechischen Sprachgebrauch „formelhaft geworden […:] steh auf!“ (BAUER-Wb, 433, s. v. ἐγείρω); vgl. VON SIEBENTHAL, Grammatik, 142 und 361; BDR, Anm. 5, 275. Der Vorstellungsbereich, der vom Wort ἀνιστάναι evoziert wird, ist ähnlich weit und z. T. deckungsgleich mit dem von ἐγείρειν aktualisierten, teilweise können diese beiden Ausdrücke synonym verwendet werden. In Bezug auf dieses Verbum ist zu beachten, dass die Verbformen bestimmter Tempora in einigen Fällen zwei unterschiedliche Ausprägungen aufweisen, je nachdem, ob es sich um transitive oder intransitive Verwendung handelt: „die Grundbdtg ist transitiv: aufstellen, aufstehn od. auftreten lassen; intransitiv: aufstehn, sich erheben; reflexiv: für sich auftreten lassen. Diese Grundbdtgn spalten sich in folgende einzelne Beziehungen: I) die transit. Bdtg: 1) aufstehn lassen, zum Aufstehn veranlassen od. bewegen, u. zwar a) vom Sitze od. vom Lager […]. – b) aus dem Schlafe od. vom Tode: erwecken, aufwecken, auferwecken […]. – c) aus der Ruhe zur Thätigkeit erwecken: auf die Beine bringen, aufregen, erregen […]. – 2) aufrichten, eine aufrechte Stellung geben […]. – II) reflexiv […]. – III) passivisch: 1) zum Aufstehn gebracht werden, vertrieben werden […]. 2) wieder errichtet werden […]. – IV) intransitiv: […] 1) aufstehn, sich erheben, vom Sitze od. vom Lager, […] genesen, sich erholen, […] auferstehn von den Todten […]“ (PASSOW I/1, 242f., s. v. ἀνίστημι). Vgl. Mk 5,42; Lk 8,55: ἀνέστη; Mt 9,25: ἠγέρθη. Vgl. ALKIER, Auferweckung, 94: „[D]urch das häufige Vorkommen von ἐγείρω im Zusammenhang mit Wundergeschichten und Auferweckungsdiskursen im Markusevangelium werden die Leser auf das alles entscheidende ἠγέρθη in 16,6 semantisch vorbereitet.“
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vom „Tod als Schlaf“, woraus sich ableiten lässt, dass eine Wiederbelebung dem Aufwecken einer schlafenden Person vergleichbar erscheint.219 Es ist bemerkenswert, dass die Königebücher nicht auf Wörter zurückgreifen, die den frame „Aufwachen vom Schlaf“ evozieren können, wenn darüber berichtet wird, wie Verstorbene wieder lebendig werden. Eine Ausnahme scheint auf den ersten Blick die wörtliche Rede des Gehasi darzustellen, wenn er dem Elisa in 2 Kön 4,31 meldet, der Sohn der Schunemiterin sei „nicht aufgewacht“, nachdem er den Stab des Propheten auf sein Gesicht gelegt hatte. Zu beachten ist an dieser Stelle jedoch, dass die Erzählfigur Gehasi – anders als der Erzähler, die Schunemiterin und die Leserschaft – nicht weiß, dass der auf dem Bett des Elisa abgelegte Knabe tot ist. Seine Äußerung ל ֹא ֵהִקיץ/οὐκ ἠγέρθη lässt darauf schließen, dass er der Meinung ist, ein schlafendes Kind vor sich liegen zu haben, das nicht aufwacht, wenn ihm ein Stab aufs Gesicht gelegt wird. Auch dem Elisa wird, wie der Erzählerkommentar in 2 Kön 4,32 zeigt, erst beim Betreten des Zimmers, in dem der Knabe liegt, klar, dass das Kind tot ist. Wenn es in 2 Kön 13,21 heißt, dass der wiederbelebte Tote, der in das Grab des Elisa geworfen worden war, sich „wieder auf seine Füße stellt“, dann lösen die an dieser Stelle verwendeten Verbformen ָיָּקםund ἀνέστη keinesfalls den frame „Aufwecken/Aufwachen vom Schlaf“ aus. Der in das Grab geworfene Mann stellt sich wieder auf seine Füße, weil er zuvor durch den Kontakt mit den Gebeinen Elisas wieder lebendig geworden ist ( ְיִחי/ἔζησεν). Die polysemen Verben קוּםund ἀνιστάναι bezeichnen in diesem Kontext eine Konsequenz des Wiederbelebt-Seins: der Mann kann sich wieder auf seine Füße stellen – aber nicht den Vollzug des Wiederbelebt-Werdens; der wieder lebendig Gewordene wird nicht als einer imaginiert, der „aufgeweckt“ worden ist, sondern als einer, der wieder aufrecht steht. Somit wird Wiederbelebung in 2 Kön 13,21–22 nicht als „Erweckung“ konzeptualisiert. In den Königebüchern verhält es sich vielmehr so, dass insbesondere das Wieder-lebendig-Werden der toten Knaben aufgrund der gewählten Begrifflichkeiten als Umkehrung ihres von ihrer Krankheit ausgelösten Sterbeprozesses imaginiert wird. In 1 Kön 17,21–22 wird die Reanimation des Kindes als Rückkehr ( )ָתָּשׁבoder Umkehr (ἐπιστραφήτω) seiner ֶנֶפשׁbzw. seiner ψυχή verstanden;220 die in der griechischen Übersetzung beschriebene ritualsymbolische Handlung des Propheten Elia (ἐνεφύσησεν) erinnert an das Einblasen des Lebensatems, das JHWH gemäß Gen 2,7 vornimmt, aber nicht an ein „Aufwecken“. Auf die von Elisa praktizierte Synanachrosis erfolgt in den drei unterschiedlichen Versionen der Schunemiterin-Episode in 2 Kön 4,34 zunächst eine Erwärmung des Leichnams (ַוָיָּחם/διεθερμάνθη/διεθερμάνθησαν). Die Rede davon, dass 219 220
Vgl. dazu ausführlicher die Ausführungen auf S. 94f. in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. den Hinweis von EBERHARDT, Unterwelt, Anm. 22, 227, der zufolge „der Vorstellungsbereich der Unterwelt in [… 1 Kön 17 und 2 Kön 4] völlig ausgeklammert [ist]. Stattdessen liegt der Ton darauf, dass verlorenes Leben in einen Körper wieder zurückkehren kann.“
70 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen der Junge anschließend seine Augen öffnet (2 Kön 4,35), stellt eine Konsequenz der Erwärmung dar, setzt damit aber nicht den gesamten Vorgang der Wiederbelebung mit dem des Erweckens eines Schlafenden gleich. In 2 Kön 8,1–6 wird auf die Wiederbelebung des toten Sohnes der Schunemiterin rückblickend Bezug genommen. Auch hier ist ein Blick auf die verwendete Terminologie aufschlussreich. In dieser kurzen Erzählung geht es ein weiteres Mal darum, wie die aus 2 Kön 4,8–37 bekannte Schunemiterin und ihr Sohn vom Eingreifen des Elisa profitieren. Dieser rät der Frau221 nämlich, während einer von JHWH initiierten Hungersnot in Israel mit ihrem Haushalt ins Exil im Lande der Philister zu gehen und erst nach Beendigung der Notlage wieder zurückzukehren. Nach ihrer Rückkehr macht sie sich zusammen mit ihrem Sohn auf den Weg zum König, um ihren Besitz zurückzufordern. Dort angekommen, findet sie diesen im Gespräch mit Gehasi vor. Gegenstand der Unterhaltung sind die großen Taten (ות7ָכּל־ַהְגֹּד/πάντα τὰ μεγάλα; 2 Kön 8,4), die Elisa vollbracht hat. Die kleine Erzählung schließt damit, dass die Schunemiterin vom König ihren Besitz zurückbekommt, nachdem auch sie selbst ihm noch einmal von den Vorgängen um ihren von Elisa wiederbelebten Sohn erzählt hat.222
Aus intertextueller Perspektive betrachtet, fällt auf, dass die geradezu formelhaften Bezugnahmen, mit denen innerhalb von 2 Kön 8,1–6 viermal auf die Erzählung 2 Kön 4,8–37 rekurriert wird, im Hinblick auf die verwendete Terminologie auch 1 Kön 17,17–24 als Prätext223 aufgreifen. So findet sich in 1 Kön 17,22 im Anschluss an die Synanachrosis des Elia die Aussage: und er wurde lebendig ()ַוֶיִּחי. Auf das hier verwendete Verb חיהkommen dann auch der einmalige Rückverweis von 2 Kön 8,1 und die drei Bezugnahmen in 2 Kön 8,5 jeweils mit der Verbform ֶהֱחָיהzurück. Auch die in den LXX-Versionen von 2 Kön 8,1.5 verwendeten Ausdrücke für die von Elisa bewirkte Wiederbelebung lösen keinerlei Assoziationen an den Vorgang des Vom-Schlaf-erweckt-Werdens aus. Die antiochenische Rezension weist die Verbform ἐζωοποίησε als Übersetzungsterminus auf, in der kaige-Fassung findet sich die metaphorische Rede vom Wiederanfachen eines Feuers: ἐζωπύρησεν. Während die metaphorische Aussage „er fachte wieder an“224 die Vorstellung evoziert, ein im Erlöschen begriffener Lebensfunke werde vom Propheten wieder zum Erglühen gebracht, verhält es sich bei „er hatte lebendig gemacht“ (ἐζωοποίησε) anders. Durch diese Verbform wird keinerlei bildliche Assoziation des Wiederbelebungsvorganges evoziert. Das Verb ζωπυρεῖν 221
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Von ihrem Ehemann ist nicht mehr die Rede. Es kann inferiert werden, dass er in der Zwischenzeit verstorben ist. OTTO, Jehu, 234, bezeichnet 2 Kön 8,1–6 aufgrund der Rückverweise auf die früher erfolgten Totenerweckungen als „eine Art ‚Meta-Geschichte‘, daß [sic] heißt eine Erzählung über das Erzählen von Wundergeschichten.“ Vgl. zu weiteren Parallelen zwischen 2 Kön 8,1–6 und 1 Kön 17,17–24: OTTO, Jehu, 242f. A. a. O., 244, verweist Otto aber auch darauf, dass 2 Kön 8,1–6 durch 2 Kön 4,13–15 vorbereitet wird. Vgl. PASSOW I/2, 1318, s. v. ζωπυρέω: „wieder anfachen, wieder auflodern machen“.
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konnotiert hingegen „den lebenspendenden Faktor der Wärme (πῦρ) und erscheint in der frühjüdischen Literatur nur in dieser Erzählung als Übersetzung des hifcil von “חיה225. Da das Sterben im Alten Israel als ein prozesshafter Vorgang konzeptualisiert wird, ist diese Metapher, die auf den bildspendenden Bereich des allmählichen Verlöschens eines Feuers zurückgreift, das grundsätzlich ein Wiederaufflammen nicht ausschließt, als eine Formulierung zu betrachten, die kongenial beschreiben kann, was an anderer Stelle innerhalb der Königebücher als Rückkehr der Lebenskraft bzw. als Erwärmung des Leichnams imaginiert wird. Es ist bemerkenswert, dass sich innerhalb der Vision des Ezechielbuches die Ausdrücke des bildspendenden Bereiches, mit der in Ez 37,1–14 in metaphorischer Sprache das „Wiederaufleben“ des toten Volkes Israel beschrieben wird, mehrfach mit der in den Königebüchern verwendeten Wiederbelebungsterminologie bzw. mit der in Gen 2,7 vorfindlichen Schöpfungsterminologie226 decken. Das Wieder-lebendig-Werden der vertrockneten Knochen wird im gesamten Abschnitt Ez 37,1–14 stets mit ָחָיהbzw. ζῆν (Ez 37,3.5.6.9.10.14) bezeichnet. Als entscheidende Komponente, über welche die Toten verfügen müssen, damit sie leben, gilt die רוַּחJHWHs, von der LXX in dieser Passage durchgehend mit πνεῦμα übersetzt (Ez 37,5.6.8.9.10.14). Erst diese Substanz führt dazu, dass die Gebeine, nachdem sie bereits mit Sehnen, Fleisch und Haut überzogen worden sind, leben und sich auf ihre Füße (Ez 37,10) stellen (ַוַיַּﬠְמדוּ/ἔστησαν; ebd.).227
Da es für die Datierung und die literarische Integrität dieser Visionsschilderung innerhalb der alttestamentlichen Forschung keinen Konsens gibt,228 kann auf die Frage, ob die Formulierungen aus den Königebüchern oder ob diejenigen aus dem Ezechielbuch als Prätext oder als Folgetext für die jeweils andere Schrift angesehen werden, keine Antwort gegeben werden. Im Hinblick auf die antikjüdischen Erzählungen von der Erweckung Toter in den Königebüchern ist allerdings festzuhalten, dass das Wieder-ins-Leben-Zurückkehren Verstorbener ohne Termini, die den frame „Aufwachen vom Schlaf“ evozieren, versprachlicht wird. Der Unterschied zwischen der Vorstellung einer „Rückkehr der Lebenskraft“ und der eines „Auferweckens“ ist zwar im Hinblick auf das jeweils zu konstatierende Ergebnis ein marginaler: in beiden Fällen wird ein zuvor toter Mensch wieder lebendig. In theologischer Hinsicht besteht jedoch eine wichtige Differenz zwischen beiden Konzepten: das erste aktualisiert die Erinnerung an JHWHs Schöpfungshandeln, das zweite nicht.
225 226 227 228
ZIMMERMANN, Namen, 429. Vgl. ZIMMERMANN, Namen, 470. Vgl. 2 Kön 13,21. Vgl. BEYERLE, Gottesvorstellungen, 227f.
3
Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in Josephus’ Antiquitates
Im Folgenden wird sich zeigen, dass auch die Erzählungen von den Wiederbelebungen Toter in Josephus’ Antiquitates ganz ohne die „Erweckungs“-Begrifflichkeit auskommen und sich somit von der Darstellung der beiden Gottesmänner in Sir 48 und den Neuerzählungen der Elia-/Elisa-Geschichten in den Vitae Prophetarum, die im 4. und 5. Kapitel behandelt werden, unterscheiden. Bevor jedoch die Wiederbelebungserzählungen Ant. 8,325–327 und Ant. 9,182–183 untersucht werden, soll zunächst einmal eine kontextuelle Verortung dieser beiden Geschichten vorgenommen werden. In den Jahren 93/94 n. Chr. hat der jüdische Historiker Josephus seinen unter dem lateinischen Titel Antiquitates Iudaicae229 firmierenden Überblick über die Geschichte des jüdischen Volkes veröffentlicht, mit dem er – wie aus dem Prolog der Schrift hervorgeht – vor allem230 die gebildete hellenistisch-römische Oberschicht231 des Imperium Romanum von der Dignität der jüdischen Religion und Kultur überzeugen möchte. Die Antiquitates sind aber auch für eine jüdische Leserschaft geschrieben, bestimmte Textpassagen sind ohne Kenntnis der jüdischen heiligen Schriften nicht verständlich.232 Daraus ergibt sich, dass die Enzyklopädie der Modell-Leserschaft233 dieser Schrift auf dem am Ende des 1. Jh.s n. Chr. vorhandenen „paganen“ hellenistischrömischen und jüdischen Wissen der Mittelmeer-Anrainer basiert.234 Um alle Anspielungshorizonte dieses vielschichtigen Werkes aktualisieren zu können, sind kulturübergreifende Kenntnisse notwendig.235
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Vgl. zu den Einleitungsfragen: FRIIS, Image, 2–10. In Ant. 1,5 spricht Josephus zunächst „alle Griechen“ als intendierte Leserschaft an (ἅπασι φανεῖσθαι τοῖς Ἕλλησιν ἀξίαν σπουδῆς). Den intendierten idealen Leser der Antiquitates stellt nach Ant. 1,8 der Römer Epaphroditus dar, dem das Werk auch gewidmet ist: ἀνὴρ ἅπασαν μὲν ἰδέαν παιδείας ἠγαπηκώς, διαφερόντως δὲ χαίρων ἐμπειρίαις πραγμάτων. Vgl. zur Identität dieses Epaphroditus: RIBARY, Rewritten Bible, 260f.; STERLING, Historiography, 239f. Vgl. FELDMAN, Interpretation, 49f. Vgl. zur Frage, an welche empirische Leserschaft sich die Antiquitates richten: STERLING, Historiography, 298–308; FRIIS, Image, 7–10; HÖFFKEN, Überlegungen, bes. 328f.; RIBARY, Rewritten Bible, 253–255. Vgl. BEGG, Story, 3, der von einer „double audience“ spricht, „i.e. cultivated Gentiles and fellow Jews“. Ähnlich FELDMAN, Interpretation, 46f., und AVIOZ, Miracles, 23–25. Was BALTRUSCH, Flavius, 372, über die „Welt des Josephus“ schreibt, gilt ebenso für die Modell-Leserschaft der Antiquitates: sie ist „charakterisiert von ganz verschiedenen kulturellen und sozialen Einflüssen, die sich aus der Interaktion zwischen [...] Judentum und der Einbindung in einer von vielfältigen globalen und regionalen Faktoren geprägten mediterranen Umwelt ergeben.“
74 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Auch wenn den Antiquitates – vor allem unter Berücksichtigung der vom Verfasser anvisierten „paganen“ Leserschaft – gewisse apologetische Züge nicht abgesprochen werden können,236 sollten sie doch – nicht zuletzt wegen der von Josephus selbst vorgenommenen Textsortenzuordnung – nicht als „Apologie“ klassifiziert, sondern unter die historiographische Gattung der ἀρχαιολογία237 subsumiert werden. Somit kann man die Titulierung des Werkes als „Rekurs auf die weithin anerkannte griechisch-römische Geschichtsschreibung [verstehen], denn der Name und das Konzept der ‚Archäologie‘ waren [im 1. Jh. n. Chr.] historiographisch gebräuchlich“238. Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass sich der Historiker Josephus in seinem Geschichtswerk239 auch als Theologe240 erweist, was sich im Folgenden bei der Untersuchung seiner im 8. Buch befindlichen Wiederbelebungserzählung zeigen wird.
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Vgl. STERLING, Historiography, 308, der in Bezug auf die Antiquitates von „apologetic historiography“ spricht; vgl. ferner ATTRIDGE, Interpretation, 52f., 60–66; RIBARY, Rewritten Bible, 249. Während der Ausdruck ἀρχαιολογία im Prolog (Ant. 1,5) auch als Gegenbegriff zu διάταξις τοῦ πολιτεύματος verstanden werden kann (vgl. RAJAK, Archaeology, 467), erscheint er in Ant. 20,259.267 eindeutig als Gattungsbezeichnung; vgl. STERLING, Historiography, 245–247. Gleichwohl fügen sich Josephus’ Antiquitates, in denen über weite Strecken die heiligen Schriften des Judentums neu bzw. nach-erzählt werden, auch in das – aktuell so bezeichnete – jüdische Gattungskonzept der rewritten bible ein. „Favorable rewriting of the biblical narrative was a well-established tradition in Jewish circles. The Antiquities is little different in this manner from such works as the Jubilees, the Genesis Apocryphon or the later Targumim“ (RIBARY, Rewritten Bible, 255f.). Vgl. zum Konzept der rewritten bible bzw. rewritten scripture: STERLING, Historiography, 257f.; FRIIS, Image, 3. BALTRUSCH, Flavius, 387. Eventuell ist auch die Tatsache, dass Josephus’ ἀρχαιολογία wie die Antiquitates Romanae des Dionysios von Halicarnassus aus zwanzig Büchern besteht, ein Hinweis darauf, dass der jüdische Historiker sich ganz bewusst in die Tradition der hellenistisch-römischen „Archäologien“ stellen wollte. Vgl. zu den Parallelen, die zwischen diesen beiden historiographischen Werken bestehen: ATTRIDGE, Interpretation, 43f., 53–56, 59. Die Geschichtsdarstellung der Antiquitates deckt den Zeitraum von der Erschaffung des ersten Menschen bis zum 12. Regierungsjahr des Kaisers Nero ab (ἀπὸ πρώτης γενέσεως ἀνθρώπου [...] μέχρι ἔτους δωδεκάτου τῆς Νέρωνος ἡγεμονίας [Ant. 20,259]). Die ersten elf Bücher des Gesamtwerkes orientieren sich nahezu ausschließlich an den heiligen Schriften des Judentums und verweisen nur sporadisch auf nicht-biblische historische Belege, wohingegen die anderen neun Bücher auf Quellen unterschiedlichster Provenienz rekurrieren. Vgl. zu den Quellen der Antiquitates: SCHWARTZ, Sources, bes. 36–41; WIDOW, Origins, 61–63; ATTRIDGE, Interpretation, 33. Nach STERLING, Historiography, 238, sieht sich Josephus in der Tradition der prophetischen „alttestamentlichen“ Geschichtsschreibung: „For Josephos, the authors of scripture were Moses and the prophets. […] Although he never openly calls himself a προφήτης, the texts […] indicate that he understood himself to be one. It is his prophetic status that allows him to write a definitive history of the Jewish people. His work thus has direct ties to the OT tradition of historiography in the sense that it is prophetic history, i.e., history written by a prophet.“
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3.1
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Ant. 8,325–327: Elia und der tote Sohn der Witwe zu Sarepta
In Ant. 8,325–327 bearbeitet Josephus die Wiederbelebungserzählung aus 1 Kön 17,17–24.241 Da er selbst im Prolog der Antiquitates thematisiert, dass er im vorliegenden Werk die heiligen biblischen Schriften vom Hebräischen ins Griechische „übersetzen“242 möchte – wobei zu berücksichtigen ist, dass der Verfasser den Ausdruck μεθερμηνεύειν (Ant. 1,5) nicht in der Bedeutung verwendet, die im Deutschen mit der Glossierung „übersetzen“ verbunden wird243 –, ist nicht auszuschließen, dass er auch eine hebräische Textvorlage verwendet hat.244 Seine Quellen habe er weder gekürzt noch mit Hinzufügungen versehen: οὐδὲν προσθεὶς οὐδ’ αὖ παραλιπών (Ant. 1,17),245 behauptet Josephus im Prolog. Dass dies augenscheinlich nicht immer der Fall ist, wird sich im Folgenden zeigen, wenn seine Bearbeitung der Elia-Episode aus den Königebüchern einer genaueren Untersuchung unterzogen wird. Josephus folgt offensichtlich mit seiner Behauptung, er übernehme seine Quellen quasi unbearbeitet, der gemein-antiken Konvention, die mit Harold Attridge als ein „embellishing the scriptural text“246 verstanden werden kann, womit keinerlei Fälschungsabsicht impliziert ist. Darüber hinaus wäre es in der Tat schwer nachvollziehbar, warum sich Josephus, hätte er seine Vorbemerkung wörtlich gemeint, die Mühe gemacht haben sollte, eine zwanzigbändige Nacherzählung der heiligen jüdischen Schriften zu verfassen. Wäre seinen Quellen nichts Eigenes mehr
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Gemäß BEGG, Retelling, 103, bes. Anm. 128, lag ihm dabei wahrscheinlich eine Proto-Lukianische/Antiochenische Textfassung der Königebücher vor. Vgl. auch ATTRIDGE, Interpretation, 30: „Most have maintained that Josephus used a combination of the Hebrew text, the LXX, and perhaps an Aramaic targum as well, with a different primary source in different sections of the work.“ Vgl. ferner STERLING, Historiography, 256. Vgl. WIDOW, Origins, 61: „Josephus refers several times to the Jewish Antiquities as a translation of the ‚Hebrew Scriptures‘ or ‚holy books‘ (cf. Ant. 1.5.13.17.26; 10.218; 20.261; Ag.Ap. 1.1.54.127).“ Vgl. zur „Übersetzungs-Begrifflichkeit“ bei Josephus: FELDMAN, Judaism, 345: „[W]e may note that the LXX, Philo, and Josephus understood the word ‚translation‘ in a sense different from what is meant today; and it was not until Aquila was encourged [sic] to do a more literal translation of the Bible into Greek in the early second century that the requirement that a translation be literal was taken more seriously. Prior to that time the view that prevailed was that a translation had to be true to the content of the text but not to its external form.“ Vgl. ferner STERLING, Historiography, 252f., bes. Anm. 113, 252. Vgl. ATTRIGDE, Interpretation, 31f. Ähnliche Aussagen finden sich in Ant. 4,197; 8,56 und 10,218. Vgl. ATTRIDGE, Interpretation, 58; vgl. speziell zur Formel „nichts wegnehmen, nichts hinzufügen“: VAN UNNIK, Flavius, 83–98. ATTRIDGE, Interpretation, 58.
76 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen hinzuzufügen gewesen, dann hätte er seiner Leserschaft auch ganz einfach nur „den Text der Bibel in die Hand geben können“247.
In der Fassung der Antiquitates stellt sich die Wiederbelebung, die dem verstorbenen Sohn einer Witwe aus Sarepta widerfährt, in deutscher Übersetzung folgendermaßen dar: 325 Die Frau aber, über die wir zuvor gesprochen haben (περὶ ἧς πρὸ τούτων εἴπομεν), die den Propheten ernährt hat (διατρέφουσα), als ihr das Kind krank wurde (τοῦ παιδὸς αὐτῇ καταπεσόντος εἰς νόσον), sodass es sogar die Lebenskraft fahren ließ (ὡς καὶ τὴν ψυχὴν ἀφεῖναι) und tot schien (δόξαι νεκρόν), die aufweinte (ἀνακλαιομένη) und sich mit den Händen marterte und ein Geschrei ausstieß, das ihr Leid kundtat, klagte den Propheten wegen der Anwesenheit bei ihr an (κατῃτιᾶτο τῆς παρ’ αὐτῇ παρουσίας τὸν προφήτην), weil er ihre Sünden ans Licht gebracht habe (ὡς ἐλέγξαντα τὰς ἁμαρτίας αὐτῆς) und dadurch das Kind gestorben sei (τοῦ παιδὸς τετελευτηκότος). 326 Er aber ermutigte sie, zuversichtlich zu sein und ihm den Sohn zu übergeben (παραδοῦναι τὸν υἱὸν αὐτῷ), denn er werde ihn lebendig zurückgeben (ζῶντα γὰρ αὐτὸν ἀποδώσειν). Nachdem sie ihn also übergeben hatte, trug er ihn in das Zimmer, in dem er sich aufhielt (εἰς τὸ δωμάτιον, ἐν ᾧ διέτριβεν αὐτός), und legte ihn auf das Bett (ἐπὶ τῆς κλίνης), schrie auf zu Gott (ἀνεβόησε πρὸς τὸν θεὸν), dass er es der, die ihn aufgenommen und ernährt hatte, nicht gut vergolten habe (οὐ καλῶς ἀμείψεσθαι τὴν ὑποδεξαμένην καὶ θρέψασαν), indem er ihren Sohn weggenommen habe, und er betete, dass er die Lebenskraft wieder in das Kind hineinschicke und ihm das Leben gebe (ἐδεῖτό τε τὴν ψυχὴν εἰσπέμψαι πάλιν τῷ παιδὶ καὶ παρασχεῖν αὐτῷ τὸν βίον). 327 Nachdem sich Gott der Mutter erbarmt hatte (κατοικτείραντος μὲν τὴν μητέρα), aber auch dem Propheten gewähren (χαρίσασθαι) wollte, dass er nicht zum Bösen bei ihr anwesend zu sein schien, wiederbelebte er wider jedes Erwarten (παρὰ πᾶσαν προσδοκίαν ἀνεβίωσεν). Sie aber dankte dem Propheten und sagte dann, dass sie sicher wisse, dass das Göttliche durch ihn/mit ihm rede (ὅτι τὸ θεῖον αὐτῷ διαλέγεται).
Bei dem vorliegenden Ausschnitt aus dem 8. Buch der Antiquitates handelt es sich um eine Erzählung, die auf der story von 1 Kön 17,17–24 basiert: Ein Prophet, der bei einer Witwe gastliche Aufnahme gefunden hat, verspricht seiner Gastgeberin, dass sie ihren soeben verstorbenen Sohn lebendig zurückerhalten werde, wenn sie ihm den Leichnam anvertraue. Das Erbarmen Gottes und das BesorgtSein Gottes darum, der Prophet könne aufgrund der Tatsache, dass das Kind während seiner Anwesenheit gestorben ist, als undankbarer Gast erscheinen, führen dann dazu, dass Gott das tote Kind wiederbelebt. Zuletzt kommt die Mutter zu der Erkenntnis, dass Gott durch den Propheten spreche. Sowohl durch die Vorlage als auch durch die Neubearbeitung zieht sich als Hauptstrang der Handlung, dass ein totes Kind wieder lebendig wird. Wie in 1 Kön 17,17–24 so ist – als Nebenstrang der Handlung – auch in der Version des Josephus in Bezug auf die Haltung der Frau dem Propheten gegenüber eine Einstellungsänderung zu verzeichnen. Auch in der Fassung der Antiquitates macht die Mutter ihrem Gast zunächst den Vorwurf, er sei nur gekommen, um ihre 247
VAN UNNIK, Flavius, 98.
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Sünden an den Tag zu bringen, was schließlich zum Tod des Kindes geführt habe, um dann am Ende eine dem Propheten gegenüber wertschätzende Position zu vertreten. Wie in der Quelle, so wird auch in der Version des Josephus auf diesen Erzählstrang, der die theologische Vorstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhanges aktualisiert, nicht näher eingegangen. Um es metaphorisch auszudrücken: dieser Erzählstrang wird im Laufe der Erzählhandlung zum losen Faden. Auch das Figurenensemble der josephischen Erzählung: Prophet, Witwe, (totes) Kind und Gott, ist identisch mit dem der Vorlage. Darüber hinaus stimmt auch das räumliche setting beider Versionen miteinander überein: die rewritten story spielt ebenfalls im Haus der Witwe, die Reanimation findet genau wie in der Ursprungsfassung dort statt, wo der Prophet sein Bett hat. Nähert man sich der Version des Josephus aus einer produktionsästhetischen Perspektive, so ist festzustellen, dass es dem Historiker mit der Neuerzählung dieser biblischen Vorlage nicht darum gegangen sein kann, seine Leserschaft durch eine fesselnde Darstellung des Erzählinhaltes ebenso in seinen Bann zu ziehen, wie es dem Erzähler der Königebücher gelungen ist.248 Auf der discourse-Ebene und aufgrund der Vielzahl von Anspielungshorizonten, die sie aufruft, unterscheidet sich Josephus’ Version nämlich deutlich von ihrer Vorlage. Gleich zu Beginn der Darstellung, noch bevor die Leserschaft die Möglichkeit erhält, sich ungestört innerhalb der erzählten Welt zu orientieren, schaltet sich die Erzählstimme mit dem Hinweis, dass es sich bei der Frau, um die es im Folgenden gehen wird, um eine handelt, „von der wir bereits erzählt haben“ (Ant. 8,325), so in den Erzählvorgang ein, dass ein distanzloses Sich-Versenken in die Vorgänge der erzählten Welt verhindert wird. Durch das explizite HörbarWerden der Erzählinstanz wird nämlich sofort deutlich, dass das erzählte Geschehen als ein referiertes, also quasi ein Erlebnis aus zweiter Hand, zu konzeptualisieren ist.249 Im Unterschied zur Vorlage der Königebücher enthält die Neufassung keinerlei wörtliche, sondern ausschließlich indirekte Rede.250 Das trägt dazu bei, dass aufgrund 248
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Dass der Historiker Josephus sich durchaus auch mit der ästhetischen Qualität von Geschichtsschreibung beschäftigt hat, zeigen seine einführenden Bemerkungen zum 14. Buch (Ant. 14,2.3); vgl. auch ATTRIDGE, Interpretation, 51. STERLING, Historiography, 291, stellt fest: „Josephos thoroughly rewrites his sources with an eye to improving the style of the narrative.“ Vgl. SCHWARTZ, Sources, 49: „Not infrequently Josephus explicitly makes his own presence known to his readers – and passages such as these contribute substantially, of course, to the reader’s impression that Jewish Antiquities is, indeed, a composition written by an author.“ In Bezug auf „authorial passages“, die Referenzen auf andere Textstellen beinhalten, hält Schwartz fest: „These are very numerous [...], and they constantly remind the reader that a single self-conscious hand lies behind the work he or she is reading“ (ebd.). Die Umwandlung von direkter Rede der „biblischen Vorlage“ in indirekte Rede innerhalb der rewritten bible ist allerdings kein Spezifikum, das innerhalb der Antiquitates nur auf die Neuerzählung der Auferweckung des Sohnes der Witwe zuträfe. „Im allgemeinen kann
78 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen des damit vorherrschenden narrativen Modus die Erzählfiguren der AntiquitatesVersion wesentlich blasser bleiben als die der Königebücher. Mit der indirekten Art und Weise, in der Josephus die Dialoge seiner Erzählfiguren präsentiert, hält er die Rezipierenden quasi auf Abstand. Gleichzeitig kann sich aufgrund dieser Distanz im Rahmen der erzählten Handlung keiner der Charaktere als Identifikationsfigur für die Leserschaft profilieren. Darüber hinaus führt auch der Umstand, dass keine der Figuren namentlich vorgestellt wird, zu einem großen Abstand zwischen Leserschaft und Figurenensemble. Auch der aus der Tradition als Elia bekannte Protagonist bleibt im Verlaufe der gesamten Darstellung ein namenloser Prophet,251 wird also als Funktionsträger252 und nicht als Individuum präsentiert und wahrgenommen.
Bemerkenswert in Bezug auf die von Josephus gewählte Erzähltechnik ist auch, dass der eigentliche Höhepunkt der Handlung, die Wiederbelebung des toten Kindes durch Gott, der Leserschaft mit einer an Knappheit nicht mehr zu überbietenden Kürze dargeboten wird. Zwar wird diese Erzählsequenz, die sich auf bloße zwei Satzglieder beschränkt: die präpositionale Wendung παρὰ πᾶσαν προσδοκίαν und das Prädikat ἀνεβίωσεν, durch eine ausführliche Darlegung der Beweggründe Gottes flankiert - worauf weiter unten noch zurückzukommen ist. Die eigentliche Wiederbelebungshandlung wird aber dermaßen knapp beschrieben, dass sich im Rezeptionsprozess keinerlei „Illusion einer unmittelbar greifbaren ‚Wirklichkeit‘“253 einstellen kann. Dem Prädikat ἀνεβίωσεν ist noch nicht einmal ein Akkusativ-Objekt beigegeben. Der reine Informationsgehalt des Satzes besteht in der Aussage, dass Gott „wiederbelebte“. Über die Umstände, wie sich diese Wiederbelebung vollzieht, ist nichts zu erfahren. Das SynanachrosisRitual, das in der Erzählvorlage in 1 Kön 17 das reanimierende Handeln Gottes ritualsymbolisch veranschaulicht, fehlt in den Antiquitates. Der tote Junge, an dem Gott die Wiederbelebung vornimmt, gerät völlig aus dem Blick und wird im weiteren Verlauf der Handlung auch nicht mehr erwähnt. Mit dieser Art der Darstellung greift Josephus einen Aspekt seiner Vorlage auf und verstärkt ihn dann sogar: In der Erzählung 1 Kön 17,17–24 verfügt der Sohn der Witwe über eine im Vergleich zu den anderen Erzählfiguren nur sehr schwache Präsenz, da ihm im Gegensatz zu seiner Mutter und zu Elia keine Figurenrede zugestanden wird. In Josephus’ Version bleibt das Kind nicht nur stumm, sondern es ist am Ende
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man sagen, daß [... Josephus] bestrebt ist, nicht einfach die Gesprächsform des Alten Testaments zu bewahren, sondern die oratio recta in oratio obliqua umzusetzen“ (VAN UNNIK, Flavius, 119). Allerdings ist die ausschließliche Verwendung der indirekten Rede in Ant. 8,325–327 insofern auffällig, als sich im Abschnitt zuvor durchaus eine wörtliche Rede findet, nämlich die aufmunternde Figurenrede, die Elia an die Witwe richtet, bevor sie sich ins Haus begibt, um aus den letzten Lebensmittelvorräten eine Mahlzeit zuzubereiten (Ant 8,322). Obwohl Elia bereits in Ant. 8,319 in die Antiquitates eingeführt wird, fällt sein Name erstmals in Ant. 8,329; vgl. BEGG, Account, Anm. 1008, 156. Vgl. zum hohen Stellenwert des Phänomens „Prophetie“ in der Geschichtsdarstellung des Josephus: CASTELLI, Kings, 556–558. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 53.
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geradezu schon abwesend, da es weder als Objekt der sich vollziehenden Reanimation noch als Subjekt der erfolgten Wiederbelebung präsentiert wird. Es kann also festgehalten werden, dass der Erzähler Josephus in seiner rewritten story von 1 Kön 17,17–24 auf der discourse-Ebene mehrfach die Strategie verfolgt, der Leserschaft möglichst wenig Anlass zu geben, sich das erzählte Geschehen plastisch vor Augen zu malen, indem er auf Figurenrede, erlebte Rede und Handlungs-Details verzichtet. Wenn die Wiederbelebung des Kindes innerhalb der josephischen Version gleichsam en passant geschieht, kann sich im Rezeptionsvorgang durch die Knappheit der Darstellung das „Wunderbare“254 dieses Geschehens kaum entfalten. Auf der Darstellungsebene findet sich auch kein klassifikatorischer Hinweis, der das Erzählte als etwas Außerordentliches einordnen würde. „[I]n relating this account Josephus uses none of his usual words for miracle σημεῖον, παράδοξον or ἐπιφάνεια“255. Die Leserschaft der Antiquitates ist allerdings bereits im Prolog darauf vorbereitet worden, dass die vorliegende ἀρχαιολογία auch überraschende Wendungen (παράλογοι περιπέτειαι, Ant. 1,13) aufweisen wird, findet sich doch gleich zu Beginn des umfangreichen Werkes der Hinweis, dass im Folgenden auf eine außertextuelle Realität referiert werden wird, in der Gottes Eingreifen in menschliche Geschicke – sowohl zum Guten als auch zum Schlechten – erfahrbar geworden ist: „Im Allgemeinen kann man leicht aus dieser Geschichte (ἱστορία) entnehmen, dass denjenigen, die Gottes Willen befolgen und seine wohl gemeinten Gesetze zu übertreten sich scheuen, alles wider Erwarten (πέρα πίστεως) zum Besten gedeiht und der Lohn der Glückseligkeit Gottes winkt, dass hingegen die, welche von der treuen Beobachtung der Gesetze abweichen, das unüberwindlich finden, was sonst leicht erscheint, und das Gute, das sie zu tun unternehmen, in heillose Verwirrung umschlagen sehen.“ (Ant. 1,14; Übersetzung Clementz)256
Gleichzeitig stellt es der Historiker seiner Leserschaft an mehreren Stellen der Antiquitates257 explizit frei, selbst zu entscheiden, ob sie dargestellte Sachverhalte 254
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FRENSCHKOWSKI, Wunderglauben, 283, zeigt auf, dass es sich um eine Fehleinschätzung handelt, wenn in „populären Darstellungen der Umwelt des frühen Christentums [...] öfter mit einer durchgehenden Wundergläubigkeit der Antike gerechnet“ wird. In Bezug auf die Einstellung zu „Wundern“ ergebe sich vielmehr „ein überaus komplexes Bild, das zudem zeitlich, ethnisch, regional, sozial und kulturell zu differenzieren ist“ (a. a. O., 284), was Frenschkowski in seinem Beitrag durch eine Vielzahl von Belegen illustriert. Es ist zu bedenken, dass mit Ausdrücken wie Wunder, wonder, θαῦμα oder miraculum kein ontologisches Phänomen beschrieben wird, sondern dass die Bedeutung dieser Wörter sich jeweils aus den Zusammenhängen ergibt, in denen sie verwendet werden, und zwar in Korrelation mit dem Weltbild, das die Enzyklopädie der Sprechenden prägt. Vgl. zur Problematik auch: DELLING, Beurteilung, passim. HOGAN, Healing, 216. Vgl. ausführlich zur „Wunderterminologie“ des Josephus: MACRAE, Miracle, 142–147. Ähnlich Ant. 2,223. Vgl. zu diesen „Rationalist Formulas“: MACRAE, Miracle, 136–142.
80 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen als glaubwürdig ansehen will, sollten sie dem, was in der Antike für möglich gehalten wurde, zuwiderlaufen. Mit Blick auf die (Nach-)Erzählung der Vorgänge, die in 1 Kön 17,17–24 als innerhalb der erzählten Welt der Königebücher „tatsächlich“ geschehene Ereignisse dargestellt werden, liegt in Ant. 8,325–327 anders als in entsprechenden Vergleichsstellen allerdings keine derartige Lese- oder Interpretationsanleitung vor. Die Leserschaft wird in dieser Passage des Geschichtswerkes auf subtilere Weise zu einer eigenständigen Urteilsbildung in Bezug auf die Glaubwürdigkeit des Erzählten angeregt: zum einen durch die äußerst knappe Darstellung der Wiederbelebung in nur einem Wort, zum anderen durch eine Ergänzung gleich zu Beginn der Nacherzählung, die sich nicht in der Vorlage findet. In Ant. 8,325 streut der Erzähler nämlich eine Bemerkung ein, die nicht in 1 Kön 17 steht und die aufgrund des mit ihr verbundenen primacy effects grundsätzlich infrage stellen kann, ob es sich bei dem später mit ἀνεβίωσεν bezeichneten Vorgang überhaupt um das Wiederbeleben eines Toten handelt. Der vom Erzähler referierte Befund, dass das kranke Kind „die Lebenskraft fahren ließ“ (τὴν ψυχὴν ἀφεῖναι)258 führt zu keiner eindeutigen Diagnose. Es wird in der Folge nicht gesagt, dass das Kind aufgrund der schwindenden Lebenskraft tot ist, sondern dass es tot zu sein scheint (καὶ δόξαι νεκρόν). Diese Bemerkung kann bei der Modell-Leserschaft Wissensbestände aus dem Bereich der antiken Medizin259 aktivieren, die unter dem label der Facies hippocratica auf die Schwierigkeit verweist, an einem menschlichen Körper eindeutige Zeichen des Todes feststellen 258
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Mit der Formulierung τοῦ παιδὸς αὐτῇ καταπεσόντος εἰς νόσον, ὡς καὶ τὴν ψυχὴν ἀφεῖναι in Ant. 8,325 paraphrasiert Josephus seine Vorlage in 1 Kön 17,17, die in der hebräischen Fassung das Wort ְנָשָׁמהund in den griechischen Versionen die Ausdrücke πνεῦμα und πνοὴ ζωῆς verwendet, um die Entität zu bezeichnen, die dem Jungen aufgrund seiner Krankheit abhanden kommt. Für 1 Kön 17 konnte gezeigt werden (siehe Abschnitt 2.1.2 in der vorliegenden Untersuchung), dass alle drei Formulierungen vor dem Hintergrund der israelitischen Anthropologie verstanden werden können. Nach dieser zerfällt der Mensch, der aufgrund des Schöpfungshandelns Gottes ein lebendiges, atmendes Wesen ist, keinesfalls nach seinem Tod in zwei Bestandteile: Leib und Seele. Die Formulierung des Josephus: τὴν ψυχὴν ἀφεῖναι, könnte vor dem Hintergrund der breit gefächerten Enzyklopädie seiner Modell-Leserschaft auch als Anspielung auf eine dualistische Anthropologie verstanden und so gedeutet werden, dass der kranke Junge sich in einem Zustand befände, in dem seine Seele sich bereits aus seinem Leib entfernt. Da allerdings der Prophet in Ant. 8,326 Gott darum bittet, τὴν ψυχὴν εἰσπέμψαι πάλιν τῷ παιδί, ist aufgrund der großen Nähe dieser Aussage zur LXX-Fassung von Gen 2,7 (καὶ ἔπλασεν ὁ θεὸς τὸν ἄνθρωπον χοῦν ἀπὸ τῆς γῆς καὶ ἐνεφύσησεν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ πνοὴν ζωῆς, καὶ ἐγένετο ὁ ἄνθρωπος εἰς ψυχὴν ζῶσαν) davon auszugehen, dass die Formulierung in Ant. 8,325 nicht vor dem Hintergrund einer dualistisch-hellenistischen, sondern auf der Basis einer „ganzheitlich“-jüdischen Anthropologie zu verstehen ist und so viel bedeutet wie „im Sterben liegen“. KOTTEK, Josephus, 248, hält es für möglich, dass Josephus in der Bibliothek seines Mäzens Epaphroditus „might well have found [...] some works of Hippocrates, Celsus, Soranus, and possibly Dioscorides, who was his contemporary.“
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zu können.260 Eine ideale Leserschaft der Antiquitates könnte sich in diesem Zusammenhang auch an Empedokles oder Asclepiades von Bithynien erinnert fühlen – zwei antike Ärzte, denen nachgesagt wird, dass sie zwischen tatsächlich gestorbenen und nur wie tot daliegenden Menschen unterscheiden konnten.261 Die grundsätzliche Anschlussfähigkeit des von Josephus beschriebenen Judentums an „pagane“ Vorstellungen des Imperium Romanum kann die ModellLeserschaft der Antiquitates aber auch noch aufgrund einer anderen Nuance der josephischen Erzählung erkennen, welche ihre Vorlage in den Königebüchern nicht aufweist. Die in die Antiquitates eingegangene Neubearbeitung zeichnet sich dadurch aus, dass sie mehrfach explizit auf Konventionen der antiken Gastfreundschaft sowie auf das antike Konzept der Reziprozität rekurriert – was für 1 Kön 17,17–24 nicht zutrifft. Damit weist die Josephus-Fassung des Elia-Stoffes eine Gemeinsamkeit mit der „Alkestis“-Tradition auf,262 die entweder auf der Vertrautheit des Verfassers mit dem Drama oder auf der grundsätzlichen Bekanntheit des „Alkestis“-Stoffes in der Antike beruht. Im Einzelnen wird das Motiv der Gastfreundschaft auf folgende Weise von Josephus in die ihm vorgegebene Handlung integriert: Gleich zu Beginn wird durch den Erzählerkommentar: Ἡ δὲ γυνὴ περὶ ἧς πρὸ τούτων εἴπομεν, eine Verknüpfung mit der unmittelbar vorangegangenen Nacherzählung von 1 Kön 17,7–16 in Ant. 8,319–323 hergestellt. Schon hier wird die Frau, deren Sohn im Folgenden sterben wird, als Gastgeberin des Propheten präsentiert, und zwar in Form einer Vorhersage Gottes, der dem Propheten prophezeit, dass ihn eine verwitwete Frau mit Nahrung versorgen wird: γυναῖκα χήραν, ἥτις αὐτῷ παρέξει τροφάς (Ant. 8,321). Der Prophet, der in Sarepta keine eigene Heimstatt hat, ist nämlich angesichts der Dürre, die im Reich des Ahab herrscht, darauf angewiesen, von einer Einheimischen mit Nahrung versorgt zu werden. Die Frau wird dann noch ein weiteres Mal von Gott als diejenige charakterisiert, die den Propheten ernähren wird: ταύτην εἶναι τὴν μέλλουσαν αὐτὸν διατρέφειν (ebd.). Auf die Aufforderung des Propheten, sie möge ihm zu trinken und zu essen geben, reagiert die Frau zunächst zurückhaltend, weil sie wegen der Dürre nur noch über geringe Nahrungsmittelvorräte verfügt. Als der Fremde sie dann aber ermutigt, dennoch zu kochen, gelingt es ihr, Essen für sich selbst, ihr Kind und den Propheten zuzubereiten (Ant. 8,323). Wenn dann in der sich anschließenden „Wiederbelebungserzählung“ gleich mit den ersten Worten auf die Erzählung Ant. 8,319–323 rekurriert wird, ruft dieser Rückbezug im Gedächtnis der Modell-Leserschaft das Bild einer Frau auf, die „nach der im Orient 260 261 262
Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 199 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. dazu die Ausführungen in den Abschnitten 10.1 und 10.3. Vgl. zur Verknüpfung des φιλοξενία-Motivs mit dem Handlungselement „Totenerweckung“ in Euripides’ „Alkestis“ die Ausführungen auf S. 188f. in der vorliegenden Untersuchung. Möglicherweise ist Josephus’ Vorgehensweise an dieser Stelle beeinflusst von der jüngeren Rezension der Jona-Vita (VitProph 10,4–5), siehe dazu die Ausführungen auf S. 112f.
82 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen herrschenden Sitte [der Gastfreundschaft] gehandelt“263 hat. Aus dem Folgenden geht hervor, dass es nicht allein bei der Versorgung mit Essen geblieben ist: der Prophet hat im Hause der Frau ein eigenes Zimmer, in das er im Verlauf der Handlung den toten Sohn bringt (Ant. 8,326). Die Verköstigung und das Gewähren von Unterkunft in ihrem Haus entsprechen dem Konzept der ξενία (Gastfreundschaft), sodass die Witwe zur hospita (Gastgeberin) und der fremde Prophet zum hospes (Gast) wird.264 Diese Konzeptualisierung ihrer Beziehung wird in der erzählten Welt der Antiquitates vom Propheten verstärkt, wenn er im Gebet an Gott mit folgenden Worten auf die Frau Bezug nimmt: τὴν ὑποδεξαμένην καὶ θρέψασαν (die, die mich aufgenommen und ernährt hat, Ant. 8,326). Die Konventionen der Gastfreundschaft im Altertum sind darüber hinaus grundsätzlich geprägt vom Prinzip der Reziprozität. „Die Aufnahme des Gastes in den eigenen Haushalt ist ein Entgegenkommen, das als Gegenleistung vom Gast den vollen Verzicht darauf fordert, seine Kräfte gegen das Wohl der Hausgenossen wirken zu lassen.“265 Wie aus den Worten der verwaisten Mutter hervorgeht, hat der von ihr gastlich aufgenommene Prophet eben gegen diese Konvention verstoßen: Sie „klagte den Propheten wegen der Anwesenheit bei ihr an (κατῃτιᾶτο τῆς παρ’ αὐτῇ παρουσίας τὸν προφήτην), weil er ihre Sünden ans Licht gebracht habe und dadurch das Kind gestorben sei“ (Ant. 8,325). Auch der Prophet sieht den Tod des Sohnes als Verstoß gegen die Konventionen der ξενία an. Er verortet den Konventionsbruch jedoch nicht bei sich selbst, sondern bei Gott, dem er entgegenschreit (ἀνεβόησε πρὸς τὸν θεὸν; Ant. 8,326), dass er es derjenigen, die ihn aufgenommen und ernährt habe, nicht gut vergolten habe (οὐ καλῶς ἀμείψεσθαι τὴν ὑποδεξαμένην καὶ θρέψασαν; ebd.), als er ihren Sohn sterben ließ. Dass Gott den Tod des Kindes, dessen Mutter einen Propheten Gottes in ihrem Haus als Gast beherbergt, nicht verhindert, wird somit an dieser Stelle als eine Verletzung des Reziprozitäts-Prinzips dargestellt. Wenn der Prophet in seinem Klagegebet Gott dessen οὐ καλῶς ἀμείψεσθαι entgegenschreit, verwendet er einen Ausdruck, der bei der Modell-Leserschaft den antiken frame der Reziprozität evoziert.
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HILTBRUNNER, Gastfreundschaft, 19. Vgl. WAGNER-HASEL, Art. Gastfreundschaft III, 795: „Während im Griech.[ischen] nicht zw.[ischen] dem Fremden/der Fremden und dem Gastfreund geschieden wurde – beide nannte man ξένος, ξεῖνος bzw. ξένη […] –, bestand im Lat.[einischen] eine strikte begriffliche Trennung zw.[ischen] dem Gastfreund/der Gastfreundin, hospes/hospita, und dem Fremden. Dieser hieß urspr.[ünglich] hostis, womit zugleich auch der Feind gemeint war […], später peregrinus […].“ Vgl. zur römischen Terminologie der Gastfreundschaft und der nicht immer gleichbleibenden Bedeutung der Ausdrücke hospes und hostis: HILTBRUNNER, Gastfreundschaft, 14–16. HILTBRUNNER, Gastfreundschaft, 15.
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Ausdrücke wie „ἀμείβειν (‚to repay‘, ‚to return‘), ἀμοιβή (‚repayment‘, ‚return‘), ἀντάμειψις (‚an exchanging‘), ἐν μέρει (‚in turn‘)“266 sind vielfach im altgriechischen Sprachgebrauch belegt und rufen das „hellenistic reciprocity system“267 der hellenistisch-römischen Mittelmeergesellschaft des 1. Jh.s n. Chr. auf.
Dass auch im jüdischen Kulturkreis dieser moralische Wert geteilt wird, erkennt die Modell–Leserschaft, wenn sich in der josephischen Erzählung der jüdische Gott zum Umdenken bewegen lässt, nachdem ihn sein Prophet heftig dafür kritisiert hat, gegen das Reziprozitätsprinzip verstoßen zu haben. Das „Umdenken Gottes“ wird in der kurzen Erzählung des Josephus überaus ausführlich dargestellt. Während er die eigentliche Wiederbelebung des Kindes mit einem einzigen Wort abhandelt, lässt der Erzähler die Leserschaft in Form eines Gedankenberichts268 nahezu in Echtzeit am Entscheidungsprozess Gottes teilhaben: βουληθέντος δὲ καὶ τῷ προφήτῃ χαρίσασθαι τὸ μὴ δόξαι πρὸς αὐτὴν ἐπὶ κακῷ παρεῖναι (Ant. 8,327). Gott will dem Propheten gewähren, dass er nicht in den Anschein gerät, bei der Witwe „zum Bösen“ anwesend zu sein – also mit einer moralisch verwerflichen Tat gegen die gastfreundliche Konvention der Reziprozität zu verstoßen. Im Prolog zu den Antiquitates hatte Josephus darauf hingewiesen, dass vor allem den heiligen Schriften, die auf Moses zurückgehen, entnommen werden könne, dass der Gott der Juden eine reine Tugend besitze (ἀκραιφνῆ τὴν ἀρετὴν ἔχοντα τὸν θεόν; Ant. 1,23). Diese moralisch-ethische Integrität, über die im Pentateuch nachgelesen werden kann, beweist Gott dann auch in der Wiederbelebungserzählung des 8. Buches der Antiquitates, indem er das tote Kind reanimiert, damit durch den Tod dieses Jungen nicht gegen das Reziprozitätsgebot der ξενία verstoßen werde. Doch ἀρετή ist nicht die einzige Eigenschaft, durch die sich der erzählte jüdische Gott in den Antiquitates auszeichnet. Der „Alttestamentler“ Josephus269 lässt in einem kurzen Erzählerkommentar noch eine weitere Eigenschaft Gottes aufscheinen: sein Erbarmen (τοῦ δὲ θεοῦ κατοικτείραντος; Ant. 8,327). Dieses Erbarmen Gottes zeigt sich als Reaktion auf das intensive Trauern der Frau, von dem zu Beginn der Erzählung die Rede ist. Diese Erzählpassage im Anfangsteil der Erzählung, in der Josephus einen Einschub einfügt, der in seiner Vorlage aus den Königebüchern nicht belegt ist, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Aus narratologischer Perspektive ist es bemerkenswert, dass an dieser Stelle – in Abweichung vom vorwiegend narrativen Modus der Erzählung – im dramatischen Modus erzählt wird. Showing statt telling liegt vor, wenn in Ant. 8,325 unter Verwendung einschlägiger Trauerterminologie: ἀνακλαίειν, ταῖς τε
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HARRISON, Language, 41. HARRISON, Language, 50. Vgl. auch Harrisons Ausführungen auf den folgenden Seiten zum „Ethos of Reciprocity“, a. a. O., 50–53. Vgl. zu diesem narratologischen Terminus: FLUDERNIK, Erzähltheorie, 173. Vgl. die Bezeichnung des Josephus als „the first Alt[t]estamentler“, in: CASTELLI, Kings, 558.
84 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen χερσὶν αὑτὴν αἰκίζεσθαι, φωνὰς ἀφιέναι,270 dargestellt wird, wie die Frau auf den Tod ihres Kindes reagiert. Wenn die Trauerrituale, welche die verwaiste Mutter ausführt, in einer aus drei Partizipien bestehenden Aufzählung aneinandergereiht werden (ἀνακλαιομένη, αἰκιζομένη, ἀφιεῖσα), wobei das zweite Aufzählungsglied um eine präpositionale Ergänzung und ein Akkusativobjekt (ταῖς τε χερσὶν αὑτήν), das dritte um einen Relativsatz (οἵας ὑπηγόρευε τὸ πάθος) erweitert wird, dann führt der „Detailreichtum der Erzählung in Kombination mit einem langsamen, scheinbar nahezu zeitdeckenden Erzähltempo [...] zum Eindruck der Gegenwart des Erzählten“271. Obwohl die detailreiche Schilderung der Trauerrituale, die von der Frau vollzogen werden, einen Kontrast bildet zur Darstellung anderer Handlungselemente dieser Erzählung, die eher mit „groben Pinselstrichen“ skizziert sind, zeichnet sich das Bild, das auf diese Weise von der trauernden Mutter entsteht, dennoch weniger dadurch aus, dass sie durch diese Erzählpassage in ihrer besonderen Individualität in den Vordergrund gerückt würde.272 Vielmehr entspricht sie gerade mit ihrem Weinen, ihrem Sich-Schlagen und ihrem lauten Schreien dem Typos der antiken Klagefrau – und ist damit weniger als individuelle Größe, sondern vielmehr als typischer Charakter im Bewusstsein der Leserschaft präsent. Indem sie als eine Frau gezeichnet wird, die auf überaus konventionelle Weise über das Ableben ihres Kindes klagt, wird auch der frühe Tod des Sohnes zu einem Schicksalsschlag, der nicht als Einzelfall angesehen werden muss. Grundsätzlich ist in allen antiken Gesellschaften des Mittelmeerraums die Totenklage eine Domäne der Frauen. Bereits für das alte Mesopotamien sind „Klageweiber (akkadisch: bakkītu)“273 belegt. Für das alte Ägypten setzt der ikonographische Befund „vor die expressive Trauer ein weibliches Vorzeichen. Der Typos der Klagefrau hat 270
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Vgl. PASSOW I/1, 177, s. v. ἀνακλαίω: „aufweinen, zu weinen anfangen, in Thränen ausbrechen“; PASSOW I/1, 56, s. v. αἰκίζω/αἰκίζομαι: „misshandeln, bes. durch Schläge plagen, quälen, martern“; PASSOW I/1, 464, s. v. ἀφίημι: „ἀφ. φωνήν, γλῶσσαν u. dgl., einen Laut, eine Stimme von sich geben, hören lassen“. MARTÍNEZ/SCHEFFEL, Erzähltheorie, 53. – Die besondere Präsenz der trauernden Frau in der Wahrnehmung der Rezipierenden wird möglicherweise noch dadurch verstärkt, dass alle drei Partizipien, durch welche die trauernde Frau beschrieben wird, auf ἀ- anlauten. Diese Alliteration kann, wenn der Text laut gelesen wird, als lautmalerische Anspielung auf die antike Interjektion „αἶ, eine gedehnte Form von ἆ, Ausruf des verhaltenen u. darum nur desto stärker sich äussernden Schmerzes“ (PASSOW, I/1, 49, s. v. αἶ), verstanden werden. Zu bemerken ist, dass eine lautmalerische Nachahmung des Klagelautes „a“ der griechischen Klagetradition entspricht, wohingegen im Hebräischen der traditionelle Weheruf im Kontext der Totenklage aus der Interjektion hôj oder hô besteht; vgl. HARDMEIER, Totenklage, o. S. Ganz im Gegensatz dazu steht die besondere Individualität, durch die sich die Schunemiterin in der Wiederbelebungserzählung aus 2 Kön 4 auszeichnet, wenn sie mit ihrem Verhalten nach dem Tod ihres Sohnes gegen jegliche Trauerkonventionen verstößt (siehe dazu S. 57 in der vorliegenden Untersuchung). MAUL, Trauerriten, 360.
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als Motiv [...] in der ägyptischen Kunst auf verschiedenen Bildträgern eine insgesamt weit über tausendjährige Laufzeit“274. Für das antike Israel gilt: „[O]bwohl Männer bei der Totenklage mitwirken dürfen, scheint es sich doch auch hier um ein Gebiet zu handeln, das im allgemeinen den Frauen vorbehalten ist.“275 Ähnlich liegen die Verhältnisse im alten Griechenland: Im homerischen Epos „singen oder sprechen v. a. die weiblichen Angehörigen des Verstorbenen“276 die Totenklage. Plutarch, ein Zeitgenosse des Josephus, geht in seiner Solon-Biographie auf die Maßnahmen ein, die der athenische Staatsmann im 6. Jh. v. Chr. „angesichts unmännlicher, weibischer Überschwenglichkeit und Unanständigkeit bei der Trauer“277 angeordnet hat, womit er u. a. auch die Selbstverletzungen der Sich-Schlagenden (ἀμυχὰς δὲ κοπτομένων [Plut. vitae parallelae, Solon, 21,6]) einschränken wollte.278 Auch für das antike Rom ist belegt, „dass die Rituale und Gesten, die den Schmerz des Verlustes zum Ausdruck bringen, […] Sache der Frauen sind“279. Nicht zuletzt belegen zwei neutestamentliche Textstellen, dass auch in der sich bildenden christlichen Bevölkerungsgruppe des Mittelmeerraumes die Totenklage vornehmlich von Frauen durchgeführt wird: Laut Apg 9,39 wird die verstorbene Tabitha von allen Witwen beweint (πᾶσαι αἱ χῆραι κλαίουσαι), gemäß Lk 23,27 wird Jesus auf dem Weg zur Kreuzigung von Frauen begleitet, die ihn betrauern und beklagen (αἳ ἐκόπτοντο καὶ ἐθρήνουν αὐτόν).280 Bemerkenswert ist, dass genau die expressiven Trauergesten der Frau aus Sarepta, die von Josephus angeführt werden: ἀνακλαίειν, ταῖς τε χερσὶν αὑτὴν αἰκίζεσθαι, φωνὰς ἀφιέναι, bereits im Trauer-Repertoire des alten Mesopotamien 274
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SCHROER, Klagetraditionen, 88. Silvia Schroer illustriert ihren Beitrag durch die Abbildung einer ägyptischen Tonfigur, die eine Frau darstellt, welche ihre Hände über dem Kopf zusammenschlägt (a. a. O., 89), und die Abbildung eines Reliefs, das eine Gruppe von ägyptischen Klagefrauen in derselben Körperhaltung zeigt (a. a. O., 90). Bei BAIL, Hautritzen, 65, findet sich die Reproduktion eines Reliefs aus Ägypten, das Klagefrauen zeigt, die die Arme hochwerfen. JAHNOW, Leichenlied, 60. Als alttestamentliche Belege für die Totenklage von Frauen lassen sich anführen: 2 Sam 1,24 (Weinen); Jes 32,12 (Auf-die-Brust-Schlagen); Jer 6,26 (Trauer um den einzigen Sohn!); 31,15 (Weinen); 49,3 (Schreien, Tragen des Trauergewandes, Ritzen), Klgl 1,2.16 (Weinen).21.22 (Seufzen); vgl. STANDHARTINGER, Totenklage, Anm. 13, 286. WAGNER-HASEL, Traueraufwand, 88. Plut. vitae parallelae, Solon, 21,6 (Übers.: WAGNER-HASEL, Kultpraktiken, 100). Vgl. zu den „Gebärden“, die von trauernden und klagenden Frauen (und Männern) in Griechenland durchgeführt wurden, auch: REINER, Totenklage, 42–47. PRESCENDI, Frauen, 104. Francesca Prescendis Darstellung der weiblichen Trauerhaltung in Rom basiert auf römischen Dichtern, die „das Verhalten von Frauen in der ersten Phase, in Anwesenheit der aufgebahrten Leiche, als gewalttätig und selbstverletzend [beschreiben]: Sie kratzen sich die Wangen blutig (Ovid Trist. 3,3,51), reißen sich die Haare aus (Tibull 1,1,61–68 [...]; Vergil Aen. 12,602–608), bestreuen ihr Haar mit Asche (Catull 64,350), schlagen sich auf ihre entblößte Brust (Properz 2,13,27). Auch das Verb plorare, mit dem das weibliche Klageverhalten umschrieben wird, weist auf eine sehr körperlichexpressive Form der Gefühlsäußerung hin: Nach Servius (ad Aen. 11,211) [...] meint das Verb plorare nicht bloß ‚weinen‘ [...], sondern ‚sich aus Trauer schlagen‘. Ergänzen lassen sich diese Hinweise der Dichtung mit einer Bestimmung aus dem Zwölf-Tafel-Gesetz (um 450 v. Chr.), die den Frauen verbietet, sich die Wangen zu zerkratzen (vgl. Cicero leg. 2,59; Servius ad Aen. 12,606 [...])“ (a. a. O., 103). Vgl. STANDHARTINGER, Totenklage, 282.
86 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen belegt sind281 und dass sich Bezugnahmen auf das Weinen und Auf-die-Brust-Schlagen sowie das laute Schreien von Frauen, die einen toten Menschen beklagen, bis in die satirische Literatur des 2. Jh.s n. Chr. durchhalten.282
Mag sich auch das Trauerverhalten der verwaisten Mutter in der josephischen Erzählung als ein konventionelles darstellen und mag auch der frühe Tod des Sohnes – nicht zuletzt angesichts der hohen Kindersterblichkeit im Altertum – als unter antiken Lebensbedingungen nicht allzu selten auftretender Schicksalsschlag erscheinen: bemerkenswert ist die Wirkung, welche die Frau mit diesem Verhalten beim Gott der Juden auslöst. Hatte der Prophet in seinem Gebet bereits mit seinem Hinweis auf die Konventionen antiker Gastfreundschaft ein Umdenken Gottes hinsichtlich des Schicksals von Mutter und Sohn ausgelöst, so ist letztendlich Gottes Handeln, das Eingreifen „wider jedes Erwarten“ (παρὰ πᾶσαν προσδοκίαν; Ant. 8,327), auf das Mitleid des jüdischen Gottes mit der phönizischen Frau zurückzuführen, spricht doch der Erzähler ausdrücklich davon, dass sich Gott der Mutter erbarmt: τοῦ δὲ θεοῦ κατοικτείραντος μὲν τὴν μητέρα (ebd.). Die Modell–Leserschaft der Antiquitates kann in Josephus’ Formulierung τοῦ δὲ θεοῦ κατοικτείραντος eine Anspielung auf die Selbstaussage Gottes im Exodusbuch erkennen. Diese Aussage Gottes in Ex 33,19b: καὶ ἐλεήσω ὃν ἂν ἐλεῶ, καὶ οἰκτιρήσω ὃν ἂν οἰκτίρω, „perhaps the most influential definiton of God within the Hebrew tradition“283, hat einen vielfältigen Niederschlag in anderen alttestamentlichen Stellen gefunden.284 In Ex 33,19b wird in Form eines synonymen Parallelismus zum Ausdruck gebracht, dass ἐλεεῖν und οἰκτίρειν Handlungen sind, die dem Charakter Gottes entsprechen. Josephus’ Formulierung mit Ex 33,19b in Verbindung zu bringen liegt zum einen deshalb nahe, weil das vom griechischen Historiker verwendete Verb κατοικτείρειν als Kompositum von οἰκτίρειν auf das in Ex 33,19b verwendete Simplex οἰκτίρειν verweist. Zum anderen korreliert die von Josephus hinzugefügte präpositionale Wendung παρὰ πᾶσαν τὴν προσδοκίαν mit der gewissen Unbestimmtheit, die der Selbstaussage Gottes im Exodusbuch eignet: „the future tense, the divine
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Das sumerische Wort für „trauern“, gaba-ra, „läßt sich wörtlich als ‚auf die Brust schlagen‘ übersetzen und verweist auf einen für den Alten Orient ganz typischen auto-aggressiven Trauergestus. Der Umstand, daß das akkadische Verb sapādu auch das Wort irtu = ‚Brust‘ als Objekt regieren kann, zeigt, daß das akkadisch Wort sapādu ursprünglich keineswegs ‚trauern‘, sondern vielmehr ‚(vor Trauer auf die Brust) schlagen‘ bedeutete. Von der Wurzel sapādu ist auch ein Wort für Trauer (sipdu; daneben auch sipittu) abgeleitet, das sich mit einem Verb, das wörtlich ‚(im Klagelied/im lauten Weinen) erschallen lassen‘ bedeutet, zu einer idiomatischen Wendung verbinden kann. Das aus dem Sumerischen entlehnte akkadische Wort ikkillum (sumerisch: akkil) bezeichnet ein Klagegeschrei und auch die laute Totenklage“ (MAUL, Trauerriten, 360). Vgl. Lukian. Luct. 12f. BARCLAY, Mercy, 87. Unter Verwendung von Ausdrücken, die von der Wurzel οἰκτίρ- abgeleitet sind, wird z. B. an folgenden Stellen auf Gottes Erbarmen rekurriert: Ps 85,15 (LXX), Ps 102,8 (LXX); Ps 144, 8–9 (LXX); Joel 2,13; Jona 4,2.
3 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in Josephus’ Antiquitates
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‚I‘, and the undefined object of mercy leave the character and the extent of this mercy in principle beyond human calculation.“285
Dass Gott völlig gegen jedes Erwarten in das Schicksal der Kleinfamilie aus Sarepta eingreift, beruht nach Darstellung des Erzählers der Antiquitates somit letztendlich auf seinem Erbarmen, das in einem Zusammenhang mit dem Trauern der verwaisten Mutter steht. Aus der Tatsache, dass das Trauerverhalten der Frau absolut konventionell gezeichnet wird, sodass sie geradezu als Typos der Klagefrau erscheint, kann die Modell-Leserschaft auf eine vom „Theologen“ Josephus indirekt angesprochene Eigenschaft seines jüdischen Gottes rückschließen: dieser Gott ist grundsätzlich einer, der Erbarmen zeigt, wenn er sich mit menschlicher Trauer konfrontiert sieht. Diese theologische Aussage, die zwischen den Zeilen der josephischen Erzählung durchscheint, wird durch den Erzählschluss bekräftigt. Hier findet sich eine indirekte Rede der Frau, in der diese zwar dem Propheten dankt (εὐχαρίστει; Ant. 8,327), dann aber sagt, dass sie sicher wisse, dass das Göttliche durch ihn bzw. mit ihm rede (ὅτι τὸ θεῖον αὐτῷ διαλέγεται; ebd.). Anders als es der Erzähler, der Prophet und Gott tun, interpretiert sie die Wiederbelebung ihres toten Kindes am Ende der erzählten Handlung nicht als eine Gegenleistung, die ihr aufgrund ihrer Vorleistung als Gastgeberin des Propheten zustünde. Dass ihr Kind wieder lebendig ist, wird von ihr vielmehr als ein Indiz für die Wahrhaftigkeit dessen, was ihr der Gast in seiner Eigenschaft als Prophet zugesagt hatte, interpretiert. Versprochen worden war ihr, dass sie ihr Kind lebendig wiedererhalten werde.286 Dieses Versprechen hat sich erfüllt. Es ist aber letzten Endes nicht Elia selbst, dem die Wertschätzung der Witwe gilt, sondern es ist der ihr in Elia begegnende israelitische Gott, dem sie ihren Dank abstattet. Blickt man von den Schlussworten der Witwe herkommend auf die im Verlaufe der Erzählung durch Verwendung einschlägiger Terminologie aktualisierten Anspielungshorizonte (ritualisierte Trauer, Gastfreundschaft), so wird letztendlich die mit der Wiederbelebung des Kindes verbundene Einhaltung des Reziprozitätsprinzips gastfreundschaftlicher Konventionen nur zu einem Nebeneffekt. Da „das Wunderbare“, das für gewöhnlich einer Wiederbelebung zugeschrieben wird, durch den Erzählerkommentar, dass das Kind nur tot zu sein scheine, ebenfalls nivelliert worden ist, liegt auch hier nicht der Schwerpunkt der Erzählung. Es lässt sich somit resümieren: Während sich in Ant. 8,325–327 die in der Handlung agierenden Figuren als Individuen wenig profilieren und die dargestellten Ereignisse, abgesehen vom extensiven Trauern der Witwe, eher unanschaulich bleiben, setzen hingegen die in indirekter Rede wiedergegebenen 285 286
BARCLAY, Mercy, 86. Es ist bemerkenswert, dass das Versprechen, das Elia der Frau gibt: ζῶντα γὰρ αὐτὸν ἀποδώσειν (Ant. 8,326), nahezu wörtlich dem Satz entspricht, der in Apollod. 3,17b fällt, wenn aus dem Orakel der Kureten zitiert wird: ζῶντα τὸν παῖδα ἀποδώσειν. Möglicherweise zeigt sich auch an dieser Stelle das Bemühen des Josephus, mit seinen jüdischen Erzählstoffen an die hellenistische Kultur anzuschließen.
88 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Figurenreden und der Gedankenbericht Gottes theologische Akzente: Tugendhaftigkeit, Erbarmen und Zuverlässigkeit im Einhalten von Versprechen, das sind die Eigenschaften Gottes, die in der josephischen Darstellung der Geschehnisse zu Sarepta in besonderer Weise zur Geltung kommen. Aus dem Verhalten dieses israelitischen Gottes kann auf die moralische Integrität des jüdischen Volkes zurückgeschlossen werden. Dass die Handlung dieser wenig anschaulichen, aber dafür in theologischer Hinsicht vielschichtigen „Wiederbelebungserzählung“ tatsächlich auch noch eine Wiederbelebung aufweist, gerät angesichts der Tatsache, dass sie gerade einmal mit einem Wort erwähnt wird, zur Nebensache. Für die literaturgeschichtliche Einordnung der Josephus-Erzählung ist allerdings festzuhalten: Für das reanimierende Agieren Gottes wird der Ausdruck ἀνεβίωσεν gewählt. Dieser entspricht der in den Königebüchern etablierten Terminologie für Wiederbelebungen.287 Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, hat sich Ende des 1. Jh.s n. Chr. im Sprachgebrauch des Griechischen im Hinblick auf Totenerweckungen auch in „paganen“ Kreisen die Verwendung der Begriffe ἐγείρειν und ἀνιστάναι etabliert. Insofern ist es bemerkenswert, dass der jüdische Historiker bei all seinem Bemühen um nicht-jüdische Leserinnen und Leser dennoch mit Blick auf Gottes wiederbelebendes Handeln seiner eigenen „alttestamentlichen“ Sprachtradition verhaftet bleibt.
3.2
Ant. 9,182–183: Elisas Gebeine und der Tote
Als Nächstes ist zu untersuchen, wie in den Antiquitates die Figur des Wiederbelebers Elisa rezipiert wird. Warum Josephus in den Antiquitates nicht auch Elisas Wiederbelebung des Sohnes der Schunemiterin gemäß 2 Kön 4,8–37 (und 2 Kön 8,1.5) nacherzählt, sondern die in 2 Kön 13,20–21 geschilderte Reanimation des Toten aufgreift, der in das Grab des Propheten geworfen wird, ist in der Forschung häufiger thematisiert worden.288 Diese Nichtberücksichtigung könnte darauf zurückzuführen sein, dass der jüdische Historiker mit Blick auf den „paganen“ und/oder rationalistisch eingestellten Teil seiner Leserschaft das
287
288
Wenn der josephische Elia darum bittet, Gott möge die ψυχή wieder in das Kind hineinschicken (τὴν ψυχὴν εἰσπέμψαι πάλιν τῷ παιδί; Ant. 8,327), dann konzeptualisiert er den Wiederbelebungsvorgang auf dieselbe Weise, wie es in 1 Kön 17 geschieht: als Umkehrung des Sterbevorganges, der in Übereinstimmung mit Gottes Schöpfungshandeln dargestellt und imaginiert wird; vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt 2.1.2 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. FELDMAN, Studies, 347. Oftmals wird die Auslassung der Schunemiterin-Episode in einen Zusammenhang damit gebracht, dass Josephus auch noch andere Wunder des Elisa übergeht; vgl. FELDMAN, Elisha, 21–24; ders., Studies, 347; HÖFFKEN, Elischa, 478; AVIOZ, Mir– acles, 10–15; SAUERWEIN, Elischa, 184f.
3 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in Josephus’ Antiquitates
89
Phänomen des Wunders nicht überstrapazieren wollte.289 Die Auslassung der Episode aus 2 Kön 4 könnte aber auch darauf beruhen, dass die Erzählung von Elisa und der Schunemiterin bei einer dem Judentum gegenüber kritischen Leserschaft nicht nur hinsichtlich ihrer wunderhaften Elemente, sondern auch im Hinblick auf das moralische Verhalten des Propheten Anstoß erregen kann – kommt Elisa, der Gastrecht im Hause der (verheirateten) Schunemiterin genießt, doch durchaus als Vater ihres Kindes in Frage. Dennoch steht in den Antiquitates der Elia-Nachfolger seinem Vorgänger in Bezug auf Wiederbelebungen in nichts nach,290 wird doch die Episode aus 2 Kön 13,20–21 nacherzählt. In der Version des Josephus stellt sich diese Geschichte, ins Deutsche übersetzt, folgendermaßen dar: 182 Nach nicht langer Zeit aber starb auch der Prophet – ein Mann, berühmt wegen seiner Gerechtigkeit und offenbar geliebt von Gott (ἀνὴρ ἐπὶ δικαιοσύνῃ διαβόητος καὶ φανερῶς σπουδασθεὶς291 ὑπὸ τοῦ θεοῦ). Denn wunderbare und unerwartete Taten ließ er durch sein Prophetenamt sehen (θαυμαστὰ γὰρ καὶ παράδοξα διὰ τῆς προφητείας ἐπεδείξατο ἔργα) und der leuchtenden Erinnerung bei den Hebräern für würdig gehaltene. Er bekam aber ein großartiges Begräbnis, und zwar wie es schicklich für einen so von Gott Geliebten war, (es) zu bekommen. 183 Es geschah aber auch damals, als irgendwelche Räuber einen, den sie gerade aufhoben [um ihn zu bestatten], in das Grab des Elisa warfen (λῃστῶν τινων ῥιψάντων εἰς τὸν Ἐλισσαίου τάφον ὃν ἦσαν ἀνῃρηκότες), dass der Tote, der sich dessen Leichnam eng anschloss, seinen Lebensfunken wieder entfachte (τὸν νεκρὸν τῷ σώματι αὐτοῦ προσκολληθέντα ἀναζωπυρῆσαι). Und dieses freilich über den Propheten Elisa und alles, was er, als er lebte, vorhersagte, und wie er nach seinem Tod göttliche Kraft hatte (καὶ ὡς μετὰ τὴν τελευτὴν ἔτι δύναμιν εἶχε θείαν), haben wir bereits dargelegt.
Es ist bemerkenswert, dass Josephus den Propheten Elisa innerhalb der letzten Passage, die ihm gewidmet ist, in seiner engen Beziehung zu Gott beschreibt: als einen, der von Gott geliebt wird (φανερῶς σπουδασθεὶς ὑπὸ τοῦ θεοῦ). Darüber hinaus verfasst er für ihn – anders als für Elia292 – ein Enkomium, was ihn auf eine Stufe mit anderen bedeutenden „biblischen“ Figuren wie Moses, David, Samuel und Abraham stellt.293 Mit diesem Enkomium wird die letzte wunderbare Tat des Elisa in Ant. 9,182 eingeleitet. Im Anschluss an die Nacherzählung der 289
290
291
292
293
Vgl. zur Skepsis der „paganen“ Antike gegenüber jüdischen Wundertätern: FELDMAN, ELI-
SHA, 20; HÖFFKEN, Elischa, 478.
Vgl. zur Rezeption und Gewichtung der „biblischen“ Propheten Elia und Elisa im Frühjudentum und bei den Rabbinen: FELDMAN, Elisha, passim; ders., Studies, 334. Für die hohe Wertschätzung, die Elisa durch Josephus erfährt, spricht „the fact that on twenty-seven occasions Josephus refers to Elisha as a prophet or uses the word ‚prophesied‘ where it is missing in the Bible, whereas he does so only seventeen times in the case of Elijah“ (FELDMAN, Elisha, 4; vgl. ders., Studies, 335). Vgl. PASSOW II/2, 1510, s. v. σπουδάζω: „σπουδάζεσθαι ὐπό τινος, von Jem. gesucht, geliebt, gepflegt, gefördert, unterstützt werden.“ Im Unterschied zu Elia wird Elisa von Josephus allerdings nie als „Gottesmann“ (ἄνθρωπος θεοῦ) bezeichnet, vgl. FELDMAN, Elisha, 18; HÖFFKEN, Elischa, Anm. 13, 479. Vgl. FELDMAN, Elisha, Anm. 12, 4; ders., Studies, 335.
90 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Wiederbelebung betont Josephus dann abschließend noch einmal explizit, dass sich in Elisa noch nach seinem Tod göttliche Kraft294 manifestiert (μετὰ τὴν τελευτὴν ἔτι δύναμιν εἶχε θείαν; Ant. 9,183). Bei der Beschreibung der Umstände, die zum letzten δύναμις-Erweis des Elisa führen, weicht Josephus von seiner Vorlage aus den Königebüchern ab. Im Prätext aus 2 Kön 13 wird nichts über die Todesursache des Mannes, dessen Leichnam in Elisas Grab geworfen wird, gesagt. Josephus hingegen stellt den Toten als Opfer eines Überfalls von λῃσταί dar. Mit dem Terminus λῃστής assoziiert die Modell-Leserschaft der Antiquitates gewaltbereite Räuber, die anders als ein κλέπτης nicht davor zurückscheuen, die von ihnen ausgewählten Opfer physisch zu malträtieren.295 Im Falle des Mannes, der zu Elisa ins Grab geworfen wird, scheint der Überfall zu tödlichen Verletzungen geführt zu haben, denn derjenige, den die Räuber „aufheben, um ihn zu bestatten“296, wird im Folgenden als νεκρός bezeichnet. Warum dieser Tote ausgerechnet ins Grab des Elisa geworfen wird, bleibt in Josephus’ Version der Geschichte offen. Dass die Räuber beim Bestattungsvorgang gestört worden sind und sich deshalb in Eile der Leiche entledigen mussten, steht nicht explizit in der Nacherzählung des Josephus. Die Modell-Leserschaft kann dies zum einen aus 2 Kön 13 inferieren. Zum anderen legt es sich aber auch aufgrund des Tempusreliefs, das in Ant. 9,183 vorliegt, nahe: In einer coniugatio periphrastica, bestehend aus einer Verbform im Imperfekt (ἦσαν) in Kombination mit einem Partizip Perfekt (ἀνῃρηκότες), wird der Transport der Leiche zum Bestattungsort als Hintergrundaktion präsentiert. Sowohl der dem Imperfekt anhaftende durative Aspekt als auch die Kombination der Verbform von εἶναι mit dem Partizip Perfekt, durch die ebenfalls ein „stative aspect“297 angezeigt wird, können die Vorstellung evozieren, dass die Überführung des Leichnams so, wie sie eigentlich geplant war, nicht abgeschlossen werden konnte. Da die coniugatio periphrastica im Griechischen grundsätzlich einen „rhetorisch kräftigeren Ausdruck“298 ermöglicht, wird der Eindruck eines gewissen Durcheinanders bei der Bestattung des Toten erweckt. Angesichts der Tatsache, dass die Todesfeststellung in der Antike grundsätzlich mit großen Unsicherheiten behaftet war,299 kann die Modell-Leserschaft aus den Umständen der Bestattung inferieren, dass der Überfallene möglicherweise noch gar nicht tot war. 294
295
296
297
298 299
Vgl. HÖFFKEN, Elischa, 482, dem zufolge Elisa in der Darstellung des Josephus als einer erscheint, der „die göttliche Präsenz und Macht fast ‚verkörpert‘.“ Vgl. BLUMELL, Banditry, 37. – Anders FELDMAN, Studies, 347, der behauptet, Josephus habe mit der Verwendung des Terminus seine antizelotische Haltung zum Ausdruck bringen wollen. Vgl. PASSOW I/1, 174, s. v. ἀναιρέω: „νεκρὸν ἀνελέσθαι: einen Todten aufheben, um ihn zu bestatten, bes. vom Schlachtfelde“. GOOD, Translation, 65; vgl. ferner COSERIU, Verbalaspekt, 10, der auch im Griechischen im Falle der Kombination einer Verbform von εἶναι mit einem Partizip Perfekt den Aspekt „,einer sich abspielenden Handlung‘“ aktualisiert sieht. BDR, 285. Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 199f. in der vorliegenden Untersuchung.
3 Erzählungen von Wiederbelebungen Toter in Josephus’ Antiquitates
91
Diese mögliche Schlussfolgerung korreliert mit der von Josephus verwendeten Terminologie: Für das Wiederaufleben, das sich vollzieht, wenn der (vermeintlich) Tote aufgrund des engen Kontaktes mit Elisas Leichnam von dessen „göttlicher Kraft“ affiziert wird, wählt er mit ἀναζωπυρῆσαι wohl in Anlehnung an die Begrifflichkeit aus 2 Kön 8,1.5300 eine Metapher, die den Eindruck erwecken kann, der ins Grab Geworfene sei noch gar nicht „ganz tot“ gewesen, was der antiken Konzeptualisierung des Sterbens als Prozess entspricht. In nichtmetaphorischer Verwendung bringt ἀναζωπυρῆσαι zum Ausdruck, dass ein nahezu erloschenes Feuer wieder aufflammt, wenn das letzte Fünkchen in ihm kurz vor dem vollständigen Ausgehen wieder angefacht wird.301 Überträgt man diese Vorstellung gemäß des mapping-Prozesses,302 der immer beim Verstehen und Deuten metaphorischer Rede in Gang gesetzt wird, auf das Geschehen in Elisas Grab, lässt sich auch der Überfallene als einer imaginieren, in dem noch „ein Fünkchen Leben“ enthalten ist. Wie beim retelling der Elia-Erzählung so verzichtet Josephus auch bei der Nacherzählung der Elisa-Episode auf die für jüngere Totenerweckungserzählungen typische ἐγείρειν-/ἀνιστάναι-Terminologie. Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf beide Wiederbelebungserzählungen, die sich in den Antiquitates finden, festhalten, dass Josephus bei seinem retelling der Elia-/Elisa-Geschichten aus den Königebüchern den Zustand der (von Gott) Wiederbelebten in einer Weise darstellt, die den „Rationalisten“ in seiner empirischen Leserschaft eine alternative Lesart der Neuerzählungen ermöglicht. Wenn der Sohn der Witwe nur „tot zu sein scheint“ und wenn der ins Grab des Elisa geworfene Mann „seinen Lebensfunken wieder entfacht“, dann können beide als noch nicht „ganz tot“ imaginiert und in ein gegenüber „Wundern“ skeptisches Wirklichkeitsverständnis integriert werden.
300
301 302
Vgl. ZIMMERMANN, Namen, Anm. 174, 429. – Vgl. auch die Ausführungen auf S. 71 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. PASSOW I/1, 172, s. v. ἀναζωπυρέω: „wieder anfachen“. Die kognitive Metapherntheorie spricht genauer von „cross-domain mappings“, wenn Aspekte eines bildspendenden auf einen bildempfangenden Bereich übertragen werden; vgl. HORN, Introduction, 11.
4
Elia und Elisa als Totenerwecker im „Lob der Väter“ (Sir 48)
Im Buch „Jesus Sirach“ sind innerhalb des sog. Väterlobes – einer „im Bereich der biblischen Literatur einmalige[n] Aneinanderreihung von Einzelporträts“303 (Sir 44–50) – Lobesreden über Elia und Elisa überliefert, die zeigen, dass die Erzählungen von den Totenerweckungen in Sarepta und Schunem auch noch im 2. Jh. v. Chr., d. h. mehrere hundert Jahre nach ihrem Eingang in die Königebücher, im hellenistisch-jüdischen Kulturkreis präsent waren.304 In dieser Schrift werden die Reanimationen der toten Knaben aber anders als in der Vorlage als „Aufstehen“ bezeichnet. Die Vorstellung davon, dass Tote den Zustand ihres Tot-Seins in einer Weise überwinden können, die sich mit dem Aufwachen vom Schlaf vergleichen lässt, ist aber keine exklusiv mit der späteren Rezeption der Elia-Elisa-(Erzähl-)Tradition verbundene, sondern lässt sich als Weiterentwicklung der verbreiteten antiken Konzeptualisierung des „Todes als Schlaf“ erklären.305 Dieses Konzept soll deshalb zunächst einmal erläutert werden, bevor es an die eigentliche Untersuchung von Sir 48,5 und Sir 48,13–14 geht.
4.1
Die Vorstellung von der Wiederbelebung Toter als „Erweckung“
In den Königebüchern und in Josephus’ Antiquitates werden die Wiederbelebungen von Toten durch Elia und Elisa mit Begrifflichkeiten dargestellt, die mit der Konzeptualisierung des Sterbens als einem dynamischen Prozess abgeglichen und mit der Vorstellung von einer Rückkehr der „Lebenskraft“ in den reglos 303
304
305
WITTE, Sirach, 560; vgl. BEENTJES, View 48. Eine genaue Gattungszuordnung dieser Textpassage ist umstritten. Vgl. LEE, Studies, passim: Enkomium; ZAPF, Sirach, 315: „eine Art ‚haggadische[r] Midrasch‘“ (in Anlehnung an HILDESHEIM, Prophet, 38); STADELMANN, Schriftgelehrter, 201: eine „Art Aretalogie“. Aus dem Prolog der griechischen Übersetzung dieser Schrift, die vom Enkel Ben Siras stammt, ist zu entnehmen, dass „Ben Sira im ersten Viertel des 2. Jh. v.Chr. gelebt hat“ (WITTE, Sirach, 565), wahrscheinlich in Jerusalem (vgl. ebd.). „Das ‚Väterlob‘ basiert inhaltlich auf dem Pentateuch und den Propheten. Es setzt schon ein Dodekapropheton voraus (vgl. 49,10) und bezeugt in diesem Sinn einen sich aus Tora und Neviim formierenden Kanon“ (WITTE, Theologien, 72). Somit ist zu vermuten, dass Jesus Sirach die Elia-/Elisa-Tradition direkt aus den Königebüchern gekannt haben dürfte. Vgl. zur Verbreitung dieses Topos im „pagan“-antiken Schrifttum: BOSENIUS, κεκοιμημένοι, passim.
94 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen daliegenden Leichnam verbunden werden können. In den Texten, die im Folgenden behandelt werden, wird auf das Wieder-lebendig-Werden der von Elia und Elisa Reanimierten allerdings unter Verwendung der Ausdrücke ἐγείρειν und ἀνιστάναι Bezug genommen,306 wodurch das Phänomen des Todes dem des Schlafes angenähert wird. In Bezug auf das Vorkommen der Vorstellung vom „Tod als Schlaf“ in alttestamentlich gewordenen Schriften ist zu konstatieren: „in Hebrew literature, as represented in the Old Testament, as early at least as the sixth century B. C., the dead are often […] denoted as ,those asleep‘, and death as ,a sleep‘ […].“307 In den Königebüchern zeigt sich diese Metaphorik bei Sterbenotizen in Form der Wendung „bei den Vätern schlafen“308, wird aber dort im Hinblick auf die von Elia und Elisa Wiederbelebten nicht weiter berücksichtigt. Als Weiterentwicklung dieser Konzeptualisierung des Todes als Schlaf – die nicht das Sterben als Prozess, sondern das Tot-Sein als Zustand in den Blick nimmt – lässt sich die Rede vom „Aufwachen im Staub Wohnender“ in Jes 26,19 bzw. vom „Aufstehen der im Staub der Erde Schlafenden“ in Dan 12,2 verstehen. Die Aussage Jes 26,19 ist Bestandteil der sog. Jesaja-Apokalypse Jes 24–27 und gehört damit in einen in sich kohärenten Abschnitt des Jesaja-Buches, der wohl als Nachtrag anzusehen ist, für dessen Datierung es in der alttestamentlichen Wissenschaft keinen Konsens gibt.309 In diesem Vers wird mit Blick auf die „nationale Restauration des Gottesvolkes“310 in der Fassung der Masoreten metaphorisch dazu aufgerufen: שְׁכֵני ָﬠָפר ֹ ( ָהִקיצוּ ְוַרְנּנוּwacht auf und jubelt, die ihr im Staub wohnt). In der griechischen Übersetzung wird aus der imperativischen eine indikativisch-futurische Aussage: ἀναστήσονται οἱ νεκροί, καὶ ἐγερθήσονται οἱ ἐν τοῖς μνημείοις, καὶ εὐφρανθήσονται οἱ ἐν τῇ γῇ (die Toten werden aufstehen und aufwachen werden die in den Gräbern,311 und die auf der Erde werden jubeln). Zu beachten ist, dass wenige Zeilen zuvor Jes 26,14 sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen in Bezug auf Tote eine „negativ gewendete[…] Auferstehungsterminologie“312 gebraucht: ( ְרָפִאים ַבּל־ָיֻקמוּdie Schatten werden nicht aufstehen)/ἰατροὶ οὐ μὴ ἀναστήσωσιν (die Ärzte werden sie [sc. die Toten] nicht zum Aufstehen bringen). Ganz ähnlich wird in Dan 12,2313 formuliert: ( ְוַרִבּים ִמ ְיֵּשֵׁני ַאְדַמת־ָﬠָפר ָי ִ֑קיצוּund viele der Schlafenden im Staub der Erde werden aufwachen). In Bezug auf die griechische Überlieferung dieser Stelle existieren zwei
306 307 308 309 310
311
312 313
Eine Ausnahme liegt in VitProph 22,20 mit ἀνέζησεν vor. OGLE, Sleep, 89. Vgl. z. B.: 1 Kön 1,21; 2,10; 2 Chron 16,13. Vgl. zur Datierung von Jes 24–27: HIBBARD, Isaiah, 82. ZIMMERMANN, Namen, 471. Zur metaphorischen Deutung dieses Textes vgl.: BEYERLE, Gottesvorstellungen, 251–254. Vgl. zum Unterschied zwischen der LXX-Fassung von Jes 26,19 und der Version des Masoretischen Textes: BAILEY, Daniel, 307. BEYERLE, Gottesvorstellungen, 253. KOCH, Danielbuch, 10, datiert die Schrift „im 3. Jahrzehnt des 2. vorchristlichen Jahrhunderts“.
4 Elia und Elisa als Totenerwecker im „Lob der Väter“ (Sir 48)
95
Versionen: „Die sogenannte Theodotion-Version θ übersetzt יקיצוnicht wie LXX mit ἀναστήσονται, sondern mit ἐξεγερθήσονται.“314
Die hebräischen Ausdrücke קיץund קוּםsowie ihre griechischen Äquivalente (ἐξ-)ἐγείρειν und ἀνιστάναι werden in Jes 26 und Dan 12 zusammen mit Wörtern für „Tote“ ein- und demselben frame: „Aufhebung des (möglicherweise schon länger andauernden) Zustandes, tot zu sein“, subsumiert. Dieselbe Vorstellung evozieren die genannten Lexeme auch in den hellenistisch-jüdischen Traditionen und Erzählungen von Reanimationen Toter, die im Folgenden untersucht werden. Es erscheint somit angemessen, im weiteren Verlauf der Untersuchung den in der neutestamentlichen Wissenschaft in Anlehnung an den quellsprachlichen Befund etablierten Gattungsbegriff „Totenerweckungserzählungen“ zu übernehmen.
4.2
Lob des Elia in Sir 48,5
Das Buch „Jesus Sirach“ weist eine äußerst komplizierten Textgeschichte auf. Es ist – so der Konsens der Forschung – ursprünglich auf Hebräisch verfasst, es existiert aber keine Handschrift, die als „Urtext“ bezeichnet werden könnte.315 Im Folgenden gilt es, an dem in MS B überlieferten hebräischen Textfragment316 und der griechischen Übersetzung317 zu zeigen, dass in Sir 48,5 das totenerweckende Wirken Elias – ganz ähnlich wie in 1 Kön 17 – auch in dieser weisheitlichen Schrift „vor allem unter der Perspektive aufgenommen [wird], dass durch ihn die Souveränität Gottes über Leben und Tod sichtbar geworden ist.“318 Im hebräischen Textfragment zeigt der sich auf 1 Kön 17,17–24 beziehende Vers Sir 48,5 folgenden Wortlaut: 314 315
316
317
318
ZIMMERMANN, Namen, 471. UEBERSCHAER, Ben Sira, 897, verweist darauf, „dass es nicht ‚das Buch Ben Sira‘ gibt, sondern allenfalls ‚das Buch Ben Sira in (mindestens) vierfacher Gestalt‘“, da es auf Hebräisch, Griechisch, Syrisch und Lateinisch überliefert ist. „Der hebräische Text ist nach wie vor lediglich zu gut zwei Dritteln des Buchumfangs bekannt“ (a. a. O., 899). In Bezug auf das „Väterlob“ ist zu konstatieren, dass es „in allen Sprachtraditionen bezeugt ist“ (UEBERSCHAER, Lob, 204). Vgl. zur komplizierten Textüberlieferung ferner: MARBÖCK, Sirach, 503f.; WITTE, Sirach, 561–563. „The passage dealing with Elijah (Sir 48:1–11) is found in Manuscript B., a twelfth century text which is the most extensive of the nine recovered Hebrew Ben Sira manuscripts. The text has been written on a leaf (B XVII verso) which is preserved at Bodleian Library Oxford […] and contains the Hebrew text of Sir 47:23c–48:12b. Unfortunately, the page is badly damaged underneath; from the five final lines on the leaf (48:10–12b), only three cola (48:10a, 10c, and 12b) are undamaged“ (BEENTJES, View, 47); vgl. BEENTJES, Book, 5. „Für den griechischen Text wird in der Regel die Göttinger Ausgabe der Septuaginta als maßgeblich betrachtet, die Joseph Ziegler erstellt hat“ (UEBERSCHAER, Ben Sira, 900). SCHNOCKS, Totenerweckung, 298; vgl. ZIMMERMANN, Namen, 475.
96 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen ה מ ק י ם ג ו ע מ מ ו ו מ ש א ול כ ר צ ו ן ייי Der du zu zum Aufstehen gebracht hast einen, der gerade verstorben ist, aus dem Tod319 / und aus der Scheol nach dem Wohlgefallen JHWHs.
Bemerkenswert an dieser Aussage ist zunächst einmal ein rhetorisch-stilistischer Aspekt. Bis auf das Lob des Salomo in Sir 47,14–21 sind Jesus Sirachs laudationes der bedeutenden Israeliten immer in der 3. Person verfasst, er schreibt also über die großen alttestamentlichen Protagonisten. In „Sir 48:4–10 the author applies a specific literary feature, which immediately strikes the eye: the apostrophe“320: der Gepriesene wird direkt angesprochen und damit im Vergleich zu den anderen „Vätern“ besonders hervorgehoben. Dies korreliert damit, dass Elia aufgrund der ihm zugeschriebenen Entrückung eine gewisse Einzigartigkeit zukommt. Nur Henoch wurde ebenfalls entrückt (vgl. Sir 44,16). Jesus Sirach vermag somit durch die Verwendung des Stilmittels der Apostrophe „die Schilderung über Elija so zu präsentieren, als würde man ihn nicht durch einen geschichtlichen Rückblick zu erfassen suchen, sondern präsent haben in der Zeit“321 – was in gewisser Weise ja auch deckungsgleich ist mit dem Konzept der Entrückung. In dem Lob, das Elia ausgesprochen wird, kann unschwer eine intertextuelle Bezugnahme auf 1 Kön 17,17–24 erkannt werden – ist doch der Sohn der Witwe zu Sarepta der Einzige, der gemäß „biblischer“ Überlieferung vom Propheten Elia aus dem Tod zum Aufstehen gebracht322 wird. Wie sich zeigen wird, evoziert die in der hebräischen Fassung vom laudator verwendete Begrifflichkeit – anders, als sich das in der griechischen Übersetzung darstellt, die sein Enkel angefertigt hat – eine Vorstellung vom vorliegenden Geschehen, die dem in 1 Kön 17 beschriebenen Szenario sehr ähnlich ist: Die Erweckung findet in einer Phase des Totseins statt, in der ein Verstorbener noch nicht alle Etappen des Todesprozesses absolviert hat. Um darzustellen, dass Elia an einem (noch nicht vor allzu langer Zeit) Verstorbenen tätig geworden ist, verwendet Jesus Sirach vier Ausdrücke, die dem frame „Sterben“ zugeordnet werden können: das Nomen גוע, die präpositionalen Wendungen ממותund ומשאולsowie das mit einem Artikel versehene Partizip המקים.323 Entscheidend für die Vorstellung, die sich die Modell-Leserschaft von Sir 48,5 vom angesprochen Sachverhalt macht, ist in erster Linie das Objekt der
319
320 321 322
323
Ähnlich übersetzt ELLIS, Gender, 204: „The one who raises one who expires from death“ (Hervorhebung im Original fett). BEENTJES, View, 50. HILDESHEIM, Prophet, 80. Vgl. HILDESHEIM, Prophet, 95: „Die Hif’ilform von קוםhat die Bedeutung ‚zum Aufstehn bringen‘.“ Vgl. SCHNOCKS, Totenerweckung, Anm. 27, 298: „Die Parallelisierung von משאולmit ממות und die Konstruktion mit גועund קוםhi. lässt ein metaphorisches Verständnis viel weniger zu als bei den anderen Belegen einer Errettung משאולin Ps 30,4; 86,13; Spr 15,24; 23,14.“
4 Elia und Elisa als Totenerwecker im „Lob der Väter“ (Sir 48)
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Prophetenhandlung: die nominalisierte Wurzel גוע, die im alttestamentlichen Sprachgebrauch häufiger als Verb denn als Nomen zu finden ist. Das hebräische Verb גועist ein Polysem, das auch in Sir324 bedeutungsgleich mit מות verwendet wird und im Deutschen „sterben“ bedeutet. So wird in Sir 14,17 mit der Wendung גוע יגועוauf die Formulierung מות תמותin Gen 2,17 Bezug genommen,325 was in einer deutschen Übersetzung folgendermaßen zum Ausdruck gebracht werden kann: „Es altert alles Fleisch wie ein Gewand, nach uralter Satzung müssen sie sterben.“326 Als Nomen zur Bezeichnung eines Verstorbenen wird die Wurzel גועabgesehen von Sir 48,5 auch noch in Sir 8,7a verwendet. In diesem Vers warnt der Verfasser davor, sich über den Tod eines anderen zu freuen, da schließlich alle irgendwann einmal (sc. zu den Vorfahren) versammelt werden. In diesem Kontext kann das polyseme גועebenfalls als synonym zu מותaufgefasst werden. Im Buch Genesis finden sich aber auch Textstellen, in denen גועeinen anderen frame als מותevoziert.327 In Gen 25,8.17; 35,29 und 49,33 wird jeweils – dem prozessualen israelitischen Todesverständnis entsprechend – ein Sterbe- und Bestattungsprotokoll in drei Etappen vorgelegt: 1. den letzten Atemzug tun, 2. sterben und 3. zu den Vorfahren versammelt werden, wobei גועimmer die erste Stufe und מותdie zweite bezeichnet, für die dritte steht die Wendung אסף אל עמיו.328 Dass auch Jesus Sirach Sterben und Tod prozesshaft konzeptualisieren kann, zeigt sich im Abschnitt Sir 38,16–23, in dem der Verfasser „Anweisungen [gibt], wie man sich angesichts des Todes eines Anderen verhalten soll.“329 Während unter Verwendung der Wurzel מותin Sir 38,16a.b.c grundsätzlich eingefordert wird, im Todesfalle die traditionelle Totenklage und die Verhüllung des Leichnams mit einem Tuch vorzunehmen, wird in Sir 38,16d mit der Formulierung בגויעתם, welche mit גויעeine von der Wurzel גועabgeleitete Wort-Neuschöpfung enthält,330 dazu aufgerufen, sich nicht zu verbergen ()אל תתעלם, wenn jemand dabei ist, sein Leben auszuhauchen.331 Offensichtlich geht es dem Verfasser darum anzuzeigen, 324
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Die Wurzel גועist in Sir an folgenden Stellen belegt, vgl. BARTHÉLEMY/RICKENBACHER, Konkordanz, 73f.: 8,7; 14,17.18; 25,24; 37,30.31; 48,5. Laut LEE, Death, 126, gilt: „Ben Sira uses the verb גועon almost all occasions as a synonym of the verb “מות, wohingegen ELLIS, Gender, 203, feststellt: „The Hebrew verb ]…[ גועoften indicates the end of life, but in terms of the process of dying rather than the state of death, which is מות.“ Laut SMEND, Weisheit, 135f., ist גוע יגועוin Sir 14,17 „in Anführungszeichen zu denken“, weil Gen 2,17 zitiert wird. KAISER, Carpe diem, 266. Vgl. LEE, Death, 127: „Even in the H[ebrew]B[ible], the primary and more attested meaning for the word גועis ‚to g[r]asp for breath/pass away‘“. Gemäß LIESS, Leben, o. S., bedeutet „ גועwörtl. ‚nach Luft schnappen‘“, was sich, abgesehen von den im Fließtext besprochenen Genesis-Belegen, in denen dieses ‚Schnappen nach Luft‘ dem ‚letzten Atemzug‘ entspricht, auch noch an Ps 104,29 zeigen lässt. Hier wird die Konsequenz, die sich daraus ergibt, wenn der Atem ( )רוחweggenommen wird, mit einer Form von גועversprachlicht: „Nimmst du ihren Atem weg, so schnappen sie nach Luft/tun sie ihren letzten Atemzug und kehren zurück zu ihrem Staub.“ Vgl. NEUMANN-GORSOLKE, Alt, 122f. KAISER, Verständnis, 185. Vgl. ELWOLDE, Developments, 31: „At 38.16, there seems to be a new noun, meaning ‚death‘, derived from the biblical verb ‚ גועexpire‘, attested in the margin as )בגויעם( ְגּ ִויַﬠand in the main text as )בגויעתם( ְגּ ִויָﬠה.“ Vgl. die Übersetzung bei KAISER, Verständnis, 185.
98 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen dass man Sterbenden beistehen möge. Wenn dann der tote Mensch „ruht“ (מת מושבת, Sir 38,23), was impliziert, dass seine Bestattung stattgefunden hat, rät Jesus Sirach hingegen, bald mit dem Trauern aufzuhören (Sir 38,20–23). Zu diesem Zeitpunkt ist dann nämlich ein Umstand zu konstatieren, der auch in anderen israelitischen Texten, die von Sterben und Tod handeln, nicht am Anfang des Todesprozesses, sondern erst in einem späteren Stadium verortet wird: seine „Lebenskraft“ ( ;נפשוSir 38,23) ist aus dem verstorbenen Menschen hinausgegangen. Die Verwendung von גועin Ps 88,16 zeigt, dass diese polyseme Wurzel abgesehen vom „Seinen-letzten-AtemzugTun“ und vom „Totsein“ in einem anderen Kontext noch eine weitere Vorstellung auslösen kann: die des Siechtums. Ps 88,16 ergibt nur dann einen Sinn, wenn mit dem hier verwendeten גועweder der im Gange befindliche noch der vollzogene Übergang vom Leben zum Tod, sondern ein Zustand, der irgendwann einmal im Tod enden wird, bezeichnet wird. Bernd Janowskis Übersetzung des Psalmverses bringt diese Begriffskonnotation gut zum Ausdruck: „Elend bin ich und todkrank ( )גועvon Jugend auf“332.
Abgesehen von dem Wort גוע, mit dem das Objekt der Handlung bezeichnet wird, ist außerdem auch noch das Partizip המקים, das die vom Propheten durchgeführte Aktion bezeichnet, polysem. Die zuletzt genannte Partizipialform lässt nicht auf Anhieb auf eine Totenerweckung schließen. In Hos 6,2 z. B. wird – ebenfalls mit einer Hif’il-Form von – ) ְיִקֵמנוּ( קוםauf das Zum-Aufstehen-gebracht-Werden von Kranken durch JHWH Bezug genommen.333 Aufgrund der Tatsache, dass die Hoffnung auf eine (endzeitliche) Auferstehung der Toten von der hebräischisraelitischen Sprachgemeinschaft erst in den jüngeren Schriften des „Alten Testaments“ zum Ausdruck gebracht wird,334 ist nicht davon auszugehen, dass bei der Modell-Leserschaft der hebräischen Fassung von Jesus Sirach das Wort קוםquasi automatisch im Kontext der Rede von einem Toten den frame
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JANOWSKI, Konfliktgespräche, 232. – BARTH, Wurzeluntersuchungen, 8, plädiert dafür, die Bedeutung „siech werden, hinsiechen“ grundsätzlich in allen Verwendungszusammenhängen von גועanzunehmen, was exemplarisch in BARTH, Erwiderung, 801, am Beispiel von Ps 88,16 gezeigt wird. SCHULTHESS, Rez. Barth, 674, hält Barths Forderung, גועniemals mit „sterben“ zu übersetzen, zwar für überzogen, konzediert aber, dass das Wort in „der ungewöhnlichen Verbindung ‚ ]…[ ויגוע וימתkrank sein‘ […] bedeuten kann“ (Hervorhebung im Original gesperrt). Hinfällig wird dieser Disput, wenn das Verb grundsätzlich als polysem angesehen wird. Gegen HILDESHEIM, Prophet, 95. – Vgl. zur Debatte darüber, ob es in Hos 6,2 um Totenerweckung oder Heilung von Krankheit geht: COOK, Tomb, 468–470; EBERHARDT, Unterwelt, 304–307. Die Zahl der Veröffentlichungen zur Frage, ab wann das Konzept „Auferstehung“ im alttestamentlichen Schrifttum belegt ist, ist legion. Verwiesen sei an dieser Stelle deshalb zur ersten Orientierung auf die Einschätzung in STEMBERGER, Art. Auferstehung I/2. Judentum, 443: „Der Gedanke der Auferstehung scheint im israelitisch-jüdischen Denken erst ziemlich spät auf […]. Einziger absolut unbestrittenerer Auferstehungstext im hebräischen Alten Testament ist Dan 12,2f.“ Hier wird allerdings nicht קום, sondern das in diesem Kontext synonyme Wort קיץverwendet.– Nach WITTE, Kanon, 51 und 71, kannte Jesus Sirach das Danielbuch nicht; vgl. auch FOX, Canon, bes. 342.
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„Wiederbelebung“ evoziert hat.335 Angesichts der Vieldeutigkeit der Formulierung, mit der in Sir 48,5 auf den von Elia gemäß der Überlieferung von 1 Kön 17 zum Aufstehen gebrachten Jungen referiert wird, überrascht es nicht, dass der laudator die vom Propheten durchgeführte Aktion durch die Hinzufügung zweier präpositionaler Wendungen näher kennzeichnet. Durch die Erläuterungen ממות und ומשאולkann die Leserschaft erschließen, in welcher Hinsicht Elia als המקים tätig geworden ist: Er hat einen „ גועaus dem Tod“ und „aus der Scheol“ zum Aufstehen gebracht, was impliziert, dass dieser zuvor die Grenze zwischen Leben und Tod bereits überschritten hatte. Es ist nicht zu vermuten, dass die präpositionale Wendung „aus der Scheol“ bei der Modell-Leserschaft bestimmte räumliche Unterweltskonzepte aktualisiert.336 Die Rede vom „Aufrichten eines Toten aus der Scheol“ evoziert nicht unweigerlich das Bild eines Elia, der im Vollzuge der Handlung einen bestimmten, den Toten vorbehaltenen Bereich aufgesucht hätte. Grundsätzlich sind nämlich die Grenzen zwischen dem Gebrauch von שאול als Metonymie für „Tod“337 und der spezifischeren Verwendung für den unterweltlichen Aufenthaltsort von Toten fließend. Somit liegt es nahe, das Syntagma „aus dem Tod und aus der Scheol“ als synonymen Parallelismus zu interpretieren, dessen Verwendung stilistisch motiviert ist. Dass der Tote jedoch als גועbezeichnet wird, ist konstitutiv für die Bedeutung der Aussage: Elia handelt an einem, der sich in einem frühen Stadium des Todesprozesses befindet. Dieser Vorgang wäre ohne das Eingreifen des Propheten unumkehrbar vorangeschritten. Wenn Jesus Sirach abschließend die Wiederbelebung des Toten als „nach dem Wohlgefallen“ JHWHs ( )כרצון יייgeschehen bezeichnet, ist dies als ein Verweis auf die Erzählhandlung von 1 Kön 17,17–24 zu verstehen, in der Elia als ein im Auftrage JHWHs Handelnder dargestellt wird.338 Dass Elia aus der Sicht Jesus Sirachs darüber hinaus von JHWH auch noch weitergehendere Kompetenzen hinsichtlich der Einflussnahme auf Tod und Leben seiner Zeitgenossen eingeräumt werden, zeigt sich in der Weiterführung von Sir 48,5 durch den folgenden, geradezu spiegelbildlich angelegten Vers Sir 48,6, in dem es heißt: „Der du 335
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Vgl. ZIMMERMANN, Namen, Anm. 293, 465: „,Auferwecken‘ ist eine nur im Deutschen mögliche Intensivierung des Verbs ‚Aufwecken‘ und impliziert das ‚von den Toten‘ bereits mit. Im Hebräischen und im Griechischen benötigen die entsprechenden Termini aber immer eine Spezifikation.“ Vgl. auch a. a. O., 523: „weder חיהnoch קוםnoch קיץ, weder ἐγείρειν noch ἀνιστάναι denotieren ‚von den Toten auferstehen‘“. Stark vereinfacht, lässt sich der antik-jüdische Sprachgebrauch von שאולmit HENNING, Educating, Anm. 1, 14, folgendermaßen skizzieren: „Sheol is used more neutrally to signal death (i.e. Gen 42:38; 44:29; 44:31)[,] but it is also described as a dark, dusty, miserable place (i.e. Job 17:13,16; 21:13,26).“ Vgl. zur metonymischen Verwendung von שאולfür Tod: HENNING, Educating, 20 (mit Hinweis auf Ps 89,48 und Jes 38,10). Gegen GOSHEN-GOTTSTEIN, Praise, 253, der behauptet: „It is important to note that divine action is not necessary in order to justify the miraculous. The entire passage on Elijah and Elisha (48:1–14) highlights their power to perform miracles, without making any reference either to God as actor or to prayer.“
100 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Könige ins Grab hast hinabsteigen lassen339 und Vornehme von ihren Lagern weg.“ Elia kann gemäß dem Porträt, das im „Lob der Väter“ von ihm gezeichnet wird, im Auftrag JHWHs nicht nur wiederbeleben, sondern auch töten. Somit kommt in der Elia-Tradition, die in den Königebüchern inauguriert und von Jesus Sirach weiter überliefert wird, das Theologoumenon aus 1 Sam 2,6 erneut zum Ausdruck: „Der Herr tötet und macht lebendig, er führt hinab ins Totenreich und führt wieder hinauf“340. In der griechischen Übersetzung, die Jesus Sirachs Enkel zwei Generationen später angefertigt hat, zeigt sich der Text folgendermaßen: ὁ ἐγείρας νεκρὸν ἐκ θανάτου καὶ ἐξ ᾅδου ἐν λόγῳ ὑψίστου· Der du einen Toten erweckt hast aus dem Tod und aus dem Hades durch das Wort des Höchsten.
Da der Übersetzer im Prolog (Sir Prol. 21f.), den er der Übertragung des hebräischen Textes ins Griechische voranstellt, selbst darauf hinweist, dass Original und Übersetzung nie identisch sind, gilt es zu untersuchen, inwiefern sich die frames, welche die griechischen Übersetzungsausdrücke in der Griechisch sprechenden Modell-Leserschaft hervorrufen, von denen unterscheiden, die weiter oben für die hebräische Fassung und deren ideale Leserschaft herausgearbeitet worden sind. Anders als der hebräische Ausdruck גועvermag der Übersetzungsterminus νεκρóς einer griechischen Sprachgemeinschaft keine weiteren Abstufungen hinsichtlich der Unterscheidung verschiedener Grade des Totseins anzuzeigen.341 Die präpositionale Wendung ἐκ θανάτου, mit welcher ממותübersetzt wird, verdeutlicht, dass das substantivierte Partizip Aorist ὁ ἐγείρας nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen ist. Das Syntagma ὁ ἐγείρας νεκρὸν ἐκ θανάτου evoziert somit in der Leserschaft den frame „Totenerweckung“. Nicht ganz eindeutig zu klären ist, inwiefern sich die hinzugefügte Wortgruppe καὶ ἐξ ᾅδου auf die Vorstellung vom Wiederbelebungsvorgang auswirkt, welche die Leserschaft im Rezeptionsvorgang aktualisiert. Eine ideale hellenistisch-jüdische Leserschaft „ruft“ bei der „Verarbeitung“ von Sir 48,5 die Erzählung 1 Kön 17,17–24 „auf“. Hier beugt sich Elia über den Leichnam des Jungen, vollzieht das Ritual der Synanachrosis, sodass die „Lebenskraft“ wieder in das tote Kind zurückkehrt und der Knabe wieder lebendig wird. Unter Berücksichtigung des Prätextes lässt sich also das griechische Wort ᾅδης342 als bedeutungsgleicher 339 340 341
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Vgl. zur Übersetzung: HILDESHEIM, Prophet, 96. Vgl. STADELMANN, Schriftgelehrter, 198f. Vgl. PASSOW II/1, 324, s. v. νεκρóς: „der todte Leib, der Leichnam, die Leiche […], und zwar fast ausschliesslich vom menschlichen Leichnam […]; bes. sind νεκροί, a) die in der Schlacht Gefallenen […]. b) die Todten, die Verstorbenen, Abgeschiedenen überh., im Gegens. der Lebenden.“ Die Mehrstufigkeit des in Gen 25,8.17; 35,29 und 49,33 beschriebenen Sterbeund Beerdigungsprozesses wird in der LXX-Übersetzung mit ἐκλείπειν beschrieben. Der Ausdruck ᾅδης ist in den griechischen Sirach-Manuskripten zehnmal belegt (vgl. SMEND, Index, 4), drei dieser Belege finden sich nur in griechisch überlieferten
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Übersetzungsterminus zu שאולund damit als Synonym zu θάνατος verstehen. Folglich entspricht in formaler Hinsicht die gesamte griechische Formulierung dem synonymen Parallelismus in der hebräischen Vorlage. Eine hellenistisch-jüdisch geprägte Modell-Leserschaft wird aber wahrscheinlich bei der Formulierung ὁ ἐγείρας νεκρὸν […] ἐξ ᾅδου einen Vergleich des jüdischen Propheten Elia mit Helden der griechischen Mythologie wie Asklepios und Herakles nicht ausblenden können. Durch den Zusatz ἐν λόγῳ ὑψίστου wird diese Aktualisierung dann aber schnell wieder unterdrückt, da diese Heroen mit ihren Reanimationen gegen der Willen der Götter verstoßen. Noch deutlicher als in der hebräischen Version kommt in der griechischen Übersetzung heraus, dass dies bei Elia anders ist. Er handelt nicht gegen JHWHs Willen, vielmehr kommt in der vom Enkel gewählten griechischen Formulierung zum Ausdruck, dass Elias Gott letztendlich sogar für die Wiederbelebung verantwortlich ist. Zwar muss die präpositionale Wendung ἐν λόγῳ ὑψίστου, wenn sie unter Ausblendung des restlichen Buches quasi kontextlos rezipiert wird, aufgrund der Vieldeutigkeit der griechischen Präposition ἐν nicht unbedingt instrumental verstanden werden. Der griechische Satz ließe sich auch folgendermaßen paraphrasieren: Elia, der einen Toten aus dem Tod und aus dem Hades erweckt hat, als er (sc. Elia) vom Wort des Höchsten ergriffen war. In diesem Falle würde die Präposition ἐν als ein sprachliches Mittel interpretiert werden, mit dem das „Erfüllt-, Ergriffensein [einer Person] durch etw.[as]“343 bezeichnet werden kann; der eigentliche Totenerwecker wäre Elia, der sich allerdings aufgrund seines Status als „Mann Gottes“ bzw. Prophet in einem besonderen Zustand befunden hätte. Innerhalb von Sir findet sich die Rede vom „Wort“ bzw. von den „Worten“ Gottes allerdings zweimal in Kontexten, in denen es um die Schöpfung geht. So heißt es in Sir 42,15 mit Blick auf die Erschaffung der Welt: ἐν λόγοις κυρίου τὰ ἔργα αὐτοῦ.344 Eine ganz ähnliche Aussage findet sich mit Blick auf Gottes Schöpfungswerk in Sir 43,26b: καὶ ἐν λόγῳ αὐτοῦ σύγκειται τὰ πάντα. In beiden Aussagen muss die Präposition ἐν instrumental verstanden werden: Gott, der Schöpfer, wirkt „durch sein Wort/durch seine Worte“. Vor diesem Hintergrund wird auch die grundsätzlich mehrdeutige Formulierung in Sir 48,5 disambiguiert: Elia erweckt den Toten „durch das Wort des Höchsten“, womit auf die schöpferische Kraft JHWHs verwiesen wird, die sich nicht bloß einmalig in der Erschaffung der Welt manifestiert hat, sondern in der Wiederbelebung resp. Neu-Schöpfung eines Toten aktualisiert.
Die griechische Fassung von Sir 48,5 liegt somit ganz auf einer Linie mit den in 1 Kön 17,21–22 erzählten Vorgängen bei der Wiederbelebung des toten Kindes, die ebenfalls durch ihre sprachliche Nähe zu Gen 2,7 als Neu-Schöpfung durch Gott interpretiert werden können. Weder die hebräische noch die griechische Version von Sir 48,5 weisen aufgrund der verwendeten Terminologie ( קוםund
343 344
Manuskripten: Sir 17,27; 21,10; 28,21. Für die übrigen sieben Belege (Sir 9,12; 14,12.16; 41,4; 48,5; 51,5.6) gibt es eine hebräische Vorlage. Bis auf Sir 9,12, wo מותim Hebräischen steht, ist ᾅδης an den anderen sechs Stellen Übersetzungsterminus für שאול. Bauer-Wb, 523. s. v. ἐν. Vgl. SAUER, Lob der Väter, 105.
102 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen ἐγείρειν) eine Neukonzeptualisierung des Wiederbelebungsvorganges auf. Zwar ist nicht explizit davon die Rede, dass aufgrund des reanimierenden Wirkens Elias die „Lebenskraft“ wieder in den Toten zurückkehrt. Aufgrund der Tatsache, dass der Verstorbene – insbesondere wegen des in der hebräischen Fassung verwendeten Wortes – גועals einer zu imaginieren ist, der sich noch in einem frühen Stadium des Todesprozesses befindet, bleibt das Konzept der reversio animae jedoch mit der Rede vom „Zum-Aufstehen-Bringen/Erwecken“ kompatibel.
4.3
Lob des Elisa in Sir 48,13–14
Die Verdienste des Elisa werden in Sir 48,12b–14 im Anschluss an die Passage des Väterlobes aufgelistet, welche dem Elia gewidmet ist. Der Vorgehensweise in der Sirach-Forschung entsprechend, werden im Folgenden die hebräische und die griechische Version getrennt voneinander betrachtet. Für den hebräischen Text, der im Manuskript B XVIII r. überliefert ist, ergibt sich in Bezug auf das totenerweckende Handeln des Elisa folgender Befund: Nachdem in Sir 48,12b summarisch auf das Wirken des Propheten zu Lebzeiten hingewiesen worden ist, gehen die beiden nächsten Verse auf eine Begebenheit ein, die in seinem Grab (wörtlich: „und von unter ihm“ []ומתחתיו, Sir 48,13b)345 bzw. in seinem Tod (ובמותו, Sir 48,14b) verortet wird.
כל דבר לא נפלא ממנו ומתחתיו נברא בשרו׃ בחייו עשה נפלאות ובמותו תמהי מעשה׃
Überhaupt keine Sache war zu wundervoll für ihn, und „von unter ihm“ wurde sein Fleisch erschaffen, In seinem Leben tat er Wunder, und in seinem Tod erstaunliche Taten.
Ein in sich kohärentes Verständnis dieser auf den ersten Blick etwas rätselhaften Verse lässt sich konstruieren, wenn erstens eine intertextuelle Bezugnahme auf 2 Kön 13,20–21 angenommen, zweitens das Vorkommen von Schöpfungsterminologie berücksichtigt und drittens die formale Gestaltung von Sir 48,13–14 als synthetischer Parallelismus beachtet wird. Bereits im Lob des Elia liegt ein Rückverweis auf die in 1 Kön 17,17–24 überlieferte Erzählung vor, die von seinem (Mit-)Agieren bei der Wiederbelebung des toten Knaben in Sarepta handelt. Dieser intertextuelle Rekurs bereitet die Leserschaft darauf vor, dass auch in der laudatio des Elisa mit Anspielungen auf Passagen aus den Königebüchern zu rechnen ist. Eine derartige Erwartungshaltung stellt sich nicht zuletzt deshalb ein, weil Elisa von Jesus Sirach explizit in Relation zu Elia in das laus patrum eingeführt wird: als derjenige, der gemäß Sir 48,12c 345
Vgl. zur Übersetzung von ומתחתיוmit „Grab“: SMEND, Weisheit, 463 (mit Verweis auf die Parallele Sir 46,12); DRIVER, Notes, 287.
4 Elia und Elisa als Totenerwecker im „Lob der Väter“ (Sir 48)
103
doppelt so viele Zeichen wie sein Vorgänger bewirkt habe.346 Die Rede in Sir 48,14b von den erstaunlichen Taten347 des Elisa in seinem Tod lässt sich somit leicht auf die Belebung des Toten beziehen, der gemäß 2 Kön 13,20–21 wieder auf seinen Füßen steht, nachdem er in Kontakt mit Elisas Gebeinen gekommen ist. Aufgrund des synthetischen Parallelismus, der für die formale Gestaltung der beiden Verse Sir 48,13–14 aus stilistischen Gründen zu konstatieren ist, liegt es prima vista nahe, auch den vorangehenden Halbvers Sir 48,13b auf die Wiederbelebung des בשרzu beziehen, das dem Mann zu eigen ist, der zu den Gebeinen des Elisa in das Schachtgrab hinuntergeworfen wird. Dagegen spricht allerdings der grammatische Befund: „it cannot be […] the man who came to life when he touched the bones of Elisha, since the pronouns can refer only to the prophet.“348 Um bei der Interpretation dieses Verses nicht gegen die hebräische Grammatik zu verstoßen, wird deshalb häufig in Anlehnung an die griechische Übersetzung des Enkels, die an dieser Stelle das Wort ἐπροφήτευσεν aufweist, die Verbform נבראin das vermeintlich ursprüngliche נבאabgeändert.349 Diese Modifikation führt dann zu einer Übersetzung wie: „und von seinem Platz wirkte sein Leib prophetisch“350. Unter der textkritischen Prämisse, dass im Zweifelsfall immer die lectio difficilior gegenüber einer vermeintlich plausibleren Lesart zu bevorzugen ist, sollte jedoch an der Nifal-Verbform נבראfestgehalten werden.351 Diese Entscheidung hat zur Folge, dass der Fokus im Halbvers Sir 48,13b nicht auf dem toten Mann liegt, der in ein bereits bestehendes Schachtgrab geworfen wird, sondern auf dem toten Elisa, der sich in eben dieser Grabstätte befindet. Gleichzeitig wird bei dieser Textfassung mit נבראeine Form des Schöpfungsterminus בראverwendet, der in der hebräischen Bibel „ausschließlich das Schaffen Gottes“352 bezeichnet. Somit kommt aufgrund der mit בראverbundenen Konno346
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350 351 352
Bezieht man Sir 48,13–14 auf die Wiederbelebung des Toten, der in Elisas Grab geworfen wird, so ergibt sich zusammengenommen mit der Auferweckung des Sohnes der Schunemiterin, an der Elisa ebenfalls beteiligt ist, im Vergleich zwischen Elia und Elisa in ihrer Funktion als Totenerwecker in der Tat eine doppelte Anzahl an Mitwirkungen bei Wiederbelebungsaktionen für Elisa. SCHNOCKS, Totenerweckung, 296, übersetzt Sir 48,14 folgendermaßen: „In seinem Leben tat er Wunder / und in seinem Tod Erstaunliches von einer Tat“ und begründet dies a. a. O., Anm. 24, mit dem Hinweis darauf, dass die Form [„ תמהיb]iblisch-hebräisch […] nicht belegt [ist]; am sinnvollsten erscheint die Ableitung von der Wurzel תמהin Form eines pl. cs. des im Mischnahebräisch belegten Substantivs “ִתיָמה. DRIVER, Notes, 287; vgl. SARACINO, Resurrezione, 195. Vgl. SMEND, Weisheit, 463; STADELMANN, Schriftgelehrter, Anm. 1, 203; HILDESHEIM, Prophet, 74. HILDESHEIM, Prophet, 73 (im Original kursiv). Vgl. SARACINO, Resurrezione, 196. WESTERMANN, Anfang, 18. Vgl. SILVA, Erde, 25: In prominenter Form wird בראim ersten Schöpfungsbericht eingesetzt, wo das Wort „siebenmal gebraucht wird. Dort beginnt und endet die Beschreibung der Schöpfung mit dem Verb (Gen 1,1; 2,3.4).“ Im Nifal ist ברא
104 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen tationen implizit JHWH als eigentlicher Initiator der Geschehnisse im Schachtgrab mit ins Spiel. Bei den von Jesus Sirach beschriebenen Vorgängen im Grab des Propheten wird also, bevor es zur Wiederbelebung des toten Mannes kommt, zunächst Elisas „Fleisch“ ( )בשרוeiner Art Neuschöpfung ( )נבראin Form einer „partiellen Wiederbelebung“ unterzogen. Diese versetzt ihn in einen Zustand, der sein Mitwirken an der (vollständigen) Wiederbelebung des toten Mannes ermöglicht. Diese Interpretation von Sir 48,13b lässt sich durch folgende Überlegungen untermauern: In dem zugrundeliegenden Prätext (2 Kön 13,21) heißt es, dass der in Eile zu Bestattende zu den Gebeinen ( )ְבַּﬠְצמוֹתdes Elisa geworfen wird. Diese Schilderung evoziert die Imagination, dass der im Grab befindliche Leichnam des Propheten bereits so stark verwest ist, dass nur noch seine Knochen übriggeblieben sind. Dass ein Skelett – und sei es das eines Propheten – an der Wiederbelebung eines anderen Toten beteiligt sein könne, hat sich Jesus Sirach offensichtlich nicht vorstellen können. Somit greift er auf den in Ez 37,5–6 beschriebenen Wiederbelebungsprozess von Gebeinen ( )ֲﬠָצמוֹתzurück, in dem zum vorhandenen Knochengerüst Sehnen ()ִגִּדים, Fleisch ( )ָבָּשׂרund Haut ( )עוֹרdazukommen, die dann zur Erlangung der vollständigen Lebendigkeit abschließend von JHWH mit Atem ( )רוַּחversehen werden. Zu beachten ist, dass mit dem Ausdruck בשרinnerhalb dieser Wiederbelebungsschilderung nur ein Teilaspekt dessen bezeichnet wird, was zur Lebensfähigkeit eines Menschen gehört. Da dieser Bestandteil der menschlichen Physis darüber hinaus als erster nach dem Tod wieder zerfällt, gilt der Ausdruck בשרim Sprachgebrauch des Hebräischen auch als „Symbol der Vergänglichkeit.“353 Ein im Grab liegender, wieder mit Fleisch versehener Leichnam des Elisa ist somit kein wiederbelebter Prophet, aber ein mit ausreichender physischer Substanz ausgestatteter Wiederbelebungsmittler des eigentlichen Akteurs JHWH. Ist diese Vorstellung korrekt, dann besteht die Parallelität der einander entsprechenden Versglieder Sir 48,13a – 14a sowie Sir 48,13b – 14b darin, dass in der jeweils ersten Vershälfte auf die grundsätzliche Befähigung des Elisa zu außergewöhnlichen Taten verwiesen wird. Die jeweils zweiten Vershälften exemplifizieren diese besondere Qualifikation des Propheten am Beispiel der Vorgänge in seinem Grab, wobei der Fokus in Sir 48,13b auf JHWHs Handeln an Elisa und in Sir 48,14b auf der Mitwirkung des mit Fleisch versehenen Leichnams des Propheten an der Wiederbelebung des in sein Grab geworfenen Toten liegt. Um die griechische Fassung von Sir 48,13–14 in eine in sich kohärente Vorstellung zu überführen, bedarf es von Seiten der Leserschaft wesentlich weniger Inferenzen als bei der hebräischen:
353
dreimal in den Psalmen belegt (Ps 102,19; 104,30; 148,5) und verweist jedes Mal auf ein Objekt, an dem JHWH schöpferisch tätig wird. SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 241; vgl. auch SCHELLENBERG, Fleisch, 112.
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πᾶς λόγος οὐχ ὑπερῆρεν αὐτόν, καὶ ἐν κοιμήσει ἐπροφήτευσεν τὸ σῶμα αὐτοῦ· καὶ ἐν ζωῇ αὐτοῦ ἐποίησεν τέρατα, καὶ ἐν τελευτῇ θαυμάσια τὰ ἔργα αὐτοῦ. Kein Wort hat ihn überwunden, und im (Todes-)Schlaf354 hat sein Leichnam prophetisch gewirkt, und in seinem Leben hat er Wunder vollbracht, und in seinem Ende waren seine Werke wunderbar.
In der Darstellung des Sirach-Enkels wird die Beteiligung von Elisas Leichnam an der Wiederbelebung des Toten als Ausdruck prophetischen Wirkens (ἐπροφήτευσεν) bezeichnet, was impliziert, dass die gesamte Aktion von JHWH initiiert ist und nicht als selbstständige Handlung seines σῶμα konzeptualisiert werden soll.355 Was schon in Bezug auf das reanimierende (Mit-)Wirken des Elia konstatiert werden konnte, erweist sich somit auch hinsichtlich der Wiederbelebungen, an denen Elisa beteiligt ist, als ein konzeptueller Grundzug, der sich von den Königebüchern über die hebräische Fassung von Sir bis hin zur griechischen Übersetzung des Jesus-Sirach-Enkels durchhält: Auch Elisa wird nicht als selbstständig agierender Totenerwecker wahrgenommen, sondern als im Modus prophetischer Zeichenhandlungen Wirkender beschrieben, der auf JHWHs schöpferische Potenz verweist. Dass diese Totenerweckungen ausschließlich an Verstorbenen vollzogen werden, die sich noch in einem frühen Stadium des Todesprozesses befinden, wird allerdings nicht explizit thematisiert.
354
355
Vgl. zu diesem Euphemismus von „Schlaf“ (κοίμησις) für „Tod“: WAGNER, SeptuagintaHapaxlegomena, 231. Vgl. STADELMANN, Schriftgelehrter, 203, der betont, „daß hier die Wundertat als ‚Prophetie‘ verstanden ist“, wodurch „Wundertaten im Grunde ein Modus prophetischer Botschaft sind“.
5
Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum
Im vorangehenden Kapitel ist gezeigt worden, dass im Buch „Jesus Sirach“ die Verwendung von „Erweckungs-Terminologie“ in Bezug auf die Rede von den Wiederbelebungen, die Elia und Elisa zugeschrieben werden, nicht zu einer Bewertung ihrer Rolle als „Totenerwecker“ führt, die sich konzeptionell von der in den Königebüchern dargestellten unterscheidet. Als Propheten handeln die Gottesmänner Elia und Elisa nicht selbstständig, sondern im Zusammenwirken mit Gott. Im vorliegenden Kapitel werden die von Elia und Elisa handelnden Totenerweckungserzählungen untersucht, die sich innerhalb des antiken „Prophetenlexikons“356, das traditionell unter dem Titel Vitae Prophetarum kursiert,357 finden lassen. Bevor diese Texte interpretiert werden können, ist allerdings noch die Frage ihrer Datierung zu klären. Darüber, wie die Vitae Prophetarum religions- und literaturgeschichtlich zu verorten sind, besteht kein Konsens: entweder wird das Werk als frühjüdische Schrift angesehen und in die erste Hälfte des 1. Jh.s n. Chr. datiert358 oder man geht von einer Entstehung im christlichen Kontext der Alten Kirche aus und bestimmt das 4. oder 5. Jh. als Abfassungszeit.359 Für die Spät-Datierung sprechen vor allem drei Gründe: zum ersten ist die älteste, im christlichen Kontext überlieferte Handschrift der Vitae Prophetarum, Vat. gr. 2125, in das 6. Jh. n. Chr. zu datieren, was die Frage aufkommen lässt, warum eine im 1. Jh. entstandene jüdische Schrift über mehrere Jahrhunderte hinweg im jüdischen Schrifttum nicht bezeugt worden sein sollte.360 Zum zweiten weisen einige der 356
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Vgl. MITTMANN-RICHERT, Einführung, 157, welche die Schrift „als eine Art Prophetenlexikon“ bezeichnet. Vgl. zu diesem – nicht originalen – Titel, der sich „zu Beginn der Neuzeit“ etabliert hat: SCHWEMER, Studien I, 34. In der von der Forschung als verlässlichste Quelle angesehenen Handschrift Vat. gr. 2125 (vgl. a. a. O., 13) wird folgender Titel angegeben: ΟΝΟΜΑΤΑ ΠΡΟΦΗΤΩΝ ΚΑΙ ΠΟΘΕΝ ΕΙΣΙ ΚΑΙ ΠΟΥ ΑΠΕΘΑΝΟΝ ΚΑΙ ΠΩΣ ΚΑΙ ΠΟΥ ΚΕΙΝΤΑΙ. Prominenteste Vertreterin der Frühdatierung ist Anna Maria Schwemer, die in mehreren Veröffentlichungen zur Datierungsfrage Stellung genommen hat, vgl. u. a. SCHWEMER, Studien I, 65–71; SCHWEMER, Lives, 415. Für eine Datierung vor 70 n. Chr. votieren auch: HARE, Lives, 380f.; ÖHLER, Elia, Anm. 53, 12; MITTMANN-RICHERT, Einführung, 157f.; KOSKENNIEMI, Miracle-Workers, 160f.; KEDDIE, Vitae, 86–88. JEREMIAS, Heiligengräber, 12, votiert dafür, dass die jüdische „Grundschrift auf jeden Fall vor 150 n.Chr. anzusetzen“ sei. Für die Spätdatierung hat in jüngerer Zeit vehement plädiert: SATRAN, Prophets, bes. 97–105. Konsens besteht mittlerweile hinsichtlich der Frage, dass die Vitae Prophetarum ursprünglich auf Griechisch (und nicht auf Hebräisch oder Syrisch) abgefasst worden sind, vgl. dazu SCHWEMER, Studien I, 56–58; KOSKENNIEMI, Miracle-Workers, 160. Vgl. SATRAN, Prophets, 30.
108 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Prophetenbiographien Stellen auf, die eindeutig christlichen Ursprungs sein müssen, weshalb es sich nahelegt, diese nicht als christliche Interpolationen innerhalb einer jüdischen Grundschrift, sondern als originäre Bestandteile eines christlichen Textes anzusehen.361 Zum dritten lassen sich die Heiligenlegenden der Alten Kirche als Gattungsparallelen zu den Prophetenbiographien anführen.362 Eine Datierung der Vitae Prophetarum in die Zeit vor der Tempelzerstörung um 70 n. Chr. liegt hingegen aus folgenden Gründen nahe: Bezugnahmen auf den Tempel innerhalb der einzelnen Prophetenbiographien lassen nicht darauf schließen, dass das Heiligtum zur Zeit der Abfassung dieser Texte bereits zerstört gewesen wäre.363 Die Stellen, an denen von einer möglicherweise bevorstehenden Tempelzerstörung die Rede ist, erscheinen aufgrund ihrer Unkonkretheit weniger als ein vaticinium ex eventu, sondern vielmehr als Widerspiegelung einer Bedrohungssituation durch ein Volk aus dem Westen (VitProph 12,11), wie sie zu Beginn des 1. Jh.s in der Levante ja auch in der Tat vorlag. Das besondere Interesse, das diese Prophetenbiographien an jüdischen Prophetengräbern zeigen, findet einen außertextuellen Widerhall in den „Bauten des Herodes I. am David-Grab und dann in Hebron und Mamre, die durch Josephus bezeugt bzw. archäologisch gesichert sind“364. Schließlich existiert im Hinblick auf die Gattung der Vitae Prophetarum auch eine Gattungsparallele aus vorchristlicher Zeit: die hellenistisch-römischen Bioi, die in formaler und inhaltlicher Hinsicht große Übereinstimmungen mit den Prophetenbiographien aufweisen.365
Die vorliegende Untersuchung schließt sich der Hypothese einer Datierung im 1. Jh. n. Chr. (vor 70) an.
5.1
Jona-Vita: Elia und der tote Jona (VitProph 10,4–5)
In die Jona-Vita ist eine Totenerweckungserzählung (VitProph 10,4–5366) eingebettet. Diese kann insofern als eine Variante der Erzählung aus 1 Kön 17,17–24 bezeichnet werden, als in dieser Version der Sohn der Witwe mit dem Propheten Jona identifiziert wird. Die dem Jona gewidmete biographische Skizze ist als 361 362
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Vgl. SATRAN, Prophets, 29. Vgl. SATRAN, Prophets, 99, der als nächste Gattungsparallele „the early fifth century collections of the lives of the monks of Egypt and of Syria“ anführt und ebd. auf folgende Texte verweist: „the anonymous History of the Monks of Egypt, the Lausiac History of Palladius, and the Religious History (of the Monks of Syria) by Theodoret of Cyr.“ Vgl. MITTMANN-RICHERT, Einführung, 157f.: „In das Bild dieser Epoche paßt [...] die Erwartung der Zerstörung des zweiten Tempels (10,8; 12,11–14; 15,5; vgl. auch 2,12 und 23,2), ohne daß die diesbezüglichen Anspielungen bereits als Reaktion auf die geschehene Zerstörung zu deuten wären.“ SCHWEMER, Neues Testament, 204; vgl. JEREMIAS, Heiligengräber, 13. Gemäß SCHWEMER, Vitae, 546, entsprechen die geographischen Angaben der Vitae Prophetarum den Gegebenheiten der „hasmonäische[n] Glanzzeit“. Vgl. SCHWEMER, Studien I, 43–50; SCHWEMER, Vitae, 544f., und SCHWEMER, Neues Testament, 201–203. Die Zählung orientiert sich an der Textausgabe von SCHWEMER, Studien I und II.
5 Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum
109
Ganze in zwei verschiedenen Versionen überliefert, deren handschriftlicher Befund sich „in zwei große Familien“367 aufteilen lässt. Zuerst sei in deutscher Übersetzung368 die Version Vat. gr. 2125 der eingefügten Totenerweckungserzählung vorgestellt, die wohl auch als die ältere anzusehen ist: 4 Damals wies Elia das Haus Ahab zurecht. Und als er eine Hungersnot über das Land angekündigt hatte, floh er. Und er kam und fand die Witwe mit ihrem Sohn, denn er konnte nicht bei Unbeschnittenen bleiben, und er segnete sie (εὐλόγησεν αὐτήν). 5 Und als ihr Sohn gestorben war (Καὶ θανόντα τὸν υἱὸν αὐτῆς), erweckte Gott ihn wiederum von den Toten durch Elia (πάλιν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν ὁ θεὸς διὰ τοῦ Ἠλία). Denn er wollte ihm zeigen, dass er Gott nicht weglaufen kann.
Den Abschnitt VitProph 10,4–5 als Binnenerzählung aus dem Gesamt der JonaBiographie herauszulösen ist insofern gerechtfertigt, als gleich die ersten drei Worte mit Ἦν τότε einen neuen Erzählstrang eröffnen und mit Ἠλίας eine neue Erzählfigur einführen. Die nächste Zäsur liegt dann VitProph 10,6 vor, wenn von einem erneuten Ortswechsel des Jona berichtet wird (ἦλθεν ἐν γῇ Ἰούδα). Der Abschnitt VitProph 10,1–3, der vor der kurzen Erzählung steht, ist auf diese eng bezogen: Hier geht es um die Herkunft des Jona aus Kariathmaous,369 den Vorfall mit dem Fisch sowie darum, dass Jona nach einem Aufenthalt in Ninive und der Rückkehr in seinen Geburtsort zusammen mit seiner Mutter in die χώρα von Σουρ, also das Hinterland von Tyrus,370 umzieht. Sowohl der Herkunftsort des Jona als auch der später von ihm aufgesuchte Ort im Gebiet Σουρ werden sorgfältig lokalisiert, sodass der Prophet, wenn er sich dann in Phönizien aufhält, als ein Judäer371 erscheint, den es in die Fremde verschlagen hat. Ein anderer Aspekt der Jona-Biographie: sein Verschlungen- und Wiederausgespuckt-Werden durch den Fisch, wird im Eingangsabschnitt seiner Vita allerdings nur andeutungsweise dargestellt, und zwar in Form einer Partizipialkonstruktion: ἐκβρασθεὶς ἐκ τοῦ κήτους (VitProph 10,2). Die Modell-Lektüre der Jona-Vita bedarf also einer Vertrautheit mit dem Inhalt des „biblischen“ Jonabuches (Jona 2,1–11), wenn alle Anspielungen dechiffriert werden sollen.
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SCHWEMER, Studien II, 51. SCHERMANN, Vitae, 82–85 – die heute immer noch maßgebliche textkritische Ausgabe der Vitae Prophetarum – druckt die Jona-Vita synoptisch ab, wobei Vat. gr. 2125 und Coisl. 205 nebeneinandergestellt werden. Die Übersetzung erfolgt in enger Anlehnung an SCHWEMER, Studien II, 48. „Den Herkunftsort [...] mit der nur schwach gräzisierten Namensform Kariathmaous kennen wir in seiner griechischen Form nur aus der Jona-Vita“ (SCHWEMER, Studien II, 53). „Der Name Kariathmaous weist mit den Bestandteilen ‚quirjat‘ und ‚maous‘ (= Hafen) auf einen Ort in Wassernähe. Es handelt sich um die ‚Hafenstadt‘ von Aschdod/Azotos“ (SCHWEMER, Vitae, 617). Laut SCHWEMER, Studien II, 64, kann Σουρ an dieser Stelle nur „die hebräische Namensform von Tyrus צורwiedergeben. In unserer Literatur ist bezeichnenderweise sonst nur noch Jdt 2,28 Σουρ für Tyrus belegt. Der weitere Kontext [... von Vat. gr. 2125] setzt voraus, daß eindeutig Tyrus gemeint ist.“ Vgl. SCHWEMER, Lives, 423: Jona „is considered a Judean.“
110 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen In VitProph 10,3 wird die Motivation, aus der heraus sich Jona als Judäer in die Fremde begibt, ausführlich in Form einer Figurenrede wiedergegeben. „So werde ich meine Schande beseitigen (οὕτως ἀφελῶ ὄνειδός μου), denn ich habe gelogen, als ich weissagte gegen Ninive, die große Stadt.“ Aus dieser Figurenrede erschließt sich der Leserschaft das Bild eines Propheten, der seine Heimat verlässt, weil er unter der Schande seiner Falschaussage leidet.372 Dieser Aspekt der Jona-Figur: dass sie sich selbst als gescheitert ansieht und quasi davonläuft, wird dann im nächsten Abschnitt: der Totenerweckungserzählung, wieder aufgegriffen. Somit kann festgehalten werden, dass die als Binnenerzählung in die Vita eingebettete Totenerweckungserzählung kohärent in das Lebensbild des Propheten integriert wird. Dennoch löst die in VitProph 10,4 neu einsetzende Binnenerzählung bei der Modell-Leserschaft zunächst Befremden aus. Mit Blick auf die außertextuelle Realität ist nämlich festzuhalten, dass der „historische“ Elia unter Ahab, der „historische“ Jona hingegen unter Jerobeam II. tätig war.373 Als „reale Gestalten“ der außertextuellen Wirklichkeit waren beide keine Zeitgenossen. Als Erzählfiguren der Jona-Vita haben sie jedoch gemeinsam, dass sie beide auch zum Figureninventar der Königebücher gehören, was ihrem gemeinsamen Auftreten in VitProph 10,4–5 eine gewisse Plausibilität verleiht. In narratologischer Hinsicht ist auffällig, dass mit dem Auftreten der neuen Erzählfigur Elia auch die Erzählperspektive wechselt. Während im Erzähleingangsteil Jona im Fokus steht, indem er als Protagonist der Handlung fungiert und auch in grammatischer Hinsicht stets die Subjekt-Funktion im Satz übernimmt, wird er in VitProph 10,4–5 zur Nebenfigur. Von dem Moment an, wenn Elia in die erzählte Welt der Jona-Vita eintritt, stellt der Erzähler die Handlung nicht mehr aus der Perspektive des Jona, sondern zunächst aus dem Blickwinkel des Elia und dann aus der Sichtweise Gottes dar. So wird zuerst aus Elias Perspektive geschildert, warum er ins Gebiet von Σουρ kommt: weil er nämlich nach seiner Unheilsansage an Ahab vor diesem fliehen muss. Wenn der Erzähler dann vom Aufeinandertreffen von Elia und Jona erzählt, wird auf letzteren nicht mit seinem Namen Bezug genommen, sondern er wird nur als „Sohn der Witwe“ bezeichnet (εὗρε τὴν χήραν μετὰ τοῦ υἱοῦ αὐτῆς; VitProph 10,4). Als Grund für das Zusammenkommen von Prophet, Witwe und Jona wird angegeben, dass Mutter und Sohn aufgrund ihrer Herkunft aus Judäa für Elia den rechten Umgang darstellen: „denn er konnte nicht bei Unbeschnittenen bleiben“ (ebd.). Auch in Bezug auf seine eigene Wiederbelebung erscheint Jona mehr als Objekt denn als Subjekt des Geschehens. Sein Tod wird zunächst aus der Perspektive der Mutter geschildert: Καὶ θανόντα τὸν υἰὸν αὐτῆς (VitProph 10,5) – von 372
373
Vgl. zu anderen frühjüdischen und frühchristlichen Texten, die das Problem der „Falschprophetie“ des Jona bearbeiten: SCHWEMER, Studien II, 69–72. Vgl. SCHWEMER, Studien II, 73. Schwemer schließt a. a. O., 83, „auf Ursprünge dieser Legende in jüdischen Enklaven im Hinterland von Tyrus“.
5 Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum
111
den Umständen seines Sterbens wird nichts berichtet. Bei seiner Erweckung liegt dann der Fokus auf Gott, der durch Elia handelt: ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν ὀ θεὸς διὰ τοῦ Ἠλία. Jona ist als Objekt der Figuren, die an ihm handeln, nur insofern vorhanden, als er als derjenige, der gestorben ist, von der Erzähllogik her das zu implizierende Objekt der mit ἤγειρεν bezeichneten Aktion darstellt. Somit übernimmt die Binnenerzählung der Jona-Vita in VitProph 10,4–5 nicht nur die story, sondern auch den discourse ihrer Vorlage: im Figurenensemble Sohn-Mutter– Elia-Gott spielt der auferweckte Sohn genau wie in den Königebüchern nur eine Nebenrolle. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass in dieser Version der Geschehnisse rund um den toten Sohn der Witwe auch die eigentliche Totenerweckung – wiederum verglichen mit der Vorlage aus den Königebüchern – in ein neues Licht gerückt wird. Die Wiederbelebung des toten Knaben kann im Kontext der alttestamentlichen Erzählung gedeutet werden als narrative Entfaltung des Theologumenons, dass JHWH nicht nur ein Gott der Lebenden, sondern auch ein Gott der Toten ist (Dtn 32,39). Die Reanimation wird in Form einer ritual-symbolischen Handlung des Propheten performativ als ein Geschehen vermittelt, in dem sich die Unbegrenztheit der Macht JHWHs manifestiert. In der Darstellung der JonaVita spielen die äußeren Umstände der Erweckung des toten Sohnes der Witwe keine Rolle. Es wird zwar deutlich, dass Gott nicht unmittelbar in das Geschehen eingreift, sondern über Elia als Mittler agiert. Der eigentliche Wiederbelebungsvorgang wird jedoch nicht anschaulich dargestellt, es zählt einzig das „Dass“ des ἐγείρειν, nicht das „Wie“. Die Wiederbelebung des Jona ist in VitProph 10,5 darüber hinaus noch nicht einmal ein singuläres Ereignis im Leben dieses Propheten: Gott erweckt ihn πάλιν – was impliziert, dass die im Eingangsteil der biographischen Skizze nur kurz gestreifte Episode mit dem Fisch als die erste Erweckung angesehen werden muss, die Jona zuteil wird. Ferner erscheint im Kontext der Jona-Vita dessen zweite Erweckung nicht als Gnadenakt oder „wunderbares“ Ereignis, sondern vielmehr als Erziehungsmaßnahme Gottes: ἠθέλησε γὰρ δεῖξαι αὐτῷ, ὅτι οὐ δύναται ἀποδρᾶσαι θεόν (VitProph 10,5). Wäre der Sohn der Witwe im Tod geblieben, hätte er sich Gott nicht erneut stellen müssen. Wieder lebendig, ist er nun als Sprachrohr Gottes ein weiteres Mal gefordert – und kommt am Ende der Jona-Vita in VitProph 10,8 mit seiner Prophezeiung gegen Jerusalem dann auch tatsächlich noch einmal in seiner Funktion als Prophet zu Wort. Verglichen mit den bisher behandelten Versionen der Wiederbelebung, die Elia zugeschrieben wird, stellt eine Reanimation als Strafaktion ein Kuriosum dar. Neben der in Vat. gr. 2125 vorliegenden Version, die sich auch noch in anderen Handschriften findet, liegt eine weitere Rezension vor, die ebenfalls mehrfach belegt ist.374 Diese korrigiert einige Ungereimtheiten, die sich bei der 374
„Die Jona-Vita wird in zwei deutlich in der Reihenfolge voneinander abweichenden Textformen überliefert. Die eine in [...] Coisl. 224; [... Vat. gr. 2125], Ep 2 [= Epiphanii recensio
112 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Zusammenführung der Jona-Vita mit 1 Kön 17,17–24 ergeben haben, indem sie die Wiederbelebung des Jona an den Beginn seines Lebens verlegt. Damit wird der Tatsache, dass der Sohn der Witwe zu Sarepta in 1 Kön 17,19.23 als ein (eher jüngeres) Kind dargestellt wird, das der Prophet Elia ins Oberzimmer hinauf und von dort aus wieder hinuntertragen kann, Rechnung getragen. Wird aber die Wiederbelebung des Jona in seine Kindheit verlegt, muss auch eine andere Motivation für das auferweckende Handeln Gottes gefunden werden – es kann nicht mehr als Bestrafung des erwachsenen Jona dienen, der sich vor Gott verstecken will. Somit wird in dieser Fassung das Eingreifen Gottes: die Wiederbelebung des Sohnes der Witwe, als Gegenleistung für die gastliche Aufnahme erklärt, die der Prophet Elia zuvor bei ihr gefunden hat. In deutscher Übersetzung stellt sich die Version Epiphanii recensio prior der Jona-Erweckung folgendermaßen dar: 4 Damals wies Elia, der Prophet, den Ahab, König Samarias, zurecht. Und als er eine große Hungersnot über das Land angekündigt hatte, floh er in die Wüste und wurde von den Raben ernährt. Und er trank Wasser aus dem Bach. Und als der Bach vertrocknet war, wurde er hungrig. Und er kam nach Sarepta bei Sidon zu einer verwitweten sehr armen Frau, welche die Mutter des Jona war, und er ging in ihr Haus hinein; und sie tat ihm, wie er ihr angeordnet hatte. Und er aß und segnete sie mit Mehl und Öl und blieb bei ihr (καὶ ἔφαγε καὶ εὐλόγησεν αὐτῇ σίτῳ καὶ ἐλαίῳ καὶ ἔμεινε μετ’ αὐτῆς).375 Denn er konnte nicht bei Unbeschnittenen bleiben. 5 Und als ihr Sohn Jona gestorben war (Καὶ θανόντα τὸν υἱὸν αὐτῆς Ἰωνᾶν), ließ Gott [ihn] durch Elia aufstehen (ἀνέστησεν ὁ θεὸς διὰ τοῦ Ἠλία) und er gab ihn lebend seiner Mutter
375
altera, vgl. SCHWEMER, Studien I, 16] und Dor [= Dorothei recensio, vgl. SCHWEMER, Studien I, 15]; die andere in [...] Coisl. 205; Philadelph. 1141; Paris. 1712; Frag. Leyd. Voss[...] und Ep 1 [=Epiphanii recensio prior; vgl. SCHWEMER, Studien I, 14]. Die erste Version ist die ursprünglichere“ (SCHWEMER, Vitae, 617). Vgl. auch SCHERMANN, Propheten- und Apostellegenden, 58, der ebenfalls feststellt, dass „in der vita des Jonas die Recension D1 [= Coisl. 205] ganz von A [= Epiphanii recensio prior] abhängig“ ist. Einen Überblick über die unterschiedlichen Bezeichnungen der Handschriften und Rezensionen in den verschiedenen Textausgaben bietet SCHWEMER, Studien I, 12–25. Für diesen Satz gibt es eine alternative Übersetzungsmöglichkeit: „Und er aß und dankte ihr mit Mehl und Öl und blieb bei ihr.“ Dieser Übersetzungsvorschlag legt sich aufgrund der Tatsache nahe, dass in der Epiphanii recensio prior von VitProph 10,4 die Verbform εὐλόγησεν nicht, wie sonst üblich, mit einem Akkusativ-, sondern mit einem Dativobjekt konstruiert wird: καὶ εὐλόγησεν αὐτῇ. (Vgl. JOOSTEN, On εὐλογέω, 140: „The verb […] normally governs an object in the accusativ, in classical and Hellenistic Greek as in the Septuagint.“) Eine Ausnahme stellt, wie Joosten nachgewiesen hat, nur der hellenistischjüdische Sprachgebrauch dar, der auf eine „close association of εὐλογέω with ἐξομολογέω“ (a. a. O., 142) oder εὐχαριστέω (a. a. O., 143: „A verb that may have had analogous influence is εὐχαριστέω ‚to give thanks.‘ [...] The verb εὐχαριστέω normally takes the dative.“) schließen lässt. Alle drei Verben können im Sinne von „jemandem danken“ verwendet werden und damit einen performativen Sprechakt konstituieren, der vom „Segnen“ zu unterscheiden ist. Der Kontext, in dem εὐλογεῖν innerhalb der vorliegenden Jona-Vita-Rezension verwendet wird, lässt darauf schließen, dass es dem Elia weniger darum geht, die Witwe durch Mehl und Öl zu segnen, als vielmehr darum, ihr mit Mehl und Öl (die in ihrem Topf und Krug laut 1 Kön 17,14 nicht mehr ausgehen bzw. versiegen sollen) zu danken.
5 Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum
113
wegen der/ihrer Gastfreundschaft (καὶ ἀπέδοκεν αὐτὸν ζῶντα376 τῇ μητρὶ αὐτοῦ διὰ τὴν φιλοξενίαν377).
Abschließend ist festzuhalten, dass beide Rezensionen der Vitae Prophetarum, die von der Erweckung des toten Jona erzählen, das totenerweckende Handeln der Erzählfigur Gott durch seinen Propheten Elia als unspektakulär – weil dem bekannten Handlungsrepertoire dieser Figur entsprechend – darstellen. Überraschend ist allerdings, dass in der älteren Version Gott durch eine Totenerweckung an einem abtrünnigen Propheten eine Erziehungsmaßnahme vollstreckt. Tilgt die jüngere Version diesen neuartigen Aspekt, der in einen bekannten plot eingefügt wird, kann das als Indiz dafür gewertet werden, dass die empirische Leserschaft der Vitae Prophetarum es zwar tolerieren konnte, wenn die fest in der frühjüdischen Literaturgeschichte verankerte story von Elia und dem toten Sohn der Witwe mit der Figur des Jona verknüpft wurde, dass es aber nicht akzeptabel war, wenn darüber hinaus auch noch wesentliche Handlungselemente umgeschrieben wurden.
5.2
Elia-Vita: Elia und der tote Sohn der Witwe zu Sarepta (VitProph 21,5)
Innerhalb der Vitae Prophetarum wird die Wiederbelebung des toten Knaben aus Sarepta allerdings auch noch einmal in enger Anlehnung an die Vorlage aus 1 Kön 17 (nach-)erzählt. Die Handschrift Vat. gr. 2125, die innerhalb der Forschung zu den Vitae Prophetarum als die älteste und zuverlässigste gilt, listet innerhalb der Elia-Vita in VitProph 21,4–12 auf, welche σημεῖα Elia im Laufe seines Lebens ausgeführt hat. Da diese Aufzählung in den anderen Rezensionen nicht oder nur stichwortartig verkürzt enthalten ist,378 wird sie „allgemein als 376
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378
Die Formulierung ἀπέδοκεν αὐτὸν ζῶντα τῇ μητρὶ αὐτοῦ (VitProph 10,5) kommt der Passage ζῶντα τὸν παῖδα ἀποδώσειν (Apollod. 3,3.1) sehr nahe, die sich auf die Rückgabe des wiederbelebten Glaukos an seinen Vater bezieht. Zur Datierung von (Ps.-)Apollodoros’ „Bibliotheke“ in den Zeitraum 1. Jh. v. Chr. bis 3. Jh. n. Chr., die es wahrscheinlich macht, dass die Jona-Vita Apollod. als Prätext verwendet, siehe Anm. 431, 129f., in der vorliegenden Untersuchung. Wenn in VitProph 10,5 das hellenistische φιλοξενία-Motiv eingeführt wird, verfährt die jüngere Rezension der Jona-Vita nicht nur wie Josephus’ Version von 1 Kön 17 in Ant. 8,325–327, sondern auch wie die „Alkestis“-Tradition. In dieser wird auf vergleichbare Weise die Wiederbelebung der für ihren Ehemann Admetos gestorbenen Alkestis durch Herakles dadurch motiviert, dass dieser sich durch diese Tat für die ihm von Admetos gewährte Gastfreundschaft revanchieren möchte. Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 188f. Vgl. ÖHLER, Elia, Anm. 54, 12: „Die anderen Rezensionen bringen jeweils verschiedene Zusätze zu Elia (1. Epiph.-Rez.: kurze Zusammenfassung der Elia-Geschichte ähnlich wie die
114 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen sekundär angesehen“379 und damit als späterer christlicher Zusatz identifiziert. Auf diese Einordnung wird noch zurückzukommen sein. Die Aufzählung wird mit folgenden Worten eingeleitet: Τὰ δὲ σημεῖα ἃ ἐποίησεν, εἰσὶ ταῦτα (VitProph 21,4). Als dritte Tat mit zeichenhaftem Charakter wird dann die Erweckung des toten Sohnes der Witwe zu Sarepta angeführt, und zwar in enger syntaktischer Verknüpfung mit der zweiten, die aus der „wunderbaren“ Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung dieser Frau besteht. In weitgehender Übernahme von Schwemers Übersetzung380 stellt sich der Text im Deutschen folgendermaßen dar: In Sarefta (in der Gegend) von Sidon bewirkte er durch das Wort des Herrn, dass der Krug der Witwe nicht versiegte und der Ölkrug nicht weniger wurde. Als ihr Sohn gestorben war (τὸν υἱὸν αὐτῆς ἀποθάνοντα), erweckte ihn Gott von den Toten, nachdem er gebetet hatte (ἤγειρεν ὁ θεὸς ἐκ νεκρῶν εὐξαμένου αὐτοῦ).
Vergleicht man diese kurze Erzählung sowohl mit der Vorlage aus den Königebüchern als auch mit der Variante, die in der Jona-Vita (VitProph 10,4–5, Version Vat. gr. 2125) überliefert ist, fällt auf, dass der erste Handlungsstrang „mit leichten Abwandlungen gekürzt dem LXX-Text folgend erzählt [wird]: So wird aus τάδε λέγει κύριος und der wörtlichen Rede in 1 (3) Kön 17,14: διὰ ῥήματος κυρίου mit folgendem AcI.“381 Die wesentlichen Handlungsaspekte des zweiten Handlungsstranges – narratologisch formuliert: die tragenden Elemente der story – stimmen ebenfalls mit denen der „alttestamentlichen Vorlage“ überein: Tod und Auferweckung des Sohnes sowie das Gebet des Elia. In anderer Hinsicht zeigt dann allerdings die Elia-Vita-Fassung der Ereignisse zu Sarepta mehr Ähnlichkeiten mit der Version der Jona-Vita als mit der Darstellung in 1 Kön 17,17–24 – obgleich natürlich als gewichtiger Unterschied vermerkt werden muss, dass die Identifizierung des Toten mit dem Propheten Jona in VitProph 21,5 nicht vorgenommen wird. Auf eine nähere Darstellung der Räumlichkeit, in der sich das Geschehen vollzieht, wird in der Elia-Vita genau wie in der biographischen Skizze des Jona verzichtet. Wie in der Jona-Vita, so verändert sich im Vergleich mit der „alttestamentlichen Vorlage“ auch in der Elia-Vita gleichermaßen der Anteil, den die Beteiligten an der Auferweckung haben. Nicht nur der Sohn, der wiederum nur als Objekt, an dem gehandelt wird, in den Blick genommen wird, spielt eine Nebenrolle, auch Elia kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Wie in VitProph 10,5 fehlt auch in der „Wunder-Liste“ der Elia-Vita jeglicher Hinweis auf die Synanachrosis, wie sie in der Vorlage aus 1 Kön 17 durch Elia vollzogen wird; auch der Inhalt seiner Gebete zu Gott wird nicht wiedergegeben. Das ἐγείρειν ἐκ νεκρῶν, welches dem Sohn widerfährt, wird in VitProph 21,5
379 380 381
anonyme Rez. [= Cod. Marchalianus]; 2. Epiph.-Rez: Hinweis und Zitat aus Mal 3,23; Doroth.-Rez.: christl-apk. Vorspann)“. SCHWEMER, Studien II, Anm. 1, 226. SCHWEMER, Studien II, 224. SCHWEMER, Studien II, 252.
5 Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum
115
ausschließlich als Aktion Gottes dargestellt. Da ohnehin Gott als derjenige fungiert, der die Auferweckung vollzieht, erklärt sich auch, warum in beiden biographischen Skizzen der Vitae Prophetarum der konkreten Räumlichkeit, an der sich die Aktion vollzieht, keine Bedeutung beigemessen wird. Das Obergemach als Ort der vom Propheten durchgeführten Synanachrosis weist in den Königebüchern allein aufgrund seiner topographischen Position „weiter oben“ die semantische Konnotation „und damit näher bei Gott“ auf. Somit kann die Semantik, die dieser Verortung zukommt, verdeutlichen, dass Elia nicht in Eigenverantwortung, sondern als Mittler Gottes agiert. Eine solche konkrete Lokalisierung wie im Prätext ist in den Folgetexten der Vitae Prophetarum nicht mehr notwendig, da hier die Mitwirkung des Propheten am Auferweckungsgeschehen ohnehin auf ein Minimum reduziert ist. Angesichts der Unterschiede, die in der Darstellung der Geschehnisse zu Sarepta zwischen den Prophetenbiographien des Jona und des Elia bestehen, liegt es jedoch nahe, die Version der Auferweckung des toten Sohnes und damit die gesamte σημεῖα-Liste in der Elia-Vita für eine nachträgliche Interpolation zu halten. Würde es sich bei dieser Aufzählung der σημεῖα in VitProph 21,4–12 um einen ursprünglichen Bestandteil der Biographien-Sammlung handeln, wäre zu erwarten, dass die Elia-Vita die Identifizierung des toten Sohnes der Witwe zu Sarepta mit dem Propheten Jona beibehalten hätte. Da dies nicht der Fall ist, erscheint die Hypothese schlüssig, dass die Liste in VitProph 21 eine nachträgliche Interpolation darstellt, zumal sie ja auch nur in einer einzigen Rezension, nämlich der von Vat. gr. 2125, überliefert ist. Wann diese Einfügung vorgenommen worden ist, lässt sich allerdings nicht bestimmen. Ob diese Interpolation eindeutig als eine christliche Hinzufügung qualifiziert werden kann, ist darüber hinaus auch fraglich. Die Darstellung einer Totenerweckung in VitProph 21,5 fügt sich ein in einen „Trend“, der sich in der Rezeption der „alttestamentlichen“ Erzählung von der Erweckung des toten Kindes zu Sarepta aus 1 Kön 17,17–24 abzeichnet: der eigentliche Totenerwecker in Totenerweckungserzählungen ist Gott. Der Vorgang der Totenerweckung, verstanden als eine zeitlich befristete Wiederbelebung und Fortsetzung des irdischen Daseins eines (jung) verstorbenen Menschen, wird zwar im Beisein von besonders qualifizierten Mittler-Figuren wie Propheten vollzogen, ist aber konzeptualisiert als Handlung Gottes.382 Die 382
Die jüdische Apokalypse, die unter dem Titel „4. Buch Esra“ firmiert (vgl. zur Gattungszuordnung: STONE, 4 Ezra, 1), wird von der Forschung einhellig ins letzte Jahrzehnt des 1. Jh.s n. Chr. datiert (vgl. a. a. O., 2f.). Sie ist wohl ursprünglich auf Hebräisch verfasst worden, aber nur in Übersetzungen erhalten geblieben (vgl. a. a. O., 3). Gemeinhin gilt die lateinische Übersetzung als diejenige, die dem Urtext am nächsten kommt. Innerhalb der 3. Vision dieser Schrift findet sich im Rahmen einer Aufzählung von beispielhaft Frommen, die fürbittend für sündige Menschen tätig geworden sind, auch eine Erwähnung Elias. In der lateinischen Version lautet sie folgendermaßen: et Helias pro his, qui pluviam acceperunt, et pro mortuo, ut viveret (und Elia [sc. hat gebetet] für diejenigen, die Regen empfangen haben, und für den Toten, dass er lebe; 4Esr 7,109). Bemerkenswert an dieser Bezugnahme
116 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Interpolation von VitProph 21,5 lässt sich als eine jüdische verstehen, die sich von Erzählungen absetzen will, welche in frühchristlichen Kontexten entstanden sind, und die deshalb die Bedeutung Elias im Erweckungsgeschehen minimiert, um die alleinige Kompetenz Gottes hinsichtlich der Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod stärker zu profilieren. Wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung noch zeigen wird, reduziert sich dieser „Alleinstellungsanspruch Gottes“ in frühchristlichen Totenerweckungserzählungen. In diesen kann dann auch (der erzählte) Jesus „in Eigenregie“ Tote wiederbeleben.
5.3
Elisa-Vita: Elisa und der tote Sohn der Schunemiterin/und die Gebeine in seinem Grab (VitProph 22,11–12/VitProph 22,20)
Die Liste, in der sämtliche Wunder des Elisa aufgezählt werden, findet sich nicht in allen Rezensionen der Vitae Prophetarum.383 Somit lässt sich auch für diese Textpassage keine exakte Datierung treffen. Ob sie aber, wie Schwemer meint, als späterer Zusatz auf „dieselbe Hand“384 zurückzuführen ist, die auch schon die Elia-Vita um eine Aufzählung von Wundern des Propheten ergänzt hat, kann bezweifelt werden. Die Darstellung der Gottesmänner ist in den Auflistungen der Totenerweckungen doch sehr verschieden. Im Unterschied zu Elia wird Elisa in den längeren Rezensionen der Vitae Prophetarum als äußerst selbstständig agierender Totenerwecker beschrieben. Ins Deutsche übersetzt385 lesen sich die beiden Einträge folgendermaßen: 5 Die Wunderzeichen, die er tat, sind folgende: […] 11 Nach Sunam kam er und blieb bei einer Frau. Und weil sie kein Kind geboren hatte, aber begehrte (eines) zu haben, betete er und machte, dass sie empfing und gebar (εὐξάμενος πεποίηκε συλλαβεῖν καὶ τεκεῖν). 12 Dann als das Kind gestorben war, betete er wiederum (εἶτα ἀποθανόντα τὸν παῖδα εὐξάμενος πάλιν) und erweckte (es) von den Toten (ἤγειρεν
383 384 385
auf Elia als beispielhaft Fürbittendem ist, dass er zwar in einen Zusammenhang mit der Auferweckung eines Toten gebracht wird, was als Rekurs auf den toten Sohn der Witwe aus 1 Kön 17 verstanden werden muss. Gleichzeitig wird er aber nicht als derjenige bezeichnet, der den Toten auferweckt hätte. Sein Beitrag zur Totenerweckung beschränkt sich auf seine Fürbitte. Mit dieser Konzeptualisierung des Propheten als einem, der Fürbitte für einen Toten hält: ut viveret, schließt sich 4Esr einer Perspektive auf die in 1 Kön 17 geschilderte Totenerweckung an, die auch schon in den Vitae Prophetarum und bei Josephus zu beobachten war: dem Elia wird allein eine Mittlerschaft, aber nicht die Funktion eines aus eigener Initiative agierenden Totenerweckers zugeschrieben. Vgl. SCHWEMER, Studien II, 276, und SCHWEMER, Vitae, 647. SCHWEMER, Studien II, 276. Die Übersetzung orientiert sich an SCHWEMER, Studien II, 262f.
5 Erzählungen von Totenerweckungen in den Vitae Prophetarum
117
ἐκ νεκρῶν) […]. 20 Nach dem Tod des Elisa starb einer (ἀποθανών τις), und als er begraben wurde (θαπτόμενος), wurde er auf seine Gebeine geworfen (ἐρρίφη ἐπὶ τὰ ὀστᾶ αὐτοῦ). Und wie er nur die Gebeine des Elisa berührte (καὶ μόνον ὡς ἥψατο τῶν ὀστέων τοῦ Ἐλισαῖου), lebte der Tote sofort wieder (ὁ νεκρὸς εὐθὺς ἀνέζησεν).
Anders als Elia in VitProph 21,5 fungiert Elisa in VitProph 22,12 explizit als Subjekt der mit ἤγειρεν bezeichneten Verbalhandlung. Elisa wendet sich zwar vor der Totenerweckung im Gebet an Gott, die Totenerweckung wird dann aber von der Erzählstimme als seine Handlung dargestellt. Die zweite Wiederbelebung scheint sich ganz ohne Gottes Mitwirkung zu vollziehen. Den Gebeinen des toten Elisa wird eine totenerweckende Potenz zugeschrieben, die sofort ihre Wirksamkeit entfaltet, wenn sie mit dem in sein Grab geworfenen Toten in Berührung kommen. Insofern entspricht der Totenerwecker Elisa in diesem nicht datierbaren Zusatz zu den Vitae Prophetarum eher dem selbstständig Tote erweckenden Jesus der kanonisch gewordenen Evangelien. Interessant im Hinblick auf die Darstellung der ersten Totenerweckung ist allerdings, dass sie die Lesart von 2 Kön 4,8–37 unterstützt, die in der vorliegenden Untersuchung hinsichtlich der Vaterschaft des Kindes vertreten wird.386 Die Umstände, die zur Schwangerschaft der Frau aus Sunam führen, werden in der (Elisa-)Wunder-Liste der Vitae Prophetarum so geschildert, dass Elisa der Vater des Kindes zu sein scheint – liegen doch mit seinem Gebet und einer mit πεποίηκε συλλαβεῖν καὶ τεκεῖν (VitProph 22,11) bezeichneten Aktion zwei Handlungen vor, deren zweite durchaus als Zeugungsakt des Propheten gedeutet werden kann. Der Folgetext bestätigt somit den für den Prätext vorgeschlagenen Interpretationsansatz. Nachdem nun in Teil I die antik-jüdischen Erzählungen und Traditionen von Wiederbelebungen, die Elia und Elisa zugeschrieben werden, vorgestellt sind, kann ein erstes Teilergebnis präsentiert werden: Es ist zu konstatieren, dass die drei erstmalig in den Königebüchern erzählten Geschichten von den beiden Gottesmännern und den toten Knaben sowie die story von dem toten Mann, der bei seiner Bestattung im Grab des Elisa von dessen Gebeinen wiederbelebt wird, über einen Zeitraum vom 6. Jh. v. Chr. bis zum späten 1. Jh. n. Chr. mit einer erstaunlichen Konstanz neu bzw. nach-erzählt werden.387 Setting, 386 387
Siehe dazu die Ausführungen auf S. 53–55 in der vorliegenden Untersuchung. Das frührabbinische Schrifttum zeichnet ein anderes Bild des „Totenerweckers“ Elia. Zunächst einmal ist festzuhalten: „the early rabbinic literature represents a corpus of texts, which in most part is not interested in miracles, demons and magic“ (BECKER, Miracles, 51). Somit existiert kein früher rabbinischer Text, der von der Wundertätigkeit des Moses, Elia, Elisa oder Ezechiel handelte (vgl. BECKER, Wonders, Anm. 83, 65). Besonders auffällig ist „the absence of the Elijah and Elisha stories“ (a. a. O., Anm. 40, 56) in diesem Text-Corpus. Später wird Elia allerdings auch weiterhin mit dem Phänomen der „Auferstehung“ in Verbindung gebracht, allerdings nicht mit Blick auf Einzelne, denen eine Wiederbelebung nach frühzeitigem Versterben zuteil wird. Es geht vielmehr um die Wiederkehr Elias am Ende der Zeiten, die dann mit der eschatologischen Wiederbelebung der Toten einhergeht (vgl. mit Bezug auf den Babylonischen Talmud: HEDNER-ZETTERHOLM,
118 Teil I: Antik-jüdische Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen Handlungsverlauf und Figurenkonstellation bleiben im Großen und Ganzen unverändert. Es fällt allerdings auf, dass die eigentliche Wiederbelebungsaktion, die sich in 1 Kön 17,21 und 2 Kön 4,34–35 als ritualsymbolischer SynanachrosisAkt aktualisiert, in den jüngeren Texten narrativ nicht mehr entfaltet wird. Die Tendenz geht dahin, den Anteil, der den Gottesmännern an den Wiederbelebungen zugeschrieben wird, zu minimieren und stattdessen Gott zum eigentlichen Totenerwecker zu stilisieren. Aus einer theologischen Perspektive betrachtet, ist es somit nicht ganz angemessen, von Elia-/Elisa-Geschichten zu sprechen. Es handelt sich eigentlich um Geschichten davon, wie JHWH/Gott an Toten handelt. Dabei wird das „Funktionieren“ einer Wiederbelebung vor allem in den Texten aus den Königebüchern und aus Josephus’ Antiquitates, die beim Rekurs auf die Reanimation auf die in der „paganen“ Umwelt übliche ἐγείρειν-/ἀνιστάναιTerminologie verzichten, insofern nachvollziehbar, als das Wiederaufleben der Toten mit der Rückkehr ihrer „Lebenskraft“ (reversio animae) in Verbindung gebracht wird. Somit kann man sich das wiederbelebende Agieren JHWHs/Gottes komplementär zu seinem Schöpfungshandeln vorstellen. Bemerkenswert ist ferner, dass in den Totenerweckungserzählungen, die von der Wiederbelebung der früh verstorbenen Knaben handeln, der Blick der jeweiligen Erzähler weniger auf dem toten Kind, sondern stärker auf den um ihre früh verstorbenen Kinder trauernden Müttern liegt. Das mag folgenden Grund haben: Zwar können die antik-jüdischen Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen narrativ entfalten, dass JHWH nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten zuständig ist. Die wiederbelebten Toten werden durch JHWHs Eingreifen allerdings nicht unsterblich. Der theologische Fokus der Erzählungen liegt zum einen nicht auf der grundsätzlichen „Abschaffung“ des Todes, sondern auf JHWHs/Gottes Zuständigkeit auch für die Toten, und zum anderen auf seinem Erbarmen für die trauernden Hinterbliebenen, das sich in Ausnahmefällen in einer Wiederbelebung manifestieren kann.
Elijah, 604: „To be sure, Elijah is depicted as a miracle worker in 1–2 Kings, but the miracles he performs in the BT are mostly of a different kind. It is true that he is said to bring about the resurrection of the dead, but that seems to refer to the end of days and nowhere is it said that he revived a dead person“; vgl. auch BECKER, Wunder, 286; mit Blick auf den „älteren Midrasch BerR 50,11“ [EGO, Elia, 37]: ebd.) Hinsichtlich der Rezeption des „Totenerweckers“ Elisa im tannaitischen Judentum verweist BECKER, Wunder, Anm. 14, 209, darauf, dass diesem in MekhY Am 1 die Wiederbelebung des Sohnes der Witwe „im Gegenüber zu Gott zugesprochen wird“.
Teil II: Totenerweckungserzählungen in antik-griechischen und hellenistischrömischen Schriften
6
Totenerweckungserzählungen von Polyidos
In Teil II wird nun der „pagane“ Sektor des Wissensspeichers (re-)konstruiert, den die ideale Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen aktiviert, wenn sie Erzählungen von Jesus, Petrus und Paulus rezipiert, die von Wiederbelebungen Verstorbener handeln. Da das entstehende Christentum in lokaler Hinsicht im Mittelmeerraum zu verorten ist, steht es kulturell auch unter dem Einfluss der „paganen“ Literatur. Es wird sich zeigen, dass die ins Neue Testament eingegangenen Totenerweckungserzählungen eine größere Nähe zu der antik-jüdischen Elia-/Elisa-Erzähltradition als zu den Geschichten rund um die Totenerwecker Polyidos und Asklepios oder die bedeutenden Ärzte Empedokles und Asklepiades von Bithynien aufweisen. Am Anfang soll der eher unbekannte Mythos von der Wiederbelebung des in einem Honigfass ertrunkenen Knaben Glaukos, Sohn des Kreter-Königs Minos,388 durch den korinthischen389 Seher Polyidos vorgestellt werden.390 Diese 388
389
390
BEAULIEU, Three Glauci, passim, legt überzeugend dar, dass in Bezug auf die Mythen der drei berühmten Glaukoi: Glaukos aus Anthedon, Glaukos aus Potniei und Glaukos aus Kreta, trotz bestehender motivischer Übereinstimmungen weder von einem Urmythos noch von einer Vermischung der drei Traditionen in der Antike auszugehen ist. In unterschiedlichen Ausprägungen des Polyidos-Mythos wird der Seher sowohl mit Korinth als auch mit Argos als Herkunftsort in Verbindung gebracht, vgl. ECKERMANN, Melampus, 137f.: Polyidos’ „Heimath heißt Argos […]. Von dem Sänger der Ilias wird noch ein Polyidos aus Korinth erwähnt […]. Daß der Korinthische und Argivische Polyidos zusammengehören, läßt sich mit vieler Wahrscheinlichkeit behaupten.“ Der mythologischen Tradition gemäß gehört der Seher Polyidos zum „Stammbaum des Melampus“ (NÜNLIST, Art. Koiranos, 637) und somit zu einer der berühmtesten SeherFamilien der Antike (vgl. JOHNSTON, Divination, 110: „According to one popular tradition, one became a mantis by being born one. In myth, many great manteis could trace their lineage back several generations“). Die Seherkunst konnte allerdings nicht nur genealogisch, sondern auch innerhalb einer Lehrer-Schüler-Beziehung weitergegeben werden; vgl. a. a. O., 110f. Zu den Aufgaben der Mantiker gehört die Beratung der Befehlshaber in der Kriegführung (vgl. a. a. O., 116–118), die Beschäftigung mit der Vergangenheit, um aus ihr Hinweise zur Lösung von Problemen der Gegenwart zu gewinnen (vgl. a. a. O., 118f.) sowie die Heilkunst. „Healing […] as the manteis practiced it, was often a diagnostic art that looked to the past to explain the present“ (a. a. O., 122). Zur Unterscheidung von Ärzten, die ihre Tätigkeit ohne divinatorische Fähigkeiten ausüben, hat sich für heilende Mantiker der Terminus ἰατρόμαντις etabliert. „The term ἰατρομάντις [sic] itself suggests an overlap, in addition to a dichotomy, between the methods of the iatros, or doctor, and those of the mantis, prophet“ (WICKKISER, Asklepios, 10). Dem Mythos nach vermochte der ἰατρόμαντις Polyidos seine Heilkunst durch die Beobachtung von Schlangen, die bestimmte Kräuter anwenden, soweit zu vervollkommnen, dass er sogar einen Toten wiederbeleben konnte. Auch wenn HARRIS, Manteis, 23, zu bedenken gibt, dass der Ausdruck ἰατρόμαντις nur dreimal in klassischen griechischen Texten belegt und damit nicht als quellsprachlicher, sondern als beschreibungssprachlicher Terminus technicus anzusehen
122
Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
mythische Tradition ist im kulturellen Gedächtnis der Antike seit der Blütezeit der griechischen Dramenkunst im 5. Jh. v. Chr. fest verankert.391 So haben in einem jeweils nur fragmentarisch erhaltenen Schauspiel die Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides die Wiederbelebungs-Tat des weisen Korinthers verarbeitet.392 Eine in Athen vom Töpfer Sotades gefertigte Schale aus dem 5. Jh. v. Chr., auf deren Innenseite Motive des Mythos aufgemalt sind,393 zeugt ebenfalls von der Bekanntheit der Glaukos-Tradition und bezieht sich möglicherweise auf eine Szene aus den nicht mehr vollständig erhaltenen Polyidos-Tragödien.394 Die Schaleninnenbemalung zeigt Polyidos und Glaukos innerhalb des Grabtumulus, in dem sie von Minos eingeschlossen waren. Dabei steht der Seher im Begriff, mit einer Lanze eine der beiden Schlangen zu töten, die sich auf Glaukos zubewegen. Das Geschehen wird von dem am Boden hockenden Knaben beobachtet, „der nicht wie eine Hockerleiche wirkt, sondern wie ein Lebender“395. Offensichtlich wollte der Maler die wesentlichen Aspekte des Glaukos-Mythos kompakt präsentieren: Erstens: den Tod des Knaben dadurch, dass als Ort des Geschehens ein Tumulus gewählt ist, zweitens: die spätere Wiederbelebung dadurch, dass Glaukos nicht in liegender, sondern in hockender Position dargestellt wird, und drittens: Polyidos als auctor der Wiederbelebung, indem er in aktiver Haltung mit dem Speer in der Hand präsentiert wird. Da neben dem Namen des Töpfers und Malers auch die Namen der gemalten Figuren auf der Schale verzeichnet sind, kann zweifelsfrei trotz der Abweichung vom chronologischen Ablauf des Geschehens behauptet werden, dass die Malerei den GlaukosMythos darstellt.
Sollte es sich bei dieser Schale um eine Grabbeigabe396 gehandelt haben, könnte sie in konsolatorischer Absicht angefertigt worden sein, hat doch der Umstand, dass der kleine Glaukos innerhalb eines Grabes als lebendig dargestellt wird, etwas Tröstliches.397
391
392
393 394 395 396 397
ist, steht dennoch außer Frage, „[t]hat some manteis did in fact make use of drugs“ (a. a. O., 30). Harris belegt dies durch „a small piece of information we receive from Theophrastus (HP 9.10.4): black hellebore, that dangerous plant so beloved by the Hippocratics, was called by some melampodion, ,because he was the first to cut and discover it‘. That obviously alludes to the famous mantis Melampous, ‚Black-foot‘. We may take it that manteis as well as doctors sometimes recommended the use of this plant“ (ebd.). Vgl. zu den verschiedenen Versionen des Glaukos-Stoffes: GAEDECHENS, Art. Glaukos 9), passim; OHLERT, Rätsel, 87–91; PERSSON, Religion, 9–22. Vgl. OHLERT, Rätsel, 90f. – Von den drei fragmentarisch überkommenen Glaukos-Tragödien enthält die Euripides-Fassung die größte Anzahl an erhalten gebliebenen Textstellen, vgl. dazu: ZAGARI, Myth-making, 57. Eine genaue Beschreibung des Objekts findet sich bei WEHGARTNER, Keramik, 68. Vgl. BEAULIEU, Three Glauci, 125. PFUHL, Malerei, 547. Vgl. WEHGARTNER, Keramik, 97. Vgl. ZAGARI, Myth-making, 61. – Anders HOFFMANN, Focusing, 79, der den Glaukos-Mythos als symbolische Darstellung eines Initiationsrituals interpretiert.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
123
Ins 4. Jh. v. Chr. zu datieren ist eine vom Komödiendichter Aristophanes stammende und ebenfalls nur in Fragmenten überkommene Parodie der von Euripides verfassten Polyidos-Tragödie.398 Durch die Scholien des byzantinischen Gelehrten Tzetzes sind wir darüber informiert, dass im selben Jahrhundert auch der Grammatiker und Tragiker Lykrophon aus Chalkis den GlaukosStoff dramatisch verarbeitet hat.399 Ebenfalls im 4. Jh. v. Chr. präsentiert Palaiphatos innerhalb seiner Mythensammlung Περὶ ἀπίστων die Glaukos-Tradition in Erzählform als in sich abgerundete Handlungsfolge, kombiniert mit einer rationalistischen Interpretation.400 Im bzw. nach dem 1. Jh. n. Chr. ist der Stoff dann als vollständig ausgearbeitete Totenerweckungserzählung zweimal wieder aufgegriffen worden: in griechischer Sprache von (Ps.-)Apollodoros (1. Jh. v. bis 3. Jh. n. Chr.), wohl hauptsächlich im Anschluss an die Tragödie von Aischylos, und auf Latein von Hyginus, der sich vermutlich stärker auf die Version des Euripides bezieht.401 Die letzten drei Quellen sollen im Folgenden narratologisch untersucht werden.
6.1
Palaiphatos, Περὶ ἀπίστων 26: Polyidos und Glaukos
Die älteste vollständig erhaltene Erzähl-Fassung des Glaukos-Mythos findet sich in einer im 4. Jh. v. Chr. in Athen entstandenen Schrift402 mit dem Titel Περὶ ἀπίστων, deren Verfasser den „Rufnamen ‚Palaiphatos‘ (‚der Altes erzählt‘)“403 trägt. Dieser war wohl Schüler, eventuell sogar „Liebling“ des Aristoteles,404 398
399
400
401 402
403 404
Siehe dazu: ZAGARI, Myth-making, 38–63. ZAGARI, a. a. O., 40, verweist darüber hinaus noch auf nicht mehr erhaltene Komödien von „Eubulus, Antiphanes and Anaxilas […] titled Glaucus“. Tzetzes zufolge unterscheidet sich die Handlung des Dramas in einem Punkte von den anderen bekannten Versionen: Polyidos tötet die sich dem toten Glaukos nähernde Schlange nicht, um den Leichnam vor ihr zu schützen, sondern unabsichtlich bei dem Versuch, sie zu erzürnen, um selbst von ihr getötet zu werden (TZETZES, ΣΧΟΛΙΑ, 797f.). Der mythenkritische Historiker und Geograph Agatharchides von Knidos erwähnt in seiner Schrift „De Mari Erythraeo“, § 7, im 2. Jh. v. Chr. Glaukos zusammen mit Alkestis und Protesilaos innerhalb einer kurzen Aufzählung von Toten, die wieder aufgestanden sein sollen. Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 196f. in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. dazu: MUELLNER, Glaucus, 12. Περὶ ἀπίστων wird häufig auch ins 2. Jh. v. Chr. datiert. HAWES, Myth, 228f., führt aber gute Gründe dafür an, warum das Werk wahrscheinlich in den 340er oder 330er Jahren v. Chr. entstanden ist. BRODERSEN, Einleitung, 13. Vgl. HAWES, Story Time, Anm. 16, 132: „Rationalistic approaches are evident among the fragments of the early Peripatetics […]. Palaephatus’ keen interest in biological science tallies well with Aristotelian speculations“. Vgl. ferner: BRODERSEN, Einführung, 13, und HAWES, Myth, 38. Anders VAN DEN BERG, Palaephatus, Anm. 1, 308.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
zählt somit zu den Peripatetikern405 und gilt als „markanteste[r] Vertreter[…] rationalistischer Mythenkritik aus der Antike“406. Seine Mythensammlung Περὶ ἀπίστων existierte ursprünglich in fünf Büchern, „doch gab es spätestens zur Zeit der Suda auch einen […] Auszug in einem einzigen Buch: eben das Buch, das allein […] bis heute erhalten ist“407. Folgt man dem Vorwort, das Palaiphatos seiner Sammlung vorangestellt hat, so handelt es sich bei den von ihm zusammengetragenen Texten, die er als μῦθοι, λεγόμενα oder als λόγοι bezeichnet,408 um ursprünglich mündlich kursierende Erzählungen. Diese habe er – wie er am Ende der Vorrede schreibt – nach Reisen in viele Länder und Befragung der dort lebenden πρεσβύτεροι „zusammengeschrieben“ (συγγράφω). Diese Schlussbemerkung ist wohl als ein aus der Historiographie entlehnter Topos anzusehen.409 Bei der Darstellung der von ihm gesammelten Texte folgt er einem festen Prinzip: zuerst referiert er, was er bei seinen Recherchen zusammengetragen hat, dann beurteilt er das Referierte im Hinblick auf die Frage, ob es sich mit den Gesetzmäßigkeiten der empirischen Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen lässt. In einem dritten Schritt bietet er eine eigene Version des Erzählten, die rationalistische Erklärungen für diejenigen Handlungselemente aufweist, welche auf den ersten Blick als ἄπιστοι erscheinen.410 Es ist zu betonen, dass es dem Palaiphatos nicht darum geht, die altbekannten mythischen Traditionen aus dem kulturellen Gedächtnis seiner Leserschaft zu tilgen. Ein derartiges Vorgehen würde seinem sprachphilosophischen Ansatz widersprechen, dem zufolge ein jeglicher Name (ὄνομα), der in einen Erzähltext (λόγος) Eingang gefunden hat, auf einer historischen Tat (ἔργον) basiert.411 Der Mythenkritiker geht somit davon aus, dass die von ihm weiter tradierten Erzählungen grundsätzlich authentisch sind.412 Palaiphatos’ Anliegen ist es somit, ein rationalistischem Denken adäquates Verständnis der überlieferten Texte zu vermitteln. In Bezug auf den Glaukos-Mythos stellt sich dieses Anliegen, ins Deutsche übersetzt, folgendermaßen dar: 405 406 407 408
409
410
411
412
Vgl. HAWES, Myth, 228. BRODERSEN, Lüge, 45. BRODERSEN, Einleitung, 14. HAWES, Myth, 52, zufolge geht Palaiphatos in terminologischer Hinsicht sehr konsequent vor: „Within the Peri Apiston, traditional stories are inevitably labelled μῦθοι, and their rationalized replacements typically called λόγοι“. Vgl. HAWES, Myth, 48: „Palaephatus’ conception of myth in the rest of the work is tied to the realities of fourth-century literary culture: it is born out of texts and libraries rather than the investigation of oral traditions.“ Vgl. auch HAWES, Story Time, 137f. Vgl. zur „Palaephatean structure“: HAWES, Myth, 48–52. BRODERSEN, Einleitung, 18f., listet insgesamt 15 Begriffe bzw. Formulierungen auf, die Palaiphatos verwendet, um die von ihm dargebotenen Mythen als „unglaublich“ zu charakterisieren. Dieser Vorsatz ist im zweiten Satz des Vorwortes dokumentiert: ἐμοὶ δὲ δοκεῖ γενέσθαι πάντα τὰ λεγόμενα – οὐ γὰρ ὀνόματα μόνον ἐγένοντο, λόγος δὲ περὶ αὐτῶν οὐδεὶς ὑπῆρξεν· ἀλλὰ πρότερον ἐγένετο τὰ ἔργα, εἶθ᾽ οὕτως ὁ λόγος ὁ περὶ αὐτῶν. Vgl. VAN DEN BERG, Palaephatus, 313.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
125
Auch dieser Mythos ist lächerlich (παγγέλοιος), dass nämlich, nachdem Glaukos in einem Honigfass gestorben war (τοῦ Γλαύκου ἐν πίθῳ μέλιτος ἀποθανόντος), Minos in dem Grabhügel den Polyidos[, den Sohn] des Koiranos, begrub (ἐν τῳ τύμβῳ κατώρυξε τὸν Κοιράνου Πολύϊδον) – der aus Argos war –, welcher sah, wie eine Schlange einer anderen Schlange, die gestorben war, ein Kraut auflegte (ὃς ἰδὼν δράκοντα ἑτέρῳ δράκοντι τεθνεῶτι πόαν ἐπιθέντα) und sie wieder aufstehen ließ (καὶ ἀναστήσαντα αὐτόν), und nachdem dieser dasselbe mit Glaukos gemacht hatte, ließ er ihn aufstehen (ἀνέστησεν αὐτόν). Was doch unmöglich (ἀδύνατον) ist, einen gestorbenen Mann zum Aufstehen zu bringen (ἀποθανόντα ἄνδρα ἀναστῆσαι) oder eine Schlange, aber auch nicht ein anderes Lebewesen. Es geschah aber etwas Derartiges: Glaukos, der vom Honig trank, wurde in Bezug auf den Bauch in Aufruhr gebracht (ἐταράχθη τὴν κοιλίαν); nachdem ihm seine Galle mehr in Bewegung gesetzt worden war und er in Ohnmacht gefallen war (χολῆς δὲ αὐτῳ πλείονος κινηθείσης καὶ λειποθυμήσαντος), kamen aber sogleich andere Ärzte, weil sie Geld verdienen wollten, und in der Tat auch Polyidos. Als er (Glaukos) aber bereits ohnmächtig war (ἤδη δὲ ἐκλείποντος αὐτοῦ), ein nützliches Kraut kennend (εἰδώς τινα πόαν ὠφελοῦσαν), das er bei einem Arzt kennengelernt hatte, dessen Name Drakon war; und ebendiese Pflanze anwendend, machte er den Glaukos wieder gesund (καὶ ταύτῃ τῇ βοτάνηι χρησάμενος, ὑγιᾶ ἐποίησε τὸν Γλαῦκον). Es sagten aber die Menschen „Polyidos hat den Glaukos, der am Honig gestorben war, mit einer Pflanze aufstehen lassen (Γλαῦκον ὑπὸ μέλιτος ἀποθανόντα βοτάνηι ἀνέστησεν), die er bei Drakon kennengelernt hat.“ Daraus haben die Mythographen den Mythos gebildet.
Die Rezeption des Glaukos-Mythos durch die Leserschaft wird vom Verfasser gleich von Anfang an in eine gewisse Richtung gelenkt. Bevor er die wesentlichen Elemente des mythischen Stoffes in Form einer Erzählung en miniature zusammenfasst, bewertet er den μῦθος bereits im Voraus als παγγέλοιος, um ihn dann noch mit der Bemerkung: „was doch unmöglich ist“, zu kommentieren. Wenn er die Glaukos-Tradition zusammenfasst, referiert er ausschließlich die Elemente, die zu einem an der empirischen Wirklichkeit orientierten Verständnis der Handlung notwendig sind. Er erwähnt den Toten: Glaukos, und den Sterbeort: ein Honigfass; dass es sich bei Glaukos um ein Kind handelt, erschließt die Leserschaft aus der Tatsache, dass Honigfässer im Allgemeinen zu klein ausfallen, als dass Erwachsene in ihnen zu Tode kommen könnten. Die Figur des Minos wird nicht in ihrer mythologischen Funktion als Richter in der Unterwelt vorgestellt,413 sondern als derjenige, der den Toten zusammen mit dem nur durch die Nennung seines Vaters und seines Herkunftsortes qualifizierten Polyidos im Grabhügel begräbt. Auf den Orakelspruch, den der Tradition gemäß nur Polyidos richtig zu deuten vermochte, wodurch er der Einzige war, der den toten Glaukos finden konnte, wird in Palaiphatos’ Kurzfassung verzichtet. Somit entfällt die traditionelle Charakterisierung des Polyidos als Seher. Dass er über besondere Fähigkeiten verfügen könnte, zeigt allenfalls sein sprechender Name (der „VielSehende“). Besondere Kompetenzen weist er in diesem Kontext offensichtlich im Bereich der wissenschaftlichen Naturbeobachtung auf, insbesondere im 413
Vgl. zu Minos als Totenrichter: MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 29.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
genauen Hinsehen, wie der Relativsatz ὃς ἰδὼν δράκοντα κτλ. andeutet. Die Wiederbelebung einer toten Schlange durch eine andere, die ihr ein Kraut auflegt, wird ebenfalls aus der nüchternen Perspektive eines Naturbeobachters dargestellt; die Schilderung, wie dieses von den Tieren vorgeführte procedere beim toten Glaukos Anwendung findet, behält den sachlichen Ton bei. Um die Wiederbelebung des Glaukos zu beschreiben, verwendet Palaiphatos dieselbe Terminologie, die er auch schon für die Reanimation der toten Schlange gebraucht hat, eine Verbform von ἀνιστάναι. Dieses Wort, das den frame „Rückkehr von Toten ins Leben“ evozieren kann, kennt die Modell-Leserschaft des Palaiphatos aus den Schriften Homers oder aus Tragödientexten. So sagt in Il. 24,551 Achilleus mit Blick auf den toten Sohn des Priamos: οὐδέ μιν ἀναστήσεις. In Aischylos’ Eum. 648 findet sich folgende Aussage des Apollon: ἅπαξ θανόντος, οὔτις ἔστ᾽ ἀνάστασις.414
Ungewöhnlich ist allerdings, dass Palaiphatos in einer positiven Formulierung vom tatsächlich erfolgten ἀναστῆσαι spricht. Gleich im nächsten Satz verwendet er die Begrifflichkeit dann aber so, wie es für gewöhnlich geschieht: mit der üblichen Einschränkung, dass es sich beim ἀναστῆσαι von toten Lebewesen um ein unmögliches Phänomen handele. In narratologischer Hinsicht ist zu konstatieren, dass in dieser Miniatur-Erzählung der kommentierende Anteil der Erzählstimme ausgesprochen hoch ausfällt, sodass die Leserschaft dazu bewegt wird, den rationalistischen point of view der Erzählinstanz auf die Handlung zu übernehmen. Darüber hinaus erhält die Figur des Polyidos ein größeres Gewicht, als das bei Glaukos und Minos der Fall ist, da die Vorgänge zwischen den beiden Schlangen aus seiner Perspektive (ἰδὼν δράκοντα κτλ.) dargestellt werden. Aus dieser Erzähltradition, die zwar in der Nacherzählung des Palaiphatos schon gewisse rationalisierende Tendenzen aufweist, aus heutiger Sicht aber dennoch als „Totenerweckungserzählung“ klassifiziert werden kann, macht der Verfasser dann in seiner Version des Mythos unter Bezugnahme auf Vorstellungen der seit dem 5. Jh. v. Chr. etablierten hippokratischen Medizin415 und im Rückgriff auf Ende des 4. Jh.s v. Chr. kursierende pflanzenheilkundliche Kenntnisse eine Heilungserzählung, die jeglicher unglaublicher Züge entbehrt. Zunächst einmal führt Palaiphatos das regungslose Darniederliegen des Glaukos auf dessen Honiggenuss zurück, indem er die humoralpathologischen Konsequenzen des Verzehrs dieser Substanz aufzeigt. Beeinflusst sind diese Überlegungen offensichtlich durch die von der hippokratischen Medizin vertretene Annahme, dass Krankheit durch „gestörte Harmonie, schlechte Mischung
414
415
Weitere Belege aus der klassischen Gräzität bei FASCHER, Anastasis, 182–187; ZELLER, Vorgaben, 11f., und COOK, Tomb, 144–208. Vgl. zu einer ersten Orientierung über die Grundsätze der hippokratischen Medizin: ECKART, Geschichte, 11–18.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
127
der Körpersäfte (dyskrasie)“416 zustande kommt. In De natura hominis, einer Schrift, die wohl der zweiten Generation hippokratischer Ärzte zuzuordnen ist,417 wird die Konstitution des Menschen folgendermaßen beschrieben: Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, sie stellen die Natur seines Körpers dar, und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund. Gesund ist er nur dann, wenn diese Substanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind; Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allen genannten gemischt ist (Hippokr. Nat. Hom. 4,1–3).418
Palaiphatos zufolge ist durch den Honig, den Glaukos getrunken hat, dessen Körpersaft „Galle“ (χολή) mehr – zu ergänzen ist: als für sein Wohlbefinden gut war – in Bewegung gebracht worden (πλείονος κινηθείσης). Eine humoralpathologisch informierte Leserschaft inferiert, dass es in Konsequenz dieser übermäßigen Bewegung zu einer gewissen Ungleichheit in der Verteilung der Körpersäfte gekommen ist. Die daraus entstandene Ohnmacht des Glaukos, die unter Verwendung medizinischer Fachsprache als λειποθυμεῖν bezeichnet wird,419 ruft zunächst Ärzte auf den Plan. Auch Polyidos wird in Palaiphatos’ eigener Version des Glaukos-Mythos als einer unter ἄλλοι ἰατροί in die Handlung eingeführt – und damit keineswegs wie in anderen Fassungen dieses Mythos als Seher bezeichnet.420 Mit dem Hinweis darauf, dass der Arzt Polyidos – nicht nur viel sehend, sondern auch viel wissend421 – beim Anblick des ohnmächtigen Glaukos 416 417 418 419
420
421
ECKART, Geschichte, 15. Vgl. FLASHAR, Hippokrates, 95. Übers.: KOLLESCH/NICKEL, Heilkunst, 73. Vgl. SALAZAR, Ohnmacht, 172, zu den griechischen und lateinischen Termini für Ohnmacht: „Die besonders häufigen Ausdrücke λ(ε)ιποψυχία und λ(ε)ιποθυμία mit den dazugehörigen Verben λ(ε)ιποψυχέω und λ(ε)ιποθυμέω, sowie animo linqui und deficere animam drücken alle einen Verlust der Lebenskraft aus – also der ψυχή, des θύμος, von animus oder anima – und die seltener verwendeten ἐκθνῄσκω und intermorior sind aus den Verben für ‚sterben‘ […] gebildet.“ A. a. O., 173f., weist sie darauf hin, dass Ohnmachten durchaus als „gefährlich“ angesehen worden sind, „wenn sie ein gewisses Maß überschreiten und außer Kontrolle geraten.“ Mit dem von der sonstigen mythologischen Überlieferung abweichenden Befund, Polyidos nicht als Seher zu charakterisieren, folgt Palaiphatos der hippokratischen Konzeption, nach welcher Medizin und Mantik klar voneinander unterschieden werden, wohingegen im mythischen Denken der Tragödien der Gott Apollon auch als ἰατρόμαντις bezeichnet werden kann (vgl. JOUANNA, Medicine, 66). Vgl. MUELLNER, Glaucus, Anm. 28, 13: „Lexically speaking, forms and derivatives of the verbs εἶδον ,see‘ and οἶδα ,know‘ are distinct in Greek, though they are ultimately derived from the same root. However, the name attested both as Πολύιδος and Πολύειδος (the same fluctuation in spelling is attested in the Homeric textual tradition at Iliad 5.148, 13.663, and 13.666) uses a form of the root of the two words that occurs in each branch of the lexical tree (as for example ἰδεῖν ,to see‘ and ἴδμεν ,we know,‘ or εἶδον ,I saw‘ and εἰδώς ,knowing‘).“
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sogleich sein pflanzenheilkundliches Wissen aktiviert (εἰδώς τινα πόαν ὠφελοῦσαν), können auch die phytotherapeutischen Kenntnisse der Modell-Leserschaft evoziert werden. Zwar fällt die Blütezeit der antiken pharmakologischen Botanik422 wohl eher nicht ins 4. Jh. v. Chr., sondern muss mit Dioskurides und Plinius vielmehr ins 1. Jh. n. Chr. datiert werden.423 Doch auch für das Athen des 4. Jh.s v. Chr. sind pflanzenheilkundliche Studien belegt. Ungefähr zeitgleich mit Palaiphatos wirkte hier der Arzt Diokles von Karystos, dessen botanische Schriften in späterer Zeit zwar eifrig rezipiert wurden, die aber leider nur noch fragmentarisch erhalten sind.424 Darüber hinaus wurden zeitnah zur Abfassung von Περὶ ἀπίστων im Garten des Aristoteles botanische Studien425 betrieben, Aristoteles selbst erhielt von Alexander dem Großen regelmäßig botanische Fundstücke aus aller Welt.426 Dass Pflanzen ein durcheinandergebrachtes Säfte-System wieder in Ordnung bringen können, ist außerdem eine Überzeugung der hippokratischen Medizin.427 Vor diesem Hintergrund ist es für eine antike Leserschaft evident, dass ein vielwissender Arzt wie Polyidos einen Knaben wie Glaukos, der unvorsichtigerweise übermäßig viel Honig zu sich genommen hat, unter Verabreichung des richtigen Heilkrautes wieder gesund machen kann (ταύτῃ τῇ βοτάνηι χρησάμενος, ὑγιᾶ ἐποίησε τὸν Γλαῦκον).
Der vermeintliche Tod im Honigfass und die angebliche Wiederbelebung des Glaukos können von Palaiphatos durch die Aktualisierung des medizinischen Wissens seiner Zeit als Dyskrasie mit anschließender Ohnmacht, die pflanzlich therapierbar ist, rationalisiert werden. Im Hinblick auf die Schlangen, die einen wesentlichen Bestandteil der Glaukos-Tradition darstellen, muss er, um zu einer Erklärung zu gelangen, die mit dem empirischen Wissen seiner Zeit vermittelbar ist, zu sprachwissenschaftlichen Methoden greifen. Dies gelingt ihm, indem er das Wort δράκων zum Homonym erklärt, das „die Menschen“ in ihren ersten Berichten über die Heilung des Glaukos ganz richtig als Eigennamen des Arztes, der dem Polyidos pflanzenkundliches Wissen vermittelt hat, verwendet hätten. Später sei dieses Wort von den μυθογράφοι dann aber mit dem gleichlautenden zoologischen Terminus verwechselt worden, wodurch letztendlich die Heilungszur Totenerweckungserzählung mutiert ist. Im Hinblick auf die Frage, welche für antike Totenerweckungserzählungen gattungstypische Elemente in der Palaiphatos-Version des Glaukos-Mythos besonders hervorstechen, ist festzustellen, dass der Mythenkritiker das Phänomen 422
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426 427
Als „Vater der Botanik“ und Verfasser der ersten pflanzenheilkundlichen Schrift gilt der Aristoteles-Schüler und -Nachfolger als Leiter der Akademie Theophrastos (370–287 v. Chr.) mit seinem um 300 v. Chr. erschienenen Werk Historia plantarum, vgl. RUMOR, Plant Taxonomy, 446f. Vgl. SNEADER, Drug Discovery, 21f. Vgl. SCARBOROUGH, Drugs, Anm. 32, 12. Vgl. RUMOR, Plant Taxonomy, Anm. 15, 449. Darüber hinaus greift Theophrastos aber auch das eher folkloristische Wissen der sog. Rhizotomisten auf, vgl. SCARBOROUGH, Drugs, 12. Vgl. SCARBOROUGH, Drugs, 3 Vgl. zum Einsatz von Pflanzen in der hippokratischen Medizin: SNEADER, Drug Discovery, 20.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
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der sprachlichen Ambiguität, das in dieser Textsorte regelmäßig zu konstatieren ist, bewusst nutzt. Dass Wörter mehrdeutig sein können, nimmt er aber nicht zum Anlass, sprachlich vermittelte Inhalte deutungsoffen zu präsentieren und deren Disambiguierung der Leserschaft zu überlassen. Die Deutungshoheit über die von ihm dargebotenen Inhalte postuliert er vielmehr für sich selbst als den „akademisch“ gebildeten Autor. Damit geht einher, dass Palaiphatos das Phänomen der Fiktionalität als konstitutives Merkmal von Erzählungen konsequent unterdrückt. Während Aristoteles in seiner Poetik in „erstaunliche[r] Nähe zu modernen Vorstellungen“428 darauf hinweist, „dass nicht das die Aufgabe des Dichters ist, zu sagen, was (tatsächlich) geschehen [τὰ γενόμενα] ist, sondern, wie etwas geschehen (sein) könnte“ (οἷα ἂν γένοιτο; Aristot. Poet. 9,1451b), wobei er allerdings einschränkend hinzufügt, dass die Dichtung das „nach Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“429 (τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον; Aristot. Poet. 9,1451a) zum Inhalt haben solle, votiert Palaiphatos für eine konsequente Beachtung der in der außertextuellen empirischen Welt geltenden Gesetze auch in erzählten Welten. Gleichzeitig initiiert er damit eine „pagane“ Ausprägung von Totenerweckungserzählungen, welche – anders als jüdisch-christliche Exemplare dieser Textsorte – die Rettung von Menschen aus Grenzsituationen, die sie an die Schwelle des Todes oder darüber hinaus führen, als rein innerweltliche und rational beherrschbare Angelegenheit darstellen, die auf das soteriologische Eingreifen einer Gottheit oder ihrer Mittlerfiguren verzichten kann.
6.2
Apollod. 3,3.1–3,3.2: Polyidos und Glaukos
Eine zweite Version der Totenerweckungserzählung von Polyidos und Glaukos findet sich in (Ps.-)Apollodoros’ „Bibliotheke“, dem wichtigsten „mythographische[n] Handbuch“430 der Antike.431 Dem Epigramm, das dem Werk quasi als 428 429
430 431
RÖSLER, Fiktionalität, 381. Übers. beider Textstellen: RÖSLER, Fiktionalität, 381. Rösler weist a. a. O., Anm. 53, 381, darauf hin, dass bei der Formulierung οἷα ἂν γένοιτο der griechische Text „grammatikalisch gleichzeitiges wie vorzeitiges Verständnis zu[lässt]“. Vgl. FORNARO, Art. Mythographie, 629. Diese seit dem 14. Jh. unter dem Titel Ἀπολλοδώρου Ἀθηναίου γραμματικοῦ βιβλιοθήκη firmierende und „wegen ihres Umfangs wichtigste Quelle für die griechische Mythologie“ (DRÄGER, Einführung, 840; vgl. PÀMIAS, Preface, 1) ist nicht dem in das 2. Jh. v. Chr. einzuordnenden Grammatiker Apollodoros von Athen zuzuschreiben, sondern muss als eine anonyme Schrift betrachtet werden (vgl. DRÄGER, Einführung, 837–840; HUYS, Apollodoros, 319 und 346), deren Entstehungszeit sich nur grob auf den Zeitraum 1. Jh. v. Chr. bis 3. Jh. n. Chr. eingrenzen lässt. Um Verwechslungen auszuschließen, wird im Folgenden mit „(Ps.-)Apollodoros“ auf den Verfasser der „Bibliotheke“ rekurriert, auf das Werk
130
Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Vorwort voransteht,432 ist zu entnehmen, dass die anvisierte Leserschaft der „Bibliotheke“ die früher entstandenen Mythen, die zum Bildungskanon gehören, kennenlernen soll (παιδείης μύθους γνῶθι παλαιγενέας, Z. 2). Somit lässt sich das Werk des (Ps.-)Apollodoros näherhin klassifizieren als „an introductory, or propaedeutic, guide, but also a manual for the dissemination of mythographical knowledge.“433 Die mythische Erzählung von Polyidos434 und Glaukos, dem Sohn des Minos, findet sich gleich zu Beginn des 3. Buches, und zwar innerhalb des Abschnittes 3,1.2–3,3.2, der von den Nachkommen der Europa handelt. Zu diesen zählen auch die Enkelkinder, die sie von ihrem Sohn Minos und dessen Gattin Pasiphaë bekommen hat. Zunächst erscheint Glaukos in 3,1.2 innerhalb einer Aufzählung der Enkelsöhne, in der Passage 3,3.1–3,3.2 steht er dann im Mittelpunkt eines Abschnittes, der von einem Vorfall in seiner Kindheit erzählt. Auf Deutsch lautet diese Erzählung folgendermaßen: 3,3.1 Glaukos aber, der noch ein Kind war, jagte eine Maus, fiel in ein Honigfass und starb (Γλαῦκος δὲ ἔτι νήπιος ὑπάρχων μῦν διώκων εἰς μέλιτος πίθον πεσὼν ἀπέθανεν). Als er aber nicht mehr zum Vorschein kam, veranstaltete Minos eine große Suche und befragte wegen seiner Auffindung ein Orakel (περὶ τῆς εὑρέσεως ἐμαντεύετο). Die Kureten aber sagten ihm, dass er in seinen Herden eine dreifarbige Kuh habe und dass derjenige, der diese Farbe am besten vergleichen könne, auch den Jungen lebend zurückbringen werde (ζῶντα τὸν παῖδα ἀποδώσειν). Nachdem die Weissager zusammengerufen waren, verglich Polyidos[, der Sohn] des Koiranos[,] die Farbe der Kuh mit der Frucht der Brombeere und – den Jungen zu suchen gezwungen – fand er ihn durch ein gewisses Orakel (διά τινος μαντείας). Da aber Minos sagte, dass er ihn lebend zurückerhalten müsse (δεῖ καὶ ζῶντα ἀπολαβεῖν αὐτόν), wurde er mit dem Toten (σὺν τῷ νεκρῷ) eingeschlossen. Sich in großer Bedrängnis befindend, sah er eine Schlange, die zu dem Toten ging (δράκοντα ἐπὶ τὸν νεκρὸν ἰόντα). Diese tötete er, indem er mit einem Stein warf (τοῦτον βαλὼν λίθῳ ἀπέκτεινε), weil er befürchtete, dass er selbst sterben werde, wenn er mit dieser Mitleid habe. Es kommt aber eine zweite Schlange, und als sie die erste tot sieht
432
433
434
selbst wird jedoch – altphilologischer Konvention folgend – mit der Abkürzung „Apollod.“ Bezug genommen. Das Epigramm fehlt in den wichtigsten Manuskripten zur „Bibliotheke“, „but recovered thanks to the invaluable summary of Photius“ (CUARTERO, Textus Unicus, 146). CUARTERO, Textus Unicus, 146. Welche Quellen der Verfasser über Homer hinausgehend im Einzelnen verwendet hat, ist in der Forschung umstritten (vgl. HUYS, Apollodoros, 347). Es ist allerdings anzunehmen, dass (Ps.-)Apollodoros gut vertraut war mit den Tragödien-Stoffen des 5. Jh.s v. Chr., sodass er den Glaukos-Mythos als Dramen-Sujet gekannt haben könnte. Gemäß FRAZER, Apollodorus, xviiif., hielt sich der Mythograph stets sehr eng an seine dramatischen Vorlagen, was sich aus dem Vergleich der erhaltenen Tragödientexte mit den Versionen der „Bibliotheke“ ergibt. Apollod. 3,10.3 weist eine Liste von Menschen auf, die von Asklepios wiederbelebt worden sind. Mit Verweis auf Melesagoras wird Glaukos, der Sohn des Minos, auch in dieser Liste geführt. Offensichtlich ist die Polyidos-Tradition im Laufe der Überlieferungsgeschichte auch auf Asklepios übergegangen. Siehe zu dieser Quelle Anm. 521, 154, in der vorliegenden Untersuchung.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
131
(θεασάμενος νεκρὸν τὸν πρότερον), geht sie weg, dann kehrt sie zurück, ein Kraut bringend (πόαν κομίζων), und legt dieses auf den ganzen Leichnam der anderen (ταύτην ἐπιτίθησιν ἐπὶ πᾶν τὸ τοῦ ἑτέρου σῶμα). Nachdem aber das Kraut aufgelegt worden war (ἐπιτεθείσης δὲ τῆς πόας), richtete sie sich wieder auf (ἀνέστη). Nachdem aber Polyidos [das] gesehen hatte und sich gewundert hatte (θαυμάσας) und dasselbe Kraut dem Leichnam des Glaukos aufgelegt hatte (τὴν αὐτὴν πόαν προσενεγκὼν τῷ τοῦ Γλαύκου σώματι), ließ er [ihn] aufstehen (ἀνέστησεν). 3,3.2 Als aber Minos den Jungen wiederbekam (ἀπολαβών), ließ er auch so nicht den Polyidos nach Argos zurückgehen, bevor er nicht die Wahrsagekunst (τὴν μαντείαν) den Glaukos gelehrt habe. Unter Zwang aber unterrichtete Polyidos. Und als er gerade absegeln wollte, befahl er dem Glaukos, in seinen Mund zu spucken. Und nachdem er dies gemacht hatte, vergaß Glaukos die Wahrsagekunst.
Im Folgenden wird der Mythos von Polyidos und Glaukos unter narratologischen Gesichtspunkten betrachtet und damit wie eine Erzählung behandelt – besteht der Abschnitt 3,3.1–3,3.2 doch aus einer chronologisch geordneten und kausal miteinander vernetzten Folge von Handlungen, die von Figuren ausgeführt und von einer Erzählstimme vermittelt werden. Da Glaukos ja bereits zu Beginn des dritten Kapitels als Sohn des Minos vorgestellt worden ist, erübrigen sich in der Erzählepisode, die von seiner Wiederbelebung handelt, weitere einführende Worte zu seiner Person. Die Erzählstimme geht bei der Präsentation der Ereignisse gleich in medias res, indem sie ohne Umschweife einen Vorfall aus der Kindheit des Glaukos erzählt: Dieser jagt eine Maus, fällt dabei in ein Honigfass und stirbt (ἀπέθανεν). Bemerkenswert ist, dass bei diesem Vorfall die Todesursache und ein archaischer Bestattungsbrauch, zwei Phänomene, die üblicherweise in einem zeitlichen Nacheinander stehen, ineinander fallen – ist doch aus der helladischen Periode sowohl der Brauch des Einbalsamierens von Toten mit Honig als auch die Bestattung in Vorratsfässern (πίθοι) belegt.435 Da nur der allwissende Erzähler, nicht aber die Erzählfigur Minos von diesem Unglücksfall weiß, findet die Handlung ihre Fortsetzung in einer Suchaktion nach dem verschwundenen Kind. Der Versuch, den Vermissten wiederzufinden, wird flankiert von der Befragung eines Orakels. Diese Aktion wird mit ἐμαντεύετο bezeichnet, womit ein erster Beleg der μαντTerminologie in die Erzählung eingeführt wird. Diese wird im weiteren Verlauf der Darstellung das zentrale Wortfeld konstituieren und die Mantik als dominierendes Thema etablieren. Als Verkünder des erbetenen Orakels fungieren die Kureten, in Kreta beheimatete mythische Wesen, die Höhlen und Schluchten bewohnen und auch als Wahrsager tätig sind.436 Da die Kureten auch als Erfinder der Bienenhaltung gelten, besteht über das Bienenmotiv eine direkte Verbindung zwischen der Todesursache des Gesuchten und den Befragten, die durch ihre Weissagung (μαντεία) zu seiner Wiederauffindung beitragen sollen. Der Orakelspruch der Kureten 435 436
Vgl. dazu die belegreichen Ausführungen von PERSSON, Religion, 11–19. Vgl. GORDON, Art. Kureten, 934.
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handelt von der rätselhaften Dreifarbigkeit einer Kuh innerhalb der Herden des Minos und beinhaltet die Zusage, dass derjenige, der diesen Farbwechsel am besten vergleichen könne, auch den Jungen wieder lebend zurückbringen werde (ζῶντα τὸν παῖδα ἀποδώσειν).437 Als einer derjenigen μάντεις, die zur Lösung des Rätsels versammelt sind, wird Polyidos in die erzählte Welt eingeführt.438 Einer mythologisch informierten Leserschaft erweist er sich dadurch, dass ihn der Erzähler über seine Sohnschaft zu Koiranos identifiziert, als hervorragender Vertreter seines Standes, gehört er damit doch zum Stammbaum des Melampus und somit zu einer der berühmtesten Seher-Familien der Antike. Seine Expertise stellt er gleich zu Beginn der Erzählung dadurch unter Beweis, dass er in der Lage ist, das Farbrätsel zu lösen: Der Farbwechsel der ominösen Kuh komme den verschiedenen Farben gleich, die eine Brombeere in ihren unterschiedlichen Reifephasen zeigt. Anschließend beweist er weitere seherische Qualitäten, indem er vermittels eines weiteren Orakels, das vom Erzähler nicht näher ausgeführt wird,439 den Jungen findet. Diese Suche hatte er, wie die Erzählstimme verlauten lässt, nicht freiwillig durchgeführt, er war von Minos dazu gezwungen worden (ζητεῖν τὸν παῖδα ἀναγκασθείς). Da der Orakelspruch zudem noch beinhaltet, dass derjenige, der das Farbwechselrätsel lösen könne, den Sohn des Minos lebendig zurückbringen werde, nötigt der König dem Seher die vollständige Erfüllung des Vorhergesagten ab, indem er ihn zusammen mit dem Leichnam einschließen lässt. Räumlich getrennt von der ihn umgebenden erzählten Welt vollendet Polyidos den vom Orakel vorgezeichneten Auftrag, indem er weitere Facetten seiner Profession als Seher aufblitzen lässt. Zunächst einmal setzt er zwei Schlangen als Medium ein. Durch die genaue Beobachtung ihres Verhaltens: die eine Schlange erweckt ihre tote Artgenossin durch das Auflegen eines Krautes, kann er das ihm
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Innerhalb der erzählten Welt, in der die Figuren – anders als die Leserschaft – nicht wissen, dass der Sohn des Minos bereits tot ist, fungiert das letzte Syntagma des Orakelspruches (ζῶντα τὸν παῖδα ἀποδώσειν) als subtiler Hinweis auf das tragische Geschick des Kindes. Aus einer intertextuellen Perspektive betrachtet, weist diese Wortgruppe eine erstaunliche Nähe zur josephischen Fassung der Sarepta-Episode auf, in welcher der Prophet Elia der verwaisten Mutter verspricht: ζῶντα γὰρ αὐτὸν ἀποδώσειν (Ant. 8,326), dasselbe gilt für eine Formulierung aus einer Totenerweckungserzählung der Vitae Prophetarum: ἀπέδοκεν αὐτὸν ζῶντα τῇ μητρὶ αὐτοῦ (VitProph 10,5). Ob diese sprachlichen Übereinstimmungen auf direkten literarischen Abhängigkeiten beruhen oder ganz schlicht dadurch motiviert sind, dass alle drei Erzählungen über einen ähnlichen plot verfügen, lässt sich aufgrund der unsicheren Datierung der „Bibliotheke“ nicht entscheiden. Auch in der mythenkritischen Bemerkung des Agatharchides von Knidos (vgl. Anm. 400, 123, in der vorliegenden Untersuchung) wird Glaukos ὑπὸ τοῦ μάντεως zum ἀναστῆναι gebracht. In der Version des Mythos, die von Hyginus präsentiert wird, ist von einem Eulen-Orakel die Rede, siehe dazu die Ausführungen im nächsten Abschnitt.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
133
gesetzte Ziel, den Jungen lebendig wieder zurückzugeben, erreichen.440 Dass es ausgerechnet Schlangen sind, die ihm den Weg zur Lösung der gestellten Aufgabe zeigen, nimmt bei einem Nachfahren des Melampus nicht Wunder, hatte jener als kleiner Junge seine Sehergabe doch durch Schlangen erhalten, die ihm die Ohren ausleckten.441 Wenn Glaukos dann wiederbelebt wird, weil Polyidos das richtige Kraut auf seinen Leichnam legt, erweist sich der Seher dadurch, dass er wirkungsvolle φάρμακα anzuwenden weiß, auch noch als kundiger Arzt442 und kann somit – wie sein Ahnvater Melampus – der Sondergruppe der ἰατρόμαντεις zugerechnet werden. Bemerkenswert ist, dass in der mythischen Erzählung des (Ps.-)Apollodoros die Figuren der erzählten Welt weder Erstaunen noch Dankbarkeit hinsichtlich der geglückten Wiederbelebung des Glaukos zeigen. Der Sohn des Königs erscheint innerhalb der Erzählung nicht als bemitleidenswertes Subjekt, sondern ausschließlich als Mittel zur Erreichung von Zielen, die sein Vater avisiert. Minos nimmt die Erweckungstat des Polyidos nämlich zum Anlass, sich der besonderen (iatro-)mantischen Fähigkeiten des Sehers auch weiterhin bedienen zu können, indem er ihm als nächste Dienstleistung abnötigt, seinen nun wiedererstandenen Sohn in der μαντεία zu unterrichten. Letztendlich erweist sich allerdings Polyidos als Sieger in diesem Machtspiel zwischen König und μάντις: Nach erfolgter und offensichtlich erfolgreicher Unterweisung des Glaukos bedient sich der Lehrer kurz vor seiner Abreise eines Tricks, indem er seinen Zögling auffordert, ihm in den Mund zu spucken. Im Anschluss an diesen Vorgang, in welchem Speichel als Übertragungsmaterie der seherischen Fähigkeiten443 fungiert, vergisst Glaukos das Gelernte wieder. Vergleicht man die von (Ps.-)Apollodoros vorgestellte Version des GlaukosMythos mit derjenigen, die sich bei Palaiphatos findet, so fällt auf, dass die Wiederbelebung eines Toten in dieser Version nicht als „unglaublich“, sondern „nur“ als eine unter mehreren Kostproben der besonderen Fähigkeiten eines Mantikers konzeptualisiert wird. Dem Umstand, dass sich der tote Glaukos wieder aufrichtet, nachdem ihm Polyidos das entsprechende Kraut auf seinen Leichnam gelegt hat, kommt, da er sich ungefähr in der Mitte der Handlung ereignet, kein besonderer Erinnerungseffekt zu. Polyidos bleibt der Leserschaft nicht so sehr als ἰατρόμαντις, dessen medizinische Fähigkeiten in einer Totenerweckung 440
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Vgl. JOHNSTON, Divination, 111: „Polyidus observes one snake curing another and from this learns how to resurrect the dead – not a divinatory ability per se“. Vgl. KÄPPEL, Art. Melampus, 1166; dass Melampus seine Sehergabe von Schlangen erhalten hat, findet sich auch bei Apollod. 1,9.11. Die Schlangen im Polyidos-Mythos verweisen nicht nur darauf, dass er Nachfahre des Melampus ist, sondern können auch als Reminiszenz an Asklepios interpretiert werden; vgl. KÜSTER, Schlange, 121–133 („Die Schlange als mantisches Tier“) und 133–137 („[Die] Schlange als heilkräftiges Tier“). Vgl. zu Speichel oder Honig als Übertragungsmedium mantischer Fähigkeiten: JOHNSTON, Divination, 111.
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kulminieren, in Erinnerung, sondern in erster Linie als ἰατρόμαντις: ein intellektueller Kopf, der Orakelsprüche deuten und einen machtgierigen König mit seinen seherischen Fähigkeiten überlisten kann.
6.3
Hyginus, Fabulae 136,1–7: Polyidus und Glaucus
Eine dritte, in narratologischer Hinsicht vollständig ausgeführte Fassung des Glaukos-Mythos findet sich in einer auf Latein überlieferten Mythensammlung,444 die unter dem Titel Fabulae445 kursiert und einem Hyginus zugeschrieben wird. Welche historische Figur sich hinter diesem Namen verbirgt,446 wann und in welchem Umfang die Sammlung erstmalig veröffentlicht worden ist, wie viele Bearbeitungen sie seitdem durchlaufen, welche Ergänzungen sie dabei erhalten hat und zu
444
445
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Als Standardausgabe gilt aktuell die von Peter K. Marshall im Jahr 2002 in zweiter Auflage angefertigte Edition (vgl. zu den verschiedenen Ausgaben des Textes: HAYS, Mythography, 39). Hier werden die Mythen in Form von 277 Kapiteln, die jeweils eine eigene mythische Erzählung beinhalten, präsentiert. SMITH/TRZASKOMA, Introduction, xlix, halten es für möglich, dass die ursprüngliche Fassung nicht in einzelne Kapitel zerfiel, sondern als „continuous narrative“ gestaltet war. Die überwiegend auf griechische Stoffe rekurrierende Kollektion ist möglicherweise zunächst auf Griechisch verfasst worden (vgl. FLETCHER, Fabulae, 139–141; CAMERON, Mythography, 36). Es handelt sich bei der heute in lateinischer Sprache kursierenden Version der Fabulae wohl um eine gekürzte oder adaptierte Fassung „of an original work now lost“ (HAYS, Mythography, 30). Der ursprüngliche Titel dieser Schrift lautete wahrscheinlich Genealogia. Mit dieser Bezeichnung rekurriert nämlich der Verfasser der Schrift De astronomia, der aus stilistischen und inhaltlichen Gründen identisch mit dem Verfasser der Fabulae sein muss, in Hyg. astr. 2,12 auf ein früheres Werk; vgl. HAYS, Mythography, 30; SCHMIDT, Art. Hyginus, 778; CAMERON, Mythography, 33. SMITH/TRZASKOMA, Introduction, xlii, verweisen darauf, dass „Hyginus“ in der Antike ein gebräuchlicher Name war. Der gegenwärtige Forschungskonsens tendiert dazu, die Frage der Verfasserschaft offen zu lassen (vgl. HAYS, Mythography, 30; FLETCHER, Fabulae, 136; SMITH/TRZASKOMA, Introduction, xlii). Nicht ganz aufgegeben ist allerdings die auf Micyllus, den Wiederentdecker des in der Antike verschollenen Textes, zurückgehende Hypothese, es handele sich um C. Julius Hyginus, „Freigelassener des Augustus, nach 28 v. Chr. Präfekt der palatinischen Bibl.[iothek]“ (SCHMIDT, Art. Hyginus, 778). Von dieser Annahme war er 1535 ausgegangen, als er ein bis dahin verschollenes – und bald darauf wieder verloren gegangenes – Manuskript der Mythensammlung wiederentdeckt und unter dem Titel C. Iulii Hygini Augusti liberti Fabularum liber, ad omnium poetarum lectionem mire necessarius & antehac nunquam excusus (vgl. MARSHALL, Praefatio, V) in den Druck gegeben hat (vgl. SMITH/TRZASKOMA, Introduction, xlii). Diese These wird neuerdings wieder stark gemacht von INOWLOCKI, Genèse, passim. Weitere Literatur zur umstrittenen Frage der Verfasserschaft bietet HUYS, Euripides, Anm. 5, 168f.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
135
welchem Zwecke447 sie verfasst worden ist – alle diese Fragen sind in der altphilologischen Forschung ungeklärt. Gesichert ist allerdings der terminus ad quem: Ein im Jahr 207 n. Chr. erschienenes zweisprachiges Latein-Griechisch-Lehrbuch, die sog. Hermeneumata Pseudo-Dositheana,448 enthalten Teile der Fabulae, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Mythensammlung zu Beginn des 2. Jh.s schon seit einiger Zeit im Umlauf war. Dass Hyginus – der Einfachheit halber wird der traditionelle Verfassername im Folgenden beibehalten – bei seiner Kollektion auf die Hypotheseis der klassischen Tragödien zurückgegriffen hat, gilt als sicher.449 Hyg. fab. 136 dürfte in erster Linie von Euripides’ Polyidos-Tragödie beeinflusst sein.
Im Einzelnen stellt sich der Mythos – in deutscher Übersetzung – bei Hyginus folgendermaßen dar: 1 Als Glaukos, Sohn des Minos und der Pasiphaë, Ball spielte, fiel er in ein Fass voll mit Honig (cecidit in dolium melle plenum). Als die Eltern diesen suchten, haben sie den Apollon wegen des Jungen befragt. Diesen hat Apollon geantwortet: „Euch ist ein Wunder (monstrum) geboren, das euch den Jungen wiedergeben/wiederherstellen (puerum uobis restituet) wird, wenn einer es erklärt haben wird.“ 2 Nachdem Minos die Weissagung gehört hatte, fing er an, das Wunder von den Seinen zu erfragen; diesem sagten sie, dass ein Kalb geboren sei, das dreimal am Tag die Farbe wechsele für vier Stunden, zuerst weiß, zum Zweiten rot, dann schwarz. 3 Minos aber rief, um das Wunder zu erklären, Auguren zusammen. Als diese nicht gefunden wurden, erklärte Polyidos, byzantinischer450 Sohn des Koiranos, das Wunder: dass es dem Brombeerstrauch ähnlich sei; denn es ist zuerst weiß, dann rot, wenn es reif geworden ist, schwarz. 4 Darauf sagte Minos ihm: „Nach dem Orakelspruch des Apollon musst du mir den Sohn wiedergeben/wiederherstellen (filium mihi oportet restituas).“ Während Polyidos dies beobachtete, sah er eine über einem Weinkeller sitzende und Bienen in die Flucht schlagende Eule. Nachdem er das Zeichen angenommen hatte, holte er den Jungen tot aus dem Fass (puerum exanimem de dolio eduxit). 5 Diesem (sc. dem Polyidos) sagte Minos: „Nachdem der Leichnam gefunden worden ist (corpore inuento), stelle nun den Geist/Atem451 wieder her (spiritum restitue).“ Weil Polyidos verneinte, dass dies geschehen könne, befahl Minos, dass er mit dem Jungen im Grab eingeschlossen werde und dass ein Schwert hineingelegt werde. 6 Als diese 447
448 449 450
451
Vgl. FLETCHER, Fabulae, Anm. 5, 134: „Scholars have generally assumed that the Fabulae have a pedagogic function“. Vgl. HAYS, Mythography, 30; FLETCHER, Fabulae, 137. Vgl. HAYS, Mythography, 29f., und HAYS, Euripides, 173–178. LIÉNARD, Obscurités, 50, weist darauf hin, dass die geographische Angabe des Hyginus, die in den Quellen zwischen „Byzanti“ und „Byzantius“ alterniert und in der Forschung zu unterschiedlichsten Hypothesen geführt hat, „absolument vide de sens“ sei. Da Koiranos, der Vater des Polyidos, gemäß der mythischen Tradition „argien ou corinthien“ (ebd.) sei, könne es sich an dieser Stelle nur um eine „confusion remontant jusqu’à l’Antiquité entre deux personnages homonymes mais totalement étrangers l’un à l’autre“ (a. a. O., 51) handeln, und zwar die Verwechselung des Koiranos aus Korinth mit dem Koiranos aus Byzanz, der wegen der Rettung gefangener Delphine zu einer gewissen Berühmtheit gelangt ist. Es ist in diesem Kontext nicht entscheidbar, ob das Wort spiritus als Synonym zu anima (im Sinn von „Geist“, „Lebenskraft“) oder konkret physiologisch als „Atem“ verstanden werden muss. Für letztere Deutung liegt ein Beleg in Plin. nat. 7,53.175 (Darstellung der „nicht atmenden Frau“) vor. Siehe dazu S. 205 in der vorliegenden Untersuchung.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften eingeschlossen waren, kroch unvermutet eine Schlange zum Körper des Jungen (draco repente ad corpus pueri processit). Weil Polyidos glaubte, diese wolle ihn fressen, traf und tötete er sie unvermutet mit dem Schwert (gladio repente percussit et occidit). Eine andere Schlange, die Artgenossin suchend, sah die Getötete, kam herbei und brachte ein Kraut (herbam attulit), und durch ihre Berührung stellte sie der Schlange den Geist/Atem wieder her (eius tactu serpenti spiritum). 7 Dasselbe machte Polyidos (idemque Polyidus fecit); als diese drinnen laut riefen, meldete es ein gewisser Vorbeigehender dem Minos. Dieser befahl, dass das Grab geöffnet werde und er bekam seinen Sohn unversehrt zurück (filium incolumem recuperauit). Er schickte den Polyidos mit vielen Geschenken in seine Heimat zurück.
In ihren Grundzügen unterscheidet sich die Erzählung des Glaukos-Mythos, die sich in Hyginus’ Fabulae findet, auf den ersten Blick nicht von den Fassungen, die Palaiphatos und (Ps.-)Apollodoros vorlegen. Als im Vergleich zu den Parallelversionen überschießendes Element ist auf die Eule zu verweisen, die – Bienen in die Flucht schlagend – dem Seher Polyidos ein eindeutiges Zeichen gibt, wo er den verschwundenen Jungen zu suchen habe (Hyg. fab. 136,4). Dieses Motiv fehlt gänzlich in Περὶ ἀπίστων und wird in der „Bibliotheke“ (Apollod. 3,3.1: διά τινος μαντείας) nur angedeutet. Das Verhältnis zwischen dem Seher und dem König wird von Hyginus weniger spannungsreich gezeichnet, als es bei (Ps.-)Apollodoros der Fall ist. Der Minos aus den Fabulae macht sich die mantischen Fähigkeiten des Polyidos zu Nutze, um seinen verschwundenen Sohn ausfindig zu machen und wiederbeleben zu lassen, erhebt aber nach Erfüllung seines Auftrages keinerlei weitere Ansprüche auf zusätzliche Dienstleistungen des Sehers. Was aber als Alleinstellungsmerkmal der Glaukos-Version, die sich in Hyginus’ Fabulae findet, ins Auge sticht, ist die Art und Weise, wie von der Wiederbelebung des Jungen erzählt wird, nämlich: eigentlich gar nicht. Die lapidare Bemerkung idemque Polyidus fecit (Hyg. fab. 136,6) muss von der Leserschaft selbstständig als Hinweis auf das Wieder-lebendig-Werden eines toten Kindes durch die Berührung mit einem Kraut dechiffriert werden. Der Erzähler der HyginusVersion des Glaukos-Mythos enthält sich einer expliziten Schilderung der Vorgänge, die dazu führen, dass der tote Knabe wieder lebendig wird. Dem Verzicht auf eine ausführliche Darstellung des Wiederbelebungsvorganges korrespondiert die Haltung des Polyidos, der, bevor er zusammen mit dem toten Kind im Grab eingekerkert wird, der Aufforderung des Minos, auf das Finden des corpus das Wiederherstellen (restituere) des spiritus seines Sohnes folgen zu lassen (Hyg. fab. 136,5), eine Absage erteilt. Der Seher verneint, dass dies geschehen könne (negaret posse fieri; ebd.). Damit nimmt er die für die „pagane“ Antike in Bezug auf Totenerweckungen vorherrschende Position ein, nach welcher Wiederbelebungen Toter unmöglich seien. Gleichzeitig zeigt er auf diese Weise aber auch, dass er – anders als König Minos – das volle Bedeutungsspektrum des ApollonOrakels nicht erfasst hat. Apollon äußert sich, der grundsätzlichen obscuritas von
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
137
Orakeln gemäß,452 nicht ganz eindeutig. Die lateinischen Worte, mit denen der Gott versprachlicht, was in Bezug auf denjenigen zu erwarten sei, der das Rätsel lösen werde: puerum uobis restituet, können je nachdem, wie man sich den Zustand des vermissten Kindes vorstellt, unterschiedlich verstanden werden. Geht man davon aus, dass das Kind sich verlaufen habe und wiedergefunden werden müsse, so kann das lateinische Verb restituere im Sinne von „wieder übergeben, wiedergeben“453 interpretiert werden. Nimmt man aber an, dass das Kind nicht nur verschwunden, sondern auch ums Leben gekommen sei, so stellt die Vorhersage des Apollon eine Wiederbelebung in Aussicht, da restituere auch im Sinne von „wiederherstellen, in seinen vorigen Stand setzen“454 verwendet werden kann. Wenn Minos von Polyidos verlangt, er solle den spiritus seines toten Sohnes „wieder in seinen vorigen Stand setzen“ (Hyg. fab. 136,5), geht er offenbar davon aus, dass das Orakel des Apollon eine solche Wendung des Geschehens umfasst. Dass er dem Polyidos dann auch noch ein Schwert mit ins Grab gibt, bevor er ihn zusammen mit dem Leichnam einschließen lässt, deutet darauf hin, dass der König mutmaßt, es werde zur vollständigen Erfüllung der Vorhersage einer gewissen Aktivität des Sehers bedürfen. Für Polyidos hingegen stellt sich das, was Apollon orakelt hat, bereits als erfüllt dar. Er hat dem König sein Kind „wiedergegeben“, wenn auch in totem Zustand. Aus seiner Perspektive ist seine Mission erfüllt. In der Version des Hyginus verringert sich somit – anders als in der Fassung des (Ps.-)Apollodoros – je weiter die Handlung voranschreitet, das Maß an Selbstbestimmtheit, das dem Protagonisten Polyidos zugestanden wird. Während er in der ersten Hälfte von Hyg. fab. 136 noch aufgrund der souveränen Deutung des Farb-Rätsels und der richtigen Interpretation des Eulen-Auguriums als Mantiker reüssieren kann, verliert er bereits in dem Moment an Souveränität, wenn er eine Wiederbelebung des Glaukos nicht für möglich hält. Und aufgrund der Art und Weise, wie die Vorgänge, die sich im Innern des Grabes abspielen, vom Erzähler geschildert werden, erscheinen letztendlich die beiden Schlangen, nicht aber Polyidos, als verantwortlich für die Wiederbelebung des toten Knaben.455
452
453 454 455
Vgl. FUHRMANN, Obscuritas, 51: „Die andeutenden Orakel der griechischen Götter provozierten menschliche Mitwirkung: sie bedurften der Auslegung; es galt, ihren Sinn zu begreifen.“ GEORGES, Handwörterbuch II, 2356, s. v. restituo. GEORGES, Handwörterbuch II, 2356, s. v. restituo. Vgl. KÜSTER, Schlange, 137: „Wie Asklepios Tote wieder zum Leben erwecken konnte, so wurde auch der Schlange, welche nach dem allgemeinen Volksglauben die Kenntnis heilkräftiger und lebenspendender Pflanzen und Kräuter besaß, diese Fähigkeit zugeschrieben, wie etwa die Sage von Glaukos, dem Sohn des Minos lehrt, der durch den Seher Polyidos wieder zum Leben erweckt wurde, nachdem er das lebenspendende Mittel von einer Schlange erfahren hatte“.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Im Einzelnen zeichnet der Erzähler seiner Leserschaft die Vorgänge im monumentum folgendermaßen vor Augen (Hyg. fab. 136,6): Zunächst einmal schildert er das Geschehen aus der Perspektive des Polyidos. Dieser vermutet, wenn er eine Schlange an den Leichnam des Glaukos herankriechen sieht, diese wolle den Leichnam auffressen, weshalb er das Tier tötet. Darauf schildert der Erzähler den weiteren Verlauf der Ereignisse quasi wie ein Kameramann, der eine Filmszene in der Zoom-Einstellung aufnimmt. Er beschreibt detailliert, wie eine zweite Schlange auf der Suche nach ihrer Gefährtin auftaucht, die Getötete wahrnimmt und ihr dann durch die Berührung mit einem Kraut den Geist/Atem wiederherstellt (spiritum restituit). In den unterschiedlichen Perspektiven, die Polyidos und der Erzähler auf das Agieren der Schlangen einnehmen: der eine sieht sie als Unheil, der andere als Leben bringend, spiegelt sich die grundsätzlich „ambivalente Stellung[, die Schlangen] in der griech.[ischen] und röm.[ischen] Kultur ein[nehmen]“456, wider. In antiker Vorstellung ist die „Symbolik der Schlange […] ein reiches Compositum unterschiedlicher Elemente und Strömungen, wenngleich sie sich grundsätzlich aus der für alle chthonischen Wesen typischen Antithese zwischen Leben und Tod entwickelt.“457 So wird z. B. das Leben des neugeborenen Herakles durch die von Hera gesandten Schlangen bedroht, wohingegen dem „Apollon-Sohn Iamos […] die Götter gleich nach seiner Geburt gleichfalls zwei δράκοντες [senden], die jedoch dem Kind wohlgesinnt sind“458 und es beschützen. Bemerkenswert ist, dass Schlangen im Altertum häufig als Wesen „andersartige[r] Natur [… und als] von Göttern und Menschen radikal“459 getrennt konzeptualisiert werden. Dies geht aber gleichzeitig mit der Zuschreibung einer besonderen Nähe zwischen Schlangen und Sehern und mit einer „konstante[n] und direkte[n] Beziehung zu Apollon [einher], der traditionell der Erbe der prophetischen Kräfte der Schlange Python ist.“460 Vor diesem Hintergrund erscheint das Verhalten des Sehers Polyidos im Grab wenig professionell (Hyg. fab. 136,6). Obwohl quasi von Berufs wegen in enger Verbindung zu Schlangen stehend, hat er die Möglichkeit, dass das chthonische Wesen, das an den Leichnam des Glaukos herankriecht, in lebenspendender Absicht kommen könnte, nicht im Blick. Stattdessen tötet er das herannahende Reptil sogleich, weil er fürchtet, das Tier wolle „ihn“ (eum), sc. den Leichnam des Jungen, fressen.461 Auch die enge Verbindung zwischen den Schlangen und Apollon, dem Sprecher des Orakels, kommt ihm nicht in den Sinn. Diese 456 457 458 459 460 461
BREMMER, Art. Schlange, 181. SANCASSANO, δράκων, 86. SANCASSANO, δράκων, 86. SANCASSANO, δράκων, 80. SANCASSANO, δράκων, 87. An dieser Stelle liegt eine doppeldeutige Formulierung vor. Das Personalpronomen eum kann sowohl auf Polyidos als auch auf Glaukos referieren. Da die Schlange sich aber zielgerichtet auf den Leichnam zubewegt, liegt es näher, das Fürwort auf den toten Knaben zu beziehen.
6 Totenerweckungserzählungen von Polyidos
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potentielle Fehleinschätzung der Situation bleibt aber letztendlich folgenlos für den guten Ausgang der gesamten Angelegenheit, weil nach der ersten noch eine zweite Schlange auftaucht und sich Polyidos schließlich doch noch seiner seherischen Fähigkeiten bedient, wenn er das Verhalten des zweiten Reptils dahingehend deutet, dass er schlicht „dasselbe machen“ müsse (Hyg. fab. 136,7). Das Gelingen der Wiederbelebung des Glaukos wird vom Erzähler – ähnlich wie der eigentliche Vollzug des restituere – wiederum nur indirekt dargestellt, indem nämlich mit einer Verbform in der 3. Person Plural (uociferrentur) vom Rufen mindestens zweier Personen aus dem Grab heraus die Rede ist. Polyidos wird der Leserschaft auch im Folgenden nicht als ein selbstständig Agierender präsentiert, der das ganze Geschehen erfolgreich zum Abschluss brächte. Ein zufällig vorbeigehender Passant muss dem Minos melden, dass Stimmen aus dem Grab zu hören seien. Erst durch die Intervention des Königs können der Seher und der wieder lebendige Knabe aus ihrem Gefängnis befreit werden. Und auch am Ende der Handlung erscheint Polyidos nicht als Subjekt, sondern vielmehr als Objekt des Geschehens. Er bricht nicht aus eigener Initiative auf, sondern Minos schickt ihn, mit Geschenken versehen, in seine Heimat zurück (remisit). Festzuhalten ist somit, dass sich der Erzähler der Fabulae den Geschehnissen um die beiden Schlangen mit größerer Aufmerksamkeit zuwendet als der Totenerweckung des Glaukos durch Polyidos. Was letztendlich mit dem toten Knaben geschieht, ist nur eine Nachbildung des originalen Geschehens rund um die Reptilien. Im Gedächtnis der Leserschaft haften bleibt die eine Schlange, die ihrer toten Artgenossin durch die Berührung mit einem eigens herbeigeholten Kraut den spiritus wiederherstellt. Auf diese Weise wird in der Version des Hyginus der Vorgang der Totenerweckung als ein Phänomen dargestellt, das auf das Wirken chthonischer Mächte zurückzuführen ist. Diese können zwar in Übereinstimmung mit göttlichen und menschlichen Absichten agieren, sind grundsätzlich aber als selbstständige Wesen konzeptualisiert. Weder der Gott Apollon noch der Mantiker Polyidos sind ursächlich verantwortlich für die Wiederbelebung des toten Kindes. Der eine kann in seinem Orakel vorhersehen, dass der tote Knabe wieder leben wird, der andere kann – wenn es ihm „vorgemacht“ wird – ein Kraut so anwenden, dass Glaukos wieder lebendig wird. Die Macht über Leben und Tod kommt in der erzählten Welt der Hyginus-Version allein den andersartigen Schlangenwesen in ihrer undurchschaubaren Ambivalenz zu.462 Mit Blick auf die Tatsache, dass in der vorliegenden Untersuchung auch die Gattungsproblematik von „Totenerweckungserzählungen“ behandelt wird, ist im Anschluss an die Untersuchung der ersten drei „paganen“ Exemplare dieser Textsorte auf Folgendes hinzuweisen: Ähnlich wie bei den verschiedenen Fassungen der (antik-jüdischen) Elia-/Elisa-Wiederbelebungserzählungen, den noch zu untersuchenden Versionen der Asklepios-Hippolytos-Geschichten 462
Hyg. astr. 2,14 bietet noch eine andere Version des Mythos, nach welcher Glaukos durch Asklepios wiederbelebt wird.
140
Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
und der in Teil III zu behandelnden story von Jesus und der Tochter des (Synagogen-)Vorstehers, die in drei synoptischen Versionen von „Jairi Töchterlein“ (Mk 5,21–43; Mt 9,18–26 und Lk 8,40–56) überliefert ist, liegt mit den PolyidosGlaukos-Erzählungen ein plot vor, der mehrfach bearbeitet wird. Totenerweckungserzählungen zeigen somit eine deutliche Tendenz zur „Stabilität“. Dass das retelling bekannter Erzählungen gegenüber dem Neuerfinden von Geschichten bevorzugt wird, könnte folgenden Grund haben: Auch im Bereich der literarischen Fiktion wird eine Totenerweckung als etwas derart Außergewöhnliches angesehen, dass eine Beschränkung auf eine begrenzte Anzahl von Schauplätzen, Figuren und Handlungselementen dem Erzählten eine größere Glaubwürdigkeit und somit eine höhere Akzeptanz bei der (empirischen) Leserschaft zu verleihen vermag.
7
Die Tradition von der Wiederbelebung des Tylon
Wenn wir den in der Einleitung des vorliegenden Buches zitierten Ratschlag Wettsteins ernst nehmen, uns zum ‚Ganz-und-gar-Verstehen‘ der neutestamentlichen Schriften ‚im Geiste in jene Zeit und jene Gegend, wo sie zuerst gelesen wurden‘ zu versetzen, dann müssen wir, um die Enzyklopädie der idealen Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen aufzuarbeiten, auch entlegene Traditionen behandeln. Dies geschieht im vorliegenden Kapitel. Die Vorstellung, dass Schlangen über pflanzenkundliches Wissen verfügen, welches sie dazu befähigt, tote Artgenossinnen wiederzubeleben – ein Vorgang, der dann auch auf die Wiederbelebung toter Menschen übertragen werden kann –, ist in der Antike nicht nur mit der Figur des Glaukos, sondern auch mit der des Tylon,463 des „Ahnherrn der [lydischen] Tylonier“464, verknüpft. Ob es sich bei diesem um eine historische Person oder um eine Figur aus dem „Bereich unkontrollierbarer Sage“465 handelt, ist in der Forschung umstritten. In der Altphilologie geht man davon aus, dass die Glaukos- und Tylon-Traditionen unabhängig voneinander existieren, offenkundig aber „Abwandlungen eines und desselben Typs“466 von Sagen darstellen. Beide Mythen basieren auf dem Motiv eines Totenerweckungskraft besitzenden Krautes, dessen Verwendung Menschen von Schlangen übernehmen. Da der Mythos von der Wiederbelebung des Tylon durch eine Schlange vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. durchgehend „[v]on Xanthos dem Lyder zu Aineias aus Gaza“467 belegt ist, gehört er zur Enzyklopädie der Antike. Der älteste Hinweis auf diese Tradition aus den Lydiaká des Xanthos, einer Schrift, die nur fragmentarisch erhalten ist und in die Mitte des 5. Jh.s v. Chr.
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464 465 466
467
Neben „Tylon“ sind auch die Namensformen „Tylos“ und „Tyllos“ belegt, vgl. HERTER, Xanthos, 190. HERTER, Xanthos, 190; vgl. zu weiteren Mutmaßungen über diese Figur: a. a. O., 195. HERTER, Xanthos, 190; vgl. auch a. a. O., 194f. Vgl. HERTER, Xanthos, 198. Vgl. ferner HANFMANN, Lydiaka, 70, der vermutet, dass beide Traditionen sich unabhängig voneinander entwickelt hätten, aber beide vom GilgameschEpos beeinflusst seien. So der Titel des einschlägigen Aufsatzes zum Thema von Hans Herter. ROJAS, Anatolia, 80f., vermutet, dass der Mythos noch älter und bei den Hethitern als „myth of Illuyankas“ bereits in der Bronze-Zeit belegt ist, „preserved in cuneiform tablets in two versions, both involving dealings between the Hittite Storm God, Tarhunnas, and the formidable dragon or serpentine monster Illuyankas. […] At its core, the Illuyankas myth involves the combat between a hero, his helper(s), and a dragon, as well as the restoration to health of the hero through the aid (or trickery) of his helper.“
142
Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
datiert wird,468 findet sich im 25. Buch der Naturalis historia des Plinius. Dessen enzyklopädische Zusammenstellung unterschiedlichster Naturphänomene wird zumeist in die Jahre 77/78 n. Chr. datiert.469 In deutscher Übersetzung lautet der Eintrag in Plin. nat. 25,5.14 folgendermaßen: Xanthos, der Verfasser von Geschichtserzählungen, überliefert in deren erster, dass das getötete Junge einer Schlange ins Leben zurückgerufen worden ist (occisum draconis catulum revocatum ad vitam) vom Elternteil durch ein Kraut, das er „Balis“470 nennt (herba, quam balim nominat), und dass durch dasselbe Tylon, den eine Schlange getötet hatte, der Gesundheit wiederhergestellt worden ist (restitutum saluti).
Dem Referat des Plinius ist nicht viel mehr als die bloße Information zu entnehmen, dass es sich beim Tylon-Mythos um eine alte Tradition handelt.471 Welche Aufnahme die Vorstellung, ein Toter könne durch ein bestimmtes Kraut wiederbelebt werden, im klassischen Griechenland gefunden hat – ob sie als glaubwürdig oder als irrational rezipiert worden ist –, lässt sich aufgrund der Knappheit der Darstellung in der Naturalis historia nicht feststellen. Plinius selbst allerdings rahmt sein Referat des Xanthos-Fragments im 5. Kapitel des 25. Buches seines naturgeschichtlichen Werkes durch zwei Bemerkungen, die durchscheinen lassen, dass er selbst diesem Mythos durchaus eine gewisse Glaubwürdigkeit zuschreibt (Plin. nat. 25,5.13). Bevor er auf die Tylon-Tradition eingeht, schließt er die vorangehende Passage, in der er pflanzenkundliche Abhandlungen des Pythagoras und des Demokritos behandelt (in die auch Informationen eingegangen sind, die von magi aus Persien, Arabien, Äthiopien und Ägypten stammen), mit der Bemerkung ab, das Altertum (antiquitas) sei über dieses Material so sehr erstaunt (attonita) gewesen, dass es auch incredibilia dictu behauptet habe. Dann stellt er seinem Xanthos-Referat einen weiteren Beleg für die Wiederbelebung eines Toten durch ein Kraut an die Seite: et Iuba in Arabia herba revocatum ad vitam hominem tradit (Plin. nat. 25,5.14).472 Wenn er im Anschluss an die beiden Wiederbelebungsfälle (ebd.) noch mit Bezugnahme auf Demokritos und Theophrastos von einem Kraut berichtet, das einen in einen Baum getriebenen Keil herausspringen lassen könne, so besteht die Gemeinsamkeit zwischen diesem Vorfall und den Wiederbelebungen im physischen Kontakt 468 469 470
471
472
Vgl. HÖGEMANN, Art. X.[anthos], 604. Vgl. VOGEL, Einleitung, 16. Vgl. zu dieser Pflanze: ROJAS, Anatolia, 85: „The name balis, according to the first-century AD botanist Dioscorides, was a variant for the ,exploding cucumber‘ or Ecballium elaterium [….], a plant which the botanist describes as being useful to make laxatives and emetics, among other remedies.“ Eine andere Hypothese liefert HERTER, Xanthos, 192: „es liegt nahe, balis an das thrakische φαλίς anzuschließen, da nach dem Zeugnis des Etym. M. dem Hanf wiederbelebende Kraft zugeschrieben wurde“. Etwas mehr liest HERTER, Xanthos, 190, aus dieser Notiz heraus: „So rationalistisch Xanthos eingestellt war, dies Wunder hatte er ganz in der Weise des Hekataios als naturhistorisches Paradoxon belassen“. Zu Iuba vgl.: HOPP, Verzeichnis, 223: „Iuba II., König von Mauretanien, kompilierte zur Zeit des Augustus in griech.[ischer] Sprache einige griech.[ische] und lat.[einische] Autoren.“
7 Die Tradition von der Wiederbelebung des Tylon
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(cuius contactu) mit einer Pflanze. Abgerundet wird die Auflistung der drei Belege für Wirkungen, die von der Berührung mit Kräutern ausgelöst werden können, durch einen Kommentar, der Plinius’ grundsätzliche Wertschätzung von mirabilia zum Ausdruck bringt: Quae etiamsi fide carent, admirationem tamen implent co– guntque confitei multum esse quod vero supersit (Auch wenn dieses einen Mangel an Glaubwürdigkeit aufweist, erregt es dennoch Bewunderung und zwingt dazu zu gestehen, dass es vieles gibt, was das Wirkliche übersteigt; Plin. nat. 25,5.14). Plinius’ Rekurs auf die bei Xanthos belegte Tylon-Tradition in Verbindung mit weiteren von Pflanzen ausgelösten Wirkungen zeigt das Bemühen des Naturhistorikers, die Behandlung seiner Themen stets in einer Art enzyklopädischer Vollständigkeit durchzuführen, was häufig zu einer Auflistung gleichartiger Phänomene führt.473 Gleichzeitig kommt auch an dieser Stelle ein bevorzugtes Anliegen des Verfassers zum Ausdruck: das Präsentieren von mirabilia,474 welche seinem Verständnis nach das Wesen der natura ausmachen. Plinius’ Naturauffassung zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass er „der Natur“ grundsätzlich auch Fähigkeiten zuschreibt, die der empirischen Erfahrung zu widersprechen scheinen. In seiner Darstellung von mirabilia dominiert der Modus des Beschreibens, nicht der des Hinterfragens und Analysierens. Er „stellt nirgends Überlegungen zu dem Zustandekommen dieser geheimnisvollen Wirkungen an, sondern begnügt sich mit dem ehrfurchtsvollen Konstatieren der überlieferten oder selbsterlebten Fälle.“475 Somit werden in einem Abschnitt über Kräuter eben auch wiederbelebende Potenzen dieser Pflanzen aufgelistet und in ihrer Glaubwürdigkeit nicht hinterfragt, sondern als zur admiratio veranlassend gepriesen. Zu betonen ist, dass der Fokus des Plinius im Hinblick auf die von ihm erwähnten Wiederbelebungen von Toten ausschließlich auf den herbae, nicht aber auf den Totenerweckern, den reanimierten Toten oder bestimmten Wiederbelebungsritualen liegt. Sein Blick auf das revocare ad vitam ist ein phytologischer, kein anthropologischer, thanatologischer oder theologischer. Der Mythos von der Wiederbelebung des durch eine Schlange getöteten Tylon durch ein Kraut ist in den folgenden Jahrhunderten weiter tradiert worden.476 Aus dem 3. Jh. n. Chr. stammen zwei lydische Münzen, die sich auf den Mythos beziehen. Die eine, unter Alexander Severus geprägt, zeigt Tylon, seine Gefährten Mas[d]nes,477 eine tote Schlange und das Kraut balis. Auf einer unter Gordianus III. geprägten Münze ist Mas[d]nes abgebildet, der mit einer Schlange 473 474
475 476
477
Vgl. DOODY, Encyclopedia, 26: „The basic structure of Pliny’s text is the list.“ Vgl. BEAGON, Wonders, 19: „It doesn’t take long for the reader of Pliny’s Natural History to be struck by the author’s capacity to be surprised. Mirus, ,wonderful‘, and variants appear frequently, testifying to Nature’s capacity to amaze at every turn.“ – Vgl. auch BEAGON, Curious, passim; NAAS, Mirabilia, passim, und DOODY, Encyclopedia, 35f. HAHN, Plinius, 220. Einen Überblick über die verschiedenen Weiterentwicklungen der Tylon-Tradition bietet SPANOUDAKIS, Resurrections, 195. Vgl. zu den unterschiedlichen Schreibweisen dieses Namens: HERTER, Xanthos, 193f.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
kämpft, die balis im Rachen hat.478 Im 4./5. Jh. n. Chr. findet sich in den Dionysiaká des Nonnos aus Panopolis die Beschreibung einer bildlichen Darstellung des Mythos.479 Als eine Anspielung auf den Tylon-Mythos deutet Hans Herter ein weiteres Zeugnis, das auch aus dem 5. Jh. n. Chr. stammt: „nach Aineias von Gaza Theophr. p. 71f. B. 63 C. hat Herakles unter andern Τύμωνα Λυδόν auferweckt.“480 Setzt man Τύμωνα mit Τύλωνα gleich,481 so bildet diese Stelle den Abschluss der antiken Zeugnisse für die Tradition von der Wiederbelebung dieses lydischen Ahnherren. In Bezug auf die epistemische Vor-Ausrichtung einer idealen Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen, die auch durch die Kenntnis „paganer“ Wiederbelebungsvorstellungen bestimmt ist, kann mit Blick auf die Tylon-Tradition konstatiert werden: Im „paganen“ antiken Schrifttum, aber auch im zeitgenössischen Bildprogramm ist die Vorstellung präsent, dass Tote durch das Auflegen geeigneter Kräuter wiederbelebt werden können. Dass im antik-jüdischen und frühchristlichen Schrifttum derartige phytotherapeutische Erfolge nicht bezeugt werden, sei an dieser Stelle vermerkt.
478
479
480 481
Vgl. zu beiden Münzen: HERTER, Xanthos, 191. Beide Münzen sind abgebildet bei ROJAS, Anatolia, 83. Vgl. dazu ROJAS, Anatolia, 82: „The narrative in Nonnus’s Dionysiaca can be summarized as follows: when walking along the steep banks of the Hermus River, the hero Tylon was attacked by a snake that was wont to kill people. The snake spat the ,juice of Fate‘ (ἰκμάδα Μοίρης) at Tylon who promptly died (25.451–469). Tylon’s sister, Moria, secured the help of the giant called Damasen (sic) to avenge her dead brother (25.470–494). A great ,earthshaking‘ (25.513) struggle then ensued between Damasen, whom Nonnus has previously called ,the dragon-slayer‘ (δρακοντοφόνος 25.453), and the snake, which now has assumed fantastic proportions. Damasen killed the snake/dragon (25.495–521). Afterward, Moria watched as a female snake, ,like a woman longing for her spouse,‘ resuscitated the slain animal with a ,divine herb‘ (θέσπιδα ποίην) referred to as the ,flower of Zeus‘ (Διὸς ἄνθος, presumably the balis of Pliny/Xanthus). The female snake applied the resuscitating antidote to the dry nostril of her mate (25.521–538). Upon seeing this, Moria took the livegiving herb and, following the same procedure, resuscitated her brother, Tylon (25.539– 552).“ – Vgl. auch HERTER, Xanthos, 191. HERTER, Xanthos, 196. Vgl. HERTER, Xanthos, 196.
8
Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch den Arzt Asklepios
Vom 2. Jh. n. Chr. an ist belegt, dass Asklepios, was seine Totenerweckungen angeht, als Konkurrent Jesu Christi wahrgenommen wird. Somit gilt es, den schriftlichen Traditionen und Erzählungen, die von den Wiederbelebungen des griechischen Arztes erhalten sind, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Da das zu Asklepios überlieferte Quellenmaterial sehr umfangreich ist, wird es im Folgenden nicht rein chronologisch dargestellt. Es wird zwischen drei Kategorien von zu untersuchenden Texten unterschieden: erstens literarischen Traditionen von Asklepios als Totenerwecker, in denen diejenigen, die er wiederbelebt, nicht namentlich genannt werden, zweitens katalogartigen Aufzählungen (und verwandten Traditionen), in denen die Wiederbelebten mit Namen bezeichnet werden, und drittens Totenerweckungerzählungen im eigentlichen Sinne, die sich bei Vergilius und Ovidius finden und ausschließlich von der Wiederbelebung des Hippolytos handeln. Abschließend wird dann viertens noch gesondert auf die Aussagen von Kirchenvätern eingegangen, die Asklepios und Jesus Christus in Bezug auf ihre Totenerweckungen vergleichen. Diesen Betrachtungen ist vorauszuschicken, dass Asklepios für die Antike in erster Linie „Gott der Heilkunst“ ist. An diesen wenden sich in eigens für ihn eingerichteten Kultstätten, den Asklepieien,482 Kranke, die nach antiker Vorstellung als unheilbar gelten,483 um durch ein vor Ort durchgeführtes Verfahren: die Inkubation, wieder zu genesen.484 „His healing cult flourished in the Mediterranean world from the fifth century BC to the fourth century AD, and was so widespread that some early Christians regarded the god Asklepios, and his healing cult, as Christianity’s greatest rival.”485 In den Asklepiosheiligtümern vollzogene Wiederbelebungen von Toten sind allerdings nicht belegt,486 gehört doch das 482
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Vgl. zu einer ersten Orientierung über die „Tempelanlagen des Heilgottes Asklepios“: STE-
GER, Asklepios, 67–91.
Vgl. KRUG, Heilkunst, 121, die den Heilgott Asklepios charakterisiert als „eine Instanz, an die sich die Abgewiesenen und Ungeheilten wenden konnten“. Bei der Inkubation handelt es sich um eine Art Heilschlaf, der nach Verrichtung bestimmter kultischer Rituale angetreten wird und bei dem den Erkrankten im Traum der Gott Asklepios erscheint. Dieser wendet dann entweder konkrete physische Heilverfahren an oder erteilt medizinische Ratschläge, deren Befolgung zur Genesung führt, vgl. STEEGER, Asklepios, 84–91; FLANNERY, Talitha, 416. WELLS, Language, 14. Wenn es in Aristid. 42,6 über Asklepios heißt: εἰσὶν οἵ φασιν ἀναστῆναι κείμενοι, dann bezieht sich das „Aufrichten von Liegenden“ nicht auf Tote, sondern auf schwer krank Darniederliegende, vgl. COOK, Tomb, Anm. 161, 179; vgl. auch die Übersetzung von DOWNIE, Götterlob, 182: „,Es gibt Menschen […,] die sagen, sie hätten sich [dank Asklepios] wieder
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Sterben nicht zum „Programm“ dieser Orte. So galt z. B. für das Asklepieion in Epidauros – ähnlich, wie es für die dem Apollon heilige Insel Delos überliefert ist487 – ein Verbot zu sterben: οὐδὲ ἀποθνήσκουσιν οὐδὲ τίκτουσιν αἱ γυναῖκές σφισιν ἐντὸς τοῦ περιβόλου, καθὰ καὶ ἐπὶ Δήλωι τῆι νήσωι τὸν αὐτὸν νόμον (Paus. 2,27.1). Im Alltagsbewusstsein der antiken Mittelmeeranrainer ist der kultisch verehrte Gott Asklepios somit als σωτήρ verankert,488 dessen Wirkungsbereich sich auf die Welt der Lebenden erstreckt, aber nicht in den Bereich der Toten übergreift. Ein anders akzentuiertes Asklepiosbild zeichnet die antike mythologische Literatur, in welcher der Arzt Asklepios – anders als der kultisch verehrte Heilgott – Tote wieder lebendig zu machen vermag. Die ins 8. Jh. v. Chr. zu datierende „Ilias“ des Homer greift als die älteste antike Schrift, in der Asklepios Erwähnung findet, diese besondere Kompetenz allerdings noch nicht auf, sondern zeichnet ihn als einen ἀμύμονος ἰητῆρος (Hom. Il. 4,194 und 11,518), der vom Kentaur Chiron in der Kräuterheilkunde ausgebildet (Hom. Il. 4,219) und genauso wie seine beiden Söhne Podaleirios und Machaon als „Wundarzt“ 489 tätig ist.
8.1
Literarische Traditionen von Asklepios als Totenerwecker vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. mit nicht namentlich genannten Wiederbelebten
Vom 5. Jh. v. Chr. an, bemerkenswerter Weise genau in dem Zeitraum, in welchem im Kult Asklepios’ Verehrung als Heilgott ihren Anfang nimmt, wird er in der Literatur mit Totenerweckungen in Verbindung gebracht. Diese werden zunächst nur pauschal erwähnt und nicht im Detail beschrieben; die von Asklepios Wiederbelebten bleiben namenlos. Der Fokus liegt in den frühen Belegen nicht auf der glücklichen Schicksalswende Verstorbener, sondern ausschließlich auf den Konsequenzen, die sich durch Reanimationen für den Totenerwecker selbst ergeben. Seine Wiederbelebungen werden als Grenzüberschreitungen eines Heilheros dargestellt, der dafür von Zeus durch einen den Tod bringenden Blitz bestraft wird. Dieser Bestrafung eignet jedoch eine gewisse Ambivalenz: zwar beendet sie die irdische Existenz des Arztes und Heilheros Asklepios, versetzt
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489
erhoben, als sie am Boden lagen‘“. In gleicher Weise referiert auch der Satz καὶ τὴν ξένην ἀνέστησε bei Aelianus, De Natura Animalium 9,33, nicht auf das Wiederbeleben einer toten, sondern auf das Wiederaufrichten einer geheilten fremden Frau im Asklepios-Heiligtum. Vgl. WÄCHTER, Reinheitsvorschriften, 32. Vgl. zur Verbreitung dieses Epithetons: VAN DER PLOEG, Impact, 75 und 233; FLANNERY, Talitha, 415. BENEDUM, Asklepios, 211.
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
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ihn aber als Verstirnten in ein unsterbliches Dasein490 am Himmel und macht ihn zum Gott.491 Wenn die kultische Verehrung des Gottes Asklepios, der heilt, und seine literarische Zeichnung als Heros, der Tote erweckt, koinzidieren, beruht das also augenscheinlich auf der Tatsache, dass der auf die Totenerweckungen folgende Blitzstrahl des Zeus weniger im negativen Sinne als Sanktion,492 sondern eher im positiven Sinne als die Vergöttlichung bewirkende Verstirnung rezipiert wird. Innerhalb des 5. Jh.s v. Chr. ist (im Rahmen der erhalten gebliebenen Literatur) diese mythologische Tradition, die vom Blitztod des Asklepios weiß, der auf eine Totenerweckung folgt, am ausführlichsten dargestellt in „Pindars Dritter Pythischer Ode“.493 In diesem in den 470er Jahren v. Chr. für Hieron von Syrakus verfassten Siegeslied494 zeichnet der Chorlyriker ein ambivalentes Bild des Asklepios. Zunächst stellt er ihn in Pind. Pyth. 3,47–53 als brillanten Arzt dar,495 kontrastiert diese positive Charakterzeichnung dann aber in Pind. Pyth. 3,55 mit einem Hinweis auf dessen Bestechlichkeit (ἔτραπεν καὶ κεῖνον ἀγάνορι μισθῷ / χρυσὸς ἐν χερσὶν φανείς [es stimmte auch jenen mit stattlichem Lohn Gold um, das in den Händen glänzte]), aufgrund derer er bereit ist, ἄνδρ᾿ ἐκ θανάτου κομίσαι / ἤδη ἁλωκότα (einen Mann aus dem Tod zu holen, der schon gefangen war; Pind. Pyth. 3,56f.). Es gilt zu beachten, dass aus der vorliegenden Formulierung nicht eindeutig hervorgeht, dass der Mann, um den sich Asklepios kümmert, überhaupt (schon) tot war.496 Pindars Schilderung des erfolgreichen 490
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Gemäß SCHEER, Helden, 391, impliziert eine Verstirnung zumeist keine physische Unsterblichkeit, sondern eher „unsterblichen, nicht alternden Ruhm“. Nach antik-mythologischer Vorstellung haben – abgesehen von den Unterweltsgottheiten – die olympischen Götter (insbesondere Zeus) aus unterschiedlichsten Gründen Verstirnungen von Personen, Tieren und Gegenständen initiiert, vgl. SCHEER, Helden, passim. In Hyg. astr. 2, einer Schrift die ins späte 1. Jh. n. Chr. datiert wird, kann Verstirnung allerdings auch als Strafe konzeptualisiert werden, vgl. SCHEER, Helden, 403. Es bleibt in der altphilologischen Forschung ein ungeklärtes Problem, ob und inwiefern Pindars „Dritte Pythische Ode“ von Hesiodos’ „Frauenkatalog“ abhängig ist. (Dieser Text firmiert auch unter den Bezeichnungen „Γυναικῶν κατάλογος oder Ἠοῖαι, Catalogus oder Ehoeae“ [ARRIGHETTI, Art. Hesiodos, 506f.]. Es ist allerdings umstritten, ob die unterschiedlichen Titel tatsächlich auf ein und dasselbe Werk referieren bzw. überhaupt dem Hesiodos zuzuschreiben sind, vgl. D’ALESSIO, Ehoiai, 176.) Gäbe es zwischen diesen beiden Schriften eine intertextuelle Verbindung, wäre die literarische Figur Asklepios bereits im 6. Jh. v. Chr. als Totenerwecker bekannt gewesen. Eine Datierung des Aufkommens dieser Tradition bereits im 6. Jh. v. Chr. wird auch von den nicht mehr erhalten gebliebenen Quellen bezeugt, die in den „Auferweckungs-Katalogen“ des Asklepios angeführt werden, siehe dazu weiter unten. Vgl. zur Datierung: ROBBINS, Gifts, 307–310. Ein besonderes Augenmerk legt Pindar im Lobpreis des Arztes Asklepios auf dessen Therapien mit Pflanzen: ἢ γυίοις περάπτων πάντοθεν φάρμακα (oder er umband dem Körper von allen Seiten Heilkräuter; Pind. Pyth. 3,52f.). Die Übersetzungsvorschläge einschlägiger Wörterbücher bestätigen die Hypothese, dass Pindar an dieser Stelle nicht auf die Wiederbelebung eines bereits Verstorbenen, sondern auf die Heilung eines Sterbenden abzielt, vgl. PASSOW I/2, 1783, s. v. κομίζω: „aus
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Bestechungsversuches kann im Leseprozess auch die Vorstellung von einem Sterbenskranken evozieren, der den Arzt Asklepios mit Gold dazu bewegt, sich eines vermeintlich Todgeweihten anzunehmen – und damit riskiert, seine Reputation als Arzt zu gefährden. Es ist grundsätzlich zu bedenken, dass der Tod bzw. das Sterben im antiken Griechenland – vergleichbar mit der dynamischen Todesvorstellung im antiken Judentum – weniger als punktuelles Ereignis, sondern mehr als ein sich über einen gewissen Zeitraum erstreckendes Geschehen konzeptualisiert wurde.497 In welcher Phase seines Sterbens Asklepios den Todkranken behandelt, wird nicht expliziert. Aus der Perspektive des lyrischen OdenIchs ist es allerdings auch unerheblich, zu welchem Zeitpunkt Asklepios den Todesprozess unterbunden hat. Es schildert zunächst, wie Zeus nicht nur den Arzt, der seine Kompetenzen überschritten hat, sondern auch den ‚aus dem Tod geholten Mann‘ durch den Blitztod bestraft (δι᾽ ἀμφοῖν; Pind. Pyth. 3,57). Dann fügt es, um die harte Bestrafung, die Zeus vornimmt, angemessen erscheinen zu lassen, in Pind. Pyth. 3,59–62 eine „moral note“498 hinzu, die sowohl den vermutlich schwer reichen Sterbenskranken als auch die Figur des Asklepios zu Gestalten einer „typical Pindaric tale about the dangers of hubris“499 werden lässt: χρὴ τὰ ἐοικότα πὰρ δαιμόνων μαστευέμεν θναταῖς φρασίν / γνόντα τὸ πὰρ ποδός, οἵας εἰμὲν αἴσας. /μή, φίλα ψυχά, βίον ἀθάνατον / σπεῦδε, τὰν δ᾽ ἔμπρακτον ἄντλει μαχανάν (Es müssen die sterblichen Seelen das Geziemende von den Göttern suchen, erkennend das vor dem Fuß, von welcher Art des Schicksals wir sind. Nicht, liebe Seele, strebe nach unsterblichem Leben, die machbare Möglichkeit schöpfe aus). Für das lyrische Ich der Ode ist das „Zurückholen“ eines Menschen aus dem Tod nicht die bewundernswerte Glanzleistung eines außergewöhnlichen Arztes – es werden auch keinerlei wiederbelebende Maßnahmen geschildert –, sondern eine Grenzüberschreitung, die zu Recht mit dem Tode bestraft wird. Im „Agamemnon“ des Aischylos, der ersten Tragödie der „Orestie“, die 458 v. Chr. aufgeführt worden ist,500 bezeichnet der Chor das „Hochbringen [einiger] der Gestorbenen“501 (τῶν φθιμένων ἀνάγειν, Aischyl. Ag. 1023), das dem Asklepios ὀρθοδαῆ (als recht Wissendem, ebd.) gelungen ist, ebenfalls als eine Tätigkeit, die Zeus mit einer harten Maßnahme gestoppt hat (οὐδὲ […] Ζεὺς ἀπέπαυσεν ἐπ᾽ ἀβλαβείᾳ, Aischyl. Ag. 1024). Im Unterschied zur sehr unanschaulich bleibenden Formulierung in Pindars Ode evoziert die Verwendung des
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Todesgefahr retten“ mit ausdrücklicher Bezugnahme auf „Pind. Pyth. 3“. LSJ, 66, s. v. ἁλίσκομαι, schlägt mit explizitem Verweis auf „Pi. P. 3.57“ vor, das Partizip ἁλωκότα durch νόσῳ zu ergänzen. Vgl. GARLAND, Death, 13. SLATER, Pindar’s Pythian 3, 54. WICKKISER, Asklepios, 45. Vgl. ZIMMERMANN, Art. Aischylos, 350. Vgl. zur Übersetzung: PASSOW II/2, 2245, s. v. φθίω: „Dieses Part.[izip] φθίμενος […] heisst meist gestorben, getödtet“.
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Wortes ἀνάγειν an dieser Stelle die Vorstellung einer zuvor erfolgten κατάβασις des Asklepios, auch wenn dieses script nicht weiter ausgeführt wird.502 Der Chor beschränkt sich darauf, das Wiederbeleben von Toten als eine Zuwiderhandlung gegen die Verhaltensmaßgaben des Göttervaters (ἐπ᾽ ἀβλαβείᾳ) zu beurteilen. Wenn Asklepios’ Wiederbelebungstätigkeit in Euripides’ „Alkestis“ mit den Worten: δμαθέντας γὰρ ἀνίστη („die [sc. in der Schlacht] Erschlagenen richtete er auf“; Eur. Alk. 127) bezeichnet wird, bewertet in diesem Drama der Chor das Handeln des Arztes positiv – und nicht als Kompetenzüberschreitung.503 Asklepios wird ja als derjenige angesehen, der Alkestis aus ihrer Notlage befreien könnte, wenn er noch lebte, sodass das Zurückholen von Toten in dieser Situation als wünschenswert, aber leider unmöglich angesehen wird. In Bezug auf die in Eur. Alk. 127 gewählte Formulierung ist allerdings festzuhalten, dass Asklepios hier nicht als ein „Totenerwecker für alle“ erinnert wird. Die Toten, die sich der Chor in dieser Situation ins Gedächtnis ruft, sind Kriegsgefallene.504 Asklepios wird in seiner bei Homer und Pindar belegten Rolle als exzellenter (Wund-)Arzt aktualisiert. Die für seine Tätigkeit gewählte Verbform ἀνίστη kann in Bezug auf Asklepios sowohl zum Ausdruck bringen, dass dieser im Kampf Bezwungene (immer wieder)505 aufgerichtet hat, was sich sowohl auf Heilungen von Kriegsverletzten als auch auf Wiederbelebungen von Gefallenen beziehen kann. Im vorliegenden Kontext wird die grundsätzlich doppeldeutige Aussage dadurch disambiguiert, dass es in der Dramenhandlung um eine freiwillig sterbende Frau geht, nicht aber um eine Kriegsverletzte. Der Philosoph Platon nimmt ca. hundert Jahre später in Plat. rep. III 408c explizit auf die aus dem 5. Jh. überkommenen Quellen von Pindar, Aischylos und Euripides Bezug, wenn er im Hinblick auf Asklepios’ Totenerweckungen Folgendes schreibt: Die Tragödiendichter und auch Pindar sagen, dass Asklepios der Sohn des Apollon sei, vom Gold sei er überredet worden, einen reichen, schon dem Tode nahe seienden Mann zu heilen (πλούσιον ἄνδρα θανάσιμον ἤδη ὄντα ἰάσασθαι), weshalb er auch sogleich vom Blitz erschlagen wurde. Wir aber glauben ihnen gemäß dem bereits 502
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Vgl. zur Vorstellung der κατάβασις in die Unterwelt die Ausführungen auf S. 186–188 in der vorliegenden Untersuchung. In der „Alkestis“ wird nur andeutungsweise in einer Figurenrede des Apollon erwähnt, dass Asklepios’ Wiederbelebungen von Zeus mit dem „Blitztod“ sanktioniert worden sind, vgl. Eur. Alk. 5: Ζεὺς γὰρ κατακτὰς παῖδα τὸν ἐμὸν αἴτιος / Ἀσκληπιόν, στέρνοισιν ἐμβαλὼν φλόγα […] (Denn Zeus, der mein Kind getötet hatte, war der Grund [sc. für meinen Knechtsdienst bei Admetos] […]). Vgl. zur Übersetzung: PASSOW I/1, 586, s. v. δαμάζω: Das verwendete Verbum ist polysem und kann im Deutschen sowohl mit „bezwingen, besiegen, bes. im Kriege“ als auch mit „erschlagen, in der Schlacht […], im Pass. getödtet werden od. seyn“ wiedergegeben werden. Im „Alkestis“-Kontext, in dem es um die sterbende Alkestis geht, wird die Bedeutung „Erschlagene“ aktualisiert. Bei der Verbform ἀνίστη handelt es sich um eine Imperfektform, die ein sich wiederholendes Geschehen zum Ausdruck bringen kann.
150
Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften Gesagten beides nicht, sondern wenn er Sohn eines Gottes war, dann war er nicht, werden wir sagen, habgierig. Wenn er aber habgierig war, dann war er nicht Sohn eines Gottes.
Bemerkenswert an Platons Darstellung des Sachverhaltes ist, dass er mit seiner Wortwahl: ἄνδρα θανάσιμον ἤδη ὄντα ἰάσασθαι, bestätigt, was oben in der Interpretation der Ode Pindars bereits herausgearbeitet worden ist. Der reiche Mann hat den Todesprozess noch nicht vollständig durchlaufen, wenn Asklepios auf ihn trifft. Der Göttersohn handelt an ihm nicht als Totenerwecker, sondern als Arzt. Ein weiterer Beleg für Asklepios’ „Behandlungen“ von Toten liegt in Xenophons Lehrschrift Κυνηγητικός vor, einer Abhandlung über die Jagd, die ins 4. Jh. v. Chr. zu datieren ist.506 In Xen. kyn. 1,6 wird die besondere Bedeutung des Asklepios hervorgehoben: Ἀσκληπιὸς δὲ καὶ μειζόνων ἔτυχεν, ἀνιστάναι μὲν τεθνεῶτας, νοσοῦντας δὲ ἰᾶσθαι: διὰ δὲ ταῦτα θεὸς ὣς παρ᾽ ἀνθρώποις ἀείμνηστον κλέος ἔχει. (Asklepios aber erreichte Bedeutenderes: aufzurichten Gestorbene, Kranke zu heilen. Deshalb hat er bei den Menschen als ein Gott unvergänglichen Ruhm.) Festzuhalten ist, dass Xenophon terminologisch zwischen ἀνιστάναι und ἰᾶσθαι unterscheidet. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass zur Bezeichnung der Kranken ein Partizip Präsens, zur Benennung der Gestorbenen jedoch ein Partizip Perfekt gewählt wird, sodass „das als vollendet bestehende Factum des Todtseyns“507 zum Ausdruck gebracht werden kann. Des Weiteren wird in antiken Quellen „unter dem Titel ἀστροθεσίαι ζῳδίων ein anonymes Werk“508 geführt, dessen Original verschollen ist, das aber wohl im Altertum sehr bekannt war. Dieser Text kursiert seither – wohl nicht „as one text but as a family of texts“509 – zumeist unter der Überschrift Καταστερισμοί und wird dem Eratosthenes von Kyrene, einem Naturwissenschaftler und Philologen aus dem 3. Jh. v. Chr. zugeschrieben.510 Auf Asklepios geht Eratosthenes in Καταστερισμοί I 6 im Zusammenhang mit dem Sternbild des Schlangenträgers (ὀφιοῦχος) ein, der in beiden Händen eine Schlange hält und traditionell mit dem Heilheros und späteren Gott identifiziert wird (λέγεται δὲ εἶναι Ἀσκληπιός). An den Himmel ist Asklepios nach dieser Tradition gelangt, weil ihn Zeus – dem Apollon zuliebe – zu den Sternen hinaufgeführt habe: ὂν Ζεὺς χαριζόμενος 506
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Die seit dem 19. Jh. in der Forschung erhobenen Einwände gegen die Authentizität der Schrift werden überzeugend von GRAY, Cynegeticus, passim, widerlegt. Somit wird Xen. kyn. 1,6 in der vorliegenden Untersuchung als eine Asklepios-Totenerwecker-Tradition aus dem 4. Jh. v. Chr. angesehen. PASSOW I/2, s. v. θνήσκω, 1419. GEUS, Eratosthenes, 211. ROBINSON, Ovid, 446; a. a. O., 446–449, findet sich eine ausführliche Darstellung des Überlieferungsbefundes; vgl. ferner PÀMIAS/GEUS, Eratosthenes, 24–30. Vgl. TOSI/ZAMINER, Art. Eratosthenes, 44. – HÜBNER, Verstirnende Götter, 366, zufolge gilt Carl Roberts synoptische Ausgabe von 1878 immer noch als Referenzwerk; aus dieser wird im Folgenden zitiert.
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
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Ἀπόλλωνι εἰς τὰ ἄστρα ἀνήγαγε.511 Dieses „Hinaufführen“ wird im Folgenden noch näher expliziert: es basiert auf einem Zornesausbruch des Zeus, in welchem dieser einen Blitz auf das Haus des Asklepios schleudert (λέγεται τὸν Δία ὀργισθέντα κεραυνοβολῆσαι τὴν οἰκίαν αὐτου). Die Identifizierung des Schlangenträgers mit Asklepios und die Bezugnahme auf den Zornesausbruch des Zeus werden, wie das λέγεται zeigt, als bekannte Sachverhalte dargestellt. Ob es sich bei der von Eratosthenes gelieferten Begründung für das Verhalten des Zeus um eine allgemein geteilte Annahme oder um seine eigene Deutung des Geschehens handelt, muss offenbleiben. Gemäß Eratosthenes vollzog Asklepios das Erwecken von schon Gestorbenen512 (τοὺς ἤδη τεθνηκότας ἐγείρειν), indem er ärztliche Kunst anwandte (τέχνῃ ἰατρικῇ χρωμένον). Damit zog er sich den Unwillen der Götter zu (καὶ τῶν θεῶν δυσχερῶς τοῦτο φερόντων), die um ihre Ehre fürchteten, wenn Asklepios derartige Taten vollbrachte – Zeus’ Zornesreaktion stellt also nur den Höhepunkt einer allgemeinen Verstimmung des Götterkollegiums dem Arzt gegenüber dar, der vermittels τέχνη ἰατρική – Details werden nicht erwähnt – sogar Tote erwecken kann. Nach derzeitiger Quellenlage ist für das 2. Jh. v. Chr. nur eine Charakterisierung des Asklepios als Totenerwecker belegt, und dies auch nur in indirekter Form. So findet sich im 8. Buch der Schrift De Graecarum affectionum curatione des Theodoretos aus dem 5. Jh. n. Chr. innerhalb eines Abschnittes über Asklepios (Theod. gr. aff. cur. 8,19–23) folgendes Zitat aus Apollodoros von Athens513 Schrift Περὶ θεῶν: „Auf diese Weise wurde er nach seiner [sc. des Apollodoros] Aussage bestens und sorgfältig ausgebildet, so daß er nicht nur die Kranken heilte, sondern sogar einige Tote erweckte“ (ὡς μὴ μόνον τοὺς ἀρρωστοῦντας ἰᾶσθαι, ἀλλὰ καί τινας τῶν τετελευτηκότων ἐγείρειν; Theod. gr. aff. cur. 8,20a; Übers.: Scholten). Im 1. Jh. v. Chr. erhält Asklepios zusammen mit seinen Söhnen Podaleirios und Machaon einen Eintrag in Diodorus Siculus’ epochalem Geschichtswerk Βιβλιοθήκη ἱστορική.514 In Diod. 4,71.1 bezeichnet der Historiker τὴν ἰατρικὴν ἐπιστήμην (die ärztliche Wissenschaft/Kunst) als das Wirkungsgebiet des Asklepios. In Bezug auf dessen vermeintliche Totenerweckungen nimmt Diodorus in Diod. 4,71.1 eine rationalistische Haltung ein, die derjenigen des Platon und des Pindar entspricht: [μυθολογοῦσι …] ἐπὶ τοσοῦτο δὲ προβῆναι τῇ δόξῃ ὥστε πολλοὺς τῶν ἀπεγνωσμένων ἀρρώστων παραδόξως θεραπεύειν, καὶ διὰ τοῦτο 511
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Der Überlieferungsstrang, welcher als „Epitome“ bezeichnet wird, erwähnt in dem Abschnitt zum „Schlangenträger“ gleich zweimal, dass die Verstirnung wegen Apollon durchgeführt worden sei, beim zweiten Mal mit folgendem Wortlaut: διὰ τὸν Ἀπόλλωνα τοῦτον εἰς τὰ ἄστρα ἀναγαγεῖν. Als letzter dieser schon Gestorbenen wird Hippolytos erwähnt, die anderen bleiben namenlos. Vgl. zu Apollodoros von Athen, einem Gelehrten aus dem 2. Jh. v. Chr.: MONTANARI, Art. Apollodoros, 857–859. Vgl. MEISTER, Art. D. Siculus, 592f.
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πολλοὺς δοκεῖν τῶν τετελευτηκότων ποιεῖν πάλιν ζῶντας ([sie erzählen den Mythos …,] dass er aber bis zu einem hohen Maß im Ansehen stieg, sodass er viele der aufgegebenen Kranken wider Erwarten heilte, und deshalb den Anschein erweckte, dass er viele der Gestorbenen wieder lebendig machte). Im Unterschied zu anderen Quellen bringt Diodorus in Diod. 4,71.2 den Zorn des Zeus, der zur Bestrafung des Arztes mit dem „Blitztod“ führt, mit einer Beschwerde des Unterweltgottes Hades in Verbindung. Dieser habe nämlich geklagt: ἐλάττους γὰρ ἀεὶ γίνεσθαι τοὺς τετελευτηκότας, θεραπευομένους ὑπὸ τοῦ Ἀσκληπιοῦ (dass nämlich immer weniger die Gestorbenen werden, weil sie von Asklepios geheilt werden). In diesen Überlieferungsstrang, der Asklepios stärker als außergewöhnlichen Arzt und weniger als einzigartigen Totenerwecker konzeptualisiert, fügt sich auch der 17. (pseudepigraphe) Hippokrates-Brief aus dem 1. Jh. v. Chr.515 ein. Dieser hat den Besuch des Hippokrates bei dem vermeintlich wahnsinnigen Demokrit zum Gegenstand. In diesem Schreiben wird der Blitztod des Asklepios nicht mit dessen Totenwiederbelebungen, sondern ganz allgemein mit seiner ärztlichen Heil-Tätigkeit in Verbindung gebracht. So warnt der Demokrit des Brief(roman)s den (fiktiven) Hippokrates davor, Wahnsinnige mit ärztlicher Kunst heilen zu wollen: ἀλλ᾽ οὐδὲ ἰητρικὴν ὑπὲρ τούτων ἐχρῆν εἶναι μητιωμένην παιήονα φάρμακα (Aber es sollte keine ärztliche Kunst für sie geben, die als Paian Heilmittel erdenkt [17,9.5]). Demokrit begründet diese Warnung mit einem Hinweis auf Asklepios, der in den Hippokrates-Briefen zu den Vorvätern des Hippokrates gezählt wird: ὁ σὸς πρόγονος Ἀσκληπιὸς νουθεσίη σοι γενέσθω· σῴζων ἀνθρώπους κεραυνοῖσιν ηὐχαρσίτηται (Dein Vorfahre Asklepios sei dir zur Warnung: Menschen heilend/rettend wurde ihm mit Blitzstrahlen gedankt). Wenn Asklepios als σῴζων ἀνθρώπους bezeichnet wird, löst das hier verwendete Verbum σῴζειν nicht die Vorstellung von einem Arzt aus, der Tote wiederbelebt, sondern evoziert das Bild eines erfolgreich praktizierenden Heilers.516 515 516
Vgl. zur Datierung: HOLZBERG, Briefroman, 22. Das Bild von Asklepios als einem Arzt, der durch außergewöhnliche Behandlungsmethoden den Eintritt des Todes hinauszögern, nicht aber einen eingetretenen Tod reversibel machen kann, zeichnen auch zwei Quellen aus dem 1. und 2. Jh. n. Chr. Ein „Kompendium der überlieferten Meinungen zur griechischen Theologie“ (diese deutsche Übersetzung des griechischen Titels Ἐπιδρομὴ τῶν κατὰ τὴν Ἑλληνικὴν θεολογίαν παραδεδομένων stammt von BERDOZZO, Einführung, 3), dessen Zuweisung an den Stoiker Cornutus nicht ganz unumstritten (vgl. BERDOZZO, a. a. O., 22) und dessen „genaue Datierung […] kaum möglich ist“ (BERDOZZO, a. a. O., 10), das aber für gewöhnlich im 1. Jh. n. Chr. verortet wird (vgl. LEONHARDT, Art. C.[ornutus], 201), erklärt in 33,2 die Etymologie des Namens „Asklepios“ folgendermaßen: ὠνομάσθη δὲ ὁ Ἀσκληπιὸς ἀπὸ τοῦ ἠπίως ἰᾶσθαι καὶ ἀναβάλλεσθαι τὴν κατὰ τὸν θάνατον γινομένην ἀπόσκλησιν. („Er wurde Asklepios […] genannt, weil er gütig heilt […] und die im Tod eintretende Erstarrung (apósklesis) aufschiebt. [Übers.: BERDOZZO, Cornutus, 115]). Diese Belegstelle führt als charakteristische Tätigkeit des Asklepios das ἰᾶσθαι an – und nicht etwa das ἀναστῆναι. In ähnlicher Weise wird Asklepios im 2. Jh. n. Chr. dann auch von Aelius Aristides charakterisiert, wenn dieser
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Asklepios in den bisher behandelten literarischen Traditionen des Zeitraumes 5. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr., die alle keine ausgearbeiteten Totenerweckungserzählungen darstellen, in Bezug auf seine Fähigkeit, Tote wiederbeleben zu können, in erster Linie als ein außergewöhnlich fähiger Arzt präsentiert wird. Dabei ist nichts über die speziellen medizinischen Praktiken, mit denen er Todkranke oder Verstorbene „behandelt“, zu erfahren. Das Auflegen von Kräutern wird z. B. nicht erwähnt, sodass sich in Bezug auf diese Quellen keine literarische Beziehung zu den Glaukos- und Tylon-Traditionen herstellen lässt. Zwar erregt Asklepios durch seine Totenerweckungen bzw. durch seine Heilungen Todkranker den Zorn des Zeus, der darin eine Kompetenzüberschreitung eines sterblichen Arztes sieht. Der Bestrafung, die Zeus vornimmt, wenn er Asklepios durch einen Blitzstrahl tötet, haftet aber auch ein Moment der Anerkennung dieser besonderen Fähigkeiten an, wird der außergewöhnliche Arzt und Totenerwecker doch für ewige Zeiten als „Schlangenträger“ an den Himmel versetzt.
8.2
Asklepios-Kataloge mit Auflistungen der Wiederbelebten und verwandte Traditionen
In den bisher erwähnten Quellen für von Asklepios vollzogene Wiederbelebungen Toter resp. Heilungen von Todkranken bleiben die Nutznießenden dieser Behandlungen weitgehend namenlos. Ab dem 1. Jh. v. Chr. sind sog. AsklepiosKataloge überliefert, in denen die Behandelten namentlich erwähnt werden.517
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in den Hieroi Logoi III, 489 D, schreibt: πολλοὺς δ’ ἐκ θανάτοιο ἐρύσατο δερκομένοιο / ἀστραφέεσσι πύλῃσιν ἐπ’ αὐτῇσιν βεβαῶτας Ἀΐδεω (viele rettete er aber aus dem [sc. auf sie] blickenden Tod, die zu den für sie starren Pforten des Hades gingen (im Sinne von: zu den Pforten des Hades, die sich für sie nicht mehr öffnen würden, wenn sie hindurchgingen; vgl. die freiere Übersetzung von BITTRICH, Traum, 62: „Viele hat er vom Tode errettet, der schon sie ins Auge faßte, stehend an den einer Rückkehr sich sperrenden Hades-Türen“). Der Lebensweg des Aelius Aristides ist entscheidend durch Heilungen seiner Krankheiten geprägt, die dem Asklepios zugeschrieben werden. Somit ist es ist für den im 2. Jh. n. Chr. geführten Asklepios-Diskurs durchaus bezeichnend, wenn dieser von jenem in dem Sinne als „Retter aus dem Tod“ (ἐκ θανάτοιο ἐρύσατο) bezeichnet wird, dass durch diese Rettungsaktion das Sterben verhindert, nicht aber das Gestorben-Sein rückgängig gemacht wird. Eine Ausnahme stellt es dar, wenn Schol. in Pind. ad P. III 96 von Asklepios ganz pauschal behauptet wird, ὅτι τοὺς ἐν Δελφοῖς θνῄσκοντας ἀναβιοῦν. Auf welches Ereignis hier angespielt wird: „[t]he type of offence and the location“, ist gemäß FOWLER, Mythography, 78, „fair game for free mythographical invention […]. Pherekydes is the only writer to put the event at Delphi, perhaps because of Asklepios’ father […]. There is no evidence for Asklepios’ cult at Delphi, so Pherekydes’ choice must have something to do with the
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Der früheste Beleg für einen Asklepios-Katalog findet sich in Philodemos, Περὶ θεῶν/De pietate 131,518 einer Spätschrift dieses epikureischen Philosophen, die er wohl noch vor 40 v. Chr. verfasst hat.519 Eine weitere derartige Auflistung weist das zwischen dem 1. Jh. v. Chr. und dem 3. Jh. n. Chr. datierbare520 dritte Buch aus (Ps.-)Apollodoros’ „Bibliotheke“521 auf. Zwei Belege für Wiederbelebungen durch Asklepios enthält Hyginus’ astronomisch-mythisches Handbuch De Astronomia522, das vermutlich aus dem späten 1. Jh. n. Chr. stammt.523 Ende des 2. Jh.s n. Chr. bezeichnet der skeptische Philosoph Sextus Empiricus, selbst von Hause aus Arzt, in Adversos Mathematicos I, 260–262524 diejenigen, die behaupten,
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nature of the myth; perhaps the exploration of the life/death divide is relevant given Delphi’s place in Greek myth as the enforcer of such morality.“ Philod. Περὶ θεῶν 131: Den Asklepios aber erschlug Zeus mit dem Blitzstrahl (ἐκεραύνως[εν]), wie aber der, der die Naupaktia geschrieben hat, und auch Telestes im „Asklepios“ und Kinesias, der Liederdichter, [sc. sagen,] dass er den Hippolytos auf Bitten von Artemis aufrichtete/wiederbelebte ([παρα]κληθεὶς ὑπ᾽ Ἀρ[τέμι]δος ἀνέστ[η]σε[ν]), wie aber Stesichoros in der „Eriphyle“ [sc. sagt], dass [sc. er] den Kapaneus und Lykurgos [aufrichtete]). – In Περὶ θεῶν 17 hatte Philodemos schon ein erstes Mal von Asklepios’ Tötung durch Zeus berichtet, ohne allerdings an dieser Stelle den Grund der Bestrafung: die gegen den Willen des Göttervaters vorgenommenen Totenerweckungen, zu erwähnen. In dieser Passage nennt er als Gewährsleute für seine Aussage Hesiodos, Pindar, Pherekydes, Panyasis, Andron, Acusilaus, Euripides, den Verfasser der Naupaktia und Telestes. Zum Teil decken sich diese Quellenangaben mit den Gewährsleuten, die in Περὶ θεῶν 131 für die Wiederbelebten angeführt werden. Vgl. DORANDI, Art. Philodemos, 826. Gemäß HENRICHS, De Pietate, 5, muss Philodemos’ Schrift als „mythenkritisch[…]“ kategorisiert werden. Siehe zur Datierung der „Bibliotheke“ Anm. 431, 129f., in der vorliegenden Untersuchung. Apollod. 3,10.3: Ich fand aber einige, von denen gesagt wird, dass sie von ihm aufgerichtet/wiederbelebt worden sind (ἀναστῆναι ὑπ᾽ αὐτοῦ), Kapaneus und Lykurgos, wie es Stesichoros in der „Eriphyle“ sagt; Hippolytos, wie es der Verfasser der Naupaktia sagt, Tyndareos, wie es Panyasis sagt, Hymenaios, wie die Orphiker sagen, Glaukos, den Sohn des Minos, wie Melesagoras sagt. – Die Hypothese, dass es sich bei diesem Katalog um eine nachträgliche Interpolation handele, wird von CAMERON, Mythography, 99f. (mit Lit.), widerlegt. Hyg. astr. 2,14: Von Aesculapius nämlich, als er unter den Menschen weilte und in der Medizin (medicina) so sehr die anderen übertraf, dass es ihm nicht genug erschien, die Schmerzen der Menschen leicht zu machen, wenn er nicht auch die Toten ins Leben zurückriefe (nisi etiam mortuos revocaret ad vitam), wird zuletzt berichtet, dass er Hippolytos, weil er durch Ungunst und Unwissenheit des Vaters getötet worden war (erat interfectus), geheilt habe (sanasse), so, wie es Eratosthenes sagt. Einige (nonnulli) haben gesagt, dass seine Tätigkeiten den Glaukos, den Sohn des Minos, wiederbelebt hätten (revixisse); für dieses Vergehen habe Iuppiter sein Haus mit einem Blitz angezündet (fulmine incendisse), ihn selbst aber wegen seiner Kunst (propter artificium) und wegen Apollon, seines Vaters, eine Schlange tragend, unter die Sterne gestellt. – Vgl. Hyg. fab. 49. Vgl. SCHMIDT, Art. Hyginus, 778. Sext. Emp., Adv. Math. I, 260–262: Stesichoros, der aber in der „Eriphyle“ sagte, dass er einige der bei Theben Gefallenen wiederbelebte/aufrichtete (ἀνιστᾷ), […] Panyasis aber [sc. dass er den Blitztod erlitten hat] wegen des den Leichnam des Tyndareos Wiederbelebens/Aufrichtens (διὰ τὸ νεκρὸν Τυνδάρεω ἀναστῆσαι); Staphylos aber in dem [Buch]
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
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sein Berufsgenosse Asklepios sei von Zeus mit dem Blitztod bestraft worden, als ἑαυτοῖς ψευδῆ λαμβάνοντες und referiert dann fünf Angaben, die als Grund für diese Bestrafung kursieren, wozu drei – nach Einschätzung des Sextus Empiricus – erfundene Wiederbelebungen von Toten gehören. Rein formal betrachtet, handelt es sich bei der Textpassage aus Adv. Math. weniger um eine Auflistung der von Asklepios Wiederbelebten als vielmehr um einen Katalog der Gründe, die angeblich zu Zeus’ „Blitzaktion“ geführt haben. Ähnlich verhält es sich mit den beiden letzten katalogartigen Texten: den Scholien zu Pindar525 und zu Euripides.526 Auch hier werden „Totenerweckungsregister“ des Asklepios mit Auflistungen von Gründen, die zu seiner Bestrafung durch Zeus geführt haben, kombiniert. Zwar sind Scholien grundsätzlich schwer zu datieren,527 hinsichtlich der Scholia in Pindarum gilt allerdings, dass diese wohl bereits im 2. Jh. n. Chr. abgeschlossen gewesen sein dürften.528 Die Scholien zu Euripides’ „Alkestis“ sind als Quellen für die von Asklepios vorgenommenen Wiederbelebungen „difficult to use with confidence because of the lack of a
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über die Arkadier, dass er Hippolytos heilte (ἐθεράπευσε), als er aus Troizen floh, gemäß den über ihn berichteten Nachrichten in den Tragödien […], Telesarchos aber in der „Argolis“, dass er danach trachtete, den Orion wiederzubeleben/aufzurichten (ἀναστῆσαι). – Ausgelassen sind die Passagen, die von Heilungen, nicht aber von Wiederbelebungen handeln. Schol. in Pind. ad P. III 96: Aber auch die Weisheit ist der Gewinnsucht übergeben und [von ihr] besiegt worden. Das in den Händen glänzende Gold veränderte nämlich auch den Gott, er meint aber den Asklepios, durch den satten Lohn, sodass er einen Mann aus dem Tod heraufführte (ἄνδρα ἐκ θανάτου ἀναγαγεῖν), der bereits von dem durch das Schicksal Vorherbestimmten in Empfang genommen worden war (ἤδη τῷ μοιριδίῳ ληφθέντα). Man sagt aber (λέγεται), dass der durch Gold geköderte Asklepios den (gerade) verstorbenen Hippolytos wiederbelebt/aufgerichtet habe (ἀναστῆσαι ῾Ιππόλυτον τεθνηκότα). Die einen aber (οἱ δέ) den Tyndareos, die anderen (ἕτεροι) den Kapaneus, die einen (οἱ δέ) den Glaukos, die Orphiker den Hymenaios; Stesichoros aber über Kapaneus und Lykurgos; die einen – wegen des Heilens (ἰάσασθαι) der Proitiden; die einen wegen des den Orion [sc. Heilens]. Phylaros, dass er die Phineiden geheilt habe (ἰάσατο); Pherekydes aber, dass er die in Delphi Sterbenden wieder leben gemacht habe (τοὺς ἐν Δελφοῖς θνῄσκοντας ἁναβιοῦν ἐποίησεν). Schol. in Alcestin 1: Pherekydes […] schreibt folgendermaßen: […] Asklepios weckt/richtet beim Heilen die [soeben] Gestorbenen auf (ἀνίστη [sc. Asklepios] γὰρ ἰώμενος τοὺς τεθνεῶτας) […]; Apollodoros aber sagt, dass der Asklepios vom Blitz getroffen worden sei, weil er den Hippolytos wiederbelebt/aufgerichtet habe (τὸν ῾Ιππόλυτον ἀναστῆσαι); Amelesagoras aber, dass er den Glaukos, Panyasis, dass er den Tyndareos; die Orphiker aber, dass er den Hymenaios [sc. wiederbelebt/aufgerichtet habe]; Stesichoros aber, dass [sc. es] wegen Kapaneus und Lykurgos [sc. gewesen sei]; Pherekydes aber im achten Buch der „Historien“, dass er die in Delphi Sterbenden wiederbelebt habe (θνήσκοντας αὐτὸν ἀναβιώσκειν). Phylarchos aber wegen der Phineiden; Telesarchos aber wegen Orion; Polyarchos, der Kyrenäer aber sagt, dass er wegen der Heilung (ἰάσασθαι) der Töchter des Proitos mit dem Blitz geschlagen worden sei. Vgl. DICKEY, Scholarship, 13. Vgl. DICKEY, Scholarship, 39.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
reliable edition.“529 Der Vollständigkeit halber sollen aber auch diese Traditionen mitberücksichtigt werden. Zum Teil werden innerhalb dieser Kataloge die Erwähnungen der Wiederbelebten durch Quellenangaben abgesichert, die bis ins 6. Jh. v. Chr. zurückgehen.530 Eine tabellarische Übersicht531 vermittelt einen ersten Eindruck davon, wer als von Asklepios wiederbelebt in den Katalogen geführt wird.
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DICKEY, Scholarship, 31. Im chronologischen Nacheinander (vgl. zur Chronologie der frühesten Belege: EDELSTEIN, Asclepius II, 40: „As early as about 600 B. C. Asclepius is mentioned as the one who revived […]“) lassen sich die als Belegstellen angeführten Werke der Asklepios-Kataloge wie folgt auflisten und charakterisieren: Bei den „Naupaktia“ handelt es sich um ein „[f]rühgriech.[isches] genealogisches Epos unbekannter Autorschaft […], entstanden offenbar im 6. Jh. v. Chr“ (LATACZ, Art. Naupaktia epe, 751 [zu den unterschiedlichen Schreibweisen dieser anonymen Schrift vgl.: HENRICHS, De Pietate, Anm. 19, 8]); Stesichoros war ein lyrischer Dichter aus dem 6. Jh. v. Chr. (vgl. ROBBINS, Art. Stesichoros, 973). Pherekydes von Athen, der Verfasser eines genealogischen Werks, lebte in der ersten Hälfte des 5. Jh.s v. Chr. (vgl. MEISTER, Art. Ph.[erekydes], 770). Der griechische Epiker Panyasis lebte von 505/500–455/50 v. Chr. (vgl. LATACZ, Art. Panyas[s]is, 277); Kinesias gilt als „[a]thenischer Dithyrambendichter, dessen Schaffenszeit ungefähr die Jahre 425–390 v. Chr. umfaßt“ (ROBBINS, Art. Kinesias, 470); Telestes, ein weiterer Dithyrambendichter, lebte um 400 v. Chr. (vgl. ROBBINS, Art. Telestes, 97). Hinsichtlich der Einordnung des Amelesagoras von Athen (bei der Schreibweise Melesagoras handelt es sich wohl um eine Vereinfachung) zeichnet sich in der altphilologischen Forschung der Konsens ab, ihn ins 3. Jh. v. Chr. zu datieren (vgl. ALLEY, Amelesagoras, o. S.). Auf welche konkreten Texte (Ps.-)Apollodoros sowie die Scholiae zu Euripides und Pindar abzielen, wenn sie die Ὀρφικοί als Gewährsleute für die Wiederbelebung des Hymenaios angeben, kann angesichts der Quellenlage nicht bestimmt werden. Da der Gott der Hochzeit als „eine relativ späte Schöpfung“ (BREMMER, Art. Hymenaios [1], 784) anzusehen und literarisch frühestens bei Pindar und Euripides belegt ist, scheint es sich bei der Tradition seiner Wiederbelebung durch Asklepios um keine sehr alte Vorstellung zu handeln. Möglicherweise spielen (Ps.-)Apollodoros und die beiden Scholiasten auf eine verloren gegangene Tradition aus der hellenistischen Zeit an, in der die Zahl poetischer Schriften, die Orpheus zugeschrieben wurden, „increases drastically“ (HERRERO DE JÁUREGUI, Orphism, 32); Eratosthenes von Kyrene war ein Naturwissenschaftler und Philologe aus dem 3. Jh. v. Chr. (vgl. TOSI/ZAMINER, Art. Eratosthenes, 44–47); Telesarchos zählt zu den Verfassern historischer Epen aus hellenistischer Zeit (vgl. FANTUZZI, Art. Historisches Epos, 643). Vgl. ähnliche tabellarische Übersichten zu den Auferweckungs-Katalogen des Asklepios bei HENRICHS, De Pietate, 9; CAMERON, Mythography, 101; PÒRTULAS, Tyndareus, 24, und den Überblick bei EDELSTEIN, Asklepios II, Anm. 72, 42.
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
Philod. Περὶ θεῶν 131
Apollod. 3,10.3
Hyg. astr. 2,14
Hippolytos, Quelle: Naupaktia epe, Telestes, Kinesias
Hippolytos, Quelle: Naupaktia epe
Hippolytos,
Kapaneus und Lykurgos, Quelle: Stesichoros
Kapaneus und Lykurgos, Quelle: Stesichoros
Tyndareos, Quelle: Panyasis Hymenaios, Quelle: Orphiker Glaukos, Quelle: (A-)Melesagoras
ἀνέστ[η]σε[ν]
ἀναστῆναι
siehe Eratosthenes
Sext. Emp., Adv. Math. I 260–262 Heilung, nicht Wiederbelebung des Hippolytos, Quelle: Staphylos τινὰς τῶν ἐπὶ Θήβαις πεσόντων, Quelle: Stesichoros Tyndareos, Quelle: Panyasis
Glaukos, Quelle: „nonnulli“ Orion, siehe Telesarchos (nur beabsichtigtes ἀναστῆσαι)
mortuos revocaret ad vitam / revixisse
ἀνιστᾷ / ἀναστῆσαι
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Schol. in Pind. ad. P. III 96
Schol. in Alcestin 1
Hippolytos, Quelle: „λέγεται“
Hippolytos, Quelle: Apollodoros
Kapaneus, Quelle: „ἕτεροι“; Kapaneus und Lykurgos, siehe Stesichoros Tyndareos, Quelle: „οἱ δέ“ Hymenaios, Quelle: Orphiker Glaukos, siehe „οἱ δέ“
Kapaneus und Lykurgos, siehe Stesichoros
Orion (sc. ἰάσασθαι), siehe „οἱ δέ“
Orion, siehe Telesarchos, Handlung bleibt ungenannt
Die in Delphi Sterbenden, Quelle: Pherekydes ἀναστῆσαι / ἀναβιοῦν ἐποίησεν
Tyndareos, Quelle: Panyasis Hymenaios, Quelle: Orphiker Glaukos, Quelle: Amelesagoras
Die in Delphi Sterbenden, Quelle: Pherekydes ἀνίστη γὰρ ἰώμενος τοὺς τεθνεῶτας / θνήισκοντας ἀναβιώσκειν
Die in den Katalogen erfassten von Asklepios wiederbelebten Männer – es ist keine Frau dabei – zeichnen sich, abgesehen vom Knaben Glaukos, dadurch aus, dass es sich bei ihnen nicht um „gewöhnliche Sterbliche“ handelt, sondern um Figuren der Mythologie, die anlässlich eines engen Kontaktes mit der Götterwelt
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
zu Tode kommen oder aufgrund eines Konfliktes mit einem Gott oder einer Göttin mit dem Tode bestraft werden.532 Hippolytos, Sohn des Theseus und einer Amazone,533 der in allen Auflistungen erwähnt wird, ist das Opfer einer Verleumdung durch seine Stiefmutter Phaidra, die behauptet, von ihm sexuell belästigt worden zu sein. Theseus und Poseidon schenken den Behauptungen der Frau Glauben, sodass es zu einer vom Meeresgott initiierten Strafaktion kommt, bei der Hippolytos von Pferden zu Tode geschleift wird. Indem Asklepios den gewaltsam Getöteten wiederbelebt (in den Katalogen wird in Bezug auf Hippolytos überwiegend das Verb ἀναστῆναι verwendet, Hyginus und Sextus Empiricus sprechen allerdings vom „Heilen“), hebt er eine Strafe des Zeussohnes Poseidon auf. Kapaneus, einer der „Sieben gegen Theben“, zeichnet sich charakterlich durch einen Hang zur Hybris aus, behauptet er doch, „nicht einmal Zeus’ Blitz könne ihn an der Eroberung Thebens hindern“534 – eine These, die der Göttervater durch eine für den Prahler tödliche „Blitzaktion“ falsifiziert. Wenn Asklepios die Strafaktion des Zeus durch sein ἀναστῆναι – diese Vokabel wird mit Blick auf Kapaneus in allen Katalogen, die ihn führen, verwendet – rückgängig macht, beruht seine eigene Bestrafung durch Zeus nicht nur auf einer grundsätzlichen Kompetenzüberschreitung, sondern darüber hinaus auch noch auf der Aufhebung einer konkreten an Kapaneus verhängten Strafmaßnahme. Der – unter Bezugnahme auf die nicht mehr erhaltene Stesichoros-Quelle – mit Kapaneus zusammen genannte Lykurgos ist unter den vielen Trägern dieses Namens, welche die griechische Mythologie aufweist, nicht ganz eindeutig zu identifizieren.535 Es könnte sich um Lykurgos, den „Sohn des Pronax, des Bruders von Adratos, Parthenopaios und Eriphyle“536, handeln, der mit zu den Begleitern der „Sieben gegen Theben“ gezählt wird. Wenn er aufgrund dieser Zugehörigkeit in einem Atemzug mit Kapaneus erwähnt wird, dann musste die Wiederbelebung dieser beiden Kämpfer „nothwendig alle beleidigen […], da Kapaneus vom großen Zeus selbst mit dem Blitzstrahl erschlagen, und Lykurgos gar nicht gefallen war.“537 Der Name „Lykurgos“ kann aber auch, in einen Zusammenhang mit dem blasphemischen Kapaneus gebracht, bei in der griechischen Mythologie Kundigen die Erinnerung an seinen Namensvetter Lykurgos, den Sohn des Dryas, auslösen, der von Homer als „rasend in der Verfolgung des rasenden Gottes“538 Dionysos gezeichnet wird und in seiner Raserei den Zeus-Sohn so einschüchtert, dass dieser Schutz bei Thetis suchen muss. Wenn Lykurgos als „Feind des Dionysos“539 nach seinem Tod von Asklepios wiederbelebt wird, erscheint auch diese Totenerweckung wiederum als eine Tat, die sich gegen die Interessen des Olymp richtet.
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Vgl. EDELSTEIN, Asclepius II, 47: „His crime rather lay in that he helped those whom the gods had punished; this offence and no other drew the wrath of Zeus upon him.“ Vgl. zum Folgenden: GRAF, Art. Hippolytos, 602f. NÜNLIST, Art. Kapaneus, 256. – PÒRTULAS, Tyndareus, 23, bezeichnet Kapaneus und Lykurgos als „two sacrilegious blasphemers“. DNP bietet unter dem Stichwort „Lykurgos“ elf verschiedene Einträge. DRÄGER, Erläuterungen, 565. ECKERMANN, Melampus, 50. BURKERT, Homo, 198, mit Verweis auf Hom. Il. 6,130–140. BURKERT, Homo, 198.
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
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Die mythologische Figur Tyndareos von Sparta, die in vier der sechs Kataloge gelistet ist,540 reiht sich nahtlos ein in die Riege derjenigen, die als mit einer Gottheit in Konflikt Geratene nach ihrem Tod von Asklepios wiederbelebt werden. Im Falle des Tyndareos liegt eine Auseinandersetzung mit der Göttin Aphrodite vor, die dem spartanischen König zürnt, weil er sie bei einer Opferhandlung vergessen hat. Sie ahndet diese Vernachlässigung, indem sie seine Töchter zur ehelichen Untreue anstiftet.541 Tyndareos soll darauf, um sich an der Göttin zu rächen, einem Kultbild der Aphrodite Fußfesseln angelegt haben.542 Wenn Asklepios diesen spartanischen König nach seinem Tod wiederbelebt, ergreift er ein weiteres Mal eindeutig Partei gegen eine Gottheit zugunsten eines Sterblichen. Hymenaios, den drei der sechs Asklepios-Kataloge führen, wird in der Literatur erst relativ spät als Gott der Hochzeit erwähnt, „seine Myth.[ologie] beschränkt sich auf wenige Details.“543 Ähnlich wie die anderen Wiederbelebten der Asklepios-Kataloge kommt auch er in einer Situation zu Tode, in der er in engem Kontakt zu einem Gott steht. „Im 1. Jh. n.Chr. berichtet Cornelius Balbus (bei Serv. Aen. 4,127), daß H.[ymenaios] während der Hochzeit von Dionysos und Althaea, auf der er sang, gestorben sei: Der Gott der Hochzeit sollte wohl selbst nicht älter als das Brautpaar sein.“544 Es ist zu vermuten, dass eine von Asklepios vorgenommene Wiederbelebung des bei seiner Hochzeit Gestorbenen nicht im Sinne des Dionysos gewesen ist.
Wenn man festgestellt hat, welche Gemeinsamkeit alle von Asklepios nach ihrem Tod wieder ins Leben gerufenen Männer aufweisen, überrascht es nicht, dass auch der „nur geheilte“ Orion in zwei der sechs Kataloge aufgenommen worden ist. Auch dieser zeichnet sich durch Hybris aus, wenn er versucht, Artemis zu vergewaltigen,545 und wird dann Opfer einer Strafaktion, wenn er von den Pfeilen, welche die Göttin auf ihn abschießt, durchbohrt wird. Der als Kind in einem Honigfass erstickte und später wiederbelebte Glaukos, Sohn des Minos,546 passt nicht in das Schema, das sich abzeichnet, wenn die 540
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Es ist zu vermuten, dass auch dem Plinius eine katalogartige Aufzählung der von Asklepios Wiederbelebten vorgelegen haben muss, in welcher Tyndareos gelistet war. Zu Beginn des 29. Buches seiner Naturalis historia aus dem Jahr 77/78 n. Chr. geht Plinius auf die von der ars medendi (Plin. nat. 29,1.1) verbreitete Kunde (fama; Plin. nat. 29,1.3) ein, der Blitztod des Asklepios stehe im Zusammenhang mit einer Totenerweckung: quoniam Tyndareum revocavisset ad vitam (Plin. nat. 29,1.3). Ohne weitere Namen zu nennen, verweist Plinius anschließend darauf, dass die Heilkunst außerdem noch erzähle (narrare): alios revixisse opera sua. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das revixisse nicht dem Asklepios, sondern der ars medendi zugeschrieben wird. – Im 2. Jh. n. Chr. erwähnt Lukianos von Samosata in seinem Dialog „Über die Tanzkunst“ die ἀνάστασις des Tyndareos durch Asklepios und den damit verknüpften Zorn des Zeus: καὶ τὴν Τυνδάρεω ἀνάστασιν καὶ τὴν Διὸς ἐπὶ τούτῳ κατ᾽ Ἀσκληπιοῦ ὀργὴν (Lukian. Salt. 45). Vgl. GROSSARDT, Stesichoros, 13, mit Verweis auf die „Scholien zu Euripides, Or. 249 (I p. 123,11–13 Schwartz)“, in denen ein Fragment von Stesichoros zitiert wird. Diese Tradition ist bei Paus. 3,15.10f. belegt, vgl. auch GROSSARDT, Stesichoros, 19f. BREMMER, Art. Hymenaios [1], 784. BREMMER, Art. Hymenaios [1], 784f. Dieser Vorfall ist erwähnt in Hyg. astr. 2,34; vgl. auch LOEHR, Art. Orion, 31. Im 1. Jh. v. Chr. stellt der Elegiendichter Propertius dar, dass für Männer die Liebe zu einer Frau tödliche Folgen haben kann (Prop. 2,1.47–78). Diesem Umstand hält er die Tatsache
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
anderen von Asklepios aus dem Tod Zurückgeholten miteinander verglichen werden. Wie weiter oben bereits ausführlich dargestellt worden ist, handelt es sich bei den Erzählungen von der Wiederbelebung des Glaukos um eine Tradition, die eigentlich mit Polyidos verbunden ist.547 Abgesehen von Philodemos und Sextus Empiricus greifen allerdings die anderen Tradenten der AsklepiosKataloge548 die (A-)Melesagoras-Tradition auf, nach welcher Asklepios es bewirkt habe, dass der tote Knabe wieder lebendig geworden sei. Es ist bereits gezeigt worden, dass die Wiederbelebung des Glaukos aufgrund ihrer häufigen und vielfältigen Erwähnung in der mythologischen Literatur zum Kernbestand der antiken „Wiederbelebungs-Enzyklopädie“ zu zählen ist. Aufgrund ihrer hohen Bekanntheit ist sie dann auch in den „antiken Asklepios-Diskurs“ eingegangen. Dass es Unsicherheiten hinsichtlich der korrekten Zuordnungen von Totenerwecker und Wiederbelebtem gab, zeigt ein Eintrag in Hyg. fab. 49,1: Aesculapius Apollinis filius Glauco Minois filio uitam reddidisse siue Hippolyto dicitur, quem Iuppiter ob id fulmine percussit (Es wird gesagt, dass Aesculapius, der Sohn des Apollon, Glaukos, dem Sohn des Minos, das Leben zurückgegeben habe – oder dem Hippolytos, den Iuppiter deshalb mit dem Blitz durchbohrt hat). Für die hohe Bekanntheit und die Bandbreite ihrer Rezeptionen spricht auch, dass bestimmte Aspekte der Glaukos-Tradition auf Tylon übergegangen sind, wie ebenfalls bereits dargestellt worden ist. Im Folgenden wird sich zeigen, dass sich das aus dem „Glaukos-Fundus“ stammende Motiv des wiederbelebenden Krautes auch in den Erzählungen von der Wiederbelebung des Hippolytos durch Asklepios bei Vergilius und Ovidius findet. Somit überrascht es nicht, wenn angesichts des hohen Verbreitungsgrades der Glaukos-Erzähltradition und ihrer an Motivübernahmen erkennbaren Verflechtung mit dem enzyklopädischen Wissen über Asklepios der eigentlich nicht ins Schema passende, im Honigfass ertrunkene Knabe zusammen mit den aufgrund von göttlicher Einwirkung zu Tode gekommenen Männern in vier von sechs Katalogen eingetragen worden ist.
Dieser eine aus dem Rahmen fallende Eintrag kann allerdings das Asklepios-Bild, welches sich ergibt, wenn man die in den Katalogen verzeichneten
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entgegen, dass die Medizin ansonsten alle menschlichen Schmerzen durchaus heilen könne (Omnes humanos sanat medicina dolores; Prop. 2,1.57). In diesem Zusammenhang weist er zudem darauf hin, dass der epidaurische Gott, also Asklepios, sogar den toten Androgeos durch kretische Kräuter wiederhergestellt und den heimatlichen Herdfeuern zurückgegeben habe (Et deus extinctum Cressis Epidaurius herbis / Restituit patriis Androgeona focis; Prop. 2,1.61f.). Es ist mit WILLIGE, Properz, 266, davon auszugehen, dass hier eine Verwechslung zweier Minos-Söhne vorliegt: „Androgeos, Sohn des Kreterkönigs Minos, war nach seiner Teilnahme an den panathenäischen Spielen in Athen heimtückisch ermordet worden; die Sage kommt bei Kallimachos in den Aitia (fr. 103 Pf.) vor; Propertius hat ihn wohl mit seinem Bruder Glaukos verwechselt, der durch das Auflegen eines Heilkrauts zum Leben erweckt wurde.“ Auch CAMERON, Mythography, 102, hält es für möglich „that Propertius just confused one son of Minos with another.“ Vgl. EDELSTEIN, Asclepius II, Anm. 100, 51: „At any rate, the Glaucus story has no original relation with Asclepius“. In der altphilologischen Wissenschaft wird davon ausgegangen, dass alle überlieferten Asklepios-Kataloge auf eine nicht mehr erhalten gebliebene gemeinsame Quelle zurückgehen, „which may be the Περὶ θεῶν of Apollodorus of Athens“ (PÒRTULAS, Tyndareus, 23; hier auch weitere Lit.).
8 Traditionen und Erzählungen von Erweckungen durch Asklepios
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Wiederbelebungsaktionen miteinander in Beziehung setzt, kaum verwässern. In den Katalogen gerät die Tatsache, dass Asklepios auf der Basis der im vorigen Abschnitt untersuchten literarischen Traditionen als brillanter, sogar zu Totenerweckungen fähiger Arzt wahrgenommen werden kann, völlig in den Hintergrund. Sein ἀναστῆναι wird auch nicht als moralisch verwerflich dargestellt, weil er damit die nur für die Götter durchlässige Grenze zwischen Leben und Tod überschritten hätte. Sein Fehlverhalten stellt sich in den Katalogen anders dar. In diesen Auflistungen erscheint er in erster Linie als Opponent gegen Zeus bzw. Zeus-Kinder, der von diesen verhängte (Todes-)Strafen für aus Götterperspektive frevlerisch handelnde Sterbliche unwirksam macht. Diese Wiederbelebungen stehen aber immer in einem Zusammenhang mit seinem eigenen Blitztod, der von Zeus über ihn als Strafe verhängt worden ist. Diese Sanktion ist allerdings eine Maßnahme, die dem Bestraften durch seine anschließende Verstirnung, die mit einer Vergöttlichung einhergeht, auch eine gewisse Anerkennung ausspricht. Unabhängig davon, ob die literarischen Quellen den Asklepios nun mit anonymen oder mit namentlich genannten und tabellarisch aufgelisteten Toten oder Todkranken in Verbindung bringen: es ergibt sich das schillernde Bild eines Arztes, der aufgrund außergewöhnlicher Fähigkeiten mit Zeus in Konflikt gerät, was zwar zu seiner Bestrafung, aber nicht zu seiner vollständigen Vernichtung, sondern immerhin zu einer gewissen Duldung im Kreise der Unsterblichen führt und eine Verehrung als Heilgott seitens kranker Sterblicher ermöglicht.
8.3
Erzählungen und Traditionen von Asklepios und Hippolytos
Ungefähr gleichzeitig mit dem Aufkommen der Asklepios-Kataloge erfährt im römischen Epos – in Vergilius’ „Aeneis“ wie in Ovidius’ „Metamorphosen“ und den Fasti – die am häufigsten gelistete „Katalog-Figur“: der wiederbelebte Hippolytos, besondere Beachtung, indem er in das Figurenensemble der jeweiligen „epischen Welt“ integriert und sein Schicksal in Erzählpassagen, die sich als selbstständige Einheiten aus den sie umgebenden Kontexten herauslösen lassen, narrativ entfaltet wird.
8.3.1 Verg. Aen. 7,761–782: Asklepios und Hippolytos Wie das Schicksal des Hippolytos in Vergilius’ „Aeneis“ (Verg. Aen. 7,761–782) Eingang findet, stellt sich in deutscher Übersetzung folgendermaßen dar:
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften 761 Es zog auch der wunderschöne Sprössling des Hippolyt (Hippolyti proles) in den Krieg (ibat […] bello), 762 Virbius, den seine Mutter Aricia geschmückt schickte, 763 erzogen in den Hainen der Egeria, in der Nähe von feuchten Stränden, 764 wo der fettige und versöhnliche Altar der Diana ist. 765 Denn es geht die Kunde (namque ferunt fama), dass Hippolytus, nachdem er durch die List seiner Stiefmutter 766 umgekommen war (postquam arte novercae occiderit) und mit seinem Blut die väterlichen Strafen bezahlt hatte, 767 zerrissen (distractus) von durchgehenden Pferden, wieder zu himmlischen 768 Sternen und unter die oben befindlichen Lüfte des Himmels gekommen sei (superas caeli venisse sub auras), 769 zurückgerufen von den Kräutern eines Paian und durch die Liebe Dianas (Paeoniis revocatum herbis et amore Dianae). 770 Dann schleuderte der allmächtige Vater (pater omnipotens), entrüstet, dass irgendein Sterblicher 771 von den unterirdischen Schatten zum Lichte des Lebens aufstieg (aliquem indignatus ab umbris / mortalem infernis ad lumina surgere vitae), 772 selbst den Erfinder einer solchen Medizin und Kunst (ipse repertorem medicinae talis et artis) 773 mit einem Blitz, den Phoebussohn, zu den Wellen des Styx (fulmine Phoebigenam Stygias detrusit ad undas). 774 Aber die holde Trivia (=Diana) verbarg den Hippolytus an abgeschiedenen 775 Plätzen und schickte ihn der Nymphe Egeria und ihrem Hain, 776 wo er allein und unbekannt in den Wäldern Italiens sein ewiges Leben 777 führte und wo er nach einem Namenswechsel Virbius war. 778 Von daher werden die hufetragenden Pferde auch vom Tempel der Trivia und den heiligen Hainen 779 ferngehalten, weil sie, erschreckt von den Meer-Ungeheuern, am Strand den Wagen 780 und den Jüngling ausschütteten. 781 Der Sohn gleichwohl dressierte die wilden Pferde auf der Fläche des Feldes und 782 stürzte sich mit dem Wagen in den Krieg (in bella ruebat).
Vergilius’ „Aeneis“, die wohl zwischen 29 und 19 v. Chr. entstanden ist,549 erzählt im 7. Buch vom Beginn des Krieges zwischen Latinern und Troianern und stellt ab Verg. Aen. 7,647 die in den Kampf ziehenden Latiner vor. Die Passage Verg. Aen. 7,761–782 handelt vom Aufbruch des latinischen Helden Virbius, der als Sohn des Hippolytos bezeichnet wird (Hippolyti proles; Verg. Aen. 7,761).550 Dass hier ein Passus vorliegt, der eine gewisse formale Geschlossenheit aufweist, zeigt zum einen seine Rahmung durch Formulierungen, die das Losziehen in den Krieg zum Ausdruck bringen: ibat […] bello (Verg. Aen. 7,761) und in bella ruebat (Verg. 549 550
Siehe zur Datierung: SUERBAUM, Art. V.[ergilius], 42. Seit Euripides’ Drama „Hippolytos“ gilt, dass der Theseus-Sohn nicht zuletzt wegen seiner sexuellen Enthaltsamkeit zu Tode gekommen ist, sodass der ihm von Vergilius zugeschriebene Nachkomme (vgl. HORSFALL, Virgil, 495: „An Italian son of Hippolytus/Virbius […] is very likely to be Virgilian invention“; ähnlich WALDNER, Hippolytus, 360), den er mit Aricia (mater Aricia; Verg. Aen. 7,762) gezeugt haben soll, aufhorchen lässt (vgl. zur sexuellen Enthaltsamkeit des Hippolytos: KÖHNKEN, Götterrahmen, passim). Diese Auffälligkeit lässt sich als literarische Ehrerbietung Vergilius’ gegenüber Kaiser Augustus erklären. Diesem war bekanntlich die niedere Abstammung seiner Mutter, die auch aus Aricia stammt, vorgeworfen worden (vgl. dazu TISCHER, Anspielung, 57f.). Durch die aufgrund der Namensgleichheit der Mütter mögliche Parallelisierung von Augustus und Virbius wird der am Kaiser hängende Makel, keinen ehrwürdigen Familienstammbaum aufweisen zu können, ausgemerzt. Die erstmalige Verknüpfung der griechischen Hippolytos- mit der römischen Virbius-Tradition geht wahrscheinlich auf Kallimachos zurück (vgl. HORSFALL, Virgil, 496; WALDNER, Hippolytus, 357).
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Aen. 7,782). Zum anderen ist dieser Erzählabschnitt in stilistischer Hinsicht sehr einheitlich gestaltet, indem die Geschehnisse ausschließlich im narrativen Modus dargestellt werden. Es fehlen Figurenrede und Detailschilderungen, die Handlung spielt sich im „Großraum“ zwischen Unterwelt (Stygias […] ad undas; Verg. Aen. 7,773) und Olymp ab (tum pater omnipotens […] / ipse repertorem medicinae talis et artis / fulmine […] detrusit; Verg. Aen. 7,770–774), sodass der Erzähler einen Standort weit weg von der beschriebenen Handlung beziehen muss, um das gesamte Geschehen in den Blick nehmen zu können. Die Weite des erzählten Raums korreliert mit dem breiten zeitlichen Rahmen. Es geht zum einen um Geschehnisse, welche über die Generationenspanne zwischen Vater und Sohn hinausgehen. Zum anderen überschreitet der Erzähler auch noch die TempusGrenze zwischen der erzählten Zeit und seiner eigenen Erzähl-Gegenwart, wenn er in Verg. Aen. 7,778 die beschriebenen Ereignisse als ätiologische Erklärung für das Pferdeverbot in den Tempeln der Diana nutzt.551 Dass vor einem derart vielfältigen Hintergrund die thanatologischen und anthropologischen Konzepte, auf die der Erzähler zurückgreift, um die Wiederbelebung des Hippolytos narrativ zu entfalten, keine in sich kohärente Vorstellung ergeben, mag somit nicht überraschen. Abgesehen von Vergilius’ Neuerung, durch welche der Hippolytos-Mythos um einen Sohn erweitert und der Aricia-Bezug vom Vater auf den Sprössling übertragen wird, hält sich der epische Erzähler an den traditionellen Mythos (namque ferunt fama, Verg. Aen. 7,765): Er schildert knapp, dass Hippolytos aufgrund einer List seiner Stiefmutter (arte novercae, ebd.) und den daraus resultierenden väterlichen Strafen (patriasque […] poenas, Verg. Aen. 7,766) von Pferden zerrissen wird (turbatis distractus equis, Verg. Aen. 7,767). Dass Hippolytos nicht als schwer Verwundeter, sondern als Getöteter zu imaginieren ist, ergibt sich aus der Summe der Formulierungen: Die Verbform occiderit552 (Verg. Aen. 7,766) gibt die Konsequenz der Verleumdung durch die Stiefmutter an, die Strafe des Vaters bezahlt er mit Blut (explerit sanguine, ebd.), nach der Schleifung durch die Pferde ist er ein distractus (Verg. Aen. 7,767). Nachdem die zum Tod des Hippolytos führenden Umstände innerhalb von zweieinhalb Versen in geraffter Form präsentiert worden sind – was zeigt, dass im Rezeptionsvorgang der Fokus nicht auf diesen Handlungselementen liegen soll –, erhält die Darstellung der Wiederbelebung des Heros wesentlich mehr Raum. Jedoch ergibt die Zusammenfügung der Details, die der Erzähler von der Wiederbelebung präsentiert, kein in sich stimmiges Bild. In einem ersten Zugriff werden den Rezipierenden folgende Abläufe vor Augen gemalt: […] ad sidera rursus / aetheria et superas caeli venisse sub auras“ (Verg. Aen. 7,767f.). Diese poetische 551
552
HORSFALL, Virgil, 494, charakterisiert die Passage Verg. Aen. 7,761–781 als „explanation for a local taboo on horses.“ Vgl. HORSFALL, Virgil, 499: „As a term for ‚die‘, from Enn. Ann. and tragedy on; the latent metaphor (cf. πίπτω) may even in V.’s time have given it faintly more colour than (e.g.) obeο“.
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Umschreibung einer Wiederbelebung impliziert eine ἀνάβασις des Hippolytos von der Unterwelt zurück zur Oberwelt,553 was wiederum korreliert mit der drei Verse später gegebenen Begründung für Zeus’ über Asklepios verhängte Strafe: […] aliquem indignatus ab umbris / mortalem infernis ad lumina surgere vitae (Verg. Aen. 7,770f.). Die Welt der Lebenden zeichnet sich, verglichen mit den unterirdischen Schatten, durch ihre Helligkeit aus; dass der Wechsel vom Tod zum Leben als eine Aufwärtsbewegung konzeptualisiert werden kann, wird durch das Verbum surgere (aufsteigen) zum Ausdruck gebracht. Folgerichtig wird dann auch in Verg. Aen. 7,773 der von Zeus getötete Asklepios bei den Wellen des Styx (Stygias […] ad undas), d. h. in der Unterwelt, verortet. Diese klassische Vorstellung vom Aufenthalt der Toten in der Unterwelt und ihrer Rückkehr ins Leben als Aufstieg aus eben dieser deckt sich nicht mit der Rede vom mit Kräutern wiederbelebenden Asklepios, wie sie sich in dem ersten Halbvers findet, der zwischen die Beschreibung von Auf- und Abstieg des Hippolytos bzw. des bestraften Asklepios eingeschoben ist: Paeoniis revocatum herbis (Verg. Aen. 7,769a). Hier ist von einem Heiler554 die Rede, der sich die Wirkkraft von Kräutern zunutze macht. Dass mit dem Paian nur Asklepios gemeint sein kann, ergibt sich wenig später, wenn seine Bestrafung durch den Blitzstrahl des Zeus angesprochen wird. Dieses quasi medizinische Verständnis von Wiederbelebung durch einen mit Kräutern praktizierenden Paian wird im übernächsten Vers noch einmal aufgegriffen, wenn Asklepios als repertor medicinae talis et artis (Verg. Aen. 7,772) bezeichnet wird. Die Vorstellung des Wieder-lebendig-Werdens durch eine Rückkehr aus der Unterwelt und das script einer Wiederbelebung durch eine Kräutertherapie schließen sich allerdings gegenseitig aus. Um beide Konzepte miteinander vereinbar erscheinen zu lassen, müsste sich der Paian im Hades aufhalten bzw. ärztliche Kunst auch in der Unterwelt ausgeübt werden können. Eine solche Vermischung von Wiederbelebungs-Konzepten entspricht allerdings keiner überlieferten antiken Vorstellung – und ist an dieser Stelle wohl auch gar nicht intendiert. Der epische (Nach-)Erzähler des Hippolytos-Mythos stellt vielmehr in seiner Version des Geschehens zwei etablierte Traditionen unvermittelt nebeneinander: das aus der Glaukos-Tradition vertraute Wiederbeleben mit Kräutern und die aus dem Alkestis-Stoff oder dem Orpheus-Mythos bekannte Vorstellung vom Aufstieg aus der Unterwelt. Doch damit nicht genug: der zweite Halbvers 553
554
Vgl. HORSFALL, Virgil, 499, mit Bezug auf das rursus: „Hipp.[olytos] returns to mortal existence, not to the skies; after all, he has yet to father Virbius.“ Vgl. KÄPPEL, Art. Paian, 147f.: „Bei Homer ist P.[aian] ein individueller Gott, und zwar der Arzt der Götter (Hom. Il. 5,401f.; 5,899ff.; Hom. Od. 4,231f.). Er ist eindeutig von Apollon unterschieden. […] Später erscheint der Name P.[aian], nachdem der homer.[ische] Götterarzt P.[aian] völlig verschwunden ist, als Beiname des Apollon, und zwar in Kontexten, in denen er als Abwehrer von Übel und Krankheit angesprochen ist (Eur. Herc. 820; Eur. Alc. 91f.; 220; IG I3 383,164 etc.). Das Wort tritt zudem in der Bed.[eutung] ‚Heiler, Arzt‘ auf (Aischyl. fr. 255 Radt: Eur. Hipp. 1370–1373; Tragica adespota fr. 369a Snell-Kannicht).“
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von Verg. Aen. 7,769 hält noch einen dritten Erklärungsvorschlag für das Wieder-lebendig-Werden des Hippolytos bereit: revocatum […] amore Dianae. Diese Erklärung dafür, wie es dazu kommen kann, dass Hippolytos wieder lebendig wird, stellt eine Korrektur des Dramenschlusses dar, wie er in der Handlung von Euripides’ „Hippolytos“ vorliegt.555 In diesem Theaterstück gilt Hippolytos als der Mensch, den Artemis/Diana am liebsten hat. Somit würde sie auch gerne seinen durch die Ränke der Aphrodite bewirkten Tod verhindern, wagt dieses aber aus Angst vor Zeus nicht. Im Drama kann die Göttin Artemis/Diana den Sterbeprozess des Hippolytos nur abmildern, indem sie ihm in seinen letzten Minuten durch die Erscheinung in einem Lufthauch Linderung seiner Schmerzen bewirkt.
Der epische Erzähler der „Aeneis“ ersinnt eine resoluter vorgehende Artemis/Diana, die ihren Liebling nicht im Tode lässt, sondern ihn durch ihre Liebe „zurückruft“. Dieser dritte Erklärungsansatz für die Wiederbelebung des Hippolytos muss im Rezeptionsprozess sowohl mit der Rückführung aus dem Hades als auch mit der Wiederbelebung durch die Kräuter des Paian Asklepios abgeglichen werden. Dies bleibt aber den Rezipierenden überlassen, der Erzähler des Epos lässt alle drei Möglichkeiten unverknüpft nebeneinander stehen. Man kann diese geradezu modern anmutende Strategie, die den Rezipierenden mehrere Möglichkeiten vor Augen stellt, ein Geschehen in der erzählten Welt zu konzeptualisieren, das in der außertextuellen empirischen Wirklichkeit als unvorstellbar gilt, als „unzuverlässiges Erzählen“ disqualifizieren und diesen Teiltext der „Aeneis“ als inkohärent und missglückt ansehen. Die Unbestimmtheit der Erzähl-Passage korreliert allerdings mit ihrer narrativ verhandelten Thematik: der Wiederbelebung eines Toten. Anders als Palaiphatos und Platon bietet Vergilius’ epischer Erzähler keine eindeutige Version eines Geschehens, die den Asklepios ausschließlich als besonders fähigen Arzt präsentierte; dieser Erzähler präsentiert mehrere Möglichkeiten sich vorzustellen, wie Hippolytos wieder lebendig wird. Die Uneindeutigkeit der Hippolytos-Passage in der „Aeneis“ muss jedoch nicht unbedingt als „unzuverlässiges Erzählen“ disqualifiziert werden. Das nicht miteinander abgeglichene Nebeneinander dreier Wiederbelebungskonzepte: Abstieg in die / Aufstieg aus der Unterwelt, phytologische Therapie und Eingreifen einer Göttin, lässt sich auch als Angebot an eine mündige Leserschaft verstehen, hinsichtlich einer so komplexen Frage wie der nach der Reversibilität des Todes zu einer eigenen Position zu kommen. Vergilius’ Umgang mit der Hippolytos-Tradition zeigt mustergültig auf, dass die Bedeutung einer Erzählung nicht ausschließlich im Text selbst zu verorten ist, sondern erst in der Interaktion zwischen Erzählung und Leserschaft aktualisiert wird.
555
Vgl. zur Dramenhandlung: KÖHNKEN, Götterrahmen, 179.
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8.3.2 Ov. Met. 15,524–539: Asklepios und Hippolytos/Virbius Ovidius integriert den Hippolytos/Virbius-Mythos ein erstes Mal in seine etwa um die Zeitenwende556 entstandenen „Metamorphosen“, und zwar ins 15. Buch als Bestandteil der Ereignisse rund um König Numa. Nach dessen Tod trauert seine Witwe Egeria dermaßen, dass durch ihr Klagen der Kult der Diana an ihrem Heiligtum in Aricia gestört wird. Dadurch sieht sich der dort lebende Virbius, einer von den kleineren Göttern (disque minoribus unus, Ov. Met. 15,545), dazu veranlasst, ihr (in Ov. Met. 15,497–546) consolantia verba (Ov. Met. 15,491) auszusprechen, um sie über den Verlust ihres Gatten zu trösten. Innerhalb dieser tröstenden Worte stellt er in Form einer ausführlichen Ich-Erzählung dar, dass ihn einst, als er noch Hippolytus hieß, ein noch schlimmeres Unglück ereilt habe als das, was ihr widerfahren sei. Sein Bericht enthält die auch bei Vergilius vorkommenden tragenden Elemente des Hippolytos-Mythos: die Verleumdung durch die Stiefmutter, die Verfluchung durch den Vater und die daraus resultierende Strafe in Form einer Schleifung durch wild gewordene Pferde, die vor seine Kutsche gespannt waren. In seiner consolatio malt Virbius der um ihren Mann trauernden Egeria das Bild seines durch den Kutschen-Unfall bis zur Unkenntlichkeit zerfetzten Körpers vor Augen, um sie dann zu fragen, ob sie ihr eigenes Unglück mit seinem vergleichen könne oder es überhaupt wagen dürfe, einen Vergleich anzustellen (num potes aut audes cladi componere nostrae, / nympha, tuam […]; Ov. Met. 15,530f.). Bemerkenswert ist die Ausführlichkeit, mit der der Ich-Erzähler auf seine schweren Verletzungen eingeht, die er sich zuzieht, wenn er, in den Zügeln hängend, von den durchgehenden Pferden mitgeschleift wird. Die Passage Ov. Met. 15,524–529 stellt sich in deutscher Übersetzung folgendermaßen dar: 524 Ich werde aus dem Wagen herausgeschleudert, und du hättest sehen können (videres), während die Zügel meine Gelenke hielten, 525 dass die Eingeweide lebendig (viva) geschleift werden, dass die Sehnen vom Baumstumpf gehalten werden, 526 dass die Glieder zum Teil abgerissen werden, zum Teil hängen gelassen werden, 527 dass die gebrochenen Knochen einen dumpfen Ton geben 528 und dass die Lebenskraft ausgehaucht wird (exhalari animam) und keine Teile im Körper, 529 die du erkennen konntest (posses), und es war alles eine (einzige) Wunde (unumque erat omnia vulnus).
Diese Passage ist im dramatischen Modus gehalten: die Erzählzeit ist nahezu deckungsgleich mit der erzählten Zeit; durch die direkte Anrede der Witwe (videres, posses) entsteht der Eindruck eines Dialoges zwischen Virbius und Egeria, an dem die Leserschaft unmittelbar teilhat. Die Schilderung, die Virbius von den Torturen gibt, die er zu erleiden hatte, zeichnet sich durch eine außerordentliche 556
Vgl. zur Datierung: EICKMEYER, Metamorphosen, 97.
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„Lebendigkeit“ aus, was darüber hinaus auch noch damit korreliert, dass er explizit feststellt, dass seine Eingeweide viva geschleift werden. Es drängt sich am Ende dieser fünf Verse weniger das Bild eines reglosen Leichnams als vielmehr die Vorstellung eines noch immer vitalen schwer Verwundeten auf. Wenn Virbius davon spricht, dass seine ermattete Lebenskraft ausgehaucht wird, referiert diese bei Ovidius nicht ganz seltene metaphorische Wendung auf die Schlussphase menschlichen Sterbens,557 auf die dann der Tod folgt, sodass der Ich-Erzähler am Ende dieses Passus als tot vorzustellen ist. Mit diesem Eindruck korrespondiert die Fortsetzung der Schilderung in Ov. Met. 15,531–537. Hier präsentiert sich Virbius, der zu diesem Zeitpunkt noch den Namen Hippolytus trägt, als ein Toter, der im Hades sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und darüber hinaus auch noch medizinischen und göttlichen Beistand erhält. Somit wird ihm dann letztendlich das Leben zurückgegeben. Auf Deutsch lautet diese Textpassage: 531 Ich habe auch die des Lichtes entbehrenden Reiche gesehen (vidi) 532 und meinen zerrissenen Körper (lacerum […] corpus) in Phlegethons Flut (Phlegethontide […] in unda) warm gebadet (fovi), 533/534 und nicht wäre das Leben zurückgegeben worden (reddita vita foret), wenn nicht durch die wirksame Medizin des Apollinischen Sprösslings (nisi Apollineae valido medicamine prolis); nachdem ich dieses durch starke Kräuter (fortibus herbis) 535 und durch Paeonische Hilfe zurückerhalten hatte (ope Paeonia […] recepi), während Dis unwillig war (Dite indigante); 536 dann hat mir, damit anwesend ich nicht den Neid über dieses Geschenk vergrößerte, 537 Cynthia dichte Wolken (zum Schutz) aufgelegt […].
Der Ich-Erzähler Virbius verortet sich in seiner Darstellung dessen, was ihm nach seinem verheerenden Pferdekutschen-Unfall widerfahren ist, räumlich in der Unterwelt. Dies ergibt sich aus den miteinander kombinierten Aussagen, er habe „die des Lichtes entbehrenden Reiche“ gesehen (vidi) und in einem Unterweltsfluss gebadet. Versteht man diese Auskunft vor dem Hintergrund gemeinantiker Unterweltsvorstellungen, ist der an seinen schweren Verletzungen verstorbene Hippolytos allerdings nicht im Zentrum des Hades, sondern in seiner Peripherie, die gemäß verbreiteter antiker Vorstellung den noch nicht bestatteten Toten vorbehalten ist. Im Jenseitskonzept des Homer558 wird der endgültigen Verbringung der ψυχή eines Gestorbenen in den „Kernbereich“ des Hades eine Art Zwischenwelt, „die aber 557
558
In Ovidius’ „Metamorphosen“ wird die Metapher vitam exhilare bzw. animam exhilare mehrfach zur Beschreibung des letzten Stadiums menschlichen Lebens verwendet, zumeist in Verbindung mit einer tödlichen Verwundung; vgl. Ov. Met. 5,62; Ov. Met. 6,247; Ov. Met. 7,581; Ov. Met. 7,861 und Ov. Met. 11,43. Ein ähnlicher Sprachgebrauch findet sich auch Verg. Aen. 2,561. Gemäß MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 18, geht die althistorische Forschung davon aus, dass der Einfluss der „von Homer vermittelten religiösen Vorstellungen […] auf die folgende Zeit zweifellos groß“ sei. Gleichwohl „sollte man nicht davon sprechen, dass die griechischen Jenseitsvorstellungen über die Archaik hinweg grundsätzlich gleich
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften bereits Teil des Hades ist,“559 für Unbestattete und zu früh Verstorbene bzw. gewaltsam Gestorbene vorgeschaltet. Diese Gruppe der noch nicht zum Kernbereich des Hades Zugelassenen zeichnet sich durch eine gewisse „Unvollendetheit“ im Leben aus, die z. B. bei Frauen darin besteht, noch nicht verheiratet gewesen zu sein und noch keine Kinder geboren zu haben. An diesem Ort besitzen die Toten „ein Bewusstsein für die Vorgänge im Hades und können bis zur Bestattung ihres Körpers auch lebende Menschen wahrnehmen und sich mit diesen unterhalten bzw. ihnen im Traum erscheinen.“560 Wie aus der Beschreibung eines Traums des Achilleus in Hom. Il. 23,65–66 hervorgeht, in welchem ihm der kurz zuvor verstorbene Patroklos erscheint, verfügen die Toten in diesem Zustand über dieselben äußeren Merkmale wie unmittelbar vor ihrem Hinscheiden: „Ganz in der großen Gestalt und den strahlenden Augen ihm [= dem Patrokos] ähnlich, / Auch in der Stimme, den Körper umhüllt von den gleichen Gewändern.“561
Nach dem Aushauchen seiner anima ist Hippolytos – so der Bericht des Ich-Erzählers Virbius – also auch in der Unterwelt noch im Besitz seines geschundenen Körpers, badet er doch seinen lacerum corpus im heißen Flusswasser des Phlegethon.562 Mit der topographischen Angabe Phlegethontide […] in unda evoziert Virbius das Bild des Unterweltflusses Phlegethon, auch unter der Bezeichnung Pyriphlegethon bekannt, der nach unterschiedlichen Angaben entweder (gemäß Hom. Od. 10,513–515) mit dem Kokytos in den Acheron zusammenfließt oder (Plat. Phaid. 113 zufolge) Bestandteil eines „komplexe[n] Unterweltsystem[s]“ zusammen mit „den Flüssen des Ozean, Styx, Kokytos [und] Acheron“563 ist. In Platons Darstellung durchfließt der Phlegethon „zuerst einen brennenden Ort und bildet einen riesigen Sumpf, umkreist dann die Erde, mündet in den Acherusischen See und fließt schließlich in eine tiefe Gegend des Tartaros“564 und anschließend wieder hinaus. Auch in der Topographie von Vergilius’ „Aeneis“ ist der Phlegethon Bestandteil der epischen Welt. Laut
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563 564
geblieben seien“. Dass aber „die homerische Beschreibung des Hades […] noch von Platon (rep. 386a–387b) diskutiert und abgelehnt worden“ sei, erweise „zum einen die anhaltende Geltung der Dichtung, ebenso aber die Existenz hiervon abweichender Vorstellungen“. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass die homerische Jenseitstopographie in sich selbst nicht widerspruchsfrei ist: „Die homerischen Epen Ilias und Odyssee bieten kein stimmiges, konsistentes Bild vom Jenseits und der Totenwelt“ (MÄNNLEIN-ROBERT, Mythos, 33 und passim). MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 72. MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 156; vgl. JOHNSTON, Dead, 7. – Sisyphos nutzt diesen Grenzbereich aus, um die Götter quasi zu überlisten, indem er seine Frau anweist, ihn nicht zu bestatten; vgl. BREMMER, Body, 185f. Übers.: RUPÉ, Ilias, 773. Vgl. WALDNER, Hippolytos, 57: „Das erstaunlichste [sic] dabei ist, dass Hippolytos nicht etwa als Schatten, sondern mit seinem physischen Körper in die Unterwelt geht und diesen dort im Unterweltsfluss Phlegethon badet.“ OGDEN, Nekromantie, Anm. 15, 86. SCHLAPBACH, Art. Phlegethon, 905. Gemäß ALKIER, See, 460, ist die in der Forschung weit verbreitete These zurückzuweisen, der Pyriphlegethon sei als Strafort konzeptualisiert. Diese Funktion komme dem Tartaros zu, in den sich der Pyriphlegeton zwar ergieße, aus dem er aber auch wieder herausfließe.
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Verg. Aen. 6,548–551 führt er in seinem Flussbett Feuer und umfließt Plutos Burg, sodass man ihn überqueren muss, um in den Tartaros zu gelangen. Wenn auch die Unterwelt-Topographien Homers, Platons und Vergilius’ im Detail Unterschiede aufweisen, so gilt doch festzuhalten, dass in allen drei Entwürfen der (Pyri-)Phlegethon als ein Ort des Übergangs konzeptualisiert ist, der in den Hades hinein (oder aber auch wieder hinaus) führt oder überquert werden muss, um Zugang zum Tartaros zu erhalten. In Bezug auf das Schicksal des Hippolytos, der die Unterwelt ja wieder verlassen wird, korreliert die topographische Angabe „Phlegethon“ somit mit der Vorläufigkeit seines Aufenthaltes.
Abgesehen davon, dass der Phlegethon im Rahmen der antiken Mythologie nicht nur die Funktion eines Zugangs zum Hades, sondern auch die eines Ausgangs aus der Unterwelt erfüllen kann, vermag die Einschreibung dieses Flusses in das Wiederbelebungsszenario des Hippolytos noch weitere Assoziationen zu evozieren. Vergegenwärtigt man sich Details aus Platons Unterweltstopographie, so lässt sich ein Bad im Pyriphlegethon mit einer hydrotherapeutischen Kur in einer heißen Mineralquelle vergleichen. Platon beschreibt die Wasserqualität dieses Flusses als ein brodelndes Gemisch aus Wasser und Schlamm: ζέουσαν ὕδατος καὶ πηλοῦ (Plat. Phaid. 113). Das Verbum, das Virbius verwendet, um seinen Aufenthalt in dieser heißen Melange zu beschreiben, lässt darauf schließen, dass diese Mischung für seinen Zustand nicht schädlich, sondern der Wiederherstellung seines lacerum corpus zuträglich ist. Das lateinische Wort fovere aktualisiert nämlich nicht nur die Vorstellung des Wärmens und Warmhaltens, sondern wird insbesondere dann verwendet, wenn es darum geht „einen Körperteil […] zur Stärkung [… zu] baden“, in entsprechenden Zusammenhängen kann das Wort sogar die Bedeutung „heilen“ annehmen.565 Offensichtlich ergreift der tote Hippolytos selbst die Initiative zu seiner Wiederbelebung, indem er mit dem Bad im Phlegethon seinen geschundenen Körper stärkt, was dann durch medizinische Maßnahmen des Asklepios komplettiert wird (valido medicamine, fortibus herbis) und letztendlich zu einer vita reddita führt. Da der Phlegethon dem Unterweltskonzept des Platon zufolge in ihm Badende nicht nur in den Tartaros hinein, sondern auch wieder hinausspülen kann, muss die Kräutertherapie des Asklepios noch nicht einmal in der Unterwelt verortet werden. Die Erzählung des Virbius ist so offen gestaltet, dass Spielraum bleibt, um die medizinischen Maßnahmen des Apollinischen Sprösslings in der Oberwelt zu lokalisieren.566 565 566
GEORGES, Handwörterbuch I, 2831, s. v. foveo. Möglicherweise ist die Verknüpfung von Hippolytos’ Bad im Phlegethon mit einer Heilbehandlung durch Asklepios als Reminiszenz an die in Paus. 2,32.2–4 belegte enge Verzahnung der kultischen Verehrung beider im attischen Troizen zu verstehen: „Das Hauptheiligtum von Troizen, der Nachbarstadt von Epidauros, war nach Pausanias das Temenos des Theseussohnes Hippolytos […]. Ohne Überleitung oder nähere topographische Charakterisierung nennt Pausanias dann unvermittelt ein Agalma des Asklepios […], ferner ein Haus des Hippolytos, davor eine nach Herakles benannte Quelle“ (RIETHMÜLLER, Asklepios 2, 105). Da Pausanias’ Schrift ins 2. Jh. n. Chr. zu datieren ist, kann diese nicht als Prätext des Ovidius gedient haben. Archäologische Grabungen (vgl. dazu RIETHMÜLLER,
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Dass der Sohn des Apollon, der innerhalb der Metamorphosen nicht mit seinem Eigennamen bezeichnet, sondern nur über sein Verwandtschaftsverhältnis zu seinem Vater oder seinem Großvater Iuppiter identifiziert wird, über die Fähigkeit verfügt, als salutifer (Ov. Met. 2,642) „Leben zurückzugeben“ (animas reddere, Ov. Met. 2,643), weiß die Leserschaft dieses Epos bereits aus der Vorhersage der Tochter Chirons, Okyroe, die dem Säugling Asklepios prophezeit: […] tibi se mortalia saepe corpora debebunt; animas tibi reddere ademptas fas erit […] (Dir werden sich oft sterbliche Körper verdanken; dir wird es zum Schicksal sein, geraubte Leben zurückzugeben; Ov. Met. 2,643–645).
Die Ankündigung der Okyroe aus dem 2. Buch der „Metamorphosen“ wird somit im 15. Buch mit Asklepios’ Wiederbelebung des Hippolytos erzählerisch eingelöst. Ähnlich wie in Vergilius’ „Aeneis“ ist das Zurückgeben der vita bzw. der anima als eine medizinische Kräutertherapie konzeptualisiert. Asklepios erscheint auch in der erzählten/epischen Welt der „Metamorphosen“ als ein besonders fähiger Arzt, der im Zusammenwirken mit einem findigen Patienten außergewöhnliche Heilerfolge erzielt. Abgeschlossen wird die Wiederbelebung des Hippolytos durch seine Metamorphose zum Virbius, die durch die Göttin Diana/Cynthia (Ov. Met. 15,539) bewirkt wird, welche den Wiederbelebten zu seinem Schutz vor Neidern äußerlich so verändert, dass er gealtert erscheint und nicht mehr wiederzuerkennen ist. Darüber hinaus gibt sie ihm auch noch einen neuen Namen und versetzt ihn dann an ihr Heiligtum in Aricia. Anders als in Vergilius’ Darstellung, die offen lässt, wie Asklepios’ und Dianas Wirken an Hippolytos miteinander zu vereinbaren sind, ergibt sich aus Ovidius’ Erzählung ein klares Konzept: Asklepios ist dafür zuständig, dem toten Hippolytos das Leben zurückzugeben, den Wiederbelebten schützt Diana/Cynthia durch Verwandlung vom Hippolytos zum Virbius vor Nachstellungen missgünstiger Neider.
8.3.3 Ov. Fast. 6,729–762: Asklepios und Hippolytos Ein weiteres Mal präsentiert Ovidius den Hippolytos-Mythos in seinen Fasti, einem in elegischen Distichen abgefassten Lehrgedicht,567 das in der uns
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Asklepios 2, 115) haben aber die Angaben des antiken Reiseberichtes bestätigt. So wusste Ovidius eventuell aus anderen Quellen von der Nähe der Heraklesquelle zum Asklepieion in Troizen. Grabungen haben als einzigen Kandidaten „für diese Heraklesquelle […] eine Quelle am Fuß des Aderes-Massivs im S[üden] des Hippolytostempels [… ausfindig gemacht], die in antiker Zeit den Laufbrunnen im Hippolyteion speiste […]. Bezeichnenderweise ergab eine Analyse, daß ihr Wasser stark mineralhaltig ist und Heilqualität besitzt“ (ebd.). Vgl. zur Gattungsbestimmung: MILLER, Fasti, 181f.
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vorliegenden Form wohl seit dem Tod des Augustus im Jahr 14 n. Chr. im Umlauf war.568 In dieser Schrift informiert er „über die Festtage des römischen Kalenders, die Herkunft ihrer Namen und der mit ihnen verbundenen Bräuche sowie über die zu den Tierkreiszeichen gehörenden Mythen.“569 Allerdings behandelt er nur die Festtage der Monate Januar bis Juni; es ist in der Forschung umstritten, wann und warum nur sechs Bücher des ursprünglich auf 12 Bände hin angelegten Werkes fertig gestellt worden sind.570 Die Wiederbelebung des Hippolytos571 behandelt Ovidius in Ov. Fast. 6,729–762 – dem Buchabschnitt, der dem 20. Juni gewidmet ist. Auf diesen Tag wird das Sternbild „Ophiuchus“ datiert,572 das der Verfasser dem Totenerwecker Asklepios zuordnet.573 Somit steht – anders als in den „Metamorphosen“ – in dieser Version des Hippolytos-/Asklepios-Mythos nicht der Nutznießer, sondern der Verursacher der Wiederbelebung im Zentrum der Aufmerksamkeit. In deutscher Übersetzung lautet die Passage folgendermaßen: 729 Schon erhebt sich, Laomedon, deine Schwiegertochter, und nachdem sie sich erhoben hat, 730 vertreibt sie die Nacht. Und aus den Wiesen flieht der feuchte Tau, 731 geweiht wurde, wer immer er ist, dem Summanus, sagt man, ein Tempel, 732 damals, als du, Pyrrhus, den Römern ein zu fürchtender warst. 733 Wenn auch diesen [Tag] in den väterlichen Wogen Galatea aufnehmen wird 734 und die Erde voll von unbesorgter Ruhe sein wird, 735 erhebt sich vom Boden ein Jüngling, versengt durch großväterliche Geschosse, 736 und streckt durch zwei Schlangen verbundene Hände aus. 737 Bekannt ist die Liebe der Phaedra (notus amor Phaedrae), bekannt ist das Unrecht des Theseus (nota est iniuria Thesei): 738 er hat jenen seinen Geborenen leichtgläubig (credulus) verflucht. 739 Nicht ohne Gefahr ging der fromme Jüngling (pius iuvenis) nach Trözen: 740 Es teilt ein Stier mit der Brust die entgegenstehenden Wasser. 741 Die ängstlichen Pferde werden erschreckt und vergeblich zurückgehalten, 742 über Klippen und harte Felsen ziehen sie den Herrn. 743 Er war gefallen aus dem Wagen und die Gelenke in den Zügeln gefesselt 744 war Hippolytos mit zerfleischtem Körper fortgerissen worden (Hippolytus lacero corpore raptus erat) 745 und er hatte seine Seele/Lebenskraft zurückgegeben (reddideratque animam), während Diana sehr entrüstet war (multum indignante Diana). 746 „Es gibt keinen Grund“, sagt (ait) [der Sohn] der Coronis, „des Schmerzes (nulla […] causa doloris): 747 denn ich werde dem frommen Jüngling ein Leben ohne Wunde zurückgeben (vitam sine volnere 568 569 570
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Vgl. zur Datierung: MILLER, Fasti, 168. HOLZBERG, Ovidius. Fasti, 347. Vgl. zur Entstehungsgeschichte: HOLZBERG, Ovidius. Fasti, 351–364. Vgl. zur These, dass die Unvollendetheit des Werkes „part of its meaning“ sein könnte: MILLER, Fasti, 167. Eine kurze Erwähnung findet Hippolytos bereits in Ov. Fast. 3,265f. An dieser Stelle wird aber nur sein Unfalltod, nicht aber seine Wiederbelebung thematisiert. Nur am Rande sei angemerkt, dass Ovidius mit dieser Datierung ein „serious astronomical blunder“ unterlaufen ist, „for the bright star in the head of that constellation rose at evening about two months earlier, on April 19 (FRAZER, Fastorum 4, 322). Gemäß Hyg. astr. 2,14 gab es in der Antike auch noch andere Identifikationsmöglichkeiten dieses Sternbildes. In Frage kommen gemäß Hyginus außer Aesculapius noch: 1. ein rex Getarum, der namentlich nicht näher bezeichnet wird, 2. Hercules, 3. Tripoan, Thessalorum rex und 4. Phorbas, Triopae filius ex Hiscilla Myrmidonis filia natus.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften reddam), 748 und es werden meiner Kunst traurige Schicksale weichen (et cedent arti tristia fata meae).“ 749 Kräuter holt er unverzüglich hervor aus einem elfenbeinernen Kästchen (gramina continuo loculis depromit eburnis): 750 jene waren den Manen des Glaucus früher nützlich gewesen, 751 als damals ein Seher sich auf die beobachteten Kräuter einließ (tunc cum observatas augur descendit in herbas), 752 nachdem auch die Schlange sie gebraucht hat und sie zur Hilfe ist, nachdem sie von [der anderen] Schlange gegeben worden war (usus et auxilio est anguis ab angue dato). 753 Die Brust berührte er dreimal, dreimal sagte er heilbringende Worte (pectora ter tetigit, ter verba salubria dixit): 754 das niedergelegte Haupt erhob jener von der Erde. 755 Der Wald versteckt ihn und Dictynna im Schlupfwinkel ihres Hains, 756 jener ist Virbius am aricinischen See. 757 Aber Clymenus und Clotho sind betrübt: diese, dass die Fäden zurückgesponnen werden, 758 dieser, dass die Rechte seines Reiches kleiner gemacht werden. 759 Iuppiter, der das Beispiel fürchtete, richtete gegen ihn 760 Blitze, der zu sehr die Macht seiner Kunst angewandt hatte (qui nimiae moverat artis opem). 761 Phoebus, du klagtest: er ist ein Gott (deus est), mit dem Vater versöhne dich: 762 deinetwegen hat er selbst gemacht, was zu geschehen er nicht gestattet (fieri quod vetat, ipse facit).
Der Abschnitt zeigt folgenden Aufbau: Zunächst wird die mythische Erzählung in Ov. Fast. 6,729–736 dem Sternbild des 20. Juni zugeordnet. Dann skizziert der Erzähler des Lehrgedichts in groben Strichen die bekannte Vorgeschichte der Wiederbelebung, indem er knapp auf Hippolytos’ Eltern und deren Anteil am Schicksal ihres Sohnes eingeht (Ov. Fast. 6,737–738). Die Passage Ov. Fast. 6,739–762 bietet dann eine in sich geschlossene Erzählung574 von Tod, Wiederbelebung und postmortalem Ergehen des Hippolytos, in die eine Binnenerzählung vom Wieder-lebendig-Machen des Glaukos eingebettet ist (Ov. Fast. 6,750–752), die wiederum – quasi als dritte Erzählschicht – in sich die Geschichte von der Auferweckung einer toten Schlange durch eine andere birgt (Ov. Fast. 6,752). Aus narratologischer Perspektive betrachtet, zeigt sich die Fasti-Version des bekannten Mythos als eine Erzählung, die zwei Protagonisten: den Hippolytos und den Asklepios, als Sympathieträger mit deutlich herausgearbeiteten positiven und damit zur Identifikation einladenden Charakterzügen aufweist. Diesen sind als Antagonisten die Eltern des Hippolytos: Phaedra und Theseus, sowie der Großvater des Asklepios: Iuppiter, gegenübergestellt, deren Figurenzeichnungen plakativ negativ ausfallen. Diana und Apollon/Phoebus verstärken als machtlos dem Unglück, das ihrem Schützling widerfährt, Zuschauende das patriarchatskritische Potential,575 das dieser Version des Hippolytos-/ 574
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Vgl. BLACKBURN, Theios Anēr, Anm. 63, 192: „Ovid’s […] story of how Asclepius revived the dead Hippolytus follows the same logico-chronological pattern found in most N.T. miracle stories.“ „Not a few contemporary scholars take imperial ideology to be the principal focus of the Fasti“ (MILLER, Fasti, 169). Etwas unbestimmt in der Zielsetzung der kritischen Stoßrichtung der Hippolytos-/Asklepios-Passage bleibt NEWLANDS, Time, 192. – Den Fasti-Abschnitt, in dem Hippolytos und Asklepios, zwei junge Männer, die von ihren väterlichen Vorfahren in den Tod geschickt werden, als „patriarchatskritisch“ zu bezeichnen stellt eine vorsichtige Positionierung im altphilologischen Forschungsstreit dar, in dem eine
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Asklepios-Mythos innewohnt, indem sie als dem Iuppiter Subordinierte veranschaulichen, dass des Göttervaters Machtbereich sich nicht nur über die Sterblichen, sondern auch über die Unsterblichen erstreckt. Dass die Leserschaft den Hippolytos als Sympathieträger und zu bemitleidendes Opfer seiner Eltern wahrnehmen soll, wird durch die einleitende Vorbemerkung in Ov. Fast. 6,737–738 prädisponiert, die das Handeln der Eltern an ihrem Sohn als Unrecht brandmarkt – das der Phaedra indirekt: als Liebe (amor, Ov. Fast. 6,737), die nur eine informierte Leserschaft als unmoralisches Begehren einer Stiefmutter gegenüber ihrem Stiefsohn identifizieren kann; das des Vaters explizit (iniuria, credulus; Ov. Fast. 6,737f.). Der Sohn wird hingegen als pius iuvenis (Ov. Fast. 6,739) in die Handlung eingeführt. Diese seine Ersterwähnung korreliert mit der Charakterisierung des zum Ophiuchus verstirnten Asklepios, welcher im „Vorspann“ (Ov. Fast. 6,735) der eigentlichen Totenerweckungserzählung ebenfalls als ein iuvenis, der Opfer innerfamiliärer Gewaltanwendung geworden ist (telis afflatus avitis), vorgestellt wird.576 Die mitleidsvolle Anteilnahme der Leserschaft am tragischen Geschick des jungen Hippolytos evoziert der Erzähler, indem er über fünf Verse hinweg nah an die Geschehnisse „heranzoomt“ und detailliert schildert, wie es zu den tödlichen Verletzungen des pius iuvenis kommt. Mit der drastischen Aussage: Hippolytus lacero corpore raptus erat (Ov. Fast. 6,744), wird sein Lebensende konstatiert. Der punktuelle Aspekt des Plusquamperfekts betont die Abgeschlossenheit des Geschehens, der folgende Satz bringt mit seiner plusquamperfektischen Verbform reddiderat (Ov. Fast. 6,745) ebenfalls zum Ausdruck, dass ein finaler Punkt erreicht ist: er hatte seine Lebenskraft (anima, ebd.) zurückgegeben. Die im Hinblick auf den Einsatz sprachlicher Mittel minimalistisch ausfallende Darstellung der Reaktion von Diana korreliert mit ihren eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten: Dass sie als Patronin des Hippolytos dem Geschehen hilflos zusehen
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politische Absicht des Verfassers der Fasti zwar Konsens ist, Dissens aber darüber herrscht, ob die Schrift dem Prinzipat freundlich oder kritisch gegenübersteht. NEWLANDS, Time, 194, weist darauf hin, dass Asklepios und Hippolytos bereits im „Vorspann“ der eigentlichen Totenerweckungserzählung eng aufeinander bezogen werden und dass in der metrischen Gestaltung von Ov. Fast. 6,735 ein Indiz dafür erkannt werden kann, dass das Schicksal beider Figuren parallel verlaufen wird: „The phrase surgit humo [sic] both describes the rising of the constellation in the sky and refers to resurrection, for when life returns Hippolytus raises his head from the ground (depositum terra sustulit ille caput, 6.754). The same phrase anticipates the ‚rebirth‘ of Aesculapius as well as Hippolytus, for Aesculapius is eventually deified by Jupiter and given a place in the sky. Yet the linear order of line 735 acts against a wholly positive interpretation of the star sign. The line is divided into two by the caesura after iuvenis, so that reference to Ophiuchus as a young man blasted by his grandfather’s weapons follows in the climactically weighted second half. No Hellenistic source depicted the constellation of Ophiuchus as a figure of punishment; he is always depicted by the snake that Ovid refers to in the pentameter. The opening line anticipates the importance of punishment in the retelling of the constellation’s origins.“
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muss und ihr allenfalls übrigbleibt, sich indigniert zu zeigen, wird in einem knappen Ablativus absolutus zum Ausdruck gebracht (multum indignante Diana, ebd.). Der scheinbaren Unabänderlichkeit des im Plusquamperfekt Geschilderten wird ein im Praesens historicum agierender Asklepios entgegengesetzt. Dieser äußert sich zunächst einmal (ait; Ov. Fast. 6,746) quasi wie ein Seelsorger: nulla […] causa doloris (ebd.). Dieses Trostwort lässt sich sowohl als Aufmunterung der mit Hippolytos mitfühlenden Leserschaft als auch als consolatio der Diana verstehen. Dann kündigt er in geschliffenen Worten an, dem „frommen Jüngling“ das Leben zurückgeben (vitam reddere; Ov. Fast. 6,747) zu wollen, und zwar in einem unversehrten körperlichen Zustand, was durch den Zusatz sine volnere (ebd.) verdeutlich wird. Die konstatierende Feststellung animam reddiderat (Ov. Fast. 6,745) aus dem Erzählerkommentar wird somit in der Figurenrede mit vitam reddam (Ov. Fast. 6,747) wieder aufgenommen. Der handlungsunfähigen Göttin Diana steht der agierende Wundarzt gegenüber, der nicht nur körperliche Verletzungen heilt, sondern sogar Tote wiederbelebt. Die unmittelbar bevorstehende einmalige Wiederbelebungsaktion wird von Asklepios dann sogar noch auf eine allgemeinere Ebene gehoben: cedent arti tristia fata meae (Ov. Fast. 6,748). Dieser Satz beinhaltet die Andeutung, dass seiner (ärztlichen) Kunst möglicherweise noch weitere traurige Schicksale werden weichen müssen. Die Umsetzung dieses außergewöhnlichen Vorhabens durch den außergewöhnlichen Arzt wird sodann vom Erzähler in Szene gesetzt, indem er im dramatischen Modus weiterhin detailreich schildert, wie die Wiederbelebung vor sich geht. Erzählte Zeit und Erzählzeit werden weitgehend deckungsgleich, das temporale Adverb continuo (Ov. Fast. 6,749) zeigt an, dass der im Praesens historicum beschriebene nächste Handlungsschritt (depromit, ebd.) unmittelbar folgt. Das herbeigeholte Kästchen, in dem sich die zur Wiederbelebung benötigten Kräuter befinden, wird im Hinblick auf seine Beschaffenheit aus Elfenbein „unter die Lupe genommen“. Die Leserschaft erfährt darüber hinaus ganz genau, warum diesen Kräutern wiederbelebende Kraft eignet: es handelt sich um die aus der Mythologie bekannten Kräuter des Auguren (Polyidos), mit denen auch schon der tote Glaukos wieder lebendig gemacht worden war. Dass diese damals erfolgte Wiederbelebung nicht auf göttliches Wirken zurückgeführt werden kann, sondern in Nachahmung eines von chthonischen Wesen vorgeführten Verfahrens stattfand, wird eigens betont. Es ist bemerkenswert, wie ausführlich der Erzähler den Hintergrund des von Asklepios gewählten Verfahrens darstellt, macht er auf diese Weise doch deutlich, auf welch breiter Wissensbasis und selbstständiger Handlungssouveränität dessen ärztliche ars basiert. Der dramatische Erzählmodus bestimmt dann auch noch die Schilderung der Wiederbelebungsaktion, die den Asklepios als selbstständig agierend zeigt: er berührt den Toten dreimal, er spricht dreimal verba salubria (Ov. Fast. 6,753) und erzielt damit die angestrebte Wirkung: der Tote erhebt, wieder lebendig, sein Haupt. Anders als in Vergilius’ „Aeneis“ kommt der Diana kein Anteil an der
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eigentlichen Wiederbelebung zu, ähnlich wie in Ovidius’ „Metamorphosen“ obliegt es ihr, den Wiederbelebten unter neuem Namen in ihrem Hain zu verstecken.577 Dass der eigentliche Fokus dieser Version des Hippolytos-Mythos auf dem Totenerwecker Asklepios und nicht auf dem Wiederbelebten liegt, zeigt der Schluss der Erzählung. Mit seinem Handeln zieht sich der Asklepios der Fasti gleich dreifach göttlichen Unwillen zu. Hades/Clymenus578 beklagt seinen Machtverlust, Clotho, eine der drei Schicksalsgöttinnen, „die dem Menschen den Lebensfaden spinnen“579, fühlt sich in ihrer Zuständigkeit, menschliche Schicksale zu bestimmen, eingeschränkt. Der Göttervater Iuppiter sieht vorausschauend, dass Asklepios mit seiner in den Machtbereich (opes; Ov. Fast. 6,760) von Göttern eingreifenden Aktion ein exemplum statuiert haben könnte, und tötet den Totenerwecker mit göttlichem Blitzstrahl. Auch wenn sich die letztendliche Verstirnung des Asklepios im Sternbild des Ophiuchus als nachträgliche Anerkennung eines exzeptionellen Arztes interpretieren lässt, zeigt die ironische Schlussbemerkung des elegischen Mythenerzählers in Ov. Fast. 6,761f., dass des Iuppiters „Belohnung“ eine „vergiftete“ ist und keinen gnädigen, sondern einen willkürlich agierenden Patriarchen zeigt.580 Als ewiglich Verstirnter ist Asklepios zwar unsterblich und damit ein Gott (deus est; Ov. Fast. 6,761), steht aber für alle Zeiten unter Kontrolle des obersten Göttervaters.581 Dieser braucht sich an keinerlei Gesetze zu halten, sondern kann das Vergehen, das er bestraft: eine Totenerweckung, mit einer Bestrafung belohnen: der Umwandlung des Blitztodes in eine zur Vergöttlichung führende Verstirnung, für die gilt: fieri quod vetat, ipse facit (Ov. Fast. 6,762). Die Wiederbelebung des Hippolytos ist somit in Ovidius’ Fasti nicht als göttliche Wohltat konzeptualisiert, sondern als subversiver Akt eines sterblichen Arztes, der über außergewöhnliche medizinische Kenntnisse verfügt – und damit eines Menschen, der sich mitfühlend gegenüber dem Schicksal des ungerecht behandelten Hippolytos zeigt582 und sogar eine Göttin wie Diana zu trösten bereit ist. Während die Erzählfigur Iuppiter in dieser Konzeption als ein willkürlich handelnder Charakter erscheint und im Rezeptionsprozess allenfalls Furcht auslöst, bietet sich Asklepios als Identifikationsfigur an, die aufgrund ihres 577
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Wenn Ovidius die Göttin Diana/Artemis an dieser Stelle mit dem Namen Dictynna bezeichnet, greift er auf einen Namen „applied to the Cretan goddess Britomaris“ (FRAZER, Fastorum 4, 327) zurück, den er auch in Ov. Met. 2,441 für die Göttin verwendet. Clymenus ist ein „Beiname des Hades-Pluton“ (MICHEL, Art. Klymenos, 610). HOLZBERG, Ovidius. Fasti, 318. Vgl. NEWLANDS, Time, 196: „The myth of Aesculapius concludes with a sententia that wryly acknowledges the pragmatics of autocratic rule“. Vgl. NEWLANDS, Time, 196: „The ‚reward‘ of catasterism here involves the strict subordination of the artist to Jupiter’s control.“ NEWLANDS, Time, 194, bezeichnet Asklepios’ „act of resurrection“ als „one of piety and mercy“.
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solidarischen Eintretens für andere als Antagonist eines Patriarchen erscheint, der durch großväterliche Geschosse (telis avitis; Ov. Fast. 6,735) denjenigen in Schranken weist, qui nimiae moverat artis opem (Ov. Fast. 6,760).
8.4
Asklepios-Traditionen aus dem 2. Jh. n. Chr.
Fragt man sich, ob die aus dem lateinischen Sprachraum stammende AsklepiosHippolytos-Tradition zur Enzyklopädie der Modell-Leserschaft der auf Griechisch verfassten frühchristlichen Totenerweckungserzählungen gerechnet werden sollte, so lässt sich darauf verweisen, dass Belege für eine intensive Rezeption der Asklepios-Wiederbelebungen im 2. Jh. n. Chr. – auch in griechischer Sprache – darauf schließen lassen, dass die mit Aricia verbundene lateinische Ausprägung des Mythos über das 1. Jh. n. Chr. hinaus eine recht hohe Bekanntheit besessen haben muss. Diese Vermutung belegt z. B. eine Passage aus Pausanias’ unter dem Titel Περιήγησις Ἑλλάδος/Graeciae descriptio firmierender Reisebeschreibung, die ins dritte Viertel des 2. Jh.s n. Chr. datiert wird.583 Nachdem Pausanias in Paus. 2,26.5 schon pauschal darauf verwiesen hatte, dass Asklepios nicht nur geheilt, sondern auch Tote wiederbelebt hat (ὅτι ἀνίστησι τεθνεῶτας), geht er in Paus. 2,27.4 im Kontext der Beschreibung des Asklepieions von Epidauros auf den konkreten Fall des Hippolytos ein. Im Asklepiosheiligtum gebe es eine Stele, deren Inschrift in Übereinstimmung mit den Erzählungen der Bewohner von Aricia besage, ὡς τεθνεῶτα Ἱππόλυτον ἐκ τῶν Θησέως ἀρῶν ἀνέστησεν Ἀσκληπιός· ὁ δὲ ὡς αὖθις ἐβίω, οὐκ ἠξίου νέμειν τῶι πατρὶ συγγνώμην (dass den durch die Flüche des Theseus getöteten Hippolytos Asklepios wieder aufgerichtet hat; wie der aber wieder lebte, erachtete er es nicht für würdig, dem Vater Vergebung zu gewähren). Anschließend notiert auch Pausanias Hippolytos’ Übersiedlung nach Italien. Katharina Waldner hält diese Notiz für einen Beleg dafür, dass die „Hippolytos-Erzählung endgültig zu einem überregionalen Mythos [wurde], der Italien mit Griechenland verbindet“584. Abschließend mögen Ausschnitte aus zwei Schriften, die in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s n. Chr. entstanden sind, die These, dass die Modell-Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen im Rezeptionsprozess AsklepiosÜberlieferungen aktualisiert hat, nachvollziehbar machen. Wenn nämlich ca. 100 Jahre nach der Abfassung der Evangelien und der Apostelgeschichte Justin und Tertullian im Zusammenhang der Behandlung von Totenerweckungen Jesu Christi auf Asklepios eingehen und dabei Formulierungen wie τοῖς ὑπὸ Ἀσκληπιοῦ γεγενῆσθαι λεγομένοις (Iust. 1 apol. 22,6) und dicebatur (Tert.nat. 583 584
Vgl. zur Datierung: DONOHUE, Art. P.[ausanias], 445. WALDNER, Hippolytos, 54.
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2,14.11) verwenden, deutet dies auf eine große Bekanntheit der zum Vergleich herangezogenen Traditionen hin.585 Es ist somit zu vermuten, dass enzyklopädisches Wissen über Asklepios auch in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s bzw. am Anfang des 2. Jh.s n. Chr. in den Köpfen der Verfasser und der Leserschaft von Erzählungen über die Totenerwecker Jesus, Petrus und Paulus präsent ist. Die Kapitel 21–60 aus Justins „Erster Apologie“ demonstrieren die Überlegenheit des Christentums gegenüber „paganen“ Vorstellungen. Den Totenerwecker Asklepios zieht der Apologet als positive Vergleichsgröße heran, und zwar in dem Sinne, dass das Christentum mit Jesus Christus über eine dem „Heidentum“ gleichwertige Retterfigur verfüge. So stellt Justin im 22. Kapitel den Sohn Gottes den Söhnen Iuppiters gegenüber und weist dann in Iust. 1 apol. 22,6 im Besonderen auf die Vergleichbarkeit Christi mit Asklepios hin: ᾧ δὲ λέγομεν χωλοὺς καὶ παραλυτικοὺς καὶ ἐκ γενετῆς πονηροὺς ὑγιεῖς πεποιηκέναι αὐτὸν καὶ νεκροὺς ἀνεγεῖραι, ὅμοια τοῖς ὑπὸ Ἀσκληπιοῦ γεγενῆσθαι λεγομένοις καὶ ταὐτὰ φάσκειν δόξομεν (von dem [=Christus] wir sagen, dass er Lahme, Gelähmte und von Geburt an Kranke gesund gemacht und auch Tote aufgeweckt habe, scheinen wir dem von Asklepios Gesagten, dass es geschehen sei, Ähnliches und auch dasselbe zu behaupten). Dieses Argument verfängt nur dann, wenn τοῖς ὑπὸ Ἀσκληπιοῦ γεγενῆσθαι λεγομένοις tatsächlich eine gewisse Bekanntheit eignet.586 Auch Tertullian greift in seiner Schrift „Ad nationes“ in der Passage Tert.nat. 2,14 auf eine bekannte Asklepios-Tradition zurück: qui pauca experientiae ingenia commentus dicebatur [= Asklepios] mortuos ad vitam recurasse (von dem [=Asklepios] gesagt wird, dass er, nachdem er wenige Erfindungen des Versuches erdacht habe, Tote zum Leben wieder geheilt habe). Wie die Verwendung des heilkundlich konnotierten Verbums recurare zeigt, konzeptualisiert der Kirchenvater die Totenerweckungen des Asklepios als eine ärztliche Tätigkeit. Diese Verortung des Asklepios im medizinischen Bereich verstärkt sich noch, wenn anschließend mit einem Wortspiel auf Pindars „Dritte Pythische Ode“ rekurriert wird: cupiditatem et avaritiam lucri dicit in eo vindicatam, qua quidem ille vivos ad mortem, non mortuos rursus ad vitam praevaricatione venalis medicinae agebat (er [= Pindar] sagt, dass in diesem das 585 586
Vgl. EDELSTEIN, Asclepius II, 133. In Iust. 1 apol. 54,10 erklärt Justin die Ähnlichkeiten, die zwischen „heidnischen“ Mythen und der christlichen Überlieferung bestehen, auf andere Weise. Was von „paganer“ Seite über die Zeussöhne gesagt werde, sei eine Ummünzung der eigentlich auf Jesus Christus abzielenden Prophezeiungen von Propheten wie Moses und Jesaja auf Heroen wie Herakles und Asklepios: Ὅτε δὲ πάλιν ἔμαθον προφηθευτέντα, θεραπεύσειν αὐτὸν πᾶσαν νόσον καὶ νεκροὺς ἀνεγερεῖν τὸν Ἀσκληπιὸν παρήνεγκαν. (Als sie aber wieder von der Prophezeiung erfuhren, dass er jede Krankheit heile und Tote wieder aufrichte, tischten sie den Asklepios auf). Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erweist sich das Christentum als dem Heidentum überlegen, da es mit auf Christus verweisenden Prophezeiungen über die älteren Traditionen verfügt, deren Adaption durch „heidnische“ Kreise eine Verfälschung ihrer ursprünglichen Intention darstellt. Im „Dialog mit Tryphon“ führt es Justin in Iust.dial. 69,1 auf das Eingreifen des sog. Teufels (ὁ λεγόμενος διάβολος) zurück, wenn ursprünglich auf Christus abzielende Prophezeiungen von den Griechen auf Asklepios bezogen werden: Ὅταν δὲ τὸν Ἀσκληπιὸν νεκροὺς ἀνεγεῖραντα καὶ τὰ ἄλλα πάθη θεραπεύσαντα παραφέρῃ, οὐχὶ τὰς περὶ Χριστοῦ ὁμοίως προφητείας μεμιμῆσθαι τοῦτον καὶ ἐπι τούτο; (Wenn er [= der Teufel] den Asklepios aber als Tote Erweckenden und die anderen Leiden Heilenden auftischt, sage ich nicht, dass er bezüglich dieser Sache die Prophezeiungen über Christus gleichermaßen nachgeahmt hat? [Iust.dial. 69,3]).
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften Verlangen und die Begierde nach Reichtum bestraft worden sei, durch welche jener jedenfalls die Lebenden zum Tod, nicht die Toten wiederum zum Leben durch die Pflichtverletzung einer käuflichen Medizin führte). Festzuhalten bleibt: eine Facette des Asklepios-Bildes, die seit dem 5. Jh. v. Chr. tradiert wird, ist auch am Ende des 2. Jh.s noch virulent: Asklepios als der geldgierige Arzt, der gegen Bezahlung sogar Tote wieder heilt und damit gegen die Gesetze der ärztlichen Zunft verstößt.
Es kann somit konstatiert werden, dass die enzyklopädische „Asklepios-Sektion“ der idealen Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen breit aufgestellt ist: Auf der Basis der erhalten gebliebenen literarischen Traditionen vermag das Stichwort „Asklepios“ erstens das Bild eines geldgierigen Arztes, der zur Gewinnmaximierung sogar Tote „behandelt“, zu erwecken. Mit Blick auf die „Asklepios-Kataloge“ ist die Erinnerung an „Asklepios, den Totenerwecker“, aber auch mit einer Figur verknüpft, die aufgrund einer ausgeprägten Renitenz gegen den Olymp auf der Basis ihrer außerordentlichen medizinischen Kenntnisse ausgerechnet diejenigen wiederbelebt, die ebenfalls gegen die Götter aufbegehrt haben. Hinsichtlich der narrativ ausgearbeiteten Totenerweckungserzählungen, die sich bei Vergilius und Ovidius finden, ist aber zu betonen, dass das Lemma „Asklepios“ in einer antiken Leserschaft auch die Vorstellung von einem mitfühlenden Paian evozieren kann, der leidenden, sterbenden und gestorbenen Kreaturen beisteht und wie ein Seelsorger Trost spendet. Nicht scharf konturiert ist in der Enzyklopädie allerdings die Vorstellung davon, wie Asklepios Tote wiederbelebt hat – zu verschiedenartig sind hier die Aussagen der Quellen, die sowohl vom ἀνάγειν/revocare (aus dem Hades?) als auch vom Auflegen von Kräutern berichten können, aber in der Mehrzahl das deutungsoffene ἀνιστάναι verwenden.
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Euripides’ Drama „Alkestis“ und seine Rezeptionsgeschichte: Herakles und Alkestis
Wenn im Folgenden die Aufarbeitung der enzyklopädischen Kompetenz frühchristlicher idealer Leserschaften von Totenerweckungserzählungen um die Besprechung eines Dramas ergänzt wird, so geschieht dies, um den zentralen inhaltlichen Aspekt dieser Gattung: das Phänomen der Totenerweckung, einmal aus einer anderen Perspektive zu beleuchten. Im vorliegenden Kapitel wird dargestellt, dass die Frage, ob Tote „wirklich“ wiederbelebt werden können, in der Antike auch skeptischer beantwortet wurde, als das bei den Erzählern von Wiederbelebungsgeschichten der Fall ist.
9.1
Euripides’ „Alkestis“
Die Handlung von Euripides’ Drama „Alkestis“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Alkestis wird aufgrund der Fürsprache des Apollon von den Moiren gestattet, anstelle ihres Ehemannes Admetos dessen (vorzeitigen, von den Göttern verhängten) Tod587 auf sich zu nehmen. Zum vorherbestimmten Termin stirbt sie. An eben diesem Tage nimmt Admetos seinen auf der Durchreise befindlichen Freund Herakles gastfreundlich auf, verheimlicht ihm aber den Tod seiner Frau. Die Gastfreundschaft des Admetos genießend und fröhlich zechend wird Herakles dann aber durch einen Diener über den Trauerfall im Hause seines Gastgebers informiert. Der Gast beschließt, dem Admetos seine verstorbene Frau zurückzubringen, um sich für die ihm erwiesene Gastfreundschaft zu revanchieren. Tatsächlich steht er kurz nach Alkestis’ Bestattung vor seinem Gastgeber mit einer dem Gott Thanatos abgerungenen Alkestis(-Figur). Insbesondere aufgrund der detaillierten Überlegungen, die Herakles anstellt, wenn er plant, dem Admetos die tote Alkestis zurückzubringen, und mit Blick auf die von ihm in Figurenrede geschilderte Wiederbringungsaktion bietet sich das Drama des Euripides als Vergleichsgegenstand für frühchristliche Totenerweckungserzählungen an, auch wenn es der Gattung nach ein Theaterstück und keine Erzählung ist. Die außerordentlich intensive Rezeption, die dieses Stück nicht nur in späteren Inszenierungen, sondern auch durch die Verbreitung der Textbücher erfahren hat, lässt darauf schließen, dass die Dramenhandlung von „Alkestis“ der Modell-Leserschaft frühchristlicher Toten587
Apollod. 1,9.15 nennt den Grund für die über Admetos verhängte Todesstrafe: Er habe bei seiner Hochzeit mit Alkestis vergessen, der Artemis zu opfern.
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erweckungserzählungen vertraut ist.588 Allerdings fungiert das Drama des Euripides – wie im Folgenden zu zeigen ist – im Hinblick auf das Thema „Totenerweckungen“ weniger als Parallelbeleg für den frühchristlichen Umgang mit diesem Phänomen, sondern eher als Kontrastfolie. Anders als der ἰατρόμαντις Polyidos und der geniale Arzt Asklepios geriert sich der Halbgott Herakles nur auf den ersten Blick als Totenerwecker. Bevor dieser Aspekt der Handlung ausführlicher untersucht wird, seien zunächst die dramatis personae und die originären Handlungsstränge des EuripidesDramas vorgestellt: Während die menschlichen Hauptfiguren des Dramas: Alkestis589 und Admetos,590 der Halbgott Herakles591 sowie die Götter-Figuren
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Die Rezeption der „Alkestis“ von Euripides in der griechischen und lateinischen Literatur vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. ist – unter schwerpunktmäßiger Betrachtung des Ersatztodes der Protagonistin – minutiös aufgearbeitet von ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 107–127. „Wiederaufführungen Euripideischer Tragödien gab es in Athen erst seit 386 v. Chr., aber es ist […] zu vermuten, daß bereits im 5. Jh. manche seiner Stücke außerhalb von Athen und sogar in griechischen Städten Süditaliens und Kleinasiens nachgespielt wurden“ (SEECK, Euripides, 21). Als Abschriften dürften die Texte des Euripides schon zu seinen Lebzeiten kursiert haben, später sind sie in Privatbibliotheken belegt. Aristophanes, Aristoteles, Dion von Prusa und Quintilian müssen seine Textbücher gekannt oder vielleicht sogar besessen haben (vgl. a. a. O., 22). Zu Alkestis vgl.: LUSH, Irony, Anm. 5, 387: „Homer mentions the beauty of Alcestis at Il. 2.714, after which the surviving record includes no new information about her until the single fragment of Phrynichus’ play.“ Zu Admetos vgl.: ORTH, Aristomenes, 39: „Schon Hom. Il. 2,711–5 erwähnt Eumelos als Sohn von Admetos und Alkestis, der „schönsten der Töchter des Pelias“; Hesiod (fr. 54 M.-W., vgl. auch fr. 58,1–4) behandelte den Sklavendienst des Apollon bei Admetos, und ein Praxilla (daneben auch Alkaios oder Sappho) zugeschriebenes Skolion über Admetos (Carm. conv. PMG 897 = fr. 14 Fabbro Ἀδμήτου λόγον ὦ ἑταῖρε μαθὼν τοὺς ἀγαθοὺς φίλει, / τῶν δειλῶν ἀπέχου γνοὺς ὅτι δειλῶν ὀλίγα χάρις; vgl. dazu Fabbro 1995, 153–60) wird bei Ar. Vesp. 1238 zitiert (und von Cratin. fr. 254 und Ar. fr. 444 erwähnt).“ Der „Modell-Zuschauerschaft“ (vgl. zu diesem Begriff: Anm. 594, 181) von „Alkestis“ ist Herakles, „Sohn des Götterherrschers Zeus und der sterblichen Alkmene“ (NESSELRATH, Herakles, 307), aus Homers Schriften bekannt als einer, der in den Hades hinabgestiegen und wieder in die „Oberwelt“ zurückgekehrt ist. Dabei hat er gemäß Hom. Il. 5,392–404 dem (Gott) Hades eine Verwundung zugefügt; davon, dass er den Kerberos verschleppt und zurückgegeben hat, wird in Hom. Il. 8,366–369 und Hom. Od. 11,623–626 berichtet (weitere literarische Quellen bei VERBANCK-PIÉRARD, Round Trip, 166; die Kerberos-Episode wird auch von der attischen Vasenmalerei im 6.–5. Jh. v. Chr. aufgegriffen, vgl. a. a. O., 170f.). Herakles’ Befreiung der zur Bestrafung für die versuchte Entführung der Persephone lebendig im Hades gefangen gehaltenen Theseus und Peirithoos ist literarisch erst später belegt (vgl. a. a. O., 167f.), wird in Euripides’ „Herakles“ aber, zumindest, was Theseus betrifft, aufgegriffen (vgl. a. a. O., 168) und ist „already known in the middle of the sixth century BCE from a bronze shield band found in Olympia (c. 560 BCE)“ (a. a. O., 180). Die Herakles-Tragödien von Sophokles und Euripides sind jünger als Euripides’ „Alkestis“ (vgl. NESSELRATH, Herakles, 308).
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Apollon592 und Thanatos593 der „Modell-Zuschauerschaft“594 auch schon vor ihrem Eingehen in die „Alkestis“ des Euripides aus der antiken mythologischen Tradition bekannt sind, handelt es sich bei den Handlungselementen „Das Ersatzsterben der Alkestis zugunsten ihres Ehemannes Admetos“595 und „Die Zurückverbringung einer/der Alkestis durch Herakles“ um jüngere Motive, die nach derzeitigem altphilologischem Diskussionsstand entweder erstmals von Euripides596 oder eventuell „spätestens gegen 470“597 von Phrynichos,598 der eine 592
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Zu Apollon vgl.: GRAF, Art. Apollon, 863: „immer jugendlicher griech.[ischer] Gott von Heilung, Divination, Musik und Ephebie“. In Aischyl. Eum. 723f. wird Apollons Einsatz im Haus des Pheres erwähnt, bei dem er den Moiren ein Leben abringt. Im Bereich der attischen Tragödie ist Euripides’ „Alkestis“ das einzige Drama, in dem Thanatos als Bühnenfigur auftritt (vgl. SCHLATTER, Tod, 191). Im antiken Kult wurde er äußerst selten verehrt (vgl. a. a. O., 197f.). In der Mythologie steht er in der Götterhierarchie Zeus – Ananke – Moiren – Thanatos an vierter Stelle „als diejenige Schicksalsmacht, die den Sterbeprozess persönlich herbeiführt und den Tod in seiner konkretesten, da auch handgreiflichen Form darstellt“ (a. a. O., 198f.). In der attischen Vasenmalerei wird er häufig mit Flügeln abgebildet, wodurch seine Rolle als „Totengeleiter oder Totenträger“ (a. a. O., 211) zum Ausdruck kommt. Rezeption und Bedeutungszuschreibung verlaufen bei einem Theaterstück ähnlich wie bei einem literarischen Werk, dennoch sollte zwischen einer „Modell-Leserschaft“ und einer „Modell-Zuschauerschaft“ unterschieden werden. Im (architektonischen) Raum eines Theaters interagieren die Zuschauenden mit den Darstellenden und weisen dem aufgeführten Bühnengeschehen eine Bedeutung zu. Die Wahrnehmung und „Verarbeitung“ einer Bühnenhandlung im Rahmen einer Theateraufführung unterscheidet sich aber vom Lesen eines Dramentextes dadurch, dass die bildliche und akustische Vergegenwärtigung des Geschehens nicht ausschließlich in der Imagination der Rezipierenden stattfindet, sondern von der Inszenierung auf der Bühne beeinflusst wird. Für das antike Theater mit seiner Beschränkung der Anzahl von Schauspielern auf drei, dem Fehlen weiblicher Darstellerinnen und dem permanenten Gebrauch von Masken ist noch einmal von anderen Rezeptionsvorgängen auszugehen als beim neuzeitlichen Theater (vgl. zum Athener Theater der klassischen Zeit: SIMHANDL, Theatergeschichte, 28–33). Darauf wird insbesondere in Bezug auf die Frage zurückzukommen sein, wie die Rezipierenden den Schauspieler, der die sterbende, tote und zurückgebrachte Figur der Alkestis verkörpert, wahrnehmen und deuten. Diesen Aspekt des Dramas und seine Auswirkungen auf die Deutung des paulinischen Redens vom „[S]terben ‚für‘“ in Bezug auf den Tod Jesu Christi untersucht in aller Ausführlichkeit: ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 68–75. Gemäß PULZ, Ausgang, 284, findet der „Kampf zwischen Thanatos und Herakles […] erstmals bei Euripides Eingang in den Alkestisstoff.“ SEECK, Euripides, 15. Das einzig erhaltene Fragment aus der „Alkestis“ des Phrynichos lässt sich als Hinweis auf den Kampf zwischen Herakles und Thanatos deuten (σῶμα δ’ ἀθαμβὲς γυιοδόνητον τείρει; TrGF I [Er quält aber den furchtbaren Körper mit hin und her bewegten Gliedern; vgl. zur Übersetzung: PULZ, Ausgang, 283]; vgl. WEBER, Alkestissage, 149f.). Das Phrynichos-Fragment ist allerdings so kurz, dass auch andere Deutungen möglich sind, vgl. RIEMER, Alkestis, 46; PULZ, Ausgang, 283f.; SCHLATTER, Tod, Anm. 2, 191. Grundsätzlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Euripides das „Alkestis“-Drama seines Vorgängers kannte (vgl. zur Wertschätzung, die Phrynichos im klassischen Athen genoss: PULZ, Ausgang, 282);
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nur fragmentarisch erhalten gebliebene „Alkestis“ geschrieben hat, innerhalb eines Dramas miteinander verknüpft worden sind. Als ältestes der erhaltenen Stücke des Dichters Euripides wurde die „Alkestis“ zum Abschluss der Großen Dionysien des Jahres 438 v. Chr. in Athen599 als viertes Schauspiel nach den „Kreterinnen“, „Alkmaion in Psophis“ und „Telephos“ aufgeführt.600 Damit steht sie an der Position, die üblicherweise einem Satyrspiel vorbehalten war. Aus der kognitionswissenschaftlichen Rezeptionsforschung ist bekannt, dass im Vollzuge der Bedeutungskonstitution von Kunstwerken der Gattungszuordnung des zu interpretierenden Werkes eine wichtige Funktion zukommt – unabhängig davon, ob es sich um Erzählungen, Theaterstücke oder opera aus der Musik, der Malerei oder bildenden Kunst handelt. Die „Modell-Zuschauerschaft“ der euripideischen „Alkestis“ interpretiert somit dieses Bühnenstück, das im Agon an vierter Stelle steht,601 auch unter der Voraussetzung, es mit einem Satyrspiel zu tun zu haben. Dass Euripides diese Gattungserwartung durch die Bühnenhandlung seiner „Alkestis“ gleichermaßen erfüllt wie enttäuscht, belegen eine antike Einschätzung aus der Hypothesis II zur „Alkestis“, in der das Schauspiel als σατυρικώτερον charakterisiert wird,602 sowie die lebhafte und kontroverse Diskussion hinsichtlich der gattungsgemäßen Kategorisierung in der modernen altphilologischen Forschung.603 In der aktuellen Diskussion wird als stärkstes Argument gegen eine Klassifizierung der „Alkestis“ als Satyrspiel angeführt, dass diesem Drama das signifikanteste Kennzeichen dieser Gattung fehlt: der Chor der
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umstritten ist die Frage, ob Euripides von Phrynichos nicht nur den Stoff, sondern auch die Gattung „Satyrspiel“ übernommen haben könnte (vgl. MARKANTONATOS, ‚Alcestis‘, 92). Vgl. zur Erstaufführung der „Alkestis“: SEECK, Euripides, 3. Diese Information findet sich in der Hypothesis II zur „Alkestis“. Im 6. und 5. Jh. v. Chr. mussten die drei zum Agon zugelassenen Dichter jeweils drei Tragödien und (jeweils) ein Satyrspiel präsentieren. Aufgrund „eines wachsenden antiken Desinteresses an der Gattung“ ist dann „spätestens im Jahre 341/340 […] der Spielplan dahingehend geändert worden, daß anstelle je eines Satyrspieles der drei konkurrierenden Tragiker nur noch ein einziges Satyrspiel aufgeführt wurde“ (SEIDENSTICKER, Satyrspiel, 362). Nach einer „kurze[n] Blüte“ (a. a. O., 374) im 3. Jh. v. Chr. „hören wir nichts mehr vom Satyrspiel“ (a. a. O., 375). „Horaz’ Anregung zu einer Erneuerung des Satyrspiels in Rom (ars 220 ff.) blieb ohne Wirkung“ (ebd.). – Es ist deshalb fraglich, ob die Modell-Leserschaft neutestamentlicher Totenerweckungserzählungen den Gattungsaspekt von Euripides’ „Alkestis“ ebenso stark in Anschlag gebracht hat wie die Erstrezipierenden der Uraufführung im 5. Jh. Die noch darzustellende Ambiguität der Dramenhandlung, die auch ohne Berücksichtigung der Gattungszugehörigkeit bemerkt werden kann, dürfte aber auch im 1. Jh. n. Chr. festgestellt worden sein. Gemäß SHAW, Satyric Play, 95, handelt es sich bei dieser „anonymous second hypothesis“ um „the earliest extant discussion of the play’s categorization“. Einen Überblick über die Diskussion des 20. Jh.s bis ca. 1980 bietet: SEIDENSTICKER, Harmonia, 130–132; über jüngere Positionen zur Gattungsproblematik informieren SCHLATTER, Tod, 192–194 (mit ausführlichen Literaturhinweisen); SHAW, Satyric Play, 95–98, und IAKOV, Alcestis, 49f.
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Satyrn.604 Dessen ungeachtet weist das Schauspiel des Euripides dennoch auch eine Vielzahl von Merkmalen auf, die typisch für ein Theaterstück sind, das im klassischen antiken Agon an vierter Stelle aufgeführt wird.605 Bernd Seidensticker zufolge sprechen folgende Merkmale der „Alkestis“ für ihre Klassifizierung als „Satyrspiel“. So gehört der „burleske[…] Auftritt des ebenso bärbeißigen wie ängstlichen Thanatos [… als] groteske Gestalt, mit langem schwarzen Gewand, großen Flügeln und einem Schwert in der Hand […,] zweifellos eher in das Figurenarsenal des Satyrspiels und der Komödie als in das der Tragödie.“606 Als Gegenspieler des genretypischen Oger – der in der Alkestis ebenfalls vom Thanatos verkörpert wird – tritt üblicherweise die Figur des Herakles auf. Somit gilt für das Euripides-Drama: „Der (hinter der Szene) schlemmende und dann angetrunken, laut und unmusikalisch grölende Herakles in der Alkestis […] ist offenbar typisch.“607 Auch das sich – zumindest auf den ersten Blick – abzeichnende und „für das Satyrspiel obligatorische“608 Happy End der Handlung: Herakles bringt dem Admetos ja tatsächlich (s)eine Alkestis wieder zurück – ist genrekonform. Darüber hinaus entspricht der plot: einem „gefährlichen Unholden“ wie Thanatos wird mit „Gewalt das Handwerk gelegt“, in seinen Grundzügen dem „typische[n] Handlungsschema des Satyrspiels“609. Das für die Handlung dieses Stückes konstitutive Motiv der Gastfreundschaft, das als ein „weiterer dazugehöriger thematischer Topos“610 im Folgenden noch behandelt werden wird, erweitert die Gattungsinventarliste der „Alkestis“ als σατυρικώτερον um einen weiteren Posten.
In summa scheinen sich das qualitativ starke Contra-Argument und die in quantitativer Hinsicht zahlreichen Pro-Argumente für oder gegen die Einordnung der euripideischen „Alkestis“ als Satyrspiel die Waage zu halten.611 Im Folgenden
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Vgl. SHAW, Satyric Play, 96: „Even if the Alcestis exhibits certain traditional satyric elements […], without a chorus of satyrs, it simply is not a satyr drama and would not have fulfilled the audience’s expectations for the genre in this particular performance slot. […T]he initial prologue and the subsequent dialogue between Apollo and Death do not necessarily hint to the audience that the play is not satyric, but when the chorus of old Pheraean men entered, the audience must have been perplexed.“ Vgl. ferner SEIDENSTICKER, Satyrspiel, 383, der den Chor der Satyrn „als konstituierendes Element der Gattung“ bezeichnet. Vgl. SEIDENSTICKER, Harmonia, 137. SEIDENSTICKER, Harmonia, 132. SEIDENSTICKER, Satyrspiel, 396. SEIDENSTICKER, Harmonia, 138. Vgl. SEIDENSTICKER, Harmonia, 138. SEIDENSTICKER, Satyrspiel, 398. Aus produktionsästhetischer Sicht erstaunt es eigentlich nicht, wenn ein Werk eines so bedeutenden Dichters wie Euripides die Grenzen eines von der Theatertradition vorgegebenen Gattungsschemas sprengt: Als „unermüdliche[r] Neuerer“ ging Euripides auch „beim Schreiben seiner Satyrspiele auf unbetretenen Pfaden […]. Der wohl am Ende des Jahrhunderts entstandene Kyklops zeigt, wie weit sich Euripides von den Anfängen der Gattung entfernt hat“ (SEIDENSTICKER, Satyrspiel, 372f.). – Vgl. ferner SEIDENSTICKER, Harmonia, 130: „Sinn und ästhetischer Reiz des Stücks liegen […] gerade darin, daß dieselbe Geschichte zugleich als Komödie und als Tragödie gestaltet ist.“
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wird sich allerdings zeigen, dass gewichtige Gründe für eine Gattungszuordnung zum Satyrspiel sprechen. Zunächst muss allerdings geklärt werden, ob die Protagonistin dieses Dramas auch tatsächlich als tot zu imaginieren ist. Nur wenn diese Voraussetzung gegeben ist, erscheint eine Untersuchung der „Alkestis“ im Kontext der Beschäftigung mit frühchristlichen Totenerweckungserzählungen sinnvoll. Bemerkenswert ist nämlich, dass der physische Status der Protagonistin zu Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung als ein unbestimmbarer dargestellt wird. Dem am Morgen des festgelegten Todestages „auftretenden Chor ist nicht klar, ob seine Herrin noch lebt oder schon tot ist“612. Die vom Chor befragte Dienerin bezeichnet ihre Herrin als gleichzeitig tot und lebendig (καὶ ζῶσαν εἰπεῖν καὶ θανοῦσαν ἔστι σοι; Eur. Alk. 141). Eine ähnliche Formulierung wählt später Admetos, wenn er seinem Gast Herakles den Tod seiner Frau verheimlichen will (ἔστιν τε κοὐκέτ’ ἔστιν; Eur. Alk. 521). Das Sterben der Alkestis, das coram publico613 dargestellt und „wie eine Krankheit aufgefasst wird, die sie verzehrt“614, zieht sich über einen dermaßen langen Zeitraum hin, dass das Publikum schwer einschätzen kann, wann die Protagonistin denn nun wirklich nicht mehr am Leben ist.615 In dieser Unsicherheit, welche die auf der Bühne agierenden Figuren in Bezug auf den Zustand der Alkestis zum Ausdruck bringen, spiegelt sich die Erfahrung der außertheatralen antiken Welt wider, dass einerseits das Sterben – insbesondere dann, wenn es sich um ein von einer Krankheit herrührendes Dahinscheiden handelt – eher prozesshaft als punktuell verläuft und dass es andererseits aufgrund des medizinischen Kenntnisstandes des Altertums grundsätzlich schwierig war, den Eintritt des Todes exakt zu bestimmen.616 Daran, dass Alkestis letztendlich tatsächlich als tot617 vorzustellen ist, lässt das Drama durch seine ausführliche Inszenierung der traditionellen
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SCHLATTER, Tod, 206; vgl. Eur. Alk. 77–104. Vgl. IAKOV, Alcestis, 57: „It is quite rare for a tragic hero to breathe their last onstage“. Stattdessen ist zu beobachten: „[T]he bodies of the dead in tragedy are most often revealed on the ekkyklêma after the characters have died off-stage“ (BASSI, Materialism, 38); vgl. ferner SCHLATTER, Tod, Anm. 4, 191; RIEMER, Alkestis, 111f. SCHLATTER, Tod, 207; vgl. die Aussage der Dienerin in Eur. Alk. 203: φθίνει γὰρ καὶ μαραίνεται νόσωι; ähnlich der Chor in Eur. Alk. 236. Vgl. zur „wiederholte[n] Dramatisierung des Sterbens [der Alkestis] vor und nach der Abschiedsrede“: SCHLATTER, Tod, 215. In Versen bemessen, vollzieht sich der Sterbeprozess der Protagonistin zwischen Eur. Alk. 77 und dem Abschiedsgruß (χαῖρ’) der Alkestis an ihren Mann in Eur. Alk. 391. In Eur. Alk. 398f. weist der Sohn auf die Lider und die schlaffen Hände als äußere Todesmerkmale der Mutter hin. Vgl. die Ausführungen zur Prozesshaftigkeit des Sterbens und zur Schwierigkeit zu bestimmen, wann der Tod eintritt, auf S. 199f. Dass für den weiteren Verlauf der Handlung mit dem tatsächlichen Tod der Alkestis zu rechnen ist, liegt auch deshalb nahe, weil Apollon den Ort des Geschehens verlässt, um sich nicht an einer Toten zu verunreinigen (Eur. Alk. 22).
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Bestattungsriten618 jedoch keinen Zweifel. Die Protagonistin selbst behandelt ihren eigenen Körper in ihren letzten Stunden wie einen zur Bestattung anstehenden Leichnam,619 Familie und Bedienstete des Hauses führen die Trauerrituale aus (Eur. Alk. 336–347 und 425–434), die πρόθεσις findet während der Ankunft des Herakles hinter der Bühne statt (Eur. Alk. 540–544),620 die ἐκφορά wird von Admetos vorbereitet (Eur. Alk. 422) und geschildert (Eur. Alk. 606–610). Dass die Alkestis von der Zuschauerschaft als eine Verstorbene – und nicht etwa als eine „Scheintote“ – imaginiert wird, kann nicht bezweifelt werden. Alkestis selbst schildert in den „hallucinatory visions“621, welche die Schlussphase ihres Sterbens flankieren, wie sie von Charon gerufen (Eur. Alk. 252–257) und von Hades weggeschleppt wird (Eur. Alk. 259–264).622 Der Gott Hades erfüllt an dieser Stelle seine traditionelle Funktion als Totengeleiter, die aber in der Mythologie auch von Charon, Hermes und Thanatos übernommen werden kann.623 Offensichtlich wird kurz vor Alkestis’ biologischem Tod vermittels visionärer Bilder „die Erfahrung der Ablösung der ψυχή, die unter dem Geleit des Hades oder Charon fortreist,“624 zum Ausdruck gebracht. Wenn 618
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Ιn Kürze zusammengefasst, stellt sich das dreiphasige antik-griechische Trauerritual folgendermaßen dar: „the washing and preparation of the body and the house; the prothesis or vigil wake over the prepared body, at which the major mourning was expressed; and the ekphora or procession to the cemetery, by chariot or cart or on foot, our automobile cavalcade. Around these practical steps the ordinary duties of greeting guests, collecting gifts, cleansing possible contaminations and singing the laments fell into place“ (VERMEULE, Death, 12f.). – Vgl. zu den Bestattungsbräuchen auch: BREMMER, Body, 183–195. Vgl. BASSI, Materialism, 46: „,in bathing and dressing elegantly, Alcestis treats herself as a corpse.‘ It is in this act of treating herself as a corpse that Alcestis embodies the paradoxical condition of being ,both living and dead.‘ Her preparations clearly allude to the Greek woman’s well-known social and religious obligations in caring for the dead, realized in her intimate tactile, emotional, and ritual attentions to the corpse.“ – Vgl. ferner: MARKANTONATOS, ,Alcestis‘, 47. Würde Alkestis coram publico aufgebahrt, wäre es unmöglich, dem die Spielfläche betretenden Herakles zu verheimlichen, dass die Herrin des Hauses gestorben ist. Wenn Admetos aber gleich nach ihrem Tod mit den Vorbereitungen für die ἐκφορά beginnt und Alkestis’ Leichnam von der Bühne getragen wird (vgl. dazu: SEECK, Euripides, 115: „Admet geht ins Haus, um die ekphorá [422] vorzubereiten. Die Liege mit der toten Alkestis und die Kinder sind wahrscheinlich schon während der letzten Verse hineingebracht worden“), stellt es in dramaturgischer Hinsicht kein Problem dar, Alkestis’ Tod vor Herakles geheim zu halten. IAKOV, Alcestis, 56. In Eur. Alk. 438–444 wird eben dieses visionäre Bild vom Chor wieder aufgenommen. Vgl. zur Vorstellung, dass sich Tote unter der Erde im Hades aufhalten: Eur. Alk. 163, wo Alkestis im Gebet zu Hestia sagt: ἐγὼ γὰρ ἔρχομαι κατὰ χθονός; ähnlich der Chor in Eur. Alk. 237: κατὰ γᾶς χθόνιον παρ’ Ἅιδαν. Vgl. zu Funktion und Aufgaben der Totengeleiter in der griechischen Mythologie: SCHLATTER, Tod, 211f.; MARKANTONATOS, ‚Alcestis‘, 63f.; insbesondere zu Hermes: MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 71–79. SCHLATTER, Tod, 214.
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an zwei anderen Stellen (Eur. Alk. 20 und 143) das Sterben der Protagonistin von Apollon und von ihrer Dienerin mit dem Verb ψυχορραγεῖν beschrieben wird, ist das ein weiterer Beleg für die Vorstellung: „,die ψυχή wird [vom Leib] abgerissen‘“625. Ähnlich äußert sich Apollon, wenn er (Eur. Alk. 25f.) davon spricht, dass Thanatos als Priester der Toten (ἱερέα θανόντων) naht, um Alkestis ins Haus des Hades (εἰς Ἅιδου δόμους) hinabzuführen.626 Im Drama selbst wird Alkestis’ Eintreffen in der Unterwelt nicht dargestellt. Um zu klären, in welchem „Zustand“ sie sich dort nach antiker Vorstellung befindet, können aber vergleichbare Passagen aus einschlägigen Vergleichs-Texten hinzugezogen werden. In der „Odyssee“ (Hom. Od. 11,217–222) beschreibt z. B. die Antikleia, Mutter des Odysseus, ihrem Sohn ausführlich ihre „Beschaffenheit“, wenn sie auf dessen Unterweltsreise627 in Gestalt einer ψυχή im Hades mit ihm zusammentrifft: Nein, nicht täuscht dich Pérsephoneia, die Tochter des Zeus; denn Dies ist Gesetz beim Tode sterblicher Menschen: Die Sehnen Halten das Fleisch und die Knochen dann nicht mehr zusammen; es machen Starke Kräfte lodernden Feuers dies alles zunichte, Hat erst der Wille zum Leben (θυμός) die weißen Gebeine verlassen. Dann aber fliegt die Seele (ψυχή) auch flatternd davon wie ein Traumbild. (Übers.: Weiher)
Aus der Tatsache, dass die ψυχαί, die sich im Hades aufhalten, nach vollzogener Bestattung628 nicht mehr über Sehnen, Fleisch und Knochen verfügen, ergibt 625 626
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SCHLATTER, Tod, Anm. 54, 207. Vgl. auch Eur. Alk. 139 (ἔμψυχος als Antonym). Vgl. Eur. Alk. 47, 73, 107 (μολεῖν κατὰ γαίας). Dass Alkestis’ Sterben mit einem Abstieg in den Hades einhergeht, wird auch in Eur. Alk. 163, 237, 382, 626f., 743–746, 875, 896, 987 deutlich. Vgl. zur Unterweltsreise des Odysseus: MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 101–111. Die „Modell-Zuschauerschaft“ dürfte in Bezug auf eine im modernen Forschungsdiskurs aufgeworfene Frage: ob nämlich an Alkestis nach ihrer Aufbahrung und Überführung eine Erd- oder eine Feuerbestattung vollzogen wird, nicht so irritiert gewesen sein wie neuzeitliche Rezipierende; vgl. BASSI, Materialism, 39, die in Bezug auf die Bestattungsarten „inhumation“ bzw. „cremation“ von „some inconsistency about this in the play“ spricht. (Vgl. zum Ablauf von Feuerbestattungen, die in Homers „Ilias“ beschrieben werden: BREMMER, Body, 192f. Parallelen aus Sophokles’ „Elektra“ führt BASSI, Materialism, 40, an.) Als eindeutige Hinweise darauf, dass Alkestis’ Leichnam verbrannt werden soll, lassen sich folgende Stellen verstehen: in Eur. Alk. 608 spricht Admetos davon, dass die Diener seine tote Frau πρὸς τάφον τε καὶ πυράν tragen, in Eur. Alk. 740 macht er sich auf den Weg, ὡς ἂν ἐν πυρᾶι θῶμεν νεκρόν. (Vgl. zur Bewertung dieser beiden Stellen als Indizien für eine Feuerbestattung: STIEBER, Statuary, Anm. 41, 97.) Für eine Erdbestattung spricht prima vista der Wunsch, den Admetos in Eur. Alk. 365–367 noch vor dem Tod seiner Frau äußert: denn in denselben [Zedern-]Sarg (κέδροις) zu dir, werde ich befehlen, sollen die hier mich legen und uns Seite an Seite betten […]. (Übers.: SEECK, Euripides.) Wenn der Chor der Verstorbenen wünscht, dass ihr die Erde leicht sein möge (Eur. Alk. 463), spricht das auch mehr für Erd- als für Feuerbestattung. Grundsätzlich ist allerdings
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sich, dass Odysseus seine Mutter nicht mit Händen greifen kann, um sie zu umarmen. Darüber beklagt er sich in Hom. Od. 11,204–207: […] doch ich, im Sinne vergrübelt, verlangte Anzufassen die Seele der eignen verstorbenen Mutter. Dreimal setzte ich an; mein Gemüt befahl mir zu fassen (ἐλέειν): Dreimal indessen entflog sie den Händen (ἐκ χειρῶν), ein Traum nur, ein Schatten. (Übers.: Weiher)629
Einmal im Hades angelangt, ist es den ψυχαί nicht möglich, wieder in die Oberwelt zurückzukehren. In der griechischen Mythologie sind allerdings wenige Fälle belegt, in denen im Hades befindliche Tote durch die Mithilfe von in die Unterwelt hinabgestiegenen Dritten wieder in die Welt der Lebenden zurückgebracht werden konnten oder sollten. Von zumindest einer dieser καταβάσεις weiß auch Admetos. So wünscht er sich in Eur. Alk. 357–362, wie Orpheus singen zu können, um mit betörender Stimme die Unterweltsgötter zur Rückgabe seiner Gattin zu bewegen – dass Orpheus’ Unternehmung letztendlich scheiterte, lässt Admetos allerdings unerwähnt.630 Wenn er in diesem Kontext auch auf Persephone, ἢ κόρην Δήμητρος (Eur. Alk. 358), und Kerberos, ὁ Πλούτωνος κύων (Eur. Alk. 360), anspielt, ruft er die Erinnerung an weitere Figuren auf, die aus
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zu bemerken, dass in der griechischen Antike sowohl Erd- als auch Feuerbestattung belegt sind – dass aber gleichzeitig die Vorstellung von der Nach-Tod-Existenzform der Verstorbenen von der Bestattungsart abgekoppelt war: „Students of Greek culture have long tried to detect differences in how the different generations understood the psyche or the soma according to whether the prevailing fashion was to bury or burn. It does not seem to matter; any form of burial marks the family or community action which transfers the body to a new state of belonging, and the absent element of individuality called the psyche always is absent, and so ‚elsewhere‘“ (VERMEULE, Death, 2). In Bezug auf Admetos’ Wunsch, mit Alkestis im selben Sarg bestattet zu werden, liegt „wohl eine poetische Vermischung der üblichen Bestattung im Familiengrab und dem Wunsch, in denselben Sarg gelegt zu werden“ (SEECK, Euripides, 109), vor. Eine antik-griechische Leichenverbrennung impliziert, dass im Anschluss an die Kremation anschließend die noch verbliebenen Knochen, „covered with robes“ (BREMMER, Body, 193), in einer Metallurne aufbewahrt und im Grab bestattet werden. Eine ähnliche Erfahrung macht Achilleus in Hom. Il. 23,99–107, wenn er versucht, den Patroklos zu berühren, der ihm im Traum erschienen ist. – Vgl. zur Differenzierung zwischen σῶμα und ψυχή bei Homer in Bezug auf die Rede von Toten: BREMMER, Body, 180–182. Auch der Chor geht in einer weiteren kurzen Anspielung auf diese Aktion in Eur. Alk. 966–969 nicht darauf ein, dass Orpheus’ Aktion gescheitert ist. Möglicherweise rekurriert er auf eine Version des Orpheus-Mythos, in der seine Rückholungsaktion gelingt (vgl. dazu: IAKOV, Alcestis, 57; RIEMER, Alkestis, Anm. 284, 116). Für diese Vermutung spricht die Tatsache, dass innerhalb von Euripides‘ Drama „[t]he first extant reference to Orpheus’ catabasis“ (HEATH, Failure, 168), vorliegt – dagegen die Tatsache, dass in der satyrnspielhaften „Alkestis“ „contextual irony“ (a. a. O., 170) eine große Rolle spielt.
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der Unterwelt aufgestiegen sind – allerdings: „only temporarily – a scenario that, like the Orphic pattern, contradicts Admetus’ desire to restore Alcestis“631. Auch Herakles spricht in Eur. Alk. 851–853 die Möglichkeit an, Alkestis direkt „vor Ort“ den Unterweltsgöttern abzuhandeln: […] werde ich zum sonnenlosen Haus Persephones und des Herrschers unten gehen und werde Alkestis verlangen und heraufführen (ἄξειν ἄνω) […]. (Übers.: Seeck)632
Bevor nun weiter untersucht werden kann, wie sich die Rückführung der Alkestis im Drama konkret gestaltet, muss dargestellt werden, warum es überhaupt zu einer derartigen „Rückholaktion“ kommt. Diese basiert nämlich auf einem weiteren wichtigen Handlungsstrang der „Alkestis“: dem Motiv der Gastfreundschaft. Dass Gastfreundlichkeit in der „gespielten Welt“ der Alkestis als ein hohes Gut gilt, zeigt sich deutlich, wenn Admetos den auf der Durchreise befindlichen Herakles unmittelbar nach dem Tod seiner Frau gastlich aufnimmt633 und ihm nicht offenbart, dass die Tote, um welche in seinem Haus getrauert wird, seine eigene Ehefrau ist. Wenn Herakles dann später über den wahren Sachverhalt aufgeklärt ist, fasst er einen Entschluss, der auf dem Prinzip der Reziprozität beruht, was im antiken System der φιλοξενία mit χάρις bezeichnet wird. Die Gegenleistung, die er für seine gastfreundliche Aufnahme erbringen möchte, kündigt er in Eur. Alk. 840–842 mit folgenden Worten an: Denn ich muß die eben verstorbene Frau (τὴν θανοῦσαν ἀρτίως γυναῖκα) retten (σῶσαι) und Alkestis wieder in dies Haus einsetzen (ἱδρῦσαι δόμον) und Admet meinen Dank abstatten (ὑπουργῆσαι χάριν). (Übers.: Seeck)
Zugegebenermaßen klingen diese Worte beim ersten Hören wie die Ankündigung einer Wiederbelebung. Worin, wenn nicht im Wieder-lebendig-Machen, sollte das σῶσαι einer soeben Verstorbenen bestehen? Wie sollte der eher technische Vorsatz des ἱδρῦσαι δόμον634 in Bezug auf eine Tote anders in die Tat
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LUSH, Irony, 394. Das Theaterpublikum, welches Herakles’ „mythologische Biographie“, die unter anderem auch die Entführung und Rückgabe des Kerberos aufweist, kennt, traut ihm eine derartige Aktion zu. Diese gastliche Aufnahme wird im Prolog (Eur. Alk. 65–69) von Apollon bereits vorweggenommen, sodass für das Theaterpublikum von Anfang an klar ist, „that hospitality will prove an important motivational factor in the upcoming events“ (MARKANTONATOS, ‚Alcestis‘, 99). In Eur. Alk. 553–560 wird das System der Gastfreundschaft von Admetos selbst explizit beschrieben. Vgl. PASSOW I/2, 1461, s. v. ἱδρύω: „Jmdm seinen Stand, Sitz, Platz, Ort anweisen, ihn placiren […], τινὰ αὖθις εἰς δόμον, zurückführen, dem Hause zurückstellen“; vgl. ferner LSJ,
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umgesetzt werden als dadurch, dass sie – wie vor ihrem Tod – wieder in die vorher eingenommene Position als Herrin des Hauses eingesetzt würde? Herakles erweckt – wohl im Zustand weinseliger Rührseligkeit635 – anfänglich den Anschein, als sei er von der Gastfreundschaft des Admetos in besonderer Weise berührt, weil dieser ihn aufgenommen hatte, obwohl kurz vor seinem Eintreffen dessen Frau gestorben war. Somit bewertet er zunächst das Verhalten des Admetos als Ausdruck ganz außerordentlicher Gastfreundschaft (τίς τοῦδε μᾶλλον Θεσσαλῶν φιλόξενος, Eur. Alk. 858). Am Ende der Dramenhandlung kommt er dann – in etwas nüchternerem Zustand – zu einer anderen Bewertung der Ereignisse. Er erinnert sich daran, dass es für ihn eine sehr beschämende Situation war, vom Diener des Admetos auf sein Fehlverhalten hingewiesen worden zu sein. In unangemessener Weise hatte er ja in einem Haus, in dem die Hausherrin tot aufgebahrt lag, angefangen, bei einem Gelage laut zu singen und zu grölen (vgl. Eur. Alk. 773–834). Somit spricht er dem Admetos vor der Übergabe der wiederbeschafften Alkestis einen schweren Tadel aus (καὶ μέμφομαι μέν, μέμφομαι, παθὼν τάδε; Eur. Alk. 1017). Damit gibt er zu erkennen, dass er sich im Nachhinein durch das Verhalten seines Gastgebers ihm gegenüber als seinem Freund getäuscht sieht. Zusammengenommen mit dem grundsätzlich eher rustikalen Charakter des euripideischen Helden und dem „genius of the true satyric play, wild and brutish to a degree“636, ist es somit durchaus vorstellbar, dass er die ihm von Admetos gewährte χάρις, die mit einer Unwahrheit verbunden war, in Form einer Gegengabe honoriert, die eine Unverschämtheit darstellt, bekommt doch auf diese Weise Admetos am Ende genau das, was er sich selbst vor dem Tod seiner Gattin als Trost-Objekt in Aussicht gestellt hatte.637 So wünscht er sich in Eur. Alk. 348–352: Ein von Künstlerhand geschaffenes Abbild (δέμας) von dir soll auf deinem Lager hingestreckt sein, vor dem ich niedersinke und das ich umarme (περιπτύσσων χέρας), während ich deinen Namen rufe und in den Armen meine geliebte Frau – sie nicht haltend – zu halten glaube (δόξω γυναῖκα καίπερ οὐκ ἔχων ἔχειν). (Übers.: Seeck)
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820, s. v. ἱδρύω: „settle persons in a place“ (beide Angaben mit expliziter Bezugnahme auf Eur. Alk. 841). DREW, Alcestis, Anm. 27, 302, gibt zu bedenken, dass Herakles ziemlich betrunken ist, wenn er erfährt, was sich tatsächlich ereignet hat. Somit sei sein „maudlin sentimentalism“ typisch für „mellow drunkenness. Common-sense, therefore, says that his resolve to bring back Alcestis is the muddled extravagance of a clouded brain.“ DREW, Alcestis, 307. Vgl. STIEBER, Statuary, 79f., die mehrere Bezüge aufzeigt zwischen Admetos’ Ankündigung, nach dem Tod seiner Frau eine ihr nachgebildete Statue in sein Bett legen zu wollen, und seiner zunächst ablehnenden Haltung Herakles gegenüber, das ihm mitgebrachte Gastgeschenk anzunehmen.
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Dieses Alkestis-Surrogat der „gespielten Welt“ findet in der außertheatralen Wirklichkeit seinen Widerhall in antiken Grabstelen, die oftmals als Erinnerungsobjekte die Grabstätten wohlhabender Familien schmückten.638 Dass der verwitwete König am Ende wohl nicht seine wiederbelebte Frau, sondern nur die Statue,639 die er von ihr hat anfertigen lassen, in Händen hält, lässt sich aus den Stichwortwiederholungen zwischen Admetos’ Wunsch in Eur. Alk. 348–352 und dem Ende des Stückes bei der Übergabe des Geschenkes erschließen: – „Abbild“ (δέμας) aus Eur. Alk. 348 in Eur. Alk. 1063, wenn Admetos davon spricht, dass das Geschenk dem Abbild seiner Frau gleicht (καὶ προσήϊξαι δέμας). – „halten“ (οὐκ ἔχων ἔχειν) aus Eur. Alk 352, wenn Herakles und Admetos in Eur. Alk. 1119 darüber sprechen, dass das Geschenk gehalten werden muss (ἔχεις; ἔχω, ναί), was die Vorstellung evoziert, dass die Gegengabe des Herakles umfällt, wenn sie nicht von Admetos gestützt wird. – „glauben“ (δόξω) aus Eur. Alk. 352, wenn Admetos in Eur. Alk. 1066f. beim Anblick des Geschenks glaubt, seine Frau zu sehen (δοκῶ γὰρ αὐτὴν εἰσορῶν γυναῖχ’ ὁρᾶν ἐμήν). Diese Hypothese, dass Admetos nur eine leblose Statue und nicht eine wieder lebendige Ehefrau zurückerhält, wird dadurch untermauert, dass Herakles widersprüchlich und damit wenig glaubwürdig darstellt, wie er zur Alkestis(-Figur), die er dem Admetos bringt, gekommen ist. Wenn er mit der „Frau“ vor Admetos steht, behauptet er, diese als Siegespreis (νικητήρια) in einem öffentlichen Wettkampf gewonnen zu haben, und zwar nicht einmal als Hauptpreis, sondern als bloße Dreingabe zum eigentlichen Hauptgewinn, der aus Rindern bestand (Eur. Alk. 1024–1035). An anderer Stelle spricht er zunächst sowohl prospektiv mit Blick auf seinen Plan (Eur. Alk. 843–849)640 als auch retrospektiv hinsichtlich der geglückten Umsetzung seines Vorhabens (Eur. Alk. 1025–1031 sowie 1140.1142) darüber, dass er die verstorbene Alkestis dem Thanatos in einem Kampf (μάχην συνάψας δαιμόνων τῶι κυρίωι, Eur. Alk. 1140) abringen wolle bzw. abgerungen habe. Seinen eigenen Worten nach findet diese
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Vgl. zu architektonischen Belegen für derartige Grab-Statuen im 6. Jh. v. Chr.: STIEBER, Statuary, 78. „There are strong indications that both Admetus and the audience have a funerary monument in mind as he fantasizes about the portrait statue in his bed“ (a. a. O., 71). Stieber weist darauf hin, dass Admetos schon längere Zeit von dem Entschluss seiner Frau, für ihn sterben zu wollen, wusste. Somit hätte er eine Grab-Statue so rechtzeitig in Auftrag geben können, dass sie unmittelbar nach der Bestattung auf den τύμβος aufgebracht – und von Herakles abmontiert werden konnte (vgl. a .a. O., 76f.). Gegen Douglas L. Drews Deutung, Herakles bringe dem Admetos den aus dem Grab entwendeten Leichnam der Alkestis zurück (DREW, Alcestis, passim), spricht der Umstand, dass in diesem Falle das Handlungsmotiv der Statue, die sich der thessalische König anfertigen lassen will, funktionslos bliebe. Vgl. RIEMER, Alkestis, 119, der von einem „vorausschauenden Botenbericht vom Kampf“ spricht.
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Auseinandersetzung nicht in der Unterwelt, sondern am „ebenerdigen“ Grabmal641 der Alkestis statt, und zwar genau in dem Moment, wenn sich der Gott anschickt, das Blut der bei der Bestattungszeremonie geopferten Tiere auszuschlürfen. Die physischen Vorgänge, die sich bei diesem Kampf zwischen dem Helden und dem Todesgott abgespielt haben, werden als mit den Händen ausgeführter (Ring-)Kampf beschrieben (ἐκ λόχου μάρψας χεροῖν [aus dem Hinterhalt mit den Händen packend; Übers.: Seeck], Eur. Alk. 1142).642 Völlig im Dunkeln bleibt jedoch der physisch-materielle Zustand derjenigen, um die gekämpft wird. Ex negativo ist von Herakles zu erfahren, „er sei kein Totenbeschwörer (ψυχαγωγός, 1128), der die bloße ψυχή herbeigezaubert hat, noch sei Alkestis nur ein Totengeist oder eine leblose Erscheinung aus der Unterwelt (τι φάσμα νερτέρων, 1127).“643 Die „Modell-Zuschauerschaft“ der „Alkestis“ kennt „Die Perser“, die 472 v. Chr. entstanden sind.644 In Aischyl. Pers. 598–680 initiiert Atossa, die Witwe des Darios, zusammen mit den persischen Ältesten am Grab ihres verstorbenen Mannes ein nekromantisches Ritual,645 woraufhin sein Totengeist erscheint. Für diese Erscheinung werden im Drama des Aischylos die Ausdrücke δαίμων646 (Aischyl. Pers. 620 und 641) bzw. ψυχή (Aischyl. Pers. 630) verwendet. Der aus dem Totenreich Aufsteigende spricht dann selbst davon, durch ψυχαγωγοῖς […] γόοις (Aischyl. Pers. 687), also Klagerufe, welche die ψυχή aus der Unterwelt hinausgeleiten, aus dem Totenreich gerufen zu werden.647 Die über dem Grab des Dareios erscheinende ψυχή kehrt nach ihrer Befragung wieder in den Hades zurück. Ein ganz ähnlicher Vorgang wird in
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Vgl. VERBANCK-PIÉRARD, Round Trip, 165: „This athletic wrestling does not take place in Hades but near the grave of Alkestis and there is no katabasis here.“ Vgl. SEECK, Euripides, 169: „Bemerkenswert ist, daß Herakles den Ringkampf mit dem Tod in seiner Wunschvorstellung ausführlicher ausmalt als nach der Tat, wo er nur sehr knapp in zwei Versen darauf eingeht.“ SCHLATTER, Tod, 229. – Vgl. STIEBER, Statuary, 88: „It is true that spirits of the dead can be raised at the tomb, as is the case with the ghost of Darius at A. Persians 619–842, but only spirits of the dead, not the dead, themselves, and Heracles is no necromancer.“ Vgl. BREMMER, Afterlife, 72. Vgl. zum Ritual: BREMMER, Afterlife, 72: After Atossa „has brought garlands of flowers and the libations of milk, honey, water, unmixed wine and oil (611–18), the elders invoke Earth, Hermes and Hades to send up his soul (629–30). When the king appears, he mentions the beating of the ground (683) and especially stresses the effect of the ‚necromantic cries‘ (687), in obedience of which he has come up (697), but which he abruptly curtails when he has had enough of it (705).“ Als μάκαιρα δαίμων bezeichnet in Eur. Alk. 1003 der Chor die verstorbene Alkestis nach ihrer Bestattung. Vgl. zu dieser Totenbeschwörung: SCHLATTER, Tod, 14–39; BURKERT, ΓΟΗΣ, 44. Eine ähnliche Szene findet sich in einem „Fragment aus den Psychagogoi des […] Aischylos, (frg. 273 A), wo ein Chor von Totenbeschwörern Odysseus instruiert, wie er durch ein rituelles Tieropfer Kontakt mit den chthonischen Mächten herstellen soll, die ihm die Schatten aus dem Hades heraufschicken“ (MÄNNLEIN-ROBERT, Mythos, Anm. 25, 39).
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften einem ins 5. Jh. v. Chr. zu datierenden Empedokles-Fragment648 (B 111) angesprochen, in dem der Vorsokratiker seinem Schüler Pausanias vorhersagt, er werde φάρμακα bzw. deren Anwendung kennenlernen. Dieses Wissen werde ihn – neben anderem – zu Folgendem befähigen: ἄξεις δ’ ἐξ Ἀίδαο καταφθιμένου μένος ἀνδρός (Du wirst aber aus dem Hades die Kraft eines toten Mannes führen). In der Forschung zu dieser Stelle wird entweder die Hypothese vertreten, hier werde auf καταβάσεις Bezug genommen,649 oder es wird eine Verbindung zwischen Empedokles’ Vorhersage an Pausanias und der ihm selbst zugeschriebenen Behandlung einer nicht mehr atmenden Frau gezogen.650 Eine Interpretation dieser Verszeile als Beleg für eine Totenbeschwörung, für deren Gelingen die richtigen Formeln gesprochen werden müssen, liegt jedoch näher. Für diese Interpretation spricht, dass das griechische Wort φάρμακον polysem ist und nicht nur in der Bedeutung „Heilmittel, Arzneimittel“, sondern auch im Sinne von „Zauberformeln, Beschwörungen, Behexungen“651 verwendet werden kann. Darüber hinaus spricht Empedokles vom μένος eines toten Mannes, das aus dem Hades geführt wird. Da das „Wort ψυχή […] bei Empedokles nicht vor[kommt]“652 und μένος somit im Sinne des „Seelen-Anteils“ eines Verstorbenen, der nach dem Tod in den Hades eingeht, verstanden werden kann, ergibt sich eine in sich kohärente Lesart der Schlusszeile des Fragmentes B 111: Der gesamte Vorgang ist – ähnlich wie die Totenbeschwörung des Dareios – als ψυχαγωγία konzeptualisiert. „If Empedocles were claiming to bring a body back to life, however, he would
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Vgl. zur Diskussion über die Echtheit dieses Fragments und seine Positionierung innerhalb der Lehrgedichte des Empedokles: FLASHAR, Empedokles, passim. Vgl. KINGSLEY, Philosophy, 225f.: „The precise wording chosen here by Empedocles quite clearly indicates that what he had in mind was not just some kind of necromantic invocation but an actual descent to the underworld to fetch back the dead man’s vital soul – in exactly the same way as does a shaman.“ Vgl. GREGORY, Presocratics, 176: „[O]ne might read the final line as an allusion to resuscitation or aiding recovery from some near-death experience where someone’s life force might be thought, poetically, to have departed for Hades. […] In favour of that view one might argue that this fragment begins with something medical and now ends with something medical and that matches the cyclical patterns and themes that can be found elsewhere in Empedocles’ poetry. Also in favour of this reading is that Empedocles is supposed to have written extensively on medicine, although those works are now lost.“– Gegen die Gleichsetzung der dem Empedokles zugeschriebenen besonderen Kompetenz, zwischen einem scheinbaren und einem „wirklichen“ Tod unterscheiden zu können (siehe dazu die Ausführungen im Abschnitt 10.1 in der vorliegenden Untersuchung), und der Behauptung, er könne dem Pausanias beibringen, den μένος eines toten Mannes aus dem Hades hochzuführen, spricht die Tatsache, dass es sich um zwei völlig verschiedene Phänomene handelt: im ersten Fall um eine medizinische Diagnose, im zweiten um eine nekromantische Praktik. PASSOW, II/2, 2213, s. v. φάρμακον. FARAONE, Empedocles, 14f., weist darauf hin, dass die aus dem 5. Jh. v. Chr. stammenden „recently published Getty hexameters which use the word pharmaka several times to refer to hexametrical incantations that will protect a group of houses or a city from danger“, ein starkes Argument dafür bieten, die von Empedokles im Fragment B 111 angeführten φάρμακα nicht als „herbal ,drugs‘ or ,remedies‘ for disease“ zu verstehen. FLASHAR, Empedokles, 226.
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have boasted that Pausanias will learn how to put the strength or breath of a man back into a corpse, but there is no mention of a body in the passage.”653
Dem Theaterpublikum der „Alkestis“ wird durch die auf der Bühne agierenden Schauspieler654 als das Resultat der gewaltsamen Auseinandersetzung des Herakles mit Thanatos bzw. als der im öffentlichen Wettkampf gewonnene Preis eine Art „Körper“ in Form eines dreidimensionalen Wesens präsentiert, das zwar keinen Laut von sich gibt, aber angefasst und gehalten werden kann655 – und somit offensichtlich keine ψυχή darstellt. Als bereits bestattete Tote müsste Alkestis nämlich bereits den Zustand eines nicht mit Händen greifbaren Schattenwesens eingenommen haben. Insofern erhöht sich die Unglaubwürdigkeit dessen, was Herakles behauptet. Hinzu kommt noch, dass die „Wiederbelebungstechnik“ des Herakles nicht mit dem vereinbart werden kann, was im 5. Jh. v. Chr. von Asklepios bekannt ist. Auf diesen „Totenerwecker par excellence“ wird mehrfach im Drama angespielt. Gleich im zweiten Satz, der auf der Bühne gesprochen wird, fällt sein Name: Apollon bringt seinen Aufenthalt im Hause des Admetos in einen Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes Asklepios, der von Zeus mit einem Blitz getötet worden war (Eur. Alk. 1–7). Allerdings verschweigt Apollon, dass Zeus seinen Sohn deshalb getötet hatte, weil er mit den Totenerweckungen des Asklepios nicht einverstanden war. Auch der Chor verweist in Eur. Alk. 127 darauf, dass es dem Asklepios möglich war, Tote wieder aufstehen zu lassen (δμαθέντας γὰρ ἀνίστη). Eine dritte Anspielung auf Asklepios befindet sich innerhalb eines Chorliedes, in welchem davon die Rede ist, dass Apollon den Söhnen des Asklepios φάρμακα (Eur. Alk. 971) gab, „um den leidbeladenen Menschen zu helfen“656 (Eur. Alk. 972). Dies impliziert, dass auch die Totenerweckungen des Asklepios selbst auf pflanzenheilkundlichem Wissen basieren657 – und somit weder als κατα- und αναβάσεις noch als Kampf mit dem Gott Thanatos konzeptualisiert sind. Den außergewöhnlichen Fähigkeiten des Asklepios steht aber in Euripides’ Drama die allgemeine Überzeugung entgegen, dass Tote eigentlich nicht wiederbelebt werden können. Diese Aussage wird im Laufe der Dramenhandlung von
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FARAONE, Empedocles, Anm. 25, 21. Die theatertechnische Umsetzung dieser Szene stellt sich STIEBER, Statuary, 85, folgendermaßen vor: „An actor could have ‚played‘ the role of the ‚statue‘ or perhaps an actual representation of a statue was dragged or wheeled onto the stage.“ A. a. O., 87, bewertet sie dieses Ende als „bitterly ironic in a darkly humorous way.“ Dass die Alkestis(-Figur) angefasst werden kann, steht für das Theaterpublikum außer Frage, da sich Admetos in Eur. Alk. 1113–1118 zunächst weigert, eine solche Berührung vorzunehmen. Übers.: SEECK, Euripides. Vgl. MARKANTONATOS, ‚Alcestis‘, 42: „the Chorus’ allusion […] highlights the absolute uniqueness of Asclepius’ life-saving medicinal treatments“.
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mehreren Bühnenfiguren getätigt,658 entspricht der empirischen Wirklichkeitserfahrung des Publikums und beeinflusst somit die Wahrnehmung und Deutung der Handlung ebenso stark wie die Gattungserwartung an ein Satyrspiel. Die Dramenhandlung endet damit, dass sich der gerissene Herakles aus dem Staub macht, ohne dass sein Täuschungsmanöver aufgedeckt wird. Indem er behauptet, dass die zurückgeholte Alkestis aufgrund einer rituellen Anordnung der Götter zunächst drei Tage schweigen müsse (Eur. Alk. 1143–1146), verschafft er sich einen zeitlichen Vorsprung, um über alle Berge zu sein, wenn dem Admetos dann spätestens nach drei Tagen aufgeht, von seinem Gast, der sich selbst als Opfer einer Täuschung sieht, böse betrogen worden zu sein.
9.2
Die antike Rezeptionsgeschichte der „Alkestis“ des Euripides
Die Antike kennt den Alkestis-Stoff nicht nur durch die Lektüre des Dramentextes von Euripides und durch den Besuch von Theatervorstellungen, in denen das Schauspiel wiederaufgeführt wird, sondern auch aus einschlägigen mythographischen Schriften, Hypotheseis und intertextuellen Bezugnahmen in Texten unterschiedlichster Gattungen. Diese Zeugnisse, die zusammengenommen eine vielfältige „Alkestis“-Rezeption vom 4. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. belegen, werden im Folgenden in chronologischer Reihenfolge behandelt. In Platons „Symposion“, das wohl als ältestes erhaltenes Zeugnis der „Alkestis“-Rezeption angeführt werden kann,659 wird das Wiederaufleben der an Stelle ihres Mannes gestorbenen Ehefrau als ein „Gehenlassen ihrer ψυχή aus dem Hades“ bezeichnet: ἐξ Ἅιδου ἀνεῖναι πάλιν τὴν ψυχήν (Plat. symp. 179 C). Dieses „Gehenlassen“ vollzieht sich ohne jedes Eingreifen einer Mittlerfigur und wird der Alkestis direkt von den Göttern aus Bewunderung für ihre Tat gewährt. Welche konkrete physische Gestalt ihre ψυχή nach ihrer Rückkehr annimmt, lässt der Text offen. 658
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Vgl. HEATH, Failure, 176: „From the third line of the play through the end, it is clear that in this world everyone must die, and Zeus is there to guarantee this truth. Apollo reveals this defining condition of life (3–4), and the chorus picks it up (112f.) in bewailing inevitable death […]. The chorus later makes an appeal remarkably similar to that of Admetus by wishing it had the power to bring Alcestis to the light from the halls of Hades (455–59). Heracles himself drunkenly admits that all men must die (βροτοῖς ἅπασι κατθανεῖν ὀφείλεται, 782) shortly before learning that it is Alcestis who is dead. Most impressive is the famous choral ode on Necessity (962f.), where the certainty of death is held out as a form of consolation to Admetus. Here the chorus says that it has studied every possible physical and metaphysical body of evidence and it has discovered no means of escaping Necessity and the clutches of Zeus.“ Vgl. ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 108.
9 Euripides’ Drama „Alkestis“ und seine Rezeptionsgeschichte
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Der Mythenkritiker Palaiphatos, dessen Schrift Περὶ ἀπίστων wohl auch ins 4. Jh. v. Chr. zu datieren ist, fasst im Abschnitt 40 den traditionellen AlkestisMythos zunächst in eigenen Worten zusammen, wobei er die Wiederbelebung der Protagonistin folgendermaßen beschreibt: Und wie Herakles, der sie wegen ihrer Frömmigkeit (διὰ τὴν εὐσέβειαν)660 dem Thanatos geraubt (ἀφελόμενος) und aus dem Hades hinaufgeführt hatte (ἀναγαγὼν ἐκ τοῦ Ἅιδου), sie dem Admetos zurückgab (ἀπέδωκεν).
Die Formulierung des Palaiphatos evoziert die Vorstellung, dass sich der Raub der Alkestis im Hades abgespielt habe, was mit einer κατάβασις des Herakles einhergehen würde. Über die Durchführbarkeit einer solchen Aktion stellt der Rationalist keine weiteren Überlegungen an, sondern diskreditiert die traditionelle Überlieferung mit einer skeptischen Bemerkung ganz grundsätzlich als unglaubwürdig: ἐμοὶ δὲ δοκεῖ μηδένα ἀποθανόντα δύνασθαί τινα ἀναβιῶναι ποιῆσαι. Somit lässt Palaiphatos keinen Zweifel daran aufkommen, dass Alkestis in traditioneller Vorstellung als tatsächlich gestorben imaginiert wird und dass das Eingreifen des Herakles als eine Hinaufbegleitung aus der Unterwelt konzeptualisiert ist. Welche Konstitution Alkestis aufweist, wenn sie dem Admetos zurückgegeben wird, bleibt offen. In seiner eigenen rationalisierten Fassung des Mythos skizziert er die Aktion des Herakles allerdings als die Befreiung der Alkestis aus einer Gefangenschaft. Dikaiarchos, dem die ältere der beiden zur euripideischen „Alkestis“ überlieferten Hypotheseis zugeschrieben wird,661 gibt seiner Inhaltsangabe des Euripides-Dramas die Form einer kohärenten Erzählung, die allerdings vollständig im narrativen Modus gehalten ist und somit ihre Leserschaft auf Distanz zum geschilderten Geschehen hält: Apollon hatte von den Moiren erbeten, dass Admetos, wenn er sterben solle, jemanden bereitstellen durfte, der freiwillig für ihn sterben werde, damit er die gleiche Zeit lebe, die er schon gelebt habe. Und so gab sich Alkestis, die Frau des Admetos, hin, weil keiner von den Eltern für das Kind sterben wollte. Nicht lange aber, nachdem sich dieses Unglück ereignet hatte, kam Herakles hinzu und erfuhr von einem Diener, was mit der Alkestis geschehen war. Er machte sich auf zum Grab und bewirkte, dass der Thanatos sich entfernte (Θάνατον ἀποστῆναι ποιήσας), er verhüllte die Frau mit einem Gewand (ἐσθῆτι καλύπτει τὴν γυναῖκα), bat aber den Admetos, diese zu nehmen und zu hüten (λαβόντα τηρεῖν). Denn er sagte, er habe sie in einem Ringkampf gewonnen (πάλης ἆθλον). Als jener das aber nicht wollte, zeigte er die, die jener betrauerte (ἔδειξεν ἣν ἐπένθει).
Aufschlussreich an dieser Inhaltsangabe ist, dass der Erzähler den Herakles am Grab der Alkestis agieren lässt. Nichts deutet auf einen Abstieg des Helden in die 660
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Gemäß ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 109, lässt sich die Wendung διὰ τὴν εὐσέβειαν auch auf Admetos beziehen, sodass auch folgende Übersetzung möglich erscheint: „Herakles raubte sie aus Achtung vor der Gastfreundschaft des Admetos“. Dikaiarchos ist ca. 375 v. Chr. geboren und gilt als Schüler des Aristoteles, vgl. ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 111.
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Unterwelt hin. Seine an diesem Handlungsort ausgeführte Aktion bezeichnet die Erzählstimme als: Θάνατον ἀποστῆναι. Diese Aussage wird später in indirekter Rede von Herakles spezifiziert, wenn dieser von einem „Ringkampf“ (πάλης ἆθλον) spricht. Als das Objekt, um welches gerungen wird, fungiert Alkestis, auf die in diesem Zusammenhang mit τὴν γυναῖκα referiert wird. Ob es sich bei der dem Tod abgerungenen Frau um eine wieder lebendig gemachte Tote oder um ihre sterblichen Überreste handelt, ist nicht eindeutig ersichtlich. Der Erzähler weist einzig darauf hin, dass „die Frau“ mit einem Gewand verhüllt wird. Die Aufforderung des Herakles, dass Admetos diese aufnehmen und hüten möge, lässt ebenfalls offen, ob sich dieser einer lebendigen oder einer toten Frau annehmen solle. Festzuhalten bleibt, dass die Hypothesis des Dikaiarchos dem Drama des Euripides im Hinblick auf die ambige Darstellung des Zustandes, in dem sich die dem Thanatos abgekämpfte Alkestis befindet, in nichts nachsteht. Die zweite überlieferte Hypothesis, die wohl Aristophanes von Byzanz (257–180 v. Chr.) verfasst hat,662 präsentiert die Inhaltsangabe des Dramas in einem Satz: Alkestis, die Tochter des Pelias, die für ihren eigenen Mann zu sterben (ὑπὲρ τοῦ ἰδίου ἀνδρὸς τελευτῆσαι) auf sich genommen hatte, wurde von Herakles gerettet (διασώιζεται), als dieser in Thessalien war, indem er die unterirdischen Götter bezwang (βιασαμένου τοὺς χθονίους θεούς) und die Frau wegnahm (ἀφελομένου τὴν γυναῖκα).
Diese Zusammenfassung des „Alkestis“-plot lässt eher als die ältere Hypothesis darauf schließen, dass die Protagonistin am Ende des Stückes als wieder lebendig imaginiert werden soll, da es andernfalls sehr ungewöhnlich wäre, den Ausdruck διασῴζειν im Zusammenhang mit einer Handlung an einem Leichnam zu verwenden. Darüber hinaus evoziert die Darstellung des Aristophanes von Byzanz die Vorstellung einer Unterweltreise des Herakles, denn es ist nicht von einer Begegnung mit dem Thanatos am Grab, sondern von einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den unterirdischen Göttern die Rede, in welcher es dem Heros dann gelingt, ihnen die Alkestis wegzunehmen. Der im 2. Jh. v. Chr. zu verortende Historiker und Geograph Agatharchides von Knidos663 nennt im 7. Kapitel seiner Schrift „De mari Erythraeo“ innerhalb einer Aufzählung von mythischen Figuren, die nach ihrem Tode wieder aufgestanden sein sollen (τετελευτηκότας πάλιν ἀναστῆναι), auch Alkestis. In Bezug auf diese gibt er an, sie sei von Herakles hinaufgeführt worden (τὴν μὲν ὑφ᾽ Ἡρακλέους ἀναχθεῖσαν). Dass Agatharchides für Herakles’ Aktion das Verb ἀνάγειν verwendet, lässt den Vorgang als einen Wiederaufstieg aus dem Hades
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Vgl. ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 111. Vgl. zur mythenkritischen Haltung des Peripatetikers Agatharchides, aufgrund derer er in die Nähe des Mythenskeptikers Palaiphatos rückt: HAWES, Myth, 84f.
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erscheinen664 – dass in Bezug auf die Tote von einem ἀναστῆναι gesprochen wird, deutet eher auf das Konzept einer ganzkörperlichen physischen Wiedererstehung als auf die bloße Rückkehr der ψυχή hin. In (Ps.-)Apollodoros’ „Bibliotheke“, die innerhalb des Zeitraumes 1. Jh. v. Chr. bis 3. Jh. n. Chr. verfasst worden ist, finden sich am Ende des Abschnittes, in dem der Alkestis-Stoff dargestellt wird (Apollod. 1,9.15), zwei alternative Vorschläge für den Ausgang der Handlung. Zum einen wird angeführt, dass Alkestis nach ihrem Tod durch Kore wieder hinaufgeschickt worden sei: καὶ αὐτὴν πάλιν ἀνέπεμψεν ἡ Κόρη. Zum anderen wird, eingeleitet durch den metasprachlichen Hinweis: ὡς δὲ ἔνιοι λέγουσιν, explizit darauf verwiesen, dass noch eine andere Version des Mythos im Umlauf ist. In dieser „transportiert“ Herakles dem Admetos die Alkestis „hinauf“ (ἀνεκόμισε), und zwar nach einem Kampf mit dem Gott Hades (μαχεσάμενος Ἅιδῃ). Beide Versionen stellen das postmortale Geschehen rund um die Alkestis als „klassische“ ἀνάβασις dar, lassen aber offen, ob die Frau des Admetos in „leiblicher Ganzheitlichkeit“ oder als ψυχή zu ihrem Mann zurückkehrt. In einem Abschnitt, der dem Herakles gewidmet ist, referiert (Ps.-)Apollodoros noch einmal auf die Geschehnisse rund um Alkestis: σεσωκότι τὴν ἀποθανοῦσαν Ἄλκηστιν Ἀδμήτῳ (Apollod. 2,6.2). Das hier verwendete Verb σῴζειν löst eher den frame der physischen Wiederherstellung aus und schwächt damit die Vorstellung einer bloßen Rückkehr der ψυχή ab. Eine eindeutig somatische Vorstellung von der Wiederbelebung der Alkestis vertritt Plutarchos, der in seinem Dialog „Amatorius“ – wohl zu Beginn des 2. Jh.s n. Chr.665 – den Herakles als Arzt konzeptualisiert und die Rettung der Alkestis als Heilung einer bereits Aufgegebenen deutet: λέγεται δὲ καὶ τὴν Ἄλκηστιν ἰατρικὸς ὢν ἀπεγνωσμένην σῶσαι τῷ Ἀδμήτῳ χαριζόμενος (Plut. Amat. 761 Ε). Plutarchos rationalisiert also nicht nur die Aktion des Herakles, sondern stellt darüber hinaus Alkestis nicht als gestorben, sondern als schwer krank dar, sodass der Alkestis-Stoff in groben Zügen mit der empirisch-erfahrbaren Realität vermittelbar erscheint. Am traditionellen mythischen Verständnis hält dann aber wiederum Hyginus fest, dessen Fabulae zu Beginn des 2. Jh.s n. Chr. ebenfalls im Umlauf gewesen sein müssen. Allerdings referiert dieser Mythograph innerhalb von zwei verschiedenen Kapiteln – ähnlich wie (Ps.-)Apollodoros – zwei verschiedene Versionen: Während er in Hyg. fab. 51,3 über Alkestis ausführt, dass Herakles sie von den Unterweltsgöttern zurückgerufen habe (quam postea Hercules ab inferis revocavit), wird sie in Hyg. fab. 251 zusammen mit denjenigen aufgelistet, die mit
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Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass in der Aufzählung auch Protesilaos erwähnt wird, dem von den Unterweltsgöttern zumindest eine kurze Rückkehr ins irdische Dasein gewährt wird. Vgl. zur Debatte um die Abfassungszeit: GÖRGEMANNS, Einführung, 6f.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Erlaubnis der Parzen (licentia Parcarum) aus der Unterwelt zurückgekehrt sind (ab inferis redierunt).666 Die Rezeptionsgeschichte von Euripides’ „Alkestis“ spiegelt somit den Befund wider, der sich nach einem Lesedurchgang durch das Drama ergibt: dass Alkestis als eine „wirklich“ Tote – und nicht etwa als eine wie tot Daliegende imaginiert werden muss. Ob – und wenn ja: wie – sie wiederbelebt worden ist, bleibt offen. Die Belege aus der späteren „Alkestis“-Rezeption, die von einer Wiederbelebung der Gattin des Admetos ausgehen, lassen sich nicht in der Weise harmonisieren, dass sich eine einheitliche Vorstellung des Reanimationsvorganges ergäbe. Der von Euripides ersonnene „Alkestis“-plot und seine Rezeptionsgeschichte verstärken somit die „pagane“ antike Überzeugung, dass ein Auf(er)stehen von Toten unmöglich ist.
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ESCHNER, Gestorben, Bd. 2, 112–127, führt noch weitere Beispiele für die „Alkestis“-Rezeption im Zeitraum 1. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr. an. Als Prätexte für die neutestamentlichen Totenerweckungserzählungen kommen diese allerdings nicht alle in Frage, weil sie entweder nicht auf die Wiederbelebung der Alkestis eingehen oder aufgrund ihrer Abfassungszeit nicht in die Enzyklopädie der Modell-Leserschaft der neutestamentlichen Texte eingeordnet werden können. Vgl. zur „Alkestis“-Rezeption ferner: COOK, Tomb, 152–156.
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Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender
Wie an Euripides’ „Alkestis“ deutlich geworden ist, herrscht in der „paganen“ Antike eine große Skepsis gegenüber der Vorstellung, Tote könnten wiederbelebt werden. So sehr auch der Wunsch nach der Reversibilität des Versterbens von Menschen, die „ihr Leben noch nicht gelebt haben“, zum Ausdruck gebracht wird – der Tod gilt als ein irreversibles Faktum. Das letzte Kapitel im Teil II der vorliegenden Untersuchung greift das Phänomen „Totenerweckung“ nun noch einmal aus einer anderen Perspektive auf. Im Folgenden werden literarische Texte besprochen, die den Sachverhalt von „wie tot Daliegenden“ behandeln. Dass dieses Thema im antiken Schrifttum eine gewisse Virulenz besitzt, hängt mit der – eher medizinischen – Problematik zusammen, den exakten Todeszeitpunkt eines Menschen nicht genau bestimmen zu können. Ärzte konnten allerdings die Diagnose stellen, dass mit dem baldigen Versterben eines kranken Menschen zu rechnen sei. Anzeichen eines nahen Todes sieht die antike Heilkunde in der (später) sog. Facies hippocratica. „Die Deskription der wichtigsten Merkmale des vom herannahenden Tode gezeichneten Antlitzes kursiert noch heute in der Medizin als Facies hippocratica sive abdominalis und weist den modernen Arzt auf den lebensbedrohlichen Zustand des Patienten hin. Im Corpus hippocraticum ist folgende Beschreibung zu finden: ‚Die Nase ist spitz, die Augen hohl, die Schläfen eingefallen, die Ohrläppchen zurückgezogen; die Gesichtshaut ist hart, gespannt und zusammengeschrumpft, die Farbe des ganzen Gesichtes bleich oder schwärzlich.‘ Als sicheres Vorzeichen für den Tod gilt diese Facies jedoch erst nach Ausschluß prognostisch günstiger zu beurteilender, mit Diarrhoe verbundener Erkrankungen, sowie nach Abgrenzung von Schlaflosigkeit und Hungerzustand. Zu diesem Zeichenkomplex hinzutretende Zeichen, wie bläuliche und runzlige Veränderungen des Augenlides, der Lippe oder der Nase, weisen gleichfalls auf den nahen Tod hin.“667
Die Genauigkeit, mit der im Altertum Indizien eines erwartbaren Todes beschrieben werden, steht aber in einem eklatanten Gegensatz zu den Möglichkeiten, den Zeitpunkt des tatsächlich eingetretenen Todes festzulegen. Man ging davon aus, „daß ein Mensch tot sei, wenn Herz und Atmung endgültig stillstünden. Dies war eine banale, uralte menschliche Erfahrung. Ebenso alt war aber sicher auch die Erfahrung, daß über die Endgültigkeit des Funktionsausfalls dieser Organe sich der objektive Beobachter täuschen konnte und es Fälle gab, bei denen, nach vermeintlich endgültigem Stillstand, sich die Funktionen spontan wieder einstellten.“668
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SCHADEL, ΘΑΝΑΤΟΣ, 97f.; Zitat im Zitat: „Prog. 2; L II, 114“ (a. a. O., Anm. 78, 98). EISENMENGER, Feststellung des Todes, 2.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Die eindeutigen physischen Veränderungen am menschlichen Körper, die in der Antike als sichere Kennzeichen des eingetretenen Todes aufgezählt werden,669 stellen sich frühestens 30 bis 60 Minuten nach Todeseintritt ein.670 Das Phänomen der nicht genau klassifizierbaren physischen Konstitution wie tot Daliegender hat insbesondere Eingang gefunden in antike Traditionen und Erzählungen von sog. Scheintotenerweckungen,671 die im Folgenden näher untersucht werden sollen. 669
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Vgl. dazu: SCHADEL, ΘΑΝΑΤΟΣ, 96: „Hierzu gehören die Beobachtungen, daß die Nägel schwarz werden, die Fußzehen kalt, schwarz und eingezogen sind, daß der rechte Hoden kalt und zurückgezogen sein soll. Andere Zeichen sind zu verstehen durch den stattgefundenen Austrocknungsprozeß. Diese Zeichen betreffen besonders die Gesichtsanteile, Lippen, Zunge und Augen. Über die Lippen wird gesagt, daß sie nach dem Tode bleich, kalt, herunterhängend und eingestülpt sind. Die Zunge wird beschrieben als bleich, rauh und rissig, während sie vorher gut gefärbt und eben genannt wird. Das Auge verliert seinen Glanz und wird starr (siccus et non splendens); das Schwarze des Auges ist verborgen und mehr Augenweiß erscheint als gewöhnlich [...]. Der Gesichtsausdruck schließlich wird beschrieben als erschreckend und gequält. [...] Ein Todeszeichen ist es, wenn die Ohren kalt, zusammengeschrumpft und durchscheinend sind.“ Vgl. PATZELT, Hirntodproblematik, 17f.: „Die klassische Definition des Todes lautet: ‚Irreversibler Stillstand von Atmung und Kreislauf‘. Demzufolge ist die Definition des Leichnams: ‚Menschliche Leiche ist der Körper eines Menschen, der keine Lebenszeichen aufweist‘. Als Lebenszeichen gelten also - weil auch leicht überprüfbar - die vorhandene Atmung, die Kreislauftätigkeit und die Auslösbarkeit von Reflexen. Die Herztätigkeit kann (z. B. beim Ersticken) die Atmung längere Zeit überdauern, der umgekehrte Fall gilt nur äußerst kurzzeitig. Der Tod gilt als sicher eingetreten, wenn mindestens ein sog. sicheres Todeszeichen grobsichtig erkennbar wird (Totenflecke etwa 30 – 60 Minuten nach Todeseintritt, Totenstarre 3 Stunden nach Todeseintritt, selten früher, häufig später). Apparativ (durch Einsatz von EKG, EEG) kann der Tod auch vor dem Auftreten der sicheren Todeszeichen verläßlich diagnostiziert werden. Der Zeitpunkt des Ausfalles von Atmung und Kreislauf wird auch ‚klinischer Tod‘ genannt. Die Totenflecke [sic] entstehen durch eine Entmischung der Blutbestandteile analog der Blutsenkungsreaktion, die Totenstarre ist Folge des Fehlens von ATP, dem als Energieträger auch eine sog. Weichmacherfunktion der Muskulatur zukommt. Natürlich beginnt sich das Blut sofort nach Zirkulationsstillstand zu entmischen, optisch erkennbar wird der Zustand erst mit der großsichtigen Ausprägung der Totenflecke. Natürlich werden einige Muskelfasern in Abhängigkeit von ihren Energiereserven sofort nach Zirkulationsstillstand totenstarr, durch Gliedmaßenbewegung erkennbar wird die Starre erst, wenn eine größere Anzahl Muskelfasern starr geworden ist. Der erfahrene Leichenschauarzt diagnostiziert das Vorhandensein eines sicheren Todeszeichens wesentlich früher als der ärztliche Berufsanfänger.“ Der Begriff „Scheintod“ wird in der vorliegenden Untersuchung als Terminus zur Beschreibung des Zustandes einer wie tot daliegenden Person im Kontext des antiken Schrifttums vermieden. Weder im Griechischen noch im Lateinischen gibt es ein Substantiv, das innerhalb der antiken Sprachgemeinschaft dieselben scripts und frames ausgelöst hätte, wie sie im deutschen Sprachgebrauch mit dem Ausdruck „Scheintod“ verknüpft werden können. Aus sprachgeschichtlicher Perspektive betrachtet, handelt es sich bei dem Wort „Scheintod“ um einen Neologismus, der „im ausgehenden 18. Jh. in das deutsche Vokabular“ (RÜVE/KÄSTNER, Art. Scheintod, 103) einging und eng mit dem „philosophische[n] Verständnis von Leben [… zusammenhing], auf welchem die Medizin um 1800
10 Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender
10.1
201
Empedokles und die Nicht-Atmende
Der genaue Wortlaut der ältesten uns bekannten Schrift, die von der Behandlung einer wie tot daliegenden Frau berichtet, welche Empedokles von Akragas vorgenommen haben soll, ist nicht mehr rekonstruierbar. Die Quelle mit dem Titel Περὶ νόσων,672 die Herakleides Pontikos im 4. Jh. v. Chr. verfasst hat, ist nur in Form von Fragmenten oder Anspielungen bei Plinius, Galenos, Diogenes Laertius oder Origines überliefert.673 Den ausführlichsten Einblick in dieses verschollene Dokument gibt Diogenes Laertius im 3. Jh. n. Chr. in seinen Vitae philosophorum. Dieses Kompendium enthält unter anderem eine „Sammlung unterschiedlichster antiker Empedoklestraditionen“674. Im Abschnitt Diog. Laert. 8,60–61 finden sich (möglicherweise wörtlich übernommene) Passagen aus Herakleides’ Beschreibung der Behandlung einer namenlos bleibenden675 Frau durch Empedokles:
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673
674 675
basierte“ (ebd.). Gleichzeitig wurde dieser Ausdruck mit der weit verbreiteten Angst vor dem Lebendigbegrabenwerden (vgl. a. a. O., 104f.) konnotiert. In der Theologie der Aufklärung wurde das Wort „Scheintod“ zum label von Erklärungsansätzen, welche die Phänomene „Auferstehung Jesu Christi“ oder „Wiederbelebung des Lazarus“ mit den Erfahrungen der empirischen Wirklichkeit zu vermitteln suchten. Im Verlauf des 19. Jh.s wurde das Konzept des „Scheintodes“ zudem „zum Volksaberglauben umgedeutet“ (a. a. O., 106). Ende des 19. Jh.s nahm sich die Psychoanalyse der „Angst vor dem Scheintod“ als einer „neurotischen Zwangsstörung“ (ebd.) an. Um eine Vermischung dieser neuzeitlichen Konzepte mit antiken Vorstellungen vom „Wie-tot-Daliegen“ zu vermeiden, werden im Folgenden antike quellsprachliche Bezeichnungen bzw. deren wörtliche deutsche Übersetzungen gegenüber dem Ausdruck „Scheintod“ bevorzugt. Diese Schrift kursiert auch unter den Titeln: Αἰτίαι περὶ νόσων (Diog. Laert. 5,87) und Περὶ τῆς ἄπνου (Diog. Laert. 1,12); vgl. VAN DER EIJK, Woman, 239; GOTTSCHALK, Heraclides, 13–15. Der Hinweis von MOORE, Names, Anm. 41, 15, dass im Nachhinein nicht mehr feststellbar ist, ob Diogenes Laertius, Origines, Galenos und Plinius wirklich auf den vollständigen Text des Herakleides Pontikos oder nur auf „very short excerpts or paraphrases“ zurückgegriffen haben, ist ernst zu nehmen. Aus den vorliegenden Quellen lässt sich eher die Rezeptionsgeschichte der aus dem 4. Jh. v. Chr. stammenden Schrift, nicht aber ihr ursprünglicher Wortlaut rekonstruieren. Vgl. zu den einzelnen Quellen, die eine Vorstellung davon ermöglichen, was Herakleides Pontikos geschrieben haben könnte: GOTTSCHALK, Heraclides, 13–36; KOLLMANN, Jesus, 93f. KOLLMANN, Jesus, 92. Möglicherweise ist diese Frau identisch mit der Pantheia von Akragas, wie ein ebenfalls von Diogenes Laertius überliefertes Hermippus-Fragment (Diog. Laert. 8,69) nahelegt: Ἕρμιππος δέ φησι Πάνθειάν τινα Ἀκραγαντίνην ἀπηλπισμένην ὑπὸ τῶν ἰατρῶν θεραπεῦσαι αὐτὸν (Hermippus aber sagt, dass er [=Empedokles] eine gewisse Pantheia von Akragas geheilt habe, die von den Ärzten aufgegeben worden war); vgl. KOLLMANN, Jesus, Anm. 13, 93. VAN DER EIJK, Woman, Anm. 4, 238, hält es nicht für zwingend notwendig, beide Frauen miteinander zu identifizieren.
202
Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften Herakleides sagt aber in seiner [Schrift] Περὶ νόσων, dass er [= Empedokles] auch Pausanias anleitete (ὑφηγήσασθαι) in Bezug auf die Angelegenheit mit der Nicht-Atmenden (τὰ περὶ τὴν ἄπνουν) […]. Herakleides sagt, dass die nicht atmende Frau (τὴν γοῦν ἄπνουν) etwas Derartiges sei, dass er [= Empedokles] dreißig Tage ihren nicht atmenden und keinen Pulsschlag aufweisenden Körper beobachtete (ὡς τριάκοντα ἡμέρας συντηρεῖν ἄπνουν καὶ ἄσφυκτον τὸ σῶμα): weshalb er [=Herakleides] auch sagte, dass er [=Empedokles] ein Arzt und Mantiker (καὶ ἰητρὸν καὶ μάντιν) sei […].
Festzuhalten ist, dass Herakleides das Verhältnis zwischen Empedokles und der Frau als eine Arzt-Patientin-Relation darstellt. Aufgrund der Tatsache, dass der gesamte Vorfall innerhalb einer Schrift, die einen medizinischen Titel trägt, abgehandelt wird, liegt es nahe, die nicht atmende Frau als eine Kranke zu konzeptualisieren.676 Dass sie geradezu einen „medizinischen Fall“ darstellt, ergibt sich aus dem Umstand, dass Empedokles als der Lehrer des Pausanias677 diesen in Bezug auf die Nicht-Atmende anleitet (ὑφηγήσασθαι). Von einer Therapie des Empedokles im eigentlichen Sinne wird dann aber nichts berichtet. Das Verbum συντηρεῖν vermittelt eher den Eindruck, dass die Frau vom Arzt über den Zeitraum von dreißig Tagen bloß beobachtet wird,678 wobei er dann konstatiert, dass sie nicht atmet und dass ihr Körper keinen Pulsschlag aufweist. Möglicherweise soll anschließend Herakleides’ Feststellung, Empedokles sei Arzt und Mantiker, als Erklärung für sein Verhalten der Frau gegenüber dienen. Während das rein abwartende Verhalten für einen Arzt, von dem man erwarten sollte, dass er gewisse therapeutische Maßnahmen an der Patientin vollzieht, eher ungewöhnlich ist, überrascht es nicht für einen Mantiker, der den Lauf der Dinge abwarten kann, da er bereits über ihren Ausgang weiß. Zu dieser Charakterisierung des Empedokles als ἰητρός und μάντις passt eine weitere von Diogenes Laertius angeführte Quelle: eine Aussage des Empedokles über sich selbst, die in Diog. Laert. 8,62 als Zitat aus einem Empedokles-Gedicht wiedergegeben wird: οἱ μὲν μαντοσυνέων κεχρημένοι, οἱ δ᾽ ἐπὶ νούσων / παντοίων ἐπύθοντο κλύειν εὐηκέα βάξιν (die einen, die nach Orakeln verlangen, die anderen aber erkundigen sich nach allen Krankheiten, um ein heilendes Wort zu hören).679 Noch ein weiteres Mal rekurriert Diogenes Laertius in Diog. Laert. 8,67 auf Herakleides’ Darstellung dessen, was sich rund um die nicht mehr atmende Frau 676
677 678 679
Vgl. VAN DER EIJK, Woman, 239, der mit Blick auf den einschlägigen Titel der Schrift (im Anschluss an LONIE, Theory, 135) die These vertritt „that the story of the woman should be seen within the context of Heraclides’ medical and physiological interests“. Damit spricht sich van der Eijk dagegen aus, das geschilderte Ereignis als „,near death‘ experience“ (a. a. O., 238) oder als Beleg für eine „dualistic conception of the relationship between body and soul“ (a. a. O., 239) zu verstehen. – Vgl. zu dieser „Krankengeschichte“ auch: WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 583. Gemäß Diog. Laert. 8,61 war Pausanias selbst auch Arzt (Παυσανίην ἰητρόν). Vgl. VAN DER EIJK, Woman, Anm. 3, 238. Siehe zu der Frage, warum das in Diog. Laert. 8,59 überlieferte sog. Fragment B 111 nicht in einen Zusammenhang mit dem Fall der Nicht-Atmenden gebracht werden sollte, Anm. 651, 192, in der vorliegenden Untersuchung.
10 Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender
203
ereignet hat (Ἡρακλείδης μὲν γὰρ τὰ περὶ τῆς ἄπνου διηγησάμενος). In diesem Zusammenhang hebt er hervor, dass durch die Heilung der Frau Empedokles’ Ansehen erhöht wurde:680 ὡς ἐδοξάσθη Ἐμπεδοκλῆς (wie Empedokles gerühmt worden war, ebd.); außerdem schildert er das Ende der Behandlung: ἀποστείλας τὴν νεκρὰν ἄνθρωπον ζῶσαν (nachdem er die tote Frau lebendig weggeschickt hatte; Diog. Laert. 8,67). Bemerkenswert ist, dass die Genesene, die in den vorherigen Belegen immer als die Nicht-Atmende apostrophiert worden war, nun mit den Worten τὴν νεκρὰν ἄνθρωπον ζῶσαν als zunächst tote, dann aber lebendige Frau bezeichnet wird. Möglicherweise beruht diese von den bisherigen Beschreibungen der Frau abweichende neue Charakterisierung darauf, dass Diogenes Laertius an dieser Stelle nicht mehr aus Herakleides’ Schrift zitiert, sondern seine eigene Perspektive auf den Sachverhalt zum Ausdruck bringt, die Empedokles nicht als Heiler, sondern als Totenerwecker erscheinen lässt. Eine ähnliche Sicht auf Empedokles’ Handeln an der Frau wie die, die sich bei Diogenes Laertius abzeichnet, hat die Lektüre der Schrift von Herakleides Pontikos im 3. Jh. n. Chr. auch bei Origines ausgelöst. Im Kontext der Rede von den Zweifeln, welche die Ungläubigen an der Auferstehung Jesu Christi äußern, verweist er in Or.Cels. 2,16 zum einen darauf, dass Platon von Er erzählt habe, dass dieser nach zwölf Tagen vom Scheiterhaufen aufgestanden sei (ἐκ τῆς πυρᾶς ἐγηγέρθαι) und von den Dingen des Hades berichtet habe (ἀπηγγελκέναι τὰ περὶ τῶν ἐν ᾅδου). Dann fährt er fort: ὡς πρὸς ἀπίστους δὲ καὶ τὰ περὶ τῆς παρὰ τῷ Ἡρακλείδῃ ἄπνου οὐ πάντῃ ἔσται εἰς τὸν τόπον ἄχρηστα (insofern wir aber zu Ungläubigen [sprechen], ist an dieser Stelle auch das über die Nicht-Atmende bei Herakleides nicht gänzlich unnütz, ebd.). Wenn Origines erstens den auferstandenen Jesus Christus, zweitens den Er, der sich nach zwölf Tagen vom Scheiterhaufen erhoben hat, und drittens die Nicht-Atmende, über die er keine weiteren Details mitteilt, quasi in einem Atemzug erwähnt, konzeptualisiert er die Frau, von der Herakleides Pontikos berichtet, als eine Tote, die wiederbelebt wird, und nicht als eine Kranke, der Heilung widerfährt. Schließlich wird auch für Jesus Christus und Er vorausgesetzt, dass beide den Tod und nicht nur eine Krankheit überwunden haben. Festzuhalten bleibt darüber hinaus, dass Origines den „Fall“ der Nicht-Atmenden nicht mit Empedokles als demjenigen, der ihren Zustand korrekt gedeutet, sondern mit Herakleides Pontikos als demjenigen, der die Erinnerung an diesen „Fall“ bewahrt hat, in Verbindung bringt. Die Beschäftigung mit Herakleides Pontikos’ Περὶ νόσων aktiviert in Bezug auf die Nicht-Atmende beim griechischen Arzt Galenos aus Pergamon (129 bis ca. 216 n. Chr.)681 den medizinischen frame: ὑστερικαὶ γυναῖκες.682 In seiner 680
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Empedokles’ Apotheose, die anschließend geschildert wird, kann als direkte Konsequenz der Behandlung der Frau verstanden werden, vgl. MOORE, Names, 11. Vgl. zu einer ersten Orientierung über diesen bedeutenden antiken Arzt und Philosophen: NUTTON, Art. Galenos, DNP 4, passim. Vgl. zu Galenos’ Verständnis dieses antiken Krankheits-Konzeptes, das aus heutiger Perspektive als ein „gynäkologisches“ Phänomen bezeichnet werden könnte: KING, Woman,
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Schrift De locis affectis verwendet er zur Schilderung des Zustandes einer unter dieses label fallenden Frau in 6,5.2 nahezu dieselbe Terminologie wie Herakleides Pontikos: ἄσφυκτος (ohne Pulsschlag) und μόγις ἀναπνεούσα (kaum atmend). Dann geht er in 6,5.3 explizit auf τὸ τοῦ Ποντικοῦ Ἡρακλείδου γεγραμμένον βιβλίον ein und referiert zunächst den Inhalt eben der Passage, die sich auch bei Diogenes Laertius findet: λέγεται γὰρ ἄπνους τε καὶ ἄσφυκτος ἐκείνη ἡ ἄνθρωπος γεγονέναι (Denn über die Frau wird gesagt, dass sie ohne Atmen und ohne Puls gewesen sei). Auf diese Zustandsbeschreibung folgt in Galenos’ Rekurs auf Herakleides’ Schrift683 eine Aussage, die darauf schließen lässt, dass an dieser Frau ärztliche Untersuchungen vorgenommen worden sind: Im Unterschied zu einer Toten habe diese Frau nämlich noch eine geringe Hitze in der Körpermitte aufgewiesen (βραχεῖαν ἔχειν θερμότητα κατὰ τὰ μέσα μέρη τοῦ σώματος, ebd.). Galenos verweist dann noch darauf, dass Herakleides Pontikos berichtet, von den anwesenden Ärzten sei eine Untersuchung angestellt worden, ob die Frau bereits gestorben sei (καὶ ζήτησιν ἔφη γεγονέναι τοῖς παροῦσιν ἰατροῖς, εἰ μήπω τέθνηκεν). Somit wird aus Galenos’ Referat der von Herakleides Pontikos verfassten Schrift deutlich, dass der griechische Arzt das darin geschilderte Ereignis rund um die Nicht-Atmende als ein Beispiel für den besonderen medizinischen Sachverstand einiger Ärzte, nicht aber als ein exemplum für eine Totenerweckung interpretiert. Auch Galenos nennt, ähnlich wie Origines, an dieser Stelle nicht Empedokles als denjenigen, auf den die richtige Diagnose zurückgeht. Auf die von ihm mit ἄπνους betitelte Schrift verweist Galenos ein weiteres Mal in De difficulte respirationis 1,8. Hier erläutert er, dass an bestimmten Atemproblemen leidende Patientinnen und Patienten – wie das z. B. auch bei der von Herakleides Pontikos beschriebenen Frau der Fall sei –, den Anschein erweckten, bereits tot zu sein: ὥστε καὶ τισιν ἤδη τελέως ἔδοξεν ἀπολωλέναι. Auch an dieser Stelle geht er nicht auf Empedokles als den für die Nicht-Atmende zuständigen Arzt ein. Ungefähr hundert Jahre früher als Galenos nimmt auch Plinius in seiner „Naturgeschichte“ (Plin. nat. 7,53.175) kurz Bezug auf die ἄπνους aus Herakleides Pontikos’ Schrift, ohne Empedokles zu erwähnen:
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207: „Hysterika looks as though it should mean ‚hysterics‘, but we need to examine the term more closely. In his commentary on the Aphorisms, Galen noted the difficulties of translating hysterika (K 17b.824–5). It could refer to all diseases of the womb, or only to a particular condition called hysterikê pnix (best translated as ‚suffocation of the womb‘) described by a number of post-Hippocratic writers, or to problems with the afterbirth, also known as ta hystera. He favours setting the aphorism in the context of hysterikê pnix, for the following reasons. First, hysterika cannot refer to the afterbirth, because hystera und hysterika are not the same word. Secondly, it cannot refer to all diseases of the womb, because Hippocrates says that it is helped by sneezing. Clearly, not all diseases of the womb are helped by sneezing and, since Hippocrates cannot be wrong, Galen concludes that the passage must refer to hysterikê pnix.“ – Vgl. ferner WEISSENRIEDER, Images, 57–64. Gemäß Galenos’ De locis affectis 6,5.3 lautet der Titel der Schrift: ἄπνους.
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Das Geschlecht der Frauen scheint diesem Übel besonders ausgesetzt durch die Umdrehung der Gebärmutter; wenn diese gerade gerichtet wird, wird der Atem wiederhergestellt (spiritus restituitur). Hierher geht auch jene bei den Griechen berühmte Schrift des Herakleides über die für sieben Tage atemlose Frau, die ins Leben zurückgerufen wurde (septem diebus feminae exanimis ad vitam revocatae).
Plinius konzeptualisiert die Nicht-Atmende als Kranke, bringt aber durch die Formulierung ad vitam revocatae zum Ausdruck, dass die Frau so lange, bis ihr Atem wiederhergestellt wird (spiritus restituitur), den Anschein erweckt, ins Leben zurückgerufen werden zu müssen, also: tot zu sein. Wenn Plinius auf den Fall der femina exanimis im Kontext einer Passage eingeht, die unter dem Motto steht, dass „beim Menschen nicht einmal dem Tod geglaubt werden darf“ (uti de homine morti quidem debeat credi; Plin. nat. 7,53.174), bestätigt dies den Eindruck, nicht die Krankheit der Frau an sich, sondern die nicht eindeutige Bestimmbarkeit ihres Zustandes684 stehe im Fokus seines Interesses. Somit lässt sich in Bezug auf die antike Enzyklopädie hinsichtlich des Phänomens von wie tot Daliegenden festhalten: Wie tot darniederliegende Menschen werden nicht in jedem Fall als (irreversibel) gestorben, sondern auch als krank und potentiell heilbar konzeptualisiert. In der kollektiven Erinnerung wird der Fall der Nicht-Atmenden stärker mit Herakleides Pontikos, dem Tradenten, und weniger mit Empedokles, dem vermeintlichen Experten für die Unterscheidung von wie tot und tot Darniederliegenden, in Verbindung gebracht, womit sich der Fokus vom Arzt auf die Patientin verschiebt.
10.2
Romane mit „Scheintoten“-Phänomenen
Seit dem 1. Jh. n. Chr. ist im antiken Literaturbetrieb – gleichzeitig zum Aufkommen frühchristlicher Totenerweckungserzählungen – mit der neu entstehenden Gattung des Romans ein starkes Interesse an ambigen Zuständen zwischen Leben und Tod zu verzeichnen, das sich insbesondere im Erzählmotiv von der (nur) scheinbar toten und reglos daliegenden Heldin des antiken Romans manifestiert. Diese findet ganz ohne Hilfe eines kompetenten Arztes oder Mantikers wieder ins Leben zurück.685
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Die Konstitution eines gewissen Hermotimus beschreibt Plinius in diesem Kontext mit den Worten corpore interim semianimi (Plin. nat. 7,53.174), über den Zustand eines gewissen Corfidius schreibt er ut videretur exspirasse bzw. qui videbatur exstinctus (a. a. O., 7,53.177). Gemäß CUEVA/BYRNE, Introduction, 1, lässt sich der Zeitraum, in dem antike Romane produziert werden, „roughly from first to the fifth or sixth century AD“ umreißen. Plakativ zusammengefasst, basiert der für diese Gattung typische plot auf: „boy meets girl then loses girl“ (a. a. O., 2).
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Wenn die altphilologische Forschung den „Scheintod der Heldin“ als konstitutives Gattungsmerkmal686 antiker Romane anführt, wird dieses literarische Motiv zumeist sehr weit gefasst.687 Man ordnet dieser Kategorie nicht nur Vorfälle innerhalb der jeweiligen erzählten Welten zu, in denen die Erzählstimme und/oder die anderen Erzählfiguren in der physischen Erscheinungsform der wie tot daliegenden Protagonistin fälschlicherweise den tatsächlich eingetretenen Tod erkennen. Auch mit Theaterrequisiten vorgetäuschte Hinrichtungen, Verwechslungen der vermeintlich getöteten Heldin mit wirklich gestorbenen anderen Frauen und irrigerweise in die Welt gesetzte Todesmeldungen688 sowie nach der Vertauschung von todbringendem Gift mit Schlafmitteln gescheiterte Suizide689 werden unter diese Kategorie subsumiert. An Charitons Roman „Kallirrhoe“ lässt sich das literarische Motiv der wie tot daliegenden Heldin gut veranschaulichen. Den Entstehungszeitraum des Textes setzt die altphilologische Forschung mittlerweile aufgrund jüngerer Papyrusfunde690 „zwischen 50 v. Chr. und 150 n. Chr.“691 an. Allerdings lässt die Vagheit dieser Datierung keine Festlegung zu, ob die einschlägigen Passagen in Charitons Werk, die davon handeln, dass Kallirhoe wie tot daliegt, als Prä- oder 686
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690 691
Nach WEHRLI, Romanliteratur, 143, gehören das literarische Motiv des ‚Scheintodes‘ und die Tradition von der Nicht-Atmenden „[d]em gleichen Bereich“ an. ANDERSON, Chariton, 13, zufolge gehört das Motiv „apparent death“ zu den „standard formulations for the ingredients of the genre“. „Rohde was [1876] the first to identify the presence of the Scheintod motif“ (GLOVER, Dead, 285, mit Verweis auf ROHDE, Roman, Anm. 1, 287, wo die Rede ist von der „bei den Romanschreibern so beliebten Erfindung des Begräbnisses von Scheintoten“; vgl. auch KERÉNYI, Romanliteratur, 24–43). Zu den antiken Romanen, in denen die Forschung das „Scheintodmotiv“ aktualisiert sieht, zählen Charitons „Kallirhoe“, Xenophon von Ephesos’ Ἐφεσιακά (oder „Habrokomes und Antheia“), Achilleus Tatios’ „Leukippe und Kleitophon“, die Historia Apollonii regis Tyri (unbekannter Verfasser) und Iamblichos’ nur fragmentarisch erhaltene „Babylonische Geschichten“. Zu weiterführender Literatur siehe: KORTEKAAS, Commentary, 346f.; PANAYOTAKIS, Apollonius, 341. – Die vorstehende Auflistung führt die Werke in der wahrscheinlichen Reihenfolge ihrer Entstehung an, vgl. CHEW, Achilles, 65; GLOVER, Dead, Anm. 5, 286; TAGLIABUE, Ephesiaca, 213. Diese drei Variationen des sog. Scheintodes weist Achilleus Tatios’ Roman „Leukippe und Kleitophon“ auf, der „auf das späte 2. Jh. n. Chr.“ (FUSILLO, Art. Achilleus Tatios, 82; vgl. auch CHEW, Achilles, 64) datiert wird. In 3,15–23 wird der Tod der Heldin nur vorgetäuscht, indem das Aufschlitzen ihres Bauches mit Hilfe von Theaterrequisiten „vorgegaukelt“ wird. In 5,7 sieht der Ich-Erzähler von ferne, wie eine Frau auf einem Boot geköpft wird. Er hält den anschließend ins Meer geworfenen verstümmelten Leichnam fälschlich für die sterblichen Überreste der Leukippe. In 7,1–3 ist die Behauptung, Leukippe sei ermordet worden, schlicht eine Lüge. In Xenophons Ἐφεσιακά informiert die Erzählstimme in 3,11 die Leserschaft darüber, dass Anthia, die Romanheldin, kein Gift, sondern ein Schlafmittel trinken wird. Vgl. BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 19–21. BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 14. Vgl. VAN DER HORST, Chariton, 348: „Almost all modern scholars date Chariton between 50 B.C.E. and 150 C.E., most of them preferring the second half of the first century C.E.“
10 Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender
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als Folgetexte frühchristlicher Totenerweckungserzählungen angesehen werden sollten.692 Im Einzelnen stellt sich das „Wie-tot-Daliegen“ der Kallirhoe im gleichnamigen Roman folgendermaßen dar: Wenn Kallirhoe, die sich in Chaireas verliebt hat, gleich zu Beginn der Romanhandlung angsterfüllt darauf wartet zu erfahren, mit wem sie verheiratet werden soll – sie rechnet nicht damit, dass Chaireas ihr Ehemann werden wird –, fällt sie, kurz bevor ihr der Bräutigam zugeführt wird, in Ohnmacht. Dieser Vorgang wird unter Verwendung von Begriffen dargestellt, die auch im Kontext der Rede vom Sterben gebräuchlich sind: ἄφωνος εὐθὺς ἦν καὶ σκότος αὐτῆς τῶν ὀφθαλμῶν κατεχύθη καὶ ὀλίγου δεῖν ἐξέπνευσεν (Sie war sogleich stumm, er wurde ihr schwarz vor Augen und beinahe hätte sie ihren letzten Atemzug getan; „Kallirhoe“ 1,1.14). Dass die Heldin am Anfang des Romangeschehens für kurze Zeit in einen todesähnlichen Zustand fällt, darf nicht überlesen werden, bezeichnet die Erzählstimme doch ihr späteres „Erwachen“ aus einem länger andauernden reglosen Daliegen als δευτέραν ἄλλην […] παλιγγενεσίαν (eine zweite andere Wiedergeburt; „Kallirhoe“ 1,8.1).693 Bald nach ihrer Hochzeit wird sie dann jedoch von ihrem eifersüchtigen Ehemann durch eine im Affekt an ihr verübte Gewalttätigkeit in den Zustand der absoluten Bewegungslosigkeit versetzt („Kallirhoe“ 1,4.12–1,5.1): 1,4.12 Nachdem also sein Fuß zielsicher in Richtung ihres Zwerchfells in Bewegung gesetzt worden war, hemmt er den Atem des Kindes (ἐπέσχε τῆς παιδὸς τὴν ἀναπνοήν); nachdem sie aber hingeworfen worden war, legten die Dienerinnen sie auf ihr Bett, nachdem sie sie aufgehoben hatten. 1,5.1 Kallirhoe aber lag nun stumm und nicht atmend da, allen das Bild einer Toten darbietend (Καλλιρόη μὲν οὖν ἄφωνος καὶ ἄπνους ἐπέκειτο νεκρᾶς εἰκόνα πᾶσι παρέχουσα) […].
Liest man den Text sehr aufmerksam, kann die vom Erzähler gewählte Formulierung, dass Kallirhoe nach dem schweren Fußtritt, den sie von ihrem außer sich geratenen Ehemann ins Zwerchfell bekommen hat, in all ihrer Stummheit694
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693
694
Vgl. VAN DER HORST, Chariton, 349: „Chariton can be regarded as a near-contemporary of the authors of the N.T. And indeed, his work reveals a number of interesting parallels and illustrations to passages in the N.T. There are no parallels between the love story of Chaereas and Callirhoe as a whole and the N.T., but there are several scenes, ideas, phrases, and stylistic devices that may illuminate scenes and usages in the N.T.“ – Auf Ähnlichkeiten zwischen paganen und christlichen „Ressurrection“-Texten weist auch BOWERSOCK, Fiction, 99–119, hin. Seine Hypothese, die große Beliebtheit des „ScheintodMotivs“ in antiker Literatur sei durch die neutestamentlichen Schriften erst ausgelöst worden („the Gospel stories themselves provided the impetus“, 119), fasst allerdings das Konzept der „Resurrection“ zu breit und differenziert nicht zwischen eschatologischer Auferstehung und innerweltlicher, zeitlich befristeter Wiederbelebung. Vgl. zu diesem Verständnis von „Kallirhoe“ 1,8.1: BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 117; MECKELNBORG/SCHÄFER, Chariton, Anm. 54, 259. In 1,4.12 wird derselbe Ausdruck verwendet wie in 1,1.14: ἄφωνος.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
und ohne erkennbare Atemtätigkeit695 das Bild einer Toten abgibt, als zarte Andeutung dahingehend verstanden werden, dass sich der Zustand der regungslos daliegenden Frau ein weiteres Mal als eine Art „Ohnmacht“ erweisen könnte. Innerhalb der erzählten Welt gibt es für die anderen Erzählfiguren, die ja den Erzählerkommentar nicht kennen, allerdings keinen Grund, den Tod der Kallirhoe zu bezweifeln. Unmittelbar nach ihrem Zusammenbruch agieren alle nach Maßgabe des tradierten Totentrauer-scripts: in der ganzen Stadt wird die Trauerklage angestimmt (ὁ θρῆνος; 1,5.1); umgehend wird die Bestattung vorbereitet (θάψωμεν; 1,5.7); die vermeintlich Tote wird im Brautkleid auf eine goldverzierte Bahre gelegt (ἐπὶ χρυσηλάτου κλίνης; 1,6.2), sie wird von den dem Trauerzug Beiwohnenden mit der schlafenden Ariadne verglichen (πάντες εἴκαζον αὐτὴν Ἀριάδνῃ καθευδούσῃ, ebd.); ihre Grabstätte wird mit wertvollen Grabbeigaben ausgestattet (τοῦτον ὥσπερ θησαυρὸν ἐπλήρωσεν ἡ τῶν ἐνταφίων πολυτέλεια; 1,6.5). Ohne Mitwirkung einer weiteren Person kommt es dann in 1,8.1 nach der Beerdigung bei der allein in ihrer Grabkammer liegenden Bestatteten zur bereits angesprochenen zweiten Wiedergeburt. „Im Gegensatz zu Kallirhoes erster Ohnmacht (1.1.14) gibt Chariton hier eine detaillierte Schilderung ihres Erwachens, womit er der körperlichen Belastung, die Chaireas’ Tritt verursacht hat, mehr Plausibilität verleiht“696: Und nachdem für die zurückgehaltenen Atemzüge eine gewisse Befreiung aufgrund des Fastens eingetreten war, atmete sie schwach und nach und nach (καί τινος ἀφέσεως ταῖς ἀποληφθείσαις ἀναπνοαῖς ἐκ τῆς ἀσιτίας ἐγγενομένης μόγις697 καὶ κατ’ ὀλίγον ἀνέπνευσεν): dann fing sie an sich zu bewegen gemäß den Gliedern des Körpers, als sie aber die Augen öffnete, hatte sie die Wahrnehmung einer aus dem Schlaf Erwachenden (αἴσθησιν ἐλάμβανεν ἐγειρομένης ἐξ ὕπνου) und rief den Chaireas, als ob er mit ihr zusammen schliefe.
Ähnlich wie bei der von Empedokles betreuten Nicht-Atmenden setzt auch bei Kallirhoe die Atemtätigkeit nach einer gewissen Zeit wieder ein. Bei ihr wird dies nicht mit einem Rest von Wärme, der noch in ihrem Körper verblieben wäre, begründet, sondern mit einer Aufhebung der Atemblockade,698 die sich durch den Tritt ins Zwerchfell eingestellt hatte und die dadurch gelöst wurde, dass sie in der Zeit nach ihrem Zusammenbruch keine Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Eine ähnliche physiologische Vorstellung findet sich in der Historia
695
696 697
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Mit ἄπνους wird in 1,5.1 ein Wort verwendet, das wie ἐξέπνευσεν in 1,4.12 vom Stamm πν- abzuleiten ist. BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 116. Vgl. zum textkritischen Problem, ob es an dieser Stelle μόγις oder μόλις heißen sollte: BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 116. Vgl. BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 116, zu ἀφέσεως: „Der Terminus ist im Vokabular der Medizin bei Hippokrates und Galen zu finden […] im Sinne von ‚relaxatio, remissio.“
10 Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender
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Apollonii regis Tyrii 25.699 Hier „wird der Scheintod von Apollonius’ Frau auch durch unterbrochenes Atmen herbeigeführt, allerdings ist die Ursache dort eine „Blutverdickung nach der Geburt“700. Es lässt sich festhalten: Nicht atmende, aber dennoch nicht tote Frauen, deren Wie-tot-Daliegen nach einer gewissen Zeit wieder aufhört, sodass sie ihr früheres Leben wieder aufnehmen, gehören also – sei es, dass sie zu ihrer Genesung ärztlicher Behandlung bedürfen, sei es, dass sie von selbst wieder gesund werden – zum Motivrepertoire antiker Romane und können zum Vergleich mit soeben Verstorbenen in frühchristlichen Totenerweckungserzählungen herangezogen werden.
10.3
Asklepiades von Bithynien und der beinahe bestattete Mann
Teil II der vorliegenden Untersuchung soll nun abgeschlossen werden mit Belegen für einen Fall, in dem ein besonders befähigter Arzt den todesähnlichen Zustand eines Menschen als reversibel erkennt und ihn vor der Bestattung „bei 699
700
In der Historia Apollonii regis Tyrii wird das Phänomen des „Wie-tot-Daliegens“ in bemerkenswerter Klarheit thematisiert. Die Erzählstimme kommentiert das regungslose Daliegen der Romanheldin, nachdem sie ein Kind geboren hat, mit den Worten: Non fuit mortua, sed quasi mortua (25, RA 12, siehe KORTEKAAS, Commentary, 345). Dazu ergänzt KORTEKAAS, a. a. O., 346: „For the combination quasi mortua the Greek Novel likes to use ἡμιθανής/ἡμιθνής/ἡμίθνητος ‚half-dead‘ […] (Charit. 3,3,16; 3,4,6; 3,5,4, Achill. Tat. 3,4,6; 3,13,7; Heliod. 1,1,3)“; vgl. PANAYOTAKIS, Apollonius, 316f. Später bezeichnet ein Arzt die „Wie-tot-Daliegende“ explizit als in falsa morte iacentem (26, RA 5–7 [Textrekonstruktion gemäß KORTEKAAS, Commentary, 372]) und beschreibt das Wieder-zu-sich-Kommen der Frau als Kampf cum morte adultera (26, RA 30–31 [Textrekonstruktion gemäß KORTEKAAS, Commentary, 389]). Zur letztendlichen Heilung der Frau trägt eine Behandlung durch den Arzt bei, die Ähnlichkeiten mit dem aus Totenerweckungs-Kontexten bekannten Ritual der Synanachrosis aufweist: „26, RA 29–30 […] labia labiis probat; ‚He […] tried her lips with his own“ (KORTEKAAS, Commentary, 388; vgl. dazu KERÉNYI, Romanliteratur, 38, der hier allerdings einen Bezug zum ἱερὸς γάμος-Motiv sieht). – In Bezug auf die Historia Apollonii regis Tyrii gilt: „Die Rekonstruktion der Genese des Werks, seine Datierung und die Textkonstitution sind umstritten“ (FUSILLO/GALLI, Art. „Historia“, 635). Insofern lasen sich die angeführten Parallelstellen aus der Historia Apollonii regis Tyrii nicht als Prätexte, sondern allenfalls als Vergleichstexte für die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen kategorisieren. BAUMBACH/SANZ MORALES, Kallirhoe, 116. Bei KORTEKAAS, Commentary, 344, finden sich näherhin die folgenden beiden Textvarianten nebst englischer Übersetzung: „25, RA 10–11 Sed secundis rursum redeuntibus coagulato sanguine conclusoque spritu subito defuncta est. ‚But the afterbirth went back again, her blood congealed, her breathing was blocked, and suddenly she died.‘ 25, RB 8–9 Sed secundis rursum redeuntibus coaulto sanguine conclusoque spiritu defunctae repraesentavit effigiem. ‚She gave the impression of being dead.‘“
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
lebendigem Leibe“ bewahrt. Bevor im dritten Drittel des 1. Jh.s n. Chr. die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen in Umlauf kommen, hat der römische Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus, der zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Tiberius schrieb701 – wohl mit Blick auf ein Publikum „mit ebenso hoher wie breiter Allgemeinbildung“702 –, eine Schrift mit dem Titel De medicina verfasst. In deren zweitem Buch geht er ausführlich darauf ein, welche körperlichen Merkmale anzeigen, dass ein Mensch tot ist bzw. dass der Tod unmittelbar bevorsteht. In diesem Zusammenhang stellt Celsus den aus Bithynien stammenden Arzt Asklepiades703 „ausdrücklich mit jenen ‚guten Ärzten‘ auf eine Stufe […], die zwischen den notae vitae finitae und den notae mortis futurae zu unterscheiden vermögen.“704 Als Beleg für die besondere Befähigung des Asklepiades führt Celsus in De medicina 2,6.15 folgende Begebenheit an: quod Asclepiades funeri obvius intellexit [quendam] vivere qui efferebatur (dass Asklepiades, einem Leichenzug begegnend, erkannte, dass einer, der herausgetragen wurde, lebte). Weitere Details vermittelt Celsus nicht. Plinius geht in seiner 77/78 n. Chr. entstandenen „Naturgeschichte“ zweimal ebenso knapp wie Celsus auf die Bewahrung eines nur scheinbar Toten vor seiner Verbrennung auf dem Scheiterhaufen durch Asklepiades ein. In Plin. nat. 7,37.124 heißt es innerhalb eines Abschnittes, in dem mehrere bedeutende Ärzte erwähnt werden: summa autem Asclepiadi Prusiensi […] relato e funere homine et conservato (Der größte [sc. Ruhm] aber dem Asklepiades aus Prusa, […] weil ein Mensch aus dem Leichenzug zurückgeholt und wiederhergestellt war). Die zweite Belegstelle in Plin. nat. 26,8.14–15 hat folgenden Wortlaut: magna auctoritate nec minore fama, cum occurrisset ignoto funeri, relato homine ab rogo atque servato (Er kam zu großem Ansehen und nicht kleinem Ruhm, als er einem unbekannten Leichenzug begegnete, weil er den Mann vom Scheiterhaufen zurückzog und rettete). Berücksichtigt man Plinius’ Abneigung gegenüber aus Griechenland stammenden und in Rom praktizierenden Medizinern im Allgemeinen sowie
701
702 703
704
Vgl. SALLMANN, Art. Cornelius C.[elsus], 1051f. Der Enzyklopädist ist wahrscheinlich aufgrund der nur unvollständigen Überlieferung seiner Schriften fälschlicher Weise „zu einer Lichtgestalt in der medizinischen Geschichtsschreibung der Antike [… geworden], obwohl seine wahre Bedeutung vielleicht auf anderen Gebieten lag“ (GOLDER, Celsus, 11). GOLDER, Celsus, 39. Vgl. zu Asklepiades’ Lebensdaten: NUTTON, Art. Asklepiades, 89: „aus Kios in Bithynien (Prusias ad Mare) […]. Als angeblicher Rhet.[orik]-Lehrer (Plin. nat. 7,123–4) kam er nach Rom, wo er durch geschickte Werbung und erstaunliche Heilerfolge […] einen guten Ruf genoß. Bei Cic. de orat. 1,14,62, sagt L. Crassus (fiktiv im Jahre 91 v. Chr.), er habe in der Vergangenheit A.[sklepiades’] Dienste als Freund und Arzt verschiedentlich in Anspruch genommen. A.[sklepiades] wäre demzufolge in den 120er Jahren v. Chr. nach Rom gekommen und im J. 91 bereits (in hohem Alter) verstorben“. – Einen guten Überblick über die Quellen, auf die Rekonstruktionen der Biographie des Asklepiades zurückgreifen, bietet RAWSON, Asclepiades, passim. BENEDUM, Badearzt, 21.
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gegenüber dem bithynischen Arzt im Besonderen,705 so ist zu konstatieren, dass er den Vorfall mit dem unbekannten Beinahe-Bestatteten ebenso sachlich und nüchtern schildert wie Celsus. Auch wenn Plinius an anderer Stelle die Wiederbelebung des Tylon durch ein Kraut beschreibt – hier liegt sein Fokus auf der verwendeten Pflanze –,706 kategorisiert er die Begebenheit, bei welcher Asklepiades auf den Leichenzug trifft, als ein rein „naturwissenschaftliches“ Phänomen. Es kann somit also festgehalten werden, dass vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Schwierigkeit, den genauen Eintritt des Todeszeitpunktes bei Schwerkranken bzw. Sterbenden zu bestimmen, die Leistung des Asklepiades, einen nur vermeintlich Toten vor seiner Bestattung bei lebendigem Leibe bewahrt zu haben, nicht nur von Celsus, sondern auch von Plinius als eine auf besonderen ärztlichen Kompetenzen beruhende menschliche Leistung kategorisiert und in keinerlei Zusammenhang mit göttlicher Hilfe oder mantischen Fähigkeiten gebracht wird. Eine narrative Ausarbeitung der kurzen Bemerkungen bei Celsus und Plinius findet sich in Apuleius von Madauras Florida.707 Bei dieser Schrift handelt es sich um eine wohl nicht vor den frühen 60er Jahren des 2. Jh.s n. Chr.708 zusammengestellte „collection of 23 selections from Apuleian orations“709. Nicht alle Reden des Apuleius sind in voller Länge in diese Kompilation aufgenommen worden,710 einige liegen auch in gekürzter Fassung vor und präsentieren dann zumeist Textpassagen, in denen „an ancient person or place“711 behandelt wird. Zu diesen auf einen eindeutigen thematischen Fokus zurecht gekürzten Reden gehört auch das Fragment Nr. 19, das von Asklepiades handelt. 705
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Vgl. HAHN, Plinius, Anm. 14, 213: „Vorzügliches Ziel seiner Angriffe ist Asklepiades von Bithynien (1. Jhdt. v. Chr.), der die wissenschaftliche Medizin in Rom endgültig zu etablieren verstand und großen Einfluß auf die dort bedeutsame Methodikerschule ausübte. Plinius geht wiederholt, nahezu immer polemisch (siehe aber 7,124, wo Asklepiades mit Hippokrates u. a. zu den bedeutendsten Ärzten überhaupt gezählt wird), auf ihn ein und zitiert offenkundig diesen Arzt in den Indices der Bücher 7, 11, 14f., 20–27; siehe vor allem 25,6f.; 26,12–20 und 29,6.“ Vgl. hierzu die Ausführungen auf S. 142f. in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. HARRISON, Apuleius, 126, der Apuleius’ Vorgehensweise als „simply to be ornamenting the plain tale found in Pliny“ beschreibt. Vgl. zur Datierung: LEE, Florida, 13. LEE, Florida, 7. Vgl. a. a. O., 13: „The majority of scholarly opinion shows we are dealing with a collection of excerpts from a freestanding collection of Apuleian orations.“ Der merkwürdige Titel der Schrift: „Florida“, nimmt wahrscheinlich Bezug auf den Entstehungsprozess der Sammlung: ein floridum erklärt sich als „an excerpt that was ,plucked‘ from its larger context“ (a. a. O., 1). Möglich ist allerdings auch, dass floridum auf das Auswahlkriterium verweist: „that of selecting ‚florid‘ pieces of speeches“ (ebd.). Es ist davon auszugehen, dass nicht Apuleius selbst die uns heute vorliegende Auswahl und Kürzung seiner Reden vorgenommen hat. „[O]ur Florida derives by a later act of excerption from an original work of the same title in four books attributed to Apuleius“ (HARRISON, Apuleius, 92). LEE, Florida, 16.
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Auch wenn dieser Text aufgrund seiner späten Entstehungszeit nicht als Prätext frühchristlicher Totenerweckungserzählungen betrachtet werden kann,712 ist eine nähere Beschäftigung mit ihm dennoch aufschlussreich. An seinem Beispiel lässt sich aufzeigen, welche Merkmale dieser Textsorte im Laufe der „Gattungsgeschichte“ in einer solchen Weise konventionalisiert worden sind, dass sie auch in Erzählungen von „Erweckungen Wie-tot-Daliegender“ aktualisiert werden. In deutscher Übersetzung stellt sich das Fragment Nr. 19 folgendermaßen dar:
712
Im ersten Drittel des 3. Jh.s n. Chr. verfasst der griechische Rhetor und Schriftsteller Philostratos unter dem Titel Τὰ ἐς τὸν Τυανέα Ἀπολλώνιον – in der Forschung kursiert diese Schrift zumeist unter ihrem lateinischen Titel Vita Apollonii Tyanensis – eine Biographie der schillernden Figur Apollonios von Tyana, die im 1. Jh. n. Chr. gelebt hat (vgl. zur Schwierigkeit, Apollonios mit einem zutreffenden label zu versehen: FREDE, Art. Apollonios, 887, der folgende Bezeichnungen präsentiert: „Pythagoreer“, ‚göttlicher Mensch‘; ‚Wundermann‘, „Scharlatan“, „Zauberer“ und „Theurg“; vgl. zur problematischen Einordnung des Apollonios als θεῖος ἀνήρ: DU TOIT, THEIOS ANTRHROPOS, 276–320). In Philostr. Ap. 4,45 findet sich die Erzählung von einer Begebenheit in Rom, bei welcher Apollonios erkennt, dass eine Braut, die soeben zu ihrer Bestattung vor die Tore der Stadt gebracht wird, nur tot zu sein scheint (κόρη ἐν ὥρᾳ γάμου τεθνάναι ἐδόκει). Daraufhin erweckt er sie aus ihrem scheinbaren Tod (ἀφύπνισε τὴν κόρην τοῦ δοκοῦντος θανάτου). Diese Erzählung von der Rettung einer wie tot Daliegenden wird in der neutestamentlichen Wissenschaft häufig als Parallele zu den Totenerweckungserzählungen in den Evangelien herangezogen. Dass es motivische Übereinstimmungen zwischen den drei Varianten der „Jairi Töchterlein“-Episode und der Erzählung vom „Jüngling zu Nain“ und dem in Philostr. Ap. geschilderten Ereignis gibt, steht außer Frage (vgl. dazu: FISCHBACH, Totenerweckungen, 118–130; PETZKE, Historizität, passim). Es ist aber auszuschließen, dass die Modell-Leserschaft der neutestamentlichen Erzählungen den von Philostratos beschriebenen Vorfall im Rezeptionsprozess aktualisiert, da – abgesehen von dieser ins 3. Jh. n. Chr. zu datierenden Schrift – nach aktueller Quellenlage kein weiterer Beleg über eine solche Rettungsaktion des Apollonios von Tyana existiert. Die Hypothese, Philostratos habe für seine Biographie auf Daten über Apollonios aus der sog. Damisquelle zurückgegriffen, gilt mittlerweile als widerlegt (vgl. DU TOIT, THEIOS ANTRHROPOS, 277f.; NESSELRATH, Einleitung, 14f.); vor Philostratos’ Lebensbeschreibung ist aus dem späteren 2. Jh. n. Chr. „nur eine einzige Äußerung über diesen Wanderphilosophen erhalten, und die wirft kein gutes Licht auf ihn: In Kap. 5 von Lukians Schurkenbiographie ‚Alexandros oder der Lügenprophet‘ wird geschildert, wie der junge Alexandros zum Geliebten und Schüler eines Mannes aus Tyana wird, den Lukian als Zauberer und Scharlatan (γόης) bezeichnet“ (a. a. O., 13); von einer weiteren Schrift aus diesem Zeitraum, den „Erinnerungen an den Magier und Philosophen Apollonios von Tyana“ des Moiragenes ist „außer [… ihrem] Titel fast nichts erhalten geblieben“ (a. a. O., 14). Für den Zeitraum ca. 70–110 n. Chr. ist somit weder eine Erzählung über die Heilung einer wie tot Daliegenden durch Apollonios von Tyana belegbar, noch liegen Hinweise auf eine Tradition vor, die Ähnliches überliefert. Somit muss Philostratos’ Erzählung von der Rettung einer beinahe lebendig Begrabenen zur Wirkungsgeschichte, aber nicht zu den Prätexten frühchristlicher Totenerweckungserzählungen gezählt werden.
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1 Jener Asklepiades, unter die Vorzüglichsten der Ärzte [zu zählen], wenn du den einen Hippokrates ausnimmst, von den übrigen der Erste, er hat auch als Erster ausfindig gemacht, Kranken mit Wein zu helfen, aber selbstverständlich durch das Verabreichen zur [rechten] Zeit: die Beobachtung dieser Sache kannte er gut, sodass er besonders sorgfältig auf unregelmäßige oder abweichende Pulsschläge achtgab. 2 Als dieser also zufällig in die Stadt zurückkehrte und von seinem vorstädtischen Landgut zurückging, sah er, dass sehr viele Menschen in einer riesigen Menge, die zum Leichenzug gekommen waren, ein vor den Mauern der Stadt gelegenes riesiges Begräbnis (funus ingens) umringten, alle sehr traurig und sehr schäbig in Trauerkleidung (tristissimos et obsoletissimos uestitu). 3 Er trat näher heran, sodass er nach der Sitte der Natur erführe, wer er sei, weil keiner dem Fragenden geantwortet hatte, oder aber damit er selbst an jenem gemäß seiner Kunst etwas festhalte. Sicherlich allerdings brachte er dem liegenden und beinahe bestatteten Mann sein [erlösendes] Schicksal (certe quidem iacenti homini ac prope deposito fatum attulit). 4 Schon betrachtete er alle jenem Armen mit Gewürzen besprengten Glieder (iam miseri illius membra omnia aromatis perspersa), schon sein mit duftender Salbe eingeriebenes Gesicht (iam os ipsius unguine odoro delibutum), schon ihn als [zur Bestattung] Gewaschenen (iam eum pollinctum), schon nämlich fast bereit (iam paene paratum contemplatus enim), 5 [da] untersuchte er den Körper des Mannes wieder und wieder, nachdem er auf gewisse Zeichen sehr sorgfältig achtgegeben hatte (diligentissime quibusdam signis animaduersis, etiam atque etiam pertrectauit corpus hominis), fand er in jenem verstecktes Leben (uitam latentem). 6 Sofort rief er aus, dass der Mann lebe (uiuere hominem): weit sollten sie also die Leichenfackeln wegwerfen, weit die Feuer fortschaffen, den Scheiterhaufen niederreißen, das Leichenmahl vom Grabhügel zum Esstisch zurücktragen. 7 Inzwischen war ein Gemurmel entstanden, zum Teil sagte man, man müsse dem Arzt glauben, zum Teil auch seine Heilkunst verlachen (partim medico credendum dicere, partim etiam irridere medicinam). Schließlich – auch wenn die Verwandten unwillig waren, weil sie schon selbst die Erbschaft hatten oder weil sie jenem nicht glaubten – 8 setzte Asklepiades dennoch mit Mühe und schwer für den Toten einen kurzen Aufschub durch (impetrauit breuem mortuo dilationem) und brachte ihn, so den Händen der Leichenträger abgerungen, gleichsam wie aus der Unterwelt (uelut ab inferis), ins Haus zurück (domum rettulit) und sofort belebte er den Atem wieder (confestimque spiritum recreauit), sofort rief er die Seele, die sich in Verstecken des Körpers verbarg, mit gewissen Medikamenten hervor (confestim animam in corporis latibulis delitiscentem quibusdam medicamentis prouocauit).
Nachdem der Redner Apuleius seine Zuhörerschaft zunächst einmal, einen primacy effect bewirkend, dem griechischen Arzt Asklepiades gegenüber durch lobende Worte positiv gestimmt und darüber informiert hat, dass dieser als Spezialist in der Beurteilung des menschlichen Pulsschlages anzusehen ist, wechselt er vom enkomiastischen in den narrativen Modus über. Abgesehen von dem einleitenden Passus stellt sich der gesamte übrige Text des Fragments Nr. 19 als eine in sich kohärente Erzählung dar, die unter narratologischen Gesichtspunkten analysiert werden kann. Die Geschichte des Apuleius spielt zunächst im Freien, und zwar vor den Toren der Stadt, wo antiker Sitte gemäß die Toten bestattet werden. Bevor das erzählte Geschehen rund um die drei Erzählfiguren(-Gruppen) Asklepiades, den wie tot Daliegenden und die Trauergäste jedoch darin seinen Höhepunkt erreicht, dass der reglos Daliegende wieder zu atmen anfängt, wird der Aktionsort
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aufgesucht, der für die Erweckung „wirklich“ Toter gattungstypisch ist: das Innere eines Hauses. Nur die Erzählstimme und die Leserschaft erhalten hier Einblick in das Geschehen, das sich zwischen der Hauptfigur und seinem Mandanten abspielt – die Trauergesellschaft bleibt außen vor. Die Figuren der vorliegenden Erzählung nehmen folgende Rollen ein: Protagonist ist Asklepiades, als Antagonistin tritt die versammelte Menge auf, der zur Bestattung Herausgetragene bleibt Objekt der Aktivitäten des Protagonisten. Es entspricht vollkommen den Konventionen einer „stilgerechten Totenerweckung“, wenn der von Asklepiades wieder zum Atmen Gebrachte das Handeln seines Retters quasi „über sich ergehen lässt“. Den Rezipierenden wird der Ernst der Lage zunächst durch das intensive Trauern der Menschenmenge verdeutlicht. Wenn diese dann die Diagnose des Arztes bezweifelt, ihn sogar auslacht, hat das Parallelen im Handlungsverlauf der drei neutestamentlichen Erzählfassungen von „Jairi Töchterlein“. Der Körperkontakt zwischen dem Protagonisten und seinem Klienten ist ebenfalls gattungstypisch und findet sich als für die Gattung konstitutives Element schon in den „alttestamentlichen“ Elia- und ElisaErzählungen. Aus der „paganen“ Gattungstradition stammt dann das für die Wiederbelebungen des Polyidos und des Asklepios typische Verabreichen von Medikamenten. Bemerkenswert an der Erzählung des Apuleius ist, wie die Erzählstimme den Rezeptionsprozess steuert. Zunächst einmal macht sie – wenn man ihr auch die enkomiastische Eingangspassage zuschreiben will – von vornherein klar, dass Asklepiades als verlässliche Figur anzusehen ist, auf deren Handlungskompetenz man vertrauen kann. Indem der Erzähler auch dem Verhalten der Menge einen guten Teil seiner Aufmerksamkeit zuwendet, verdeutlicht er, dass auf den vorliegenden Sachverhalt – ein nicht atmender Mann wird auf einer Totenbahre zum Bestattungsort aus der Stadt hinausgetragen – aus zwei Perspektiven geblickt werden kann: aus der Sicht der Menge, die „mit dem Üblichen“ rechnet: wer nicht mehr atmet und sich nicht mehr bewegt, ist tot und muss bestattet werden, und aus der Sicht des Erzählers und seines Protagonisten, die auch die besonderen Fähigkeiten eines exzellenten Arztes mit ins Kalkül zieht. Als Identifikationsfigur für die Rezipierenden bietet sich der wie tot Daliegende an. Die Identifikation mit dem erzählten „Wie-Toten“ kann in der Leserschaft die Hoffnung wecken, eine ähnliche Rettung aus einer derart ausweglosen Situation auch in der eigenen „Wirklichkeit“ zu erfahren. Einen Anhaltspunkt dafür, dass eine solche Hoffnung nicht gänzlich illusionär ist, bietet die Tatsache, dass das rettende Eingreifen innerhalb der erzählten Welt des Asklepiades in rationaler Hinsicht als völlig nachvollziehbar dargestellt wird. Der beinahe lebendig Bestattete wird nicht aufgrund des kontingenten Eingreifens einer Gottheit vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen bewahrt, sondern deshalb, weil der Arzt Asklepiades seine Wahrnehmungsfähigkeit im Hinblick auf mit der Pulstätigkeit zusammenhängende Phänomene so stark sensibilisiert hat, dass er zwischen tot zu sein scheinenden und „wirklich toten“ Menschen unterscheiden kann.
10 Erzählungen und Traditionen von Erweckungen wie tot Daliegender
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Mit der Götterwelt bzw. der Unterwelt verbundene Vorstellungsbereiche werden in der kompakten Erzählung des Apuleius im Hinblick auf die Phänomene Tod und Sterben nur als Vergleiche für Vorgänge in der empirischen Welt herangezogen. Der auf der Bahre Liegende wird (innerhalb der erzählten Welt) realiter den Händen der Leichenträger entwunden, was einer Rettung uelut ab inferis entspricht, aber nicht voraussetzt, dass der wie tot Daliegende bereits in der Unterwelt verortet werden müsste. Der Arzt Asklepiades handelt ex arte, er ist nicht auf Hilfe aus „transzendenten Sphären“ angewiesen. Bevor nun in Teil III der vorliegenden Untersuchung die frühchristlichen Totenerweckungserzählungen behandelt werden, sei zunächst einmal ein Zwischenergebnis auf der Basis der in Teil II untersuchten Quellen präsentiert: Der plot „Wiederbelebung des Glaukos durch den Mantiker Polyidos“ ist in der „paganen“ Antike seit dem 5. Jh. v. Chr. in Dramen, seit dem 4. Jh. v. Chr. in narrativer Form belegt. Aufgrund der Tatsache, dass auch die Fabulae des Hyginus, die ins 1. Jh. n. Chr. datiert werden, diesen Stoff enthalten, kann davon ausgegangen werden, dass die Modell-Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen setting und Figurenkonstellation (Totenerwecker, „frisch“ Verstorbener, Angehörige) dieses plot kennt. In inhaltlicher Hinsicht zeichnet sich der Polyidos-Glaukos-Stoff dadurch aus, dass die Reanimation des toten Kindes durch ein Kraut erfolgt, dessen Anwendung dem ἰατρόμαντις von Schlangen „vorgemacht“ wird. Diese „Wiederbelebungstechnik“ ist im antiken Schrift- und Bildprogramm im Zeitraum 5. Jh. v. Chr. bis 5. Jh. n. Chr. auch mit der Figur des Tylon verbunden. Mit Ausnahme der auf Palaiphatos zurückgehenden mythenkritischen Sammlung Περὶ ἀπίστων wird die Reanimation durch Kräuter in den vorgestellten Quellen als eine in Ausnahmefällen mögliche „Therapie“ präsentiert. Der Arzt Asklepios ist in der antiken Literatur ungefähr seit derselben Zeit wie Polyidos, nämlich seit dem 5. Jh. v. Chr., in der Rolle eines „Totenerweckers“ präsent. Die Tatsache, dass in einigen Quellen die Reanimation des Glaukos auch ihm zugeschrieben wird, zeigt, dass Asklepios und Polyidos in der Enzyklopädie des Altertums unter derselben Rubrik „abgespeichert“ werden. Welche Mittel Asklepios bei seinen Wiederbelebungen anwendet, wird – anders als bei Polyidos – nicht immer dargestellt. Zum Teil ist von Kräutertherapien die Rede, allerdings spielen Schlangen als chthonische Wesen in den Reanimationen des Apollon-Sohnes keine Rolle. Grundsätzlich ist sowohl für die Polyidos- als auch für die Asklepios-Tradition zu konstatieren: das Konzept einer reversio animae wird in den Texten, die von dem totenerweckenden Agieren des Mantikers und des Arztes handeln, nicht aktualisiert. Eine göttliche Instanz, die hinter diesen Wiederbelebungen stünde, gibt es nicht. Das Alleinstellungsmerkmal der von Asklepios durchgeführten Totenerweckungen besteht vielmehr darin, dass sie – als Kompetenzüberschreitung eines Sterblichen – den Zorn des Zeus auslösen und mit dem Tod durch die Blitze des Göttervaters bestraft werden. Hinzu kommt noch, dass einige der
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Teil II: Antik-griechische und hellenistisch-römische Schriften
Wiederbelebten durch ihre Hybris ohnehin die Gunst des Olymp verspielt hatten – sodass ihre Wiederbelebung einen Affront gegenüber den Göttern darstellt. Die Bestrafung des Asklepios weist allerdings eine gewisse Ambivalenz auf: Der vom Blitz Getroffene wird anschließend als Stern an den Himmel versetzt, wodurch seinem „Blitztod“ auch ein gewisses Moment der Anerkennung besonderer ärztlicher Fähigkeiten zukommt. In einigen Quellen der Asklepios-Tradition wird angezweifelt, ob die Wiederbelebten auch „wirklich“ tot waren. Hinter dieser Skepsis steht das Phänomen, dass zwischen „tatsächlich“ Verstorbenen und „Scheintoten“, die eine wichtige Rolle in antiken Romanen spielen, nur schwer differenziert werden kann – was mit der gemein-antiken Vorstellung vom Sterben als Prozess korreliert. Dieses Konzept steht wiederum im Zusammenhang mit der aus medizinischer Sicht nicht vorhandenen Fähigkeit, den Zeitpunkt eines eingetretenen Todes exakt bestimmen zu können. Über die besonders fachkundigen Ärzte Empedokles und Asklepiades von Bithynien wird allerdings berichtet, dass sie in der Lage gewesen seien, in wie tot Daliegenden noch vorhandenes Leben zu diagnostizieren. Grundsätzlich muss konstatiert werden, dass das Phänomen „Totenerweckung“ in der „paganen“ Antike als „unmögliche Möglichkeit“ konzeptualisiert wird. Euripides’ Drama „Alkestis“ bezeugt, dass man sich zwar wünscht, Tote wiederbeleben zu können, dieser Wunsch aber als unerfüllbar gilt.
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen von Jesus, Petrus und Paulus
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Mk 5,21–43: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus
Im Teil III des vorliegenden Buches werden auf der Folie der in Teil I und II besprochenen antik-jüdischen und „paganen“ Texte nun die sieben Totenerweckungserzählungen untersucht, die ins Neue Testament eingegangen sind. Dabei wird in doppelter Hinsicht chronologisch vorgegangen: zuerst wird als ältestes Gattungsexemplar die „Jairi-Töchterlein“-Erzählung aus dem Markusevangelium, dann deren synoptische Parallele aus dem Matthäusevangelium präsentiert. Da das Lukasevangelium zwei Geschichten von Wiederbelebungen aufweist, wird zunächst diejenige vom „Jüngling aus Nain“ vorgestellt, da sie auch im Lesedurchgang durch den Makrotext als erste rezipiert wird. Die lukanische Version von „Jairi Töchterlein“ wird nämlich im Kontext der Ganzschrift auch vor dem Hintergrund wahrgenommen, dass es sich in der erzählten Welt des Dritten Evangeliums bereits um die zweite Wiederbelebung handelt. Anschließend werden die beiden AuferweckungsGeschichten aus der Apostelgeschichte, zum Schluss die Erzählung von der Wiederbelebung des Lazarus aus dem Johannesevangelium besprochen.
Wenn die Erzählepisode Mk 5,21–43 unter der Rubrik „Totenerweckungserzählungen“ behandelt wird, hat dieses Vorgehen seinen Grund darin, dass die Verfasser des Matthäus- und des Lukasevangeliums diesen Text aus dem ihnen vorliegenden Markusevangelium in ihren jeweiligen Evangelien als „Totenerweckungserzählung“ rezipieren. Wer die matthäische oder die lukanische Fassung von „Jairi Töchterlein“713 in Mt 9,18–26 oder Lk 8,40–56 liest, stellt sich die Wiederbelebung eines gestorbenen Mädchens durch den Totenerwecker Jesus vor. Ob die markinische Erzählung von Jesus und der Tochter des Jairus als Totenerweckungs- oder als Heilungserzählung kategorisiert werden sollte, muss aufgrund der Ambiguität, die diese Erzählung in mehrfacher Hinsicht auszeichnet, offenbleiben.714 Der mehrdeutige715 Text, den es nun in all seiner Vielschichtigkeit716 zu untersuchen gilt, lautet in deutscher Übersetzung folgendermaßen: 21 Und nachdem Jesus [in dem Boot] wieder an das jenseitige Ufer übergesetzt war, versammelte sich eine große Menschenmenge bei ihm, und er war am Seeufer. 22 Und es kommt (ἔρχεται) einer der Synagogenvorsteher (εἷς τῶν ἀρχισυναγώγων) mit dem Namen Jairus (ὀνόματι Ἰάϊρος), und als er ihn (sc. Jesus) sieht, fällt er zu seinen Füßen nieder (καὶ ἰδὼν αὐτὸν πίπτει πρὸς τοὺς πόδας αὐτοῦ). 23 Und er bittet 713
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Einen umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu allen drei Episoden gibt ZWIEP, Daughter, passim. Vgl. D’ANGELO, Power, 101: „One of the most intriguing aspects of this miracle is Mark’s choice to leave the ambiguity about whether the child is asleep or dead“. AICHELE, Jesus, 68, spricht von „oscillation of meaning“. HATTON, Comic Ambiguity, passim, übersieht den theologischen Tiefgang der Erzählung, wenn er ihre Ambiguität ausschließlich als ‚komisch‘ interpretiert.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen (παρακαλεῖ) ihn sehr717 (πολλά), indem er sagt: „Mein Töchterchen (τὸ θυγάτριόν μου) ist todkrank (ἐσχάτως ἔχει). Komm, lege ihr die Hände auf (ἐπιθῇς τὰς χεῖρας αὐτῇ), damit sie gerettet wird und lebt (ἵνα σωθῇ καὶ ζήσῃ).“ 24 Und er ging mit ihm weg. Und es folgte ihm eine große Menschenmenge und sie umdrängten ihn. 25 Und eine Frau, die zwölf Jahre Blutfluss hatte 26 und Vieles erlitten hatte von vielen Ärzten und all ihr Vermögen aufgebraucht hatte und keinen Nutzen davongetragen hatte, sondern eher ins Schlimmere geraten war, 27 die von Jesus gehört hatte, die gekommen war in der Menschenmenge, [die] berührte von hinten sein (Ober-)Gewand (ὄπισθεν ἥψατο τοῦ ἱματίου αὐτοῦ). 28 Denn sie sagte: „Wenn ich auch nur seine Gewänder berühre, werde ich gerettet werden (ἐὰν ἅψωμαι κἂν τῶν ἱματίων αὐτοῦ σωθήσομαι).“ 29 Und sogleich vertrocknete die Quelle ihres Blutes und sie bemerkte in ihrem Körper, dass sie von der Plage geheilt war (ὅτι ἴαται ἀπὸ τῆς μάστιγος). 30 Und da Jesus sogleich bei sich selbst die aus ihm ausgefahrene Kraft (τὴν ἐξ αὐτοῦ δύναμιν ἐξελθοῦσαν) bemerkte, sagte er, sich in der Menschenmenge umwendend: „Wer hat meine Gewänder berührt (τίς μου ἥψατο τῶν ἱματίων)?“ 31 Und seine Jünger sagten ihm: „Du siehst die dich umdrängende Menschenmenge und sagst: ‚Wer hat mich berührt?‘“ 32 Und er sah sich um, um die zu sehen, die dieses getan hatte. 33 Aber die Frau, in Furcht geraten und zitternd, wissend, was ihr geschehen war, kam und fiel vor ihm nieder (προσέπεσεν αὐτῷ) und sagte ihm die ganze Wahrheit. 34 Er aber sagte ihr: „Tochter, dein Glaube hat dich gerettet (ἡ πίστις σου σέσωκέν σε). Geh in Frieden und sei gesund von deiner Plage (ἴσθι ὑγιὴς ἀπὸ τῆς μάστιγός σου).“ 35 Als er noch spricht, kommen (ἔρχονται) Leute vom [Haus des] Synagogenvorsteher[s], die sagen: „Deine Tochter ist gestorben (ἡ θυγάτηρ σου ἀπέθανεν). Was behelligst du den Lehrer noch?“ 36 Jesus aber, der das Wort, das geredet wurde, überhört hatte (παρακούσας), sagt (λέγει) dem Synagogenvorsteher: „Fürchte dich nicht, glaube nur (μὴ φοβοῦ, μόνον πίστευε)!“ 37 Und er ließ niemanden mit sich gehen außer Petrus und Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. 38 Und sie kommen (ἔρχονται) in das Haus des Synagogenvorstehers, und er nimmt Lärm wahr (θεωρεῖ θόρυβον) und Weinende und laut Klagende (κλαίοντας καὶ ἀλαλάζοντας πολλά). 39 Und hineingehend sagt (λέγει) er ihnen: „Was lärmt und weint ihr (τί θορυβεῖσθε καὶ κλαίετε)? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft (τὸ παιδίον οὐκ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει).“ 40 Und sie lachten (κατεγέλων) ihn aus. Nachdem er aber alle hinausgeworfen hatte, nimmt er (παραλαμβάνει) den Vater des Kindes und die Mutter und seine Begleiter und geht (εἰσπορεύεται) dorthin, wo das Kind war (ὅπου ἦν τὸ παιδίον). 41 Und nachdem er die Hand des Kindes genommen hatte (κρατήσας τῆς χειρὸς τοῦ παιδίου), sagt (λέγει) er zu ihm: „Talitha kum“, das heißt übersetzt: „Mädchen, ich sage dir, steh auf (τὸ κοράσιον, σοὶ λέγω, ἔγειρε)!“ 42 Und sogleich stand das Mädchen auf (ἀνέστη τὸ κοράσιον) und ging umher (περιεπάτει); sie war nämlich zwölf Jahre [alt]. Und [sogleich] gerieten alle ganz außer sich. 43 Und er befahl ihnen dringend, dass niemand dieses erfahren solle, und er sagte, ihr solle zu essen gegeben werden.
Dass es unmöglich ist, beim Lesen oder Hören dieser Erzählepisode eine klare Vorstellung davon zu entwickeln, ob die Tochter des Synagogenvorstehers in der erzählten Welt des Evangeliums als tot oder als schlafend zu imaginieren ist, basiert in erster Linie auf zwei einander widersprechenden Figurenreden, die im 717
Vgl. PASSOW II/1, 1013, s. v. πολύς: „Adverbialischer Gebrauch des Neutrums […] πολλά […] sehr.“
11 Mk 5,21–43: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus
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Verlaufe der Erzählhandlung nicht miteinander harmonisiert werden. „Ἡ θυγάτηρ σου ἀπέθανεν“ (Mk 5,35a) − mit diesen Worten wird der Synagogenvorsteher Jairus von Leuten, die zu seinem Haus gehören, über den Tod seiner Tochter informiert.718 Jesus hingegen versichert dem Vater: „τὸ παιδίον οὐκ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει“ (Mk 5,39c). Diese beiden Aussagen sind inkompatibel,719 was sich in logischer Hinsicht noch etwas genauer aufschlüsseln lässt: Jesu Aussage in Mk 5,39c ist zweiteilig. Ihre erste Hälfte: τὸ παιδίον οὐκ ἀπέθανεν – „Das Kind ist nicht gestorben“ beinhaltet aufgrund der Verneinungs-Partikel οὐκ die Negation720 dessen, was die Leute dem Synagogenvorsteher gesagt haben: ἡ θυγάτηρ σου ἀπέθανεν (Mk 5,35a). Da sich die erzählte Welt des Markusevangeliums im Hinblick auf die in ihr herrschende Logik den Gesetzmäßigkeiten anschließt, die in der außertextuellen Realität gelten,721 verstoßen diese beiden im gegebenen Kontext von Mk 5,21–43 geäußerten Aussagen gegen den sog. „Satz des Widerspruchs“, der in der Antike mehrfach belegt ist und z. B. in einer der Versionen des Aristoteles folgendermaßen lautet: Ἀδύνατον γὰρ ὁντινοῦν ταὐτὸν ὑπολαμβάνειν εἶναι καὶ μὴ εἶναι (Aristot., Metaph. IV 3, 1005b).722 Entweder ist im gegebenen Äußerungskontext von Mk 5,21–43 die zuerst gefallene Aussage: „Deine Tochter ist gestorben“, wahr723 oder die zweite: „Das Kind ist nicht gestorben“ – tertium non daretur.
Die zweite Hälfte der wörtlichen Rede Jesu beinhaltet eine durch ein adversatives ἀλλά eingeleitete Gegenbehauptung: ἀλλὰ καθεύδει. Dem üblichen 718
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Dieser Satz wird in Mk 5,35 vom Erzähler mit einem ὅτι recitativum eingeleitet. „Da die indirekte Redeform [...] den ntl Erzählern nicht liegt, folgt auf ὅτι gewöhnlich [...] genaue Nachbildung direkter Redeform, so daß dieses ὅτι die Rolle unseres Anführungszeichens vertritt“ (BDR, 398). „Am häufigsten ist das ὅτι rec. bei Mk [...] und Jh“ (BDR, 399). „Zwei Sätze sind inkompatibel, wenn man sie nicht zugleich behaupten kann“ (SCHWARZFRIESEL/CHUR, Semantik, 131). Vgl. LÖBNER, Semantik, 196: „[A]lle Sprachen [besitzen] systematische Mittel, das polare Gegenteil eines Satzes zu bilden. Diesen Vorgang und sein Ergebnis nennt man Negation. [...] Im Deutschen wird die Negation in den meisten Fällen dadurch erreicht, dass das finite Verb mit nicht modifiziert wird“. Vgl. hierzu die „Überlegung zum Verhältnis von Ambiguität und dem Sonderstatus literarischer Texte“, die von BAUER/KNAPE/KOCH/WINKLER, Ambiguität, 38, angestellt wird: „So antwortet die Poetik auf den angesichts der Fiktionalität von Literatur immer wieder vorgebrachten Vorwurf der Lüge, dass Dichtung nicht lügen könne, weil sie – etwa im Unterschied zur Geschichtsschreibung – keine Behauptungen über die Wirklichkeit aufstelle [...]. Nun ist aber die gesamte Literaturgeschichte nicht ohne die Grundannahme der Mimesis von Wirklichkeit denkbar, d. h. des Vorhandenseins von Referenz.“ Vgl. EISLER, Art. Satz, 738: „Der Satz des Widerspruchs wird verschieden formuliert, bald in bezug auf die Denkacte, bald mehr in bezug auf die Denkobjekte. Bei PARMENIDES findet sich der Satz in der Form: ἔστιν ἣ οὐκ ἔστιν (Mull., Fragm. v. 72. Simpl. ad Phys. f. 31 B). PLATO: μηδέποτε ἐναντίον ἐστί ἑαυτῷ τὸ ἐναντίον (Phaed. 103 C).“ Ob ein „Satz wahr oder falsch ist, hängt [...] von dem gegebenen Ä[ußerungs]K[ontext] ab, [...] daher stellt sich die Frage nach der Wahrheit immer nur in Bezug auf einen konkreten ÄK“ (LÖBNER, Semantik, 30).
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
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Sprachgebrauch folgend, fungiert ἀλλά724 im Griechischen als „Partikel des scharfen Gegensatzes“725, wodurch die beiden Prädikate ἀπέθανεν und καθεύδει einander adversativ gegenüberstehen. Während die Leute, die vom Haus des Synagogenvorstehers kommen, die Position vertreten, dass das Mädchen gestorben sei, behauptet Jesus, dass es nicht gestorben sei, sondern schlafe. Diese Gegenbehauptung wird nun wiederum von den im Haus des Synagogenvorstehers anwesenden Trauernden als unglaubwürdig diskreditiert, indem diese Jesus schlichtweg auslachen: καὶ κατεγέλων αὐτοῦ (Mk 5,40). Durch ihr Lachen geben die Trauernden zu verstehen, dass sie Jesu Aussage für falsch halten: ein totes Kind schläft nicht! Hier steht also ein weiteres Mal Aussage gegen Aussage. Durch die Abfolge: Aussage, Negation der Aussage, Gegenbehauptung und Verlachen dieser Gegenbehauptung726 stellt sich die Erzählung von Jairi Töchterlein – aus der Perspektive der Logik betrachtet – als eine äußerst widersprüchliche dar.
11.1
Die polysemen Ausdrücke in Mk 5,21–43
Im Rezeptionsvorgang der markinischen Fassung von „Jairi Töchterlein“ kommt es nicht zuletzt deshalb zu einigen Irritationen, weil dieser Text mehrere polyseme Ausdrücke aufweist, die durch den Kontext nicht eindeutig disambiguiert werden. So ist das in Mk 5,36 verwendete Partizip παρακούσας727 mehrdeutig. Mit diesem Ausdruck schildert der Erzähler, wie Jesus auf die Nachricht der Leute reagiert, die vom Haus des Synagogenvorstehers kommen und sagen, dass das Mädchen gestorben sei. Grundsätzlich kann das Wort παρακούειν sowohl a) die Vorstellung des unabsichtlichen Nicht-Hörens, b) die des zufälligen Mit-Hörens als auch c) die des absichtlichen Überhörens im Sinne des Ignorierens bzw.
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Vgl. zur Verwendung von ἀλλά: KÜHNER, Grammatik, 282: „Nach der Beschaffenheit des vorangehenden Gliedes drückt ἀλλά entweder gerade das Gegenteil von dem aus, was in dem ersten Gliede ausgesagt ist, sodass das erstere Glied durch das letztere aufgehoben wird, und das eine neben dem andern nicht zu gleicher Zeit bestehen kann. Dies geschieht [...,] wenn eine Negation vorangeht, und wir übersetzen dann ἀλλά durch sondern“ (Hervorhebungen im Original nicht kursiv, sondern gesperrt). Vgl. ferner: DENNISTON, Particles, 1: „General use, as an adversative connecting particle“. VON SIEBENTHAL, Grammatik, 432. Vgl. AICHELE, Jesus, 65f. Vgl. zur textkritischen Umstrittenheit von παρακούσας: BORING, Mark, 156 („Parakousas has good MSS attestation […], and as the more difficult reading is to be regarded as original – Mark likes ambiguity, and scribes did not typically replace a clear reading with an ambiguous one“).
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Verwerfens einer Äußerung auslösen.728 In Mk 5,36 lässt sich das mehrdeutige griechische Wort mit allen drei Bedeutungsnuancen, die es in deutschen Übersetzungen erhalten kann, kohärent in den Erzählzusammenhang einbinden. Möglichkeit a) hat für das Verständnis der Erzählung folgende Konsequenzen: Wenn Jesus die Todesnachricht aufgrund des um ihn herum herrschenden Gedränges akustisch nicht wahrgenommen hat, wird er erst aufgrund der vor dem Haus des Synagogenvorstehers versammelten Trauergemeinde mit der Möglichkeit konfrontiert, dass das Mädchen in der Zwischenzeit verstorben sein könnte. In diesem Fall verlängert das παρακούσας das retardierende Moment, das den Handlungsverlauf prägt, seitdem die Aktion der sog. Blutflüssigen Jesu Eintreffen bei der Tochter des Synagogenvorstehers hinausgezögert hat. Wenn gemäß Möglichkeit b) Jesus die Worte der Leute des Synagogenvorstehers, die ja eigentlich an Jairus und nicht an ihn gerichtet waren, mitgehört hat, erklärt dies, warum er diesem, wenn er sich dann tatsächlich mit ihm auf den Weg zum Kind begibt, mit den Worten: μὴ φοβοῦ, μόνον πίστευε, Mut zuspricht. Diese Figurenrede an den Vater muss aber nicht notwendigerweise durch die Todesnachricht der Leute motiviert sein, sie kann auch als Wiederaufnahme dessen, was Jesus zur Blutflüssigen gesagt hat, erklärt werden. Gemäß Möglichkeit c) könnte Jesus die Todesnachricht gehört und dann anschließend bewusst ignoriert haben. Diesem Interpretationsansatz gemäß legt er als Erzählfigur ein Verhalten an den Tag, das ihn als jemanden zeigt, der sehr reflektiert agiert. Wie wenig später deutlich wird, ist er anderer Meinung als die Überbringer der Todesbotschaft. Er konfrontiert die anderen Erzählfiguren jedoch nicht sogleich, sondern erst kurz bevor er eine Wende im Handlungsverlauf einleitet, mit seiner Einschätzung der Lage. Unter narratologischen Gesichtspunkten betrachtet, erhöht dieses bewusste Überhören der Figurenrede der anderen den Überraschungseffekt, den seine eigene Bewertung des Zustandes des Kindes sowohl bei den anderen Erzählfiguren als auch bei den Rezipierenden auslöst. Welche der drei Verstehensmöglichkeiten „die richtige“ ist, bleibt unentscheidbar.
Das nächste ambige Wort liegt mit der Konjunktion ἀλλά in Jesu Aussage τὸ παιδίον οὐκ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει in Mk 5,39b vor. Wie bereits dargestellt worden ist, fungiert ἀλλά im gewöhnlichen Sprachgebrauch als adversative Partikel und bringt – so verstanden – im Falle von Mk 5,39b zum Ausdruck, dass der Zustand des Kindes von den Leuten des Synagogenvorstehers und den Trauernden anders eingeschätzt wird als von Jesus. Während jene die Tochter des Jairus für tot erklären, hält dieser sie für eine (kranke) Schlafende. Die Grammatik des Griechischen gestattet allerdings auch nicht adversative Verwendungen von ἀλλά; es müssen nicht alle Aussagen, die einander mit dieser Konjunktion gegenübergestellt werden, grundsätzlich inkompatibel sein. Die Partikel729 kann
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Vgl. die Übersetzungsvorschläge in LSJ, 1314, s. v. παρᾰκούω: „hear beside“, „overhear from“, „hear imperfectly or wrongly“, „hear carelessly“, „pretend not to hear“. Vgl. ferner HATTON, Comic Ambiguity, 98–100. Vgl. KÜHNER, Grammatik, 282f., und DENNISTON, Particles, 7: „In a great number of passages […] ἀλλά simply expresses opposition, and it is left undetermined whether the opposite ideas are, or are not, incompatible.“
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
auch eine Aussage einleiten, die das zuvor Behauptete nicht gänzlich negiert, sondern nur modifiziert. Man kann somit ein abgewandeltes Verständnis der Aussage Jesu entwickeln, wenn man seine Behauptung, das Mädchen schlafe (καθεύδει), nicht wörtlich nimmt, sondern im Gebrauch des Wortes καθεύδειν einen verbreiteten griechischen Euphemismus für „tot sein“ erkennt730 und gleichzeitig – den nächsten Handlungsstrang vorwegnehmend – inferiert, dass Jesus nicht nur heilen, sondern auch Tote erwecken kann. Dann lässt sich Jesu Aussage folgendermaßen paraphrasieren: ‚Das Mädchen ist nicht auf die Weise gestorben, wie ihr es kennt: einmal tot – für immer tot, sondern auf eine neue Art und Weise: zeitlich begrenzt tot, also wie schlafend‘.731
In Abhängigkeit davon, wie das Prädikat καθεύδει verstanden wird, gestaltet sich auch die Disambiguierung der beiden polysemen griechischen Verben ἐγείρειν und ἀνιστάναι, die in Mk 5,41b.42 vorkommen. Im Einzelnen stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar: Zunächst spricht Jesus das vor ihm darniederliegende Mädchen mit aramäischen (und dann vom Erzähler ins Griechische übersetzten) Worten an: ταλιθα κουμ, ὅ ἐστιν μεθερμηνευόμενον· τὸ κοράσιον, σοὶ λέγω, ἔγειρε. Dann schildert die Erzählstimme, was sich anschließend ereignet: καὶ εὐθὺς ἀνέστη. Dem Imperativ Präsens Aktiv des Verbums ἐγείρειν: ἔγειρε („steh auf!“), den Jesus an das vor ihm liegende Mädchen richtet, ist nicht zu entnehmen, ob er das Kind als tot oder schlafend konzeptualisiert. Entsprechend gilt, dass auch die Verbform ἀνέστη, die der Erzähler anschließend verwendet, offenlässt, ob das Kind vom Schlaf oder vom Tod aufsteht. Ein Überblick über den Gebrauch der Verben ἐγείρειν und ἀνιστάναι im Markusevangelium zeigt, dass beide innerhalb dieser Schrift polysem und von Fall zu Fall auch einmal synonym verwendet werden: Auf Jesu postmortales Geschick bezogen findet das Wort ἀνιστάναι zum ersten Mal in Mk 8,31 Verwendung, und zwar innerhalb einer Aussage, in der er sich mit dem Menschensohn identifiziert: καὶ μετὰ τρεῖς ἡμέρας ἀναστῆναι. Auf denselben Sachverhalt beziehen sich – unter Beibehaltung der Terminologie – seine Aussagen in Mk 9,9; Mk 9,31 und Mk 10,34b. In Mk 14,28 kündigt der markinische Jesus unter der Verwendung einer Form von ἐγείρειν an, was nach seinem Tod geschehen wird: ἀλλὰ μετὰ τὸ ἐγερθῆναί με προάξω ὑμᾶς εἰς τὴν Γαλιλαίαν. Im Rahmen seiner Stellungnahme zur sadduzäischen Position im Hinblick auf die Vorstellung einer allgemeinen Auferstehung (ἀνάστασις) der Toten leitet Jesus in Mk 12,26 mit der Einleitungsfloskel περὶ δὲ τῶν νεκρῶν ὅτι ἐγείρονται zu einem Schriftzitat über, mit dem er seine Vorstellung von Gott als Gott der Lebendigen, und nicht der Toten, belegt. Zuvor hatte er in Mk 12,23.25 mit Formen von ἀνιστάναι auf das Auferstehen von Toten Bezug genommen. Als Falschmeldung erweist sich innerhalb der erzählten Welt des Markusevangeliums das in Mk 6,14 zitierte Gerücht, das über den hingerichteten Johannes verbreitet wird – dass dieser nämlich von den Toten auferweckt worden sei: ἔλεγον ὅτι Ἰωάννης ὁ βαπτίζων ἐγήγερται ἐκ νεκρῶν. 730
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Vgl. zum Euphemismus „Tod als Schlaf“: BOSENIUS, κεκοιμημένοι, passim, hier auch weitere Lit. Ähnlich GNILKA, Markus 1. Teilband, 217, dem zufolge Jesus hier redet „als der Gottessohn, für den der Tod nur Schlaf bedeutet.“
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Diese fama wird dann auch von „König Herodes“ aufgenommen, wenn er in Mk 6,16 vermutet, dass es sich bei Jesus um den wieder auferweckten Täufer handele: ὃν ἐγὼ ἀπεκεφάλισα Ἰωάννην, οὗτος ἠγέρθη. Von der vollzogenen Auferweckung Jesu spricht in Mk 16,6 der junge Mann im Grab: ἠγέρθη, οὐκ ἔστιν ὧδε. Offensichtlich können die beiden Verben ἐγείρειν und ἀνιστάναι im Sprachgebrauch des Zweiten Evangeliums synonym verwendet werden, wenn im Kommunikationsgeschehen die Vorstellung evoziert werden soll, dass auf den Tod von Menschen noch weiteres postmortales Geschehen folgt. Die beiden Verben werden allerdings innerhalb des Markusevangeliums auch in Kontexten gebraucht, in denen es um Menschen geht, die schlafen und wieder aufstehen bzw. geweckt werden. Im „Gleichnis von der selbstwachsenden Saat“ wird das Schlafen und (Wieder-)Aufstehen des Säenden mit ἐγείρειν beschrieben, wobei das Verb intransitiv verwendet wird: καὶ καθεύδῃ καὶ ἐγείρηται νύκτα καὶ ἡμέραν (Mk 4,27a). Transitiv gebraucht wird dasselbe Verb dann in Mk 4,38, wenn davon erzählt wird, dass die Jünger den im Heck eines Bootes schlafenden Jesus wecken, nachdem sie aufgrund eines Sturmes auf See in Angst geraten sind. In Mk 1,35 wird das Verb ἀνιστάναι verwendet, um den Vorgang des Aufstehens vom Schlaf zu bezeichnen: Καὶ πρωῒ ἔννυχα λίαν ἀναστὰς ἐξῆλθεν καὶ ἀπῆλθεν εἰς ἔρημον τόπον κἀκεῖ προσηύχετο. Die ἐγείρειν-/ἀνιστάναι-Terminologie findet sich darüber hinaus innerhalb des Markusevangeliums aber auch, wenn es darum geht, dass Sitzende sich von ihren Plätzen erheben. So fordert Jesus in der Synagoge zu Kapernaum einen Heilungsbedürftigen mit folgenden Worten auf, in die Mitte der Synagoge zu kommen: ἔγειρε εἰς τὸ μέσον (Mk 3,3b).732 Der explizit als sitzend eingeführte blinde Barthimäus wird von Leuten, die sich bei ihm befinden, mit dem Imperativ ἔγειρε aufgefordert, aufzustehen und sich zu dem ihn rufenden Jesus zu begeben (Mk 10,49). Jesus selbst fordert die im Garten Gethsemane sitzenden Jünger mit einer pluralischen Imperativform von ἐγείρειν dazu auf, sich zu erheben und ihn zu begleiten: ἐγείρεσθε ἄγωμεν (Mk 14,42a). Auf ähnliche Weise kann in Mk 2,14; 7,24; 9,27; 10,1; 14,57.60 das Wort ἀνιστάναι das Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen heraus beschreiben. Im weitesten Sinne unter die Vorstellung vom „Aufstehen“ zu subsumieren ist die Rede vom „Sich-Erheben“ eines Volkes bzw. eines Königreiches gegen ein anderes, das in Mk 13,8 angesprochen wird: ἐγερθήσεται γὰρ ἔθνος ἐπ’ ἔθνος καὶ βασιλεία ἐπὶ βασιλείαν. Ähnliches gilt für die Erwähnung von falschen Christusfiguren und falschen Propheten, die sich in der Endzeit erheben werden: ἐγερθήσονται γὰρ ψευδόχριστοι καὶ ψευδοπροφῆται (Mk 13,22). Das Phänomen des Sich-gegeneinander-Erhebens kann im Markusevangelium aber auch durch ἀνιστάναι versprachlicht werden. In Mk 3,26 heißt es: καὶ εἰ ὁ σατανᾶς ἀνέστη ἐφ’ ἑαυτόν. Mit ἐγείρειν wird innerhalb des Markusevangeliums in Mk 1,31; 2,9.11.12 und 9,27 aber auch beschrieben, wie krank darniederliegende Menschen von Jesus aufgerichtet werden bzw. sich wieder vom Krankenlager erheben. 732
Zwar wird in Mk 3,3 nicht explizit erwähnt, dass der Mensch mit der nicht voll funktionsfähigen Hand (ἄνθρωπος ἐξηραμμένην ἔχων τὴν χεῖρα [Mk 3,1b]) gesessen habe, bevor er von Jesus dazu aufgefordert wird, in die Mitte zu kommen. Doch aufgrund von Grabungsfunden in Galiläa, die zeigen, dass galiläische Synagogen im 1. Jh. n. Chr. üblicherweise parallel zu den Außenwänden verlaufende Sitzbänke aufwiesen, lässt sich doch mit einiger Sicherheit erschließen, dass wir uns den Behandlungsbedürftigen zunächst als bei den anderen Synagogenbesuchern sitzend vorstellen sollten (vgl. AVIAM, Synagogues, bes. 298).
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
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Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Verwendung der ἐγείρειν-/ἀνιστάναιTerminologie im Markusevangelium überrascht es somit nicht, wenn sich die markinischen Jünger im Anschluss an Jesu Rede von seinem eigenen ἀναστῆναι fragen: τί ἐστιν τὸ ἐκ νεκρῶν ἀναστῆναι (Mk 8,32). Analog kann sich die ModellLeserschaft der Erzählung von „Jairi Töchterlein“ fragen: τί ἐστιν τὸ κοράσιον ἐγείρειν?
11.2
Mehrdeutige Handlungselemente der story von Mk 5,21–24
Wenn in der Erzähleingangsphase Mk 5,21–24 der Synagogenvorsteher Jairus Jesus zu Füßen fällt und ihn anschließend darum bittet, dass er seiner im Sterben liegenden Tochter die Hände auflegen möge, dann können sowohl dieser Fußfall als auch die anschließende Bitte in der Modell-Leserschaft verschiedene Assoziationen auslösen. Es ist zunächst bedeutsam, dass Jairus, der im bisherigen Verlauf des Markusevangeliums noch nicht in Erscheinung getreten ist, vom Erzähler des Evangeliums in Mk 5,22 als eine Figur präsentiert wird, deren Handeln und Wahrnehmen ganz auf den markinischen Jesus ausgerichtet ist. Ins Bewusstsein der Leserschaft tritt Jairus, noch bevor sein Name erwähnt wird, vermittels der am Satzanfang stehenden Verbform ἔρχεται. Die Lesenden lernen diesen Mann somit kennen als einen Menschen, der in Bewegung ist. Dabei lässt sich der gleich darauffolgenden Angabe καὶ ἰδὼν αὐτὸν πίπτει πρὸς τοὺς πόδας αὐτοῦ entnehmen, dass er seine Bewegung, sobald er Jesus erblickt, zielgerichtet auf diesen fokussiert. Aus dem „Bewegungsprofil des markinischen Jesus“733, das sich aus den topologischen und den topographischen Angaben des Markusevangeliums konstruieren lässt, ist zu erschließen, dass die Begegnung der beiden Männer innerhalb der erzählten Welt des Evangeliums am vor Kapernaum gelegenen Uferstreifen des Sees Genezareth stattfindet.734 Wenn der sich dem soeben angelandeten Jesus nähernde Jairus als εἷς τῶν ἀρχισυναγώγων bezeichnet wird, geht daraus zum einen hervor, dass es sich bei diesem Jairus um einen der Synagogenvorsteher735 aus der Synagoge, 733 734 735
Vgl. BOSENIUS, Raum, 269–271. Vgl. BOSENIUS, Raum, Anm. 10, 121. Jairus ist, da er als εἷς τῶν ἀρχισυναγώγων vorgestellt wird, offensichtlich nicht der einzige seiner Art in Kapernaum. Wie hoch er als „einer der Synagogenvorsteher“ im Sozialverband dieses galiläischen Ortes angesehen war, lässt sich nicht genau eruieren. In der älteren Forschung wurde der ἀρχισυνάγωγος vor allem als „Funktionär [...], zuständig insbesondere für den Ablauf des ‚Gottesdienstes‘“ (REINBOLD, Propaganda, 141) angesehen. Werden zur Schärfung des Profils dieses Amtes griechisch-römische Ehrentitel mitberücksichtigt (vgl. RAJAK/NOY, Archisynagogoi, 92f.), ergibt sich ein umfassenderes Bild der
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227
die sich in Kapernaum befindet, handelt. Zum anderen kann aufgrund des bisherigen Verlaufs der Erzählung auch gemutmaßt werden, dass Jesus dem Jairus aufgrund seines Auftretens in der örtlichen Synagoge bereits bekannt ist. Hier hatte der markinische Jesus bei seinem ersten Besuch in Kapernaum an einem Sabbat in aufsehenerregender Weise gelehrt (Mk 1,22b). Bei einem weiteren Besuch, der ebenfalls an einem Sabbat stattfand, war hier die Hand eines Menschen auf Jesu Befehl hin wiederhergestellt worden. Als Bewohner Kapernaums könnte der Synagogenvorsteher auch Zeuge der vielen Heilungen gewesen sein, die Jesus gleich am Abend seines ersten Tages in diesem Ort vor der Tür des Hauses von Petrus und Andreas durchgeführt hat (Mk 1,33f.).
Berücksichtig man, dass Jesus den Menschen in Kapernaum – und damit auch dem Synagogenvorsteher – nicht unbekannt ist, wenn er gemäß Mk 5,21 wieder in die Ortschaft am See Genezareth zurückkehrt, lässt sich die partizipiale Wendung καὶ ἰδὼν αὐτόν in Mk 5,22 im Sinne von: „und als er ihn wiedererkannte“, verstehen. Was die Modell-Leserschaft – ähnlich wie die Leserschaft des 21. Jh.s – angesichts der Tatsache, dass Jairus „zur Begrüßung“ einen Fußfall vollführt, konstatiert,736 ist die augenscheinliche Diskrepanz zwischen dem exponierten Status des Mannes als ἀρχισυνάγωγος und dem Sich-kleiner-als-Jesus-Machen in dem Moment, da er diesem persönlich begegnet. Diese körpersprachliche Geste als Zeichen dafür zu interpretieren, dass Jairus Jesus quasi göttliche Verehrung zukommen lassen wolle,737 wird allerdings dem differenzierten Befund, der sich in Bezug auf das Sich-Niederwerfen vor Jesus im Markusevangelium zeigt, nicht gerecht. Grundsätzlich gilt es, innerhalb der erzählten Welt des Markusevangeliums zwischen der dem griechisch-römischen Kulturkreis zuzuordnenden und mit dem Terminus technicus προσκυνεῖν bezeichneten Huldigung und
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mit dieser Funktion verbundenen Aufgaben. Vermutlich umfasste dieses Amt neben den liturgischen auch Aufgaben im „finanziellen, [...] administrativen und politischen Bereich“ (WAGNER, Anfänge, 61). Gleichzeitig ist belegt, dass ein Synagogenvorsteher zum einen mehr als nur einen Titel tragen konnte, dass zum anderen aber auch – wie im vorliegenden Fall – mehr als eine Person zur selben Zeit als ἀρχισυνάγωγος fungierte (vgl. LEVINE, Synagogue, 211). Zwar sind in der kognitiv-narratologischen Figurenanalyse laut Jens Eder „Konzepte aus der Forschung zur nonverbalen Kommunikation häufig gut geeignet“ zur genaueren Beschreibung von Figuren. Gleichwohl können „[d]erartige Konzepte [...] insbesondere bei der Analyse von Psyche und Sozialität oft [...] anachronistisch oder in anderer Weise unpassend wirken, etwa Wissen und Intentionen der Autoren und ihrer Zielgruppen widersprechen“ (EDER, Gottesdarstellung, 40). Vgl. SCHROER/STAUBLI, Körpersymbolik, 219f.: „Jesus von Nazareth [...] nimmt [...] in den Evangelien teilweise die Stellung Gottes ein. Häufig erzählen nämlich die Wundergeschichten, wie BittstellerInnen sich Jesus zu Füßen werfen (Mt 15,30 u.ö.). Hinter dem gewöhnlichen Bittgestus steckt wahrscheinlich ein Hinweis der Evangelien-VerfasserInnen auf die Göttlichkeit Jesu, denn die spontane Reaktion auf die Begegnung mit der Gottheit ist das Sich-Niederwerfen.“
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
dem nicht unbedingt religiös konnotierten körpersprachlichen Gestus des Niederfallens zu unterscheiden.738 Vom προσκυνεῖν ist im Markusevangelium zweimal die Rede: Die Proskynese, welche die Soldaten unmittelbar vor der Kreuzigung vor Jesus vollführen, ist ironisch gemeint und als Verspottung gedacht (Mk 15,19); das προσκυνεῖν, welches der besessene Gerasener in Mk 5,6 bei der Begrüßung Jesu vollführt, wird von dem πνεῦμα ἀκάθαρτον initiiert, das ihn fremdbestimmt. Der Besessene handelt somit genauso wie die πνεύματα τὰ ἀκάθαρτα in Mk 3,11, die vor Jesus einen religiös konnotierten Unterwerfungsgestus vollziehen. An dieser Stelle wird allerdings der „nicht-technische“ Ausdruck προσπίπτειν verwendet. Jesus, der das Geheimnis um seine Person zunächst noch gewahrt wissen möchte, reagiert auf diese Unterwerfungshandlung, die aufgrund des mit ihm verbundenen Bekenntnisses, dass er der Sohn Gottes sei, einer Huldigung gleichkommt, allerdings mit Unwillen: καὶ πολλὰ ἐπετίμα αὐτοῖς ἵνα μὴ αὐτὸν φανερὸν ποιήσωσιν (Mk 3,12). Die Dämonen sind jedoch im Markusevangelium die einzigen, deren Niederfallen von Jesus zurückgewiesen wird. Der Kranke, der seinen Wunsch, von Jesus rein gemacht zu werden, vorträgt, indem er vor diesem auf die Knie geht, wird von Jesus nicht abgewiesen (Mk 1,40). Nachdem sie geheilt worden ist, fällt auch die sog. Blutflüssige vor Jesus nieder (Mk 5,33f.) und wird daraufhin von diesem mit freundlichen Worten entlassen. Auch die syrophönizische Frau, die erreichen möchte, dass Jesus ihre Tochter heilt, wirft sich ihm zu Füßen, bevor sie ihre Bitte ausspricht (Mk 7,25b).
Die körpersprachliche Geste des Niederfallens, vollzogen von einem galiläischen Synagogenvorsteher, ist somit nicht als Zeichen religiöser Verehrung, sondern als Ausdruck der Verzweiflung eines Vaters, der in großer Sorge um sein Kind ist, zu deuten. Darüber hinaus kann sie allerdings auch einen intertextuellen Vergleich mit dem Niederfallen der Schunemiterin vor Elisa in 2 Kön 4,27 evozieren. Diese ist in einer ähnlichen Lage wie Jairus: auch ihr Kind liegt zuhause, allerdings ist ihr Sohn – anderes als die Tochter des Synagogenvorstehers – bereits tot. Die Frau umfasst in ihrem Kummer sogar die Füße des Gottesmannes, bevor sie zu einer wörtlichen Rede anhebt.739 Anschließend ereignet sich in beiden Erzählungen Ähnliches: der zu Hilfe Gerufene begleitet das Elternteil mit zu dem Ort, wo sich das Kind befindet. Die im Niederfallen ausgesprochene Bitte des Jairus: τὸ θυγάτριόν μου ἐσχάτως ἔχει, ἵνα ἐλθὼν ἐπιθῇς τὰς χεῖρας αὐτῇ ἵνα σωθῇ καὶ ζήσῃ (Mk 5,23) kann in der Modell-Leserschaft zwei unterschiedliche scripts aktivieren: a) Jairus 738
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„Die [… Proskynese] wurde in der griech.-röm. Ant. nur Gottheiten erwiesen (Hipponax fr. 37 Diehl; Aristoph. Plut. 771–773; Soph. Phil. 657; Soph. El. 1375), bes. Sonne und Mond (Plat. leg. 887e; Plut. Artaxerxes 29,12; Lukian. de saltatione 17; Herodian. 4,15,1), Himmel und Erde (Aischyl. Pers. 499; Soph. Oid. K. 1654f.; Soph. Phil. 533; 1407) sowie chthonischen Mächten (Plat. rep. 469a–b)“ (WIESEHÖFER, Art. Proskynesis, 443). Für den neutestamentlichen Sprachgebrauch ist festzuhalten: „Bei der Verbindung von πεσὼν ἐπὶ πρόσωπον und προσκυνέω handelt es sich nicht um ein Hendiadyoin, bei dem zwei weitgehend bedeutungsgleiche Termini zur Betonung eines Sachverhaltes eingesetzt werden, sondern das eine steht für den Gestus, das andere für den Inhalt“ (OSTMEYER, Kommunikation, 47). Vgl. zu dieser Textpassage die Ausführungen auf S. 58 in der vorliegenden Untersuchung.
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229
wendet sich an Jesus als einen besonders fähigen Arzt und bittet um einen Hausbesuch – b) Jairus wendet sich an Jesus, den er als eine Art „Gottesmann“ ansieht, der in der Nachfolge Elias und Elisas steht. Er bittet diesen um einen Besuch beim zuhause darniederliegenden Töchterchen – auch die beiden Gottesmänner sind dorthin gegangen, wo die beiden toten Kinder lagen. Für die erste Assoziation sprechen folgende Indizien: Jairus beschreibt den aktuellen Zustand seines Kindes unter Verwendung des Syntagmas ἐσχάτως ἔχειν. Diese Formulierung bietet „idiomatischen Sprachgebrauch und ist insbesondere bei den antiken Ärzten verbreitet“740, um eine schwere Erkrankung zu bezeichnen, deren Heilung als aussichtslos gilt. Dann macht der besorgte Vater einen ersten Vorschlag für den weiteren Verlauf der Handlung: ἵνα ἐλθών (Μk 5,23cα). Er bittet also den Mann, der in Kapernaum schon viele Menschen geheilt hat, um einen Hausbesuch beim sterbenskranken Kind. Somit kann das Partizip ἐλθών als Hinweis darauf interpretiert werden, dass Jairus Jesus als einen Arzt anspricht, der wie andere Wanderärzte der hellenistisch-römischen Zeit zu seinen Patienten ins Haus kommt.741 Gleich anschließend entwickelt der Vater dann auch noch einen ganz konkreten Therapievorschlag: ἐπιθῇς τὰς χεῖρας αὐτῇ (Mk 5,23cβ). Das von Jairus erbetene Auflegen der Hände742 vermag zwar auch die religiöse Vorstellung des Segnens aufzurufen,743 doch es dürfen bei der Bitte um das Einsetzen der Hand medizinische Konnotationen nicht ausgeschlossen werden, denn in antiker Vorstellung galt die Hand „als wichtigstes Werkzeug des Arztes bei der Untersuchung und Behandlung von Kranken.“744 Das avisierte Ergebnis der Handauflegungs-Therapie nimmt der Synagogenvorsteher dann auch gleich vorweg, wenn er sich ausmalt: ἵνα σωθῇ καὶ ζήσῃ (Mk 5,23d). Der Vater hofft darauf, dass seine Tochter, nachdem sie von Jesus „behandelt“ worden ist, wieder vollständig wiederhergestellt sein wird. Im Sprachgebrauch der Koiné gehört das Verb σῴζειν neben „Verben wie ἱᾶσθαι, 740
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VON BENDEMANN, Latinismen, Anm. 10, 42 (mit Lit.). – Angesichts der hohen Sterblichkeits-
rate von Kindern im Imperium Romanum erscheint der Sachverhalt, dass ein Vater mit dem vorzeitigen Tod seines Kindes rechnen muss, nicht als außergewöhnlich; vgl. BOLT, Defeat, 155f. Vgl. VON BENDEMANN, Heilungen, 286. Einen „Hausbesuch“ hatte der markinische Jesus auch schon der an Fieber erkrankten Schwiegermutter des Petrus abgestattet (Mk 1,29–31). In Mk 6,2 heben die Einwohner Nazareths in Bezug auf Jesu Machttaten besonders den Einsatz seiner Hände hervor; in Mk 6,5b wird das Auflegen der Hände Jesu explizit mit Heilungen verbunden; ähnlich Mk 7,32 und Mk 8,23. Folgende alttestamentliche Textstellen belegen das Segnen durch das Auflegen der Hände: Gen 48,17ff.; Num 27,18.23; Deut 34,9. VON BENDEMANN, Heilungen, 291. – Heilung durch Handauflegung ist auch für den antikjüdischen Kulturkreis belegt. In 2 Kön 5,11 scheint insbesondere in Bezug auf die Heilung des Aussatzes Handauflegung „als gebräuchlicher Aussätzigenheilgestus vorausgesetzt zu sein“ (KOLLMANN, Jesus, 225). „Die Verbindung von Gebet und Handauflegung als Heilgestus […] hat […] im Genesis-Apokryphon von Qumran eine Parallele (1QGenAp XX,28–29)“ (KOLLMANN, Paulus, 94). Vgl. zum Genesis-Apokryphon: EVE, Context, 178f.
230
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
θεραπεύειν [und] ὑγιαίνειν“ zu den Termini technici, die „,medizinische‘ Vorstellungen evozieren“745 können. Somit ruft es in Kontexten, die von Krankheit handeln, den frame „Heilung“ auf. Vor dem Hintergrund der außertextuellen Erfahrung, dass todkranke Menschen zumeist nicht damit rechnen konnten, ärztliche Behandlung zu erfahren,746 erscheint der schwer zu deutende Fußfall des Jairus noch einmal in einem anderen Licht: als körpersprachliche Verstärkung einer Bitte an den „Arzt“ Jesus, die von anderen „Berufsgenossen“ wahrscheinlich abgelehnt würde. Wie weiter oben schon angedeutet, bietet sich für Jairus’ Bitte um einen „Hausbesuch“ noch eine zweite Assoziationsmöglichkeit an. Aus einer intertextuellen Perspektive betrachtet, lassen sich der Fußfall des Vaters und der anschließend vom Synagogenvorsteher skizzierte Ablauf des erhofften weiteren Geschehens auch als Kurzfassung der Elia- und Elisa-Wiederbelebungs-Erzählungen aus den Königebüchern verstehen.747 Es besteht eine Parallele zwischen Jesu (erbetenem) Besuch im Haus des Synagogenvorstehers und dem Wirken der beiden Gottesmänner in den Häusern der um ihre Söhne trauernden Frauen. Darüber hinaus lässt sich Jairus’ Bitte um Handauflegung als Anspielung auf das Synanachrosis-Ritual verstehen, das in den beiden Wiederbelebungserzählungen der Königebücher in unterschiedlich ausführlicher Ausprägung dargestellt wird.748 Was gegen die Identifizierung Jesu mit den beiden Propheten spricht, ist die Tatsache, dass des Jairus Tochter noch nicht gestorben ist, wenn sich der Vater an Jesus wendet. Angesichts des Umstandes, dass der Tod der Tochter im Handlungsverlauf von Mk 5 wenige Verse später von den Leuten des Synagogenvorstehers angezeigt wird, kann die Modell-Leserschaft aber spätestens zu diesem Zeitpunkt retrospektiv innerhalb des Rezeptionsvorganges die Parallele zu den Erzählungen aus den Königebüchern ziehen. Weitere Übereinstimmungen zwischen dieser Jesusgeschichte und den beiden Elia-Elisa-Erzählungen ergeben sich im weiteren Verlauf der Handlung, wenn Jesus unter Ausschluss der
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VON BENDEMANN, Heilungen, 288.
Sich im Falle einer tödlichen Erkrankung an einen Arzt zu wenden galt in der Antike als aussichtslos. Der Grund dafür, dass Mediziner vor der Behandlung sterbenskranker Menschen zurückschreckten, lag darin, dass ein Arzt auf seinen Ruf achten musste. „Nur derjenige Vertreter des ‚Faches‘ wird Patienten werben und halten können, dessen Reputation in Geltung steht [...]. Auf die Wahrung der ärztlichen Reputation ausgerichtet ist u. a. auch die Unterscheidung von ‚chronischen‘ und ‚akuten‘ Krankheiten. Differenziert werden muss, wo im Fall von Kranken gänzliche Heilung möglich ist, wo Beschwerden immerhin gemildert werden können und wo die ärztliche Kunst nichts auszurichten vermag und der Misserfolg einer Behandlung entsprechend negativ auf den Arzt zurückfallen würde“ (VON BENDEMANN, Heilungen, 280). Dass der markinische Jesus in der erzählten Welt des Evangeliums mit Elia identifiziert wird, belegt der Hinweis in Mk 6,15, dem zufolge auch andere Menschen in Galiläa Jesus für Elia halten. Vgl. dazu die Ausführungen auf S. 41f. und S. 61–63 in der vorliegenden Untersuchung.
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Öffentlichkeit dorthin – wahrscheinlich in einen abgeschlossenen Raum – geht, „wo das Kind war“ (Mk 5,40).749 Die Erzähleingangsphase mit ihren doppeldeutigen Handlungselementen bietet also die Basis dafür, dass später aufgrund der widersprüchlichen Aussagen von Jesus und den Leuten des Synagogenvorstehers – und der Tatsache, dass sich der Erzähler jeglicher klärender Erläuterung des Sachverhaltes enthält –, die Rahmenhandlung der Episode Mk 5,21–43 keiner der beiden Gattungen: „Heilungs-“ oder „Totenerweckungserzählung“, eindeutig zugeordnet werden kann.
11.3
Die aus Jesus herausgehende δύναμις
Bei der Episode Mk 5,21–43 handelt es sich um eine sog. Sandwich-Erzählung,750 denn sie besteht aus zwei Teilepisoden, deren zweite: die Darstellung einer Heilung, die Jesus der „Blutflüssigen“751 zuteilwerden lässt (Mk 5,25–34), mitten in der ersten: der Erzählung von den Geschehnissen rund um die Tochter des Synagogenvorstehers (Mk 5,21–24.35–43), steht. Binnen- und Rahmenerzählung werden durch Motivübereinstimmungen752 miteinander verknüpft.753 Bedeutsam für die Sinngebung der gesamten Episode, bestehend aus Binnen- und Rahmenerzählung, ist die mit der Perspektive Jesu übereinstimmende Erläuterung der Erzählstimme, dass die Heilung der „Blutflüssigen“ mit einem Herauskommen (ἐξελθοῦσαν) der δύναμις aus Jesus korreliert (Mk 5,30).
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Allerdings ist der markinische Jesus, anders als das bei Elia und Elisa der Fall ist, nicht völlig allein mit dem Kind. Bei ihm sind noch die Eltern und die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes. Da er aber zuvor alle anderen Trauernden hinaustreibt, ergibt sich ein ähnlicher Effekt des Wirkens im Verborgenen wie in den parallelen Passagen in den Königebüchern. Vgl. den Titel des Aufsatzes von James R. EDWARDS: „Markan Sandwiches. The Significance of Interpolationes in Markan Narratives“. Den aktuellen Forschungsstand zu den Sandwich-Erzählungen fasst zusammen: BOND, Biography, 171–173, hier auch Lit. Vgl. zur Krankheit der Frau: D’ANGELO, Power, 92–97; GOSBELL, Poor, 244–259. Die Forschungsgeschichte bis 2018, insbesondere hinsichtlich der Frage, welche Rolle der Reinheits-/Unreinheits-Diskurs für die Interpretation dieser Erzählung spielt, ist gut aufgearbeitet bei: GOSBELL, a. a. O, 232–243. Sowohl Jairus als auch die Frau werfen sich vor Jesus nieder (Mk 5,22.33); nicht nur Jairus, sondern auch die Frau werden von Jesus im Hinblick auf ihren „Glauben“ angesprochen (Mk 5,34.36); die Krankheitsdauer der Frau entspricht mit 12 Jahren genau dem Lebensalter des Kindes (Mk 5,25.42); beide kommen mit Jesus bzw. mit seinem Kleid in Berührung (Mk 5,28.30.41). Aus narratologischer Perspektive ist anzumerken, dass dieses Zwischenstück spannungssteigernd wirkt und damit in funktionaler Hinsicht vergleichbar ist mit der Passage 2 Kön 4,31, in der Gehasi vergeblich versucht, den toten Sohn der Schunemiterin aufzuwecken.
232
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen Bei dem Wort δύναμις handelt es sich innerhalb von Mk 5,21–43 ein weiteres Mal um ein Polysem, dessen Bedeutung allerdings durch den Kontext, in den Mk 5,30 gestellt ist, disambiguiert werden kann. Grundsätzlich ist der Ausdruck δύναμις im Griechischen in unterschiedlichen Zusammenhängen belegt. In antiken philosophischen Diskursen kann mit δύναμις auf ein „Weltprinzip“754 verwiesen werden, eine „Kraft, die die Welt bewegt.“755 In Bezug auf das Agieren der griechischen Götter kann unter Verwendung dieses Wortes dargestellt werden, mit Hilfe welcher Potenz sie aus ihrer transzendenten Sphäre heraus die Lebensvollzüge der Sterblichen beeinflussen.756 Im antiken medizinischen Schrifttum wird mit δύναμις zum Ausdruck gebracht, wie therapeutische Maßnahmen heilsame Veränderungen in körperlichen Befindlichkeiten Kranker bewirken können.757 Prima vista bietet es sich somit an zu vermuten, dass die Modell-Leserschaft des Markusevangeliums eben diesen medizinischen Heilungs-frame aktualisiert, wenn von einer aus Jesus „herauskommenden“ δύναμις die Rede ist – wird doch Jesu Kleidung von der kranken Frau, die schon viele Ärzte konsultiert und von Jesus (als Heiler) gehört hatte (ἀκούσασα περὶ τοῦ Ἰησοῦ; Mk 5,27), deshalb berührt, weil sie von diesem geheilt werden will.758 Zu beachten ist allerdings, dass das Wort δύναμις in Bezug auf die Heilung der kranken Frau vom Erzähler des Markusevangeliums in einem Zusammenhang verwendet wird, in dem er nachzeichnet, dass der markinische Jesus an seinem Körper etwas „Herausgegangenes“ bemerkt, wenn die kranke Frau von ihrer Plage geheilt wird. Zwar konzeptualisieren offensichtlich der Synagogenvorsteher und die „Blutflüssige“ den ihnen aus früheren Begegnungen bekannten Jesus, bei denen sie ihn wahrscheinlich als Heiler erlebt haben, als Arzt, der das kranke Kind oder das eigene Leiden heilen kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass die aus Jesus herausgegangene „Kraft“ aus seiner Perspektive, welche die Erzählstimme übernimmt, eine spezifisch medizinische Wirkkraft darstellt – auch wenn sie in diesem Fall eine Krankheit zu heilen vermag. Δύναμις ist nämlich im Sprachgebrauch des Markusevangeliums, ganz der jüdischen Tradition entsprechend, die es an dieser Stelle jetzt noch nachzutragen gilt, ein Terminus, der in einem ganz umfassenden Sinne, und nicht nur im Hinblick auf Krankenheilung, mit Gottes Wirken und Handeln verknüpft ist. In der LXX ist „häufig die Rede von einer Gott (θεός) zugehörigen δύναμις (in der Bedeutung: ‚Kraft, Macht‘/Sgl.). Dies ist zumeist in Texten der Fall, die kriegerische Verhältnisse
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GRUNDMANN, Art. δύναμαι, 288, im Original gesperrt. SCHREIBER, Paulus, 168. Vgl. auch FASCHER, Art. Dynamis, 418; WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 670. Vgl. SCHREIBER, Paulus, 168; FASCHER, Art. Dynamis, 419f. Vgl. FASCHER, Art. Dynamis, 416. GRUNDMANN, Art. δύναμαι, 291, verweist darauf, dass in POxy XI 1381, 206 ff., die Rede von ἠ τοῦ θεοῦ δύναμις σωτήριος ist. Er interpretiert diese Wortgruppe folgendermaßen: „Diese Wundertaten des Asklepios und verwandter Heilgötter heißen geradezu δυνάμεις, Krafttaten“ (ebd.); vgl. auch WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 667–676; HAUCK, DYNAMIS, 222–224. In der exegetischen Sekundärliteratur wird das Ansinnen der Frau, allein schon aufgrund einer Berührung der Kleidung Jesu geheilt zu werden, kombiniert mit der dann tatsächlich erfolgenden Genesung und dem von Jesus konstatierten Herausgehen der δύναμις, häufig mit dem label „Magie“ versehen. Vgl. zum Magie-Diskurs in Bezug auf die markinische Version von „Jairi Töchterlein“: FOCANT, Opérer, 36–41.
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thematisieren.“759 Die „alttestamentlichen“ Schriften integrieren darüber hinaus in ihre Vorstellung von der „Kraft“ Gottes die Rede „von der machtgeladenen Lade bis zum παντοκράτωρ, dem Allherrscher über alle δυνάμεις auf Erden u.[nd] im Himmel“760, was darin kulminiert, „daß anstelle des zu vermeidenden Gottesnamens der Begriff ‚die Kraft‘ als Umschreibung verwendet wurde“761. Auch der markinische Jesus verwendet in Mk 14,62 in einer Figurenrede den Ausdruck δύναμις anstelle des Gottesnamens; in Mk 9,1 kündigt er an, dass die Herrschaft Gottes ἐν δυνάμει kommen werde;762 in Mk 12,24 spricht er von der δύναμις τοῦ θεοῦ im Kontext der Vorstellung von der endzeitlichen Auferstehung der Toten.763 „Der Begriff δύναμις weist im Markusevangelium auf den Bereich Gottes […], δύναμις ist seine ihn ganz besonders charakterisierende Eigenschaft (Mk 12,24). Das Evangelium nennt keine weitere Eigenschaft Gottes und charakterisiert ihn durch keinen anderen Begriff.“764
Die Modell-Leserschaft identifiziert – dem Sprachgebrauch des zeitgenössischen Judentums entsprechend – diese δύναμις als die „Kraft Gottes“, deren Eingegangen-Sein in Jesus sie sich folgendermaßen erklären kann: Jesus ist als Geistträger der Sohn Gottes (Mk 1,10f.), partizipiert damit also an der δύναμις seines Vaters. Jesus selbst führt in Mk 5,34b die Gesundung der Frau auf ihre πίστις zurück: θυγάτηρ, ἡ πίστις σου σέσωκέν σε· Zu klären ist, welche Vorstellung das Syntagma ἡ πίστις σου in Mk 5,34b in der Leserschaft auslöst: in Frage kommen a) der Glaube der Frau an Jesus und b) der Glaube der Frau an Gott. Diese Vagheit beruht allerdings in diesem Fall nicht auf einer Polysemität, die dem Substantiv πίστις im neutestamentlichen Sprachgebrauch zu eigen wäre. Sowohl das Verb πιστεύειν als auch das Substantiv πίστις werden im Neuen Testament in Anlehnung an den „alttestamentlich“-jüdischen Sprachgebrauch grundsätzlich so verwendet, dass der Glaubensbegriff im Sinne des „Glaubens an jemanden“ personal strukturiert ist und gleichzeitig „als Ausdruck des Vertrauens und
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HAUCK, DYNAMIS, 271. Vgl. zu „Δύναμις und Macht Gottes“ auch WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 678f. FASCHER, Art. Dynamis, 429. FASCHER, Art. Dynamis, 431. In Bezug auf die Endzeitereignisse scheint die Rede vom Kommen der Herrschaft Gottes ἐν δυνάμει austauschbar mit der Vorstellung, dass der Menschensohn μετὰ δυνάμεως πολλῆς καὶ δόξης (Mk 13,26) kommen werde. Dass das Wort δύναμις auch im Markusevangelium polysem ist, zeigt sich daran, dass im selben eschatologischen Zusammenhang dargestellt wird, dass vor dem Kommen der δύναμις des Menschensohnes αἱ δυνάμεις αἱ ἐν τοῖς οὐρανοῖς σαλευθήσονται (Mk 13,25). Besondere Taten Jesu werden im Markusevangelium als δυνάμεις bezeichnet (Mk 6,2b.5); der markinische Jesus toleriert gemäß Mk 9,39, dass jemand in seinem Namen eine δύναμις vollbringt. GUTTENBERGER, Gottesvorstellung, 183. – Die (innerhalb der erzählten Welt des Evangeliums nicht der „Wirklichkeit“ entsprechende) Aussage des Herodes, dass in Jesus αἱ δυνάμεις des wieder auferstandenen Täufers wirken (Mk 6,14), liegt auf einer anderen Ebene als die Charakterisierung Gottes durch das Attribut δύναμις. In Mk 6,14 evoziert der Ausdruck die Vorstellung „dämonische Mächte“ (vgl. SCHREIBER, Paulus, 170).
234
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen der Zuversicht“765 fungiert. Unklar ist allein das Objekt, auf welches sich die πίστις der Frau bezieht. Für Lösung a) spricht der Umstand, dass die Frau die Rettung aus ihrer Notlage nicht von Gott in einem Gebet erfleht, sondern dass sie tatkräftig Jesu Gewand berühren will, weil sie sich von dieser Aktion verspricht: σωθήσομαι (Mk 5,28). Gegen dieses Verständnis und als Argument für Lösung b) ist einzuwenden, dass sowohl das Verbum πιστεύειν als auch das Substantiv πίστις in den anderen markinischen Heilungserzählungen nicht auf den „Glauben an Jesu Person […, sondern auf] das rückhaltlose Vertrauen auf Gottes eschatologische Wundermacht“766 referieren. Als „Schlüssel zum Glaubensverständnis des Markusevangeliums“767 lässt sich Jesu Figurenrede in Mk 11,22b interpretieren: ἔχετε πίστιν θεοῦ. „Dieses Glaubensverständnis ist in der Überzeugung begründet, dass Gott (im Gegensatz zum Menschen) alles möglich ist (vgl. Mk 10,27).“768
Die Modell-Leserschaft der Doppelepisode Mk 5,21–24.35–43/5,25–34 gewinnt somit zum einen aufgrund des Erzählerkommentars in Mk 5,30, der die Selbstwahrnehmung Jesu wiedergibt, dass im Vollzug des Gesundwerdens der Frau δύναμις aus ihm herausgekommen ist, und zum anderen aufgrund der Figurenrede Jesu, aus der hervorgeht, dass er die Heilung der Frau auf ihren Glauben an Gott zurückführt, folgende Erkenntnis: Im Zusammenwirken von δύναμις und πίστις769 vollzieht sich in der erzählten Welt des Markusevangeliums die Genesung einer zuvor als unheilbar geltenden Erkrankten. Dieser Schlussfolgerung kommt eine Art primacy effect zu, lässt sie sich doch in die Interpretation der Rahmenerzählung inferieren, um zu erklären, wie es zu der Veränderung im Zustand des darniederliegenden Mädchens kommt.770 Da es zwischen Binnen- und Rahmenerzählung mehrere Übereinstimmungen gibt, liegt es nahe, Leerstellen, die in der Erzählung vom Ergehen des Mädchens zu verzeichnen sind, mit Erkenntnissen aus den Geschehnissen rund um die erkrankte Erwachsene zu füllen. So ergeben sich beim Vergleich zwischen Binnenund Rahmenhandlung sowohl Parallelen im „Glaubensstatus“ derjenigen, die sich hilfesuchend an Jesus wenden, als auch im Vorhandensein eines haptischen Kontaktes zwischen den Hilfebedürftigen und Jesus,771 der das Wirken der δύναμις initiiert. Der genesenen Frau attestiert Jesus im Nachhinein Glauben 765 766 767 768 769
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HAHN, Verständnis, 48. HAHN, Verständnis, 55. DU TOIT, Herr, 91. DU TOIT, Herr, 91. Dieser Befund wird indirekt durch Mk 6,5.6 bestätigt. Hier muss Jesus konstatieren, dass er aufgrund der ἀπιστία, welche die Einwohnerschaft seiner Vaterstadt kennzeichnet, abgesehen von wenigen Heilungen keine δυνάμεις in Nazareth vollbringen kann. Vgl. D’ANGELO, Power, 81: „[T]he transfer of power […] is at the centre of both healings“. Die Tochter des Synagogenvorstehers ist aufgrund ihrer schweren Erkrankung nicht selbst in der Lage, sich an Jesus zu wenden. Somit besteht die Parallelität der Handlungsstränge in Bezug auf die πίστις zwischen der kranken Frau und dem Vater, der quasi in Stellvertretung seiner Tochter agiert. Der Körperkontakt vollzieht sich dann allerdings direkt zwischen beiden weiblichen Figuren und Jesus.
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(Mk 5,34), den Vater des Kindes fordert er explizit zum Glauben auf (Mk 5,36), bevor er sich mit ihm zur Tochter begibt. Während die sog. Blutflüssige von sich aus eine haptische Verbindung zu Jesus herstellt, indem sie seine Kleidung berührt,772 geht der Körperkontakt zwischen Jesus und dem Mädchen von ihm aus. Das Vorhandensein dieser parallelen Begleitumstände lässt den Schluss zu, dass in der Rahmenhandlung die Veränderung im körperlichen Zustand des Kindes auf derselben aus Jesus herausgehenden δύναμις basiert wie das Versiegen des Blutflusses bei der Frau im Mittelteil. Das σώζεσθαι der Frau und des Mädchens ist somit jeweils auf die Wirkmacht der δύναμις Gottes zurückzuführen, die Jesus als Mittler überträgt.
11.4
Der markinische Jesus im Vergleich mit Elia und Elisa
Es ist bereits aufgezeigt worden, dass es zwischen der Rahmenhandlung von Mk 5,21–43 und den Wiederbelebungsgeschichten von Elia und Elisa in den Königebüchern Übereinstimmungen gibt. Die auffälligste Parallele ist wohl in Bezug auf die Transmitterfunktion des markinischen Jesus zu konstatieren, die strukturell der Rolle gleichkommt, die Elia und Elisa im Vollzuge der Wiederbelebungen der toten Jungen zufällt. Da darüber hinaus auch noch die Figurenkonstellation, das räumliche setting und der Handlungsablauf im Großen und Ganzen übereinstimmen, schreibt die Modell-Leserschaft des Markusevangeliums den Protagonisten des Zweiten Evangeliums in die Elia-/Elisa-Tradition ein. Sein besonderes Profil erhält der markinische Jesus in Mk 5,21–43 im Vergleich mit den Wiederbelebungserzählungen der Königebücher aber gerade aufgrund der Abweichungen, die ins Auge fallen, wenn man die Texte einander gegenüberstellt. In den Erzählungen der Königebücher ist der eigentliche Totenerwecker JHWH. Er greift in die Handlung ein, nachdem die beiden Gottesmänner im Gebet darum gebeten haben, dass die Knaben wieder lebendig werden (1 Kön 17,21; 2 Kön 4,33). Die performativen Akte in Form von Synanachroseis, welche die Gottesmänner vollziehen, sind nicht die auslösenden Momente der Wiederbelebungen, sondern verweisen – in Weiterführung des „alttestamentlichen“ Denkmodells von der Kompetenzerweiterung JHWHs – auf die Zuständigkeit Gottes auch für die Toten. Das Wieder-lebendig-Werden ist konzeptualisiert als reversio animae. Es handelt sich um eine Umkehr des Sterbeprozesses: die im Weggehen 772
Dass das Berühren der Kleidung ausreicht, die Frau Jesus also nicht direkt anfassen muss, um den Heilungsvorgang zu initiieren, ist ein Indiz für die besondere Wirkmacht der von Gott stammenden δύναμις, die anschließend aus Jesus herausgeht.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
befindliche Lebenskraft (bei dem Sohn der Witwe) bzw. die vitalen Körperfunktionen (bei dem Sohn der Schunemiterin) kehren in die Leichname zurück. Der markinische Jesus betet nicht eigens zu Gott, bevor er sich auf den Weg zum Kind macht. Offensichtlich bedarf es beim Sohn Gottes nicht dieser aktuellen Rückversicherung um göttlichen Beistand, den die beiden Gottesmänner erbitten. Jesus steht als Sohn Gottes permanent mit diesem in Verbindung. Um zu verdeutlichen, dass durch die δύναμις Gottes das Mädchen von seiner liegenden Position zum Aufstehen gebracht wird, führt der markinische Jesus – anders als Elia und Elisa bei den toten Knaben – auch keinen aufwändigen ritualsymbolischen performativen Akt in Form einer Synanachrosis durch. Jesus legt dem Mädchen nicht die Hände auf, womit er der Bitte des Vaters entsprochen und das Verhalten von Elia und Elisa nachgeahmt hätte. Er nimmt ganz einfach die Hand des Kindes, sodass ähnlich wie bei der „Blutflüssigen“ Körperkontakt hergestellt ist, und vollzieht dann einen performativen Sprechakt, indem er die vor ihm Liegende dazu auffordert: ἔγειρε! (Mk 5,41). Der Erzähler misst diesem verbalen Handeln Jesu eine besondere Bedeutung bei, denn er fügt seiner griechischen Übersetzung der zunächst auf Aramäisch wiedergegebenen wörtlichen Rede ein überschießendes Element hinzu: für σοὶ λέγω gibt es kein Äquivalent in der aramäischen Vorlage. Durch die Ergänzung der „originalen“ wörtlichen Rede Jesu auf Aramäisch durch den Zusatz „ich sage dir“ zeigt die Erzählstimme in ihrer griechischen Übersetzung an, dass die Wirkung der göttlichen δύναμις am Kind durch den Sprechakt Jesu performativ vermittelt wird. Das Ergreifen der Hand von Hilfsbedürftigen,773 der an Kranke gerichtete Imperativ ἔγειρε774 sowie der einen performativen Sprechakt anzeigende Zusatz σοὶ λέγω775 sind innerhalb der erzählten Welt des Markusevangeliums keine singulären Aktionen des Protagonisten. Jesus verhält sich in einer Situation, die als Totenerweckung gedeutet werden kann,776 nicht anders als bei seinen Krankenheilungen.
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Vgl. Mk 1,31 (Schwiegermutter des Petrus); Mk 9,27 (epileptischer Junge). Vgl. Mk 2,9.11 (παραλυτικός); Mk 3,3 (Mann mit der „vertrockneten“ Hand). Vgl. Mk 2,11. Da die Modell-Leserschaft das Handeln des markinischen Jesus an der Tochter des Synagogenvorstehers nicht eindeutig als eine Totenerweckung identifizieren kann, erübrigt sich ein Vergleich mit den Erzählungen von Wiederbelebungen durch Polyidos und Asklepios. Diese Vergleichsfiguren kommen zum Tragen, wenn es darum geht, das Profil des matthäischen sowie des lukanischen Jesus als Totenerwecker schärfer zu konturieren.
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11.5
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Die Tochter des Synagogenvorstehers: vom Objekt zur Erzählfigur
Auch wenn die Episode von „Jairi Töchterlein“ aufgrund ihrer Ambiguität nicht eindeutig als Totenerweckungserzählung kategorisiert werden kann, gibt es dennoch einen Aspekt ihrer story, der sie mit den bisher analysierten antiken Gattungsexemplaren vergleichbar macht. Auch in Mk 5,21–43 ist die Figur, die aufgeweckt/auferweckt wird, ein Kind.777 Während in den Erzählungen von Elia und Elisa – aber auch von Polyidos – der Fokus schwerpunktmäßig auf den an toten Kindern handelnden Totenerweckern liegt und insbesondere in den Schlusspassagen der einzelnen Erzählungen das wiederbelebte Kind völlig aus dem Blick gerät, verhält sich dies in Mk 5,21–43 anders. Zunächst ist auch die Tochter des Synagogenvorstehers nur ein Objekt, über das andere reden: der Vater, wenn er Jesus um Hilfe bittet (Mk 5,22f.); die Leute vom Haus des Synagogenvorstehers, wenn sie ihren Tod vermelden (Mk 5,35). Diese Todesboten fordern den Synagogenvorsteher sogar dazu auf, Jesus angesichts der Tatsache, dass das Kind in der Zwischenzeit verstorben ist, nicht weiter zu bemühen (ebd.). Mit der wörtlichen Rede des Protagonisten in Mk 5,40 vollzieht sich allerdings in story und discourse der Geschichte ein Umbruch. Jesus behauptet, dass das Kind nicht tot sei, sondern schlafe. Im Folgenden wird dann aber nicht mehr nur über das Kind, sondern mit dem Kind gesprochen; Informationen über seinen Zustand werden nicht mehr aus Figuren-, sondern aus der Erzählerperspektive vermittelt, wobei der Erzähler in der Darstellung des 777
In der Forschungsliteratur wird die Tochter des Synagogenvorstehers aufgrund der Altersangabe in Mk 5,42 häufig für eine Pubertierende gehalten, die sich in der Übergangsphase zwischen Kind- und Erwachsensein befindet. Aufgrund der Parallelen, die zur Figurenzeichnung der „Blutflüssigen“ bestehen, wird der Zwölfjährigen auch ein gynäkologisches Problem zugeschrieben, was unter den medizinischen frame: ὑστερικαὶ γυναῖκες subsumiert wird (vgl. die Ausführungen in Anm. 682, 203f., in der vorliegenden Untersuchung; siehe ferner: D’ANGELO, Power, 95–97). Gegen diese Figurenzeichnung spricht aber das Bild, das sich ergibt, wenn die Konnotationen ernst genommen werden, welche den Begriffen anhängen, die in den Figurenreden des Vaters und Jesu sowie vom Erzähler verwendet werden. Das Mädchen wird über die Figurenrede des Vaters als θυγάτριον in die erzählte Welt des Evangeliums eingeführt (Mk 5,23). Diese Diminutivform evoziert in den Rezipierenden die Vorstellung eines Kindes, nicht die einer jungen Frau. Jesus bezeichnet das Kind zunächst mit einer Diminutivform als παιδίον (Mk 5,39). Wenn er das vor ihm liegende Mädchen anspricht, wählt er das aramäische Wort Talitha, das als Kosename für kleine Mädchen verwendet wird (vgl. WILCOX, ΤΑΛΙΘΑ, 474; ZWIEP, Daughter, 71). Der Erzähler bezeichnet sie, wenn sie aufsteht, mit einer weiteren Diminutivform als κοράσιον. Aufgrund des primacy effects dieser drei Ausdrücke wird das Bild von einem Mädchen, das die Rezipierenden von der Darniederliegenden haben, nicht nachträglich durch die nachgeschobene Erzählerrede: „Sie war aber 12 Jahre alt“ dahingehend korrigiert, dass es sich um eine junge Frau handeln müsse (gegen GOSBELL, Poor, 274).
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Geschehens die Perspektive Jesu übernimmt. Er schildert genau das, was auch Jesus wahrnimmt, wenn er zusammen mit den Eltern und ausgewählten Jüngern das Kind dort aufsucht, „wo es war“ (Mk 5,40). Indem Jesus die Hand des Mädchens nimmt und es direkt anspricht, versetzt er es vom Objekt- in den Subjekt-Status (Mk 5,42). Der Fokus des Erzählers liegt anschließend exklusiv auf den Handlungen des Mädchens: Er berichtet davon, wie es aufsteht und umhergeht (ebd.). Seine wie nachgeschoben wirkende Altersangabe unterstreicht den Wechsel in der Perspektivstruktur. Das Mädchen bekommt vermittels der Altersangabe eine eindeutigere Identität. Die Leserschaft weiß nun, dass es sich bei dem Kind des Synagogenvorstehers weder um einen Säugling noch um ein Kleinkind, sondern um ein größeres Mädchen handelt. Wie der Erzähler in Mk 5,42c berichtet, löst sein Schicksal bei den anderen Erzählfiguren großes Erstaunen aus. Es ist ihm nicht so ergangen, wie es todkranken Kindern für gewöhnlich geht: sie sterben und bleiben tot –, sondern es ist in die Lage versetzt worden, selbstständig aufzustehen. Für einen kurzen Moment muss sich die Tochter des Synagogenvorstehers noch einmal die Aufmerksamkeit der Leserschaft mit Jesus teilen, wenn dieser anweist, dass das Geschehene geheim gehalten werden solle (Mk 5,43a). Am Ende der Erzählepisode liegt der Fokus aber wieder auf dem Mädchen, wenn Jesus befiehlt, dass ihr zu essen gegeben werden solle (Mk 5,43b). Mit dieser Anweisung bewirkt der Protagonist des Markusevangeliums die vollständige Reintegration der zuvor Hilfsbedürftigen in ihr Dasein vor ihrer Erkrankung bzw. ihrem Versterben. Sie benötigt keine Sonderbehandlung, sondern verfügt über alle Voraussetzungen, um vermittels Nahrungsaufnahme ihre vitalen Körperfunktionen selbstständig aufrecht erhalten zu können. Unabhängig davon, ob die Geschichte von „Jairi Töchterlein“ nun als Heilungs- oder als Totenerweckungserzählung rezipiert wird, ist es bemerkenswert, dass die Tochter des Synagogenvorstehers in der erzählten Welt des Markusevangeliums nicht in erster Linie als Objekt dargestellt wird, an dem das Wirken der δύναμις Gottes, vermittelt durch seinen Sohn Jesus, demonstriert werden kann. Nicht derjenige, der das σῳζεῖν initiiert, steht am Ende im Fokus des Erzählers. Stattdessen bleibt das gerettete Mädchen als „Schlussbild“ im Gedächtnis der Leserschaft haften, das aufgrund der unerschütterlichen πίστις seines Vaters zum exemplum für zwei theologische Kernaussagen des Markusevangeliums wird: πάντα δυνατὰ τῷ πιστεύοντι (Mk 9,23); πάντα γὰρ δυνατὰ παρὰ τῷ θεῷ (Mk 10,27b).
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Mt 9,18–26: Jesus und die Tochter des Vorstehers
Die matthäische Version von „Jairi Töchterlein“ macht es ihrer Modell-Leserschaft leichter, diese als in sich widerspruchsfreie (Totenerweckungs-)Erzählung zu rezipieren, als das bei ihrer markinischen Vorlage778 der Fall ist. Die Ereignisse, von denen im Ersten Evangelium erzählt wird, stehen nämlich grundsätzlich unter dem Vorzeichen der nahe gekommenen βασιλεία τῶν οὐρανῶν (Mt 4,17). In dieser vom Reich/von der Herrschaft der Himmel geprägten erzählten Welt macht der matthäische Jesus in Mt 11,5 in Anlehnung an jesajanische Hoffnungsformulierungen779 deutlich, dass Totenerweckungen (νεκροὶ ἐγείρονται) quasi zu seinem „Programm“ gehören, das gemäß Mt 10,8 auch von seinen Jüngern umgesetzt werden soll (νεκροὺς ἐγείρετε).780 778
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Nicht zuletzt aufgrund der Vielzahl von minor agreements zwischen der matthäischen und der lukanischen Fassung dieser Erzählepisode, mit denen sie von der markinischen Version abweichen, werden in der neutestamentlichen Wissenschaft Anfragen an die ZweiQuellen-Theorie gestellt, vgl. u. a. LUZ, Matthäus I/2, 51f.: „unser Text gehört zu denjenigen synoptischen Texten, die deutliche Hinweise für die Existenz einer deuteromk. Rezension geben“; FUCHS, Wachstum, passim. Dieser Forschungsdiskussion wird in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter nachgegangen. In formaler Hinsicht ist das „Programm“ in Mt 11,5 mit Jes 29,18f.; 35,5f. und 61,1 vergleichbar, wo auch aufgelistet wird, welche Missstände in der Heilszeit überwunden sein werden. In den formal vergleichbaren Stellen fehlt jedoch ein Hinweis auf die Erweckungen Toter. Eine Parallele hierzu findet sich allerdings in Jes 26,19. Von der Auferweckung Toter als Zeichen der messianischen Heilszeit ist auch in 4Q521 die Rede, vgl. hierzu: COLLINS, Works, 112, der in dieser Qumranschrift „a prophetic messiah of the Elijah type“ erkennt, der wie der in den Königebüchern beschriebene Elia auch Tote wiederbeleben kann, womit die Parallele zum matthäischen Jesus hergestellt ist. Gleichzeitig knüpft der Erzähler des Matthäusevangeliums bei der Darstellung von Ereignissen, die mit der Kreuzigung und der Auferstehung Jesu verbunden sind, aber auch an Wiederbelebungsvorstellungen an, wie sie aus dem bildspendenden Bereich der metaphorischen Rede in Ez 37 bekannt sind. Gemäß Mt 27,52f. öffnen sich unmittelbar nach Jesu Tod in Jerusalem die Gräber, anschließend werden πολλὰ σώματα τῶν κεκοιμημένων ἁγίων auferweckt (ἠγέρθησαν), was mit einem expliziten Herausgehen aus den Gräbern einhergeht (καὶ ἐξελθόντες ἐκ τῶν μνημείων). Es liegt nahe, sich die auferweckten „Heiligen“ so vorzustellen, dass sie nach ihrem Auferweckt-Werden wieder über ihre frühere Körperlichkeit verfügen. Dieses Auferstehungskonzept deckt sich mit dem, das Herodes Antipas in Mt 14,2 vertritt, wenn er Jesus für den von den Toten auferweckten Täufer hält (οὗτός ἐστιν Ἰωάννης ὁ βαπτιστής· αὐτὸς ἠγέρθη ἀπὸ τῶν νεκρῶν). Die Annahme des Landesfürsten setzt voraus, dass von den Toten Auferstandene über einen wiederhergestellten Körper verfügen. Anders als in „paganen“ antiken Diskursen über die Unmöglichkeit der Wiederbelebung von Toten ist das Konzept einer leiblichen Auferstehung von Verstorbenen Bestandteil der erzählten Welt des Matthäusevangeliums.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Die matthäischen Version von „Jairi Töchterlein“ entspricht also als Totenerweckungserzählung dem Profil des Protagonisten, zu dessen agenda es gehört, Tote zu erwecken. Im Einzelnen weist diese Geschichte in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut auf: 18 Während er diese Dinge zu ihnen sagte (ταῦτα αὐτοῦ λαλοῦντος αὐτοῖς), siehe (ἰδού), ein Vorsteher (ἄρχων εἷς), der kam, huldigte (προσεκύνει) ihm und sagte: „Meine Tochter ist soeben gestorben (ἡ θυγάτηρ μου ἄρτι ἐτελεύτησεν). Aber komm781 (ἐλθών), leg deine Hand auf sie (ἐπίθες τὴν χεῖρά σου ἐπ’ αὐτήν), und sie wird leben (ζήσεται).“ 19 Und Jesus folgte ihm, nachdem er aufgestanden war (ἐγερθείς), und seine Jünger. 20 Und siehe, eine Frau, die zwölf Jahre Blutfluss hatte, nachdem sie von hinten herangekommen war, berührte die Quaste seines Gewandes. 21 Denn sie sagte bei sich selbst: „Wenn ich nur sein Gewand berühre, werde ich gerettet werden (σωθήσομαι).“ 22 Jesus aber, nachdem er sich umgedreht und sie gesehen hatte, sagte: „Fasse Mut, Tochter. Dein Glaube hat dich gerettet (ἡ πίστις σου σέσωκέν σε).“ Und die Frau wurde gerettet von jener Stunde an (καὶ ἐσώθη ἡ γυνὴ ἀπὸ τῆς ὥρας ἐκείνης). 23 Und als Jesus in das Haus des Vorstehers kam und die Flötenspieler sah und die lärmende Menschenmenge (τοὺς αὐλητὰς καὶ τὸν ὄχλον θορυβούμενον), 24 sagte er: „Geht weg, denn das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft (ἀναχωρεῖτε, οὐ γὰρ ἀπέθανεν τὸ κοράσιον ἀλλὰ καθεύδει).“ Und sie lachten ihn aus. 25 Nachdem er aber die Menge hinausgeworfen hatte und hineingegangen war, nahm er ihre Hand (ἐκράτησεν τῆς χειρὸς αὐτῆς), und das Mädchen stand auf (καὶ ἠγέρθη τὸ κοράσιον). 26 Und diese Kunde ging hinaus in jenes ganze Land.
Die matthäische Fassung von „Jairi Töchterlein“ ist wesentlich enger mit dem Erzählfaden des Gesamtevangeliums verknüpft, als dies für die markinische Vorlage und den sie umgebenden Kontext zu konstatieren ist. Die aufgrund ihrer Ambiguität recht extravagante Fassung des Zweiten Evangeliums zeigt sich schon dadurch, dass der Erzähleingang mit einem Ortswechsel einhergeht, als Episode mit einer gewissen Eigenständigkeit. In der matthäischen Version spielt die Handlung seit Mt 9,1 in Jesu Stadt – gemeint ist: Kapernaum (Mt 4,13) –, von Mt 9,10 an schildert der Erzähler, wie der Protagonist bei einem Gastmahl mit Zöllnern zu Tisch liegt; es kommen zunächst die Jünger des Johannes (Mt 9,14) dazu, anschließend – mitten in Jesu Redefluss – ein namenlos bleibender Vorsteher (Mt 9,18). Ein Erzählstrang geht somit nahtlos in einen anderen über.782 Während die Verknüpfung der Totenerweckungserzählung mit dem zuvor Erzählten über den Genitivus absolutus ταῦτα αὐτοῦ λαλοῦντος αὐτοῖς (Mt 9,18a) erfolgt, gibt das anschließende ἰδού den Hinweis darauf, dass etwas Neues geschieht: am gleichbleibenden Ort kommt eine neue Erzählfigur, ein ἄρχων, hinzu – dessen Erscheinungsbild jedoch ziemlich blass bleibt. Die Körperschaft, 781 782
Vgl. zur imperativischen Funktion des Partizips: ZWIEP, Daughter, 76f. Gemäß LUZ, Wundergeschichten, 238, lassen sich das 8. und 9. Kapitel des Matthäusevangeliums als „Schilderung von einem oder zwei Tagen im Leben Jesu“ verstehen, die darauf verweisen, „dass am Anfang der Geschichte der Gemeinde ein zusammenhängendes, ununterbrochenes Handeln Gottes durch Jesus stand“ (ebd.).
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welcher er vorsteht, wird nicht näher spezifiziert, auch sein Name wird nicht genannt. Durch diese Veränderungen gegenüber der markinischen Vorlage verliert die matthäische Erzählfigur etwas von der Unverwechselbarkeit, die dem Synagogenvorsteher Jairus aus dem Zweiten Evangelium eignet.783 Mit seiner Jesus zur Begrüßung erwiesenen Proskynese scheint er sich auf den ersten Blick in die Riege derjenigen einzureihen, die Jesus innerhalb der erzählten Welt des Matthäusevangeliums mit einer Huldigung begrüßen. Die insgesamt 12 Belegstellen für προσκυνεῖν784 im Matthäusevangelium weisen diesen Gestus als „die gegenüber Jesus sachgemäße Haltung“785 aus. Aus der ersten und einzigen Figurenrede dieses anonym bleibenden ἄρχων geht dann jedoch zum einen hervor, warum dieser Vorsteher vom Erzähler des Matthäusevangeliums anders als seine Vorlage-Figur aus dem Markusevangelium gezeichnet wird, und zum anderen, dass im προσκυνεῖν des Vaters mehr als nur der dem matthäischen Jesus gegenüber übliche Huldigungsgestus gesehen werden kann.786 Für die Modell-Leserschaft aktualisieren sich nämlich im verwaisten Vater des Matthäusevangeliums auch Verhaltensweisen der um ihren toten Sohn trauernden Schunemiterin aus 2 Kön 4. Drei Aspekte der wörtlichen Rede des ἄρχων in Mt 9,18 stützen diese Hypothese: Erstens sagt der Vater, dass seine Tochter „eben erst verstorben“ sei. Dem temporalen Adverb ἄρτι kommt in dieser einleitenden Formulierung: θυγάτηρ μου ἄρτι ἐτελεύτησεν, eine besondere Bedeutung zu. In der antiken jüdischen Thanatologie wird das Sterben als ein Prozess konzeptualisiert, in dem der Tod – in Ausnahmefällen – zunächst noch als reversibel gedacht werden kann.787 Eben diese Vorstellung aus der zeitgenössischen außertextuellen Realität geht dann auch in die Totenerweckungserzählungen ein und lässt deren Handlungsverlauf
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LUZ, Matthäus I/2, 52, erklärt diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Mit ihm konnte sich die hörende Gemeinde leichter identifizieren als mit einem Vorsteher der ihr feindlichen Synagoge.“ Mt 2,2.8.11; 4,9.10; 8,2; 9,18; 14,33; 15,25; 18,26; 20,20; 28,9.17. LUZ, Jünger, 148. Vgl. auch LUZ, Matthäus I/1, 120: „Gemeint ist damit die Verehrung durch Sich-zu-Boden-Werfen, die nach griechischem Verständnis den Göttern, nach orientalischem auch höhergestellten Menschen, vor allem Königen zukommt. Obwohl das Wort in neutestamentlicher Zeit bereits abgeschliffen gebraucht werden kann, herrscht bei Matthäus ein bewußter und pointierter Sprachgebrauch vor: Proskynese geschieht fast ausschließlich vor Jesus, und zwar durch Hilfesuchende (8,2; 9,18; 15,25, vgl. 20,20) und Jünger (14,33 in Verbindung mit dem Gottessohnbekenntnis), besonders gegenüber dem Erhöhten (28,9.17). Gegenüber dem Zweifel bezeichnet 28,17 προσκυνέω die sachgemäße Haltung vor dem auferstandenen Herrn.“ – Vgl. auch ZWIEP, Daughter, 75 und 162. Vgl. auch ZWIEP, Daughter, 161, der darauf hinweist, dass der Fußfall des Vorstehers auch als Anspielung auf Jes 49,7f. verstanden werden kann: „what the prophet of old expected to occur in the distant future, now becomes visible in the act of prostration […] of this Jewish leader before Jesus.“ Vgl. dazu die Ausführungen im Abschnitt 2.1.2 in der vorliegenden Untersuchung.
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plausibel erscheinen. Auch die Schunemiterin sucht noch am selben Tag, an dem ihr Sohn gestorben ist, den Elisa auf dem Berg Karmel auf. Zweitens vollführt die Schunemiterin, wenn sie auf den Gottesmann trifft, eine ganz ähnliche körpersprachliche Geste wie der Vorsteher: sie wirft sich vor Elisa nieder und umklammert seine Füße. Dieses Niederfallen übernimmt der Vater in einer modifizierten Form, indem er Jesus die in der erzählten matthäischen Welt übliche Proskynese erweist. Aufgrund der Tatsache, dass er sich in derselben existentiellen Ausnahmesituation wie die verwaiste Mutter befindet, überwiegen beim Vergleich der beiden Verhaltensweisen die Gemeinsamkeiten: das Niederfallen, gegenüber den Unterschieden: der Vater umklammert Jesu Füße nicht. Drittens enthält die zweite Hälfte der wörtlichen Rede des Vorstehers in Mt 9,18 in nuce den Handlungsverlauf der Elisa-Geschichte: Der Vater sagt zu Jesus, er möge zu seiner soeben verstorbenen Tochter kommen und ihr die Hand auflegen. Die Kombination der Handlungselemente ἐλθεῖν und ἐπιτιθέναι τὴν χεῖρα ἐπί findet sich auch in der Erzählung von Elisa und dem toten Sohn der Schunemiterin. Hier muss ebenfalls der Gottesmann geholt werden, während das Kind tot zuhause liegt. Im Synanachrosis-Ritual legt Elisa unter anderem seine Hände auf die Hände des toten Jungen. Die Bitte des Vaters, Jesus möge dem verstorbenen Mädchen seine Hand auflegen, entspricht zwar nur ansatzweise dem ausführlichen ritualsymbolischen Akt, den Elisa am toten Knaben vollzieht. Bemerkenswert ist aber, dass in Bezug auf das Handauflegen in der antiochenischen Rezension von 2 Kön 4,34 dasselbe Syntagma: ἐπιτιθέναι ἐπί, verwendet wird.788 Die kaige-Fassung und der Masoretische Text formulieren ähnlich. Wenn der Vater im Matthäusevangelium seinen Wunsch singularisch ausspricht, könnte das seinen Grund darin haben, dass eine Verwechslung mit einer Bitte um eine Segnung ausgeschlossen werden soll, die sich in Mt 19,13.15 als pluralische Formulierung findet. Es fällt weiterhin auf, dass der Vorsteher Jesus nicht darum bittet, seine Tochter aufzuerwecken – die ἐγείρειν-/ἀνιστάναι-Terminologie verwendet er ebensowenig für postmortale Phänomene wie Erzähler und Erzählfiguren in den Königebüchern.789 Den LXX-Sprachgebrauch für Wiederbelebungsphänomene übernehmend, wählt er am Ende seiner Figurenrede eine Verform von ζῆν. 788
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2 Kön 4,34: […] und legte (ἐπέθηκε) sein Gesicht auf (επί) dessen Gesicht und seine Augen auf dessen Augen und seinen Mund auf dessen Mund und seine Hände auf (επί) dessen Hände. Das Verb ἐγείρειν wird in Mt 2,13.14.20.21; 8,26; 25,7 und 26,46 verwendet, um den frame „Aufstehen vom Schlaf“ zu evozieren; in 8,25 transportiert es die Bedeutung „einen Schlafenden aufwecken“. Um das Aufstehen vom Krankenbett geht es unter Verwendung dieses Wortes in Mt 8,15; 9,5.6.7; um das Aufstehen aus liegender Position in Mt 17,7. Dass sich Menschen gegeneinander erheben, wird in Mt 24,7.11 durch ἐγείρειν ausgedrückt. Etwas aus dem Rahmen fällt Mt 3,9, wo es um das Erwecken von Kindern aus Steinen geht. Zum frame „Tote erwecken“ gehören die Wortverwendungen in Mt 10,8; 11,5; 14,2; 16,21;
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Die enge intertextuelle Verknüpfung der matthäischen Fassung von „Jairi Töchterlein“ mit der Elisa-Geschichte lässt sich noch an einem weiteren Detail verdeutlichen. Es fällt auf, dass die Reaktion Jesu bzw. Elisas auf die Bitte des verwaisten Elternteils in beiden Erzählungen ganz ähnlich geschildert wird. Die Handlungsfolgen aus Mt 9,19 und 2 Kön 4,30 entsprechen sich: Mt 9, 19 καὶ ἐγερθεὶς ὁ Ἰησοῦς 2 Kön 4,30 RA καὶ ἀνέστη Ελισαιε
ἠκολούθησεν αὐτῷ790 καὶ ἐπορεύθη ὀπίσω αὐτῆς.
Überspitzt formuliert kann man sagen, dass aus der Perspektive der schriftkundigen Modell-Leserschaft des Matthäusevangeliums in Mt 9,18f. nichts substantiell Neues erzählt wird, was nicht auch schon aus 2 Kön 4 bekannt wäre. So überrascht es auch nicht, wenn – abgesehen von dem ἐτελεύτησεν in der Figurenrede des Vaters – alle finiten Verbformen der Erzähleingangsphase im Imperfekt stehen und dem Erzähleingang eine Hintergrundfunktion zuschreiben. Etwas Überraschendes vollzieht sich erst, wenn die γυνὴ αἱμορροοῦσα in Mt 9,20, sich von hinten nähernd, die Quaste des Gewandes Jesu berührt, weil sie sich von dieser Handlung erhofft, gerettet zu werden: σωθήσομαι (Mt 9,21).791 Wenn anschließend Jesus in seiner Figurenrede in Mt 9,22 konstatiert, dass der Glaube der Frau die Ursache für ihre Rettung darstelle, dann hat diese Einschätzung einen primacy effect für den von der Leserschaft erwarteten Fortgang der weiteren Handlung. Das Phänomen des Glaubens stellt sich im Matthäusevangelium anders als im Markusevangelium dar: den Erzählfiguren des Ersten Evangeliums kann πίστις sowohl „[i]m Blick auf Jesus“ als auch „[i]n Bezug auf Gott“792 zugesprochen werden, wobei „Matthäus die Tendenz [zeigt], den personalen Bezug des Glaubens auf Jesus zu betonen.“793 Die Proskynese des Vorstehers vor Jesus lässt sich als nonverbales Bekenntnis seines Glaubens an Jesus interpretieren. Die Leserschaft kann inferieren, dass von Seiten des Vaters die Weichen für einen günstigen Ausgang seines Anliegens bereits gestellt sind. Jesus rückt durch
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17,9.23; 20,19; 26,32; 27,52.63.64; 28,7. – Das Verb ἀνιστάναι wird im Matthäusevangelium überhaupt nicht verwendet, um den frame „Auferstehen von den Toten“ zu evozieren; belegt in diesem Sinne ist nur das Substantiv ἀνάστασις, und zwar nur im Kontext der Auseinandersetzung mit der Sadduzäer-Frage in Mt 22,23–33. Eine Kuriosität stellt das Wort ἔγερσις dar, das als Hapax legomenon in Mt 27,53 für die Auferstehung des matthäischen Jesus verwendet wird. Dem abschließenden Element in Mk 9,19fin καὶ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ, also dem Kommen der Jünger in das Haus des Vorstehers, entspricht in 2 Kön 4 die Tatsache, dass Elisa den Gehasi zunächst zum Haus der Schunemiterin vorausschickt, wo er sich nach einer kurzen Rückkehr zu seinem „Vorgesetzten“ gemäß 2 Kön 4,36 auch später wieder aufhält. Dass die Jünger in der matthäischen Version von „Jairi Töchterlein“ im weiteren Verlauf nicht mehr erwähnt werden, kann damit erklärt werden, dass sie ihre „intertextuelle Schuldigkeit“ in Mt 9,19 bereits getan haben. Vgl. zu dieser Handlung: LUZ, Matthäus I/2, Anm. 17, 53: „Das Anfassen des Gewands und der Schaufäden ist ein Bittgestus, vgl. Sach 8,23; 1Sam 15,27“ (mit weiterer Lit.). KONRADT, Glaube, 263. KONRADT, Glaube, 264.
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die gläubige Haltung, in welcher der Vorsteher und die Frau ihm begegnen, in die Nähe Gottes. Anders als in der markinischen Vorlage wird der matthäische Jesus in der Binnenepisode nicht als in Konkurrenz zu anderen Ärzten stehend gezeichnet, da die „Krankenakte“ der Frau, die in der markinischen Vorlage ausführlich präsentiert wird, in der matthäischen Version getilgt ist. Wenn ab Mt 9,23 die Handlung der Episode den in Mt 9,19 fallen gelassenen Erzählfaden wieder aufnimmt, gerät sie wieder in das Fahrwasser des Elisa-Prätextes. Jesus betritt – wie Elisa – das Haus eines Elternteils, in dem ein totes Kind liegt. Dass er dort auf Flötenspieler trifft, die im antiken Mittelmeerraum zu den „common elements of the Middle Eastern mourning ritual“794 gehören, bestätigt noch einmal die Aussage des Vaters aus Mt 9,18, seine Tochter sei gestorben. Wie in der markinischen Version, so behauptet Jesus auch in der matthäischen Fassung, dass das Mädchen nicht gestorben sei, sondern schlafe: οὐ γὰρ ἀπέθανεν τὸ κοράσιον ἀλλὰ καθεύδει (Mt 9,24). Diese Figurenrede wird mit einer imperfektischen Verbform eingeleitet: ἔλεγεν, und auf dieses Weise ins Hintergrundgeschehen eingeordnet. Der Erzähler des Matthäusevangeliums möchte seine Hauptfigur in dieser Situation offensichtlich nicht als Redenden, sondern als Handelnden profilieren. Die Reaktion der Trauernden, die Jesus ob dieser Worte angesichts eines toten Kindes auslachen (καὶ κατεγέλων αὐτοῦ; Mt 9,24fin), zeigt, dass sie offensichtlich auf ihre empirische Erfahrung setzen: Tote Kinder schlafen nicht. Ihre Reaktion wird vom Erzähler allerdings ebenfalls mit einer imperfektischen Verbform geschildert. Daraus lässt sich schließen, dass er der Trauergemeinde, deren despektierliches Verhalten diametral der gläubigen Haltung des Vorstehers und der Frau entgegensteht, keine tragende Rolle im Geschehen zubilligt. Den eigentlichen Höhepunkt seiner Geschichte hat sich der Erzähler bis zum Schluss aufbewahrt. In den vier letzten Sätzen gibt es nur Prädikate im Aorist. Jede einzelne finite Verbform in Mt 9,25 bringt die Handlung ein gewaltiges Stück voran. Zunächst einmal schildert der Erzähler, dass die im Haus anwesende Volksmenge von Jesus hinausgeworfen wird (ἐξεβλήθη). Anschließend verschwindet diese Figurengruppe aus dem Blickfeld von Erzähler und Leserschaft – und das setting der Wiederbelebungserzählungen aus den Königebüchern ist hergestellt. Wie es von den Propheten Elia und Elisa in den Prätexten erzählt wird, so ist auch Jesus allein mit einem toten Kind.795 Am Ende der Geschichte liegt der Fokus zunächst ausschließlich auf Jesus und dem Leichnam des Mädchens: Anders als in der markinischen Fassung fehlt eine wörtliche Anrede des Kindes. Es war ja schon an der Tempuswahl in Mt 9,24 deutlich geworden, dass Jesus in dieser Erzählepisode nicht in erster Linie als Redender präsentiert 794
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PILCH, Flute Players, 12. Vgl. KONRADT, Matthäus, 153, der die Flötenspieler zum „festen ‚Inventar‘ einer Trauergemeinde“ zählt und auf die Parallelen in „Josephus, Bell 3,436f; mKet 4,4; Dion Chrysostomos, Or 32,57“ verweist. Vgl. ZWIEP, Daughter, 256.
12 Mt 9,18–26: Jesus und die Tochter des Vorstehers
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werden soll. Die einzige Handlung, die in der matthäischen Version im Vollzug der Wiederbelebung ausgeführt wird, ist das Ergreifen der Hand (ἐκράτησεν). Anschließend steht das Mädchen auf (ἠγέρθη). Die Grammatik des Griechischen lässt es natürlich auch zu, die Verbform ἠγέρθη als passivisch aufzufassen, mit „sie wurde auferweckt“ zu übersetzen und als passivum divinum zu interpretieren. In diesem Falle wäre Jesus – wie Elia und Elisa – nur der Mittler göttlichen Handelns, die eigentliche Totenerweckung ginge auf Gott zurück. Gegen dieses Verständnis sprechen die Abweichungen, die zwischen der matthäischen Version von „Jairi Töchterlein“ und ihren Prätexten bestehen. Anders als in den Erzählungen aus den Königebüchern geht Jesus keine „Rückversicherung durch Gebet“ bei Gott ein, bevor er sich dem Kind nähert. Er handelt völlig selbstständig. Genauso autonom wirkt er auch bei der Heilung der blutenden Frau. Im Unterschied zu Mk 5,30 wird hier kein Bezug auf eine δύναμις genommen, die von Gott stammte und Jesus eine Transmitterfunktion zuwiese.
Es stellt sich die Frage, warum Jesus dem Kind nicht die Hand auflegt, so wie der Vater es vorgeschlagen hatte, sondern die Hand des Mädchens in seine Hand nimmt. Der Grund ist folgender: Jesus hält sich nicht an den Vorschlag des Vorstehers, weil er – anders als Elisa – keinen ritualsymbolischen Akt, der das Wirken Gottes repräsentiert, sondern eine Totenerweckung aus eigener Kraft vollzieht. Gemäß des in Mt 11,5 beschriebenen Tätigkeitsprofils des matthäischen Jesus fallen – wie bereits erwähnt – Totenerweckungen in seinen Aufgabenbereich. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Erzähler keinerlei nähere Erläuterung gibt, wie man sich die durch Handergreifung bewirkte Wiederbelebung eines soeben verstorbenen Kindes vorstellen könnte. Es wird nicht – wie in der lukanischen Version von „Jairi Töchterlein“ – davon gesprochen, dass etwa das πνεῦμα des toten Mädchens wieder zurückkehrte (Lk 8,55). Jesus ergreift die Hand des toten Kindes, das Kind steht (wieder) auf – und nach diesem Höhepunkt der Handlung schwenkt der Blick des Erzählers weg von den beiden. Die Leserschaft erfährt nichts über die Reaktion der Umstehenden. Der Vater gerät nicht noch einmal in das Blickfeld des Erzählers. Es wird auch nichts vom weiteren Ergehen des wieder lebendigen Mädchens berichtet. Wie die wiederbelebten Jungen aus den Königebüchern, so erfüllt auch die Tochter des Vorstehers nur die Funktion, die Wirkmächtigkeit des Totenerweckers zu demonstrieren. Sie ist quasi nur Mittel zum Zweck. Dass die gesamte Episode nicht in erster Linie um ihrer selbst willen erzählt wird, sondern Teil einer größeren Entwicklung ist: ἤγγικεν γὰρ ἡ βασιλεία τῶν οὐρανῶν (Mt 4,17), verdeutlicht die Weitung des erzählten Raumes, die sich in Mt 9,26 vollzieht: καὶ ἐξῆλθεν ἡ φήμη αὕτη εἰς ὅλην τὴν γῆν ἐκείνην. Mit dieser Öffnung des Horizontes verdeutlicht der Erzähler, dass das zunächst im Verborgenen Geschehene bedeutsam für „jenes ganze Land“ ist – gemeint ist das jüdische Land. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die matthäische Version von „Jairi Töchterlein“ weist starke intertextuelle Bezüge zu den Wiederbelebungserzählungen von Elia und Elisa auf. Gleichzeitig fehlen alle Elemente aus der
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markinischen Vorlage, die Jesu Totenerweckung als therapeutische Maßnahme eines bemerkenswerten Arztes erscheinen lassen könnten. Somit liegt es nicht nahe, bei der Rezeption von Mt 9,18–26 Vergleiche zwischen Jesus und den „paganen“ Totenerweckern Polyidos und Asklepios anzustellen.796 Jesus bleibt auch als Totenerwecker der Davidsohn, als welcher er in das Matthäusevangelium eingeführt worden ist (vgl. Mt 1,1). Die Wiederbelebung des toten Mädchens gehört „zu den Taten des Messias am Volk Israel“797. Der matthäische Jesus ist allenfalls vergleichbar mit Elia und Elisa und kann auf diese Weise in die jüdische Literaturgeschichte eingeschrieben werden.
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Vgl. ZWIEP, Daughter, 259: „No immediate influence from texts from Greek or Roman antiquity can be detected in Matthew’s pericope.“ LUZ, Matthäus I/2, 56; vgl. ZWIEP, Daughter, 255.
13
Lk 7,11–17: Jesus und der Sohn der Witwe zu Nain
Das lukanische Doppelwerk weist insgesamt vier Erzählungen auf, die in seiner Modell-Leserschaft die Gattungszuordnung „Totenerweckungserzählung“ evozieren. Wie sich im Verlaufe der Untersuchung zeigen wird, ist es bemerkenswert, wie unterschiedlich die einzelnen Gattungsexemplare im Detail gestaltet sind, auch wenn grundsätzlich in allen Texten eine ausreichende Anzahl an etablierten Merkmalen feststellbar ist, welche die Zuordnung zu ein und derselben Textsorte nahelegen. Die erste Totenerweckungsepisode Lk 7,11–17 ist gut in die Makroerzählung des Lukasevangeliums eingebunden. Wie noch zu zeigen ist, schließt sie sich intertextuell eng an die Wiederbelebungserzählung aus 1 Kön 17,17–24 an.798 Mit der Anknüpfung an diese Geschichte wird gleichzeitig intratextuell ein Motiv aus der sog. Antrittspredigt Jesu in Nazareth aufgegriffen. Hier weist der Protagonist des Lukasevangeliums darauf hin, dass kein Prophet in seiner Heimatstadt willkommen sei, und rekurriert dann in Lk 4,26 auf Elia, der von Gott zur Witwe von Sarepta geschickt worden ist (εἰς Σάρεπτα τῆς Σιδωνίας πρὸς γυναῖκα χήραν). Auch Jesus begegnet in der erzählten Welt der Totenerweckungsepisode dem toten Sohn einer Witwe. Unmittelbar auf die Schilderung der Wiederbelebung dieses jungen Mannes erfolgt dann in Lk 7,22 Jesu Antwort auf die sog. Täuferfrage, in der er mit fast denselben Worten wie der matthäische Jesus innerhalb eines Konglomerats von jesajanischen Hoffnungsformulierungen verkündet, dass Totenerweckungen auch zu seinem Aufgabenfeld gehören (νεκροὶ ἐγείρονται). Der ins Deutsche übersetzte Wortlaut der Erzählung Lk 7,11–17, die diesen Sachverhalt innerhalb der erzählten Welt des Lukasevangeliums vorwegnimmt, ist folgender: 11 Und es geschah danach (καὶ ἐγένετο), er ging (ἐπορεύθη) in eine Stadt namens Nain und mit ihm gingen (συνεπορεύοντο) seine Jünger und eine große Menschenmenge. 12 Als er sich aber dem Tor der Stadt näherte (ἤγγισεν), und siehe, es wurde der einzige Sohn seiner Mutter tot herausgetragen (ἐξεκομίζετο τεθνηκὼς μονογενὴς υἱὸς τῇ μητρὶ αὐτοῦ) und sie war eine Witwe und es war eine beträchtliche Menschenmenge mit ihr. 13 Und als der Herr (ὁ κύριος) sie sah, hatte er Mitleid mit ihr (ἐσπλαγχνίσθη ἐπ’ αὐτῇ) und sagte (εἶπεν) zu ihr: „Weine nicht (μὴ κλαῖε)!“ 14 Und hinzutretend berührte er den Sarg (ἥψατο τῆς σοροῦ), die Träger aber blieben stehen (ἔστησαν), und er sagte (εἶπεν): „Junger Mann, ich sage Dir, steh auf (νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρθητι)!“ 15 Und der Tote (ὁ νεκρός) setzte sich auf (ἀνεκάθισεν) und fing an zu reden, und er gab (ἔδωκεν) ihn seiner Mutter.
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Eine ausführliche Darstellung der Parallelen zwischen 1 Kön 17,17–24 und Lk 7,11–17 findet sich bei BRODIE, Unravelling, passim; vgl. auch ÖHLER, Elia, 200f.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen 16 Es ergriff aber alle Furcht (φόβος) und sie priesen (ἐδόξαζον) Gott, indem sie sagten: „Ein großer Prophet ist bei uns aufgestanden und Gott hat sein Volk besucht.“ 17 Und dieses Wort über ihn ging hinaus in ganz Judäa und im ganzen Umland.
Nicht untypisch für die Gepflogenheiten des lukanischen Erzählers wird die vorliegende Geschichte von Jesus und einem toten jungen Mann in Lk 7,11 mit καὶ ἐγένετο im LXX-Stil799 eingeleitet. Somit könnte die Leserschaft im ersten Moment meinen, es folge nun die Schilderung einer nur im jüdischen Kulturkreis vorstellbaren Begebenheit.800 Auch die Ortsangabe Nain verleitet zu der Vermutung, die folgende Handlung habe galiläisches Lokalkolorit.801 Darüber hinaus schildert der einleitende Vers business as usual: wie immer von seinen Jüngerinnen und Jüngern sowie einer Menschenmenge begleitet – die imperfektische Verbform συνεπορεύοντο zeigt die Regelmäßigkeit des Geschehens an –,802 kommt Jesus jetzt nach Nain. Da das Prädikat des einleitenden Hauptsatzes im Aorist steht (ἐπορεύθη), wird das Aufsuchen einer Ortschaft, die in der erzählten Welt des Evangeliums bisher noch keine Rolle spielte, als das Besondere hervorgehoben, nicht aber die große Entourage des Protagonisten. Das Geschehen, das von Lk 7,12 an geschildert wird, lokalisiert der Erzähler zwar in Nain, grundsätzlich könnte es die Modell-Leserschaft aber an jedem Ort im Mittelmeerraum verorten: Jesus und die, die ihn begleiten, treffen vor den Toren einer Ortschaft auf einen Leichenzug. Dass Tote nicht innerhalb der Stadtmauern bestattet werden und dass das Heraustragen eines Leichnams zur Begräbnisstätte von der Familie des Verstorbenen und anderen Trauernden begleitet wird, sind Beerdigungsbräuche, die in der Antike über die Kulturgrenzen der Mittelmeeranrainer hinweg verbreitet sind.803 Von den Geschehnissen in Nain wird im unmittelbaren Anschluss an ein bemerkenswertes Ereignis in Kapernaum erzählt: Jesus heilt den im Sterben liegenden Sklaven eines Centurio 799 800
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Vgl. VON BENDEMANN, ΔΟΞΑ, 63f. Die Modell-Leserschaft des Lukasevangeliums zeichnet sich durch „eine doppelte traditionsgeschichtl.[iche] Bildungstiefe, in Hinsicht auf die jüd.[ische] wie die hellenist.[ische] Kultur“, aus (VON BENDEMANN, Art. Lukas, 655f.). Vgl. zur Lokalisierung der Ortschaft Nain in der zeitgenössischen außertextuellen Realität: STRANGE/LONGSTAFF/GROH, Excavations, 38f.: „If the text in Genesis Rabbah 97.12 about the pleasantness of the land of Issachar refers to this village, then Nain is in Issachar. The territory of Issachar includes both Mt. Tabor and the hill of Moreh. Jerome thought that Nain was two miles south of Mt. Tabor near Endor (De Situ et Nom. Loc. Hebr. 255). The modern village of Nain meets this condition. It lies on the north-west side of the low hill of Moreh between Mt. Gilboa and Mt. Tabor. Nain therefore appears to lie within the orbit of the ministry of Jesus“. Ähnlich lokalisiert DE LOVINFOSSE, Naïn, 31f. Vgl. WOLTER, Lukasevangelium, 274: „Dass Jesus mit einer großen Volksmenge im Schlepptau von Ort zu Ort zieht oder sie sich überall dort zusammenfindet, wo er sich aufhält […], ist eine szenische Vorstellung, die Lukas bis zum Einzug Jesu in Jerusalem beibehält (vgl. 5,19; 7,9; 8,4; 9,11; 14,25; 18,36).“ Vgl. ZANGENBERG, Knochen, 665; ferner WOLTER, Lukasevangelium, 274; vgl. auch die Ausführungen zur Bestattung der Alkestis auf S. 185 in der vorliegenden Untersuchung.
13 Lk 7,11–17: Jesus und der Sohn der Witwe zu Nain
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(Lk 7,1–10). Somit kann sich die ideale Leserschaft des Lukasevangeliums bei der Figurenkonstellation von Lk 7,12: ein Heiler nähert sich einer Menschengruppe, die einen Leichnam zur Bestattung überführt, an ein ähnliches setting erinnern, das mit dem griechischen Arzt Asklepiades verbunden ist: quod Asclepiades funeri obvius intellexit [quendam] vivere qui efferebatur (Celsus, De medicina 2,6.15).804 Jesu mitfühlende Worte an die Mutter des Verstorbenen, die in Lk 7,13 auf sein Erbarmen mit der Witwe zurückgeführt und in direkter Rede wiedergegeben werden: μὴ κλαῖε, aktualisieren bei der Modell-Leserschaft aber noch einen weiteren Eintrag aus der hellenistisch-römischen Sektion ihrer Enzyklopädie: In Ovidius’ Fasti wird der Totenerwecker Asklepios ähnlich mitfühlend wie Jesus gezeichnet, wenn er zu Diana, die sich über den grausamen Tod des Hippolytos entrüstet, sagt: nulla [….] causa doloris (Ov. Fast. 6,746).805 Die lukanische Erzählung ist allerdings so angelegt, dass sie nicht nur die hellenistisch-römische, sondern gleichzeitig auch die von jüdischen Texten geprägte epistemische Vor-Ausrichtung einer idealen Leserschaft aktivieren kann. Der Hinweis darauf, dass der Tote der einzige Sohn seiner Mutter ist, bei der es sich darüber hinaus auch noch um eine Witwe handelt, ruft die Erinnerung an die Erzählung von der Witwe zu Sarepta in 1 Kön 17,17–24 auf. Dies geschieht insbesondere deshalb, weil auch noch der primacy effect ihrer Erwähnung in Lk 4,26 an dieser Stelle wirkt. Vor diesem breiten Spektrum an Vergleichsgrößen: Asklepiades, Asklepios und Elia, profiliert sich das in Lk 7,13f. geschilderte Vorgehen des lukanischen Jesus, das zur Wiederbelebung des toten jungen Mannes führt, allerdings in seiner Andersartigkeit. Der lukanische Jesus verhält sich nicht wie der Arzt Asklepiades, der im vermeintlich Toten noch Spuren von Leben „erkennt“ und deshalb durch sein Eingreifen verhindert, dass es zur Bestattung eines „Scheintoten“ kommt. Das Agieren Jesu stellt sich hingegen folgenermaßen dar: Der Erzähler schildert in Lk 7,12 zunächst aus der Vogelperspektive in einer Art Weitwinkel-Einstellung, wie sich Jesus (samt Begleitung) und die Witwe (mit dem Trauerzug) vor den Toren der Stadt begegnen. Anschließend konvergieren in Lk 7,13 die Erzählerperspektive und die Perspektive des Protagonisten.806 Der Erzähler berichtet, was Jesus wahrnimmt, wenn er den Leichenzug sieht: zunächst nicht den Toten, sondern die trauernde Mutter. Dieser spricht er Trost zu. Er unterzieht den Leichnam keinerlei körperlicher Untersuchung, gemäß Lk 7,14 fasst er den Toten nicht einmal an. Der Erzähler hebt ausdrücklich darauf ab, dass Jesus nur den – wohl als offen zu imaginierenden – Sarg berührt (ἥψατο τῆς σοροῦ).807 Dass 804
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Vgl. zu dieser Asklepiades-Tradition, die im 1. Jh. n. Chr. auch von Plinius überliefert und im 2. Jh. n. Chr. in Form einer ausgeführten Totenerweckungserzählung von Apuleius rezipiert wird, die Ausführungen im Abschnitt 10.3. Vgl. die Ausführungen auf S. 170–176 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. zum Wechsel der Erzählperspektiven auch: METTERNICH, Auferstanden, 571f. Vgl. die Ausführungen zum Aufkommen von Holzsärgen in der jüdischen Bestattungskultur des 1. Jh.s v. Chr. bei ZANGENBERG, Knochen, 663; ferner WOLTER, Lukasevangelium, 275.
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diese Berührung nicht die Wiederbelebung des Toten auslöst, sondern einzig die Funktion hat, den Leichenzug zum Anhalten zu bringen, damit die Voraussetzung für weiteres Handeln gegeben ist, zeigt die explizit beschriebene Wirkung des ἅπτεσθαι: Die Sargträger bleiben stehen (ἔστησαν). Anders als Asklepios verwendet der Protagonist des Lukasevangeliums anschließend, wenn das Bestattungsritual erst einmal eine Unterbrechung erfahren hat und er sich dem Toten zuwenden kann, keinerlei pflanzliche Heilmittel, um eine Wiederbelebung zu initiieren. Er vollzieht auch kein performatives Ritual, welches – wie bei Elia – zum Ausdruck bringen würde, dass nicht er selbst eine Veränderung des physischen Zustandes seines Mandanten bewirkte, sondern dass er nur als Gottes Mittlerfigur handelte. Die Auferweckung des toten jungen Mannes geschieht durch einen sich aus einem Vokativ (νεανίσκε) und einem Imperativ (ἐγέρθητι) konstituierenden performativen Sprechakt, dessen absichtsvolle Durchführung durch das ergänzende σοὶ λέγω unterstrichen wird. Welche physischen Vorgänge durch diesen verbalen Impuls im Toten ausgelöst werden, wie es also ganz konkret zur Wiederbelebung kommt, bleibt offen. Hier liegt eine Leerstelle vor, die der lukanische Erzähler erst in Lk 8,55 füllen wird. In der Passage Lk 7,11–14 porträtiert der Erzähler seine Hauptfigur als selbstständig und eigenverantwortlich agierend.808 Es fällt auf, dass Jesus als handelndes Subjekt in dieser Episode nicht mit seinem Eigennamen bezeichnet wird,809 dieser ist das letzte Mal in der voranstehenden Episode in Lk 7,9 verwendet worden. Der Erzähler referiert zunächst auf seinen Protagonisten, indem er ihn als zu ergänzendes Subjekt der in der 3. Person Singular verwendeten finiten Verbformen ἐπορεύθη (Lk 7,11) und ἤγγισεν (Lk 7,12) agieren lässt. Auf subtile Weise bleibt somit anfänglich im Rezeptionsprozess der Totenerweckungserzählung das Bild von Jesus als Heiler aus der vorangehenden Episode erhalten. Wenn dann aber ab Lk 7,13 die Perspektive von Erzähler und Hauptfigur konvergieren, darf ein bemerkenswertes Detail nicht übersehen werden. Jesus wird von diesem Moment an, und zwar erstmalig innerhalb des Lukasevangeliums, als κύριος tituliert.810 Dieser Titel wird bis zu dieser Stelle im Handlungsverlauf des Makrotextes nur Gott811 verliehen, im weiteren Verlauf des Evangeliums überschneidet sich „die κύριος-Bezeichnung für Gott mit der κύριος-Bezeichnung für Jesus“812. Die Verleihung ein und desselben Ehrentitels sowohl an Jesus als auch an Gott bringt zum Ausdruck, dass in der Figurenwelt des Lukasevangeliums eine
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Vgl. ÖHLER, Elia, 202: „Jesus handelt ganz allein aus eigener Vollmacht“. Vgl. WIEFEL, Lukas, 144: „In D und syr findet sich hier und an anderen Stellen bei Lukas statt ὁ κύριος der Name Ἰησοῦς. Die darauf aufbauende Vermutung, ὁ κύριος könnte ein nachlukanischer Zusatz sein, besteht schwerlich zu Recht“. Vgl. zur Verwendung von κύριος als christologischem Titel im Lukasevangelium: VON BENDEMANN, ΔΟΞΑ, 440; WOLTER, Lukasevangelium, 275. Vgl. ZIMMERMANN, Namen, 218–224. ZIMMERMANN, Namen, 222.
13 Lk 7,11–17: Jesus und der Sohn der Witwe zu Nain
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starke Annäherung der beiden erfolgt.813 Dass der lukanische Jesus ähnlich wie Gott agieren kann, kommt dann auch noch durch das dem Subjekt κύριος in Lk 7,13 zugeordnete Prädikat ἐσπλαγχνίσθη zum Ausdruck: Die Verwendung dieses Wortes eröffnet „eine theologische Dimension in semantischer Nähe zur Barmherzigkeit Gottes“814. „Der Herr“ zeigt eine „typisch göttliche“ Emotion, wenn er Mitleid mit der trauernden Witwe hat bzw. sich ihrer erbarmt.815 „Mitleid haben“ bzw. „sich erbarmen“ sind Gefühlsäußerungen, die im antik-jüdischen Schrifttum als Emotionen Gottes belegt sind.816 Wenn ein derartiges Gefühl in Lk 7,13 im Rahmen einer Totenerweckung dem „Herrn Jesus“ zugeschrieben wird, besteht eine unverkennbare Übereinstimmung zwischen der Beschreibung Gottes, der in Josephus’ Fassung der Geschichte von Elia und der Witwe den toten Sohn des Kindes wiederbelebt, und Jesu Wiederbelebungs-Aktion in Lk 7,11–17: in beiden Fällen wird aus Mitleid mit der jeweiligen verwaisten Mutter gehandelt.817 Es ist zwar unwahrscheinlich, dass zwischen Josephus’ Antiquitates und dem Lukasevangelium eine direkte intertextuelle Beziehung besteht.818 Eher wird eine unabhängig voneinander erfolgte Bezugnahme beider Texte auf Ex 33,19b oder Ex 34,6f. vorliegen. Gegen eine direkte literarische Abhängigkeit spricht auch, dass in den Antiquitates in diesem Zusammenhang ein Kompositum von οἰκτίρειν, das ein für das Mitleid Gottes in der LXX einschlägiger Ausdruck ist, verwendet wird: κατοικτείρειν.819 Mit dem Verb σπλαγχνίζεσθαι liegt hingegen im Lukasevangelium ein Ausdruck vor, der erst mit dem Aufkommen frühjüdischer Schriften, insbesondere in den TestXII, für Gottes Mitleid resp. Erbarmen verwendet wird.820 Dass eben dieses Wort σπλαγχνίζεσθαι 813
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Michael Wolters vorsichtiger Vermutung: „Vielleicht ist es kein Zufall, dass Lukas diesen Sprachgebrauch gerade anlässlich einer Totenerweckung in seine Jesusgeschichte einführt“ (WOLTER, Lukasevangelium, 275), ist also unbedingt zuzustimmen. Vgl. zur Christologie des Lukasevangeliums ferner: VON BENDEMANN, ΔΟΞΑ, 109: „Vor allem ist der lukanische Jesus aber bereits im dritten Evangelium der (von Gott als solcher im Akt der Erhöhung eingesetzte) κύριος […] und als solcher σωτήρ (Lk 2,11).“ Vgl. ferner METTERNICH, Auferstanden, 572. EISEN, Mitleid, 425. Vgl. EISEN, Mitleid, 429, die darauf hinweist, dass bei der Verwendung des deutschen Wortes „erbarmen“ – anders als bei „Mitleid haben“ – „Handlungskonsequenzen“ impliziert sind, wohingegen „mitleiden“ bzw. „Mitleid haben“ nicht „mehr als das bloße Gefühl“ markiert. PASSOW II/2, 1504, s. v. σπλαγχνίζω, listet beide Übersetzungsmöglichkeiten als gleichwertig auf: „sich erbarmen, Mitleid empfinden“. Vgl. zu dieser Eigenschaft JHWHs/Gottes die Ausführungen auf S. 86–88 in der vorliegenden Untersuchung. Einen guten Überblick über die (früh-)jüdische Konzeptualisierung Gottes als derjenige, welcher sich durch ἔλεος den Menschen gegenüber auszeichnet, bietet BREYTENBACH, Charis, bes. 273–277. Vgl. zu dieser Totenerweckungserzählung die Ausführungen im Abschnitt 3.1 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. zur Diskussion über diese Frage: VON BENDEMANN, ΔΟΞΑ, 165, bes. Anm. 150. Vgl. dazu die Ausführungen zu Ant. 8,327 auf S. 86f. in der vorliegenden Untersuchung. Gemäß EISEN, Mitleid, 428, ist σπλαγχνίζεσθαι ein „frühjüdischer Neologismus.“ Vgl. ferner KÖSTER, Art. σπλάγχνον κτλ., 553, zum Sprachgebrauch des Neuen Testaments: „Der Sprachgebrauch der Testamente der zwölf Patriarchen […] ist hier fortgeführt.“ Abgesehen von seinem Gebrauch in den Gleichnissen gilt: „Immer wird es auf Jesu Verhalten angewendet und charakterisiert die Göttlichkeit seines Tuns. Dieser Wortgebrauch ist
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen im Kontext einer Totenerweckung in der Modell-Leserschaft die Assoziation auslöst, Jesus handele wie Gott, basiert darüber hinaus aber auch noch auf der spezifischen Begriffsverwendung dieses Ausdrucks im Lukasevangelium. Hier zeichnet sich nämlich ein von den anderen Evangelien abweichender Sprachgebrauch ab. „Die Vokabel wird aus den drei markinischen Vorlagen ersatzlos gestrichen […,] findet sich stattdessen in drei neuen Erzählkontexten des lukanischen Sonderguts“821 und steht „für informierte LeserInnen im Kontext des Barmherzigkeitshandelns Gottes an Israel“822. Für das lukanische Gottesbild ist darüber hinaus ganz grundsätzlich das „Konzept des ֶחֶסדMotivs[,] wie es in der Sprach- und Gedankenwelt der LXX begegnet[,] von größter Relevanz.“823 Diese Gottesvorstellung kann im Dritten Evangelium nicht nur durch das Verb, sondern auch durch das Substantiv σπλάγχνον transportiert werden, wie seine Verwendung in Lk 1,78 zur Beschreibung der „Handlungsmotivation Gottes“824 innerhalb der Wortgruppe διὰ σπλάγχνα ἐλέους θεοῦ ἡμῶν zeigt.
Wenn dann auch in den beiden nächsten Versen den Verbformen εἶπεν (Lk 7,13), ἥψατο, εἶπεν (Lk 7,14) und ἔδωκεν (Lk 7,15) durch den Erzähler kein explizites Subjekt zugewiesen wird, bleibt κύριος als letzte eindeutig benannte Bezugsgröße weiter in Geltung. Diesen „Herrn“ präsentiert der Erzähler als einen, der einen Toten durch einen Sprechakt wiederbelebt, aber – anders als Asklepios, Asklepiades, Elia und Elisa – nicht den physischen Kontakt zu dem Verstorbenen sucht. Gerichtet sind die Worte des lukanischen Jesus beim Totenerwecken ausschließlich an die, derer er sich erbarmt, sei es die Mutter, sei es der Tote. Ein Gebet zu Gott erfolgt – anders als bei Elia und Elisa – in dieser Situation nicht. Von Lk 7,15 an wechselt ein weiteres Mal die Erzählperspektive. Der Erzähler stellt nun die Totenerweckung aus der Sicht der Umstehenden dar und lässt deutlich werden, wie diese Figuren den Totenerwecker Jesus im beobachteten Geschehen konzeptualisieren. Als Indiz für den in Lk 7,15 erfolgenden Wechsel des Blickwinkels fungiert die Tatsache, dass der sich aufsetzende junge Mann auch nach seiner Wiederbelebung weiterhin als Toter bezeichnet wird. Aus sachlogischer Sicht ist die Formulierung καὶ ἀνεκάθισεν ὁ νεκρός unsinnig – Tote können sich nicht aufrichten. Die Umstehenden, die beobachten, was geschieht, nehmen den Wiederbelebten aber in diesem Moment als denjenigen wahr, der kurz zuvor noch tot dagelegen hat, sich jetzt aufrichtet und darüber hinaus auch noch zu sprechen anfängt. Der Inhalt dessen, was der junge Mann sagt, wird nicht wiedergegeben. Offenbar ist für die Umstehenden das von ihnen
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auch beibehalten in der einzigen urchristlichen Schrift, in der das Verbum außerhalb der synoptischen Evangelien noch vorkommt, im Pastor Hermae, wo seine Verwendung ganz auf Gott beschränkt ist […]. Damit ist das Verbum σπλαγχνίζομαι schließlich ganz zum Attribut des göttlichen Handelns geworden“ (ebd.). EISEN, Mitleid, 440. Im Markusevangelium charakterisiert das Verb in Mk 1,41; 6,34; 8,2 und 9,22 das Handeln Jesu. In den Sondergut-Stellen des Lukasevangeliums Lk 7,13; 10,33; 15,20 bezieht es sich auf das Handeln Jesu und der Gleichnisfiguren des Samariters und des Vaters der beiden Söhne, wobei es für das Handeln Gottes durchsichtig wird. EISEN, Mitleid, 445. WANDEL, Gottesbild, 43. WANDEL, Gottesbild, 50.
13 Lk 7,11–17: Jesus und der Sohn der Witwe zu Nain
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beobachtete Geschehen dermaßen beeindruckend, dass für sie die bloße Tatsache des Wieder-sprechen-Könnens völlig irrelevant erscheinen lässt, was der junge Mann eigentlich sagt. Μöglicherweise soll durch diesen Erzählerkommentar in Lk 7,15 aber auch nur zum Ausdruck gebracht werden, dass die Beobachtergruppe das Agieren Jesu aus einer gewissen Distanz heraus wahrnimmt. Anschließend beschreibt der Erzähler in Lk 7,15 Jesu nächste Aktion mit einer Phrase, die ein wörtliches Zitat aus 1 Kön 17,23 darstellt: καὶ ἔδωκεν αὐτὸν τῇ μητρὶ αὐτοῦ. In den Augen der anwesenden Zuschauerschaft wiederholt sich mit Jesus und dem toten Sohn der Witwe zu Nain, was „in der Schrift“ über Elia und den toten Sohn der Witwe zu Sarepta nachgelesen werden kann. Dass er das zuletzt beschriebene Element der Handlung aus der Perspektive der Umstehenden dargestellt hat, untermauert der Erzähler mit seinem Kommentar in Lk 7,16, der mit einem weiteren Wechsel des Blickwinkels einhergeht. Nun „schwenkt“ er explizit auf diejenigen, aus deren Perspektive das Geschehen in Lk 7,15 geschildert worden ist, indem er zunächst beschreibt, dass alle von Furcht ergriffen werden. Φόβος ist „die typische Reaktion auf die Epiphanie des Göttlichen“825. Wie aus dem im Folgenden wörtlich zitierten Gotteslob (ἐδόξαζον τὸν θεόν) hervorgeht, sind die Anwesenden aber wohl nicht der Meinung, in Jesus Gott selbst gesehen zu haben. In ihrer Figurenrede deuten sie das Geschehen auf der Basis ihrer Schriftkenntnis: Sie halten Jesus für einen großen Propheten – zu ergänzen ist: wie Elia. Somit wird der erzählte Totenerwecker Jesus, dessen Vorgehen sich stark von dem seiner (literarischen) Vorgänger Asklepiades, Asklepios, Elia und Elisa abhebt, am Ende der Erzählung durch die Figurengruppe der jüdischen Trauergemeinde (und wohl auch der Jüngerinnen und Jünger, die ja ebenfalls anwesend sind) dennoch auf eine Vorläufergröße bezogen und in die jüdische Tradition eingeschrieben. Eingebettet in diesen Bezugsrahmen kann die von Jesus vollzogene Totenerweckung dann abschließend theologisch gedeutet werden: Die Totenerweckung des jungen Mannes durch den „Propheten Jesus“ wird als „Heimsuchung durch Gott“826 (ἐπεσκέψατο ὁ θεὸς τὸν λαὸν αὐτοῦ; Lk 7,16) konzeptualisiert. Auf der Makroebene des Gesamttextes stellt diese (Figuren-)Rede vom Besuch Gottes bei seinem Volk nach dem Wiederaufgreifen des Motivs vom „Erbarmen Gottes“ aus Lk 1,78 in Lk 7,13 einen zweiten intratextuellen Rückbezug auf die Prophetie des Zacharias in Lk 1,68–79 dar. „Mit der Akklamation konstatieren die Zeugen der Totenerweckung die Erfüllung der Prophetie […] des Zacharias“827 in Lk 1, 67b. Nicht übersehen werden sollte, dass der Erzähler in der Schlussphase der Geschichte von Lk 7,16 an ähnlich wie in der Eingangspassage in seinen Kommentaren wieder imperfektische Verbformen verwendet (ἐδόξαζον, ἐξῆλθεν). Auch die Schlussbemerkung, dass sich die Rede über dieses Geschehen in ganz 825 826 827
WOLTER, Lukasevangelium, 276. WIEFEL, Lukas, 146. WOLTER, Lukasevangelium, 276.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Judäa und im Umland verbreitet habe, erhält durch diese Tempuswahl den Status einer Randbemerkung. Auf diese Weise distanziert sich der Erzähler von dem, was er aus Figurenperspektive darstellt, und hebt das, was ihm wichtig ist, in der durch Aoriste geprägten Passage Lk 7,13–15 hervor. Somit fokussiert sich der Erzähler auf das Mittelstück der Geschichte, um durch die Schilderung einer durch Jesus durchgeführten Totenerweckung die nahezu göttliche soteriologische Kompetenz seines Protagonisten aufscheinen zu lassen. Innerhalb der Gesamtkonzeption des lukanischen Doppelwerkes ist es an diesem Punkt der Handlung wohl noch zu früh, den lukanischen Jesus prononciert in seiner wahren Identität zu präsentieren. Vor seiner Erhöhung und Inthronisation zur Rechten Gottes soll er von den anderen Erzählfiguren noch in tradierten Kategorien wahrgenommen werden: als ein Prophet, wenn auch als ein προφήτης μέγας (Lk 7,16). Die Modell-Leserschaft, deren enzyklopädische Kompetenz mehr Wissen umfasst, als den Erzählfiguren zugestanden werden kann, stellt allerdings die Inkommensurabilität des lukanischen Jesus mit anderen Totenerweckern fest. Sie erkennt einen wie Gott handelnden Jesus, der aber innerhalb der literarischen Welt von den anderen Erzählfiguren als ein solcher zunächst noch nicht wahrgenommen, sondern mit dem Propheten Elia auf eine Stufe gestellt wird. Vergleiche des lukanischen Jesus mit „paganen“ Totenerweckern legen sich in dieser Erzählung nicht nahe, handelt der Protagonist des Lukasevangeliums an dem Toten doch ausschließlich durch einen performativen Sprechakt und wendet darüber hinaus keinerlei irgendwie geartete „medizinische“ oder phytotherapeutische Therapien an.
14
Lk 8,40–56: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers
Auch die zweite Totenerweckungserzählung des lukanischen Doppelwerkes ist gut in den sie umgebenden Makrotext integriert. Der Erzähler des Lukasevangeliums informiert in Lk 8,41f. darüber, dass Jesus von einem Synagogenvorsteher namens Jairus darum gebeten wird, in sein Haus zu kommen, weil dort sein einziges Kind im Sterben liegt (ἀπέθνῃσκεν).828 Die (Modell-)Leserschaft hat aufgrund ihrer bisherigen Lektüreerfahrung mit dem Protagonisten dieses Evangeliums wenig Zweifel daran, dass die Angelegenheit für Vater und Tochter gut ausgehen wird. Bis zu diesem Punkt der Handlung hat der lukanische Jesus bereits viele Kranke geheilt (vgl. das Summarium in Lk 6,18f.), zu denen auch ein ebenfalls dem Tod nahe gewesener Sklave eines Centurio (κακῶς ἔχων ἤμελλεν τελευτᾶν; Lk 7,2) gehört. Da sich die (Modell-)Leserschaft an die Erzählepisode von der Totenerweckung in Nain erinnert,829 rechnet sie für den Fall, dass die Tochter des Synagogenvorstehers verstirbt, mit einer weiteren Wiederbelebung – nicht zuletzt deshalb, weil sie ja auch die markinische Vorlage dieser Geschichte kennt. Der Erzähler des Lukasevangeliums muss sich also etwas einfallen lassen, um seiner Version von „Jairi Töchterlein“ ein Alleinstellungsmerkmal zu verleihen – will er sich nicht darauf beschränken, in seiner Makro-Erzählung markinische Erzählepisoden zu wiederholen und sie an geeigneten Stellen mit eigenen Geschichten anzureichern. Es gelingt ihm tatsächlich, die ihm vorliegende Quelle so zu bearbeiten, dass seine Fassung des bekannten Erzählstoffes ein novum aufweist und dass durch seine Version von „Jairi Töchterlein“ im Nachhinein auch noch eine Leerstelle in der Totenerweckungserzählung in Lk 7,11–17 gefüllt wird. In Lk 8,55 ergänzt der lukanische Erzähler seine Vorlage nämlich um einen kurzen, aus fünf Wörtern bestehenden Kommentar, der nachvollziehbar macht, wie eine von Jesus initiierte Wiederbelebung „funktioniert“: καὶ ἐπέστρεψεν τὸ πνεῦμα αὐτῆς. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lässt dieser Zusatz das erzählte Geschehen nicht nur vor dem Hintergrund der antikjüdischen Thanatologie plausibel erscheinen, sondern macht eine Totenerweckung auch mit hellenistisch-römischen Vorstellungen kompatibel. Eingebettet ist dieser Erzählerkommentar in den Kontext der in sich kohärenten Episode Lk 8,40–56: 40 Als Jesus zurückkam, hieß ihn die Volksmenge willkommen, denn alle warteten auf ihn. 41 Und siehe, es kam ein Mann namens Jairus und dieser war der Vorsteher der Synagoge, und vor Jesu Füße fallend bat er ihn, in sein Haus zu kommen, 42 denn
828 829
Vgl. zum Imperfekt de conatu: BDR, 268. Vgl. ZWIEP, Daughter, 263.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen er hatte eine einzige Tochter, die war ungefähr zwölf Jahre alt und sie lag im Sterben (καὶ αὐτὴ ἀπέθνῃσκεν). Als er aber hinging, umdrängte ihn die Volksmenge. 43 Und eine Frau, die seit zwölf Jahren Blutfluss hatte, die [obwohl sie ihren ganzen Besitz für Ärzte aufgewendet hatte] von keinem geheilt werden konnte, 44 von hinten herankommend, berührte sie die Quaste seines Gewandes und sofort kam der Fluss ihres Blutes zum Stillstand (παραχρῆμα ἔστη ἡ ῥύσις τοῦ αἵματος αὐτῆς). 45 Und Jesus sagte: „Wer hat mich berührt?“ Als es aber alle abstritten, sagte Petrus: „Meister, die Volksmenge schließt dich ein und bedrängt dich.“ 46 Jesus aber sagte: „Es hat mich jemand berührt, denn ich habe eine Kraft bemerkt, die aus mir herausgegangen ist (ἥψατό μού τις, ἐγὼ γὰρ ἔγνων δύναμιν ἐξεληλυθυῖαν ἀπ’ ἐμοῦ).“ 47 Als aber die Frau sah, dass sie nicht verborgen geblieben war, kam sie zitternd und vor ihm niederfallend und berichtete ihm vor dem ganzen Volk, aus welchem Grund sie ihn berührt hatte und wie sie sofort geheilt worden war. 48 Er aber sagte ihr: „Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin in Frieden.“ 49 Als er noch sprach, kommt (ἔρχεταί τις) einer vom Synagogensteher, der sagt: „Deine Tochter ist gestorben (τέθνηκεν ἡ θυγάτηρ σου), belästige den Lehrer nicht mehr.“ 50 Als aber Jesus das hörte, antwortete er ihm: „Fürchte dich nicht, glaube nur, und sie wird gerettet werden (σωθήσεται).“ 51 Als er aber in das Haus kam, ließ er nicht zu, dass irgendeiner mit ihm hineinging außer Petrus und Johannes und Jakobus und der Vater des Kindes und die Mutter. 52 Es weinten aber alle und beklagten sie. Er aber sagte: „Weint nicht, denn sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft.“ 53 Und sie lachten ihn aus, weil sie wussten, dass sie gestorben war. 54 Nachdem er aber ihre Hand genommen hatte (κρατήσας τῆς χειρὸς αὐτῆς), rief (ἐφώνησεν λέγων) er: „Kind, steh auf (ἡ παῖς, ἔγειρε)!“ 55 Und es kehrte ihr Atem zurück (καὶ ἐπέστρεψεν τὸ πνεῦμα αὐτῆς) und sie stand sofort auf (ἀνέστη παραχρῆμα) und er ordnete an, dass ihr zu essen gegeben werde. 56 Und ihre Eltern gerieten außer sich. Er aber befahl ihnen, niemandem zu sagen, was geschehen war.
Da es sich bei dieser lukanischen Geschichte um die Bearbeitung einer Vorlage aus dem Markusevangelium handelt, ist es natürlich aufschlussreich, Prä- und Folgetext miteinander zu vergleichen. Die Forschung zu Lk 8,40–56 hat allerdings die redaktionelle Arbeit, die der Verfasser des Lukasevangeliums an seiner Vorlage geleistet hat, bereits ausführlich dokumentiert,830 sodass sich eine eingehende Erörterung dieser Fragestellung in der vorliegenden Untersuchung erübrigt. Der Erzähler der lukanischen Version von „Jairi Töchterlein“ wird von der ModellLeserschaft als ein Narrator wahrgenommen, dem daran gelegen ist, seine Quelle in poetischer Hinsicht zu verbessern. Grundsätzlich hält er an der in narratologischer Hinsicht wirkungsvollen Sandwich-Struktur seiner Vorlage fest: durch das retardierende Moment einer Nebenhandlung – Jesus heilt eine am Blutfluss831 leidende Frau – steigt die Spannung der Leserschaft auf den Ausgang der Haupthandlung und sie fragt sich, ob Jesus das im Sterben liegende Kind tatsächlich retten wird. An seinem markinischen Prätext nimmt der lukanische Erzähler stilistische Verbesserungen,832 830
831 832
Vgl. FUCHS, Wachstum, passim; WOLTER, Lukasevangelium, 322–330; STARE, Stress, bes. 591f.; ZWIEP, Daughter, bes. 172–187. Vgl. zur Krankheit der Frau: WEISSENRIEDER, Plage, passim; WEISSENRIEDER, Images, 229–256. Als signifikante stilistische Verbesserungen seien erwähnt: a) Der lukanische Erzähler setzt das spannungssteigernde Mittel des praesens historicum wirkungsvoller ein als der
14 Lk 8,40–56: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers
257
Umstellungen833 und Streichungen834 vor, die den Handlungsverlauf im Großen und Ganzen leichter rezipierbar machen und zu einer Disambiguierung der in gattungstheoretischer Hinsicht ambivalenten markinischen Vorlage führen. In der erzählten Welt des Lukasevangeliums gilt die Tochter des Synagogenvorstehers als tot. Allerdings unterlaufen dem Erzähler des Lukasevangeliums bei der Überarbeitung seiner Quelle auch Flüchtigkeitsfehler im Hinblick auf den korrekten Anschluss von Pronomina an ihre Bezugswörter.835 Diese Nachlässigkeiten führen im Rezeptionsvorgang
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834
835
markinische, wenn er sich auf eine einmalige Verwendung dieses Stilmittels in Lk 8,49 beschränkt: die Verbform ἔρχεται indiziert, dass mit dem Auftritt der Erzählfigur, welche die Todesnachricht überbringt, die Spannung auf den Ausgang der Erzählung unüberbietbar gesteigert wird. b) Anstelle des ambigen Kompositums παρακούσας aus Mk 5,36 verwendet der lukanische Erzähler in Lk 8,50 das eindeutige simplex ἀκούσας. Diese Änderung führt zu einer Disambiguierung des Erzählten. Vgl. zur Ersetzung des markinischen ἐσχάτως ἔχει (Mk 5,23) durch ἀπέθνῃσκεν (Lk 8,42): FUCHS, Wachstum, 22f. Wenn die Altersangabe des Mädchens vom lukanischen Erzähler an den Anfang der Erzählung gestellt wird (Lk 8,42), entfällt der Effekt, der sich in der markinischen Fassung ergibt, wenn diese Information in Mk 5,42 am Ende der Geschichte quasi nachgetragen wird: das markinische Jairi Töchterlein steht am Ende im Fokus der Aufmerksamkeit. In der erzählten Welt des Lukasevangeliums wird die Auferweckte nach vollzogener Wiederbelebung zur Randfigur; es wiederholt sich die Figuren-Hierarchisierung, wie sie aus der antiken Wiederbelebungs-Erzähltradition vertraut ist. Die auferweckte Person gerät in den Hintergrund, damit der Totenerwecker bzw. die Wirkung, die seine Tat bei den Umstehenden auslöst, die volle Aufmerksamkeit erhalten. Folgende gravierende Streichungen, die zu einer Profilierung der lukanischen Fassung im Vergleich mit der markinischen führen, sind zu verzeichnen: a) Der lukanische Jairus bittet Jesus einfach nur darum, in sein Haus zu kommen (Lk 8,41), und verzichtet darauf, diesem konkrete Vorgaben für sein weiteres Vorgehen zu machen. Durch diesen redaktionellen Eingriff entfällt die Irritation, die beim Rezipieren der markinischen Vorlage entsteht, wenn die Bitte des Vaters (Mk 5,23) und das rettenden Handeln Jesu (Mk 5,41) nicht miteinander übereinstimmen. Darüber hinaus kann diese Konkretisierung im Kontext des Lukasevangeliums auch deshalb entfallen, weil die Leserschaft „ohne Mühe z. B. aus 7,3 ergänzen“ (WOLTER, Lukasevangelium, 325) kann, worum Jesus gebeten wird. b) Die Krankheit der Frau wird in Lk 8,43 im Vergleich zu Mk 5,25f. vom lukanischen Erzähler stark verkürzt dargestellt. Die von einigen Textzeugen etwas ausführlicher referierte „Krankenakte“ ist in textkritischer Hinsicht schlechter bezeugt (vgl. WOLTER, Lukasevangelium, 326). Anders als der markinische Jesus in Mk 5,34 konzeptualisiert der lukanische die Frau nicht als eine von einer „Plage geheilte“, sondern in Lk 8,48 mit einer im Ungefähren verbleibenden Formulierung als eine Gerettete (vgl. STARE, Stress, 586). Auf diese Weise entfällt das Changieren der gesamten, aus Rahmen- und Binnenerzählung bestehenden Episode zwischen Heilungs- und Totenerweckungserzählung, wie es im Markusevangelium vorliegt, zugunsten einer eindeutigen Zuordnung zu der zuletzt erwähnten Gattung. c) Der lukanische Erzähler streicht in der Binnenerzählung die inneren Monologe der kranken Frau und Jesu, die sich in Mk 5,28.30 finden (vgl. ZWIEP, Daughter, 262). Somit verkürzt er die Erzählzeit des Mittelteils, erreicht ein höheres Erzähltempo und verringert den Eindruck, den die Heilung der Frau bei der Leserschaft hinterlässt, zugunsten eines stärkeren Effektes, den die Totenerweckung des Kindes auszulösen vermag. Als „Flüchtigkeitsfehler“ des Erzählers fallen auf: a) In grammatischer Hinsicht müsste sich das αὐτῷ in Lk 8,50 auf den Überbringer der Todesbotschaft beziehen; „in context it is far more likely that Jesus addresses Jairus“ (ZWIEP, Daughter, 97), wenn er zum Glauben
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
258
jedoch kaum zu Irritationen und werden von der Leserschaft stillschweigend korrigiert. Bemerkenswert ist, dass in der Summe aufgrund der erfolgten redaktionellen Arbeit die lukanische Version von „Jairi Töchterlein“ durch vielfältige Stichwortverbindungen eng mit dem Makrotext verbunden erscheint und so als integraler Bestandteil des Gesamtevangeliums wahrgenommen wird.836
Um einen in der Forschung bisher vernachlässigten Aspekt der lukanischen Version von „Jairi Töchterlein“ intensiver zu beleuchten, wird deshalb im Folgenden danach gefragt, welches enzyklopädische Vorwissen durch den Erzählerkommentar von Lk 8,55a, den die Seitenreferenten nicht aufweisen, bei der Modell-Leserschaft abgerufen und welches Textverständnis auf diese Weise konstituiert wird. Somit lässt sich festlegen, welche Figuren aus dem Fundus antiker Totenerweckungserzählungen als Vergleichsgrößen für den lukanischen Erwecker des Jairi Töchterlein in Frage kommen und inwiefern ein Vergleich mit ihnen das Profil des lukanischen Jesus schärft.
14.1
Die Rückkehr des πνεῦμα als Aktualisierung der Wiederbelebungsvorstellungen von 1 Kön 17,17–24
Die Figurenkonstellation, das Raumkonzept und der Handlungsablauf der lukanischen Version von „Jairi Töchterlein“ weisen, ebenso wie das bei den Vergleichstexten Mk 5,21–43 und Mt 9,18–26 der Fall ist, große Übereinstimmungen mit der Erzählung 1 Kön 17,17–24 auf.837 Wenn in Lk 8,55 der Erzähler das Wieder-lebendig-Werden des toten Kindes mit den Worten kommentiert: καὶ
836
837
aufruft. b) Nachdem der lukanische Jesus in Lk 8,52 das Kind als schlafend, nicht aber als tot bezeichnet hat, wird er – anders als in Mk 5,40 – nicht nur von den Trauernden, die sich im Haus des Synagogenvorstehers befinden, ausgelacht, sondern „peinlicherweise“ (BUSSE, Wunder, 223) auch noch von seinen drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes sowie von Jairus und dessen Ehefrau. Das Indefinitpronomen πάντες in Lk 8,52, welches das zu implizierende Subjekt zu den Verbformen κατεγέλων und εἰδότες in Lk 8,53 darstellt, verweist nämlich auf eben diese in Lk 8,51 erwähnten Figuren. Eine Auflistung intratextueller Bezüge zwischen Lk 8,40–56 und anderen Stellen des lukanischen Doppelwerkes bietet ZWIEP, Daughter, 117f. Dieser konstatiert: „Luke has man– aged to fully integrate the story in his overall narrative: almost every verse has a connection with a passage, a phrase, a situation elsewhere in his work“ (a. a. O., 118). – Dass in Lk 8,40–56 von einem Vater und seiner verstorbenen Tochter erzählt wird, wohingegen die Episode Lk 7,11–17 von einer Mutter und ihrem toten Sohn handelt, ist ein typisches Phänomen des Lukasevangeliums, in dem männliche und weibliche Erzählfiguren häufig komplementär einander gegenübergestellt werden; vgl. WOLTER, Lukasevangelium, 324. Die Hypothese von Thomas L. Brodie, nach welcher das gesamte Lukasevangelium als Aktualisierung des Elia-Elisa-Zyklus aus den Königebüchern zu verstehen sei (komprimiert dargestellt in: BRODIE, Luke’s Use, passim), hat sich in der Forschung nicht durchgesetzt (vgl. ÖHLER, Elia, 236f.; VON BENDEMANN, ΔΟΞΑ, 38).
14 Lk 8,40–56: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers
259
ἐπέστρεψεν τὸ πνεῦμα αὐτῆς, liegen sogar beachtliche terminologische Kongruenzen mit dem Prätext der Königebücher vor, und zwar vor allem mit den uns überlieferten LXX-Textfassungen. So findet sich das Verbum ἐπιστρέφειν im Gebet, das Elia 1 Kön 17,21 an JHWH richtet, nachdem er den toten Jungen zuvor dreimal kräftig angeblasen (ἐνεφύσησεν) hat: ἐπιστραφήτω δὴ ἡ ψυχὴ τοῦ παιδαρίου τούτου εἰς αὐτόν (kaige- und antiochenische Rezension). Der Erzähler der Königebücher konstatiert dann in 1 Kön 17,22 (im Wortlaut der antiochenischen Rezension) mit fast denselben Worten wie in Lk 8,55, wie sich die Wiederbelebung des Knaben vollzieht: καὶ ἐπεστράφη ἠ ψυχὴ τοῦ παιδαρίου εἰς αὐτόν.838 Festzuhalten ist also, dass sich am lukanischen Jairi Töchterlein ebenso wie am toten Sohn der Witwe aus 1 Kön 17 das wiederbelebende ἐπιστρέφειν (Umkehren, Wieder-Zurückkehren) einer Entität839 vollzieht, die im Lukasevangelium als πνεῦμα, im LXX-Prätext hingegen als ψυχή bezeichnet wird. Im Kontext von Totenerweckungserzählungen evozieren beide Ausdrücke nahezu identische Wiederbelebungs-Vorstellungen. Wenn in 1 Kön 17,17 davon berichtet wird, dass der Sterbeprozess des Jungen einsetzt, ist in der kaige-Fassung die Rede davon, dass kein πνεῦμα mehr in ihm ist, die antiochenische Version spricht von πνοὴ ζωῆς. Gemäß den LXX-Fassungen stellt der Prophet Elia in 1 Kön 17,21 durch das Anblasen des toten Kindes – in Nachahmung des Schöpfungshandelns Gottes gemäß Gen 2,7 – performativ dar, wie JHWH den Leichnam wiederbelebt. Weiter oben840 ist das griechische Wort ψυχή, das in 1 Kön 17,22 (kaige-Version) für die Entität verwendet wird, die nach dem performativen Akt wieder in den Sohn der Witwe zurückkehrt, mit „Lebenskraft“ übersetzt worden. Dieser Ausdruck kann im 838 839
840
Die kaige-Fassung bietet an dieser Stelle folgenden Text: καὶ ἀνεβόησεν τὸ παιδάριον. Vgl. LUX, Tod, 52–54, der auf eine ganz ähnliche Vorstellung aufmerksam macht, die sich im Buch Kohelet findet: Grundsätzlich behandeln die Verse Koh 3,19–21 das Phänomen, dass die „Gleichheit von Mensch und Vieh [...] im gemeinsamen Todesgeschick [besteht ...:] im Lebensatem, sowie in ein und demselben Ort, an den sie letztlich zurückkehren, nämlich zum Staub ( )עפרder Erde (V. 20b). [...] Die Rede von der רוחund vom עפרals Ort ( )מקומdes Todes stellt eine unübersehbare Anspielung auf die Anthropologie von Gen 2,7; 3,19 dar. Dort ist zwar nicht von der רוח, sondern von der נשמה חייםdie Rede, die JHWH dem אדםeingehaucht habe, aber beide Nomina, רוחund נשמה, finden auch als Synonyma Verwendung (Gen 6,17; 7,22; 2 Sam 22,16; Jes 42,5; 57,16; Ps 18,16; Ijob 4,9; 27,3; 32,8; 33,4; 34,14).“ Während im ersten Abschnitt dieser Schrift zunächst noch offenbleibt, wohin der Odem geht, wenn ein Mensch tot ist (καὶ τίς οἶδεν πνεῦμα υἱῶν τοῦ ἀνθρώπου εἰ ἀναβαίνει αὐτὸ εἰς ἄνω [Koh 3,21]), wird am Ende des Buches festgestellt, dass der „Atem des Menschen [...] zurück zu Gott“ (LUX, a. a. O., Anm. 73, 62) kehrt. Bemerkenswerter Weise wird dies in Koh 12,7 mit derselben Terminologie versprachlicht wie in Lk 8,55: καὶ ἐπιστρέψῃ ὁ χοῦς ἐπὶ τὴν γῆν, ὡς ἦν, καὶ τὸ πνεῦμα ἐπιστρέψῃ πρὸς τὸν θεόν, ὃς ἔδωκεν αὐτό. Anders als in Koh 12,7 bezeichnet das ἐπιστρέφειν des πνεῦμα in Lk 8,55 jedoch nicht eine Rückkehr zu Gott, der den Lebensodem gegeben hat, sondern ein Zurückkehren des Atems in einen toten Menschen. – Vgl. ferner WOLTER, Lukasevangelium, 329: „Vom ἐπιστρέφειν des πνεῦμα eines Menschen spricht auch Ri 15,19 (Simson, der freilich gerade noch am Leben ist und nur beinahe verdurstet wäre“). Vgl. auch Offb 11,11. Vgl. S. 26 in der vorliegenden Untersuchung.
260
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen Sprachgebrauch des Griechischen aber auch das Wort „Atem“ denotieren.841 Angesichts der Tatsache, dass der griechische Wortlaut der LXX-Königebücher-Versionen ohnehin nicht zweifelsfrei (re-)konstruiert werden kann, erscheint es zulässig, den Terminus πνεῦμα, der in Lk 8,55 für das, was in das tote Mädchen zurückkehrt, verwendet wird, als Synonym zu ψυχή zu bezeichnen. Dieses Wort liegt auch in 1 Kön 17,22 vor. Will man dennoch an einer gewissen Differenz zwischen den Vorstellungen, die von den beiden Substantiven evoziert werden, festhalten, so lässt sich ψυχή als Oberbegriff deklarieren, der den frame „Lebenskraft“ aktualisiert, sodass diesem Ausdruck πνεῦμα als Hyponym untergeordnet werden kann. Auf diese Weise erscheint πνεῦμα im Sinne von „Atem“ als die biologisch-physiologische Konkretisierung der abstrakten Rede davon, dass „Lebenskraft“ vorhanden ist.
Im Unterschied zum Verhalten des Propheten Elia, der in der erzählten Welt der Königebücher betet, verzichtet der lukanische Jesus auf eine explizite „Kontaktaufnahme“ zu Gott, wenn er sich dem toten Mädchen zuwendet. Dieser Umstand ist insofern signifikant, als mit Blick auf das gesamte Evangelium Jesu Beten als „charakteristisches Element der lk Jesusgeschichte [… hervorsticht]: Immer wieder passieren wichtige Ereignisse[,] während Jesus betet oder nachdem er gerade damit aufgehört hat. Überhaupt ist das Gebet für Lukas eines der wichtigsten Kennzeichen der Gott zugewandten Existenz“842. An dieser Stelle handelt er aber selbstbestimmt am Leichnam, indem er die Hand des Mädchens ergreift und das tote Kind anspricht: αὐτὸς δὲ κρατήσας τῆς χειρὸς αὐτῆς ἐφώνησεν λέγων· ἡ παῖς, ἔγειρε (Lk 8,54). Sein Agieren am Kind besteht aus zwei Komponenten: einer Berührung und einem performativen Sprechakt. Die Leserschaft des Lukasevangeliums kann – ähnlich wie die markinische – aus den Vorgängen rund um die Frau mit dem Blutfluss, von denen in der Binnenerzählung Lk 8,43–48 berichtet wird, erschließen, warum der Körperkontakt, den Jesus zur Hand des toten Kindes aufnimmt, eine Wirkung auslöst: Nachdem ihn die kranke Frau berührt hat, kommt ihr Blutfluss zum Stillstand (παραχρῆμα ἔστη ἡ ῥύσις τοῦ αἵματος αὐτῆς; Lk 8,44) und Jesus stellt fest: ἥψατό μού τις, ἐγὼ γὰρ ἔγνων δύναμιν ἐξεληλυθυῖαν ἀπ’ ἐμοῦ (Lk 8,46). Sich an die Umstände der Heilung eines παραλελυμένος in Lk 5,17–26 erinnernd, inferiert die Modell-Leserschaft, dass diese besondere Kraft Jesu in Heilungsvorgängen von Gott stammt. Der Erzähler erläutert nämlich in Lk 5,17 die Vorgänge rund um den gelähmten Mann folgendermaßen: καὶ δύναμις κυρίου ἦν εἰς τὸ ἰᾶσθαι αὐτόν. Auch in Lk 6,19 wird davon erzählt, dass beim Heilen eine durch Berührungen ausgelöste Kraft von Jesus ausgeht: καὶ πᾶς ὁ ὄχλος ἐζήτουν ἅπτεσθαι αὐτοῦ, ὅτι δύναμις παρ’ αὐτοῦ ἐξήρχετο καὶ ἰᾶτο πάντας.843 Eben diese δύναμις κυρίου wird auch bei der Heilung der Frau wirksam. Offensichtlich ist sie innerhalb der erzählten Welt des Lukasevangeliums als eine Kraft zu imaginieren, über die Jesus dauerhaft verfügt.
Aktiviert die Berührung des Kindes ein weiteres Mal innerhalb der erzählten Welt des Lukasevangeliums die Jesus von Gott gegebene δύναμις, so spezifiziert 841
842 843
Vgl. PASSOW II/2, 2587, s. v. ψυχή: „Bei Homer als Odem, Athem, Hauch, und weil dieser als Zeichen und Bedingung des Lebens erkannt wurde, für Leben, Lebenskraft gebraucht.“ WOLTER, Lukasevangelium, 170. Vgl. ZWIEP, Daughter, 267f.
14 Lk 8,40–56: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers
261
Jesu Figurenrede, welche konkrete Wirkung sie in diesem Fall auslösen soll: das Auf(er)stehen des toten Kindes. Die Intensität, mit welcher dieser Wiederbelebungsakt von Jesus ausgeführt wird, spiegelt sich im Kommentar des Erzählers wider, der den Sprechakt des Totenerweckers (λέγων) in Lk 8,54 explizit als ein Rufen (ἐφώνησεν) charakterisiert. Während Elia im Vollzug der Wiederbelebung des toten Jungen in 1 Kön 17,20 seine Stimme erhebt (ἀνεβόησεν), um JHWH anzurufen, richtet sich der durch seine erhobene Stimme intensivierte Sprechakt Jesu direkt an das vor ihm liegende Kind. Es lässt sich somit festhalten, dass der Erzähler des Lukasevangeliums die Totenerweckung von Jairi Töchterlein aufgrund der auffälligen Stichwortverbindungen zur Geschichte von Elia und dem toten Sohn der Witwe explizit als intertextuelle Bezugnahme auf die Wiederbelebung präsentiert, die sich im erzählten Sarepta der Königebücher abspielt. Jesus ist aber, verglichen mit Elia, der autonomere Totenerwecker. Er vollzieht – anders als Elia – am toten Kind keinen performativen ritualsymbolischen Akt, durch welchen verdeutlicht würde, dass es eigentlich Gott ist, der das Mädchen wiederbelebt. Dass der im Sterbeprozess aus dem Kind gewichene Atem844 wieder in es zurückkehrt, bewirkt der lukanische Jesus selbstständig, indem er seine δύναμις κυρίου durch die Berührung der Hand des Mädchens aktiviert und durch seinen performativen Sprechakt das ἐπιστρέφειν des πνεῦμα initiiert. Rückwirkend erklärt sich der Modell-Leserschaft nach der Lektüre von Lk 8,40–56 auch, wie sich die Erweckung des Jünglings von Nain, von der in Lk 7,11–17 erzählt worden ist, vollzogen hat. Auch hier hat die Figurenrede Jesu: νεανίσκε, σοὶ λέγω, ἐγέρθητι, eine Art Umkehrschub ausgelöst und die im Sterbeprozess aus dem jungen Mann entwichene „Lebenskraft“ wieder in ihn zurückkehren lassen.
844
STRECKER, Zugänge, 4, weist darauf hin, dass der Ausdruck πνεῦμα, abgesehen von Lk 8,55, auch an anderen Stellen innerhalb des Neuen Testaments in diesem „materiell-physischen bzw. biologischen Sinn“ verstanden werden kann, und zwar als Bezeichnung für „den Atem als Lebensprinzip bzw. den Lebensgeist, dessen Aufgabe zum Tod führt (Mt 27,50; [...] Joh 19,30; Jak 2,26; Offb 11,11).“ Insbesondere die Formulierung aus Jak 2,26: τὸ σῶμα χωρὶς πνεύματος νεκρόν ἐστιν, lässt sich als Beleg dafür anführen, dass unabhängig davon, ob man für das Verständnis von Lk 8,55 auf jüdische oder auf pagane πνεῦμα-Konzepte rekurriert, in der Antike das Vorhandensein von πνεῦμα im Körper als Voraussetzung für menschliches Leben, das Nicht-Vorhandensein hingegen als Merkmal für das Tot-Sein eines Menschen angesehen wurde.
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
262
14.2
Die Rückkehr des πνεῦμα vor dem Hintergrund zeitgenössischer medizinischer Vorstellungen
Aufgrund des unmittelbar wirkenden primacy effects, der bei der Rezeption von Lk 8,49–56 nach der Lektüre der Binnenepisode ausgelöst wird, in der es um das θεραπευθῆναι (Lk 8,43) einer kranken Frau geht, und natürlich auch in Kenntnis der Heilungserzählungen, die von Jesu Zuwendung zu anderen Kranken in der erzählten Welt des Lukasevangeliums handeln, bevor er auf die Tochter des Synagogenvorstehers Jairus trifft, vergleicht die Modell-Leserschaft des Dritten Evangeliums auch die – innerhalb des Makrotextes – zweite Totenerweckungserzählung mit antiken medizinischen Schriften, und zwar insbesondere mit denjenigen, die der Entität πνεῦμα eine besondere Bedeutung in der menschlichen φύσις zuschreiben. In der antiken Medizin wird seit dem 1. Jh. v. Chr. von der sog. Schule der Pneumatiker845 ein medizinisches Konzept vertreten, das auf der „Interpretation des pneuma (also der Luft) als eines lebensspendenden und lebenserhaltenden stofflichen Prinzips basierte.“846 Dem πνεῦμα für den reibungslosen Ablauf der Körperfunktionen eine bedeutende Rolle zuzuschreiben war dabei keine neue Auffassung der pneumatischen Schule. „Der Begriff πνεῦμα spielt eine entscheidende Rolle schon in frühen hippokratischen Texten (vgl. z. B. CH De natura hominis 5; 9; De flatibus 3; 7; De aere aquis locis 3–6 u. a.); unterschieden wird dabei ein äußeres Lebenspneuma von einem ‚inneren‘, ‚psychischen‘ Pneuma (πνεῦμα ψυχικόν). In der pneumatischen Medizin der Kaiserzeit vollzieht sich ein Übergang von der hippokratischen Humoralpathologie zu einer Solidarpathologie, indem πνεῦμα körperlich-stofflich aufgefasst wird. Der Schulgründer der ,Pneumatiker‘, Athenaios von Attaleia, war Schüler des Poseidonios, von hier aus erklärt sich die Affinität insbesondere zur stoischen Sympatheia-Lehre.“847
Bemerkenswert ist allerdings, dass sich innerhalb des antiken medizinischen Diskurses keine „consistent answers to questions about breathing“848 finden lassen.849 Für die Modell-Leserschaft von Lk 8,55 bedeutet dies, dass sie, auch ohne 845 846 847
848 849
Vgl. ECKART, Geschichte, 22; WEISSENRIEDER/DOLLE, Körper, 584–588. ECKART, Geschichte, 22. VON BENDEMANN, Körperkonzeptionen, Anm. 90, 185. Vgl. auch ECKART, Geschichte, 22f., und MARTIN, Statements, bes. 111f., 114f. und 122. – Vgl. zur stoischen Lehre: SCHADEL, ΘΑΝΑΤΟΣ, 46f.: „Wie Aristoteles erklärten die[...] Stoiker das Alter physiologisch mit dem ‚Verlust an Wärme‘, wie dieser begreifen sie Leben als Atem: ‚vivere spirare est et spirare vivere est‘. Auch sie verstehen den Atemvorgang als das, was die innere Wärme kühlt. Wie Aristoteles schließlich definieren die Stoiker physiologisch den Tod als ein ‚völliges Nachlassen des wahrnehmbaren Luftstromes‘“. MARTIN, Texts, 531. Vgl. MARTIN, Texts, 522: „Many ancient authors thus agree that breathing is the inhaling and exhaling of air but disagree about which body parts must receive the air to constitute breathing. For some, drawing air into the mouth is sufficient while for others the air must
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263
intertextuelle Verknüpfungen zwischen dieser lukanischen Totenerweckungserzählung und der Geschichte aus 1 Kön 17,17–24 vorzunehmen, aufgrund der diffusen medizinisch-physiologischen Vorstellungen in der kaiserzeitlichen Medizin den Kommentar des Erzählers, dass das πνεῦμα des Kindes wieder zurückgekehrt sei, für plausibel hält. Wird die Erweckung des lukanischen Jairi Töchterlein aufgrund der Bemerkung in Lk 8,55 in einen medizinischen Kontext eingebettet, lenkt diese Konnotation den Blick auch auf die literarischen Zeugnisse von der nicht atmenden Frau (ἄπνους) und dem Arzt und Mantiker Empedokles, die weiter oben ausführlich behandelt worden sind.850 Auch auf die nicht-atmenden und wie tot daliegenden Heldinnen der antiken Romane ist bereits eingegangen worden.851 Zwischen diesen weiblichen Erzählfiguren und der Tochter des Synagogenvorstehers kann die Leserschaft ebenfalls Parallelen erkennen. Es ist aber zu betonen, dass sowohl in den literarischen Empedokles-Traditionen als auch in den Romanen die weiblichen Figuren, denen ein Defizit im Hinblick auf ihr Respirationsvermögen attestiert wird, nicht als tot gelten. Die gestörte Atemtätigkeit reguliert sich bei ihnen in allen Fällen von selbst, die Frauen setzen entweder vollständig ohne ärztliche Hilfe oder aufgrund des Eingreifens eines Arztes wie Empedokles, das sie vor einer vorzeitigen Bestattung bewahrt, ihr vorheriges Leben fort. Die Tochter des Jairus ist hingegen in der erzählten Welt des Lukasevangeliums explizit als tot konzeptualisiert. Jesu totenerweckende Kompetenz, die eine Rückkehr des πνεῦμα bewirkt, überschreitet somit die Fähigkeit eines Arztes, der zwischen „wirklich“ Toten und nur wie tot Daliegenden zu unterscheiden vermag.
14.3
Die Rückkehr des πνεῦμα vor dem Hintergrund antiker (mythologischer) „Psychen“
Über den langen Zeitraum vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr.852 sind „kleinformatige[…] Darstellungen der ‚Psyche‘ Verstorbener in menschlicher, wenn
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be drawn into the brain, lungs, or some other body part. These authors also disagree about what happens to the air once it enters the body. Some contend that it is entirely breathed out again while others hold that some of it remains in the body or transfers some of its qualities before being exhaled. Ancient authors do not therefore give a uniform answer to the question of what breathing is although they do provide the options available for consideration.“ Vgl. die Ausführungen im Abschnitt 10.1 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. die Ausführungen im Abschnitt 10.2 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. MARTIN, Comfort, 1: „From approximately 460 BC to the end of the fifth century, white-ground lekythoi were popular as funeral vases in Greece, especially Athens.“ – Martins Aufsatz bietet im Ganzen einen hervorragenden Eindruck in Verbreitung und
264
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
auch oft strichzeichnungsartig reduzierter Gestalt, in der Mehrzahl mit Flügeln ausgestattet“,853 belegt. Bei den mit ihnen zusammen abgebildeten Toten handelt es sich in allen Fällen um „soeben Verstorbene“854 und „die psyche ist nicht der Sterbliche selbst, sondern das, was von ihm in den Hades übergeht.“855 Im Sprachgebrauch der griechischen Mythologie wird die ψυχή als der in den Hades reisende Bestandteil eines Toten auch als „Eidolon“ bezeichnet.856 Derartige Abbildungen finden sich auf Vasen, die den Toten gewidmet und in ihren Gräbern aufgestellt sind.857 Im Hintergrund dieser Bestattungssitte steht die Absicht, den Hinterbliebenen im Beerdigungsvollzug die tröstliche Vorstellung zu vermitteln, dass eine visuelle „interaction and communication between the worlds of the living and the dead“858 vermittels der Abbilder auf den Grabbeigaben möglich ist. Prägend für diese Verbildlichungen von Entitäten, welche die Toten verlassen und sie in den Hades geleiten, ist zunächst die griechisch-römische Mythologie. Wie eine ins 3. Jh. n. Chr. zu datierende Abbildung auf der Nordwand der Synagoge in Dura Europos zeigt, ist die aus der griechischen Mythologie stammende Psychen-Vorstellung jedoch auch mit jüdischen thanatologischen Konzepten vereinbar. So finden sich in der Sektion B 1, in der die Totenwiederbelebungs-Vision aus Ez 37,1–14 dargestellt wird, „drei/vier Flügelwesen […]. In Hinsicht auf den Textbezug sind sie mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit mit den vier Winden zu verbinden, von denen her in Ez 37,9 der Prophet den Lebensatem/-geist herbeirufen soll, der den Getöteten nach 37,8 noch fehlt. Dieser vierfältige Geist/Wind wird dabei nach der Prototypik hellenistischer ‚Psychen‘ dargestellt“859. Auf der Basis dieses – im Mittelmeerraum der Antike offensichtlich weit verbreiteten – Bildprogramms kann sich die Modell-Leserschaft von Lk 8,55 die Rückkehr des πνεῦμα in das tote Kind auch wie den „Rückflug“ eines kleinen
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Bedeutung dieses Bildprogramms, was darüber hinaus auch noch durch einschlägige Abbildungen illustriert wird. THOMSEN, Wirkung, 275. THOMSEN, Wirkung, 275. THOMSEN, Wirkung, 275. Den Ausgangspunkt nimmt dieses Bildprogramm in der Vasenmalerei des Euphronios, der die mythologische Szene: Thanatos und Hypnos (dargestellt als geflügelte Wesen) heben den Leichnam des Sarpedon auf, aus Homers Ilias (Il. 16, 480–482) darstellt, vgl. VAN DEN HOFF, Heldenleichen, 166–169. Vgl. MATIJEVIĆ, Jenseitsvorstellungen, 162. In den wissenschaftlichen Diskursen der antiken Kunstgeschichte ist der Sprachgebrauch nicht einheitlich, vgl. MARTIN, Comfort, 2, die lebensgroße Abbildungen von Verstorbenen „as an exact physical replica of either the living […] or the deceased“ als „Eidolon“ bezeichnet, aber den Terminus ψυχή verwendet, wenn „the dead are depicted as generic, diminutive, winged, sexless, almost insect-like figures“ (ebd.). Vgl. MARTIN, Comfort, 3. MARTIN, Comfort, 3. VON BENDEMANN, Lebensgeist, 267f.
14 Lk 8,40–56: Jesus und die Tochter des Synagogenvorstehers
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geflügelten Wesens vorstellen, das einen Menschen in der Eingangsphase seines Sterbeprozesses verlässt und – wenn es nicht zum Umkehren bewegt wird – in den Hades geleitet. Diese Assoziation herzustellen ist zwar nicht so naheliegend, wie im Rezeptionsprozesse die intertextuellen Parallelen zu 1 Kön 17,17–24 oder zu Texten, die medizinische πνεῦμα-Vorstellungen enthalten, zu erkennen. Dennoch zeigt sich aufgrund dieser Vergleichsmöglichkeit ein weiteres Mal, dass der Erzählerkommentar in Lk 8,55, der sich bei den Seitenreferenten nicht findet, den grundsätzlich schwer vorstellbaren Vorgang einer Wiederbelebung mit mehr als nur einem Eintrag in die Enzyklopädie der Modell-Leserschaft vermittelbar macht.
15
Apg 9,36–43: Petrus und Tabitha
Die dritte Totenerweckungserzählung des lukanischen Doppelwerkes stellt insofern eine Besonderheit dar, als in ihr nicht Jesus als Totenerwecker fungiert – was im Kontext der Apostelgeschichte, in der Jesus keine die Handlung vorantreibende Figur ist, nicht überraschen sollte. Dass in der erzählten Welt dieser Schrift nun auch Petrus zum Wiederbeleber einer Toten wird, lässt sich folgendermaßen erklären: In der erzählten Welt des Matthäusevangeliums fordert Jesus die Jünger explizit dazu auf, Tote zu erwecken (νεκροὺς ἐγείρετε; Mt 10,8). Innerhalb der erzählten Handlung des Ersten Evangeliums wird über die Umsetzung dieses Auftrages allerdings nichts berichtet. An der entsprechenden Parallelstelle im Lukasevangelium fehlt dieser Aufruf. In Lk 9,1 werden die Zwölf von Jesus mit δύναμις καὶ ἐξουσία ausgestattet ἐπὶ πάντα τὰ δαιμόνια καὶ νόσους θεραπεύειν – eine ausdrückliche Instruktion, Tote zu erwecken, findet sich nicht. Dem lukanischen Petrus wird in Sonderheit von Jesus befohlen, zukünftig „die Brüder zu stärken“: στήρισον τοὺς ἀδελφούς σου (Lk 22,32). Das lässt sich als Vorverweis auf die „Leitungsfunktion“ verstehen, die „Petrus nach Ostern in der Jerusalemer Gemeinde […] ausübt“860. Am Ende des neunten Kapitels der Apostelgeschichte861 wird der Apostel Petrus dann in dieser Funktion präsentiert. Während seiner Visitationsreise862 an die Mittelmeerküste holt man ihn von Lydda, wo er im Rahmen seines „Stärkungs-Auftrags“ einen Kranken heilt (Apg 9,32–35), nach Joppe zu der kurz zuvor verstorbenen μαθήτρια Tabitha. Der Erzähler des lukanischen Doppelwerkes porträtiert Petrus in der Episode, die sich mit diesem Ereignis befasst (Apg 9,36–43), als Totenerwecker in der Tradition Elias, Elisas und Jesu. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive betrachtet, fungiert diese Totenerweckungserzählung als Initialzündung für weitere Erzählungen in den sog. apokryphen Apostelakten, die innerhalb der frühchristlichen (Vor-)Lese- und Erzählgemeinschaft als Totenerweckungserzählungen mit dem Protagonisten Petrus in den Fundus dieser Gattung eingehen.863
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WOLTER, Lukasevangelium, 716. – Bemerkenswert ist, dass Lk 22,31f. „keinerlei Parallele [hat] in einem der drei anderen Evangelien“ (WOLTER, a. a. O., 715). Die vorliegende Untersuchung schließt sich dem Forschungskonsens an, nach welchem das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte denselben (unbekannten) Verfasser haben, der den ersten Text Ende der 80er Jahre, den zweiten ca. 10 Jahre später verfasst hat, vgl. zu den Einleitungsfragen: VON BENDEMANN, Art. Lukas, bes. 655–662. Vgl. BÖTTRICH, Petrus, 159: „Hier scheint es ganz direkt um die Visitation von Gemeinden zu gehen, die schon immer mit Jerusalem verbunden waren.“ Vgl. die Ausführungen im Schlusskapitel der vorliegenden Untersuchung.
268
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Die in chronologischer Reihenfolge dritte Totenerweckungserzählung864 innerhalb des lukanischen Doppelwerkes weist in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut auf: 36 In Joppe aber war (ἦν) eine Christusgläubige (μαθήτρια) mit dem Namen Tabitha, was übersetzt Dorkas heißt. Diese war (ἦν) voller guter Werke und Wohltaten, die sie vollbrachte (ἐποίει). 37 Es geschah aber (ἐγένετο δέ) in jenen Tagen, dass sie, nachdem sie krank geworden war (ἀσθενήσασαν αὐτήν), starb (ἀποθανεῖν). Nachdem sie sie gewaschen hatten, legten sie sie ins Obergemach (ἐν ὑπερῴῳ). 38 Da Lydda nahe Joppe ist und die Jünger gehört hatten, dass Petrus daselbst war, schickten sie zwei Männer zu ihm, die baten: „Zögere nicht (μὴ ὀκνήσῃς), zu uns zu kommen.“ 39 Petrus aber stand auf und ging mit ihnen (ἀναστὰς δὲ Πέτρος συνῆλθεν αὐτοῖς); als er angekommen war, führten sie ihn ins Obergemach (εἰς τὸ ὑπερῷον) und es traten zu ihm alle Witwen, die weinten und die Untergewänder und Kleider zeigten, die sie gemacht hatte, als sie bei ihnen war, die Dorkas. 40 Der Petrus aber warf alle hinaus (ἐκβαλὼν δὲ ἔξω πάντας) und beugte die Knie (θεὶς τὰ γόνατα), betete (προσηύξατο) und wandte sich hin zum Leichnam (ἐπιστρέψας πρὸς τὸ σῶμα) und sagte: „Tabitha, steh auf (Ταβιθά, ἀνάστηθι)!“ Diese aber öffnete ihre Augen, und als sie den Petrus sah, setzte sie sich auf (ἀνεκάθισεν). 41 Nachdem er ihr die Hand gegeben hatte (δοὺς δὲ αὐτῇ χεῖρα), richtete er sie auf (ἀνέστησεν αὐτήν). Er rief aber die Heiligen und die Witwen und präsentierte sie lebendig (παρέστησεν αὐτὴν ζῶσαν). 42 Es wurde aber in ganz Joppe bekannt und viele kamen zum Glauben an den Herrn (ἐπίστευσαν πολλοὶ ἐπὶ τὸν κύριον). 43 Es geschah aber, dass er viele Tage in Joppe blieb bei einem gewissen Simon, einem Gerber.
Nachdem der Erzähler in Apg 9,32–35 geschildert hat, wie Petrus im Rahmen seines auf seinem „Stärkungsauftrag“ (Lk 22,32) beruhenden διέρχεσθαι διὰ πάντων zunächst einen Kranken in Lydda geheilt hat, wendet er sich, wie die Ortsangabe ἐν Ἰόππῃ in Apg 9,36 zeigt, Geschehnissen an einem anderen Ort zu. Dieser zählt in der außertextuellen Referenz-Welt auch zu den „bereits existierende[n] jüdische[n] Ekklesiai“865 an der Mittelmeerküste. Wie das Tempus der Verben dieses Verses anzeigt: alle Prädikate stehen im durativen Imperfekt (ἦν [zweimal] und ἐποίει), ruht sein Blick zunächst eine Weile auf diesem neuen Schauplatz. Aufgrund ihrer sowohl jüdisch als auch hellenistisch-römisch geprägten Enzyklopädie kennt die Modell-Leserschaft den neu in die Geschichte eingeführten Handlungsort nicht nur als eine real existierende Hafenstadt in der außertextuellen Realität mit einer „stark hellenisierten jüdischen
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Nicht eigens gekennzeichnet sind einzelne Gedanken, die aus meinem Aufsatz: „Petrus in Joppe – Ein Totenerwecker. Kognitiv-narratologische Beobachtungen zu Apg 9,36–43 als Totenerweckungserzählung“ in das vorliegende Kapitel einfließen. REINBOLD, Propaganda, 53. Reinbold erkennt a. a. O., 55, in den beiden Episoden, die in Lydda und Joppe spielen, eine historische Reminiszenz an einen Besuch des Apostels „vor der Jerusalemer Konferenz […], dessen primärer Zweck wohl das gegenseitige Kennenlernen und die Stärkung des inneren Zusammenhalts der jungen Ekklesia war.“
15 Apg 9,36–43: Petrus und Tabitha
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Bevölkerung“866. Aus der Literatur ist ihr dieser Küstenort auch als Schauplatz außergewöhnlicher Rettungsaktionen bekannt. So aktualisiert die topographische Angabe „Joppe“ zum einen die jüdische Jona-Erzählung, welche die wunderbare Errettung ihres Protagonisten aus dem Bauch eines an der Küste vor Joppe sein Unwesen treibenden (Jon 2,1) Seeungeheuers zum Inhalt hat. Andererseits ist dieser Ort aber auch verknüpft mit dem antiken Mythos von Andromeda und Perseus, der davon handelt, dass Andromeda einem Meerungeheuer geopfert werden sollte, aber von Perseus gerettet wurde, als sie „auf den Klippen vor Joppe ausgesetzt“867 war. Innerhalb der erzählten Welt der Apostelgeschichte steht „Joppe“ allerdings nicht nur für Tradition, sondern auch für Innovation: Hier lebt eine Frau, die zunächst nicht mit ihrem Eigennamen, sondern mit dem Hinweis auf ihre religiöse Orientierung in die Handlung eingeführt wird: Ἐν Ἰόππῃ δέ τις ἦν μαθήτρια. Die Erzählung von Petrus und dieser Frau ist im Neuen Testament – folgt man der Chronologie der Apostelgeschichte – die erste Totenerweckungserzählung, welche in einer gegenüber dem Lukasevangelium insofern veränderten erzählten Welt spielt, als in ihr nicht nur „Jüngerinnen und Jünger“ im engeren Sinn als Begleiterinnen und Begleiter des „irdischen“ Jesus agieren. Nach Jesu Auferweckung und Himmelfahrt werden im Sprachgebrauch der Apostelgeschichte die Begriffe μαθητής, μαθήτρια, μαθηταί auch für Christusgläubige verwendet.868 Der Erzähler von Apg 9,36–43 führt somit die – neben Petrus – zweite Hauptfigur der Geschichte nach der knappen Verortung des Geschehens in Joppe zunächst in ihrer Eigenschaft als μαθήτρια/„Judenchristin“869 in die erzählte Welt ein, dann nennt er ihren aramäischen Namen Tabitha, dessen griechische Bedeutung, Δορκάς, er darauf auch noch mitteilt.870 Aus kognitions-narratologischer Perspektive betrachtet, verleitet dieser sprechende Name die Leserschaft dazu, 866
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ERICHSEN-WENDT, Tabitha, 71. Vgl. zur jüdischen Bevölkerung von Joppe auch: KEENER, Acts, 289; LEVINE, Tabitha, 45–48. ERICHSEN-WENDT, Tabitha, 72; vgl. auch LEVINE, Tabitha, 48. Vgl. BECKER, Lukas, Anm. 9, 2; Anm. 116, 24; vgl. ferner BÖTTRICH, Sensibilität, 191, der darauf hinweist, dass die μαθητ-Terminologie „von Lukas schon längst aus der exklusiven Lehrer-Schüler-Beziehung gelöst und zu einer allgemeinen Kennzeichnung von Christusgläubigen überhaupt nivelliert worden“ ist. Bei der Verwendung der femininen Form dieser Begrifflichkeit in Apg 9,36 handelt es sich um ein neutestamentliches Hapax legomenon; der Ausdruck μαθήτρια „appears elsewhere in early Christian literature only of Mary Magdalene (Gos. Pet. 12,50) and of Eubula, a follower of Paul (Act. Paul 7/9 [a partial but probable restoration])“ (PERVO, Acts, Anm. 38, 255). BÖTTRICH, Sensibilität, 191; vgl. LEVINE, Tabitha, 48. Da es sich beim Eigennamen der Frau um einen sprechenden Namen handelt („Gazelle“), liegt es nahe, ihm eine symbolische Bedeutung zu geben. Über verschiedene Deutungsansätze informiert STRELAN, Tabitha, bes. 77f. Strelan selbst erkennt in diesem Namen eine metaphorische Umschreibung des Proselytinnen-Status der Erzählfigur. Wie weiter unten noch dargestellt wird, erscheint es plausibler, dass mit diesem Namen eine intertextuelle Beziehung zu Mk 5,41 geknüpft wird.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
sich die neu in die erzählte Welt eingeführte Figur als eine Frau vorzustellen, die agil wie eine Gazelle ist.871 Diese allein auf onomastischer Interpretation beruhende Vermutung wird gleich im nächsten Satz verstärkt, wenn der Erzähler in Apg 9,36b von Tabithas karitativer Tätigkeit872 berichtet, die sie als fortwährend aktiv am frühchristlichen Gemeinschaftsleben partizipierend ausweist. Wenn der Narrator in Apg 9,37 den weiteren Erzählverlauf dann mit ἐγένετο δέ einleitet, indiziert dieser ingressive Aorist, dass ein Handlungsumschwung ansteht. Da dieses Wort (wie auch das ἐγένετο in Apg 9,43 am Ende der Geschichte) gleichzeitig an traditionelles „biblisches“ Erzählen erinnert, kann die nun Fahrt aufnehmende Erzählepisode trotz der veränderten Vorzeichen, unter denen die erzählte Welt des lukanischen Doppelwerkes nach Auferstehung und Himmelfahrt Jesu (Christi) steht, dennoch auf der Folie der tradierten jüdischen Schriften gelesen werden. Das neu einsetzende Geschehen besteht in der Erkrankung und im Versterben der Tabitha, auf welches die traditionelle Totenpflege873 folgt, sodass die Modell-Leserschaft das wertvolle Gemeindeglied als tot konzeptualisiert. Dass der versorgte Leichnam anschließend ins Obergemach gelegt wird (ἔθηκαν [αὐτὴν] ἐν ὑπερῴῳ; Apg 9,37b), entspricht sowohl jüdischen als auch
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Vgl. zu den „zeitgenössischen Konnotationen“ von „Vitalität und Behendigkeit“, welche die Modell-Leserschaft mit dem Namen Tabitha/Dorkas verbindet: ERICHSEN-WENDT, Tabitha, 76. A. a. O., 77, weist Erichsen-Wendt aber auch darauf hin, „dass ‚Dorcas‘ ein verbreiteter Name von Prostituierten war.“ Dass diese mögliche Konnotation im Rezeptionsprozess von Apg 9 aber nicht dominierend bleibt, wird durch die anschließende moralisch einwandfreie Beschreibung der Figur im nächsten Satz angezeigt. Dass die Modell-Leserschaft das auf Tabitha applizierte ἐλεημοσύνη als ein „das Almosengeben anzeigende[s] Wort“ versteht, zeigt BECKER, Lukas, 172. Vgl. zur Totenpflege im Alten Israel: BLOCH-SMITH, Burial, 148: „Archaeological and biblical evidence allow the following reconstruction of eighth-century BCE Judahite burial and mortuary activities. The body was dressed and adorned with jewelry including rings, earrings, necklaces and bangles. Select individuals, including women, were then wrapped in a cloak, as evidenced by Samuel’s apparition and the presence of toggle pins and fibulae in burials. The attired body was then carried to the tomb on a bier […] (2 Sam. 3.31). Assembled mourners rent their clothes, wore sackcloth, lamented and offered sacrifices including tithed commodities (Deut. 26.14 […]).“ – Vgl. zu den Bräuchen im hellenistischrömischen Kontext: ALEXIOU, Lament, 5: „As soon as the moment of dying was over, the body was prepared for the próthesis, or wake. In the early period it was a grand, public occasion, probably taking place out of doors. But after the restrictive legislation of the sixth and fifth centuries it was held indoors, or at least in the courtyard within the household. First the eyes and mouth were closed by the next of kin, and the body was washed, anointed and dressed by the woman of the house, usually in white, but sometimes in the case of an unmarried or newly married person in wedding attire. It was then laid on a bier, with a mattress, pillow and cover, with the feet paced towards the door or street. […] The head, which at this stage was uncovered, was decorated with garlands of laurel and celery.“
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271
hellenistischen Trauerbräuchen.874 Ob die Modell-Leserschaft die konkrete Ortsangabe ἐν ὑπερῴῳ bereits an dieser Stelle – die topgraphische Angabe findet sich wenige Verse später ein weiteres Mal in Apg 9,39 – für eine intertextuelle Bezugnahme auf 1 Kön 17,19 hält: der Prophet Elia legt den toten Sohn der Witwe auch zunächst einmal im Obergemach ab, muss offenbleiben. Für diese Vermutung spricht die Tatsache, dass dieses Obergemach Bestandteil eines Hauses in Joppe ist, einer Ortschaft, die mit Rettungen aus lebensbedrohlichen Situationen verbunden ist. Dagegen spricht die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt der Handlung noch kein „Retter“ in Sicht ist, der die verstorbene Tabitha aus ihrer „Kalamität“ befreien könnte. Bereits im nächsten Vers zeichnet sich allerdings aufgrund eines Wechsels des Ortes, an dem die Handlung spielt, ab, dass ein Verbleiben im Tod möglicherweise doch nicht das der wohltätigen μαθήτρια zugedachte Schicksal ist. Der Blick des Erzählers schwenkt in Apg 9,38 von Joppe nach Lydda, das in der außertextuellen Wirklichkeit 13 km von Joppe entfernt liegt und zu Fuß innerhalb von drei Stunden erreicht werden kann.875 Petrus hält sich dort immer noch auf, wovon μαθηταί im Küstenort gehört haben. Zwei Männer aus Joppe werden zu ihm geschickt. Um die Bedeutung dieses Handlungselementes noch zu verstärken, kombiniert der Erzähler den Wechsel des Schauplatzes zudem mit einem Übergehen vom narrativen in den dramatischen Modus, indem er wörtlich wiedergibt, was diese beiden Männer zu Petrus sagen: μὴ ὀκνήσῃς διελθεῖν ἕως ἡμῶν. Der Leserschaft wird allerdings nicht verraten, zu welchem Zwecke876 der Apostel von den Christusgläubigen aus Joppe so dringend darum gebeten wird, sich von Lydda aus auf den Weg zu ihnen zu machen. Somit führt diese Figurenrede, welche die Distanz zwischen den Lesenden und den handelnden Erzählfiguren verringert, an dieser Stelle nicht zu einem besseren Verständnis der Handlung, sondern zur Verwirrung bzw. zur Zunahme des Gespanntseins darauf, wie sich das Geschehen weiter entwickeln wird. 874
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Vgl. JAHNOW, Leichenlied, 73f., die „drei verschiedene Möglichkeiten“ für die Totenklage aufzählt: „Die Totenklage kann im Trauerhause an der Leiche stattfinden“, belegt in Gen 23,2; die Leichenklage kann sich „auf der Gasse“ abspielen, belegt in Koh 12,5b. „Dazu kommt als dritter Typus die Klage auf dem Wege zum Grabe und am Grabe selbst“, belegt in 2 Sam 3,31ff. – Zu ikonographischen Zeugnissen für die hellenistisch-römische Prothesis vgl.: DIOGO DE SOUZA/KESSER BARCELLOS DIAS, Iconography, passim. – Anders KOLLMANN, Stütze, 198: „In der Waschung der Toten spiegeln sich jüdische Begräbnisriten wider (mSchab 23,5). Regulär hätte sich unmittelbar danach das Begräbnis angeschlossen. Die stattdessen erfolgende Überführung des Leichnams in das Obergeschoss des Hauses setzt für die Rezipienten der Geschichte das unmissverständliche literarische Signal, dass das Ganze ein gutes Ende nehmen wird“. Vgl. LINDEMANN, Einheit, Anm. 94, 204. Möglicherweise inferiert die Modell-Leserschaft die Hypothese, dass Petrus eilig von Lydda nach Joppe geholt wird, um rechtzeitig zur Bestattung der Tabitha anwesend zu sein und hier im Rahmen der Totenklage die Leichenrede zu halten. Üblicherweise wurden Verstorbene in Israel noch am Todestag bestattet, vgl. KEENER, Acts, 292.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Die literaturkundige Modell-Leserschaft, die auch schon das Stichwort ὑπερῷον (Apg 9,37) als rezeptionslenkendes Signal dechiffriert hat, kann in diesem auf den ersten Blick unverständlichen Vorgehen der Männer aus Joppe allerdings einen weiteren Hinweis darauf erkennen, dass die angefangene Geschichte jetzt noch stärker „ins Fahrwasser“ einer Totenerweckungserzählung gerät, da sich eine Bezugnahme auf die Geschichte von Elisa und dem toten Sohn der Schunemiterin in 2 Kön 4 andeutet: Nachdem die Protagonistin dieser Erzählung ihren toten Sohn auf das Bett des Elisa gelegt hat,877 macht sie sich in Begleitung eines Knechtes (2 Kön 4,22–25a) auf den Weg zum Karmel, um den Gottesmann zu holen. Auch der Erzähler von 2 Kön 4 gibt ihre wörtliche Rede an Elisa wieder (2 Kön 4,30a), deren Inhalt ähnlich kryptisch bleibt wie die Worte, welche die beiden Männer an Petrus richten. Die Reaktion des lukanischen Petrus auf die an ihn herangetragene Bitte, nach Joppe zu kommen, wird vom Narrator der Apostelgeschichte dann analog878 zum Verhalten des Elisa geschildert: 2 Kön 4,30b: Und Elisa stand auf (ἀνέστη) und ging hinter ihr her (ἐπορεύθη ὀπίσω αὐτῆς). Apg 9,39a: Petrus aber stand auf (ἀναστάς) und ging mit ihnen (συνῆλθεν αὐτοῖς).
Am avisierten Ort angekommen, verhält sich Petrus ein weiteres Mal wie Elisa, indem er sofort das Obergemach aufsucht (ἀνήγαγον εἰς τὸ ὑπερῷον; Apg 9,39b par. 2 Kön 4,32).879 Im ὑπερῷον in Joppe stellt sich ihm dann ein setting dar, das dem, welches Jesus gemäß der synoptischen „Jairi-Töchterlein“-Erzählungen beim Eintreffen im Elternhaus des toten Mädchens vorfindet (Mk 5,38; Mt 9,23; Lk 8,52), sehr ähnlich ist: er stößt auf Trauernde. Der Erzähler schildert das Verhalten, welches der lukanische Petrus in dieser Situation zeigt, in Analogie zu demjenigen, das Jesus in den synoptischen Evangelien an den Tag legt, wenn er sich im Haus des Jairus befindet. In der markinischen Version dieser Geschichte wird in Mk 5,40 explizit berichtet, dass Jesus alle nicht zu seinen Begleitpersonen gehörenden Trauernden hinauswirft, bevor er sich dem toten Kind zuwendet (αὐτὸς δὲ ἐκβαλὼν πάντας).880 Dieselbe Terminologie findet sich auch in Apg 9,40: ἐκβαλὼν δὲ ἔξω πάντας ὁ Πέτρος. Für die 877
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In 2 Kön 4,21 legt die Schunemiterin ihr totes Kind ἐπὶ τὴν κλίνην. Dieses Bett befindet sich in dem Obergemach, das sie zuvor explizit für Elisa zu einem Schlafplatz hat ausbauen lassen (vgl. 2 Kön 4,10f.). Vgl. die enge Parallele, die zwischen dem Verhalten des matthäischen Vorstehers und dem der Schunemiterin besteht (Mt 9,19 par. 2 Kön 4,30). Von einem Hinauftragen des toten Kindes (ἀνήνεγκεν) ist auch in 1 Kön 17,19 die Rede. Der Erzähler des Matthäusevangeliums gibt an der entsprechenden Stelle zunächst die wörtliche Rede Jesu wieder, die den „Rauswurf“ der Trauernden initiiert: ἀναχωρεῖτε (Mt 9,24), und schildert dann den „Rauswurf“ aus der Perspektive der „Rausgeworfenen“: ὅτε δὲ ἐξεβλήθη ὁ ὄχλος (Mt 9,25). Die Handlungsabläufe in der lukanischen Version dieser Geschichte stellen sich so dar, dass Jesus niemanden hinauswirft, sondern es gar nicht erst zulässt, dass andere als die, die er auswählt, mit zum toten Kind kommen (Lk 8,51).
15 Apg 9,36–43: Petrus und Tabitha
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Modell-Leserschaft ist nun klar: die Erzählung von Petrus und Tabitha ist eine Totenerweckungserzählung! So lassen sich denn auch die folgenden Erzählerkommentare in Apg 9,40f. als ein Konglomerat von Anspielungen881 auf Prätexte eben dieser Erzählgattung identifizieren:882 – Wenn sich Petrus hinkniet, um zu beten (Apg 9,40), erinnert dies an die Gebete Elias und Elisas (1 Kön 17,20f. und 2 Kön 4,33). – Seine Aufforderung: Ταβιθά, ἀνάστηθι (Apg 9,40), weist hohe phonetische Übereinstimmungen auf mit der an die Tochter des Synagogenvorstehers gerichteten wörtlichen Rede des markinischen Jesus in Mk 5,41: ταλιθα κουμ, und der Aufforderung des lukanischen Jesus an den Jüngling zu Nain in Lk 7,14: ἐγέρθητι. – Tabithas Reaktion auf den perlokutionären Sprechakt des Petrus: ἡ δὲ ἤνοιξεν τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτῆς (Apg 9,40), entspricht derjenigen des Jungen aus Schunem, der auch die Augen aufschlägt, nachdem der Gottesmann sein Synanachrosis-Ritual vollzogen hat: ἤνοιξεν […]/ διήνοιξε τὸ παιδάριον τοὺς ὀφθαλμοὺς αὐτοῦ (2 Kön 4,35; kaige- und antiochenische Rezension).883 – Wenn sich Tabitha anschließend aufrichtet: ἀνεκάθισεν (Apg 9,40), entspricht diese Bewegung derjenigen, die auch der wieder erweckte junge Mann aus Nain ausführt: καὶ ἀνεκάθισεν ὁ νεκρός (Lk 7,15). Der intertextuelle Vergleich zwischen der Tabitha-Episode und anderen „biblischen“ Totenerweckungserzählungen fördert aber auch das spezielle Profil des Totenerweckers Petrus zu Tage: Der Apostel handelt ebenso wie Elia und Elisa nicht völlig autonom, sondern spricht die tote Tabitha erst dann an, wenn er gebetet hat. Ob er zu Gott oder zu Jesus Christus betet, bleibt offen. Beim Beten wahrt er Abstand zur Toten, richtet sich aber so aus, dass er dem Leichnam zugewandt kniet. Dass nicht er selbst, sondern derjenige, den er im Gebet angerufen hat, der eigentlich an der Toten Wirkende ist, zeigt sich in dieser Geschichte daran, dass Petrus die Tote erst dann berührt, wenn sie bereits wieder lebendig ist. Dieser Körperkontakt: er gibt Tabitha, die sich schon aufgesetzt hat, die Hand, um sie (vollständig) aufzurichten – ist nicht das auslösende, sondern das bestätigende Moment der Wiederbelebung. Eigentlich „wirksam“ ist in dieser Totenerweckung die Perlokution: Ταβιθά, ἀνάστηθι (Apg 9,40), ausgesprochen von einem im Gebetsgestus verharrenden Apostel, der von Jesus den Auftrag erhalten hat: στήρισον τοὺς ἀδελφούς σου (Lk 22,32). 881 882
883
Vgl. LEVINE, Tabitha, 64: „a pastiche of motifs readily available“. Vgl. auch STIPP, Gestalten, 71–73, der ebenfalls auf Parallelen zwischen der Episode aus der Apostelgeschichte und ihren Prätexten hinweist. Eine synoptische Gegenüberstellung der genannten Texte bietet auch KEENER, Acts, 290f. Vgl. ferner LEVINE, Tabitha, 62–64. Daran, dass sie ihre Augen öffnet, ist auch zu erkennen, dass Kallirhoe aus ihrem todesähnlichen Zustand erwacht: διανοίγουσα δὲ τοὺς ὀφθαλμούς („Kallirhoe“ 1,8.1).
274
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Am Ende der Geschichte weist der Erzähler darauf hin, dass viele aus Joppe nach dieser Totenerweckung anfangen, an „den Herrn“ zu glauben: γνωστὸν δὲ ἐγένετο καθ’ ὅλης τῆς Ἰόππης καὶ ἐπίστευσαν πολλοὶ ἐπὶ τὸν κύριον (Apg 9,42). Wie bereits erwähnt, ist im lukanischen Doppelwerk nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, ob mit dem Wort κύριος auf Gott oder auf Jesus (Christus) referiert wird. Angesichts der Tatsache, dass in der außertextuellen Wirklichkeit die Einwohnerschaft Joppes (hellenistisch-)jüdisch geprägt war, liegt es näher zu vermuten, dass an dieser Stelle mit dem κύριος in der erzählten Welt, deren Wahrnehmung ja immer auch durch die „reale Welt“, an der sie sich ausrichtet, beeinflusst ist, Jesus Christus und nicht Gott gemeint ist. Somit werden durch diese Totenerweckung Christusgläubige, nicht aber Proselyten „rekrutiert“. Ist diese Vermutung richtig, dann kann die nicht ganz eindeutige Schilderung des Gebetsaktes, bei der der Erzähler nicht mitteilt, an wen sich Petrus eigentlich richtet, als subtiler Hinweis darauf verstanden werden, dass in der erzählten Welt der Apostelgeschichte auch zu Jesus Christus gebetet werden kann. Aus dieser Hypothese ergibt sich eine weitere: der perlokutionäre Sprechakt, den Petrus ausführt, ist nicht die performative Umsetzung des Handelns Gottes an der toten Tabitha, sondern wird stellvertretend für den Totenerwecker Jesus (Christus) vollzogen, der in der erzählten Welt des Lukasevangeliums den Jüngling zu Nain und die Tochter des Jairus ebenfalls durch Sprechakte wiederbelebt hat. Die unterschiedlichen intertextuellen Bezüge, die der Erzähler der Apostelgeschichte in Apg 9,36–43 sowohl zu den Geschichten in den Königebüchern, die von Elia und Elisa handeln, als auch zu den Totenerweckungserzählungen, deren Protagonist Jesus ist, herstellt, zeigen der Leserschaft, in welche Traditionslinie der Apostel Petrus einzuschreiben ist: in die jüdische. Mit Totenerweckungen, die Polyidos oder Asklepios vollzogen haben, kann er nicht in Verbindung gebracht werden. Auf Erzählungen, in denen diese als Totenerwecker fungieren, gibt es keinerlei Bezugnahmen. Bemerkenswert ist der lapidare Abschluss, zu dem die Erzählung von Petrus und Tabitha gebracht wird. Als „passendes“ Erzählende hätte eigentlich der Vers Apg 9,42 ausgereicht, in dem darauf hingewiesen wird, welches positive Echo die Totenerweckung in Joppe auslöst. Das Achterngewicht dieses „eigentlichen“ Schlussverses liegt auf der präpositionalen Wendung ἐπὶ τὸν κύριον. Nicht Petrus – auch nicht die wiederbelebte Tabitha –, sondern der Herr steht am Ende im Fokus und bleibt bei der Leserschaft im Gedächtnis. Wenn der Erzähler dann im tatsächlichen Schlusssatz Apg 9,43 davon berichtet, dass Petrus nach der Episode mit Tabitha noch einige Tage beim Gerber Simon in Joppe bleibt, so hat diese Aussage im Hinblick auf die Makrostruktur der Apostelgeschichte auch die Scharnierfunktion, die nächste Episode einzuleiten. In dieser geht es darum, dass Petrus von Joppe nach Caesarea geholt wird. Gleichzeitig unterstreicht dieses Erzählverfahren, das auf eine Totenerweckung sogleich das nächste Ereignis folgen lässt, dass diese Wiederbelebung nicht als der Höhepunkt im Wirken des Apostels angesehen wird. Der eigentlich Handelnde war ja nicht Petrus, sondern
15 Apg 9,36–43: Petrus und Tabitha
275
„der Herr“, dem dann ja auch die religiöse Verehrung durch die Einwohnerschaft Joppes zukommt. Totenerweckungen sind in der erzählten Welt des lukanischen Doppelwerkes auch nach der Himmelfahrt Jesu Christi möglich – aber nicht deshalb, weil jetzt andere den „irdischen“ Platz Jesu einnehmen, sondern aus dem Grund, weil der Erhöhte fortan durch seine Apostel wirkt. Gemäß den Gepflogenheiten der Gattung „Totenerweckungserzählung“ liegt somit in diesem „Gattungsexemplar“ der Fokus des Erzählers nicht nur nicht auf der Auferweckten,884 sondern darüber hinaus auch nicht darauf, den Ruhm des Apostels zu mehren, indem er als Totenerwecker präsentiert wird. Die eigentliche Stoßrichtung dieser Episode ist eine christologische.
884
Allerdings ist zuzugestehen, dass die Figur Tabitha zum einen aufgrund der Tatsache, dass sie mit ihrem Eigennamen vorgestellt wird (vgl. LEVINE, Tabitha, 52), zum anderen aufgrund der ausführlichen Schilderung ihrer Wohltätigkeit in „ihrer“ Totenerweckungserzählung vom lukanischen Erzähler wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhält als der Jüngling zu Nain oder die Tochter des Synagogenvorstehers, die als Charaktere in den ihnen gewidmeten Erzählungen auffällig blass bleiben und nur als Demonstrationsobjekt für die Fähigkeiten des lukanischen Jesus fungieren.
16
Apg 20,7–12: Paulus und Eutychos
Wenn die (Modell-)Leserschaft im Durchgang durch das lukanische Doppelwerk, nachdem sie bereits drei Totenerweckungserzählungen rezipiert hat, bei Apg 20,9 ankommt und erfährt, dass ein junger Mann namens Eutychos während einer Predigt des Paulus in Troas aus einem im dritten Stock liegenden Obergemach fällt und anschließend „tot aufgehoben“ (ἤρθη νεκρός) wird, hegt sie aufgrund ihrer bisherigen Leseerfahrungen gewisse Erwartungen, wie diese Geschichte ausgehen wird: das ὑπερῷον (Apg 20,8), in dem die Handlung spielt, ist ein „klassischer“ Schauplatz für Totenerweckungen. Zudem steht die Erweckung einer männlichen Erzählfigur in der Apostelgeschichte noch aus. Schließlich wird im lukanischen Doppelwerk mehrfach nach dem Prinzip verfahren, dass bestimmte Erzählmotive sowohl durch männliche als auch durch weibliche Erzählfiguren aktualisiert werden.885 So wird zum Beispiel im Lukasevangelium die Totenerweckung des Sohnes der Witwe mit der Wiederbelebung der Tochter des Synagogenvorstehers „ausbalanciert“. Auch hinsichtlich der Präsentation der beiden Protagonisten der Apostelgeschichte: Petrus und Paulus, gilt das Prinzip der Gleichbehandlung, wie es sich beispielsweise in Bezug auf Befreiungswunder in Apg 5,17–25 (Petrus) und Apg 16,25–34 (Paulus) zeigt. Sollte Paulus am zu Tode gestürzten jungen Mann also keine Totenerweckung vornehmen, wäre das eine Überraschung. Da sich ein historiographisches Werk wie die Apostelgeschichte aber als Geschichtsschreibung „durchaus auch dem delectare verpflichtet weiß“886 und da die Leserschaft des lukanischen Doppelwerkes bereits drei den Gattungserwartungen entsprechende Totenerweckungserzählungen rezipiert hat, wäre unter literaturästhetischem Gesichtspunkt ein Abweichen vom erwartbaren Textsortenschema eine willkommene Abwechslung. Die Erzählung der Apostelgeschichte, zu deren Figurenarsenal ein (vermeintlich) soeben Verstorbener zählt, zeigt in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut: 7 Als wir aber am ersten [Tag] der Sabbate versammelt waren (συνηγμένων ἡμῶν), um das Brot zu brechen, redete Paulus, der am nächsten Tag abzureisen gedachte (μέλλων ἐξιέναι τῇ ἐπαύριον), zu ihnen und er zog seine Rede bis Mitternacht in die Länge. 8 Es waren aber in ausreichender Zahl Lampen im Obergemach (ἐν τῷ ὑπερῴῳ), wo wir versammelt waren (ἦμεν συνηγμένοι). 9 Ein junger Mann aber mit Namen Eutychos, der im Fenster (ἐπὶ τῆς θυρίδος) saß, versank in einen tiefen Schlaf, während Paulus immer weiter redete, vom Schlaf übermannt fiel er vom dritten Stock (ἀπὸ τοῦ τριστέγου) nach unten (κάτω) und wurde tot aufgehoben (ἤρθη νεκρός). 10 Nachdem aber Paulus hinabgestiegen war (καταβάς), fiel er auf ihn (ἐπέπεσεν αὐτῷ) und umfasste ihn (συμπεριλαβών) und 885 886
Vgl. VON BENDEMANN, Apostelgeschichte, 499 und 503. BACKHAUS, Transformation, 220.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen sagte: „Lärmt nicht (μὴ θορυβεῖσθε), denn seine Lebenskraft (ψυχή) ist in ihm.“ 11 Dann aber stieg er hinauf (ἀναβάς) und brach das Brot und aß, redete noch ausgiebig bis zum Tagesanbruch (ἄχρι αὐγῆς) [und] ging so weg. 12 Sie brachten aber den Jungen lebend (ζῶντα) und wurden nicht wenig getröstet.
Die kurze Geschichte Apg 20,7–12 kann aufgrund ihrer räumlichen und zeitlichen Gestaltung als in sich kohärente Einheit aus dem Gesamt der Apostelgeschichte herausgelöst werden. Dennoch sollten bei ihrer Interpretation Bezüge zum Makrotext als bedeutungskonstituierende Elemente nicht übersehen werden. In räumlicher Hinsicht spielt das erzählte Geschehen überwiegend in einem Obergemach (ὑπερῷον) in Troas, in dem sich Paulus und seine Entourage am Ende seines siebentägigen Aufenthaltes, der eine Zwischenstation auf seinem Weg nach Jerusalem darstellt, mit Christusgläubigen versammeln, um das Brot zu brechen. In der Apostelgeschichte ist der Handlungsort ὑπερῷον doppelt konnotiert: zum einen als Versammlungsraum,887 zum anderen als traditioneller literarischer Schauplatz, an dem Totenerweckungen stattfinden. Zu bedenken ist allerdings, dass in der Episode Apg 20,7–12 das ὑπερῷον nicht Schauplatz einer Wiederbelebung, sondern der Raum ist, aus dessen Fenster der junge Mann herausfällt, sodass Paulus zu dem Hinuntergestürzten hinabsteigen muss. Folglich ist eine direkte Verbindung des literarischen Handlungsortes „Obergemach“ zum Thema „Totenerweckung“ nicht gegeben. Es ist bemerkenswert, dass die erzählte Zeit dieser Episode auf ein Zeitfenster von wenigen Stunden begrenzt ist, und zwar vom letzten Abend des Paulus in Troas (μέλλων ἐξιέναι τῇ ἐπαύριον; Apg 20,7) bis zum frühen Morgen seiner Abreise (ἄχρι αὐγῆς; Apg 20,11). Die kompakte kurze Geschichte wird in Apg 20,7–8 zunächst aus der Perspektive einer Wir-Stimme888 erzählt (συνηγμένων ἡμῶν, ἦμεν συνηγμένοι), was dem dargestellten Geschehen eine besondere Unmittelbarkeit verleiht, weil der Eindruck einer Augenzeugenschaft entsteht. Aber auch wenn von Apg 20,9 an Verbformen und Personalpronomina der 1. Person Plural fehlen und in der 3. 887
888
Der Ausdruck ὑπερῷον ist neutestamentlich nur in Apg 1,13; 9,37.39 und 20,8 belegt. Das vermutlich synonyme Wort ἀνάγαιον wird in Lk 22,12 verwendet, um den Ort zu bezeichnen, an dem sich Jesus zu seinem letzte Passahmahl mit seinen Jüngern in Jerusalem versammelt. Es ist nicht auszuschließen, dass der mit ὑπερῷον bezeichnete Schauplatz, an dem sich die Jünger nach Jesu Himmelfahrt in Jerusalem versammeln, als identisch mit dem Ort des letzten gemeinsamen Mahles in Lk 22,12 imaginiert werden soll. In architektonischer Hinsicht ist bei den in Lk 22,12 und Apg 1,13 erwähnten Versammlungsorten an das Obergemach palästinischer Häuser zu denken, das üblicher Weise im ersten Obergeschoss errichtet wird (vgl. BOSENIUS, Raum, 153f.). Für die Beantwortung der Frage danach, ob in Apg 20,7–12 eine Totenerweckungserzählung vorliegt, ist es unerheblich, sich mit der produktionsorientierten Problemstellung zu befassen, ob an den Stellen, die in der 1. Person Plural erzählt sind, eine sog. Wir-Quelle verarbeitet wird oder ob der Verfasser selbst formuliert; entscheidend ist aus einer an der Rezeption orientierten Perspektive die Wirkung der Unmittelbarkeit, die durch diese Art der Darstellung erreicht wird, vgl. VON BENDEMANN, Art. Lukas, 654.
16 Apg 20,7–12: Paulus und Eutychos
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Person weitererzählt wird, erhält die Leserschaft dennoch den Eindruck, nahe beim Geschehen zu sein, weil die Erzählstimme sehr detailgenau berichtet: So ist zu erfahren, dass der Raum, in dem sich die Handlung abspielt, gut mit Fackeln beleuchtet ist,889 dass Eutychos im Fenster sitzt und dass sein Sturz vom dritten Stock aus erfolgt (ἐπὶ τῆς θυρίδος, ἀπὸ τοῦ τριστέγου; Apg 20,9). Der Grund dafür, warum Eutychos aus dem Fenster fällt, wird ebenfalls ausführlich und nicht ohne eine gewisse humoristische Note dargelegt: Paulus redet bei der Versammlung im Obergemach dermaßen lange, dass der junge Mann einschläft. Auch der sprechende Name des Verunglückten, der in einem bemerkenswerten Kontrast zum Fenstersturz steht,890 sorgt dafür, dass das Interesse der Leserschaft am weiteren Ausgang des Geschehens hoch bleibt. Diese Neugier, wie es denn mit dem Glückspilz, der Pech gehabt hat, weitergehen möge, wird vom Erzähler sogleich befriedigt. Er schildert die Reaktion des Paulus auf diesen Vorfall in Apg 20,10, indem er im dramatischen Modus mehrere Verbformen, die sich auf den Apostel beziehen, aneinanderreiht: καταβάς, ἐπέπεσεν, συμπεριλαβών, εἶπεν. Im Halbvers Apg 20,10a nähert sich aufgrund dieser Häufung von Prädikaten und Partizipialformen die erzählte Zeit der Erzählzeit an; die Unmittelbarkeit der Darstellung bleibt in Apg 20,10b durch eine Figurenrede des Paulus gewahrt. Auch in Apg 20,11 liegt der Fokus der Erzählstimme auf dem Apostel, dessen Aktionen auch in diesem Vers durch eine Abfolge von Verbformen im Modus des tellings der Leserschaft plastisch vor Augen geführt werden: ἀναβάς, κλάσας, γευσάμενος, ὁμιλήσας, ἐξῆλθεν. Auffälliger Weise wird das Verhalten der übrigen Erzählfiguren sehr distanziert im narrativen Modus präsentiert: Vermittels einer passivischen Formulierung teilt der Erzähler in Apg 20,9 mit, dass Eutychos nach seinem Fenstersturz tot aufgehoben wird (ἤρθη νεκρός). Durch das unpersönliche Passiv bleibt offen, welche und wie viele Personen an dieser Aktion beteiligt sind. Über diese Gruppe von Menschen ist darüber hinaus zu erfahren, dass sie angesichts des Hinabgestürzten zunächst mit einer Totenklage anhebt, ergeht doch von Paulus die Aufforderung an sie: μὴ θορυβεῖσθε.891 Am Ende der Erzählung werden die namenlos bleibenden Besucher der Versammlung als „nicht wenig getröstet“ (παρεκλήθησαν οὐ μετρίως; Apg 20,12) bezeichnet. Ob dieser Trost darin besteht, dass sie den Jungen am Ende lebendig bringen können (ἤγαγον δὲ τὸν παῖδα ζῶντα), wobei inferiert werden kann, dass dabei wohl an ein Zurückbringen in 889
890 891
Einen Überblick über unterschiedliche Hypothesen aus der Forschung, welche Funktion der Bemerkung über die gute Beleuchtung des Raumes zukommen könnte, bietet MACDONALD, Eutychus, 5f. – Da keiner der Vorschläge wirklich überzeugt, sei eine narratologische Erklärung vorgeschlagen: Indem die Wir-Stimme „insider-Wissen“ preisgibt, erhöht sie die Anschaulichkeit und Glaubwürdigkeit des Erzählten. Εὔτυχος lässt sich ins Deutsche gut mit „Glückspilz“ übersetzen. Hier liegt eine sehr ähnliche Formulierung vor wie in Mk 5,39, wenn der markinische Jesus die um das tote Töchterlein trauernden Leute im Hause des Synagogenvorstehers fragt: τί θορυβεῖσθε καὶ κλαίετε;
280
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
den Versammlungsraum zu denken ist, oder ob das Brotbrechen und die ausführlichen mündlichen Darlegungen des Paulus, der im Anschluss dann ja abreist, diesen Trost bewirken, wird nicht explizit gesagt. Wie der junge Mann auf seinen Sturz, auf die Ganzkörper-Umarmung, die Paulus an ihm vornimmt, und sein Zurückgebracht-Werden reagiert, wird ebenfalls nicht geschildert. Er ist Objekt, nicht Subjekt des Geschehens.892 Somit nimmt die Leserschaft aufgrund der narratologischen Gestaltung der kleinen Erzählung Paulus als zentrale Figur des Geschehens wahr. Seine Aktionen stehen im Mittelpunkt, Eutychos und die anderen Teilnehmer der Versammlung sind Figuren, an denen er handelt. Bemerkenswert ist, dass in dieser kurzen Erzähleinheit gleich zwei Handlungsstränge gleichberechtigt nebeneinander herlaufen: Paulus verabschiedet sich in einer Versammlung mit Brotbrechen und Predigen nach einem einwöchigen Aufenthalt von in Troas ansässigen Christusgläubigen – Paulus kümmert sich um den von seiner langen Predigt ermüdeten, eingeschlafenen und schließlich aus dem Fenster gestürzten Eutychos, der von anderen tot aufgehoben wird. Zu klären ist nun, ob die Erwartung der Leserschaft, dass Paulus an dem tief Hinabgestürzten und tot Aufgehobenen im Folgenden eine Totenerweckung vornehmen könnte, tatsächlich erfüllt wird. Dass das Stichwort ὑπερῷον in Apg 20,8 nicht unbedingt das stärkste Indiz für eine Zuordnung von Apg 20,7–12 zur Gattung „Totenerweckungserzählung“ darstellt, wurde bereits gezeigt. Wenn die Wahrnehmung des aus dem Fenster gestürzten Eutychos als „tot“ nicht aus der Perspektive des Erzählers erfolgt, sondern den Figuren zugeschrieben wird, die ihn als einen Toten aufheben – und wenn anschließend Paulus diejenigen, die um ihn trauern, auffordert, damit aufzuhören –, erinnert diese Erzählsequenz in Apg 20,9–10 an eine Passage aus der im Hinblick auf ihre Gattungs-Zuordnung schwierigen markinischen „Jairi-Töchterlein“-Episode.893 Auch in dieser Erzählung fordert Jesus diejenigen, die um die vermeintlich tote Tochter des Synagogenvorstehers trauern, dazu auf, das Wehklagen einzustellen. Die Begründung des lukanischen Paulus dafür, warum mit dem Trauern aufzuhören sei, fällt sogar noch plausibler aus als die des markinischen Jesus: Während Jesus in etwas kryptischer Weise davon spricht, dass das Mädchen nicht tot sei, sondern schlafe (Mk 5,39), stellt Paulus eindeutig fest: ἡ γὰρ ψυχὴ αὐτοῦ ἐν αὐτῷ ἐστιν (Apg 20,10). Die „Untersuchung“, mit der er das Vorhandensein von Lebenskraft im aus dem Fenster Gestürzten überprüft, erinnert zwar stark an das Synanachrosis-Ritual, das Elisa am toten Sohn der Schunemiterin vollzieht. Mit seinem „Fallen“ auf Eutychos und seinem „Umarmen“ (ἐπέπεσεν αὐτῷ καὶ συμπεριλαβὼν; Apg 20,10) erreicht er einen ebenso intensiven Körperkontakt wie Elisa mit dem Auflegen von Mund, Augen und Händen auf die entsprechenden Körperteile des toten Kindes (2 Kön 4,34). Auf den ersten Blick scheint auch 892 893
Vgl. MARGUERAT, Apostelgeschichte, 686. Vgl. MACDONALD, Eutychus, 8f.
16 Apg 20,7–12: Paulus und Eutychos
281
das zentrale Syntagma seiner „Diagnose“: ἡ […] ψυχὴ αὐτοῦ, eine Wiederaufnahme der wörtlichen Rede des Elia vor der von ihm vollzogenen Totenerweckung am Sohn der Witwe zu sein. In Elias Figurenrede findet sich in 1 Kön 17,21 die Formulierung: ἡ ψυχὴ τοῦ παιδαρίου τούτου. Aber bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass gerade angesichts der Ähnlichkeiten zwischen den Wiederbelebungserzählungen aus den Königebüchern und der Eutychos-Episode aus der Apostelgeschichte die Unterschiede in besonderer Weise hervortreten: Wenn Paulus den aus dem Fenster gefallenen Eutychos sieht, betet er – anders als Elia – nicht und er vollzieht auch – im Unterschied zu Elisa – keinen performativen ritualsymbolischen Akt, sondern er legt sich aus eigenem Antrieb ohne Rückversicherung bei Gott auf den Verunglückten, um herauszufinden, wie es um ihn bestellt ist. Sucht man nach einer literarischen Vorlage für dieses Verhalten, so bieten sich weniger die Erzählungen aus 1 Kön 17 und 2 Kön 4 an, sondern eher die erhalten gebliebenen Quellen, die vom Arzt Asklepiades berichten, der zwischen „wirklich“ Verstorbenen und nur wie tot Daliegenden zu unterscheiden vermag.894 Da Paulus in der Apostelgeschichte mehrfach als Heiler dargestellt wird,895 ist seine Präsentation in Apg 20,10 als jemand, der feststellen kann, ob in einem reglos Daliegenden noch Leben ist, mit dem Bild, das sich aus dem Makrotext von seiner Figur ergibt, vermittelbar. Wenn Paulus über die ψυχή des Eutychos spricht, beinhaltet seine Figurenrede – anders als das vergleichbare Gebet des Elia – gerade keine Bitte um eine reversio animae, sondern die Erkenntnis, dass die ψυχή den Eutychos ja gar nicht verlassen habe! Es lässt sich somit feststellen, dass die Geschichte Apg 20,7–12 mit Elementen von Totenerweckungserzählungen spielt, die Leserschaft dann aber damit überrascht, dass Paulus an Eutychos gar keine Wiederbelebung vornimmt. Da die Eutychos-Episode nicht nur Anspielungen auf „alttestamentliche“ und frühchristliche Totenerweckungserzählungen, sondern darüber hinaus auch auf „pagane“ Erzählungen von „Unterweltsreisen“ aufweist, wird dieses Spiel mit der Gattungserwartung sogar noch weiter getrieben. Die in der Geschichte verwendeten Verbformen καταβάς und ἤγαγον (Apg 20,10.12), die sich auf die Überwindung des Höhenunterschiedes zwischen dem Obergemach und der Stelle, auf die Eutychos gefallen ist, beziehen, lassen sich als terminologische Referenzen auf Passagen aus Euripides’ „Alkestis“ identifizieren, in denen darüber spekuliert wird, ob es möglich sein könnte, die verstorbene Protagonistin aus dem Hades zurückzuholen. Der Wunsch, wie Orpheus in die Unterwelt hinabgehen und die tote Alkestis von dort wieder lebendig zurückbringen zu können, wird in Eur. Alk. 360 von Admetos mit dem Wort κατέρχεσθαι versprachlicht, das ein Synonym zu καταβαίνειν darstellt: κατῆλθον ἄν (ich würde hinabgehen). Für das Hinaufgeleiten der aus der Unterwelt zurückgeholten Alkestis verwendet Herakles in Eur. Alk. 853 das Syntagma ἄξειν 894
895
Vgl. die Ausführungen zu Celsus, De medicina 2,6.15; Plin. nat. 7,37.124 und 26,8,14–15 sowie Apuleius, Florida 19 im Abschnitt 10.3 in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. Apg 14,8–10; 19,11f.; 28,7–9.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen ἄνω; eine ähnliche Formulierung findet sich in Palaiphatos’ Περὶ ἀπίστων 40, wenn es darum geht, dass Herakles die Frau des Admetos aus dem Hades hinaufgeführt hat: ἀναγαγὼν ἐκ τοῦ Ἅιδου. Somit kann auch die Verbform ἤγαγον aus Apg 20,12, mit der auf das Hinaufbegleiten des Eutychos Bezug genommen wird, als subtile Anspielung auf die Katabasis eines „Totenerweckers“ mit anschließender Hinaufführung einer „Seele“ verstanden werden.
Der Charme der in anschaulicher Lebhaftigkeit präsentierten lukanischen Erzählung besteht nun eben gerade darin, unter Verwendung von Wiederbelebungsterminologie gerade keine Totenerweckung zu präsentieren. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gemeindeversammlung bleiben am Ende der Geschichte nicht wenig getröstet in Troas zurück (Apg 20,12), obwohl Paulus schon abgereist ist und obwohl sie davon ausgehen müssen, dass sie ihn bei diesem Besuch wohl das letzte Mal gesehen haben. Dieser Trost beruht nicht nur auf dem guten Ausgang des Fenstersturzes, sondern auch darauf, dass sich Paulus viel Zeit für das Brotbrechen und das Predigen genommen hat. Die beiden Handlungsstränge der kurzen Erzählung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, da sie sich wechselseitig ergänzen. Die Abreise des Paulus, verknüpft mit einem letzten Mahl und ausgiebiger Unterweisung, wird ausbalanciert durch ein augenzwinkernd präsentiertes malheur eines Glückspilzes.896 Durch seine vielen Anspielungen auf Totenerweckungserzählungen deutet der Erzähler der Apostelgeschichte an, dass er Paulus zwar auch zutraut, ähnlich wie Petrus an einer Totenerweckung beteiligt zu sein. Erinnert werden soll er von der christusgläubigen Gemeinschaft in Troas – und damit auch von der Leserschaft der Apostelgeschichte – aber nicht als Totenerwecker, sondern als Moderator der frühchristlichen Ritualhandlung des Brotbrechens und als Prediger. Für die Modell-Leserschaft der Apostelgeschichte, die idealiter alle möglichen intertextuellen Bezüge zwischen dieser kleinen Erzählung und der antiken Literatur aktualisiert – darunter auch motivische Übereinstimmungen mit dem 10. Buch der „Odyssee“ – gewinnt der lukanische Paulus im Vergleich mit dem homerischen Helden Odysseus897 noch einmal besonders an Profil: Wenn sich Odysseus mit seiner Mannschaft nach seinem Aufenthalt bei Kirke auf den Weg in den Hades macht, verschläft der junge Elpenor, ziemlich betrunken, den allgemeinen Aufbruch. Vom Lärm der Abreisenden aufgeweckt, versucht er, sich der Gruppe noch rechtzeitig anzuschließen, fällt bei seinem überstürzten Aufbruch aber vom Dach, bricht sich den Hals und: ψυχὴ δ᾽ Ἄϊδόσδε κατῆλθεν (seine „Seele“ ging in den Hades hinab; Hom. Od. 10,560). Dass die Ereignisse rund um Elpenor und Eutychos vergleichbar sind, ist nicht von 896
897
Vgl. MARGUERAT, Apostelgeschichte, 689: „Unser Text […] wird dominiert von Ausdrücken, die das Wort (fünfmal) oder das Brotbrechen (dreimal) bezeichnen. Sturz, Tod und Rückkehr des Eutychus zum Leben sind nur ein Zwischenfall im Rahmen einer ‚gemeindliche[n] Zusammenkunft mit gottesdienstlichem Charakter‘.“ Auf die Vergleichbarkeit von Apg 20,7–12 und dem Schicksal des Elpenor, das in den Büchern 10–12 der „Odyssee“ beschrieben wird, verweist MACDONALD, Eutychus, passim.
16 Apg 20,7–12: Paulus und Eutychos
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der Hand zu weisen: Beide schlafen ein – der eine nach übermäßigem Weingenuss, der andere beim Hören einer allzu langen Predigt –, beide stürzen aus großer Höhe auf den Boden – Elpenor vom Dach (καταντικρὺ τέγεος πέσεν; Hom. Od. 10,559), Eutychos aus dem Obergemach im 3. Stock. Allerdings ist das Pech des homerischen Unglücksraben größer als das des lukanischen: seine ψυχή steigt in den Hades hinab, während die des Eutychos in ihm bleibt. Bemerkenswert ist dann aber das Verhalten des Odysseus im Vergleich mit dem des Paulus: Ersterer lässt den Elpenor unbestattet zurück, tritt seine Reise an und muss, im Hades angekommen, von dessen ψυχή erst explizit um eine Bestattung gebeten werden (vgl. Hom. Od. 11,51–83). Paulus hingegen unterbricht seine sich über Stunden hinziehende Predigt nach dem Fenstersturz des Eutychos wenigstens so lange, bis er weiß, dass dem jungen Mann nichts Schlimmes passiert ist – um dann allerdings ausgiebig bis zum Morgengrauen (ἐφʼ ἱκανόν τε […] ἄχρι αὐγῆς; Apg 20,11) weiterzureden. Dass der junge Mann das Obergemach erst dann wieder aufsucht, wenn Paulus abgereist – und keine weitere Predigt mehr zu befürchten – ist, könnte ein zusätzlicher humoristischer Aspekt dieses narrativen „Kabinettstückchens“ der Apostelgeschichte sein.
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Joh 11,1–46: Jesus und Lazarus
Auch das Johannesevangelium weist eine in sich kohärente Erzählung898 auf, die davon handelt, dass ein Verstorbener durch das Eingreifen eines Totenerweckers wieder lebendig wird.899 In Joh 11,1–46 wird erzählt, wie der johanneische Jesus seinen bereits bestatteten Freund Lazarus vier Tage nach dessen Tod wiederbelebt. Da in der neutestamentlichen Wissenschaft hinsichtlich der sog. Einleitungsfragen des Johannesevangeliums kein Konsens besteht, muss vor einer Untersuchung dieses Textes zunächst einmal dargelegt werden, auf Basis welcher Hypothesen die Enzyklopädie seiner Modell-Leserschaft konstruiert wird. Es ist offen, wo und wann das Vierte Evangelium entstanden ist. Mit Blick auf den Abfassungsort wird in der Forschung für Ephesos, Syrien oder Ägypten votiert,900 hinsichtlich der Entstehungszeit geht die Tendenz hin zur Datierung am Ende des 1. Jh.s n. Chr.901 In Bezug auf die relative Verortung innerhalb der frühchristlichen Literaturgeschichte hat sich „verstärkt die Annahme durch[gesetzt], dass das Johannesevangelium mindestens zwei (MkEv und LkEv) der drei synoptischen Evangelien gekannt hat“902. Somit wird im Folgenden angenommen, dass seine Modell-Leserschaft die im Mittelmeerraum bis zum Ende des 1. Jh.s n. Chr. bekannten Totenerweckungserzählungen aus dem griechischen und römischen Sprachraum – und zwar sowohl aus „paganen“ wie auch aus jüdischen und frühchristlichen Kreisen – aktualisiert, wenn sie bei der Lektüre des Vierten Evangeliums auf die folgende Totenerweckungserzählung stößt: 1 Es war aber einer krank, Lazarus von Bethanien, aus dem Dorf der Maria und ihrer Schwester Martha. 2 Es war aber Maria, die den Herrn mit Duftöl gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren abgetrocknet hatte, deren Bruder Lazarus krank war. 3 Es
898
899
900
901 902
Die Bestimmung von Anfang und Ende der Lazarus-Geschichte variiert in der Forschung, vgl. z. B. LEE, Narratives, 188–226, die Joh 11,1–12,11 für eine literarische Einheit hält. Vgl. auch LABAHN, Lebensspender, 383–386; FREY, Eschatologie 3, 408–411; ZIMMERMANN, Vorbild, 745; WEREN, Death, 259; SCHNELLE, Johannes, 242; UEBERSCHAER, Theologie, 193–195. Vgl. zur Klassifizierung der Lazarus-Geschichte als „Totenerweckungserzählung“: LABAHN, Lebensspender, 434–442; KIESSEL, Intertextualité, 33; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 415; UEBERSCHAER, Theologie, Anm. 8, 194f.; anders KOK, Healing, 208, der in Joh 11,1–44 „a miracle of healing“ sieht. Vgl. PETERSEN, Evangelium, 3; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 54; SCHNELLE, Johannes, 6–8. Vgl. ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 54; SCHNELLE, Johannes, Anm. 40, 9. SCHOLTISSEK, Textwelt, 9; vgl. FREY, Synoptiker, 113f. Anders REINBOLD, Bericht, 27–48; BECKER, Quellen, 211, spricht von einer „nur indirekt nachweisbare[n] Synoptikerbenutzung“; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 46, von „Hypertextualität“; vgl. zur kontroversen Forschungsgeschichte: LANG, Johannes, 11–56; FREY, Synoptiker, 60–86; LABAHN/LANG, Johannes, passim.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen sandten nun die Schwestern zu ihm und ließen sagen: „Herr, siehe, der, den du liebst, ist krank.“ 4 Als Jesus das aber hörte, sagte er: „Diese Krankheit steht nicht mit dem Tod in Beziehung (αὕτη ἡ ἀσθένεια οὐκ ἔστιν πρὸς θάνατον), sondern ist um der Herrlichkeit Gottes willen (ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ), damit der Sohn Gottes durch sie (δι’ αὐτῆς) verherrlicht werde (δοξασθῇ).“ 5 Es liebte (ἠγάπα) aber Jesus die Martha und ihre Schwester und den Lazarus. 6 Als er nun hörte, dass er krank war, da blieb er alsdann zwar an dem Ort, wo er war (ἐν ᾧ ἦν τόπῳ), zwei Tage, 7 dann – danach – sagt er seinen Jüngern: „Lasst uns wieder nach Judäa gehen.“ 8 Sagen zu ihm die Jünger: „Rabbi, nun versuchten dich die Juden zu steinigen, und wiederum gehst du dorthin?“ 9 Jesus antwortete: „Hat nicht der Tag zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht. 10 Wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist.“ 11 Dieses sagte er, und danach sagt er zu ihnen: „Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen (κεκοίμηται). Aber ich gehe, um ihn aufzuwecken (ἀλλὰ πορεύομαι ἵνα ἐξυπνίσω αὐτόν).“ 12 Nun sagten die Jünger zu ihm: „Herr, wenn er eingeschlafen ist, wird er gesund werden (σωθήσεται).“ 13 Es hatte aber Jesus von seinem Tod gesprochen, jene aber meinten, dass er über das Entschlummern zum Schlaf spreche. 14 Dann nun sagte ihnen Jesus offen: „Lazarus ist gestorben, 15 und ich freue mich euretwegen, damit ihr glaubt (ἵνα πιστεύσητε), weil ich nicht dort war. Aber lasst uns zu ihm gehen.“ 16 Es sagte nun Thomas, der Didymos genannt wird, den Mitjüngern: „Lasst uns auch gehen, damit wir mit ihm sterben.“ 17 Als nun Jesus kam, fand er ihn, als er bereits vier Tage in der Grabstätte hatte (τέσσαρας ἤδη ἡμέρας ἔχοντα ἐν τῷ μνημείῳ). 18 Es war aber Bethanien nahe bei Jerusalem, ungefähr 15 Stadien entfernt. 19 Viele aber von den Juden (Ἰουδαίοι) waren zu Martha und Maria gekommen, um sie wegen des Bruders zu trösten. 20 Als nun aber Martha hörte, dass Jesus kommt, ging sie ihm entgegen. Maria aber saß im Haus. 21 Nun sagte Martha zu Jesus: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben (εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἂν ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός μου). 22 [Aber] auch nun weiß ich, dass, um wie viel du Gott bitten wirst, Gott wird es dir geben ([ἀλλὰ] καὶ νῦν οἶδα ὅτι ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν θεὸν δώσει σοι ὁ θεός).“ 23 Sagt zu ihr Jesus: „Er wird auferstehen, dein Bruder.“ 24 Sagt zu ihm Martha: „Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am letzten Tag (ἀνάστασις ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ).“ 25 Sagt zu ihr Jesus: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, auch wenn er stirbt, wird er leben (ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται), 26 und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit (εἰς τὸν αἰῶνα). Glaubst du das?“ 27 Sie sagt zu ihm: „Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommt.“ 28 Und als sie dies gesagt hatte, ging sie weg und rief Maria, ihre Schwester, indem sie heimlich sagte: „Der Lehrer ist da und ruft dich.“ 29 Jene aber, als sie es hörte, stand schnell auf und ging zu ihm. 30 Noch nicht aber war Jesus in das Dorf gekommen, sondern er war noch an dem Ort, wo ihm Martha begegnet war. 31 Als nun die Juden, die bei ihr im Haus waren und sie trösteten, die Maria sahen, dass sie schnell aufstand und hinausging, folgten sie ihr, weil sie glaubten, dass sie zur Grabstätte ging, um dort zu weinen. 32 Maria nun, als sie hinkam, wo Jesus war, und als sie ihn sah, fiel ihm zu Füßen (ἔπεσεν αὐτοῦ πρὸς τοὺς πόδας) und sagte ihm: „Herr, wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht gestorben.“ 33 Jesus nun, als er sie weinend sah und die mit ihr mitgekommenen Juden weinend, schnaubte er in seinem Geist und regte sich auf (ἐνεβριμήσατο τῷ πνεύματι καὶ ἐτάραξεν ἑαυτόν) 34 und sagte: „Wo habt ihr ihn
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hingelegt?“ Sie sagten ihm: „Herr, komm und sieh.“ 35 Jesus fing an zu weinen (ἐδάκρυσεν ὁ Ἰησοῦς). 36 Es sagten nun die Juden: „Siehe, wie er ihn liebte!“ 37 Einige aber von ihnen sagten: „Konnte nicht dieser, der die Augen des Blinden geöffnet hat, machen, dass auch dieser nicht starb?“ 38 Jesus nun, wieder in sich selbst schnaubend, geht zum Grabmal. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag auf ihr. 39 Sagt Jesus: „Hebt den Stein!“ Es sagt ihm die Schwester des Verstorbenen, Martha: „Herr, er riecht schon, denn er ist am vierten Tag [sc. tot] (ἤδη ὄζει, τεταρταῖος γάρ ἐστιν).“ 40 Jesus sagt zu ihr: „Habe ich dir nicht gesagt, dass du, wenn du glaubst, die Herrlichkeit Gottes sehen wirst (οὐκ εἶπόν σοι ὅτι ἐὰν πιστεύσῃς ὄψῃ τὴν δόξαν τοῦ θεοῦ)?“ 41 Sie hoben nun den Stein. Jesus aber hob die Augen nach oben und sagte: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. 42 Ich aber wusste, dass du mich immer erhörst, aber wegen der umherstehenden Menge sprach ich, damit sie glauben, dass du mich geschickt hast.“ 43 Und als er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: „Lazarus, hierher, heraus (δεῦρο ἔξω)!“ 44 Es kam der Gestorbene (ὁ τεθνηκώς) heraus, an Füßen und Händen mit Tüchern umwickelt und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch umbunden. Jesus sagt ihnen: „Bindet ihn los und lasst ihn gehen!“ 45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und gesehen hatten, was er getan hatte, fingen an, an ihn zu glauben. 46 Einige von ihnen aber gingen zu den Pharisäern und sagten ihnen, was Jesus gemacht hatte.
Für die Totenerweckungserzählungen des Matthäus- und Lukasevangeliums gilt: sie entfalten narrativ in der Darstellung von Wiederbelebungen, die Jesus bewirkt, was andernorts im jeweiligen Makrotext proklamiert worden ist.903 Ähnliches trifft auch für Joh 11,1–46904 zu. Bereits in Joh 5,25 kündigt der johanneische Jesus an, dass die Stunde kommen werde bzw. jetzt da sei, ὅτε οἱ νεκροὶ ἀκούσουσιν τῆς φωνῆς τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ καὶ οἱ ἀκούσαντες ζήσουσιν. Diese Vorstellung wird dann in Joh 5,28b–29 noch weiter konkretisiert: ὅτι ἔρχεται ὥρα ἐν ᾗ πάντες οἱ ἐν τοῖς μνημείοις ἀκούσουσιν τῆς φωνῆς αὐτοῦ καὶ ἐκπορεύσονται οἱ τὰ ἀγαθὰ ποιήσαντες εἰς ἀνάστασιν ζωῆς, οἱ δὲ τὰ φαῦλα πράξαντες εἰς ἀνάστασιν κρίσεως. Was hier angekündigt ist, wird innerhalb der erzählten Welt des Johannesevangeliums in Joh 11,44 in die Tat umgesetzt,905 wenn der tote Lazarus (ὁ τεθνηκώς) aus dem Grabmal kommt (ἐξῆλθεν), nachdem ihn Jesus zuvor mit lauter Stimme herausgerufen hat (φωνῇ μεγάλῃ ἐκραύγασεν; Joh 11,43).
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Vgl. die Ankündigungen von Mt 11,5 und Lk 7,22, die in den Totenerweckungserzählungen der beiden Evangelien narrativ entfaltet werden. Für die in der vorliegenden Untersuchung vorgenommene Begrenzung der Lazarus-Geschichte auf den Umfang Joh 11,1–46 spricht zum einen, dass in Joh 11,1 mit der Einführung von neuen Erzählfiguren (Lazarus, Maria und Martha) und einem Wechsel des Erzählerstandortes (der Erzähler blickt nicht mehr wie in Joh 10,40–42 aus einer Vogelperspektive auf Jesu Aufenthaltsort, sondern richtet seinen Fokus auf Geschehnisse, die sich bei den drei Geschwistern abspielen) Indizien für einen erzählerischen Neuanfang vorliegen und dass zum anderen mit Joh 11,46 die Ereignisse rund um Lazarus zu einem Abschluss kommen, weil der Blick des Erzählers von Joh 11,47 an auf Geschehnissen liegt, welche als Konsequenz aus der Totenerweckung resultieren. Vgl. FREY, Eschatologie 3, 415f.; HOFIUS, Auferweckung, 32; ZIMMERMANN, Vorbild, 748f.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Verglichen mit den Totenerweckungserzählungen der synoptischen Evangelien ist im Johannesevangelium die Geschichte von der Wiederbelebung des Lazarus aber noch ungleich stärker mit dem sie umgebenden Kontext verknüpft, als das in den Vergleichstexten der Fall ist. In den erzählten Welten der Synoptiker verdeutlichen die Totenerweckungen, inwiefern sich im Wirken des irdischen Jesus bereits das Nahe-Sein der βασιλεία Gottes/der Himmel abzeichnet. Das „Phänomen Totenerweckung“ ist hier somit eindeutig positiv konnotiert und hat einen hohen theologischen bzw. christologischen Stellenwert. Gleichzeitig bleibt das „persönliche Ergehen“ des Protagonisten von den von ihm vorgenommenen Wiederbelebungen unberührt. Anders im Johannesevangelium: hier ist die Wiederbelebung des Lazarus unmittelbar mit Jesu eigenem Weg in den Tod verknüpft. In der direkt an die Totenerweckungserzählung anschließenden Passage Joh 11,47–53 wird geschildert, wie das Synhedrium in Jerusalem, verärgert über das Aufsehen, welches die Auferweckung des Lazarus auslöst, darüber berät, wie man Jesus töten könne. Da Jesu eigener Tod in der erzählten Welt des Johannesevangeliums als notwendige Voraussetzung seiner Rückkehr zum Vater verstanden wird, ist die in sich kohärente Lazarus-Geschichte im Handlungsgefüge des johanneischen Makrotextes ein funktionales Handlungselement, dessen Eigenwert dadurch sinkt, dass es nicht ausschließlich um seiner selbst willen erzählt wird. Die Lazarusgeschichte ist unverzichtbar, um den plot des gesamten Evangeliums zum Abschluss bringen zu können.906 Wie sich im Folgenden zeigen wird, liegt darüber hinaus der Fokus der Erzählung nicht auf Lazarus, sondern auf Jesus. Die glaubensinitiierende und -konsolidierende Bedeutung, die der johanneische Jesus selbst aus seiner Figurenperspektive heraus diesem Ereignis zuschreibt, korreliert somit mit der den Tod Jesu vorbereitenden Funktion, die der Erweckung des Lazarus im dramaturgischen Aufbau der Gesamterzählung zukommt.907 In der Forschungsliteratur zu Joh 11 kursieren unterschiedliche Gliederungsvorschläge für dieses Kapitel, die auf differierenden Kriterien basieren.908 Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Handlung von Joh 11,1–46 an verschiedenen Standorten spielt, und beachtet, dass der auktoriale Erzähler, der aus einer Vogelperspektive auf das Geschehen blickt, jeweils deutlich markiert, wann
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Vgl. STIBBE, Tomb, 39: „this miracle has a crucial function in the plot of John’s story“; ähnlich WELCK, Zeichen, 210; LEE, Narratives, 198. Vgl. WEREN, Death, 261, welcher der Lazarus-Geschichte (deren Umfang sich seiner Meinung nach auf Joh 11,1–53 erstreckt) „two story lines“ attestiert. Vgl. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 397; KREMER, Lazarus, 24–28; STIBBE, Tomb, 43f.; WELCK, Zeichen, 231–235; LABAHN, Lebensspender, 386f.; FREY, Eschatologie 3, 416–418; HOFIUS, Auferweckung, 18; ZIMMERMANN, Vorbild, 745; WEREN, Death, 260; SCHNELLE, Johannes, Anm. 194, 246; KOK, Healing, 211.
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sein Blick von einem „Spielort“ auf den nächsten „schwenkt“,909 ergibt sich eine Unterteilung der Erzählung in sieben Abschnitte: Im ersten Abschnitt, Joh 11,1–3, schaut der Erzähler auf Bethanien910 und nimmt dort ein Geschwistertrio in den Blick, das aus Maria und Martha sowie ihrem erkrankten Bruder Lazarus besteht.911 Bemerkenswert ist, dass das Faktum seines Krankseins in der Exposition der Erzählung dreimal erwähnt wird: das erste Mal bei der Einführung aller drei Figuren in Joh 11,1, dann in Joh 11,2 innerhalb der Prolepse, welche die Maria näherhin als diejenige charakterisiert, die Jesus gesalbt hat. Somit wird gleich zu Beginn der Erzählhandlung deutlich, dass das Geschehen rund um Lazarus eng mit dem Schicksal Jesu verknüpft ist.912 Ein drittes Mal wird das Kranksein des Bruders in Joh 11,3 in der Nachricht angesprochen, die seine Schwestern an Jesus senden, um ihn von dessen Zustand in Kenntnis zu setzen. Aufgrund der Tatsache, dass Maria und Martha in dieser Botschaft ihren Bruder als einen Menschen bezeichnen, den Jesus liebt, wird in der Modell-Leserschaft die Erwartung913 geweckt, dass der Protagonist des Johannesevangeliums, der im bisherigen Verlauf der Evangelienhandlung schon unter Beweis gestellt hat, dass er Kranke heilen kann,914 das körperliche Wohlbefinden des Erkrankten wiederherstellen wird. 909
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Vgl. STIBBE, Tomb, 42: „In getting Jesus to the tomb of Lazarus, the key signals for the narrator are spatio-temporal indicators.“ Wie sich in Joh 11,18 zeigt, ist der Ort „Bethanien nahe bei Jerusalem“ gemeint, der auf ein Dorf in der außertextuellen Wirklichkeit referiert. Vgl. dazu BOSENIUS, Raum, 368f. In der Forschung zu Joh 11 wird auf die Überschneidungen im Figurenensemble hingewiesen, die zwischen Joh 11,1–46 sowie Lk 10,38–42 und Lk 16,19–31 bestehen. Geht man von einer Identität der Frauenfiguren aus, die in Joh 11 und Lk 10 vorkommen, dann können sich die Charakterisierungen von Maria und Martha in den beiden Evangelien gegenseitig ergänzen. Nimmt man an, dass die Lazarusfiguren, die in Joh 11 und Lk 16 vorkommen, miteinander identifizierbar sind, dann wäre die johanneische Erzählung die Fortsetzung der lukanischen, indem nämlich am Beispiel des wiederbelebten Lazarus vorgeführt wird, welche Konsequenzen es auslöst, wenn jemand von den Toten zurückkehrt. Vgl. THYEN, Erzählung, passim; BUSSE, Lazarusperikope, 290f.; FREY, Eschatologie 3, 423f.; KIESSEL, Intertextualité, 31f.; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 415; UEBERSCHAER, Theologie, Anm. 12, 196; UEBERSCHAER, Prätext, passim. Die ältere Forschung hat Joh 11,2 gerne als eine „Glosse“ bezeichnet und als sekundär aus dem ‚ursprünglichen Text‘ ausgeschieden (vgl. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 403; aber auch noch REINBOLD, Bericht, Anm. 41, 39). Die neuere, narratologisch ausgerichtete Sekundärliteratur sieht hier allerdings eine Prolepse, vgl. STIBBE, Tomb, 52; LEE, Narratives, 193. Vgl. LEE, Narratives, 198f. Die Erzählung von der Heilung des lebensgefährlich erkrankten Sohnes eines königlichen Beamten aus Kapernaum (Joh 4,46–54) beginnt ganz ähnlich wie die Lazarusgeschichte (vgl. zu den Übereinstimmungen: KREMER, Lazarus, 46). Auch hier ist Jesus nicht an demselben Ort wie der Erkrankte und muss über dessen Hilfsbedürftigkeit erst einmal in Kenntnis gesetzt werden, bevor er dann eine Fernheilung vornimmt. – Als Heiler erweist sich der johanneische Jesus außerdem in Joh 5,1–26 und Joh 9,1–41. Auf letztere Heilung weisen in Joh 11,37 die am Grab des Toten anwesenden Trauergäste hin.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Im zweiten Abschnitt, Joh 11,4–16, in dem der Erzähler beschreibt, was sich an dem Ort ereignet, wo sich Jesus (mit seinen Jüngern)915 aufhält (ἐν ᾧ ἦν τόπῳ; Joh 11,6),916 wird diese Erwartung allerdings nicht erfüllt. Es wird weder davon berichtet, dass sich Jesus sofort auf den Weg zu Lazarus machte, noch dass er eine Fernheilung wie beim Kranken in Kapernaum initiierte. Stattdessen reagiert der Protagonist in diesem Erzählabschnitt, statt zu handeln, ausschließlich verbal auf die Nachricht der beiden Schwestern. Er trifft in Joh 11,4 eine Aussage, die auf den ersten Blick etwas kryptisch erscheint, sich beim wiederholten Lesen der gesamten Erzählung aber als hermeneutischer Schlüssel für das Verständnis der gesamten Lazarus-Geschichte erweist:917 αὕτη ἡ ἀσθένεια οὐκ ἔστιν πρὸς θάνατον ἀλλ’ ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ, ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ δι’ αὐτῆς. In seiner Figurenrede stellt Jesus einen Zusammenhang her zwischen der Erkrankung des Lazarus, dem Phänomen des (eschatologischen) Todes, der Herrlichkeit Gottes und seinem eigenen Schicksal – dieser Konnex bleibt bestimmend für die Funktion und die Bedeutung der Lazarus-Geschichte im Makrotext. Zunächst einmal geht Jesus auf das Verhältnis von Krankheit und Tod ein (αὕτη ἡ ἀσθένεια οὐκ ἔστιν πρὸς θάνατον). Wer den Ausgang der Geschichte nicht kennt, deutet in dieser Aussage – in der Erwartung, dass Jesus dem Lazarus helfen wird – die Präposition πρός final, was sich im Deutschen in der Übersetzung: „diese Krankheit ist nicht/führt nicht zum Tod“ widerspiegelt. Wenige Verse später in Joh 11,14 wird Jesus in einer weiteren Figurenrede jedoch darüber informieren, dass Lazarus gestorben ist. Somit ergibt sich aus der Retrospektive, dass ein finales Verständnis von πρός nicht kohärent mit der Weiterentwicklung der Handlung vermittelbar ist. Stattdessen bietet sich an, diese
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Die Anwesenheit der Jünger wird vom Erzähler in Joh 11,7 nachgetragen. Da sie in diesem Abschnitt keine die Handlung vorantreibende Funktion haben, sondern mit ihren Redebeiträgen ausschließlich dazu beitragen, den weiteren Gang der Dinge zu verzögern, wundert es nicht, dass sie vom Erzähler zunächst nicht wahrgenommen werden, wenn sein Blick vom Aufenthaltsort der Geschwister zu Jesus schwenkt. Vgl. zur Funktion der Jünger in der Lazarus-Geschichte auch: LABAHN, Lebensspender, 408: „Die Jünger treten ohne jede weitere Funktion auf, allein als Objekte des joh. Mißverstehens; eine Funktion, die ihnen im Evangelium öfter zugewiesen wird.“ Aus der Lektüre von Joh 10,40 erinnert die Leserschaft, dass sich Jesus an dem Ort befindet, wo Johannes zuerst getauft hatte. Diese Taufen fanden gemäß Joh 1,28 in Bethanien jenseits des Jordans statt (ἐν Βηθανίᾳ […] πέραν τοῦ Ἰορδάνου, ὅπου ἦν ὁ Ἰωάννης βαπτίζων). Vgl. zur Lokalisierung des Aufenthaltsortes Jesu auch: FREY, Eschatologie 2, 201; ZIMMERMANN, Vorbild, 751. – Wenn LANG, Raising, 317, aus der zu vermutenden Namensgleichheit der beiden Orte auf „this episode’s hidden baptismal theme“ schließt und in der Lazarus-Geschichte keinesfalls die Gattung einer Totenerweckungserzählung aktualisiert sieht, gibt er diesem Erzähldetail ein zu großes Gewicht. Vgl. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 405: „programmatische[…] Deutung des bevorstehenden Geschehens“; LABAHN, Lebensspender, 403: „eine an den externen Hörer oder Leser gerichtete Deutungsanweisung mit eindeutigem Signalcharakter“.
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Präposition so zu deuten, dass sie zur „Bezeichnung der Zugehörigkeit“918 dienen soll, was im Deutschen mit „Diese Krankheit steht nicht mit dem Tod in Beziehung“ übersetzt werden kann. Dabei muss der Ausdruck θάνατος919 in einem speziellen Sinn verstanden werden: als eschatologischer Tod, der vom physischen Tod eines Menschen zu unterscheiden ist.920 Ein derartiges Verständnis von θάνατος lässt sich allerdings auch erst aus der Rückschau gewinnen. In Joh 11,25b behauptet Jesus: ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται. Diese Aussage ist mit Blick auf den vor wenigen Tagen verstorbenen Lazarus an dessen Schwester Martha gerichtet, der Jesus verdeutlichen möchte, dass ein Glaubender – und unter diese Rubrik fällt der tote Bruder – auch wenn er stirbt, leben wird. Im folgenden Satz (Joh 11,26a) erläutert Jesus diese Vorstellung aus einem anderen Blickwinkel: Derjenige, der nach seinem eigenen physischen Tod lebt (und an ihn glaubt), wird nicht εἰς τὸν αἰῶνα sterben. Die Phänomene „Leben“ und „Tod“ sind in diesem Kontext also nicht im Hinblick auf das physische, sondern mit Blick auf das eschatologische Ergehen von Glaubenden betrachtet. Eben diese Unterscheidung zwischen dem leiblichen Tod, der nichts über das soteriologische Ergehen eines Menschen aussagt, und einem Tod „in Ewigkeit“, bei dem ein „ewiges Leben“ ausgeschlossen ist, ist auch schon in Joh 11,4 mitzulesen.
Die Funktion der ἀσθένεια des Lazarus kann Jesus somit auch positiv bestimmen: sie ereignet sich ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ (um der Herrlichkeit Gottes willen). Was das konkret bedeutet, bleibt an dieser Stelle noch offen – und steigert somit die Spannung der Lesenden auf den Fortgang des Geschehens.921 Aber bereits an dieser Stelle gibt Jesus den Hinweis, dass durch die Krankheit des Lazarus (δι’ αὐτῆς) auch der Sohn Gottes, also er selbst, verherrlicht werden soll (ἵνα δοξασθῇ). Zu beachten ist, dass „im Johannesevangelium ‚verherrlicht werden‘ (δοξάζομαι) [als] eine geläufige Bezeichnung für Jesu Tod, Auferstehung und Erhöhung (7,39; 12,16.23.38; 13,31; 17,18)“922 fungiert. 918
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PASSOW II/1, 1157, s. v. πρός. Vgl. die Wendung „πρός τι εἶναι, mit etwas in Beziehung stehen“ (ebd.). Vgl. KREMER, Lazarus, 33, der darauf hinweist, dass „die Bedeutung der mehrfach gebrauchten Vokabeln ‚Tod‘/‚sterben‘ und ‚Leben‘/‚leben‘ an einigen Stellen eindeutig das alltägliche Verständnis [übersteigt]; denn damit sind nicht immer Leben und Tod im Sinne irdischer Erfahrung gemeint (so VV. 13.14.16.21.25.32.37.39.44), sondern Größen, die die Grenzen dieser Welt überschreiten (Leben des schon Gestorbenen, in Ewigkeit nicht sterben [VV. 25f])“. Vgl. auch ZIMMERMANN, Vorbild, 757f., sowie die semantische Untersuchung zum Wortfeld Tod/Leben in Joh 11,1–53 bei WEREN, Death, 262–269; vgl. ferner KOK, Healing, 227 und 229. Vgl. FREY, Eschatologie 3, 425, dem zufolge gemeint ist, „daß die Krankheit des Lazarus zwar zum leiblichen Tod führt, aber doch nicht zum endgültigen, unabänderlichen Tod.“ Vgl. ferner ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 419: „Mit anderen Worten: Diese Krankheit ist nicht in Bezug auf den Tod und auf das mit ihr verbundene Zunichtewerden zu betrachten (dies ist der Horizont der Welt und der Natur), sondern in Verbindung mit der δόξα Gottes.“ Vgl. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 405. KREMER, Lazarus, 57.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Auf diese programmatische und gleichzeitig rätselhafte Aussage des Protagonisten folgt mit Joh 11,5.6 zunächst einmal ein Erzählerkommentar, der noch einmal deutlich zum Ausdruck bringt, dass Jesus zu den drei Geschwistern in Bethanien ein sehr enges Verhältnis hat (ἠγάπα).923 Dennoch macht er sich nicht sofort zu ihnen auf den Weg. Er bleibt, wie der Erzähler explizit berichtet, zunächst noch zwei Tage an seinem Aufenthaltsort. Ein Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern, der in Joh 11,7.8 wiedergegeben wird, führt die Leserschaft auf eine falsche Fährte, wenn sie sich zu erklären versucht, warum Jesus nicht sogleich aktiv wird. Jesus macht nämlich seinen Jüngern den Vorschlag, wieder nach Judäa – also in die Region, in der Bethanien liegt – zu gehen. Darauf erinnern diese ihn daran, dass er dort zuletzt von den Juden gesteinigt werden sollte. Das lässt vermuten, Jesus sei in Bethanien am Jordan geblieben, um sich selbst mit einem Besuch bei Lazarus nicht in Gefahr zu bringen. In einer wiederum etwas kryptischen Figurenrede in Joh 11,9.10 deutet Jesus an, dass sein Verhalten: zunächst Abwarten, dann zum Aufbruch-Rufen, mit Blick auf die Ausnutzung der Zeit, die ihm bis zur Rückkehr zum Vater bleibt, durchaus reflektiert ist:924 οὐχὶ δώδεκα ὧραί εἰσιν τῆς ἡμέρας; ἐάν τις περιπατῇ ἐν τῇ ἡμέρᾳ, οὐ προσκόπτει, ὅτι τὸ φῶς τοῦ κόσμου τούτου βλέπει· ἐὰν δέ τις περιπατῇ ἐν τῇ νυκτί, προσκόπτει, ὅτι τὸ φῶς οὐκ ἔστιν ἐν αὐτῷ. Anschließend wird der in Joh 11,1–3 eingefädelte und in der Zwischenzeit vernachlässigte Erzählfaden wieder aufgegriffen und ein wenig weitergesponnen: Jesus informiert in Joh 11,11 über das aktuelle Ergehen seines Freundes Lazarus und seine konkreten Pläne: Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν κεκοίμηται· ἀλλὰ πορεύομαι ἵνα ἐξυπνίσω αὐτόν.925 Aufgrund der Tatsache, dass er sich hier in metaphorischer Sprache ausdrückt, nimmt im Folgenden in Joh 11,12–16 die Handlung allerdings immer noch nicht an Fahrt auf, weil die Jünger die figurative Rede zunächst missverstehen. In narratologischer Hinsicht ist in dieser Erzählpassage bemerkenswert, dass das Missverständnis innerhalb der erzählten Welt ausgeräumt werden kann. Die Jünger vermuten, Jesus habe davon 923
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„Das verwendete Wort für ‚lieben‘ (ἀγαπάω) hat im Johannesevangelium dieselbe Bedeutung wie φιλέω. Eine unterschiedliche Verwendung läßt sich nirgendwo belegen“ (KREMER, Lazarus, 57). Vgl. FREY, Eschatologie 3, 428, der darauf hinweist, dass Jesu Aussage in Joh 11,9b.10 aufgrund ihrer „schillernde[n] Metaphorik“ stets „mehrere Blickwinkel offen“ hält und deshalb schwer zu verstehen ist. Es selbst interpretiert folgendermaßen: „Innerhalb der Lazaruserzählung verdeutlicht das Bild, daß Jesus wirken kann und muß, solange sein ‚Tag‘ währt“ (ebd.). – Vgl. auch FREY, Eschatologie 2, 228: „Joh 11,9f. zeigt […] ein deutliches Wissen um die ablaufende, befristete, aber für die Dauer des Tages, bis zum Schlag der letzten Stunde, verläßlich gegebene Zeit.“ – Vgl. ferner KREMER, Lazarus, 60; UEBERSCHAER, Theologie, 200f. Da der Erzähler nichts davon berichtet, dass in der Zwischenzeit eine weitere Botschaft aus Bethanien bei Jerusalem eingegangen ist, lässt sich dieser aktuelle Kenntnisstand Jesu nur auf dessen Allwissenheit zurückführen; vgl. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 409; LABAHN, Lebensspender, 412; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 422.
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gesprochen, dass sich der kranke Lazarus quasi „gesundschlafe“, und bringen das mit folgenden Worten zum Ausdruck: κύριε, εἰ κεκοίμηται σωθήσεται (Joh 11,12). Jesus erläutert dann aber in Joh 11,14, dass er das physische Versterben des Lazarus meint – ein sprachliches Missverständnis, das der Erzähler für die Leserschaft zuvor in Joh 11,13 bereits aufgeklärt hat: εἰρήκει δὲ ὁ Ἰησοῦς περὶ τοῦ θανάτου αὐτοῦ, ἐκεῖνοι δὲ ἔδοξαν ὅτι περὶ τῆς κοιμήσεως τοῦ ὕπνου λέγει.926 Die Modell-Leserschaft wird durch diese retardierende927 Erzählpassage allerdings „auf eine falsche Fährte“ gesetzt, weil sie – anders als die Jünger – intertextuelle Bezugnahmen auf die markinische und die lukanischen Erzählung von „Jairi Töchterlein“ erkennen und somit zu dem Schluss kommen kann, auch die Lazarus-Geschichte entwickele sich von nun an zu einer „gattungsgemäßen“ Totenerweckungserzählung.928 Folgende Parallelen zwischen Joh 11,11–16 sowie Mk 5,21–43 und Lk 8,40–56 lassen sich erkennen: Der johanneische Jesus verwendet in Joh 11,11 den in der Antike durchaus gebräuchliche Euphemismus vom „Tod als Schlaf“, der auch bei der Rezeption von Mk 5,39 (τὸ παιδίον οὐκ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει) bzw. Lk 8,52 (οὐ γὰρ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει) aktualisiert wird.929 Darüber hinaus liegt in Joh 11,11 mit ἐξυπνίζειν930 ein Wiederbelebungsterminus vor, der vergleichbar mit dem in Mk 5,42 und Lk 8,55 für das Sich-Erheben des Kindes verwendeten Begriff ἀνιστάναι den frame „Schlafen und Aufstehen“ aktiviert. Außerdem findet sich in der wörtlichen Rede der Jünger in Joh 11,12 mit σωθήσεται ein zentraler Ausdruck aus der markinischen bzw. der lukanischen Erzählepisode.931 Wenn der johanneische Jesus in Joh 11,15 überdies vom Glauben der Jünger spricht (ἵνα πιστεύσητε), fällt in dieser kurzen Dialogsequenz ein weiteres Schlüsselwort der markinischen und der 926 927
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Vgl. BOSENIUS, κεκοιμημένοι, 48. Vgl. zu den retardierenden Momenten in der Lazarus-Erzählung: KREMER, Lazarus, 28; FISCHBACH, Totenerweckungen, 247; FREY, Eschatologie 3, 418; ZIMMERMANN, Vorbild, 749f.; UEBERSCHAER, Theologie, 199–205. Vgl. hinsichtlich der motivischen Parallelen zu den synoptischen Totenerweckungserzählungen: SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 428f.; KREMER, Lazarus, 38–45; LABAHN, Lebensspender, 434–442; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 415; ZIMMERMANN, Vorbild, 753f.; SCHNELLE, Johannes, 252; UEBERSCHAER, Theologie, Anm. 8, 194f. Vgl. zur Ambiguität dieser nicht unbedingt metaphorisch zu verstehenden Aussage die Ausführungen auf S. 223f. in der vorliegenden Untersuchung. Die „bibelkundige“ Modell-Leserschaft von Joh 11,11 erkennt, dass an dieser Stelle eine Anspielung auf Ijob 14,12 vorliegt: ἄνθρωπος δὲ κοιμηθεὶς οὐ μὴ ἀναστῇ, ἕως ἂν ὁ οὐρανὸς οὐ μὴ συρραφῇ· *καὶ οὐκ ἐξυπνισθήσονται ἐξ ὕπνου αὐτῶν. Vgl. dazu ROCHAIS, récits, 139: „Le verbe ἐξυπνίζεω au sens de ‚réveiller d’entre les morts, ressusciter‘ ne se trouve que dans la version de Théodotion en Jb 14,12 et dans la version d’Aquila en Is 26,19. Origène dans les Hexaples en Jb 14,12 a marqué le texte d’un astérisque * pour indiquer qu’il ne l’a pas trouvé dans la LXX.“ (Vgl. zu dieser Parallele auch LABAHN, Lebensspender, 410.) Da das Wort ἐξυπνίζειν in Ijob 14,12 in einem von metaphorischer Sprache geprägten Kontext fällt, in dem es um die Unmöglichkeit einer Rückkehr ins physische Leben nach dem Tod geht, ist allein schon aufgrund der intertextuellen Referenz angezeigt, dass Jesus nicht vom Schlafen, sondern vom Gestorben-Sein des Lazarus spricht. Vgl. zur Bezugnahme von Joh 11,11 auf Ijob 14,12 in der Theodotion-Version: AUSLOOS, Man, 170f. Vgl. Mk 5,23.28.34 und Lk 8,48.50.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen lukanischen Erzählung von „Jairi Töchterlein“.932 Eine weitere Parallele besteht darin, dass auch der johanneische Jesus auf dem Weg zum Toten von seinen Jüngern begleitet wird.933 Dieses in Joh 11,16 zu notierende Erzählmotiv wird im weiteren Verlauf der Handlung allerdings nicht mehr verfolgt.
Aufgrund dieser durchaus auffälligen Übereinstimmungen auf die möglichen Bezüge zu den „Jairi-Töchterlein“-Episoden aufmerksam geworden, fällt der sorgfältig rezipierenden Modell-Leserschaft aber auch der gewichtige Unterschied zwischen den Erzählungen auf. Der retardierende Effekt der Erzählpassagen Mk 5,25–34/Lk 8,43–48, der darauf beruht, dass Jesus zu spät bzw. später als gewollt zur Tochter des Jairus kommt, wird ausgelöst, weil der Protagonist durch den Vorfall mit der blutenden Frau daran gehindert wird, sich sofort auf den Weg zum Haus des Synagogenvorstehers zu machen. In der Lazarus-Geschichte entscheidet sich Jesus ganz bewusst, ohne von außen beeinflusst zu werden,934 dafür, erst einmal den Tod des Freundes abzuwarten, bevor er sich auf den Weg zu ihm macht. Eine Begründung für dieses Verhalten gibt er in Joh 11,15a: καὶ χαίρω δι’ ὑμᾶς ἵνα πιστεύσητε, ὅτι οὐκ ἤμην ἐκεῖ. Jesus bringt seine Freude darüber zum Ausdruck, dass es ihm auf diese Weise gelungen ist, den Jüngern eine Möglichkeit zu eröffnen, an ihn – so ist zu ergänzen – zu glauben, weil er nicht rechtzeitig dort war, um den Tod des Lazarus zu verhindern. Da er zuvor angekündigt hatte, den „eingeschlafenen Freund aufwecken“ zu wollen (Joh 11,11), entsteht der Eindruck, dass der Tod und die Wiederbelebung des Lazarus funktionalisiert werden, um den Glauben an Jesus zu stärken.935 Im dritten Abschnitt, Joh 11,17–19, schwenkt der Blick des Erzählers aus einer Panorama-Perspektive wieder auf Bethanien bei Jerusalem zurück und liefert dann der Leserschaft die Informationen, die notwendig sind, um dem weiteren Geschehen folgen zu können: Jesus findet in Bethanien alles so vor wie geplant: Lazarus liegt bereits vier Tage in der Grabstätte. Diese Information ist insofern wichtig, als die Zeitangabe τέσσαρας ἤδη ἡμέρας ἔχοντα ἐν τῷ μνημείῳ (Joh 11,17) impliziert, dass der Freund auch tatsächlich tot ist und nicht etwa fälschlich für tot gehalten und lebendig begraben wurde. Auf den Zeitraum von vier Tagen wird innerhalb der Lazarus-Geschichte noch ein weiteres Mal verwiesen. In Joh 11,39 gibt Martha, unmittelbar nachdem Jesus befohlen hat, den Stein von der Grabhöhle des Verstorbenen abzuheben, zu bedenken: κύριε, ἤδη ὄζει, τεταρταῖος γάρ ἐστιν. Im Hintergrund dieser betonten Rede von den
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935
Vgl. Mk 5,34.36 und Lk 8,48.50. Vgl. Joh 11,16 mit Mk 5,37; Lk 7,11 und 8,51. Vgl. LABAHN, Lebensspender, 406, zum „Motiv vom Zu-Spät-Kommen des Wundertäters in Totenerweckungen“ und a. a. O., 439f. Vgl. KREMER, Lazarus, 62.
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vier Tagen steht die traditionelle jüdische Vorstellung, dass die „Seele“ eines Toten nur drei Tage in seiner Nähe bleibt, sich dann aber entfernt.936
Die Modell-Leserschaft hat beim Rezipieren des zweiten Erzählabschnittes der Lazarus-Geschichte die „Jairi-Töchterlein“-Episoden erinnert und weiß aufgrund ihrer epistemischen Vor-Ausrichtung, dass Wiederbelebungen in jüdischen und frühchristlichen Totenerweckungserzählungen deshalb „funktionieren“, weil in diesen Texten stets kürzlich Verstorbene reanimiert werden, deren ֶנֶפשׁ, ψυχή oder πνεῦμα durch das Initiativ-Werden eines Totenerweckers wieder in sie zurückgeleitet wird, sodass sie ihr physisches Leben wieder aufnehmen können.937 Wenn aber nach gängiger Vorstellung die „Lebenskraft“ eines Toten nach vier Tagen nicht mehr verfügbar ist, entfällt die Möglichkeit einer reversio animae. Sollte Jesus seinen Plan, den „entschlafenen“ Freund wieder aufzuwecken, tatsächlich in die Tat umsetzen, so würde diese Wiederbelebung nicht nach dem bekannten Muster erfolgen. Die beiden Verse Joh 11,18.19 enthalten zwei Informationen. Erstens: Bethanien ist 15 Stadien, also „gut 3 km“938, von Jerusalem entfernt, somit von dort aus bequem fußläufig zu erreichen; zweitens: Martha und Maria erhalten am vierten Trauertag Besuch von Ἰουδαίοι, die sie trösten wollen. Auf der Basis dieser Angaben bleiben Jesu und des Lazarus Schicksal weiterhin eng miteinander verknüpft. Aufgrund der geringen Entfernung zwischen Jerusalem und Bethanien ist es für die machthabenden Instanzen in Jerusalem durchaus von Belang, wenn Jesus am Osthang des Ölbergs eine aufsehenerregende Totenerweckung vollzieht – um darüber in Kenntnis gesetzt werden zu können, braucht es allerdings Informanten. Diese sind mit den Trauergästen verfügbar. Unabhängig davon, ob mit ihrer Bezeichnung als Ἰουδαίοι eher auf ihre Religionszugehörigkeit (Juden) oder eher auf ihre regionale Herkunft (Judäer) verwiesen werden soll – beide Gruppenzuordnungen, die möglich sind, machen sie für Jesus gefährlich. Im vierten Abschnitt, Joh 11,20–27, fokussiert der Erzähler von der „Panoramaeinstellung“, welche Bethanien in Joh 11,17–19 weiträumig in den Blick 936
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FREY, Eschatologie 2, 199, verweist auf rabbinische Belege für diese Vorstellung, deren Bekanntheit „sehr viel weiter zurückreich[t]“. Darüber hinaus nennt er a. a. O., Anm. 221, 199, folgende Textstellen: „BerR 100,7 (64a) zu Gen 50,10: ‚Drei Tage kehrt die Seele an das Grab zurück, sie meint, daß sie (in den Leib) zurückkehren werde. Wenn sie aber sieht, daß die Farbe (der Glanz) seines Angesichts sich verändert hat, dann geht sie davon und verläßt ihn‘ (nach BILLERBECK II, 544), vgl. weiter yYev 16,3 (15c); yMQ 3,5 (82b); WaR 18 zu Lev 15,1 (117c); s. BILLERBECK II, 544f.“ und führt im Folgenden noch weiteres Vergleichsmaterial an (vgl. a. a. O., 199f.). – Vgl. auch SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 412; PICKUP, Day, Anm. 51, 522. Auch im „paganen“ Bereich geht es, wie im bisherigen Verlauf der Untersuchung deutlich geworden ist, in Totenerweckungserzählungen mehrheitlich um Verstorbene, die noch über eine „intakte“ Körperlichkeit verfügen. Eine Ausnahme stellt das Schicksal des Hippolytos dar, das Ovidius in Met. 15,524–539 und Fast. 6,729–762 schildert, vgl. die Ausführungen in den Abschnitt 8.3.2 und 8.3.3 in der vorliegenden Untersuchung. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 402.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
genommen hat, auf die Stelle, an der Jesus außerhalb des Dorfes von Martha aufgesucht wird. Dass die Begegnung der beiden nicht innerhalb der Ortschaft stattfindet, präzisiert der Erzähler erst im Nachhinein, wenn er in Joh 11,30 vom Zusammentreffen Jesu mit Maria berichtet, das sich ebendort zuträgt (οὔπω δὲ ἐληλύθει ὁ Ἰησοῦς εἰς τὴν κώμην, ἀλλ’ ἦν ἔτι ἐν τῷ τόπῳ ὅπου ὑπήντησεν αὐτῷ ἡ Μάρθα). Was diesen Erzählabschnitt in besonderer Weise auszeichnet, ist Folgendes: aus theologischer Perspektive betrachtet, könnte die Lazarus-Geschichte mit Joh 11,20–27 durchaus ihren Abschluss finden. Zunächst einmal wird – nicht zuletzt aufgrund der Indizien, die der zweite Abschnitt Joh 11,4–16 für eine Zuordnung der Lazarus-Geschichte zur Gattung der Totenerweckungserzählungen aufweist – durch die Worte, welche Martha in Joh 11,21 an Jesus richtet: κύριε, εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἂν ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός μου, eine Erinnerung an die Wiederbelebungserzählungen der Königebücher evoziert. Sowohl die Witwe zu Sarepta als auch die Schunemiterin erheben gegenüber Elia bzw. Elisa in 1 Kön 17,18 sowie in 2 Kön 4,28 Vorwürfe, indem sie den Gottesmännern eine gewisse Mitschuld am Tod der Söhne zuweisen.939 Wird Joh 11,21 auf der Folie der Königebücher verstanden, liegt es nahe, die einlenkende Bemerkung der Martha in Joh 11,22: [ἀλλὰ] καὶ νῦν οἶδα ὅτι ὅσα ἂν αἰτήσῃ τὸν θεὸν δώσει σοι ὁ θεός, dahingehend zu interpretieren, Jesus werde – wie Elia oder Elisa – im Folgenden Gott darum bitten, den Lazarus wieder lebendig zu machen.940 Doch ähnlich wie im Abschnitt zuvor reagiert Jesus auch in dieser Erzählsequenz auf die Anfrage der Frau verbal, statt zu handeln. Anstelle der zu erwartenden Totenerweckung beginnt ein Dialog zwischen den beiden, in dem Jesus das Einzelschicksal des Verstorbenen in einen größeren Horizont einschreibt – und die physische Wiederbelebung eines Toten als in soteriologischer Hinsicht insuffizient erscheinen lässt. Wie es sich bereits in seiner programmatischen Bemerkung in Joh 11,4 abgezeichnet hat, vertritt der johanneische Jesus mit Blick auf das Konzept „Tod“ in Joh 11,25–26 einen spezifischen Ansatz, der sich auch in seiner Konzeptionalisierung von ἀνάστασις und ζωή niederschlägt. Als derjenige, der von sich selbst behauptet, die Auferstehung und das Leben zu sein (Joh 11,25), unterscheidet er hinsichtlich des Phänomens des Todes zwischen einem physischen und einem eschatologischen Standpunkt. Diesen können andere mit ihm unter der Voraussetzung teilen, dass sie an ihn glauben. Jesu in 939 940
Vgl. die Ausführungen auf S. 39 und S. 58f. in der vorliegenden Untersuchung. FREY, Eschatologie 3, 433, weist darauf hin, dass Marthas Äußerung mit einer gewissen „Unzulänglichkeit der Christologie“ behaftet ist: „Martha scheint […] die Kraft zum ζῳοποιεῖν nicht Jesus, sondern – wie im Kontext des antiken Judentums nicht anders denkbar – allein Gott zuzutrauen. Jesus ist hingegen für sie nicht mehr als ein ausgezeichneter Gerechter, dessen Gebet Erhörung findet (vgl. die Auffassung der Juden in Joh 9,31), oder als die Propheten Elia und Elisa, von denen je eine Totenerweckung – durch Gebet – berichtet ist, ein menschlicher Wundertäter, aber nicht der Sohn Gottes (V. 27) und die ζωή, die er in Person ist und als die er geglaubt sein will.“
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Joh 11,25–26 entwickelte Position lässt sich folgendermaßen paraphrasieren: Menschen, die an ihn glauben, erleiden zwar den physischen Tod. Für sie ist dieses Versterben aber kein „ewiger Tod“ (εἰς τὸν αἰῶνα). Ihnen ist angesichts bzw. trotz ihres physischen Todes ζωή zugesagt – ein „Leben“, das in diesem Kontext, in dem physischer und ewiger Tod einander gegenübergestellt werden, nur als „ewiges Leben“ verstanden werden kann.941 Mit Blick auf Lazarus ist aus Jesu Worten deshalb zu folgern: „Wenn das gilt, so ist die Auferweckung des Lazarus höchst überflüssig. Der Spruch, der die Pointe von 21–27 ist, raubt dem Ganzen alle Bedeutung.“942 Dass der Verfasser des Johannesevangeliums den Erzähler die Geschichte dennoch weiterspinnen lässt, ist somit mit Blick auf den Makrotext in erster Linie dem plot geschuldet. Es muss einen mit den Traditionen über Jesus von Nazareth vermittelbaren und plausibel in die Handlung integrierbaren Grund geben, warum der Protagonist des Evangeliums stirbt. Da die Tempelreinigung, die bei den Synoptikern den Ausschlag für Jesu Tötung gibt, als Erzählmotiv bereits verbraucht ist, erscheint die Lösung, die im Vierten Evangelium gefunden wird, durchaus schlüssig: Jesu Tod wird mit der Auferweckung des Lazarus, die aus theologischen Gründen eigentlich nicht erfolgen müsste, verknüpft. Möglicherweise ist diese Wendung der Evangelienhandlung von der Asklepios-Tradition beeinflusst. Der Sohn des Apollon muss auch sterben, weil er Tote wiederbelebt hat. Die Parallele zwischen dem Kreuzestod Jesu und dem Blitztod des Asklepios ist zwar eine rein vordergründige. Der johanneische Jesus und die in der vorliegenden Untersuchung ausführlich dargestellte literarische Figur Asklepios sind in vielfacher Hinsicht inkommensurabel. Vor allem handelt der Totenerwecker Jesus – als Sohn Gottes –, wie noch zu zeigen sein wird, nicht gegen den Willen seines Vaters. Asklepios, der Sohn Apollons, erregt hingegen mit seinen Wiederbelebungen den Zorn seines Großvaters Zeus. Wie aufgrund der vielfältigen 941 942
Vgl. KREMER, Lazarus, 67–69. WELLHAUSEN, Evangelium, 51. – Vgl. FISCHBACH, Totenerweckungen, 237: „Spätestens mit V.27 überkommt den Leser/die Leserin das Gefühl, die Geschichte sei zu Ende.“ Würde die Lazarus-Geschichte mit dieser „Pointe“ enden, dann dürfte man annehmen, dass Martha die Worte Jesu vollumfänglich versteht, glaubt sie doch, wie aus ihrer Figurenrede in Joh 11,24 hervorgeht, mit Blick auf ihren Bruder an eine ἀνάστασις ἐν τῇ ἐσχάτῃ ἡμέρᾳ. Darüber hinaus bringt sie in Joh 11,27 in einer Art „Glaubensbekenntnis“ auch das Vertrauen, das sie in Jesus setzt, zum Ausdruck: ναὶ κύριε, ἐγὼ πεπίστευκα ὅτι σὺ εἶ ὁ χριστὸς ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ ὁ εἰς τὸν κόσμον ἐρχόμενος. Nach ZIMMERMANN, Vorbild, 746, kann an dieser Stelle gefragt werden, warum es „nach diesem nicht mehr zu überbietenden Bekenntnisakt“ überhaupt noch „des ganzen Rests“ bedarf. Im weiteren Verlauf der Handlung gibt Martha aber in Joh 11,39 zu erkennen, dass ihr πιστεύειν an Jesus nicht ausreicht, um für möglich zu halten, dass dieser ihren Bruder am vierten Tag nach seinem Versterben lebendig aus dem Grab herausrufen kann. Deshalb wird sie von Jesus in Joh 11,40 mit Blick auf ihre Glaubensstärke getadelt. Diese Entwicklung des Geschehens ist allerdings im vierten Erzählabschnitt noch nicht absehbar.
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literarischen Belege für den Totenerwecker Asklepios gezeigt werden konnte, ist das Erzählmotiv: „der Totenerwecker kommt aufgrund seiner Wiederbelebung selbst ums Leben“, allerdings fest in der Enzyklopädie der johanneischen Modell-Leserschaft verankert. Somit muss nun untersucht werden, wie es genau in die Lazarus-Geschichte eingegangen ist. Im fünften Abschnitt, Joh 11,28–31, wendet der Erzähler seinen Blick vom Ortsausgang Bethaniens hinüber zum Trauerhaus, in dem Maria zurückgeblieben ist, als sich Martha auf den Weg gemacht hat. Diese Erzählpassage hat in erster Linie eine dramaturgische Funktion: es muss ein neuer Anlauf genommen werden, um den Faden der Handlung, die mit Jesu „Ich-bin-Wort“ eigentlich schon zu ihrem Höhepunkt gekommen ist, wiederaufzunehmen. Dem Protagonisten müssen Antagonisten gegenübergestellt werden, die den Zusammenhang zwischen dem weiteren Verlauf der Lazarus-Geschichte und der Gesamthandlung des Evangeliums herstellen können. Somit wird in Joh 11,28–30 zunächst die Figur der Maria, die bisher im Hintergrund geblieben ist, in den Vordergrund gerückt. Die beiden Schwestern agieren in dieser Erzählsequenz alternierend: Martha geht weg und holt Maria, Maria kommt zu der Stelle, an der Martha mit Jesus geredet hat. Der Aufbruch Marias wird, wie der Erzähler in Joh 11,31 berichtet, von den im Haus anwesenden Trauergästen insofern missverstanden, als sie annehmen, diese wolle zum Grab gehen. Deshalb folgen sie ihr. Für den weiteren Verlauf der Handlung sind genug neue Akteure rekrutiert: Maria, welche die Auferweckung des Lazarus initiieren kann – und Beobachter, die später darüber berichten können. Im sechsten Abschnitt, Joh 11,32–37, blickt der Erzähler auf denselben Handlungsort wie im vierten. Die Modell-Leserschaft erkennt, dass nun alle Zeichen auf eine bevorstehende Totenerweckung hindeuten: Maria verhält sich genau wie der Synagogenvorsteher Jairus, der für sein sterbendes bzw. totes Töchterlein bittet: sie wirft sich Jesus zu Füßen, sobald sie ihn sieht: ἔπεσεν αὐτοῦ πρὸς τοὺς πόδας (Joh 11,32).943 Mit denselben Worten wie ihre Schwester eröffnet sie das Gespräch mit ihm: κύριε, εἰ ἦς ὧδε οὐκ ἄν μου ἀπέθανεν ὁ ἀδελφός (ebd.), verhält sich also vergleichbar den beiden Müttern aus den Königebüchern, die um ihre toten Söhne trauern. Ihr in Joh 11,33 beschriebenes Verhalten weist darüber hinaus dann auch noch Parallelen944 zur Mutter des toten Jünglings zu Nain
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Vgl. Mk 5,22 (καὶ ἰδὼν αὐτὸν πίπτει πρὸς τοὺς πόδας αὐτοῦ) und Lk 8,41 (καὶ πεσὼν παρὰ τοὺς πόδας [τοῦ] Ἰησοῦ) mit Joh 11,32 (ὡς ἦλθεν ὅπου ἦν Ἰησοῦς ἰδοῦσα αὐτὸν ἔπεσεν αὐτοῦ πρὸς τοὺς πόδας). Vgl. auch LABAHN, Lebensspender, 424: „Die Proskynese als Motiv der Annäherung an den Wundertäter ist in antiken Wundergeschichten gut belegt.“ Vgl. THYEN, Erzählung, 200: „So scheint mir der Plot unserer Erzählung eine sehr freie Variation über das Thema, Die Auferweckung des Jünglings von Nain (Lk 7,11–17), zu sein. Hier wie da sind die Hinterbliebenen von Trauergästen umgeben. In beiden Erzählungen weinen (κλαίω) die Angehörigen, Maria und die Juden bei Joh und die Witwe bei Lk. Jesus ist davon tief betroffen: ἐσπλαγχνίσθη (Lk 7,13); ἐνεβριμήσατο τῷ πνεύματι καὶ ἐτάραξεν
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aus Lk 7,13 auf: sie weint. Überraschend und erklärungsbedürftig945 ist nun aber das Verhalten Jesu. Wenn dieser das Weinen der Maria und der sie begleitenden Trauerbesucher sieht, gerät er in Wut. Die Formulierungen, die der Erzähler für Jesu emotionale Befindlichkeit verwendet: ἐνεβριμήσατο τῷ πνεύματι καὶ ἐτάραξεν ἑαυτόν (Joh 11,33), sind im Sprachgebrauch des Griechischen eindeutig negativ konnotiert946 und dürfen nicht dahingehend „entschärft“ werden, dass man sie als Ausdruck eines heftigen Mit-Trauerns deutet.947 Das gilt auch für Joh 11,35, wenn es heißt: ἐδάκρυσεν ὁ Ἰησοῦς. Auch hier lassen sich Tränen des Zorns erkennen.948 Die Modell-Leserschaft wird an dieser Stelle der Geschichte vom Erzähler ein wenig alleingelassen, wenn es darum geht, Jesu Verhalten zu verstehen. Statt eine Erklärung zu liefern, baut der Narrator vielmehr ein weiteres Mal ein retardierendes Element ein, indem er keinen Fortgang der Handlung schildert, sondern wiederum zunächst eine verbale Reaktion wiedergibt, diesmal von Seiten der Trauergäste. Zum einen deuten sie Jesu Weinen als Ausdruck seiner Liebe zu Lazarus (Joh 11,36), zum anderen argumentieren sie in dieselbe Richtung wie Martha und Maria, wenn sie Jesus in Joh 11,37 zutrauen, dass er durchaus in der Lage gewesen wäre, den Tod des Lazarus zu verhindern, hätte er sich rechtzeitig auf den Weg gemacht. Im siebten und letzten Abschnitt, Joh 11,38–46, blickt der Erzähler – endlich – auf die Grabstätte des Lazarus. Das Erzähltempo steigert sich, kurze Redeeinheiten wechseln mit Handlungssequenzen, das Geschehen steuert auf einen (vermeintlich) zweiten Höhepunkt zu. Zu Beginn der letzten Erzähleinheit werden in Joh 11,38 noch einmal Jesu innere Befindlichkeit und die „Ausstattung des Spielortes“ geschildert: Ἰησοῦς οὖν πάλιν ἐμβριμώμενος ἐν ἑαυτῷ ἔρχεται εἰς τὸ μνημεῖον· ἦν δὲ σπήλαιον καὶ λίθος ἐπέκειτο ἐπ’ αὐτῷ. Die tiefere Bedeutung beider Informationen: Jesus ist wieder zornig,949 wenn er zum Grab kommt –
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ἑαυτόν (Joh 11,33). Hier wie da erhebt sich der Tote auf das Befehlswort Jesu hin und die Kunde von dem Wunder breitet sich rasch aus.“ Einen Überblick über unterschiedliche Erklärungsansätze bietet LEE, Narratives, 208–212. Vgl. auch LABAHN, Lebensspender, 424–426. Vgl. PASSOW I/2, 887, s. v. ἐμβριμάομαι: „darein schnauben“ (v. a. von Pferden). Vgl. SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 420f.; KREMER, Lazarus, 72f.; LINDARS, Rebuking, passim; WELCK, Zeichen, 222: „keine menschliche Herzensregung […], sondern Ausdruck eines bestimmten Zorns und einer spezifisch jesuanischen Traurigkeit, nämlich die über den Unglauben“; ZUMSTEIN, Johannesevangelium, 430f.; KOK, Healing, 233f. Vgl. WELCK, Zeichen, 222; FREY, Eschatologie 3, 438–440; INFANTE, Tears, 251f.: „Jesus shed tears out of frustration because of the continued failure of those around him, especially by people he loved (both Martha and Mary), to fully apprehend his real identity and believe in him.“ – SCHNACKENBURG, Johannesevangelium, 421, bietet folgende Erklärungsmöglichkeiten: der „mangelnde Glaube der Klagenden“ und die „Empörung gegen die Macht des Todes“, wobei er das erste Motiv für „viel wahrscheinlicher“ hält. Vgl. WELCK, Zeichen, 223: „Als weiterer massiver Ausdruck der Glaubenslosigkeit lösen Ausruf und Vorwurf VV. 36f – wie schon die Trauerszene VV. 32f – Jesu ‚Erzürnen‘ aus“.
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beim Grab handelt es sich um ein Höhlengrab, auf dem ein Stein liegt950 – kann die Modell-Leserschaft wiederum erst retrospektiv entschlüsseln.951 Der Grund für Jesu Zornig-Sein lässt sich erschließen, wenn man einen Zusammenhang erstellt zwischen vier Erzählelementen: 1. dem Verhalten von Maria, die mit ihrem Fußfall die Totenerweckung des Lazarus quasi einfordert, obwohl sie in eschatologisch-soteriologischer Hinsicht gar nicht notwendig ist, 2. der umherstehenden Menge, der Jesus in Joh 11,42 mangelnden Glauben attestiert, 3. Marthas Einwand, die auf Jesu Befehl hin, den Stein, der auf dem Grab liegt, anzuheben, in Joh 11,40 sagt: κύριε, ἤδη ὄζει, τεταρταῖος γάρ ἐστιν und 4. Jesu Figurenreden in Joh 11,40 und 11,41b.42. Während Jesus Marias Verhalten nur mit seinem Wutschnauben, aber nicht mit Worten kommentiert, wird er gegenüber Martha deutlicher. Diese hatte in Joh 11,27 ein Glaubensbekenntnis abgelegt, das ihm attestierte, der Christus und der Sohn Gottes zu sein, der in die Welt kommt. Wenn dieser Christus und Sohn Gottes dann die Anweisung gibt, den Grabstein zu heben, fällt sie ihm mit dem Hinweis auf den zu erwartenden Verwesungsgeruch quasi in die Parade.952 Somit sieht sich Jesus genötigt, ihre Glaubensstärke anzuzweifeln,953 was in seiner emotionalen Befindlichkeit und in seiner wörtlichen Rede in Joh 11,40 zum Ausdruck kommt: οὐκ εἶπόν σοι ὅτι ἐὰν πιστεύσῃς ὄψῃ τὴν δόξαν τοῦ θεοῦ;954 Dass die Wiederbelebung des Lazarus nicht nur eine glaubensstärkende Funktion für Jesu Jünger und die bethanischen Schwestern, sondern auch eine glaubensinitiierende Funktion mit Blick auf die mitgekommene Menge hat, spricht Jesus in seinem Dankgebet in Joh 11,41b.42 aus: πάτερ, εὐχαριστῶ σοι ὅτι ἤκουσάς μου. ἐγὼ δὲ ᾔδειν ὅτι πάντοτέ μου ἀκούεις, ἀλλὰ διὰ τὸν ὄχλον τὸν περιεστῶτα εἶπον, ἵνα πιστεύσωσιν ὅτι σύ με ἀπέστειλας. Wenn Jesus mit seinem Befehl, den Stein zu heben – darauf referiert das Wort εἶπον – letztendlich die Wiederbelebung des Lazarus initiiert, geschieht dies nicht um des Verstorbenen willen, sondern wegen der anwesenden Menge. Wie in der Rückschau deutlich werden wird, geht Jesu Kalkül auf. In Joh 11,45 notiert der Erzähler: Πολλοὶ οὖν ἐκ τῶν Ἰουδαίων οἱ ἐλθόντες πρὸς τὴν Μαριὰμ καὶ θεασάμενοι ἃ ἐποίησεν ἐπίστευσαν εἰς αὐτόν. Es lässt sich somit resümierend festhalten, dass Jesus zornig und traurig wird, weil sich die Wiederbelebung des Lazarus in zweierlei Hinsicht als unumgänglich erweist: zum einen deshalb, weil 950
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Vgl. zu den Grabtypen, welche die Modell-Leserschaft imaginieren kann: ZIMMERMANN, Vorbild, 752. Vgl. ZIMMERMANN, Vorbild, 747: „Es bleibt dem Leser überlassen, worauf er den Zorn Jesu genau beziehen möchte.“ Vgl. WELCK, Zeichen, 219: „Ihr Einwand V. 39b […] zeigt […] nicht nur, daß sie Jesus als Christus, Gottessohn, ‚den Kommenden‘ (V. 27) noch nicht wirklich erkannt hat, sondern eben auch, daß sie seinen Worten – hier insbesondere VV. 23.25f – nicht in der unbedingten existentiellen Weise vertraut“. Vgl. LEE, Narratives, 213. Genau genommen hatte Jesu von der δόξα τοῦ θεοῦ den Jüngern gegenüber gesprochen (Joh 11,4), allerdings in der programmatischen Aussage, die den hermeneutischen Schlüssel für die gesamte Erzählung beinhaltet.
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der Glaube der ihn Umgebenden nicht vorhanden oder nicht stark genug ist, zum anderen deshalb, weil ein derart aufsehenerregendes Ereignis notwendig ist, um den Machthabenden einen Grund zu geben, ihn zu töten. Dass ein besonderes Merkmal dieser Totenerweckung – anders als das bei denjenigen der Fall ist, die aus den synoptischen Erzählungen bekannt sind – darin besteht, eng mit dem Geschick des johanneischen Jesus abgeglichen zu sein, zeigt sich in Joh 11,38b.41 in einer Motivüberschneidung: Der auf dem Grab des Lazarus liegende Stein ist ein Detail, das sich in der der Beschreibung wiederfindet, die der Erzähler von der Bestattung Jesu gibt. Beider Gräber sind mit einem Stein (λίθος) verschlossen, der später weggenommen wird.955 Ihr ganz eigentümliches Profil erhält die Wiederbelebung des Lazarus, wenn ihre narrative Darstellung in Joh 11,41–44 den zum Vergleich zur Verfügung stehenden antik-jüdischen und frühchristlichen Totenerweckungserzählungen gegenübergestellt wird: Der johanneische Jesus bedarf, um einen Toten wiederzubeleben – anders als Elia, Elisa und Petrus (in der Tabitha-Episode) – keiner göttlichen Unterstützung, um die er Gott in Form eines Gebetes zunächst ersuchen müsste.956 Jesus spricht in Joh 11,41f. – wie bereits erwähnt – ein Dankgebet, was zeigt, dass er in enger Verbindung mit Gott handelt, von diesem für seine Aktionen aber nicht erst autorisiert werden muss.957 Jesus agiert auch nicht in Abgeschiedenheit, der Aufmarsch bzw. die Anwesenheit von externen Beobachtern wird in Joh 11,31.33.42 explizit erwähnt.958 Für eine im frühchristlichen Kulturkreis zu verortende Totenerweckungserzählung ist es zudem auffällig, dass Jesus keine Berührung des Toten vornimmt959 und zur Initiierung der Wiederbelebung einen perlokutionären Sprechakt vollzieht, der keine gängige „Fachterminologie“ aufweist.960 Der johanneische Jesus bleibt stattdessen draußen vor dem Grab und verwendet anstelle eines Imperativs von ἐγείρειν oder ἀνιστάναι die aus einem Vokativ und zwei Adverbien bestehende Formulierung: Λάζαρε, δεῦρο ἔξω. Noch bemerkenswerter ist dann aber das Bild, das der aus dem Grab herauskommende Lazarus abgibt: eine groteske Erscheinung,961 an Händen und Füßen mit Tüchern umwickelt, unfähig zu sehen, wo er hingeht, da sein Gesicht noch von einem Schweißtuch umbunden ist (Joh 11,44).962 Angesichts seines äußeren 955 956 957 958 959 960 961
962
Vgl. Joh 11,38.41 mit Joh 20,1. Vgl. Joh 11,41.42 mit 1 Kön 17,20f.; 2 Kön 4,33 und Apg 9,40. Vgl. zum Gebet: LABAHN, Lebensspender, 430–432; FREY, Eschatologie 3, 415 und 441f. Vgl. Joh 11,31.33.42 mit Mt 9,25; Mk 5,40; Lk 8,51. Vgl. Joh 11,38.41 mit Mt 9,25; Mk 5,41; Lk 8,54; Apg 20,10. Vgl. Joh 11,43 mit Mk 5,41; Lk 7,14; 8,54 (ἐγείρειν); Apg 9,40 (ἀνιστάναι). Vgl. FREY, Leiblichkeit, 305: „Höchst auffällig ist dann, wie der Totgewesene […] aus dem Grab kommt: ‚gebunden mit Leichentüchern an Füßen und Händen‘, d. h. als eine ‚Wickelleiche‘, die eigentlich unfähig zu gehen ist. Die Groteske wird noch gesteigert durch die Angabe (V. 44): ‚und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt.‘“ In der Forschung wird vielfach darauf hingewiesen, dass in den „Ausstattungsdetails“ Übereinstimmungen zwischen der Wiederbelebung des Lazarus und der Auferstehung
302
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Erscheinungsbildes verwundert es nicht, dass der Erzähler den Wiederbelebten immer noch als ὁ τεθνηκώς bezeichnet. Die Sterblichkeit des wiederbelebten Lazarus zeigt sich dann wenige Verse später, wenn in Joh 12,10 die Hohenpriester beratschlagen, nicht nur Jesus, sondern auch Lazarus zu töten. Dass die von Elia, Elisa, Jesus oder Petrus Wiederbelebten im Figurenensemble der jeweiligen Totenerweckungserzählungen eher als Objekte, vermittels derer sich die Totenerwecker profilieren können, denn als Subjekte, die nach ihrer Wiederbelebung im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, betrachtet werden, ist bei der Untersuchung der entsprechenden Geschichten herausgearbeitet worden. Dies gilt in besonderer Weise für die Figur des Lazarus in Joh 11:963 seine Figurencharakterisierung enthält – abgesehen von der Information, dass Jesus ihn liebte – keinerlei Hinweise darauf, was für ein Mensch er war; sein äußeres Erscheinungsbild bleibt im Ungewissen, weil er der Leserschaft ja nur in Form einer „Wickelleiche“ präsentiert wird; nachdem er das Grab verlassen hat, verschwindet er zunächst aus dem Blickfeld des Erzählers. Wie man ihn von seinen Umwickelungen befreit, ist nicht mehr dargestellt. Als literarische Figur wird er von der Leserschaft als vom (physischen) Tode gezeichnet erinnert. Auch Marthas Hinweis, dass er am vierten Tag nach Eintritt des Todes Verwesungsgeruch aufweise, hat einen gewissen recency effect, der dazu beiträgt, den aus dem Grab herauskommenden τεθνηκώς als merkwürdig bizarre und unangenehm riechende Erscheinung zu imaginieren. Im Blick auf den weiteren Fortgang der Handlung ist zwar positiv zu verzeichnen, dass durch seine Wiederbelebung weitere an Jesus Glaubende gewonnen werden. So wird in Joh 11,45 kurz darauf verwiesen, dass das von Jesus in Joh 11,42 angezeigte (vordergründige) Ziel seines totenerweckenden Handelns: διὰ τὸν ὄχλον τὸν περιεστῶτα εἶπον, ἵνα πιστεύσωσιν, erreicht worden ist: Πολλοὶ οὖν ἐκ τῶν Ἰουδαίων οἱ ἐλθόντες πρὸς τὴν Μαριὰμ καὶ θεασάμενοι ἃ ἐποίησεν ἐπίστευσαν εἰς αὐτόν. Dieser „missionarische Gewinn“ ist aber mit einem Verlust an Ungefährdetheit des johanneischen Jesus erkauft: das Synhedrium wird den Fall des Lazarus zum Anlass nehmen, gegen Jesus vorzugehen. Somit verwundert es nicht, dass die Lazarus-Geschichte mit einem Erzählerkommentar endet, der aufgrund des mit ihm verbundenen recency effects einen negativen Schatten auf den Handlungsverlauf der gesamten Episode legt: τινὲς
963
Jesu bestehen (vgl. STIBBE, Tomb, 52f.), wobei betont wird, dass zwischen den auf den ersten Blick ins Auge fallenden Gemeinsamkeiten bei genauerem Hinsehen gravierende Unterschiede bestehen (vgl. LEE, Narratives, 214–216): Lazarus kann sich nicht aus eigener Kraft aus seinen Umwickelungen befreien. Jesus muss die Umstehenden erst dazu aufrufen, ihm dabei zu helfen. Jesus kann sich dann aber bei seiner eigenen Auferstehung selbstständig der ihm bei seiner Bestattung angelegten Tüchern entledigen und sein Grab anschließend dann auch noch „aufgeräumt“ verlassen (vgl. WEREN, Death, 273). Auch unter diesem Aspekt erscheint die Wiederbelebung des Lazarus aus der Retrospektive als defizitär. Vgl. STIBBE, Tomb, 48: „His is an entirely passive role“; vgl. auch LEE, Narratives, 189.
17 Joh 11,1–46: Jesus und Lazarus
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δὲ ἐξ αὐτῶν ἀπῆλθον πρὸς τοὺς Φαρισαίους καὶ εἶπαν αὐτοῖς ἃ ἐποίησεν Ἰησοῦς (Joh 11,46). Die Wiederbelebung des Lazarus hat als erzählte Handlung des johanneischen Jesus keinen theologischen Wert in sich selbst. Sie bleibt innerhalb der erzählten Welt des Johannesevangeliums ein einmaliges Ereignis und hat in ihrem Ergebnis ein recht kurzes Verfallsdatum: schon wenige Tage später will das Synhedrium dem frisch Reanimierten schon wieder ans Leben (Joh 12,10).964 Was in der Lazarus-Geschichte eigentlich wichtig ist, das sind nicht die Taten, sondern die Worte Jesu. Der Erzählhöhepunkt liegt in seinem „Ich-bin-Wort“ in Joh 11,25–26, das inhaltlich direkt an seine programmatische Aussage in Joh 11,4 anknüpft. In einem Erzähltext müssen die wörtlichen Reden der Figuren allerdings durch Handlungen motiviert werden, wobei es dann von der „Regie“ der Erzählstimme abhängt, wie beide Erzählanteile zu gewichten sind. In der Lazarusgeschichte überwiegt eindeutig die Bedeutsamkeit des verbalen Quantums. Im Rückblick erschließt sich dann auch, warum in Joh 11,1–3, der Exposition der Erzählung, so auffällig oft von der ἀσθένεια das Lazarus die Rede ist – ohne dass näher darauf eingegangen würde, woran er eigentlich körperlich leidet. Der kranke, nicht der wiederbelebte Freund Jesu ist die eigentliche Identifikationsfigur für die Leserschaft. „Krankheit“, verstanden als signum des menschlichen Lebens, das grundsätzlich immer unter den Vorzeichen seiner physischen Begrenztheit steht, führt diejenigen, die glauben, eben nicht in den ewigen Tod. Eingebunden in das komplizierte Handlungsgeflecht des gesamten Johannesevangeliums, das ja auch noch Tod und Auferstehung seines Protagonisten dramaturgisch nachvollziehbar in sein Handlungsgerüst integrieren muss, wird somit von der Krankheit des Lazarus – über den Umweg seiner Wiederbelebung – erzählt ὑπὲρ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ, ἵνα δοξασθῇ ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ δι’ αὐτῆς (Joh 11,4). Motivparallelen aus bekannten Totenerweckungserzählungen werden dabei geschickt verwendet, um den Aktionsverlauf nachvollziehbar zu machen. Die Vorstellung von der reversio animae wird allerdings nicht aktualisiert, weil sie der Wiederaufnahme des physischen Lebens eine Bedeutung zukommen ließe, die sie angesichts der avisierten Betonung des ewigen Lebens nicht erhalten soll. Bevor nun im Schlusskapitel eine Zusammenschau der wichtigsten Ergebnisse der gesamten Untersuchung präsentiert wird, sei zum Abschluss das Zwischenergebnis von Teil II vorgestellt: Der in Bezug auf die im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung besprochenen Erzählungen geltende Forschungskonsens: dass sie von ihrer Leserschaft ein- und derselben Textsorte subsumiert werden können: den
964
Vgl. WEREN, Death, 257, der darauf hinweist, dass Lazarus in Joh 12 zwar dreimal als derjenige bezeichnet wird, den Jesus aus Toten erweckt hat (Joh 12,1.9.17). „In this case, ‚to raise‘ (ἐγείρω) means that, thanks to Jesus, he was able to resume his earlier, mortal existence, which implies that ultimately he would die again. That could even happen in the short term: the Jewish leaders were planning to liquidate not only Jesus but also Lazarus“.
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Totenerweckungserzählungen, hat sich bestätigt.965 Folgende Merkmale sind typisch für frühchristliche Totenerweckungserzählungen, müssen aber – abgesehen vom zuerst genannten – nicht in jedem Gattungsexemplar vorkommen: – Die Figurenkonstellation: ein vorzeitig verstorbener Mensch, Jesus oder Petrus als Totenerwecker und trauernde Angehörige. – Das setting: ein abgesonderter Raum. – Ein erzählerisches Mittel: das spannungssteigernde retardierende Moment. – Ein Gestus: Fußfall des Angehörigen, der um Wiederbelebung bittet, vor Jesus. – Der Impuls zur Wiederbelebung: ein perlokutionärer Sprechakt. – Funktionsweise der Wiederbelebung: reversio animae. – Verwendete Wiederbelebungsterminologie: ἐγείρειν und ἀνιστάναι. – Fokus des Erzählers: auf dem Totenerwecker, nicht auf der toten Person. – Intertextuelle Bezugnahmen: auf die Wiederbelebungserzählungen aus 1 Kön 17,17–24 und 2 Kön 4,8–37 – weitgehende Ausblendung der „paganen“ Vergleichstexte. – Theologische „Grundierung“: der Totenerwecker handelt im Einvernehmen mit Gott bzw. wie Gott.
965
Einschränkend ist zu ergänzen: Apg 20,7–12 (Paulus und Eutychos) ist keine vollständig ausgeführte Totenerweckungserzählung, spielt aber mit Elementen der Gattung.
18
Ergebnis und Ausblick
Mit der Gattung „Totenerweckungserzählungen“ liegt eine Textsorte vor, die sich in der Antike für den langen Zeitraum 6. Jh. v. Chr. bis Ende 1. Jh. n. Chr. kulturübergreifend sowohl für den „paganen“ als auch für den jüdisch-christlichen Bereich nachweisen lässt, wenn man der Genrezuordnung ein schlichtes inhaltliches Kriterium zugrunde legt: Eine Totenerweckungserzählung handelt davon, dass ein vorzeitig verstorbener Mensch von einem Totenerwecker wiederbelebt und seinen trauernden Hinterbliebenen zurückgegeben wird. Das frühe Christentum entwickelt diese Gattung somit nicht neu, wenn es sechs diesem Kriterium entsprechende Geschichten in die später neutestamentlich werdenden Evangelien und die Apostelgeschichte eingehen lässt. Vor dem Hintergrund der Vergleichstexte aus dem antiken Judentum und der „paganen“ Literatur des Altertums heben sich diese frühchristlichen Erzählungen allerdings in ihrer Besonderheit als spezielles Textcorpus mit spezifischen Merkmalen ab. Dieses Untersuchungsergebnis sei nun noch einmal gebündelt dem dreiteiligen Aufriss des Buches entsprechend dargestellt. Das hervorstechendste inhaltliche (und damit auch theologische) Merkmal der antik-jüdischen Wiederbelebungs- und Totenerweckungserzählungen, die in Teil I behandelt werden, besteht darin, dass JHWH/Gott als der eigentliche Totenerwecker fungiert, dessen Handeln durch die beiden Mittlerfiguren Elia und Elisa in ritualsymbolischen Akten: den Synanachroseis, performativ dargestellt wird. Das Vorhandensein von Wiederbelebungserzählungen in den Königebüchern lässt sich religionsgeschichtlich folgendermaßen erklären: JHWH, der zunächst ausschließlich als ein Gott der Lebenden ohne Zuständigkeit für die Toten angesehen wird, erhält im Laufe der Zeit eine „Kompetenzerweiterung“. Diese „erweiterte Zuständigkeit“ auch für die Toten kann in Dtn 32,39 oder 1 Sam 2,6 thetisch behauptet, in den Königebüchern dann aber auch in narrativer Form entfaltet werden. Das Bild von JHWH als Totenerwecker steht in engem Zusammenhang mit seiner Konzeptualisierung als Schöpfergott. Menschliches Leben kann gemäß Gen 2,7 erst dann beginnen, wenn „die Gattung Mensch“ über die von Gott eingeblasene „Lebenskraft“ ( ִנְשַׁמת ַח ִיּים/ ֶנֶפשbzw. ψυχή/πνεῦμα resp. anima) verfügt. Individuelles menschliches Sterben geht einher mit dem Schwinden dieser „Lebenskraft“, das sich über drei Tage hinzieht. Insbesondere in der hebräischen Fassung von Sir 48,5, in dem der von Elia erweckte Tote mit „( גועeiner, der gerade gestorben ist“) bezeichnet wird, kommt zum Ausdruck, dass zwischen verschiedenen Stadien des Todes unterschieden wird. Bis zum vollständigen Vergehen der „Lebenskraft“ existiert somit ein Zeitfenster, in dem Gott bzw. die von ihm beauftragten Mittler Elia und Elisa eine reversio animae initiieren können, die zu einem Wiederaufleben des Verstorbenen führt. In den beiden
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Wiederbelebungserzählungen der Königebücher (und in deren retelling in Josephus’ Antiquitates) wird für das Reanimieren gerade Verstorbener nicht die ἐγείρειν-/ἀνιστάναι-Terminologie verwendet, die sich im Buch „Jesus Sirach“ und in denjenigen Erzählungen finden lässt, welche in den Vitae Prophetarum vom Wieder-lebendig-Machen handeln. In den Königebüchern und bei Josephus werden die Ausdrücke ζῆν, ζωοποιεῖν, ζωπυρεῖν, ἁναβιοῦν und ἀναζωπυρῆσαι verwendet. Dieser sprachliche Befund lässt sich damit erklären, dass zur Zeit der Entstehung bzw. redaktionellen Bearbeitung der Elia-/Elisa-Geschichten die metaphorische Rede vom „Tod als Schlaf“ und damit die Konzeptualisierung einer Reanimation als „Aufwecken“ noch nicht voll etabliert war. Die von Josephus im 1. Jh. n. Chr. verwendete Terminologie deutet darauf hin, dass er den „Rationalisten“ in seiner empirischen Leserschaft eine alternative Lesart der Elia-/ElisaErzählungen ermöglichen wollte, welche die Wiederbelebten als eigentlich noch nicht „ganz Tote“ konzeptualisiert. Im Hintergrund der ἐγείρειν-/ἀνιστάναι-Metaphorik steht die Wahrnehmung, dass das äußere Erscheinungsbild von Menschen, die im Sterben liegen bzw. gerade eben verstorben sind, dem von Schlafenden gleicht. Eine Wiederbelebung Verstorbener lässt sich somit analog zum Aufwecken von Schlafenden konzeptualisieren. Wahrscheinlich in Aufnahme des Sprachgebrauchs von Jes 26,19 und Dan 12,1–3 – Textstellen, in denen die Hoffnung auf die „Auferstehung Toter“ mit Formen von ἐγείρειν und ἀνιστάναι versprachlicht wird – setzt sich diese Terminologie in jüngeren jüdischen und christlichen Totenerweckungserzählungen durch – und entspricht damit auch der Wortwahl, die in „paganen“ Diskursen über die Wiederbelebung von Toten seit der klassischen Gräzität vorherrscht. Hinsichtlich der Figurenzeichnung fällt bei der Betrachtung der antik-jüdischen Totenerweckungserzählungen auf, dass der Figur des Wiederbelebten überwiegend eher ein Objekt-Status zufällt. Der Blick der Erzählinstanz ruht vornehmlich auf Elia und Elisa sowie auf den Angehörigen, die um den zu früh Verstorbenen trauern. Die Wiederbelebung des Betrauerten erscheint somit auch als ein Akt des Erbarmens JHWHs/Gottes mit den Hinterbliebenen. Die in Teil II besprochenen antiken Totenerweckungserzählungen aus dem „paganen“ Literaturbetrieb zeichnen sich im Unterschied zu den jüdischen Gattungsparallelen dadurch aus, dass in ihnen die beiden Totenerweckerfiguren Polyidos und Asklepios – andere Totenerwecker sind nicht belegt – unabhängig von einer Gottheit oder sogar gegen den Willen des Zeus agieren. Polyidos ist als Mantiker in der Lage, mehr zu sehen als andere. Somit kann er sich die Beobachtung des Verhaltens von Schlangen, chthonischen Wesen par excellence, zunutze machen, die ein Kraut anzuwenden wissen, das Tote wieder lebendig macht. Grundsätzlich „funktioniert“ in den Polyidos-Geschichten eine Totenerweckung somit als Kräutertherapie. Derartiges phytologisches Wissen wird auch der Erzählfigur Asklepios bei der Wiederbelebung des zerschundenen Körpers des Hippolytos zugeschrieben. (In den „Metamorphosen“ des Ovidius bereitet der
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Getötete seine Wiederbelebung durch ein Heilbad im Hades-Fluss Phlegethon selbst vor. Die endgültige Reanimation wird dann durch Asklepios’ Kräuter vollzogen.) Das weitere Schicksal des Asklepios: er wird von Zeus mit dem „Blitztod“ bestraft und findet sich dann als Ophiuchus am Himmel wieder, verdeutlicht, dass er in den erzählten Welten, in denen er als Protagonist fungiert, mit der Anwendung seines überragenden heilkundlichen Wissens seine Kompetenzen als sterblicher Arzt überschreitet. Sein totenerweckendes Agieren wird im griechisch-römischen Schrifttum vielfach auch in diskursiven Texten thematisiert. In diesen Quellen wird er unterschiedlich charakterisiert: entweder als geldgieriger Arzt, der aus Gewinnsucht sogar Tote „behandelt“, oder als ein renitenter Sterblicher, der seine herausragenden ärztlichen Fähigkeiten vor allem Menschen zugutekommen lässt, die zu Lebzeiten das Missfallen der Götter erregt haben. Die „paganen“ Totenerweckungserzählungen sind zu lesen vor dem Hintergrund antiker griechischer und römischer anthropologischer und theologischer Konzepte, in denen sich Menschen von Göttern kategorial dadurch unterscheiden, dass sie im Gegensatz zu den Göttern sterblich sind. Ein „ewiges Leben“ ist für Menschen nicht vorgesehen. Die postmortale Existenz der ψυχή eines Verstorbenen im Hades stellt kein Äquivalent zu einem „Leben nach dem Tod“ gemäß christlicher Vorstellung dar. Somit sind Totenerweckungen im „paganen“ Raum als exzeptionelle Grenzüberschreitungen konzeptualisiert – und nicht etwa als Vorzeichen einer zu erhoffenden Unsterblichkeit für alle moribundi. Folglich wird eine Totenerweckung – obwohl mental vorstellbar – in diesem kulturellen Milieu – mit Blick auf die empirische Realität – grundsätzlich für unmöglich gehalten. Diese Einstellung kommt deutlich in der rationalistischen Version des Mythos von der Wiederbelebung des Glaukos zum Ausdruck, die sich in Palaiphatos’ Περὶ ἀπίστων findet. Eine ähnliche Position vertritt Euripides in seinem Drama „Alkestis“. In diesem Schauspiel wird auf burlesk-groteske Weise präsentiert, dass es zwar die Vorstellung davon gibt, die Schatten der Verstorbenen könnten wieder aus dem Hades herausgeführt werden bzw. eine Tote könne dem Gott des Todes kurz nach dem Versterben wieder (im wörtlichen Sinne) abgerungen werden. Da sich in diesem Drama die vermeintliche Totenerweckung aber letztendlich als eine Täuschung darstellt, manifestiert sich die Überzeugung, dass das Wiederbeleben von Toten allenfalls eine „unmögliche Möglichkeit“ darstellt. Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle, dass Josephus in seinen Versionen der Wiederbelebungserzählungen aus den Königebüchern, die sich in den Antiquitates finden, der generellen Skepsis gegenüber Reanimationen, die den „paganen“ Teil seiner intendierten Leserschaft auszeichnet, entgegenkommt. Wenn Josephus’ Erzähler über den Zustand derjenigen berichtet, an denen Elia und Elisa handeln, verwendet er Formulierungen, die es offenlassen, ob die von den Propheten Wiederbelebten „tatsächlich“ tot waren (δόξαι νεκρόν, ἀναζωπυρῆσαι).
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Eine weitere, mit dem Konzept der „Totenerweckung“ verwandte, aber nicht identische Vorstellung des Altertums ist die des „Scheintodes“. In den antiken Romanen wird das Phänomen thematisiert, dass ihre wie tot daliegenden Heldinnen nach einer Weile von selbst wieder aufleben. In literarischen Traditionen, die von Empedokles oder Asklepiades von Bithynien handeln, werden diese beiden als hervorragende Ärzte dargestellt, die über die Fähigkeit verfügen, in Menschen, die tot zu sein scheinen, noch einen Rest von Leben zu entdecken und diese somit vor einer Bestattung „bei lebendigem Leibe“ zu bewahren. Diese literarischen Traditionen, die das „Scheintod“-Phänomen aufweisen, spiegeln die in der Antike begrenzten medizinischen Fähigkeiten wider, den Todeszeitpunkt eines im Sterben liegenden Menschen exakt zu bestimmen. Ähnlich wie im jüdischen Milieu wird das Sterben auch im „paganen“ Bereich als prozessual konzipiert. In Teil I und II werden die älteren Totenerweckungserzählungen nicht ausschließlich um ihrer selbst willen untersucht, sondern insbesondere deswegen, weil sie vor dem Hintergrund des in der vorliegenden Untersuchung vertretenen interaktionistischen Ansatzes zur Enzyklopädie der idealen (zeitlich im 1. Jh. n. Chr. zu verortenden) Leserschaft frühchristlicher Totenerweckungserzählungen gehören. Es wird davon ausgegangen, dass die Modell-Leserschaft dieser neutestamentlich gewordenen Erzählungen im Rezeptionsvorgang nicht nur die in den einzelnen Texten vorliegenden Informationen erfasst, sondern beim Lesen und Interpretieren des Gelesenen auch ihr enzyklopädisches Wissen, zu dem die Kenntnis von älteren Gattungsexemplaren gehört, aktualisiert. Die Bedeutung dieser Texte, die von Wiederbelebungen Toter handeln, liegt somit nicht ausschließlich in ihnen selbst, sondern ergibt sich aus dem Zusammenwirken von Textinhalt und epistemischer Vor-Ausrichtung der Leserschaft. Unter der Voraussetzung, dass es für jede Erzählung eine ideale Leserschaft gibt: die Modell-Leserschaft, die in der Lage ist, alle Anspielungshorizonte, die eine Geschichte aufrufen kann, zu erkennen, ist es notwendig, dass wir als heutige Leserschaft die zeitgenössische Enzyklopädie aufarbeiten, die zu einem optimalen Textverständnis notwendig ist. Mit Blick auf die in Teil III untersuchten „neutestamentlichen“ Totenerweckungserzählungen ist zunächst grundsätzlich festzustellen, dass die frühchristlichen Texte stärker auf die jüdischen als auf die „paganen“ Gattungsparallelen zurückgreifen. Die erzählten Totenerweckungen geschehen in den erzählten Welten der Evangelien und der Apostelgeschichte im Einvernehmen mit Gott. Hinzu kommt aber, dass die im antik-jüdischen Bereich ausschließlich Gott vorbehaltene Kompetenz, Tote (durch Mittlerfiguren) wiederzubeleben, in den frühchristlichen Totenerweckungserzählungen auch Jesus zugesprochen wird. Petrus hingegen übernimmt in Apg 9,36–43 die „traditionelle“ Rolle der Mittlerfiguren Elia und Elisa. Im Einzelnen lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse zu den sieben untersuchten Geschichten folgendermaßen zusammenfassen:
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In der ältesten frühchristlichen Totenerweckungserzählung, die sich in Mk 5,21–43 findet, ist diese „Kompetenzerweiterung Jesu“ noch nicht so stark ausgeprägt wie in ihren synoptischen Parallelen. Die Modell-Leserschaft des Markusevangeliums aktualisiert bei der markinischen Version von „Jairi Töchterlein“ schwerpunktmäßig die Elia-/Elisa-Tradition: setting, Figurenkonstellation und Handlungselemente weisen Parallelen zu den Erzählungen aus den Königebüchern auf. Allerdings vollzieht der markinische Jesus kein symbolisches Ritual, das einer Synanachrosis vergleichbar wäre, wenn er sich dem vor ihm darniederliegenden Kind zuwendet. Dass er dazu befähigt ist, das Mädchen durch einen perlokutionären Akt zum Aufstehen zu bringen, wird jedoch explizit auf die δύναμις, die ihm von Gott zukommt, sowie auf die πίστις, welche der Vater des Kindes Gott entgegenbringt, zurückgeführt. Insofern kommt dem markinischen Jesus im Hinblick auf seinen Status eine ähnliche Mittlerfunktion wie den Propheten Elia und Elisa zu. Ein Alleinstellungsmerkmal von Mk 5,21–43 besteht in der Ambiguität dieser Geschichte, was die Frage anbetrifft, ob es sich bei ihr um eine Heilungs- oder eine Totenerweckungserzählung handelt. Da es die Erzählstimme offenlässt, ob die Tochter des Synagogenvorstehers „wirklich“ tot ist oder nur schläft, aktualisiert diese Geschichte nicht nur die Elia-/Elisa-Tradition, sondern auch die für alle kulturellen Sparten der Antike zu konstatierende Problematik, den genauen Zeitpunkt des Todeseintritts nicht exakt bestimmen zu können. Das Agieren Jesu in den Totenerweckungserzählungen des Matthäus- und des Lukasevangeliums wird hingegen eindeutig als Wiederbeleben von Toten dargestellt. Dass im Rezeptionsvorgang dieser Erzählungen nicht infrage gestellt wird, ob Jesus tatsächlich Tote auferweckt (und nicht etwa Schlafende oder „Scheintote“ aufweckt), beruht auf Vorgaben der jeweiligen Makro-Texte, in welche die Totenerweckungserzählungen eingebettet sind. Es gehört in den erzählten Welten des Ersten und Dritten Evangeliums zu Jesu „Programm“, die jesajanischen Verheißungen vom Aufstehen der Toten wenigstens punktuell an ausgewählten Erzählfiguren umzusetzen. Im literarischen Raum der Apostelgeschichte wird an der Wiederbelebung der Tabitha deutlich, wie (Jesus Christus als) der κύριος „von oben“ in das irdische Geschehen einwirken kann, sodass Petrus als sein Mittler zu agieren vermag. Die Auferweckung des Lazarus im 11. Kapitel des Johannesevangeliums lässt sich als Umsetzung der in Joh 5,25 zu findenden Ankündigung verstehen, dass die Stunde nahe sei, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören und leben werden. Die matthäische Version von „Jairi Töchterlein“ stellt insofern eine Besonderheit dar, als Jesus in ihr ausschließlich als selbstständig agierender Totenerwecker präsentiert wird und – anders als in der Markus-Parallele – nicht als Heiler erscheint. Alle Anhaltspunkte aus der markinischen Vorlage, die ihn mit Ärzten vergleichbar machen, sind getilgt. Gleichzeitig weist Mt 9,18–26 keinerlei Indizien auf, welche die Modell-Leserschaft dazu veranlassen würde, Jesus mit
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Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
Polyidos oder Asklepios zu vergleichen. Diese Erzählung aktualisiert ausschließlich die antik-jüdische Sektion der Enzyklopädie ihrer idealen Leserschaft. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Totenerweckungserzählungen des lukanischen Doppelwerkes dadurch aus, dass sie nahezu die gesamte kulturelle Spannbreite der epistemischen Vor-Ausrichtung ihrer idealen Leserschaft evozieren. So profiliert sich die lukanische „Jairi-Töchterlein“-Version (Lk 8,40–56), indem sie die Wiederbelebung des Kindes einerseits – wohl mit Blick auf den „judenchristlichen“ Anteil der intendierten Leserschaft – in die Elia-/Elisa-Tradition einschreibt. Die Wiederbelebung des Mädchens wird als „echte“ reversio animae konzeptualisiert, denn der Erzähler konstatiert in Lk 8,55 mit Blick auf die Tochter des Jairus: καὶ ἐπέστρεψεν τὸ πνεῦμα αὐτῆς. Andererseits wird in dieser Erzählung durch die Einführung der πνεῦμα-Terminologie auch die Enzyklopädie des „paganen“ Teils der anvisierten Rezipierenden berücksichtigt und die Anschlussfähigkeit an die „pneumatische Medizin“ oder mythologische Vorstellung von aus Toten entweichenden „Psychen“ hergestellt. Die lukanische Erzählung vom Jüngling zu Nain erhält ihr Profil durch ihr räumliches setting: der Handlungsort ist kein abgeschlossener Raum, sondern die Bestattungsstätte vor den Toren der Stadt – darüber hinaus aber auch durch die besondere Anteilnahme, die Jesus der um ihren Sohn trauernden Witwe entgegenbringt. Die Geschichte von Petrus und Tabitha (Apg 9,36–43) zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich zum einen besonders eng an die aus den Königebüchern bekannte genre-typische Motivik hält, die „alttestamentlichen Vorgaben“ aber dahingehend überbietet, dass – neben Gott – auch der erhöhte Jesus (Christus) als derjenige anzusehen ist, der als eigentlicher Verursacher der Totenerweckung gilt. Die Erzählung von Paulus und Eutychos in Apg 20,7–12 zeigt, aus produktionsästhetischer Perspektive betrachtet, dass der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes die Möglichkeiten der Gattung „Totenerweckungserzählung“ offensichtlich für ausgereizt hielt – und somit die Modell-Leserschaft veranlasst, bei der Lektüre dieser Geschichte von einer nicht notwendig gewordenen Wiederbelebung des Eutychos intellektuelles Vergnügen daran zu finden, wie mit den etablierten Merkmalen dieser Textsorte gespielt wird. Am stärksten aus dem Rahmen des für die Gattung Üblichen fällt allerdings die Lazarus-Geschichte aus dem Johannesevangelium: In Joh 11,1–46 wird die zeitlich begrenzte Wiederbelebung des Lazarus als eine Maßnahme präsentiert, die im Vergleich zum „ewigen Leben“, auf das Glaubende nach ihrem physischen Tod hoffen dürfen, in soteriologischer Hinsicht defizient ist. Ein derartiger Gedanke findet sich in den anderen „biblischen“ Totenerweckungserzählungen nicht, wird aber – wie weiter unten noch näher zu explizieren ist – in apokryph gewordenen Gattungsexemplaren aufgegriffen. Aufgrund der Tatsache, dass die Auferweckung des Lazarus – ähnlich wie es bei den Totenerweckungen des Asklepios der Fall ist – zu Jesu eigener Tötung führt, lässt sich in der johanneischen Totenerweckungserzählung – anders als in den Vergleichstexten der synoptischen Evangelien – eine Motivparallele zur Asklepiostradition entdecken.
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Abschließend sei auf den gewichtigen Unterschied zwischen den ins Neue Testament eingegangen Totenerweckungserzählungen und den Erzählungen vom leeren Grab bzw. von den Erscheinungen des Auferstandenen in den Evangelien hingewiesen: Zwar werden in den neutestamentlichen Evangelien für die zeitlich begrenzte Wiederbelebung von jung Verstorbenen und die Auferweckung Jesu Christi dieselben Begriffe verwendet: ἐγείρειν und ἀνιστάναι. Diese polysemen Wörter aktivieren in der Leserschaft der Evangelien aufgrund der unterschiedlichen Mikro-Kontexte, in denen sie erscheinen, aber differente frames. Die Wiederbelebungen der Tochter des Jairus in Kapernaum und des Jünglings zu Nain setzen im Makrotext der Synoptiker die Vorstellung von der mit dem irdischen Wirken des Jesus von Nazareth nahe gekommenen βασιλεία τοῦ θεοῦ narrativ um. Die Auferweckung des Lazarus verdeutlicht im Johannesevangelium, dass Jesus als der von Gott Gekommene über dieselben Fähigkeiten wie sein Vater verfügt. Die Geschichten vom leeren Grab und den Erscheinungen des Auferstandenen stellen hingegen den Versuch dar, in Form von Erzählungen unter Verwendung des im 1. Jh.s n. Chr. in der griechischen Sprache vorhandenen Vokabulars zu veranschaulichen, was es bedeutet, wenn es im ältesten christlichen Glaubensbekenntnis aus 1 Kor 15,3b–5a heißt: ὅτι Χριστὸς ἀπέθανεν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν κατὰ τὰς γραφὰς καὶ ὅτι ἐτάφη καὶ ὅτι ἐγήγερται τῇ ἡμέρᾳ τῇ τρίτῃ κατὰ τὰς γραφὰς καὶ ὅτι ὤφθη Κηφᾷ εἶτα τοῖς δώδεκα. Der auferstandene Christus verfügt nicht über eine zeitlich begrenzte Lebendigkeit, er wird kein zweites Mal sterben. Seine Auferstehung ist nicht als einmalige physische Wiederbelebung eines Einzelnen konzeptualisiert, sondern als grundsätzliche eschatologische Überwindung der Macht des Todes. Am Ende der vorliegenden Untersuchung soll ein knapper Ausblick darauf gegeben werden, wie die Forschung zur Gattung „Totenerweckungserzählung“ weitergehen könnte. Ein rein statistischer Befund macht neugierig: „Kommen Totenerweckungen im Kanon doch nur selten vor […], so sind sie in den apokryphen Apostelakten an der Tagesordnung.“966 Diese apokryphen antik-christlichen Totenerweckungserzählungen auch noch zu untersuchen hätte den Umfang der vorliegenden Untersuchung gesprengt.967 Insbesondere die „fünf alten Apostelakten“968, die wohl zum Teil schon im 2. Jh. n. Chr. entstanden und dann im 4. Jh. in Form einer manichäischen Sammlung zu einem eigenen Textcorpus 966 967
968
ZIMMERMANN, Wunderzählungen, 27. Dass weitere Forschung auf diesem Gebiet erfolgen sollte, zeigen erste Ergebnisse des kurzen Aufsatzes von DÖHLER, Totenerweckungen. KLAUCK, Apostelakten, 10, der ebd. für die Texte folgende Reihenfolge und Datierung vorschlägt: „1. Johannesakten (ca. 150–160 n. Chr.)[,] 2. Paulusakten (ca. 170–180 n. Chr.)[,] 3. Petrusakten (ca. 190–200 n. Chr.)[,] 4. Andreasakten (ca. 200–210 n. Chr.)[,] 5. Thomasakten (ca. 220–240 n. Chr.)“. Auflistungen der in diesen Apostelakten enthaltenen Totenerweckungserzählungen finden sich bei PLÜMACHER, Apostelakten, 57; SPITTLER, Development, Anm. 11, 359; ZIMMERMANN, Wundererzählungen, 27f.
312
Teil III: Frühchristliche Totenerweckungserzählungen
verbunden worden sind,969 enthalten eine Vielzahl von Geschichten mit wiederbelebten Toten, die eindeutig Bezug auf „neutestamentliche“ Prätexte nehmen970 bzw. ähnliche Motive971 oder gestalterische Elemente972 aufweisen wie die frühchristlichen Erzählungen aus dem 1. Jh. v. Chr. Bemerkenswert ist z. B. eine veränderte „Rolle der Frau“ in den jüngeren Wiederbelebungserzählungen. So finden sich in den apokryph gewordenen Texten auch Totenerweckerinnen: Kleopatra erweckt, durch Johannes autorisiert, ihren Mann Lykomedes in ActJoh 23f. wieder zum Leben, indem sie seine Hand ergreift und einschlägige Worte an ihn richtet; Drusiana erweckt in ActJoh 83 auf dieselbe Weise den Fortunatus; in ActAndr 23 erweckt die ins Bordell verschleppte Trophima einen ihr gegenüber zuvor gewalttätig gewordenen Freier aus dem Tod. Es ist zu vermuten, dass die größere Bedeutung, die weiblichen Erzählfiguren in diesem Textcorpus zugeschrieben wird, der prominenten Position angeglichen wird, welche die Heldinnen der antiken Romane innehaben. Auffällig ist auch, dass der Impuls, den die Lazarus-Erzählung in Joh 11 setzt: die physische Totenerweckung gilt in soteriologischer Hinsicht als insuffizient, von den jüngeren Gattungsexemplaren aufgegriffen wird. Bemerkungen, die Totenerweckungen 969 970
971
972
Vgl. KLAUCK, Apostelakten, 11. Im „Martyrium des Paulus“, das den „Abschluss und Höhepunkt der Paulusakten“ (MERZ, Hinführung, 417) bildet, findet sich in MartPl 1 die Erzählung von der Totenerweckung des Patroklos, die deutlich erkennbar auf die Eutychos-Episode aus der Apostelgeschichte Bezug nimmt. Auch Patroklos hört einer Predigt des Paulus im offenen, hochgelegenen Fenster sitzend zu, schläft dabei ein, fällt hinab und haucht seine „Lebenskraft“ aus (ἀπέπνευσεν; MartPl 1,4). Nach dem Gebet aller Anwesenden zu Jesus Christus steht er wieder auf (ἀνέστη; MartPl 1,7), da ihm eine reversio animae zuteil wird: ἀνέλαβεν τὸ πνεῦμα αὐτοῦ (ebd.). Eine weitere motivische Parallele weist diese apokryphe Erzählung mit der Lazarus-Geschichte aus dem Johannesevangelium auf. Genauso wie die Auferweckung des Lazarus den Unwillen des Synhedriums erregt und so zu Jesu eigener Tötung führt, wird auch in MartPl 2 Kaiser Nero, in dessen Dienst Patroklos steht, wegen der Wiederbelebung und der daraus resultierenden Konversion seines Mundschenks zum Christentum zornig und ordnet eine Christenverfolgung an, bei der Paulus zu Tode kommt. Das Motiv der Trauer der Hinterbliebenen ist stark in ActJoh 20f. ausgeprägt, wo Lykomedes aus Kummer um seine Frau selbst stirbt. Das Fußfall-Motiv ist ebenfalls stark verbreitet: vgl. den Fußfall des Lykomedes vor Johannes in ActJoh 19 und 20; den der Witwe und der Mutter eines Senators vor Petrus in ActPetr 25 und 28; den des Demetrius vor Andreas in ActAndr(Greg) 3. Auch das Motiv des Gebetes vor der Totenerweckung ist belegt: vgl. das Gebet zu Christus in ActJoh 22 und ActPetr 28; zu Gott in ActJoh 79 und ActPetr 27. Vgl. ferner das Motiv der Berührung des Leichnams in ActJoh 23 und ActPetr 28; das der Ergreifung der Hand der Toten in ActJoh 79. Eine regelrechte Synanachrosis liegt vor in ActThom 54: Καὶ ἐπιθεὶς τὴν χεῖρα αὐτοῦ τῇ αὐτῆς χειρί. Performative Sprechakte, welche die Reanimation initiieren, finden sich in ActJoh 23 und 80 sowie ActPetr 28. Das Motiv der Rückgabe des Wiederbelebten an seine Angehörigen findet sich z. B. in ActJoh 19 und ActAndr(Greg) 3. Das für die synoptischen Fassungen von „Jairi Töchterlein“ und die Lazarus-Geschichte konstitutive retardierende Moment findet sich auch in ActPetr 25–27, wenn sich die Wiederbelebung eines jungen Mannes, der nur deshalb zu Tode gekommen ist, um dem Petrus die Gelegenheit zu geben, ihn aufzuerwecken, verzögert, weil zuvor noch ein weiterer Toter, der verstorbene einzige Sohn einer Witwe (sic!), zum Apostel gebracht wird.
18 Ergebnis und Ausblick
313
in ihrer „Heils“-Bedeutung herabsetzen, finden sich auch in ActJoh 47. Geradezu schon komische Züge hat in ActJoh 51 die Beschwerde eines Vaters, der von seinem Sohn ermordet worden ist, darüber, wiederbelebt worden zu sein – und so seinem Mörder noch einmal begegnen zu müssen. Im weiteren Verlauf der Handlung, in ActJoh 52f., bewirkt diese Totenerweckung dann aber sowohl seinen eigenen Glauben als auch den seines Sohnes. In ActJoh 76 findet sich im Munde eines Engels die Aufforderung an Kallimachos: ἀπόθανε ἵνα ζήσῃς, was der johanneischen Position zum Verhältnis von leiblichem Sterben und ewigen Leben sehr nahekommt. Der schändliche Fortunatus bedauert in ActJoh 83, auferweckt worden zu sein, und kommt kurz darauf wieder zu Tode. Dieser Tendenz, in einer Wiederbelebung kein „Heils“-Ereignis zu sehen, korreliert mit dem Befund, dass die Apostel in den apokryphen Apostelakten die Totenerweckungen sogar delegieren; allerdings bleiben sie bei ihrem Vollzug anwesend (vgl. ActJoh 47; ActPetr 26; ActAndr[Greg] 24).
Aufgrund dieser Beobachtungen kann ein erster Eindruck formuliert werden, der allerdings einer Überprüfung durch weitere Forschung bedarf: Eingesetzt als „Propagandamaßnahme“ werden Totenerweckungen in den erzählten Welten der apokryphen Apostelakten zum populären Massenphänomen, das sowohl Wiederbelebte als auch ihre Angehörigen und häufig auch die Augenzeugen des Geschehens zur Konversion zum Christentum bewegt.973 Um es plakativ zu formulieren: hier liegt eine conversio animae, verstanden als von der Totenerweckung ausgelöste spirituelle Hinwendung zum Glauben an Christus vor, wohingegen es sich bei der in den frühchristlichen Totenerweckungserzählungen beschriebenen reversio animae um eine Rückkehr der „Lebenskraft“ in die Toten handelt.
973
Vgl. z. B. ActJoh 22, wo Johannes um zwei „Seelen“ bittet, durch die andere zur Umkehr bewegt werden sollen (Αἰτούμεθα […] ψυχὰς δύο δι᾽ ὧν ἐπιστρέφειν μέλλοντας ἐπὶ τὴν σὴν ὁδόν); vgl. ActJoh 47; ActPetr 28. – Vgl. ferner: FREY/NIEDERHOFER, Machttaten, 315.
Literatur Vorbemerkung: Antike (früh-)jüdische und christliche Texte werden nach RGG4, biblische Schriften nach den Loccumer Richtlinien, antike griechische und römische Literatur nach DNP und sonstige Literatur nach IATG4 abgekürzt. Die Abkürzungen apokryph gewordener christlicher Schriften, die nicht in RGG4 verzeichnet sind, erfolgen nach ZIMMERMANN, Kompendium, Bd. 2, 1099–1106.
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Stellenregister (in Auswahl) Altes Testament Gen Ex Lev Num
Dtn
2,7 30, 41, 42, 71 35,18 32f. 33,19 86f. 21,11 33 6,6 33 6,9 33f. 19,14 34
32,39 39, 45 1 Sam 2,6 45, 100 2 Sam 12,15–19 29 1 Kön 14,17 29 17,17–24 24f., 26–45, 67–71, 247, 259–261 17,17 29f., 37; Anm. 258; 259 17,18–24 37–45 17,18 44, 296
17,19 39, 271 17,20 261, 273 17,21–22 69, 259 17,21 61, 118, 235, 259, 281 17,22 70, 259 17,23–24 43f. 17,23 43, 253 17,24 43f. 2 Kön 4,8–37 24f., 45–63; Anm. 150; 67–71, 117 4,8a 48 4,8b–10 48–50 4,11–18a 50–55 4,16 52–54 4,18b–25a 55–57 4,20 29, 56f., 60 4,22–25 272 4,25b–27 57–63 4,27 57f., 228 4,28 296 4,30 60f., 243, 272 4,31 59f., 69 4,32 29, 61, 69
Ijob Hld Jes Ez Dan Hos
4,33 61, 235, 273 4,34–35 42, 45, 61f., 118 4,34 69f., 242, 280 4,35 70, 273 4,36 63 8,1–6 70f. 13,20–21 64–71 13,21 69, 104 14,12 Anm. 930 41,13 Anm. 77 5,6 32 26,14 94 26,19 94f. 37,1–14 71, 264 37,5–6 104 12,2 94f. 6,2 98
Frühjüdische Literatur Artap 3,25 Anm. 3 4Esr 7,109 Anm. 382 Josephus, Ant. 1,5 Anm. 230.237; 75 1,8 Anm. 231 1,13 79 1,14 79 1,17 75 1,23 83 8,319–323 81f. 8,325–327 75–88
8,325 77f., 80–84; Anm. 258 8,326 Anm. 258; 82 8,327 83, 86f.; Anm. 287 8,329 Anm. 251 9,182–183 88–91 20,259 Anm. 237 20,267 Anm. 237 ParJer 7,13–20 Anm. 2 Sir 44–50 93
48,5 95–102 48,6 99f. 48,13–14 102–105 VitProph 10,2 109 10,4–5 108–113 21,4–12 115 21,5 113–116 22,11–12 116f. 22,11 117 22,12 117 22,20 116f.
Stellenregister (in Auswahl)
348
Neues Testament Mt
Mk
Lk
9,18–26 239–246 9,18 241f. 9,19 243 9,23 244, 272 9,24 244 9,25 244f. 10,8 239, 267 11,5 239 5,21-43 219–238 5,21–24 226–231 5,30 231–235 5,34 233f. 5,35 221 5,36 222f. 5,38 272 5,39 221, 223f. 5,40 222, 231, 272 5,41–42 224–226 5,41 236, 273 5,42 Anm. 777; 238 5,43 238 4,26 247 7,11–17 247–254, 261 7,11–14 250–252 7,11 250
Joh
7,12 249f. 7,13–15 254 7,13 249–253 7,14 249, 252, 273 7,15 252, 273 7,16 253f. 7,22 247 8,40–56 255–265 8,43–48 260 8,43 262 8,52 272 8,54 260f., 8,55 255, 262–265, 310 10,38–42 Anm. 911 16,19–31 Anm. 911 22,32 267f. 5,25 287 5,28–29 287 11,1–46 285–304 11,1–3 289 11,4–16 290–294 11,17–19 294f. 11,20–27 295–298 11,25–26 296f. 11,28–31 298 11,32–37 298f. 11,32 298
Apg
Jak
11,33 298f. 11,38–46 299–303 11,39 294 11,41f. 301 11,44 287, 301f. 11,47–53 288 12,10 302f. 9,36–42 267–275 9,36 268; Anm. 865 9,37 270–272 9,38 271 9,39 85, 271f. 9,40 272f. 9,42 274 9,43 274 20,7–12 277–283 20,7–8 278 20,8 277 20,9–10 280 20,9 277–279 20,10 279f., 281 20,11 279 20,12 279, 281f. 2,26 Anm. 844
Neutestamentliche Apokryphen/ weitere frühchristliche Literatur ActAndr 23 312 ActAndr(Greg) 3 Anm. 971 24 313 ActJoh 19 Anm. 971 20 Anm. 971 22 Anm. 971.973 23 312; Anm. 971 47 313; Anm. 973
51 313 52f. 313 76 313 79 Anm. 971 80 Anm. 971 83 312f. ActPetr 25–27 Anm. 972 26 313 27 Anm. 971 28 Anm. 971.973
ActThom 54 Anm. 971 MartPl 1 Anm. 970 2 Anm. 970 Origines Or.Cels. 2,16 203 Theod. gr. aff. cur. 8,19–23 151
Stellenregister (in Auswahl)
349
Antike griechische und römische Literatur Aischyl. Ag. 1023 148 Ag. 1024 148 Pers. 598–680 191 Apollod. 1,9.15 197 2,6.2 197 3,1.2 130 3,3.1–3,3.2 129–134 3,10.3 Anm. 434.521; 157 3,17 Anm. 286 Apuleius, Florida Fragment Nr. 19 211–215 Celsus, De medicina 2,6.15 210, 249 Chariton, Kallirhoe 1,1.14 207f. 1,4.12–1,5.1 207f. 1,8.1 207f.; Anm. 883 Diod. 4,71.1 151f. 4,71.2 152 Diog. Laert. 8,60–61 201f. 8,62 202 8,67 202f. 8,69 Anm. 675 Empedokles B 111 192f. Eratosthenes, Καταστερισμοί I 6 150f. Eur. Alk. 1-7 193 20 186 25f. 186 127 149, 193 141 184 143 186 203 Anm. 614 336–347 185 348–352 189f. 357–362 187 360 281 365–367 Anm. 628
422 185 425–434 185 521 184 540–544 185 606–610 185 840–842 188f. 843-849 190 851–853 188 853 281f. 971 193 972 193 1024–1035 190 1025–1031 190 1128 191 1140 190 1142 190f. Hom. Il. 4,194.219 146 Il. 5,392–404 Anm. 591 Il. 8,366–369 Anm. 591 Il. 11,518 146 Il. 23,65–66 168 Od. 10,513–515 168 Od. 10,559 283 Od. 10,560 282 Od. 11,51–83 283 Od. 11,204–207 187 Od. 11,217–222 186f. Od. 11,623–626 Anm. 591 Hyg. astr. 2,14 Anm. 522; 157; Anm. 573 fab. 49,1 160 fab. 51,3 197 fab. 136,1–7 134–139 fab. 136,5 136f. fab. 136,6 136, 138 fab. 136,7 139 fab. 251 197f. Ov. Fast. 6,729–762 170– 176 Fast. 6,746 249 Met. 2,643–645 170
Met. 15,524–539 166–170 Palaiphatos, Περὶ ἀπίστων 26 123–129 40 195, 282 Paus. 2,26.5 176 2,27.1 146 2,27.4 176 2,32.2–4 Anm. 566 Philod. Περὶ θεῶν 131 154, 157 Philostr. Ap. 4,45 Anm. 712 Pind. Pyth. 3,47–53 147 3,55 147 3,56f. 147 3,57 148 3,59–62 148 Plat. Phaid. 113 168f. rep. III 408c 149f. symp. 179 C 194 Plin. nat. 7,37.124 210 7,53.174 205 7,53.175 204f. 25,5.13 142 25,5.14 142f. 26,8.14–15 210 Pseudo-Hippokrates 17,9.5 152 Schol. in Alcestin 1 Anm. 526; 157 Schol. in Pind. ad. P. III 96 Anm. 517.525; 157 Sext. Emp., Adv. Math. I, 260–262 Anm. 524; 155, 157 Verg. Aen. 6,548–551 169 7,761–782 161–165 Xen. kyn. 1,6 150