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German Pages 268 [265] Year 1980
Heinz Hamm
Der Theoretiker Goethe
Heinz Hamm "Goethe théoricien" Editions Akademie Verlag 1980
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Heinz Hamm
Der Theoretiker Goethe Grundpositionen seiner Weltanschauung Philosophie und Kunsttheorie
Akademie-Verlag • Berlin 1980
2. Auflage Erschienen im Akademie-Verlag, 1080 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin 1975 Lizenznummer: 202 • 100/227/80 Offsetnachdruck und buchbinderische Weiterverarbeitung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 5820 Bad Langensalza Bestellnummer: 752 640 5 (2150/32) • LSV 8025 Printed in G D R EVP 8,50 M
Inhalt
Vorbemerkung
: . . . :
7
Erster Teil Die theoretische Bestimmung von Natur und Gesellschaft Weltanschaulich-philosophische Italienreise
Entwicklung bis zur 19
Die traditionell religiöse Erziehung in der Kindheit. Studium und Lebensprobleme der ersten Berufsjahre .
19
Die Überwindung des kirchlich-theistischen Weltbildes: Anschluß an die Philosophie Spinozas oder an den konsequent atheistischen Materialismus Holbachs?
26
Die Konkretisierung der weltanschaulich-philosophischen Theorie im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution . . . .
45
Die Tätigkeit in der „Staatsverwaltung": Bilanz und Schlußfolgerungen. Die Haltung zur Beseitigung der feudalabsolutistischen Staatsmacht in Frankreich . . .
45
Der Ausbau des spinozistischen Fundaments zu einer dialektisch-idealistischen Theorie von Natur und Gesellschaft
61
5
Die weltanschaulich-philosophische Theorie im Alter als Parteinahme für die „bürgerliche Gesellschaft": Kontinuität und neue Stellungnahme Gesellschaftliche Erfahrungen nach 1800: Napoleon. Feudale Restauration und bürgerlicher Liberalismus Das Wohl des Einzelnen und das Wohl des Ganzen.
118 118
Goethe und die sich entwickelnde „bürgerliche Gesellschaft"
130
Goethe und Hegel. Goethe und die „Apostel einer veralteten Lehre"
146
Zweiter Teil Die theoretische Bestimmung des Verhältnisses der Kunst zur Wirklichkeit Die Auseinandersetzung des jungen Goethe mit Geliert und Sulzer über die gesellschaftliche Funktion der Kunst
169
Die neue dialektische Bestimmung der künstlerischen Tätigkeit nach der Italienreise .
181
Ausmerzung der „Prätention" des Ich. „Darstellung des Gesetzlichen in der Natur" durch eine „gegründete Tätigkeit der Kunst"
181
Kunst und menschliche Gesellschaft: gegen die Darstellung des „Historischen" — für die Darstellung des „rein Menschlichen" 196 Kunsttheorie und „bürgerliche Gesellschaft" nach 1800. Goethes Kampf gegen eine neue „Kunst im Dienste der Religion"
212
Abkürzungen
233
Anmerkungen
235
Personenregister
265
6
Vorbemerkung
Goethe beansprucht mit einer eigenständigen denkerischen Leistung auch einen gewichtigen Platz in der Geschichte der neuzeitlichen vormarxistischen Philosophie und Kunsttheorie. Die vorliegende Arbeit ist, das dichterische Werk bewußt ausklammernd, ausschließlich dem Theoretiker Goethe gewidmet. Untersucht werden mit den Erkenntnismethoden des Marxismus-Leninismus, dem historischen Prozeß folgend, Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie in ihrem Zusammenhang mit den wesentlichen philosophischen und kunsttheoretischen Auffassungen der Zeit; denn es hat sich als ein dringendes Erfordernis der Forschung erwiesen, bisher vernachlässigten Elementen der Theorie Goethes die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken und sie zusammen mit den Ergebnissen der bisherigen marxistischen Forschung zur Erarbeitung eines neuen konkreten Gesamtbildes seiner weltanschaulichen Entwicklung zu nützen. Eine neue Überblicksdarstellung setzt voraus, daß man sich zunächst vergewissert, was die marxistische Forschung zur Theorie Goethes bisher im einzelnen geleistet hat. In seiner Goethe-Rede von 1949 bezeichnete es Alexander Abusch als eine erstrangige kulturpolitische Notwendigkeit, „das Erbe des Goetheschen Humanismus positiv für, unseren gegenwärtigen Kampf zur demokratischen* Erneuerung Deutschlands wirksam zu machen" 1 . Wilhelm Girnus leistet in der komplizierten Situation Anfang der fünfziger Jahre zur Erfüllung dieses Auftrages mit seiner großen Abhandlung Goethe. Der größte Realist deutscher Sprache (1953)2 einen ersten entscheidenden Beitrag. In dem Abschnitt Goethes Weltan7
scbauung werden deren „wesentliche Grundzüge" wie folgt zusammengefaßt: „Man sollte also endlich der Wahrheit die Ehre geben und anerkennen, was ist: Goethe war Materialist. Wenn es ihm auch aus objektiven historischen, von ihm völlig unabhängigen Gründen versagt bleiben mußte, die Schwächen des mechanischen Materialismus — obwohl er sie erkannte — durch den systematischen Ausbau einer höheren Form des Materialismus zu überwinden, so ist es ihm deshalb niemals eingefallen, die erkenntnistheoretischen Grundgesetze des philosophischen Materialismus anzuzweifeln. Auch der Mensch wird von ihm, sowohl in seinen gegenwärtigen Handlungen wie in seiner Entwicklung als ein der Natur zugehöriges und ihren Gesetzen unterworfenes Wesen betracht e t . . . Goethes Materialismus ist indessen unvollkommen und inkonsequent, denn er wendet ihn nicht auf die Gesellschaft an. In den Grundfragen der gesellschaftlichen Entwicklung ist Goethe, wie bereits in der Analyse des Wilhelm Meister nachgewiesen wurde, Idealist... So ist Goethes Weltanschauung von einem Widerspruch gekennzeichnet, von dem Widerspruch zwischen der theoretischen Anerkennung des philosophischen Materialismus im allgemeinen und seiner Gültigkeit auf dem Gebiet der Naturwissenschaft im besonderen auf der einen Seite und dem Vorherrschen idealistischer Anschauungen in bezug auf die Gesellschaft auf der andereri Seite."3 Girnus gebührt das Verdienst, aufbauend auf den Goethe-Studien von Georg Lukäcs4*, als erster eine größere Gesamtdarstellung Goethescher Weltanschauung versucht zu haben. Freilich konnte seine Arbeit schon auf Grund der Forschungssituation nur ein erster Abriß sein, der noch nicht ohne gewaltsame Vereinfachungen und eine gewisse Abstraktheit der Betrachtungsweise auskam. Hans Jürgen Geerdts befaßt sich in seinem Buch Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften" (1958)5 mit Theorie explizit nur im 9. Kapitel Begriff und Wesen des Dämonischen. Geerdts schreibt es einer besonderen „Art der Annahme des Wirklichen" zu, die Erkenntnisse von der Natur „spontan" in * Als Lesehilfe wutden die Ziffern, die auf Sachanmerkungen hinweisen, durch einen Stern gekennzeichnet.
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großen, auf poetischer Anschauung beruhenden Denkkomplexen" sammelt, wenn Goethe um 1800 „viel stärker als Schelling zum Materialismus tendiert, ohne die dialektische Methode zu vernachlässigen" 6 . Für die Theorie des späten Goethe bringt das Buch keine Ergebnisse, die über Lukäcs hinausgehen. Um 1960 erreicht die marxistische Forschung zu Goethes Weltanschauung einen ersten Höhepunkt. Kurz hintereinander behandeln Edith Braemer Goethes Prometheus und die Grundpositionen des Sturm und Drang (1959)7 und Herbert Lindner Das Problem des Spino^ismus im Schaffen Goethes und Herders (i960) 8 — allerdings ohne gegenseitige Kenntnis — die Überwindung des kirchlich-theistischen Weltbildes durch den jungen Goethe und die Funktion der Philosophie Spinozas hierbei. Braemer und Lindner kommen bei unterschiedlicher Akzentsetzung im Gang der Untersuchung zu einem übereinstimmenden Ergebnis. Ihr Verdienst besteht in dem exakten, philologisch abgesicherten Nachweis, daß der junge Goethe den uneingeschränkten Eigenwert der Wirklichkeit gegen das theistische Weltbild theoretisch im Anschluß an die monistische Gott-Welt-Bestimmung bei Spinoza begründet. Spinoza ist durch sie ein für allemal als der entscheidende philosophische Gewährsmann für die Weltanschauung des jungen Goethe sichergestellt. Die Arbeiten — besonders die Lindners — haben ihre Grenze in einem Hang zur Apologetik. Gegen die sogenannte „neuplatonische Schwenkung" 9 in der bürgerlichen Forschung wird die Bedeutung Spinozas mit vollem Recht kräftig herausgestellt; der soziale Inhalt der Ablehnung Holbachs wird jedoch nicht ernstgenommen.10* Ursula Wertheim befaßt sich erstmals intensiv mit der Weltanschauung Goethes nach 1800. In ihrem Buch Von Tasso bis Hafis (1965) 11 bringt sie zur Sprache, was bisher in der marxistischen Forschung noch keine besondere Aufmerksamkeit gefunden hatte: Goethes Verhältnis zu Schellirfg über 1800 hinaus, seine Haltung zu den „Aposteln einer veralteten Lehre" in der Zeit geistiger Restauration, die Auseinandersetzung mit Jacobi und das erneute Spinoza-Studium. Die Diskussion dieser Probleme, die sich durch eine neue Konkretheit auszeichnet, kommt zu dem Ergebnis, daß auch im 9
Alter ein modifizierter Spinozismus das Fundament Goethescher Weltanschauung bleibt, „daß sich, ungeachtet veränderter historisch-biographischer Umstände, am Wesenskern der Weltanschauung Goethes, seinem .entschiedenen Heidentum', das die Wahrheit vermittels der Erkenntniskraft der Sinne zu erforschen sucht und auf metaphysische Spekulation verzichtet, nichts geändert hat, daß es einen weltanschaulichen Bruch zwischen jungem und altem Goethe nicht gibt" 12 . In der Tat gibt es einen solchen Bruch nicht, doch es gibt eine Entwicklung. Die philosophische Theorie Goethes läßt sich nach 1790 nicht mehr a l l e i n aus dem Anschluß an die Philosophie Spinozas erklären. Aus theoretischen Problemen der eigenen naturwissenschaftlichen Arbeit heraus gewinnt sie eine neue Dimension durch die produktive Auseinandersetzung mit der „kritischen Philosophie" Kants. Goethe bekennt 1831: „Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn". 13 Mit Hilfe von Kant überwindet er schon vor der Freundschaft mit Schiller seinen früheren Empirismus und entwickelt eine echte SubjektObjekt-Dialektik. Später erkennt er auch das rationelle Moment in der radikalen Freiheitsphilosophie Fichtes. Schließlich sieht er sich in einer weitgehenden Übereinstimmung mit Hegel. Goethe setzt sich also nach der Spinoza-Rezeption der Jugend noch mit dem deutschen Idealismus von Kant bis Hegel auseinander. Dieser wichtige Komplex bleibt jedoch bei Ursula Wertheim noch weitgehend ausgeklammert. Ihr gelingt deshalb nur die vage Behauptung: „Da Goethe nicht nur reflektiert und theoretisch spekuliert, sondern als Naturforscher experimentiert und als Dichter gestaltet, vermag er selbst den objektiven Idealismus Hegels zu überflügeln und als Dialektiker in einigen Positionen weiter zu denken als Feuerbach." 14 Ursula Wertheim kann überzeugend Spinozas Geltung auch für die Altersperiode nachweisen; sie unterläßt es jedoch, auch den deutschen Idealismus als konstitutives Element Goethescher Weltanschauung nach 1790 wirklich in Betracht zu ziehen. 1966 erscheint in deutscher Übersetzung die Arbeit des sowjetischen Autors Arseni W. Gulyga Der deutsche Materia10
Jismus am Ausgang des 18. Jahrhunderts15. Im Rahmen seines geschichtlichen Überblicks gibt Gulyga auch einen Abriß von Goethes Weltanschauung und Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. Er faßt zusammen, was die marxistische Forschung von Girnus bis Lindner erarbeitet hat: „Die marxistische Goethewissenschaft brachte eine Reihe von Arbeiten hervor, deren Verfasser von der Anerkennung des im Grunde materialistischen Charakters der Weltanschauung des großen Dichters ausgehen. Nikolai Wilmont kam in seiner Monographie über Goethe zu folgendem Schluß: .Sogar in der Periode, als Goethe sich maximal dem Idealismus näherte und sich für einen Gesinnungsgenossen hielt, blieb er im Grunde ein spontaner materialistischer Schüler Spinozas.' Den materialistischen Charakter der Philosophie Goethes hoben auch Wilhelm Girnus, Herbert Lindner, Paul Reimann und Viktor Schirmunski in ihren Arbeiten hervor." 16 Mit ihren Gewährsmännern leidet die Arbeit von Gulyga an einer erheblichen Abstraktheit: mehr abstrakte Klassifizierung als konkrete Analyse. Ihr Wert besteht mehr darin, daß sie auf Karl Ludwig v. Knebel und August v. Einsiedel nachdrücklich aufmerksam macht, Männer aus Goethes nächster Umgebung, die von einer sensualistischen Position aus die Transzen•dentalphilosophie Kants scharf kritisiert hatten. Knebel ist inzwischen von der marxistischen Forschung monographisch behandelt worden.17 Manfred Buhr und Gerd Irrlitz befassen sich bei ihrer „Analyse der philosophischen Substanz der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie" in Der Anspruch der Vernunft (1968) 18 mit Goethes „Begriff einer konkreten Sittlichkeit", d. h. mit seiner Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Individuum und seiner gesellschaftlichen Umwelt. Sie stellen fest: „In der klassischen bürgerlichen Literatur ist der das Denken Kants und Fichtes durchziehende abstrakte Gegensatz von Individuum und Gesellschaft (Moralität und Recht) sowie von Natur und Geist usw. in der Idee vom sittlichen Menschen gleichsam aufgelöst und zusammengefaßt... Sie stellt insofern in der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen Philosophie im engeren Sinne eine wichtige Vermittlung zwischen dem Denken Kants, Fichtes und 11
Schellings einerseits und dem Hegels andererseits dar, eben weil sie den Gesichtspunkt der konkreten Totalität, der Einheit von Mensch und Natur, von Verstand und Sinnlichkeit, von Pflicht und Neigung usw. betont und in der Idee der Humanität, der konkreten Sinnlichkeit... zum Ausdruck bringt." 19 Das Buch von Peter Müller Zeitkritik und Utopie in Goethes „Wertber" (1969) 20 verdient in unserem Zusammenhang Interesse, weil es die neue Qualität der Kunsttheorie des jungen Goethe gegenüber der der Zeit Lessings kenntlich macht. Daß dabei freilich das aufklärerische Funktionsverständnis der Kunst undialektisch abgewertet wird, ist von der Kritik schon hervorgehoben worden.21 Einen echten Fortschritt im Verständnis der Kunst- und Literaturtheorie im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution dokumentieren größere, bei der Arbeit an der großen marxistischen Literaturgeschichte entstandene Aufsätze von Wolfgang Stellmacher (1969) 22 und Hans-Dietrich Dahnke (1970)*. Anneliese Klingenbergs Buch Goethes Roman „Wilhelm Meisters Wanderjabre oder die 'Entsagenden" (1972) 24, die bislang letzte Arbeit, bereichert die Weltanschauungsforschung durch eine präzise Darstellung der ökonomischen Theorie Goethes. Der kurze Überblick über die Buchpublikationen macht deutlich, daß in der marxistischen Forschung bisher der Spinoza-Komplex die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Diese Akzentuierung erfolgte zu Recht, denn für ein marxistisches Goethe-Bild war es erste Voraussetzung, die entscheidende Bedeutung der Philosophie Spinozas voll herauszuarbeiten. Nachdem das geschehen ist, fällt der Blick auf das bisher Vernachlässigte. Es fehlen spezielle Untersuchungen, die sich mit den theoretischen Problemen und Resultaten der naturwissenschaftlichen Arbeit und der theoretischen Beziehung zum deutschen Idealismus von Kant bis Hegel befassen. Hier war verstärkt anzusetzen. Die vorliegende Arbeit will jedoch nicht bloß „Leerstellen" der Forschung ausfüllen und bisherige Forschungsergebnisse neu zusammenfassen. Die neuen Anforderungen, welche die 12
Klassik-Forschung in den siebziger Jahren zu erfüllen hat — Hans-Dietrich Dahnke hat sie in einem Sinn und For/w-Aufsatz vom September 1973 formuliert 25 —, stellen ihr zugleich die Aufgabe, die Prinzipien einer marxistischen Ideologieanalyse noch konsequenter zu befolgen als bisher. Eine neue zusammenfassende Darstellung, wie sie hier versucht wird, rechtfertigt sich nur, wenn sie den historischen Standort der Theorie Goethes differenzierter und präziser bestimmt und damit bessere Voraussetzungen für deren produktive Benutzung in unserer Gesellschaft schaffen hilft. Um das zu erreichen, wurde bewußt Anschluß an den neuesten Entwicklungsstand der marxistisch-leninistischen Philosophie gesucht. Im besonderen galt es, für ihren Gegenstand, die Theorie Goethes, die wervollen methodologischen Hinweise und Anregungen fruchtbar zu machen, die Gottfried Stiehler in seiner Darstellung und Kritik des klassischen deutschen Idealismus (1970) 26 gegeben hat: „Die Kritik kann nur als historisch fundierte sinnvoll zur Wirkung gelangen; sie untersucht eine Philosophie als Widerspiegelung materieller gesellschaftlicher Verhältnisse, prüft sie auf ihre Funktion im Kampf einer Klasse und beurteilt von daher ihren Platz im philosophischen Erkenntnisfortschritt. Die bürgerliche Ideologie konnte auf Grund des Klassenwesens der Bourgeoisie bestimmte philosophische Grundprobleme nur idealistisch stellen und lösen, und das betrifft nicht nur die deutsche idealistische, sondern auch die vormarxistische bürgerliche Philosophie überhaupt. Schon diese Tatsache verbietet es, eine abstrakte Gegenüberstellung materialistischer und idealistischer Systeme vorzunehmen und in jenen nur das Gesunde, Progressive, in diesen nur das Kranke, Reaktionäre zu sehen. Eine solche äußerliche Betrachtung ist unmarxistisch, weil sie die Philosophie nicht als historisch konkret bestimmte Klassenideologie begreift. Der Materialismus des 17. und 18. Jahrhunderts war — wenn wir von seiner aristokratischen Komponente absehen — b ü r g e r l i c h e r Materialismus, und der Idealismus der Philosophie von Kant bis Hegel war b ü r g e r l i c h e r Idealismus. Diese grundsätzliche Übereinstimmung hat eine Analyse zu berücksichtigen, die mehr sein will als eine abstrakte Klassifizierung. Es wird 13
deutlich werden, daß — wie der Materialismus stets seinen Grundvoraussetzungen nach die philosophische Erkenntnis förderte und bereicherte — auch der Idealismus unter bestimmten geschichtlichen Voraussetzungen die gesetzmäßig bedingte ideologische Form eines Fortschritts der philosophischen Erkenntnis sein konnte und in der klassischen deutschen idealistischen Philosophie tatsächlich war." 2 7 Die germanistische Literaturwissenschaft, die sich mit Sturm und Drang, Klassik und Romantik befaßt, hat Grund, dieses Plädoyer für eine historisch konkrete Betrachtung des vormarxistischen Materialismus und Idealismus im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ernst zu nehmen. Es ist nicht mehr angängig, Goethe von vornherein auf eine möglichst große Nähe zum philosophischen Materialismus zu verpflichten oder Idealismus bei ihm zu entschuldigen, wie das in der GoetheForschung üblich war und zum Teil noch ist. 28 * Eine materialistische Ideologieanalyse will philosophische Theorie nicht abstrakt klassifizieren, sondern deren sozialen Inhalt herausarbeiten. Wenn man zum Beispiel marxistisch erklären will, warum der junge Goethe seine neue antitheistische Wirklichkeitssicht theoretisch nicht im Anschluß an den konsequent atheistischen Materialismus Holbachs, sondern im Anschluß an den idealistischen Monismus Spinozas begründet, wird man in erster Linie nach dem sozialen Interesse fragen müssen, das hinter dieser Entscheidung steht. Die bisher übliche Erklärung setzt eine Affinität in der Theorie als das Entscheidende, wenn sie als Begründung für die Ablehnung Holbachs durch Goethe den Mangel an Dialektik ins Feld führt. War Spinoza wirklich dialektischer als Holbach? Ich meine, man wird sich in erster Linie der konkreten Ideologiefunktion beider Philosophien zuwenden müssen. Der Blick für die Alternative Spinoza oder Holbach wird von vornherein verstellt, wenn man wie Lindner deren philosophische Theorien „in ihrem Inhalt" 2 9 vollkommen gleichsetzt. Die Forderung nach einer größeren Konkretheit der Untersuchung erhebt sich jedoch nicht nur für den Spinoza-Komplex. Sie gilt für alle Elemente der Goetheschen Theorie. Mit der vorliegenden Arbeit soll zu ihrer Erfüllung ein Beitrag geleistet werden. Im Falle Goethes kann eine Arbeit, die sich mit der Theorie 14
eines Dichters beschäftigt, ihren Eigenwert beanspruchen. Dennoch muß die Frage gestellt werden, wie ihr Verhältnis zum dichterischen Werk gesehen wird. Dazu soviel: Eine Theorie enthält allgemeine Aussagen. Eine Dichtung dagegen bietet gleichsam eine „zweite Natur", zu welcher der Mensch in seiner Vorstellung eine ähnliche Beziehung herstellen kann wie zur realen Wirklichkeit im alltäglichen Leben. Goethe sagt: „Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, das heißt, wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, daß sie als gegenwärtig für jedermann gelten können." 3 0 Ein Dichter kann durch ein konkretes Abbild von Wirklichkeit, das er — freilich über die geistige Tätigkeit — für die Vorstellung aufbaut, ein Mehr an Erkenntnis ermöglichen als durch die theoretische Aussage über sie. Die Analyse der Theorie eines Dichters ist deshalb nicht imstande, automatisch mitanzugeben, was in der Dichtung an Erkenntnispotential angelegt ist, und dadurch die Analyse der Dichtung zu erübrigen. Sie vermag jedoch ein wertvolles Regulativ für die Dichtungsanalyse zu sein, indem sie bestimmte Richtwerte angibt und damit grobe Fehlinterpretationen ausschließt. Insofern ist sie für die Dichtungsanalyse eine wichtige Zuarbeit. Für die Analyse des Goetheschen Alterswerks, das ein Höchstmaß an philosophischer Erkenntnis einschließt, hat sie sogar als unerläßliche Voraussetzung zu gelten. Bei der vorliegenden Arbeit wurde also nicht vergessen, daß die Theorie eines Dichters untersucht wird, wenn auch im Interesse methodischer Sicherheit das dichterische Werk ausgeschlossen bleibt. 31 * In ihr müßte deshalb eigentlich noch der spezifische Leistungswert der Theorie im Hinblick auf die Dichtung bestimmt sein. Das erscheint jedoch einmal nur als ein kollektives Unternehmen und dann auch erst sinnvoll zu sein, wenn die marxistische Goethe-Forschung in der Analyse besonders der Alterswerke weitere Fortschritte gemacht hat. 3 2 * Der Verfasser hat sich mit den theoretischen Auffassungen Goethes erstmals in seiner Dissertationsschrift auseinandergesetzt. Sie ist in den Jahren 1967 bis 1971 unter der wissen15
schaftlichen Anleitung von Prof. Dr. Thomas Höhle an der Sektion Germanistik und Kunstwissenschaften der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg entstanden. Die vorliegende Arbeit hat die Dissertationsschrift zur Voraussetzung. In Konzeption und Ausführung stellt sie jedoch eine völlige Neubearbeitung des Gegenstandes dar. Die Neubearbeitung wurde Ende 1973 abgeschlossen. Ein besonders herzlicher Dank gilt Dr. Peter Weber vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte, der die Neubearbeitung betreut hat. Halle, Januar 1974
Heinz Hamm
Weltanschaulich-philosophische Entwicklung bis zur Italienreise
Die traditionell religiöse Erziehung in der Kindheit. Studium und Lebensprobleme der ersten Berufsjahre Goethe wächst unter der erzieherischen Oberleitung seines Vaters im Geiste eines streng kirchlichen Luthertums auf. In der Kleinkinderschule der Maria Magdalena Hoff, die Goethe von 1752 bis 1755 besuchte, war der Beschäftigungsstoff ganz religiös. 33 Das blieb so bei der anschließenden Erziehung durch Privatlehrer, vor allem bei seinem Lateinlehrer, dem Theologen Scherbius. Wie die Labores iuveniles zeigen, hatten die lateinischen und griechischen Übersetzungsübungen vornehmlich religiöse Themen.34 Im Elternhaus achtete der Vater auf ein strenges „exercitium religionis" 3S . Dazu gehörten: das ständig wiederholte Einüben und Vorsagen von Bibelsprüchen, Gesangbuchversen und Katechismuswahrheiten, das kniend vorgetragene Morgengebet mit einem frommen Morgengruß an den Vater und der regelmäßige Familienkirchgang. Eine Vorstellung von den Leitbildern für das Leben, die in den mannigfaltigen religiösen Unterweisungen an das Kind herangetragen wurden, läßt sich aus einigen Lehrsätzen eines damals in Frankfurt gebräuchlichen Katechismus gewinnen: „Wie treibet uns aber die Auffahrt Christi zu gottseligem Leben? Daß wir auch nicht irdisch gesinnet seyen, weil wir unser Haupt, und auch unser Bürgerrecht in dem Himmel haben: daher, weil unser ganzes Leben nur- eine Reise zu dem Himmel ist, sollen wir nicht trachten nach vergänglichen irdischen Dingen, oder dieselben lieb 2*
19
haben, sondern allein streben nach den göttlichen himmlischen Gütern hie in dieser Zeit, die uns in der Ewigkeit werden geoffenbart werden, und darnach verlangen, bei dem Herrn selbst zu seyn." — „Wie sündiget man darwider? Wo der Mensch meynet, er sey ein Selbstherr, und möge sein Leben führen nach seinem Wohlgefallen: wo man mit seiner Sorge der göttlichen Vorsehung vorgreift, oder damit nicht zufrieden ist, oder daran zweifelt. Also auch, wo man seiner Seelen Kräfte, Verstand, Wille, Neigungen, Sinne,- oder auch die Glieder des Leibes zu Sünden gebraucht, damit oder mit anderen Gütern pranget und stolziert, geizet, Wollust treibet, und also die heilige Absicht Gottes, welcher durch solche Liebesseile uns zu sich ziehen will, schändlich verkehret: sonderlich aber, wo man sein Herz, das allein auf dem Schöpfer beruhen sollte, an die Geschöpfe hänget." — „Was heißt die erbliche oder Erbsünde? Sie ist diejenige schreckliche Verderbniß unserer Natur, daß anstatt des vorhergehabten Ebenbildes Gottes, wir in die Welt geboren werden ganz untüchtig für uns selbst zu allem Guten, ohne Glauben, Furcht und Erkenntniß Gottes, und in natürlicher Blindheit; hingegen mit steter Begierde zu allerhand Bösem, und allem dem, was Gott entgegen ist. Aus dieser vergifteten Wurzel entstehet nachmals alles übrige Böse, ja stecket schon in derselben." 36 Nach außen fügten sich das Kind und der heranwachsende Junge die ganze erste Frankfurter Zeit hindurch ohne Widerspruch in die Gesinnung und das kirchliche Leben der Frankfurter lutherischen Gemeinde. Doch vor allem während der Vorbereitung auf die Konfirmation muß Goethe schon bestimmte Vorbehalte gegen die Inhalte der orthodox-lutherischen Katechese entwickelt haben. Wie sich annehmen läßt, störte den jungen Goethe in erster Linie die Verketzerung des normalen Lebens durch die Lehre von der „Erbsünde" und der „Kameralismus" 3 7 des kirchlichen Apparates. Sobald er mit Beginn der Studien in Leipzig dem Einfluß des Vaters entzogen war, blieb er Kirche und Abendmahl fern. Er schloß sich keiner lutherischen Gemeinde an, wie es seine Glaubenspflicht gewesen wäre. Zeitgenossen berichten, Goethe habe schon damals „besondere Denkungs Arten in der Religion" 3 8 merken lassen. 20
Das Erlebnis der schweren Krankheit, der Einfluß und die Fürsorge theologischer Freunde führten Goethe indes zunächst wieder in den Kreis einer praktizierenden religiösen Gemeinschaft zurück, allerdings einer Gemeinschaft von einer besonderen Art. Auf das Betreiben der Mutter und eines Fräulein v. Klettenberg, die einem Kreis frommer „Brüder" herrnhutischer Prägung angehörten, hatte sich im Hause des Vaters der Pietismus etablieren können. Im Gegensatz zum regulären lutherischen Kirchenbetrieb war diese neue und alte Form evangelischer Religiosität annehmbar, weil sie die systematische Dogmatik der Orthodoxie gegenüber einem lebendigen Bibelstudium geringschätzte, weil sie gegen den Zwang der staatlich sanktionierten Landeskirche das Recht auf individuelle Frömmigkeit und das persönliche Heilserlebnis betonte und vor allem weil sie im Christentum nicht eine Schullehre, sondern eine sittliche Lebensmacht sah, die sich in der Liebe des Nächsten zu bewähren hatte: „Ich binn Ihnen viel schuldig, Langer, und Meilin hat das fortgesetzt was Sie angefangen haben, für eine Seele wie meine, war es allen Priestern der Welt unmöglich sie zu führen, besonders bey dem unevangelischen Gewäsche unsrer jetzigen Kantzeln, Ihre Liebe, Ihre Aufrichtigkeit konnte das a l l e i n ; . . . " 3 9 Nach Frankfurt zurückgekehrt, bemühte sich Goethe mit ehrlichem Herzen wieder „Liebe und Condescendenz gegen die Religion, Freundschaft gegen das Evangelium, heiligere Verehrung gegen das W o r t " 4 0 zu empfinden und sich in das religiöse Leben der „Brüdergemeinde" einzugliedern. An Langer bekennt Goethe: „Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bey den Haaren . . . Ich binn manchmal hübsch ruhig darüber, manchmal wenn ich stille ganz stille binn, und alles Gute fühle was aus der ewigen Quelle auf mich geflossen ist." 4 1 Goethe ging regelmäßig in die Versammlungen des Pietistenkonventikels 42 * und besuchte am 21. und 22. September 1769 unmittelbar nach Schluß der zweiten verfassungsgebenden Herrnhuter Synode die Brüdergemeinde in Marienborn. Trotz seiner durch die persönliche Situation bedingten Sympathie blieb sich Goethe jedoch immer bewußt, daß ihn auch vom Pietismus, für den ja bei aller Abgrenzung gegen die 21
Orthodoxie die entscheidenden dogmatischen Aussagen über die Natur Gottes und der Welt weiterhin Gültigkeit behielten — darunter vor allem das Dogma von der Sündhaftigkeit und Verderbtheit der Welt - , Entscheidendes trennte. In einem Brief an den Leipziger Freund Langer, dem er „immer Schwäche im Glauben" 43 gestehen muß, spricht er erstmals deutlich den wesentlichen Grund aus, der ihn an der völligen Identifizierung mit dem Pietismus hindert und der in der Folgezeit die Distanzierung vom kirchlichen Christentum verursacht: die einem künftigen „Autor" unbedingt notwendige „Anhänglichkeit an die Welt". Wörtlich heißt es: „Man sieht mich von Seiten der Brüder, als einen Menschen an, der einen guten Willen, und einige Rührung hat, der aber doch zu sehr durch die Anhänglichkeit an die Welt zerflattert ist, und man betrügt sich nicht. . . Mein feuriger Kopf, mein Witz, meine Bemühung und ziemlich gegründete Hoffnung, mit der Zeit ein guter Autor zu werden, sind jetzt, daß ich aufrichtig rede, die wichtigsten Hindernisse an meiner gänzlichen Sinnesänderung, und des eigentlichen Emsts die Wincke der Gnade begieriger anzunehmen." 44 Das Erlebnis christlicher Nächstenliebe in der Frankfurter Brüdergemeinde wirkte dennoch -so stark nach, daß Goethe, als er im Frühling 1770 zur Fortsetzung seiner Studien nach Straßburg kam, Kontakt zu den dortigen frommen Kreisen aufnahm. In den Straßburger Pietistenkonventikeln herrschte freilich ein ganz anderer Geist: „Mein Umgang mit denen frommen Leuten hier ist nicht gar starck, ich hatte mich im Anfange sehr starck an sie gewendet; aber es ist als wenn es nicht seyn sollte. Sie sind so von Herzen langweilig wenn sie anfangen, dass es meine Lebhafftigkeit nicht aushalten konnte. Lauter Leute von mäsigem Verstände, die mit der ersten Religionsempfindung, auch den ersten vernünftigen Gedancken dachten, und nun meynen das wäre alles, weil sie sonst von nichts wissen; dabey so hällisch und meinem Graffen so feind, und so kirchlich und p ü n c k t l i c h , . . ." 4 5 Angesichts der forcierten Kirchlichkeit und des Muckertums in den Konventikeln wie an der Universität erwachte Goethes frühe Opposition gegen die Institution der evangelischen Kirche, die durch die Zugehörigkeit zur „Brüdergemeinde" 22
etwas aus dem Blickfeld geraten war, zu neuem gesteigertem Leben. Diese Opposition verschärfte sich noch zu prinzipieller Ablehnung durch die von Herder vermittelte Berührung mit einer Weltanschauung, welche das Irdische selbst, die Werke großer Menschen ebenso wie die außermenschliche Natur, mit dem Attribut der Göttlichkeit belegte. Die Aufsätze Brief des "Pastors xxx an den neuen Pastor syt xxx und Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen %um erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlicben in Schwaben sprechen gegen das orthodoxe Kirchenchristentum eine harte Sprache. Ohne sich fortan um die Pflichten eines kirchlichen Gemeindelebens zu scheren,46* stürzt sich Goethe seit seiner Straßburger Studienzeit auf die endgültig vom Kainsmal der Verderbtheit befreite Wirklichkeit, um sie mit allen Kräften seiner Person, den geistigen und den sinnlichen, zu genießen. „Unbekümmert über andere Reiche" 47 im Jenseits erlebt er mit vollem Bewußtsein die Schönheit und Würde dieser Welt. Weil er sich als Teil dieser göttlichen Welt weiß, erwächst ihm in diesem Erlebnis zugleich ein Gefühl von der Würde und Bedeutung des eigenen Ichs. Er fühlt sich befähigt und aufgefordert, „großen Menschen" der Vergangenheit nachzueifern und schon in dieser Welt eine bedeutende Rolle zu spielen. Im Herbst 1771 trat Goethe als zugelassener Advokat in Frankfurt in das Berufsleben ein mit dem festen Vorsatz, in das gesellschaftliche Leben verändernd einzugreifen. Unterstützt von seinem Vater führte er bis 1775 insgesamt 28 Prozesse, wobei ein großer Teil seiner Klienten der jüdischen Bevölkerung Frankfurts angehörte. Da er sich als Anwalt sozialer Gerechtigkeit verstand, nahm er seine Advokatentätigkeit durchaus ernst: „Sonst bin ich sehr emsig, um nicht zu sagen fleißig, advozire scharf zu,. . ," 48 Sehr bald mußte er jedoch feststellen, daß seine Wirkungsmöglichkeiten als Anwalt sehr beschränkt waren. Weil außerdem die Praxis nur wenig Zeitaufwand erforderte, widmete er daraufhin den Großteil seiner Energie der Schriftstellerei: „Ich dramatisiere die Geschichte eines der edelsten Deutschen und die viele Arbeit die mich's kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib, den ich hier so nöthig habe, denn es ist traurig an 23
einem Ort zu leben wo unsere ganze Wirksamkeit in sich selbst summen muß." 4 9 So gern Goethe dichtete, und so viel Selbstbestätigung er daraus zog, diese Arbeitsverteilung entsprach nicht seinen ursprünglichen Vorstellungen: Goethe wollte nicht in erster Linie Künstler sein, sondern ein „herrliches handelndes Wesen" 50 . Zunächst konnte er sich freilich noch mit dem geistigen Reichtum und mit dem Erfolg seiner künstlerischen Produktionen beruhigen: „Da ich in der Welt noch keine Rolle spiele bring meine besten Stunden, im Aufzeichnen meiner Phantasien zu, und meine grösste Freude ist wenn iemand den ich ehre und liebe mit Theil daran nehmen will." 51 Das schmerzliche Bewußtsein, zu Wirkungslosigkeit in der Praxis verdammt zu sein, war durch die Kunst auf die Dauer nicht zu unterdrücken. Das immer Unerträglichere seiner Frankfurter Lage kennzeichnet Goethe rückblickend in einem Brief an die Mutter: „Sie erinnern sich, der lezten Zeiten die ich bey Ihnen, eh ich hierherging, zubrachte, unter solchen fortwährenden Umständen würde ich gewiß zu Grunde gegangen seyn. Das Unverhältniß des engen und langsam bewegten bürgerlichen Kreyses, zu der Weite und Geschwindigkeit meines Wesens hätte mich rasend gemacht." 52 Während seiner Tätigkeit als Advokat gelangt er zur Einsicht, daß Vorstellungen über eine „vernünftige" Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens der Menschen nur dann Aussicht auf eine Realisierung in der Praxis haben, wenn hinter ihnen eine ernst zu nehmende staatliche Macht steht. Das war in den deutschen Territorialstaaten unbestritten der politisch führende hohe Adel 53 *. Goethe wünscht sich eine einflußreiche Stellung am Hof als Ratgeber und Vertrauter eines regierenden Fürsten. Die Gelegenheit dazu bietet sich in fast schon auswegloser Lage durch das Angebot aus Weimar. Im November 1775 ging Goethe in das Herzogtum SachsenWeimar, um ü b e r die Herrschaftsgewalt eines Landesherrn die Arbeit und das Zusammenleben der „Landeskinder" so einrichten zu helfen, daß auch den Angehörigen der nichtadligen Stände ein besseres Leben zuteil werden konnte. Keinesfalls verfolgte er die Absicht, in irgendeiner Weise die bestehende politische Struktur im Sinne hochfliegender Pläne zu verändern. Goethe dachte durchaus praktisch: Sein 24
Ziel war die bessere Befriedigung materieller Bedürfnisse durch die Erhöhung der Produktivität eines jeden. Dazu hatte die „Landes Administration" durch eine „vernünftige" praktische Leitung die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Goethe fühlte sich aufgerufen, an einem solchen nüchternen Reformwerk mitzuarbeiten. Dabei besaß er weder ein detailliertes Programm, noch verfügte er über nötige Sachkenntnisse. Er vertraute auf die Fähigkeit seiner „Vernunft", sich in die jeweilige Sachlage einarbeiten und die richtige Entscheidung treffen zu können. Das Entscheidende war zunächst die wirksamen Einfluß versprechende Position; Die Briefe der ersten Weimarer Zeit bezeugen Optimismus und den festen Willen, die Chance bestmöglich zu nutzen: „Ich bin nun ganz in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können. Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Herzogt ü m e r Weimar und Eisenach immer ein Schauplatz, um zu versuchen, wie einem die Weltrolle zu Gesicht stünde." 54 „Ich werde auch wohl dableiben und meine Rolle so gut spielen als ich kann und so lang als mir's und dem Schicksal beliebt. Wär's auch nur auf ein paar Jahre, ist doch immer besser als das unthätige Leben zu Hause wo ich mit der grössten Lust nichts thun kann. Hier habe ich doch ein paar Herzogthümer vor mir." 5 5 Goethe war bereit, sich mit allen seinen Kräften in die „Staatsverwaltung" 56 einzulassen. Im Juni 1776 gab ihm Carl August „Siz und Stimme in seinem Geheimen Rath, und den Titel als Geheimer Legationsrath" 57 . Im September 1779 beförderte er ihn zum Geheimen Rat. Goethe betrat damit „mit dem 30ten Jahre die höchste Ehrenstufe die ein Bürger in Deutschland erreichen kan"5®. Neben der Arbeit im Geheimen Consilium, der höchsten Behörde des Landes, hatte er sich noch einer Reihe spezieller amtlicher Geschäfte in besonderen Ständigen Kommissionen zu widmen. 59 * Goethe trägt als einer der drei (seit 1784 vier) höchsten Beamten des Herzogtums bis Februar 1785 mit Ernst und strenger Dienstauffassung — die Anwesenheitslisten des Geheimen Consilium unterstreichen das —60 ohne Abstriche die schwere Last admirtistrativer Tätigkeit.
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Die Überwindung des kirchlich-tbeistiscben Weltbildes: Anschluß an die Philosophie Spinozas oder an den konsequent atheistischen Materialismus Holbachs? In der religiösen Unterweisung in Kindheit und früher Jugend wurde Goethe die Wirklichkeit als eine zwar von Gott geschaffene, jedoch durch die Schuld des Menschen unter die Herrschaft des Satans gefallene „Welt" der Sünde und des Todes beschrieben. Als einzige Möglichkeit, auf Erden dennoch ein sinnerfülltes Leben zu führen, wurde ein entsagungsbereites, in einer kirchlichen Gemeinschaft nach Gnade strebendes Leben in Gott gewiesen. Es ist dargestellt worden, -wie Goethe durch seine „Anhänglichkeit an die Welt" immer stärker in Widerspruch zu diesem Weltbild gerät, um es schließlich ganz abzulehnen. Goethe hält um 1770 gleichsam Ausschau nach einer neuen Weltanschauung, die seine Diesseitsbejahung, seine Haltung zur Wirklichkeit bestätigt und theoretisch präzisiert; er besitzt von seiner persönlichen Entwicklungsstufe her die Voraussetzungen, Anschluß an die geistige Emanzipation aus dem Theismus in der europäischen Philosophie der Neuzeit zu gewinnen. Die philosophische Aufwertung der Wirklichkeit war um 1770 durch zwei in unterschiedlicher politischer Programmatik wurzelnde theoretische Lösungen geleistet: einmal durch eine zweckentsprechende Modifikation des theistischen Gottesbegriffes in der Philosophie Spinozas und im Deismus und zum zweiten durch die völlige Verneinung eines Gottes im systematisch ausgebauten Materialismus Holbachs. Goethe knüpft an diejenige Variante philosophischer Wirklichkeitsaufwertung an, die der eigenen sozialen Zielstellung und den eigenen Wirkungsmöglichkeiten entspricht. Um seine Entscheidung zu verstehen, muß man zunächst den theoretischen Gehalt und die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der beiden „Angebote" kurz darlegen. Spinoza geht von der cartesischen Unterscheidung der Wirklichkeit in Ausdehnung (Stofflichkeit) und Denken aus. 26
Diesen Dualismus hebt er jedoch auf, indem er Stofflichkeit u n d Denken der Zugehörigkeit zu e i n e r Substanz unterstellt. Diese Substanz — Spinoza nennt sie auch „Gott" und „natura naturans" — ist der immanente Grund alles Seienden. Ausdehnung und Denken wie ihre Modifikationen in den Einzeldingen der Wirklichkeit unterscheiden sich von der Substanz insofern, als sie ihren Grund (causa) nicht in sich selbst, sondern in der Substanz haben. Nur die Substanz ist causa sui. Andrerseits sind Ausdehnung und Denken insofern mit der Substanz identisch, als sie zum Wesen der Substanz gehören, als die Substanz in ihnen als ihren Attributen selbst ihr Wesen ausdrückt. Der Spinozismus stellt sich somit als erster m o n i s t i s c h e r Idealismus in der Philosophtegeschichte der Neuzeit dar. Er hebt durch die Hineinnahme des transzendenten Gottes in die „Welt" als ihren immanenten Grund die Wirklichkeit selbst in den Rang des eigentlichen, vollwertigen, sich selbst genügenden Seins und beseitigt die Degradation der „Welt" gegenüber dem extramundanen Schöpfer sowie die Niveauunterschiede zwischen den ausgedehnten Dingen (res extensae) und dem Denken. Der Spinozismus qualifiziert sich damit zu d e m Kampfmittel gegen den Theismus im letzten Drittel des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Folgerichtig muß er es sich gefallen lassen, von der theistischen Reaktion als Atheismus, was er in Wahrheit nicht ist, verketzert zu werden. Der Spinozismus hat allerdings noch eine andere politisch bedeutsame Seite. Die Hineinnahme Gottes in die „Natur" enthebt der Notwendigkeit, in der Negation der Dualität Gott—Welt Gott selbst vollkommen vernichten und ihm alle religiöse Verehrung entziehen zu müssen. Weil damit der Spinozismus nicht gegen die Religion und die Kirche, die ja im Feudalstaat aufs engste, im protestantischen Deutschland sogar personell mit der weltlichen politischen Macht verflochten ist, grundsätzlich Front macht, eignet^ er sich besonders als ideologisches Kampfmittel für diejenigen bürgerlichen Kräfte, die eine aufklärerische Reformierung der Gesellschaft im Bündnis mit dem Thron oder den Landesherren anstreben. Er bietet die Chance, gegen Auswüchse der christ27
liehen Religion, Aberglauben, Vetketzerung des Sinnlichen u. a. zu Felde zu ziehen, erlaubt jedoch gleichzeitig, da er die Religion selbst und ihre Institutionalisierung nicht direkt antastet, ein Bündnis mit der herrschenden feudalen Macht. Diese Ideologiefunktion des Spinozismus trat freilich in der Praxis erst in Kraft, als um 1770 in Frankreich mit dem konsequenten Atheismus eine radikalere Form der philosophischen Wirklichkeitsaufwertung wirksam auf den Plan trat. Der Deismus entwickelte eine neue Gott-Welt-Beziehung nicht in der philosophischen Durcharbeitung und theoretischen Schlüssigkeit wie Spinoza, da er von der erkenntniskritischen Fragestellung des Sensualismus aus vor allem die Beziehung von „natürlicher" menschlicher Vernunft und biblischer Offenbarung untersucht; er entfernt sich in seiner Modifikation der Gott-Welt-Beziehung theoretisch nicht ganz so weit vom Theismus wie Spinoza, erreicht dennoch eine vergleichbare Wirklichkeitsaufwertung. Der Deismus geht noch von einer Dualität zwischen Gott und Welt aus. Gott erschafft die Welt, er erschafft sie jedoch so vollkommen, daß sie nach ihrer Erschaffung ganz in sich ruhen kann, daßein Hinausgehen über sie unnötig ist. Der deistische Gott schöpft die Welt, um sich danach sofort in seine Transzendenz zurückzuziehen, wo er nur noch als heuristisches Prinzip für die Erklärung der Vollkommenheit der Wirklichkeit zur V e r fügung steht. Der Deismus beginnt also mit einer GottWelt-Dualität, um sie jedoch im Interesse der angestrebten philosophischen Wirklichkeitsaufwertung sogleich wieder aufzuheben, indem er Gott einfach aus einem Verhältnis zur Wirklichkeit herauslöst und ihn in der Jenseitigkeit abstellt. Als Ideologie gilt für den Deismus Ähnliches wie für den Spinozismus, wenngleich er sich gegen diesen als einen vermeintlichen Atheismus abgrenzt. Um 1770 läßt im katholischen Frankreich eine kleine Gruppe oppositioneller Intellektueller im Kampf gegen die theistische Ideologie alle bisher geübten Rücksichten fallen, da sie nicht mehr an die Verwirklichung ihrer aufklärerischen Ziele in einem Bündnis mit dem Thron glaubt. Sie wendet sich nicht mehr nur gegen die Auswüchse in Religion und Kirche, son-
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dem gegen Religion und Kirche überhaupt. Diesem ideologischen Frontalangriff gibt Holbach theoretische Durchschlagskraft durch die Absicherung und Begründung des Atheismus in einem neuen umfassenden Weltbild. Holbach bestreitet nicht mehr bloß die Existenz eines Gottes im Namen der menschlichen „Vernunft", wie das in der noch esoterischen atheistischen Polemik in der französischen Frühaufklärung und auch in der Massenagitation zu Beginn der sechziger Jahre geschehen war. Sein Hauptwerk System der Natur (1770) will vielmehr die g a n z e Wirklichkeit auf eine solche Weise theoretisch erklären, daß sich die Vorstellung eines Gottes von selbst ausschließt. Im Unterschied zu Diderots weitestem philosophischen Vorstoß D'Alemberts Traum zielt es mit voller Bewußtheit auf eine theoretische Erfassung a l l e s Bestehenden, um in der Wirklichkeitserklärung aber auch nicht den kleinsten Spalt freizulassen, durch den wieder ein göttlich-geistiges Prinzip, etwas überirdisch Unerkennbares hätte eindringen können. Um die Wirklichkeit konsequent gegen einen Gott abzuschirmen, nimmt Holbach als einziger aus dem Kreis der radikalen französischen Aufklärungsphilosophen das Risiko auf sich, alle atheistisch-materialistischen Denkpositionen seit der Frühaufklärung zusammenzufassen und sie zu einem geschlossenen System der Welterklärung auszubauen. Die konsequent Gott negierende Bestimmung der Wirklichkeit als eines aus sich heraus bestehenden und in sich selbst ruhenden Seins konnte von ihrem theoretischen Ansatz her nur materialistisch sein. Holbach knüpft theoretisch an denjenigen Wirklichkeitsbereich an, der dem Menschen als sinnliche Gewißheit unmittelbar vor Augen steht: an der sinnlich-gegenständlichen Natur. Diese bietet sich auch deshalb als Anknüpfungspunkt an, weil in der Erforschung ihrer Gesetze die sich in der Gestalt der Mechanik konstituierende exakte Naturwissenschaft bisher die sichersten Erkenntnisresultate erzielt hatte. Holbachs Ansatz bleibt jedoch nicht beim Stoff (in seinem Sprachgebrauch „Materie") stehen, er muß ihn generalisieren. Da er die Gesetzlichkeit höherer Daseinsformen beim damaligen Entwicklungsstand der Naturwissenschaften noch nicht erfassen kann, sich gleichzeitig aber zur Entwicklung eines ge29
schlossenen Wirklichkeitsbildes verpflichtet hat, muß er alle anderen Daseinsformen der Wirklichkeit nach dem für die stoffliche Natur gesicherten Modell erklären: E r macht Daseins-, Bewegungsform und Gesetzlichkeit der anorganischen Natur zur Daseins-, Bewegungsform und Gesetzlichkeit der Wirklichkeit schlechthin: „Das Universum, diese große Vereinigung alles Existierenden, zeigt uns überall nur Materie und Bewegung: . . . Sehr mannigfaltige und in unendlich verschiedener Weise miteinander verbundene Stoffe erhalten und vermitteln unaufhörlich unterschiedliche Bewegungen. Die verschiedenen Eigentümlichkeiten dieser Stoffe, ihre verschiedenen Verbindungen, ihre notwendig daraus folgenden so mannigfaltigen Wirkungsarten machen für uns das W e s e n der Dinge aus; und aus diesem unterschiedlichen Wesen ergeben sich die verschiedenen Ordnungen, Stufen und Systeme, die diese Dinge einnehmen, deren Gesamtsumme das ist, was wir die N a t u r nennen. So ist die Natur, in der weitesten Bedeutung des Wortes, das große Ganze, das sich aus der Vereinigung der verschiedenen Stoffe aus ihren verschiedenen Verbindungen und aus den verschiedenen Bewegungen ergibt, die wir im Universum sehen." — „Mit einem Wort: der Mensch ist ein organisiertes, aus verschiedenen Stoffen zusammengesetztes Ganzes; . . . er ist ein materielles Wesen, das auf eine Art und Weise gebaut und gebildet ist, daß es empfinden, denken und in bestimmter Weise modifiziert werden kann, die nur ihm allein, seinem Körperbau, den besonderen Verbindungen der Stoffe, die sich in ihm vereinigt finden, eigentümlich ist." — „Mit einem Wort: . . . , reduzieren sich alle intellektuellen Fähigkeiten, das heißt alle Wirkungsarten, die man der Seele zuschreibt, auf Modifikationen, Eigenschaften, Seinsweisen und Veränderungen, die durch die Bewegung im Gehirn hervorgerufen werden . . . Die Modifikationen gehen von den Gegenständen aus, die unsere Sinne affizieren und deren Antriebe sich zum Gehirn fortpflanzen, oder aber von den Ideen, die jene Gegenstände dort hervorgerufen haben und die es reproduzieren kann." — „Die Bewegung ist eine Kraftäußerung, durch die ein Körper seinen Platz verändert oder danach strebt, ihn zu verändern, das heißt: nacheinander verschiedene Teile des Raums einzuneh30
men oder aber die Entfernung zu anderen Körpern zu verändern . . . Unsere Sinne zeigen uns, daß es bei den Dingen, die uns umgeben, im allgemeinen zwei Arten von Bewegungen gibt: die eine ist eine Bewegung von Masse, wodurch ein Körper im ganzen von einem Ort an einen anderen versetzt wird; die Bewegung dieser Art können wir sinnlich wahrnehmen . . . Die andere Art ist eine innere, verborgene Bewegung, die von der einem Körper eigentümlichen Energie abhängt, das heißt von dem Wesen, von der Verbindung, von der Wirkung und Gegenwirkung der nicht wahrnehmbaren Moleküle der Materie, aus denen dieser Körper zusammengesetzt ist. . . Schließlich sind solcher Art auch die im Innern des Menschen vor sich gehenden Bewegungen, die wir seine i n t e l l e k t u e l l e n F ä h i g k e i t e n , seine G e d a n k e n , s e i n e L e i d e n s c h a f t e n , seinen W i l l e n nennen . . ." 61 Die theoretischen Schwächen eines solchen Materialismus, der anders als der Materialismus Diderots in D'Alemberts Traum aus politisch-ideologischen Gründen vom Stoff her auf eine geschlossene Erklärung alles Bestehenden ausgeht, sind von der klassischen deutschen Philosophie einerseits und vom Marxismus andererseits noch präziser herausgearbeitet worden. Holbach versagt vor allem vor der Erklärung des organischen Lebens, des menschlichen Denkens und des schöpferischen Wesens des Menschen. Da er weiterhin nur Ortsveränderung und keinen qualitativen Veränderungsprozeß (Entwicklung) kennt, kann er auch noch keine Dialektik entwickeln. Der philosophisch begründete Atheismus des Systems der Natur, der der zeitgenössischen Öffentlichkeit als das letzte Wort des Materialismus galt, weil Diderots D'Alemberts Traum erst 1830 vollständig bekannt wurde, zieht in der Folgezeit in Frankreich und Deutschland gleichermaßen die ganze polemische Kraft der christlichen Apologetik auf sich. Zugleich belebt er aber auch den Konflikt innerhalb der französischen Aufklärung, der schon durch die Publikation der atheistischen Schriften Das entschleierte Christentum (1766), Briefe an Eugénie (1768) und Essay über die Vorurteile (1769) ausgebrochen war, zu bisher unbekannter Schärfe.62* Der Konflikt im Lager der französischen Aufklärung wirft dabei auch 31
auf innere Zusammenhänge in der deutschen Aufklärung ein erhellendes Licht, weil hier der Widerstreit der zwei Varianten philosophischer Wirklichkeitsaufwertung, der in Deutschland gerade von den fortgeschrittensten Köpfen als bloß innertheoretischer Prozeß begriffen wird, auch seine politischideologischen Voraussetzungen offener zeigt. Voltaire als Sprecher der Gruppe, die im Bündnis mit dem Thron die Gesellschaft vernünftig umgestalten will und die zur Wahrung eigener Interessen für das „niedrige Volk" eine vernünftige Religion für notwendig erachtet, gibt in Gott. Antwort des Herrn v. Voltaire auf das ,System der Natur' (1770) dem Verfasser seine Zustimmung, wenn er sich gegen den Gott der religiösen Fanatiker wendet. Er gesteht ihm sogar einen Atheismus zu, sofern er ihn für sich behält: „Ich bin mit Ihnen einer Meinung, daß der Fanatismus ein tausendmal gefährlicheres Ungeheuer ist als der philosophische Atheismus. Spinoza hat nicht eine einzige schlechte Tat begangen. Chätel und Ravaillac, beide durchaus fromm, haben Heinrich IV. ermordet." 63 Mit aller Entschiedenheit verurteilt Voltaire jedoch die öffentliche Verbreitung des Atheismus: „Der Atheist im Studierzimmer ist fast immer ein stiller Philosoph, der Fanatiker immer lautlärmend; jedoch der Atheist bei Hof, der atheistische Fürst könnte eine Geißel der Menschheit sein . . . Es ist das Verhängnis der Studierzimmeratheisten, Atheisten bei Hof hervorzubringen . . . GOTT bewahre uns vor einerp abscheulichen Priester, der einen König mit seinem geweihten Hackmesser in Stücke z e r h a c k t , . . . GOTT bewahre uns aber auch vor einem jähzornigen und barbarischen Despoten, der ohne Glauben an einen Gott sich selbst sein eigener Gott wäre;. . .'