Weimarer Goethe-Studien [Reprint 2021 ed.] 9783112473207, 9783112473191


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German Pages 392 Year 1981

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Weimarer Goethe-Studien [Reprint 2021 ed.]
 9783112473207, 9783112473191

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S C H R I F T E N DER G O E T H E - G ESELLSCHAFT Im Auftrage des Vorstandes herausgegeben von Karl-Heinz Hahn 61. Band

WEIMARER GOETHE-STUDIEN

von

ERICH TRUNZ

WEIMAR HERMANN BÖHLAUS NACHFOLGER 1980

Mit 66 Abbildungen

Copyright 1980 by Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar LSV 8020 272 - 140/270/80 Printed in the German Democratic Republic Satz und Druck: Gutenberg Buchdruckerei und Verlagsanstalt Saalfeld, Betrieb der VOB Aufwärts Bindearbeit: VEB Typodruck • Schaubeck Döbeln/Leipzig Lg.-Nr. 2493 Bestell-Nr. 795 525 3

Inhalt

Goethe als Sammler

7

Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

48

Die Sammelhandschriften von Goethes Gedichten

77

An den Grenzen des Goetheschen Werkes. Zuschreibungen, Abschreibungen, Zweifelhaftes, unzureichend Ediertes

85

\ . Goethesche Gedichte mit nicht-Goetheschen Überschriften 85 - 2. Ungedruckte Goethesche Notizen 89 - 3. Ein Fragment ist kein Gedicht, und ein Fragment ist kein Aufsatz 90 - 4. Ein sehr zweifelhafter Aufsatz 92 - 5. Ein nicht abgeschickter Vorschlag an den Sächsischen Kunstverein — und was daraus wurde 99 6. Goethes Gemeinschaftsarbeit mit Heinrich Meyer 106.

Eine Mappe mit Notizen zur Metrik aus Goethes Papieren

110

Goethes Entwurf Landschaitliche Malerei

156

1. Die Überlieferung 156 - 2. Goethe und die Landschaftsmalerei 157 - 3. Die vier Fragmente 165 - 4. Der Text 166 - 5. Das an Färber diktierte Schema 172 6. Das an John diktierte Schema 1 7 3 - 7 . Das an Schuchardt diktierte Schema 176 8. Der an Schuchardt diktierte Entwurf 178 - 9. Die Fragmente zur Landschaftsmalerei und die Anfänge der deutschen Kunstgeschichte 183 - 10. Die Namen der Maler aus den vier Entwürfen in alphabetischer Reihenfolge 189

Die Kupferstiche zu den „Lebenden Bildern" in den Wahlverwandtschatten

203

Hemsterhuis' Reise nach Weimar 1785 und die Klauersche Hemsterhuis-Büste 218 Ein Tag aus Goethes Leben

251

Anmerkungen zu den Abbildungen

278

Abbildungen

311

Editorische Notiz

377

Nachwort

378

Verzeichnis der Abkürzungen

381

Register

383

Goethe als Sammler

Als Goethe 1775 im Reisewagen des Herzogs nach Weimar kam, hatte er nur leichtes Gepäck bei sich, darunter ein paar Manuskripte wie das Faust-Fragment. Als er 1832 in Weimar starb, hinterließ er Manuskripte, die heute 341 Kästen füllen, eine Sammlung von 17800 Steinen, mehr als 9000 Blätter Graphik, etwa 4 500 Gemmenabgüsse, 8 000 Bücher, zahlreiche Gemälde, Plastiken, naturwissenschaftliche Sammlungen usw. Er hatte die Gabe, viel Welt an sich zu ziehen, indem er beobachtete und darstellte, und in diesem Zusammenhang ergab sich für ihn, daß er sammelte und ordnete. Sein Nachlaß ist heute die bedeutendste Sammlung zur Kultur der klassischen deutschen Literaturperiode.1 Wer wenig von Goethe weiß, der könnte angesichts des Hauses am Frauenplan denken, für einen Mann, eine Frau und ein Kind sei das ein reichlich großes Haus gewesen. Doch bei näherer Betrachtung ergibt sich: Goethe brauchte für seine Studien ein kunsthistorisches Institut. Dergleichen gab es damals nicht. Er schuf es sich selbst und brachte es in seinem Hause unter. Er brauchte sodann ein geologisch-mineralogisches Institut. Ein solches gab es zwar in Jena, doch er wollte es zur Hand haben und schuf es sich selbst - deswegen die Tausende von Steinen. Er brauchte ein botanisches und zoologisches Institut für seine Morphologie; und daneben sollte die Physik - insbesondere die Farbenlehre - nicht vernachlässigt werden. Für alles trug er die Materialien selbst zusammen. Dagegen gab es in Weimar seit langem eine gute Bibliothek; die hat er viel benutzt; deswegen war seine eigene Büchersammlung nicht groß. Alles andere mußte er sich selbst schaffen und in seinem Hause unterbringen; und dafür war dieses Haus fast zu klein. In seinen ersten Weimarer Jahren wohnte Goethe in dem Gartenhause. Einer der Gründe, umzuziehen, war das Anwachsen seiner Sammlungen von Gipsabgüssen, Bildern, Gesteinen und Tierschädeln. 1782 bezog er das Haus am Frauenplan, und nachdem es 1792 nach seinen Plänen umgebaut war, konnten die Sammlungsgegenstände besser verteilt werden. Viele Besucher haben uns ihre Eindrücke von dem Hause geschildert. Bei anderen Dichtern kam man in eine Wohnung, die außer den Gebrauchsgegenständen nur viele Bücher enthielt. Hier aber sah man künstlerische und naturwissenschaftliche Sammlungen und 1 Die folgenden Ausführungen sind ursprünglich ein Vortrag, gehalten im Rahmen der „Donnerstag-Vorträge" der „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar" am 19. Oktober 1961. Ich will darin nicht über Goethes Sammlungen sprechen, denn das ist ein Thema, das nur diejenigen darstellen können, welche diese Sammlungen betreuen, sondern über „Goethe als Sammler", d. h. über den Geist, aus dem heraus er sammelte. Daß dabei auch die Bestände der Sammlungen erwähnt werden, ergibt sich aus der Sache.

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Goethe als Sammler

fand einen Hausherrn, der mit Begeisterung und großer Sachkenntnis den Besuchern ausgewählte Stücke erläuterte.2 Am 23. Oktober 1812 zeichnet Kanzler v. Müller ein Gespräch mit Goethe auf (Unterhaltungen, hrsg. von E. Grumach, 1956, S. 9). Sie sprechen darüber, daß Goethe allwöchentlich kunstliebenden Freunden Blätter aus seiner Kupferstichsammlung zeigt und erläutert. Goethe sagt in diesem Zusammenhang: Mir ist der Besitz nötig, um den richtigen Begriff der Objekte zu bekommen ... Und so liebe ich den Besitz nicht der besessenen Sache, sondern meiner Bildung wegen ... Hier fällt das Wort Bildung, das bei Goethe den ursprünglichen Sinn hat, der mit „bilden" = „formen" zusammenhängt. Die Gegenstände der Sammlung formen ihn, weil sie Geist verwirklichen. Diesen Geist nimmt er auf und verarbeitet ihn. Und so sollen die Gegenstände auch auf andere wirken. Darum zeigt er sie gern. Er versuchte für seine Gäste das zu wählen, was sie, wie er meinte, besonders ansprechen würde. Als 1813 die Malerin Luise Seidler kommt, zeigt er ihr drei Stunden lang Handzeichnungen und Kupferstiche alter Meister (G He 2, S. 850). Als 1820 die Bildhauer Rauch und Tieck ihn aufsuchen, führt er sie zu seiner Sammlung von Kleinplastik, insbesondere den Bronzefiguren (G He 3,1, S. 196). Der Gegenstand ergibt ein Gespräch. Goethe führte immer Gespräche, die gegenständliche Grundlagen hatten. Während im Kreise der Kantianer und der Jenaer Frühromantiker das abstrakte Denken oft das Gespräch formte, wirkte im Weimarer Kreise sein gegenständliches Denken.3 In den Maximen und Reflexionen steht der Satz Denken ist interessanter als Wissen, aber nicht als Anschauen (H 12, Nr. 242). Die Sammlungsgegenstände sollten zwar auch Wissen vermitteln, vor allem aber das Anschauen üben, ein reines Erfassen der Phänomene. Die Gebiete der Sammlungen ergaben sich organisch aus Goethes Arbeiten. Sein literarisches Interesse umfaßte die Weltliteratur. Er wollte die wichtigsten Dichter des Altertums in guten Ausgaben besitzen, dazu die nötigen Wörterbücher und Nachschlagewerke. Ebenso mußten Shakespeare, Dante, Ariosto, Calderon, Kalidasa und andere Große der Literatur vertreten sein. Schon Goethes Vater hatte eine Bibliothek, welche - nach Literaturen und Zeiten geordnet das Wichtigste enthielt.4 Auf dem Gebiet der Literatur war seit Herder das Denken in zeitlosen Normen zurückgetreten, man begann die Werke geschichtlich einzuordnen. Dem entsprach Goethes Büchersammlung in Auswahl und Anordnung. Schwieriger war die Berücksichtigung der Geschichte auf dem Gebiet der bildenden Kunst. Noch herrschten die ästhetischen Normen von Mengs, Hagedorn und Sulzer, und als geschichtliche Hilfsmittel benutzte man die alten Werke von 2 Einen Teil der Sammlungen findet man verzeichnet in: Chr. Schuchardt, Goethes Kunstsammlungen. Bd. 1: Kupferstiche, Handzeichnungen, Gemälde usw., Jena 1848. - Bd. 2 : Medaillen, Münzen, Gipsabgüsse usw., Jena 1848. - Bd. 3 (unter dem Titel: Goethes Sammlungen, Bd. 3): Mineralogische und andere naturwissenschaftliche Sammlungen, Jena 1849. Fotomechanischer Neudruck: Hildesheim 1976. 3 Als Schiller im Sommer 1787 in Weimar war, während Goethe in Rom lebte, schrieb er am 12. August an Körner, Goethes Geist habe hier „alle Menschen gemodelt" in Richtung auf „Verachtung aller Spekulation" und „mit Attachement an die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne"; man „sucht Kräuter und treibt Mineralogie". 4 Franz Gotting, Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953), S. 2 3 - 6 9 (mit Katalog).

Historisches Denken

9

Vasari und von Sandrart. 5 Neuere Hilfsmittel wie Füßlis „Künstlerlexikon" 6 boten alphabetisch Daten über die Künstler und ihre Werke, doch nichts, was dem historischen Verständnis nützte. Seitdem Winckelmann die antike Kunst in ihrem zeitlichen Ablauf dargestellt hatte, ließen sich aber geschichtliche Fragen nicht mehr übergehen. Doch es gab noch kein Werk der mittelalterlichen und neueren Kunstgeschichte. In Italien arbeitete Seroux d'Agincourt an einem solchen.7 Goethe lernte ihn 1787 in Rom kennen und schrieb, daß er seine Zeit und sein Geld anwendet, eine Geschichte der Kunst von ihrem Verfall bis zur Auilebung zu schreiben (Ital. Reise, 22. Juli 1787). Es dauerte aber noch 21 Jahre, bis der I. Band (1808) erschien. So schwierig war es, das Material zu besorgen. - Das sichtbarste und wohl auch wirksamste Werk des neueren historischen Denkens in Deutschland war eine Schriftenreihe der Göttinger Akademie der Wissenschaften: „Geschichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des 18. Jahrhunderts". Da wurde eine Geschichte der Philosophie, der Chemie, der Physik und anderer Wissenschaften geschaffen, und man fand in dem Göttinger Maler und Kunsthistoriker J. D. Fiorillo einen Bearbeiter für die Geschichte der Malerei, von der 5 Bände 1798 bis 1805 erschienen, 4 weitereBände 1815-1820. Goethe hat das stoffreiche, aber trockene Werk mehrfach benutzt. 8 In den Jahren 1803-1821 gab Adam Bartsch in Wien, Kupferstecher und Kunstgelehrter, auf Grund der reichen Wiener graphischen Sammlungen (heutige „Albertina") ein Werk heraus, das einzelne Kupferstecher und ihre Blätter (möglichst vollständig) verzeichnete. Es bot viel Materialien, war aber weder zeitlich noch alphabetisch geordnet. 9 Goethe dagegen wollte das historische Wissen mit der Deutung und Wertung des Einzelwerks und der Überschau der Zusammenhänge verbinden. Er war zwar der Meinung, daß große Kunst unmittelbar auf das empfängliche Gemüt wirke, wußte aber zugleich, daß historisches Sehen vor Fehldeutung bewahrt und vielfach den Sinn erst erschließt. Darum: jeder, dem es Ernst ist, sieht wohl ein, daß auch in diesem Felde kein Urteil möglich ist, als wenn man es historisch entwickeln kann. (Ital. Reise, 28. Jan. 1787). In Italien sah er sich veranlaßt, bei jedem Kunstgegenstande ... nach der Zeit zu fragen (Ebd.), und diese Bemühungen setzte er in Weimar fort. 10 Seinen Freund Heinrich Meyer schob er sanft von der Malerei zur Kunstgeschichte, und so schrieb dieser dann, von Goethe inspiriert, eine Geschichte der Kunst von der Antike bis zur Gegenwart, die beiden als Leitfaden 5 Goethe besaß Vasari in der Ausgabe Bologna 1681 (Ruppert 2323), Sandrart in der Ausgabe Nürnberg 1768-1775 (Ruppert 2322). - Vgl. zu Sandrart auch Keudell 934 und zu Vasari das Register zu den Tagebüchern der WA. 6 Goethe besaß es in der Auflage von 1779 (Ruppert 2320). 7 Goethe-Handbuch, 2. Aufl., Bd. 1, 1961, Sp. 89 f. - Philipp Schweinfurth, Goethe und Séroux d'Agincourt. In : Revue de Littérature comparée 12, 1932, S. 623-630. 8 Ruppert 2401. - Keudell 1003. - Goethes Tagebuch 24. März 1797 ; 31. Oktober und 1. November 1803. - W. Waetzoldt, Dt. Kunsthistoriker 1, 1921, S. 287-292. - Neue dt. Biogr. 5, 1961, S. 167 f. 9 Wurzbach, Biogr. Lex. von Österreich 1, 1856, S. 171-173. 10 In seiner Schrift Kunst und Altertum am Rhein und Main sagt Goethe: weil aller Vorzug der bildenden Kunst daxin besteht, daß man ihre Darstellungen mit Worten zwar andeuten, aber nicht ausdrücken kann, so weiß der Einsichtige, daß er in solchem Falle ein Unmögliches übernähme, wenn er sich nicht zu seiner Bahn selbst Maß und Ziel setzen wollte. Da erkennt er denn, daß aut historischem Wege hier das Reinste und Nützlichste zu wirken ist... (Im Anfang des Abschnitts Heidelberg).

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Goethe als Sammler

diente, leider aber damals nicht gedruckt wurde. 11 Wie war es Goethe und Meyer möglich, dieses Werk überhaupt herzustellen? Sie waren niemals in Paris, Madrid, Amsterdam, Brüssel und London gewesen, nicht einmal in Prag oder Wien. Als Hilfsmittel mußten Abbildungen dienen, also Reproduktionsstiche. Sodann waren Handzeichnungen ein vortreffliches Mittel, einen Künstler kennenzulernen, und Zeichnungen waren damals noch preiswert. Es gab im 18. Jahrhundert noch nicht den Typ des Kunstbuches, der im 19. Jahrhundert aufkam und in der Zeit der Photographie und ihrer Klischierung seine Vollendung erfuhr : das Buch über einen Künstler oder eine Epoche mit vielen, historisch geordneten Abbildungen. Die ersten Bücher, die den Versuch machten, das Gesamtwerk eines Malers in Umrifjstichen - die sehr unzureichend waren - zusammenzutragen, waren die Bände des französischen Kupferstechers Landon über Raffael und über Michelangelo, die 1803 zu erscheinen begannen. 12 Die meisten Bücher über Kunst erschienen ohne Bilder. 13 Wie begeistert hat Goethe 1808 die Lithographien von Strixner nach Dürers Randzeichnungen zum Gebetbuch des Kaisers Maximilian begrüßt ! Man hätte mir soviel Dukaten schenken können, als nötig sind, die Platten zuzudecken, und das Gold hätte mir nicht so viel Vergnügen gemacht als diese Werke . . , 14 Das erste Bilderwerk, das einen Eindruck von altdeutscher Malerei vermittelte, waren Strixners Lithographien nach Bildern der Sammlung Boisserée, 1821.15 Dieser Buchtyp war erst im Entstehen. Vorher gab es nur einzelne Reproduktionsstiche, und so sammelte Goethe Reproduktionsstiche und Handzeichnungen. Man konnte damals bequem die gesammelten Werke von Sophokles, Shakespeare oder Racine kaufen, nicht aber die von Raffael, Michelangelo oder Rembrandt. Man mußte sie mühsam Stück für Stück in Nachstichen erwerben, immer bedacht, möglichst viele und möglichst gute zu erhalten. Erst dann konnte man einen Überblick gewinnen und von da aus wieder das einzelne richtig einschätzen. So wurde aus dem Bemühen um rechtes Verstehen das Streben nach historischer Einordnung, und daraus folgte die Notwendigkeit, viel Materialien zur Hand zu haben und also zu sammeln. 11 Von dieser Kunstgeschichte ist mehrfach in Goethes Tagebüchern die Rede, z. B. 1811 am 8., 11., 18.-23., 25. und 28. August und am 4. und 5. September; ferner in Briefen, z.B. an Boisserée, 2. Januar 1815; an Zelter, 17. Mai 1815. Sie ist in Meyers Nachlaß erhalten und hat handschriftliche Korrekturen von Goethe. Eine Edition durch Helmut Holtzhauer in den Sehr. G. Ges. ist 1974 erschienen. 12 Charles-Paul Landon, Vies et œuvres des peintres les plus célèbres, Paris 1803-1817. Bd. 2-5: Ecole romaine. Raphael Sanzio. Bd. 6: Ecole florentine. Michel-Ange. - Bibliothèque Nationale. Catalogue 87, 1926, Sp. 1141. - Thieme-Becker 22, 1928, S. 299. - Goethe entlieh aus der Weimarer Bibliothek 1821 Bd. 1 - 3 und 1825 die Raffael-Bände (Keudell 1415 u. 1669). Das Tagebuch vermerkt am 17. Oktober 1825: Abends Hottat Meyet. Gingen wir einen Band der Werke Rafiaels von Landon durch. 13 Eine Ausnahme war das Düsseldorfer Galerie-Werk: Nicolas de Pigage, La Galérie électorale de Dusseldorf. Basel, Düsseldorf, Mannheim 1778. 2 Bde., in Quer-Folio. (Es gibt auch eine Ausgabe ohne Bilder, Brüssel 1781.) Doch die meisten Kupferstiche darin sind viel zu klein und ergeben nur wenig. Noch Franz Kuglers „Handbuch der Kunstgeschichte", 1842, war ein Werk ohne Abbildungen. Dann erschienen als Ergänzung dazu 1851-1856, herausgegeben von Guhl, Lübke und Caspar, 4 Mappen „Denkmäler der Kunst" mit Bildern in Umrifjstichen, die kaum eine Ahnung von den Originalen vermitteln können. 14 An Jacobi, 7. März 1808. Dazu die Rezension in der „Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung" 1808, Nr. 67, unterzeichnet W. K. F. - Auch in den „Tag- und Jahresheften", im Abschnitt 1809, wird dieses Werk genannt. - Ruppert 2448. 15 Ruppert 2183. - Dazu WA 49, 1, S. 427-430.

Naturwissenschaftliche Sammlungen

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Ähnlich war es in den Naturwissenschaften. Linné hatte ein System der Gattungen, Arten usw. geschaffen. Goethe zielte auf etwas anderes, das er Morphologie nannte: die Lehre von der Wandelbarkeit der Organe und dem Gesamthaushalt des Organismus. Er wollte nachweisen, dafj der Mensch einen Zwischenkieferknochen habe so wie andere Wirbeltiere. Dazu brauchte er Schädel von Menschen, Affen, Pferden, Füchsen, Löwen und Hunden; er sammelte sie in seinem Hause, denn er konnte nicht zu jeder Beobachtung nach Jena fahren. Sein Erster Entwurf einer Einleitung in die vergleichende Anatomie beginnt mit dem Satz: Naturgeschichte beruht überhaupt aut Vergleichung. Und so auch in der Botanik: Um nachzuweisen, daß die Teile der Blüten umgeformte Blätter seien, brauchte er Beobachtungsmaterial. Nun lassen sich Pflanzen nicht so gut aufheben wie Tierskelette. Er ergänzte die Herbarien durch Zeichnungen, die er selbst machte oder von anderen machen ließ. Als er seine Morphologie der Pflanzen schuf, entstand also seine Sammlung von Materialien. Ähnlich war es in der Mineralogie. Es gab auf diesem Gebiet noch kein System, wie es Linné für die Lebewesen entworfen hatte. Zeitgenossen Goethes wie der Freiberger Geologe A. G. Werner und seine Schüler - von Goethe oft erwähnt - entwickelten eine Systematik und Morphologie der Gebirgsarten.16 Ebenso gab es noch keine klaren und sachlich begründeten Vorstellungen, wie die Gestalt der Erdoberfläche mit den Veränderungen im Laufe der Zeit zusammenhinge. Wollte man hier zu Erkenntnissen gelangen, so genügte es nicht, hier und da einen Stein mitzunehmen, sondern man mußte systematisch sämtliche Mineralien einer Landschaft zusammentragen. Goethe brachte also von Thüringen und Böhmen sehr reichhaltige Sammlungen zusammen, von Deutschland eine, die einen guten Überblick gab, und reichhaltige Beispiele von Gesteinen anderer Länder.17 Wieder kam er von der wissenschaftlichen Fragestellung zur Sammeltätigkeit. Goethe sammelte nicht (oder nur ausnahmsweise) einzelne schöne und wertvolle Stücke. Er hatte einen anderen Gesichtspunkt, einen wissenschaftlichen. Seine Kunstsammlungen waren ihm Material zur Kunstgeschichte und sollten deswegen möglichst vielseitig die wichtigsten Epochen und Länder repräsentieren. Ebenso sollte die Steinsammlung die großen Zusammenhänge zeigen, den geologischen Aufbau von Thüringen, von Deutschland, von Europa. Seine Naturbetrachtung wie seine Kunstbetrachtung gehen zwar von genauer Einzelanschauung aus, streben aber zu großen Synthesen. Immer bleibt für ihn die Natur ein Ganzes. Deswegen seine Weite des Forschens, die vielen Bereiche. Er versucht, Tonlehre, Farbenlehre und das übrige Physische zu verknüpfen : Wenn ein paar große Formeln glücken, so muß das alles Eins werden, alles aus Einem entspringen und zu Einem zurückkehren,18 Schiller hat diese Richtung des Goetheschen Denkens richtig erkannt in dem berühmten Brief vom 23. August 1794: „Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das einzelne Licht zu bekommen, in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum a u f . . . " 16 Karl Alfred v. Zittel, Gesch. der Geologie u. Paläontologie, München u. Leipzig 1899 = Gesch. d. Wiss. in Deutschland, 23. - Max Semper, Die geologischen Studien Goethes, Leipzig 1914. 17 Schu 3, S. 1-266. 18 An Sartorius, 19. Juli 1810. Dazu die ausführlicheren Briefe über dieses Thema an C. H. Schlosser, 6. Februar 1815, und an Zelter, 9. September 1826.

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Goethe als Sammler

Von diesem Gesichtspunkt aus ergibt sich die Besonderheit von Goethes Sammeln. Es gab im 18. Jahrhundert auch andere, die vielerlei sammelten, also zugleich Gemälde, Steine, Elektrisiermaschinen und Bücher. Es sind vielseitig interessierte Männer, denen aber die Vielheit nicht zur Ganzheit wurde.19 Goethe knüpft nur äußerlich an sie an, denn bei ihm ist die treibende Kraft seine Allseitigkeit, der immer eine Ganzheit der Erkenntnis vorschwebt. Goethe lebte in einer Epoche, als die privaten Sammlungen einen letzten großen Höhepunkt erlebten und zugleich die öffentlichen Museen entstanden.20 Im 17. Jahrhundert gab es nur die sogenannten „Raritätenkabinette" und „Kunstkammern" einiger Fürsten und reicher Privatleute, in denen meist die verschiedenartigsten Dinge zusammenstanden, Gemälde, Steine, indianischer Federschmuck, Automaten mit einem Uhrwerk usw. Im 18. Jahrhundert begann man, die Bestände nach Sachgebieten zu ordnen und die Kunstsammlungen abzutrennen. Goethes Anordnung seiner Kupferstiche und Handzeichnungen nach Jahrhunderten und Ländern, die uns heute selbstverständlich erscheint, war damals neu; man gliederte gewöhnlich nach Gegenständen: Biblisches, Historienbilder, Porträts, Stilleben usw., sofern man überhaupt gliederte. Manche privaten Sammler - solche gab es besonders in Hamburg, Frankfurt und Leipzig - zeigten ihre Sammlungen zu gewissen Stunden interessierten Besuchern. Wie das zuging, schildert uns Goethe in Dichtung und Wahrheit in dem Abschnitt über Leipzig, wo er die Winklersche und die Richtersche Sammlung nennt (8. Buch). 1734 wurde in Rom die Antikensammlung des Kapitolinischen Museums öffentlich zugänglich gemacht. 1753 wurde das Britische Museum gegründet, doch seine Sammlungen waren zunächst nur für Gelehrte geöffnet. Die deutschen Fürsten hatten ihre Kunstwerke meist in ihren Wohnräumen. Allmählich begannen sie, öffentliche Sammlungen einzurichten. Dafür brauchte man Räume, Verwalter und Wärter. Die Mannheimer Sammlung von Gipsabgüssen, die Dresdener Galerie und die zwei Kasseler Museen (Gemäldegalerie und Museum Friedericianum) waren im 18. Jahrhundert bahnbrechend.21 In Thüringen gab es noch nichts dieser Art; die Sammlungen und die Zahl derer, die sie sehen wollten, waren zu klein. In Frankreich wurde infolge der Revolution der königliche Kunstbesitz zum Staatsbesitz, er erhielt staatliche Verwalter und wurde 1793 durch Konventsbeschluß allgemein zugänglich. Als Napoleon dann nach und nach viele europäische Länder besetzte, ließ er überall wertvolle Kunstwerke fortführen und nach Paris bringen. So entstand dort das „Musée Napoléon", das einen Überblick über die europäische Kunst von Neapel bis Berlin, von Spanien bis Wien gab. Nach den Befreiungskriegen wurden die Kunstwerke wieder heimgebracht. Die privaten Sammlungen verloren aber keineswegs an Bedeutung. Ihnen ist zu verdanken, daß vieles, für das die öffentlichen Sammlungen damals noch 19 Ein gutes Beispiel ist die Sammlung Teyler in Haarlem, die so stehengeblieben ist, wie sie im 18. Jahrhundert angelegt wurde. Man kann sich dort noch heute ein genaues Bild von dem damaligen Zustand machen. 20 Valentin Scherer, Deutsche Museen. Jena 1913. Otto Homburger, Museumskunde, Breslau 1924. 21 Hans Vogel, Die Besucherbücher der Kasseler Museen aus der Goethezeit. In: Ztschr. d. Ver. f. hess. Gesch. u. Landeskunde 67, 1956. Auch als Sonderdruck, Kassel 1956. - Ruppert 2185-2187.

Private und öffentliche Sammlungen

13

kein Interesse hatten, erhalten blieb. An den meisten Orten gab es noch keine öffentlichen Sammlungen; die privaten Sammlungen waren deren Vorgänger: Die Sammlung Wallraf wurde zum Grundstock des späteren Kölner Museums; die Sammlung Boisseree wurde ein wesentlicher Bestandteil der Münchener Pinakothek. 22 Als das linksrheinische Gebiet 1795 französisch wurde und als 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluß die geistlichen Fürstentümer aufgehoben wurden, kam sehr viel Besitz der geistlichen Fürsten, der Stifte, Klöster usw. zum Verkauf. Nur was den Pfarrkirchen gehörte, blieb erhalten. Damals begannen die Brüder Boisseree Werke von Van Eyck, Rogier van der Weyderi, Memling usw. zu sammeln und brachten mehr als 200 Gemälde zusammen, für die sie ihr Vermögen opferten. Es war eine Spezialsammlung: nur altdeutsche und altniederländische Kunst, nur Originalwerke. Also eine ganz andere Sammlung als die Goethes, der hauptsächlich Nachstiche und Kopien sammelte, jedoch universal von der Antike bis zur Gegenwart. War die Sammlung Boisseree die Vorstufe eines Museums, so lag die Sammlung Goethes in der Linie, die zu den späteren kunsthistorischen Instituten hinführte. Goethe hat seit seiner Kindheit Sammlungen und Sammler gekannt. Deswegen schildert er sie in den ersten beiden Büchern von Dichtung und Wahrheit. In der Jugend ist die Bildbarkeit des Geistes besonders stark, die bildende Wirkung unbewußt. Der Knabe sah in römischen Kupfersticheil Bauwerke des Altertums und der Renaissance. Er sah sodann die Gemäldesammlung des Vaters. Auch andere wohlhabende Frankfurter Bürger hatten Sammlungen: Naturalien oder Kupferstiche oder niederländische Maler. Der Rat Goethe hatte sein Spezialgebiet: Frankfurter Maler seiner Zeit. Wie tief die jugendlichen Eindrücke sich Goethe einprägten, zeigt folgende Geschichte: Die beiden Stillleben von Justus Junker, deren Entstehung er als Knabe erlebte, wurden seiner Schwester Cornelia mitgegeben, als sie 1773 heiratete. Goethe hat die Bilder wohl noch einmal wiedergesehen, als er 1779 Cornelia in Emmendingen besuchte, dann nie mehr. Mit 63 Jahren beschrieb er sie aus der Erinnerung in Dichtung und Wahrheit. Im 20. Jahrhundert tauchten die Bilder wieder auf; sie hängen heute wieder im Frankfurter Goethehaus. 23 Wir können sie mit seiner Schilderung vergleichen; diese stimmt genau. Ein gutes optisches Gedächtnis gehört zu einem Sammler, ebenso zu einem Kunsthistoriker, und es ist von hohem Wert für einen Schriftsteller. Goethes Vater besaß auch eine Büchersammlung. Glücklicherweise ist uns ein Verzeichnis erhalten geblieben. 24 Sie war nicht sehr groß - etwa 2 100 Bände - , aber erstaunlich gut und vielseitig ausgewählt aus allen Gebieten der Literatur, Theologie, Philosophie, Geschichte, Rechtswissenschaft, Geographie, Naturwissenschaft, Medizin usw. 22 Eduard Firmenich-Richartz, Sulpiz und Melchior Boisseree als Kunstsammler. Jena 1916. - G. Poensgen, Verzeichnis des heutigen Bestandes der Sammlung Boisseree. In: Goethe und Heidelberg. Heidelberg 1949, S. 185-193. - Die Münchener Sammlungen wurden 1809 dem Publikum zur Besichtigung freigegeben (Val. Scherer, Dt. Museen, 1913, S. 106), 1827 kam die Sammlung Boisseree hinzu. 23 Abgebildet in: Bilder aus dem Frankfurter Goethe-Museum. Hrsg. von E. Beutler und J. Rumpf, Frankfurt 1949, Abb. 33 u. 34. 24 Der Schreiber J. W. Liebholdt fertigte 1793 ein Verzeichnis an, das 1691 Nummern umfaßt. Dieses ist verarbeitet in dem Aufsatz von Franz Gotting, Die Bibliothek von Goethes Vater. In: Nassauische Annalen 64 (1953), S. 23-69.

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Goethe als Sammler

Öffentliche Sammlungen gab es in Frankfurt damals noch nicht. Die privaten Sammlungen hat Goethe oft gesehen. In Leipzig waren die Verhältnisse ähnlich. In der Sammlung des Malers Oeser sah Goethe Werke des 18. Jahrhunderts; in den Häusern der Kaufleute Winkler und Richter Hunderte von Gemälden - darunter gute Niederländer - und viele Kupferstiche. Die Galerie in Dresden war damals bereits öffentlich und enthielt schon die meisten der Kostbarkeiten, um derentwillen sie heute so berühmt ist. Goethe sah dort vortreffliche Niederländer des 17. Jahrhunderts, und er beschreibt in Dichtung und Wahrheit, daß ihm hier zum ersten Mal bewußt wurde, daß man durch die Bilder der Künstler die Natur neu sehen lernt. 25 Später hat er sich bemüht, nicht nur an den Niederländern - wie in Dresden —, sondern auch an ganz andersartigen Werken sein Sehen zu bilden und damit Möglichkeiten der Welt-Auffassung zu verstehen und zu verarbeiten. Naturaliensammlungen interessierten ihn in seiner Jugend nicht. Als ihm auf der Schweizerreise 1775 Mineralien gezeigt wurden, wandte er sich zu anderen Dingen. Er hat das später in Dichtung und. Wahrheit kopfschüttelnd beschrieben (18. Buch). Es änderte sich bald. In Sachsen-Weimar, das ein armes Land war, hatte man früher Kupfer- und Silberbergbau in Ilmenau betrieben. Es bestand die Hoffnung, ihn wieder aufzunehmen. Dazu bedurfte es mineralogischer Kenntnisse. 1779 begann Goethe, sich in dieses Gebiet einzuarbeiten, hauptsächlich wegen des Ilmenauer Stollens, aber auch, weil er überall im Lande abbaufähige Kohle, gute Bausteine und nebenher brauchbare Steine für den Bildhauer Klauer suchte. Da ergab sich die Sammlung der Gesteinsproben von selbst.26 Und das um praktischer Zwecke willen begonnene Studium wuchs dann um der reinen Erkenntnis willen weiter und dehnte sich aus. 1780 sammelte er Steine aus Thüringen, später aus allen Ländern der Erde. - Seit 1781 wuchs auch seine zoologische Sammlung, die er für seine morphologischen Studien brauchte. 27 Die italienische Reise war der Versuch, die eigene Bildbarkeit neu zu erproben und für die innere Sehnsucht antwortende Gegenstände zu finden. Goethe sah vor allem die Werke des Altertums und der Renaissance. Auch beobachtete er Pflanzen und Tiere. Hier wuchs die Freude am Besitz von Gipsabgüssen antiker Statuen und Gemmen, von Reproduktionsstichen der Gemälde und Ansichtsstichen der Landschaften. Bisher hatte er in Weimar vorwiegend Lebensdokumente aufbewahrt: Silhouetten oder Porträtkupfer oder Klauersche Büsten, die Freunde und Bekannte darstellten. Jetzt begann ein planmäßiges Sammeln von Abbildungen bedeutender Kunstwerke. Goethe wurde nun zum Sammler und mit der Zeit zu einem der bedeutendsten in Deutschland. 28 Sein Interesse war dabei keineswegs nur auf seinen privaten 23 2. Buch: Frankfurter Sammlungen; 8. Buch: Oeser; Leipziger Sammler (Huber, Kreuchauff, Winkler, Richter); Dresdener Galerie. - Dazu Ruppert 2268, 2295, 2296, 2410. 26 Wolf v. Engelhardt, Goethes Sammlungen von Mineralien und Gesteinen bis zum Jahre 1786. In: Neue Hefte für Morphologie 4, 1962, S. 100-128. 27 Viel Material dazu in der Korrespondenz über den Zwischenkieferknochen-Aufsatz; zusammengestellt bei Mommsen; Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten 2, 1958, S. 267 ff. 28 Als Umfang der Goetheschen Kunstsammlungen, soweit sie heute vorhanden sind, nennt mir Herr Dr. Willy Handrick die Zahl: 26 511 Gegenstände. - Eine Aufstellung im einzelnen findet man in: Die Goethe-Institute für dt. Literatur. Denkschrift über Arbeit und Aufgaben

Goethe und die Sammlungen in Jena und Weimar

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Besitz gerichtet, sondern mindestens ebensosehr auf die herzoglich weimarischen Sammlungen. Er arbeitete immer darauf hin, daß beide einander ergänzten, und dafür bestanden die besten Vorbedingungen, da er sehr bald der maßgebliche Mann für alle Sammlungen in Weimar und Jena wurde. Eine feste Formulierung erhielt diese Aufgabe erst 1815 als „Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst in Weimar und Jena". Goethe hatte hier zu tun mit Ankauf, Restaurierung, Ordnung und Aufstellung aller Sammlungen. Er hat viele Ämter in dem kleinen Herzogtum gehabt, von der Wegebaukommission bis zur Leitung des Hoftheaters. Er hat sie nach und nach aufgegeben, nur eins behielt er bis zu seinem Tode: die Oberaufsicht über die Sammlungen. 29 Im Jahre 1795 hielt Goethe in der Weimarer „Freitags-Gesellschaft" einen

Vortrag Über die verschiedenen

Zweige

der hiesigen

Tätigkeit

(WA 53,

S. 175 ff., S. 483 ff.). Er betrachtet hier alle kulturellen Bemühungen als eine Ganzheit, die wohlgegliedert sein muß. Ein Teil davon ist das Sammlungswesen; und nun erläutert er einen für jene Zeit sehr fortschrittlichen Plan: Er wünscht einen Gesamtkatalog der Weimarer Kunstsammlungen, der auch seinen eigenen Besitz mit einbezieht (S. 179). Auch für die Bibliotheken des Landes taucht die Idee eines Gesamtkatalogs auf (S. 187 f.). Doch zu ihrer Verwirklichung konnte es damals nicht kommen, dazu hätte man viel mehr Bibliothekare gebraucht. Man mußte zufrieden sein, wenn eine gute Benutzbarkeit der einzelnen Bestände gelang. Aus der Tätigkeit der „Oberaufsicht" entstand 1817 Goethes Aufsatz Museen in Jena, in welchem er Geschichte und Zustand der Sammlungen zur Mineralogie, Zoologie, Anatomie, Botanik usw. darlegt (WA 53, S. 2 9 1 - 3 0 4 ) . Er war sich darüber klar, daß die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Universitäten den idyllischen Zustand hinter sich ließ, in welchem eine Sammlung in einem einzigen Zimmer Platz hatte, zu welchem allein der Professor den Schlüssel besaß, um holen zu können, was er brauchte. Goethe weist auch darauf hin, daß man bis in seine Zeit hinein vielfach nur vom praktischen Nutzen ausgegangen sei, z. B. im botanischen Garten nur Heilpflanzen angebaut habe, daß man jetzt aber ebensosehr an freie Forschung denken müsse. Goethe bemühte sich, in Zusammenarbeit mit den Jenaer Professoren die Sammlungen möglichst förderlich für die Forschung und den akademischen Unterricht zu gestalten. Finanziell war man freilich sehr begrenzt, und die Anschaffungen waren mitunter kleine Abenteuer. Für zoologische Studien stellte er gern Skelette neben ausgestopfte Tiere, um Körperform und Knochenbau zugleich zu zeigen. In Jena fehlte ein Tiger, und in der Abhandlung über den Zwischenkieferknochen erzählt Goethe nun, wie denn einst, bei großer Kälte, der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen dt. Literatur in Weimar, Weimar, 7. Oktober 1959. Dort gibt H. Holtzhauer S. 48 an: 2512 Handzeichnungen, 9179 Blätter Graphik, 50 Gemälde, 1 9 2 6 Medaillen, 2 059 Münzen, 348 Kleinplastiken und Plastiken, 8 770 Gipsabgüsse (meist Gemmenabgüsse) u. a. m. Nähere Angaben findet man ferner in: Alfred Jericke, Goethe und sein Haus am Frauenplan, Weimar 1959, S. 37 ff. - Für Einzelnachweise ist das Werk Schuchardts (vgl. Anmerkung 2) unentbehrlich, doch mu§ man berücksichtigen, da5 es bei aller Reichhaltigkeit nicht vollständig ist. 2 9 Gute Angaben hierüber enthält der Artikel „Amtliche Tätigkeit" von W. Flach im Goethe-Handbuch, Neue Aufl., Bd. 1, 1961, Sp. 221-234.

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Goethe als Sammler

ein zu Nürnberg verendeter Tiger, mit der fahrenden Post, stark gehören anlangte und noch jetzt ausgestopft und skelettiert unsern Museen zu vorzüglichem Schmuck gereicht. (L 9, S. 169. - Dazu: Knebel an Goethe 17.1. 99.) Zu Goethes amtlichen Pflichten gehörte auch die Aufsicht über die Büchersammlungen, d. h. die herzogliche Bibliothek in Weimar und die Universitätsbibliothek in Jena. Wie das Museumswesen war das Bibliothekswesen um 1800 in einem großen Wandel. Die Bibliotheken der Fürsten waren bisher nur einem kleinen Kreis von Gelehrten und Schriftstellern zugänglich gewesen. Die Universitätsbibliotheken waren für die Professoren da und nur in begrenztem Maße für ältere Studenten. Die erste moderne öffentliche Studienbibliothek war die in Göttingen. Nun strebten Weimar und Jena diesem Beispiel nach, mit genauen Katalogen, regelmäßiger Ausleihe und allgemeinen Benutzungsmöglichkeiten. 30 Daraufhin wurde die Jenaer Bibliothek, wie das alte Ausleihverzeichnis zeigt, um 1800 nicht nur von Universitätsangehörigen benutzt, sondern auch von dem Jenaer Postmeister, einem Zinngießer, einem Bäckermeister-und einem „Handarbeiter". 31 Goethe hat diese Bibliotheken viel benutzt. Wir wissen aus dem Weimarer Ausleihverzeichnis, was er entliehen hat. 32 Und da nun seine private Bibliothek erhalten ist, 33 kann man sehen, wie er diese und die öffentliche aufeinander abstimmte. Goethe gab wenig Geld für Bücher aus im Vergleich mit dem, was er für Kupferstiche und naturwissenschaftliche Sammlungen ausgab; am wenigsten für deutsche Literatur seiner Zeit. Er war wohl der Meinung, wenn ein Schriftsteller in seiner Bibliothek vertreten sein wolle, dann solle er seine Bücher als Geschenk senden. Und das haben viele getan. Was er zugesandt bekam, hob er auf. So kommt es, daß einige äußerst seltene Werke, die als Privatdrucke erschienen, in seiner Bibliothek zu finden sind. Sie umfaßte am Ende seines Lebens etwa 5 500 Werke, das macht ungefähr 8 000 Bände. So viel besaßen damals auch andere Schriftsteller oder Gelehrte. Sie war also nicht groß, aber sie war universal. Sie umfaßt Naturwissenschaften, Nationalökonomie, Geschichte, Literatur, Theologie, Philosophie usw. Auf allen Gebieten hatte er gute Nachschlagewerke, zumal in den Naturwissenschaften. Er besaß sorgfältige Ausgaben antiker Klassiker und große Wörterbücher mehrerer Sprachen. In der modernen Dichtung ließ er es meist bei dem, was sich einfand, und war zufrieden, wenn das Wichtigste da war. Er sammelte niemals schöne Drucke oder kostbare Einbände. Seine Bibliothek sollte eine praktische Handbücherei sein. Für alles andere war die herzogliche Bibliothek da, die nur fünf Minuten entfernt lag und aus der er alles sofort haben konnte. Er stellte seine Bücher, nach Sachgebieten geordnet, in den Raum hinter dem Arbeitszimmer, der nur als Büchermagazin diente. Einige Nachschlagewerke 34 und diejenigen Bücher, die er 30 Vgl. Keudell. - Wieland Schmidt, Artikel „Bibliothek" im Goethe-Handbuch, Neue Aufl., Bd. 1, 1961, Sp. 1190-1192 mit weiteren Literaturangaben. 31 Karl Bulling, Goethe als Erneuerer und Benutzer der jenaischen Bibliotheken, Jena 1932 = Claves Jenenses, 2, S. 14 f. - Vgl. auch Goethes Brief an Carl August vom 11. Juli 1819. 32 Vgl. Anmerkung 30. 33 Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeitet von Hans Ruppert. Weimar 1958 (XVI, 826 S.). 3 '' Zum Beispiel ein deutsches, italienisches, französisches und englisches Wörterbuch, der „Nouveau Dictionnaire historique ou Histoire abrégée de tous les hommes qui se sont fait un nom", ein großer Handatlas (Ruppert 5, 638, 643, 647, 648, 4129) u. a. m.

Goethes Bibliothek

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für die jeweilige Arbeit brauchte, standen im Arbeitszimmer. Sonst aber nirgendwo; in den Wohn- und Empfangsräumen gab es Sammlungsschränke, aber keine Bücher. Da die Besucher nie in das Hinterhaus vordringen durften, bekamen sie also nie ein Buch zu sehn, desto mehr aber Kunstgegenstände. — An die Büchersammlung schließt sich eine Sammlung von zahlreichen Notenwerken an. Sie diente den Hausmusiken, die Goethe viele Jahre hindurch allwöchentlich in seinem Hause veranstalten ließ.35 - Die Bedeutung der Bibliotheken für Goethe läßt sich nur andeuten. Es gab Bücher, mit denen er zeitweilig lebte, wie die Hafis-Übersetzung von Hammer-Purgstall, die zur Keimzelle des West-östlichen Divan wurde. Es gab Bücher, die er immer wieder las wie die Dramen des Aischylos und Sophokles,36 ohne die es den Helena-Akt in Faust nicht gäbe. Andere Bücher zog er nur heran, wenn er sie für seine Arbeiten brauchte. Das eine Mal entleiht er aus der Weimarer Bibliothek mehrere Bücher über Homer und die Landschaft von Troia — da schreibt er an seiner Achilleis; das andere Mal entleiht er Bücher über Frankfurt und über die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts - da schreibt er an Dichtung und Wahrheit; später entleiht er persische, arabische, indische Dichtung - da schreibt er am Divan. Und ebenso gibt es Entleihungen für die Arbeit an der Farbenlehre und an den morphologischen Schriften. Die Weimarer und Jenaer Ausleihverzeichnisse werden ergänzt durch, Goethes Tagebücher, die sowohl seine Lektüre als agch "das Entstehen seiner Werke erkennen lassen. -T Als Sammlung von Schriftwerken reihten sich den Büchern die Autographen an. 37 Am 27. April 1806 schreibt Goethe an. Cotta, er habe seit einiger. Zeit begonnen, Autographen zu sammeln, besonders in dem löblich pädagogischen Zweck, meinen Knaben durch diese sinnlichen Zeugnisse aut bedeutende Männer der Gegenwart und Vergangenheit aufmerksamer zu machen, als es die Jugend sonst wohl zu sein pflegt. Er schreibt, er sei bereit, Autographen um einen proportionierten Preis zu kaufen, und würde sich freuen, wenn er Handschriften von Lebenden geschenkt bekäme. 1811 hatte er bereits so viele Autographen gesammelt, daß er ein Verzeichnis drucken ließ, das er an Freunde schickte. Sie konnten daraus ersehen, von wem er Handschriften besaß, und vor allem, von wem er noch nichts besaß. 38 An Boisseree schreibt er damals: Beiliegendes Blatt 33 Goethes Musikaliensammlung - Drucke und Handschriften - kam später mit der Notensammlung seiner Schwiegertochter Ottilie und mit der seines Enkels Walther Wolfgang zusammen. Der Bestand umfaßt 1 508 Nummern. Im Goethe- und Schiller-Archiv ist ein genaues Verzeichnis vorhanden. Der größte Teil der Sammlung stammt von Goethe. 36 Er besaß sie seit den frühen Weimarer Jahren in zweisprachigen griechisch-lateinischen Ausgaben (Ruppert 1226, 1337), dazu kamen andere Editionen. 37 Hans-Joachim Schreckenbach, Goethes Autographensammlung. Katalog, Weimar 1961. (Und dazu die Rez. in: Anzeiger f. dt. Altertum 73, 1961/62, S. 146-149). In Goethes Autographensammlung befinden sich u. a. Blätter von Kopernikus, Melanchthon, Leibniz, Telemann, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Klopstock, Lessing, Hamann, Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Maria Theresia, Friedrich II., Napoleon, der Napoleonischen und der preußischen Generale, der Fürsten und Staatsmänner des 18. Jahrhunderts. 38 Dazu: Brief an Bertuch, 25. November 1811; an Klinger, 8. Dezember 1811; an Niebuhr, 17. Dezember 1811; an Reinhard, 13. Februar 1812; an Caroline Pichler, 31. März 1812; an Reinhard, 13. August 1812; an Jacobi, 6. Januar 1813; an Knebel, 13. Januar 1813; an Reinhard, 8. Oktober 1814; an W. v. Humboldt, 26. Juni 1816; an Boisseree, 16. Januar 1818; an Reinhard, 28. Januar 1828. - Kanzler v. Müller an Julie v. Egloffstein, 25. September 1823: „Er erzählte mir viel von Marienbad, besonders von der Gräfin S z y m a n o w s k a . . . Darauf

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Trunz, Goethe-Studien

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Goethe als Sammler

enthält das Verzeichnis der Handschriften, die ich besitze. Ich habe sie in diesen langen Winterabenden revidiert und geordnet... Ich mag die Geister der Entfernten und Abgeschiednen gern auf jede Weise hervorrufen und um mich versammeln. (17. Dezember 1811) Als Knebel ihm 1817 einen Brief für die Sammlung schenkt, schreibt er: Für den mitgeteilten behaglichen Brief danke zum allerschönsten; man sieht in wunderliche Zustände hinein. Deswegen wird mir auch meine Sammlung von eigenhändigen Briefen bedeutender Menschen immer interessanter, ja zuweilen furchtbar-, man wird in ein vergangenes Leben als in ein gegenwärtiges versetzt und wird verleitet, das Gegenwärtige als ein Vergangenes anzusehn. (17. März 1817) Und an den Handschriftensammler Preusker in Leipzig schreibt er: Daß die Handschrift des Menschen Bezug auf dessen Sinnesweise und Charakter habe und daß man daran wenigstens eine Ahndung von seiner Art zu sein und zu handeln empfinden könne, ist wohl kein Zweifel... (3. April 1820) Goethe nimmt die Autographen als Ausdruck individuellen Lebens. Das verbindet sie mit Porträtzeichnungen und Medaillen. Als Jacobi ihm etwas für seine Sammlung schenkt, schreibt er: Die übersandten Blätter sind mir von unendlichem Wert; denn da mir die sinnliche Anschauung durchaus unentbehrlich ist, so werden mir vorzügliche Menschen durch ihre Handschrift auf eine magische Weise vergegenwärtigt. (10. Mai 1812) Dieses magische Vergegenwärtigen gilt für entfernte Lebende ebenso wie für historische Gestalten. Das Einfühlen in die Person auf Grund der Handschrift ist eine von Goethes Arten, sich dem Geschichtlichen zu nähern - eine ungewöhnliche Art. Das Geschichtliche ist hier nichts Fernes und Totes, sondern magisch gegenwärtig. So verbrachte er manchen Abend mit diesen Blättern, die ihm andere Menschen vergegenwärtigten, so sehr, daß er es einmal als furchtbar bezeichnet. Diese Sensibilität ist das Besondere seines Sammlertums; sie unterscheidet ihn von den meisten anderen Sammlern, und hier ist die Grenze, an der das Künstlerische beginnt. Goethe ordnete die Autographen alphabetisch in Mappen, auf die er eigenhändig die Anfangsbuchstaben schrieb, er notierte auf jedem Stück mit roter Tinte den Namen des Schreibers oder legte besonders wertvolle Stücke in Umschläge, auf die er den Namen schrieb. Nachdem er bekanntgegeben hatte, daß er Autographen sammle, bekam er viel geschenkt, 39 und er hat viele entzückte Dankbriefe geschrieben, mit dem Charme, der ihm zu Gebote stand. Mitunter bekam er ganze Gruppen von Briefen geschenkt, so 1805 etwa 30 Briefe aus dem Kreise Gleims (mit ihnen fing seine Sammlung überhaupt an). Als er dann 1811 das 10. Buch von Dichtung und Wahrheit schrieb, kam er dort auf Gleims empfindsamen, etwas selbstgefälligen Briefwechsel zu sprechen und nutzte die Kenntnis dieser Autographen. Auch einen Brief von Bürger voll kraftpolternder „Götz"-Begeisterung verwertete er in Dichtung und Wahrheit (13. Buch). In der Campagne in Frankreich kommt er auf den Philosophen holte er mir aus dem Gartenzimmer ihre Handschrift, aus der er ihren Charakter demonstrierte . . . " (Kanzler v. Müller, Unterhaltungen mit Goethe. Hrsg. von E. Grumach, Weimar 1956, S. 301) - Soret, Zehn Jahre bei Goethe, Leipzig 1929, S. 38. - Eckermann, 2. April 1829. 39 1814 erhielt er aus der Berliner Universität die gesamten Vorlesungsankündigungen vom Schwarzen Brett, die sonst nach Semesterschlufj in den Papierkorb gekommen wären, darunter Manuskripte von Schleiermacher, Savigny, Thaer u. a. Nirgendwo außer bei ihm wurde dieses (für die Universitätsgeschichte heute sehr aufschlußreiche) Material damals aufgehoben; denn er verstand das Gegenwärtige bereits historisch zu sehn.

Goethe als Autographensammler

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Hemsterhuis und erwähnt dessen feinsinnig-kenntnisreiche Korrespondenz mit dem Steinschneider Natter über antike Gemmen (in dem Abschnitt Münster, November 1792). Woher diese intime Kenntnis unveröffentlichter Briefe des Niederländers? Im Jahre 1807 hatte Stolberg ihm 21 Briefe an Hemsterhuis geschenkt, darunter 3 von Natter. In dieser Weise flocht Goethe Kenntnisse aus der Autographensammlung in seine Werke ein, meist um intime persönliche Züge einer Gestalt zu beleuchten. Dem Festhalten des Individuellen dienten auch die zahlreichen Silhouetten, die er sammelte, 40 und die Porträtzeichnungen, darunter die von Schmeller, die er selbst im Alter anregte. 41 Als David d'Angers ihm eine ganze Serie Gipsabgüsse von Bildnismedaillen sandte, antwortete Goethe begeistert und schrieb: Den physiologischen und kraniologischen Lehren Lavaters und. Galls nicht abgeneigt, iühl ich das lebhafteste Bedürfnis, solche Personen, deren Verdienste mir auf irgend eine Weise bekannt geworden, auch individuell im Bilde näher kennen zu lernen und die Gestalt mit dem Werke, mit der Tat vergleichen zu können. Und wer kann einen solchen Wunsch eher befriedigen als der Bildhauer, der, bei einem rein-lebendigen Blick in die Natur, einer vollkommenen Technik Meister ist, um dasjenige, was er angeschaut und aufgenommen hat, unmittelbar wieder uns vor Augen zu stellen? (8. M ä r z 1 8 3 0 )

Dieser Wunsch, von bedeutenden Gestalten gute Bildnisse zu haben, war in den frühen Weimarer Jahren die Ursache für Goethes Interesse an Klauer. Als e r 1 7 9 5 Über die verschiedenen Zweige der hiesigen Tätigkeit sprach, sagte er: Die Porträts, welche unser Klauer gearbeitet, sind uns und den Auswärtigen interessant, und sie werden es den Nachkommen sein. Ich wünschte, daß sich ein Platz fände, wo man sie alle ohne Ausnähme aufstellen . . . könnte. ( W A 5 3 ,

S. 178 f.) Einen solchen Platz gab es damals nicht. Die meisten standen in der Bibliothek, manche in den Räumen der herzoglichen Familie. Da Marmor zu teuer und zu schwer zu beschaffen war, arbeitete Klauer fast immer in Gips. 42 Er stellte dann von dem Exemplar, das er gemacht hatte, ein Negativ, ein Modell, her und go§ darin weitere Exemplare. Diese bearbeitete er aber wieder mit der Hand, so dafj sie an Feinheit der Ausführung oft dem Original gleichkommen. Goethe sorgte, daß er gute Exemplare erhielt, und so standen in seinem Hause viele Klauersche Büsten: Herders Bildnis, das Einfühlsame und Welthaltige dieses Geistes fühlbar machend; Jacobi, ernst und idealistisch wirkend; Anna-Amalia, klug, wach und etwas sorgenvoll; Herzogin Luise, ernst und beherrscht; der feinsinnige Künstlerkopf von Oeser und der gemütliche Bürgerkopf von Musaeus. Als Goethe von Klauer die Büste Jacobis erhalten hatte, s c h r i e b e r a n d i e s e n : Dein Andenken ist unter uns auch lebendig, uns neulich mit Deiner Büste unterhalten, die recht gut geraten

und wir ist und

haben wovon

40 Die Silhouettensammlung ist bei Schuchardt nicht verzeichnet, da sie nicht zu den „Kunstsammlungen" gehörte. Ein gedrucktes Verzeichnis gibt es nicht. Beispiele sind vielerorts abgedruckt, z. B. in den Büchern von Wilhelm Bode; in: Die Goethezeit in Silhouetten. Hrsg. von H. T. Kroeber, Weimar 1911; und in: Holtzhauer, Goethe-Museum, S. 230 ff. 4 1 Willy Handrick, Die Schmeller-Bildnisse in Goethes Kunstsammlung. In: (Jb.) Goethe 26, 1964, S. 248-259. - Willy Handrick, J. J. Schmeller, Berlin 1966. (251 S., 71 Taf.) 42 Walter Geese, Gottlieb Martin Klauer, Leipzig (1935). - Holtzhauer, Goethe-Museum, S. 245, S. 255, S. 257, S. 377, S. 403. - Die Klauerschen Büsten aus Goethes Besitz sind nicht genannt in Schuchardts Katalog, ebenso wie die Silhouetten dort fehlen. Vermutlich ist das bezeichnend dafür, wie man sie einschätzte; im 19. Jahrhundert hat man sie kaum beachtet.

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Goethe als Sammler

ich nun einen Abguß besitze... Nun habe ich gedacht, der Gips ist sehr vergänglich, in einigen Jahren sind die ersten und besten Ausgüsse mehr oder weniger verdorben, deswegen soll Klauer nun einen Kopt aus sächsischem Marmor hauen... Noch mehr aber, wenn ich Dir einige Güsse in Bronze liefern kann... (12. November 1784) Doch zu Bronzegüssen ist es niemals gekommen. Es blieb also bei den Gipsexemplaren. Goethe stellte sie meist auf Schränke, seltener auf Sockel oder Wandkonsolen. Er sah (gleich seinen Zeitgenossen) in ihnen mehr als wir heute nur Bildnisse und wertete weniger als wir das Künstlerische. Unsere Gesichtspunkte haben sich geändert, seitdem es die Photographie gibt. 43 Hier schließen die Kunstsammlungen an. Die Geldmittel, die Goethe dafür ausgeben konnte, waren begrenzt. Sie erlaubten ihm, entweder wenige Gemälde und Statuen zu kaufen oder viele Reproduktionsstiche, Gipsabgüsse und Zeichnungen. Er entschied sich für das letztere, denn er wollte vor allem kunsthistorisches Material zur Hand haben und die großen Werke in Abbildungen sehen können. Nur ausnahmsweise hat er Gemälde gekauft. Was an den Wänden hing, war zum großen Teil Geschenk. Bei Goethe kamen im Laufe der Zeit 130 Gipsabgüsse von Werken antiker und moderner Plastik zusammen, darunter die Juno Ludovisi, der sogenannte „Ilioneus", die Minerva Velletri und andere. Er nahm die Unvollkommenheiten des Gipses in Kauf, wenn er dafür den Vorteil hatte, diese Werke immer anschauen zu können. Um antike Plastiken im Original zu sehen, mußte er nach Dresden fahren. Die Werke in Rom hat er seit 1788 nicht wiedergesehn. Wiedergaben in Kupferstichen waren gerade bei Großplastik damals sehr unzureichend. Deswegen waren Gipsabgüsse als Studienobjekte so wertvoll. Goethe stellte einige Abgüsse in seine Gesellschaftsräume, eine große Zahl in das 1792 neu gebaute Brückenzimmer, das zum Garten führte und das seither „Büstenzimmer" heißt. 44 Der Raum erlaubte ihm nicht, noch mehr Großplastik zu sammeln. Günstiger war die Möglichkeit bei der Kleinkunst. Goethe sammelte Gemmen. 443 Die Zahl der 58 antiken oder der Antike nachgeahmten Gemmen ist gering im Vergleich mit der Zahl der Abgüsse. Am Ende seines Lebens hatte er etwa 4 500 Gemmenabgüsse beieinander. Er studierte an ihnen nicht nur Motive und Charakter der antiken Kleinkunst, sondern versuchte, aus ihnen Motive verlorener antiker Großplastik zu rekonstruieren. 45 Wenn in der Klassi43 Zum Grundsätzlichen der Silhouetten- und Porträtsammlung ist der Aufsatz heranzuziehen, der beginnt Das Individuum geht verloren.... in WA 36, S. 276 unter dem nicht von Goethe stammenden Titel „Bedeutung des Individuellen". 'A Friedrich Menzel, Goethes Haus zu Goethes Zeit. In: Goethe-Almanach auf das Jahr 1967, S. 269-296. - Alfred Jericke, Das Goethe-Haus am Frauenplan, Weimar 1958. 4/, a Gerhard Femmel und Gerald Heres, Die Gemmen aus Goethes Sammlung. Leipzig 1977 (338 S. mit zahlreichen Abbildungen). 45 So in einem Katalog der Hemsterhuis-Gallitzinschen Gemmensammlung, den er zusammen mit H. Meyer anfertigte und 1807 zu Beginn des Jahres in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung als „Programm" (d. h. eine Art Beilage) zum Druck brachte. Wiederabgedruckt in: G. Femmel und G. Heres, Die Gemmen aus Goethes Sammlung, 1977, S. 198 bis 205. - Einen Auszug daraus nahm Goethe in seine Campagne in Frankteich auf. Er berührte den Fragenkreis wieder in seiner Rezension Verzeichnis der geschnittenen Steine in dem Kgl. Museum der Altertümer zu Berlin, die 1828 in Über Kunst und Altertum 6, Heft 2, erschien (WA 49, 2, S. 113-117) und in der es heifjt: Die Gemmen erhalten uns das Andenken verlorener wichtiger Kunstwerke (S. 115).

Goethe als Kunstsammler

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sehen Walpurgisnacht Sphinxe und Greifen vorkommen, sind sie bei Goethe, dem Augenmenschen, schwerlich nur literarischer Herkunft. Auch ist es nicht so, daß er 1787 in Rom und in Pompeji diese Motive gesehen hat und sie daraufhin 1826 dichterisch verwertete. Vielmehr sah er unter seinen Tausenden von Gemmenabgüssen und unter den Zeichnungen und Kupferstichen von Pompeji, die er sammelte und mit denen er sich immer wieder beschäftigte, häufig diese Motive, und so waren sie ihm geläufig und gelangten deswegen in die Dichtung. - An die Sammlung der Gemmen schließt sich eine reiche Sammlung von Münzen und Medaillen. 46 Die Gemälde, die Goethe besaß, reichen zeitlich von dem Sieneser „Schmerzensmann" aus dem 14. Jahrhundert, 47 den er 1824 kaufte, bis zu Werken seiner Gegenwart. Das Urbino-Zimmer wurde beherrscht durch das Bildnis des Herzogs von Urbino, das er 1790 erwarb und in dem er wohl mehr die nachwirkende Renaissance als den beginnenden Stil des Barock sah. 48 Zwischen die Ölgemälde hing Goethe Kopien. In dem Juno-Zimmer (in das erst 1823 der Abguß der Juno Ludovisi kam) hing seit 1797 Heinrich Meyers Kopie der Aldobrandinischen Hochzeit; 49 auch andere Kopien (in Öl- oder Wasserfarben) — nach Raffael, Tizian, Annibale Carracci - schmückten die Wände der Gesellschaftsräume. Goethe scheute sich nicht. Originale, Kopien und Reproduktionsstiche 50 benachbart zu hängen, ebenso wie er Gipsabgüsse in die Nähe von Originalplastiken stellte. Die Stiche und Zeichnungen lagen in großen Sammelmappen. Goethe ließ sich dafür von seinem Tischler Mappenschränke, Repositorien, nach eigenen Entwürfen herstellen, aus einfachem Tannenholz, schlicht grau gestrichen. Ähnlich sind die Schränke für Gemmenabgüsse und Münzen, sie haben schmale Schubfächer. Es gab wohl keinen Raum außer dem Schlafzimmer und Christianes Räumen, in dem nicht mindestens ein Sammlungsschrank stand. 51 Goethe trennte die Handzeichnungen von der übrigen Graphik (Kupferstichen, Holzschnitten usw.); innerhalb dieser Gruppen trennte er Italiener, Franzosen, Niederländer, Deutsche usw., und diese wiederum nach Epochen und Künstlern. Unter den 2 512 Handzeichnungen befinden sich auch Blätter von Rembrandt, Rubens, Guercino u. a., unter den graphischen Blättern sind reiche Spezialsamm46 B. Pick, Goethes Münzbelustigungen. In: Jb. Goe.-Ges. 7, 1920, S. 195-227. - Die Medaillen sind verzeichnet bei Schu 2, S. 33-238. Es sind fast alles Bronzemedaillen. Silberne pflege ich nicht anzuschaffen. (An Boisseree, 22. Juli 1831.) - Gerhard Femmel, „Merkwürdige Frauen" und „bedeutende Männer ihrer Zeit kunstreich abgebildet" - Porträtmedaillen der Renaissance und der Klassik aus Goethes Besitz. (Katalog), Weimar 1971. (88 S. mit 39 Abb.) 47 Franz Schmidt, Goethes Verhältnis zur frühitalienischen Malerei. In: (Jb.) Goethe 21, 1959, S. 152-162 (mit Abbildung). 48 Marie Schuette, Das Bildnis des Herzogs von Urbino im Goethehaus. In: (Jb.) Goethe 5, 1940, S. 251-265 (mit Abbildungen). 49 Willy Handrick, Die Aldobrandinisdie Hochzeit, Kopie eines antiken Gemäldes in Goethes Kunstsammlung. In: (Jb). Goethe 25, 1963, S. 142-166 (mit Abbildungen). 50 Zum Beispiel die schönen kolorierten Blätter von Dorigny nach Raffaels Zyklus „Amor und Psyche", die er schon vor seiner Reise nach Italien besafj und die damals im Gartenhaus hingen. 51 Abbildungen findet man in: Alfred Jericke, Das Goethe-Haus am Frauenplan, Weimar 1958. - Alfred Jericke, Goethe und sein Haus am Frauenplan, Weimar 1959. - Walter Drexel, Das Goethehaus in Weimar, Darmstadt 1956.

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lungen von Schongauer, Dürer und Elsheimer.52 Die größte Zahl aber machen die Reproduktionsstiche und Kopien aus. Es kam bei diesen darauf an, nicht kleine Umrißstiche zu erwerben, sondern große Blätter, die in guter Technik alle Abtönungen von Hell und Dunkel wiedergeben. Schuchardts Verzeichnis gibt einen Einblick in den Reichtum dieser Sammlung.53 Sie war Goethes kunsthistorisches Institut; doch nicht nur das. Sie ermöglichte ihm, immer erneut mit Meisterwerken der Kunst umzugehn. Man muß sich vergegenwärtigen, daß Weimar in dieser Beziehung wenig besaß außer Cranachs Altargemälde in der Stadtkirche, den Gemälden in den herzoglichen Räumen und den Kupferstichen in der Bibliothek. Weimar ist erst durch Goethe zur Kunststadt geworden. Und Jena, wo er oft wochen- und monatelang war, bot in dieser Beziehung noch viel weniger. Es gab dort nur Bücher und naturwissenschaftliche Sammlungen. Als Goethe im Sommer 1809 sieben Wochen in Jena war, ließ er sich durch Heinrich Meyer eine neugekaufte Mappe mit Reproduktionsstichen nach Raffael, Michelangelo und Giulio Romano senden und schrieb dann: Ich habe erst an diesen Dingen gesehen, wieviel man vermißt, wenn man nicht immer etwas Vorzügliches in seiner Umgebung hat. (11. August 1809) Das war es: Er wollte immer etwas Vorzügliches in seiner Umgebung haben. Hätte er es nicht selbst angeschafft, so wäre das nicht möglich gewesen. Eine Woche danach schreibt er an Meyer : Mir machen die überschickten Kupier sehr frohe Stunden. Der Gehalt derselben ist ganz uneriorschlich, und ich danke Gott, daß ich nur wieder einmal etwas besitzen mag, zu einer Zeit, wo man so oit den Besitz völlig aufzugeben Ursache hatte. (18. August 1809) Es war die Zeit der Napoleonischen Kriege. Im Jahre 1810 war Goethe wieder neun Wochen in Jena. Und wieder schreibt er an Meyer (17. April), er möge ihm die große Mappe mit Stichen nach Michelangelo, Raffael und Giulio Romano senden, die auf dem Gestell im Vorzimmer liegt. Der liebevolle Enthusiasmus des Kenners und Sammlers und der scharfe Blick des Kunsthistorikers sind bei Goethe vereinigt. Den Aufsatz Cäsars Triumphzug, gemalt von Mantegna konnte er nur schreiben, weil er Andrea Andreanis Holzschnitte dieser Bilder vollständig besaß und darüber hinaus mehrere graphische Blätter Mantegnas in seiner Sammlung hatte (Schul, S.43f., Nr.397 bis 411). Der Aufsatz Rembrandt als Denker geht aus von dem Blatt „Der barmherzige Samariter" in seiner Sammlung.54 Den Aufsatz Relief von Phigalia schrieb er, nachdem ihm Luise Seidler eine große Zeichnung davon geschickt hatte (Schul, S. 289, Nr. 676). - Goethes später kunsthistorischer Aufsatz Landschaftliche Malerei ist eine großartige Zusammenschau der Entwicklung der europäischen Landschaftsauffassung in der Malerei vom Mittelalter bis zu 52 Schu 1, S. 231-337. - Zwanzig Zeichnungen alter Meister aus Goethes Sammlung. Hrsg. von A. Mayer u. W. v. (Dettingen, Weimar 1914 = Sehr. G. Ges. 29. - Walter Scheidig, Rembrandt als Zeichner, Leipzig 1962, Abb. 16, 19, 37, 40, 167. - Eckermann unter dem Datum 5. Juli 1827 : Ich bin in dieser Zeit so glücklich gewesen, viele trefiliche Handzeichnungen berühmter Meister um ein Billiges zu kauten. Solche Zeichnungen sind unschätzbar, nicht allein weil sie die rein geistige Intention des Künstlers geben, sondern auch weil sie uns unmittelbar in die Stimmung versetzen, in welcher der Künstler sich in dem Augenblick des Schaffens befand. 53 Schu 1, S. 1-215. 54 WA49, 1, S. 303-305. - Schul, S. 177, Nr. 318. - Abbildung: Holtzhauer, GoetheMuseum, S. 597.

Die Kunstsammlung als Grundlage der Kunstschriften

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den Veduten des 18. Jahrhunderts. Brueghel, Paul Bril, Tizian, Rubens, Claude Lorrain, Poussin u. a. werden genannt. Wie konnte Goethe über dieses Thema schreiben, ohne in Paris, Amsterdam, Wien und anderen Kunststätten gewesen zu sein? Seine eigene Sammlung von Tausenden von graphischen Blättern bot so viel, daß er sich zutraute, die Grundtendenzen der Landschaftsauffassung hieraus erkennen zu können. Und das ist ihm gelungen. 55 Freilich fehlt dem Aufsatz eins: jede Äußerung über die Farben, obgleich diese für die Landschaftsmalerei wichtig sind. Hier reichten die Materialien der Sammlung nicht aus. 56 Nicht selten nennt Goethe in seinen Schriften Blätter aus seinen eigenen Sammlungen. 1822 veröffentlichte er den Aufsatz Tischbeins Idyllen, um seine Leser auf einen neuen Bilderzyklus Tischbeins aufmerksam zu machen, der in Oldenburg hing und von dem Goethe Entwürfe gesehen hatte, auf Grund deren er ihn beschreiben konnte. Er sagt nun, daß die Idyllen nur die eine Seite von Tischbeins Kunst zeigen, die der Phantasie und der Ideale, Tischbein habe aber auch eine ganz andere Seite, den Sinn für das Charakteristische und Realistische. Dafjir nennt Goethe Beispiele: Ich besitze noch eine ältere Zeichnung, wo et sich als Reisender in unwirtbarem Gebirg, am Sonnenaufgang . .. entzückt. (WA 49, I, S. 310) Den vollen Mond neben dem teuersprühenden furchtbaren Spiel des Vesuvs... wagt er... mit Federstrichen nachzubilden; fließende Laven wie die erstarrten faßt er gleich charakteristisch auf. Solche flüchtige Blätter, deren ich noch gar manche sorgfältig verwahre, sind geistreiche Lust. (Ebd. S. 311) Dann die Zeichnung einer Baumgruppe: Von dieser musterhaften Gruppe besitze ich noch eine große Kreidezeichnung auf grau Papier, jedermann zur Bewunderung. (S. 312) Goethe konnte diese Blätter nicht für seine Zeitschrift Über Kunst und Altertum in Kupfer stechen lassen, das wäre viel zu teuer gewesen; doch er nennt sie und gibt sie damit den Kunstfreunden öffentlich bekannt. 57 Oft hat Goethe auch in seinen Briefen die Sammlungen und Gegenstände daraus erwähnt. So schreibt er an Zelter am 21. Januar 1826: Eine große sorgfältige Zeichnung von Julius Roman mit vielen Figuren, zum größten Teil wohl erhalten, ist eine köstliche Akquisition, ohne Zweifel das Original, das Diana von Mantua in Kupfer gestochen hat. Christus, vor der schönen Türe des Tempels, nach Raffaels Vorgang mit gewundenen Säulen geschmückt. Er beruhigt warnend die neben ihm aufrecht stehende beschämte Ehebrecherin, indem er zugleich die pharisäischen Susannenbrüder durch ein treffendes Wort in die Flucht schlägt. Sie entfliehen so kunstgemäß tumultuarisch, so symmetrisch verworren, daß es eine Lust ist, stolpern über die Bettler, denen sonst ihre Heuchelei zugute kam und die für diesmal unbeschenkt auf den Stufen liegen. Der Federumriß ist von der größten Nettigkeit und Leichtigkeit und fügt sich dem vollkommensten 55

Vgl. hierzu den speziellen Aufsatz darüber in diesem Bande. Das war Goethe natürlich bewufjt. In dem Aufsatz Casars Triumphzug, gemalt von Mantegna sagt er: denn das ist ja eben eins der größten Verdienste der Kupferstecherkunst, daß sie uns mit der Denkweise so vieler Künstler bekannt macht und, wenn sie uns die Farbe entbehren lehrt, das geistige Verdienst der Erfindung aui das sicherste überliefert. 57 In dem Band »Studien zu Goethes Alterswerken", Frankfurt/M. 1971, habe ich Goethes Aufsatz Tischbeins Idyllen abgedruckt und dazu 12 Bilder aus Goethes Sammlungen in Weimar und 10 Bilder aus Oldenburg. An diesem Beispiel wollte ich die Illustrierung eines Coetheschen Kunst-Aufsatzes aus seinen Sammlungen erproben. 56

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Goethe als Sammler

Ausdruckt Solche Sätze äußern die Freude des Sammlers; sie charakterisieren ein Werk ähnlich wie die Kunstschriften, doch spontaner und humorvoller. Besonders an Boisseree wurde über Neuerwerbungen berichtet, so am 5. September 1817: Die Kurprinzessin von Hessen ging hier durch ... und verehrte mir eine trefflich ausgeführte Federzeichnung von Heemskerk: „Daniel in der Löwengrube", Nr. 8 der gestochenen Folge. Sehr günstig zeugt das Original für das Zartgefühl des Künstlers, das in der Kopie verloren ging.59 Neun Jahre später nahm er dann das Motiv der Löwengrube in den Schluß der „Novelle" hinein. Da Goethe eine besondere Vorliebe für Renaissance-Medaillen hatte, zumal wenn sie Charakterköpfe in sicherer, kraftvoller Formgebung darstellen, kommen auch diese in seinen Briefen vor. An Kaspar v. Sternberg berichtet er über eine Medaille von 1526 auf den böhmischen Grafen Stephan Schlick, den Gründer des Joachimsthaler Silberbergwerks, ein merkwürdiges Gepräge ... gut gearbeitet^an Zelter über eine Medaille aus dem 17. Jahrhundert, aul der Rückseite Theologia und Philosophia, zwei edle Frauen gegen einander über, das Verhältnis so schön und rein gedacht, so vollkommen genugtuend und liebenswürdig ausgedrückt61; an Boisseree über eine Medaille, die Sultan Mahomet II. in Konstantinopel durch einen Italiener, den er dorthin holte, herstellen ließ: nach der Inschriit von Bartholdus, einem berühmten Florentiner... von unschätzbar gemütlicher Arbeit; der Tyrann in Profil, stattliche Züge.. , 6 2 Begeistert äußert er sich auch über den Erwerb der Majolikasammlung. 63 Besonders die Briefe des Alters sind es, in denen er auf solche Weise über seine Sammlungen spricht. Goethes intensive Beschäftigung mit den Sammlungen bewirkte, daß manche Motive aus ihnen anregend wurden für die Dichtungen seines Alters. Bekannt ist dies in bezug auf Faust II, weil die Forschung sich mit diesem Werk besonders intensiv beschäftigt hat. 64 In dem Festaufzug am Kaiserhof erscheint eine 58 Schul, S. 248, Nr. 157. Über dieselbe Zeichnung: an Reinhard, 26. Dezember 1825. - Ein anderes Mal berichtet Goethe an Boisseree über eine Zeichnung der drei schlafenden weisen Könige... ganz allerliebst gedacht und mit leichter Hand ausgeführt (Schu 1, S. 313, Nr. 924) ; dann wieder über eine Zeichnung „Der Genius der Poesie" von Giulio Romano (Schu 1, S. 81, Nr. 778), die sein höchstes Entzücken hervorruft (4. November 1830). Alle diese Blätter sind in den Sammlungen erhalten geblieben. 59 Auch dieses Blatt liegt in Goethes Sammlungen. Schu 1, S. 305, Nr. 839. Reproduziert in: (Jb.) Goethe 22, 1960, S. 80/81. 60 14. Dezember 1824. - Schu 2, S. 157, Nr. 1299. 6 1 27. Januar 1832. Schu 2, S. 57, Nr. 83. - Ähnlich schreibt er am 25. Juli 1831 an Boisseree über eine Medaille „Gian Francesco" (Schu 2, S. 56, Nr. 82); am 11. Oktober 1829 an H. Mylius über eine Beccaria-Medaille (Schu 2, S. 134, Nr. 1137). 62 3. Juli 1830. Über dieselbe Medaille an August von Goethe in Rom am 29. Juni 1830: Wie die Medaille Mahomet des Zweiten von Bertholdo mich nunmehr täglich belehrt und erfreut. Schu 2, S. 44, Nr. 32. Die Medaille zeigt in kräftigem Relief einen Charakterkopf in sehr sicherer Linienführung. 6 3 Tagebuch 10. und 11. Februar 1817; an Knebel, 15. Februar 1817; an Rochlitz, 1. Juni 1817; an Graf Reinhard, 26. Dezember 1825. - Christa Topfmeier, Goethes Majolikasammlung. Diss., Jena 1958. (67 Bl.) - Schu 2, S. 347-364. 64 G.Dehio, Alt-italienische Gemälde als Quelle zum „Faust". In: Goe.-Jb. 7, 1886, S. 251 bis 264. - Max Morris, Gemälde und Bildwerke in „Faust". In: Morris, Goethestudien 1, 2. Aufl., Berlin 1902, S. 114-152. - Willy F. Storck, Goethes Faust und die bildende Kunst, Leipzig 1912. (174 S. mit 57 Abb.) - Goethe, Faust. Hrsg. von G. Witkowski. 8. Aufl., Leipzig 1929. (Mit 48 Abb.) - Weitere Lit. bei Pyritz, Goethe-Bibliographie 1, 1965, S. 674. - Abbil-

Motive aus der Kunstsammlung in „Faust"

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Gruppe mit einem Elefanten. Das Motiv geht zurück auf eins der Blätter von Andreani nach Mantegnas „Triumphzug Casars", die Goethe seit 1820 besafj. 65 Das Motiv des Erdbebengeistes (griechisch „Seismos") in der klassischen Walpurgisnacht, der mit geballten Fäusten die Erde hochstemmt, stammt aus Raffaels Bildteppich „Paulus im Gefängnis zu Philippi", von dem Goethe Nachstiche besafj, deren einer sogar die Beischrift „terrae motus" hat. 66 In der Galatea-Szene der Klassischen Walpurgisnacht heifjt es von den Doriden: Sie werfen sich, anmutigster Gebärde, Vom Wasserdrachen auf Neptunus' Pferde. (8140 f.)

Die Wasserdrachen sind Delphine, Neptunus' Pferde die Wasserkentauren; man sieht sie auf Raffaels Gemälde „Der Triumph Galateas", von dem Goethe zwei Nachstiche besaß. 67 Die Lemuren stammen aus dem Buch von Ludwig Sickler, „De monumentis aliquot Graecis e sepulcro Cumaeo", 1812, in welchem antike Lemurendarstellungen in Kupferstichen wiedergegeben sind. Goethe hatte es am 24. April 1812 vom Verfasser geschenkt bekommen, sich dann intensiv damit beschäftigt, einen Aufsatz darüber geschrieben (WA 48, S. 143-150) und es in sein Büchermagazin neben dem Arbeitszimmer gestellt (Ruppert 2125). Für die Sphinxe, Greifen und Doriden könnte man viele Abbildungen unter Goethes Gemmenabgüssen und seinen Reproduktionen pompejanischer Bilder heranziehn. Während die Kunstsammlungen mit Goethes Bedürfnis, immer etwas Schönes um sich zu haben, zusammenhängen, sind die naturwissenschaftlichen Sammlungen Arbeitsmaterial, freilich auch sie zum Teil nicht ohne ästhetischen Reiz, insbesondere die Mineralien mit ihren farbigen Kristallen. 68 Deswegen haben einige der Steinschränke aufgesetzte Vitrinen, in welche die schönsten Stücke der Sammlung gelegt wurden. Doch das sind Ausnahmen. Die meisten Steine konnten nicht in dem bewohnten Stockwerk aufgehoben werden, sondern lagen in den beiden Gartenpavillons, dem an der Ackerwand und dem am Frauentor hinter den Vulpiushäusern, also beide durch den Garten erreichbar. Goethes geologische Schriften gehen oft von den Sammlungen aus und werten diese aus. 69 Er stellte meist sogenannte Suiten zusammen, d. h. möglichst volldung des Galatea-Stichs aus Goethes Sammlung: Holtzhauer, Goethe-Museum, S. 305. - Für die letzte Szene hat man immer nur auf die Kupferstiche von Lasinio nach den Gemälden im Campo Santo in Pisa hingewiesen. Doch das Motiv der Einsiedler in der Landschaft (nicht selten mit zahmen Löwen) gibt es bis ins 17. Jahrhundert hinein häufig. Goethe erwähnt es ausdrücklich mehrmals in dem Aufsatz Landschaitliche Malerei; er besafj Blätter mit diesem Thema von Roelant Savery (Schu 1, S. 184, Nr. 396), von Tizian (Schu 1, S. 93, Nr. 894 u. 895), von Brueghel, Muziano u. a. 65 Über Goethe und Mantegna: In dem vorliegenden Band der betreffende Abschnitt in der alphabetischen Übersicht über die Maler aus dem Aufsatz Landschaitliche Malerei. — Schu 1, S. 44, Nr. 406. 66 Raffael, Gemälde. Hrsg. von A- Rosenberg. Stuttgart u. Leipzig 1904, S. 93 = Klassiker der Kunst. - Ein Nachstich in Goethes Sammlungen, mit Beischrift „Terrae motus": Schul, S. 67, Nr. 624 Blatt 4. 67 Schu 1, S. 68 f., Nr. 642 u. 643. - Holtzhauer, Goethe-Museum, S. 305. 68 30 Abbildungen dazu in: Holtzhauer, Goethe-Museum, S. 481-522. 69 L 1, S. 83 ff., S. 331 ff.; 2, S. 47 ff., S. 50 ff., S. 127 ff., S. 141 ff., S. 181 ff., S. 216 ff., S. 241 ff., S. 310, S. 337 f., S. 415 ff.

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Goethe als Sammler

ständige Sammlungen aller Gesteine einer Landschaft, etwa von Karlsbad, Marienbad, Thüringen oder dem Harz. 7 0 In späteren Jahren bekam er viel geschenkt, so z. B. eine Sammlung sibirischer Gesteinsarten (Schu 3, S. 263 bis 266). Von Anbeginn sammelte er mit System und wollte die Phänomene möglichst umfassend vor Augen haben, um dann Folgerungen zu ziehen. Die Steinsammlung wuchs an auf 17 800 Stück. Eine Spezialabteilung zeigt Steinarten, die für Skulpturen und Bauten benutzt worden sind, in schön geschliffenen Exemplaren (Schu 3, S. 281, Nr. 3024-3718). Sie leitet über zum Kunsthistorischen. Auch die morphologischen Schriften bedienten sich der Sammlungen. So berichtet Goethe, wie er für seine Zwischenkiefer-Untersuchungen die Weimarer Sammlungen auswertete (L 9, S. 167 ff.). Die Herbarien wurden ergänzt durch Zeichnungen, die er selbst machte oder herstellen ließ, z. B. von seltsamen Mißbildungen, an denen er seine These von der Variabilität der Organe bewies. 7 1 Übrigens wurde auch die geologische Sammlung durch Zeichnungen ergänzt, denn man kann zwar Steine mitnehmen, nicht aber Formationen. Goethe zeichnete also oder ließ durch Georg Melchior Kraus zeichnen. Diese Zeichnungen gehören zu den naturwissenschaftlichen Sammlungen und nur sehr bedingt auch zu der Graphik der Kunstsammlung. 7 2 Über der Fülle der Kunst- und Naturgegenstände darf man aber nicht vergessen, daß der Mittelpunkt die Handschriften blieben, die Goethe selbst als Archiv des Dichters und Schrittstellers bezeichnete. U m die Ausgabe letzter Hand zu schaffen, mußte dieser große Bestand geordnet und verzeichnet werden. Der Sekretär Kräuter brauchte dafür vier Monate. D a waren die vielen dichterischen Handschriften und Entwürfe, die noch nicht zu gedruckten Werken geworden waren. Sodann Schriften zur Naturwissenschaft, zur Kunst und Literatur, die ungedruckt waren. Ferner die ungeheure M a s s e der Briefe. Zwar hatte Goethe 1797 viele Briefe verbrannt (WA 35, S. 73), doch manches war übriggeblieben, seitdem sehr viel hinzugekommen, und im Alter bewahrte er fast alles sorgfältig auf. Goethes Briefe wurden oft im Konzept des Schreibers aufgehoben, während eine Reinschrift abging. Eingegangene Briefe wurden in zeitlicher Folge in Heften zusammengefaßt. Er hat sie mitunter für seine Schriften benutzt. So hat er im Jahre 1821, um für die Campagne in Frankreich den Abschnitt über Münster zu schreiben, die Briefe der Fürstin Gallitzin wieder gelesen und ihnen Einzelheiten entnommen. Die Briefe an Goethe sind nicht nur der Menge, sondern auch dem Gehalt nach unvergleichlich. Die besten Geister Deutschlands und Europas sind vertreten, und alle geben sich Mühe, ihr Bestes herauszukehren und Wesentliches zu sagen. Diese Fülle der Stimmen ist einzigartig. Keiner der anderen Großen der Zeit - Kant, Beethoven, Hegel, Hölderlin, Alexander v. Humboldt - ist nur annähernd ein solcher Mittelpunkt geistiger Strahlen von allen Seiten geworden. E s sind fast 20 000 Briefe. Zu diesen kamen die vielen Manuskripte, die Goethe zugeschickt bekam und die er behalten durfte. Sie machen eine umfangreiche Sammlung zeitgenössischer Dichtun70 Schu 3. Max Semper, Die geologischen Studien Goethes, Leipzig 1914. - Pyritz, Goethe-Bibliographie, Nr. 6625 ff. 7 1 Marie-Luise Kahler, Goethes Herbarium. In: (Jb.) Goethe 32, 1970, S. 292-313. L9 und 10. - Corpus der Goethezeichnungen Bd. V B, Leipzig 1967. 72 L 1 und 2. - Corpus der Goethezeichnungen Bd. V B, 1967.

Goethes Handschriften-Archiv

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gen und Übersetzungen aus. Das alles zusammen ergibt eine Sammlung, die in ihrer Fülle einzigartig war und ist. 73 Der Bestand der Goetheschen Papiere war das Ergebnis seiner vielfältigen Interessen. Er und Kräuter schufen eine Anzahl Abteilungen, z. B. eigen Literarisches; eigen Poetisches; Tagebücher; Korrespondenz; Eigenes und Fremdes über bildende Kunst; Theater; Baukunst; „Über Kunst und Altertum", Chromatica; Mineralogie und Bergwerkskunde; vergleichende Anatomie und Morphologie; eigene Reisen; iremde Reisen; iremd Literarisches und Poetisches usw. Diese Ordnung wurde systematisch durchgeführt, so daß auch ein heutiger Benutzer sich leicht darin zurechtfindet. Doch sie war nicht objektiv systematisch in dem Sinne, wie es ein öffentliches Archiv sein muß, denn sie war auf Goethe selbst und seine Arbeiten zugeschnitten. Unter den Papieren lagen z. B. drei Aufsätze Wilhelm v. Humboldts über altgriechischen Versbau, um 1798 für Goethe geschrieben, als dieser in seinen Hexametern, dann auch in Chorstrophen (Fragment eines Prometheus-Dramas, Helena-Akt des Faust) im Deutschen etwas den antiken Formen Entsprechendes zu bilden bemüht war. In einer öffentlichen Sammlung hätte man diese Aufsätze in eine Abteilung „Humboldt" oder vielleicht „antike Metrik" legen müssen. Goethe aber legte sie in die Abteilung eigen Poetisches in die Mappe 8 (Aufschrift von Kräuter: Poesie und Rhythmik). Diese enthielt Goethes Bruchstück eines Prometheus-Dramas in antikem Stil (WA 11, S. 331 ff., S. 441 f.), das Manuskript der Römischen Elegien mit Schlegels verskritischen Bemerkungen, ferner Notizen zur Metrik von Goethe, Heinrich Vofj, Riemer und Fr. A. Wolf. Diese Anordnung war für Goethe sinnvoll, denn wenn er bei seiner Arbeit — etwa für die Chorlieder des Helena-Akts, der viele Jahre lang unvollendet liegenblieb — Hilfsmittel brauchte für den Fragenkreis des antiken Versbaus und seiner Übertragbarkeit ins Deutsche, dann hatte er in dieser Mappe alles dafür gesammelte Handschriftliche beieinander. Insofern war es wirklich ein Archiv des Dichters: Es war immer darauf eingestellt, für das Werdende, noch nicht Vollendete alles Vorbereitende bereitzuhalten. Zu den eigenen Werken gehörten auch Goethes Zeichnungen. Sie waren im Gegensatz zu den Dichtungen nicht öffentlich bekannt. Er verschenkte wenige und sammelte sie in großen Mappen. Diese Materialien waren stets um Goethe, sofern er in Weimar war; sie waren eine von ihm aufgebaute Umwelt, ganz aus seinen Interessen erwachsen und auf ihn und seine Arbeiten zugeschnitten. Man kann deswegen erkennen, wie seine Schriften, vor allem die des Alters, mit diesen Sammlungen - und zwar allen Sammlungen.: Manuskripten, Büchern, Bildern, Steinen und Kunstwerken - zusammenhängen. Als Beispiel diene der Roman Wilhelm Meisters Wander jähre (in der zweiten Fassung von 1829). Zu Beginn wandert Wilhelm mit Felix durchs Gebirge; Wilhelm und Montan erläutern dem Knaben das Katzengold, den Glimmer, der ihm auffällt (Kap. I, 1), und den Granit 73 Willy Flach, Goethes literarisches Archiv. In: Archivar und Historiker. Festschr. f. H. O. Meisner, Berlin 1955, S. 45-71. - Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis. Von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1961. (Und dazu die Rezension in: Anzeiger f. dt. Altertum 73, 1961/62, S.84-86.) - K.-H.Hahn, Briefe an Goethe. In: Weimarer Beiträge 6, 1960, S. 1125 bis 1146. - K.-H. Hahn und H.-H. Reuter, Fünfte Abteilung der Weimarer Ausgabe. Die Briefe an Goethe. In: (Jb.) Goethe 29, 1967, S. 65-103.

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Goethe als Sammler

(Kap. 1,3). Natürlich hatte Goethe gute Exemplare davon in seinen Sammlungen. 7 4 Dann aber wird ein Stein von einem Kirchenaltar erwähnt, ein spanischer Kreuzstein von Santiago de Compostela (Kap. I, 4). Auch davon besaß Goethe ein Exemplar, und zwar geschliffen, damit man die Kristallbildung deutlich sehen kann (Schu3, S. 35, Nr. 751). Dann kommen Wilhelm und Felix zu dem sogenannten Riesenschloß, es ist ein Naturspiel aus Basaltsäulen. Goethe hatte eine von ihm selbst gemachte Skizze von solchen Säulen und Platten unter seinen geologischen Zeichnungen 7 5 und hatte einen Bericht darüber, mit eigenen Bemerkungen versehen, für eine Veröffentlichung vorbereitet, unter seinen Papieren ( L 2 , S. 2 5 9 - 2 6 6 ) . Bei M a k a r i e erfährt Wilhelm, daß man markante Sätze aus Gesprächen aufschreibt und sammelt (Kap. I, 10); genauso machte Goethe es selbst, die Notizen dieser Art lagen in seinem Archiv, Teile davon g a b er dem Roman bei (Aus Makariens Archiv). 16 Dann kommt Felix in die Pädagogische Provinz. Manche Motive sind von dem pädagogischen Institut Fellenbergs entlehnt, z. B. die Einrichtung als Landerziehungsheim, die zentrale Stellung der M u s i k u. a. Hierüber hatte Goethe sich Briefe und Berichte senden lassen, die er unter seinen Papieren aufhob, 7 7 ferner einen gedruckten Aufsatz, der unter seinen Büchern stand (Huppert 3219). In der Pädagogischen Provinz lernt Wilhelm die Lehre von den drei Ehrfurchten kennen. In ihr faßt Goethe Gedanken zusammen, die er vorher im Briefwechsel mit Karl Ernst Schubarth erörtert hatte, den er stellvertretend für die jüngere Generation nahm. Schubarths Briefe 7 8 lagen unter seinen Papieren, ebenso wie die Konzepte seiner Antworten. Im 2. Buch kommt Wilhelm Meister dann mit einem Maler an den L a g o M a g g i o r e ; Goethe beschreibt ihn ziemlich genau, insbesondere auch die Isola bella (Kap. II, 7). Goethe ist niemals dort gewesen. Als er dieses Kapitel schrieb, ließ er sich aus der Bibliothek acht Aquarellbilder des Lago M a g g i o r e von Georg Melchior Kraus k o m m e n ; 7 9 diesmal mußten also die herzoglichen Sammlungen aushelfen. Dann wird das Bergfest geschildert, bei dem die Geologen verschiedene Theorien über die Entstehung der Erdgestalt aussprechen (Kap. II, 9). Hierüber besaß Goethe in seinen Manuskripten eine ganze Fülle von Materialien, Korrespondenzen und Entwürfen zu Aufsätzen (L 2). Auch das - damals ganz neue - Problem der Eiszeit wird kurz erwähnt (Kap. II, 9), über das Goethe noch nichts veröffentlicht hatte, über das er aber Materialien gesammelt hatte (L 2, S. 377 ff., S. 385 ff.). Dann wendet der Roman sich zu Wilhelms Medizinstudium und kommt hier ausführlich auf den Nutzen anatomischer Modelle zu 74 Glimmer z . B . Schu 3, S. 169, Nr. 1328-1362; S. 196, Nr. 9 5 6 - 9 7 0 ; S. 225, Nr. 108-112. Granit z . B . Schu 3, S. 169, Nr. 1309-1326; S. 189 ff., Nr. 6 9 9 - 8 7 5 ; S. 219 ff., Nr. 1 - 4 0 ; S. 242, Nr. 475-482. 7 5 Skizzen: Corpus der Goethezeichnungen V B, Abb. 159, 160 u. die Anmerkungen dazu. 7 6 Die Handschriften der Maximen und Reflexionen zeigen, dafj Goethe mitunter d a s erste beste Papier nahm, u m rasch einen Satz zu notieren, z. B. Visitenkarten von Besuchern oder einen Theaterzettel; d a r a u s darf m a n schließen, dafj die Notiz direkt im Anschluß an ein Gespräch noch im Besuchszimmer gemacht wurde. Einen unmittelbaren Eindruck davon geben nur die Handschriften selbst. Angaben d a r ü b e r : WA 42, 2, S. 312-377. 7 7 Einzelheiten darüber im Kommentar von Bd. 8 der H a m b u r g e r Ausgabe, insbesondere auch im Nachtrag a m Ende des Bandes. 78 In diesem Zusammenhang vor allem wichtig Schubarths bisher unveröffentlichter Brief vom 27. April 1819. 7 9 Keudell 1393. - E. Schenk zu Schweinsberg, G. M. Kraus, Weimar 1930. - Sehr. G. Ges. 43, Abb. 34 u. 38.

Die Sammlungen und die Dichtung. Die „Wanderjahre" als Beispiel

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sprechen (Kap. III, 3). Solche hatte Goethe für das anatomische Institut in Jena sammeln lassen. In seinem Aufsatz Museen zu Jena sagt er: Ein Professor der Anatomie kann ohne Präparate nicht dozieren (WA 53, S. 295), und er hatte Anregungen gegeben, daß in Berlin solche Modelle hergestellt würden, wobei er auf den jung verstorbenen Jenaer Mediziner Martens hinwies, der solche höchst geschickt hergestellt hatte. Unter seinen Papieren lag ein Aufsatz darüber, der erst nach seinem Tode zum Druck kam (WA49, 2, S. 64-75, insbes. S. 74 f.). Im 3. Buch wird dann die Welt der Spinner und Weber in der Schweiz geschildert. Im Jahre 1810 hatte Goethe seinen Freund Heinrich Meyer beauftragt, ihm darüber einen genauen Bericht niederzuschreiben, er wollte die Beziehung von Mensch und Technik genau wissen. Er kannte ähnliches von den Strumpfwirkern in Apolda; und sein Plan war, dieses Problem in den Roman aufzunehmen. Jetzt griff er auf Meyers seit Jahren bereitliegende Manuskripte zurück, nahm vieles daraus wörtlich auf und arbeitete anderes so um, daß er das dort allgemein Gesagte auf die Romanfiguren übertrug (WA 24, 2, S. 262 bis 271). Schließlich behandelt der Roman den Plan der Ansiedlung in Amerika. Hier benutzte Goethe Motive aus Büchern, die in seiner Bibliothek standen (Ruppert 4097-4115), insbesondere aus der Reisebeschreibung des Prinzen Bernhard (Ruppert 4098) und aus Ludwig Gali, Meine Auswanderung nach den Vereinigten Staaten (Ruppert 4104). Sogar das Romanmotiv, daß Zöglinge der Pädagogischen Provinz in die amerikanische Siedlung gehen, hat dort ein Vorbild: Die zwei ältesten Söhne von John Owen, der die Siedlung „New Harmony" leitete, waren Zöglinge Fellenbergs. 80 Dieses Beispiel mag zeigen, wie Goethe vieles, was er im Roman erwähnt, zur Hand hatte. Manches dieser Romanmotive erscheint dem heutigen Leser zunächst vielleicht fremdartig oder etwas gewaltsam oder zufällig herangezogen. Wenn man aber sieht, daß Goethe diese Materialien im Laufe der Jahre bereitgestellt hatte und warum er sich dafür interessierte, dann wird uns seine geistige Welt deutlicher. Über die Struktur des Kunstwerks ist damit nichts ausgesagt. Aber für eine Vorbedingung des Verstehens, für das Erklären der Einzelheiten, ist einiges getan. Und zugleich wird Goethes Eigenart, sich eine Umwelt eigener Prägung aus vielfältigen Elementen zu schaffen, dabei deutlich. Diese vielteilige Umwelt, die Goethe sich aufgebaut hatte und die stets weiter wuchs, bedurfte ständig seines ordnenden Geistes. Nachdem seine Sammeltätigkeit bekannt geworden war, bekam er viel geschenkt. Vieles kaufte er. Wenn Auktionen stattfanden, bekam er Kataloge zugesandt. Nach der Auktion bemühte er sich, einen Katalog mit Eintragung der erzielten Preise zu erhalten, um auf dem laufenden zu sein. 81 Da er nicht selbst zu Auktionen reiste, beauftragte er andere, so in Leipzig Rochlitz82, in Frankfurt Schlosser.83 Am liebsten 80

Bernhard zu Sachsen-Weimar, Reise durch Nord-Amerika. Hrsg. von H. Luden. 2 Bde., Weimar 1828. Goethe hatte das Werk bereits im Manuskript gelesen. Bd. 2, S. 131: Projekt eines Kanals (wie Kap. II, 7) ; S. 138 : Zwei Söhne Owens sind Zöglinge Fellenbergs (wie Kap. II, 7) ; S. 141 : Verteidigungsübungen im Gelände (wie Kap. III, 11) ; S. 141 : Verbot des Branntweins (wie Kap. III, 11). Ähnliche Motivverwandtschaften gibt es noch mehr. 81 In seiner Bibliothek stehen jetzt noch 76 Versteigerungskataloge (Ruppert 2221-2297). 82 Goethes Briefwechsel mit Friedrich Rochlitz. Hrsg. von W. v. Biedermann, Leipzig 1887. Enthält viel über Leipziger Kunsthandel, Sammlungen, Versteigerungskataloge usw. 83 Die Briefe an Johann Friedrich Heinrich (Fritz) Schlosser in der WA geben einen Eindruck davon; ergänzend die Tagebuchnotizen.

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Goethe als Sammler

ließ er sich von einem Händler Kupferstiche und Handzeichnungen zur Ansicht senden. Dann sah er die Sendung sorgfältig durch, sei es allein, sei es mit Meyer oder Coudray, wählte aus und sandte den Rest zurück. Sein Hauptlieferant war Weigel in Leipzig; die Korrespondenz mit diesem füllt im GoetheArchiv einen Faszikel.84 Hatte Goethe etwas erworben, so war er besorgt, daß es sachgemäß behandelt würde. Sogar an Zelter, bei dem er sicher sein konnte, daß dieser sich Mühe geben würde, es dem großen Freunde recht zu machen, schrieb er: Das aller sorgfältigste Einpacken mir erbittend (3. Januar 1832). Manche Wünsche des Sammlers ließen sich nur schwer und nach langer Zeit erfüllen. Im Jahre 1775 sah Goethe auf der Schweizerreise ein Exemplar von Martin Schongauers Kupferstich „Der Tod Marias" (Dichtung und Wahrheit, Buch 18). Ihn ergriff die ausdrucksstarke, in feinsten Linien gearbeitete Darstellung. Jahrzehntelang wünschte er, dieses Blatt zu besitzen. Endlich bot sich eine Gelegenheit bei einer Leipziger Versteigerung. Er beauftragte Weigel, für ihn zu bieten (7. Oktober 1819). Sechs Tage später schreibt er an Weigel, er möge die Kupier von Martin Schön ja erstehn, und er gäbe ihm Freiheit, die ausgesetzte Summe zu überschreiten. Sodann bittet er, sofort nach der Auktion ihm zu schreiben. Sie werden gewiß der Ungeduld eines Liebhabers diesen Wunsch verzeihen (13. Oktober 1819). Er hatte 38 Jahre gewartet - nun wurde er ungeduldig. Weigel kaufte den gewünschten Stich (Sdiu 1, S. 140, Nr. 349) sowie einige andere Blätter von Schongauer und sandte sie sofort. Daraufhin Goethe an Meyer: Die Kupier... machen mir viel Freude. Es ist immer wie Öl in die Lebenslampe... (18. Oktober 1819) und an Boisseree: Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß mir ein uralter Wunsch erfüllt worden: einen ganz vortrefflichen Abdruck vom Tod der Maria von Martin Schön zu erlangen? Wie an Ihren unversehrten Bildern von Hemmling pp., so auch an einem echten Abdruck der älteren Kupferstecher lernt man erst das grenzenlose Verdienst der charakteristischen Deutlichkeit und Ausführung dieser Meister kennen (23. März 1820). Der Zufall ergab, daß er fast zu gleicher Zeit auch anderswo Kupferstiche Schongauers erhalten konnte. Damit aber war sein Bedürfnis befriedigt. Als Weigel ihm nochmals Schongauer anbot, lehnte er von vornherein ab (4. November 1819). Jetzt waren andere Gebiete wichtiger. So sammelte er mit Geduld und mit Ungeduld, immer mit System und immer mit Liebe. Und auch mit Geschick: Nach den Befreiungskriegen sanken in Deutschland die Preise für französische Kunst stark herab. Sofort nutzte Goethe die Gelegenheit, brachte eine beträchtliche Reihe französischer Zeichnungen und Kupferstiche zusammen und meldete es triumphierend denjenigen Freunden, die Verständnis dafür hatten. 85 84 „Verhältnis zu Auktionator Weigel in Leipzig 1817-1822" (Goethe-Akten Nr. 338). Die Korrespondenz enthält u. a. Listen von Kupferstichen u. dgl. - Vgl. insbesondere Goethes Brief an Weigel vom 23. März 1818. f5 An H. Meyer, 26. März 1818; an S. Boisseree, 1. Mai 1818. - Schu 1, S. 195-213 und 316-323 sind alle französischen Blätter verzeichnet. Sie sind aber nicht alle 1813-1818 erworben. - An Meyer schreibt Goethe am 28. Oktober 1817: Was die Anschaffung von Kunstwerken betrifft, so wollen wir in unserm alten Gleise bleiben, aut Gemälde renunzieren und was uns, besonders von Kupiern, wohlfeil in die Hände läutt, annehmen. Die sämtlichen Leipziger Bestellungen habe sehr wohlfeil erhalten. Ich werden mit Weigel in Verbindung bleiben, autpassen, was die Liebhaber gerade jetzt nicht mögen und darnach greifen... Gleich am Tage Ihrer Abreise kam jene Leipziger Sendung an. Das Betrachten und Ein-

Verkehr mit Sammlern und Händlern

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Goethe hat viel Geld ausgegeben für seine Sammlungen, er bekam aber auch viel geschenkt. Daß er ein berühmter Dichter war, kam den Sammlungen sehr zustatten. 86 Doch da, wo er echten Sammlergeist bei anderen sah, hat er auch wieder verschenkt. Als 1825 der Geologe Grüner, ein Forscher und Sammler, zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum Carl Augusts nach Weimar kam, ließ Goethe ihm einen Tisch zwischen die Mineraliensammlung stellen und sagte: Nun können Sie von meinen Dübletten einige Ihrer Lücken ergänzen. Goethe besaß viele Dubletten. Grüner war von der Sammlung so entzückt, daß er gar nicht mehr an den Festakt dachte, bis Goethe ihn mit sanfter Gewalt drängte, sich umzuziehn, und ihn dann in seinen Wagen setzte, der ihn nach dem Schloß fuhr. 87 Zu dem Kupferstichhändler Weigel in Leipzig bildete sich ein freundliches Verhältnis heraus. Er belieferte Goethe entgegenkommend und sorgfältig. Goethe wußte, daß Weigels Sohn Autographen sammelte, und daraufhin beschenkte er diesen mit Dubletten aus seinem Besitz.88 Die Sammlungen erforderten Einordnen der Neuerwerbungen, mitunter Umgruppierung des Vorhandenen, Anschaffung von Mappen, Schränken usw. Goethe hat sich oft damit beschäftigt. Seine Tagebücher enthalten viele Eintragungen wie: 26. September 1817. Kam die Kupierstich-Sendung von Leipzig an; ward ausgepackt und geordnet. Ingleichen die Schränke im blauen Zimmer gewechselt und möglichste Ordnung und Raum gemacht... Abends mit August die Kupier durchgesehen und besprochen. - 27. September. Einige Kupier und Zeichnungen einrangiert usw. Oder: 17. November 1820. Kupierstiche nach der Antike gesondert. - 18. November. Steinsammlung geordnet. - 19. November. Steinkasten abermals geordnet. - 20. November. Ordnung der Mineralien iortgesetzt. Ein Teil von Goethes Zeit gehörte dieser Arbeit. Die Beschäftigung dieser Art lag in seiner Natur. Er machte auch das Handwerkliche, das dazu gehört, gern selbst, das Beschriften, in Mappen Legen, in Fächer Ordnen. Doch dafür hatte er nicht genug Zeit und ließ sich also durch andere helfen. Wir haben viele eigenhändige Beschriftungen von ihm, in den Sammlungen der Handschriften, Zeichnungen, Steine usw. 89 rangieren der Blätter veranlagte eine Bewegung in meiner Sammlung, die noch iortiährt. Man fand, daß neue Portefeuilles müßten angeschafft werden, wenn man einigermaßen zu Ordnung und Klarheit kommen wollte. Dieses ist nun im Werk, und wird sich zwar eine Schule vor der andern, doch keine ganz leer ausnehmen. 86 In Dichtung und Wahrheit schreibt Goethe: Ich habe mich gewöhnt, beim Vorzeigen meiner Sammlungen der Personen zu gedenken, durch deren Vermittlung ich das einzelne erhielt, ja der Gelegenheit, dem Zufall, der entferntesten Veranlassung und Mitwirkung, wodurch mir Dinge geworden, die mir lieb und wert sind, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das, was uns umgibt, erhält dadurch ein Leben, wir sehen es in geistiger, liebevoller, genetischer Verknüpfung, und durch das Vergegenwärtigen vergangener Zustände wird das augenblickliche Dasein erhöht und bereichert, die Urheber der Gaben steigen wiederholt vor der Einbildungskraft hervor, man verknüpft mit ihrem Bilde eine angenehme Erinnerung, macht sich den Undank unmöglich und ein gelegentliches Erwidern leicht und wünschenswert. (10. Buch) 87 3. September 1825. Gespräche, hrsg. von Herwig, Bd. 3 , 1 (1971), S. 809. - Tausch von Sammlungsgegenständen wird auch sonst erwähnt, z. B. an Zelter, 12. Dezember 1812; an Friedländer, 4. und 15. Januar 1813. Mehrere Beispiele bei Schreckenbach, Goethes Autographensammlung, 1961, Einleitung S. 23; u n d : Max Semper, Die geolog. Studien Goethes, 1914, S. 228 ff. 88 An Weigel, 13. Oktober 1819; 3. November 1819; 19. u. 23. Januar 1820.

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Goethe als Sammler

Es war nicht nur eine Ordnung im Kleinen nötig, z. B. der Kupferstiche nach Jahrhunderten, Ländern und Meistern, sondern auch im Großen: Die Bücher, die eigenen Handschriften, die graphische Sammlung, die Steinsammlung und alles andere mußte seinen Platz haben, zugleich aber sollte das Haus wohnlich bleiben und Goethes ästhetischen Bedürfnissen entsprechen. Das Arbeitszimmer blieb ohne Sammlungsgegenstände, mit Ausnahme einiger Manuskripte und Handbücher.90 Die Bibliothek daneben war reines Büchermagazin. Die Gesellschaf tsräume (Gelber Saal, Juno-Zimmer, Urbino-Zimmer) enthielten besonders gute oder historisch wichtige Bilder und Gipsabgüsse sowie einige Sammlungsschränke, doch so, daß diese nicht zuviel Raum beanspruchten. Dagegen wurde die östliche Gruppe der vorderen Räume nach Christianes Tode immer mehr zu einer Art Museum, in welchem die Bestände recht gedrängt standen und die Bilder an den Wänden sehr nah beieinander hingen. 91 Das sogenannte „Büstenzimmer" war schon zu Goethes Zeit ein Raum, der viele Gipsabgüsse aufnahm, allerdings befanden sich dort auch Manuskripte (die heute im Archiv sind). Es gibt darüber vielerlei Notizen in den Tagebüchern.92 Goethes Tagebücher erwähnen auch oft, daß er seine Sammlungen anderen zeigte, und diese Notizen werden für uns ergänzt durch die Aufzeichnungen der Besucher. Goethe betrachtete die Gegenstände gern mit anderen zusammen und sprach darüber. Seltener war es, daß er - wie in Jena in den Jahren 1809 und 1810 - sie allein ansah. Rochlitz schreibt über seinen Besuch im Dezember

1 8 1 3 : Handzeichnungen guter alter und neuer Meister und Münzen waren es vornehmlich, womit wir uns unterhielten und worüber wir zuweilen wacker stritten. Auch hier sehe ich: was weiß der Mann nicht alles! Und wie weiß er, was andern wohl auch bekannt, durch Weitausgreiien und Zusammenstellen des Entfernten neu und lehrreicher und schön anregend zu machen! (Rochlitz

an Chr. v. Truchseß, GHe 2, S. 873). Goethe ließ seine Besucher merken, wie sehr er seine Kunstgegenstände liebte. Kanzler v. Müller schreibt in seinem Tagebuch (1. Januar 1832), Goethe habe ihm und Coudray italienische Renaissance-Medaillen mit Feierlichkeit gezeigt. Liest man die Aufzeichnungen der Besucher, so bemerkt man, daß diese oft mehr von Goethes Art der Interpretation und von seiner Begeisterung für die Werke entzückt waren als von den 89 Ein Beispiel ist sein Verzeichnis von Tischbeins Zeichnungen, die er besaß: Goethe und Tischbein. Hrsg. von W. v. Oettingen. Sehr. G. Ges. 25, Weimar 1910, S. 29-32. 90 Das Arbeitszimmer und das daneben gelegene Schlafzimmer sind niedrig. Es sind die einstigen Kutscherstuben im Hinterhaus, unmittelbar über dem Pferdestall und der Wagenremise. 91 Mit Ausnahme der Steine mußten alle Sammlungsgegenstände im ersten Stock zusammengedrängt werden, denn in den Mansardenzimmern wohnten August und Ottilie. Das Erdgeschoß hat wegen der zwei großen Tor-Durchfahrten weniger Raum, und etwa die Hälfte von diesem beanspruchen der Eingangsflur und das große Treppenhaus. Ferner waren dort Küche, Waschküche und andere Wirtschaftsräume. Es war also im ersten Stock sehr viel beieinander. Christiane und die Hausmädchen hatten es schwer mit dem Sauberhalten. Allein das Abstauben von Klauers Gipsbüsten ist eine Kunst. Tut man zu wenig, so werden alle äußeren Teile dunkel; tut man zu viel, so leidet auf die Dauer der Gips. " 2 Das Register zu den Tagebüchern in WA III 15, 2, S. 89-93 verzeichnet nicht nur alle Stellen, an denen Goethe sein Haus erwähnt, sondern auch speziell Arbeitszimmer, Büstenzimmer, Hinteres Zimmer (Großes Sammlungszimmer), Juno-Zimmer usw. - Einen guten Überblick gibt: Friedrich Menzel, Goethes Haus zu Goethes Zeit. In: Goethe-Almanach auf das Jahr 1967, Berlin u. Weimar 1967, S. 269-296.

Sammlung, Betrachtung, Gespräch

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Werken selbst. 93 Er lief} bei der Betrachtung durchaus auch die anderen zu Wort kommen und wollte ihre Meinung hören. Luise Seidler schreibt (19. November 1813), Goethe habe ihr drei Stunden lang Zeichnungen und Stiche gezeigt. Elf Jahre danach machte er sie zur Kustodin der neuen herzoglichen Gemäldegalerie. Das gemeinsame Betrachten der Kunstwerke diente also wohl auch dem Zweck, die Fähigkeiten der Besucher kennenzulernen und diese weiter auszubilden. An Weigel schreibt Goethe (13. Oktober 1819), daß er sich freue, wenn junge Leute Freude an Sammlungen bekämen. Es ist immer gut, ja notwendig, eine solche Baumschule von Kunstfreunden zu erhalten,94 Selbstverständlich war, daß diejenigen, welche Goethe im Alter nahestanden und zu den Hausfreunden gehörten, besonders oft und eindringlich seine Sammlungen kennenlernten. Mit Eckermann betrachtete er vorwiegend graphische Blätter, darunter Raffael, Rubens, Rembrandt, Claude Lorrain, Poussin, Füfjli, Cornelius, Neureuther. Auch Coudray und Kanzler v. Müller zog er bei Kunstbetrachtungen heran. Dagegen sah er mit Soret vorwiegend Naturwissenschaftliches an, insbesondere Mineralien und Fossilien.95 Die Gesprächsaufzeichnungen zeigen, wie Goethe andere in der Betrachtung schulte. Eckermann notierte am 21. Dezember 1831, Goethe habe ihm Landschaften von Hermann van Swanevelt gezeigt. 96 Dann wird in einem Künstlerlexikon nachgeschlagen, und dort steht, daß Swanevelt nicht Claude Lorrain erreicht habe. Daraufhin Goethe: Die Narren!.. .Schwanefeld war ein anderer ... Die Künstlerlexika hatten meist noch die alte Art, Zensuren zu erteilen und die Größe des einen an der des anderen zu messen. Goethe aber sieht individualisierend. Er macht sich weitgehend frei von herrschenden Vorurteilen und verhilft dadurch auch anderen dazu. Das hängt zusammen mit seinem historischen Denken. In die Zeit von Goethes Leben fällt nicht nur der Wandel von privaten zu öffentlichen Sammlungen, sondern auch die Wendung von antiquarischen Notizen alten Stils zur neuen Form der Interpretation. Sie fing bei Winckelmann an;

93 F. v. Biedermanns Edition Goethes Gespräche, 5 Bände, Leipzig 1909-1911, enthält ein Sachregister, das u. a. die Stichworte „Sammeltätigkeit" (S. 480) und „bildende Kunst" (S. 459 ff.) hat. An Reichtum und Zuverlässigkeit wird Biedermanns Werk durch die Sammlung von W. Herwig übertroffen. Sie ist aber noch nicht abgeschlossen. Hoffentlich erhält auch sie ein Sachregister. 94 Weitere Beispiele würden hier zu weit führen. In knappster Form berichten Goethes Tagebücher, mit wem er Sammlungsgegenstände betrachtete. Ausführlicher berichten meist die Besucher in ihren Schilderungen, die man bei Biedermann und Herwig findet. Carus notiert, dafj Goethes Haus voll Sammlungen sei, und erkennt auf den ersten Blick das Anordnungsprinzip der Kupferstiche (21. Juli 1821; GHe 3,1 S. 261 ff.); Grüner lernt nach und nach die verschiedenen Sammlungen kennen (3.-10. September 1825, GHe 3,1, S. 819 bis 827); Boisseree betrachtet mit Goethe Kupferstiche (31. Mai bis 1. Juni 1826; GHe 3,2 S. 46), Abeken Medaillen (Dezember 1808; GHe 2, S. 395 f.). 95 Die Notizen darüber sind dementsprechend zahlreich. Vgl. Eckermann, Gespräche. Hrsg. von F. Bergemann, Wiesbaden 1955, Register unter „Bildbetrachtungen" (S. 922) und .»Sammlungen" (S. 924). - Soret, Zehn Jahre bei Goethe. Hrsg. von H. H. Houben, Leipzig 1929, Register S. 777 unter „Sammlungen". Übrigens scheint Goethe zur Betrachtung von Autographen viel seltener seine Freunde herangezogen zu haben als bei den Kupferstichen und Zeichnungen. 96 Schu 1, S. 187 f., Nr. 418-430 und S. 311, Nr. 898-899.

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Trunz, Goethe-Studien

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Goethe als Sammler

Goethe führte sie fort in seinen Schriften zur Kunst und Literatur. 97 Es handelte sich nicht mehr darum, auf Grund des üblichen Schemas (Erfindung, Komposition, Zeichnung, Kolorit) ein Urteil zu geben, sondern Werke in ihrem inneren Zusammenhang zu erkennen. So wie Goethe das in der Literatur für Shakespeares „Hamlet" oder Hebels „Alemannische Gedichte" tat, so in der Kunst für Werke von Mantegna, Rembrandt, Ruisdael und anderen. Diese Art der Interpretation entstand im Zusammenhang mit Gesprächen, um andere auf etwas aufmerksam zu machen. Deswegen wird die „Hamlet"-Analyse in den Lehrjahren als Gespräch gegeben; auch die Novelle Der Sammler und die Seinigen hat z. T. die Form des Gesprächs. Das haben dann die Romantiker aufgegriffen und weitergeführt. Für den Zusammenhang zwischen Goethes Kunstschriften und seinen Gesprächen (an Hand der Sammlungen) geben die Tagebücher, Briefe und Gesprächsaufzeichnungen genug Quellenmaterial. So erfahren wir z. B. aus seinen Tagebüchern und Briefen, daß er Tischbeins Idyllenbilder am Tage nach ihrem Eintreffen (27. Mai 1821) mit Adele Schopenhauer ansah, sie am 29. Mai mit Kanzler v. Müller betrachtete und am 30. Mai die Gräfin Egloffstein eigens deswegen bei sich hatte, um mit ihr diese Zeichnungen zu besehn. An Tischbein schreibt er am 3. Juni: Die Kunstfreunde ergetzen sich sehr daran, Kenner und Nichtkenner. In diesen Tagen der Gespräche machte er sich Notizen zu den Bildern, die er dann in den nächsten Wochen ausarbeitete. Ähnlich ist es in anderen Fällen. 98 Die Kunstschriften sind den Gesprächen darin vergleichbar, daß sie Rechenschaft geben wollten von dem, was Goethe allein oder mit Freunden - betrachtend wahrnahm. Eine Sammlung ist nichts ohne Auslegung, d. h. ohne Verstehen. Anderseits: Die Bereitschaft zum Verstehen ist nichts ohne das Objekt. In seinem Aufsatz über gegenständliches Denken sagt Goethe: Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf. (Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort) Das Sammeln gehörte bei Goethe in den Haushalt seiner inneren und äußeren Lebensführung. Das reiche Material für seine umfangreichen Arbeitsgebiete ließ sich nicht nebenher zusammentragen. Es war ein Teil seiner Arbeit. Dies gab ihm das Gefühl, für weite Gebiete des geistigen Reiches die Hilfsmittel zur Verfügung zu haben. Er wollte nicht nur das Verständnis des Einzelwerks, er wollte auch die Überschau: die Kunst und Literatur als Geschichte in großen Zusammenhängen; das Pflanzenreich als ein System, ebenso das Mineralreich. Deswegen brauchte er die Fülle der Objekte und die Ordnung der Einteilung. Die große Objektivität, derer es hier bedarf, hielt seiner starken Subjektivität die Waage. Die Ausgewogenheit dieser Polarität gehört wohl zu dem, was seine Genialität ausmacht. Er sammelte bereits in seinen Mannesjahren - so daß Schiller sich etwas 97

Zur Geschichte der Gemäldebeschreibung: Wilhelm Waetzold, Dt. Kunsthistoriker, Bd. 1, Leipzig 1921, S.64f„ S. 101, S. 111, S. 117 f., S. 121 ff., S. 182, S. 201-207, S. 234 ff., S. 253 ff., S. 272. - Dt. Kunstwerke, beschrieben von dt. Dichtern. Hrsg. von W. Waetzold, Wiesbaden 1948 = Sammlung Dieterich, 96. - Studien zu Goethes Alterswerken. Hrsg. von E. Trunz, Frankfurt/M. 1971, S. 57 f. , 98 Das Gespräch über Kunstwerke bei Goethe wäre wert, einmal untersucht zu werden auf Grund der Tagebücher, der Kunstschriften, der Kunstgespräche in den dichterischen Werken und der Gesprächsaufzeichnungen der Besucher. Vgl. auch Anmerkung 86.

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»Öl in die Lebenslampe"

befremdet über das „Steckenpferd", die Medaillensammlung, äußert - , " doch die eigentliche Zeit der Sammlerfreuden war das Alter. In dieser Epoche lebte er intensiver mit den Sammlungen und widmete ihnen mehr Zeit. Deswegen finden sich in seinen Briefen, je älter er wird, desto mehr Äußerungen über seine Sammlungen. Und er spricht nicht nur über einzelne Stücke, sondern auch darüber, was sie ihm ganz allgemein bedeuten. So schreibt er an Heinrich Meyer, nach dem Erwerb von Kupferstichen: Öl in die Lebenslampe.. . (18. Oktober 1819) An Zelter schreibt er, in Weimar gäbe es wenig Material für seine Studien, deswegen habe er sich auf Perlenfischerei gelegt: Ich habe besonders Zeichnungen gewonnen

von

der Art,

die man

sein

Leben

lang

nicht

wieder

von

sich

läßt.

(29. Oktober 1830) Und an Boisseree, ebenfalls bei Gelegenheit von Handzeich-

n u n g e n : Auch hob' ich das Glück, ganz unschätzbare man länger leben möchte, in meinen Besitz gebracht

Dinge, um derentwillen (zu h a b e n ] . (4. N o v e m b e r

1830) Selten ist das Glück des alten Sammlers, ist der innere Zusammenhang von Leben, Alter und Sammlungen so deutlich ausgesprochen wie hier. Es gab in diesem Dasein viel Schmerz und viel innere Not, doch nur selten darüber ein Wort wie Wir leiden alle am Leben (WA 36, S. 363) oder im Gespräch mit S o r e t : Mon eher ami, il laut apprendre supporter et ne pas se laisser abattre

ä s'arranger avec la vie, pour pouvoir la par eile. (5. M ä r z 1 8 3 0 ) I n d e r M a r i e n -

bader Elegie, die bis zu den düsteren Worten Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren geht, erscheint als Gegengewicht die Natur in ihrer Schönheit: Ist denn

die Welt

nicht

übrig?

Felsenwände,

/ Sind

sie

nicht

mehr

gekrönt

von

heiligen Schatten? In anderen Fällen rettet Goethe sich in die Arbeit. Nach dem Tode seines Sohnes schreibt er an Zelter: Hier nun allein kann der große Begriff der Pflicht uns aufrecht erhalten. (21. November 1830) Auch die Beschäftigung mit schönen und bedeutenden Dingen aus den Sammlungen gehörte zu der Tagseite des Lebens. Einige Wochen nach dem Tode Christianes schreibt er an W i l h e l m v . H u m b o l d t : senden [Sie] mir wieder einmal etwas Bedeutendes Handschriften. Mit alten hergebrachten Liebhabereien schmeichelt man

von seinem

Schmerz. (26. Juni 1816) Sie konnten ihn nicht verdrängen, nicht betäuben; vielleicht sollten sie es auch nicht; doch sie konnten ihm schmeicheln und dadurch ein wenig mitwirken zu dem Gleichgewicht innen und außen. Die Beschäftigung mit den Sammlungen konnte in den Augen der anderen leicht wie Egoismus aussehen. Doch Goethe hat für die Sammlungen des Herzogtums nicht weniger getan als für seine eigenen. Und auch das, was er für seinen persönlichen Lebenskreis tat, war letztlich von Nutzen für Weimar. Wie sehr diese beiden Bereiche zusammenhingen, hatte sich gezeigt, als er 1786 den Herzog gebeten hatte, ihn zwei Jahre lang von allen Beamtenpflichten zu befreien, und nach Italien gefahren war. Er hatte sich wiedergefunden als Dichter, hatte die achtbändige Ausgabe seiner Schriften geschaffen, und dann war Weimar zur großen Literaturstadt geworden, die es vorher nicht gewesen war, solange Goethe seine Kräfte in amtlicher Tätigkeit erschöpfte. Zurückgekehrt, behielt er die Aufsicht über die öffentlichen Sammlungen, und seine - an Hand 99 An Wilhelm v. Wolzogen, 7. Februar 1804: „Goethe hat mich gebeten. Dir sein Anliegen wegen russischer Kupfermedaillen noch einmal ans Herz zu l e g e n . . . Es ist einmal sein Steckenpferd, was ihn besonders jetzt beschäftigt. Auch hat er wirklich schon eine recht auserlesene Sammlung zusammen gebracht." (He 1, Nr. 1903)



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Goethe als Sammler

der Privatsammlung erworbene - Vertrautheit mit den Einzelproblemen kam letzten Endes den Einrichtungen des Staates wieder zugute. Er dachte daran, seine eigenen Sammlungen in einen Weimarer Gesamtkatalog einzubeziehn und hoffte, daß nach seinem Tode aus ihnen öffentliche Sammlungen würden. Goethes Sorge für die herzoglichen Sammlungen in Weimar und Jena hat ihren Niederschlag gefunden in dem Briefwechsel mit Carl August und mit dem Weimarischen Oberkammerpräsidenten Christian Gottlob v. Voigt.100 Ein großer Teil dieser vielen Briefe handelt über die Weimarer Bibliothek, die Edelsteinsammlung, Gemmensammlung, das Münzkabinett, die Kartensammlung, Kupferstichsammlung, Medaillensammlung usw.; sodann über die Jenaer Sammlungen, insbesondere: Anatomisches Kabinett, Botanische Sammlung, Chemisches Institut, Mineralienkabinett, Münzsammlung, Naturalienkabinette, Physikalisches Kabinett, Tierärztliche Sammlung, Universitätsbibliothek usw. In Goethes Lebensführung gehörte auch dies: das Wirken für öffentliche Institute, die dafür nötigen Besprechungen, das Betrachten des Erreichten, das Planen des Wünschenswerten. Es galt dabei. Maß zu halten, mit wenigen Mitteln etwas Gutes zu erreichen, mit anderen Menschen sich zu arrangieren und dabei Klarheit, Sicherheit, Geduld und Zähigkeit zu behalten. Goethe wollte hier immer wieder seine Kräfte erproben und Nützliches schaffen, auch auf diese Weise seinem Dasein Sinn gebend. Funktion, recht begriffen, ist das Dasein in Tätigkeit gedacht. (L 10, S. 394). Unter den herzoglichen Sammlungen hat Goethe in späteren Jahren besonders viel für die Gemäldesammlung getan, die seit dem 16. Jahrhundert nach und nach zusammengekommen war. Sie war nicht groß, besaß aber einige gute Stücke wie ein Selbstbildnis Rembrandts, zwei Porträts von Dürer und mehrere Bilder von Cranach.101 Eine Ergänzung bildeten Holzschnitzereien, Elfenbein100

Briefwechsel des Herzogs Carl-August mit Goethe. Hrsg. von Hans Wahl. 3 Bde., Berlin 1915-1918. (Mit vorzüglichem Kommentar und Register.) - Goethes Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt. Hrsg. von Hans Tümmler. 4 Bde., Weimar 1949-1962 = Sehr. Goe.Ges. 53, 54, 55, 56. (Ebenfalls mit vorzüglichem Kommentar und Register.) 101 Das Selbstbildnis Rembrandts wurde 1922 gestohlen. Die anderen Bilder bilden den Grundstock des heutigen Schloß-Museums. Es gibt noch keine Geschichte des Schloß-Museums. In den Goethe-Biographien kommt die Museumsgründung überhaupt nicht vor, obgleich Briefe und Tagebücher zeigen, wie wichtig sie Goethe war. Da die Artnalen nicht bis 1824 reichen, hat er sie nicht selbst beschrieben. Die herzogliche Familie besag seit dem 16. Jahrhundert eine ganze Anzahl von Gemälden Cranachs und gab diese 1824 ins Museum. 1780 war aus der Braunschweiger Erbschaft eine sehr schöne Landschaft von Ruisdael an Carl August gelangt (Brief Goethes an Merck 11. Oktober 1780), die kam ebenfalls ins Museum. Um den Besuchern einen Eindruck der italienischen Renaissance zu vermitteln - und man dachte an Besucher, die nicht nach Italien reisen konnten - stellte man neben den wenigen Renaissance-Gemälden, die vorhanden waren, auch gute Kopien aus, z. B. eine Kopie nach Domenichino, „Athene wirft die Flöte fort"; Perugino, Erzengel Michael, kopiert von Luise Seidler (Briefwechsel Goethe und Carl August Bd. 3, S. 323); Raffael, Madonna mit dem Stieglitz, kopiert von Luise Seidler (Briefwechsel Goethe u. Carl August, Bd. 3, S. 40 u. 333), sodann eine Kopie von unbekannter Hand nach Tizian, Kaiser Karl V. (Schloßmuseum Weimar, Katalog: Renaissance. 1970) usw. Als die Weimarer Galerie 1824 eröffnet wurde, stellten Goethe, Heinrich Meyer und Luise Seidler natürlich ein Verzeichnis des Inventars auf. Dieses kam in die »Oberaufsichts-Akten", und eben diese Akten sind Kriegsverlust. Dadurch fehlt die Hauptquelle zur Geschichte der Museumsgründung. Ich habe im GoetheNachlaß und im Heinrich-Meyer-Nachlaß nach Entwürfen für das Verzeichnis von 1824 gesucht, jedoch nichts gefunden. Im Schloßmuseum wurde mir gesagt, daß man dort das

Goethe als Schöpfer der Weimarer Gemäldegalerie

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arbeiten und Kleinplastiken. Glücklicherweise waren bei dem Schloßbrand 1774 die meisten Bilder gerettet. Goethe und der Herzog fanden, daß es an der Zeit sei, sie öffentlich auszustellen. 1818 wurden die ersten Überlegungen angestellt, 102 und 1824 war es soweit, daß in dem „Jägerhaus" ein kleines Museum eröffnet wurde. Mit Heinrich Meyer stellte Goethe die Bilder zusammen und sorgte für ein Verzeichnis. So hat er also - zu allem, was er für Weimar geschaffen hat — auch die Gemäldegalerie begründet. Ohne jede Feierlichkeit begann sie 1824 zu bestehen, als ständige Ausstellung mit festen Öffnungszeiten. Goethes Tagebücher notieren seine vorbereitenden Arbeiten, die in den Bereich der „Oberaufsicht" fielen. 103 Auf die von Carl August geäußerte Idee, die Kupferstichsammlung schon zu diesem Zeitpunkt mit der Gemäldegalerie zu vereinigen, ging Goethe nur sehr zögernd ein, weil es im Jägerhaus an Raum und an Personal dafür mangelte, während in der Bibliothek die Beamten die Kupferstichsammlung nebenher versorgten. Daß der Herzog und Goethe die Betreuung der neuen Gemäldegalerie einer Frau anvertrauten, der Malerin Luise Seidler, war für ihre Zeit recht fortschrittlich. 104 Goethes intensive Beschäftigung mit Sammlungen hatte zur Folge, daß auch in seinen Schriften häufig von Sammlungen die Rede ist. In Dichtung und. Wahrheit, dem Buch des Widerspiels von Ich und Umwelt unter dem Gesichtspunkt der Bildung, bespricht Goethe die Sammlungen des Vaters, der Frankfurter Patrizier, der Leipziger Kaufleute, die Dresdener Galerie, den Mannheimer Antikensaal und die Düsseldorfer Galerie. 105 Seine Schilderung der Reise nach Italien behandelt natürlich viele Sammlungen wie die im Vatikan und das Kapitolinische Museum in Rom sowie die Sammlungen in Neapel. Vor allem die ausgegrabenen antiken Werke wurden im 18. Jahrhundert nach und nach öffentlich ausgestellt. Goethe hat in dieses Buch bewußt auch ein Gegenbeispiel eingeordnet. In Sizilien sah er die Sammlung des geistig nicht normalen Prinzen Pallagonia, eine Schar von geschmacklos dargestellten Zwergen, Soldaten, Buckligen usw. Dieser von Goethe sehr sorgfältig gearbeitete AbVerzeichnis von 1824 nicht habe. Man kann nun aber andere Quellen heranziehen. Einiges über den damaligen Bestand erfährt man aus den Briefwechseln Goethes mit Carl August und mit Heinrich Meyer, ferner aus älteren Museumskatalogen. Der „Katalog des Großherzoglichen Museums zu Weimar", 7. Auflage, bearbeitet von W. Hermens, Weimar 1913, hat bei folgenden Gemälden die Notiz „Aus dem Inventar von 1824": Dürer, Hans Tucher; Dürer, Felicitas Tucher; Caspar David Friedrich, Landschaft mit Regenbogen (Kriegsverlust aus der Zeit 1939-1945); Jacob van Ruisdael, Landschaft mit Hütten; Luise Seidler, Kopie von Raffaels Madonna mit dem Stieglitz; Tiepolo, Die Opferung Iphigeniens; Joh. Heinr. Wilhelm Tischbein, Selbstbildnis im Atelier, 1785. - Ferner im Goethe- und Schiller-Archiv: Goethe-Akten. Nr. 282: Kunst-Ankäufe für die Herzoglichen Sammlungen aus der Sammlung Pick in Bonn und aus der Hohenwieserschen Kupferstich-Auktion in Frankfurt 1819. 102 Goethe an Carl August, 12. Juli 1818; Carl August an Goethe, 13. Juli 1818. 103 £)je Tagebuchstellen sind verzeichnet in WA III 15, 2, S. 99. Aufschlußreich vor allem die Eintragungen vom 13. Juni 1822; 8. November 1824; 22. November 1824 ; 5. Dezember 1824; 15. Dezember 1824; 23. Dezember 1824; 29. Dezember 1824; 19. Juli 1825; 10. Oktober 1825; 16. Juni 1826. - Sodann Goethes Brief an Carl August vom 26. Oktober 1824 und der Briefwechsel zwischen beiden vom 23. Dezember 1823 bis 2. März 1824. - Das „Jägerhaus" liegt weniger als fünf Minuten von Goethes Haus am Frauenplan entfernt in Richtung der Belvederer Allee, heute Marienstr. 5/7, eins der Gebäude der Hochschule für Architektur. 104 Über Luise Seidler: Thieme-Becker, 30, 1936, S. 459 (mit Literaturangaben). - ADB 33, 1891, S. 642-645. 105 1. Buch; 2. Buch; 8. Buch; 11. Buch; 14. Buch.

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Goethe als Sammler

schnitt (Palermo, 9. April 1787) will sagen: Sammeln sollten nur Menschen mit Schönheitssinn und klarem Kopf. Das Buch endet mit nochmaligem Anschauen der römischen Sammlungen, mit innerem Freiwerden und Gesunden angesichts des Großen. Während die Italienische Reise von öffentlichen und fremden Sammlungen spricht, berichten die Annalen von den herzoglichen Sammlungen in Weimar und Jena und von Goethes eigenen Sammlungen, die er in wachsendem Maße auch als Hilfsmittel für andere empfindet. Und auch in diese Schilderung ist ein Gegenbild eingebaut. Im Jahre 1805 besucht Goethe in Helmstedt den Hofrat Beireis, der von Kostbarkeiten sprach, die er nur Ausgewählte sehen ließ, einer erlesenen Gemäldesammlung, einer Ente aus Blech, die Körner pickt und Eier legt, einem automatischen Flötenspieler und einem faustgroßen ungeschliffenen Diamanten, um den ihn Könige beneideten. Goethe sah die Ente, doch sie legte keine Eier. Der Flötenspieler war entzwei. Die Gemälde standen im Schlafzimmer eins ans andre gelehnt an der Wand, Beireis zog sie hervor und erläuterte, jeder Maler habe drei Perioden, und er könne jede dieser Perioden zeigen in Gemälden von Raffael, Tizian, Dürer usw. Was er vorwies, waren aber Kopien oder Werke anderer Künstler. Zum Schluß holte er den Diamanten - aus der Hosentasche, Goethe, der sich damals seit Jahren sowohl mit Mineralogie wie mit Farbenlehre beschäftigt hatte, kannte die Lichtbrechung in Edelsteinen und sah mit einem Blick, daß es ein gewöhnlicher Bergkristall war. Er faßt zusamm e n : lächerlich und ärgerlich, Jahreshefte, Abschnitt 1805).

beleidigend,

und wahnsinnig

zugleich

(Tag-

und

Unter den Werken Goethes gibt es eins, in welchem die Sammlungen das

H a u p t t h e m a b i l d e n ; es ist d i e Schrift Kunst

und Altertum

am Rhein und

Main,

1816 in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum erschienen. Der Titel ist, wie Goethe am Ende selbst sagt, nicht genau. Über Bauten wird fast nichts berichtet mit Ausnahme des Kölner Doms,- berichtet wird über Sammlungen. Da aber geht Goethe über das Gebiet der Kunst hinaus. Alles das, was ihn im Bereich der „Oberaufsicht" in Sachsen-Weimar anging, beobachtete er hier in den westlichen Gegenden. Und so berichtet er über die Sammlung Wallraf in Köln (Gemälde, römische Altertümer), die Sammlung Pick in Bonn (Gemälde, Kupferstiche, Münzen), die Bibliothek in Mainz mit ihrer Sammlung römischer Ausgrabungen und die Naturaliensammlungen in Biebrich und in Wiesbaden; auf seine Heimatstadt Frankfurt kommend, schreibt er über die Anfänge eines Museums, über die Sammlung Städel, die soeben als Stiftung zu öffentlichem Besitz wird, die Sammlungen Grambs (Gemälde, Graphik), Brentano (Gemälde), Gerning (antike Vasen und Bronzen), Bethmann (Gipsabgüsse) und die große naturwissenschaftliche Sammlung Senckenberg. Dann folgt Hanau mit den vorzüglichen naturwissenschaftlichen Sammlungen Schaumburg, Leisler und Leonhard. In Darmstadt gibt es bereits ein großherzogliches Museum mit Gemälden, Gipsabgüssen und Naturalien. Zum Schluß folgt Heidelberg mit der Sammlung Boisseree, an deren Besprechung Goethe eine allgemeine Würdigung der alten niederländischen und niederrheinischen Malerei anknüpft. Durch dieses ganze Werk ziehen sich einige Grundgedanken: Sammlungen werden meist von Privatleuten zusammengetragen, sie sind späterhin aber am besten in öffentlichem Besitz untergebracht. Nur hier erfüllen sie ihre eigentliche Funktion. Die rechtliche Form dabei sollte Nebensache sein, Hauptsache die

Goethes Schriften über Sammlungen

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öffentliche Benutzbarkeit. Wenn private Besitzer nicht verkaufen wollen, sollten sie ihren Besitz als Dauerleihgabe einem Museum zur Verfügung stellen (WA 34, 1, S. 107). Sammlungen sollten nach Sachgebieten gegliedert sein. Die Fürsten oder die Stadtverwaltungen wie in Frankfurt oder die Bürger (in Form von Museumsvereinen) sollten für ausreichende Räume sorgen. Wissenschaftliche Sachkenner als Leiter der Sammlungen und Konservatoren als künstlerisch-handwerkliche Erhalter sollten überall zusammenwirken; beider Können erfordert Tradition. Wo viele kleine Sammlungen bestehen, sollte man sie in wenige große zusammenlegen und planmäßig ausbauen. Man sollte dem Publikum helfen, Sammlungen richtig zu sehen, man sollte vor den Werken sich belehrend unterhalten können (WA 34, 1, S. 118), und die Direktion sollte für die Besucher gute Kataloge herstellen, möglichst in historischer Folge (S. 110). Oft also geht Goethe von der Beschreibung der Sammlungen über zu Vorschlägen. Er sagt den Kölnern, Bonnern und Frankfurtern, was sie tun könnten, tun müßten. Hätte es irgend jemand anders gesagt, sie hätten vielleicht verärgert sein können bei so zahlreichen Ratschlägen. Doch diese werden hier mit so viel Sachkenntnis gegeben, mit so viel Freude an dem Vorhandenen, mit so viel Anerkennung des Geleisteten, mit so viel persönlicher Liebenswürdigkeit, daß die Sammler wohl nur Freude daran haben konnten. Und schließlich war es ja nicht irgendwer, der dies sagte, sondern es war Goethe; sein öffentlich bekundetes Interesse machte ihn zum Bundesgenossen derer, die für diese Sammlungen arbeiteten. Wie es in privaten Sammlungen damals zuging, wenn fremde Besucher kamen, erfahren wir in der Kunst-Novelle Der Sammler und. die Seinigen. Ein besonderes Motiv dieses Werkes ist, daß in den Kreis der Sammler und Kunstkenner ein Philosoph eintritt - wie Schiller in den Kreis Goethes - , ohne Sachkenntnis im einzelnen, doch scharfsinnig im Grundsätzlichen. Es wird berichtet über Gespräche, die in der Sammlung geführt werden. Das Ganze hat die Form fingierter Briefe an Goethe als Herausgeber der Propyläen, 1799. Das hier behandelte Thema des Umgangs mit Kunst auf Grund von Sammlungen fand auch in den großen Romanen einen gemäßen Platz. In den Lehrjahren sieht Wilhelm als Kind die Gemäldesammlung seines Großvaters und liebt in kindlicher Weise das eine oder andere Motiv der Bilder, in die er sich hineinversetzt. Er ist traurig, als die Sammlung verkauft wird. Nach vielen Jahren sieht er sie wieder, und dieses Wiederbegegnen zeigt, wie sehr er sich gewandelt und entwickelt hat. 106 In den Wahlverwandtschaften führt der Architekt eine kleine Sammlung von Münzen, Holzschnitten und Kupferstichen mit sich, vor allem aber Nachzeichnungen alter Malereien. Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Dasein hervor. (Kap. II, 2) Die Personen des Romans nehmen nachdenklich dieses Dasein wahr. Es ist kein Zufall, daß diese Kapitel ruhiger Betrachtung (II, 2 und II, 6) in die Pause zwischen den spannungsreichen und tragischen Geschehnissen davor und danach eingeordnet sind. Der Architekt zeigt seine Gegenstände nur denen, die damit umzugehen verstehn, und ein Gespräch über den Umgang mit Sammlungsgegenständen (ganz aus Goethes Erfahrung stammend) schließt sich an. 107 ")!i Kap. I, 17; IV, 9; VIII, 2; VIII, 3; VIII, 10. Kapitel II, 2; II, 6.

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Goethe als Sammler

Da das Sammeln Goethe besonders in seinem Alter beschäftigte und erfreute, kommen Sammlungen vor allem in seinem Altersroman vor, in Wilhelm Meisters Wander jährend Und hier wird das Thema in größere Zusammenhänge eingeordnet, denn dieser Roman stellt verschiedene Lebensformen nebeneinander. Zunächst ist nur vom tätigen Leben die Rede. Der Roman beginnt mit der Familie des dörflichen Tischlermeisters, der in seinem begrenzten heimischen Kreise handwerklich wirkt. Dann sehen wir die nach Amerika fahrenden Auswanderer mit Lenardo, der die Begabung hat, unter neuen Verhältnissen neue Formen der Arbeit und der Gemeinschaft für sie und mit ihnen zu finden. Später wird uns Odoard, der Beauftragte eines deutschen Fürsten, gezeigt, der in Deutschland dünnbesiedelte Gegenden erschließt und einen Kreis von Männern um sich sammelt, die sich gemeinsam und freudig dieser wohldurchdachten Aufgabe widmen. In die Bilderreihe der verschiedenen Lebensformen gehört auch die Pädagogische Provinz, aus der uns einige Erzieher näher gezeigt werden, die ganz in den Gedankenkreisen ihrer Arbeit leben. In Verbindung mit den Auswanderern und auch mit der Pädagogischen Provinz steht der ganz anders lebende Naturforscher Montan, der einsam seine Wege im Gebirge geht, dann aber mit seinen Ergebnissen Nutzen für die Gemeinschaft bringt. Und in Verbindung mit diesen großen Kreisen steht auch eine Gestalt, die - ohne Namen — immer nur der Sammler genannt wird. Er ist alt, und seine Betrachtungen über Welt- und Einzelschicksal zeigen die Weisheit des Abstands. Zwischen den vielen Tätigen ist er der Betrachtende, zwischen denen, die der Gegenwart leben, ist er jemand, der Vergangenheit und Gegenwart im Zusammenhang sieht. Er sammelt nicht nur für sich, sondern er ist auch Berater anderer; er nützt einem Kreise von Kennern. Und er erzählt Wilhelm, als dieser ihn aufsucht, ein kleines, aber typisches Erlebnis: Seit seiner Jugend besaß er ein elfenbeinernes Kruzifix, doch fehlten die Arme. Dreißig Jahre später entdeckte er diese und konnte sie erwerben - Symbol dafür, daß mit der Zeit nicht nur vieles zerstört wird, sondern daß da, wo der rechte Geist waltet, auch wieder Zerstörtes erhalten und vereinigt wird. In dieser Gestalt des Sammlers steckt ein Stückchen von Goethe, aber nur ein Stückchen. Etwas von Goethe lebt auch in Lenardo, in Odoard und erst recht in Montan. Die Wanderjahre sind nicht nur ein Bild verschiedener menschlicher Lebensformen, die alle in ein Verhältnis gebracht werden, sondern sie sind auch ein Bild ihres Verfassers, der sich auseinandergefaltet hat in diese verschiedenen Gestalten seiner Dichtung. Und in diese Reihe gehört auch der Sammler. Die Wanderjahre sind insofern ein besonders aufschlußreiches Werk, um Goethe kennenzulernen, denn in der Vielfalt dessen, was sie enthalten, verkörpern sie eine Eigenschaft, die für Goethe bezeichnend ist, seine Fähigkeit, vieles zu vereinigen. Das besondere der Goetheschen Persönlichkeit ist immer die Weite. Shakespeare ist wohl ein größerer Dramatiker, doch er ist fast nur Dramatiker. Alexander v. Humboldt ist ein größerer Naturforscher, doch er ist nur Naturforscher. 108 D e r oheim sammelt Porträts (Kap. I, 7) und Autographen (Ebd.); in der Novelle Wer ist det Verräter hat der gute Alte in seiner Einsiedelei Hunderte von Porträtskupferstichen (Kap. 1,9); im Kreise Makariens sammelt man ein Archiv von Handschriften (Kap. 1,10), und Wilhelm bringt das geheimnisvolle Kästchen dem Sammler, der wertvolle Gegenstände aufbewahrt (Kap.I, 11 und 1,12).

Polarität und Verbindung von Dichtergeist und Sammlergeist

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Goethe dagegen: Naturforscher, Sammler, Verwaltungsmann, Schriftsteller in allen Gattungen und dazu ein Mensch des geselligen Lebens, der Hunderte von Menschen kennt und zu ihnen Beziehungen hat. Es hat auch andere damals gegeben, die Mineralien sammelten - aber keiner von ihnen hat zugleich lyrische Gedichte gemacht. Es hat auch andere damals gegeben, die Gedichte machten - aber keiner sammelte zugleich Steine, Kupferstiche und Autographen. Es wäre nicht möglich, sich Hölderlin als Sammler von Zeichnungen u n d Gipsabgüssen zu denken, ihn, der nie im Leben eine eigene Wohnung besaß und dessen ganzes Dasein in einer einzigen Dimension lag, hier allerdings auch in letzte Tiefen drang. Freilich, er zerbrach daran. Goethe zerbrach nicht trotz aller inneren Gefährdung - vielleicht eben wegen dieser Verbindung verschiedener Lebensstränge, Daseinsformen. Dieses Zugleich ist das Besondere bei Goethe. Oberflächlich gesehen könnte es so erscheinen, als vereine er drei Leben, die nur gebündelt sind: das des Naturforschers, des Sammlers und des Schriftstellers. Tieferem Blick zeigt sich aber, daß dies alles aus einer Mitte erwächst und daß die Tätigkeit als Schriftsteller vielfach an die Arbeit als Naturbetrachter und als Sammler anknüpft. Goethes Weite - das ist nicht nur die Verbindung verschiedener Interessengebiete, sondern auch die Verbindung verschiedener Seelenlagen und Haltungen. Um ein lyrisches Gedicht zu machen oder etwas zu schreiben wie den Faust-Schluß und die Makarien-Kapitel der Wanderjahre, bedurfte es der Intuition des Augenblicks und des Sich-Lösens vom Alltag, um ganz frei zu sein für die innere Vision und ihre Gestaltung. Goethe war zu dieser Haltung von Jugend an fähig. Das Besondere ist, daß er sie noch im hohen Alter hatte. 109 Seine Handschrift ist dann flüchtig, schräg, von leidenschaftlichem Schwung. 110 Goethe konnte aber auch der Gesellige sein, der in Weimar oder Karlsbad viele Gäste sah und mit Sicherheit diesen Kreis zusammenhielt und formte. Seine Stammbuch-Eintragungen sind dann graphisch formschön, charaktervoll, doch im Rahmen seiner Eigenart dem Konventionellen angenähert. Er konnte auch der Sammler sein, der bedächtig Stück für Stück zur Hand nahm, klassifizierte und beschriftete. Und dann ist seine Handschrift genau, steil und malend. Zu dieser Sammlertätigkeit gehörten Exaktheit, Übersicht und System - ganz andere geistige Kräfte als die des Dichters. Dazu gehörte auch Gedächtnis. Goethe hat zu vielen Gaben auch die eines guten Gedächtnisses gehabt. Er kannte Tausende seiner Steine und jedes Blatt seiner Kupferstiche und Zeichnungen. Dieses Kennen, Ordnen, Bewahren scheint der dichterischen Haltung fast entgegengesetzt. Doch wer in die Einzelheiten des reichen biographischen Materials eindringt, wird bald gewahr, daß dieses Sammlertum bei Goethe gar nicht fern von seiner Schriftstellern steht. Andere Schriftsteller konzipieren ein Werk, arbeiten es aus, lassen es drucken und machen sich dann an das nächste. Goethe dagegen hat inmitten eines Tagespensums eine Idee, schreibt 109

Bei dem Gedicht Um Mitternacht hat er die spontane, unvorgesehene Entstehung selbst mitgeteilt (In dem Aufsatz Geneigte Teilnahme an den „Wanderjahren" WA 41, 1 S. 368), Bei einigen anderen Gedichten geht sie aus den Handschriften hervor. 110 So etwa in den Gedichtentwürfen Könnt ich vor mir selber ßiehn... und Es spricht sich aus... Besonders aussagekräftig die Handschrift des Makarien-Kapitels der Wander jähre (III, 15), mit fliegender Hand hingeworfen, aus der Intuition heraus, sichtlich die erste Niederschrift.

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Goethe als Sammler

ein paar Stichworte nieder und arbeitet dann wieder das, was die zeitweilig vorgenommene Arbeit ist. Später beschäftigt ihn jene Idee wieder, er nimmt die Stichworte auf, ergänzt, erweitert und legt sie wieder weg, um anderes zu tun. Für manche Werke wie die Wanderjahre und die letzten Teile von Dichtung und. Wahrheit entstehen im Laufe der Jahre Berge von Materialien und Entwürfen. Diese müssen aufgehoben werden in einem Zustand, der sofortiges Weiterarbeiten zu einem späteren Zeitpunkt ermöglicht. Wieder ist es das Ordnen im Großen und im Kleinen, das Goethe hier braucht, wie bei seinen Sammlungen. Und dann, wenn eine solche wohlgeordnete Fülle da ist, dann kommt eines Tages auch die innere Bereitschaft, um daraus die fertige Darstellung zu machen. Kein anderer deutscher Schriftsteller hat solche Massen von Materialien gehäuft und gebraucht (wohl auch Jean Paul nicht). Goethe empfand sie nicht als Last, sondern als Grundlage, als Ansporn zur Weiterarbeit. Das hängt mit seiner Arbeitsweise und inneren Produktivität zusammen: Er schrieb Dichtungen, Autobiographisches, Naturwissenschaftliches durcheinander, dahinein schoben sich Tagesaufgaben wie die umfangreiche Korrespondenz und die amtlichen Geschäfte. Das ließ sich nicht bewältigen ohne Überschau, Ordnung und Genauigkeit, d. h. ohne Sammlergeist. Man kann also vielleicht sagen: Goethe vereint viele innere Haltungen, die des spontanen Lyrikers wie die des sorgfältigen Sammlers.111 Und für seine Schriftstellerei, zumal die des Alters, war sein Sammlergeist von Vorteil, weil er gern aus Vorgeformtem arbeitete und weil er Geduld hatte, Werke jähre-, ja sogar jahrzehntelang wachsen zu lassen. Er hätte sich an manche seiner Alterswerke gar nicht herangemacht, wenn er nicht umfangreiche wohlgeordnete Vorarbeiten dagehabt hätte. Sammlungen können ein schöner Besitz sein, aber auch eine Last. Wenn etwas zur Last wird, dann mangelt die Kraft. Goethe wurden seine großen Bestände, die soviel wie mehrere wissenschaftliche Institute umfaßten, nie zur Last - ein Zeichen seiner Kraft. Doch er wußte, daß sein Leben zu Ende gehen werde und daß seine Erben diese Kraft nicht hätten. Was sollte aus den Sammlungen werden? Goethe hatte an vielen Beispielen gesehen und es oft ausgesprochen, daß gute Privatsammlungen am sinnvollsten in öffentlichen Besitz übergehen. Die Bibliotheken der Professoren Buder und Büttner waren Teile der Jenaer Universitätsbibliothek geworden, jene durch Schenkung, diese durch Verkauf.112 In Frankfurt hatte Johann Christian Senckenberg, ein Witwer ohne Kinder, mit Einwilligung seines Bruders Heinrich Christian seine naturwissenschaftliche Sammlung der Stadt als Stiftung Übermacht.113 Ähnlich tat es Johann Friedrich Städel; er war Junggeselle, ohne nähere Verwandte, und machte aus seinem Kunstbesitz eine Stiftung.114 Anders war die Lage der Brüder Boisseree. Sie 111

Die Fülle der Sammlungsgegenstände und die Menge der Korrespondenzen, die er deswegen führte, zeigen, wie er noch im Alter Gesichtskreis und Sammlungen ausweitete, mit diesen Dingen lebte und sich von keinem Besitz trennen wollte. Doch gerade in dieser Zeit entstanden die letzten Teile von Dichtung und Wahrheit, die Wanderjahre, Faust II und die 112 späte Lyrik. Goethe-Handbuch, Bd. 1, 1961, unter „Buder* und »Büttner". 113 Dazu äußert sich Goethe in Kunst und Altertum am Rhein und Main (WA 34, 1, S. 122 und S. 132 f.). - Allg. dt. Biogr. 34, 1892, S. 2 f. - August de Bary, Joh. Chr. Senckenberg, Frankfurt a. M. 1947. 114 Dazu WA 34, 1, S. 107 f., S. 137. - Heinrich Weizsäcker, Katalog der Gemälde-Sammlung des Städelschen Kunstinstituts, Frankfurt a. M. 1900, S. 9 ff.

Leitgedanken des Sammlers

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hatten zwar eine herrliche Sammlung zusammengebracht und vieles vor dem Verfall gerettet, doch sie hatten sich dabei finanziell verausgabt, hatten nicht die Mittel, um eine Privatgalerie auf die Dauer zu finanzieren, und Sulpiz Boisseree hatte vor zu heiraten. Sie verkauften ihre Sammlung 1827 an den bayerischen König. Nach Goethes Meinung war in allen diesen Fällen die Hauptsache, daß die Bestände beieinanderblieben und öffentlich zugänglich wurden. Er lobte Senckenberg und Städel, aber auch die Art, wie man es in Prag machte, wo die Privatbesitzer ihre Sammlungsgegenstände als Dauerleihgaben in das Böhmische Museum gaben (WA 34, 1, S. 107). Die Hemsterhuis-Gallitzinsche Gemmensammlung, die Goethe 1792-1797 in seinem Hause gehabt hatte und von der er Abgüsse besaß, wurde 1819 durch die Tochter der Fürstin an den König der Niederlande verkauft und kam in das Münzkabinett in Den Haag. 115 Goethe berichtete darüber in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum und knüpfte allgemeine Überlegungen an: Eine iernere Betrachtung dringt sich hier aui: wie wohl ein Fürst handelt, wenn er das, was einzelne mit leidenschaitlicher Mühe, mit Glück, bei Gelegenheit, gesammelt, zusammenhält und dem unsterblichen Körper seiner Besitzungen einverleibt. Zum einzelnen Sammeln gehört Liebe, Kenntnis und gewisser Mut, den Augenblick zu ergreifen, da denn ohne großes Vermögen, mit verständig-mäßigem Aufwand, eine bedeutende Vereinigung manches Schönen und Guten sich erreichen läßt. Meist sind solche Sammlungen den Erben zur Last; gewöhnlich legen sie zu großen Wert darauf, weil sie den Enthusiasmus des ersten Besitzers, der nötig war, so viel treffliche Einzelheiten zusammenzuscharen und zusammenzuhalten, mit in Anschlag bringen, dergestalt, daß oft, von einer Seite durch Mangel an entschiedenen Liebhabern, von der andern durch überspannte Forderungen, dergleichen Schätze unbekannt und unbenutzt liegen, vielleicht auch als zerfallender Körper vereinzelt werden. (WA 49, 2, S. 110 f.) Diese und die folgenden Sätze enthalten eine ganze Theorie des Sammeins und die Begründung für den Wandel von privaten zu öffentlichen Sammlungen «• zu Goethes Zeit. Er betont, da§ die Schätze nicht unbekannt und ungenutzt liegen sollten, und denkt dabei sowohl an Kunstsammlungen, die viele Kunstfreunde erfreuen könnten, wie an Naturaliensammlungen, die belehren und praktisch nützen könnten. Er fährt fort: Warum sollte man leugnen, daß dem einzelnen Staatsbürger ein höherer Kunstbesitz oft unbequem sei. Weder Zeit noch Zustand erlauben ihm, treffliche Werke, die einflußreich werden könnten, die - es sei nun auf Produktivität oder auf Kenntnis, auf Tat oder Geschichtseinsicht - kräftig wirken sollten, dem Künster sowie dem Liebhaber öfter vorzulegen und dadurch eine höhere, freigesinnte, fruchtbare Bildung zu bezwekken. Auch hier fällt das Wort Bildung, das immer wieder im Zusammenhang mit den Sammlungen auftaucht, und es erklärt, warum Goethe die Öffentlichkeit der Sammlungen wünscht: Sind aber dergleichen Schätze einer öffentlichen Anstalt einverleibt, sind Männer dabei angestellt, deren Liebe und Leidenschaft es ist, ihre schöne Pflicht zu erfüllen, die ganz durchdrungen sind von dem Guten, was man stiften, was man fortpflanzen wollte, so wird wohl nichts zu 115

Gerhard Femmel und Gerald Heres, Die Gemmen aus Goethes Sammlung, Leipzig 1977, S. 267-274.

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wünschen übrig bleiben. Goethe schließt mit einem Satz des zeitgenössischen Historikers A. H. L. Heeren: Die Werke der Kunst gehören nicht einzelnen, sie gehören der gebildeten Menschheit an. (WA 49, 2, S. 110-112) Er wünscht also den Übergang der Privatsammlungen in öffentliche Anstalten und dort Männer, deren Liebe und Leidenschaft es ist, ihre schöne Pflicht zu erfüllen. So formuliert er zu der Zeit, als die Museen entstehen, die Aufgabe ihrer Beamten. Und er spricht ebenfalls aus, wie er sich den Besucher wünscht; was dieser dort sieht, soll auf ihn kräftig wirken ... sei es nun auf Produktivität oder auf Kenntnis, auf Tat oder Geschichtseinsicht. In diesem Sinne hat Goethe in der Schrift Kunst und Altertum am Rhein und Main die dortigen Sammlungen besprochen. Von der Wallrafschen Sammlung sagt er: Wünschenswert wär' es daher, wenn man baldmöglichst dem gemeinen Wesen diesen Schatz zueignete .. . (WA 34, 1, S. 77) Goethe benutzt hier die zu seiner Zeit schon abkommende Wendung „gemeines Wesen", die alle, welche in ihrer Jugend Latein gelernt hatten, als Übersetzung von „res publica" kannten. 116 In bezug auf Frankfurt sagt er: Die Liebe zu den bildenden Künsten, im weitesten Sinne, hat sich immerfort bei Privatpersonen lebendig erhalten, und es tritt nunmehr der Zeitpunkt ein, wo eine freie Bürgerschaft auch für öffentliche Annäherung und Zusammenordnung einzelner Schätze - durch glückliche zusammentreffende Umstände aufgefordert - gemeinsam Sorge tragen wird. (WA 34,1, S. 104) Und dann folgt noch einmal ein wesentliches Wort über das Verhältnis von Betrachter und Sammlungsgegenstand: Das Vortreffliche zu kennen und zu lieben, was man nicht besitzt noch zu besitzen hofft, ist eigentlich der größte Vorzug des gebildeten Menschen, da der rohere, selbstige im Besitz oft nur ein Surrogat für Einsicht und Liebe, die ihm abgehen, zu erwerben sucht. (WA 34, 1, S. 118 f.) Wieder wird hier betont, auf was es ankommt: Einsicht und Liebe. Liebe ohne Besitz ist Geist, ist Bildung. Damit ist die tiefere Begründung für den Wandel von privaten zu öffentlichen Sammlungen gegeben. Mit dem allen ist im Grunde gesagt, was Goethe für seine eigenen Sammlungen als das Wünschenswerteste ansah. Er konnte es aber nicht machen wie der kinderlose Witwer Senckenberg oder der Junggeselle Städel, die ohne Erben waren. Er konnte nicht seine Sammlungen und sein Haus dem Lande schenken und sein Vermögen zur Pflege der Sammlungen bestimmen. Dann wäre für die Schwiegertochter Ottilie und die drei Enkelkinder nichts geblieben. Er hatte viel Geld für seine Sammlungen ausgegeben, er hatte es aber auch nur für sie ausgegeben. Er besaß weder Wertpapiere noch Schmuck, er hatte keinerlei Geld in einem geschäftlichen Unternehmen, und er besaß kein Grundstück außer dem am Frauenplan und dem Gartenhaus. Seinen Erben blieben zwar die Einnahmen aus seinen literarischen Werken; doch es war nicht damit zu rechnen, daß diese viel einbringen würden. Die Ausgabe letzter Hand war abgeschlossen, es sollten nur einige Nachlaßbände folgen. Man mußte von den bisherigen Erfahrungen ausgehen. Die Witwe Herders hatte aus der großen 116 Auch hier betont er, wie leicht eine Regierung hier einwirken kann, wenn die Obern und Vorgesetzten zuerst dasjenige treundlich anerkennen, was von einzelnen aus freier Neigung und Liebhaberei bisher geschah... Zugleich werden sie... auf den Fall merken, wo lebenslängliche Bemühung eines Privatmannes dem Gemeinwesen auf einmal zu Gute kommt: denn es geschieht nicht selten, daß eine Sammlung dem Liebhaber, der sich auf mancherlei Weise beengt tühlt, zur Last wird. (WA 34, 1, S. 75)

Goethes Testament

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Werkausgabe nach Herders Tode wenig Nutzen gehabt und sich dann mühsam durchbringen müssen; für eine neue Herder-Ausgabe bestand keine Notwendigkeit. Genau so war es der Witwe Schillers ergangen. In den Jahren vor Goethes Tod war keineswegs das vorauszusehn, was später eintrat: daß der Cotta-Verlag seit 1840 etwa alle zehn Jahre eine Goethe-Ausgabe herausbrachte. Im Gegenteil: Goethe rechnete mit keiner neuen Ausgabe, er fürchtete, -daß nicht einmal die Ausgabe letzter Hand ganz abgesetzt werden würde, und hielt nur für möglich, daß die Veröffentlichung von Briefen noch Honorar einbringen könne. 117 Er mußte deswegen darauf bedacht sein, den Enkeln etwas zu hinterlassen, was sie im Notfall so benutzen konnten, wie die Brüder Boisseree oder die Tochter der Fürstin Gallitzin es mit ihren Sammlungen getan hatten. Er konnte nur darauf hinweisen, daß man die Sammlungen am besten als Ganzes verkaufen solle und daß es am sinnvollsten sei, sie in Weimar zu lassen. Am 19. November 1830 - d. h. neun Tage nachdem er die Nachricht vom Tode seines Sohnes erhalten hatte - besprach Goethe mit dem Kanzler v. Müller, der als Jurist der geeignetste war, daß er sein Testament machen wolle, und bat diesen, einen Entwurf aufzusetzen. Müller hat höchstwahrscheinlich bei dem Gespräch Notizen gemacht, weil er diese für den Testamentsentwurf brauchte. Nach Hause gekommen, schrieb er nieder, was Goethe ihm über die Sammlungen gesagt hatte:

Meine Nachlassenschaft ist so kompliziert, so mannigfaltig, so bedeutsam, nicht bloß iür meine Nachkommen, sondern auch für das ganze geistige Weimar, ja iür ganz Deutschland, daß ich nicht Vorsicht und Umsicht genug anwenden kann, um jenen Vormündern die Verantwortlichkeit zu erleichtern und zu verhüten, daß durch eine rücksichtslose Anwendung der gewöhnlichen Regeln und gesetzlichen Bestimmungen großes Unheil angerichtet werde. Meine Manuskripte, meine Briefschaften, meine Sammlungen jeder Art sind der genausten Fürsorge wert. Nicht leicht wird jemals so vieles und so vielfaches an Besitztum interessantester Art bei einem einzigen Individuum zusammenkommen. Der Zufall, die gute Gesinnung meiner Mitlebenden, mein langes Leben haben mich ungewöhnlich begünstigt. Seit 60 Jahren habe ich jährlich wenigstens 100 Dukaten auf Ankauf von Merkwürdigkeiten gewendet, noch weit mehr habe ich geschenkt bekommen. Es wäre schade, wenn dies alles auseinander gestreut würde. Ich habe nicht nach Laune oder Willkür, sondern jedesmal mit Plan und Absicht zu meiner eignen folgerechten Bildung gesammelt und an jedem Stück meines Besitzes etwas gelernt. 117 Wie ungünstig Goethe die Zukunft seiner Werke beurteilte, zeigt ein Zusatz zu seinem Testament, den er am 22. Januar 1831 schrieb. Er sagt darin: Der Verlag Cotta habe versprochen, wenn 20 000 Exemplare der Ausgabe letzter Hand abgesetzt seien, nochmals etwas Honorar zu zahlen: Die Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß man sich viel zu große Hoffnung von dem Absatz dieser Ausgabe gemacht und die Anzahl jener Exemplare als wirklich abgesetzt wohl niemals erreicht werden dürfte. (WA 53, S. 334 f.) So geringe Hoffnungen machte sich Goethe auf den Verkauf und die daraus fließenden Einnahmen. Er rechnete überhaupt nicht damit, daß nach der Ausgabe letzter Hand noch eine große Ausgabe folgen werde. Nach dem Tode von Lessing, Klopstock, Herder, Schiller war je eine große Ausgabe erschienen, man rechnete in absehbarer Zeit nicht mit weiteren. Analog beurteilte •Goethe seine Ausgabe letzter Hand.

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Goethe als Sammler

In diesem Sinne möchte ich diese meine Sammlungen konserviert sehen,118 In den nächsten Wochen gingen die Besprechungen des Testaments zwischen Goethe, der Ende November ernstlich erkrankte, und dem Kanzler v. Müller weiter, am 6. Januar 1831 war das Testament fertig und wurde unterzeichnet (WA 53, S. 328-334). Es besagt: Die drei Enkel sind Universalerben. Die Verwaltung des Vermögens erfolgt durch Vormünder. Die Sammlungen werden von Bibliothekssekretär Kräuter als Kustos verwaltet, er soll dabei von den Vormündern unabhängig sein und nur unter Aufsicht des Testamentsvollstrekkers, des Kanzlers v. Müller, stehen. Goethe schreibt, daß er es iür das Zweckmäßigste halte, wenn sämtliche ... Sammlungen, oder doch der größte Teil derselben, an eine öfientliche Anstalt, und zwar wo möglich an eine Weimarische, gegen eine billige Kapitalsumme oder Rente veräußert würden (WA 53, S. 329). Er fügt ausdrücklich hinzu, daß er die Sammlungen nicht einzeln versteigert wünsche.119 Dieses Testament hinterließ er seinen Erben. Die Enkel haben die Sammlungen nicht verkauft. 120 Sie haben lieber bescheiden gelebt. Sie ließen einen guten Katalog derselben herstellen, der 1848/49 in 3 Bänden im Druck erschien. Und als 1885 der letzte der Enkel, Walther v. Goethe, starb, stand in seinem Testament: Das Haus am Frauenplan mit allen Sammlungen erbt der Staat Sachsen-Weimar, Goethes Handschriften erbt die Großherzogin Sophie. Dieses Testament des Enkels entsprach genau dem, was Goethe für seine Sammlungen als günstigste Zukunft vorgeschwebt hatte: Alles blieb beieinander, alles blieb in Weimar, und alles wurde öffentlicher Besitz. Auf diese Weise ist das, was Goethe als seine persönliche Welt um sich gefügt hatte, als Ganzes erhalten geblieben und ist heute der Forschung zugänglich. Oft hat Goethe die Antithese von Erhalten und Zerstören ausgesprochen. 121 118 Kanzler v. Müller, Unterhaltungen mit Goethe. Kritische Ausgabe. Besorgt von E. Grumach, Weimar 1956, S. 277. 119 Wie das gemeint ist, zeigen die Aufzeichnungen des Kanzlers v. Müller. Goethe wünscht keinen stückweisen Verkauf, weil ein solcher alles auseinanderrei5t (wie es mit Herders Bibliothek geschehen war). Er denkt aber an Verkauf einzelner geschlossener Sammlungen, z. B. der Medaillensammlung, die er gern als Ergänzung der herzoglich weimarischen Sammlung sähe. Er hielt also einen Verkauf der einzelnen Sammlungen an verschiedene Käufer für möglich. Doch empfiehlt er, damit noch 20-25 Jahre zu warten, damit seine Enkel sich an ihnen herautbilden könnteil (Kanzler v. Müller, 19. November 1830). Ähnlich wie er die Zukunft seiner Schriften ungünstiger sah, als sie dann wurde (vgl. Anm. 117), sah er auch die der Sammlungen. Dafj sein Haus mit den Sammlungen Bestand haben werde wie das Jabachhaus in Köln und das Gleimhaus in Halberstadt (die er kannte), damit hat er nicht gerechnet. Das ist begreiflich, denn erst nach seinem Tode hat die Goetheverehrung den Gedanken aufkommen lassen, sein Haus mit dem, was darin ist, zu erhalten. - Vgl. dazu A. Jericke, Goethe u. sein Haus am Frauenplan, Weimar 1959, S. 12 ff., insbes. S. 13. — Das Haus am Frauenplan seit Goethes Tode. Hrsg. von W. Deetjen, Weimar 1935 — Sehr. GGes. 48. 120 Ober die bald nach Goethes Tode auftauchenden Pläne, die Goetheschen Sammlungen an den Deutschen Bundestag zu verkaufen: Das Haus am Frauenplan seit Goethes Tod. Hrsg. von W. Deetjen, Weimar 1935 = Sehr. G. Ges. 48. Daselbst auch S. 50 f. Abdruck des Testaments von Walther v. Goethe vom 24. September 1883. 121 Bezeichnend der Spruch: Manches Herrliche der Welt/Ist in Krieg und. Streit zerronnen.jWer beschützet und erhält,/Hat das schönste Los gewonnen. In der Schrift Kunst und Altertum am Rhein und Main heißt es, ein gutes Museum sei aut unserm Weltboden, wo Trennung, Unordnung und Willkür so sehr begünstigt ist, zwar nicht ein Wunder, aber doch. wunderbar (WA 34, 1, S. 154).

Sammlung und Bildung

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Zerstörung kommt von selbst, nur allzuviel, man sorge für Erhaltung, mit geschultem Geiste das Wertvolle erkennend. Goethes Vorliebe für Porträts, Bildnismedaillen, Autographen ist Erhalten von Leben; und letztlich ist jedes Kunstwerk die lebendige Objektivation des jeweiligen Geistes eines Künstlers. Beim Betrachten seiner Sammlungen erscheinen ihm Verstorbene wie lebend. Und eine Bemühung, das Leben durchzusetzen gegen Tod und Zerstörung, ist sein ganzes Werk. Schriften, Tagebücher, Briefe, Sammlungen, alles was er aufhob - es sind Dokumente, in denen seine Gestalt sich ausspricht. Wir kennen ihn daher so gut wie keinen anderen Menschen der Welt, seinen Geist und seinen Lebenskreis. Es ist, als habe er die Zeit zum Stehen gebracht. Er lebt durch sein Werk und durch seine Lebenszeugnisse, die so reichhaltig und so sprechend sind. Er hat die Dinge an sich herangezogen, weil das in seiner Natur lag. Sie sind in ihrer Zusammenstellung ein Ausdruck seines Interessenkreises. Und dieser erstreckte sich nach allen Seiten breit um ihn. Goethe hat in den Altersgedichten gelegentlich das Bild eines großen alleinstehenden und nach allen Seiten entfalteten Eichbaums benutzt, 122 um ein voll entwickeltes Individuum zu symbolisieren, das fest in seinem Erdreich wurzelt. Man kann das Bild auch auf ihn selbst anwenden. Sein Wurzelwerk erstreckt sich in einen weiten Umkreis und holt sich dort Kraft. Dieser Umkreis ist einerseits die Natur mit Gestein und Pflanze und Licht, anderseits die menschliche Kultur in Dichtung, bildender Kunst, Musik, Philosophie usw. - aus allen Zeiten, deren Überlieferung ihm zugänglich war. Wenn Goethe nun diesen weiten Bereich brauchte, dann hatte er seine Sammlungen. 123 Sie vertraten ihm die Natur schlechthin, Gestein, Pflanzen, Tierwelt usw. Und er hatte seine Bibliothek : Da stand, was seit Homer und den Psalmen Großes geschrieben war. Und er hatte seine Kunstsammlung: Sie vertrat ihm alle Epochen und Völker in dem, was sie an Beispielen bot. Goethe war groß im Nehmen. Er hat das selbst gewußt und hat es ausgesprochen. Wie hat er Spinoza gedankt und Linné, wie dankbar nennt er Shakespeare, Hafis, Raffael und Mozart ! Goethe hat seine Sammlungen unter den Gesichtspunkt der Bildung gestellt. Eine Sammlung ist etwas Konkretes. Bildung ist das Sosein des Menschen als ein Gewordenes. Goethe selbst ist der Typ eines im besten Sinne durch Überlieferung geformten Menschen. Die Kräfte, welche ihn bildeten - das Wechselspiel von Welt und Ich - lassen sich weitgehend überblicken. Und das macht die Betrachtung dieses Lebensganges und seiner Lebensumwelt wiederum für uns bereichernd und bildend. 122

Zum Beispiel Mitten in dem Wasserspiegel... Anneliese Märkisch, Die Bedeutung des Sammeins in Goethes Leben und Wirken. In: Forschungen und Fortschritte 35, 1961, S. 340-346. 123

Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Das Haus am Frauenplan, das Goethe seit 1782 bewohnte, ist der Entstehung nach nicht ein Haus, sondern es sind zwei Häuser, die durch Verbindungsbauten verknüpft sind. Diese Zweiheit war Goethe durchaus willkommen. In seinen Altersjahren lebte er in dem Hinterhaus als der private Goethe und ging in das Vorderhaus als der offizielle Goethe. Von den Gästen hat fast niemand das Hinterhaus zu sehen bekommen. Es gab zwei Arten von Bekannten: solche, die nur in das Vorderhaus durften, und solche, die auch in das Hinterhaus durften; und man wußte, wer diese waren: Eckermann, Meyer, Riemer, Kanzler v. Müller, Coudray, der Großherzog.1 Goethe bewohnte den 1. Stock, wie es üblich war. Im Erdgeschoß waren Wirtschaftsräume. In der Mansardenwohnung lebten sein Sohn und Ottilie. Den 1. Stock hatte er eingeteilt; da war nach Süden sein intimer Lebensbereich, sodann gab es Empfangszimmer, Sammlungszimmer, Eßzimmer und Gästezimmer. In den größten und schönsten Räumen des Hauses, dem Juno-Zimmer, Urbino-Zimmer und „Gelben Saal" hat Goethe sich in seinen Altersjahren nur wenig aufgehalten. Dahin ging er nur, wenn dort ein Gast war. Viele Besuche brach er nach einer Viertelstunde ab, andere dauerten eine Stunde und länger, dann aber verließ er diese Räume wieder, deren Fenster alle nach Norden zu liegen. Er liebte die Sonne und wohnte deswegen in den Südzimmern des Hinterhauses. Außerdem blickte man dort auf den Garten, und er wollte, wenn er aus dem Fenster blickte. Pflanzen vor sich sehen. Aus Goethes Briefen, auch aus Eckermanns Gespräch-AufZeichnungen läßt 1

Die Literatur über das Goethehaus findet man bei Goedeke, Grundriß Bd. 4,2. Dresden 1910. S. 726-734; und Bd. 4,5. Berlin 1960. S. 513-515. Ferner in: Goethe-Bibliographie von Hans Pyritz u.a., Bd. 1, 1965, S. 27 f.; Bd. 2, 1968, S. 11 f. - Hervorgehoben seien: Marie Schuette, Das Goethe-National-Museum zu Weimar. Leipzig 1910. (146 S., 26 Taf.) - Wolfgang v. Oettingen, Das Weimarische Goethe-Haus und seine Einrichtung. Jb. Goe.-Ges.-2, 1915, S. 206-226. - Das Haus am Frauenplan seit Goethes Tod. Dokumente u. Stimmen der Besucher. Hrsg. von Werner Deetjen. Weimar 1935. = Sehr. Goe.-Ges. 48. - Hans Wahl, Goethes Arbeitszimmer in der Stunde seines Todes. (Jb.) Goethe 7, 1942, S. 4-16. - Walter Dexel, Das Goethehaus in Weimar. Darmstadt 1956. (32 S. mit Abb., 20 Taf.) - Alfred Jericke, Das Goethehaus am Frauenplan. Weimar, Nationale Forschungs- und Gedenkstätten. 1958. (118 S. mit Abb., 34 Taf.) - A. Jericke, Goethe und sein Haus am Frauenplan. Weimar, Böhlau-Verlag 1959. 2. Aufl. 1964. (75 S„ 31 Taf.) - Friedrich Menzel, Goethes Haus zu Goethes Zeit. Goethe-Almanach auf das Jahr 1967. S. 269-296. - Alfred Jericke und Dieter Dolgner, Der Klassizismus in der Baugeschichte Weimars. Weimar 1975. Insbes. S. 177-188 und S. 23. (Mit Abb.) - Die vielen kleinen Notizen in den Jahrbüchern wie z. B. Jb. Goe.Ges. 1, 1914, S. 202-204 findet man nachgewiesen bei Goedeke und in Jb. Goe.-Ges., Namennachweis für Bd. 1-20, bearb. von Max Hecker. 1936. S. 434 f. - Sehr wertvoll sind die Register der Weimarer Ausgabe. Das Register zu den Tagebüchern in Bd. 15,2 S. 89-93 verzeichnet sogar die einzelnen Räume. Ähnlich genaue Register haben Bergemanns Eckermann-Ausgabe, 1955, und Houbens Edition von Soret, Zehn Jahre bei Goethe, 1929. - Hingewiesen sei auch auf Zelters Skizze eines Grundrisses von Goethes Haus, aus der man ersieht, dafj das Arbeitszimmer über dem Pferdestall lag. Reproduziert: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, Neue Folge, Bd. 1, 1968, Tafel XI.

Das zweiteilige Haus

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sich manches ersehen. Eckermann notiert unter dem Datum 18. Januar 1827 folgende Worte Goethes: Sehen Sie dieses Zimmer und diese angrenzende Kammer, in der Sie durch die offne Tür mein Bette sehen, beide sind nicht groß, sie sind ohnedies durch vielerlei Bedarf, Bücher, Manuskripte und Kunstsachen eingeengt, aber sie sind mir genug, ich habe den ganzen Winter darin gewohnt und meine vorderen Zimmer iast nicht betreten. Goethe schreibt an Zelter am 2. Januar 1829: Ich bin seit vier Wochen und länger nicht aus dem Hause, iast nicht aus der Stube gekommen. Mit der Stube meint er sein Arbeitszimmer. Und an Zelter am 26. Januar 1829: Ich bin seit acht Wochen kaum aus dem Zimmer gegangen. .. An Zelter am 29. Oktober 1830: Kaum, daß ich mein kleines Hinterzimmer verlasse, das Du kennst, Tag und Nacht beschäftigt, die Kräfte zu nutzen, die mir gehlieben sind. Sodann an Zelter am 16. Dezember 1829: Schließlich beschäftigt mich eine häusliche Sorge.. . Du erinnerst Dich wohl, daß bei Deinem Hiersein Du uns ausscholtest wegen unsrer unsteten und intermittierenden Heizung und Dich rühmtest der immer gleichen Wärme Deiner Zimmer ... Am 9. März 1831 schreibt Goethe an Zelter, es dauere noch eine Zeitlang, bis ich selbst wieder meine Sammlungen angehe, welches bei zunehmender besserer Jahrszeit nächstens geschehen wird. An Soret schreibt er am 3. Januar 1832: In dieser Kälte sind meine Sammlungen unzugänglich. An Herders Sohn Sigismund August, den Geologen in Freiberg: Die angekündigte Sendung erwarte mit Verlangen. Besonders angenehm ist es, daß sie mit eintretendem Frühling erscheint, wo man in den während des Winters unzugänglichen Gemächern sich nach allen Seiten ausbreiten.. . mag (28. April 1830). An den Bildhauer Rauch in Berlin schreibt er am 11. März 1828, er wolle seinen Gästen gern das neue Rauchsche Basrelief zeigen, aber erst wenn die Jahrszeit meine Kunsträume zugänglicher macht. An den Grafen Sternberg, er wollte die Sammlung von Fossilien ... bei eintretendem Frühling .. . revidieren (15. März 1832). An den Staatsrat Schutz in Berlin, der ihm 1823 den Abguß der Juno Ludovisi geschenkt hatte, schreibt er am 8. März 1824: Mehrere Wochen war ich nicht in das große und durchkältete Zimmer gekommen, und als ich wieder hineintrat, erstaunt ich zum Erschrecken, so trat mir das erhabene einzige Götterbild entgegen. Und an den Naturwissenschaftler Martius, für den er ein Manuskript gesucht hatte, am 13. April 1826: Das Blatt ist erst jetzt wieder, da der Frühling die Zimmer zugänglicher macht, aufgefunden worden. Demgemäß klingen die Briefe aus der warmen Jahreszeit anders. An den Geologen Herder schreibt er am 7. Juni 1831: Die Jahreszeit begünstigt auch durch heitere und erwärmte Lokalitäten ein Studium .. . Und an Rochlitz in Leipzig, der ihn im Juni besucht hatte und mit dem er vieles aus den Kunstsammlungen betrachtet hatte, am 29. September 1829: Freilich fiel Ihr freundlicher Besuch in die gute Jahreszeit, wo die Räume meines Hauses am heitersten zu benutzen sind... Diese und ähnliche Briefstellen zeigen: Goethe lebte im Alter fast nur in zwei Zimmern, dem Arbeitszimmer und dem Schlafzimmer. Das gilt zumal für das Winterhalbjahr. Wenn er morgens erwachte, befand er sich in dem Schlafzimmer, das nicht groß ist, etwa 2,60 zu 3,40 m. Da war Platz für das Bett, auch für einen Waschtisch und einen anderen kleinen Tisch, jedoch nicht für einen Kleiderschrank. Der stand in dem sogenannten Vorzimmer, zwar nur 7 m entfernt, doch man mußte durch zwei Türen. Das Schlafzimmer ist 273,5 cm hoch. Es hat nur ein 4

Trunz, Goethe-Studien

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Fenster. Der Lehnstuhl ist erst 1831 dorthin gekommen. Die Ausstattung ist sehr einfach: ein Bett aus Kiefernholz, dahinter ein Wandbehang; an den Wänden eine Tabelle zur Tonlehre und eine Tabelle zur Geologie. Kein Kunstwerk, kein Porträt, kein Erinnerungsstück. Die Farbe der Wand ist ein mattes Grün. In diesem kleinen Zimmer hat Goethe alle Krankheiten seines Alters durchgemacht, und hier ist er gestorben. 2 Daneben liegt das Arbeitszimmer. Hier diktierte er vormittags, hier las er nachmittags und abends. Hier führte er Gespräche mit Heinrich Meyer und mit Eckermann. In keinem Raum des Hauses hat er sich soviel aufgehalten wie hier. Das Arbeitszimmer mifjt von der Tür bis zu den Fenstern 5,93 m; von der Bibliothek bis zum Schlafzimmer 4,47 m. Es ist 2,72 m hoch. Die Farbe der Wand ist graugrün. 3 Goethe wollte im Arbeitszimmer nur einfache Möbel. Der Tisch in der Mitte diente dem Schreiber, dem er diktierte, und er diktierte viel. Ein paar Stühle waren da für den Fall, daß er nachmittags oder abends Meyer, Riemer oder Eckermann hier hatte. Ein Stehpult mit Schubfächern enthielt wichtige Manuskripte, die er für seine Arbeiten zur Hand haben wollte. Er hatte im Arbeitszimmer immer auch einige Nachschlagewerke sowie diejenigen Bücher, mit denen er zur Zeit arbeitete. 4 Für sie hatte er lange Zeit ein Regal. In seinen letzten Lebensjahren kamen sie auf den großen Schreibsekretär, der damals dorthin kam. Auch der modische Pappelholzschrank ist ein Geschenk aus seinen letzten Lebensjahren. Bis etwa 1820 müssen wir uns das Zimmer noch einfacher denken als es heute ist. Es enthielt nicht ein einziges Kunstwerk, sondern nur persönliche Erinnerungen, Geschenke von Marianne v. Willemer, Ulrike v. Levetzow, den Enkeln usw. An der Tür zum Schlafzimmer hing eine Postkurs-Tabelle. In dem Arbeitszimmer diktierte Goethe meist vormittags, mitunter auch nachmittags, gelegentlich sogar abends. 5 Er diktierte die Kon2 Die Einrichtung ist so erhalten geblieben, wie sie zur Zeit von Goethes Tode war, weil man schon damals beschloß, diesen Raum unverändert zu lassen. Im Jahre 1832 hat der Weimarische Offizier Friedrich Ludwig August v. Germar (1787-1842) das Sterbezimmer gezeichnet. Reproduziert: Wahl-Kippenberg, Goethe und seine Welt. Leipzig 1932. S. 237. 3 Das wissen wir aus einer Malerrechnung von 1819 (Rechnungen 105, Bl. 240), sodann durch das Gemälde Schmellers und durch die Tradition des Zimmers selbst. 4 Im Arbeitszimmer standen in Goethes letzter Lebenszeit: Die Ausgabe letzter Hand, 1827-1830. - Übet Kunst und Altertum. - Zur Naturwissenschaft überhaupt. - Brockhaus' „Allg. dt. Real-Encyclopädie" (Konversations-Lexikon), 10 Bde. 1824-1829. - Biblia sacra vulgatae editionis. Lugduni 1613. - B i b l i a . . . nach der dt. Übersetzung Martin Luthers. Basel 1772. - Adelung, Wörterbuch der hochdt. Mundart. Leipzig 1774-1786. - J . H. Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung . . . 3 Bde. 1808-09. - J . Ebers, Wörterbuch der engl. Sprache. 1793-94. - Dictionaire frangois-allemand et allemand-frangois par M. de la Veaux. 4 Bde. 1793. - Jagemann, Dizionario italiano-tedesco e tedesco-italiano. 1790 bis 1791. - Ernesti, Lexicon technologiae Graecorum rhetoricae. 1795. - Ernesti, Lexicon technologiae Latinorum rhetoricae. 1797. - Nouveau Dictionnaire historique... 7. ed. Bd. 1 - 9 . Caen 1789. - Hederich, Mythologisches Lexicon. 1770. - G. G. Bredow, Weltgeschichte in Tabellen. Altona 1810. - Ferner einige andere ähnliche Werke. Genauere bibliographische Angaben in: Goethes Bibliothek. Katalog. Bearbeitet von Hans Ruppert. Weimar 1958. 5 Tagebuch 1. November 1826: abends John diktiert. Ähnlich 12. Januar 1824; 21. Januar 1827; 13. Februar 1829. - An Zelter 12. Februar 1829: Gegenwärtiges diktiert' ich abends um 8 Uhr. Hierbei ist zu berücksichtigen, da5 Goethe mit Abend die Zeit des Dunkelwerdens bezeichnet, die folgende Dunkelheit als Nacht. Die genannten Beispiele stammen alle aus der Jahreszeit der kurzen Tage. In Goethes Tagebuch steht z.B. 6. Januar 1797: abends um 5 Uhr; 14. Januar 1797: abends gegen vier. - Goethe-Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 24-30.

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Das Arbeitszimmer

zepte, die dann in die Reinschrift, das Mundum, übertragen wurden. Das geschah anderswo. Nach dem Diktat war Goethe in diesem Zimmer allein, er hatte es zum Lesen und zum Schreiben. In den angrenzenden Räumen - Vorzimmer, Schlafzimmer, Bibliothek - war dann niemand. In dem Arbeitszimmer hat er mit Riemer - meist nachmittags - alle Reinschriften durchgesehen und mit ihm die Korrekturen besprochen, bevor das Manuskript in die Druckerei geschickt wurde. Nachmittags oder abends durften gelegentlich die Hausfreunde ihn hier besuchen, Meyer, Eckermann, Riemer, Coudray und der Kanzler v. Müller. Hier hat er mitunter auch den Großherzog empfangen. In diesem Zimmer sind fast alle seine späten Dichtungen entstanden, insbesondere die Wanderjahre und Faust II. Goethe hat das Arbeitszimmer aber auch zu anderen Zwecken benutzt. Im Winter bei starker Kälte lief} er hier das Mittagessen auftragen (Tagebuch 1 0 . - 1 5 . Januar 1826), denn die Vorderzimmer waren dann bei Nordostwind recht unfreundlich. Goethe nannte diesen Raum mein Zimmer oder Wohnzimmer. Seine Mitarbeiter haben aber schon das Wort „Arbeitszimmer" benutzt, es kommt bei Eckermann, Kräuter und Riemer vor (schon in dem Protokoll von 1832). In den Jahren seit etwa 1820 gab es besonders viel Arbeit für Goethes Schreiber, denn Goethe wollte jetzt sein Lebenswerk einbringen. Die Arbeit ging ins Große. 1824 ließ er den gesamten Briefwechsel mit Schiller in Reinschrift abschreiben, um ihn zu veröffentlichen; 1825 den gesamten Briefwechsel mit Zelter. Dann begann die Arbeit für die Ausgäbe letzter Hand, einerseits die umfangreiche diesbezügliche Korrespondenz, anderseits die Herstellung der Druckvorlagen für die 40 Bände. Sie sollten 1 8 2 7 - 1 8 3 0 erscheinen, jedes Jahr 10 Bände, 5 im Frühjahr und 5 im Herbst. Die Termine waren vorbestimmt, und Goethe hat sie eingehalten. Dabei war sehr vieles neu zu schreiben, denn in die Ausgabe kam viel hinein, was bisher nicht gedruckt war und nun erst vollendet wurde: zwei Bände Gedichte (die Bände 3 und 4), der Zweite Römische Aufenthalt, die Tag- und Jahreshefte, die zweite Fassung der Wanderjahre, Teile des Faust II und manches andere. Das alles mußte diktiert und dann in Reinschrift hergestellt werden. Gleichzeitig gab Goethe drei Zeitschriften her-

aus, Über Kunst und Altertum, Zur Morphologie,

Zur Naturwissenschaft

über-

haupt, und da er sie fast allein schrieb, hatten seine Schreiber viel zu tun. Dazu kam der sehr umfangreiche Briefwechsel. Nun war der Dichter aber außerdem Weimarischer Staatsbeamter und hatte die „Oberaufsicht" über alle wissenschaftlichen und künstlerischen Anstalten des Landes. Alles, was er dafür tat, erledigte er in seinem Haus am Frauenplan (sofern er nicht deswegen in das neue Weimarer Museum, in die Bibliothek oder in die Jenaer UniversitätsInstitute mußte). Er hatte dort den Sekretär John dafür zur Verfügung. Die Arbeit für die „Oberaufsicht" hätte ein anderer Beamter in einem staatlichen Kanzlei-Gebäude verrichten müssen. Goethe erledigte alles in seinem Hause. 6 Was mit dem Großherzog zu besprechen war, wurde zum Teil durch Brief6 Diese Art, das Privathaus zugleich als Dienstgebäude zu benutzen, war Sache regierender Fürsten, Grafen, Gutsherren. In Weimar galt sie nicht nur für Carl August, sondern auch für Goethe. - Die „Oberaufsichts-Akten" sind leider Kriegsverlust. Sie waren im Kriege nach Bad Sulza ausgelagert und sind dort verbrannt. Dieser Bereich von Goethes Tätigkeit ist also sehr wenig durch Quellen belegt. Als diese Quellen noch vorhanden waren, sind sie nicht ausgewertet worden.

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Wechsel geklärt, zum Teil mündlich. In jedem anderen deutschen Kleinstaat wäre selbstverständlich der Beamte zu dem Fürsten gegangen. In Weimar aber ging der Großherzog zu Goethe, mitunter jede Woche. Man hatte sich in der Stadt so daran gewöhnt, daß es gar nicht mehr auffiel. Auch Maria Paulowna und der Erbprinz Karl Friedrich gingen häufig zu Goethe, nicht er zu ihnen. Die Fülle der Arbeit ließ sich nur dadurch bewältigen, daß Goethe diktierte. Beim Diktat schrieb sein Sekretär verhältnismäßig schnell. Später wurde alles sorgfältig in die Reinschrift, das Mundum, übertragen. Man muß sich immer vorstellen, wie langsam eine Reinschrift vorankam, als man noch keine Schreibmaschinen hatte. Goethe beschäftigte seit 1814 Johann August Friedrich John als Schreiber, außerdem seit dem Jahre 1825, als die Arbeiten für die Ausgabe letzter Hand sich häuften, auch Johann Christian Schuchardt. Zeitweilig arbeitete für ihn auch der Bibliotheks-Sekretär Kräuter. Mit diesem regelte er die Angelegenheiten der Herzoglichen Bibliothek, diktierte ihm aber gelegentlich auch seine eigenen Werke. Die Tagebücher nennen diese drei Namen sehr oft, den Johns etwa fünfhundertmal. Goethe bezeichnete ihn als seinen Kanzleigenossen (an Carl August 13. Juli 1820) und prägte für die dauernde umfangreiche Schreibarbeit, die in seinem Hause geleistet wurde, das Wort Hauskanzlei (an Nees von Esenbeck 27. September 1826; an Blumenbach 7. Mai 1829). Die Sekretäre, die bei ihm beschäftigt waren, saßen nur während des Diktats in seinem Arbeitszimmer, danach aber anderswo. Außer dem Arbeitszimmer und dem Schlafzimmer gab es also noch einen dritten wichtigen Raum: das Schreibzimmer. In den Zeiten, als die umfangreichen Manuskripte des Schiller-Briefwechsels, des Zelter-Briefwechsels, der Wanderjahre usw. hergestellt wurden, schrieb einer der Schreiber möglichst ganztägig daran. Das läßt sich aus dem Tagebuch erkennen. Zur Zeit, als der Schiller-Briefwechsel in Arbeit war, gibt es Eintragungen wie diese: 2. Mai 1824: Kräutern Brieikonzepte diktiert. John schrieb an der Schillerschen Korrespondenz. 4. Mai 1824: John an der Korrespondenz tortschreibend. An Kräutern Briefe diktiert. Dann, als die Bände 3 und 4 der Ausgabe letzter Hand im Manuskript fertig werden mußten, d. h. die Bände mit den noch nicht gedruckten Gedichten: 15. Januar 1827: An Schuchardt diktiert bezüglich auf französische und Weltliteratur. John schrieb kleine Gedichte ab. 16. Januar 1827. Brieikonzepte an Schuchardt... Einiges zu den Zahmen Xenien mundiert. (d. h.: John schrieb weiter an der Reinschrift der Zahmen Xenien, deren Absendung an den Verlag zu diesem Zeitpunkt dringlich war.) Ähnlich war es, als die Wander jähre fertig wurden: 22. Januar 1829: Diktierte Schuchardten an der Sendung dem Grafen Sternberg bestimmt. Ordnete manches... John mundierte zu den „Wander jähren". Dann folgte als nächstes für die Ausgabe letzter Hand der Zweite Römische Aufenthalt. Jetzt notiert das Tagebuch: 28. Februar 1829: Schuchardt schrieb an dem „Römischen Aufenthalt". John mundierte mehrere Briefe. 25. April 1829: Schuchardt fuhr an dem „Zweiten Römischen Aufenthalt" fort. Ich besorgte die nächsten Sendungen.

Wo sa5 der Schreiber?

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26. April 1829: Schuchardt fuhr an obiger Arbeit iort. Ich redigierte an derselben gleichfalls.1 Wie die Reinschriften aussahen, die damals entstanden, wissen wir, denn sie sind großenteils erhalten, auch die Konzepte sind meist vorhanden. Die Diktate wurden halbseitig auf geknickte Foliobogen geschrieben. Nun hat ein Folioblatt das Format 21 X 33 cm; ein Bogen (Doppelblatt), aufgeklappt, also das Format 42 X 33 cm. Der Schreiber mußte diese umfangreichen Blätter - das Konzept und die in Herstellung befindliche Reinschrift - vor sich ausbreiten. Dafür brauchte er Platz. Der Schreiber schrieb nicht nur die schriftstellerischen Werke. Er schrieb auch fast alle Briefe und auch die Tagebücher. Goethe diktierte am Ende des ArbeitsVormittags die Stichworte über den Vormittag, dann abends die über den Rest des Tages. Dann stellte der Schreiber die Reinschrift des Tagebuchs her, ebenfalls halbseitig im Folioformat. Auf dem freien Raum der Seite notierte er die abgesendeten Briefe. Wir haben viele Berichte von Besuchern des Hauses. Niemals berichtet jemand, er habe einen Schreiber gesehen, der saß und schrieb. Wir haben die in Einzelheiten gehenden Aufzeichnungen von Eckermann, Riemer und Kanzler v. Müller, die vom Treppenhaus in Goethes Arbeitszimmer gehen durften. Auch sie berichten nichts über den Raum, wo John oder Schuchardt die umfangreichen Manuskripte für den Druck herstellten. Das Schreibzimmer war also ganz abgelegen. Wenn man zu Goethes Arbeitszimmer ging, kam man nicht daran vorbei. Anderseits wollte Goethe die Arbeiten dort unter Augen haben können, die Schreiber durften also nicht weit entfernt sitzen. Wo haben sie gearbeitet? Aus Jena schreibt Goethe am 20. Mai 1817 an den Sekretär Kräuter: Der geologische Aufsatz über den Kammerberg wird sich in einem zusammengebundenen Paket finden, überschrieben „Über Mineralogie". Es liegt entweder in dem Schranke in Johns Zimmer oder in der Schublade des kleinen Schreibtischs an der Tür meines Zimmers. Und am 17. September 1821, ebenfalls aus Jena, schreibt er an Kräuter: In dem Schranke von Johns Stube findet sich ein Paket, uralte Durchzeichnungen von Bildern des Sachsenspiegel enthaltend, solche wünsche baldigst. Johann August Friedrich John (1794-1854) begann als Zwangzigjähriger im Jahre 1814 für Goethe zu arbeiten. Die meisten Manuskripte der Spätzeit sind von ihm geschrieben, bis zu Goethes Tode. Zunächst wohnte John in Goethes Hause, dann heiratete er im Jahre 1819 und bezog eine Stadtwohnung. 8 Wenn Goethe also im Jahre 1817 schreibt Johns Zimmer, ist wohl Johns Arbeits- und Schlafzimmer gemeint, 1821 war es nur noch Johns Arbeitsraum. Goethe besaß viele Manuskripte, die er unterbringen mußte. Die wichtigsten waren in seinem Arbeitszimmer; doch dort war bei weitem nicht genug Platz für alles. Er wollte aber anderseits diese Materialien 7

Man könnte noch mehr Beispiele anführen. Sie zeigen dasselbe: Goethe diktiert in seinem Zimmer einem Schreiber ein Konzept, in einem anderen Zimmer schreibt ein anderer Schreiber die Reinschrift (Mundum) eines Werks. So z. B. 1826, als die Reinschrift der Novelle hergestellt wurde. 20. Oktober 1826: Einige Briefe konzipiert und mundieren lassen. John mundierte die Novelle. 21. Oktober 1826: Mit Schuchardt teils Briete konzipiert, teil mundiert. John schrieb an der Novelle iort. 8 Walter Schleif, Goethes Diener. Berlin u. Weimar 1965. S. 198.

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

leicht greifbar in der Nähe haben. Nun besaß das Zimmer hinter dem Schlafzimmer zwei Wandschränke und außerdem noch einen Schrank. Dort wurden Manuskripte abgelegt. (Das wissen wir aus Kräuters Verzeichnis.) Wenn Goethe etwas aus dem Schrank von Johns Stube haben will, dann handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um diesen Raum. Man muß annehmen, daß John dort gesessen hat. Boisseree schreibt am 26. Mai 1826, daß er, als Carl August die Treppe heraufkam, aus Goethes Arbeitszimmer entwischte. Er ging also in das Schlafzimmer und von da in den daneben liegenden Raum. Er schreibt, er sei dann über den Boden zur Wohnung Ottiliens gelangt. Er hätte diesen Weg - eine kleine Treppe hinauf, durch zwei Schlafzimmer von Hausangestellten, von da über den Boden - niemals allein gefunden. Er traf im Schreibzimmer also wohl Goethes Sekretär, und dieser führte ihn diesen geheimnisvoll-verwinkelten Weg. Als Goethe im Jahre 1823 schwer erkrankte, hat der Diener nachts in diesem Raum geschlafen. Der Diener hatte in normalen Zeiten tags sein „Bedientenzimmer" neben dem Hauseingang als Aufenthaltsraum. Wo er schlief, wissen wir nicht; vermutlich in dem Mansardenzimmer über Goethes Schreibzimmer — erreichbar durch einen Klingelzug - , und in Zeiten, wenn Goethe sich nicht wohl fühlte, in dem Schreibzimmer, das dann am Tage wieder von dem Sekretär benutzt werden konnte. Solche doppelte Ausnutzung von Räumen war in jener Zeit nichts Ungewöhnliches.8® Betrachtet man die Räume des Hinterhauses als Ganzes, so ist klar, daß Goethe den größten als Arbeitszimmer wählte. Doch warum wählte er als Schlafzimmer einen zu kleinen unheizbaren Raum und nicht das daneben gelegene größere Zimmer mit zwei Fenstern, mit einem Ofen, mit Wandschränken, mit genug Platz, um einen Kleiderschrank und einen Waschtisch hinzustellen? Dieser Raum wäre ein gutes Schlafzimmer und Krankenzimmer gewesen. Außerdem hätte er dann den kleinen Raum neben dem Arbeitszimmer (das jetzige Schlafzimmer) als Handschriften-Archiv benutzen können. Doch er hat das alles nicht getan, obgleich es viele Vorteile mit sich gebracht hätte, und er hatte seinen Grund: Er brauchte in der Nähe des Arbeitszimmers ein Schreibzimmer. Das Haus hatte zwar viele Räume, doch alle anderen waren als Schreibzimmer ungeeignet. Die Empfangsräume kamen nicht in Frage, die Museumsräume ebenfalls nicht. Unten am Eingang war das große Dienerzimmer. Wenn der Sekretär dort geschrieben hätte, hätte er alle Manuskripte durch das ganze Haus tragen müssen, und jeder Besucher, der dort dem Diener seinen Mantel abgab, hätte einen Blick in Goethes Tagebuch werfen können - unmöglich. Im Hinterhaus kamen die Fremdenzimmer nicht in Frage, weil von Goethes Arbeitszimmer kein Durchgang dorthin bestand. In der Bibliothek konnte der Schreiber nicht sitzen, denn erstens war sie unheizbar, und zweitens war dort kein Platz. So blieb nur das Zimmer hinter dem Schlafzimmer. Es war heizbar, es hatte zwei Südfenster. Dort war Raum für einen Tisch, auf dem man die Foliobogen ausbreiten konnte, und in dem Schrank und den beiden Wandschränken konnten Papier und Manuskripte untergebracht werden. Der Schreiber war dort ungestört; das Zimmer bildet das Ende einer Sackgasse. Alle Besucher kamen nur bis zum Arbeitszimmer. Goethe hatte den Schreiber nicht 8 a Die Mafje des Schreibzimmers sind 4,20 m (Fensterfront) X 2,90 m, ohne die geräumigen Wandschränke; mit diesen 3,40 m; die des Schlafzimmers 2,70 m (Fensterfront) X 3,40 m.

Der engste Lebensbereich

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unmittelbar neben sich, wenn er in seinem Arbeitszimmer saß, um zu lesen oder zu schreiben; das Schlafzimmer war dazwischen. Er hatte ihn aber anderseits ganz in der Nähe, zwar durch zwei Türen getrennt, aber nur etwa 6 m entfernt. Er konnte die Abschriften der morgens diktierten Briefe sofort besichtigen; er konnte, als der Schiller-Briefwechsel abgeschrieben wurde, einige Briefe in sein Zimmer holen, während John an anderen schrieb usw. Er hatte seine Hauskanzlei also nahe bei seinem Arbeitszimmer, und doch nicht daneben. Kein anderer Raum wäre so günstig gewesen. Der ginfenstrige Raum, den er zum Schlafzimmer machte, wäre als Schreibzimmer zu klein gewesen, außerdem hatte er keinen Ofen-Anschluß. Auch die Mansarden-Zimmer über dem Arbeitszimmer waren ungeeignet. Sie dienten als Schlafräume für Hausangestellte (wahrscheinlich schlief der Diener dort, vielleicht auch der Kutscher), und Goethe hätte für alles, was er unter Aufsicht haben wollte, erst die Treppe hinaufgehen müssen. - Neben dem Arbeitszimmer und dem Schlafzimmer war das Schreibzimmer der wichtigste Raum: hier entstanden die Manuskripte für alle Werke des Alters, vor allem für die Ausgabe letzter Hand. Als Goethe im März 1823 schwer erkrankte, hat in diesem Zimmer der Diener Stadelmann geschlafen und hat von hier aus für Goethe gesorgt; die Familie und die Ärzte kamen vom Arbeitszimmer her (Kanzler v. Müller, 2. März 1823). Während Goethes letzter Krankheit 1832 wachten der Schreiber John und der Diener Gottlieb Friedrich Krause nachts bei ihm, und natürlich wurde nun dieses Zimmer neben dem Schlafzimmer von ihnen benutzt. Diese drei Räume sind der intime Bereich Goethes. Man kann noch die Bibliothek hinzurechnen. Sie liegt auf der anderen Seite des Arbeitszimmers, ein unregelmäßig geformter, unheizbarer Raum, der nur als Büchermagazin diente. In offenen Regalen standen (und stehen) dort etwa 8 000 Bände. Mehr hätten dort auch nicht Platz. Die Bücher waren nach Sachgebieten geordnet, innerhalb dieser Gebiete aber auch nach Formaten. Zu Goethes intimem Lebensbereich gehörte auch der Blick aus den Fenstern. Alle diese Räume haben ihre Fenster zum Garten. Ein schmaler Gang und eine Treppe führen dorthin, der Garten war also vom Arbeitszimmer aus leicht zu erreichen. Goethe liebte es, ins Grüne zu sehn. Wir haben einige Bilder des Gartens aus der Zeit von Goethes Alter, zwar dilettantisch gezeichnet, aber sachlich klar. 9 Aus diesen wissen wir: Der Garten hatte keine hohen Bäume, die Sonne traf ungehindert die Südwand des Hauses. Er war teils als Blumengarten, teils als Nutzgarten bepflanzt, beides aber zugleich unter dem Gesichtspunkt morphologischer Studien. Da Goethe gern hinausblickte, spielt dieser Blick eine Rolle in seinen Briefen, durch alle Jahreszeiten hindurch. Am 23. April 1829 schreibt er an E . H . F . M e y e r in Königsberg: Die Krokus kamen

zu rechter Zeit... Jetzt stehen die Kaiserkronen, mit denen ich etwas chinesisch meinen Garten verziert habe, in völliger Pracht... Dies alles ereignet sich vor meinem Fenster, wo denn auch die Knospen der Zwergmandel sich zu röten anlangen... und die Knospen der Birnbäume sind im Begriff sich aufzuschlie9 Eine kolorierte Lithographie von Lobe „Göthe's Hausgarten zu Weimar". Reproduziert in: Gajek-Göres, Goethes Leben und Werk in Daten u. Bildern. Frankfurt/M. 1966. Abb. 503. Eine Lithographie „Göthe's Hausgarten. Gedr. b. F. Walther, Weimar". Reproduziert: WahlKippenberg, Goethe u. seine Welt. Leipzig 1932. S. 230. - Exemplare beider Blätter in Weimar (NFG) und in Düsseldorf (Goethe-Museum). Zu datieren wohl um 1825 und um 1830.

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

ßen.. . An seinen Sohn 9. August 1822: Die Aprikosen unter meinem Fenster sind zur Reife gediehen, die Knaben lassen sich solche schmecken... An J. J. Willemer am 18. November 1822: Die schöne Witterung, die uns bis jetzt begünstigt, hat die Blumenbeete vor meinem Fenster immerfort bunt erhalten. An Zelter am 12. Januar 1830: Die allgemeine Schneelast ruht auch aui uns. Ich komme kaum aus meiner Stube und sehe den Garten wie mit einem großen Teppich überdeckt, weder Beete noch Rabatten sichtbar, kaum die Wege zu unterscheiden. Die Streifen Buchsbaum erscheinen kaum als geringe Wülstchen . . . Und an Zelter am 12. Februar 1829: Gegenwärtiges diktiert' ich abends um 8 Uhr, durch die anfrierenden Fensterscheiben in meinen schneebedeckten mondbeschienenen Garten hinausblickend. Aus Briefäußerungen dieser Art wissen wir: Es gab Beete, Buchsbaumeinfassungen, Wege, gab an der Hauswand Aprikosen als Spalierobst und einen alten Weinstock, im Garten (nicht große) Birnbäume, einen Kirschbaum und einen Zwergmandelbaum, auf den Beeten Schneeglöckchen, Krokus (gelb, weiß, violett), Kaiserkronen (gelb und gelbrot), Tulpen und vielerlei Sommer- und Herbstblumen, die bis in den Spätherbst blühten.10 Nach der Ackerwand zu hatte der Garten eine Mauer, so hoch, daß man nicht herübersehen konnte, so daß Goethe sich unbeobachtet im Garten bewegen konnte. Die Mauer hatte eine kleine Pforte, zu welcher nur die Familienmitglieder den Schlüssel hatten. Durch diese Tür konnte Goethe unmittelbar zu dem Park: Einmal notiert das Tagebuch: Um 12 die Frau Großherzogin, später Herr Großherzog. Schönes Wetter. Sie gingen durch den Garten zur Hintertür hinaus. (7. Mai 1829.) Goethe sah von seinem Fenster aus aber nicht nur den Garten. Er sah drüben an der kleinen Straße, die „Ackerwand" heißt, den Koppenielsischen Giebel. Die Ackerwand war nur wenig bebaut. Goethes Haus gegenüber war freies Land; doch ein wenig nach rechts zu stand das Haus des Kammerrats v. Koppenfels. Es war von der Ackerwand ein Stück entfernt, hatte aber nach Osten, also nach Goethes Haus zu, einen Anbau, der mit der Giebelseite an die Straße reichte. 11 Auf dem Stadtplan von Blaufuß, 1822, noch besser auf dem Stadt-Modell von Bergfeld, 1827/28, ist dieser Giebel gut zu erkennen. Goethe nennt ihn mitunter Scheungiebel (12. Juli 1801; 2. März 1816), es war also wohl ein Anbau, der Wirtschaftszwecken diente und oben einen Heuboden hatte, wie es überall 10 Vielerlei über Goethes Beschäftigung mit seinem Garten ist zusammengestellt in: Georg Balzer, Goethe als Gartenfreund. München 1966. Taschenbuchausgabe: München 1976. 11 Häufiger als in Goethes Alter ist der Koppenielsische Giebel in dem Briefwechsel mit Christiane erwähnt. Goethe an Christiane aus Pyrmont 12. Juli 1801: Mit Freuden werde ich Koppenteisens Scheungiebel wiedersehn und Dich an mein Herz drücken. Aus Wiesbaden 1. August 1814: Führe mich Gott gestärkt dem Koppenielsischen Giebel entgegen! Aus Wiesbaden 11. Juli 1815: Die Menschen sind alle so erstaunend in Agitation, daß ich mich recht wieder zum Koppenielsischen Giebel sehne. Ähnlich am 3. und 6. Juni 1809. Diese Stellen zeigen, dafj für Goethe und Christiane dieser Blick eine symbolische Bedeutung hatte: es war der friedliche Ausblick aus den eigenen vier Wänden, ein in den Wirren der Welt und des Lebens mühsam errungenes Idyll. - Der Koppenteisische Giebel ist auf dem Stadtmodell von Bergfeld, das in Weimar im Goethe-National-Museum steht, gut erkennbar, ebenfalls auf der Reproduktion desselben in: Holtzhauer, Goethe-Museum. Berlin u. Weimar 1969. S. 211. - Eine Reproduktion des Stadtplans von Blaufuß (Ausschnitt: Frauenplan und Ackerwand) in dem Aufsatz von Wolfgang Huschke, Einige orts- und familiengeschichtliche Betrachtungen über Goethes Weimar. In: Festschrift für Friedrich v. Zahn. Bd. 1. Köln 1968. S. 558.

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

üblich war, wo man Pferde hielt. Jedenfalls guckte niemand von dort in Goethes Garten und in seine Fenster. Auf der anderen Seite des Arbeitszimmers liegt ein Raum, welchen Goethe selbst als Vorzimmer bezeichnete (z. B. Tagebuch 2. Juni 1825). Es ist eigentlich nur ein Gang, der mehrere Räume verbindet und zugleich als Schrankzimmer diente (Kleiderschrank, mehrere Sammlungsschränke). Zwei Fenster geben den Ausblick auf den Hof. Wenn Goethe in das Vorderhaus wollte, mußte er durch dieses Vorzimmer, von da zu der Wendeltreppe, und von dort kam er in das Urbino-Zimmer. Dorthin ging er, sobald er einen Gast empfing. Der Diener hatte diesen eingelassen und kam ins Hinterhaus, um ihn zu melden; denn Goethe hörte in seinem Arbeitszimmer nichts von dem, was im Vorderhaus geschah.

Wenn das vormittägliche Diktat beendet war, nahm er Besuche an. Maria Paulowna kam zeitweilig jede Woche einmal mit ihrer Hofdame zu ihm, um 12 Uhr. Meist zeigte er ihr etwas aus seiner Kunstsammlung, doch besprach man auch Weimarische Angelegenheiten. Diese Besuche wurden auch fortgesetzt, als Maria Paulowna Großherzogin war. Ihr Mann holte sie dann meist ab. Im Sommer war das Juno-Zimmer der geeignetste Raum für solchen Besuch, im Winter bevorzugte Goethe das Urbino-Zimmer, weil es sich leichter heizen ließ. Im allgemeinen wurden einzelne Gäste im Urbino-Zimmer empfangen; größere Gesellschaft kam im Juno-Zimmer zusammen. Hier stand der Flügel, den Streicher in Wien, Schillers Jugendfreund, gebaut hatte. Hier und im Urbino-Zimmer waren die Wände mit einigen erlesenen Kunstwerken geschmückt, die zugleich persönliche Erinnerungen waren. Die Kopie der „Aldobrandinischen Hochzeit" und das Porträt des Herzogs von Urbino erinnerten

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Die E m p f a n g s z i m m e r

an die Reise nach Italien, das Bildnis Zelters war eine Erinnerung an diesen jederzeit geistig gegenwärtigen Freund. Die Möbel waren einfach. Goethe verzichtete auch in diesen Räumen nicht auf Sammlungsschränke, denn er brauchte den Raum dafür. Und so standen auch hier schlichte Sammlungsschränke aus Fichtenholz, grau gestrichen, mit schmalen Schubladen für Gemmen und Medaillen. Wenn der Besuch gegangen war, war es meist Zeit zum Essen. Jahrelang lautet die Eintragung im Tagebuch meistens: Mittags zu vieren; das heißt: Goethe speiste zusammen mit August, Ottilie und deren Schwester Ulrike. Man benutzte dann meist das „Kleine Eßzimmer". Es ist das einzige Zimmer des Vorderhauses, das nach Süden zu liegt, mit zwei Fenstern zum Hof. Die Küche lag im Erdgeschoß, eine Treppe führte hinauf, und neben dem Eßzimmer hatte man noch eine zweite kleinere Küche zum Warmhalten und Anrichten des Essens. 12 Ab und zu kam es vor, daß Goethe eine große Tafelrunde bei sich hatte. Dann aß man im „Gelben Saal", doch das war selten (Boisseree 17. Mai 1826; Eckermann 20. Juni 1827; David d'Angers 1829). Seit dem Dornburger Aufenthalt im Spätsommer 1828, in der Zeit der größten Arbeit an der Ausgabe letzter Hand, notiert das Tagebuch dann häufig Mittag Dr. Eckermann oder Mittags lür mich. Wenn Goethe allein speiste, ließ er sich das Essen in sein Arbeitszimmer bringen, es ist die Zeit, in welcher er an Zelter schreibt, er sei wochenlang last nicht aus der Stube gekommen (2. Januar 1829). Es gibt aber auch zu anderen Zeiten Notizen wie: Speiste auf meinem Zimmer (28. Januar 1826) o d e r Mittag

speiste

Herr

Boisseree

mit mir auf dem Zimmer

(22. M a i

1826). 13 Nun gab es im Vorderhaus noch eine andere Gruppe von Zimmern: Deckenzimmer, Majolikazimmer und Großes Sammlungszimmer. Sie waren Museum, man könnte auch sagen: Museums-Magazin, denn sie waren reichlich vollgestopft. Goethe war einer der bedeutendsten Sammler seiner Zeit, er schuf sich im Laufe der Jahre ein eigenes kunsthistorisches Institut, ein mineralogisches Institut, eine große Sammlung zur Morphologie der Pflanzen und der Tiere, außerdem eine physikalische Sammlung. Sein Besitz entspricht an Menge und Wert dem eines heutigen mittleren Museums. Dieser Bestand füllt heute das Goethehaus, das neben diesem gelegene Museum (die Ausstellungsräume und das Magazin), das Goethe- und Schiller-Archiv und einige Räume des Schlosses, welche Goethes Kunstsammlung beherbergen. Vor 1832 war das alles in dem Hause am Frauenplan zusammen, und das war nur möglich, weil es eng gestapelt war. Da Goethe auf den verschiedensten Gebieten der Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Botanik, Zoologie, Geologie, Farbenlehre usw. tätig war - und nicht nacheinander, sondern nebeneinander - , benutzte er dauernd Materialien aus seinen verschiedenen Sammlungen. Als er im Sommer 1827 für etwa 4 Wochen wieder einmal in seinem Gartenhaus an der Ilm gewohnt hatte, schrieb er an Zelter: Dein Freund ist aus dem Garten wieder heraufgezogen,

indem

er allzusehr

abhängt

von

literarisch-artistischer

Um-

Tagebuch 30. April 1824: Reinigung der oberen Küche. Ausnahmsweise heißt es im Tagebuch a m 22. April 1825: Mittag zu vieren in meinem Zimmer. Da saßen also Ottilie, Ulrike und August mit ihm i m Arbeitszimmer; oder a m 3. November 1828: Mittags speisten die Kinder auf meinem Zimmer mit mir, auch Eckermann. 12

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

gebung, die ihm hier oben allezeit zur Hand ist, anstatt daß er sie unten nur teilweise heranfordern kann. Es war wirklich komisch zu sehen; wieviel und was alles in den vier Wochen des dortigen Aufenthalts hinabgeschleppt worden. (17. Juni 1827) Das „Große Sammlungszimmer" enthielt Gemälde, Gipsabgüsse, Kupferstiche und andere Sammlungsgegenstände, das Majolikazimmer die Majolikasammlung, einige Porträtbüsten und anderes. Am ehesten war noch das „Deckenzimmer" (benannt nach der Stuckdecke aus dem frühen 18. Jahrhundert) benutzbar. Zwar hingen an den Wänden 35 Zeichnungen und Stiche unter Glas, doch der Raum war sonst nicht überfüllt. Gelegentlich wurde er benutzt, z. B. als Schmeller dort Goethes Sohn porträtierte (Tagebuch 14. Februar 1825) und als Stieler Goethe malte (Tagebuch 25. Mai 1828). Dann wurden die Möbel, die dort standen, vorher herausgetragen. Im allgemeinen ließ Goethe niemanden in diese Zimmer hinein, und Soret erzählt (6. Juni 1828) sehr ergötzlich, welches Donnerwetter über den Kanzler v. Müller hereinbrach, als dieser aus Neugier ohne Genehmigung bis in das Majolikazimmer vorgedrungen war. Nur ein einziges Mal melden die Dokumente, daß Goethe seinen Gästen die ganze Zimmer-Flucht öffnete: das war am 3. September 1825, als man in Weimar das fünfzigjährige Regierungs-Jubiläum des Großherzogs feierte. 14 Da verteilten sich die vielen Gäste in die Räume vom Urbinozimmer bis zum Großen Sammlungszimmer und auch in das Büstenzimmer. Am Tage davor vermerkt das Tagebuch: Fortgesetzte Vorbereitungen zum Fest in und außer dem Hause, und am Tage danach: Ordnung in den vorderen Zimmern sowie im hinteren. Das bedeutet wohl, daß viele Gegenstände aus den Sammlungszimmern in das Hinterhaus getragen und dann wieder zurücktransportiert wurden. Doch dieses Ereignis war eine Ausnahme. Im allgemeinen waren in Goethes Altersjahren die drei Sammlungszimmer für alle Besucher unzugänglich. Goethe selbst ging nur dorthin, um Sammlungsstücke einzuordnen oder herauszuholen. Anders war es mit dem „Brückenzimmer", das ebenfalls zu den Zimmern gehört, welche Goethe als seine Kunsträume bezeichnete (an Rauch 11. März 1828). Es führt vom Gelben Saal zum Garten, deswegen ging man im Sommer oft hindurch. In diesem Zimmer hatte Goethe Plastiken stehn, die größte war der „Ilioneus"-Abguß in der Mitte des Raums. Noch größere hätten die Proportionen gesprengt. Hier standen auch viele Porträtplastiken; Albertine v. Boguslawski schreibt „in zwei Reihen über einander; von Herder stand eine marmorne noch apart, die überaus ähnlich sein soll" (23. Mai 1824; Gespr. III, 1 S. 690). Außer den Statuen und Reliefs war in diesem Zimmer ein großer Schrank. In ihm lagen Manuskripte, hauptsächlich Briefe an Goethe und das, was er Fremd-Literarisches nannte. Am 9. Mai 1824 notiert das Tagebuch: Kräuter transportierte das literarische Archiv in das gewölbte Zimmer. Wegen 14 Für die Weimarer Verhältnisse ist bezeichnend, daß bei dem Regierungsjubiläum am Abend nach der Festvorstellung im Theater die Angehörigen des Großherzogs, adelige Gäste und die Weimarer Prominenz nicht im Schloß zusammenkamen, sondern bei Goethe. Grüner schreibt: „Nach dem Theater war Soiree bei Goethe, auf welcher der Erbgroßherzog, mehrere Prinzen, aus souveränen Häusern, die Gesandten, der Adel und Gelehrte erschienen. Goethes Schwiegertochter begrüßte die Ankommenden mit dem edelsten Anstand. Alle Zimmer waren vollgefüllt, und man konnte sofort erkennen, in welchem Goethe sich befand, denn dahin strömte alles. Ich begab mich bald auf mein Zimmer, weil das Gedränge zu groß war.' (Gespr. 3,1 S. 810.) Ähnlich viele andere Berichte (Gespr. 3,1 S. 810-819).

Sammlungszimmer und Treppe

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dieser Manuskripte gibt es gelegentlich Notizen wie: Einiges im gewölbten Zimmer geordnet und vorbereitet. Das ist am 6. Mai 1825 geschrieben, zu dieser Jahreszeit konnte man dort arbeiten. Im Winter war der Raum sehr kalt. Er war unheizbar, und da er als „Brückenzimmer" über dem Hof lag, hatte er vier Aufjenwände (oben, unten, rechts, links). Wenn Goethe aus den Empfangszimmern oder den Sammlungszimmern in sein Arbeitszimmer zurückging, kam er wieder durch das „Vorzimmer". Der Weg von Tür zu Tür führt nahe an den zwei Fenstern vorbei; er sah also, ob der Kutscher den Wagen herausgeholt hatte und die Pferde anspannte. Seit 1799 hatte er zwei Pferde. Unten im Hinterhaus war ein Pferdestall und ein Wagenschauer (später hat man diese Räume umgebaut). Goethe legte Wert darauf, möglichst jeden Tag an die frische Luft zu kommen, sofern das Wetter nicht zu schlecht war. Im Alter ging er seltener in den Park. Er schätzte es desto mehr, sich in seinem Garten zu bewegen. Die Tagebücher verzeichnen es oft. Besonders gern fuhr er in seinem Wagen aus. Das Tagebuch verzeichnet die Fahrten an vielen Tagen. Um in den Wagen zu steigen, ging er von seinem Arbeitszimmer die geräumige Treppe hinab, die er 1792 hatte einbauen lassen15, und kam in den großen Hausflur; dieser hat zwei Türen, eine nach der Straße, die andere zum Hof; dort stand dann der Wagen bereit. 15 Die Treppe hat schon bei den Zeitgenossen eine gewisse Berühmtheit erlangt, weil sie für ein Bürgerhaus ungewöhnlich groß und geräumig ist, in sanfter Steigung emporführt und mit Abgüssen antiker Großplastik geschmückt ist. Goethe hat die Treppe, die vor 1792 in dem Hause war und die er also 10 Jahre lang gegangen war, herausreißen lassen. Wenige Reste davon lassen heute noch erkennen, wie steil sie war. Die neue Treppe erlaubte ein ganz anderes, ruhiges Gehen. Vielleicht haben diese Erfahrungen mitgewirkt, daß Goethe 1795 in seinem Aufsatz Baukunst schrieb: Man sollte denken, die Baukunst als schöne Kunst arbeite allein fürs Auge; allein sie soll vorzüglich, und woraut man am wenigsten acht hat, für den Sinn der mechanischen Bewegung des menschlichen Körpers arbeiten; wir fühlen eine angenehme Empfindung, wenn wir uns im Tanze nach gewissen Gesetzen bewegen; eine ähnliche Empfindung sollten wir bei jemand erregen können, den wir mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus hindurchtühren. Hier tritt die schwere und komplizierte Lehre von den Proportionen ein, wodurch der Charakter des Gebäudes und seiner verschiedenen Teile möglich wird. Die Treppe vermittelt ein angenehmes Empfinden des gelassenen Emporschreitens. Doch Goethe hat sie nicht nur deswegen so konstruiert. Wir müssen zunächst betrachten, welche Funktion diese Treppe hat. Sie führt erstens vom Hauseingang zu der Zimmerflucht oben. Das ist der Weg, den alle Besucher nahmen. Sie führt außerdem zu einer anderen Treppe, die zum Mansardengeschoß hinaufführt. Diese Mansardentreppe gingen Heinrich Meyer und Riemer, als sie dort oben wohnten, später August und Ottilie und deren Gäste. Die Treppe führt aber außerdem nach ihrem zweiten Drittel zu den Arbeitsräumen des Hinterhauses. Wenn im Juno-Zimmer oder im Urbino-Zimmer Gäste waren, konnten die Hausbewohner über die Treppe rasch vom Vorderhaus ins Hinterhaus, ohne durch diese Zimmer zu müssen. Die Treppe verband also viele Räume, sie hatte eine Funktion wie anderswo ein Korridor. Bei dem Umbau 1792 war es schwierig, die Treppe so einzupassen, daß sie alle diese Funktionen zugleich erfüllte. Sie sollte, um nicht zu steil zu sein und um die Verbindung zum Hinterhaus herzustellen, dreiteilig sein. Außerdem sollte sie oben in der Hausmitte ankommen. Deswegen konnte sie unten nicht in der Hausmitte beginnen, sondern an der Seite des Hauses. Da nun aber der Hauseingang in der Mitte ist, ergab sich ein Gang vom Flur bis zum Treppenbeginn. Mit diesem Gang oder Vorzimmer begannen für die Besucher die Seltsamkeiten des Hauses. Man war zunächst in den sehr geräumigen Hausflur getreten und hatte in dem daneben gelegenen Dienerzimmer die Garderobe abgegeben. Um nach oben zu kommen, erwartete man eine Treppe. Doch um zu dieser zu gelangen, mußte man erst durch einen großen Raum zu ebener Erde, der bis ans Ende des Hauses (an die Tordurchfahrt) führt und in dem man

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Es ist für das Leben in einem Hause von Bedeutung, was für Nachbarn man hat und wie viel man von ihnen merkt. Auf der Seite der Seifengasse wohnte Wand an Wand - bis 1817 - der Kammer-Calculator Treuter mit seiner Familie, ruhige, niemals störende Nachbarn. 1817 kaufte Goethe das Treutersche Haus. Den Garten vereinigte er mit seinem Garten. Die vorderen Räume zur Seifengasse vermietete er.16 Auf der anderen Seite schloß sich eine Gruppe sehr kleiner Häuser an. Neben dem Urbino-Zimmer lag die Wohnung des Leinewebermeisters Herter. Man hörte den Webstuhl, wenn man im Urbino-Zimmer war. Doch das Hinterhaus, in dem Goethe sich aufhielt, hatte keine Berührung mit diesem Nachbarhaus. Hier war Goethe ungestört. Und das war ihm wichtig, denn seine Geräuschempfindlichkeit war groß. Das Vorderhaus hat über dem 1. Stock eine Mansardenwohnung. Sie hat 9 Räume, aber wie der 1. Stock hat sie keinen Flur. Das Leben in einer solchen Wohnung bringt mit sich, daß einer oft bei dem anderen hindurch muß und ihn stört. Für zwei Eheleute, die einander auf die Nerven fallen, war das recht ungünstig. Glücklicherweise gab es an beiden Seiten der Zimmerflucht Treppen. Als um 1800 Heinrich Meyer dort wohnte und dann später Riemer dort einzog, war es eine vortreffliche Wohnung: in sich geschlossen und doch zugleich der unteren Wohnung nahe. Später hat Goethe sich gefreut, daß er auf diese Weise die Enkel in der Nähe hatte. Viele Gäste gingen dort oben aus und ein; dort hat Ottilie ihre Zeitschrift „Chaos" redigiert. Goethe ist selten dort oben gewesen. Eine Notiz wie Abends oben bei den Kindern (16. Oktober 1823) kommt selten vor. Fast immer kamen Ottilie, Ulrike, August und die Enkel zu ihm, allein oder auch mit Gästen zusammen. Die Enkelkinder bildeten ein verbindendes Element. Sie wohnten in der Mansardenwohnung, spielten im ganzen Haus und im Garten und hatten in Goethes Arbeitszimmer ihren eigenen kleinen Tisch zum Spielen, Zeichnen und Bilder-Besehn, der noch heute dort (am rechten Fenster) steht. Das Mittagessen wurde für alle im Hause gemeinsam bereitet, in der großen nichts sah als Abgüsse antiker Statuen. Dieser Gang im Erdgeschoß und der erste Teil der Treppe haben vom Frauenplan her Licht. Der 2. und 3. Teil der Treppe haben vom Hof her Licht. Die Breite der Treppe war also durch die Tiefe des Hauses vorbestimmt: sie mußte genau ein Viertel davon sein. Und die Führung der Treppe war dadurch gegeben, daß die Zimmerflucht oben erhalten bleiben sollte. Unter dem Juno-Zimmer und Urbino-Zimmer durfte sie nur bis zum ersten Drittel ansteigen. Die Treppe ist formal von großer Einfachheit und wirkt daher zeitlos. Es gibt bei Goethe einige Beispiele solcher Formen. Auch der „Stein des Glücks" im Garten am Stern hat weder den Stil des 18. Jahrhunderts noch den des Klassizismus; er zeigt Würfel und Kugel in reiner strenger Form, nur in den Proportionen aufeinander abgestimmt, vorausweisend auf konstruktive Formen des Bauhauses im 20. Jahrhundert. Auch die Treppe ist einfachste schöne Form. - Jericke-Dolgner, 1975, insbes. S. 180 bis 184. 16 Über die wenigen Räume zum Garten hin sind wir nicht unterrichtet. Jedenfalls wollte Goethe dort nicht fremde Menschen, die ihm in seinen Garten guckten und von denen aus Neugierige ihn beobachten'konnten. Vielleicht hat er dort seine morphologische Sammlung untergebracht, Tierskelette, Mammutzähne usw. Vielleicht hat er weibliche Hausangestellte dort wohnen lassen. Wir wissen nicht, wo diese ihre Zimmer hatten. Vermutlich in den Mansardenräumen über den Christiane-Zimmern. Die männlichen Angestellten wohnten wohl in den zwei Mansardenzimmern, die über dem Schreibzimmer, Schlafzimmer und Arbeitszimmer liegen. Man kann noch -heute dort die Ofen-Anschlüsse erkennen. Goethe hatte einen Diener, einen Kutscher und zeitweilig einen Koch, meist freilich eine Köchin. (Auch das geht aus den Tagebüchern, Briefen und Akten hervor.)

Der Diener und sein Raum

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Küche im Erdgeschoß. Man hatte einen gemeinsamen Haushalt. Zunächst leitete - nach Christianes Tode - Goethe ihn, dann August. Als dieser 1830 starb, mußte Goethe wieder alles übernehmen, weil Ottiliens Fähigkeiten ganz anderer Art waren. Da bemerkte Goethe, daß August, der sein Gehalt für sich und Ottilie verbraucht hatte, für den Haushalt erhebliche Schulden auf den Namen des Vaters gemacht hatte. Goethe wollte diese nun sofort bezahlen, und so kam es zu dem Brief an Heinrich Meyer vom 8. Februar 1831, in welchem er ihn bittet, ihm auf kurze Zeit eine Summe von etwa dreihundert Talern zu leihen. Sehr bald kam dann das Wirtschaftliche wieder in Ordnung. In dem geräumigen Hause wohnten zeitweilig: Goethe, August, Ottilie, deren Schwester Ulrike, die Enkelkinder, ein Diener, ein Kutscher, eine Köchin (zeitweilig ein Koch), ein Stubenmädchen, ein Kindermädchen und eine „Jungfer". 17 Sie mußten alle beköstigt werden. Goethe besprach mit dem Diener und der Köchin die Einkäufe und händigte dem Diener Geld aus. Das Weitere hatten diese dann zu erledigen. Der Diener - bis 1824 Stadelmann, von da an Krause - bekam beträchtliche Geldsummen, die er zu verwalten hatte und über die er Goethe dann Abrechnungen vorlegte. 18 Er besorgte die Verbindung zur Umwelt. Er ging zu den Kaufleuten und kaufte ein oder bestellte Lieferungen. Er ging zu allen Handwerkern, die im Hause etwas zu reparieren hatten - und es war viel zu reparieren - , d. h. zum Schlosser, Dachdecker, Böttcher, Tischler usw. Vor allem vereinbarte er Goethes Verkehr mit allen Besuchern. An Besucher, die schriftlich angefragt hatten, brachte er Billets in den „Elephant" oder den „Weißen Schwan". Zur Besuchszeit war er in seinem Zimmer bereit. Dieses Zimmer lag nahe der Haustür, links neben dem Flur. 19 Es war ziemlich groß. (Es entsprach zwei darüber gelegenen Räumen, dem Deckenzimmer und dem Majolikazimmer.) Riemer berichtet, daß im Oktober 1806 nach der Schlacht bei Jena sechzehn napoleonische Soldaten als Einquartierung in diesem Raum schliefen. (Mitteilungen, hrsg. von Pollmer, 1921, S. 169.) Franz Kugler schreibt an Droysen: „Auf dem Flur linker Hand ist das Zimmer eines feinen Bedienten, dem Du Dein Anliegen vorbringst.. ." (5. Mai 1827; Gespr. 111,2 S. 111.) Auch Eckermann erwähnt diesen Raum: „Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann sehr bestürzt. . (15./16. November 1823). Wir hören von diesem Raum besonders bei Goethes schweren Krankheiten. Täglich kamen viele Besucher, um sich zu erkundigen. In den oberen Räumen hätten sie zu viel Unruhe verursacht; deswegen erhielten sie im „Bedienten-Zimmer" Nachricht über das Befinden. Allwina Frommann schreibt am 28. Februar 1823 an ihren Bruder Fritz: „Unten im Bedientenzimmer ist alles voll Menschen, die auf den Arzt warten . .." (Gespr. 111,1 S. 461) Ebenso war es bei der Erkrankung im November 1830. Der Sekretär Kräuter schreibt am 5. Dezember 1830 an Ch. Wenig: „Mittwoch (1. Dezember) lag das letzte Bulletin in der Domestiken-Stube." Es war also aus vielen Ursachen sinnvoll, daß der Diener sein Zimmer neben der Haustür hatte. Er mußte z. B. 17

Walter Schleif, Goethes Diener. Berlin u. Weimar 1965. S. 21. Die Wichtigkeit des Dieners zeigt eine Tagebuchnotiz vom 5. Oktober 1831: Friedrich meldete sich krank und war daher manches Hindernis im Hauswesen. - Walter Schleif, Goethes Diener. Berlin u. Weimar 1965. 19 Später, als das Haus Museum wurde, hat man diesen Raum stark umgebaut. 18

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Briefe in der Stadt abgeben. 20 Oft hatte Goethe bei seinen Arbeiten eine Frage betreffs wissenschaftlicher Dinge, dann sandte er den Diener mit einem Zettel herüber zu Riemer, der tags in der Bibliothek, danach in seiner Wohnung am Wielandplatz zu erreichen war. Wenn Riemer die Antwort sofort schrieb, konnte der Diener in 10 bis 15 Minuten zurück sein. Auch Kanzler v. Müller wohnte nah, in der Windischenstraße, und Eckermann, der mehrmals umzog, war ebenfalls immer nur wenige Minuten entfernt. Zur Besuchszeit war der Diener in seinem Zimmer. Kam ein Besucher, so ließ er diesen ein und ging dann ins Hinterhaus zu Goethe, um ihn zu melden. Manche von den vielen Räumen des großen Hauses finden wir in den Tagebüchern und Briefen und in den Berichten der Besucher nie oder fast nie erwähnt. Wir wissen darum nicht genau, wie die Zimmer, welche man heute „Christiane-Zimmer" nennt, nach Christianes Tode benutzt wurden. Zeitweilig haben sie als Fremdenzimmer gedient, denn Goethes Großneffe Nicolovius schreibt im Dezember 1825, nachdem er drei Monate lang bei Goethe zu Besuch gewesen war: „Ich erhielt zwei Stuben im Goetheschen Hause und wohnte beim Großonkel, der es durchaus nicht haben wollte, daß ich in die obere Etage zu seinem Sohn ziehen sollte." Da die Museumsräume nicht in Betracht kommen und da man aus Nicolovius' Worten annehmen muß, daß es zwei nebeneinander liegende Räume waren, kommen nur zwei der sogenannten „Christiane-Zimmer" in Betracht. Eine Zeitlang wohnten dort die Enkel mit ihrem Hofmeister (Tagebuch 25. August 1829), dem Kandidaten der Theologie Wilhelm Rothe. 21 Zwischen Christianes Tod und Goethes Tod liegen 16 Jahre. Wahrscheinlich hat sich in dieser Zeit in der Einrichtung des Hauses einiges geändert. Eine Hauptfrage war, wie die umfangreichen Sammlungen unterzubringen waren, ohne die Bewohner allzusehr einzuengen. Goethe traf einige grundlegende Entscheidungen. Alle Bücher kamen in den Bibliotheksraum, nur ein paar Nachschlagewerke standen im Arbeitszimmer. Alle anderen Räume waren frei von Büchern. Die zahlreichen Skulpturen wurden nach Größe und nach Bedeutung verteilt. Lebensgroße Figuren wie den „Betenden Knaben", den „Bocktragenden Faun" und die Ildefonso-Gruppe konnte man nicht in die Zimmer stellen, sie hätten zu den Proportionen aller anderen Dinge nicht gepaßt. Deswegen stellte Goethe sie in das geräumige Treppenhaus, wo er anderseits alles wegließ, was kleines Format hatte. Es sind Figuren, die man vor eine Wand stellen kann. Anders ist es bei dem „Ilioneus"; deswegen stellte Goethe ihn in die Mitte des Büstenzimmers; man muß ihn von allen Seiten betrachten. 20 Es gab damals innerhalb der Stadt keine Briefbeförderung durch die Post. Diese erledigte der Diener. Die vielen Handwerker-Rechnungen wurden nicht bargeldlos bezahlt, sondern bar durch den Diener, der dann Goethe die Quittungen brachte. Er holte außerdem Pakete von der Post und brachte Pakete dorthin. Die Herstellung von 40 Bänden der Ausgabe letzter Hand in 4 Jahren erforderte sehr viele Manuskript-Sendungen (für jeden Band mehrere Sendungen). Waren die Bände fertig, so kamen Frei-Exemplare. Jedes halbe Jahr erschienen 5 Bände; wenn nur je 10 Exemplare von jedem Band kamen, waren das 50 Bücher, die dann neu sortiert und an Freunde verschickt wurden. Goethe erhielt außerdem oft Kisten mit Steinen für seine mineralogische Sammlung und sandte wiederum Dubletten weg. Das alles hatte der Diener zu besorgen, gelegentlich wohl unterstützt durch den Sekretär. Er brauchte zum Verpacken sein großes Zimmer, und auch für diese Tätigkeit war es gut, daß dieser Raum nahe der Haustür lag. 21 Wolfgang v. Oettingen im Jb. Goe.-Ges. 2, 1915, S. 209.

Die Unterbringung der Sammlungen

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An die Wände stellte er hier Porträtbüsten, wobei es ihn nicht störte, ein Original aus Marmor - Trippeis Herder-Porträt - neben einen Gipsabguß - Danneckers Schiller-Büste - zu stellen. 22 An die Wände kamen Gipsabgüsse antiker Reliefs. Doch auch das Büstenzimmer beherbergte Sammlungsschränke. Einige Gipsabgüsse antiker Werke kamen in den Gelben Saal und in das Juno-Zimmer. Die Klauerschen Porträt-Büsten wurden nicht so repräsentativ aufgestellt, weil man ihren Kunstwert zu ihrer Zeit gering einschätzte. Goethe hatte sie in den Sammlungszimmern auf Schränken oder auf Konsolen stehen. Im Lauf der Jahre sammelten sich etwa 50 Ölgemälde an, die gehängt werden mußten. Außerdem wollte Goethe aber viele Zeichnungen unter Glas im Rahmen an den Wänden sehn. Er kam aus der Tradition des 18. Jahrhunderts. Damals hängten die Sammler an ihren Wänden Bild an Bild (das wissen wir aus zahlreichen Abbildungen). In Goethes Elternhaus wird es nicht viel anders gewesen sein. Auch Goethe hängte die Bilder dicht; im Deckenzimmer waren es 35. (Das wissen wir aus dem Protokoll, das nach Goethes Tode von dem Zustand der wichtigsten Räume und Sammlungen angefertigt wurde.) Historisch gesehen beginnen die Gemälde mit dem Sieneser „Schmerzensmann" aus dem 14. Jahrhundert 23 und reichen bis zu neuesten Bildern von Carus; auch die Zeichnungen dokumentieren die Entwicklung vom späten Mittelalter bis in Goethes Gegenwart. Goethe hängte bei den Gemälden Kopien zwischen Originale; das störte ihn nicht. Inhaltlich war das, was man an den Wänden sah, vielfältig und abwechslungsreich: Landschaften von der Ideallandschaft bis zur Vedute, Porträts, Historienbilder, Mythologisches, Szenen aus dem Landleben usw. In den Gesellschaftsräumen sorgte Goethe dafür, daß diese nicht mit Bildern überfüllt waren und daß jeder Raum ein Hauptbild hatte: das Juno-Zimmer die Aldobrandinische Hochzeit (Meyers Kopie), das Urbino-Zimmer das Porträt des Herzogs, das dem Zimmer den Namen gab, der Gelbe Saal die Teilkopie nach Tizians Gemälde „Himmlische und irdische Liebe". 24 Der Geschmack Goethes bewies sich darin, wie er große und kleine Bilder, Gipsabgüsse antiker Werke und Bronzefiguren wie die kleine Nachbildung von Michelangelos „Moses" kombinierte. Zu den künstlerischen Gesichtspunkten kamen persönliche, deswegen erhielt Zelters Porträt, von Begas gemalt, sogleich einen Ehrenplatz. Auf die kleineren Räume verteilt waren Bildnisse von Carl August, Herzogin Luise, Wieland, Friedrich August Wolf und anderen. Einer der Gesichtspunkte war auch der, daß die wichtigsten oder geliebtesten Gebiete der Kunst gebührend vertreten waren. Antikes gab es genug durch die vielen Abgüsse und die „Aldobrandinische Hochzeit"; aber nun Raffael! Im Gelben Saal war die ganze Serie der 10 Stiche von Dorigny nach Raffaels Amor- und PsycheFresken aus der Villa Farnesina in Rom. Goethe hatte sie schon vor 1786 in seinem Gartenhaus an der Ilm; es sind gut kolorierte alte Exemplare. Doch es 2 2 J. N. v. Ringeis schreibt in seinen Erinnerungen über einen Besuch bei Goethe: „Im Vorzimmer fand ich Danneckers kürzlich eingetroffene kollossale Schillerbüste." (Gespr. 2, S. 1005.) 2 3 Franz Schmidt, Goethes Verhältnis zur frühitalienischen Malerei. (Jb.) Goethe 21, 1959, S. 1 5 2 - 1 6 2 mit Abbildungen. 2 4 Willy Handrick, Die „Aldobrandinische Hochzeit". Kopie eines antiken Gemäldes in Goethes Kunstsammlung. (Jb.) Goethe 25, 1963, S. 142-166. - Marie Schuette, Das Bildnis des Herzogs von Urbino im Goethehaus. (Jb.) Goethe 5, 1940, S. 2 5 1 - 2 6 5 .

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Trunz, Goethe-Studien

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hingen noch andere Bilder von Raffael an den Wänden: zwei große Stiche von Dorigny nach den Raffaelschen Kartons zu den Wandteppichen im Vatikan, „Die Heilung des Lahmen" und „Das Opfer von Lystra", ferner eine AquarellKopie von Heinrich Meyer nach dem Wandbild in den Loggien des Vatikans „Loths Flucht" und eine Kopie in Ölfarbe von Raffaels Figur der Poesie an der Decke der Stanza della Segnatura im Vatikan. 25 Um Bilder zu hängen und Gipsabgüsse zu stellen, muß der Hintergrund geeignet sein. Goethe ließ die Wände nicht tapezieren, sondern streichen, jedes Zimmer einfarbig, und jedes in anderer Farbe. Er liebte diejenigen Farbtöne, die er in Pompeji gesehen hatte und die sich in Leimfarben mit den zu seiner Zeit gebräuchlichen Farbstoffen gut nachahmen ließen. Da man später beschloß, das Haus möglichst so zu erhalten, wie es war, hat man bei Erneuerungsarbeiten an die Tradition angeknüpft, und man darf annehmen, daß der gegenwärtige Zustand ungefähr dem einstigen entspricht. Die Malermeister der Zeit von 1832 haben glücklicherweise oft auf ihren Rechnungen geschrieben, in welcher Farbe sie einen Raum gestrichen haben, und da Goethe die Rechnungen aufgehoben hat, kann man sich aus ihnen vergewissern, was grün oder blau war. Der „Gelbe Saal" als Empfangszimmer und festliches Eßzimmer hat seinen Namen von dem belebenden heiteren Gelb. Das Juno-Zimmer war blau, mit breiter Borte; das Urbino-Zimmer ebenfalls blau, mit schmaler Borte (vermutlich war es ein etwas anderes Blau als im Juno-Zimmer). Die Museums-Zimmer hatten andere Farben: das Deckenzimmer Altrosa, das „pompejanische" Rot, das dem Rot etwas Hellgrau beimischt; das Majolikazimmer Grau; das große Sammlungszimmer Grün, und zwar ein kräftigeres Grün als in dem Kleinen Eßzimmer. Das Brükkenzimmer hatte seit seiner Einrichtung im Jahre 1792 ein dunkles kräftiges Blau als Hintergrund für die hellen Plastiken,- die Gipsabgüsse sind hier alle weiß. Anders war es im Treppenhaus. Es zeigt ein neutrales Hellgrün, das einen guten Hintergrund für die dortigen Gipsabgüsse bot; diese lebensgroßen Figuren waren bronziert. Weil weißer Gips leicht etwas kalkig wirkt und seine Plastik erst bei scharfer Beleuchtung zur Geltung kommt, versuchte Goethe es im Treppenhaus mit getöntem Gips. Kugler erwähnt „die bronzierten und bestaubten Gipsabgüsse von Antiken, die unten in einigen Nischen stehen" (5. Mai 1827; Gespr. 111,2 S. 112), David d'Angers sagt von der Hunde-Plastik: „un chien en bronze" (1829; Gespr. 111,2 S. 497) und J. S. Harrison: „Passed two bronzes from antiques, besides a bronze greyhound" (25. März 1830; Gespr. 111,2 S. 597). 26 Das Zusammenpassen von Bildern, Gipsabgüssen und Wandanstrich war für einen so farbempfindlichen Künstler wie Goethe nicht leicht zu erreichen. Die 10 kolorierten Stiche nach Raffaels „Amor und Psyche" haben als 25

Schuchardt, Goethes Kunstsammlungen, Bd. 1, S. 337 Nr. 83, 84, 85-94; S. 331 Nr. 30; S. 326 Nr. 4 - Dazu Heinrich Meyers Aufsatz über Raffael, den Goethe 1798-1799 in den Propyläen zum Druck brachte; wiederabgedruckt in: Meyer, Kleine Schriften. 1886. S. 167 bis 243. - Der bildungsgeschichtliche Zusammenhang nach wie vor unübertrefflich dargestellt in Herman Grimms großem Aufsatz „Raffaels Ruhm in vier Jahrhunderten", welcher in der 2. Auflage seines „Leben Raffaels", Berlin 1886, S. 1 - 9 0 steht. 26 Noch Marie Schuette, Das Goethe-Nationalmuseum zu Weimar. Leipzig 1910, spricht S. 17 von den „bronzierten Gipsabgüssen" im Treppenhaus. Dagegen schreibt Alfred Jericke, Das Goethehaus am Frauenplan. 1958. NFG. S. 49 f. dreimal „Gipsabguß mit Graphitüberzug". Einen solchen haben die Abgüsse heute, grauschwarz.

Die Unterbringung der Sammlungen

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Hintergrund der Figuren alle ein kräftiges Blau. Vielleicht war dies eine der Ursachen, den Raum 1812 nicht mehr grün sondern gelb streichen zu lassen. Goethe hat sich seine Empfindungen, die er durch Farben erhielt, bewußt gemacht und schriftlich dargestellt, es sind die Kapitel Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe (§ 758-920), vielleicht die bedeutendsten, jedenfalls die künstlerisch sensibelsten und persönlichsten seiner Farbenlehre. Die Farben in seinen Zimmern hatten einen Zusammenhang mit deren Funktion, doch man darf diesen Gesichtspunkt wiederum auch nicht übertreiben: der „Gelbe Saal" war bis 1812 grün gestrichen und diente auch damals schon als Empfangsraum und festliches Eßzimmer. Andere Probleme als die Kunstwerke ergaben die naturwissenschaftlichen Sammlungen. Die 17 800 Steine brauchten Platz. Sie hatten den Vorteil, unempfindlich gegen Kälte zu sein. Besonders interessante und schöne Exemplare bewahrte Goethe in den Sammlungsschränken seines Vorzimmers vor dem Arbeitszimmer. Glücklicherweise war im Garten, an der Mauer zur Ackerwand ein massiv gebautes Gartenhaus, das er ebenfalls dafür benutzen konnte. Es ist ein merkwürdiges Gebilde, es sieht fast aus wie ein Turm, denn es ist auf einer kleinen Grundfläche (5,80 X 4,00 m) erbaut, hat aber über dem Erdgeschoß ein erstes Stockwerk und darüber noch ein Mansardengeschoß, im ganzen drei übereinander gelegene Zimmer. Dort hatte Goethe einen Teil seiner Mineralien und eine Sammlung von Versteinerungen. Nun hören wir aber noch von einem zweiten Garten-Pavillon. Goethe schreibt in seinem Tagebuch von dem Gartenhaus am Frauentor (9. April 1831) oder Gartenhaus nach der Straße zu (21. April 1821). Gemeint ist damit der Pavillon, welcher an die beiden sogenannten Vulpius-Häuser anschließt. Er war ursprünglich ein Gebäude für sich. Er hat nur nach Goethes Garten hin eine Tür, nicht nach der Straße zu wie die beiden Vulpius-Häuser. Auch dieses Gebäude war mit der Mineraliensammlung gefüllt: Das Tagebuch notiert am 15. Oktober 1831: In den Gartenhäusern mineralogische Gegenstände besehenP) Zu den naturwissenschaftlichen Sammlungen gehörten auch zahlreiche Tierskelette und physikalische Apparate. Heute stehen sie in dem Museum neben dem Goethehaus (teils in den Ausstellungsräumen, teils im Magazin). Wo sie zu Goethes Zeit gestanden haben, wissen wir nicht. 28 Goethes Äußerungen im Alter, er müsse, um mit seiner mineralogischen Sammlung zu arbeiten, die warme Jahreszeit abwarten, zeigt, daß die Steine 27 Das Tagebuch notiert am 2. September 1817: Reinigung des vormaligen Treuterischen Gartenhauses. Und am 9. April 1831: Die Gebirgslolgen in dem Gartenhaus am Frauentor durchgesehen. Am 15. Oktober 1831: Mittags die Hofreite Vogel und Göttling... In den Gartenhäusern mineralogische Gegenstände besehen. Das Gartenhaus an der Ackerwand ist das ursprünglich Treutersche Gartenhaus, das 1817 in Goethes Besitz kam. Von Anbeginn besaß er das Gartenhaus am Frauentor, weil sein Garten sich bis ans Frauentor erstreckte. Die alten Grundstücks-Pläne (reproduziert bei Huschke) zeigen deutlich: Die 2 Vulpius-Häuser waren eigene Grundstücke (Frauenplan 38 und 39), das in Richtung Wielandplatz anschließende Gartenhaus gehörte zu Goethes Grundstück (Frauenplan 37). Dasselbe zeigt die Planskizze, welche Zelter 1814 anfertigte. Er hat vom Garten aus dieses Gartenhaus eingezeichnet. (Reproduziert: Jahrb. d. Sammlung Kippenberg, N. F. 1, 1963, Taf. XI.) Dadurch, daß später dieses Gartenhaus mittels Mauerdurchbruch mit dem angrenzenden Vulpiushaus verbunden wurde, wirkt der Gebäudekomplex heute anders als zu Goethes Zeit. - Über die Nachbarhäuser und die Besitz-Verhältnisse: Wolfgang Huschke in: Festschr. f. Friedrich v. Zahn. Bd. 1, Köln 1968, S. 539-597. 28 Vielleicht stand einiges davon in einem der drei Christiane-Zimmer.

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fast alle in unheizbaren Räumen untergebracht waren. Auch ließen sich Mineralien nicht so leicht in sein Arbeitszimmer holen wie Kupferstiche. Für seine kunstgeschichtlichen Studien ließ Goethe sich durch Stadelmann oder Krause die eine oder andere Mappe mit graphischen Blättern in sein Arbeitszimmer bringen. Hier brachte er den Tag mit seinen Arbeiten zu. Wenn ausnahmsweise einmal das Arbeitszimmer gründlich gesäubert wurde oder dort der Ofen gereinigt wurde und er für ein paar Stunden anderswo sitzen mußte, wird das im Tagebuch ausdrücklich als etwas Unnormales vermerkt (12. Januar 1825; 15. November 1828). Eine ganz andere Sicht des Hauses als Goethe hatten die Gäste, die ihn besuchten. Das Hinterhaus, in dem er lebte, bekamen sie überhaupt nicht zu sehen. Den Blick auf den Garten kannten sie nicht. Sie kamen von der Straße, vom Frauenplan, und sahen das Haus zunächst von außen. Kugler fand, es sehe aus wie ein altmodisches Verwaltungsgebäude. Dann traten sie ein, sahen Hausflur, Dienerzimmer, Treppe, Gelben Saal. Die zahlreichen Beschreibungen wiederholen sich in vielem, enthalten aber auch Erinnerungsfehler, da die Räume bei einmaligem Sehen vielen nicht richtig in Erinnerung blieben. Augenmenschen wie der Kunsthistoriker Kugler und der Bildhauer David d'Angers wußten rascher und besser als andere das Gesehene einzuschätzen, hatten ein besseres optisches Gedächtnis und konnten also ihre Eindrücke besonders gut wiedergeben. Franz Kugler, der spätere berühmte Kunsthistoriker, der als 19jähriger Student am 24. April 1827 Goethe aufsuchte, schreibt in burschikoser Art an seinen Freund Droysen: „Sein Haus sieht von außen ziemlich rumplig aus, wie der Sitz irgend eines Collegiums. Auf dem Flur linker Hand ist das Zimmer eines feinen Bedienten, dem du dein Anliegen vorbringst; er nimmt dir den Brief ab, erkennt an der Leier auf dem Siegel, daß er vom alten Zelter geschrieben ist, und eilt die Treppe hinauf. Derweil Goethe den Brief liest, hast du Zeit, dir die bronzierten und bestaubten Gipsabgüsse von Antiken, die unten in einigen Nischen stehen, zu betrachten. Der Bediente erscheint wieder und verneigt sich winkend. Du folgst ihm hinauf durch ein Entree, in welchem mancherlei Sachen stehn und hängen, die du aber aus Mangel an Zeit nicht in Augenschein nehmen kannst. Er öffnet die Tür eines schönen großen Zimmers; auf der Schwelle empfängt dich statt Fausts Pentagramma ein großes, schon etwas abgetretenes „Salve". Du wirst gebeten, einige Augenblicke zu verzeihen, und beschaust dir das Zimmer. Gipsabgüsse des kollossalen Jupiter und Junokopfes und anderer Antiken, an den Wänden eine Menge Zeichnungen von Antiken, Landschaften und Porträts, darunter Zelter, meisterhaft gezeichnet, aber, ich glaube, nicht so charakteristisch aufgefaßt wie in meinen paar Strichen. In einem Schrank liegen Mappen, Kupferstich- oder Handzeichnung-Sammlungen. Der Meister erscheint..." (Gespr. 111,2 S. 111 f.) Als Freiherr Low v. Steinfurt am 3. Oktober 1819 bei Goethe gewesen war, schrieb er: „Man führte mich durch ein Zimmer in ein zweites. Überall Kunstwerke verschiedener Art, Gemälde, Kupferstiche, Büsten, Statuen, auf Repositorien große Mappen, Zeichnungen enthaltend. Das Ameublement stand hiermit in Widerspruch; es war geschmacklos, alt, fast ärmlich zu nennen." (Gespr. 111,2 S. 530) Albertine v. Boguslawski beschreibt in einem Brief an ihren Bruder am 18. Mai 1824 das repräsentativste Zimmer des Hauses folgendermaßen: „Wir setzten uns auf ein Sofa in diesem Zimmer mit drei Fenstern, das ganz einfach aber

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bequem eingerichtet war, und wo sich außer wenigen anderen an der Seite des ersten Fensters der Kopf der großen Juno befand, die Du wohl kennst." (Gespr. 111,1 S. 688) Goethes Möbel wirkten also auf Besucher dieser Art „ganz einfach", „fast ärmlich"; es kam ihm auf anderes an. Die wenigsten verstanden es, die Dinge, welche sie hier sahen, als Äußerung eines persönlichen Stils, als Jahresringe langen Wachstums zu verstehen. Andererseits war ihnen, da sie Zeitgenossen Goethes waren, vieles leicht verständlich, was der heutige Betrachter aus dem Abstand von 150 Jahren sich erst historisch klar machen muß. Sie wunderten sich nicht über die Gipsabgüsse, denn diese waren zeitüblich, sofern man Platz dafür hatte. Sie kannten es, daß man Kopien oder Kupferstiche nach Renaissance-Gemälden an die Wände hängte, und wußten, daß Raffael dabei der Vorrang gebühre. Auf ganz andere Weise als Goethes Besucher sieht der heutige Besucher das Haus. Damals durfte nicht einmal der König von Bayern Goethes Arbeitszimmer sehn, heute darf es jeder Schuljunge. Damals standen die Empfangszimmer, in welche die Besucher kamen, im Zusammenhang eines Haushalts mit Küche, Waschküche, Pferdestall usw., heute im Zusammenhang eines Museums. Die Nebenräume sind inzwischen längst umgebaut. Auch die Zimmer im 1. Stock sehen anders aus als zu Goethes Zeit. Die Sammlungszimmer sind nicht so voll wie damals - das wäre bei der Masse der Besucher ein unhaltbarer Zustand. Damit der Strom der Besucher seinen Rundgang macht und die Museumswärter alles unter Augen haben, sind alle Türen geöffnet; zu Goethes Zeit waren sie geschlossen. Man hat also heute Durchblicke, die es damals nicht gab. Die Sammlungsräume sind nicht mehr im Winter eiskalt, sondern sind zentralgeheizt wie alle anderen Zimmer. Als man im 19. Jahrhundert Goethes Enkel bat, das Goethehaus zur Besichtigung freizugeben, sagten diese, die Balken seien nicht mehr sicher genug. Und sie hatten recht. Als nach dem Tode des letzten Goetheschen Enkels, 1885, das Haus zum Museum werden sollte, wurde die Balken von 1709 ersetzt durch moderne Eisenträger. Auch später hat es noch Änderungen gegeben. Nach dem Beginn des Krieges 1939 wurde das gesamte Inventar in Orte gebracht, wo es vor Bomben sicher war, soweit man Sicherheit schaffen konnte. Im Frühjahr 1945 schlug eine Bombe in das Haus ein, sie war glücklicherweise nicht groß. Als ich im Spätherbst 1945 durch Weimar kam, suchte ich Professor Hans Wahl im Goethe- und SchillerArchiv auf. Er ging mit mir zu dem Haus am Frauenplan und schloß die Tür auf. In den leeren Räumen lag der Steinstaub, den es damals überall gab, wo in der Nähe Bomben gefallen waren. Wir gingen in den Gelben Saal und dann ins Juno-Zimmer so weit, wie man ohne Gefahr gehen konnte. Vor uns war ein großes Loch. Die Bombe war in das Urbino-Zimmer eingeschlagen. Die Reste der Wand zeigten noch die alte blaue Farbe. Obgleich das Haus seit 1832 manche Wandlungen durchgemacht hat, ist jedenfalls im 1. Stock - das meiste so, wie es zu Goethes Zeit war. Woher wissen wir das? Im Arbeitszimmer, Schlafzimmer und der Bibliothek ließ man nach Goethes Tode alles, wie man es vorfand. Von dem Zustand dieser Räume und auch der Räume des Vorderhauses stellten Riemer, Kräuter und Eckermann ein Verzeichnis her. 1842 wurde noch einmal ein solches Verzeichnis - wegen der Sammlungen und ihres eventuellen Verkaufs - niedergeschrieben. Als 1885 das Museum eingerichtet wurde, gab es in Weimar noch eine Tradition persön-

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

licher Kenntnis. Dazu kamen einige alte Zeichnungen, welche das Juno-Zimmer darstellen. 29 Die schriftlichen Quellen sind reich. Goethe hat alle Rechnungen aufgehoben. Es war eine Zeit, in der fast alles, was man im Hause brauchte, handwerklich hergestellt wurde. Im ganzen gibt es etwa 25 000 Rechnungen (Quittungen), aus denen wir die Leistungen der Weimarer Tischler, Maler, Schlosser, Ofensetzer usw. genau kennenlernen. Es ist erstaunlich, wieviel an dem Hause zu reparieren war. 3 0 Goethe hat dafür gesorgt, daß jedes klemmende Türschloß, jeder schadhafte Dachziegel, jedes beschädigte Möbelstück sofort repariert wurde. Wir finden in den Rechnungen 1812, daß das große Vorzimmer gelb gestrichen wurde, und 1821, daß das Juno-Zimmer blau gestrichen wurde. Dieser Art gibt es viele Einzelheiten.31 Viele Angaben über das Haus finden sich in Goethes Briefen und Tagebüchern. Wenn er am 26. August 1820 aus Jena an seinen Sohn schreibt: in dem Schreibtisch, der sonst im Blauen Zimmer stand, wo jetzt das Repositorium mit Kupier Stichen, so erfahren wir, daß bis 1820 im Junozimmer ein Schreibtisch stand, auf welchem Goethe seinen Gästen Kupferstiche vorlegte; dann aber kam dieser in das „Große Sammlungszimmer", damit im Juno-Zimmer mehr Platz sei. An den Bildhauer Rauch schreibt er im Mai 1828: Ihr lebensvolles Basrelief, in meinem Gartenzimmer angebracht, gibt Durchreisenden und Einheimischen die beste Unterhaltung (WA Briefe 44, S. 382). Dieses Relief hing also damals schon im Gartenzimmer, genau wie heute. 32 In dieser Art gibt es viele Eine Zeichnung von B. v. Arnswald, „Die drei Enkelkinder Goethes im Junozimmer"; oft reproduziert, z. B. in Wahl-Kippenberg, Goethe und seine Welt. Leipzig 1932, S. 231. Ein Stich von C. A. Schwerdgeburth, „Carl August bei Goethe". Reproduziert i n : Hans Tümmler, Das klassische Weimar und das große Zeitgeschehen. Köln 1975. Abb. 14. Dieser Stich ist in die Bücher mit zeitgenössischen Porträts Goethes und Carl Augusts meist nicht aufgenommen, weil er nach beider Tode gemacht ist und weil Schwerdgeburth hier nur frühere Porträtzeichnungen, die er von beiden gemacht hatte, wiederholt. Was aber die Zimmereinrichtung betrifft, hat der Stich durchaus Quellenwert. Schwerdgeburth konnte die VictoriaStatuette, den runden Tisch, die „Aldobrandinische Hochzeit" nur auf Grund dessen zeichnen, was er im Juno-Zimmer sah. Bei ihm steht - wohl um der Symmetrie des Blattes willen - der Tisch ziemlich genau unter dem Bild; links sieht man den Konzertflügel und über diesem das Zelterporträt von Begas. 3 0 Der Schlossermeister schickte 1822 eine Jahresabrechnung von 51 Posten, die sich über das ganze J a h r verteilen, für Arbeiten im Haus, Gartenhaus und am Wagen, z. B. „Schrankschlösser repariert. Neue Schlüssel gemacht, Klingelzug verändert, Gartentür repariert, Fensterhaken erneuert, neue Türklinken angebracht, Vorhängeschloß zum Futterkasten repariert". Der Töpfer reinigte die Öfen, und zwar mehrmals im Winter. Aus den Rechnungen geht hervor, dafj Goethe bei einem kleinen Schaden, z. B. einem abgebrochenen Schlüssel, nicht wartete, bis mehrere Arbeiten für den Schlosser zu machen waren, sondern ihn sofort holen lief}; mitunter geschah das dann 14 Tage danach wieder. Freilich betrug der Weg selten mehr als 5 Minuten. 3 1 Die Rechnungen orientieren nicht nur über Arbeiten im Haus, sondern auch über die Einrichtungsgegenstände. Der Böttchermeister Joh. Friedrich Bürke quittierte allein im Sommer 1822: „4. Juni. 8 Reife an eine große Badewanne frisch gekümt (gekimmt) und den alten Boden wieder hineingemacht. 14. Juni. Eine neue große Gelte in den Keller zum Fleische mit einen eichnen Boden und einen neuen Deckel darauf. 27. August. 4 Reife an eine kleine Badewanne. 30. August. Eine neue große Badewanne mit einem Deckel." - Es sei nebenher vermerkt, daß diese Rechnungen ein Quellenmaterial für die Handwerkersprache der Zeit sind, wie es schwerlich anderswo in solcher Weise vorhanden ist. 3

- Alfred Jericke, Das Goethehaus am Frauenplan. NFG. Weimar 1958. S. 70.

Quellen zur Geschichte des Hauses

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Sätze.33 Am 5. Dezember 1830 machte Goethe ein Verzeichnis Schlüssel zu meinen Sammlungen (WA Briefe, Bd. 48, S. 284). Aus diesem erfahren wir, in welchen Zimmern die wichtigsten Sammlungsschränke standen, z. B. Nr. 1. Zum Schreibtisch im Wohnzimmer, schlieft auch den braunen Tisch im Majolica-Zimmer. Nr. 2. Zum Münzschrank im Blauen Zimmer ... Nr. 5. Zum Aktenschrank im Büstenzimmer nach dem Garten .. . Nr. 10. Zum Schreibtische im Wohnzimmer am Oien. Im ganzen sind es 16 Schlüssel zu Sammlungsschränken. - Die Quellen dieser Art - die meisten sind ungedruckt und liegen im Goethe- und Schiller-Archiv ermöglichen es, sich weitgehend ein Bild von dem Zustand des Hauses zu Goethes Zeit zu machen.34 Betrachtet man das Haus im Großen, so ergibt sich zunächst eine Gliederung in Stockwerke. Im Erdgeschoß sind rechts (unter dem Urbino-Zimmer) und links (unter dem Großen Sammlungszimmer) zwei große Durchfahrten, welche viel Platz wegnehmen. 35 In der Mitte ist der große Hausflur (unter dem Gelben Saal). Der übrigbleibende Raum dient auf der einen Seite der Treppe, die mit 33

In der Weimarer Ausgabe sind in den Registern die Stellen nachgewiesen unter „Weimar, Goethes Wohnhaus am Frauenplan" oder „Goethes Stadtwohnung"; im Register der Briefe Bd. 50, S. 264; im Register der Tagebücher Bd. 15,2 S. 89-93. 34 Bei den Bildern wissen wir von den Hauptwerken, wo sie hingen: die grofje TizianKopie, der Herzog von Urbino, die Aldobrandinische Hochzeit. Bei vielen kleineren Bildern wissen wir es nicht, wissen aber, daß sie an den Wänden hingen. Nur bei ganz wenigen Bildern, die heute im Goethehaus sind, ist es möglich, daß sie aus dem Besitz von August und Ottilie oder der Enkel stammen. - David d'Angers beschreibt 1829 ziemlich genau die Einrichtung. Da er mehrere Wochen in Weimar war und als Künstler ein gutes Bildgedächtnis hatte, haben seine Erinnerungen einiges Gewicht, anderseits sind auch ihm Irrtümer unterlaufen: das von Begas gemalte Porträt stellt nicht - wie er schreibt - Herder dar, sondern Zelter. David d'Angers schreibt, er habe im Gelben Saal gesehen: die 10 Dorigny-Stiche nach Raffael, eine Jupiter-Statue, die Minerva Velletri und das von Begas gemalte Porträt. Im Juno-Zimmer habe er gesehen: Die Juno-Büste, die Aldobrandinische Hochzeit und das Porträt eines befreundeten Gelehrten oder Schriftstellers. (Gespr. 3,2 S. 497 f.) Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang Schuchardts Werk „Goethes Kunstsammlungen". Hier gibt es in Band 1, 1848, S. 326-339 eine Abteilung „Ölgemälde und eingerahmte Handzeichnungen und Kupferstiche". Bei den 108 Werken, welche Schuchardt hier nennt, kann man wohl sicher sein, daß sie bei Goethe an den Wänden hingen. Schuchardt schreibt leider nicht dazu, in welchen Zimmern die einzelnen Werke sich befanden. Für den heutigen Betrachter kommt es vor allem darauf an, daß er Werke an den Wänden sieht, die damals an den Wänden waren, und daß die Hauptwerke an den alten Stellen sind. Schuchardt gibt ferner in Band 2, S. 334-340 ein Verzeichnis „Abgüsse von antiken, mittelalterlichen und neueren plastischen Arbeiten, Ganze Figuren und Teile davon", 175 Werke umfassend, darunter 30 Porträt-Büsten. Dafj heute einige dieser Werke - insbesondere Porträtsplastiken - im Museum neben dem Goethehaus stehen, ist nicht nur museumstechnisch für das Goethehaus notwendig, sondern ist auch für den Betrachter das Richtige. Wenn Goethe aus Raummangel z. B. eine ganze Reihe Klauersche Büsten oben auf einen Schrank nebeneinander stellte, konnte man keine so sehen, wie sie gesehen werden soll - aus gleicher Höhe, von vorn und von beiden Seiten; das ist aber heute im Museum vorzüglich gewährleistet. 35 Die Durchfahrten sind flach gewölbt, die eine 3,53 m breit, die andere 3,16 m. In der Mitte des Erdgeschosses, hinter der Haustür, ist ein Flur, der bis zum Hof reicht. Er ist 10 m lang, 3,66 m breit und 3,80 m hoch, also ein großer Raum. Hier wurde nach Goethes Tode die Leiche aufgebahrt. Die beiden Einfahrten und der Hausflur nehmen im Erdgeschoß 10,35 m ein (ohne die Mauern).

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

einer gewissen Raumverschwendung, dafür aber besonders schön gebaut ist. 36 Auf der anderen Seite lagen Dienerzimmer und Wirtschaftsräume (Küche, Waschküche).37 Das Mansardengeschoß war die Wohnung von Ottilie, August und deren Kindern. Goethes Lebenswelt war also der erste Stock. Dessen Räume waren nach ihren Funktionen verteilt: 1) der intime Bereich (Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Schreibzimmer, Bibliothek); 2) der repräsentative Bereich (Junozimmer, Urbino-Zimmer, Gelber Saal); 3) die Sammlungszimmer (Büstenzimmer, Deckenzimmer, Majolica-Zimmer, Großes Sammlungszimmer); 4) die Fremdenzimmer (ehemalige Christiane-Zimmer). Goethe hat an dem Hause, das er von dem Herzog erhielt, einiges geändert, vor allem durch den Einbau der neuen Treppe und die Neugestaltung des Büstenzimmers. Im Großen aber konnte er nichts ändern; dann hätte er das Ganze neu bauen müssen. Als Ganzes ist das Haus erstaunlich verwinkelt, ein Gebäude zum Verirren, ein wahrer Fuchsbau. Das hängt erstens damit zusammen, daß vom Frauenplan vor dem Haus bis zu Goethes Garten hinter dem Haus das Gelände um etwa 2,20 m ansteigt. Das Hinterhaus ist vom Garten gesehen einstöckig (mit Mansarde), vom Hof aus gesehen zweistöckig (mit Mansarde). Wahrscheinlich war das Hinterhaus längst vorhanden, als das Vorderhaus gebaut wurde. Die Höhe des einen paßt nicht zu der des anderen, zumal im Vorderhaus das Erdgeschoß viel höher ist. 38 Der Unterschied wurde durch Stufen ausgeglichen. Wenn Goethe aus seinem Arbeitszimmer zum Urbino-Zimmer ging, mußte er jedesmal 4 Stufen steigen. Vom Brückenzimmer zum Gartenzimmer geht man 5 Stufen hinab. Der verwinkelte Gang vom Großen Sammlungszimmer zu den Christiane-Zimmern hat erst 4 Stufen und dann noch eine. Sogar innerhalb des Majolica-Zimmers gibt es eine Stufe. Die Unregelmäßigkeit geht zweitens darauf zurück, daß das Vorderhaus und das Hinterhaus nicht parallel stehen, sondern in einem leichten Winkel. Alle Gänge, die vom Vorderhaus rechtwinklig abgehen, kommen im Hinterhaus schräg an. Von den Christiane-Zimmern ist daher nicht ein einziges rechtwinklig. Das sind Formen, wie man sie aus dem Mittelalter und noch aus dem 17. Jahrhundert kannte. Ein dritter Grund der Unregelmäßigkeit liegt darin, daß das Gebäude sich der Biegung des Frauenplans anpaßt. Die seitlichen Zimmer (Urbino-Zimmer, Großes Sammlungszimmer) führen nicht die geradlinige Zimmerflucht fort, sondern sind winkelig zurückgebaut, und zwar sind diese Winkel rechts und links nicht gleich. Unter diesen Zimmern liegen die großen Durchfahrten für das Fuhrwerk. Die eine ist 3,53 m breit, die andere 3,16 m. Und so ungleichmäßig ist fast alles. Schlafzimmer und Arbeitszimmer liegen nebeneinander, das eine aber ist 273,5 cm hoch, das andere 272,0 cm. Das alte Hinterhaus besteht großenteils aus unsymmetrischen Formen. Anderseits: Was Goethe 1792 neu gebaut hat, ist großzügig und klar. Vom Gelben Saal führt eine gerade Flucht durch Brückenzimmer und Gartenzimmer zum Garten. 36

Vgl. Anmerkung 15. Einen Grundriß des Erdgeschosses findet man in: Jericke/Dolgner, Der Klassizismus in der Baugeschichte Weimars. 1975, S. 180. Er ist mit Genehmigung der Verfasser in dem vorliegenden Band S. 58 reproduziert. 38 Im Vorderhaus ist das Erdgeschoß 3,80 m hoch, im Hinterhaus 2,84 m. Hätte man von vornherein die Häuser im Zusammenhang gebaut, so hätte sich leicht eine gleiche Höhe des 1. Stocks erreichen lassen. Die Häuser sind durch umständliche Treppen verbunden. Das ist wohl ein Zeichen dafür, daß sie zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. 37

Die Verbindung des Winkeligen und Klaren

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Das Brückenzimmer hat er mit einem Tonnengewölbe versehen lassen, das eine Bemalung hat, welche die Diagonalen betont. Da ist südliche Linienführung und große Tradition. Von da kommt man dann aber in die Räume eines kleinen Bürgerhauses des 17. Jahrhunderts, verwinkelt und unübersichtlich, jedoch keineswegs ungemütlich. Dieser Übergang gelingt erstaunlich gut und wirkt nicht unorganisch. Goethe war immer ein Meister darin, Verschiedenes, scheinbar Gegensätzliches zu verbinden; das berühmteste Beispiel ist das Hineinnehmen der Helena-Szenén in Faust II. Etwas von dieser Gabe der Vereinigung lebt auch in seinem Hause. Der Betrachter sieht heute wie zu Goethes Zeit die Einheit von Hausform und Kunstwerken, die in die Räume verteilt sind. Doch viele Besucher, die Goethes Dichtung gut kennen, wissen nicht zu sagen, warum er das eine oder andere Bildwerk - Gipsabguß, Gemälde, Kupferstich - in seinen Zimmern haben wollte. Die Quellen dafür sind vielfach vorhanden, und wenn man ihnen nachgeht, beginnt jedes Werk eine Geschichte zu erzählen, die etwas von dem Werk selbst, etwas von Goethes Leben und etwas von der europäischen Bildungsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts enthält. 39 In das Treppenhaus stellte Goethe, weil es am geräumigsten war, die Großplastik. Da stehen Werke, die von Winckelmann und seinen Zeitgenossen aufs höchste geschätzt wurden und von denen Goethe in seiner Jugend Abgüsse im Mannheimer Antiken-Saal gesehen hatte. Zu diesen gehört der Kopf des Apollo von Belvedere. Goethe bekam ihn 1782 als Geschenk des Herzogs von Gotha. Er hat später oft den schlanken Bau, die ireie Bewegung, den siegenden Blick (Dichtung und Wahrheit, 11. Buch) dieser Statue gepriesen. 40 Da ist ferner der Kopf des Mars (Ares), der damals in der Sammlung Borghese stand (seit 1808 im Louvre). In Mannheim sah Goethe auch zum ersten Mal die Jünglingsgruppe, welche damals in Schloß Ildefonso in Spanien stand. In seinen Mannes jähren erhielt er einen Abguß davon und korrespondierte mit Heinrich Meyer darüber, daß hier wahrscheinlich ein Werk aus der Schule des Polyklet und eins aus der Tradition des Praxiteles zusammengestellt seien von einem späteren Künstler, so daß die Aufgabe bliebe, hinter diesem Werk die griechischen Urbilder zu erahnen/ 11 Nun aber hatte in den Jahren 1803-1812 Lord Elgin altgriechische Originalwerke vom Parthenon in Athen nach London geholt, die 1816 von dem Britischen Staat gekauft wurden. Hier waren Originale, wie man sie bisher nicht kannte. Goethe lag sehr daran, Abbildungen davon zu bekommen. Er bat den Großherzog, Zeichnungen zu bestellen, und so kamen 1818 große Blätter nach Weimar, die der Herzog zunächst Goethe lieh, dann ihm schenkte. Die an römische Nachbildungen gewöhnten Augen sahen hier nun endlich die griechische Antike, herber, strenger, aber auch lebensnäher als das, was man kannte. Der moderne Betrachter, gewöhnt an gute Photographien griechischer 39 Um der Genauigkeit willen sei erwähnt: Wenn Goethe von Ottilie und August etwas geschenkt bekam, stellte er es auf (wie den Münzschrank im Junozimmer) oder hängte es an die Wand, auch wenn es zu seinem persönlichen Stilwillen nicht paßte; von wenigen solchen Ausnahmen abgesehen, ist aber das Haus ganz nach seinem Ermessen ausgestattet. 40 Grumach, Goethe und die Antike. S. 529-532. - Max Wegner, Goethes Anschauung antiker Kunst. Berlin 1944. S. 57-59. 41 Zu der Ildefonso-Gruppe: Goethe an Meyer 10. November 1812. Meyer an Goethe 11. November 1812. Dichtung und Wahrheit, Buch 11, innerhalb der Besprechung des Mannheimer Antiken-Saals.

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Originale oder bekannt mit Originalwerken in Athen, London, Paris usw., findet die großen Zeichnungen, welche Goethe an die Wand des Treppenhauses hängte, undeutlich und unbedeutend. Für Goethe waren sie etwas ganz Besonderes, immer wieder mit Entzücken Betrachtetes, die aufschlußreichen Nachbildungen eines griechischen Meisterwerks, wie sie zu dieser Zeit in Weimar und Umgebung sonst nirgendwo zu sehen waren. 42 Hier zeigt sich Goethes Verhältnis zur Antike in seinem Alter, als nicht Pompeji, sondern Athen die Hauptquellen bot. Es ist wie der Schritt von Iphigenie zu den Helena-Szenen des Faust II. Im Treppenhaus sieht der Besucher sodann ein Deckengemälde im Ovalformat, und der Blick sagt meist: dekorativ, klassizistisch, unbedeutend. Blickt man genauer hin, erkennt man nicht nur eine Frauengestalt, sondern auch einen Regenbogen. Für Goethe war dieses Bild ein Symbol. Es zeigt die Göttin Iris. Er sagt von ihr in der Geschichte der Farbenlehre: Die Griechen verwandelten den Regenbogen in ein liebliches Mädchen, eine Tochter des Thaumas (des Erstaunens); beides mit Recht, denn wir werden bei diesem Anblick das Erhabene aut eine ertreuliche Weise gewahr. Und so ward sie diesem Gestalt liebenden Volke ein Individuum, Iris, ein Friedensbote, ein Götterbote überhaupt; andern, weniger Form bedürienden Nationen, ein Friedenszeichen (Kap. Zur Geschichte der Urzeit). Iris war für Goethe ein Zeichen des Zusammenhangs von Natur und Kunst und also des Zusammenhangs seines eigenen Strebens in zwei Bereichen. Das göttliche Licht bricht sich und wird zu Farben. Das menschliche Auge kann weder unmittelbar in die Sonne blicken, noch leben wir völlig im Dunkel. Das dem Menschen Angemessene sind die Farben. Nun erscheinen im Schatten, je nach der Farbe des Lichts, die Komplementärfarben. Diese Entsprechung ist aber nicht nur ein Naturphänomen, sondern genau das, was der ästhetische Sinn fordert, ein Zeichen also des Zusammenhangs von Natur und Kunst, über den Goethe sein Leben lang immer wieder nachdachte. In der Einleitungsszene des Faust II hatte er den großen Monolog von dem Regenbogen geschrieben mit den Schlußworten Am iarbigen Abglanz haben wir das Leben. Die Farben waren Abglanz des höchsten Lichts, darum Iris Götterbote, Friedensbote. Sie verkörperte ihm die Verbindung von Naturwissenschaft und Kunst, von Farbenlehre und Dichtung. Dieses Bild hatte Heinrich Meyer auf seinen Wunsch gemalt, es erinnerte ihn immer an den Freund und an die Zeit, als dieser es malte und er selbst hoffnungsvoll seine optischen Studien trieb, und er setzte es vor den Eingang der Räume mit all den Kunstund Naturgegenständen, die er zusammengetragen hatte. Trat der Besucher ein, so sah er an den Wänden 10 Stiche nach Raffaels Zyklus „Amor und Psyche". Für Goethe bedeutete Raffael das Anknüpfen an die Antike und zugleich ein völlig selbständiges Schaffen aus begnadeter Begabung - also das Höchste, was einem neueren Künstler möglich war. Diese kolorierten Stiche hatte er im Gartenhaus an der Wand gehabt, als er sich nach Italien sehnte; er hatte an sie gedacht, als er in Rom die Originale sah; er hatte sie nach der Heimkehr mit Hilfe seines vorzüglichen Bildgedächtnisses mit diesen verglichen, oft mit 42

Hierzu die Tagebuch-Notizen 30. August 1829: Lieber restaurierte an den Zeichmingen nach den Elginischen Marmoren. Und 5. September 1829: Oberbaudirektor Coudray befestigte die beiden großen Zeichnungen im Treppenhaus. - Grumach, Goethe und die Antike. S. 494 bis 505. - Wegner, Goethes Anschauung antiker Kunst. 1944. S. 37-44 mit Abbildung der zwei großen Zeichnungen (Abb. 8 und 9).

Das Persönliche in der Ausgestaltung

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Meyer darüber gesprochen, später in der Italienischen Reise darüber geschrieben (18. November 1786; 16. Juli 1787). Sie sollten für seine Gäste eine freundliche Begrüßung sein. Setzte er sich mit dem Besucher auf die Sessel im Junozimmer, so hatten sie vor sich auf dem Tisch den Gipsabguß einer kleinen Statue der Victoria (Nike). Das Original, aus Fossombrone stammend, steht in Kassel.43 Wie manche antike Kleinplastik ist sie wohlerhalten, es fehlt nichts. Es ist ein Werk, das eine große Tradition fortführt, nicht eben geschickt, ja unbeholfen; doch Goethe sah hier das Bewegungsmotiv und ahnte hinter der Nachbildung ein Urbild: die herabschwebende Siegesgöttin, mit ausgebreiteten Flügeln, die mit einer Hand den Kranz überbringt. So hatte er sie in Faust II geschildert: Droben aber auf der Zinne Jene Göttin, mit behenden Breiten Flügeln, zum Gewinne Allerseits sich hinzuwenden. Rings umgibt sie Glanz und Glorie, Leuchtend lern nach allen Seiten, Und sie nennet sich Viktorie, Göttin aller Tätigkeiten. (5449-5456)

31 Jahre nach Goethes Tode kam in Samothrake die Nike-Statue ans Licht, welche in vollendeter Form das darstellt, was Goethe aus den späten schwachen Nachahmungen erahnt hatte: die Trägerin des Göttergeschenks, plötzlich nahend in großartiger Bewegung mit rauschendem' Schwung der Flügel. 44 Blickte der Besucher auf, so sah er an der Wand Meyers Kopie der „Aldobrandinischen Hochzeit". Da sitzt der Bräutigam wartend an der Schwelle. In den Lehrjahren wird der Saal der Vergangenheit beschrieben (VIII,5) mit den Gemälden, welche Urformen des Menschenlebens darstellen: So war alles und so wird alles sein! Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt..., so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er her eintreten darf... In dieser Weise gibt es überall Verbindungen zu Goethes Dichtungen, autobiographischen Werken, Kunstschriften, naturwissenschaftlichen Arbeiten. Wegen der Sammlungen und wegen der Gäste mußte das Haus groß sein. Goethes eigentlicher Lebensbereich war klein: Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Schreibzimmer, Bibliothek, insgesamt etwa 62 qm. Der Treppenaufgang hat einen schlichten, fast zeitlosen Stil, dazu kommen dort die antiken Werke, die sich im Gelben Saal fortsetzen. Hier beginnt aber bereits die Renaissance mit 43 Dieser Gipsabguß ist genannt bei Schuchardt Bd. 2, S. 334 Nr. 96, und bei Marie Schuette, 1910, S. 59. Abgebildet von Schwerdgeburth auf seinem Stich „Carl August bei Goethe", der zwar nach Goethes Tode hergestellt ist, aber das Juno-Zimmer und die Victoria-Statuette aus unmittelbarer Anschauung darstellt. (Reproduziert bei Tümmler, Das klass. Weimar u. das Zeitgeschehen. 1975. Abb. 14.) - Goethe besaß auch ein Original einer römischen VictoriaFigur in Bronze. (Abgebildet: Max Wegner, Goethes Anschauung antiker Kunst, 1944, Abb. 33.) Er hatte es 1796. gekauft und schreibt darüber ausführlich an Heinrich Meyer am 20. Mai 1796. - Das Register zu der 1. Abteilung der WA (Werke) verzeichnet in Bd. 55 S. 469 zu „Victoria" 15 Belegstellen. 44 Es war im Archäologischen also ähnlich wie im Literarischen, wo Goethe aus ein paar kleinen griechischen Bruchstücken und aus den römischen Komödien des Terenz die Dramen des Menandros erahnte. Hundert Jahre später kamen einige von ihnen aus dem ägyptischen Wüstensand ans Licht, und sie sind so, wie Goethe sie sich gedacht hat.

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Das Haus am Frauenplan in Goethes Alter

Raffael und Tizian, und wer sich in den Zimmern weiter umsah, entdeckte den Sieneser „Schmerzensmann" aus dem 14. Jahrhundert, Abgüsse nach Peter Vischer und eine Kopie nach Ruisdael. 45 Goethe wurzelte in vielen Bereichen, seine Schriften zur Kunst und Literatur zeigen es, auch sein Faust zeigt es, Altdeutsches und Griechisches vereinend. Und ähnlich war es in seinem Hause. Das Vorderhaus hat, teils von der Anlage, teils vom Umbau her, Formelemente aus Antike und Renaissance. Doch von da geht es in das schlichte winkelige Hinterhaus, das so gebaut ist, wie man in Deutschland aus alter volkstümlicher Tradition dergleichen bescheidene Bürgerhäuser in Kleinstädten errichtete. Goethes Welt war sowohl das eine wie das andere, alles zusammen, in dieser Verbundenheit. Er hat niemals das ganze Haus umgebaut oder die Möbel grundlegend erneuert. Von Zeit zu Zeit wurden die Zimmer neu gestrichen, die Möbel ergänzt und etwas anders gestellt, einige Bilder umgehängt. Und so ergab sich der Zustand, den das Haus zur Zeit seines Todes hatte und den wir - im großen ganzen - heute noch sehen. Bezeichnend für Goethe ist dabei das langsame Wachstum, die Verbindung des Verschiedenartigen, hervorgehend aus seiner inneren Weite, und zugleich die persönliche Gestaltung bis in die Kleinigkeiten hinein. Goethes Arbeitsweise - je älter er wurde, desto mehr - bestand in einem Umgang mit viel Material: sei es für Morphologie, Geologie, Kunstgeschichte oder ein anderes Gebiet; auch für seine Autobiographie und für seine Dichtungen brauchte er Bücher und viele im Laufe der Jahre gesammelte Manuskripte. Und dafür brauchte er sein Haus. Als im Jahre 1819 August und Ottilie nach Berlin gereist waren, schrieb er an Zelter: Mir will nun nicht mehr wohl werden als in meinem Hause, das besonders den Sommer alle Vorteile genießt und wo mir so vieljährig zusammengetragene Besitztümer zu Gebote stehen, die mir Freude und Nutzen bringen. (29. Mai 1819.) Seit 1823 ist er nicht mehr verreist. Er blieb in dem Gehäuse, das er sich geschaffen hatte. Es war ein Haus, in dem er einsam und in dem er gesellig sein konnte. Ein Haus mit Garten und frischer Luft. Ein Haus für seine Sammlungen, die er zur Arbeit brauchte. Ein Haus zu ruhigem Schlafen. Und ein Haus, in welchem er seine Aufgabe, die ihm aus schöpferischer Begabung zugewachsen war, erfüllen konnte. /i5

Über das Sienenser Bild aus dem 14. Jahrhundert vgl. Anmerkung 23; über die Abgüsse nach Peter Vischer den Aufsatz „Ein Tag aus Goethes Leben". - Das Bild von Ruisdael, Der Kirchhof, Sepiazeichnung von Karl Wilhelm Lieber nach dem Gemälde in der Dresdener Galerie, hängt jetzt im Kleinen Eßzimmer. - Schu. 1, S. 335 Nr. 64. - Jericke, Das Goethehaus am Frauenplan. NFG. 1958. S. 61.

Die Sammelhandschriften von Goethes Gedichten*

In seinem Gartenhaus an der Ilm hat er gesessen und seine Gedichte zusammengeschrieben in einem schlichten Heft mit grauem Deckel, das etwa wie ein Schulheft aussieht. Das Heft liegt heute im Goethe- und Schiller-Archiv. Vermutlich wollte Goethe Frau von Stein und anderen Freunden zeigen, was für Gedichte er gemacht hatte. Er hatte sie bisher noch nie zusammengestellt. Sie waren aus dem Augenblick geboren, und er war mit den Niederschriften nicht immer sorgfältig umgegangen. Darum enthält das Gedichtheft nicht alles, was bis zu diesem Zeitpunkt entstanden war. Manches wie die Leipziger Jugendlyrik hielt er für längst überholt, anderes hatte er nicht zur Hand. Was er für wert hielt, es den Freunden zu zeigen, das schrieb er nun zusammen. Es ist die Zeit des Sturm und Drang, vor ein paar Derbheiten schreckte man da nicht zurück; das Gedicht Freuden des jungen Werthers hätte man nicht drukken können, doch den nahen Freunden - sogar Charlotte von Stein - konnte man es zeigen. Die Gedichte, die Goethe hier zusammenstellte - es war wohl im Jahre 1777 - kennen wir heute aus mancherlei Drucken. Doch überall stehen sie anders als hier in diesem Heft. Die meisten heutigen Ausgaben richten sich nach der Ausgabe letzter Hand und der Weimarer Ausgabe, welche deren Anordnung beibehält. Da stehen diese Gedichte innerhalb verschiedener Gruppen, und da stehen sie in anderer Fassung, klassizistisch überarbeitet. Wir haben sodann die bekannte Sammlung „Der junge Goethe" von Max Morris. Da ist für jedes Gedicht die früheste Fassung gewählt. Die früheste uns erhaltene Fassung ist aber oft eine Abschrift, die ein Bekannter sich gemacht hat, oder ein Zeitschriften-Druck, der ohne Sorgfalt hergestellt wurde. Außerdem sind die frühen Fassungen stilistisch anders als die in dieser ersten Weimarer Gedichtsammlung. In diesen Jahren vollzog sich Goethes Entwicklung rasch. Wir haben hier also weder die früheste Fassung der Gedichte noch die letzte Fassung, sondern eine aus der Mitte der textgeschichtlichen Entwicklung. Es gibt eine Periode, die man als den frühen, tastenden, wilden Sturm und Drang bezeichnen kann. In der ersten Weimarer Zeit war daraus ein reifer, stilsicherer Sturm und Drang geworden. Die Anordnung der Gedichte ist in diesem Heft anders als in allen gedruckten Ausgaben. Goethe beginnt hier mit dem Mahomets-Gesang, der den schaffenden Genius preist. Dies war das große Thema seiner Lyrik in den letzten Jahren, bevor er nach Weimar kam. Das Gedicht bringt es als vollen, reifen Klang. Die nächsten Gedichte bringen Teilgebiete dieses Themas: das Sturmlied das Sich-Messen an den Großen, Künstlers Morgenlied die Schöpferkraft, * Referat bei dem Colloquium über Probleme der Goetheforschung, veranstaltet von den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen deutschen Literatur in Weimar, 31. Oktober bis 4. November 1960.

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Die Sammelhandschriften von Goethes Gedichten

An Schwager Kronos den jugendlich-kraftvollen Übermut. Dann schliefen Prometheus und Ganymed sich an, beide nebeneinander, wie hinfort immer. Und nun wird die Reihenfolge sprunghafter. Es kommen frühe Weimarer Gedichte, in welchen das Ich das Steuer seines Lebens in die Hand nimmt. Dann Gedichte zum Thema der Kunst, die vom Feierlichen bis ins Satirische gehn. Zwischendurch die herbschöne; Ballade Vor Gericht, ein soziales Thema. Das vorletzte Gedicht ist Jägers Nachtlied, das sehnsüchtige Liebesgedicht von der Wirkung der Frau auf den liebenden Mann - ein damals neues Thema. Es ist nur durch dieses eine Gedicht vertreten; Goethe nahm die anderen dieser Art nicht auf, denn sie waren gereimte Briefe für Frau von Stein. An den Schluß setzte er das älteste aller Gedichte dieses Hefts: Zu einem gemalten Band - ein liebenswürdiger, freundlicher Ausklang, wie er ihn liebt. Die Schriftzüge sind flott, aber beherrscht. Er schreibt so, daß es auch andere leicht lesen können. Seine Schrift hat Gleichmäßigkeit; nirgendwo Züge von Hast, Müdigkeit oder Langeweile; überall ist der Schreibende ganz bei der Sache, obgleich er hier nur ältere Gedichte zusammenstellt. Er formt sie dabei stellenweise um. Er überlegt jedes Wort. An einigen Stellen sehen wir Streichungen und darüber die neue Fassung. Immer sind beide Fassungen gut leserlich. Das Heftchen im Ganzen sieht bescheiden aus, es will ja nur für private Zwecke dasein. Doch eben darum ist es zugleich liebevoll bearbeitet. Er dachte damals nicht daran, diese Gedichte zu drucken. So also hat er selbst in den ersten Weimarer Jahren seine Lyrik gesehen, als etwas Privates, ihm und den Freunden Gehörendes. (Werther und die Dramen sah er anders.) Aus der Straßburger Epoche bleibt nur Kleine Blumen, kleine Blätter, alles andere fehlt, sogar das Mailied, das zwar die Tiefe des Naturerlebens, aber nicht das Selbstbewußtsein des Künstlers hatte. Der Wert dieser Sammlung wurde von den ersten Archivaren des Weimarer Archivs erkannt. 1908 veranstaltete Wahle einen Faksimile-Druck als Band 23 der Schriften der Goethe-Gesellschaft. Er ist heute bereits eine Kostbarkeit und kommt antiquarisch fast niemals vor. Immerhin: Man kann dank dieses Drucks sich auch außerhalb von Weimar ein Bild machen, wie diese Sammlung aussieht. Bei dem nächsten Werk, das jetzt zu besprechen ist, ist das nicht der Fall. Es ist die Gedichtsammlung, die im Archiv als H3 und H4 bezeichnet wird. Diese Sammlung stellte Goethe zusammen, um zum ersten Mal seine Gedichte für den Druck vorzubereiten; das war also während und unmittelbar nach der Italienischen Reise. Im Vergleich mit dem Heft von 1777 wirkt dieses Manuskript sicherer, bewußter. Das Format ist größer, meist ist auch die Schrift größer. Es sind zwei Hefte, bezeichnet als Erste Sammlung und Zweite Sammlung. In ähnlicher, aber keineswegs in gleicher Form wurden die Gedichte dann im 8. Band der Göschenschen Ausgabe 1789 gedruckt. Ein Vergleich ergibt: Die Handschrift enthält manche Gedichte, die im Druck fortgelassen sind, und der Druck hat einige Gedichte, die in der Handschrift fehlen. Vor allem gibt es Verschiedenheiten in der Interpunktion. Sie ist in der Handschrift von fremder Hand ergänzt und ist im Druck nochmals ergänzt, sicherlich nicht von Goethe selbst. Es ist bekannt, daß Goethe nach sprachmusikalischen Gesichtspunkten seine Satzzeichen setzte; der Druck mußte natürlich nach der Grammatik vorgehen. - Sofern man heute eine Ausgabe für breite Kreise

Die Gedichthandschriften von 1777 und 1788

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macht, kann und wird man Goethes handschriftliche Interpunktion nicht übernehmen. Doch beachtenswert ist sie, und zwar nicht nur für den Philologen. Jeder, der ein Goethesches Gedicht sprechen will, findet hier Hinweise, wie Goethe die klangliche Phrasierung (ich übernehme hier einen Ausdruck aus der Musik) auffaßte. In der Handschrift sieht das Ende des Gedichts Seefahrt folgendermaßen aus: Doch er stehet männlich an dem Steuer; Mit dem Schifte spielen Wind und Wellen Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen: Herrschend blickt er auf die grimme Tieie Und vertrauet, scheiternd oder landend. Seinen Göttern. Der Druck interpungiert folgendermaßen: Doch er stehet männlich an dem Steuer; Mit dem Schifte spielen Wind und Wellen; Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen: Herrschend blickt er aut die grimme Tiefe, Und vertrauet, scheiternd oder landend. Seinen Göttern-1 Der Druck zerteilt in viele kleine Abschnitte. Hinter Wellen setzt er ein Semikolon wie hinter Steuer; die Klangphrasen werden kurz. Bei Goethe besteht aber gerade hier, wo er aus dem Kraftgefühl des Sturm und Drang spricht, ein großer mitreißender Fluß der Worte, der nicht zerteilt werden darf. Auch bei dem Gedicht Prometheus vermute ich, daß man aus der Handschrift etwas über den Klang entnehmen kann. Die Drucke von Göschens Druck 1789 bis zur Weimarer Ausgabe und darüber hinaus haben: Ich kernte nichts Ärmeres Unter der Sonn, als euch, Götter! Der heutige Leser ist geneigt, wegen des Kommas hinter euch eine Pause zu machen; dann die Anredeform Götter. Goethe sprach anscheinend anders: als euch Götter ohne Pause und nicht als Anredeform. Denn er schreibt: Ich kenne nichts ärmers Unter der Sonne als euch Götterl Erst ohne die Pause spürt man ganz das Verächtliche, das Prometheus hier in seine Sprache legt. - Die Goetheschen Satzzeichen sind, weil sie Klangzeichen sind, für unser künstlerisches Verständnis von Wert. Das Komma im Druck ist im Sinne der Grammatik richtig, sei es nach Adelung, sei es nach Duden. Doch der Philologe sieht, daß Goethe hier kein Komma und vermutlich keine Pause beim Sprechen gemacht hat. Auch in der Rechtschreibung weicht die Handschrift von den Drucken ab. Goethe schildert den Lauf des großen Flusses im Gedicht Mahomets-Gesang: Nach der Ebne dringt sein Lauf Scklangewattdelrtd. 1 Der Vollständigkeit halber sei vermerkt: in der Handschrift steht zwischen Wellen und nicht ein Komma, das aber - wie die Farbe der Tinte und die steile Stellung zeigen - nachträglich eingesetzt ist, vielleicht nicht von Goethe.

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Die Sammelhandschriften von Goethes Gedichten

Der Druck setzt Schlangenwandelnd; dadurch entsteht im Leser die Assoziation des Plurals „Schlangen", welche die Einprägsamkeit und Kraft des Bildes „der Strom wie eine gewundene Schlange" verdirbt. Auch hier blieb die schlechtere Fassung fortan in den Drucken stehen - wir wissen nicht, ob Goethe sie gebilligt hat oder vielleicht gar nicht bemerkte. Was diese Handschrift lehrt, kann man nur kennen lernen, wenn man sie in Weimar im Archiv benutzt. Es gibt von ihr keinen Faksimile-Druck, keinen Text-Abdruck. Der Göschen-Druck von 1789 ist - wie gesagt - stark abweichend. In der Weimarer Ausgabe gibt es eine kurze Beschreibung der Handschrift, keine Aufzählung der in ihr enthaltenen Gedichte. In den Lesarten sind die Hauptabweichungen dieser Handschrift notiert, doch nicht alle, vor allem nicht das Fehlen vieler Satzzeichen. Man kann sich aus den vorhandenen Hilfsmitteln unmöglich ein Bild machen, wie die Gedichte hier in Goethes Handschrift aussehen. Im Jahre 1946, zwischen den Trümmern Hamburgs, begann ich den 1. Band der Hamburger Goethe-Ausgabe. Wissenschaftliche Reisen waren damals nicht möglich. Ich habe wochenlang versucht, aus den Lesarten der Weimarer Ausgabe den Text der Sammlung H 3 und H 4 herzustellen. Später konnte man nach Weimar reisen. Ich sah die Handschriften an - und sie waren ganz anders als das, was die künstliche Konstruktion ergeben hatte. Was dem Philologen an allen Orten greifbar ist, das sind die gedruckten Ausgaben seit der GöschenAusgabe, die alle eine von der anderen abhängen. In keiner von ihnen hat Goethe selbst die ganze Interpunktion gemacht. So wie Goethe selbst die Gedichte schrieb, so wie er sie selbst in Händen hielt, können wir sie nirgendwo finden, außer im Weimarer Archiv. Was kann man in dieser Lage tun? Meines Erachtens nur dies: man könnte einen buchstabengetreuen Textabdruck machen; dieser würde nicht einmal besondere Schwierigkeiten bereiten, denn es gibt nur wenige Streichungen, und diese sind sehr klar. Besser noch wäre ein Faksimile-Druck — aber freilich: es sind 182 Seiten. Der kühnste Traum eines Philologen ist natürlich FaksimileDruck und Textabdruck zugleich, so wie es mit dem „Urfaust" in der AkademieAusgabe geschehen ist. Dort handelt es sich nur um die Handschrift des Fräuleins v. Göchhausen. Sie wird nicht eine philologisch genaue Wiedergabe von Goethes Text sein; und als graphisches Gebild ist sie uns wenig interessant. Wieviel mehr sollte man Goethes Handschrift faksimilieren, die Ausdruck seines Wesens ist und bei der man weiß, daß hier alles so ist, wie er es wollte. Die nächste Sammelhandschrift von Goethes Gedichten ist die der Römischen Elegien in der 1. Fassung, überschrieben Erotica Romana. Auch sie ist von Goethe selbst sorgfältig geschrieben. Im Gegensatz zu den vorigen Sammlungen benutzt er hier die lateinische Schrift. Man kann aus dieser Handschrift viel ersehen über Entstehung, Gruppierung, Zeichensetzung usw. Diese Dinge werden aus einem Lesartenapparat nie so einsichtig wie aus dem Text selbst. Der Insel-Verlag hat 1920 einen Faksimile-Druck hergestellt, aber als LuxusAusgabe in nur 240 Exemplaren. Sie sind heute eine Seltenheit. Die letzte und größte Sammelhandschrift von Goethes Gedichten ist die des Westöstlichen Divans. Als die Gedichte mit stetem Bezug aui den Divan des Haüs entstanden, wurde Goethe sehr bald klar, daß es ein Zyklus sei. Er wußte in diesen Jahren, was er war und was er konnte. Seine Schriftzüge haben hier

Die „Divan"-Reinschrift

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Breite und Sicherheit. Er nahm Folioblätter. Und auf jedes Blatt setzte er ein Gedicht. Das sah schöner aus als in dem Schulheft von 1777. Das war auch praktischer : Er konnte nun diese Blätter ordnen, wie er wollte. Diese Diz/an-Reinschrift, liebevoll, sorgfältig, prächtig, großartig, ist zum größten Teil in Weimar geblieben. Einiges wurde von Goethe oder von Eckermann (als Nachlaßverwalter) verschenkt oder kam anderswie in fremde Hand. Später wurde, was nicht zurückgekauft werden konnte, für das Weimarer Archiv photographiert. Heute befinden sich im Goethe- und Schiller-Archiv fast alle Gedichte der Dii/an-Reinschrift im Original oder als Photo. Bei dem Druck des Divan ist Goethe von einer Sorglosigkeit gewesen, die den Philologen in Erstaunen versetzt, die aber psychologisch begreiflich ist. Dichter sind fast nie ihre eigenen Philologen - Ausnahmen wie Klopstock kommen natürlich vor. Als der Divan gedruckt wurde, war Goethe in seinen Arbeiten längst bei anderen Dingen. Er überließ den Druck anderen und warf flüchtig ein Auge darauf. So kamen Fehler hinein. Später ließ er das Gedruckte noch einmal abschreiben, um Neues einzuschalten, da kamen neue Fehler hinein. Er merkte es nicht. Deswegen ist der Divan heute textkritisch etwas schwierig. Meines Erachtens läßt sich die Aufgabe, aus allen Fassungen eine „beste" Fassung herzustellen, nie befriedigend lösen. Was sich tun läßt, sind zwei Dinge, die wir beide nebeneinander brauchen. Die eine Möglichkeit ist: man druckt die Ausgabe letzter Hand, befreit sie aber von eindeutigen Versehen und Fehlern. Die andere Möglichkeit ist: man druckt die Goethesche Reinschrift, buchstabengetreu. Das ist noch nie geschehen. Das Ideal wäre natürlich: man macht ein Faksimile der ganzen Reinschrift. Vermutlich wäre die Herstellung aber recht teuer. Die Diwan-Reinschrift umfaßt 271 Seiten; nimmt man die Gedichte hinzu, die zwar zur Reinschrift gehören, doch für den Druck ausgeschieden wurden, so ist es noch mehr. Es gibt eine kleine Auswahl von faksimilierten Blättern der Reinschrift des Divan in den Schriften der GoetheGesellschaft. Das ist alles. Ein vollständiges Bild von der Reinschrift erhält man nur in Weimar. Sieht man sie, so lösen sich manche Textprobleme der Drucke von selbst. Ob Rede und Gegenrede als ein oder als zwei Gedichte aufzufassen sind, geht aus Goethes Handschrift deutlich hervor; auch, was Gedichtüberschrift ist und was nur Name des Sprechers ist. Als Goethe diese Reinschrift schrieb und in Abständen von Tagen oder Wochen ein Blatt zum anderen legte, war er mitten im Vorgang des Schaffens. Bis in jede Kleinigkeit war jedes Gedicht deutlich in ihm, und er setzte es nun aufs Papier, handwerklich getreu, mit Freude am Schriftbild, in zeichnerischem Schwung und zugleich genau im Wort. Über das Gedicht setzte er die Überschrift und unter diese einen schön geschwungenen Bogen, eine Volute. An den unteren Rand der Seite setzte er Ort und Datum. Schon hierdurch unterscheidet sich die Diyan-Reinschrift vom Druck. Wenn Sprechernamen vorkommen etwa Hatem, Suleika, der Schenke dann setzte er sie über den Text so wie in Dramen-Manuskripten. Das alles ist genau und klar, mit sichtlicher Freude an graphischer Gestaltung geformt. Goethe benutzt in dieser Diyan-Reinschrift und ebenso in den Entwürfen und Notizen zum Divan immer die lateinische Schrift. Das mag erstaunlich sein, denn der Divan ist doch ein geistiger Weg, der gerade von der römischen Antike fort in den Osten führt. Für Goethe bedeutete die lateinische Schrift hier wohl sicheres, ruhiges Setzen, geübte 6

Trunz, Goethe-Studien

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Die Sammelhandschriften von Goethes Gedichten

Meisterschaft, das, was er einmal die durchgespielte Leier nennt (Sonett III); während in den Handschriften des Faust, der bis zum Schluß ein geistiges Abenteuer blieb und der die ganze Breite Goetheschen Wesens aufnahm, bis zum Schluß deutsche und lateinische Schrift nebeneinander vorkommen. Alles, was Goethe schuf, war geprägt von seiner Persönlichkeit. Auch seine Handschrift zeigt sein Wesen; diese Mischung von Fest-auf-der-Erde-Stehen und Weit-Hinausfliegen; manchmal ruhig malend, fest gestaltend, manchmal flüchtig, ahnend, suchend. Er hatte Freude am Werk der Hand, sowohl in seiner Jugend, als er 1777 seine Gedichte zusammenschrieb, wie auch im Alter, als er die Dfyan-Gedichte nach harmonischem Maß auf den Raum der großen Blätter verteilte. In seinen Chinesisch-deutschen Jahreszeiten hat er angedeutet, wie sympathisch ihn jene Kultur berührte, in welcher Dichten und graphisches Gestalten zusammengehören. So, wie die Gedichte in diesen Handschriften stehen, so sah Goethe sie selbst vor sich, wochen- und monatelang, immer wieder. So, wie sie gedruckt wurden, waren sie für das breite Publikum da. Er nahm die gedruckten Bändchen gern einmal in die Hand - gelesen hat er darin wenig. Wenn wir also Abdrucke oder gar bildliche Reproduktionen von den Handschriften herstellen, dann geben wir das Werk so, wie Goethe es selbst sah. Wir müssen uns immer deutlich machen: So wie seine Werke heute in unseren großen Editionen erscheinen, so hat er selbst sie nie gesehen. Wenn wir z. B. heute in einer modernen Ausgabe seine Kunstschriften aus allen Lebenszeiten in wechselreicher Fülle vor uns sehen, wirken sie ganz anders, als wenn wir sie in Über Kunst und Altertum sehen, dieser so persönlich gehaltenen Zeitschrift, die sich an einen Freundeskreis wandte. Wer aber hat heute Über Kunst und Altertum im Original zur Hand? Wenn wir heute eine Gesamtausgabe der Gedichte vor uns haben, wirkt durch die Masse und durch die Anordnung alles anders als in den Sammelhandschriften, die Goethe selbst geschrieben hat. Von der Weimarer Sammlung für Frau von Stein gibt es - wie gesagt einen Faksimile-Druck (Schriften der Goethe-Gesellschaft, 23) und einen TextAbdruck (hrsg. von Albert Leitzmann, 1910). Von den anderen Sammelhandschriften kann man sich nur durch das Original hier in Weimar ein Bild machen. Moderne kritische Ausgaben sind Wunderwerke des Scharfsinns und Fleißes, doch je vollkommener sie philologisch sind, desto ursprungsferner werden sie in anderer Hinsicht. Was eine Handschrift unmittelbar einsichtig macht, verschwindet hier im Urwald der Lesarten. Die Handschrift blickt man künstlerisch einfühlend an, ihren Schwung und ihre Formkraft empfindend; den Lesartenapparat muß man mit mechanischer Präzision entziffern, das können Mathematiker manchmal besser als Künstler. - Stellt man von einer Handschrift einen Faksimile-Druck her oder auch einen einfachen genauen Abdruck, so wird das unmittelbare Erfassen nicht gehindert. Ich habe mir immer gewünscht, solche Handschriften-Abdrucke zu haben und daneben Neuausgaben der üblichen alten Drucke. Diese Drucke sind alle voneinander abhängig, der Göschendruck von 1789 und die Cotta-Drucke von 1806, 1815 und 1827, die wir A, B und C nennen. Von diesen Drucken läßt sich verhältnismäßig leicht ein Lesarten-Verzeichnis zusammenstellen. Dieses würde einfacher und klarer, wenn man die Abweichungen der eigenhändigen Handschriften nicht auch noch hineinnimmt, son-

Editorische Fragen

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dern die Handschriften als Ganzes abdruckt. Dann kann man im Lesartenapparat auf diesen Abdruck verweisen. Die Methode, nur einen einzigen Text zu drucken und alles andere in einen Lesarten-Apparat zu setzen, stammt aus der klassischen Philologie und ist eine Erfindung der Humanisten des 16. Jahrhunderts. Sie hatte die Buchdruckerkunst zur Voraussetzung, die Wissenschaft hängt in dergleichen Dingen eng mit der Technik zusammen. Man hatte bis dahin nur Handschriften, keine bot das Original unmittelbar. Es war eine großartige Erfindung, den bestmöglichen Text herzustellen und alle Lesarten in einem Apparat zu vereinigen. Das paßte in jene Zeit und zu den Texten der klassischen Philologie. Wir haben in der Goethe-Philologie Texte anderer Art vor uns, gesicherte Texte, so wie der Dichter sie selbst geschrieben hat. Dort handelte es sich darum, den Urtext herzustellen, hier geht es darum, die Texte mitzuteilen und ihre Geschichte deutlich zu machen. Wir haben die Möglichkeit genauer Handschriften-Abdrucke, wir können mehrere Fassungen hintereinander drucken, wir können in besondern Fällen ein Faksimile herstellen, denn die Technik gibt uns andere Möglichkeiten als in früheren Zeiten. Als die Weimarer Ausgabe gemacht wurde, waren die Handschriften gerade erst zugänglich geworden. 1885 starb der letzte Goethe-Enkel, das GoetheArchiv wurde gegründet, und schon 1887 erschien der 1. Gedicht-Band der Weimarer Ausgabe, bearbeitet von Gustav v. Loeper, der nicht Philologe, sondern Jurist war. Die Männer der Weimarer Ausgabe haben in kurzer Zeit die Fülle der Handschriften gesichtet, haben die mühsame Herstellung der Texte und der Lesarten durchgeführt und in großer Bescheidenheit nicht einmal ihre Namen auf die Titelblätter gesetzt. Sie haben diese Arbeit fast alle nebenberuflich geleistet und haben die große Ausgabe nicht nur begonnen, sondern auch zu Ende geführt. Ich finde diese Leistung für ihre Zeit bewundernswert. Das Methodische in ihr war für die damalige Lage der Forschung richtig und wurde folgerecht durchgeführt: Man druckte die Ausgabe letzter Hand nach, reinigte sie von Versehen und brachte alle Abweichungen in einen Lesartenteil. - Unsere Aufgabe heute scheint mir darüber hinauszugehen, und zwar gerade darum, weil die Weimarer Ausgabe da ist. Wir wollen heute bei den Gedichten, das, was Goethe 1777, 1789 und 1815 selbst zusammenstellte und was er immer wieder vor Augen hatte, nicht mehr im Lesartenapparat verschwinden lassen. Wir wollen es unmittelbar lesen können. Ein genauer Abdruck dieser Sammelhandschriften ist keine unabsehbare Arbeit. Im Vergleich zu den großen Lesarten-Apparaten ist dieser Abdruck verhältnismäßig leicht zu machen, freilich erfordert auch er eine sachgerechte Hand. 2 In keinem anderen Werk Goethes kommt es so sehr auf den Klang, auf jede feine Abtönung, jede Silbe an wie in der Lyrik. Gerade hier also wären genaue Abdrucke derjenigen Fassungen, die Goethe selbst schrieb und die er zur Hand hatte, von Wert. Ich glaube, die Goethe-Forschung in allen Ländern würde dafür dankbar sein. Es ist keineswegs so, daß die Goethe-Philologie in ihrem 2 Hierbei denke ich nicht an einen Abdruck innerhalb einer grofjen Goethe-Ausgabe, Sonden an einen gesonderten Druck, ähnlich wie die Weimarer Gedichtsammlung von 1777 als Band 23 der Sehr. Goe.-Ges. erschienen ist.

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Die Sammelhandschriften von Goethes Gedichten

jahrzehntelangen Fleiß schon alles Wichtige getan habe. Der Blick auf diese Handschriften zeigt, dafj es auch heute noch wesentliche Dinge gibt, welche eine Aufgabe für die Zukunft sind.

An den Grenzen des Goetheschen Werkes Zuschreibungen, Abschreibungen, Zweifelhaftes, unzureichend Ediertes

1. Goethesche Gedichte mit nicht-Goetheschen Überschriften Etwa ein Jahr nach Goethes Tode veröffentlichten Eckermann und Riemer im 7. Band der „Nachgelassenen Werke", 1833, in der von ihnen geschaffenen Gruppe „Zuschriften und Erinnerungsblätter" folgendes Gedicht: Art ein Weihnachts-Kind Daß Du zugleich mit dem heil'gen Christ An diesem Tage geboren bist. Und August auch, der werte, schlanke. Dafür ich Gott von Herzen danke. Dies gibt in tiefer Winterszeit Erwünschteste Gelegenheit, Mit einigem Zucker Dich zu grüßen, Abwesenheit mir zu versüßen. Der ich wie sonst in Sonnenlerne Im stillen liebe, leide, lerne.

Das Gedicht mußte für die Leser etwas rätselhaft sein. „Weihnachts-Kind" ist kein übliches Wort. 1 Man kann vermuten, daß es eine Analogiebildung zu „Sonntagskind" ist und jemanden meint, der zu Weihnachten geboren ist. In Vers 3 ist August anscheinend Goethes Sohn; das Gedicht ist also an jemanden gerichtet, der diesen kennt. Was es mit dem Gedicht auf sich hat, hat die Goethe-Forschung erst später herausgefunden. Es ist ein Gedicht an Frau v. Stein zu ihrem 73. Geburtstag am 25. Dezember 1815. Sie bekam an diesem Tage mancherlei Besuch, wahrscheinlich auch von ihren Enkelkindern, den Söhnen und Töchtern des Sohns Karl in Kochberg, und diese konnten eine ganze Menge Süßigkeiten verzehren. Goethe, 66jährig, schickte eine Sendung solcher Dinge hinüber. Damals hatte noch jede Landschaft ihr traditionelles Gebäck, und Goethe überraschte seine Weimarer Freunde mitunter, indem er etwas aus Frankfurt kommen ließ. Das Tagebuch notiert am 22. Dezember: kam das Zuckerwerk aus Frankfurt. Das also ist gemeint mit den Worten mit einigem Zucker Dich zu grüßen. Von diesen spielerisch-freundlichen Worten wandelt sich der Ton dann - sehr bezeichnend für Goethe - zu dem in die Tiefe gehenden klangvollen Schluß. Über dieses kleine Gedicht, dessen handschriftlicher Entwurf noch heute in Goethes Nachlaß liegt, gibt es etliche Stellen in den Briefen des Kanzlers v. Müller an Eckermann. 2 Die Briefe sind undatiert, aus dem Inhalt geht hervor, daß sie vor dem Erscheinen des 7. Bandes der „Nachgelassenen Schriften", 1 2

Dt. Wb. 14,1. Leipzig 1955. Sp. 724. Goethe- und Schiller-Archiv, Nachlaß Kanzler v. Müller, Fasz. 665.

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An den Grenzen des Goetheschen Werkes

1833, verfaßt sind. Kanzler v. Müller schreibt: „Die Überschrift ,An ein Weihnachts-Kind' rührt gar nicht von mir her. Sie muß, wo nicht von Ihnen selbst (was Ihnen wohl entfallen sein kann), doch von Riemern herrühren. Mir ist aber, als ob Sie solche selbst gewählt hätten. Von mir ist sie in keinem Falle, wie wohl ich sie ganz passend finde." In einem anderen Brief schreibt er: „Gestern abend hat sich bei Frau v. Goethe zufälligerweise entdeckt, daß das Gedicht, was jetzt ,An ein Weihnachts-Kind' überschrieben ist, in der Tat an Frau v. Stein gerichtet war. Das ist sehr schön und kann also bei der OktavAusgabe noch berücksichtigt werden?" Es wurde bei der Oktav-Ausgabe aber nicht berücksichtigt, es blieb, wie es war. Die Überschrift „An ein WeihnachtsKind" steht noch in Band 4 der Weimarer Ausgabe, 1891, und in Band 2 der Artemis-Ausgabe, 1953; und da die 18bändige Goethe-Ausgabe des Deutschen Taschenbuchverlags die Artemis-Ausgabe nachdruckt, steht sie noch in dieser Ausgabe des Jahres 1977. Die Handschriften im Weimarer Archiv haben keine Überschrift. (Der Entwurf und die an Frau v. Stein gesandte Reinschrift, die mit den an sie gerichteten Briefen 1896 in das Archiv gekommen ist). Im Jahre 1924 erschienen als Band 37 der „Schriften der Goethe-Gesellschaft" Gedichte Goethes an Frau v. Stein in Faksimile-Drucken. Dort kann man sehen, wie dieses Gedicht in der Handschrift aussieht. In einem anderen Brief schreibt Kanzler v. Müller an Eckermann: „Zu allen Gedichten an Personen sind, so weit man die Adressaten weiß, Überschriften zu machen, z. T. mit Hinzufügung von Bemerkungen ,mit einem Exemplar der Werke' usw." Dieser Gedanke war für die Leser von 1833 vermutlich richtig, nur hatte man leider damals noch nicht den Grundsatz, alle Hinzufügungen des Herausgebers in einer anderen Schriftart zu bringen, so daß sie sogleich kenntlich sind. Und es blieb keineswegs bei den Gedichten an Personen. In Band 7 der „Nachgelassenen Werke", 1833, druckten die Herausgeber das Gedicht Im ernsten Beinhaus war's. Goethe hatte es selbst schon publiziert, am Ende der Wanderjahre, 1829, weil die Gedichtbände der Ausgabe letzter Hand 1827 abgeschlossen waren. Goethe druckte das Gedicht ohne Überschrift. Eckermann und Riemer aber gaben ihm die Überschrift „Bei Betrachtung von Schillers Schädel". Sie wußten, daß das Gedicht 1826 entstanden war, als der Bürgermeister Karl Schwabe (zusammen mit zwei Ärzten und dem Totengräber, aber ohne Goethe) Schillers Schädel aus dem „Kassengewölbe" herausgesucht hatte. Bevor der Schädel mit den Gebeinen in der Fürstengruft beigesetzt wurde, befand er sich damals zeitweilig in Goethes Haus am Frauenplan, dann im Bibliotheksgebäude. Das Gedicht aber spricht überhaupt nicht von Schiller. Es spricht nur von einem besonders schönen charakteristischen Schädel. Es ist lokalisiert im Beinhaus, also einem Gebäude, wo die Knochen gesammelt liegen. Das lyrische Ich des Gedichts ist nur insofern gekennzeichnet, als es jemand ist, der sich mit der Form der Knochen und Schädel beschäftigt hat und sie morphologisch zu beurteilen versteht. Goethe rückt im Alter das lyrische Ich der Gedichte gern von sich ab. In dem Gedicht Um Mitternacht heißt es: Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne. Klein, kleiner Knabe, jenen Kirchhol hin. Zu Vaters Haus, des Plarrers Goethe war nicht der Sohn eines Pfarrers. Die fiktive Situation des Gedichts ist anders als die reale des Dichters. Das gilt auch für das Gedicht Im ernsten Bein-

Gedichte mit nicht-Goetheschen Überschriften

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haus war's. Die Eckermann-Riemersche Überschrift fügt von vornherein ein Element hinzu, das Goethe gerade heraushalten wollte. Als 1902 der erste Band der „Jubiläums-Ausgabe" erschien, gab Eduard v. d. Hellen dem Gedicht dort die Überschrift „Schillers Reliquien". Er glaubte es besser zu machen als Eckermann und Riemer, weil die Bezeichnung Die Reliquien Schillers in Goethes Brief an Zelter vom 24. Oktober 1827 vorkommt. Der übertriebene Biographismus der Zeit um 1900 bewirkte, daß er den Unterschied von Leben und Gedicht nicht erkannte und den Gedichttext als solchen nicht zu würdigen verstand. Einige Fehler der „Nachgelassenen Werke" wurden in der „Weimarer Ausgabe" berichtigt. In Band 16 der „Nachgelassenen Werke" veröffentlichten Eckermann und Riemer Nachlaß-Gedichte zum West-östlichen Divan und gaben ihnen von sich aus Überschriften. Diese Überschriften hat die „Weimarer Ausgabe" in ihrem Band 6, den Konrad Burdach 1888 herausgab, beseitigt, und alle anderen Ausgaben sind ihr darin gefolgt. Doch nicht alle Mitarbeiter der „Weimarer Ausgabe" waren so streng wie Burdach, und so sind in der „Weimarer Ausgabe" keineswegs alle Eckermann-Riemerschen Überschriften weggelassen. Im Folgenden werden jetzt eine Reihe Gedichte genannt, die vielfach mit Überschriften gedruckt sind, die nicht von Goethe stammen. (Die Aufzählung ist keineswegs vollständig, sondern nennt Gedichte, bei denen dieser Sachverhalt mit Hilfe von Handschriften eindeutig festzustellen ist.) Ein zärtlich-jugendlicher

Kummer...

setzt als Überschrift „Elegie".

Handschrift ohne Überschrift. Die WA

Der Vater ewig in Ruhe bleibt...

Von Eckermann und Riemer mit der Über-

An den Wurzeln

Von den Nachlaßherausgebern betitelt „Zu

schrift „Dreifaltigkeit" versehen (WA 5,1 S. 132 u. 5,2 S. 271 f.) heiliger

Eiche...

einem Ölgemälde". Vermutlich ist dieser Titel auch inhaltlich falsch. Den Anlaß gab wohl die getuschte Zeichnung Tischbeins in seinem Idyllen-Zyklus, welche eine einzelne Eiche auf einer kleinen Insel darstellt, rings von Wasser umgeben. (Studien zu Goethes Alterswerken, hrsg. v. E. Trunz, 1971, Abb. 11). Wo ich wohne... In der Handschrift ohne Überschrift. Die Überschrift „An Ottilien" stammt von den Herausgebern der WA. Es ist verständlich, daß die Gedichte, welche Goethe seinen Freunden und Bekannten sandte, keine Überschrift erhielten. Aber auch vieles andere hinterließ er ohne Überschrift. Nachträglich mit Überschriften versehen wurden von Eckermann, Riemer oder späteren Herausgebern: Du tanztest leicht... Freund, wer ein Lump ist... So soll die orthographische Nacht Du hast es lange genug getrieben ... Ein strenger Mann... Voß contra Stolberg ... Dem Dummen wird die Ilias zur Fibel... Herr Werner ein abstruser Dichter... Der Heiden-Kaiser Valerian ... Als an der Elb' ich die Watten ihm segnete... Du, schweige künftig nicht so lange... Wie schlimm es einem Freund ergangen...

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An den Grenzen des Goetheschen Werkes

Da das Ferne sicher ist... Frühlingsblüten sind vergangen ... Dicke Bücher, vieles Wissen... Ihrer sechzig hat die Stunde ... Zarter Blumen leicht Gewinde ... Eile, Freunden dies zu reichen ... Granit, gebildet, anerkannt... Erleuchtet aufyen hehr von Sonnengold... Sollen immer unsere Lieder ... Schroffe Felsen, weite Meere ... Die meisten dieser Gedichte sind an Personen gerichtet. Wenn man sie ohne Überschriften abdrucken würde, müßte der Leser zu jedem Gedicht im Kommentar nachlesen, an wen es gerichtet und wann es geschrieben ist. Es ist f ü r den Leser bequemer, er erfährt es sogleich durch die Überschrift. Die wird heute, wenn sie nicht von Goethe stammt, durch andere Schrift (meist kursiv) so deutlich von dem Goetheschen Text abgehoben, daß eine Verwechslung nicht möglich ist. Es gibt aber auch heute noch Ausgaben, welche diese Trennung in zwei Schriftarten nicht durchführen, denn sie erfordert textkritische Überprüfung jedes Worts, zumindest jeder Überschrift. Bei der Formulierung neuer Überschriften gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Gelegenheitsverse Wo ich wohne, zeigt die Melone hat Goethe am 20. Juni 1820 aus Jena an seine Schwiegertochter nach Weimar geschickt, mit einer Melone aus dem Botanischen Garten. Bei einer Überschrift „An Ottilie v. Goethe" kann sich der Leser denken, daß sie nicht von Goethe stammt. Doch die Weimarer Ausgabe schreibt in Band 4, 1891, „An Ottilien", also so, als habe Goethe es selbst formuliert. In diesen Dingen ist man seit der Weimarer Ausgabe philologisch strenger geworden. Als im Herbst 1832 die erste Ausgabe des Faust II gedruckt wurde, dichtete Riemer die Verse 9847 f. Den nicht zu dämpfenden Heiligen Sinn um in: Mit nicht zu dämpfendem Heiligem Sinn. Das brachte 1888 Erich Schmidt auf Grund der Handschriften in Ordnung. Als 1833 der vierte Teil von Dichtung und Wahrheit erschien, sahen Eckermann und Riemer, daß das Manuskript kein Motto hatte. Die gedruckten Teile 1 - 3 waren mit Motto-Sätzen versehen. Daraufhin wählten sie selbständig etwas, den Satz „Nemo contra deum, nisi deus ipse", der im Text des 20. Buches vorkommt. Dort paßt er hin. Als Motto des 4. Teils paßt er nicht. Erst 1964 entdeckte Siegfried Scheibe, daß dieses Motto gar nicht von Goethe stammt. 3 Eckermann glaubte auch, dem Text des 4. Teils an vielen Stellen stilistisch nachhelfen zu müssen. Im Jahre 1959 hat Lieselotte Blumenthal erstmalig die originale Goethesche Fassung dieses Teils zum Abdruck gebracht (Hbg. Ausg., 3 Siegfried Scheibe, „Nemo contra deum . . . " Goethes Motto zum 4. Teil von „Dichtung und Wahrheit"? (Jb.) Goethe 26, 1964, S. 320-324.

Ungedruckte Goethesche Notizen

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Bd. 10), 1970 tat es Siegfried Scheibe in der Akademie-Ausgabe. - Die vielen von Eckermann und seinen Mitarbeitern verfaßten Gedicht-Titel und AufsatzTitel haben aber auch heute noch ein zähes Dasein.

2. Ungedruckte Goethesche Notizen Um mich über Goethes Kunstankäufe zu orientieren, sah ich einmal die vielen Mappen mit quittierten Rechnungen durch. Da fand ich bei dem Auftrag für die Leipziger Kupferstich-Auktion vom 14. Mai 1818 ein Notiz-Zettelchen, das sich dorthin verirrt hatte (Archiv-Kasten 338). Es ist ein kleines Blatt, 9,7 X 16,0 cm groß. Goethe hat es eigenhändig geschrieben, in der Art, wie er sich Notizen machte: Entwicklungs Anstos auf besondere Theile Füße der Gänse. Langsames Nachwachsen der Gänseflügel. Gestopft beym Straus in der Folge und befestigt. Das ist eine morphologische Beobachtung. Bei jungen Tieren entwickeln sich manche Körperteile besonders rasch, so bei den Gänsen die Füße. Die Flügel wachsen dann langsamer, aber sie wachsen ebenfalls zu der proportionierten Größe eines Vogelflügels. Dieses Wachstum der Flügel ist bei dem Strauß gestoppt, Goethe schreibt: gestopft. Das hochdeutsche Wort „stopfen" und das entsprechende niederdeutsche „stoppen" hatten ursprünglich beide die Bedeutung „etwas dicht machen, eine Öffnung schließen" und zugleich die Bedeutung „eine Bewegung aufhalten" (Dt. Wb„ Bd. 10,3 Sp. 319 und 353). Im 19. Jahrhundert wurde dann im hochdeutschen Sprachgebiet das niederdeutsche „stoppen" übernommen, aber nur in der Bedeutung „eine Bewegung zum Stehen bringen". Dadurch verschwand diese Bedeutung nun bei dem Wort „stopfen". Bei Goethe ist sie noch vorhanden. Beim Strauß ist es im ausgewachsenen Zustand so wie bei den Gänsen, so lange sie Küken sind: die Füße und Beine sind groß, die Flügel sind klein. Der Entwicklungs-Anstoß ist also gestoppt, und dieser Zustand ist befestigt. Und noch ein zweites kleines Beispiel. In einem Archiv-Kasten, der „Varia" enthält, also Verschiedenes, was ohne bestimmte Ordnung überliefert ist und sich sachlich anderswo nicht einordnen ließ (Varia 1,1,7), steht auf einem Zettel folgende Goethesche Notiz: Schälke. Nicht von dem wo von die Rede ist sondern von was andrem allenfalls ähnlichen zu sprechen. Goethe benutzt das Wort Schalk in anderer Bedeutung als wir es heute tun; man denke z. B. an die Stelle Faust 338 f. Von allen Geistern, die verneinen, Ist mir der Schalk am wenigstens zur Last.

Das Wort kommt im Faust auch sonst noch vor (4885, 5792, 6600, 6885, 9652). 4 Nachdem die Weimarer Ausgabe 1918 abgeschlossen war, sind noch mancherlei kleine Texte ans Licht gekommen, z. B. ein Abschnitt, den Goethe unter ein fremdes Manuskript geschrieben hatte und der also in derjenigen Abteilung 4 Momme Mommsen, Der „Schalk" in den „Guten Weibern" und in „Faust". (Jb.) Goethe 14/15. S. 171-202.

An den Grenzen des Goetheschen Werkes

seiner Handschriften-Sammlung lag, die er selbst als Fremd Literarisches bezeichnet hatte und wo die Gelehrten zunächst nicht gesucht hatten. Dieser kleine Text ist von Julius Wahle im Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 14, 1928, S. 100 abgedruckt, innerhalb eines Aufsatzes „Aus dem Goethe- und SchillerArchiv". Kleine Text-Nachträge dieser Art werden später leicht vergessen, auch wenn sie in der Goethe-Bibliographie von Pyritz, Bd. 1, 1965, S. 67 verzeichnet sind. Dergleichen Kleinigkeiten tauchen also auch heute noch auf. Sie ändern das Bild in keiner Weise. Funde größerer Art gibt es heute wohl kaum. Der „Urfaust", 1887, und der „Ur-Meister", 1910, waren die letzten. Am ehesten kommt noch einmal ein unbekannter Brief zutage, wie der bedeutsame Brief an Wilhelm v. Humboldt vom 22. August 1806, den Andreas Flitner 1965 im Jahrbuch „Goethe", Band 27, veröffentlicht hat.

3. Ein Fragment ist kein Gedicht, und ein Fragment ist kein Aufsatz In der Weimarer Ausgabe, Bd. 5,1 (1893), steht S. 39 folgendes Gedicht: Mein Blick war aut den Himmel hingerichtet. Der aus den Augen quoll, den schwarzen, guten. Da klang's: Nicht hab' ich sie, sie haben mich gedichtet; Sie mögen sich entschulden oder leiden! Dieser Text ist in zahlreiche andere Ausgaben übernommen. Es bedarf keiner großen Kennerschaft, um zu bemerken, daß hier etwas nicht stimmt. Der Satz Nicht hab' ich sie... schließt nicht an das an, was davor steht. Und eben an dieser Stelle ist die Form des Fünftakters aufgegeben, und zwar ohne ersichtlichen Grund. Es ist ein Vierzeiler, in welchem Vers 1 und 3 reimen. Goethe läßt oft in Vierzeilern nur 2 Verse reimen, es sind aber immer 2 und 4. Wenn man solche Unstimmigkeiten entdeckt, ist es sachgemäß, auf die Handschrift zurückzugehen. Die Weimarer Ausgabe ist in Weimar gemacht. Handschriften, die nicht in Weimar waren, lagen mitunter nur in fehlerhaften Abschriften vor. Die Handschrift dieser Verse liegt im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt a. M. Sie zeigt: Das Ganze ist nicht ein Vierzeiler, sondern es sind 2 Fragmente eines nicht vollendeten Gedichts. Das erste Fragment sind die Zeilen: Mein Blick war aui den Himmel hingerichtet Der aus den Augen quoll den schwarzen Guten Da klangs Danach ist ein Stück freigelassen. Dann folgt: Nicht hab ich sie sie haben mich gedichtet Sie mögen mich entschulden oder leiden Die Handschrift hat - wie Goethesche erste Entwürfe oft - keine Interpunktion. Der Dichter blickt auf eine geliebte Frau. Dann sagt sie etwas. Hier bricht das Fragment ab. Aus dem, was später folgt, kann man erraten, wovon sie spricht; denn das spätere sie bezieht sich auf des Dichters Werke. Von denen spricht sie. Dann kommt die Antwort des Dichters. Die Form des fünftaktigen Verses wird

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Ein Fragment ist kein Gedicht

durchgehalten; der in sich so vollendete Satz Nicht hab' ich sie, sie haben mich gedichtet füllt genau einen Vers. Der fehlerhafte Abdruck hat sowohl den Inhalt als auch die Form verwirrt. Aus dem Vorhandenen läßt sich nicht erschließen, wieviel noch fehlt. - Das- Überkommene ist also ein Fragment. Nach heutigen Begriffen darf man es nur so drucken, wie es handschriftlich überliefert ist. Jeder Versuch, etwas Fertiges daraus zu machen, geht fehl. Ein Fragment ist kein Gedicht. Was für Vers-Fragmente gilt, das gilt auch für Prosa-Fragmente. Wir wollen sie so lesen, wie Goethe sie hinterlassen hat, nicht anders. Wir kennen sie heute aber vielfach nur anders, weil sie immer noch so gedruckt werden, wie Eckermann sie 1833 zum Druck gebracht hat. Eckermann begann sofort nach Goethes Tode die Edition der „Nachgelassenen Werke". Er wollte bis zum Ende des Jahres 1833 15 Bände erscheinen lassen, jedeji Band zu etwa 400 Seiten. Er rechnete für jeden Band mit einer Arbeit von etwa 6 Wochen. Diese Zeit war für gründliche Arbeit viel zu knapp. Es war sehr viel Handschriftliches durchzusehn, sehr viel abzuschreiben. Eckermann hat tatsächlich bis zum Ende des Jahres 1833 die 15 Bände herausgebracht. Daß dabei vieles nur sehr flüchtig gearbeitet war, ist verständlich. Die Bände sollten möglichst ähnlich im Umfang sein, andererseits sollte jeder Band sein besonderes Thema haben. Band 4 heißt einfach „Kunst". Bei der Vorbereitung schrieb Eckermann am 8. September 1832 an Kanzler v. Müller: „Der 4. Band, die Aufsätze über Kunst .enthaltend, hat mir viel Mühe gemacht, denn es fand sich am Ende, daß nicht Manuskript genug da war." Er schreibt, daß er die mit Meyer gemeinsam verfaßten Arbeiten nicht habe nehmen können, wohl aber den Aufsatz über Polygnot. „Auch unter den Manuskripten über Kunst in Goethes Archiv habe ich mich umgesehn und auch noch für diesen Band zwei kleine aber gute Sachen gefunden, nämlich einige treffliche Seiten Aphorismen über Kunst und die Beurteilung eines Bildes von Rembrandt." (H. H. Houben, Eckermann. Bd. 2. Leipzig 1928. S. 19 f.) Er hat aber dann in den Band 4 noch mehr aus dem Nachlaß hineingenommen, nicht nur die Reihe von Aphorismen (die später in die Maximen und Reflexionen kamen) und den Aufsatz Rembrandt als Denker, sondern auch noch anderes. Im Nachlaß lag ein Manuskript, das noch heute vorhanden ist. Es ist ein Fragment, von Goethe an Schuchardt diktiert. Der erste Abschnitt spricht davon, daß Goethe die bildenden Künstler aul einiges Vorteilhafte hinweisen w o l l e . E r f ä h r t f o r t : Ein

Niederländer

z. B. würde

aus

vorstehendem

Gedicht

ein gar anmutiges Bild zu entwickeln wissen. Das Fragment bezieht sich also auf ein Gedicht. Doch wir wissen nicht, welche Dichtung gemeint ist. Anscheinend fehlt der Anfang, der vielleicht später diktiert werden sollte. Dann folgt der Vorschlag, unter weltlichen Themen die an der Wand horchende Thisbe zu malen, unter geistlichen Themen die Szene, wie Christus über das Meer wandelnd dem sinkenden Petrus zu Hilfe kommt. Danach bricht das Fragment ab. Eckermann gab ihm den Titel „Zu malende Gegenstände", strich den Hinweis auf das vorstehende Gedicht heraus, glättete einige Stellen stilistisch und druckte das, was er so zurechtgemacht hatte, als Aufsatz. Der Leser, der dies als Aufsatz sah, konnte leicht zu der Meinung kommen, im Vergleich zu Goethes früheren Aufsätzen sei dies doch ein Abstieg, ein greisenhaftes Versagen. Es ist schwer zu sagen, wie viel von den negativen

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An den Grenzen des Goetheschen Werkes

Urteilen über Goethes Alterswerke im 19. Jahrhundert aus der Enttäuschung über solche Arbeiten entstand, die als Aufsätze erschienen und im Grunde keine waren. Was Goethe diktiert hatte, war ein Fragment, ein erster Entwurf, in dieser Form nicht für den Druck gedacht. Wenn wir einen solchen Text heute drucken, müssen wir mitteilen, daß er ein Fragment ist. Eckermann machte seine Ausgabe für die Leser von 1833. Wir haben heute andere Wünsche an eine Edition: wir wollen Goethes Text, so wie er überliefert ist, ohne Eckermanns Streichungen, ohne Eckermanns Überarbeitung, ohne Eckermanns Titel. Also nicht ein Titel „Zu malende Gegenstände", so gedruckt, als sei er von Goethe, sondern ein Titel „Fragment aus dem Nachlaß (von Eckermann benannt ,Zu malende Gegenstände')", so gedruckt, daß er sofort durch die Schriftart als Zutat des Philologen deutlich ist. Das ist, wenn man die Handschrift vor Augen hat, nicht schwer herzustellen. Es sind mitunter nur die Titel und einige Sätze im Text, die gegenüber den bisherigen Ausgaben zu ändern sind, doch diese wenigen Stellen verändern den Eindruck für den Leser entscheidend.

4. Ein sehr zweifelhafter Aufsatz Im Goethe- und Schiller-Archiv befindet sich ein Aufsatz ohne Überschrift, der davon handelt, daß man in den Teilen Polens, welche durch die Teilungen an Preußen und Österreich gekommen waren, die deutschen Sprachkenntnisse erweitern könnte, wenn man Theatergruppen spielen lasse, die Szenen in einfacher deutscher Sprache vorführen. Der Aufsatz hat stellenweise Korrekturen Goethes. Ich halte ihn für die Arbeit eines Mannes, dem Goethe einen Gefallen tun wollte und dem er den Aufsatz durchkorrigiert hat. Als Bernhard Suphan den Aufsatz fand, hielt er ihn wegen der Korrekturen für eirien Aufsatz Goethes. Er veröffentlichte ihn im Goethe-Jahrbuch 13, 1892. Daraufhin wurde er in die Weimarer Ausgabe Bd. 42,2 S. 18-23 aufgenommen. Von dort ging er in andere neuere Goethe-Ausgaben über. Er hat dort den von Eckermann stammenden Titel „Vorschlag zur Einführung der deutschen Sprache in Polen", der das Thema nicht zutreffend benennt. 5 Es gibt im Goethe-Archiv nicht nur die Urschrift des Aufsatzes, sondern auch Abschriften von Eckermann, Kräuter und Schuchardt. Diese sind offenbar nach Goethes Tode hergestellt, als Eckermann mit Hilfe dieser Mitarbeiter in Eile das Manuskript für 15 Nachlaßbände zusammenstellte. Von diesen kamen drei im Jahre 1832 heraus, zwölf im Jahre 1833. Da gab es viel zu schreiben. Zunächst schrieben sie Manuskripte aus dem Nachlaß ab, um alles übersichtlich beieinander zu haben, dann wurde die Reihenfolge festgelegt und die Druckvorlage abgesandt. So sind viele Manuskripte an Cotta gegangen, dieses aber nicht. Vielleicht deswegen, weil Eckermann und seinen Mitarbeitern Zweifel gekommen waren, ob der Aufsatz von Goethe sei. Der Aufsatz ist wohl nach der 2. Teilung Polens 1793 oder nach der 3. Tei5 Wenn man den Aufsatz kennenlernen will, ist der Text im Goethe-Jahrbuch 1892 vorzuziehn: Hier ist der Aufsatz ohne Goethes Korrekturen - nur mit seinen Zusätzen - abgedruckt. Der Text in der Weimarer Ausgabe enthält schon Goethes Korrekturen und mildert dadurch die Härten des Urtextes etwas ab. Man mufj sich die Urfassung dort aus den Lesarten heraussuchen.

Ein sehr zweifelhafter Aufsatz

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lung 1795 entstanden. Damals erhielten Preußen und Österreich große Teile von Polen. Von dieser Situation geht der Aufsatz aus. Er übt an den Methoden des Territorialfürstentums keinerlei Kritik. Ein fremder Fürst hat das Land übernommen. Der größte Teil der Bevölkerung beherrscht die Sprache dieses Fürsten und seiner Beamten nicht. Für beide Teile wäre es vorteilhaft, wenn breitere Kreise deutsche Sprachkenntnisse hätten. Nun kommt der Vorschlag des Autors: „Man errichte mehrere herumziehende Theater-Gesellschaften, in solcher Anzahl, daß sie des Jahres einigemal an jedem Hauptort kurze Zeit spielen können. Es müßte ihnen durchaus untersagt sein, irgend eine Art von vorhandenem Schauspiel zu geben. Ihnen würde von höchster Behörde eine Sammlung von Dialogen, oder wenn man will, kleiner Stücke überliefert, auf welche sie sämtlich verpflichtet würden, diese wären in der Art geschrieben wie die Gespräche in den Grammatiken und enthielten alles, was gewöhnlich im Leben jenes Volkes vorkommt, in reiner fließender deutscher Sprache. Was die Imagination, was die Leidenschaft anspricht, würde vermieden, alle sentimentalen Äußerungen und Zwecke nicht weniger. Nur die realen Äußerungen der Sittlichkeit würden dargestellt und ausgesprochen. Man sähe die mittlere und geringe Klasse von Morgen bis Abend, von der Kindheit bis zum Alter, in den gewöhnlichsten Zuständen, denen niemand ausweicht, und mit Sorgfalt würden diejenigen Ausdrücke, deren man sich im gemeinen Leben am öftersten bedient, angebracht und nützlich gestellt." Dieser Vorschlag wird im Folgenden dann näher ausgeführt. Der Aufsatz hat einen Umfang von ungefähr 5 Druckseiten. Suphans Vermutung, der Aufsatz sei von Goethe, stützt sich auf zweierlei: 1. Der Aufsatz lag unter Goethes Papieren. 2. Der Aufsatz hat Goethesche Korrekturen. Dem kann man entgegenhalten: Goethe erhielt von sehr vielen Menschen Manuskripte überreicht oder zugeschickt. Er bewahrte sie auf. Das ergab eine große Gruppe, die er Fremd Literarisches nannte im Gegensatz zu der Gruppe Eigen Literarisches. In dieser Gruppe gibt es Manuskripte verschiedenster Art. 6 Auch die Goetheschen Korrekturen sind kein zwingender Beweis. Goethe hat auch fremde Arbeiten durchkorrigiert, z. B. liegt in der Gruppe Fremd Literarisches ein Aufsatz des Geologen Johann Jakob Ferber über eine Reise von Warschau nach Krakau, der Goethesche Korrekturen hat. Dem Schriftsteller Elsholtz versah Goethe sein Manuskript des Dramas „Die Hofdame" mit Korrekturen und sandte es an Elsholtz zurück. Bekanntlich korrigierte Goethe in Manuskripten von Heinrich Meyer, Schiller, Knebel, Amalie v. Imhoff usw. Ein typisches Beispiel sind Goethes Korrekturen zu Gedichten von Julie v. Bechtolsheim (GJb. 15, 1894, S. 248 ff. - WA Briefe 29, S. 115 u. 356). 0 Als Beispiele seien genannt: Übersetzung von Liedern Celakovskys; Gedichte von Moritz Eckart; Franz v. Elsholtz, Die Hofdame; Aloys Felinski, Barbara Radziwill, Drama aus dem Polnischen übersetzt; Ludwig Kropinski, Luitgarde, Trauerspiel; Leopold Schmeicher, Panthesilea, Drama; Johann Jacob Ferber, Beschreibung einer Reise von Warschau nach Krakau; Ernst Schwabe, Bericht über die Auffindung einer mineralogischen Quelle bei Ilmenau 1784; anonym. Von der wahren Beschaffenheit des Thüringischen Geleits; Carl Egon Ebert, Gedichte; Prinz Johann von Sachsen, Gedichte; Joseph Sebastian Grüner, Über die ältesten Sitten und Gebräuche der Egerländer; anonym, Klytemnaestra, Trauerspiel; Lenz, Pandaemonium Germanicum usw.

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An den Grenzen des Goetheschen Werkes

Aus folgenden Ursachen glaube ich nicht an Goethes Autorschaft: 1. Der Aufsatz zeigt eine Handschrift, die unter Goethes Schreibern niemals vorkommt. Die Goetheforschung kennt alle Schreiber, denen Goethe diktiert hat, in Weimar, in Jena und auf Reisen. Es gibt ein eigenes Buch darüber. 7 Die Handschrift dieses Aufsatzes kommt in Goethes Umkreis nicht vor. Goethe hatte seine gewohnte Art, auf Folioseiten mit viel Raum für Korrekturen zu diktieren. Das Format dieses Manuskripts und der schmale geknickte Rand kommen bei Goethe nicht vor. 2. Der Aufsatz schließt inhaltlich an nichts anderes in Goethes Werken an. Diese bilden aber. einen großen Zusammenhang, und trotz der Vielfalt kann man immer erkennen, wie eins mit dem andern verbunden ist. Goethe hat sich mit dem ihm eigenen Weitblick auch für Polen interessiert, für die Menschen, die Literatur, die Bodenbeschaffenheit, die Wirtschaft. Die Register zu den 4 Abteilungen der Weimarer Ausgabe weisen alle Stellen nach, an denen Polen vorkommt. Doch nichts, gar nichts weist in die Richtung dieses Aufsatzes. 8 3. In dem Aufsatz steht der Satz „So hat man in Schriften und auch neuerlich in dieser Zeitung die Frage aufgeworfen, auf welche Weise wohl der Polnischen Nation die deutsche Sprache einzuimpfen sein möge?" Der Aufsatz ist also für eine „Zeitung" bestimmt. Für welche „Zeitung" schrieb Goethe in den Jahren 1793-1806? Für die Jenaische „Allgemeine Literatur-Zeitung" und - falls man das Wort allgemein auslegen will - für Wielands „Neuen teutschen Merkur". Beide behandeln, soweit ich sehe, dieses Thema nicht. Für die „Allgemeine Zeitung", die in Tübingen bei Cotta erschien, hat Goethe nur Weimarer TheaterBerichte geliefert (Goedeke 4,3,3 S. 355). Gedacht ist in dem Text wohl an eine Zeitung in Preußen oder Österreich, welche Fragen der neuerworbenen Gebiete behandelte. 4. Der Aufsatz ist bei Goethe nirgendwo erwähnt. Goethe pflegt seine Arbeiten meist irgendwo zu nennen. Auch in dem Verzeichnis der Goetheschen Manuskripte, das Kräuter 1822 sorgfältig angelegt hat, kommt der Aufsatz nicht vor. 5. In der Art des Gedankengangs läßt der Aufsatz nichts von Goetheschem Geist erkennen. Er beginnt: „Wenn man ein Land zu erobern gedenkt, so nimmt man keinen Anstand, Truppen marschieren zu lassen, man ruckt in die Provinzen ein, verzehrt, was man vor sich findet, verwüstet gelegentlich ein paar Dörfer und verbrennt eine Stadt, wie es Gebrauch und Notdurft des Krieges mit sich bringt, und mehrere tausend Menschen kostet es das Leben, ohne daß man deshalb viel Wesens macht." Dann wird der Vorschlag mit den Schauspielen erörtert. Am Schluß heißt es: „Man erinnere sich unseres vom Kriege hergenommenen Gleichnisses!" Der Anfang (Goethe pflegt nicht mit solchen Brutalitäten zu beginnen) soll also ein „Gleichnis" sein, um zu zeigen, daß ein Fürst planmäßig handelt. Es gibt bei Goethe viele Gleichnisse, aber so, daß man sogleich merkt, daß es Gleichnisse sind, nicht so, daß es nach 5 Seiten 7 C. A. H. Burkhardt, Zur Kenntnis der Goethe-Handschriften. Wien 1899. Verlag des Wiener Goethe-Vereins. (Zahlreiche Facsimiles und 51 Kurzbiographien von Goethes Schreibern.) Ursprünglich in Fortsetzungen in der Chronik des Wiener Goethe-Vereins 10-12, 1896-1898. 8 Dazu auch: Julius v. Twardowski, Goethe und Polen, Polen und Goethe. Jb. Goe.-Ges. 19, 1933, S. 142-166. - Weitere Lit. nennt: Goethe-Bibliogr., begr. von H. Pyritz, Bd. 1, 1965, S. 264 f. - Goedeke, Grundriß, Bd. 4,5. Berlin 1960. S. 292-294.

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gesagt werden muß. Preußen war 1793 gewaltsam in Polen einmarschiert und hatte die mit Rußland ausgehandelten Gebiete besetzt. 1794 brach ein Aufstand aus. Im Juni 1794 drang das preußische Heer im Kampf in Polen ein und rückte bis vor Warschau. Die Unterwerfung Polens geschah dann aber durch die Russen, die unter General Suwarow einmarschierten. In der dann folgenden 3. Teilung erhielten Preußen und Österreich nochmals polnische Gebiete. Das waren Tatsachen. Goethe pflegte, wenn er kulturelle Zustände schilderte, die politischen Tatsachen vorauszusetzen und mehr oder weniger ausführlich zu schildern. Viele seiner Werke, insbesondere Dichtung und Wahrheit, zeigen Beispiele dafür. Hier aber wird nicht geschildert, was geschehen ist und wie der Zustand ist, sondern es wird ein „Gleichnis" gebracht: Wie ein Fürst militärisch Truppen ins Land schickt, so kann er dann auch Theatertruppen ins Land schicken. Die Goethesche Art, dergleichen zu behandeln, ist anders: Er erläutert den Zustand, geht dazu über, wie man aus den Gegebenheiten - wie immer sie gekommen sind - das Beste machen kann, berücksichtigt die Denkweise der Menschen und versucht, etwas anzuschließen, was organisch wachsen könnte. Weil Goethe so zu denken pflegt, schreibt er dementsprechend, d. h. mit organischen Übergängen. Diese fehlen hier. Anstatt Zustandsschilderung steht ein „Gleichnis", statt Weiterführung folgt der gewaltsame Sprung „Zur Sache". 6. Auch inhaltlich paßt der Aufsatz nicht in Goethes Werke. Der Verfasser erörtert die Theateraufführungen als „außerordentliches Mittel". 9 Solche gewaltsame Belehrung gibt es aber bei Goethe nicht. Er hat die Möglichkeiten und Aufgaben des Theaters in vielfacher Weise erörtert. In den Lehrjahren kommen Volkstheater, Puppenspiel, Wanderbühne, Liebhabertheater, geistliches Schauspiel, Hoftheater, Stegreifspiel usw. vor, er hat alle Funktionen des Theaters mehr oder minder ausführlich erwähnt, nichts aber erinnert irgendwie an die Ideen dieses Aufsatzes. Der Aufsatz schreibt genau vor: „Was die Imagination, was die Leidenschaft anspricht, würde vermieden, alle sentimentale Äußerungen und Zwecke nicht weniger." Die „sentimentalen Äußerungen" sind gefühlvolle Äußerungen. Theater, das keine Gefühle ausspricht und keine Gefühle erregt. 9 Er spricht von einem „zwar nicht gewaltsamen, aber doch vielleicht seltsam scheinenden Vorschlag", er schlage für „außerordentliche Fälle" hier „außerordentliche Mittel" vor. So außerordentlich, wie er meint, ist das Mittel aber nicht. Die Zeitschrift „Deutsches Museum" bringt im Jahrgang 1787 (also 15 Jahre nach der 1. Teilung Polens) in Band 1 in der Abteilung „Aphorismen zur allgemeinen Kunde der gesamten Kaiserlichen Staaten" auf S. 196 folgende Notiz: „Galizien. Zu Bochnia haben einige der Beamten vom königlichen Kreisamte und von den Salinen eine kleine Summe zusammengelegt und dem Direktor der Kreisschule, Herrn August Hoppe, die Errichtung eines Kindertheaters überlassen. Schon haben die Knaben, meistens Galizier, die vor einem Jahre kaum ein einzig deutsches Wort sprechen konnten, von gedachtem Direktor vorbereitet, verschiedene Stücke aufgeführt, die man aus des Herrn Weiße .Kinderfreund' wählte, so daß ihnen durchreisende Fremde, unter welchen auch der K. K. Hofrat von Kees und der wirkliche K. K. Kämmerer Graf von Trautmannsdorf waren, ihren vollkommenen Beifall schenkten. Monatlich wird nur einmal gespielt, um den ordentlichen Unterricht in den Schulen nicht zu oft zu unterbrechen. Die Stücke werden für Geld aufgeführt, und die Einnahme ist als ein Almosen für arme Schulkinder bestimmt, wofür ihnen die nötigen Schulbücher und Kleidungsstücke angeschafft werden." Dasselbe wörtlich übereinstimmend in: Ephemeriden der Litteratur und des Theaters. Bd. 5, Stück 15, 14. April 1787. S. 224. - Diese beiden Stellen wurden mir genannt durch Herrn Dr. Oscar Fambach und Herrn Dr. Günter Schulz, denen ich dafür herzlichen Dank sage.

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das die „Imagination" nicht „anspricht" - ist das nicht sehr theoretisch erdacht? Wo gibt es dergleichen in Goethes geistiger Welt? Goethe als Weimarer Theaterpraktiker wußte, daß das Theater die Zuschauer ansprechen muß, dazu gehören Gefühl und Phantasie. Hier aber sollen diese ferngehalten werden. Goethe hat die pädagogischen Möglichkeiten des Theaters gekannt, gerade auch f ü r den Sprachunterricht. Er beschreibt im 3. Buch von Dichtung und. Wahrheit, wie er durch das französische Theater in Frankfurt und durch einen französischen Knaben die französische Sprache lernte. Er kannte auch die Sprachprobleme, die durch das Territorialfürstentum bestanden, aus dem Elsaß. Er hatte in Straßburg studiert. Im Elsaß sprach man deutsch; aber alle Männer, die mit der französischen Verwaltung zu tun hatten, sprachen auch gut französisch; breite Kreise des Volkes sprachen so viel französisch, daß es für die Verständigung im täglichen Leben genügte. So hatte man sich 100 Jahre nach der Eroberung arrangiert. Nichts von diesen Erfahrungen Goethes, die in Dichtung und Wahrheit nachklingen, kommt in dem Aufsatz vor. 7. Stilistisch klingt der Aufsatz nicht wie Goethesche Prosa. „So hat man in Schriften und auch neuerlich in dieser Zeitung die Frage aufgeworfen, auf welche Weise wohl der polnischen Nation die deutsche Sprache einzuimpfen sein möge? und sind dabei die Schwierigkeiten der Operation auf dem gewöhnlichen pädagogischen Wege nicht verborgen geblieben." Diese Inversion „und sind" entspricht nicht Goethes Satzbau. Inhaltlich setzt dieser Satz voraus, daß der Verfasser das, was dort „auf dem gewöhnlichen pädagogischen Wege" geschehen ist, aus Erfahrung kennt. Goethe kannte es aber nicht. Nachdem das Gleichnis des Krieges gebracht ist, folgt unvermittelt der Satz „Also zur Sache", dann der Vorschlag „Man errichte mehrere herumziehende Theatergesellschaften . .." Goethe ist der Meister organischer Zusammenhänge und also fließender Übergänge, in denen eins aus dem anderen folgt. In diesem Falle wäre es so leicht gewesen, die Schwierigkeiten des besetzten Landes zu erwähnen und überzugehn zu den kulturellen Möglichkeiten als Mitteln der Annäherung. Doch ein solcher Übergang ist hier nicht versucht. Deshalb das harte „Also zur Sache". Es gibt bei Goethe gelegentlich, aber selten, die Wendung Zur Sache (WA 47 S. 193,24; 49,1 S. 236,19), aber in anderer Fügung. - Sodann der Satz „mit Sorgfalt würden diejenigen Ausdrücke, deren man sich im gemeinen Leben am öftersten bedient, angebracht und nützlich gestellt". Dieses ungeschickte „nützlich gestellt" ist nicht Goethes Sprechweise. Auch die Zusammenstellung „sentimentale Äußerungen und Zwecke" klingt nicht nach Goethe. Und dann ein Satzungeheuer, wie Goethe es auch im Diktat nicht zu gebrauchen pflegte: „Haben nicht die Jesuiten, die gewiß wußten, wie man Menschen behandeln muß, das Schauspiel mit in den Plan ihrer Erziehung aufgenommen, verschmäht die neuere Pädagogik keineswegs die Einwirkung dramatischer Darstellung, haben wir Deutsche für Kinder eigens eingerichtete kleine Stücke, ist durch das Sprüchwortspiel unsre Sozietät nicht immer zum Dramatisieren aufgerufen, haben Sprüchwörter nicht den Franzosen Gelegenheit zu den anmutigsten Scherzen gegeben, mag man in großen und kleinen Städten selbst neben wohl eingerichteten öffentlichen Bühnen sich auf Privattheatern immer üben und zeigen; warum sollte man einen so wirksamen Hebel nicht auch da gebrauchen, wo er, und vielleicht allein, so viel in kurzer Zeit zu würken im Stande ist." Goethe pflegte Sätze nicht so aneinander zu reihen, auch nicht, wenn er den

Ein sehr zweifelhafter Aufsatz

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Entwurf diktierte. Wenn er aber ungeschickte lange Perioden diktierte, dann verbesserte er diese später. Hier aber hat er nicht verbessert. Und damit komme ich zu dem letzten Punkt: 8. Goethes Korrekturen sind nicht so, wie er eigene Aufsätze zu korrigieren pflegte, sondern so, wie er fremde Aufsätze korrigierte und ergänzte. Eigene Arbeiten korrigierte Goethe so, daß er das schon Gesagte noch genauer und flüssiger herausarbeitete und den Stil verbesserte. Bei fremden Aufsätzen gab es Dinge, die nicht zu ändern waren, ohne das Ganze neu zu schreiben. Er beschränkte sich auf Einzelheiten und fügte Ausblicke hinzu, welche dann wie die Glanzlichter im Bilde wirken. In diesem Aufsatz hat er den Stil an vielen Stellen nicht verbessert. Er streicht einige Sätze, z. B. im Anfang „und mehrere tausend Menschen kostet es das Leben, ohne daß man deshalb viel Wesens macht". Er fügt am Ende einen Satz hinzu. Ich gebe im Folgenden den Schluß des Aufsatzes, und zwar die Goetheschen eigenhändigen Zutaten in Kursivschrift: „Will man aber unserem Vorschlag alle Ausführbarkeit absprechen, so betrachte man ihn auch als Gleichnis, das weiter deuten und zu fernerem (statt: tieferem) Nachdenken Anlaß geben mag, wie die Kunst, wenn sie erst in ihrer Tieie, Fülle und Gewandtheit bestünde und anerkannt würde, sich willig und geistreich zu großen und würdigen äußeren Zwecken hergeben könnte und dabei iür sich zugleich unendlich gewinnen müßte." Die Goetheschen Zusätze beziehen sich nicht auf das spezielle Thema des Aufsatzes, sondern sind allgemeiner Art. Der Schluß weist in den Fragenkreis der Kunst überhaupt und öffnet dadurch einen weiten Ausblick. Goethe hat auch bei Aufsätzen von Heinrich Meyer solche Ausblicke am Schluß hinzugefügt. Aus den genannten Gründen nehme ich an, daß der Aufsatz nicht von Goethe stammt. Er ist aber vermutlich in Thüringen geschrieben. Das Papier stammt wohl aus einer thüringischen Papiermühle. Der Schreiber schreibt das mehrfach vorkommende Wort „Dialoge" richtig mit Ausnahme der ersten Stelle, wo er „Thialogen" schreibt, aber selbst in „Dialogen" verbessert. - Als Entstehungszeit kommt meines Erachtens die Zeit nach der 2. polnischen Teilung 1793 bis zum Tilsiter Frieden 1807 in Frage. 10 Suphan bezeichnete den Aufsatz als einen „publizistischen Versuch Goethes". Das könnte man sagen, wenn er von Goethe publiziert wäre. Eben das ist aber 10 In der „Jubiläums-Ausgabe", Bd. 37, S. 301, hat Walzel den Aufsatz anders datiert, und zwar lediglich auf Grund des Satzes „Man fingiere z. B. einen Polen von geringem Stande, der aber gedient hat und. . . Deutsch kann." Walzel sagt dazu, das Wort „dienen" lasse darauf schließen, daß der Aufsatz „nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1813 verfaßt ist". Walzel als Westdeutscher kannte die Verwendung des Wortes „dienen" ohne adverbiale Bestimmung nur in bezug auf Rekruten, welche „dienen". In den deutschen Ostgebieten von Ostpreußen über Posen und Schlesien bis in die österreichischen Länder bedeutete zu Goethes Zeit und auch späterhin „dienen" ohne Zusatz aber, daß jemand als Kutscher, Diener, Kammerjungfer, Stubenmädchen, Köchin usw. tätig war, insbesondere auf dem Lande, aber auch in städtischen Häusern. Walzel deutete also falsch. Das Wort „dienen" ohne nähere Bestimmung verdient hier aber Beachtung, weil es vielleicht zu den sprachlichen Eigentümlichkeiten des Aufsatzes gehört, die dazu führen, ihn Goethe abzusprechen. Es kommt bei Goethe in dieser Weise sehr selten vor (WA Bd. 11, S. 409,4; Bd. 23, S. 38,4; Bd. 24, S. 76,3); Mignons Satz Ich will dienen (Lehrjahre 11,5) trägt so sehr den Charakter ihrer knappen, eigenartigen Sprechweise, daß er hier nicht herangezogen werden kann.

7

Trunz, Goethe-Studien

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nicht der Fall. Suphan deutete auch den Inhalt falsch. Er sah hier Goethe „als deutschen Kulturkämpfer". Das ist aus Suphans Denkweise von 1892 heraus formuliert. Der Verfasser des Aufsatzes denkt viel nüchterner in der Art des 18. Jahrhunderts an die Zustände der Territorialstaaten mit ihren wechselseitigen Eroberungen und an die praktischen Fragen der sprachlichen Verständigung. Das Gedruckte übt immer seine Wirkung aus. Der Aufsatz ist nun einmal seit dem Druck im Goethe-Jahrbuch 1892 und in der Weimarer Ausgabe 1907 in Goethes Werke eingereiht. Mancher denkt vielleicht: Warum soll er nun als einziges ausgeschieden werden? Als einziges? Keineswegs! In Goethes Sammlungen kam so viel zusammen, daß den Herausgebern viele Fehler unterlaufen sind. In der Weimarer Ausgabe stehen z. B. folgende Gedichte, die nicht von Goethe sind: 1 1 Bd. 4,

S. 125 S. 126 s. 32 S. 36 S. 45 s. 49 s. 49 s. 68

s.

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Ich besänftge mein Herz (von Knebel) Als die Tage noch wuchsen (von Knebel) Wer wird uns trösten, Freund (unbekannter Verfasser) Tief aus dem Herzen (unbekannter Verfasser) Gifttrank reichte . . . (von Knebel) Man ist mit Recht bescheiden (unbekannter Verfasser) Als er, Sami (unbekannter Verfasser) Die Blumen, so dies reiche Füllhorn beut (von Riemer; dazu: Jahrb. „Goethe" 22, 1960, S. 290-293) For th' Heaven-gifted . . . (von Thomas und Jane Carlyle)

Falsche Zuschreibungen gibt es aber nicht nur bei den Gedichten. Goethe

druckte in seinen Zeitschriften Zur Morphologie

und Zur

Naturwissenschaft

mitunter auch Aufsätze von wissenschaftlichen Freunden wie Carus und Nees v. Esenbeck ab. Er legte sich also Manuskripte von diesen zu den Materialien für seine Zeitschriften. Infolgedessen sind in die Naturwissenschaftlichen Schriften der Weimarer Ausgabe zwei kleine Aufsätze hineingekommen, die nicht von Goethe stammen. Das hat die beste Kennerin von Goethes Schriften zur Naturwissenschaft, Dorothea Kuhn, herausgefunden. Hoffentlich wird sie bald in der von ihr herausgegebenen vortrefflichen „Leopoldina-Ausgabe" darüber berichten. - Es gibt also manches, was sich seit dem Druck der Textbände der Weimarer Ausgabe als unecht herausgestellt hat. Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, habe ich keinen handfesten Beweis, um diesen Aufsatz Goethe abzusprechen, etwa eine Erwähnung in einem Brief oder dergleichen. Doch Suphan hatte ebensowenig einen sicheren Beweis, ihn Goethe zuzusprechen. Da nun der eine Philologe den Aufsatz Goethe zugesprochen hat und der andere ihn ihm abspricht, schlage ich vor, ihn überhaupt

11 Die meisten dieser falschen Zuschreibungen sind bereits in den Anmerkungen zu Band 5,2 der WA im Jahre 1910 berichtigt. Doch Korrekturen dieser Art werden keineswegs allgemein berücksichtigt. Die Artemis-Ausgabe, 1948-1960, druckte den Text der Weimarer Ausgabe nach, ohne die Korrekturen im Lesarten-Teil überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die 18bändige Goethe-Ausgabe des Deutschen Taschenbuch-Verlags, 1977, druckte die Artemis-Ausgabe nach. Diese Ausgabe von 1977 repräsentiert also einen Textzustand, der zum Teil bereits 1910 überholt war.

Ein Vorschlag an den Sächsischen Kunstverein

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als „zweifelhaft" zu bezeichnen. In einer Leseausgabe würde ich ihn.weglassen; in einer vollständigen Ausgabe könnte man ihn vielleicht bringen, aber nur innerhalb einer Gruppe „Zweifelhaftes und Unechtes", die im Schlufjband einer großen Edition oft notwendig ist; und ich würde dort die wenigen Goetheschen handschriftlichen Sätze durch andere Schriftart kenntlich machen. Dann kann der Leser erkennen, was an diesem Aufsatz mit Sicherheit von Goethe ist, und überlegen, ob er ihm auch das Übrige zuschreiben mag.

5. Ein nicht abgeschickter Vorschlag an den Sächsischen Kunstverein - und was daraus wurde In Dresden wurde 1828 der „Sächsische Kunstverein" gegründet, Vorsitzender wurde der Kunstsammler und Kunstschriftsteller Johann Gottlob v. Quandt. 12 Die Mitglieder zahlten Beiträge, für diese wurden Werke lebender Künstler gekauft und dann unter den Mitgliedern verlost. Goethe fragte am 9. November 1828, ob auch Weimarer Mitglieder werden könnten und ob, wenn sich genug Mitglieder in Weimar fänden, auch Weimarer Künstler berücksichtigt werden könnten. Er dachte dabei besonders an Friedrich Preller, Luise Seidler und den jungen Landschaftsmaler Adolf Kaiser. Die Antwort war bejahend, und nun warb Goethe in Weimar Mitglieder: den Grofjherzog, die Großherzogin Maria Paulowna, deren ältesten Sohn, Gräfin Egloffstein, Soret, Frau Voigt, den Arzt Dr. Huschke und mehr als 30 andere. Er kümmerte sich selbst um die Übersendung der Gelder, und es ergab sich ein Briefwechsel mit Quandt, der bis zu Goethes Tode reicht. Mancherlei Sendungen gingen hin und her. Goethe hat in den Jahren 1828-1832 erstaunlich viel Mühe auf diese Beziehung verwendet. Sie machte ihm anscheinend Freude. Es gibt im Goethe-Archiv in der Abteilung „Goethe-Akten" drei Faszikel „Sächsischer Kunstverein" (Nr. 362 bis 364). Quandt verfaßte 1829 eine Broschüre „Über Preisaufgaben für bildende Künstler", in welcher er darlegte, „man solle dem Künstler nichts Fremdes aufdrängen", aber gute Anregungen seien sicherlich sinnvoll und willkommen. Diese Broschüre schickte er Goethe. Dieser antwortete in einem Brief vom 1 6 . D e z e m b e r 1 8 2 9 , daß ich mit beigefügtem bildende Künstler" völlig einverstanden bin.

Hefte „Über Preisaufgaben für I n e i n e m B r i e f v o m 6. F e b r u a r

1830 ging Goethe dann ausführlicher darauf ein: Hierbei aber entsteht eine

große und bedeutende Frage: Ist der Kenner und Kunstfreund der Sache gewachsen? Und ist der Künstler zugleich selbständig und mobil genug, um schnell und rein aufzufassen, ob man ihm das Rechte anrät, ihm bringt, was ihm gefehlt hat, oder ob man ihn irre macht, indem er auf dem rechten Wege ist? Sehr oft scheint der Künstler eigensinnig zu sein, und er beharrt auf dem Rechten; oft aber auch ist er beschränkt und kann sich in die Modifikationen

12 Hermann Uhde, Goethe, J. G. v. Quandt und der Sächsische Kunstverein. Stuttgart 1878. (103 S.) - Über Quandt (1787-1859): ADB 27, 1888, S. 11 f. - Die Arbeit von Uhde genügt als erste Information, die WA bringt in ihren Brief-Bänden bereits mehr, aber keineswegs alles. Sie enthält 28 Briefe von Goethe an Quandt.

7'

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An den Grenzen des Goetheschen Werkes

Wenn man die Angelegenheit nicht finden, die ihm der Kennet vorschlägt... genau in's Auge faßt, so sieht man, daß Kenner und Künstler sich gegen einander produktiv verhalten müssen; sie müssen sich in Rat und Tat zu steigern, ja zu überwinden suchen, bis sie zuletzt vollkommen einig geworden und ein völlig kongruierendes Bild entstanden ist. Daß aus der Ferne hierin wenig oder nichts zu tun sei, läßt sich vermuten, ja sogar einsehen. Mir hat es eine vieljährige Ertahrung bestätigt. Goethe hatte sich seit seiner Jugend mit dem Verhältnis von Kenner und Künstler beschäftigt, er hatte als Dichter Ratschläge von Kennern erhalten, er hatte seinerseits Ratschläge gegeben, insbesondere an bildende Künstler. Seine Weimarer Preisaufgaben 1799-1805 hatten nicht das erbracht, was er erhofft hatte. Dennoch lief} die Broschüre des Herrn v. Quandt und die Möglichkeit, die für den „Sächsischen Kunstverein" arbeitenden Künstler anzuregen, seiner Phantasie keine Ruhe. Er kannte die Situation in der bildenden Kunst seiner Gegenwart aus zahlreichen Berichten, aus Kupferstichen und aus Werken, die er in Weimar zu sehen bekam. In seiner eigenen Sammlung hatte er eine „Heilige Elisabeth" von Overbeck (Ölgemälde, heute im Großen Sammlungszimmer), er besaß in Kupferstichen die Zeichnungen von Cornelius zu Dante (Ruppert Nr. 2447) und zu den Nibelungen (Schuchardt S. 110 Nr. 50 c) und vieles andere. Bei Cornelius sah er, wie vorteilhaft es war, einen ganzen Zyklus zu entwerfen. Damit kam er auf eins seiner Lieblingsgebiete. Das Zyklische hatte ihn seit vielen Jahren interessiert. Als er sich ein Schema zu den Lehrjahren machte, charakterisierte er die Hauptgestalten wie einen Zyklus verschiedener, einander ergänzender Figuren. Als er die Wanderjähre schrieb, machte er daraus einen Zyklus verschiedener Geschichten mit einem einheitlichen Gehalt. In diesen Roman setzte er auch einen von ihm erdachten Gemälde-Zyklus in die Beschreibung der Pädagogischen Provinz (2. Buch, 2. Kapitel). Hier ist seine Bild-Phantasie rege, seine Begabung zur bildenden Kunst, die sich niemals im malerischen Werk recht verwirklichen konnte. In der Pädagogischen Provinz sind es genau genommen drei Zyklen - aus dem Alten Testament, der griechischen Götterlehre und dem Neuen Testament, welche in den traditionellen Themen das Allgemeinmenschliche darzustellen versuchen. Bilderzyklen hatte er in Italien gesehen, und nach der Rückkehr von dort veröffentlichte er im „Teutschen Merkur" 1789 einen Aufsatz Über Christus und die 12 Apostel, nach Rattael von Marc Anton gestochen und von Herrn Professor Langer in Düsseldorf kopiert, in welchem er die Verschiedenheit und Einheitlichkeit im Bildhaften mit der ihm eigenen kraftvollen knappen Sprache charakterisiert. Als er 1829 den Zweiten Römischen Aufenthalt schrieb, nahm er diesen Aufsatz von 1789 wieder vor und schaltete ihn in den Abschnitt Dezember 1787, Bericht, ein. In einem Entwurf Über die Gegenstände der bildenden Kunst von 1797 wird das Problem des Zyklus ebenfalls berührt (WA 47, S. 91-95). Auch der Aufsatz Julius Cäsars Triumphzug, gemalt von Mantegna behandelt einen Zyklus. Nachdem er in den Wanderjahren drei romanhaft erdachte Bilderzyklen geschildert hatte, reizte es ihn, einen Zyklus zu entwerfen, der den Künstlern des Jahres 1830 so weit entgegenkam, daß vielleicht der eine oder andere etwas daraus verwirklichen konnte. Die Verbindung zu dem Sächsischen Kunstverein, die Möglichkeit, Anregungen zu geben, kam seiner produktiven Bildphantasie

Ein Vorschlag an den Sächsischen Kunstverein

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entgegen. Er diktierte seine Ideen zu einem Zyklus; und zwar so, wie es oft geschah: zuerst die Hauptsache, den Zyklus selbst, im März 1830 (Tagebuch: 17. März); dann, etwas später, im Mai 1830, eine ausführliche Einleitung. Als er diese fertig hatte, diktierte er am 24. Mai einen Brief an Herrn v. Quandt. Er schreibt darin: Über die Frage, inwiefern man bei Künstlern Werke bestellen und ihnen unter der Arbeit mit gutem Rat an Händen gehen solle, habe vielfach nachgedacht, und finde große Schwierigkeit darin, daß Künstler und Kenner sich nicht leicht verstehen werden. Was hierzu von beiden Seiten erfordert würde, habe ich in meinem vorigen Briefe angedeutet. Nachfolgendes gebe deshalb zu bedenken, indem dadurch mir die Sache auf einen hohen Grad erleichtert scheint. Nun fährt das Brief-Konzept, das Goethe an Schuchardt diktiert hat, fort: Man veranlasse einen jeden Künstler, besonders des historischen Faches, sich einen Zyklus zu wählen... usw. Über diesen Abschnitt schrieb Goethe dann mit Bleistift Vorschlag. Hier wird also ein Vorschlag in den Brief hineingenommen und ausführlich dargestellt. Dann ließ Goethe das Konzept aber nicht so abschreiben, wie es war. Er ließ den ganzen Vorschlag weg und änderte den Satz davor um: Nächstens gebe einiges zu bedenken, wodurch mir die Sache auf einen hohen Grad erleichtert scheint.. Nächstens - das heißt also: demnächst, vielleicht im nächsten Brief. Doch diese hier angekündigte Sendung erfolgte nie. Goethe hielt alles Diktierte zurück. John schrieb in das Diktat neben das Wort Vorschlag: „Von hier an ist das Konzept nicht abgeschrieben und also auch nicht fortgeschickt worden." Was ist es, was Goethe diktiert hatte und nicht abschickte? Der Vorschlag beginnt: Man veranlasse einen jeden Künstler, besonders des historischen Faches, sich einen Zyklus zu wählen, den Verlauf eines Gedichtes, eines Menschenlebens . . . Er nennt Beispiele: Es gibt Bilderzyklen zu Hermann und Dorothea, zu den Homerischen Epen, zu dem Nibelungenlied. Man könnte auch an das Leben einer bedeutenden geschichtlichen Gestalt denken wie Alexanders des Großen. Dann fährt Goethe fort: Die biblischen Zyklen sind schon zu oft durchgearbeitet, als daß sich da noch Neues hoffen ließe. Er begrenzte diese Behauptung dann aber auf die Malerei und Graphik und fährt fort: Damit man aber nicht glaube, daß wir das hohe Verdienst des bilischen Zyklus verkennen, so wollen wir uns in die Werkstatt des Bildhauers wenden und denselben hierauf hindeuten. Hier bricht das Diktat ab. Goethe hat, wie oft in diesen Jahren, das Datum darunter gesetzt: Weimar den 24. Mai 1830. Das, was hier anschließen müßte, der Vorschlag für die Bildhauer, lag zu dieser Zeit schon fertig vor (diktiert am 17. März). Er beginnt: Wenn wir den Malern abgeraten, sich vorerst mit biblischen Gegenständen zu beschäftigen, so wenden wir uns, um die hohe Ehrfurcht, die wir vor jenem Zyklus hegen, zu betätigen, an die Bildhauer und denken hier die Angelegenheit im Großen zu behandeln. Das alte Thema Christus und die 12 Apostel hält er für nicht mehr ergiebig. Er schlägt christliche Figuren in ganz anderer Auswahl und Anordnung vor. Es ist eine Auswahl, wie sie noch niemals getroffen war. In Goethes Charakteristiken der Gestalten zeigt sich, daß er typische Formen des Lebens überhaupt im Auge hat. Adam als Urvater verkörpert zugleich die Kraft und die Schwäche des Menschen und den Anfang der Kultur; er hat einen Knaben bei sich, der die Fortentwicklung andeutet. Noah zeigt schon einen Zustand

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höherer Kultur, er erscheint als Weinbauer, von dem Geiste des Weins belebt. Dagegen sticht Moses mit seinem Ernst als Gesetzgeber ab. David ist Sänget, König und Frauenlieb in einer Person. Jesaia wiederum ganz anders: eine würdige warnende Gestalt. Daniel verkörpert das sehnsüchtige Liebestreben nach dem Höchsten, ihm entspricht auf der anderen Seite von Christus der Jünger Johannes als die befriedigte Liebe. Dazwischen steht Christus, aus dem Grabe aufsteigend, der Körper hat keine Zeichen der Marter, die Grabtücher sind herabgesunken. Der Evangelist Matthäus hat einen Genius bei sich; er ist das Gegenbild von Moses, dem Gesetzgeber. Der Hauptmann von Capernaum ist ein Römer, von Herkunft anders als die vorigen, geistig-innerlich ihnen sich zugesellend. Es folgt Maria Magdalena; Goethe vermerkt ausdrücklich: ohne die üblichen Requisiten. Das gilt auch für Paulus: ohne Marterinstrumente, nur als der ernste gewaltige Lehrer; zuletzt Petrus; er richtet seinen Blick auf den Betrachter und regt in diesem die Frage an, wie er zu dem Dargestellten stehe. Die Gestalten haben alle verschiedenartige Beziehung zu Christus, außerdem untereinander Verbindendes und Trennendes; ein Zyklus, der zum genauen Betrachten und zum Nachdenken anregt. In dieser Darstellung fallen zwei Sätze auf. Bevor Goethe die Beschreibung der einzelnen Figuren beginnt, heißt es: In einer Art von Verzweiflung, die uns immer ergreift, wenn wir mißgeleitete oder mißbrauchte schöne Talente zu bedauern haben, bildete sich bei mir der Gedanke, dreizehn Figuren aufzustellen, in welchen der ganze biblische Zyklus begriffen werden könnte. Das war, als er diktierte, ein ehrlicher Satz. Aber: sollte man ihn nach Dresden schicken? Konnte man annehmen, daß ein junger Bildhauer das, was der alte Goethe in einer Art von Verzweiflung geschrieben hatte, erfreulich in Stein umsetzte? Goethe warf im Alter anderen vor, daß sie aus der Verzweiflung heraus schrieben, z. B. den modernen französischen Romanschriftstellern (Brief an Zelter 18. Juni 1831). Er selbst wollte immer das Positive, wie er es nannte. Seine Bildphantasie hatte sich eine Gestaltenreihe ausgemalt; aber man sollte dergleichen auch wiederum nicht allzu wichtig nehmen. Und aus diesem Bewußtsein heraus, daß alles nur ein Gedankenspiel sei, diktierte er einen Satz, der ebenfalls auffällig ist: Würden mehrere Bildhauer aufgerufen, sich nach ihrer Neigung und Fähigkeit in die einzelnen Figuren zu teilen, sie in gleichem Maßstab zu modellieren, so könnte man eine Ausstellung machen, die in einer großen bedeutenden Stadt gewiß nicht ohne Zulauf sein würde, und sollte, wenn es in einer so ernsten zarten Sache zu scherzen erlaubt ist, auch nur der Anfang durch die Konditor am Weihnachtsabend gemacht werden. Dieser Umschlag ins Heitere kommt in den Altersbriefen mehrfach vor, etwa in dem Brief an Zelter vom 11. Mai 1820, wo der großartige Satz vom unbedingten Ergeben in den unergründlichen Willen Gottes endet: Was will der Großpapa weiter? Goethe als Entwerfer für Figuren von Weihnachtsgebäck - das hätten viele Leser sicherlich mißverstanden, ebenso wie zu Anfang die Verzweiflung. Vielleicht wäre Herr v. Quandt, wenn er diesen Vorschlag erhalten hätte, in eine peinliche Lage gekommen, denn wie hätte er Goethe und die Künstler und den Kunstverein zufriedenstellen können? Wohin Goethe mit dem Ausdruck mißgeleitete und mißbrauchte schöne Talente zielte, war in der Situation von 1830 klar: es war die „religios-patriotische" Kunst, deren Stil auch diejenigen übernommen hatten, zu denen er ihrer Natur nach nicht paßte. Der Aufsatz wollte

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diese ansprechen und dabei die geläufige Thematik in Goethescher Abwandlung bringen: er zielte auf das Allgemein-Menschliche in der christlichen Bildwelt. Das war schon in den Wanderjahre-Zyklen ähnlich gewesen, die er nicht lange davor dargestellt hatte. Die freilich waren Utopie, wie die ganze Pädagogische Provinz, die konnte kein Maler malen. Dieser neuerdachte Zyklus der 13 Statuen war nun für lebende Künstler gedacht, ja er knüpfte an das Zeitübliche an; vielleicht konnte man ihn einen Kompromiß nennen. Doch sollte man Kompromisse machen? Vielleicht in der Politik; aber in der Kunst? Jedenfalls sandte Goethe den Entwurf nicht ab. Er machte auch nicht Anstalten, das Geschriebene in seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum zu drucken. Die Zeitschrift war vorhanden, es war günstig, die Abstände zwischen den Heften flicht allzu groß werden zu lassen. Der Drucker Frommann in Jena und der Verleger Cotta in Stuttgart hätten gern wieder ein Heft erscheinen lassen. Goethe aber druckte diesen Entwurf nicht, ebenso wie manchen anderen aus diesen Jahren. Alles blieb unter seinen Papieren. Als Eckermann 1832 den 4. Band der „Nachgelassenen Werke" zuammenstellte, holte er die Beschreibung der 13 Figuren aus dem Handschriftlichen Nachlaß heraus und druckte sie als Aufsatz mit dem Titel Christus nebst zwöli alt- und neutestamentlichen Figuren, den Bildhauern vorgeschlagen,13 Jedes erklärende Wort, wann und in welchem Zusammenhang dies geschrieben ist, fehlt. Der Aufsatz beginnt: Wenn wir den Malern abgeraten, sich vorerst mit biblischen Gegenständen zu beschäftigen.. . Aber die Seiten, welche Goethe über das Abraten und die Maler diktiert hatte, fehlen. Vielleicht lagen sie bei der Quandt-Korrespondenz, und Eckermann kannte sie gar nicht. Den Schluß hat Eckermann gekürzt, den Satz mit dem Weihnachtsgebäck ließ er weg. Er ist im Manuskript mit Bleistift und mit Tinte gestrichen. Eine dieser Streichungen ist von Eckermann, die andere kann von Riemer oder auch von Goethe herstammen; das ist schwer zu entscheiden. - Dadurch, daß Eckermann dieses Stück aus dem Nachlaß 1832 zum Druck brachte, kam es in die folgenden Goethe-Ausgaben. Es wirkt dort, da es keine Einleitung und keinen rechten Schluß hat, da es sich an niemanden wendet, seltsam beziehungslos,- man könnte bei dieser Art der Darbietung auf den Gedanken kommen, es sei ein monumentales Wort an die Nachwelt; dabei war es seiner Entstehung nach etwas ganz anderes: ein bescheidener Vorschlag für einen kleinen Kreis in der zeitgenössischen Umwelt - ja nur der Entwurf eines Vorschlags, und als solcher niemals abgeschickt. 1834/35 arbeitete Eckermann an seinen „Gesprächen"; 1836 erschienen sie in 2 Bänden. Unter dem Datum 16. und 21. März 1830 beschreibt er Goethesche Äußerungen über seine Idee der 13 Statuen. Über die Statuen bringt er nichts, was nicht auch in Goethes Diktat steht; nur hat Eckermann hier alles in flüssige Gesprächsform gebracht und hat eine Einleitung hinzugefügt, die in diesem Zusammenhang Beachtung verdient: „Er zeigt mir sodann einen Christus mit zwölf Aposteln, und wir reden über das Geistlose solcher Figuren als Gegenstände der Darstellung für den Bildhauer. ,Der eine Apostel', sagte Goethe, 13 Dieser Titel steht auf dem Umschlag des Manuskripts; vermutlich als Arbeitstitel, damit das Manuskript eine Bezeichnung habe. Das bedeutet nicht, daß Goethe es in dieser Form und mit diesem Titel abdrucken wollte.

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,ist immer ungefähr wie der andere . . . Ich habe mir bei dieser Gelegenheit den Spaß gemacht, einen Zyklus von zwölf biblischen Figuren zu erfinden . . . " Goethe sagt nicht, wie sehr dieser Zyklus ganz eigener Art ist, zugleich aber auf großer Kenntnis der Überlieferung beruht, dabei ins Wesentliche geht und nichts Fremdes hineinträgt. Vermutlich ist der Ton, in welchem Eckermann hier Goethe sprechen läßt, richtig getroffen: „Ich habe mir bei dieser Gelegenheit den Spaß gemacht.. ." Was aber ist die „Gelegenheit"? Was hat Goethe Eckermann gezeigt? Welches war das Werk, das den Ausgangspunkt bildete? Eckermann verstand wenig von der bildenden Kunst. Er lebte nicht mit diesen Dingen; anderenfalls hätte er behalten, was für ein Werk es war, das beiden so wenig gefiel. Daß Goethe, bevor er seine eigenen Ideen entwickelte. Eckermann erst etwas zeigte, was er ablehnte, das wird wohl stimmen. Was kommfc in Frage? Goethe besaß seit 1823 „Der Herr und seine Apostel in bildlichen Darstellungen von Johann Peter v. Langer mit begleitendem Text von Maximilian Freiherr v. Freyberg. Stuttgart und Tübingen 1823". Diese Schrift war bei Cotta erschienen. Im Juli 1823 wird sie in Goethes Büchervermehrungs-Liste eingetragen. Am 21. September 1823 vermerkt das Tagebuch: Die Langerischen Apostel an Hoirat Meyer. 1 4 Das Buch steht noch heute in seiner Bibliothek. Der Urheber der Bilder, Johann Peter v. Langer, 1 7 5 6 - 1 8 2 4 , ist der gleiche, dessen Nachstiche nach Marc Anton (Marcantonio Raimondi) Goethe 1789 rezensiert hatte. 1 5 Er war später Akademiedirektor in Düsseldorf und dann Direktor der Gemäldegalerie in München geworden. Goethe hatte von Zeit zu Zeit Kontakte zu ihm, wegen organisatorischer Dinge, 1802 wegen der Weimarer Preisaufgaben, 1814 wegen der Frage, ob der junge Weimarer Kupferstecher Johann Christian Ernst Müller in München studieren könne, 1817 wegen Luise Seidler, die in München kopieren wollte. Langers Büchlein von 1823 enthält 13 Kupferstiche, Jesus und die Apostel, jede Figur auf einem Blatt. Sie sind nur als Figuren gegeben, so als ob Statuen dargestellt wären. Künstlerisch sind sie ungewöhnlich schwach. Die Figuren sind vom Hals bis zum Fuß von wallenden langen Gewändern umgeben, die wie Talare aussehen. Jeder Apostel hat sein Attribut, Thaddäus einen Speer, Paulus ein Schwert, Johannes einen Kelch, Petrus einen Schlüssel usw.; diese sind das einzige, was sie unterscheidet. (Goethe vermerkt zu seinem Plan ausdrücklich, daß die Gestalten keine dieser Attribute haben sollen.) Der Text geht nirgendwo auf die Bilder ein. Diese Darstellungen in ihrer Dürftigkeit, geschaffen von einem an bedeutender Stelle stehenden Manne, der früher auf anderen Gebieten, z. B. als Porträtist, Beachtliches geleistet hatte, mußten Goethe deprimieren. Auf diesem Wege war in der Tat nichts mehr zu erwarten. Vielleicht hat Langers Buch dieses Ausgehen vom Negativen veranlaßt. Möglich wäre noch etwas anderes. Im Tagebuch steht am 24. Juli 1830: Hoi-

rat Meyer . .. nahm die Apostel von Thorwaldsen,

auch einiges andere mit. Die

Apostel von Thorwaldsen werden außerdem auf zwei Notizblättern genannt.

1 1 Am 13. Juli 1829 steht auf einem Blatt Agenda unter anderem vermerkt Langers Apostel. Hier ist nun freilich nicht klar, ob Langers Werk von 1823 gemeint ist (Ruppert Nr. 2412) oder seine Nachstiche nach Marc Anton von 1788 (Schuchardt S. 63 Nr. 589), die Goethe für den Zweiten Römischen Aufenthalt noch einmal zur Hand nahm. 15 Über Langer: Thieme-Becker 22, 1928, S. 336-338. - Max Stern, J. P. Langer, sein Leben und sein Werk. Bonn 1930.

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die das Datum Juni 1830 tragen, womit freilich nicht gesagt ist, daß alle Notizen darauf aus diesem Monat stammen (WA Tagebücher 13, S. 252 und 254). Goethe besaß also zu diesem Zeitpunkt Stiche nach einigen der Statuen, welche Thorwaldsen damals in Rom vollendet hatte und die dann in der Frauen-Kirche in Kopenhagen zur Aufstellung kamen. Es handelt sich um 12 Apostel und die Figur des segnenden Christus. Die Apostel gehören zu Thorwaldsens schwächsten Arbeiten, sie stehen aber hoch über den kümmerlichen Kupferstich-Figuren von Langer. Ob Goethe schon am 17. März 1830, als er seine Ideen über einen christlichen Zyklus diktierte, diese Stiche (Schu. S. 142, 375) kannte, weiß ich nicht zu sagen. Das Werk Langers kannte er jedenfalls, und das Ausgehen von der Negation, wie es Eckermann berichtet, fügt der Entstehungsgeschichte einen charakteristischen Zug bei. Als die Weimarer Ausgabe erschien, wurden alle Goetheschen Briefe erfaßt, und so erschien in Bd. 47, 1909, S. 74 ff. der Brief an J. G. v. Quandt vom 27. Mai 1830, so wie er abgeschickt wurde, also mit dem Satz Nächstens gebe einiges zu bedenken... Im Lesarten-Teil wird korrekt und gründlich mitgeteilt, daß das Manuskript zunächst anders aussah, es wird diese Urfassung abgedruckt mit dem ganzen Vorschlag, man solle den Künstlern Zyklen vorschlagen, doch seien für die Maler die alten biblischen Zyklen nicht mehr ergiebig. Das war alles philologisch richtig. Nun erschien aber 1914 in der WerkAbteilung der Weimarer Ausgabe der Schlußband, Band 53, der Nachträge brachte. Und hier druckten die Herausgeber Goethes nicht abgeschickten Vorschlag aus dem Brief vom 24. Mai 1830, der schon in den Lesarten der BriefAbteilung stand, noch einmal, als Aufsatz, unter dem Titel Vorschlag. 'Dieser scheinbare Aufsatz endet mit den Worten: so wollen wir uns in die Werkstatt des Bildhauers wenden und denselben hieraut hindeuten. Der Leser erwartet, daß hier etwas folgt; es folgt aber nichts. Die Herausgeber sagen nichts dazu, denn sie wußten anscheinend nicht, daß die Fortsetzung, eben diese Wendung in die Werkstatt des Bildhauers, bereits in Band 49,2, der im Jahre 1900 erschienen war, auf S. 89-98 gedruckt war; denn da steht dieser zweite Teil von Goethes Ausführungen, und zwar in der Form, wie Eckermann ihn 1832 gedruckt hatte. So kam es, daß Goethes als Brief formulierter Vorschlag für den Sächsischen Kunstverein, den er nicht abschickte, nach seinem Tode gedruckt wurde, nicht als Aufsatz, sondern als zwei Aufsätze, die getrennt erschienen und den ursprünglichen Zusammenhang nicht mehr erkennen lassen. Damit soll die große Leistung der Weimarer Ausgabe, 1887-1919, nicht bestritten werden. Sie war zu ihrer Zeit, als die Philologen zum ersten Mal Goethes Handschriften zu Gesicht bekamen und als es noch keine Erfahrungen mit der wissenschaftlichen Edition eines neueren Schriftstellers gab, eine vorzügliche Arbeit. 1885 wurde das Goethe-Archiv der Wissenschaft geöffnet, bereits 1887 war der 1. Band der Weimarer Ausgabe vorhanden. Alle Mitarbeiter haben auf Grund eines riesigen Handschriften-Materials, das damals noch nicht archivarisch aufgearbeitet war, ihre Arbeit gemacht, nebenberuflich, ohne Fotokopie und meist auch ohne Schreibmaschine. Sie waren so bescheiden, daß sie ihre Namen nicht auf die Titelblätter oder deren Rückseiten setzten. Sie haben sehr viel geleistet; die ganze spätere Forschung steht auf dieser Grundlage. Doch es ist noch mancherlei zu tun übrig geblieben.

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6. Goethes Gemeinschaftsarbeit mit Heinrich Meyer Nachdem Heinrich Meyer 1791 nach Weimar gekommen war, regte Goethe ihn immer wieder an, sich als Kunstschriftsteller zu betätigen. Meyer lieferte Beiträge zu den „Hören", zu den Propyläen und zu der Jenaischen „Allgemeinen Literatur-Zeitung". Als Goethe 1805 den Band Winckelmann und sein Jahrhundert herausgab, schrieb er auf Goethes Wunsch für dieses Werk seinen „Entwurf einer Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts"16. Goethe sah die Meyerschen Manuskripte durch und fügte nicht selten ergänzende Sätze hinzu. Meyer wiederum lieferte Goethe Material und ausgearbeitete Abschnitte, welche dieser in seine Arbeiten hineinnahm. Als Meyer im Jahre 1810 in die Schweiz reiste, bat Goethe ihn, sich dort über die Hausindustrie zu orientieren. Ihn interessierte das Verhältnis von Mensch und Arbeit in den verschiedenen Berufen, insbesondere in dem modernen Handwerk, das immer mehr maschinell-industrielle Formen annahm. Meyer machte sich sachlich-genaue Aufzeichnungen. Diese arbeitete Goethe in seinen Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, 3. Buch, 5. Kapitel, ein. Manche Teile sind fast wörtlich übernommen, andere umgeschmolzen. Goethe hat nirgendwo gesagt, da§ diese Teile von Meyer stammen. Anderseits gibt es in Meyers Arbeiten Sätze, die von Goethe stammen. Das haben sie ebensowenig gesagt. Es kam ihnen auf die Sache an. Goethe hatte in den Jahren 1792 bis 1797 die Gemmensammlung der Fürstin Gallitzin als Leihgabe bei sich im Hause. Er betrachtete sie zusammen mit Heinrich Meyer, der damals sein Hausgenosse war, wiederholt recht genau. Beide fertigten ein beschreibendes Verzeichnis davon an. 1807 erschien dieses Verzeichnis in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung".17 Als Goethe 1822 seine Campagne in Frankreich veröffentlichte, nahm er einen Auszug aus diesem Verzeichnis - die Beschreibung der interessantesten Gemmen - in dieses Werk hinein. Die Herausgeber der großen Goethe-Ausgaben haben das Gemmen-Verzeichnis von 1807 aus ihren Editionen ausgeschlossen mit der Begründung, es sei von Meyer. Den Goetheschen Auszug daraus von 1822 haben sie aber alle abgedruckt, und zwar so, als ob er allein von Goethe stammte. Die Meinung, das Verzeichnis sei von Meyer, ist ebenso falsch wie die, es sei von Goethe: es ist Gemeinschaftsarbeit. Während das Gemmen-Verzeichnis in der Forschung fast unbeachtet geblieben ist, hat ein anderes Werk die Gemüter immer wieder erregt: der Aufsatz „Neu-deutsche religios-patriotisclje Kunst", welcher in Goethes Zeitschrift Über Kunst und Altertum Bd. 1, Heft 2, 1817 erschien, unterschrieben „W. K. F.", d. h.: Weimarer Kunstfreunde. Der Aufsatz bringt eine erste Geschichte der romantischen Bewegung und verbindet sie mit einer Kritik, welche von seiten der Romantiker übel vermerkt wurde. Wegen seiner Bedeutung für die Literaturgeschichte hat die Weimarer Ausgabe diesen Aufsatz aufgenommen. Im Kommentar steht dort Bd. 49,2 S. 285: „Handschrift fehlt." Dazu kann man jetzt sagen: Die Handschrift fehlt nicht mehr. Seit etwa 25 Jahren befindet sich 1 6 Ein Neudruck ist: Winckelmann und sein Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Holtzhauer. Leipzig 1969. 17 Wiederabgedruckt in: Gerhard Femmel und Gerald Heres, Die Gemmen aus Goethes Sammlung. Leipzig 1977. S. 198-205.

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der Meyer-Nachlaß im Goethe- und Schiller-Archiv; im Jahre 1962 ist er dort archivarisch aufgearbeitet worden. In ihm gibt es einen handschriftlichen Entwurf Meyers zu diesem Aufsatz und eine Meyersche eigenhändige Reinschrift. Diese endet mit folgendem Abschnitt: „Wenn wir uns auf den allgemeinsten Standpunkt erheben, so läßt sich die patriotische Richtung des Kunstgeschmacks wohl billig als Teil oder Folge jener mächtigen Bewegung betrachten, von welcher die Gesamtheit der zu Deutschland sich rechnenden Völker ergriffen das Joch fremder Gewalt und Übermuts großmütig abgeworfen, die bekannten ewig denkwürdigen Taten verrichtet und aus Besiegten Überwinder geworden. Wir machen diese Betrachtung um so lieber, weil sie alle Schuld, allen Schein des Eigensinns von den Künstlern abwälzt. Kunst und Geschmack sind, wie wir glauben, immer mit der Denkweise der Zeiten und Völker enge verbunden oder - besser gesagt sie scheinen von dieser Denk- und Sinnesweise abzuhängen, wie ihnen solche günstig oder ungünstig ist, zu blühen oder zu vergehen, der Geschmack eben daher seine Richtung, sein Gepräge anzunehmen." Der Druck in Goethes Zeitschrift endet anders. Hier lautet der Text: Erheben wir uns endlich noch auf den höchsten, alles übersehenden Standpunkt, so läßt sich die betrachtete patriotische Richtung des Kunstgeschmacks wohl billig als ein Teil oder auch als Folge der mächtigen Regung betrachten, von welcher die Gesamtheit aller zu Deutschland sich rechnenden Völker begeistert das Joch fremder Gewalt großmütig abwart, die bekannten ewig denkwürdigen Taten verrichtete, und aus Besiegten sich zu Überwindern emporschwang. Wir sind dieser Ansicht um so mehr geneigt, als sie unser Urteil gegen die Teilnehmer an besagtem Kunstgeschmack mildert, den Schein willkürlicher Irrung großen Teils von ihnen abwälzt; denn sie fanden sich mit dem gewaltigen Strom herrschender Meinungen und Gesinnungen fortgezogen. Da aber jener National-Enthusiasmus, nach erreichtem großen Zweck, den leidenschaftlichen Charakter, wodurch er so stark und tatfertig geworden, ohne Zweifel wieder ablegen und in die Grenzen einer anständigen würdigen Selbstschätzung zurücktreten wird, so kann sich alsdann auch die Kunst verständig fassen lernen und die beengende Nachahmung der ältern Meister aufgeben, ohne doch denselben und ihren Werken die gebührende und auf wahre Erkenntnis gegründete Hochachtung zu entziehen. Ein Gleiches gilt von der Religiosität. Die echte, wahre, die dem Deutschen so wohl ziemt, hat ihn zur schlimmsten Zeit aufrecht erhalten und mitten unter dem Druck nicht allein seine Hoffnungen, sondern auch seine Tatkräfte genährt. Möge ein so würdiger Einfluß hei fortwährendem großen Drange der Begebenheiten der Nation niemals ermangeln; dagegen aber alle falsche Frömmelei aus Poesie, Prosa und Leben bald möglichst verschwinden und kräftigen heitern Aussichten Raum geben. Man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß alle Änderungen und Ergänzungen hier von Goethe stammen. Diese volltönende Sprache, die hier einsetzt, hat durchaus Goetheschen Klang. Und inhaltlich hätte Meyer den Abschnitt über die Religiosität, inwiefern sie dem Deutschen wohl ziemt, und inwiefern sie Irrweg sei, wohl schwerlich geschrieben. Dergleichen Sätze ließ er Goethe. Als Meyer diesen Aufsatz schrieb, kannte er noch nicht die Sammlung

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Boisseree. Eist im Oktober 1817 kam er nach Heidelberg und sah hier diese Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts. Anschließend schrieb er einen Aufsatz darüber, der beginnt: „Die Gemälde-Sammlung der Herren Boisseree in Heidelberg : Offen will ich gestehen, durch dieselbe nicht weniger in Erstaunen gesetzt als belehrt worden zu sein. In Erstaunen bin ich geraten, weil meine nicht geringe Erwartung durch das Vorgefundene weit übertroffen worden; belehrend ist mir die Ansicht der Bilder dieser Sammlung insofern gewesen, als bedeutende Werke von Johan van Eyck, von Hemmelink (Memling), Schoreel (Scorel), Mabuse und anderer mir zuvor noch nie vor Augen gekommen waren. Das Gesehene will ich nach mutmaßlicher Folge des Alters der Stücke anzeigen, von den früheren auf die späteren übergehend . . ." Der Aufsatz zeigt, daß Meyer nicht bei einem starren Klassizismus stehenblieb. Doch der Aufsatz blieb leider Manuskript. Das wichtigste Manuskript des Meyer-Nachlasses ist die große „Geschichte der Kunst". Sie ist 1974 von Helmut Holtzhauer und Reiner Schlichting herausgegeben, als Band 60 der „Schriften der Goethe-Gesellschaft". Diese Meyersche Kunstgeschichte war bis dahin der Forschung ganz unbekannt. Goethe hat zwar in seinem Tagebuch vermerkt, daß er sie durcharbeitete, doch die Herausgeber haben diese Stellen falsch gedeutet. In Goethes Tagebuch steht z. B. im Jahre 1815: 9. April: Hoirat Meyer. Giotto und Schüler Orcagna. 12. April: Hoirat Meyer. Florentinische Schule. 14. April: Hoirat Meyer. Florentinische Schule fortgesetzt. 17. April: Hoirat Meyer. Kunstgeschichte. Andrea del Sarto. 18. April: Meyer Kunstgeschichte korrigiert. 19. April: Porteieuille Venetianer, Bologna. Hoirat Meyer jenes Porteieuille usw. Das Register zu den Tagebüchern der Weimarer Ausgabe deutete das im Jahre 1919 so: Goethe habe sich an diesen Tagen einerseits mit dem Manuskript von Meyers „Geschichte der bildenden Künste bei den Griechen und Römern", die 1823 erschien, befaßt, anderseits mit Giotto, Andrea del Sarto, den Venetianer Malern usw. Das Tagebuch meint aber die diesbezüglichen Kapitel in Meyers „Geschichte der Kunst". Die Art der Zusammenarbeit läßt sich aus einigen Manuskripten erschließen. Die „Geschichte der Kunst" enthält verhältnismäßig wenig Goethesche Korrekturen. Der Holtzhauerschen Edition sind zwischen S. 240/241 zwei farbige Tafeln beigegeben, welche Meyers Reinschrift mit schwarzer Tinte und Goethes Korrekturen mit roter Tinte deutlich erkennen lassen. Goethes Änderungen sind hier fast alle stilistisch; sie gestalten den Satzbau einfacher und fließender, sie heben die betonten Wörter durch die Anordnung im Satz heraus usw. Goethesche Korrekturen gibt es ferner in den Aufsatz-Manuskripten „Über Gegenstände der bildenden Kunst", „Über Lithographie", „Über MajolicaGefäße", „Raffaels Werke", „Über Lehranstalten zu Gunsten der bildenden Kunst"; der Aufsatz „Niobe" hat außer den Korrekturen auch Zusätze Goethes, ebenso der Aufsatz „Halberhobene Arbeiten". Es gibt die verschiedensten Formen der Zusammenarbeit. Während Goethe in der großen „Geschichte der Kunst" wenig geändert hat, hat er Meyers Vorarbeiten zu einem Aufsatz über Das Igeler Monument völlig auseinandergenommen, sozusagen in die Einzelheiten zerlegt, und dann neu zusammengesetzt, in anderer Reihenfolge, anderer Darstellungsform, hat aber die Meyersche Deutung der Einzelheiten beibehalten. Der Aufsatz (WA 49,2

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S. 35-45) ist also im wesentlichen Goethes Werk. In diesem Falle läßt sich die Art der Zusammenarbeit genau nachprüfen. Goethe hat in dem Aufsatz auch nachdrücklich gesagt, daß er hier mit Meyer gemeinsam gearbeitet habe. Die Weimarer Ausgabe hat seinerzeit schon an vielen Stellen auf die Gemeinschaftsarbeit mit Meyer hingewiesen, z. B.: 47, S. 332 und 410: Goethes Bemerkungen zu Meyers Aufsatz: „Über die Gegenstände der bildenden Kunst". 47, S. 333: Goethes Bemerkungen zu Meyers „Über Lehranstalten der bildenden Künste" (Propyläen Bd. 2 und 3). 47, S. 363: Goethes Zusätze zu Meyer „Über den Hochschnitt". 48, S. 132, 249, 267: Gemeinsame Arbeiten für die „Jenaische Allg. LiteraturZeitung". 48, S. 280-283: Beurteilung der Weimarer Preisaufgaben. 49,1 S. 291-295 und Bd. 53, S. 539: Aufsatz „La Cena". 49,1 S. 385: Rezension „Landschaften von Carus". ' 49,2 S. 249-254: Goethesche Zusätze zu Meyerschen Aufsätzen. Die Bände mit den Kunstschriften in der Weimarer Ausgabe erschienen 1890 bis 1904. In den Jahren 1917-1933 gab Max Hecker Goethes Briefwechsel mit Meyer heraus (Sehr. G. Ges., Bd. 32, 34, 35, 35"). Dadurch wurde manches klarer. Seitdem der Meyer-Nachlaß verfügbar und geordnet ist, läßt sich nun noch mehr erkennen. Er ergibt im Großen kein anderes Bild als bisher, doch er gibt genauere Einblicke.18 Mehr als vierzig Jahre hindurch haben Goethe und Meyer zusammen gearbeitet. Der eine schrieb einen Aufsatz, der andere gab ihm einen Höhepunkt; der eine sammelte Material, der andere benutzte es; und so gab es viele Formen der Zusammenarbeit. Das Gemeinsame wurde meist mit „W. K. F." unterzeichnet, anderes erschien unter den einzelnen Namen. Goethe war eifrig bemüht, Meyers Aufsätze gut unterzubringen und ihnen Achtung zu verschaffen. Meyer, bescheiden und unpraktisch, hätte von sich aus niemals so viele und so gute Publikationsmöglichkeiten gefunden und sich auch nicht an so große Themen gemacht. Als er nun aber seinen Weg machte, wurde er ein für seine Zeit guter und bedeutender Kunsthistoriker. Mehr als vierzig Jahre Zusammenarbeit ohne jemals eine Spannung, ohne jede Meinungsverschiedenheit darüber, wie das eine oder andere zu sagen sei, ohne das Bestreben, kenntlich zu machen, wer dies und wer das geschrieben habe. Der Meyer-Nachlaß bestätigt, was wir schon aus dem Briefwechsel wissen •. die gegenseitige Ergänzung, die Gemeinsamkeit im Geiste, die nur auf Grund tiefer persönlicher Zuneigung möglich war. Alle menschlichen Voraussetzungen waren vorhanden, und aus ihnen ergab sich diese stille, sachliche, der Kunstgeschichte und Kunstinterpretation dienende Gemeinschaftsarbeit. 18 Einen ersten Oberblick über den Meyer-Nachlafj gab Karl-Heinz Hahn in seinem Werk: Goethe- und Schiller-Archiv. Bestandsverzeichnis. Weimar 1961. S. 156-158.

Eine Mappe mit Notizen zur Metrik aus Goethes Papieren

Im Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar befindet sich eine von Goethe selbst zusammengestellte Mappe mit Schriftstücken, die sich alle auf antike Versformen und das Problem ihrer Übernahme ins Deutsche beziehen. Alles in dieser Mappe ist bisher nicht gedruckt und von der Forschung nicht benutzt. Goethe hat auf den Umschlag eigenhändig oben rechts ein Motto geschrieben. Daraus darf man schließen, daß er die Mappe selbst zusammengestellt hat. Auf der Mitte steht eine Titel-Aufschrift in der Handschrift von John, der seit 1814 bei Goethe als Schreiber arbeitete. Als Goethe im Frühling 1822 den Sekretär Kräuter beauftragte, alle seine Papiere zu ordnen und ein Verzeichnis derselben anzulegen, hatte John möglichst weitgehend alle Mappen nach Goethes Anweisung beschriftet. Auf dieser steht: Poesie und Rithmik im Einzelnen und Allgemeinen Außerdem hat der Umschlag die Ziffer 8. Das ist die Nummer in Kräuters „Repertorium" der Goetheschen Werke von 1822. In diesem Verzeichnis gibt es die große Abteilung Eigen Poetisches und darin die Mappe 8. In den Umschlag hineingelegt findet man eine Anzahl handschriftlicher Blätter oder Blattgruppen verschiedenen Formats mit Notizen und Aufsätzen, fast alle eigenhändig, von Goethe, Wilhelm v. Humboldt, Riemer, dem jungen Voß und Friedrich August Wolf.1 Die Mappe hat folgenden Inhalt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Goethe, Lateinisches Motto (egh.) Goethe, Notizen zur Metrik (egh.) Goethe, Metrisches Schema zu einem Chorlied (egh.) W. v. Humboldt, Von den verschiedenen Gattungen der Chöre (egh.) W. v. Humboldt, Vom anapästischen Silbenmafj (egh.) W. v. Humboldt, Ein Aufsatz ohne Titel, über Versfüße der griechischen Lyrik (egh.) W. v. Humboldt, Ein Blatt mit Notizen zu Hermann und Dorothea (egh.) Riemer, Verschiedene Blätter mit metrischen Aufzeichnungen (egh.) Heinrich Vofj d. J., Beispiele verschiedener Versarten (egh.) F. A. Wolf, Notizen über die Zäsuren im Hexameter (egh.) F. A. Wolf, Notizen über achtfüfjige Trochäen (egh.) Eine Tabelle mit deutschen Beispielen zu 34 antiken Versfüßen (Schreiber unbekannt) Eine Tabelle mit deutschen Beispielen zu 70 antiken Versfüßen, überschrieben „Philosophisch-prosodische Tabelle" (Schreiber unbekannt)

In diese Mappe gehörten aber noch weitere Manuskripte. Ein Blatt von der Hand des Archivars Max Hecker enthält die Notiz, daß August Wilhelm Schlegels Bemerkungen zu Goethes Elegien, Epigrammen usw. herausgenommen 1

Für eigenhändige Manuskripte wird im folgenden die Abkürzung »egh." benutzt.

Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

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sind und zu den Gedicht-Handschriften gelegt sind. Sodann wird in der Weimarer Ausgabe Bd. 11, S. 441 mitgeteilt, daß die Bruchstücke zu dem Drama Die Befreiung des Prometheus ursprünglich in dieser Mappe gelegen haben und dann für die Arbeiten an der Weimarer Ausgabe zu den Dramenhandschriften gelegt sind. Im Goethe-Jahrbuch 8, 1887, S. 65 sagt Bernhard Suphan, daß in dieser Mappe auch zwei Briefe Humboldts lagen, die über Metrik handeln. Ob noch mehr in dieser Mappe gelegen hat und von den Benutzern des Nachlasses herausgenommen ist, konnte ich nicht feststellen. Um die Mappe als Ganzes so wie Goethe sie zusammengestellt hat - zu charakterisieren, müssen also auch die später herausgenommenen Manuskripte genannt werden • im Gegensatz zu den als 1 - 1 3 genannten sind sie im Druck erschienen. Die Mappe enthielt also noch: 14. A. W. Schlegel, Metrische Bemerkungen zu Goethes Elegien, Epigrammen usw. (egh.) WA 1, S. 424-477. 15. Goethe, Fragmente zu dem Drama Die Befreiung des Prometheus (egh.) WA 11, S. 333 f. 16. Wilhelm v. Humboldts Briefe vom 16. Februar 1797 und 30. Mai 1797. Unvollständig gedruckt in: G.-Jb. 8, 1887, S. 65f. und in: Goethes Briefwechsel mit W. und A. v. Humboldt. Hrsg. von Ludwig Geiger. Bln. 1909. S. 29 f. und 38 f.

Betrachtet man die Mappe als Ganzes, so sieht man: Alles in ihr hat Beziehung zu den antiken Versarten und der Frage ihrer Übertragung ins Deutsche. Insofern gehören die Abhandlungen und die Dichtungen zusammen. Schlegels Notizen zu Goethes Distichen und Humboldts Notizen zu Goethes Hexametern sind besonders deutliche Beispiele dafür, wie hier die metrische Theorie an Goethes dichterisches Schaffen herangetragen wird. Die Aufsätze zur Metrik, z. B. die Wilhelm v. Humboldts, hat Goethe aufbewahrt, nicht nur, um Antikes kennenzulernen, sondern auch, um beim eigenen Schaffen eine Hilfe zu haben. Goethes Fragmente eines Prometheus-Dramas in dieser Mappe haben antikisierende Formen, die eng mit der Theorie zusammenhängen. Die Zusammenstellung der verschiedenen Manuskripte, welche z. T. später von anderen aufgelöst ist, war für Goethe durchaus organisch, denn alles hat Beziehungen zu seinen eigenen Dichtungen in antiken Formen, den Hexametern der Epen, den Distichen der Elegien, den Chorliedern des Helena-Akts. Deswegen ist in Kräuters Verzeichnis die Mappe in die Abteilung Eigen Poetisches eingereiht, obgleich das meiste darin von anderen stammt; denn sie enthält Materialien für Goethes Dichtungen in antiken Formen, solche, die schon da waren, und solche, die noch zustande kommen sollten. Die ganze Mappe steht also im Zusammenhang der Aufnahme und Verarbeitung der Antike. Über Goethe und die antiken Versformen gibt es bereits mancherlei Literatur.2 Diese Mappe ist darin nicht berücksichtigt. Deswegen sei über ihren Inhalt einiges mitgeteilt. 2 Viktor Hehn, Einiges über Goethes Vers. In: Hehn, Gedanken über Goethe. Berlin 1887 u. ö. - Andreas Heusler, Deutscher und antiker Vers. Strasburg 1917. - A. Heusler, Dt. Verslehre. Bd. 3. 1929. § 939-942 a ; 1100-1130. - Humphry Trevelyan, Goethe und die Griechen. Hamburg 1949. - Emil Staiger, Goethes antike Versmafje. In: Staiger, Die Kunst der Interpretation. Zürich 1955. S. 115-131. - Alfred Kelletat, Zum Problem der antiken Metren im Deutschen. Der Deutschunterricht 16, 1964, S. 50-85. - Friedrich Neuxnann, Grundsätzliches zum epischen Hexameter Goethes. Dt. Vjs. 40, 1966, S. 328-359. - Yoshiyuki Nitta, Ober die Wandlungen der Dichtkunst Goethes in seiner klassizistischen Periode. Eine Untersuchung zur Prosodie in Goethes antikisierenden Versen. (In japan. Sprache.) In: Gete nenkan. Goe.Jb. hrsg. von Shusuke Okamoto. Bd. 11. Osaka, Goethe-Ges. in Kansai 1974. S. 281-431.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Ein Zettel von Riemer mit einem Schema und Beispiel für achtfüßige Trochäen ist an sich unwesentlich; wie solche Trochäen aussehen, kann man in jedem modernen Lehrbuch der griechischen und römischen Metrik ebenso gut oder besser finden. Doch Goethe verwendet diese Form in Faust, und Riemer war sein Berater - dadurch bekommt so eine Aufzeichnung ihren Zusammenhang. Das gilt vor allem für die Notizen zum Hexameter. Daß Goethe diese Form im Jahre 1801 ganz aufgab, lag vor allem an den Metrikern. Die Aufzeichnungen dieser Mappe zeigen, wie sehr er sich um die antiken Formen bemüht hat - viel mehr als Schiller - , und welche Schwierigkeiten sich hier ergaben. Man mufj diese Notizen also in den Zusammenhang von Goethes metrischen Bemühungen einordnen. Deswegen seien diese seine Bemühungen zunächst einmal in Form von Dokumenten aufgezählt. Eine solche Zusammenstellung gibt es bisher nicht. Sie ist etwas anderes als das, was 1949 Ernst Grumach in seinem Werk „Goethe und die Antike" zusammengestellt hat. Dort findet man, was Goethe über Homer und Vergil, über Ovid und Properz und die anderen Dichter gesagt hat. Seine Lektüre der antiken Dichter, die ihm zugleich auch immer die antiken Versformen nahebrachte, wird im folgenden nur ganz kurz in den wichtigsten Zügen erwähnt. Es kommt in der folgenden Zusammenstellung an auf die metrischen Theorien seiner Zeitgenossen, die ihm als Norm vorgesetzt wurden und die ihm immer nur Schwierigkeiten bereiteten.

Dokumente zu Goethes Beziehung zu der klassizistischen Verslehre 1780. Euripides-Lektüre. Brief darüber vom 12. September 1780 an Frau v. Stein. 1781. Die Odyssee-Übersetzung von Johann Heinrich Vofj erscheint. 1781-1782. Lektüre mehrerer Dramen des Aischylos in Toblers Übersetzung. Goethe an Knebel, 17. April 1782. Ich bin nun auch in den Geschmack det Inschriften - Epigramms - gekommen, und es werden bald die Steine zu reden anfangen. Inschriften für den Weimarer Park sind Goethes erste Gedichte in antiken Langversen, denen bald andere Epigramme folgten. Goethe an Herder, 1. September 1786. Nach Deinem Abschied las ich noch in der „Elektro." des Sophokles. Die langen Jamben ohne Abschnitt und das sonderbare Wälzen und Rollen des Periods haben sich mir so eingeprägt, daß mir nun die kurzen Zeilen der „Iphigenie" ganz höckerig, übelklingend und unlesbar werden. Ich habe gleich angefangen, die erste Szene umzuändern. Januar 1787. In Rom Beschäftigung mit dem 1786 erschienenen Buch „Versuch einer deutschen Prosodie" von Karl Philipp Moritz. Gespräche mit diesem.

Dokumente 1780-1790

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Darüber ein Brief in der Italienischen Reise, die 1816 erschien. Der Brief geht wohl auf einen Brief von 1787 zurück und darf deswegen hier eingeordnet werden: Warum ich die Prosa seit mehreren Jahren bei meinen Arbeiten vorzog, daran war doch eigentlich schuld, daß unsere Prosodie in der größten Unsicherheit schwebt, wie denn meine einsichtigen, gelehrten, mitarbeitenden Freunde die Entscheidung mancher Fragen dem Getühl, dem Geschmack anheimgaben, wodurch man denn doch aller Richtschnur ermangelte. „Iphigenia" in Jamben zu übersetzen, hätte ich nie gewagt, wäre mir in Moritzens „Prosodie" nicht ein Leitstern erschienen. Der Umgang mit dem Verfasser, besonders während seines Krankenlagers, hat mich noch mehr darüber aufgeklärt, und ich ersuche die Freunde, darüber mit Wohlwollen nachzudenken. Es ist auffallend, daß wir in unserer Sprache nur wenige Silben finden, die entschieden kurz oder lang sind. Mit den andern verfährt man nach Geschmack oder Willkür. Nun hat Moritz ausgeklügelt, daß es eine gewisse Rangordnung der Silben gebe, und daß die dem Sinne nach bedeutendere gegen weniger bedeutende lang sei und jene kurz mache, dagegen aber auch wieder kurz werden könne, wenn sie in die Nähe von einer andern gerät, welche mehr Geistesgewicht hat. Hier ist denn doch ein Anhalten, und wenn auch damit nicht alles getan wäre, so hat man doch indessen einen Leitfaden, an dem man sich hinschlingen kann. Ich habe diese Maxime öfters zu Rate gezogen und sie mit meiner Empfindung übereinstimmend getroffen.

1787. Homer-Lektüre. Herbst 1788 bis Frühjahr 1790: Entstehung der Römischen Elegien im Zusammenhang mit Lektüre von Properz, Catull, Tibull, Ovid und Johannes Secundus. Gedruckt 1795 in Schillers „Hören". Goethe, Tagebuch .14. März 1790.

Moritz, Prosodie. Goethe kaufte das Buch am 24. Februar 1790 in Weimar. (Ruppert Nr. 707.) - Karl Philipp Moritz, Versuch einer deutschen Prosodie, Berlin 1786, schreibt unter anderem: „Die Alten zählten wirklich dem Ohre ihre einzelnen Laute ebenso wie die Silben zu . . . Bei uns ist es gerade umgekehrt, die Bedeutung greift bei uns allenthalben ein und zerstört Verhältnis, Harmonie und Wohlklang . . . " (S. 11 f.) „Alle unsre Längen haben den Fehler, daß sie zu lang, und unsre Kürzen, daß sie zu kurz sind." (S. 21) „Unsre deutschen trochäischen Hexameter sind im Grunde nichts als sechsfüßige mit Daktylen untermischte Trochäen, die an sich eine recht gute Versart sein mögen, aber Hexameter sind sie nicht." (S. 203 f.) März bis Juli 1790: Entstehung der Venetianischen Epigramme. Später in Auswahl gedruckt in Schillers „Musenalmanach für das Jahr 1796". Vermutlich geht in dem Epigramm Vieles hab' ich versucht.. . die Klage über die deutsche Sprache als schlechtesten Stoff auf Moritz' „Prosodie" zurück, in der nicht nur die alten Sprachen als sehr viel besserer Werkstoff des Dichters gepriesen werden,- auch die französische, „selbst die englische" sei „sanfter und wohlklingender" (S. 13 f.). Das deutsche Akzentprinzip „verdirbt alles, sobald es auf Har8

Trunz, Goethe-Studien

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

monie und Wohlklang ankömmt" (S. 19). Das Wort vom schlechtesten Stoff ist also wohl Zitat mit ein wenig Ironie, denn Goethe wußte, daß mit diesem Stoff mancherlei geleistet werden könne. Zum Gattungscharakter des Epigramms in der Nachfolge Martials gehört die Anspielung auf Bestehendes, das Spitze und Provozierende. An C. G. Körner, 21. Oktober 1790. Hier sende ich einige Epigramme, sie neigen sich mehr nach der besseren griechischen Manier. Ende Januar 1793. Beginn der Arbeit an Reineke Fuchs. 20. Februar 1793. Goethe kauft Voß' Übersetzung von Vergil, Georgica (Ruppert Nr. 1459). In der Einleitung sagt Vofj, daß Klopstock seine Hexameter nach eigenen, sehr freien Gesetzen gebaut habe, nicht nach antiken Gesetzen. Die Klopstock-Nachfolger hätten oft schlechte Hexameter geschrieben. Man solle im Deutschen viel strenger die antiken Versgesetze befolgen. Er behandelt kurz Taktfüllung und Zäsuren. Über seine eigenen Grundsätze äußert er sich sehr knapp. Er übernimmt von Klopstock den Begriff „Wortfuß" und führt den Begriff „Mittelzeit" ein, ohne ihn hinreichend zu erklären. (Das geschah erst 1802 in seiner „Zeitmessung der deutschen Sprache".) 1793. Entstehung der Elegie Das

Wiedersehn.

Goethe an Herder, 7. Juni 1973. Die Obelisken und Asterisken (Herders kritische Notizen) an „Reineke" gehe ich fleißig durch und korrigiere nach Einsicht und Laune. Ohne diese Beihilfe des kritischen Bleistifts wäre ich nicht imstande, meinen Verbesserungswillen zu richten und zu fixieren. 1793. Es erscheint: Homers Werke, übersetzt von J. H. Voß. Die Ilias neu, die Odyssee umgearbeitet. - Die metrischen Grundsätze bei der neuen Fassung sind strenger als in der von 1781. An F. H. Jacobi, 18. November 1793. „Reineke Fuchs" näht sich der Druckerpresse... Es macht mir noch viel Mühe, dem Vers die Aisance und Zierlichkeit zu geben, die er haben muß... Um etwas Unendliches zu unternehmen, habe ich mich an den Homer gemacht. Mai 1794: Reineke Fuchs erscheint im Druck. Anfang Juni 1794. J. H. Voß kommt zum Besuch nach Weimar und liest aus seiner OdysseeÜbersetzung vor. Er berichtet darüber in einem Brief an seine Frau vom 6. Juni. (Gespr. ed. Herwig 1, S. 545-547.) J. H. Voß an seine Frau, 13. Juni 1794. Goethes Reineke Fuchs habe ich angefangen zu lesen; aber ich kann nicht durchkommen. Goethe bat mich, ihm die schlechten Hexameter anzumerken; ich muß sie ihm alle nennen, wenn ich aufrichtig sein will.

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Dokumente 1790-1795

J . H. Vofj an Goethe, Eutin, 17. Juli 1794. Ihr Reinehe hat mich im Wagen begleitet... Was ich vermisse, soll ich sagen? Mich deucht, die Wortfüße oder Rhythmen sollten etwas mannigfaltiger und mehr aus dem Fache des Lieblichen gewählt sein. Es herrschen die trochäisch fallenden Bewegungen. Spondeen, die zum Gegengewicht kaum entbehrlich sind, fehlen fast ganz. Daktylische Fälle kommen zu selten . .." Im folgenden geht Voß einzelne Verse durch und vermerkt, daß sie „nicht altertümlich" seien, „zu matt und zu einförmig" usw. Seine Bemerkungen sind eine im Ton höfliche, im Sachlichen ganz negative Kritik. Winter 1794/95. Goethe liest in der „Freitagsgesellschaft" aus der Ilias-Übersetzung von Vofj vor. Später - 1824 - schreibt er darüber, daß man viel über dieses Werk gesprochen habe, daher ich denn nach alter

Überzeugung,

daß

Poesie durch das Auge nicht auigeiaßt werden könne, mir die Erlaubnis ausbat, das Gedicht vorzulesen, mit dem ich mich von Jugend auf mannigialtig betreundet hatte. Daß mir nun das rhapsodische Metier nicht ganz mißlungen, davon gibt Herrn v. Humboldts Erwähnung gegen Schillern das beste Zeugnis . . . Und gewiß: Schwarz auf Weiß sollte durchaus verbannt sein; das Epische sollte rezitiert, das Lyrische gesungen und getanzt und das Dramatische persönlich mimisch vorgetragen werden. ( W A 4 2 , 2 S. 4 5 5 f.)

Zwischen April 1795 und März 1797: Entstehung der Fragmente zu Die Beireiung des Prometheus. Nur ein Chorlied und einige Trimeter sind erhalten. 28. Mai 1795. K. A. Böttiger zeichnet ein Gespräch mit Goethe und mit Friedrich August Wolf auf. Wolf war vom 22. bis 28. Mai als Gast Böttigers in Weimar. Am 28. Mai waren Wolf, Böttiger, Wieland und andere bei Goethe zu Tisch. Das Gespräch behandelt unter anderem die Deklamation des Hexameters. (Gespr. ed. Herwig 1 Nr. 1200 S. 594 f.) W. v. Humboldt an Schiller, Tegel, 31. August 1795. Es gibt jetzt, vorzüglich seit der Vossischen Schule, eine Menge Menschen, die, wenn sie auch vielleicht nicht einmal Ohr haben, doch dies affektieren . . . Diese lamentieren nun grausam, dafj bloß Voß Hexameter machen könne, und ich weiß, was ich über die Elegien habe hören müssen. (Gemeint sind die Römischen Elegien Goethes, die kurz zuvor in Schillers „Hören" erschienen waren.) W. v. Humboldt an Schiller, Tegel, 14. September 1795. In Vof}' Dichtkunst sind mir die Härten des Inhalts und der Sprache . . . aufgefallen. Ich habe neuerlich einige Gesänge seiner neuen Odyssee mit prüfender Aufmerksamkeit auf die Sprachneuerungen gelesen. . . Auch gegen die Prosodie kommen starke Dinge vor, und ich kann es nicht leugnen, daß ich das Ansehn, in dem er jetzt wirklich bei vielen steht, für verderblich halte. W. v. Humboldt an Schiller, Tegel, 23. Oktober 1795. Es ist mir sehr lächerlich, daß ich über Prosodie krittle, da ich ein völlig unmusikalisches Ohr habe . . . Körner ist. . . noch leichter als ich mit dem Silbenmaße, und ich bin es wieder mehr als einige andre meiner Freunde. Nun 8*

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

haben Sie und Körner doch gewiß ein ohne Vergleichung besseres Ohr als ich und diese andern. Wir aber unterscheiden uns bloß durch eine genauere Lektüre der alten Dichter. Sollte daher in diesen Regeln - vorzüglich mit den Abschnitten des Hexameters - nicht manches Willkürliche liegen? Dezember 1795. Im „Neuen teutschen Merkur" erscheint eine ausführliche Rezension von Vossens Homerübersetzung, welche darlegt, daß die 1. Fassung der „Odyssee"-Übertragung von 1781 klanglich und sprachlich besser sei als die 2. Fassung von 1793 mit ihren metrischen Künsteleien. Verfasser der mit „x." unterzeichneten Rezension ist Wieland. Winter 1795/96. K. L. v. Knebel vollendet die Übersetzung einiger Elegien des Properz für Schillers „Hören". Schiller schreibt am 13. Dezember 1795 an Goethe, er habe auf die Durchsicht des Manuskripts besondere Sorgfalt gewandt, „weil wir auch die Vossischen Rigoristen auf dem Nacken haben". Auch Goethe berücksichtigt bei seiner Durchsicht diesen Gesichtspunkt. Knebel an Goethe, 15. Dezember 1795. Meine Arbeit, so leicht sie aussieht, ist doch das Resultat mancher Beobachtungen und Abstraktionen . . . Daß es noch zu polieren gibt weiß ich am besten; nur wünschte ich freilich den wichtigern Fleck zuerst zu verbessern - und dieser ist wohl die Sache selbst, Sinn und lebendiger Ausdruck. Dieses letztere zumalen scheint unseren strengen Rigoristen eine Nebensache, ohne Bedeutung wofern nur die Silben richtig sind. Knebel an Goethe, 22. Dezember 1795. D a ich zum Beispiel Deinen Reineke Fuchs für das beste und der Sprache eigentümlichste Werk deutscher Prosodie halte, so wollte ich nicht, daß Du andern, die bei weitem nicht Gefühl und Geschmack genug zu dieser Sache haben, aus zu vieler Nachsicht und Gutheit zu viel e i n r ä u m t e s t . . . Was soll es werden, wenn sich unsre einzigen Muster unter die Regel einseitiger oder fühlloser Pedanten schmiegen! Schiller an A. W. Schlegel, Jena, 9. J a n u a r 1796. Goethe, der eben hier ist, war mit Ihrer Rezension sowie überhaupt mit Ihrer Art zu urteilen sehr zufrieden, nur daß auch er sowohl gegen Ihre als gegen die Vossische Prosodie noch manches einzuwenden hat. Er glaubt und muß seiner Natur nach diese Meinung haben, daß in Rücksicht auf den Versbau den Forderungen des Moments und der Konvenienz des individuellen Falles weit mehr als einem allgemeinen Gesetz müsse nachgegeben werden. Oktober 1795 bis J u l i 1796: Entstehung der Xenien Lektüre des Martial.

im Zusammenhang mit

Schiller an W. v. Humboldt, 1. Februar 1796. Die Xenien, von denen ich Ihnen einmal schrieb, haben sich nunmehr zu einem wirklich interessanten Produkt, das in seiner Art einzig werden dürfte, erweitert. . . Daß ich für eine große Korrektheit auch in der Prosodie sorgen werde, verspreche ich Ihnen sowohl in meiner als Goethes Portion.

Dokumente 1795-1797

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22.-26. August 1796. A. W. Schlegels Rezension von „Homers Werke, übersetzt von J. H. Voß, Altona 1793" erscheint in der Jenaer „Allgemeinen LiteraturZeitung", Nr. 262-267 in 6 Fortsetzungen. Der letzte Teil behandelt ausführlich die deutschen Hexameter. Schlegel lobt die Daktylen und Spondeen, findet aber, daß die Vossischen Grundsätze „für die besonnene, nicht selten in Künstlichkeit ausartende Kunst der Alexandriner und der Römer aus ihrer Schule sehr gut passen könnten, ohne auf den Homer anwendbar zu sein". - Später wieder abgedruckt in A. W. Schlegel, Charakteristiken und Kritiken, 1801. Mai 1796 bis 1799: Entstehung der Elegien Alexis und Doxa, Amyntas, Die Metamorphose der Pflanzen u. a.

Euphrosyne,

September 1796 bis Juni 1797: Arbeit an Hermann und Dorothea. Das Werk erscheint Anfang Oktober 1797. Herbst 1796. In Schillers „Musenalmanach auf das Jahr 1797" erscheint Alexis und Dora. Goethe an H. Meyer, 5. Dezember 1796. Über Hermann und Dorothea: In Absicht aut die poetische sowohl als prosodische Organisation des Ganzen habe ich beständig vor Augen gehabt, was in diesen letzten Zeiten bei Gelegenheit der Vossischen Arbeiten mehrmals zur Sprache gekommen ist, und habe verschiedene streitige Punkte praktisch zu entscheiden gesucht. 1797. Beschäftigung mit den Dramen des Aischylos in den Übersetzungen von Humboldt und von Tobler. Goethe, Tagebuch. 14. Januar 1797. Weimar. Früh Hermann de Metris. - Im Jahre 1796 hatte der Leipziger Professor für Klassische Philologie Johann Gottfried Jakob Hermann herausgegeben: De metris poetarum Graecorum et Romanorum libri III. Lipsiae 1796. (X, 462 S.) Das umfangreiche Werk ist in lateinischer Sprache geschrieben. Den Hauptteil macht eine in die Einzelheiten gehende Darstellung der metrischen Formen aus, mit Beispielen aus griechischen und lateinischen Schriftstellern. Einleitend handelt Hermann über Rhythmus allgemein. Sein Versuch, dabei an die Kantische Philosophie anzuschließen, wirkt etwas gewaltsam. Das Werk befindet sich noch heute unter Goethes Büchern (Ruppert Nr. 676). Goethe, Tagebuch. 18. Januar 1797. Bei Knebel im Garten über deutsche Prosodie

gesprochen.

W. v. Humboldt an Goethe, Jena, 10. Februar 1797. Wollten Sie wohl Sonntag den Hermann „De metris" mitbringen? Ich muß hier mein geliehenes Exemplar zurückgeben und möchte nicht gern den Faden verlieren, den es immer so sauere Mühe anzuknüpfen kostet. W. v. Humboldt an K. G. v. Brinkmann, Jena, 13. Februar 1797. Mit Goethe hatte ich gestern ein langes Gespräch über metra, wo er allen Vossischen Regeln gräßlich das Urteil sprach . . . Wahr ist es, daß der Sprache

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

mit einer Prosodie, die so wenig auf sie ünd ganz auf die Alten berechnet ist, als die Vossische, nicht gedient sein k a n n . . . Goethes Hauptbuch ist jetzt der Hermann „De metris".. . Doch scheint er ihn vorzüglich als eine Autorität zu Lizenzen zu gebrauchen. Ich studiere jetzt diesen Hermann. Ich bin in den Hauptpunkten mit ihm uneins . . . W. v. Humboldt an Goethe, 16. Februar 1797. Ich habe nunmehr in Hermann das Kapitel vom Hexameter durchgelesen und glaube, Ihnen davon Rechenschaft geben zu können. Wenn er von einer incisio prima, septima, duodecima usw. spricht, so versteht er darunter die Zäsur nach der ersten, siebenten, zwölften Silbe usw. Nun rechnet er ja den Fuß zu drei Silben, weil er so viele haben kann, wenn er sie auch in dem gegebenen Beispiel nicht hätte . . . (Es folgt ein langer Abschnitt über die Zäsuren im Hexameter, vor allem nach der 7., 8. und 10. Silbe, mit Beispielen.) . . . Ich bin alle diese Tage fleißig an „Agamemnon" gewesen. Es ist eine schlimme Aufgabe, den dunklen Aeschylus in gleicher Silbenzahl in den Chören wiederzugeben . . . Vossen bin ich sicherlich nicht streng genug im Metrum . . . Goethe an Schiller, Weimar, 18. Februar 1797. Ich wage es endlich, Ihnen die drei ersten Gesänge des epischen Gedichtes zu schicken. Haben Sie die Güte, es mit Aufmerksamkeit durchzusehen, und teilen Sie mir Ihre Bemerkungen mit. Herrn v. Humboldt bitte ich gleichfalls um diesen Freundschaitsdienst. Goethe, Tagebuch. Jena, 6. März 1797. Früh Bergrat v. Humboldt... Vorher sein Bruder, Bemerkungen zu den zwei ersten Gesängen durchgegangen. Goethe, Tagebuch. Jena, 27. März 1797. Mit v. Humboldt...

die Übersetzung des „Agamemnon"

durchgegangen.

W. v. Humboldt an K. G. v. Brinkmann, Jena, 27. März 1797. Goethe ist noch hier, er hat sein episches Gedicht beendigt, das unendlich schön ist und dessen Ende noch den Anfang selbst übertrifft. Auch mit dem Versbau hat er sich viel Mühe gegeben und mich oft konsultiert. Ich habe ihm meinen Rat ganz offen erteilt, und nicht wenig Verse hat er wirklich geändert. Allein sollte auch alles durchaus fehlerfrei sein, so wird der große Reichtum und die Kraft des Rhythmus ihm nie recht eigen sein, wenigstens nie so prävalierend als in Voß . . . Goethe, Tagebuch. Jena, 29. März 1797. Zu Holrat Schütz, mit ihm über Äschylus, Vossens Übersetzung logen...

der Ek-

W. v. Humboldt an F. A. Wolf, 31. März 1797. Sie erhalten hier wieder ein reichliches Stück „Agamemnon" . . . Goethe i s t . . . mit der Arbeit im ganzen sogar sehr zufrieden . . . Alle Sie zusammen scheinen den Versbau, meine sauerste Arbeit - und meiner Meinung nach auch meine

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Dokumente 1797

verdienstvollste - gar nicht sonderlich zu achten . . . Goethe scheint ihn zu fühlen und zu billigen; aber zum Beurteilen fehlt's ihm an Kenntnis. W. v. Humboldt an Caroline, 3. April 1797. Ich schicke Dir hier eine Abschrift eines angefangenen Chores aus Goethes „Gelöstem Prometheus" . . . Es ist äußerst unvollendet noch und an einigen Orten nicht einmal verständlich . . . Goethe hat es mir mitgegeben, um ihm ein passendes Silbenmaß dazu aufzufinden. Goethe an Schiller, 8. April 1797. Herr v. Humboldt läßt Sie schönstens grüßen. .. Wir haben über die letzten Gesänge ein genaues prosodisches Gericht gehalten und sie, so viel es möglich war, gereinigt.

Goethe an Schiller, Weimar, 15. April 1797. Montags gehen die vier ersten Musen ab, indes ich mich mit den tünt fleißig beschäfige und nun besonders die prosodischen Bemerkungen Humboldts benutze.

letztern Freund

6. Mai 1797. Ausführlicher Brief W. v. Humboldts an Goethe mit Vorschlägen zu metrischen Änderungen in Hermann und Dorothea. (Abgedruckt in der Ausgabe des Briefwechsels von Bratranek, 1876. Fehlt in der Ausgabe von Geiger, 1909). W. v. Humboldt an Caroline, Berlin, 6. Mai 1797. Mit Goethes Hermann habe ich schon viel zu tun gehabt, die erste Hälfte noch einmal durchgelesen und Goethen mehrere Verse wieder zum Umändern vorgemerkt. Goethe hat mir zwar in einem Brief an Vieweg Vollmacht gegeben, selbst zu ändern, was ich will, doch tue ich das natürlich nicht. Goethe an Schiller, Weimar, 13. Mai 1797. Von Humboldt habe ich einen weitläufigen und ireundschaitlichen einigen guten Anmerkungen über die ersten Gesänge, die er in Berlin gelesen hat.

Briet mit nochmals

30. Mai 1797. Brief W. v. Humboldts an Goethe mit weiteren Änderungsvorschlägen für Hermann und Dorothea aus metrischen Gründen. (Goethe-Jahrbuch 8, S. 67-69.) Goethe an H. Meyer, 6. Juni 1797. Wir haben in diesen Tagen Gelegenheit gehabt, manches abzuhandeln über das, was in irgend einer prosodischen Form geht und nicht geht. Es ist wirklich beinahe magisch, daß etwas, was in dem einen Silbenmaße noch• ganz gut und charakteristisch ist, in einem andern leer und unerträglich scheint. Doch ebenso magisch sind ja die abwechselnden Tänze auf einer Redoute, wo Stimmung, Bewegung und alles durch das Nachfolgende gleich aufgehoben wird .. .

Goethe, Tagebuch. 7. Juni 1797. Humboldtische

Erinnerung

zum Gedicht.

Schluß des epischen

Gedichtes.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Fürchtegott Christian Fulda, Aus: Trogalien zur Verdauung der Xenien, Halle 1797. Hundertmal hab ich's gesagt und tausendmal werd ich's noch sagen: Schlechte Verse sind schlecht, wenn sie auch Goethe gemacht.

F. Schlegel, Kritische Fragmente. In: Lyceum der Schönen Künste, Bd. 1, 2. Teil. Berlin 1797. Fragment Nr. 6: Man tadelt die metrische Sorglosigkeit der Goetheschen Gedichte. Sollten aber die Gesetze des deutschen Hexameters wohl so konsequent und allgemeingültig sein wie der Charakter der Goetheschen Poesie? Goethe an Schiller, 28. Februar 1798. ... Vofj, der am Ende denn doch überzeugt ist, daß er ganz allein machen kann und soll.

Hexameter

W. v. Humboldt an Goethe, Paris, Anfang April 1798. In Rücksicht auf die Verse muß ich noch einmal auf Ihren Hermann zurückkommen. Ich weifj nicht, ob Sie mit Brinkmann über Prosodie gesprochen haben; er ist aber sehr fest und geübt darin . . . Er hat Ihren Hermann unglaublich studiert, und da ich in seinem Exemplar einige Verse angestrichen sah, so forderte ich ihn auf, das Gedicht einmal ganz durchzugehn, die prosodischen Kleinigkeiten, die ihm aufstoßen würden, anzumerken, und zu versuchen, wie man ihnen vielleicht durch leichte Versetzungen abhelfen könnte . . . Er versteht nicht nur die Sache, sondern besitzt sehr viel Genauigkeit, so daß ihm nicht leicht eine Unrichtigkeit e n t g e h t . . . Goethe an Schiller, 28. April 1798. Ich will nun auch Freund Humboldt antworten und ihn besonders ersuchen, mit Brinkmann einen prosodischen Kongreß über Hermann und Dorothea zu halten, so wie ich ihnen noch mehr dergleichen Fragen im allgemeinen vorzulegen gedenke. A. W. Schlegel an Goethe, 9. Mai 1798. (Mit Übersendung des 1. Hefts der Zeitschrift „Athenäum".) Bei den Übersetzungen aus dem Griechischen habe ich mir besonders die Bearbeitung des Pentameters angelegen sein lassen . . . Goethe, Tagebuch. Jena, 7. Juli 1798. Proi. Woli war Irüh morgens bei mir. Mittags mit demselben bei Schiller, wo er bis gegen Abend blieb. Goethe an W. v. Humboldt, 16. Juli 1798. Sie haben... der Kantischen Philosophie mitten in Paris energisch genug gedacht. Da Sie denn doch einmal ein so erklärter Deutscher sind, so wünschte ich, daß Sie noch mit Brinkmann eine Prosodie unserer Sprache zu Stande brächten ..., es wäre kein geringes Verdienst, besonders um Poeten von meiner Natur, die nun einmal keine grammatische Ader in sich tühlen. 18. Dezember 1798. In der Jenaer „Allgemeinen Literatur-Zeitung" erscheint A. W. Schlegels Rezension von Karl Ludwig v. Knebels Properz-Übersetzung

Dokumente 1798-1799

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(Leipzig 1798). Die im allgemeinen zustimmende Rezension sagt, daß dem modernen Übersetzer keine andre Möglichkeit bleibe als das elegische Versmaß zu benutzen, doch „bei aller Bearbeitung desselben in den letzten Zeiten bleibt der Pentameter in unserer Sprache ein sehr schwieriger Vers . . . An dem Versbau vermissen wir hauptsächlich noch sorgfältigere Benutzung der vorhandenen und wirklich vorkommenden Spondeen." Goethe an A. W. Schlegel, 28. Dezember 1798. Die Rezension von dem Knebeischen Properz scheint mir sehr gut und zweckmäßig geraten... Ein Mann wie Knebel verdient eine zarte Behandlung, da er von Natur zum umändern und ausbessern so sehr geneigt ist. Was ich lür ihn wünschte, wäre, daß er sich mit Ihnen in Konnexion setzte, um Ihres Rates bei der Übersetzung des Lukrez, aui die er eine unsägliche Arbeit verwendet, zu genießen. Er liegt, wie Sie aus seiner Vorrede bemerkt haben, noch an einer kleinen grammatisch-prosodischen Opposition krank. Es würde ihm bei seiner Arbeit zum größten Vorteil gereichen, wenn wir ihn davon heilen könnten, so daß er die unleugbaren Fortschritte, die man in den letzten Zeiten gemacht hat, anerkennte, gewisse Grundsätze zu befolgen sich entschlösse und dadurch seinem Vers gewiß manchen Vorteil verschaffte. Ich mache ihn hierauf in einem Briete aufmerksam. Goethe an Knebel, 31. Dezember 1798. Ich lege auch die Rezension Deines Properz bei, sie ist von Rat Schlegel in Jena. Ich wünsche, daß Du Dich mit ihm in Relation setztest und mit ihm über Deinen Lukrez konferiertest, es würde Dich gewiß fördern ... März 1799 bis Mai 1799: Entstehung des Achilleis-Fragments. Dies sind die letzten epischen Hexameter, die Goethe schreibt. Im Druck erscheint die Achilleis erst 1808. "Goethe, Tagebuch. 1799. 2. April: Des Euripides Alceste. - 3. A p r i l I n diesen Tagen die Trauerspiele des Euripides. - 4. April: Trauerspiele des Euripides. - 6. April: Nachmittags bei Schiller über den „Hercules furens". Goethe, Tagebuch. 21. Juni 1799. Meine kleinen Gedichte vorgenommen. - Diese Notiz bezeichnet den Anfang der Arbeit an Band 7 der Neuen Schriften bei Unger, welcher die Gedichte bringen sollte. Außer den Gedichten in Reimstrophen sollen in diesen Band auch die in antikisierenden Langzeilen hineinkommen: die Römischen Elegien, die anderen Elegien wie Alexis und Dora, zu einer Gruppe vereinigt, und die Venetianischen Epigramme. Goethe an Schiller, 7. August 1799. Die Epigramme sind, was das Silbenmaß betrifft, am liederlichsten gearbeitet... Aus den Römischen Elegien habe ich manchen prosodischen Fehler und ich hoffe: mit Glück - weggelöscht. Bei passionierten Arbeiten wie z. B. Alexis und Dora ist es schon schwerer... Wenn man solche Verbesserungen auch nur teilweise zustande bringt, so zeigt man doch immer seine Perfek-

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

tibilität, so wie auch Respekt für die Fortschritte in der Prosodie, welche man Vossen und seiner Schule nicht absprechen kann . .. Schiller an Goethe, 9. August 1799. Zu den prosodischen Verbesserungen in den Gedichten gratuliere ich . . . Weil aber die prosodische Gesetzgebung selbst noch nicht durchaus im klaren ist, so werden immer bei dem besten Willen streitige Punkte in der Ausführung bleiben, und da Sie einmal über die Sache so viel nachgedacht, so täten Sie vielleicht nicht übel, wenn Sie in einer Vorrede oder wo es schicklich ist, Ihre Grundsätze darüber aussprächen, daß man das für keine bloße Lizenz oder Übertretung halte, was aus Prinzipien geschieht. Goethe an Schiller, 21. August 1799. An meinen kleinen Gedichten habe ich fortgefahren zusammenzustellen und zu korrigieren. Man sieht auch hier, daß alles auf das Prinzip ankommt, woraus man etwas tut. Jetzt, da ich den Grundsatz eines strengeren Silbenmaßes anerkenne, so bin ich dadurch eher gefördert als gehindert. Es bleiben freilich manche Punkte, über welche man ins klare kommen muß. Voß hätte uns schon vor 10 Jahren einen großen Dienst getan, wenn er in seiner Einleitung zu den Georgiken über diesen Punkt etwas weniger mystisch geschrieben hätte. Schiller an Goethe, 24. August 1799. Leben Sie wohl in Ihrer geschäftigen Einsamkeit. Ihre Genauigkeit in der Metrik wird die Herren Humboldt und Brinkmann nicht wenig erbauen. Goethe, Tagebuch. Weimar, 25. August 1799. Voßens Georgica. Goethe, Tagebuch. Weimar, 13. September 1799. Bei dem sechswöchentlichen Aufenthalt im Garten waren die vorzüglichsten Beschäftigungen: 1. Sammlung meiner kleinen Gedichte, 2. bei dieser Gelegenheit Studium der Rhythmik ... Goethe an W. v. Humboldt, 16. September 1799. Was Sie bei Gelegenheit eines erhöhteren Kunstausdrucks von Vossen und seiner Rhythmik sagen, davon bin ich mehr als jemals überzeugt, nur schade, daß ich kaum erleben kann, daß die Sache ins gleiche kommt... Ich habe jetzt mit dem besten Willen die Georgiken wieder angesehen. Wenn man die deutschen Verse liest, ohne einen Sinn von ihnen zu verlangen, so haben sie unstreitig vieles Verdienst, was man seinen eigenen Arbeiten wünschen muß; sucht man aber darin den geistigen Abdruck des himmelreinen und schönen Vergils, so schaudert man an vielen Stellen mit Entsetzen zurück, ob sich gleich, insofern das Ganze wohl verstanden und manches einzelne auch geglückt ist, ein tüchtiger Mann und Meister zeigt... Da ich jetzt meine kleinen Gedichte, zusammen gedruckt, herausgebe, so habe ich Gelegenheit, etwas an den Elegien und Epigrammen zu tun. Es ist mir dabei wirklich angenehm zu sehen, daß ich weitergekommen bin, wofür ich Ihnen vorzüglich dankbar sein muß.

Dokumente 1799

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Goethe an Christiane, Jena, 17. September 1799. Dein Bruder möchte mir Vossens „Georgica" schicken, sie befinden unter den Büchern, die aus dem Garten heraufgekommen sind.

sich mit

W. v. Humboldt an K. G. v. Brinkmann, 20. September 1799. Die Spanier möchten wohl ebenso einer kleinen Nachhilfe bedürfen als, unter uns gesprochen, gewisse Hexameter. Goethe, Tagebuch. Jena, September 1799. 22. S e p t e m b e r : Rat Schlegel. Versbau. - 2 4 . S e p t e m b e r : Schlegel wegen der Elegien. - 25. S e p t . : Rat Schlegel wegen der rhythmischen Zweiiel. - 26. Sept e m b e r : Früh Rat Schlegel. Fortsetzung der Korrekturen. - 27. S e p t . : Mit Rat Schlegel die Epigramme durchgegangen. - 28. S e p t . : Herr Rat Schlegel. 29. S e p t . : Rat Schlegel, Schluß der rhythmischen Untersuchung.

W. v. Humboldt an K. G. v. Brinkmann, 7. November 1799. Goethe schreibt mir, daß er seine kleinen Gedichte zusammen drucken läßt und dabei die Elegien und Epigramme von neuem durchgeht. Gegen Voß wird es doch einigen Leuten immer sauer, gerecht zu sein. Knebel an Goethe, 18. November 1799. Für Deine lieben Zeilen und die beigefügten Anmerkungen des Herrn Rat Schlegels über einen Teil meiner Lukrezischen Übersetzung danke ich Dir recht sehr. Ich habe in beigefügtem Blatte Herrn Rat Schlegel selbst meinen Dank hierüber gesagt und einige Bemerkungen hinzugefügt, die ich aus der Sache genommen habe und die schon von einsichtsvollen Männern gemacht worden sind . . . So sehr ich die Vorteile des Herrn Vofj erkenne, so finde ich es doch nicht gut, seine Manier nachzuahmen . . . Viele unsrer deutschen Redensarten und Wortverbindungen sind so unzertrennlich durch unser Gehör und die Natur unsrer Sprache aneinandergeknüpft, daß sie auseinanderzureißen und dem Ohr dafür rein sein sollende Spondeen zu geben eine gewaltsame Tat ist, die weder dem Geiste noch dem Gehöre Anmut b r i n g t . . . (Aus der Beilage: Bemerkungen zu Schlegels Kritik der Lukrez-Übersetzung, November 1799:) . . . Es ist gewiß verdienstlich, daß wir unserem Versbau durch genauere Bestimmung der Akzentuation und des Gewichtes der Silben angemessenere Gesetze aufzulegen suchen. Wenn wir aber hierinnen nach allzugenauer Maßgabe der griechischen und römischen Silbenmaße unsre Forderungen zu strenge treiben, so möchte zu befürchten sein, daß wir die erhaltenen Vorteile wieder vernichteten. Denn da unsere Sprache sich nicht ähnlicher Vorteile bedienen kann wie jene Sprachen, welche z. B. durch die Position fast jede Silbe lang oder kurz machen können, so würde die Schwerfälligkeit derselben nur noch mehr ans Licht kommen, da ihr immer die ähnliche Akzentuation bleibt.. . Sonderbar ist in der Tat, daß ein Mann, der beinahe seine ganze Lebenszeit im Studium seiner Muttersprache und deren Prosodie im Verhältnis der alten Sprachen zugebracht hat und selbst ein Heldengedicht von 20 Gesängen mit großem Fleiße gemacht hat (Klopstock), bei unsrer neuesten Sprachkonstitution gar nicht in Anregung' gebracht wird, ob er sich gleich, wie es scheint, gar nicht zu ihren Gesetzen bekennen will noch in seinen Gedichten dazu bekannt h a t . . .

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

W. v. Humboldt an K. G. v. Brinkmann, 5. Dezember 1799. In keiner Sprache als der deutschen wäre es möglich, da§ ein Dichter wie Goethe so entsetzlich schlechte Verse machte als er manchmal und häufig tut. Aber wie sollte es nicht sein? Natürliche Regeln des Ohrs gibt es nicht, und die künstlichen gehört es beständige Aufmerksamkeit dazu, zu bewahren. (Aus einem langen Abschnitt über die Nachahmung antiker Hexameter im Deutschen.) Es erscheint: Gottfried Hermann, Handbuch der Metrik. Leipzig 1799. Das Werk ist eine etwas verkürzte Fassung des Buchs „De metris", in deutscher Sprache. Es handelt sich also nur um die Metrik der griechischen und lateinischen Dichtung. Auf die neuere deutsche Metrik wird nur gelegentlich ein kurzer Blick geworfen. - In Goethes Bibliothek ist ein Exemplar vorhanden (Ruppert Nr. 675). Goethe hat aber vorwiegend die lateinische Ausgabe benutzt. A. W. Schlegel an Goethe, 7. Januar 1800. Wenn Sie mir das Manuskript der Elegien noch schicken wollen, so stehe ich jederzeit mit meinen grammatischen Kleinigkeitskrämereien zu Befehl und werde es ohne Verzug besorgen. Goethe an A. W. Schlegel, 26. Februar 1800. ... Ich nehme mir die Freiheit, die Elegien zu überschicken, über die ich mich mit Ihnen gern noch mündlich unterhalten hätte. Es sind zwei Exemplare, in dem einen werden Sie die von uns angestrichenen Stellen, in dem andern die Korrekturen finden, die ich versucht habe. Vielleicht finden Sie Mittel, die bisher refraktären Stellen zu zwingen ... A. W. Schlegel an Goethe, 28. Februar 1800. Ich habe sogleich mit dem größten Vergnügen die beiden Abschriften der Elegien verglichen, indessen will ich nicht dafür einstehen, daß Sie unter meinen beigelegten neuen Vorschlägen etwas Brauchbares finden werden. Goethe an A. W. Schlegel, 5. März 1800. Durch die Vorschläge zur Verbesserung meiner Elegien haben Sie mir eine besondere Gefälligkeit erzeigt. Ich habe sie meistens eingeschaltet, und nun folgt mit meinem Dank freilich auch die zweite Sammlung. Sogar die Epigramme werden nachkommen, welche Ihrer Teilnahme vielleicht am meisten bedürfen. A. W. Schlegel an Goethe, 8. März 1800. Das Manuskript erfolgt hiebei zurück, nebst wenigen Vorschlägen. . . Die meisten betreffen Alexis und Dora... Goethe an A. W. Schlegel, 20. März 1800. Auch die Epigramme folgen hier zu gefälliger Durchsicht. Wie sehr hätte ich gewünscht, diese Revision mit Ihnen in Jena machen zu können, da die Deliberation in einem solchen Falle so instruktiv ist... Auch lege ich die „Metamorphose der Pflanzen" bei.

Dokumente 1799-1800

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A. W. Schlegel an Goethe, 1. April 1800. Es erfolgen hiebei die Epigramme und Episteln nebst meinen Vorschlägen zurück. In den letzten bedürfen ziemlich viele Verse einer Veränderung . . . Da der Rigorismus immer im Zunehmen ist, werden Sie mir in Zukunft doch nicht ganz entgehen können. 1800. Im „Neuen Teutschen Merkur", herausgegeben von Wieland, erscheint S. 161-165 von Joseph Franz v. Ratschky ein Spottgedicht auf die Vossischen Hexameter, „Der Kakodämon der Hexametromanie". Goethe, Tagebuch. Leipzig, 7. Mai 1800. über mancherlei philologische .. . Dann zu Professor Hermann... stände, über Euripides; zuletzt über Prosodie und Rhythmik.

Gegen-

August 1800: Im Verlag Unger in Berlin erscheinen Goethes neue Gedichte als Band 7 der Neuen Schritten. Darin die Elegien mit Änderungen nach VossischSchlegelschen Gesichtspunkten. In Alexis und Dora lautete Vers 8 im „Musenalmanach für das Jahr 1797": Nur Ein Trauriger steht, rückwärts gewendet, am Mast, jetzt im Druck von 1800: Einer nur steht rückwärts traurig gewendet am Mast. September 1800: Entstehung des Helena-Fragments für Faust II. Schiller an Goethe, 26. September 1800. Wenn Sie mir den Hermann, Von den griechischen Silbenmaßen zu lesen verschaffen könnten, so wäre mir's sehr lieb. Ihre neuliche Vorlesung (Anfang des Helena-Akts) hat mich auf die Trimeter sehr aufmerksam gemacht, und ich wünschte in die Sache mehr einzudringen. Goethe, Tagebuch. Jena, 28. September 1800. Herrn Registrator Vulpius. Bitte, die verlangten Bücher aus meiner Bibliothek an Herrn Hotrat Schiller abzuliefern.- Hermann, De metris-. Die griechische Hallische Grammatik; Hederichs griechisch-lateinisches Lexikon. (Ruppert Nr. 675, 676; Jahrb. Goethe 24, 1962, S. 256 Nr. 15.) Goethe in Jena an Schiller in Weimar, 28. September 1800. Ich habe Vulpius geschrieben, daß er Ihnen gleich aus meinen Büchern diejenigen aussucht, die Sie ohngetähr zu Ihren Zwecken (Metrik, insbes. Trimeter) brauchen können; Sie werden sich aber wenig daran erbauen. Das Stoff artige jeder Sprache so wie die Ver standest ormen stehen so weit von der Produktion ab, daß man gleich, sobald man nur hineinblickt, einen so großen Umweg vor sich sieht, daß man gern zufrieden ist, wenn man sich wieder herausfinden kann. In meiner Arbeit (Helena-Szenen) gehe ich auch nur so nach allgemeinen Eindrücken. Es muß jemand wie etwa Humboldt den Weg gemacht haben, um uns etwa zum Gebrauch das Nötige zu überliefern. Ich wenigstens will warten, bis er kommt, und hoffe auch alsdann nur wenig für meinen Zweck. Schiller in Weimar an Goethe in Jena, 29. September 1800. Die Bücher hat mir Vulpius geschickt, an den Hermann (Metrik) werde ich mich sogleich machen und übrigens in der Sache so lange fortfahren, als sie mir nicht unerträglich wird.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Goethe, Tagebuch. Jena, 30. September 1800. Expedition nach Weimar, Herrn Hoirat Schiller . .. Humboldts und Auisatz über den Trimeter.

„Agamemnon"

Goethe an Schiller, 30. September 1800. Es fiel mir ein, daß ich noch einen Aulsatz von Humboldt über den Trimeter habe. Leider habe ich ihn, als er abgeschrieben war, nicht korrigiert, es kommen daher einige mir wenigstens unheilbare Schreibiehler darin vor. Schiller an Goethe, 1. Oktober 1800. Für Mitteilung der Humboldtischen Arbeit danke ich Ihnen sehr; ich hoffe allerlei daraus zu lernen. Es wird mir schwer, mit Hermanns Buch zurecht zu kommen, und schon vorn herein finden sich Schwierigkeiten . . . 1800-1801. Goethe schreibt einige wenige Epigramme wie Jene machen Partei... und Weise die Rose nicht ab... Dies sind Goethes letzte Gedichte in antiken Langversen. 1801. Es erscheint von A. W. Schlegel „Charakteristiken und Kritiken", Königsberg 1801. Darin ein Neuabdruck der 1798 erschienenen Rezension von Vossens Homer-Übersetzung und dazu eine „Anmerkung zum 2. Abdruck", in der es unter anderem heißt: „Was die Bearbeitung der antiken Silbenmaße betrifft, so ist Voß unstreitig als der zweite Erfinder anzusehen, und sein Verdienst dabei ist unübersehlich groß . . . Unsre Nachfolge der alten Metrik schreitet, wie sie mit einer völlig losen Observanz anfing, immer zu größerem Rigorismus fort und möchte erst bei einer der klassischen 'gleich oder ganz nahe kommenden Gesetzmäßigkeit einen bleibenden Ruhepunkt finden." Goethe, Tagebuch. Lauchstädt 1802. 22. Mai: Professor Wolf von Halle. - 23. Mai: Professor Woli. - 25. Mai: Kam Herr Professor Wolf, welcher die Nacht über blieb. - 26. Mai: Früh mit Herrn Professor Wolf. Winter 1802/03. August Wilhelm Schlegel hält in Berlin seine aufsehenerregenden „Vorlesungen über schöne Literatur". Darin spricht er auch über Goethes Elegien. Er charakterisiert lobend den Stil und Geist und sagt dann über die Form: „Goethe hat auch vom Distichon einen vortrefflichen Gebrauch zu Epigrammen und kleinen Idyllien, dann auch zu größeren idyllischen Darstellungen gemacht. Doch bleiben nach ihm noch manche Kränze in dieser Gattung zu erwerben übrig. Unstreitig hat er in Ansehung des Pentameters zuerst den rechten Weg eingeschlagen, doch hat er darin oft eine unangenehme Häufung der einsilbigen Wörter. Überhaupt wären ihm, nach allem, was er für die Verbesserung in der neuen Ausgabe getan, reichere und gewähltere Rhythmen zu wünschen. Man täusche sich nicht über den Grad, worin diese Nachbildung des Antiken bisher gelungen: nach meiner Meinung müßte hier noch ein weit größerer Rigorismus stattfinden und der Trochäe statt des Spondeen besonders aus dem Pentameter ganz verbannt werden." (A. W. Schlegel, Vorlesungen . . . 2. Teil. Heilbronn 1884. = Dt. Literaturdenkmale des 18. u. 19. Jh., Bd. 18. S. 290.)

Dokumente 1800-1803

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Herbst 1802 bis Sommer 1805 lebt J. H. Vofj in Jena. Goethe besucht ihn, wenn er in Jena ist, häufig. Das Tagebuch verzeichnet viele Gespräche, auch über Metrik. Goethe, Tagebuch. 1803. 17. April: Früh nach Jena. - 19. April: Voß. Silbenmaße. - 20. April: Bei Voß. Alte Geographie. - 21. April: Bei Voß. Jambische Lehre. - Ernestine Vofj zeichnet später auf, das Gespräch über Reineke Fuchs am 21. April sei unbefriedigend gewesen. (Gespr. ed. Herwig, Bd. 1, Nr. 1835 S. 886.) Goethe, Tagebuch. Bad Lauchstädt, 9. Mai 1803. Voß, Prosodie. - Es handelt sich um die Lektüre von Vossens Buch „Zeitmessung der deutschen Sprache", das 1802 erschienen war. J. H. Vofj an Heinrich Christian Boie, 16. Mai 1803. Dieser Nachmittag brachte uns Goethe, der gestern von Lauchstädt zurückkam und unsere Studien im Versbau fortsetzen wollte. Er will sich nächstens in Trimetern mit untermischten Sätzen in anapästischen und choriambischen Versen versuchen, und ich hoffe, es wird gehn. Goethe an Schiller, Jena, 18. Mai 1803. Da ich durch den Eigensinn des Genius zwischen der deutschen Zeitmessung und der Farbenlehre hin- und widergetrieben werde, auch nach einem gesegneten Aniang hotten kann, einigermaßen zu prosperieren, ... so überlege ich, daß ich gar wohl hier bleiben kann ... J. H. Vofj an L. H. v. Nicolay, 20. Mai 1803. Goethe kömmt oft nach Jena, und ich freue mich seiner Besuche. Er legt es ernstlich auf Reinheit des Ausdrucks und des Verses an und denkt selbst seine Dorothea noch einmal zu verbessern. Schiller an Goethe, 20. Mai 1803. Hier sende ich Ihnen die Vossische Prosodie wieder, ich bin nicht weit darin gekommen. Man kann sich gar zu wenig Allgemeines daraus nehmen, und für den empirischen Gebrauch, etwa zum Anfragen in zweifelhaften Fällen, wo sie vortreffliche Dienste tun könnte, fehlt ihr ein Register, wo man sich das Orakel bequem holen könnte. Ihr Gedanke, sie zu schematisieren, ist das einzige Mittel, sie brauchbar zu machen. J. H. Vofj an Goethe, 30. Juni 1803. Vofj sendet Goethe mit diesem Brief seine 1802 erschienene „Zeitmessung der deutschen Sprache" (Ruppert Nr. 722). Goethe hat das Werk aber _schon zuvor, bald nach dem Erscheinen, benutzt. Goethe, Tagebuch. Jena 1803. Bei den Aufenthalten in Jena 7.-11. August, 1.-12. November und 24. November-24. Dezember werden mehrfach Besuche bei Vofj genannt, ohne aber die Verslehre zu erwähnen, z.B.: 9. August: Abend bei Voß. - 3. November:

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

bei Voß. - 5. November: Zu Voß. Über das Polygnotische Gemälde. im Hades von Homer, usw.

Odysseus

Goethe an Schiller, Jena, 2. Dezember 1803. Knebel hat sich bei Hellfeld... am Neutor eingemietet, weit genug von Vossen, um von dessen Rigorismus nicht inkommodiert zu werden. Dafür wird er auch unserm Prosodiker das Wasser nicht trübe machen, denn dieser wohnt am Einfluß, er aber am Ausfluß des Baches. Goethe, Tagebuch. 1803/04. 28. Dezember: Kam Herr Professor Wolf. - 4. Januar: War ich auf meinem Wohnzimmer, wo mich Herr Hofrat Wolf besuchte. - 5. Januar: Abends Herr Professor Meyer und Herr Professor Wolf. - 6. Januar: Ging Herr Professor Wolf nach Halle von hier ab. 16.-17. April 1804 erscheint in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" anonym (wie alles dort) Goethes Rezension von: Joh. Heinrich Voß, Lyrische Gedichte. 4. Bde. Königsberg 1802. Gegen Ende der Rezension heißt es: Wir bewundern .. . auch, was der Dichter bei seiner hohen Forderung an die Rhythmik durch Befolgung der strengsten Regeln geleistet hat... Hier erkennen wir sein unsterbliches Verdienst um die deutsche Rhythmik, die er aus so manchen schwankenden Versuchen einer für den Künstler so erwünschten Gewißheit und Festigkeit entgegen hebt. Aufmerksam horchte derselbe den Klängen des griechischen Altertums, und ihnen fügte sich die deutsche Sprache zu gleichem Wohllaute. So enthüllte sich ihm das Geheimiiis der Silbenmaße ... K. G. v. Brinkmann an Goethe, 15. Mai 1804. . . . Das einzige kleine Verdienst, das mir vielleicht die Kenner zugestehen werden, möchte wohl die Sorgfalt sein, die ich auf Sprache und Versbau gewendet habe; aber auch diese mechanische Fertigkeit verdanke ich einzig und allein den Belehrungen unseres Freundes Voß und dem anhaltenden Studium seiner Werke. (Goe.-Jb. 17, 1896, S. 40) 1804. Sophokles-Lektüre mit Heinrich Voß (1779-1822), dem Sohn von Johann Heinrich Voß. 1. Mai 1805. Goethe macht für Cotta eine Aufstellung, was in die geplante zwölfbändige Ausgabe seiner Werke hineinkommen soll. Er schreibt u. a.: Reineke Fuchs Hermann und Dorothea Achilleis. Erster Gesang

IX. \ Nach neueren prosodischen Über/ Zeugungen bearbeitet.

Heinrich Voß der Jüngere an B. R. Abeken, 15. Mai 1805. Ich habe Goethes Hermann und Dorothea schon in bessere Hexameter umgeschmolzen, wozu ich vierzehn angestrengte Tage gebraucht. Goethe hat mir seinen Beifall gegeben und mich gelobt, daß ich so schonend verfahren und nie

Dokumente 1803-1805

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dem Charakter Abbruch getan; er meinte, ich habe ihm, wenige Stellen ausgenommen, nichts hineingebracht, was seinem Geist fremd wäre. Er hat mir schon andere Sachen aufgegeben, und ich werde auch noch wohl den Reineke Fuchs durchzunehmen bekommen. Nun werde ich all dies noch mit ihm gemeinschaftlich durchgehn, wozu ich mich unsäglich freue. Heinrich Vofj der Jüngere an Solger, 22. Mai 1805. Goethe arbeitet an der Ausgabe seiner sämtlichen Schriften... Mir hat Goethe ein Exemplar von Hermann und Dorothea gegeben, mit Papier durchschossen. Ich soll die Hexameter mustern und alle meine Einfälle unter den Namen Änderungen und Vorschläge beischreiben . . . (Vofj berichtet darüber auch in anderen Briefen: Berlit S. 157; Gräf, Ep. Dichtungen S. 174 f.; Herwig, Gespr. 2, S. 22; Hagen 387.) W. v. Humboldt an Goethe, Rom, 5. Juni 1805. Ich werde Ihnen gegen den Herbst vielleicht durch meinen Bruder, wenn er über Weimar gehen kann, meinen vollendeten „Agamemnon" schicken. Die Einsamkeit am Albanersee in dem letztvergangenen Sommer hat ihn zu Ende gebracht. Die Stücke, die Sie haben, habe ich fast ganz umgearbeitet. Das Metrum ist jetzt, glaube ich, ziemlich rein, und auch in der Übersetzung habe ich sehr nachgeholfen. Ich erwarte Vossens Prosodie, die ich leider nicht hatte, als ich arbeitete, um die letzte Hand daran zu legen. Heinrich Voß der Jüngere an Goethe, 31. Juli 1805. Ich b i n . . . bis jetzt noch nicht mit Ernst bei der aufgetragenen Arbeit, Hermann und Dorothea, gewesen; doch habe ich in diesen Tagen den Anfang gemacht. Die 6 folgenden Tage will ich mit allem Eifer daran gehen. Ich bin aufmerksam 1) auf die Quantität der einzelnen Worte, 2) auf den regelmäßigen Bau der einzelnen Hexameter, und endlich 3) auf die Verbindung der Hexameter unter einander . . . Meine Einfälle schreibe ich darüber, und an einigen Stellen bin ich, wenn mich nicht alles trügt, schon so glücklich gewesen, eine Verbesserung zu finden . . . Käme es darauf an, ein Hundert isolierte schulgerechte Hexameter zu bilden, so könnte ich mich allenfalls zu der höchsten Vollkommenheit verpflichten; aber in einem dem Ausdruck nach vollendeten Gedichte die technische Vollendung des äußeren Versbaues so wiederherzustellen, daß sie ohne die Diktion beeinträchtigt zu haben, überall sichtbar ist - so weit will meine Geschicklichkeit ohne des Meisters Hilfe nicht reichen. Heinrich Vofj der Jüngere an B. R. Abeken, 3. August 1805. Ich habe in diesen 14 Tagen ein Geschäft eigner Art, das mich ganz beschäftigt. Goethe hat mir die Umarbeitung von Hermann und Dorothea aufgetragen, und ich darf ändern, wo und wie viel ich will. . . Nun lege ich jeden Hexameter auf die Goldwaage und sehe zu, das Gedicht auch in dieser Hinsicht vollkommen zu machen. Heinrich Voß der Jüngere an Hellwag, 26. August 1805. Mehreren seiner jüngeren Freunde hat er (für die Ausgabe seiner Werke) Arbeiten aufgetragen, mir z. B. die Durchsicht des hexametrischen Vers- und 9

Trunz, Goethe-Studien

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Periodenbaues in seinen antiken Gedichten, und ich bin vorerst an Hermann und Dorothea gegangen, wo ich meine Probe ablege, wieweit ich meinem Vater den Hexameterbau nach den strengsten Regeln abgelernt habe. (Goe.-Jb. 5, S. 48; Berlit S. 27.) Goethe an N. Meyer in Bremen, 25. Dezember 1805. Unser ganzes prosodisches Wesen hat seit einigen Jahren eine vorteilhaite Umwandlung erlitten, und wenn die Herren von der strikten Observanz vielleicht hie und da zu weit gehen, so kann man doch gewissen aulgestellten Gesetzen seinen Beitall nicht versagen und sich ihrer Befolgung nicht entziehen ... Wären Sie in unserer Gegend, so ließe sich das, worauf es ankömmt, bei gesellschaftlicher Unterhaltung mitteilen, so aber weiß ich nicht, wie man sich hierüber im Kurzen verständlich machen könnte ... Leider ist Vossens Prosodie schwer geschrieben und zu einem heitern Selbstunterricht nicht geeignet. Goethe an N. Meyer, 28. März 1806. Bei manchen Schriften kann und $oll man mehr an die Lesenden als an die Urteilenden denken, und wenn man überlegt, daß in Deutschland sich noch manche Tausend Leser befinden, die mit dem bisherigen Hexameter noch ganz wohl zufrieden sind, so kann man sich um desto eher beruhigen, wenn eine neue Schule oder vielmehr Familie nach selbstgegebenen Gesetzen gar wunderliche Forderungen auch an andre macht; wobei es besonders merkwürdig bleibt, daß wir Gedichte von der vollkommensten Technik erleben, welche völlig ungenießbar sind. 1806-1810 erscheinen Goethes Werke bei Cotta in Stuttgart und Tübingen. Die Gedichte in antiken Langzeilen und die Epen sind nicht umgearbeitet, wie Goethe ursprünglich an Cotta geschrieben hatte (1. Mai 1805). Die Vorschläge von Heinrich Voß d. J. bleiben unberücksichtigt. 13.-15. Januar 1807 erscheint in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" - anonym wie alles dort - eine 19 Spalten lange Rezension über: August Wilhelm Schlegel, Rom. Elegie, 1805. Darin wird die Geschichte des deutschen Hexameters seit Gesner und Fischart im 16. Jahrhundert dargestellt; Gottsched findet Anerkennung, bei Klopstock werden Lob und Tadel gemischt. „Mit Klopstock erwachte ein zahlloses Heer von Hexameterdichtern . . . ohne Gefühl für Maß und G e s e t z . . . Wer weiß, wohin diese Regellosigkeit noch geführt hätte, wenn nicht Voß erschienen wäre . . . Deutschland hörte zum ersten Mal griechische Hexameter und staunte." Außer Voß werden nur Brinkmann und A. W. Schlegel als Verfasser erwähnenswerter Hexameter genannt. Goethe und Schiller werden mit Schweigen übergangen, Hölderlin nicht beachtet. Schlegels Elegie „Rom" wird als Meisterwerk gepriesen, ihr „großes Verdienst" ist vor allem der „Reichtum an schweren taktfüllenden Spondeen" und beschwerten (spondeischen) Ausgängen des Hexameters. Fast die ganze Rezension spricht nur von der Versform. Sie bewegt sich in den Fachausdrücken der Vossischen „Zeitmessung" (1802). Verfasser ist Heinrich Voß d. J. 11. März 1807. In der „Jenaischen Allg. Literatur-Zeitung" erscheint eine Rezension von „Homers Werke, übers, von J. H. Voß. 3., verbesserte Auflage, Tübin-

Dokumente 1805-1808

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; gen 1806". Hier heißt es u. a.: „1781 erschien die Vossische Odyssee, die erste klassische Übersetzung jiaph Luthers verdeutschter Bibel." Der Verfasser vergleicht die „verbesserten" Fassungen von 1793 und 1806 und lobt insbesondere die metrische Form. Es sei eine bedeutende Verbesserung, wenn der Schluß des Hexameters „als Eidam dich ehret" verändert sei in „dich ehret als Eidam". Verfasser der Rezension ist Heinrich Voß d. J. Knebel an Goethe, 13. März 1807. Auch hat mich die Rezension von Schlegels „Rom" wohl unterhalten. Ich erinnere mich, daß zur Zeit, als ich in Potsdam gewesen. .., viel Redens war, daß man ohne alle weitere musikalische Kenntnis bloß durch Rechnung und Kalkül ein musikalisches Stück komponieren könne. Zu dergleichen kalten Späßen ist das deutsche Genie aufgelegt... Goethe an Knebel, 14. März 1807. Daß die moderne Rhythmik ohne Poesie in Gestalt einer Rezension Dich würde belustigt haben, daran hatte ich keinen Zweifel... In zehn Jahren wird der Dünkel, womit die Rhythmiker von der strengen Observanz sich jetzt vernehmen lassen, höchst lächerlich sein ... Goethe. Tagebuch. Karlsbad, 23. August 1807. Mit August und Fernow nach dem Hammer gefahren. .. Parodieren der spondeischen Ausgänge des Hexameters. Goethe, Tagebuch. 8. Dezember 1807. Einiges an den epischen Gedichten arrangiert und diesen Band eingepackt... An Dr. Cotta nach Tübingen; Absendung des letzten Bandes. Was in 2 Tagen — 7. und 8. Dezember - an den Epen arrangiert wurde, sind Kleinigkeiten wie Interpunktion u.dgl.; die metrische Umarbeitung (vgl. Brief an Cotta 1. Mai 1805) unterblieb. Der Band 10 mit den Epen wurde später als die Bände 11 und 12 gedruckt. Goethes Notiz Absendung des letzten Bandes bezieht sich also auf Band 10. Goethe an Riemer, Jena, 29. April 1808. Indem ich vermelde, daß es mir gelungen ist, das Pandorische Wesen und Unwesen einigermaßen fortzuschieben, so ersuche ich Sie, mir das Schema zu sechsfüßigen Trochäen, wie sie die Alten gebraucht, durch die Boten zu senden. Ich habe das Unglück, dergleichen immer zu vergessen. Auch wünschte ich, daß Sie sich für Karlsbad mit altem und neuem Prosodischen rüsteten, teils zu theoretischen, teils zu praktischen Zwecken. (Es gibt in der Antike keine sechsfüßigen Trochäen, nur achtfüßige.) Ende April 1808. In Goethes Notizbuch des Jahres 1808 stehen Notizen über das nach Karlsbad Mitzunehmende, unter anderem: Vossens Zeitmessung... Hermanns Metrik. Moritz, Prosodie. (WA, Tagebücher, Bd. 3, S. 420.) 9*

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Riemer, Tagebuch. Mai 1808. 13. Mai. (Reisegespräch) Über Metra, Vossens, die Schlegels etc. - 17. Mai. (Karlsbad) Nach Tische Metra für Goethe. Goethe, Tagebuch. Karlsbad, 1808. 17. Mai: Abends zu Hause. Die Choriamben und den sprochen. (Mit Riemer) - 25. Mai: Die neuen Szenen in gegangen im Metrischen. - 26. Mai: Hermanns Metrik. des 1. Teils von „Pandorens Wiederkunft". Verschiedenes chen. (Mit Riemer)

Jonicus a minore beder „Pandora" durch- 27. Mai: Abschluß Rhythmische bespro-

Goethe an Zelter, 22. Juni 1808. Wenn Ihnen das Vossische Sonett zuwider ist, so stimmen wir auch in diesem Punkt völlig überein ... Für lautet Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwunden. Goethe, Tagebuch. Jena, 14. September 1808. Abends zu Knebel. Über mancherlei literarische Neuigkeiten, benmaße usw.

„Pandora", Sil-

1808. Goethe beschäftigt sich ausführlich mit der „Antigone"-Übersetzung von J. F. Rochlitz und bringt sie in Weimar auf die Bühne (1. Februar 1809). Goethe, Farbenlehre, Historischer Teil. Kontession des Verfassers. 1810. Da mir aber sowohl in Absicht aui die Konzeption eines würdigen Gegenstandes als aui die Komposition und Ausbildung der einzelnen Teile sowie was die Technik des rhythmischen und prosaischen Stils betraf, nichts Brauchbares, weder von den Lehrstühlen noch aus den Büchern entgegenkam, indem ich manches Falsche zwar zu verabscheuen, das Rechte aber nicht zu erkennen wußte und deshalb selbst wieder auf falsche Wege geriet, so suchte ich mir außerhalb der Dichtkunst eine Stelle ... Goethe an G. Sartorius, 19. Juli 1810. Geheimrat Wolf ist hier. Seine metrische Übersetzung der „Wolken" des Aristophanes wird ein bedeutendes Meteor an unserm philologischen und rhythmischen Himmel sein. Goethe, Tagebuch. 21. Juli 1810. Nach Tisch Geheimer Rat Wolf. Vorlesung der „Wolken" des Aristophanes. Im Jahre darauf erscheint: Aristophanes' Wolken. Griechisch und deutsch. (Von Fr. A. Wolf.) Berlin 1811. (Ruppert Nr. 1244.) Goethe an W. v. Humboldt, 8. Februar 1813. Zu Ihrer immer mehr ausgearbeiteten Übersetzung des Äschylus wünsche ich von Herzen Glück, und ich freue mich, daß Sie sich durch die Drohungen des Heidelberger Zyklopen und Familie von diesem guten Werke nicht abschrecken lassen ... (Vofj lebte seit 1805 in Heidelberg.)

Dokumente

1808-1821

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Zelter an Goethe, 2. Februar 1814. Geheimrat Wolf grüßt bestens . . . Kleine metrische Streitereien hatten uns vor einigen Monaten von einander gebracht... Ich war leider so grob gewesen nach mehrern von ihm veranlagten Versuchen, die er mit gar zu vieler Geringschätzung aufnahm, ihm rund heraus zu sagen, daß seine und aller mir bekannten Philologen mündliche Produktionsarten der alten Versmaße noch unmetrischer seien als eine natürliche Prosa, die die Empfindung einer Sache ausdrückt. Was sollen uns die Griechen und Römer, wenn wir nicht Deutsch lernen? Kurz, was sollen uns die Alten, wenn wir nicht alt werden? Wenn die Philologen reden, möchte man sich die Ohren zuhalten. Sie wissen weder, was sie mit dem Munde noch mit der Zunge anfangen sollen, weil sie sich gewöhnt haben, alles mit den Augen zu tun . . . 1815. Als Goethe seine Gedichte für die 2. Cottasche Ausgabe seiner Werke neu ordnet, gibt er einer Gruppe von kleinen Gedichten in Hexametern und Pentametern die Überschrift Antiker Form sich nähernd und fügt den Vorspruch bei: Stehn uns diese weiten Falten Zu Gesichte wie den Alten?

Goethe an W. v. Humboldt, 1. September 1816. Ihr „Agamemnon" soll mir nicht wieder von der Seite. Das rhythmische Verdienst kann ich nicht beurteilen; aber ich glaube es zu iühlen. Goethe an Zelter, 19. März 1818. Gott behüte mich vor deutscher Rhythmik wie vor iranzösischem Thronwechsel ... Da sollen die Herren lange mit Balken und Hütchen — U U - sich unter einander verständigen... da denn die Grammatiker... es nach zweitausendjährigem Renken und Rücken endlich so weit gebracht, daß außer den Priestern dieser Mysterien niemand mehr von der Sache wisse noch wissen könne. Aus: Zahme Xenien, V. Ausgäbe letzter Hand, Band 4, 1827. - Geschrieben vermutlich zwischen 1813 und 1826. Noch bin ich gleich von euch entfernt, Hass' euch Zyklopen und Silbeniresser! Ich habe nichts von euch gelernt, Ihr wußtet's immer besser.

Zu dem Ausdruck Zyklopen: Goethes Brief an Humboldt vom 8. Februar 1813. - Zyklopen sind einäugig und gewalttätig. 1821. Euripides-Studien; das Ergebnis ist ein Aufsatz Phaeton. Tragödie des Euripides. Versuch einer Wiederherstellung aus Bruchstücken. Die Fragmente wurden von Göttling übersetzt, in Trimetern und Chorstrophen, und von Goethe überarbeitet, in eine Reihenfolge gebracht und mit Zwischentexten versehen. Der Aufsatz wurde 1822 druckfertig gemacht und erschien 1823 in Über Kunst und Altertum.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Goethe, Tagebuch. 11. Oktober 1821.

Die „Achatner" und „Ritter" von Aristophanes, Vossische Übersetzung. Goethe, Campagne in Frankreich. Geschrieben 1821. Schon seit vielen Jahren schrieb man in Deutschland nach Klopstocks Einleitung sehr, läßliche Hexameter; Voß, indem er sich wohl auch dergleichen bediente, ließ doch hie und da merken, daß man sie besser machen könne, ja er schonte sogar seine eigenen vom Publikum gut auigenommenen Arbeiten und Übersetzungen nicht. Ich hätte das gar gern auch gelernt, allein es wollte mir nicht glücken. Herder und Wieland waren in diesem Punkte Latitudinarier, und man durlte der Vossischen Bemühungen, wie sie nach und nach strenger und für den Augenblick ungelenk erschienen, kaum Erwähnung tun. Das Publikum selbst schätzte längere Zeit die Vossischen irüheren Arbeiten, als geläufiger, über die späteren; ich aber hatte zu Voß, dessen Ernst man nicht verkennen konnte, immer ein stilles Vertrauen und wäre, in jüngeren Tagen oder andern Verhältnissen, wohl einmal nach Eutin gereist, um das Geheimnis zu erfahren; denn er, aus einer zu ehrenden Pietät für Klopstock, wollte, solange der würdige, allgefeierte Dichter lebte, ihm nicht geradezu ins Gesicht sagen: daß man in der deutschen Rhythmik eine striktere Observanz einführen müsse, wenn sie irgend gegründet werden solle. Was er inzwischen äußerte, waren für mich sibyllinische Blätter. Wie ich mich an der Vorrede zu den „Georgiken" abgequält habe, erinnere ich mich noch immer gerne, der redlichen Absicht wegen, aber nicht des daraus gewonnenen Vorteils. - (Der Abschnitt steht kurz vor dem Ende des Werkes.) Goethe, Tagebuch. 16. April 1822.

Philoktet nach Sophokles. - Goethe las die Übersetzung von E. Chr. A. v. Gersdorff, Weimar 1822. (Ruppert Nr. 1346.) Knebel an Goethe, 14. M a i 1822. Dein so liebes Buch (Campagne in Frankreich)... seit vorgestern Abend habe ich es kaum aus der Hand gelegt. Du bist ein herrlicher Erzähler . . . Die zweite Hälfte w a r mir auch äufjerst interessant. . . Aber von Vofj brauchst Du Dich nicht in der Verskunst unterrichten zu lassen. Goethe, Verse aus dem Nachlaß. Ein ewiges Kochen statt fröhlichem Schmaus! Was soll denn das Zählen, das Wägen, das Grollen? Bei allem dem kommt nichts heraus Als daß wir keine Hexameter machen sollen... (WA 5,1 S. 144) 1823. Beschäftigung mit Aischylos in Zusammenhang m i t : Gottfried Hermann, De compositione tetralogiarum tragicarum dissertatio. Lipsiae 1819. (Ruppert Nr. 687.) Goethe, Tagebuch. 24. Oktober 1824.

Abends Professor Riemer. Mit ihm die Briefe von 1800 durchgegangen ... Interessantes Gespräch über Sprache, Silbenmaß, Metier und Verfahrensweise der Grammatiker.

Dokumente 1821-1829

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Goethe, Tag- und Jahreshefte. Abschnitt 1804. (Geschrieben 1825). Die deutsche Prosodie, insoiern sie die alten Silbenmaße nachbildete, ward, anstatt sich zu regeln, immer problematischer. Die anerkannten Meister solcher Künste und Künstlichkeiten lagen bis zur Feindschaft in Widerstreit. Hierdurch ward das Zweiielhaite noch ungewisser. Mir aber, wenn ich etwas vorhatte, war es unmöglich, über die Mittel erst zu denken, wodurch der Zweck zu erreichen wäre; jene mußten mir schon bei der Hand sein, wenn ich diesen nicht alsobald aufgeben sollte. Goethe, Tagebuch. 22. März 1825. Einiges an „Faust"... Abends Professor Riemer... über griechische Silbenmaße. - Im März 1825 nimmt Goethe die Arbeit an dem Helena-Akt wieder auf. Goethe, Tagebuch. 5. April 1825. Schema an „Helena" ... Professor Riemer. Mit letzterem ... über „Helena", Silbenmaße und dergleichen. Goethe, Tagebuch. 26. April 1826. Mittag Professor Riemer mit mir auf dem Zimmer speisend. Ästhetische und rhythmische Unterhaltungen. Goethe, Tagebuch. 9. Mai 1826. Gegen Abend Professor Riemer .. . über die Chöre von „Helena" gesprochen. Goethe, Tagebuch. 6. Juni 1826. „Helena" abgeschlossen. Abends Professor Riemer. Einiges übet die Chöre. Die Verse des Helena-Akts sind die letzten Trimeter und Chorstrophen, welche Goethe schreibt. Goethe, Aus: Zahme Xenien, Gruppe V, 1827 im 3. Band der Ausgabe letzter Hand veröffentlicht: ... Allerlieblichste Trochäen Aus der Zeile zu vertreiben Und schwerfällige Spondeen An die Stelle zu verleiben. Bis zuletzt ein Vers entsteht. Wird mich immerfort verdrießen. Laß die Reime lieblich fließen. Laß mich des Gesangs genießen. Und des Blicks, der mich versteht!

Goethe an K. F. Graf Reinhard, 28. Januar 1828. Ich mag mich gern wieder der alten leichten losen Silbenmaße bedienen, an denen der heitere Reim gefällig widerklingt, und unter solcher Form, in solchem Klang nach echter Poetenart dasjenige heiter vor den Geist zurückführen, was uns im Leben erfreuen und betrüben, verdrießen und aufmuntern konnte. Eckermann, Aus den „Gesprächen". 6. April 1829. „Der Takt", sagte Goethe, „kommt aus der poetischen Stimmung, wie unbewußt. Wollte man darüber denken, wenn man ein Gedicht macht, man würde verrückt und brächte nichts Gescheites zustande."

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Die vorstehenden Dokumente zeigen Goethes vielfache Bemühungen, die Verslehre seiner Zeit zur Kenntnis zu nehmen und zu nutzen. Auf dem Hintergrund dieser Dokumente lassen sich nun die einzelnen Papiere der Mappe näher bestimmen. 1. Goethe. Lateinisches Motto Auf den Umschlag, der die Papiere zusammenhält, hat Goethe mit eigener Hand oben rechts als ein Motto oder wie ein Motto geschrieben: Duabus rebus numerus potissimum 1. Caussarum successione 2. Metisurae descriptione

continetur:

Wie so oft hat Goethe nicht hinzugeschrieben, wo er den Satz her hat. Er hat ihn ja nur für sich selbst notiert. Da er lateinisch ist, muß man vermuten: aus einem lateinischen Buch; da er über Metrik handelt: aus einem Buch über Metrik. Ein lateinisches Werk über Metrik, das Goethe benutzte, ist: Gottfried Hermann, De metris poetarum Graecorum et Romanorum libri tres. Lipsiae 1796. Hier stammt der Satz her. Goethe hat sich mit Hermanns Werk besonders in den Jahren 1797-1800 beschäftigt (14. Januar 97; 10. Februar 97; 7. Mai 1800; 28. September 1800; 26. Mai 1808). In diesen Jahren wird wohl die Mappe angelegt und das Motto darauf geschrieben sein. Die deutsche Ausgabe von Hermanns Werk erschien 1799. In Goethes Bibliothek stehen sowohl die lateinische als auch die deutsche Ausgabe (Ruppert Nr. 675 und 676). Das deutsche Werk von 1799 ist eine Neufassung, nicht Übersetzung, bringt aber die gleichen Gedanken. Der von Goethe zitierte Satz steht S. 26 am Anfang des Kapitels „De mensura, arseos et theseos" und lautet: „Quemadmodum duabus potissimum rebus numerus continetur, caussarum successione et mensurae descriptione, ita in utraque harum rerum quaedam fortuita sunt." Goethe hat also nur einiges weggelassen und das Wort „potissimum" umgestellt. In Hermanns deutschem „Handbuch der Metrik" wird inhaltlich das gleiche folgendermaßen gesagt: „Der Begriff des Rhythmus, den uns die Erfahrung darbietet, ist dieser: Rhythmus ist die Aufeinanderfolge von Zeitabteilungen nach einem Gesetz. - Die Aufeinanderfolge ist der erste wesentliche Bestandteil des Rhythmus . . . Die zweite nähere Bestimmung sind die Zeitabteilungen. Durch diese wird der Rhythmus von jeder andern Aufeinanderfolge unterschieden. . . Die letzte Bestimmung des Rhythmus endlich ist das Gesetz, welches die Zeitabteilungen bestimmt. Hierdurch unterscheidet sich der Rhythmus von jeder zufälligen Aufeinanderfolge bloßer Zeitabteilungen." (S. 1 f.) Die Begriffe „successio caussarum" (Aufeinanderfolge von Zeitabteilungen) und „descriptio mensurae" (Beschaffenheit der Zeitabteilungen) kommen bei Hermann oft vor. Goethe hat für sein Motto nicht eine der grundsätzlichen Formulierungen aus der Einleitung benutzt, sondern einen späteren Satz, der rekapituliert; mit sicherem Griff hat er eine besonders knappe und prägnante Zusammenfassung herausgehoben. Der lateinische Satz von Hermann, nur auf antike Verse zugeschnitten, ist klar und sicher. Die deutsche Fassung zeigt, daß zu dieser Zeit die deutsche Sprache in Dingen der Metrik noch ganz unsicher war und daß jeder Gelehrte eigene Ausdrücke versuchte.

Goethesche Notizen

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2. Goethe. Notizen zur Metrik Die Notizen stehen auf einem Folioblatt, eigenhändig geschrieben. Der Text lautet: Prosodie. Sprechton. Quantitaet. Mittelzeit. Abwägung des Begriffs. Nachdruck. Vielfacher Sprechton. Buchstaben Schwere. Abtheilung des Hexameters in Glieder und Gelenke. Rasche, mühsame, kraftvolle Wortfüße. Weiche und flüchtige Absätze und Eintritte Mannigfaltigkeit des Ausgangs und Übergangs. Mischung vielfacher bedeutender Laute. Rhythmische Periode Periode des Sinns

Rhythmische

Theilung.

Wortfüße. (auf demselben Blatt, aber quer zu dem vorigen geschrieben:) Klang des Worts. Länge in der Hebung Kürze des daktylischen Verkürzte Mittelzeit. Säumende Mittelzeit Keine Gleichförmigkeit Zusammenziehungen „ , , Ausdehnungen

Taktes der Endungen. I , „ , , , < qeqen den Sprachgebrauch ) y "

Die Notizen sind nicht, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte, ein selbständiger Entwurf Goethes. Schon das eine Wort Mittelzeit läfjt aufhorchen. Es kommt bei Goethe sonst nur im Sinne von „Mittelalter" vor; hier aber ist es Fachausdruck der Metrik. Als solchen hat Vo§ dieses Wort neu eingeführt. Vofj hat sich zweimal über deutsche Verse geäußert: 1789 in der Einleitung zu seiner Übersetzung von Vergils „Georgica" und 1802 in seiner „Zeitmessung der deutschen Sprache". Mit beiden Werken hat Goethe sich gründlich beschäftigt. Die Aufzeichnungen erweisen sich als Lektüre-Notizen aus dem Vorwort zu Vergil. Deswegen seien im folgenden diejenigen Abschnitte aus Vofj zitiert, denen sie entnommen sind. Dabei werden die von Goethe übernommenen Wörter kursiv gedruckt. Der Text zeigt zugleich, wie Goethe vorging, wenn er mit dem Bleistift in der Hand las. Vofj schreibt: „Die Metrik oder Messung des Hexameters, und die deutsche Quantität oder Silbenzeit, die von den Gelehrten, nur nicht völlig so unschicklich als die Quantität der Alten, mit der Prosodie oder dem Sprachtone verwechselt wird, habe ich in meinen Anmerkungen selten und kurz berührt. Der Kunstliebhaber wird aus der Übersetzung von selbst wahrnehmen, daß die natürliche Länge und Kürze nicht nur, sondern auch die Verlängerung und Abkür-

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

zung der Mittelzeit, weniger nach dem Gutachten des nordischen Ohrs, dem ein durch den gröberen Sprachton ungefähr abgezähltes Gehämmer schon genügen soll, bestimmt worden ist, als nach der strengsten Abwägung des Begriffs, des Nachdrucks, des vielfachen Sprachtons, und der Buchstabenschwere: welche Aufmerksamkeit auch ein leichter befriedigtes Ohr nicht übel nimmt. Er wird wahrnehmen, daß der deutsche Hexameter vor allen Dingen die Abteilung des römischen in Glieder und Gelenke, seine raschen, mühsamen, kraftvollen Wortfüße, die festen, weichen und flüchtigen Absätze und Eintritte, die Mannigfaltigkeit des Ausgangs und Übergangs, und, so weit es geschehen konnte, auch die Mischung vielfacher und bedeutender Laute, nachzuahmen oder nahe zu ersetzen strebt. Er wird vielleicht dem Gedanken nachhängen, ob nicht die strengere Beobachtung der metrischen Regeln, welcheij der Römer, wie der Grieche, sich unterwarf, auch dem deutschen Verskünstler, wenigstens für den Alltagsgebrauch, anzuraten sei; wenn man gleich einem so eigentümlichen Gedichte, als der „Messias" ist, auch seinen eigentümlichen Vers, der sehr schön, aber nicht Hexameter im Sinne der Alten ist, mit Recht zugesteht. Der deutsche Hexameter ist, wie jener der Alten, eine rhythmische deutlich begrenzte Periode von sechs vierzeitigen T a k t e n . . . Geteilt wird der sechstaktige Vers am häufigsten in zwei Hauptglieder, durch einen bald männlichen, bald weiblichen Einschnitt im dritten Takte, oder, wie die Griechen sagten, nach dem fünften Halbtakte (Penthemimeris):

Über das hohe Gewölk I sich der fliegende Reiter emporschwingt. Oft auch siehest du Sterne, I sobald herdränget der Sturmwind. Seltener durch einen männlichen Einschnitt im vierten Takte, oder nach dem siebenten Halbtakte (Hephthemimeris): Reißt die triefenden S e g e l herab. I Doch ohne z u w a r n e n . Oft hat ein solcher Hexameter auch im zweiten Takte einen männlichen oder weiblichen Einschnitt, wodurch er drei Glieder bekömmt:

Jähes Falls I am Himmel entfliehn, I und das nächtliche Dunkel. Was gedenk ich I des Herbstorkans I und der stürmischen Sterne. Diese Hauptglieder, die niemals einander gleich sein dürfen, regen sich wiederum in sich selbst durch mannigfaltige Gelenke; indem sanfte und langsame Wortfüße mit starken und flüchtigen abwechseln, und nicht leicht über zwei von der selbigen Art auf einander folgen:

Regnichte I Sommertag' II und heitere I Winter I erfleht euch. Dann I in die Saaten 11 den Fluß I herlenkt, 11 und die folgenden I Bäche. Mit der rhythmischen Periode hält häufig die Periode des Sinns gleichen Schritt. Aber es würde Einförmigkeit entstehn, wenn sie es immer täte. Oft sind die Glieder der einen nur Gelenke der andern, und umgekehrt. Man nehme:

Jener sprachs; und verwirrt enteilte sie, Qualen erduldend. Hier schliefen die rhythmischen Glieder mit „verwirrt" und „erduldend"; die des Sinns mit „sprachs", „enteilte sie" und „erduldend". Man vernachlässige die rhythmische Teilung, und setze „angstvoll enteilte sie"; die Periode des Sinns bleibt, wie sie war, aber der Vers ist zerstört . . . Aber wie eigensinnig auch der Rhythmus ist, so begnügt er sich doch. zuweilen, wenn seine Hauptteile sowohl, als die einzelnen Wortfüße, nur einen flüchtigen Aufenthalt zum Ausruhen finden:

Effusus labor atqu' I immitis rupta tyranni. Brauste der Sturm; | und in Wogen erhob I sich die Wüste des Meeres. Denn „erhob sich" gehört zwar dem Sinne nach zusammen; aber der Rhythmus trennt „erhob" von „sich", und macht aus dem Amphibrach einen Jambus. Bei der Gedankenteilung vorzüglich achtet man, was Quintilian dem Redner empfiehlt, auf jene Mannigfaltigkeit sowohl der anfangenden Wortfüße, als besonders der schließenden... Aber nicht genug, dafj die Bewegung des Verses wohlgemessen und gefällig sei; auch der Klang der bewegten Worte muß schmeicheln . . . Die Länge, besonders die in der Hebung steht, wechsele mit dunklen und hellen Vokalen, mit austönenden und vielfach abstoßenden oder dämpfenden Konsonanten; nie herrsche ein Gepiep, nie ein rauhes Hauchen oder Gezisch. Die Kürze des daktylischen Taktes sei leicht; selten mehr als Eine verkürzte Mit-

Goethesche Notizen

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telzeit, zumal die zur Länge sich neigt, und diese durch kräftige Längen überschallt; nie ein Geschlepp von schweren oder widerlichen Mitlautern. Im trochäischen Takte dagegen darf die säumende Mittelzeit sowohl, als die vollere Kürze, oft dem schwebenden Spondäus nachahmen. Keine Gleichförmigkeit der Endungen, zumal in Schlufjrhythmen, wo das leidige „en" sich so gern einstellt. Niemals Zusammenziehungen, wie „schmerzt's", die schon der Redner vermeidet; oder wie „heiiger", die nur der härtere Jambus zuläfjt. Ebensowenig Ausdehnungen gegen den Sprachgebrauch, wie „machete"; obgleich „goldene" und „hörete", die jener erlaubt, oft durch Bewegung und Klang willkommener sind." (S. XIII-XXII.) Goethe notiert in Stichworten die Hauptpunkte. Die Fachausdrücke wie „Mittelzeit" hat Voß z. T. neu g e p r ä g t . 3 Die P r ä g u n g „Wortfufj" stammt von Klopstock. 4 Vofj galt in den neunziger J a h r e n als Meister des Hexameters, hatte aber über seine Grundsätze nichts veröffentlicht außer dem „Georgica"-Vorwort. Goethe notiert im Tagebuch a m 2 5 . August 1 7 9 9 : Vossens Georgica. Am 16. September äußert er sich darüber an Humboldt. Dann schreibt er a m 17. September an Christiane, sie m ö g e ihm dieses Buch nach J e n a schicken. Vermutlich stammt das Blatt mit den Lektürenotizen aus dieser Zeit.

3. Goethe. Metrisches Schema zu einem Chorlied Ein Foliodoppelblatt, einseitig beschrieben, enthält folgendes: Drittes

Chor

Strophe -U|-UU|-U|-UU|-U-U|-UU|-

I

| — uu | —u

- U U | - U U | - u u |—

|— UU|-UUj-U

-uu|-uu|-uu|-u - u |-uu|-uu|-u -U|-UU|-UU|Epode

-u|-u|u-|u-|u — |-u|-uu| -u|-u|-u|-uu|-u -u|-u|-u|-u|-u — u u| | —U|—U U | - u | -uu|-u|-uu|-u | — U|—U| — UU|—

|

3 Das Wort „Mittelzeit" kehrt in Vossens „Zeitmessung", 1802, wieder. Goethe hat es nur hier in diesen Lektüre-Notizen im Vossischen Sinne benutzt, später immer in der Bedeutung „Mittelalter". Das Wortarchiv des Goethe-Wörterbuchs ermöglicht diese Feststellung. 4 Zum Beispiel in dem Aufsatz „Vom deutschen Hexameter", 1769; wiederabgedruckt in: Werke. Bd. 10. Leipzig 1855. S. 45 ff., insbesondere S. 52. - Dt. Wb. 14,2 (1960), Sp. 1571 f. Vo§ benutzt das Wort auch in seiner „Zeitmessung", insbes. S. 143.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

In der Epode hat Goethe die Versfüße gleichmäßig untereinandergeschrieben, so daß ein Trennungsstrich über dem anderen steht, in der Strophe nicht. Vermutlich hat er in dem letzten Vers der Strophe hinter dem ersten Trochäus einen Trennungsstrich vergessen, da kompliziertere Versfüße hier nicht vorkommen und er wohl schwerlich an dieser einen Stelle einen „Antiadonicus" angenommen hat. Im 2. Vers der Epode lautete das Schema ursprünglich — | - U | - U U | - U , dann aber hat Goethe den Trochäus am Ende ausgestrichen. Beide Strophen bestehen nur aus Jamben, Daktylen, Spondeen und einem vereinzelten Creticus in der 1. Zeile. Es handelt sich vielleicht um eine antike Chorstrophe bzw. deren deutsche Übersetzung, deren metrisches Schema hier aufgezeichnet ist. Welche es sein könnte, weiß ich nicht zu sagen. Goethe hat sich seit den ersten Weimarer Jahren oft mit den griechischen Tragikern beschäftigt. 5 Zu berücksichtigen bleibt, daß die metrische Form der Chöre in den Ausgaben und Übersetzungen, die er benutzte, oft nicht so ist wie in den heutigen, da die metrische Analyse seither mehrfach zu anderen Ergebnissen geführt hat. Die Ausgaben, die Goethe mit Vorliebe benutzte, waren zweisprachige griechisch-lateinische, da er das Latein fließend beherrschte und die damaligen lateinischen Übersetzungen besser waren als die deutschen. 6 Die ersten deutschen Übertragungen des Aischylos und des Euripides, die er ausführlich durcharbeitete, die von Georg Christoph Tobler, liegen noch heute als unveröffentlichte Manuskripte im Goethe- und Schiller-Archiv (früher in der Landesbibliothek). 7 Die gedruckten Ausgaben und deutschen Übersetzungen, die er benutzte, befinden sich in seiner Bibliothek (Ruppert Nr. 1225-1228, 1239-1244, 1257-1261, 1337-1346). Möglich ist auch Zusammenhang mit einem eigenen Dramen-Plan Goethes. In Betracht kommen das Fragment Die Beireiung des Prometheus (WA 11, S. 331-334) und die Helena-Szenen des Faust II. Gliederung durch Taktstriche kommt gelegentlich in Entwürfen Goethes vor. 8 In den Handschriften zum Helena-Akt hat Goethe mehrfach eigenhändig über die Chorstrophen geschrieben : Strophe, Antistrophe, Epode, später hat er diese Wörter dann durchgestrichen, damit sie nicht in den abgeschriebenen und gedruckten Text kämen {Faust //-Handschriften Hs. 2, Heft 1, S. 28 b; Hs. 2, 2. Heft, Blatt 4 und 5a und b). Die Riemerschen Abschriften von Chören dieses Akts haben fast immer die Überschriften Strophe, Antistrophe, Epodos und neben dem Text vielfach das metrische Schema. Diese Schemata (in der Handschrift H 2) sind in der Weimarer Ausgabe nicht abgedruckt. Goethe hat gelegentlich selbst seine Entwürfe mit metrischen Zeichen versehen, z. B.: |-ll|-U|U-U|U-|-UU O das ist unter allem Verwünschten das Verwünschteste

in dem Fawsi-Paralipomenon zum 3. Akt, das in der Weimarer Ausgabe die 5

Inge Wiemann, Goethe und die griechischen Tragiker. Phil. Diss. Kiel 1966. (VI, 183 S.) Ruppert, Goethes Bibliothek. 1958. Nr. 1226, 1239, 1240, 1257, 1258, 1337. ' Aischylos, Die Eumeniden 1781; Agamemnon 1781; Die Perser 1781; Die am Grabe Opfernden 1782; die Flehenden 1782; Der gebundene Prometheus 1782; Die Sieben gegen Theben 1782. Euripides, Herkules 1781; Hippolytos 1781; Ion 1782. 8 Ein Beispiel WA 5,2 S. 414 Nr. 118. Die Herausgeber halten die Zeile für das Fragment eines Gedichts, ich für das eines Dramas. 6

Wilhelm v. Humboldt

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Nr. 171 hat. Dort sind in Bd. 15,2 S. 230 die metrischen Zeichen nicht mit abgedruckt. 4. Wilhelm v. Humboldt. Von den verschiedenen Gattungen der Chöre Ein Doppelblatt, alle 4 Seiten von Humboldt eigenhändig beschrieben, mit klarer Handschrift. Der Aufsatz ist wohl speziell für Goethe verfafjt, das lassen der Inhalt und die sorgfältige Handschrift vermuten. Da der Aufsatz für Goethe nützlich war, sowohl für sein Studium der antiken Tragiker als auch für seine Arbeit an den Chorliedern des HelenaAkts von Faust II, sei er hier als Ganzes mitgeteilt.9

Von den verschiedenen Gattungen der Chöre in Rücksicht auf die Stellung und Anordnung der verschiedenen Strophen. 1. Monostrophica — Eine einzelne, für sich bestehende, gewöhnlich längere Strophe. Sie steht entweder allein e. g. Soph. Oed. Tyr. V. 1186-1222. oder nach Strophen und Antistrophen, entweder wenigen e. g. (Str. Antistr. Monostr.) Oed. Tyr. 151-215. oder mehreren e. g. (Str. a. ß. Ant. a. ß Str. y. 8. Ant. y. 8. Monostr.) Phil. v. 1081-1217. oder endlich nach Strophen, Antistrophen und Epoden. e. g. (Str. Ant. Ep. Monostr.) Prom. v. 397-435. 2. Antistrophica — Eine Strophe und eine Antistrophe, die gleiches Silbenmaß haben, e. g. Phoen. 1026—1073. Wenn mehrere Strophen und Antistrophen auf einander folgen, so pflegen in den Tragikern nicht, wie im Pindar, alle Strophen und Antistrophen dasselbe Silbenmaß zu haben, sondern jede Strophe hat ein eigenes, und jede entspricht nun ihrer Antistrophe. Die Stellung ist alsdann entweder so, daß unmittelbar auf jede Strophe die Antistrophe folgt, oder so, daß erst die Strophen, dann die Antistrophen hintereinander kommen. Das erstere ist (Str. a. Ant. a. Str. ß. Ant. ß. Str. y. Ant. y.) Phil. 135-218. das letztere (Str. a. ß. Ant. a. ß.) Phil. 1081-1122. der Fall. Zwischen den einzelnen Strophen stehen häufig Anapaesten e. g. Phil. 135—218. oder Jamben. Sept. adv. Theb. 419-569. Phil. 391-518. 3. Epodica — wenn auf eine gleiche Strophe und Antistrophe eine andere Strophe von verschiednem Silbenmaß, die man alsdann Epode nennt, folgt. Dieß geschieht entweder nach Einer Str. und Ant. e. g. Phil. 827-864. oder nach zwei Str. und Ant. e. g. Hec. 905-952. oder nach drei Str. und Ant. e. g. Agam. 377-499. Soph. El. 121-250. Manchmal sind in Einem Chor auch zwei 9

Dieser Aufsatz ist ebenso wie die beiden folgenden bisher ungedruckt. Gekannt hat sie, soweit ich sehe, nur Albert Leitzmann; er fand sie aber „trockene Darlegungen faktischer Verhältnisse" und so unbedeutend, daß er sie nicht in die Akademie-Ausgabe von Humboldts Sämtlichen Werken aufnahm. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, S. 570. - Briefwechsel Schiller-Goethe, Bd. 3, Leipzig 1955, S. 193 der Anmerkungen Leitzmanns (zu Goethes Brief vom 30. September 1800).

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Epoden, die aber alsdann jede aus einem eigenen Silbenmaß bestehen. So hat der Chor in der Iphig. in Aul. 164—302. eine Str. Ant. u. Ep. dann eine Str. und Ant. endlich wieder eine Str. Ant. und Ep. Manchmal wurde auch die Epode vor die Str. od. Ant. (Proodica) oder zwischen beide gesetzt (Mesodica). Dieß sind die Hauptgattungen; noch sind a b e r f o l g e n d e zwei zu bemerken, die aus den vorigen gleichsam gemischt sind, und nicht selten gefunden werden: 4. Pericommata — wenn hintereinander eine Reihe verschiedener und mit einander ungleichartiger Systeme gesetzt wird, und darauf eine andere, dieser ersten schlechterdings gleiche zweite Reihe folgt. Ein Beispiel hiervon giebt Soph, im Aj. 879-973. In dieser Stelle folgt nemlich v. 879-924. unmittelbar auf einander: eine Strophe, ein kleiner Vers, ein Jambus, ein kleiner Vers, 3 Jamben, ein kleiner Vers, 2 Jamben, eine zweite Strophe, 4 Jamben, eine dritte Strophe und 10 Jamben; und von v. 925. an kehren ebensoviel Antistrophen mit ebensoviel und ebendenselben dazwischen eingestreuten Versen zurück. 5. Anomoxostropha — einzelne auf einander folgende Strophen, die weder unter sich ein gleiches Silbenmaß, noch auch ihnen entsprechende Antistrophen haben. Ein Beispiel findet man im Euripides in der Hecuba v. 687—725. Sie unterscheiden sich von den monostrophicis nur allenfalls dadurch, daß sie mehrere kleine, die monostrophica hingegen Eine große rhythmische Periode ausmachen. Die übrigen Gattungen, welche die Grammatiker aufzuzählen pflegen, übergehe ich hier, da sie theils schon unter den hier angeführten enthalten sind, theils, wenigstens in den Tragikern, gar nicht, oder doch höchst selten vorkommen. Humboldt behandelt in 5 Abschnitten 5 verschiedene typische Formen der Strophenanordnung bei den griechischen Tragikern. Diese Formen hat Goethe im Helena-Akt des Faust II benutzt. Er hatte, als er um 1800 diesen Akt begann, außer Humboldts Aufsatz wohl nur seine Ausgaben und Übersetzungen antiker Dramatiker zur Hand. Später, als er 1826 den Akt zu Ende führte, war Riemer sein Berater; er benutzte außerdem Humboldts Übersetzung des „Agamemnon" in dem Druck von 1816, von der er wußte, daß der Übersetzer großen Wert auf Genauigkeit in der metrischen Form gelegt hatte. Humboldt nennt zunächst Monostrophica, Einzelstrophen. Solche kommen in Faust Vers 9 9 7 0 - 9 9 8 0 und 9 9 8 5 - 9 9 9 1 vor. Dann nennt Humboldt Antistrophica, d. h. Strophe und Antistrophe. So ist Faust 9 6 2 9 - 9 6 7 8 gebaut: Strophe, Gegenstrophe, neue Strophe und Gegenstrophe. Als drittes behandelt Humboldt Epodica. Hier folgen Strophe, Antistrophe und Epode. Es können auch mehrmals Strophe und Antistrophe stehen, bevor die Epode kommt. Epodica sind eine häufige Form in der antiken Tragödie. Auch bei Goethe sind sie die häufigste. In Faust: 8 5 1 6 - 8 5 2 3 Strophe, 8560 bis 8567 Antistrophe, 8 5 9 1 - 8 6 0 3 Epode. 8 6 1 0 - 8 6 1 8 Strophe; 8 6 1 9 - 8 6 2 7 Anti-

Wilhelm v. Humboldt

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Strophe, 8628-8637 Epode. Diese Form kann erweitert werden. Humboldt nennt die Einführung einer Mittelstrophe (Mesodica). Goethe benutzt diese Form in folgender Weise: 8697-8701 Strophe, 8702-8706 Gegenstrophe, 8707 bis 8712 neue Strophe (anderer Bauart), 8713-8718 Gegenstrophe zur vorigen, 8719-8727 Mesode (Mittelstrophe), 8728-8735 Strophe (eine 3. Form), 8736 bis 8743 Gegenstrophe dazu, 8744-8748 Strophe (4. Form), 8749-8753 Gegenstrophe dazu. - Ferner: 8882-8886 Proode (Vorstrophe), 8887-8894 Strophe, 8895-8902 Gegenstrophe, 8903-8908 Epode. Dann behandelt Humboldt Pericommata. Diese Form, die keine klare typische Bauform zeigt, hat Goethe nicht benutzt. Als Fünftes folgen die „Anomoxostropha", aufeinanderfolgende Strophen, die untereinander keine Entsprechungen haben. Als ein Beispiel dieser Art kann man Faust 9152-9181 auffassen, denn 9152-9164 ist eine Strophe für sich, die folgende ist formal anders. Humboldt nennt für diese Formen Beispiele aus den griechischen Tragikern. 1 0 Seine Verszeilen stimmen nicht immer mit denen der modernen Ausgaben überein, differieren aber so wenig, daß man sich leicht zurechtfindet. Seine Abkürzung „e. g." bedeutet: „exempli gratia" = zum Beispiel. Es würde zu weit führen, darzustellen, wo Humboldts Auffassung von der der heutigen klassischen Philologie abweicht. Schon sein erstes Beispiel, Oedipus 1186-1222, wird heute nicht als Monostrophicon gedeutet, sondern als Strophe a, Antistrophe a, Strophe b, Antistrophe b. Dergleichen gibt es noch mehr, doch im grundsätzlichen hat Humboldt die Hauptformen erkannt und hat sie Goethe auf diese Weise faßlich und benutzbar gemacht. Der kurze Aufsatz ist vielleicht 1797 geschrieben, als Humboldt ohne berufliche Bindung in Jena lebte, an seiner „Agamemnon"-Übersetzung arbeitete und mit Goethe oft über Metrik sprach. Damals befaßte Goethe sich mit Aischylos, zog Humboldt bei diesen Studien heran und begann sein niemals weitergeführtes Drama Die Befreiung des PrometheusA1 Jedenfalls muß man den Aufsatz wohl in die neunziger Jahre datieren. 5. Wilhelm v. Humboldt, Vom anapästischen Silbenmaß 12 Seiten (3 Doppelblätter), davon 9 beschrieben, eigenhändig. Auch dies offenbar ein Aufsatz für Goethe. Er behandelt den Anapäst (U U —) in griechischen Chorliedern. Humboldt führt aus: Dieser vereinigt sich mit Daktylus und Spondeus, nicht mit dem Jambus. Bei den Anapästen gilt es als gut, wenn das Wort und der Versfuß zusammenfallen, im Gegensatz zu allen anderen Versfüßen. Es gibt bei den Tragikern und den Komödiendichtern in den Chören „ganze anapaestische Systeme, d. h. mehrere aneinander gekettete einzelne anapästische Verse, die so gestellt sind, daß sie ein Ganzes für das Ohr aus10

Oed. Tyr. = Sophokles, König ödipus (Oedipus tyrannos); Phil. = Sophokles, Philoctetes; Prom. = Aischylos, Der gefesselte Prometheus; Phoen. = Euripides, Die Phönikerinnen; Sept. adv. Theb. = Aischylos, Die Sieben gegen Theben; Hec. = Euripides, Hecuba (Hekabe); Agam. = Aischylos, Agamemnon; El. = Sophokles, Elektra; Iph. in Aul. = Euripides, Iphigenie in Aulis; Aj. = Sophokles, Aias. 11 Momme Mommsen, Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Bd. 1. Berlin 1958. S. 198 f.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

machen." Humboldt bringt dann Beispiele „anapästischer Systeme" (nach der damaligen Zählung) aus Sophokles, König Ödipus 1297-1306; Ödipus auf Kolonos 1751-1779; Elektra 1508-1510; Antigone 526-530, 801-805, 817 bis 822, 929-943 usw. Der Aufsatz geht stellenweise auf metrische Spezialdinge ein, die Goethe fernliegen mochten. Doch für den Anapäst als Versart hat er sich interessiert. In einer Handschrift der Faust-Vevse 9152-9164 (Handschrift H 2 , Blatt 20 a) hat Goethe über diese Verse geschrieben Anapäste und dieses Wort dann später, da es nicht in den Text gehörte, wieder ausgestrichen. (Das ist in der WA nicht richtig vermerkt.) Goethe hat diese Verse also als Anapäste aufgefaßt. Schon ein Schema zu dieser Stelle notiert Anapäste (WA 15,2 S. 228), während Goethe sonst beim Schematisieren nur den Inhalt, nicht die Versart zu bezeichnen pflegt. Auch ein Fragment zu der Befreiung des Prometheus (WA 11, S. 334) zeigt Anapäste. 6. Wilhelm v. Humboldt, Ein Aufsatz ohne Titel, über Versfüße der griechischen Lyrik Ein Folio-Doppelblatt, alle 4 Seiten beschrieben. Humboldt behandelt die Versfüße in der Chorlyrik und bei Pindar. Seine Beispiele stammen fast alle aus Pindar, gelegentlich kommt Euripides hinzu. Er erwähnt, daß die metrische Form in der Philologie umstritten sei, da die alten Handschriften keine Versabteilung haben. Er behandelt Antispasticum, Trochaicum, Anapaesticum, Choriambicum, Iambicum, Asynartetum, Ionicum, Epionicum, Paeonicum, Periodicum, Prosodiacum, Dactylicum, Logaoedicum, Sapphicum usw. Das geht sehr ins Spezielle. Goethe hat sich mit diesen Einzelheiten der philologischen Metrik niemals näher beschäftigt. Sie konnten sein eigenes Schaffen eher hindern als fördern, und für die Erkenntnis der griechischen Dichtung nützten sie ihm wenig, zumal sie umstritten waren. Auch setzten sie gute Beherrschung der griechischen Sprache voraus, und die hatte er nicht. Er konnte hervorragend Lateinisch, so daß er es nicht nur fließend las, sondern auch sprechen konnte, doch im Griechischen kam er niemals ohne Hilfen durch. 7. Wilhelm v. Humboldt, Notizen zu Hermann und Dorothea Ein Doppelblatt in Folio, dreiseitig beschrieben. Es sind Notizen, die mit sehr flüchtiger Hand gemacht sind, ohne Überschrift oder irgend einen Hinweis der Beziehung. Da ich sie als Lektüre-Notizen ansah und das Wort „Trochäus" vorkommt, schloß ich, daß sie sich auf ein Werk beziehen, das keinen Trochäus haben darf, also ein Werk in Hexametern. Da I, II, III vorkommen, deutet dies auf „Gesänge"; und so ergab sich die Vermutung, daß es Notizen zu Hermann und Dorothea sind. An Hand einer frühen Handschrift des Werks, die genau die von Humboldt vermerkten Lesarten aufweist, im Goethe- und SchillerArchiv hat sich das bestätigt. Diese sehr flüchtig geschriebenen Notizen hat Humboldt wohl nur für sich selbst gemacht, und Goethe hat ihn dann gebeten, sie ihm zu überlassen. Sie beziehen sich teils auf Schreibfehler, teils auf Dinge, die nach Humboldts Gesichtspunkten Formfehler waren wie Hiatus und metrische Einzelheiten. Zu datieren sind die Notizen wohl auf das Jahr 1797.

Wilhelm v. Humboldt

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8. Riemer, Verschiedene Blätter mit metrischen Aufzeichnungen Riemer kam 1803 als Hauslehrer des Sohns in Goethes Haus. Er wurde von Goethe sogleich für seine Studien antiker Literatur herangezogen, da er klassischer Philologe mit ausgebreiteten Kenntnissen war. Er blieb Berater in Dingen der Antike bis zu Goethes Tode. Die Mappe enthält eine Anzahl Blätter verschiedenen Formats, im ganzen 16 beschriebene Seiten. Behandelt sind: Logaoedische Verse, der Choriambus, der Ionicus a minore, der Ionicus a maiore, Aeolische Verse, der Creticus, der Bacchius, stets mit lateinischen und griechischen Beispielen. Sodann sind als metrische Schemata aufgezeichnet der erste Chor aus Aischylos, Prometheus; ein Chor aus Aischylos, Agamemnon; ein Chor aus Aristophanes, Die Wolken. Auf drei Seiten sind trochäische Verse behandelt, nicht nur mit griechischen und lateinischen, sondern auch deutschen Beispielen, darunter 8füfjige Trochäen, wie Goethe sie in Faust II 8 9 0 8 - 8 9 2 9 , 9 1 2 2 - 9 2 2 5 , 9 5 8 2 - 9 6 2 8 , 9 9 9 2 - 1 0 038 benutzt hat. Ein Blatt bringt 5füfjige Jamben mit verschiedenen Zäsuren:

U-U-|U-U-U-U U-U-U|-U-U-U U-U-U-|U-U-U U-U-U-U|-u-u Dazu deutsche Beispiele. Ähnlich ist ein Blatt „Zäsuren des Trimeters". Das konnte für den Helena-Akt des Faust II nützlich sein. Die Blätter stammen aus verschiedenen Zeiten. 9. Heinrich Vofj der Jüngere, Beispiele verschiedener Versarten Ein Blatt, zweiseitig beschrieben. Auf der einen Seite „Jambische Verse", beginnend mit einem sechsfüßigen Jambus:

U — | U — | U — | U — | U—| U — Wie selig bricht er selbstgepfropfte Birnen ab Dann folgen kompliziertere Zusammensetzungen. Auf der anderen Seite „Trochäische Verse", beginnend mit achtfüfjigen Trochäen :

-u|-u|-u|-u|]-u|-u|-u|stant parati ferre quidquid sors tulisset ultima Euch befehl' ich meiner Väter ganze Hab' in guten Schutz.

Das ist also die Versart, welche Goethe später in Faust II (8908 ff.) aufgenommen hat. Vofj läßt dann kompliziertere Verse, mit Daktylen und Spondeen zwischen Trochäen, folgen. Unter den verschiedenen Verstypen bringt Vofj auch den Versuch, einen Vers fast ganz aus „Längen" zu bilden:

— I— I— I— I—



Baum auf Baum ab klotzt's Faultier mühvoll, wankt und quiekt.

Das ist zwar scherzhaft gemeint, hat aber einen ernsthaften Hintergrund: Johann Heinrich Vofj und August Wilhelm Schlegel wollten möglichst viel 10

Trunz, Goethe-Studien

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Spondeen einführen, also zwei Längen, denen dann im nächsten Versfuß wieder eine Länge folgt. Der deutsche Sprachklang widerstrebt solchem Bemühen. Das scherzhafte Beispiel zeigt, daß es dennoch geht, aber eben nicht im Ernst, und ist insofern mehr ein Beweis gegen als für Voß. Heinrich Voß kam, 23 Jahre alt, im Jahre 1802 nach Weimar und lebte dort bis 1806 in unmittelbarer Nähe Goethes. Er war oft bei ihm im Hause. 12 Er kannte genau die Ideen seines Vaters über antike Versgesetze und über das, was er für angemessen hielt, um im Deutschen Entsprechendes zu erreichen. Goethe zog den jungen Voß deswegen als Berater heran. Eine Handschrift von Hermann und Dorothea ist von Vofj mit sehr zahlreichen Änderungen aus metrischen Gründen versehen. 13 Auch die Achilleis gab Goethe ihm zur Durchsicht, und er versah sie mit Korrekturen. 14 Das Blatt in der Mappe der Aufzeichnungen zur Metrik muß man wohl in die Zeit zwischen 1802 und 1806 datieren. 10. Friedrich August Wolf, Notizen über die Zäsuren im Hexameter. Ein Foliobogen, einseitig beschrieben,- eine Papierart mit Wasserzeichen, die unter Goethes Manuskripten häufig ist. Das Blatt hat folgenden Text: - U UI

U U I - U, U I - , U U I

—- .

-

1) Nach der Hebung des 3ten Fußes fällt die ältere legitime Cäsur und genügt; Arma virumque cano II Troiae qui primus ab oris

2) Nach der ersten Senkung des 3ten Fußes fällt die schwächere und vorzüglich später herrschende Cäsur, und genügt auch für sich: Nenne den Mann mir, o Muse II den listigen

3) Die 3te Art ist, wenn im Anfang des 2ten, aber zugleich des 4ten Fußes die obige (No. 1) männliche Cäsur ist Exempel: Unter dem Arm = pag. 288. 4) Endlich kann allenfalls die letztere im 4ten Fuß allein genügen. Mehr als diese 4 Cäsuren hat der Hexameter nicht: verschieden aber davon sind Wortausgänge und Sinnpausen, z. B. Nenne den Mann mir, o Muse, den listigen II Dieses Blatt und das folgende sind vermutlich Notizen bei einem Gespräch. Das Papier deutet darauf, daß es ein Gespräch bei Goethe war. Vielleicht im Juli 1798 in Jena, wahrscheinlicher im Mai 1802 in Bad Lauchstädt oder um die Jahreswende 1803/04 in Weimar, als Goethe den willkommenen Besucher in einem Nachbarhause am Frauenplan unterbrachte (Brief an Wolf 26. Dezember 1803) und ihn tagsüber bei sich hatte. 12

Goethe und Schiller in persönlichem Verkehr. Nach brieflichen Mitteilungen von Heinrich Vofj. Hrsg. von Georg Berlit. Stuttgart 1895. - H. G. Graf, H. Vofj d. Jüngere und sein Verhältnis zu Goethe und Schiller. Goe.-Jb. 17, 1896, S. 75-104. Darin über Vossens Korrekturen Goethescher Hexameter S. 90-92. 13 WA 50, S. 375 ff., insbes. S. 380-383. - Vor allem: Akademie-Ausgabe. Epen. Bd. 2. Bearb. von Siegfried Scheibe. Berlin 1963. S. 178 ff., insbes. S. 184-186 eine Beschreibung der Handschrift und S. 199-300 Abdruck der Vossischen Vorschläge. 14 Akademie-Ausg. Epen. Bd. 2 Hrsg. von S. Scheibe. Berlin 1963. S. 319-321, 327-367.

Friedrich August Wolf

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11. Friedrich August Wolf. Notizen über achtfüfjige Trochäen Ein Blatt, einseitig mit Bleistift beschrieben. Auch dies eine Papierart mit Wasserzeichen, die Goethe benutzte. Der Text lautet: Trochaici -U-U|-, U-U||-U-U|-U_U — I-. ||-U—l-uCras I amet qui numqu' amavit II qui qu'amavit cras amet. Gallias Caesar subegit, Nicomedes Caesarem, Ecce, Caesar nunc triumphat qui subegit Gallias, Nicomedes non triumphat, qui subegit Caesarem.

Wolf bringt zunächst ein metrisches Schema, dann zwei lateinische Beispiele. Das erste, „Cras a m e t . . . " , stammt aus dem „Pervigilium Veneris", einem spätantiken Preisgedicht auf Venus in trochäischen Langversen. Die von Wolf zitierte Zeile („Morgen soll lieben, wer nie geliebt hat, und wer schon geliebt hat, soll morgen lieben") wird in dieser Dichtung refrainartig wiederholt. Gottfried August Bürger hatte eine gelungene Übersetzung in Reimversen geschrieben; sie erschien 1773 in Wielands „Teutschem Merkur", 1774 im Göttinger Musenalmanach, und seit 1779 in den verschiedenen Auflagen von Bürgers Gedichten als Einleitungsgedicht. Das „Pervigilium Veneris" war aber nicht nur durch Bürger bekannt. - Das 2. Beispiel stammt aus der Caesar-Biographie von Sueton, Kap. 49. Sueton schreibt, es seien bekannte Verse, welche die Soldaten gesungen hätten. Die beiden Zitate konnten Goethe, der immer gern an Beispielen lernte, den Klang der Trochäen zeigen. Das vorangestellte Schema bringt in der ersten Zeile den normalen achtfüßigen Trochäus und bezeichnet die Zäsuren; wichtig ist vor allem die Zerlegung des Ganzen durch die Mittelzäsur; hier hat Wolf 2 Striche gemacht. Die zweite Zeile zeigt, daß fast jede Kürze durch eine Länge ersetzt werden kann. Die 7. Kürze muß nach römischem Gebrauch immer rein sein. In dem Vers, den Wolf hier schematisiert, sind auch die 1. und die 5. Kürze beibehalten. Das Blatt kann nur bei einem persönlichen Zusammensein entstanden sein, also wie das vorige im Juli 1798 oder Mai 1802 oder um die Jahreswende 1803/04. Goethe benutzte später Trochäen in Faust II, und zwar nicht immer so, wie Wolf sie hier aufzeichnet. Die antiken achtfüßigen Trochäen enden „katalektisch", d. h. mit einer Länge, der eine Pause folgt. Dem entspricht im Deutschen eine Hebung; nach dem Sprachgebrauch deutscher Metrik ist das ein „stumpfer" Versschluß. Goethe hat bei seinen Trochäen aber oft auch einen klingenden Versschluß (Hebung, Senkung). Die Verse 8909-8929 enden immer stumpf: Tritt hervor aus flüchtigen Wolken, hohe Sonne dieses Tags,

Die Verse 9122-9126 sind klingend und enden mit einem stumpfen Viertakter: Schauerlich in jedem Falle! Schwestern, ach! wir sind gelangen. So gelangen wie nur je. 10*

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Die Verse 9582-9628 und 9992-10 038 sind unregelmäßig stumpf und klingend, doch der letzte Vers einer Strophe oder der ganzen Versgruppe ist immer stumpf: Denn um neuen Most zu bergen, leert man rasch den alten Schlauch!

In diesen Einzelheiten der Gestaltung ist Goethe selbständig vorgegangen; es gibt dafür keine antiken Vorbilder.

12. Eine Tabelle mit Beispielen zu 34 antiken Versfüßen Ein großes Doppelblatt, größer als Folio. Darauf 34 Versfüße, jedesmal der lateinische Name, der deutsche Name, die metrische Formel, meist ein lateinisches Beispiel und 1 - 6 3 deutsche Beispiele. Etwa: Trochäus (Wälzer), omnis. - U . lebend, Lessing, Hören, Herder, Knebel, Hutten, Größe, Äther, Seele usw. (21 dt. Beispiele) Spondeus (Tritt), clemens. . Meerflut, Nachklang, Wettstreit, Prüfstein, Nachruhm, Wortspiel, Klopstock, Wieland, Gottmensch, Staatswohl usw. (63 dt. Beispiele) Der Verfasser reiht dann noch eine zweite Gruppe Spondeen an: anceps. — —. Venus, Sappho, Goethe, Leibniz, Pindar, Plato, Scheusal, Schicksal, denkbar, Beispiel, Urteil, Arbeit, Gottheit, Einheit, Menschheit usw. (55 Beispiele) Molossus (Schwertritt). Currentes. . Sehnsuchtsvoll, Zeitausdruck, Lavastrom, beispiellos, Purpurlicht. (22 Beispiele) Ionicus a minore (Vorschläger), generosi. U U — . Unbedingtheit, Fatalismus. (2 Beispiele) Dispondeus (Doppeltritt). Interrumpens. . unauslöschbar, Darstellbarkeit, Unachtsamkeit. (9 Beispiele) Trijambus (Dreiwurf). U - U - U - . Gedankenlosigkeit, Erfahrungsgegenstand (3 Beispiele). Choriambus (Aufsprung). Histórica. - U U - . Menschengeschlecht, Literatur, Donnergewölk, Jubelgeschrei, Sphärengesang, Geisteskultur (27 Beispiele). Dichoriambus (DoppelaufSprung). - U U — U U - . Transzendentalphilosophie. (1 Beispiel) usw. Der Verfasser dieser Tabelle legt Wert darauf zu zeigen, daß im Deutschen Spondeen möglich sind, deswegen seine 63 und 55 Beispiele dafür, 22 für Molossen und 9 für Dispondeen. Er setzt neben die reinen Spondeen eine Gruppe — —, die sich anderseits deutlich von den Trochäen abhebt. Hier kommen die Endungen -sal, -bar, -heit usw. vor, die Voß als „Mittelzeit" bezeichnete. Bei der Wahl der Wörter fallen erstens die Dichternamen auf, sodann philosophische Fachausdrücke wie „Transzendentalphilosophie". Das scheint auf Jena als Entstehungsort zu deuten. Die Handschrift ist klein und deutlich; anscheinend eine Abschrift.

Tabellen zur Metrik

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13. Eine Tabelle mit deutschen Beispielen zu 70 antiken Versfüßen, überschrieben „Philosophisch Prosodische Tabelle" Ein Doppelblatt, die 2. und 3. Seite beschrieben. Wieder sind Beispiele für Versfüße gegeben, diesmal sogar 70 verschiedene Formen. Im Gegensatz zu der vorigen Tabelle fehlen deutsche Namen und lateinische Beispiele. Jedesmal steht nur das metrische Schema und meist der lateinische Name, sodann 1 - 3 5 deutsche Beispiele. Inhaltlich von der vorigen Tabelle abweichend. Meines Erachtens dieselbe Handschrift wie bei der vorigen Tabelle, also wohl der gleiche Abschreiber. Am Anfang steht eine Gruppe „Stammworte" ohne metrische Bezeichnung: Zweck, Zeit, Ziel, Welt, Traum, Teil, Selbst, Sinn, Schein, Satz, ich, nichts, Kant, Neid, Wahn usw. (50 einsilbige Wörter) Dann folgen Versfüße, z. B.: Spondeus.

. Unding, Urkraft, Willkür, Einheit, Rückblick usw.

Jambus. U - . Person, Begriff, Substanz, Atom, Beweis, Moment, Kritik usw. Trochäus. - U . Wechsel, logisch, Kanon, sinnlich, Handlung, Dogma, geben, Freiheit, praktisch, Glauben, Wille, Klugheit, Neigung, Schema, Gabe, Zweiheit, Wirkung usw. Molossus. . Weltursach, Urteilskraft, Wahrheitssinn, Endabsicht, Irrwischschein, Freiheitstrieb usw. Daktylus. - U U. Sittlichkeit, Wissenschaft, Nötigung, Synthesis usw. Der Verfasser dieser Tabelle bringt noch mehr Versfüße als der der vorigen Tabelle, er unterscheidet aber den Klang nicht so sorgfältig wie jener. Unter seinen Trochäen sind nicht nur metrisch einwandfreie wie „geben, glauben, Wille", sondern auch Wörter wie „logisch, Klugheit, Neigung, Zweiheit", in denen die zweite Silbe verhältnismäßig viel Gewicht hat. Der Verfasser der ersten Tabelle verwies Wörter dieser Art in die Gruppe — —. Hier beginnen die Probleme, die zu der Uneinigkeit der Metriker führten. Der Verfasser dieser Tabelle faßt „Einheit, Allheit" als Spondeus , jedoch „Freiheit, Klugheit, Zweiheit" als Trochäus - U . Das ergibt Unklarheit. Jedenfalls wahrt er sich Freiheiten in der Art der Klopstockschen und Knebeischen Verse, welche nicht die Strenge der Vossischen und Schlegelschen Regeln haben. Vermutlich stammt auch diese Tabelle aus Jena. Goethe war in den Jahren 1 7 9 6 - 1 7 9 9 oft dort, und zwar jedesmal wochenlang. 15 Er war dort mit vielen Gelehrten in Verbindung, die sich in der antiken Metrik auskannten, nicht nur mit Humboldt und Knebel, sondern auch mit Christian Gottfried Schütz, dem klassischen Philologen, mit Griesbach, dem Theologen, mit Karl Gotthold Lenz, dem Schulprofessor aus Gotha, und anderen. In dieser Umgebung wird man den Verfasser wohl vermuten dürfen. In beiden Tabellen fallen ein Versfuß und ein Wort zusammen. In der antiken Verslehre gilt es als gut, daß beide nicht zusammenfallen, außer beim 15 Goethe in Jena: 1796 : 3. Januar-17. Januar; 16. Februar-16. März; 28. April-8. Juni; 18. August-5. Oktober. - 1797 : 20. Februar-31. März; 19. Mai-16. Juni. - 1798: 20. März bis 6. April; 20. Mai-31. Mai; 1. August-18. August; 22. September-1. Oktober; 11. November bis bis 29. November. - 1799 : 21. März-10. April; 16. September-14. Oktober.

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Anapäst. Schon aus diesem Grunde haben die beiden Tabellen für die Praxis keine Bedeutung, sondern mehr den Charakter einer Spielerei oder eines Experiments. In die Mappe zur Metrik gehörten ferner: 14. August Wilhelm Schlegel, Bemerkungen zu Goethes Elegien und Epigrammen Schlegels Bemerkungen zu den Elegien, Epigrammen, Weissagungen des Bakis, Vier Jahreszeiten und Episteln beziehen sich nur auf Einzelheiten, jedesmal sind Gedichttitel und Verszahl davor vermerkt. Es ist ein Manuskript von 19 beschriebenen Seiten, eigenhändig von Schlegel, dazu von Goethe mit roter Tinte Häkchen, die bezeichnen, daß er die betreffende Stelle durchgearbeitet hat, und 2 handschriftliche Zeilen von ihm (S. 12). Die Bemerkungen Schlegels beziehen sich nur auf die Versform. Sie sind abgedruckt in der Weimarer Ausgabe, Bd. 1, S. 424—477. Dort sind sie in die Lesarten zu den Gedichten verteilt, man muß sie also heraussuchen, doch der Abdruck ist vollständig. Schlegel findet, Goethe habe die antiken Versgesetze nicht hinreichend erfüllt. Er weist aber nicht nur Verstöße nach, sondern macht auch selbst Vorschläge. Goethe hat mehrfach auf Grund von Schlegels Kritik geändert. 15. Fragmente zu dem Drama Die Befreiung des Prometheus Die Fragmente umfassen 2 Strophen eines Chorliedes, ferner 3 Zeilen in sechsfüßigen Jamben und 3 Zeilen in anapästischen Versen; das sind sämtlich Formen, die in den metrischen Notizen der Mappe mehrfach vorkommen. Sie sind abgedruckt in der Weimarer Ausgabe, Bd. 11, S. 331-334 und S. 441-442. Über Goethes Beschäftigung mit diesem Werk gibt es einige wenige kurze Äußerungen von Goethe, Humboldt, Schiller und Körner. 16 Der Chor hat einen ähnlichen Charakter wie die Chöre im Helena-Akt des Faust. Die Dokumente zu Goethes Beziehungen zu der klassizistischen Verslehre lassen eine Entwicklungslinie erkennen, seine wiederholten Bemühungen um Aneignung der „rigoristischen" Vorschriften in den Jahren seit 1794 und die Loslösung seit etwa 1806. Der Inhalt der Mappe mit Notizen zur Metrik verdeutlicht diese Bemühungen. Er zeigt, wie Goethe Fachleute heranzog und was diese ihm lieferten. Goethe war begeistert für die Kunst der Antike, vor allem die der Griechen. Man sollte versuchen, dort zu lernen. Warum nicht auch im Bereich der Versformen? Klopstock hatte mit künstlerischer Kraft deutsche Hexameter gebildet und antike Odenstrophen nachgeahmt. Goethe ergriff den Hexameter, später den sechsfüßigen Jambus als Dramenvers, auch die antiken Chorstrophen. Er hat aber niemals versucht, Odenverse zu bauen wie Klopstock, Stolberg, Hölty, 16 Momme Mommsen, Die Entstehung von Goethes Werken in Dokumenten. Bd. 1, 1958, S. 198 f. - Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 29, Weimar 1977. S. 386.

Hexameter bei Klopstock und bei Vofj

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Hölderlin und viele andere. Sie entsprachen nicht seinem persönlichen Sprachrhythmus. Unter den Formen, die er ergriff, erwies sich nun der Hexameter als problematisch. Als er Reineke Fuchs und Hermann und Dorothea und mehrere große Elegien geschrieben hatte - mehr als 7 000 Hexameter - wurde ihm gesagt, daß diese Hexameter durchaus fehlerhaft seien. Die, weicheres sagten, galten als anerkannte Fachleute. Goethe hatte in seiner Jugend sehr gut Latein gelernt, nicht aber, um die Antike genau kennenzulernen, sondern um die wissenschaftliche europäische Literatur in Geschichte, Rechtswissenschaft, Naturwissenschaft, Theologie, Philosophie usw. fließend lesen zu können, denn diese Literatur war bis zu seiner Studentenzeit lateinisch. Goethes Vater führte sein Haushaltsbuch lange Zeit lateinisch, für ihn war es eine Umgangssprache. Als solche lernte Goethe es. Metrik kam dabei nicht vor. Als Student lernte er etwas Griechisch, aber niemals systematisch. Bis zur Metrik drang er nicht vor. Als er in seiner Jugend zu dichten anfing, benutzte er die Formen, die er aus anderen Dichtungen im Ohr hatte: Liedstrophen und Alexandriner. Als er in den ersten Weimarer Jahren anfing, Hexameter zu schreiben, bildete er sie so, wie er ihren Klang im Ohr hatte, also so, wie die Hexameter Klopstocks klangen und wie lateinische Hexameter klangen, wenn man sie in Deutschland im 18. Jahrhundert vorlas. Er machte sich damals noch keine Gedanken darüber, wie die Verse Vergils wohl geklungen hatten, wenn der Dichter sie vorlas, oder die Verse Homers, wenn die Epensänger sie vortrugen. Ein deutscher Langvers war den Dichtern des 18. Jahrhunderts ein Bedürfnis. Der Alexandriner entsprach dem Lebensgefühl ebensowenig mehr wie der geometrisch geformte Barock-Park, und ähnlich wie der englische Garten-Stil entspannt, aber zugleich sehr gepflegt und variationsreich wirkte, brauchte man einen Langvers, der dem neuen Lebensgefühl entsprach. Der Hexameter schien es zu sein. Seine sechstaktige Form hatte man im Kopf, wenn man sie einmal gehört hatte. Alles weitere war persönliche Ausgestaltung im einzelnen. In diesem Sinne schrieb Goethe die Hexameter seines Reineke Fuchs. Dann aber kam Voß mit seinen Übersetzungen, in denen es ihm darauf ankam, deutsche Spondeen zu bilden. Sehr rasch setzte er sich bei vielen durch. Goethe hatte den Wunsch, bei den Fachleuten zu lernen. Gespräche mit Karl Philipp Moritz in Rom hatten ihm gezeigt, wie ein Verstheoretiker vorging. Mit Moritz ließ sich reden. Doch nun wurde die Situation anders. Es bildeten sich Theorien, welche als Normen aufgestellt wurden. Goethe hatte als Kritiker, die seine Hexameter schlecht fanden, Humboldt, Voß, August Wilhelm Schlegel, den jüngeren Voß und Humboldts Freund Brinkmann. Auf der anderen Seite standen nur Knebel und Wieland. Sie verstanden zwar beide viel von der Antike, doch Goethe hörte auf sie jahrelang weniger als auf die andere Gruppe. Schiller verhielt sich abwartend und hielt sich möglichst heraus. Ihm war anderes wichtiger. Voß schreibt am 13. Juli 1794, alle Verse in Reineke Fuchs seien „schlechte Hexameter". Humboldt schreibt am 5. Dezember 1799 an Brinkmann, daß Goethe „entsetzlich schlechte Verse" gemacht habe. Er ist der Meinung, Goethe fehle „die Kraft des Rhythmus" (27. März 1797). August Wilhelm Schlegel bezeichnet viele Verse als fehlerhaft und regt Goethe zu Änderungen an. Schließlich gibt Goethe seine Hexameter-Werke an den jungen Heinrich Voß,

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

und dieser schreibt einem Freunde am 15. Mai 1805: „Ich habe Goethes Hermann und Dorothea schon in bessere Hexameter umgeschmolzen." In den Briefen darüber kommt immer wieder das Wort „anstreichen" vor. Humboldt, Vofj, Schlegel, Brinkmann und der junge Vofj streichen Goethe Verse an, wie ein Lehrer einem Schüler in einer Übersetzung Sprachfehler anstreicht. Mitunter ersetzen sie Goethes Verse durch eigene „bessere". Wenn man im Goethe-Archiv die Handschrift von Hermann und Dorothea ansieht mit den Veränderungen, welche der junge Vofj vorschlägt, ist man erstaunt darüber, wie er und wie sie alle mit Goethe umgingen. Besessen von ihrer Norm und der Theorie der Spondeen änderten sie an Goethes Versen herum. Vofj am 17. Juli 1794 und Humboldt am 27. März 1797 beklagten Goethes mangelnde rhythmische Kraft. Keiner denkt daran, dafj Goethe Verse von stärkster rhythmischer Gewalt geschrieben hat wie Prometheus, Mahomets-Gesang usw. Das alles galt nichts. Faust lag als Fragment gedruckt vor. Niemand blickte darauf. Sie sahen immer nur ihre Hexameter-Regeln. Ganz anders Knebel: er schreibt am 22. Dezember 1795 an Goethe: „Da i c h . . . Deinen Reineke Fuchs für das beste und der Sprache eigentümlichste Werk deutscher Prosodie halte, so wollte ich nicht, dafj Du andern, die bei weitem nicht Gefühl und Geschmack genug zu dieser Sache haben, aus zu vieler Nachsicht und Gutheit zu viel einräumtest. . . Was soll es werden, wenn sich unsere einzigen Muster unter die Regel einseitiger und fühlloser Pedanten schmiegen!" Doch Goethe folgte Knebel nicht, noch nicht. Zwei Jahre später, Ende 1797, schrieb Friedrich Schlegel den klugen Satz: „Man tadelt die metrische Sorglosigkeit der Goetheschen Gedichte. Sollten aber die Gesetze des deutschen Hexameters wohl so konsequent und allgemeingültig sein wie der Charakter der Goetheschen Poesie?" Doch der Satz verhallte wirkungslos. Niemals hatten Schlegel, Vofj und die anderen an Goethes Reimstrophen, an Iphigenie oder Werther oder den Lehrjahren herumkorrigiert. Nur auf die Hexameter stürzten sie sich. Dabei fehlt jeder Blick auf Goethes andere Dichtungen. Vergessen ist, was Herder 1767 in seinen „Fragmenten über die neuere deutsche Literatur" geschrieben hatte, über das Akzentprinzip der deutschen Sprache und die charakteristische Ausdrucksform, die sich ergibt, wenn man diese Eigenschaft recht zu nutzen weiß.17 Als Goethe sich von seinen Verslehrern löste, schrieb er am 28. März 1806, man solle nicht nur an diese paar Kritiker denken, sondern an die tausende von Lesern, die mit Hermann und Dorothea und anderen Hexametern von ihm recht wohl zuirieden seien. Nachdem Wieland in seinem „Merkur" im Dezember 1795 dargelegt hatte, daß Vossens neue „rigoristische" Odyssee-Übersetzung schlechteres Deutsch sei als die ältere, stand im Hintergrund immer die Befürchtung, man werde durch Änderungen am Ende eine Verschlimmerung dieser Art erreichen. Während Vofj naiv von der Richtigkeit seiner Ideen überzeugt war, unterwarf der andere 17

Die Lehre von der Nachahmung der antiken Versmaße im Deutschen. Quellenschriften des 18. u. 19. Jahrhunderts. Hrsg. von H. H. Hellmuth u. J. Schröder. München 1976. (XIII, 558 S.) In diesem Werk S. 502-504 Herders Äußerungen zu diesem Thema und S. 514-520 die Klopstocks. Klopstock war ein musikalischer Dichter, der für den Vers schöpferisch gewesen war. Vofj, Humboldt, Schlegel setzten sich aber über seine wohlüberlegten Äußerungen einfach hinweg. - Zu Herder auch: Haym, Herder. 2. Buch, 2. Abschnitt, Teil VI und VII.

Goethes Hexameter und ihre Kritiker

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Verstheoretiker, Humboldt, seinen eigenen Standpunkt einer scharfsinnigen Kritik, und da kam er zu dem Ergebnis, irgend etwas müsse da nicht stimmen, weil Metrik sich auf etwas Klangliches beziehe, er, Humboldt, aber sei ganz unmusikalisch und dennoch Spezialist dafür (31. August 1795, 23. Oktober 1795). Damit bezeichnete er genau den wunden Punkt. Es war für Goethe ein Glück, daß er, der Vielseitige, auch mit einem Musiker befreundet war, denn gerade diese Ergänzung brauchte er. Zelter ließ sich durch die gelehrten Philologen nicht imponieren. Leider griff er zu spät ein. Doch sein Brief vom 2. Februar 1814 konnte für Goethe eine Bestätigung und eine Klärung sein: die Philologen beurteilen Verse mit dem Auge, nicht mit dem Ohr, mit dem Verstand, nicht mit dem künstlerischen Gefühl. Keiner von den Philologen hatte gehört, wie man vor mehr als 2 000 Jahren Verse sprach. Was Voß 1789 und 1802 ausgebrütet hatte, waren selbstgemachte Regeln für das Deutsche. Es war nichts Antikes. Die Regeln und die Kritik der Philologen haben Goethes Hexameterdichtung zum Erliegen gebracht. Wenn er bei jedem Wort an Vossisch-Humboldtsche Regeln denken sollte, konnte er nicht mehr schreiben. 1801 entstehen seine letzten Hexameter. 1805 gibt er auch den Plan auf, die früheren Hexameter zu verändern. Er fühlte sich, wie er in dergleichen Fällen zu sagen pflegte, paralysiert. Der Hexameter als solcher gefiel ihm nach wie vor gut, auch im Deutschen. In den Annalen, Abschnitt 1806, geschrieben zwischen 1819 und 1825, nennt er ihn eine herrliche Versart. Dort spricht er von dem Plan eines Tell-Epos. Da er sich nicht mehr imstande fühlte, Hexameter zu schreiben, wurde der Plan fallengelassen. Schon Pandora, 1808, hat außer den Sechstaktern mit Auftakt (Sechsfüßigen Jamben) keine antiken Formen mehr, sondern deutsche Reimverse. Anders stand es mit dem Helena-Akt des Faust II, den er im Jahre 1800 begonnen hatte. Den hatte er Schlegel, Humboldt und dem jungen Voß nicht gezeigt. An diesen Versen hatte niemand herumkritisiert, niemand hatte ihm die Arbeit verleidet. Der einzige, mit dem er sie besprach, war Riemer. Der war zwar Philologe und war zeitweilig Schulmeister gewesen, doch er kritisierte niemals so wie die rigorosen Metriker. Er wirkte sich niemals hemmend auf die Produktivität aus. 1826 wurde der Helena-Akt vollendet. Danach hat Goethe keine antikisierenden Verse mehr geschrieben. Die Verse aus antiker Tradition in dem Helena-Akt sind Trimeter, Achtfüßige Trochäen und Chorstrophen. Zwar wirken sie, im Zusammenhang des Ganzen, als Nachklang des Antiken; doch sie haben noch eine andere Seite. Die Sechsfüßigen Jamben sind eine Verlängerung des Blankverses, der den Deutschen seit Johann Elias Schlegel und Lessing geläufig war und den Goethe in Iphigenie und Tasso mit Meisterschaft gehandhabt hatte. Die Achtfüßigen Trochäen sind im Altertum am Ende pausiert, bei Goethe meist nicht, er bevorzugt eine Gruppe klingend endender Verse, deren letzter dann stumpf endet (was nicht antik ist). Das klingt so: In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus Tritt er wohlgemut zur Kante, zu dem Überhang; wir staunen. Und die Eltern vor Entzücken werten wechselnd sich ans Herz. (9620-9622) Achtet man nur auf den Klang, so erinnert man sich, diesen Rhythmen bei Goethe schon viel früher begegnet zu sein:

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Eine Mappe mit Notizen zur Metrik

Und so trägt er seine Brüder, seine Schätze, seine Kinder Dem erwartenden Erzeuger treudebrausend an das Herz.

So lautet der Schluß des Mahomets-Gesangs. Das Schriftbild ändert an dem Rhythmus nichts. Dies waren Rhythmen aus Goethes eigenständiger Dichtung seiner Jugend. Das Antikisierende ist dem eigenen nicht so fern, wie es zunächst scheint. Ähnlich ist es mit den Chorliedern. Eins derselben beginnt: Vieles erlebt' ich, obgleich die Locke Jugendlich wallet mir um die Schläfe! Schreckliches hab' ich vieles gesehen, Kriegrischen Jammer, Ilions' Nacht, Als es üel. (8697-8701)

Ganz ähnlich klingt: Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es. Und wieder nieder zur Erde muß es. Ewig wechselnd.

So beginnt der Gesang der Geister über den Wassern in Freien Rhythmen. Goethe konnte mit seinen Chorliedern im Helena-Akt an seine Freien Rhythmen anknüpfen. Die erste Strophe konnte er frei bauen. Die zweite mußte dann freilich genau entsprechen. Doch das ließ sich machen. Da gab es keine Regeln der Metriker. Und dann mußte eine Schlußstrophe (Epode) in eigenen Rhythmen folgen. Das ist zwar im Grundsätzlichen den antiken Formen nachgebildet, in allen Einzelheiten aber von Goethescher Eigenart. Es war nur eine Annäherung an die Antike - und mehr sollte es auch nicht sein. Hier war noch einmal die ganze Problematik der Griechen-Nachfolger deutlich. Gerade durch den Abstand, gerade dadurch, daß man ganz der eigenen Sprache, dem eigenen Geiste entsprach, kam man in eine innere Beziehung zu den großen Leistungen der Antike. In der Klassischen Walpurgisnacht sprechen alle Gestalten in deutschen Reimversen, das tut ihrem antiken Charakter keinen Abbruch, sondern macht sie gerade lebendig. Im Jahre 1818, in dem Aufsatz Antik und modern schrieb Goethe den Satz: Jeder sei aui seine Art ein Grieche! Aber er sei's! Das galt allgemein, und das galt für ihn im Alter auch in bezug auf die metrischen Formen. Zelter hatte ihn darin bestärkt: die echte Nachfolge der Griechen besteht darin, in der eigenen modernen Sprache mit den ihr gemäßen Mitteln durch Klang möglichst viel auszudrücken. Und das hat Goethe dann auf seine Weise getan, am großartigsten in Faust II, einem Werk von einzigartigem Reichtum klanglicher Formen, die alle ihren Sinn, ihre Symbolik haben. Gefunden hat Goethe seine vielfältigen Formen dank seiner künstlerischen Begabung und dank seiner Fähigkeit, sich der Intuition hinzugeben. An Zelter schreibt er am 29. Mai 1819: Die Mannigialtigkeit und Freiheit der Silbenmaße ist mir unvorsätzlich unter dem Arbeiten, bei Beschauung der Gegenstände, geworden. Über die Symbolik war er sich klar, das sagt schon der Brief an Heinrich Meyer vom 6. Juni 1797, wo er über die Wirkung verschiedener Versformen sagt:

Antike und Goethesche Formen

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Es ist wirklich beinahe magisch... Und in den Aphorismen seines Alters steht der eine lange Erfahrung zusammenfassende Satz: Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten. (Maximen und Reflexionen)

Goethes Entwurf Landschaftliche

Malerei

1. Die Überlieferung Goethes Entwurf Landschaftliche Malerei ist eine geniale Leistung aus seinen Altersjahren. Er nimmt die Methode der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts vorweg. Zu einer Zeit, in welcher es nur die aufzählende Darstellung gab, d. h. Mitteilungen, was dieser und jener Maler geschaffen habe, dazu eine schematisch wertende Beurteilung, ob Zeichnung, Perspektive, Farbe, Komposition und Motive gelungen seien, zu dieser Zeit entwirft Goethe eine Geschichte des Sehens, eine Geschichte der Landschaftsauffassung, insofern sie eine mit den Jahrhunderten sich wandelnde Geistigkeit der Künstler und Betrachter offenbart. Diese Arbeit Goethes ist Fragment geblieben. Wir haben drei Schemata und einen Entwurf, der aber das Thema nicht zu Ende führt. Doch diese vier Fragmente lassen Goethes Hauptgedanken zu dem Thema deutlich erkennen. Als Grundlage für diese Arbeit hat Goethe seine reichhaltige Graphik-Sammlung benutzt, die etwa 2 500 Zeichnungen enthält und 6 500 Kupferstiche, von denen die meisten Reproduktions-Stiche sind. Diese Sammlung war sein kunsthistorisches Material. Sie ist noch vorhanden. Zieht man sie heran, so wird manches deutlicher, was die Schemata nur im Stichwort andeuten. Als Goethe starb, hinterließ er die vier Fragmente. Damals war von seiner Zeitschrift Über Kunst und Altertum der 6. Band unvollständig. Es waren zwei Hefte erschienen, das dritte, abschließende Heft fehlte noch. Riemer und Eckermann beschlossen, dieses Heft zusammenzustellen, und zwar mit Arbeiten aus dem Nachlaß. Den Aufsatz Landschaltliche Malerei gaben sie Heinrich Meyer, weil dieser sachlich für die bildende Kunst zuständig war. Das Heft sollte noch im Herbst 1832 erscheinen. M a n arbeitete schnell. Heinrich Meyer war krank. Er ist bald darauf, noch vor der Vollendung des Drucks, gestorben. Er konnte nicht mehr in Goethes Haus gehn und aus den Tausenden der graphischen Blätter das heraussuchen, was Goethe benutzt hatte. Es g a b noch keinen Katalog, wie ihn später, 1848, Schuchardt geschaffen hat. Meyer hatte keinerlei Schulung im Edieren. Er hatte vor, den Lesern von 1832 etwas möglichst Vollständiges, Lesbares zu bieten. Er ergänzte also die Goetheschen Fragmente von sich aus. Zwar versuchte er, die Goetheschen Teile in Anführungszeichen zu setzen und dadurch von seinen Zutaten abzuheben, doch aus Versehen setzte er manches Meyersche Wort in Anführungszeichen und ließ manches Goethesche Wort ohne diese. Außerdem bemerkte er nicht, daß unter den Papieren, die hier beieinander lagen, eine Seite mit Notizen ganz anderer Art war, z. B. mit dem Stichwort Toro Farnese. Der „Farnesische Stier" ist eine antike Großplastik, welche mit der Landschaftsmalerei g a r nichts zu tun hat. Meyer druckte aber alle Notizen, wie er sie beieinander fand, ohne kenntlich zu machen, wo das Schema zur Landschaftsmalerei beginnt. In dieser Weise kamen mancherlei Fehler in den Abdruck hinein, sowohl in Band 6 der Zeitschrift Über Kunst und

Goethe und die Landschaftsmalerei

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Altertum wie auch in den entsprechenden Druck in Band 4 der „Nachgelassenen Werke" ( = Ausgabe letzter Hand, Bd. 44). Beide Drucke wurden überstürzt fertig gemacht. Im März 1832 war Goethe gestorben, im Herbst lagen bereits drei Bände „Nachgelassene Schriften" vor. Es ist klar, daß da nicht alles sorgfältig ediert sein konnte. Dem Aufsatz Landschaftliche Malerei gab Eckermann eine Einleitung bei, ohne aber seinen Namen zu nennen. Er sagt, dafj es sich um Fragmente aus dem Nachlaß handelt, die durch Meyer ergänzt sind. Die meisten Versehen dieser Drucke wurden übernommen in die „Weimarer Ausgabe", deren Band 49,2 im Jahre 1900 erschien. Auf ihr beruhen die späteren Editionen. Eins der Schemata hat die Überschrift Landschaftliche Malerei. Die Materialien liegen aber zum Teil in einem Umschlag, der von Schreiberhand die Aufschrift hat Künstlerische Behandlung landschaftlicher Gegenstände. Das führte dazu, dafj in der „Weimarer Ausgabe" ein Titel Landschaftliche Malerei vorkommt und außerdem ein Titel Künstlerische Behandlung landschaftlicher Gegenstände, als handle es sich um zwei Werke (WA 49,2 S. 240 ff. und 245 ff. Dazu das Register S. V). Es ist aber ein und dasselbe Werk.

2. Goethe und die Landschaftsmalerei Die Fragmente fassen vieles zusammen, was Goethe im Laufe der Jahre zu diesem Thema gedacht hat; denn mit Landschaftsmalerei hat er sich - neben den vielen anderen Dingen, die er trieb - sein Leben lang beschäftigt. Das fing in seiner Kindheit an, als er im Hause seines Vaters die Waldlandschaften von Friedrich Wilhelm Hirt und die Rheinlandschaften von Christian Georg Schütz sah, die an Saftleven anknüpfen und damit an die große Tradition, die seit dem 17. Jahrhundert auf diesem Gebiet vorhanden war. 1 Früh fing Goethe an zu zeichnen, und die Darstellung der Landschaft hat dabei immer eine besondere Rolle gespielt. 2 Als er später Dichtung und Wahrheit schrieb, ließ er noch einmal seine Entwicklung vor sich vorüberziehn: Die Frankfurter Maler in Buch I und III, den ersten Besuch der Dresdener Galerie in Buch VIII, nach welchem ihm klar wird, daß man vieles, was vor Augen kommt, mit den Augen eines Malers sehen lernt. In diesem Sinne beschreibt er im Beginn von Buch XIII die Lahnwanderung und im Anfang des Buchs XX die Werke von Georg Melchior Kraus. Ein erster Höhepunkt der Beschäftigung mit Landschaftsmalerei war die Italien-Reise 1786-88. Goethe zeichnete viel, sah aber, daß er nie erreichen konnte, was die Maler erreichten. Er lernte Hackert kennen, der vor allem Landschaften malte, Tischbein, der neben dem Figürlichen immer auch das Landschaftliche pflegte, und Kniep, den er als Zeichner nach Sizilien mitnahm. In Rom sah er Gemälde von Poussin und Claude Lorrain, die in Rom gelebt hatten, außerdem in reicher Fülle die italienischen Landschaftsdarstellungen von Annibale Carracci, Domenichino und anderen. Daheim in Weimar war er 1 Abbildungen in: Bilder aus dem Frankfurter Goethe-Museum. Hrsg. von Ernst Beutler und Josefine Rumpf. Frankfurt/M. 1949. 2 Corpus der Goethezeichnungen. Hrsg. von Gerhard Femmel. 7 Teile in 10 Bänden. Leipzig 1958-1973.

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

an einem Ort, wo es wenig Kunstwerke gab. Doch er kam in den Jahren 1779, 1783 und 1792 in die Kasseler Galerie, die einige erstklassige niederländische Landschaften und vier herrliche Bilder von Claude Lorrain besaß,3 und in den Jahren 1790, 1794, 1810 und 1813 besuchte er ausführlich Dresden. Die reiche Gemäldegalerie bot Landschaften von Rubens, Ruisdael, Claude Lorrain, Canaletto und anderen Meistern. Als Goethe 1810 in der Dresdener Galerie gewesen war, traf er an einem Nachmittag mit Henriette Hertz zusammen. Sie berichtet: „Die Gemälde gaben den Stoff zur Unterhaltung... Über Landschaftsmalerei sagte er das Trefflichste. Hier war er ganz zu Hause. Der Dichter, der Kritiker, der Naturbeobachter und der ausübende Künstler gingen hier bei ihm Hand in Hand . . (17. September 1810. Gespr. ed. Herwig 2, S. 572 f.) Doch er besuchte in diesen Dresdener Tagen nicht nur die Galerie, sondern auch das Atelier von Caspar David Friedrich und notierte am 18. September 1810 in seinem Tagebuch: Zu Friedrich. Dessen wunderbare Landschalten. Ein Nebelkirchhoi, ein ofienes Meer. Die Verbindung zu Friedrich hatte sich 1808 ergeben, als dieser mehrere große Zeichnungen nach Weimar schickte. Der Herzog kaufte sie, und in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung" erschien im „Neujahrsprogramm 1809" eine sehr lobende Rezension, unterschrieben „W. K. F.", d. h. „Weimarer Kunst-Feunde"; sie war von Meyer verfaßt, aber von Goethe inspiriert und vermutlich überarbeitet.4 Seit seiner Italienreise war Goethe stets bemüht, Kunstwerke in ihrem historischen Zusammenhang zu sehn. Es gab nur Künstlerlexika, keine Kunstgeschichten außer den veralteten Werken von Vasari und Sandrart. Er drängte seinen Freund Heinrich Meyer, zunächst eine Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts zu schreiben, die in das Werk „Winckelmann und sein Jahrhundert", 1805, hineinkam. Darin gibt es zusammenfassende Kapitel über Landschaftsmalerei. Goethe las sie 1804. Auf Goethes Anregung hin schrieb Meyer dann eine allgemeine Kunstgeschichte von der Antike bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Auch hier gibt es Kapitel über Landschaftsmalerei. Goethe befaßte sich damit eingehend im August und September 1811 und im April 1815. Das Tagebuch gibt darüber Auskunft.5 Eine spezielle Beschäftigung mit Landschaftsmalerei ergab sich dadurch, daß der Maler Philipp Hackert, als er 1807 starb, Goethe seine schriftliche Hinterlassenschaft vermachte mit der Bitte, sie sinnvoll auszuwerten; darunter war ein Aufsatz „Über Landschaftsmalerei". Goethe ordnete und überarbeitete die uneinheitlichen Materialien vom November 1810 bis April 1811 und gab manches Eigene hinzu. Das Buch erschien 1811. Der Aufsatz „Über Landschaftsmalerei" spricht aus der Erfahrung des Malers heraus, der sich dauernd mit diesem Gegenstand beschäftigt hat, weist aber auch auf die große Tradition, aus 3 Die vier Gemälde von Claude Lorrain wurden später von Napoleon nach Paris entführt, von wo sie dann Zar Alexander I. im Jahre 1815 nach St. Petersburg bringen lie5- Sie befinden sich heute in der Eremitage in Leningrad. 4 Textabdruck und Abbildungen in: Richard Benz, Goethe und die romantische Kunst. München o. J. (1941) S. 130 ff. - Goethe war - laut Tagebuch - am 9. Juli 1811 mit C. D. Friedrich in Jena zusammen, am Tage danach in Drakendorf bei der Familie Ziegesar. 5 Winckelmann und. sein Jahrhundert erschien 1805 bei Cotta in Stuttgart. Eine Neuausgabe veranstaltete Helmut Holtzhauer, Leipzig 1969. - Meyers Kunstgeschichte blieb Manuskript. Sie ist erstmalig gedruckt als Band 60 der Sehr. Goe.-Ges., Weimar 1974, hrsg. von Helmut Holtzhauer.

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der er besonders Carracci, Domenichino, die beiden Poussin und Claude Lorrain nennt; sie haben „nichts Kleinliches in ihrer Komposition". Hier trifft Hackerts Werturteil ganz mit dem Goethes zusammen. (WA Bd. 46; Jubiläums-Ausg. Bd. 34.) 1813 schrieb Goethe seinen Aufsatz Ruisdael als Dichter, der 1816 im „Morgenblatt" erschien. Er beschreibt darin drei Landschaften in der Dresdener Galerie und endet mit der Bemerkung, daß der Maler in ihnen eine vollkommene Symbolik erreicht. - In den Jahren 1814 und 1815 folgten Goethes Rheinreisen mit Besichtigungen vieler Sammlungen, zumal der Sammlung Boisseree. Hier sah er Gemälde des 15. und 16. Jahrhunderts, die ihm bis dahin fremd waren. Er sah, wie liebevoll die Landschaftshintergründe gearbeitet waren, obgleich sie nur eine untergeordnete Bedeutung besitzen. Die Entwicklung der Landschaftsmalerei zu einer eigenen Gattung erhielt durch diesen Einblick in ihre Vorstufe erst völlige Klarheit. 1815 wurde der große Aufsatz Kunst und Altertum am Rhein und Main fertig, 1816 eröffnete er Goethes Zeitschrift Über Kunst und Altertum. Indessen war Goethe schon bei ganz anderer Arbeit. Er redigierte seine Italienische Reise. Das Werk erschien 1817. Hier ist nun viel die Rede von den Malern, die in Rom lebten und deren Bilder noch dort hingen, von Claude Lorrain, Nicolas Poussin, Caspar Poussin (Dughet), Hackert usw.; stellenweise - z. B. Frascati 15. November 1786 - wird zusammenfassend über Landschaftsmalerei berichtet. In Sizilien hatte Goethe den Maler Kniep bei sich, der für ihn Ansichten festhielt. (Abb. 57) Es sollten keine idealisierten Landschaften werden, sondern naturgetreue, die Goethe als Andenken aufheben wollte. Kniep zeichnete die Berge also nicht höher, als er sie sah; er blieb maßstabgerecht. Das veranlaßte Goethe zu der Betrachtung: Einbildung und Gegenwart verhalten sich wie Poesie und Prosa, jene wird die Gegenstände mächtig und steil denken, diese sich immer in die Fläche verbreiten. Landschaftsmaler des 16. Jahrhunderts, gegen die unsrigen gehalten, geben das auffallendste Beispiel. Eine Zeichnung von Jodocus Momper neben einem Kniepschen Kontur würde den ganzen Kontrast sichtbar machen. (Messina und auf der See, den 13. Mai 1787.) Ob dieser Satz aus einem Brief von 1787 stammt, ist sehr zweifelhaft. Er entspricht Goethes Einsicht von 1817. Dieser Gegensatz des Steilen und des Flachen, der Phantasielandschaft und der Porträt-Landschaft ist ein Grundgedanke des späteren Aufsatzes Landschaftliche Malerei, der nach der Geschichte des Sehens fragt. In dieser Zeit wurde Goethe zum Sammler großen Stils. Er sammelte nicht einzelne schöne Blätter, sondern er sammelte kunstgeschichtlich. Es gibt von nun an oft Tagebuch-Eintragungen wie am 16. Oktober 1817: Nach Tische landschaftliche Kupferstiche und sonst. Er bestellte sich bei Leipziger Händlern ganze Serien von Kupferstichen und erwarb manche gute Zeichnung. Eine besonders große Sendung kam am 20. März 1818 an, als er in Jena war. Am ersten Tage ordnete er die Stiche nach Ländern, „Schulen" und Künstlern; doch schon zwei Tage danach ordnete er sie anders: Jetzt nahm er nur die Landschaftsdarstellungen und versuchte, aus ihnen einen Überblick über die Geschichte der Landschaftsauffassung zu erhalten. An diesem Tag, 22. März 1818, diktierte er das erste Schema über Landschaftsmalerei. Am nächsten Tage schrieb er seinem Kunsthändler Weigel in Leipzig : Euer Wohlgeboren haben mir durch Ihre neuste Sendung besonderes Vergnügen gemacht, und am

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

16. März an Heinrich Meyer: Die Leipziger Kunstlotterie (denn so dari man wohl jede Kupierstichauktion nennen) ist höchlich zu unsern Gunsten ausgeschlagen ... Die Landschaften nach Caspar Poussin von Glauber, Glaubers eigene Erfindungen und Arbeiten, allerliebste Sachen wie geschenkt, von Sebastian Bourdon eine Menge selbst radiert, worunter Haupt- und Nebenblätter, sein Verdienst zu erkennen... Sollte ich nun schließen, ohne zu sagen, daß Paul Bril, durch Aegidius Sadeler und Nieuweland, Jodocus Momper durch Theodor Galle, besonders aber durch Egbert van Panderen, Muzian aber durch Cornelius Cort in vortrefflichen, mehr oder weniger erhaltenen, wiederhergestellten oder geringeren Abdrücken zu uns gekommen sind, so habe ich viel gesagt. Und dennoch muß ich noch hinzusetzen, daß von den Rubensschen Landschaften ebensoviel zu rühmen ist. Und noch ein dritter Brief spricht Goethes Entzücken über die neuerworbenen Kupferstiche aus. Am 29. März schreibt er an Voigt in Weimar: Da mir nur darum zu tun ist, meine Sammlung in kunsthistorischem Sinne zu vervollständigen, habe ich meistens nur solche Dinge bezeichnet, die jetzt in Verachtung.. . sind; dadurch ist eine Last von guten Kunstwerken zu mir gekommen, die mir noch lange Zeit nach dem ersten Genuß genugsam zu denken geben. Hier fällt das Wort kunsthistorisch, ein in der Sprache jener Zeit neues Wort. Goethe sammelte kunsthistorisch, und auf diese Weise hatte er Material, um nun Fragen nachzugehn wie der nach der Geschichte der Landschaftsauffassung. Als Carus am 28. Dezember 1821 in einem Brief mitteilte, dafj er etwas über Landschaftsmalerei geschrieben habe, antwortete Goethe am 13. Januar 1822: Schließlich aber bekenne gern, daß es mir sehr angenehm sein wird, Ihren Aufsatz über die landschaftlichen Bilder zu lesen. In meiner Kupierstichsammlung habe diesem Kapitel eine große Breite erlaubt und besitze sehr viel erfreulich Belehrendes von der Zeit an, wo die Landschaftsmalerei sich mit der geschichtlichen erst ins Gleichgewicht setzte, dann sich von ihr loslöste, aber noch immer dichterisch blieb, bis sie in der neuern Zeit, nach dem Durchgang durch eine gewisse Manier, sich zu wirklichen Ansichten beinahe ausschließlich herangibt. Hier sind in Kürze Goethes Hauptgesichtspunkte für eine geschichtliche Betrachtung der Landschaftsmalerei genannt, und Goethe spricht ausdrücklich von seiner Kupferstichsammlung als dem kunsthistorischen Material, auf welchem seine Kenntnisse und Überlegungen beruhen. Seit dem Jahre 1813 hat er die Dresdener Galerie nicht wieder gesehen. Der letzte Besuch in Kassel lag noch länger zurück. Er kam nicht nach Wien, nicht einmal nach Prag. In den Niederlanden ist er niemals gewesen. Von 1813 an beruht also die Beschäftigung mit Landschaftsmalerei auf seiner privaten Sammlung von Zeichnungen, Radierungen und Reproduktions-Stichen.6 Dazu kam das, was er in der herzoglichen Sammlung sah, bei den jungen Weimarer Malern Preller und Kaiser oder gelegentlich bei durchreisenden Künstlern. Er wufjte recht wohl, dafj er auf Grund der Reproduktionsstiche nicht alles beurtei6 Der heutige Mensch, gewöhnt an die vielen technisch hergestellten Illustrationen, mufj sich historisch immer wieder deutlich machen, wie der Kunstfreund in einer Zeit ohne Photographie und ohne Bilddruck lebte. Es gab Bücher über Kunst - ohne Bilder. Und es gab die grofjen Reproduktionsstiche, die man einzeln kaufte. Einen guten Eindruck von deren Bedeutung vermittelt: Hans Rudolph Füfjli, Kritisches Verzeichnis der besten, nach den berühmtesten Malern aller Schulen vorhandenen Kupferstiche. 4 Bde. Zürich 1798.

Goethe und die Landschaftsmalerei

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len konnte. Äußerungen über die Farbe fehlen deswegen fast ganz. Jedoch die allgemeine Auffassung der Landschaft konnte er auf Grund der vielen Zeichnungen, Radierungen und Stiche recht gut beurteilen. Seit etwa 1815 kaufte Goethe, so oft sich eine Gelegenheit bot, Graphik, jedes Jahr, und gab einen beträchtlichen Teil seines Einkommens dafür aus. Unter den vielen Blättern waren auch zahlreiche Landschaftsdarstellungen. Schuchardts Katalog gibt einen Eindruck davon, was alles er besaß. 7 Dazu kamen Anregungen anderer Art. 1822 schickte der alte Freund Wilhelm Tischbein aus Eutin, wo er im Alter lebte, aquarellierte Zeichnungen eines Idyllen-Zyklus, den er in Öl ausführen wollte. Die Bilder haben viel landschaftliche Elemente, wobei italienische und deutsche Motive in dieser erträumten Idyllenwelt verschmolzen werden. Goethe machte Gedichte und Prosabeschreibungen zu diesen Blättern und gedachte dabei besonders auch der Landschaftsdarstellung : Schön u n d menschlich ist d e i Geist Der uns in das Freie weist. Wo in Wäldern, auf der Flur, Wie im steilen Berggehänge, Sonnenaui- und -Untergänge Preisen Gott und die Natur. (Wilhelm

Tischbeins

Idyllen)

In 6 Zeilen eine zusammenfassende Charakteristik; sie paßt nicht nur auf Tischbein, sondern auch auf Claude Lorrain, Dughet, Jan Both und ihre Schule, an welche dieser letzten Endes noch anknüpft. Im Jahre danach, Anfang Februar 1822, kam eine Anregung anderer Art. Carus sandte im Manuskript seine „Briefe über Landschaftsmalerei", außerdem 4 kleine Gemälde, zwei davon waren Landschaften, und das dritte Bild, „Fausts Spaziergang", zeigt einen weiten Naturhintergrund. Alle 4 Bilder wurden in Über Kunst und Altertum, Band 4, 1. Heft, 1822, lobend besprochen, von Meyer, aber im Sinne Goethes. 8 Am 20. April schrieb Goethe an Carus: Die angenehmen Bilder zurücksendend lüge auch zugleich den schriftlichen Aufsatz hinzu; beide stehen in dem reinsten Bezug und deuten auf ein zartes gefühlvolles Gemüt, das in sich selbst einen wahren haltbaren Grund gefunden hat.. . Die so wohl gedachten als schön geschriebenen Briefe über Landschaftsmalerei sollten Sie dem Publikum nicht vorenthalten. - Kurz darauf, am 17. März 1822, sandte ihm Zelter einen Reproduktionsstich nach Tizian und fragte, was auf dem Bild dargestellt sei. Goethe diktierte am 29. März eine Auslegung, schickte sie an Zelter und ließ sie 1824 in Über Kunst und Altertum erscheinen. Der Anfang handelt über Landschaftsmalerei. (WA 49,1 S. 296). Am 22. Februar 1824 notiert Eckermann ein Gespräch über Landschaftsmalerei. Da Eckermanns Darstellung in diesem Falle auf eine Tagebuchnotiz zurückgeht, hat sie besonderen Wert. 9 Hier handelt es sich um die von Poussin geschaffene Landschaftsdarstellung, welche Tradition gemacht hat, und um den 7 Goethes Kunstsammlungen. Beschrieben von Chr. Schuchardt. 3 Bde. Jena 1848-1849. Fotomechan. Nachdruck: Hildesheim 1976. 8 „Fausts Spaziergang" ist jetzt im Folkwang-Museum, Essen. - Abbildung in: Benz, Goethe und die romant. Kunst, Abb. 14. 9 Julius Petersen, Die Entstehung der Eckermannschen Gespräche und ihre Glaubwürdigkeit. Frankfurt/M. 1925. (Fotomechan. Neudruck: Hildesheim 1973.) S. 138.

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Trunz, Goethe-Studien

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Goethes Entwurf »Landschaftliche Malerei"

Wert dieser Tradition - ein Thema, das Goethe hinfort stark beschäftigte. Im Juni 1826 k a m der junge Weimarer Maler Preller aus Antwerpen zurück und plante eine Italienreise. Er legte Goethe seine Zeichnungen vor und machte sich später Aufzeichnungen über das, w a s Goethe ihm sagte. Einerseits handelte es sich darum, in der Natur niemals nur einzelne Dinge zu zeichnen, sondern die Einzelheiten in ihrer landschaftlichen Umgebung, die auf sie wirkt, zu sehen, andererseits darum, an eine große Tradition anzuknüpfen. Goethe weist auf Poussin und Claude Lorrain als die wahren Vorbilder. (Gespr. ed. Herwig 3,2 S. 49 f.) Später erzählte Preller Eckermann von diesem Gespräch, und dieser komponierte daraus ein auf den 5. Juni 1826 datiertes Gespräch im 3. Teil seiner „Gespräche", an dem er 10 J a h r e nach Goethes Tode arbeitete - es ist keine urkundliche Quelle, aber eine hervorragende literarische Leistung. 1 0 Wichtiger sind die zwei großen Gespräche über Rubens als Landschaftsmaler, die Eckermann auf den 11. und 18. April 1827 datiert. Ein Anlaß, die Landschaftsmalerei durchzudenken, war die Arbeit an dem Zweiten Römischen Auienthalt. Seit 1819 hatte Goethe sich von Zeit zu Zeit mit diesem Werk beschäftigt. Im Frühjahr 1829, nach Abschluß der Wanderjahre, folgte nun eine Arbeitsperiode, die den Abschluß brachte. Der Zweite Römische Auienthalt ist weniger als die Italienische Reise aus alten Briefen zusammengesetzt. Goethe zog seine reichen kunstgeschichtlichen Unterlagen dazu heran. So führte die Beschäftigung mit der Kunst in Rom zu einer erneuten Betrachtung der Landschaftsmalerei. Auf einem Notizblatt Agenda 1829 steht das Wort Landschatten (WA Tagebuch 13, S. 245), und das Tagebuch von 1829 notiert am 9. April: Besah das Liber naturae von Claude. Aus dem AusleihBuch der Herzoglichen Bibliothek wissen wir, daß Goethe am 9. April ein großes Werk entlieh: „Liber veritatis or a collection of prints after the original designs of Claude Lorrain in the collection of . . . the Duke of Devonshire . . . exuded by Richard Earlom. 3 Bde. London 1819." Claude Lorrain hatte von seinen Gemälden, bevor er sie verkaufte und weggab, getuschte Zeichnungen hergestellt, welche die Komposition, die Weite der Sicht, die Charakteristica von Bäumen, Wiesen, Flüssen, Himmel in genialer Einfachheit der Mittel wiedergeben. Diese Blätter hatte Earlom in Radierungen vervielfältigt, Linien und getuschte Flächen in kongenialer Einfühlung durch Strich- und AquatintaÄtzung wiedergebend. Auf diese Weise lag das Werk des Claude Lorrain seit 1777 in 2 Bänden (zu je 100 Blatt), seit 1819 in 3 Bänden vor. Goethe behielt die drei Bände aus der Bibliothek vom 9. April bis zum 19. September 1829. Am 1. M a i 1829 vermerkt das Tagebuch: Abends Prot Riemer; wir gingen die Aufnahme in die Arcadia durch. Andere Gegenstände zum Behut des Römischen Auienthalts kamen zur Sprache. Geschichte der Landschaitsmalerei. Am 23. M a i : Heroische Landschaitsmalerei durchgedacht. A m 29. M a i : Einiges über landschaitliche Konzeptionen und Kompositionen diktiert. A m 13. September: Meyer... brachte den Auisatz über landschaitliche Gegenstände wieder mit. Das Fragment über Landschaftsmalerei wurde also am 29. M a i 1829 diktiert, und zwar im Zusammenhang der Arbeit am Zweiten Römischen Aufenthalt. E s wurde dann aber nicht weitergeführt und k a m nicht in das Buch hinein. Unter dem Datum Rom, 27. Juni 1787 steht nur eine kurze Betrachtung über Land10

Petersen S. 123 und 142.

Goethe und die Landschaftsmalerei

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schaftsmalerei: Ich war mit Hackert in der Galerie Colonna, wo Poussins, Claudes, Salvator Rosas Arbeiten zusammen hängen... Wenn man nun gleich wieder die Natur ansehn und wieder finden und lesen kann, was jene gefunden und mehr oder weniger nachgeahmt haben, das muß die Seele erweitern, reinigen und ihr zuletzt den höchsten anschauenden Begriff von Natur und Kunst geben. Ich will auch nicht mehr ruhen, bis mir nichts mehr Wort und Tradition, sondern lebendiger Begriff ist. Es ist das alte Thema des Sehen-Lernens durch die Künstler, weitergeführt zum Thema des allgemeinen Geformt-Werdens durch eine große wohlverstandene Überlieferung. An dieser Stelle macht Goethe den Unterschied zwischen Tradition und Begriff. Die Tradition wie das Wort ist das Übernommene; der Begriff ist das Erfassen der Sache selbst, das Begreifen, das man allerdings im Umgang mit großen Vorbildern weitgehend üben kann. Es ist bezeichnend, daß Goethe schreibt anschauender Begriff. Seine besondere Art, das Wort Begriff zu verwenden, kehrt in dem 1829 diktierten Schema über Landschaftsmalerei wieder. Von da an bis zu Goethes Tode gibt es noch mancherlei Zeugnisse, welche das starke Interesse an Landschaftsmalerei zeigen, und zwar ganz in dem Sinne des 1829 entstandenen Aufsatz-Entwurfs: Poussin, Dughet und Claude Lorrain als Schöpfer, die mit Elementen aus der Natur, indem sie diese in einem bestimmten Sinne zusammensetzen, einen inneren Zustand, etwas Geistiges aussprechen. Diese von ihnen geschaffene Kunst bildet Tradition, und der Künstler tut gut, hier zu lernen. In diesem Sinne schreibt Goethe am 9. Januar 1830 einen Brief an Preller. Dieser hatte ihm am 11. Dezember 1829 aus Rom geschrieben: „Noch wagte ich nicht, etwas von meiner Arbeit öffentlich hier auszustellen, da mir wirklich die hohe ernste Natur, trotz dem eifrigsten Bemühen, einigermaßen mich mit ihr zu befreunden, lange unverständlich blieb. Den unendlich schönen Werken beider Poussins verdanke ich gleichsam den Eintritt, denn diese sind es, die mich in die Natur zurückführten und mich auf meinen späteren Wanderungen eigentlich sehen lehrten. Ihre einfache mächtige Auffassung und ihr scheinbares, oft und besonders hier gescholtenes Entfernen von der Natur, dünkt mich, bringt sie ihr nur eigentlich näher, und ich fühle mich gedrungen, auf diesem Wege meiner weitern Ausbildung entgegen zu gehen." (Goe.-Jb. 23, 1902, S. 5 f.) Goethe antwortete am 9. Januar 1830: Sie verschaffen mir, mein wertester Herr Preller, ein wahrhaftes Vergnügen, wenn Sie mir Ihre Verehrung für die beiden Poussins im Landschaftsfache so treulich ausdrücken. Wer, von der Großheit dieser Männer durchdrungen, sich an die Natur wendet und im Geiste befreit und erhöht das Bedeutende zu schätzen, das Mindere abzulehnen fähig geworden, er ist dadurch im Falle, einen wahrhaft großen, würdigen Gegenstand in den engen Raum einer Tafel zusammenzufassen, wobei er sich denn des Beifalls aller echten Kunstfreunde versichert halten kann. Vorzügliche Künstler, denen dieses gelang, von denen ich nur Grimaldi, Glauber und Millet nennen will, erfreuen uns durchaus durch Talente, die jenen höhern Sinn im allgemeinen anzuerkennen wußten. Hier kehren die Namen wieder, welche in dem an Schuchardt diktierten Schema vorkommen. Häufiger als in früheren Jahren notiert das Tagebuch in dieser Zeit Beschäftigung mit Landschaftsmalerei. 1830, 8. Juni: Ich sah das Niederländische Portefeuille durch und bedachte mir den Gang der Landschaftsmalerei. 18. August: Hofrat Meyer. Mit demselben manches verabredet; landschaftliche n*

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Zeichnungen vorgewiesen. 4. Oktober: Schuchardt brachte die Durchzeichnung der Tizianischen Landschaft. Am 29. März 1831 schreibt Goethe einen Brief an John Murray in London und äußert sich ausführlich über die Landschaftsradierungen von David Charles Read (1790-1851), von denen er eine ganze Mappe besaß (Schuchardt I, S. 218, Nr. 32). Eckermann setzt in das Jahr 1831 zwei Gespräche über Landschaftsmalerei, und da beide auf Tagebuchaufzeichnungen zurückgehen, halten sie wohl nicht nur den allgemeinen, sondern auch den speziellen Charakter der Äußerungen fest. Am 13. Februar 1831 handelt es sich um den männlichen Geist in den Werken von Rubens, besonders in seinen Landschaften. Es sind ireilich auch nur Bäume, Erdboden, Wasser, Felsen und Wolken, allein seine kraftvolle Gesinnung ist in die Formen gefahren, und so sehen wir zwar immer die bekannte Natur, allein wir sehen sie von der Gewalt des Künstlers durchdrungen und nach seinem Sinne von neuem hervorgebracht. In dem Gespräch vom 21. Dezember 1831 handelt es sich um die Frage, wieweit der Landschaftsmaler eine Kenntnis der Natur haben müsse ähnlich der des Naturforschers, daran anschließend werden Landschaften von Swanevelt betrachtet, und Goethe wendet sich gegen die im 18. Jahrhundert vielfach übliche - im 20. Jahrhundert abgekommene - Art, einen Maler an einem anderen zu messen und zu sagen, er habe ihn „nicht erreicht". Jeder müsse in seiner Art verstanden werden. In diesen seinen letzten Lebensjahren hatte Goethe einen lebhaften Briefwechsel mit dem Dresdener „Sächsischen Kunstverein" und dessen Leiter Johann Gottlieb v. Quandt (1787-1859). Er warb in Weimar Mitglieder und sandte die einkommenden Gelder nach Dresden. Dort wurden dafür Gemälde und Zeichnungen gekauft und durch das Los an die Mitglieder verteilt. Quandt besaß ein Landgut und schickte - Goethes Wunsch entsprechend - Zeichnungen davon. Goethe äußerte sich in seinen Briefen vom 22. März und 18. Dezember 1831 zu den Themen: porträthafte NaturdarStellung (Vedute) und Ideallandschaft; Einzelheiten und Ganzheit eines Landschaftsbildes; Naturkenntnis des Landschaftsmalers, z. B. der Wolkenformen; Hackert als Meister der Land schaftsdarstellung usw. Die Einkünfte aus der Ausgabe letzter Hand ermöglichten es Goethe in dieser Zeit, zahlreiche wertvolle graphische Blätter zu erwerben. Darunter befand sich eine Landschaftszeichnung von Herman Saftleven (1609-1685).11 Sie entzückte ihn so, daß er sofort ausführlich darüber an Zelter berichtete (18. Juni 1831). Goethe betrachtet Saftleven zunächst historisch, er ist Schüler der Künstler des 17. Jahrhunderts und zugleich Meister. Dann kommt er auf das Wesentliche des Bildes: das rechte Verhältnis von Künstler und Gegenstand, von Geist und Natur. Und zum Schluß spricht er davon, wie dieses Bild auf ihn wirkt. Es reißt ihn aus einer Depression heraus, so daß es wieder heiterer Tag um ihn ist. Hier zeigt sich Goethes persönliche Ergriffenheit, seine Kunstbegeisterung noch im hohen Alter. Und sie verbindet sich organisch damit, daß er dem Werk historisch seinen Platz anordnet. Zu diesem Entzücken war Goethe immer wieder fähig, es zeigt sich hier bei einem Blatt von Saftleven, und wieviel mehr war es der Fall, wenn er Claude Lorrain betrachtete! Die letzten Aufzeichnungen über Landschaftsmalerei, welche wir von Goethe 11

Im vorliegenden Band Abb. 45. - Schuchardt S. 335 Nr. 63.

Die vier Fragmente

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haben, stehen in dem Tagebuch. 28. November 1831: Mittags Dr. Eckermann. Er brachte den Auisatz über die Landschaftsmaler zur Sprache und holte den Entwuri herbei, den ich durchging und mir die Angelegenheit wieder ins Gedächtnis riet Ich zeigte ihm das Portefeuille mit einigen Poussins und viel Glaubers. Wir sprachen über die beiden Maler Preller und Kaiser und ihre ins Wilde und Triste gehenden Tendenzen.12 - 29. November: Speiste mit Dr. Eckermann. Unterhaltung über unsre beiden Landschaftsmaler Preller und Kaiser ... - 30. November: Mittags Dr. Eckermann. Fortgesetzte gestrige Unterhaltung. Ich ging mit ihm das Portefeuille sowie Sammlungen von Claude Lorrain, Poussin und Glauber durch, wie ich gestern schon getan hatte. - 29. Februar 1832: Den Auisatz über landschaftliche Arbeiten durchgesehen und auf dessen Vollständigkeit gedacht. Dies ist Goethes letztes Wort über Landschaftsmalerei. Es betrifft den Aufsatz, der als fragmentarischer Entwurf vorhanden war. Er denkt auf dessen Vollständigkeit. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Drei Wochen danach ist Goethe gestorben.

3. Die vier Fragmente Nach Goethes Tode hat Heinrich Meyer die Fragmente, die ihm vorlagen und anscheinend lag ihm das Schema von 1818 nicht vor - von sich aus ergänzt und erweitert. Das war die für jene Zeit übliche und vielleicht auch geeignete Form. Die heutige Forderung ist anders. Wir wollen den Goetheschen Text in möglichst reiner Gestalt; wir können ihn nicht ergänzen und vollenden, wir können ihn aber kommentieren. Es liegen vor: Drei Schemata und ein Entwurf. Das eine Schema (von Färber geschrieben) ist datiert, es stammt vom 22. März 1818. Es ist der knappe Überblick, aus welchem das Spätere erwächst. Die zwei an Schuchardt diktierten Texte, das Schema und der Aufsatz-Entwurf, gehören zusammen. Man sieht, dafj der Aufsatz sich an das Schema anschließt, wenn auch nicht genau. Wichtig ist: Der Aufsatz bricht bei der heroischen Landschaft ab. Das Schema geht noch weiter, zu Merian, den Veduten, Hackert und den neueren Engländern. In der Tagebuchaufzeichnung vom 28. November 1831 holt Eckermann das AufsatzManuskript, und Goethe ruft sich die Angelegenheit ins Gedächtnis. Der Aufsatz war also schon einige Zeit vorhanden. Er ist 1829 entstanden, als der Zweite Römische Aufenthalt geschrieben wurde. Das zeigt die Notiz vom 29. Mai 1829: Einiges über landschaftliche Konzeptionen und Kompositionen diktiert. Da das dazugehörige Schema vorher entstanden sein muß, und zwar ebenfalls in der Entstehungszeit des Zweiten Römischen Aufenthalts, bezieht sich vielleicht die Notiz vom 23. Mai Heroische Landschaftsmalerei durchgedacht auf das Diktat dieses Schemas an Schuchardt. Wann aber ist das an John diktierte Schema entstanden, und wie verhält es 12

Die Befürchtungen Goethes haben sich nicht bewahrheitet, auch wenn Preller später mitunter skandinavische Bergmotive wählte. Preller hat vielmehr, vor allem in den OdysseeLandschaften, die Tradition der idealen Landschaft weiterentwickelt und hat die Goethesche geistige Tradition stärker in sich gehabt als Goethe vermutet hat.

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sich zu den anderen Entwürfen? Von dem Schema des Jahres 1818 unterscheidet es sich dadurch, daß es mehr ins einzelne geht; von dem des Jahres 1829 dadurch, dafj es auch die Niederlande, besonders Rubens und Rembrandt behandelt, während das Schema von 1829 nur an die Malerei in Rom denkt. Das an John diktierte Schema ist also in diesem Punkte vollständiger, anderseits folgt nach dem Abschnitt über die Heroische Landschaft nur noch ein einziger kurzer Satz. Theoretisch ist möglich, daß dieses Schema später geschrieben ist als das 1829 an Schuchardt diktierte, denn datiert ist es nicht. Doch dagegen spricht der Inhalt. In dem Aufsatz-Entwurf und dem dazugehörigen Schema von 1829 ist so viel über hohe Horizonte, steile Vordergründe usw. gesagt, daß es ganz unnötig gewesen wäre, das noch einmal - weniger vollkommen - zu schematisieren. Vom Inhalt her gesehen ist das an John diktierte Schema wohl zwischen dem von 1818 und dem von 1829 zu datieren. (Vgl. dazu im folgenden Abschnitt 6.) Auffallend ist nur, daß es in dem Schema von 1829 nicht verwertet ist. Vielleicht hatte Goethe es vergessen oder verkramt - dergleichen kam vor bei der Masse von Manuskripten, die sich angehäuft hatten. Möglich ist auch, dafj er 1829, weil er jetzt nur an die Einfügung in den Zweiten Römischen Aufenthalt dachte, manches in dem früheren Schema Berührte weglassen wollte und deswegen alles neu diktierte. Wären alle Schemata so sicher zu datieren wie das von 1818, so würde ich um der Einfachheit willen sie nennen: erstes, zweites, drittes Schema. Doch ich vermeide das aus philologischer Genauigkeit und bezeichne sie nach Goethes Sekretären. John schrieb für Goethe von 1814 bis zu Goethes Tode. Schuchardt wurde im Oktober 1825 Goethes Sekretär und schrieb für ihn von da an bis zuletzt, und zwar gerade oft die komplizierteren Dinge, in welchen Künstlernamen u. dgl. vorkommen. Das Schema von 1818 ist also der Beginn der Darstellung des Themas. Das an Schuchardt diktierte Schema und der ihm diktierte Entwurf gehören eng zusammen und stammen aus dem Jahre 1829. Das an John diktierte Schema mit den bedeutenden Sätzen über Rubens steht dazwischen, vermutlich ist es etwa 1824 diktiert.

4. Der Text Im folgenden wird der Goethesche Text nach den Handschriften mitgeteilt, buchstabengetreu; das bedeutet, dafj auch alle Mißverständnisse von Goethes Schreibern, alle falschen Schreibungen von Namen, alle Interpunktionszeichen so wiedergegeben sind, wie der Text sie zeigt. Goethe schrieb ungern selbst, außer wenn es sich um Dichtung handelte. Er nahm lieber die Fehler der diktierten Manuskripte in Kauf. Da diese Schemata nur für ihn selbst bestimmt waren, genügten sie ihm auch in der unvollkommenen Form. Alle Textfehler werden aber in dem Kommentar richtiggestellt. Wo der Text Lücken hat, sind diese bezeichnet. Die zwei verschiedenen Schrifttypen lassen leicht erkennen, was hier philologisches Beiwerk ist. Handschriftenbeschreibung: Durchweg Folioblätter, geknickt und einspaltig beschrieben, wie es bei Goethe im Alter üblich war. - Das an Färber diktierte Schema: Doppelblatt, das Schema auf S. 1 und 2; S. 3 und 4 leer. - Das an John diktierte Schema: Doppelblatt, S. 1 eigenhändige Notizen Goethes; S. 2, 3, 4 das von John geschriebene Schema bis S. 4 u n t e n . -

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Das an Schuchardt diktierte Schema: Ein Doppelblatt. - Der an Schuchardt diktierte Entwurf: 3 Doppelblätter, einspaltig von Schuchardt beschrieben. Dazu ein besonderes Doppelblatt, auf diesem nur der Abschnitt V in Johns Handschrift auf S. 1; die Seiten 2, 3, 4 leer.

An Färber diktiertes Schema Die Folge der Landschaftsmalerey zu beachten. Beispiele als bedeutende Nebensache. Loslösung unter Paul Brill Jodokus Momper Mucian Hondekoeder Heinrich von Klebe Verbindung mit den Einsiedlerwesen, oder Ruinen und dergl. Fortgehende Erhebung bis zu Rubens. Höchst künstlerisch gewaltsamer Gebrauch aller Elemente. Italienische horizontale Langmuth. Cairaschische Schule. Claude Lorrain. Dominikin. Eingreifen der Franzosen. Boussain. Dightet. Glauer. Eingreifen der Niederländer. Insofern sie sich in Italien bildeten. Insofern sie zu Hause blieben, und sich an der Natur mit Geschmack ausbildeten. Einwirkung der Rheingegenden durch Sachtleben. Nachwirkung aller dieser Vorstellung und Studien bis über die Hälfte des 18ea Jahrhunderts. Eintretenter Vituten durch englische Reisende verursacht. Im Gegensatz Nachklang von Claude Lorain, durch Engländer und Deutsche. Jena den 22en Maerz 1818. An John diktiertes Schema Der Künstler peinliche Art zu denken. Woher abzuleiten. Der ächte Künstler, wendet sich aufs Bedeutende. Daher die Spuren der ältesten landschaftlichen Darstellungen, höchst mannigfaltig und erhaben sind. Hintergrund in Mantegna's Triumphzug. Titian's Landschaften. Das Bedeutende des Gebirgs der Gebäude beruht auf der Höhe. Daher das Steile, Das anmuthige beruht auf der Ferne Daher von oben herab das Weite.

alle

groß,

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Hiedurch zeichnen sich aus alle die in Tyrol, Salzburgischen und sonst mögen gearbeitet haben. Bregel, Jodocus Monpair, Roland Savari, Isaak Major, haben alle diesen Charakter. Albrecht Dürer und die übrigen Deutschen. Sie haben alle mehr oder weniger etwas Peinliches indem sie gegen die ungeheuern Gegenstände die Freyheit des Wirkens verlieren oder solche behaupten, insofern ihr Geist groß und denselben gewachsen ist. Daher sie bey allem Anschauen der Natur ja Nachahmung derselben ins Abentheuerliche gehen auch maniriert werden. Bey Paul Brill mildert sich dieses, ob er gleich noch immer hohen Horizont liebt, und es im Vordergrund an Gebirgsmassen und in den übrigen an Mannigfaltigkeit es fehlen läßt. (Etwa 6 Zeilen freigelassen. Dann:) Eintretende Niederländer. Vor Rübens. Rubens selbst. Nach Rubens. Er als Historien Mahler, suchte nicht sowohl das Bedeutende als daß er es jedem Gegenstand zu verleihen wußte daher seine Landschaften einzig sind. Es fehlt auch nicht an steilen Gebirgen und gränzenlosen Gegenden, aber auch den ruhigsten einfachsten landschaftlichen Gegenstand weiß er etwas von seinem Geiste zu ertheilen und das geringste dadurch wichtig und anmuthig zu machen. Rembrandt's Realism in Absicht auf die Gegenstände. Licht Schatten und Haltung sind bey ihm das Ideelle. Bolognesische Schule. Die Carracci Grimaldi. Im Cloud Lorain erklärt sich die Natur für ewig. (Hier endet das Doppelblatt. In Heinrich Meyers Abdruck geht der Text weiter. Zweifellos hat ihm ein Folgeblatt vorgelegen, das dann verlorengegangen ist. Der Schluß lautet:) Die Poussins führen sie ins Ernste, Hohe, sogenannte Heroische. Anregung der Nachfolger. Endliches Auslaufen in die Portrait-Landschaften. An Schuchardt diktiertes Schema Landschaftliche

Malerei.

In ihren Anfängen als Nebenwerk des Geschichtlichen. Durchaus einen steilen Character, weil ja ohne Höhen und Tiefen keine Ferne interessant dargestellt werden kann. Männlicher Character der ersten Zeit Die erste Kunst durchaus ahnungsreich, deshalb die Landschaft ernst und gleichsam drohend. Forderung des Reichthums. Daher hohe Standpunkte, weite Aussichten.

Die Schemata

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Beispiele Breughel Paul Brill, dieser schon höchstgebildet, geistreich und mannigfaltig. Man sehe seine zwölf Monate in sechs Blättern und die vielen anderen nach ihm gestochenen Bilder. Jodoch ist Mompere, Roland Savery. Einsiedeleyen. (Am Rande:) Tizian. Nach und nach steigende Anmuth Die Carracci's. Grimaldi. Domenichin, Claude Lorrain. Ausbreitung über eine heitere Welt Zartheit Wirkung der atmosphärischen Erscheinungen aufs Gemüth. Both. Swaneveld Poussin der Historienmaler. Caspar Poussin. Heroische Landschaft. Genau besehen eine nutzlose Erde. Abwechselndes Terrain, ohne irgend einen gebauten Boden zu sehen. Ernste nicht gerade idyllische aber einfache Menschen. Anständige Wohnungen ohne Bequemlichkeit. Sicherung der Bewohner und Anwohner durch Thürme und Festungswerke. In diesem Sinn eine fortgesetzte Schule, vielleicht die einzige von der man sagen kann, daß der reine Begriff diese Anschauung, die der Meister (Lücke gelassen für ein bis zwei Wörter) ohne merkliche Abnahme überliefert habe. Glauber. Seb. Bourdon. Francisque Millet. Neve Die Niederländer berühren wir nicht (Am Rande:) Rubens Van der Neer Ruisdael Everdingen. Übergang aus dem Ideellen zum Wirklichen durch Topographieen. Merians weit umherschauende Arbeiten Beide Arten gehen noch neben einander Endlich, besonders durch Engländer, der Uebergang in die Veduten So wie beym Geschichtlichen die Porträtform Neuere Engländer, an der großen Liebhaberey zu Claude und Poussin noch immer verharrend. Sich zu den Veduten hinneigen, aber immer noch in der Composition an atmosphärischen Effecten sich ergötzend und übend. Die Hackertsche klare strenge Manier steht dagegen; seine merkwürdigen, meisterhaften Bleistift- und Federzeichnungen nach der Natur, auf weiß Papier, um ihnen mit Sepia Kraft und Haltung zu geben.

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Studien der Engländer auf blau und grau Papier mit schwarzer Kreide und etwas Pastell; etwas nebulistisch aber gut gedacht und sauber ausgeführt. An Schuchardt diktierter Entwurf I. Als sich die Malerey im Westen, besonders in Italien, von dem östlichen byzantinischen mumienhaften Herkommen wieder zur Natur wendete war, bey ihren ernsten großen Anfängen, die Thätigkeit blos aui menschliche Gestalt gerichtet, unter welcher das Göttliche und Gottähnliche vorgestellt ward. Eine kapellenartige Einlassung ward ihnen allenfalls zu Theil, und zwar ganz der Sache angemessen, weil sie ja in Kirchen und Kapellen aufgestellt werden sollten. Wie man aber bei weiterem Fortrücken der Kunst sich in freier Natur umsah, sollte doch immer auch Bedeutendes und Würdiges den Figuren zur Seite stehen; deshalb denn auch hohe Augpunkte gewählt, auf starren Felsen vielfach übereinander gethürmte Schlösser, tiefe Thäler, Wälder und Wasserfälle dargestellt wurden. Diese Umgebungen nahmen in der Folge immer mehr überhand, drängten die Figuren ins Engere und Kleinere, bis sie zuletzt in dasjenige was wir Staffage nennen, zusammenschrumpften. Diese landschaftlichen Tafeln aber sollten, wie vorher die Heiligenbilder, auch durchaus interessant seyn, und man überfüllte sie deshalb nicht allein mit dem was eine Gegend liefern konnte, sondern man wollte zugleich eine ganze Welt bringen, damit der Beschauer etwas zu sehen hätte und der Liebhaber für sein Geld doch auch Werth genug erhielt. Von den höchsten Felsen, worauf man Gemsen umherMettern sah, stürzten Wasserfälle zu Wasserfällen hinab, durch Ruinen und Gebüsch. Diese Wasserfälle wurden endlich benutzt zu Hammerwerken und Mühlen; tiefer hinunter bespülten sie ländliche Ufer, größere Städte, trugen Schiffe von Bedeutung und verloren sich endlich in den Ocean. Daß dazwischen Jäger und Fischer ihr Handwerk trieben und tausend andere irdische Wesen sich thätig zeigten, läßt sich denken-, es fehlte der Luft nicht an Vögeln, Hirsche und Rehe weideten auf den Waldblößen, und man würde nicht endigen, dasjenige herzuzählen, was man dort mit einem einzigen Blick zu überschauen hatte. Damit aber zuletzt noch eine Erinnerung an die erste Bestimmung der Tafel übrig bliebe, bemerkte man in einer Ecke irgend einen heiligen Einsidler: Hieronymus mit dem Löwen, Magdalene mit dem Haargewande fehlten selten. II. Titian, insofern er sich zur Landschaft wandte, fing schon an mit diesem Reichtum sparsamer umzugehen; seine Bilder dieser Art haben einen ganz eigenen Charakter: Hölzerne, wunderlich über einander gezimmerte Häuser, mittelgebirgige Gegenden, mannigfaltige Hügel, anspülende Seen, niemals ohne bedeutende Figuren, menschliche, thierische. Auch legte er seine schönen Kinder ohne Bedenken, ganz nackt, unter freyen Himmel ins Gras. III. Breughels Bilder zeigen die wundersamste Mannigfaltigkeit; gleichfalls (Lücke im Text, für ein bis zwei Wörter) Horizonte, weit ausgebreitete Gegen-

Der diktierte Entwurf

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den, die Wasser hinab bis zum Meere; aber der Verlauf seiner Gebirge, obgleich rauh genug, ist doch weniger steil, besonders aber durch eine seltnere Vegetation merkwürdig: das Gestein hat überall den Vorrang, doch ist die Lage seiner Schlösser, Städte höchst mannigialtig und charakteristisch, durchaus aber ist der ernste Charakter des sechzehnten Jahrhunderts nicht zu verkennen. Paul Brill, ein hochbegabtes Naturell; in seinen Werken läßt sich die oben beschriebene Herkunft noch wohl vermerken, aber es ist alles schon hoher, weitherziger und die Charaktere der Landschaft schon getrennt: es ist nicht mehr eine ganze Welt, sondern bedeutende, aber immer noch weit greifende Einzelnheiten. Wie trefflich er die Zustände der Localitäten, des Bewohnens und Benutzens irdischer Oertlichkeiten gekannt, beurtheilt und genutzt, davon geben seine zwölf Monate in sechs Blättern das schönste Beispiel. Besonders angenehm ist zu sehen, wie er immer zwei auf zwei zu paaren gewußt und wie ihm aus dem Verlauf des einen in den andern ein vollständiges Bild darzustellen gelungen sei. Der Einsiedeleien des vorzüglichen (Lücke im Text in Länge eines Vor- und Nachnamens) ist auch hier zu gedenken. Hier stehen die Figuren der frommen Männer und Frauen mit wilden Umgebungen im Gleichgewicht; beide sind mit großem Ernst und tüchtiger Kunst vorgetragen. IV. Das siebzehnte Jahrhundert befreit sich immer mehr von der zudringlichen ängstigenden Welt: die Figuren der Carrache erfordern weitern Spielraum. Vorzüglich setzt sich eine große, schön bedeutende Welt mit den Figuren ins Gleichgewicht und überwiegt vielleicht durch höchst interessante Gegenden selbst die Gestalten. Dominichin vertieft sich bei seinem Bolognesischen Aufenthalt in die gebirgigen und einsamen Umgebungen; sein zartes Gefühl und seine meisterhafte Behandlung und das höchst zierliche Menschengeschlecht, das in seinen Räumen wandelt, sind nicht genug zu schätzen. Von Claude Lorrain, der nun ganz ins Freye, Ferne, Heitere, Ländliche, Feenhaft-architektonische sich ergeht, ist nur zu sagen, daß er ans Letzte einer freyen Kunstäußerung in diesem Fache gelangt. Jedermann kennt, jeder Künstler strebt ihm nach, und jeder fühlt mehr oder weniger, daß er ihm (Lücke für etwa zwei Wörter) lassen muß. V. Hier nun entstand auch die sogenannte heroische Landschaft, in welcher ein Menschengeschlecht zu hausen schien von wenigen Bedürfnissen und von großen Gesinnungen. Abwechselung von Feldern, Felsen und Wäldern, unterbrochenen Hügeln und steilen Bergen, Wohnungen ohne Bequemlichkeit, aber ernst und anständig, Thürme und Befestigungen, ohne eigentlichen Kriegszustand auszudrücken, durchaus aber eine unnütze Welt, keine Spur von Feld und Gartenbau, hie und da eine Schaafherde, auf die älteste und einfachste Benutzung der Erdoberfläche hindeutend.

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5. Das an Färber diktierte Schema Johann Michael Christoph Färber (1778-1844) war Schreiber an der Jenaer Universitäts-Bibliothek und seit 1814 dort Custos.13 Da Goethe die „Oberaufsicht" über alle kulturellen Einrichtungen des Staates Sachsen-Weimar hatte, war er Färbers Vorgesetzter. Färber stand ihm als Schreiber zur Verfügung, wenn er in Jena war. Nun lebte Goethe vom 6. November 1817 bis 2. Juli 1818 in Jena. Er wohnte in 2 geräumigen Zimmern des Gasthofs „Zur Tanne". Er hatte in Jena eine vorzügliche Bibliothek und gute naturwissenschaftliche Institute zur Verfügung. Künstlerisch aber bot Jena nichts, keinen schönen Bau, keine Gemälde, keine Gipsabgüsse, nicht einmal eine Kupferstich-Sammlung. In dieser Zeit kauft Goethe bereits eifrig Graphiken. Aus einer Auktion bei Weigel in Leipzig erhielt er am 20. März in Jena eine große Sendung. Das Tagebuch vermerkt: 20. März: An der Sendung ausgepackt bis 7 Uhr. 21. März: Beschäftigung der neusten angekommenen Kupier, nach Schulen und Meistern gelegt... Nach Tische... Durchsicht der Blätter, allgemeine Betrachtung fortgesetzt bis zum Abend. 22. März: Einiges über die neu angekommenen Kupier. Nun trägt das an Färber diktierte Schema das Datum: Jena, den 22. März 1818. Die Tagebuchnotiz vom 22. März bezieht sich also auf dieses Schema. Als die Kupferstiche angekommen waren, ordnete Goethe sie zunächst nach Schulen und Meistern. Das Schema beginnt damit, daß er jetzt, am nächsten Tage, einen anderen Gesichtspunkt hat: die Folge der Landschaitsmalerei zu beachten, wobei die Meister und die einzelnen Werke nicht Hauptsache, sondern bedeutende Nebensache sind. Hier taucht die Idee auf, welche der späte AufsatzEntwurf ausführt: eine Geschichte der Landschafts-Vorstellung. Die Kupferstiche, welche Goethe am 22. März 1818 zur Hand hatte, waren so zahlreich und mannigfach, daß er an einen solchen allgemeinen Überblick denken konnte. Wir können darüber Genaueres feststellen, weil Goethe als sorgfältiger Sammler Auktions-Kataloge aufhob und als genauer Haushalter die Quittungen sammelte. Überhaupt gilt für die Kommentierung der 4 Fragmente: Sie läßt sich vor allem durchführen auf Grund von Goethes Graphik-Sammlung, die vollständig erhalten ist. Der Forscher kann in ihr die Blätter, welche Goethe benutzte, ansehen. Es gibt seit 1848 das gedruckte Verzeichnis „Goethes Kunstsammlungen" von Schuchardt. Doch damit nicht genug. Goethe schrieb Bestellungen an seine Kunsthändler, insbesondere Weigel in Leipzig. Diese antworteten ihm. Das alles hob er auf, auch die Rechnungen und Quittungen. Es gibt also datierte Listen von Werken, die er kaufte. Man kann deswegen, wenn man die Graphik-Sammlung, die Korrespondenz, die Rechnungen und die Verkaufskataloge kombiniert, weitgehend die Geschichte von Goethes Sammlung rekonstruieren, d. h. man kann erkennen, wann er bestimmte Werke erwarb und sich mit ihnen beschäftigte. Natürlich sagen auch die Tagebücher manches darüber. Wie war es im März 1818, als das erste Schema über Landschaftsmalerei entstand? Goethe hatte von der Firma Weigel einen Katalog erhalten: „Verzeichnis 13

Walter Schleif, Goethes Diener. Berlin u. Weimar 1965. S. 203-212.

Die Schemata

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einer Sammlung von Kupferstichen, Handzeichnungen, Oelgemälden . . . welche den 19. Januar 1818 . . . versteigert werden sollen. Leipzig." (276 S.) Dieser enthielt ein sehr reichhaltiges Angebot. Goethe strich sich viele Nummern an. Von diesen ließ er eine Auftrags-Liste abschreiben. Eine solche Liste befindet sich noch im Goethe-Archiv. Alles, was Goethe auf der Versteigerung erwarb, ist durchgestrichen. (Goethe hat also entweder ein Duplikat anfertigen lassen, oder Weigel hat die Liste zurückgeschickt.) Was wir durch diese Liste erfahren, wird durch Goethes Brief an Heinrich Meyer vom 16. März 1818 bestätigt: Er erhielt in der Sendung, die am 20. März bei ihm ankam, von Paul Bril 10 Blätter mit gebirgigen Landschaften (Schu. 152 Nr. 57) und die Serie der „Zwölf Monate" (Schu. 152 Nr. 58), von Jodocus Momper die „Landschaft mit dem Kornfeld" (Schu. 171 Nr. 254), von Girolamo Muziano die ganze Serie Heiliger Einsiedler, gestochen von Cornelis Cort (Schu. 48, Nr. 443), dazu die „Heilige Familie auf der Flucht in der Landschaft" (Schu. 48 Nr. 440); von Saftleven 4 Blätter mit Rheinlandschaften (Schu. 184, Nr. 394); von Johann Gottlieb Glauber 2 Blätter Landschaften mit Felsen und Fichten (Schu. 161 entweder Nr. 157 oder 159), ferner mehrere Radierungen von Bourdon (Schu. 196 Nr. 10 ff.) und vor allem einige Reproduktionsstiche nach Rubens (Schu. 181 Nr. 367 ff.).« Das Schema beginnt mit einer methodischen Überlegung: Die Folge der Landschaftsmalerei zu beachten. Beispiele als bedeutende Nebensache. Dann geht es in den Stoff hinein: Loslösung unter... Das bedeutet: Loslösung der Landschaftsmalerei von der Heiligendarstellung und der „Historie". Goethe hat das in den späteren Entwürfen ausführlicher dargestellt. Die Beispiele, die er im März 1818 zur Hand hatte, waren Paul Bril, Jodocus de Momper, Muziano, Hondekoeter und Hendrick van Cleve. Der Schreiber schreibt die Namen zum Teil falsch, es müßte heißen: Poussin, Dughet, Glauber, und er schreibt versehentlich Langmut, es soll aber heifjen Anmut, das geht aus dem 2. und 3. Schema hervor. Eintretenter Vituten statt Eintreten der Veduten. - Das Schema weist darauf hin, daß die Landschaftsmalerei sich gleichzeitig nördlich und südlich der Alpen entwickelte. Im Norden Hendrick van Cleve, Jodocus Momper, Hondekoeter, im Süden Muziano. Nun wanderten aber bedeutende Niederländer nach Rom und blieben dort, so Paul Bril. Auch die großen Franzosen Poussin und Dughet lebten in Rom, also im unmittelbaren Einflußbereich der Carracci-Schule. Im folgenden wird darauf hingewiesen, daß die Niederländer im 17. Jahrhundert eine eigene Landschaftsmalerei ausbildeten. Namen werden nicht genannt. Dann folgt in großen Zügen ein Blick auf die Entwicklungslinien des 18. Jahrhunderts.

6. Das an John diktierte Schema Das an John diktierte Schema steht auf einem Doppelblatt in Folio, das folgendermaßen beschrieben ist: Auf Seite 1 stehen eigenhändige Notizen Goethes. Auf Seite 2 beginnt das Schema in Johns Handschrift. Es füllt - einspaltig geschrieben - die Seiten 2, 3 und 4. 14

Beispiele daraus in unserem Abbildungs-Anhang.

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

Betrachten wir zunächst, was auf der 1. Spalte des Bogens steht. Es hat zwar nichts mit der Landschaftsmalerei zu tun, doch vielleicht kann es etwas helfen, um das Schema zu datieren. Goethe hat auf der 1. Seite des Doppelblatts eigenhändig 5 Sachen notiert: Den größten Fehler unterlassener Mittheilung habe begangen, daß ich geglaubt es müsse alles folgerecht einem jeden zukommen anstatt daß aus dem iolgerechtesten sich jedermann doch nur zueignet was ihn anmuthet. Und so mögen Einzelnheiten hier gegeben seyn wie ich sie gegenwärtigen und abwesenden Freunden mitgetheilt oder von ihnen empfangen. Toro Farnese — Hieron. Titian kennend die Philostrate Tiepolos Pest Isaac Major Einen gewissen grandiosen obgleich nicht geläuterten Knüppel-Brücke und schlechten Forsthaushalt.

Sinn.

Die erste Notiz Den größten Fehler... bezieht sich auf die Art, wie er seine Zeitschrift Über Kunst und Altertum bisher redigiert hat und was er in der Folgezeit anders zu machen gedenkt. Er will sich nicht mehr scheuen. Einzelnheiten mitzuteilen. Der 1. Band, 1816-17, und der 2. Band, 1818-20, hatten meist größere Aufsätze gebracht. Von da an ging Goethe dazu über, auch mancherlei Kleinigkeiten und Skizzenhaftes zu bringen. Die Notiz mag also etwa aus dem Anfang der zwanziger Jahre stammen. Die zweite Notiz: Toro Farnese = Hieron. Mit Toro Farnese ist „der Farnesische Stier" gemeint, die zu Goethes Zeit sehr bekannte antike Großplastik aus der Sammlung Farnese. Goethe hatte das Werk bei seiner Reise nach Italien gesehen (Zweiter Römischer Aufenthalt, 20. Juni 1787), und als er die Propyläen herausgab, hatte er den Plan, darüber einen Aufsatz zu schreiben (WA 47, S. 278,6 und 283,22). Doch daraus wurde dann nichts. Als er 20 Jahre später Über Kunst und Altertum herausgab, kam ihm der alte Plan wieder in den Sinn. Das bedeutet die Notiz Toro Farnese. Der Name Hieron bezeichnet den König von Syrakus. Die Hieron-Münzen zeigen auf der Rückseite einen Stier mit gesenktem Kopf, also ein Teilmotiv der Gruppe des Toro Farnese, den Kopf und die charakteristische Biegung des Nackens. Goethe besaß 8 solcher Münzen (Schu. 2, S. 244 Nr. 58-65). Da er nun systematisch darauf achtete, Motive der antiken Großplastik auf Gemmen und Münzen wiederzufinden, bedeutet das Gleichheitszeichen, daß das Stier-Motiv der Hieron-Münze Beziehung hat zu dem Motiv dieser Großplastik und daß er in einem Aufsatz auf diese Zusammenhänge hinweisen wollte. Ein Aufsatz über dieses Thema ist aber niemals zustande gekommen. Die dritte Notiz: Titian kennend die Philostrate. Die Philostrate sind die zwei griechischen Schriftsteller namens Philostratos, welche Gemäldebeschreibungen verfaßt haben. Goethe hat sich mit diesen im Jahre 1818 ausführlich befaßt und einen Aufsatz Philostrats Gemälde geschrieben, der noch im selben Jahre in Über Kunst und Altertum erschien (WA 49,1 S. 63-135). Im Juni 1820 kaufte Goethe eine Gruppe Reproduktionsstiche und schrieb am 30. Juni an Heinrich Meyer: Höchst erfreulich sind auch drei Blätter von Podesta nach Tizian, wovon zwei buchstäblich Philostratische Gemälde vorstellen; freilich nicht im griechi-

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sehen, aber im vollkommensten Tizianischen Sinne... Es ist Bacchus und Ariadne und die Spiele der Liebesgötter. Hier taucht also 1820 die Vermutung auf, daß Tizian Beziehung zu den Philostratischen Beschreibungen hat. Meist sind Goethesche Notizen über etwaige Pläne zeitlich nicht allzu fern von solchen ersten spontanen brieflichen Äußerungen, man kann also vermuten, daß die Notiz 1820 oder in den Jahren danach niedergeschrieben ist. Die 4. Notiz: Tiepolos Pest. Goethe fand 1824 in einem Auktions-Katalog von Weigel ein Exemplar eines Reproduktions-Stichs nach Tiepolos Gemälde, das den Titel „Die Pest" trägt, angeboten. Er schrieb an Weigel deswegen am 16. November und am 7. Dezember 1824 und erwarb das Blatt (Schu. 87 Nr. 837). Er besaß außerdem eine Zeichnung von Tiepolo, welche ebenfalls M a r i a und drei Heilige darstellt, die um Abwendung der Pest bitten (Schu. 252 Nr. 193) ,• sie ist aber nicht inhaltsgleich mit dem Kupferstich. Die 5. Notiz: Isaac Major. Einen gewissen grandiosen obgleich nicht geläuterten Sinn. - Knüppel-Brücke und schlechten Forsthaushalt. Isaak M a j o r ist ein aus Frankfurt stammender, zeitweilig in dem Prager Künstlerkreis um Kaiser Rudolf II. lebender Kupferstecher, der etwa 1576-1630 gelebt hat. In Goethes Sammlung befinden sich 8 Radierungen von ihm (Schu. 169 Nr. 235). Am 22. September 1820 meldet Goethe an Heinrich Meyer, daß er in Leipzig gut und billig Graphik gekauft habe. Ein Blatt von Isaak Major kommt 1 Groschen 6 Pfennig. Wenigstens scheint daraus hervorzugehn, daß historische Sammler selten sind. Die Notiz gibt eine treffsichere allgemeine Kennzeichnung und wendet sich dann zu charakteristischen Zügen des Bildinhalts der Blätter a u s Goethes Besitz. (Vgl. Abb. 28 und 29.) Nimmt man den Inhalt der 5 Notizen zusammen, so deutet er auf die J a h r e 1820-1824. Es sind alles Notizen von Themen, welche für die Zeitschrift Über Kunst und Altertum geeignet waren. Goethe benutzte die noch übrigen 3 leeren Seiten des Bogens dann, um John das Schema zu diktieren, denn es handelte sich auch da um etwas, was für diese Zeitschrift gedacht war. Nun pflegte Goethe solche zum Teil schon beschriebenen Bogen meist nicht lange liegen zu lassen, sondern die leeren Seiten bald zu benutzen. Wenn man das annimmt, könnte das an John diktierte Schema etwa in das J a h r 1824 zu datieren sein. Das Schema beginnt mit der Landschaftsdarstellung des 16. Jahrhunderts und führt bis zu den Porträt-Landschalten des 18. Jahrhunderts, die aber nur ganz kurz berührt werden. A m Anfang wird Mantegnas „Triumphzug" genannt. Mit diesem Werk hatte Goethe sich 1822 ausführlich beschäftigt und einen Aufsatz darüber veröffentlicht. Für die Geschichte der Landschaftsdarstellung sind die Hintergründe in diesem Werk Mantegnas unwesentlich. Goethe erwähnt es später deswegen nicht mehr, in dem Schema und Aufsatz-Entwurf von 1829 kommt Mantegna nicht vor. Daß er in diesem Schema genannt wird, ist wohl ein Zeichen dafür, daß die intensive Beschäftigung mit dem „Triumphzug" noch nicht lange zurücklag. Auch die anderen Namen in diesem an John diktierten Schema kommen in den zwanziger Jahren vor. D a s Tagebuch notiert am 9. Juni 1823: Bologneser Schule, Grimaldi's eingeräumt. Die wichtigste Eintragung ist die vom 14. J a n u a r 1824: Einige große Portefeuilles durchgesehen. Neuerregte Bewunderung des Claude Lorrain. Hier betrachtet Goethe Kupferstiche aus mehreren Mappen, erhält also auch erneut einen Überblick über die Landschaftsmalerei, und über den Größten aus ihr heißt es dann: Neuerregte Bewunderung

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

des Claude Lorrain. Das paßt zu dem Satz des Schemas: Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig. Man darf also wohl vermuten, daß diese Tagebuch-Notiz und das Schema einander zeitlich nahe sind. Über das Schema von 1818 hinausgehend wird hier Dürer einbezogen und die übrigen Deutschen. Goethe erwähnt die Genauigkeiten der vielen Einzelheiten - dies ist die Bedeutung des Wortes peinlich - und erwähnt auch, daß die deutschen Künstler des 16. Jahrhunderts zum Teil maniriert werden. Er hatte seit 1818 genug Blätter in seiner Sammlung, um das zu erkennen: Heinrich von Cleve, Isaak Major und andere. Es folgen die genialen Sätze über Rubens und die knappen Stichworte über Rembrandt, dann wendet sich die Betrachtung wieder zu den Malern in Rom: Claude Lorrain, Nicolas Poussin und Gaspard Poussin (Dughet). Der abschließende Ausblick ist ganz kurz. Das Besondere dieses Schemas ist, daß es die Entwicklung sowohl im Norden wie im Süden überblickt. Hier Brueghel, Rubens, Rembrandt, dort Tizian, die Carracci, Claude Lorrain, die beiden Poussin. In diesem Punkt ist dieses Schema reichhaltiger als die drei anderen Entwürfe. - John hat einige Namen falsch geschrieben: Brueghel, Jodocus de Momper usw., doch nicht so, daß Mißverständnisse daraus entstehen könnten.

7. Das an Schuchardt diktierte Schema Dieses Schema beginnt ähnlich wie die vorigen, indem es zeigt, wie die Landschaft vom Nebenwerk zur Hauptsache wird und wie die steilen Berglandschaften des 16. Jahrhunderts der steigenden Anmut des 17. Jahrhunderts weichen, die einen anderen Landschaftstyp bringt, verbunden mit atmosphärischen Erscheinungen, die auf das Gemüt wirken. Das Schema schreitet auf die Heroische Landschaft zu und charakterisiert sie ausführlicher als die anderen Punkte. Dann folgt deren Nachwirkung, eine fortgesetzte Schule. Der Schluß bringt genauer als die früheren Schemata die Veduten, beginnend bei Merian, weist aber auch auf die Traditionslinie in Nachfolge der idealen Landschaft, wobei etwa an Glauber zu denken ist. Es endet mit Hackert und den neueren Engländern; in beiden Fällen denkt Goethe an Blätter aus seinem eigenen Besitz (Abb. 54, 55, 56). Über Hackert, der 1807 starb, geht er nicht hinaus. Lebende werden nicht mehr mit einbezogen, also auch nicht Caspar David Friedrich, obgleich Goethe Gemälde und Zeichnungen von ihm kannte. Das Besondere dieses Schemas ist der Satz Die Niederländer berühren wir nicht. Goethe war sich über die Bedeutung von Rubens und Rembrandt für die Landschaftsdarstellung klar und hatte sie in dem an John diktierten Schema mit treffenden Sätzen charakterisiert. Hier aber steht nun: Die Niederländer berühren wir nicht. Übergang aus dem Ideellen zum Wirklichen durch Topographien. Dann aber - vermutlich später - ist an den Rand geschrieben: Rubens Van der Neer - Ruisdael - Everdingen. So, wie die Linie dieses Schemas verläuft, charakterisiert sie nicht die Entwicklung der Landschaftsmalerei in Europa, sondern in Rom. Dem widerspricht nicht, daß zu Anfang Brueghel genannt wird. Seine Kupferstiche kannte man auch in Rom. Paul Bril, von Brueghel beeinflußt, ging nach Rom und blieb dort. Die römische Landschafts-

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maierei hat so viel Anregungen von den Malern, die am Ende des 16. Jahrhunderts aus dem Norden gekommen waren, aufgenommen, daß diese genannt werden mußten. Dagegen haben Rubens und Rembrandt dort nicht mehr auf die Landschaftsmalerei gewirkt. Deswegen fehlen sie hier. Es handelt sich also um die Entwicklung, wie sie sich in Rom darstellte. Nun arbeitete Goethe seit

dem 18. Februar 1829 an dem 3. Band der Italienischen

Reise, dem

Zweiten

Römischen Aufenthalt. Das Tagebuch verzeichnet bis ins einzelne das Fortschreiten der Arbeit. Am 19. August wird die erste Hälfte des Manuskripts an die Druckerei geschickt, am 4. September die zweite Hälfte. Im Mai war Goethe dabei, den Oktober 1787 darzustellen, also etwa in der Mitte des Werks. Nun

gehören zu den Besonderheiten des Zweiten Römischen

Aulenthalts

einige in

sich gerundete Einschübe, so die Aufsätze Päpstliche Teppiche, Moritz als Etymolog, Philipp Neri und der von Karl Philipp Moritz verfaßte Aufsatz „Über die bildende Nachahmung des Schönen". So ein Einschub hätte auch der Aufsatz über Landschaftsmalerei werden können. Das Tagebuch verzeichnet:

28. April: Einzelnes zum Zweiten römischen Auf enthalt. 29. April: Meine Aufnähme in die Arcadia und eine Einleitung diktiert. 30. April: Ging den Römischen Aufenthalt durch, beachtete die Kupfer nach den Raffaelischen Kartonen. 1. Mai: Abends Professor Riemer; wir gingen die Aufnahme in die Arcadia durch. Andere Gegenstände zum Behuf des Römischen Aufenthalts kamen zur Sprache. Geschichte der Landschaftsmalerei. Leben und Wirkung des Philippo Neri.

Hier steht deutlich, daß zunächst der Abschnitt Aufnahme in die Gesellschaft der Arkadier besprochen wird. Goethe stellte ihn hinter Januar 1788 und vor

Das Römische Carneval. Sodann notiert er: Andere Gegenstände zum Behuf des Römischen Aufenthalts und nennt zwei derselben: Geschichte der Landschaftsmalerei und Leben und Wirkung des Philippo Neri. Letzteres ist zu einem Aufsatz geworden, der nach dem Dezember

Geschichte der Landschaftsmalerei

1787 eingeschoben ist. Dagegen ist die

nicht in den Zweiten Römischen

Aufenthalt

hineingekommen. Sie war aber zeitweilig in diesem Zusammenhang geplant. Daraus erklärt sich in dem Schema der Satz Die Niederländer berühren wir nicht. Es sollte ein auf Rom bezogener Aufsatz werden wie Päpstliche Teppiche und Philipp Neri. Die weiteren Tagebuchaufzeichnungen geben darüber Auskunft. Das Tagebuch zeigt aber auch, daß diese Arbeiten nur ein kleiner Teil der vielerlei Dinge waren, die Goethe täglich beschäftigten.

2. Mai: Las in den Actis Sanctorum nach geraumer Zeit das Leben des Philippus Neri wieder. 3. Mai: Fortgesetzte Arbeiten, besonders auf Philipp Neri bezüglich. 5. Mai: Nach Tische die Claude Lorrains von Gmelin gestochen durchgesehen. 8. Mai: Römischer Aufenthalt. 10. Mai: Einiges zu Philipp Neri. 12. Mai: Abends Professor Riemer. Briefauszüge des Oktobers 1787 durchgegangen und überhaupt die Redaktion der vorliegenden Papiere besprochen. 13. Mai: Ferner auf Rom und Römische Zustände sich Beziehendes. 15. Mai: Professor Riemer. Wir gingen die römische Korrespondenz durch und besahen einige dorthin sich beziehende Zeichnungen. 12

Trunz, Goethe-Studien

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

16. Mai: Die Italienische Reise weiter bedacht. 21. Mai: Schema erneuert des zweiten Aufenthalts in Rom. 22. Mai: Das gestern angefangene Schema mit Schuchardt beendigt. Zeichnungen, Kupier und Papiere beseitigt. 23. Mai: Heroische Landschaftsmalerei durchgedacht. Dies bedeutet vielleicht: Diktat des Schemas an Schuchardt. 29. Mai: Einiges über landschaftliche Konzeptionen und Kompositionen diktiert. Dies bezeichnet wahrscheinlich das Diktat des Aufsatz-Fragments. 4. Juni: Den Aufenthalt in Rom wieder vorgenommen. 5. Juni: Den römischen Aufenthalt durchgegangen. Aus diesen Tagebuchaufzeichnungen ergibt sich: Das an Schuchardt diktierte Schema entstand in der Zeit, welche dem Zweiten Römischen Aufenthalt gewidmet war, und stand geistig in diesem Zusammenhang. Deswegen wird hier die deutsche und niederländische Kunst nur soweit berücksichtigt, als sie in Rom wirksam wurde. Der Niederländer Paul Bril und die Franzosen Nicolas Poussin und Gaspard Poussin lebten und wirkten in Rom, sie gehören zur römischen Kunst. Deren Ausstrahlung geht dann nach Norden. Bei Hackert wiederholt sich, was im 17. Jahrhundert häufig war: der nordische Künstler findet im Süden seine zweite Heimat. Wäre der Aufsatz so, wie ihn dieses Schema entwirft, ausgeführt, so hätte er gut in den Zweiten Römischen Aufenthalt gepaßt, vielleicht besser als einige der anderen Einschübe.

8. Der an Schuchardt diktierte Entwurf Man darf wohl annehmen, daß dieses Fragment am 29. Mai 1829 diktiert ist. Das Tagebuch vermerkt zu diesem Tage : Bourienne abgeschlossen. Einiges über landschaftliche Konzeptionen und Kompositionen diktiert. Ich ging einige Portefeuilles durch, um mich zur Einschaltung der vielen neueren Akquisitionen zu orientieren. Fuhr spazieren. Mittag Oberbaurat Coudray. Relation seiner neusten Wegebau-Arbeiten in der Gegend von Remda und des Besuchs von Herrn Geheimrat Schweitzer ; ferner über die Baugewerkschule, ingleichen über das Wielandische Monument zu Oßmannstedt. Herr Geheimrat v. Müller. Neuere französische Literatur. Abends Professor Riemer. Den Aufsatz über das Igeler Monument nochmals durchgegangen. Morgens liest Goethe den 3. Teil von Bourienne, „Mémoires sur Napoléon" zu Ende. Er hatte in dem Band schon am Abend des vorigen Tages gelesen. Nachdem diese Lektüre abgeschlossen ist, diktiert er den Entwurf über Landschaftsmalerei, und zwar bis zum Ende des Abschnitts IV. Der Abschnitt V ist nicht von Schuchardt, sondern von John geschrieben, auf besonderem Blatt, also später hinzugefügt. Viel Zeit kann das Diktat nicht erfordert haben. Denn an diesem Vormittag beschäftigte Goethe sich dann noch mit seinen Kupferstichen zur Einschaltung der vielen neueren Akquisitionen. Danach fuhr er spazieren. Der Nachmittag und Abend ist mit anderen Dingen ausgefüllt. Wir haben von Schuchardt, dem er diktierte, aus späterer Zeit eine Schilderung, wie ein Diktat stattfand (Gespräche hrsg. von Herwig, Bd. 3,2 S. 300 bis 302). Goethe diktierte fließend in dem Tempo, das Schuchardt schreiben konnte.

Der Entwurf von 1829

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Er wußte genau, was er sagen wollte, und die Sätze wurden ohne Stocken von ihm formuliert. Das Manuskript zeigt nun, daß Goethe an drei Stellen sagte, Schuchardt solle etwas frei lassen. Fehlte ihm ein Wort oder eine Tatsache, so suchte er nicht danach. Er ließ ein Stückchen frei und diktierte weiter. Die erste Lücke ist am Anfang des dritten Abschnitts: Breughels Bilder zeigen die wundersamste Mannigfaltigkeit; gleichfalls Horizonte. Als nach Goethes Tode Heinrich Meyer diesen Text herausgab, setzte er ein: „hohe Horizonte". Wenn Goethe beim Diktat etwas ausließ, dann sollte hier etwas Besonderes eingesetzt werden; etwas, wofür er mit sich allein sein wollte wie bei seinen Dichtungen. Gedichte oder Faustszenen hat er niemals diktiert. Dergleichen schrieb er selbst mit der Hand, bedächtig und meist langsam. Die Horizonte bei Breughel eröffnen eine ganze Welt, sie zeigen ein Land, seine Bewohner, Berge, Felder, Flüsse, das Meer und eine Hafenstadt, welche an Seefahrt denken läßt, dazu Naturgesetzliches wie Sonnenuntergang oder Sommer usw. Es ist wie in Faust 11, wo Faust den Blick von einem Aussichtsturm wünscht: „ „ . , , ,, Em Luginsland ist bald errichtet. Um ins Unendliche zu schauen. (11344 f.) Dieses Unendliche, diese weltöffnende Weite sollte nun ganz kurz hier bezeichnet werden, mit ein oder zwei Wörtern. Das ließ Goethe sich für später. Meyers Ergänzungen „hohe" ist zwar sachlich richtig, ist aber bestimmt nicht das Wort, das Goethe suchte. Die zweite Lücke ist sachlich bedingt. Der Einsiedeleien des vorzüglichen ist auch hier zu gedenken. Goethe hatte die Bilder nicht herausgesucht, hatte sie aber in seinem vortrefflichen Bildgedächtnis, das zeigt der folgende Satz: Hier stehen die Figuren der irommen Männer und Frauen mit wilden Umgebungen im Gleichgewicht; beide sind mit großem Ernst und tüchtiger Kunst vorgetragen. Wo in Goethes Sammlung gibt es Bilder, zu denen diese Sätze passen? Sie passen genau zu den 6 großen Blättern nach Muziano, gestochen von Cornelis Cort (Magdalena, Antonius, Hieronymus usw.). Es paßt das Wort Einsiedeleien und die Charakteristik wilde Umgebungen. Vor allem auch das, was Goethe über das Gleichgewicht sagt. Auf anderen Bildern füllen entweder die Heiligengestalten das Bild, und die Landschaft ist nur Hintergrund wie bei Raffael, oder die Landschaft füllt das Bild, und die Heiligengestalten sind so klein wie bei Breughel, Roelant Saverij, Paul Bril, ja auch auf Claude Lorrains „Flucht nach Ägypten". Bei Muziano ist es anders; man kann nicht sagen: Landschaft mit einem Heiligen; aber auch nicht: ein Heiliger mit Landschaftshintergrund. Beides ist im Gleichgewicht. Auch die Bezeichnung mit großem Ernst und tüchtiger Kunst trifft genau das Wesentliche. Goethe hatte die sechs Blätter von Muziano 1818 gekauft. Sie gehören zu den Bildern, von denen damals seine Überlegungen zur Geschichte der Landschaftsmalerei ausgingen. Deswegen kommt Muziano schon in dem Schema von 1818 als einer der ersten Namen vor. Später wird Muziano dann allerdings in Briefen, Tagebüchern und Schriften nirgendwo erwähnt. Ich bin der Meinung, daß Goethe hier diese Blätter aus seiner Sammlung meinte und im Augenblick den Namen vergessen hatte. Dergleichen kam trotz seines guten Gedächtnisses im 80. Lebensjahr vor. Heinrich Meyer hat an dieser Stelle eingesetzt: „der Einsiedeleien des Martin de Vos, von Johann und Raffael Sadeler in Kupfer gestochen. 12*

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

ist auch z u g e d e n k e n . " Goethe besaß drei B l ä t t e r v o n M a r t e n de Vos, figürliche Darstellungen, v o n denen die eine ein w e n i g Landschaftshintergrund hat, es sind nicht Einsiedeleien, sondern eine „Beschneidung", eine Allegorie „Vita a c t i v a et v i t a c o n t e m p l a t i v a " und ein Titelblatt mit vier E v a n g e l i s t e n . D a s k a n n es also nicht sein. D a s W e i m a r e r Schloßmuseum besitzt - wohl aus der herzoglichen S a m m l u n g , die zu Goethes Zeit v o r h a n d e n w a r - einige B l ä t t e r v o n Sadeler nach Vos, m i t wenig L a n d s c h a f t ; auch da paßt Goethes Beschreibung nicht. Als M e y e r Goethes F r a g m e n t für den Druck überarbeitete, w a r er sehr leidend. E r ist nicht m e h r in Goethes H a u s g e g a n g e n u n d h a t nicht die hunderte v o n B l ä t t e r n für diesen Zweck durchgesehen. Ich glaube, daß M e y e r s E r g ä n z u n g nicht das trifft, w a s Goethe hier m e i n t e . 1 5 E s gibt v o n J a n und Raffael Sadeler verschiedene Stiche m i t Einsiedlern nach M a r t e n de Vos. Goethes Charakteristik paßt a b e r auf sie nicht so g u t wie auf die Bilder v o n M u z i a n o . 1 6 Bei der dritten Lücke handelt es sich u m den geliebten Claude L o r r a i n : Jeder fühlt mehr oder weniger, daß er ihm lassen muß. D a sollte w i e d e r ein g a n z besonderes W o r t eingesetzt werden, das Claudes Stellung als unerreichbares Vorbild bezeichnet, etwas, w a s die Genialität so k n a p p und verblüffend ewig. ausspricht wie der S a t z : Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur iür M e y e r e r g ä n z t e : „daß er ihm den V o r z u g lassen muß". D a s ist natürlich sachlich richtig, ist a b e r nicht das W o r t , nach welchem Goethe suchen wollte, denn hier sollte g e r a d e nicht ein so mattes, alltägliches W o r t wie „ V o r z u g " stehen. D a s D i k t a t ist also lückenhaft. A n einigen Stellen zeigt es a b e r kleine Goethesche Korrekturen.17 lr ' In Goethes Werken, Briefen und Tagebüchern kommt der Name Marten de Vos überhaupt nicht vor. Dennoch enthält das Register der WA zu Goethes Werken drei Verweise. Der erste bezieht sich auf den von Heinrich Meyer eingesetzten Namen. Die beiden anderen auf das Wort Einsiedeleien, in das also hier hineininterpretiert wird, daß damit Marten de Voß gemeint sei. 16 Von Jan und Raffael Sadeler gemeinsam gibt es: Sylvae Sacrae. Monumentum sanctioris philosophiae quam severa anachoretorum disciplina vitae et religio docuit... Monachii 1594. - Weitere Serien von Anachoretenbildern verzeichnet Alfred v. Wurzbach, Niederländ. Künstler-Lexikon 2, 1910, S. 539-544 in den Artikeln „Sadeler". 1; Aus dem Diktat mit seinen Lücken, aus dem vorausgegangenen Schema und aus Goethes Tagebuchaufzeichnungen kann man etwas über die Arbeitsweise folgern. Goethe arbeitete hier nicht so wie bei anderen historischen Werken; für die Geschichte der Farbenlehre, das 7. Buch von Dichtung und Wahrheit und die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans hatte er seinerzeit viele Materialien zusammengetragen und sie für die Darstellung geordnet. Den Aufsatz-Entwurf Landschaftliche Malerei aber diktierte er anscheinend, ohne die Bilder aus seiner Sammlung, die in Frage kamen, alle herausgesucht und in die Reihenfolge des Aufsatzes gebracht zu haben. Mit Hilfe des bereits vorhandenen Schemas diktierte er aus dem Kopf. Anderenfalls hätte er nicht einen Namen freigelassen. Das Tagebuch notiert in dieser Zeit genau alle wichtigen Beschäftigungen. Die Tage waren ausgefüllt mit Arbeit am Zweiten römischen Autenthalt und an dem Aufsatz Das Igeler Monument, vor allem aber mit Empfang von Besuchern und mit Lektüre. Das Tagebuch meldet nichts von Heraussuchen und Wieder-Einordnen aller Landschaftsbilder. Das wäre eine umfangreiche und zeitraubende Arbeit gewesen und wäre demgemäß ins Tagebuch gekommen. Goethe diktierte also ohne handgreifliches Material, aus seinem Wissen heraus, ließ für einen Namen eine Lücke und vergaß einen Künstler, Elsheimer, obgleich dieser in seiner Sammlung gut mit Landschaftsbildern vertreten war. Hätte er den Aufsatz vollenden wollen, so wäre er um eine Stoffsammlung nicht herumgekommen. Seine anderen historischen Arbeiten zeigen, daß er wußte, daß historische Oberblicke viel Vorarbeit erfordern, auch wenn sie sich auf das Allgemeine beschränken.

Der Entwurf von 1829

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Vergleicht man das Fragment mit dem vorangegangenen Schema, so zeigt sich, daß Goethe diesem im allgemeinen folgt, er nennt aber hier weniger Namen. D a s Schema nennt noch Jodocus de Momper, Roelant Saverij und Grimaldi. Die Ausarbeitung befolgt also genau das, was das erste Schema von 1818 bezeichnete: Die Folge der Landschattsmalerei zu beachten - Beispiele als bedeutende Nebensache. Die Ausarbeitung führt zu Claude Lorrain. Dann ist später diktiert - ein Abschnitt über die heroische Landschait angefügt. Hier wird kein Name genannt. Daß vor allem an Nicolas Poussin gedacht ist, ist selbstverständlich. Die Ausarbeitung endet da, wo das Schema schreibt: Sicherung der Bewohner und Anwohner durch Türme und Festungswerke. Alles, was in dem Schema dann folgt, fehlt in der Ausarbeitung - und das ist viel. Das Besondere des diktierten Entwurfs ist die Treffsicherheit der Formulierungen, die Knappheit der Charakteristiken, dabei der angenehme Fluß der Darstellung, fast als ob es sich um eine Erzählung handele. Gestalten wie Annibale Carracci, Domenichino und Claude Lorrain werden jeder in seiner Besonderheit erfaßt, zugleich werden sie einer sich steigernden Entwicklung zugeordnet, die zu einem Gipfelpunkt führt; damit endet der Abschnitt, der folgende bringt etwas Neues. M a n kann sich diese Ausführungen recht gut als einen Einschub in dem Zweiten römischen Auienthalt denken. Sie hätten aber weiter geführt werden müssen. Hier ergibt sich nun ein Problem. In diesem Zusammenhang hätte Goethe die Geschichte der Landschaftsmalerei so darstellen müssen, wie sie sich in Rom vor Augen stellte. Das Diktierte führt bis zu Claude Lorrain und Poussin. D a ist ein Höhepunkt der Entwicklung, und er liegt in Rom. Danach aber wurde in Rom auf diesem Gebiet nichts Wesentliches mehr geschaffen, das hatte schon Heinrich Meyers Darstellung in dem Winckelmann-Buch, 1805, gezeigt. Die Landschaftsmalerei entwickelte sich vor allem in den Niederlanden, auch Frankreich und England hatten daran teil. Sollte man nun für den Zweiten römischen Auienthalt eine Geschichte der Landschaftsmalerei in Rom geben oder sollte man lieber das Ganze dort herausnehmen und die Landschaftsmalerei im allgemeinen schildern, also mit Rubens und Rembrandt, so wie es das an John diktierte Schema skizziert hatte, und in Über Kunst und Altertum bringen? Der Zweite römische Auienthalt sollte termingerecht im Herbst 1829 als Band 29 der Ausgabe letzter Hand erscheinen. Goethe hat den Termin eingehalten. Den begonnenen Aufsatz über Landschaftsmalerei hat er aber nicht fertig gemacht. Das Fragment blieb liegen. Erst 1831 spricht das Tagebuch wieder davon: Eckermann... brachte den Auisatz über die Landschattsmalerei zur Sprache und holte den Entwuri herbei, den ich durchging und mir die Angelegenheit wieder ins Gedächtnis riet. Und am 29. Februar 1832: Den Auisatz über landschaitliche Arbeiten durchgesehen und aut dessen Vollständigkeit gedacht. So wie die Situation jetzt war, war es weder für den Autor noch für den Leser reizvoll, die Landschaftsmalerei nur von Rom aus zu sehen. Jetzt trat die Frage heran, wie die Linie im Ganzen weiterzuführen sei. Schon das an John diktierte Schema hatte Rübens und Rembrandt genannt. In dem Schema von 1829 ist an den Rand geschrieben: Van der Neer, Ruisdael und Ev er dingen. Dann folgt das Stichwort Übergang vom Ideellen zum Wirklichen durch Topographien - Merians weit umherschauende Arbeiten. Damit ist etwas Wesent-

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

liches berührt. Doch der Übergang vom Ideellen zum Wirklichen geschah vor allem in den Niederlanden in der Darstellung des Hier und Jetzt, der bürgerlichen Wirklichkeit und der Flachlandschaft, die so schwer zu malen war und der man dort im 17. Jahrhundert ungeahnte Schönheiten abgewann. So wie seit Frans Hals das Porträt seine große Zeit hatte, so seit Van Goyen die Landschaftsmalerei. Man wollte die heimatliche Stadt, das heimatliche Land im Bilde haben, und eben diese Bilder von Philips Köninck, Meindert Hobbema u. a. blieben im Lande und kamen nicht nach Dresden, Kassel oder Rom. 18 Als Goethe 1829 für die Italienische Reise das Fragment über die Geschichte der Landschaftsmalerei in Rom diktierte, hatte er ein Thema, das er beherrschte. Seine Sammlung gab dafür genug her. 19 Er war in Rom gewesen. Sein Freund Meyer wußte mit der Landschaftsmalerei in Rom genau Bescheid, das hatte sich schon 1805 in dem Winckelmann-Buch gezeigt. Wollte er nun aber die europäische Landschaftsmalerei allgemein darstellen, so gehörte viel mehr dazu. Als Meyer seine „Geschichte der Kunst" verfaßte, schrieb er über Hobbema: „Meindert Hobbema 1630 geboren, malte ungefähr ähnliche Gegenstände wie Ruisdael, jedoch gewöhnlich mit etwas helleren Lüften und Fernungen, und wird von vielen ebensohoch geschätzt, wir aber können nicht aus eigener Anschauung über seine Werke und Verdienste urteilen." (S. 240). Diese mangelnde Anschauung war wohl die Ursache, warum Goethe und Meyer die für die Zeit um 1816 wohlgelungene „Geschichte der Kunst" ungedruckt ließen. Die Rheinreisen und die Betrachtung der Sammlung Boisseree zeigten beiden, welche Lücken ihr kunstgeschichtliches Wissen hatte. Die an Färber und John diktierten Schemata beginnen mit den gebirgigen Phantasielandschaften, danach folgt italienische horizontale Anmut. Aber war es nicht gerade der Norden, der die Horizontale in der Landschaftsdarstellung zur Geltung brachte? Goethe besaß eine gute Sammlung von Radierungen Rembrandts, doch es fehlen darin Landschaftsbilder. So hatte er Rembrandts karge und geistvolle Darstellung der Flachlandschaft nicht vor Augen. Die herzogliche Sammlung besaß ungefähr 11 Radierungen dieser Art, doch Goethe arbeitete im Alter mit seiner eigenen Sammlung. 20 Einer der großen Meister der holländischen Flachlandschaft ist Van Goyen. Seine Bilder in Querformat zeigen Flußläufe, Uferlandschaft und weiten Himmel. In Goethes Sammlung ist aber von Van Goyen nur ein einziger schlechter Nachstich von 1774 vorhanden, im Geschmack des 18. Jahrhunderts verändert, in Hochformat, im Vordergrund ein hoher Baum; von der flachen 18

Hobbemas Gemälde „Die Wassermühle", das heute in der Dresdener Galerie hängt, ist erst 1899 dorthin gekommen. Und die herrliche Holländische Flachlandschaft von Philips Köninck kam erst 1905 dorthin. Wolfgang Balzer, Dresdner Galerie. Leipzig 1956. Abb. 92 und 94 und die Anmerkungen dazu. 19 Sie gab mehr her, als er verwertet hat. So hat er in den Entwürfen zur Landschaftsmalerei überall Elsheimer vergessen, obgleich dieser in die Entwicklung der Malerei in Rom gehört. Elsheimer war in Goethes Sammlung durch Reproduktionsstiche so weit vertreten, dafj seine Wichtigkeit für die Landschaftsmalerei ersichtlich sein konnte. Erwähnungen in Werken und Briefen zeigen, daij Goethe Elsheimer geseihätzt hat. - Schu. S. 121 Nr. 177 bis 190 und S. 263 Nr. 309-310. - Goethe-Handbuch, 2. Aufl., Bd. 1, 1961, Art. „Elsheimer" von Löhneysen. 20 Ich nehme an, dafj die Landschaftsradierungen Rembrandts, welche heute im Schloßmuseum sind, schon zu Goethes Zeit in herzoglichem Besitz - in dem Museum im Jägerhaus - waren. Jedenfalls ist mir nichts anderes bekannt.

Die Fragmente und die Anfänge der Kunstgeschichte

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Landschaft ist fast nichts zu sehen; alles für Van Goyen Typische fehlt. 21 Vermutlich hatte Goethe selbst den Eindruck, daß für eine Gesamtdarstellung noch manches zu ergänzen sei. Auf Grund des allgemeinen Stands der Kunstforschung konnte es auch nicht anders sein. Die aufstrebende kunstgeschichtliche Forschung brachte gerade zu dieser Zeit manches Neue ans Licht. Meyers so mühsam und liebevoll gearbeitete „Geschichte der Kunst" blieb Manuskript, und Goethes Entwurf Landschaitliche Malerei blieb unvollendet.

9. Die Fragmente zur Landschaftsmalerei und die Anfänge der Kunstgeschichte Die drei Schemata und der Entwurf sind historisch, kunsthistorisch. Das war in der Zeit, als Goethe schrieb, durchaus nicht das Übliche.22 Gegners bei den Zeitgenossen beliebter „Brief über Landschaftsmalerei", 1770, berichtet, wie Gegner selbst mühevoll nach der Natur zeichnete, dann die Landschaftsmaler Waterloo, Swanevelt, Berchem, Claude Lorrain kopierte, von da zur Natur zurückkehrte und nun besser nach ihr arbeiten konnte. „Endlich fing ich an, mich bloß und allein an die beiden Poussin und den Claude Lorrain zu halten. In diesen fand ich vozüglich die wahre Größe". Er hält außerdem die Lektüre der Dichter und der Kunstschriftsteller für förderlich für den Landschaftsmaler. 23 1777 veröffentlichte Merck im „Teutschen Merkur" einen Aufsatz „Über Landschaftsmalerei". Er spricht davon, der Maler müsse eine gefühlvolle Liebe zur Natur haben, sodann die Einzelheiten in der Natur genau beobachten und darstellen, das Gemälde als Ganzes aber sei seine eigene „Komposition", und ihr Ziel „schöne Natur". - In der 2. Auflage von Johann Georg Sulzers „Allgemeiner Theorie der schönen Künste", 1773, wird in dem Artikel „Landschaft (Zeichnende Künste)" festgestellt, die Landschaftsmalerei habe einen „angesehenen Rang". Sie zeige „angenehme Aussichten auf die leblose Natur" und habe darin „Beziehung auf unser Gemüt". „Durch eine wohlausgesuchte Handlung aus dem sittlichen Leben, die der Maler in die Landschaft setzet, kann er ihr einen Wert geben, der sie mit den besten historischen Gemälden in einen Rang setzet." Historische Angaben fehlen, Namen von Malern werden aufzählend genannt, ohne weitere Angaben. - In August Wilhelm Schlegels Dialog „Die Gemälde" wird einmal - als dialektischer Gegensatz zu der üblichen Bevorzugung der Figurenmalerei - erwogen, die Landschaftsmalerei „zur höchsten Gattung" zu erklären. (Athenäum, 2. Band, 1799, S. 65.) Carl Ludwig Fernow, der Goethe nahestand, hat im „Neuen teutschen Merkur" 1803 einen Aufsatz „Über die Landschaftsmalerei" veröffentlicht, der dann in seine „Römischen Studien", Bd. 2 , 1 8 0 6 , kam. Goethe besaß das Buch. Fernow unterscheidet die Landschaftsmalerei von der Vedutenmalerei. Sie zeigt ideale Landschaftsbilder. Menschen- und Tierdarstellung gibt es auch in der Plastik, Landschaftsdarstellung nur in der Malerei. Sie setzt eine „höhere ästhetische Kultur" voraus und wirkt vor allem auf das „Gemüt". Vor Historienbildern 21 Schu. S. 162 Nr. 168. 22 Über den Zustand der Kunstgeschichte in Goethes Zeit: Wilhelm Waetzold, Deutsche Kunsthistoriker. 2. Aufl. Berlin 1965. 23 Ursprünglich nur mit dem Titel „Brief" in: Füeßli, Berühmte Schweizer Maler, Bd. 3. Zürich 1770. Dann in Sal. Gegners Schriften, Bd. 5, Zürich 1772. S. 233-273, und in anderen Gefjner-Ausgaben der Zeit. - Neudruck: Gefjners Werke. Dt. Nat.-Lit., Bd. 41,1. S. 277-292.

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sind wir Zuschauer, vor Landschaftsbildern Mitlebende. Das Landschaftsbild hat einen Gegenstand, eine Stimmung und poetische Elemente, d. h. Staffage. Ziel ist „durch Darstellung idealer Naturszenen eine ästhetische Stimmung" (29). In Italien arbeitet die Natur dem Maler vor, dort entstand der „Idealstil", in den Niederlanden konnten Natur und Menschen nur einen „gemeinen Stil" hervorbringen (81 f.). Fernow kennt die Niederländer nur so weit, als sie in Rom zu sehen waren, und verkennt sie weitgehend (viel mehr als Meyer). Die Landschaftsmalerei verhält sich zur Historienmalerei ähnlich wie die Lyrik zur Epik und Dramatik (113). Vermischung mit Historie kommt vor, fördert aber selten das Ganze; deswegen Kritik an Nicolas Poussin (86). Es kommt sehr darauf an, die Staffage passend („poetisch") zu wählen. In Italien haben sich zwei „Schulen" entwickelt : der „große Stil" (heroische Landschaft) bei Tizian, Nicolas Poussin usw. und die „reine" Landschaftsmalerei mit „Schönheit, Anmut und Reiz" bei Claude Lorrain, Swanevelt u.a. (114 f.). Beide Richtungen wirken bis zur Gegenwart nach. Bei Hackert wird die Vedute durch Idealisierung zur Landschaftskunst. 1811 erschienen in Goethes Philipp Hackert des Malers Fragmente „Über Landschaftsmalerei", von Goethe schonend überarbeitet. Hackert spricht aus Erfahrung, wie man Bäume, Felsen usw. beobachtet und darstellt und die Einzelheiten zu einer „schönen Landschaft" mit Mittelgrund und „Fernung" vereinigt. „In der Composition der Landschaften ist hauptsächlich dahin zu sehen, dafj alles grandios sei, wie solches Nicolas und Caspar Poussin, Carracci und Domenichino geleistet haben." (WA 46, S. 369) 1822 erhielt Goethe von Carus dessen „Briefe über Landschaftsmalerei", die dann 1831 im Druck erschienen. Wahrscheinlich bekam er 1822 nur die ersten 5 Briefe, doch diese geben bereits den ganzen gedanklichen Ansatz. Carus fragt einerseits nach der Natur und ihren Motiven, anderseits nach dem schöpferischen Geist und der Art, wie er jene komponiert. Die Natur bietet mehr als das Gemälde: Ihre Farben sind leuchtender, ihre Umrisse klarer usw. Das Gemälde bietet mehr als die Natur: Es ist in sich gerundet, ist ein Mikrokosmos, während jeder Naturausschnitt das nicht ist. Die Zustände der Natur (Morgen, Abend, Sommer, Winter, Sonnenschein, Regen usw.) haben Beziehungen zu „Regungen des Gemüts". Das gilt auch für Farben und Linien. Die Menschen haben in früheren Zeiten nur figürliche Darstellungen geschaffen. Landschaftsmalerei „setzt eine höhere Bildung und Erfahrung voraus" (5. Brief). Sie symbolisiert „eine reine Anschauung der Schönheit des Weltganzen" (Ebd.). Letzten Endes ist alle Landschaftsmalerei religiös. Carus kommt hier dem sehr nahe, was Goethe in den Versen aussprach Wer Wissenschaft und Kunst besitzt / Hat auch Religion. .. Die Landschaftsmalerei ist ein Ereignis der Neuzeit; sie beginn im 16. Jahrhundert und erreicht im 17. Jahrhundert in Claude Lorrain und Ruisdael einen Gipfel, der seither unerreicht geblieben ist. In diesen Aufsätzen — und es gab noch mancherlei andere, weniger bedeutende, von denen einiges auch in Goethes Gesichtskreis kam 24 - war die Land24 Man findet sie bibliographiert in dem Anhang von Dorothea Kuhn zu ihrer Ausgabe von Carus, Briefe über Landschaftsmalerei. Heidelberg 1972. - Noch reichhaltiger: Sachregister zum Kayser'schen Bücher-Lexicon. Leipzig 1838. S. 126 Stichwort „Landschaftsmalerei". - Über Goethes Kenntnis: Ruppert, Goethes Bibliothek. 1958. - E. v.Keudell, Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. 1931. - In dem Nachlaß Heinrich Meyers befindet sich ein Aufsatz von Josef Anton Koch, „Über Landschaftsmalerei", zeitgenössische Abschrift.

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Die Fragmente und die Anfänge der Kunstgeschichte

schaftsmalerei nach und nach zu immer größerer Anerkennung gelangt. Sie hatte im 17. Jahrhundert in Rom und in den Niederlanden Meisterwerke hervorgebracht, galt in der Theorie aber lange Zeit weit weniger als das Historienbild, denn die Theorie stand im Banne alter Ordnungen, ähnlich wie in der Literatur, wo man immer noch das Epos als höchste Gattung beschrieb und den Roman überging, obgleich kein bedeutendes Epos mehr entstand und der Roman sich kräftig entwickelte. Erst um 1800 war die Bedeutung der Landschaftsmalerei auch theoretisch anerkannt. Goethe hatte zu diesem Fragenkreis mancherlei zu sagen, doch er hat es anderswo gesagt, am ausführlichsten in der Farbenlehre, 1810. Ein umfangreicher Teil, Sinnlich-Sittliche Wirkung der Farbe, behandelt die Wirkung der einzelnen Farben auf den Menschen, die Harmonie oder Disharmonie von Farben, das Verhältnis von Farbe und Perspektive, den allegorischen, symbolischen und

mystischen

Gebrauch

der

Farbe

u s w . D a s a l l e s ist u n m i t t e l b a r a u f

die

Landschaftsmalerei anwendbar. Am Ende der Campagne in Frankreich, 1822 erschienen, erzählt Goethe, was er arbeitete, als er 1792 nach Weimar zurückgekehrt war: er suchte die Kunstharmonie der Farben zu finden: Am klarsten ward sie bei einfachen landschaftlichen Gegenständen, wo der Lichtseite immer das Gelbe und Gelbrote, der Schattenseite das Blau und Blaurote zugeteilt werden mußte, aber wegen der Mannigfaltigkeit der natürlichen Gegenstände gar D i e Farben im Bild, d a s leicht durchs Braungrüne und Blaugrüne zu vermitteln.

ein in sich geschlossenes Ganzes und Bleibendes ist, sind etwas anderes als die in der Natur, welche sich dauernd wandelt. Ähnlich ist das Problem in der K o m p o s i t i o n . Wer Einzelheiten mit glücklichem noch nicht fähig, ein Ganzes zusammenzudenken

Naturell auffaßt und vollständig

ist

deswegen auszuführen,

schreibt Goethe am 22. März 1831 an J . G. v. Quandt und bringt Beispiele aus der neueren Landschaftsmalerei. Da er selbst seit den frühen Weimarer Jahren die Natur sowohl ästhetisch als auch wissenschaftlich als Geologe, Botaniker, Wetterbeobachter betrachtet hatte, bewegte ihn immer die Frage, wieviel der Künstler von den naturgesetzlichen Bedingungen und Verläufen wissen müsse und inwieweit ihn das fördere. Weil diese Frage ihn bewegte, sprach er öfters davon; Eckermann berichtet mehrfach darüber (22. Februar 1824; 5. Juni 1826; 21. Dezember 1831). Ein weiteres Thema war das Sehen-Lernen durch die Kunst. Goethe hat es mehrfach geschildert; in Dresden sieht er eine Schusterwerkstatt so, wie er dergleichen in der Galerie bei alten Holländern gesehen h a t (Dichtung

und

Wahrheit,

Buch

8);

i m Lahntal sieht er die

malerischen

Schönheiten (Ebd. 13); in Sizilien betrachtet er die Landschaft mit den Augen Claude Lorrains (3. April 1787). In Karlsbad schreibt er am 15. September 1819

in s e i n T a g e b u c h : Gegen Abend über den Posthot zur Antons-Ruhe. Herrlicher Abend. Die höchste Klarheit. Auch an der Schattenseite waren einzelne Zweige und Büsche zu unterscheiden, wie sie der ausführlichste Landschaftsmaler nur

hinschreiben konnte. Als er 1828 von Dornburg aus einen Brief an den Weimarer Hof schreibt (adressiert an Beulwitz, 18. Juli 1828), schildert er die Landschaft so wie er in dem Aufsatz über Landschaftsmalerei im 1. Teil den Ausblick vom Berge auf ein weites Tal mit Fluß, Wiesen und Bauern darstellt. Er wußte wohl besser als jeder seiner Zeitgenossen, wie sehr die Kunst den Blick schult. Alle diese Themen sind aber in dem Aufsatz über Landschaftsmalerei bewußt weggelassen.

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

Der Aufsatz ist vom ersten Schema bis zu dem diktierten Fragment rein historisch. Er steht also im Zusammenhang der Kunstgeschichtsschreibung, welche damals sich erst zu entwickeln begann, weicht aber sehr von dieser ab. Goethe besaß eine große Zahl Schriften zur Kunst. In dem Verzeichnis seiner Bibliothek 2 5 sind zum Thema „Kunst" (ohne Archäologie) 327 Werke genannt. Davon sind aber 76 Verkaufskataloge; weitere 76 sind Verzeichnisse von einzelnen Sammlungen, Beschreibungen von Kunstwerken einzelner Orte. Die meisten Werke sind Spezialabhandlungen. Wichtig waren die Nachschlagewerke. Goethe benutzte für die italienische Kunst das Werk des Vasari, das Lebensbeschreibungen der großen Maler gibt (Ruppert Nr. 2323). 2 6 Auch die im Jahrhundert des Barock entstandene Kunstgeschichte von Sandrart war immer noch brauchbar wegen ihrer vielen Fakten. Goethe besaß sie in der Bearbeitung von Volkmann, 1 7 6 8 - 7 5 (Ruppert Nr. 2322). Im 18. Jahrhundert waren dann Galerie-Verzeichnisse erschienen und Künstler-Lexika, die alphabetisch einzelne Künstler darstellten, z. B. das von Johann Rudolf Füßli (Ruppert 2320). Zu den neuen Hilfsmitteln gehörte ein beschreibendes Verzeichnis von Kupferstichen, das Johann Bernhard v. Bartsch in Wien herausgab „Le peintre graveur". Jeder Band behandelt mehrere Stecher, in bunter Folge, keineswegs zeitlich geordnet. Diese Nachschlagewerke genügten nun aber den höheren Anforderungen nicht mehr. Das historische Denken hatte sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland immer mehr entwickelt. Bezeichnend dafür ist Herder. Doch der Historismus ist eine Bewegung, die weniger durch einige Große als durch viele tüchtige, fleißige mittlere Begabungen ihren Weg gemacht hat. Die Göttinger Akademie der Wissenschaften setzte sich eine große A u f g a b e : Sie wollte eine Geschichte aller Wissenschaften und Künste seit dem Ausgang des Mittelalters schaffen, aus den Quellen erarbeitet. Die Göttinger Bibliothek bot eine gute Grundlage dazu. Buhle übernahm die Geschichte der Philosophie, die er gut meisterte, Carl Friedrich Stäudlin die Geschichte der Theologie, Gmelin die Geschichte der Chemie, Johann Carl Fischer die Geschichte der Physik, Bouterwek die Geschichte der Literatur usw. M a n wünschte auch eine Geschichte der Malerei und Graphik und vertraute sie dem Göttinger Maler und Kunstgelehrten Fiorillo (1748-1831) an, der mit viel Fleiß und Darstellungsgabe das Werk in den Jahren 1796-1820 in neun Bänden zustande brachte. Die Künstlerpersönlichkeiten werden hier mit ihren Werken geschildert; er faßt sie zusammen in „Schulen" und versucht, die Zusammenhänge zu klären. Sein Hauptverdienst ist, den riesigen Stoff der neueren europäischen Kunstgeschichte als Ganzes gegliedert und dargestellt zu haben. Goethe benutzte das Werk, seitdem der erste Band erschienen war, und schrieb an M e y e r : Wenn man darin liest, so erfährt man etwas, aber man schaut nichts an... (15. September 1796). Mit diesem scharfen Urteil war zugleich ausgesprochen, was er von sich selbst verlangte, sobald er sich auf dieses Gebiet begab, ihm schwebte eine andere Art von Kunstgeschichte vor. Zunächst lenkte er Heinrich Meyer auf dieses Gebiet, das Meyer mehr lag als das künstlerische Schaffen. Nachdem Meyer viele 23 Goethes Bibliothek. Katalog von Hans Ruppert. Weimar 1958. (XVI, 826 S.) Ein Grundwerk der Goethephilologie. 26 Weil man aus Rupperts Verzeichnis feststellen kann, in welcher Ausgabe Goethe Werke wie das von Vasari besafj, werden hier die Nummern hinzugefügt.

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Rezensionen und Aufsätze geschrieben hatte, verfaßte er für den. Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert, 1805, eine Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts, die weit zurückgreift ins 16. und 17. Jahrhundert. Hier wird nach Gattungen gegliedert, und so erhält die Landschaftsmalerei eigene Kapitel in den verschiedenen Epochen. Meyer charakterisiert eine Anzahl Künstler und versucht darzulegen, wie und wo sich geistige Beziehungen und Traditionen ergaben. Er bringt aber noch nicht das, was später Goethe gab: Veranschaulichung des Bildinhalts und Rückführung desselben auf Typen der Bildvorstellung. Meyers zweite große Arbeit, seine „Geschichte der Kunst", blieb Manuskript. Meyer gliedert hier nach Epochen und Nationen, charakterisiert die führenden Gestalten und geht auch auf die einzelnen Gattungen ein. Doch dabei ergibt sich kaum eine Entwicklungslinie, sei es der „Historie", sei es der Landschaftsmalerei - das Porträt wird nicht im Zusammenhang behandelt - , sondern nur eine Aufreihung verschiedener Künstler, welche diese Gattung gepflegt haben. Die Situation war in der Kunstgeschichte ähnlich wie in der Literaturgeschichte. Da gab es Schriftstellerlexika wie die von Meusel und von Jördens, biographische Lexika wie das von Hirsching und Bibliographien wie die von Erdwin Julius Koch. Einen Ansatz, Literaturgeschichte zu schreiben, machte Karl August Küttner, der Charakteristiken einzelner Schriftsteller und großer Perioden gab. Dann kam das Göttinger Akademie-Werk: Bouterwek behandelte die europäischen Literaturen seit dem Ende des Mittelalters. Der Stoff war zu groß, als daß er ganz hätte verarbeitet werden können. Vieles blieb Aneinanderreihung von Namen und Büchertiteln. Selten gelang es, geistige Zusammenhänge aufzuzeigen.27 - Goethe berührte in seinem Schaffen das Gebiet der Literaturgeschichte, als er im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts bis zu der Gegenwart seiner Leipziger Zeit schilderte. Es sollte keine Literaturgeschichte sein, sondern ein Stück Zeithintergrund in der Autobiographie. Er beleuchtet die Wechselwirkung von Literatur und politischem Leben, von Literatur und Theologie und Philosophie (Rationalismus), gibt knappe, scharf umrissene Bildnisse (Günther, Geliert, Gottsched) und berücksichtigt auch das Verhältnis von Dichtung und Kritik (Poetik) und das Eigenleben der Gattungen (Fabel usw.). Nirgendwo trockene Aufzählung •wie bei allen Autoren vor ihm. Diese Darstellung hatte eine Wirkung, an welche Goethe nie gedacht hatte: Sie wurde 100 Jahre lang vorbildlich für die nun entstehende Literaturgeschichtsschreibung. Ein anderes historisches Werk ist der Aufsatz über Winckelmann, 1805. Eine Biographie, ganz anders geschrieben als alle Biographien vorher. Die, welche es gab, reihten Tatsachen aneinander, wissenschaftlich und fleißig. Goethe wollte anderes, den inneren Zusammenhang, und dafür brauchte er einen neuen Stil der Darstellung. Vor Goethes Gedichten, Dramen und Romanen gab es andere bedeutende Gedichte, Dramen und Romane. Vor Goethes Winckelmann aber gab es kein vergleichbares literarisches Porträt. Diese Art, Biographie zu schreiben, war völlig neu und war ein ganz Goethesches Erzeugnis. Ähnlich wie die Situation der Literaturgeschichte, die sich in Goethes Zeitalter 27 Klaus C. Haase, Goethe und die Anfänge der dt. Literaturgeschichte. (Jb.) Goethe 27, 1965, S. 231-252.

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

zu entwickeln begann, war die der Kunstgeschichte. Goethe wollte etwas anderes als die Künstlerlexika und als Fiorillos fleißiger historischer Überblick. Sein Fragment Landschaitliche Malerei greift eine Gattung heraus, eine besondere Gattung, da sie in früheren Epochen nicht vorhanden war. Das Aufsatzfragment beginnt mit einem Typ der Darstellung - Landschaft mit Weitblick, hohem Horizont, vielerlei Einzelheiten - ohne einen einzigen Namen zu nennen. E s endet mit einem anderen Typ der Darstellung - heroische Landschaft - , wiederum ohne einen Namen zu nennen. Die Schemata führen weiter zu einem dritten Typ, den Goethe Porträt-Landschaften nennt, wieder ohne Namen von Malern. Diese Typen sind Arten des Sehens, des Komponierens, und jedes Sehen und Komponieren ist ein Welt-Erfassen. Jeder Künstler lernt durch andere. In diese Entwicklung geben also die einzelnen Individuen hinein, was sie zu bieten haben; wieweit es wirkt, hängt einerseits von der Kraft der Leistung ab, anderseits von dem Verständnis derer, welche bereit sind, eine fortgesetzte Schule zu bilden. In diese allgemeine Geschichte der Landschaftsmalerei sind - genau wie Goethe es 1818 plante - Beispiele als bedeutende Nebensache eingefügt, d. h. die einzelnen Künstler, deren Werk in knappen Charakteristiken lebendig wird. Die Gattungsgeschichte wird hier zur Stilgeschichte. Die Kunstgeschichtsschreibung hat im 19. Jahrhundert mit wissenschaftlicher Gründlichkeit Datierungen erarbeitet, Biographien geschaffen, vergessene Gebiete der Kunst neu gewertet und durchforscht. Beinahe 100 Jahre dauerte es, bis sie da ansetzte, wo schon Goethe angesetzt hatte, d. h. bis sie auch eine Geschichte des Sehens und Gestaltens geben wollte. 2 8 Goethes Entwurf Landschaftliche Malerei war methodisch ein genialer Wurf, ähnlich wie die Literaturgeschichtsschreibung in Dichtung und Wahrheit und die innere Biographie des Aufsatzes Winckelmann. Nur ist diese Arbeit leider nicht fertig geworden. Als Goethe das Fragment am Vormittag des 29. M a i 1829 diktierte, hatte er nicht alle Bilder, an welche er dachte, zur Hand; anderenfalls hätte er nicht zwei Namen auslassen müssen. 2 9 Er verließ sich auf sein vorzügliches Bildgedächtnis. Die Werke, welche er in dem Aufsatz nennt - und auch die, welche er in dem 2. und 3. Schema nennt - , waren alles alte Bekannte. Nur in dem 1. Schema, 1818, waren die Blätter, die er in J e n a zur Hand hatte, soeben erst erworben. Seither hatte er sie wieder und wieder betrachtet. Das zeigen Tagebücher und Briefe. Es war eine Welt, die er um sich gesammelt hatte und mit der er lebte. 3 0 Beschäftigt man sich mit den Stichworten und mit dem Fragment und nimmt die Bilder hinzu (von denen hier nur eine ganz kleine Auswahl als Abbildungsanhang beigegeben ist), so wird deutlich, wie Goethe im Alter mit der großen 28 Ich denke hier vor allem an die Werke von Wölfflin, z. B. „Die klassische Kunst", 1899 u. ö., und „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe", 1915 u. ö.; ferner an Alois Riegl, Das holländische Gruppenporträt, Wien 1902, und: Hans Jantzen, Das niederländische Architekturbild. Leipzig 1910. Das Thema der Landschaftsmalerei wurde behandelt von: Kurt Gerstenberg, Die ideale Landschaftsmalerei. Ihre Begründung und Vollendung in Rom. Halle 1923. - Wolfgang Stechow, Dutch Landscape Painting of the seventeenth Century. London 1966. - Allgemein zusammenfassend: der Artikel „Landscape in Art" in: Encyclopedia of World Art, Vol. 9, New York and London (1965). 29 Vgl. Anmerkung 17. 30 Ein kleines Beispiel: Noch heute hängen im „Großen Sammlungszimmer" 3 Landschaftsbilder (darunter die, welche Goethe als Domenichino und Claude Lorrain kaufte), im Majolikazimmer 3, im Deckenzimmer 3, im Urbinozimmer 1 und im Kleinen Eßzimmer 6.

Die Fragmente und die Anfänge der Kunstgeschichte

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europäischen Kultur der Jahrhunderte seit der Renaissance lebte, einerseits entzückt durch die einzelnen Werke, anderseits die großen Linien der geschichtlichen Entwicklung suchend und ihre innere Logik als eine gewaltige Erscheinung begreifend. Dabei hinderte eins nicht das andere, sondern förderte es, die Interpretation die Geschichte, und die Geschichte die Interpretation; der Genuß förderte das Forschen, und das Forschen den Genuß. Goethe war einzigartig darin, wie er die Kultur des 16., 17. und 18. Jahrhunderts aufnahm und verarbeitete; einzigartig aber auch darin, wie er dabei in sich Anschauung und Erkenntnis, Ahnung und Überlegung, schöpferisches und ordnendes Denken vereinigte. Es gibt dafür viele Beispiele. Eins ist der Aufsatz-Entwurf Landschaitliche

Malerei.

10. Die Namen der Maler aus den vier Entwürfen in alphabetischer Reihenfolge Die vier Goetheschen Fragmente bedürfen der Kommentierung. Viele Namen kommen an mehreren Stellen vor. Für den Benutzer ist es deswegen wohl das Einfachste, wenn die Namen alphabetisch dargeboten werden. Die Ausführungen hier sind darauf abgestimmt, durch die Anmerkungen zu den Abbildungen ergänzt zu werden. Es ist natürlich nicht möglich, hier auf die umfangreiche moderne Forschung zu den einzelnen Künstlern zu verweisen. Das wird nur ausnahmsweise getan. Auf das grundlegende Nachschlagewerk: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, begründet von U. Thieme und F. Becker, 37 Bde., Leipzig 1907-1950, sei hier ein für allemal verwiesen. BOTH, Jan Dirksz, Landschaftsmaler und Radierer, geb. Utrecht um 1610, gest. ebd. 1652. Bereiste Italien und Frankreich, lebte dann in Utrecht. Malte Landschaften, z.T. beeinflußt von Claude Lorrain; er liebt Landschaften im Abendlicht, mit „goldenem" Ton, lichtem Dunst in der Ferne. - Bei Goethe kommt Both in dem 3. Schema vor nach der Notiz Wirkung der atmosphärischen Erscheinungen auis Gemüt. I n G o e t h e s S c h r i f t e n ist B o t h b e i d e r Reise in die Schweiz 1797 g e n a n n t ( W A 3 4 , 1 S. 2 8 4 ) : Schöne Landschait von Both, f e r n e r

in den Notizen zur Dresdener Galerie von 1790: Both, Verfallene Gebäude mit Bäumen.

Schön

gedacht

und gemalt.

(WA 47, S. 382) D e n Reiz der G e m ä l d e

haben die Radierungen leider nicht. Goethe besaß 8 Blätter von Both und eins nach Both, teils italienische, teils deutsche Motive, welche den Typ der idealen Landschaft fortführen. - Schu. S. 150 Nr. 45-50. - Vgl. Abb. 46 und die Anmerkung dazu. BOURDON, Sébastien, geb. 1616 Montpellier, gest. 1671 Paris. Tätig in Paris, Stockholm, Montpellier und wieder Paris. Seit etwa 1648 als Maler religiöser und weltlicher Bilder sehr angesehen. Er hat außer zahlreichen Ölgemälden mehr als 40 Radierungen und Kupferstiche geschaffen. - Vgl. Abb. 49 und 50 und die Anmerkungen dazu. BRIL, Paul, Landschaftsmaler, geb. Antwerpen 1554, gest. Rom 1626. Ging von Antwerpen mit 20 Jahren nach Frankreich und Italien. In Rom heiratete er eine Italienerin. Er erhielt große Aufträge von den Päpsten und blieb in

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

Rom. - Nieuwelant hat 30 Blätter Landschaften von ihm gestochen. - Goethes Besitz an Kupferstichen nach Bril genügte, um ihn das Typische erkennen zu lassen. - Vgl. Abb. 20-23 und die Anmerkungen dazu. - Schu. S. 152 Nr. 57-60 (18 Blätter), S. 302 Nr. 808-811 (4 Blätter). - Anton Mayer, Das Leben und die Werke der Brüder Matthäus und Paul Brill. Leipzig 1900. = Kunstgesch. Monographien, 14. (80 S., 57 Taf.) BRUEGHEL, Pieter, geb. zwischen 1525 und 1530, vermutlich in Breda, gest. 1569 in Brüssel. Arbeitete in Antwerpen, Neapel, Rom und sah die Alpen. Diese Eindrücke wirkten in seinen großen Landschaftsstichen nach. Seit 1555 wieder in Antwerpen, dann in Brüssel, wo er seine Gemälde schuf, durch die er zum größten niederländischen Maler des 16. Jahrhunderts wurde. Heinrich Meyer schreibt in seiner Kunstgeschichte: „Für Darstellungen aus dem gemeinen Leben haben die Niederländer eine nie unterbrochene Neigung g e ä u ß e r t . . . So malte also schon der alte Peeter Brueghel um die Hälfte des 16. Jahrhunderts Kirmessen, Jahrmärkte, fahrende Musikanten und dergleichen geistreich und natürlich, jedoch ohne viel Übereinstimmung des Kolorits." (S. 234) Das ist alles; es entspricht dem Urteil der Zeit. Goethe blickte tiefer. Er hat zwar von Brueghels großen Gemälden nichts gekannt, doch er besaß 14 Kupferstiche von Brueghel, 12 davon sind Landschaften. Aus diesen hat er erkannt, wie großartig die Leistung Brueghels auf diesem Gebiet ist. Brueghel kommt in dem 2. Schema vor, die Reihe anführend, welche mit Jodocus de Momper, Roelant Saverij, Isaac Major weiterführt. Er wird in dem 3. Schema genannt, an entwicklungsgeschichtlich wichtiger Stelle. In der Ausarbeitung ist er der zweite Künstler, der überhaupt genannt wird. Vor ihm steht nur Tizian. Die Sätze über Brueghel am Anfang des 3. Abschnitts zeigen, welche Bedeutung Goethe ihm für die Geschichte der Landschaftsdarstellung beimißt. Goethe war mit dieser Einsicht seinen Zeitgenossen weit voraus. - Vgl. Abb. 14-18 und die Erläuterungen dazu. - Schu. S. 151, Nr. 53-55. - Goethe-Handbuch, Bd.l, 1961, Art. „Brueghel" von Löhneysen. CARRACCI, Annibale, Maler und Kupferstecher, geb. Bologna 1560, gest. Rom 1609. Wuchs in Bologna auf; 1580 in Parma, wo er die Werke Correggios sah, dann in Venedig, wo er Tizian und Veronese studieren konnte,- seit etwa 1590 in Bologna, gemeinsame Werkstatt mit seinen Brüdern Ludovico und Agostino, die rasch bekannt wurde. Große Fresken in Bologneser Palästen; zahlreiche Ölgemälde. Seit Ende 1595 in Rom, wo er große Aufträge erhielt (Fresken im Palazzo Farnese usw.). Seine Wirkung auf die Maler des 17. Jahrhunderts war stark, nicht nur auf Italiener wie Guido Reni, sondern auch auf Niederländer wie Paul Bril. - Donald Posner, Annibale Carracci. 2 Bde. London 1971. - A. W. A. Boschloo, Annibale Carracci in Bologna. 2 Bde. 's-Gravenhage 1974. - Vgl. Abb. 24 und die Anmerkung dazu. CLAUDE LORRAIN, eigentlich Claude Gelée, geb. 1600 in Chamagne (Lothringen), gest. 1682 in Rom. In seiner Jugend in Lothringen, Neapel und Frankreich, seit 1627 dauernd in Rom. Anregungen von Bril, Elsheimer, Domenichino, Poussin verarbeitend fand er bald seinen eigenen Stil. Seine Gemälde sind der Höhepunkt der Landschaftsmalerei in Rom im 17. Jahrhundert. Mehrere Bilder kamen in die Galleria Colonna, wo Goethe sie sah. In der Italienischen Reise heißt es am 27. Juni 1787 : Ich war mit Hackert in der Galerie Colonna, wo Poussins, Claudes, Salvator Rosas Arbeiten zusammen

Die Maler: Brueghel - Claude Lorrain

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hängen... Wenn man nun gleich wieder die Natur ansehn und wieder ñnden und lesen kann, was jene gefunden und mehr oder weniger nachgeahmt haben, das mu§ die Seele erweitern, reinigen und ihr zuletzt den höchsten anschauenden Begriff von Natur und Kunst gehen. Goethes alte Gabe, Natur mit den Blicken eines Malers zu sehn, bewährte sich auch in diesem Falle: Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken, die um die Küsten schwebte, als wir am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der Konture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat, der hat es auf sein ganzes Leben. Nun versteh' ich erst die Claude Lorrains . . . (3. April 1787) Als er Rom verlief, schenkte ihm Johann Friedrich Reiffenstein eine Sammlung Radierungen von Claude Lorrain. Sie sind unschätzbar wie alles von seiner Hand, (an Carl August 18. März 1788) Von da an blieb Claude ein Liebling Goethes. Diese Beziehung war keinen Schwankungen unterworfen (wie die zu Rembrandt), war nicht mit Kritik vermischt (wie die zu Dürer), sondern war schlechthin Liebe und Bewunderung. 1792 sah er die Gemälde Claudes in Kassel, die später durch Napoleon nach Paris und dann durch Zar Alexander I. nach St. Petersburg gebracht wurden. Als 1796 Charles Gore dem Herzog den Vorschlag machte, diese Kasseler Gemälde kopieren zu lassen, rieten Goethe und Meyer ab, denn Claude sei sehr schwer zu kopieren, der Zauber seiner Landschaften werde zu viel verlieren, sofern man nicht einen ganz ungewöhnlich guten Kopisten habe. (Goethe an Meyer 8. Februar 1796; Meyer an Goethe 25. Februar 1796) Auf der Reise in die Schweiz 1797 war Goethe entzückt, in Stuttgart Bilder von Claude Lorrain zu sehn, das eine davon unendlich lieblich (2. und 4. September 1797. WA 34,1). Er sammelte nach und nach Reproduktionsstiche. An Charlotte von Stein schreibt er am 28. März 1804: Ich habe einiges Interessante Neue von Kupferstichen vorzuzeigen. Einen himmlischen Claude Lorrain. Eine Ergänzung bildete das, was der Herzog besaß. Claude hatte von seinen Bildern, die er verkaufte, sich Skizzen gemacht und diese gesammelt; vielleicht, weil er sich auf diese Weise von den Werken nicht vollständig trennen mußte, vielleicht, um einen Überblick über sein Schaffen zu haben und falsche Nachahmungen auch für andere kenntlich machen zu können. Diese Sammlung von getuschten Zeichnungen, später „Liber veritatis" genannt, war nach England gekommen. Von Richard Earlom radiert erschienen seit 1777 Reproduktionen dieser Blätter. In Weimar wurde ein Exemplar davon angeschafft. Goethe entlieh das Werk aus der herzoglichen Bibliothek dreimal für längere Zeit: 28. März 1802-12. Juni 1804; 7. Oktober 1806-20. Februar 1807; 9. April 1829-19. September 1829. Die Tagebücher notieren oft die Beschäftigung mit dem großen Maler: 23. Januar 1820: Kupier von Claude und Everdingen. - 1. Dezember 1820: Wegen der Kasseler Claude Lorrains Betrachtungen. - 18. Dezember 1820: Hofrat Meyer. Landschaften von Claude Lorrain. - 19. Dezember 1820: Nach Tische die Claude Lorrains. - 16. April 1823: Vergleichung des „Morgen" nach Claude, jetzt von Haldenwang gestochen, mit der Dessauer Aquatinta. - 14. Januar 1824: Neuerregte Bewunderung des Claude Lorrain. Vermutlich ist bald nach dieser Notiz das an John diktierte Schema zur Landschaftsmalerei entstanden mit dem großen Satz: Im Claude Lorrain erklärt sich die Natur für ewig. Das Besondere des Satzes besteht darin, daß nicht der Maler das Subjekt ist, sondern die Natur. Der große Künstler ist ihr gemäß:

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Goethes Entwurf »Landschaftliche Malerei"

Indem er sie malt, spricht sie sich aus. Er offenbart das Ewige in ihr. 31 Die Notizen über das Betrachten der Stiche von und nach Claude Lorrain ziehen sich weiterhin durch die Tagebücher der Alters jähre (15. März 1826; 15. August 1826 usw.). Goethe zeigte sie gern anderen, so der Grofjherzogin Maria Paulowna (4. März 1828; 16. Juni 1829), Felix Mendelssohn-Bartholdy (27. Mai 1830), Eckermann (30. November 1831); und das Zeigen war immer zugleich ein Interpretieren. In der Zeit, als der Aufsatz über Landschaftsmalerei entworfen wurde - das Tagebuch notiert am 29. Mai 1829 Einiges über landschaftliche Konzeptionen und. Kompositionen diktiert - wird Claude Lorrain mehrfach genannt. 9. April 1829 : Besah das Liber naturae von Claude. Gemeint sind die 3 Bände der Radierungen von Earlom. 1. Mai 1829: Geschichte der Landschaftsmalerei. 5. Mai : Nach Tische die Claude Lorrains von Gmelin durchgesehen. 23. Mai: Heroische Landschaftsmaler ei. So geht es fort bis zu der Notiz vom 1. Februar 1832: Das Heft Kupferstich-Landschaften nach Claude und Poussin an Preller. Das war 5 Wochen vor Goethes Tode. - Vgl. Abb. 37-40 und die Anmerkungen dazu. - Karl Koetschau, Goethe und Claude Lorrain. WallraffRichartz-Jahrbuch, N. F. 1, 1930, S. 261-268 mit 3 Abb. - Gaston Varenne, Goethe et Claude Lorrain. Revue de Littérature comparée 12, 1932, S. 5-29. CLEVE (Cleef), Hendrick van, flämischer Maler, geb. um 1525, gest. 1589. Von den Kunsthistorikern Hendrick III. van Cleve genannt zur Unterscheidung von gleichnamigen Verwandten. Machte eine Italienreise, wurde Meister in Antwerpen. Van Mander berichtet über ihn in seinem „Schilder-boek", 1604. Es gibt Kupferstiche von ihm und Stiche von A. Collaert nach seinen Gemälden. Vgl. Abb. 13 und die Anmerkung dazu. - Thieme-Becker 7, 1912, S. 96 f. Hollstein, Dutch and flemish engravings 4, S. 170 und 206. 31

Über das Ewige, ähnlich wie es hier gemeint ist, gibt es zahlreiche Stellen bei Goethe. In dem Gedicht Vermächtnis hei/jt es: Kein Wesen kann zu nichts zerlallen. Das Ew'ge regt sich, lort in allen, Am Sein erhalte dich beglückt! Das Sein ist ewig; denn Gesetze Bewahren die lebend'gen Schätze, Aus welchen sich das All geschmückt. Im Divan sagt Suleika in dem Gedicht Der Spiegel sagt mir Vor Gott muß alles ewig stehn. In mir liebt ihn, für diesen Augenblick. Im Vorspiel zur Eröffnung des Weimarischen Theaters 1807: So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben. Das unsichtbar alle Welt erleuchtet. In Gelegenheitsversen an Alexander v. Humboldt vom 12. Juni 1816 hei5t es: Die Welt in allen Zonen grünt und blüht Nach ewigen beweglichen Gesetzen ... Und im Epilog zu Schillers „Glocke" ist die Rede von dem Geist, der ins Ewige des Währen, Guten, Schönen strebte.

Die Maler: Cleve - Dürer

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DOMENICHINO, eigentlich Domenico Zampieri, geb. 1587 in Bologna, gest. 1641 in Neapel. Wurde 1602 in Rom Gehilfe von Annibale Carracci; bei Domenichino wird aber das Element der Landschaft wichtiger als bei Carracci. Entwicklungsgeschichtlich steht er zwischen diesem und den jüngeren Landschaftsmalern, d. h. Claude Lorrain und Dughet. - Domenichino kommt in Goethes Werken und Tagebüchern mehrfach vor, seltener in den Briefen. Er nennt ihn

in einer spätem glücklichen Kunstzeit entsprungen (Ital. Reise 19. Okt. 1786) und beobachtet, wie er die Ovidischen Metamorphosen mit der schicklichen Örtlichkeit umgibt (Max. u. Reil.). - In den Entwürfen zur Landschaftsmalerei taucht er schon in dem Schema von 1818 auf. In dem an Schuchardt diktierten Schema steht er - historisch richtig gesehen - vor Claude Lorrain in der Entwicklungslinie, welche mit dem Wort steigende Anmut bezeichnet ist. Das eigentliche Wort über Domenichino sind dann die zwei Sätze in dem AufsatzFragment, ganz knapp, ins Wesentliche gehend und zugleich anmutig. - Vgl. Abb. 34 und 35 und die Anmerkungen dazu. - Art. „Domenichino" von H.-W. v. Löhneysen im Goethe-Handbuch, 2. Aufl., Bd. 1, 1961. DUGHET, Gaspard, genannt Gaspard Poussin, geb. 1613 in Rom als Sohn eines dort lebenden Franzosen, gest. 1675 in Rom. Er wurde der Schwager Nicolas Poussins und nahm dessen Namen an. Heinrich Meyer, der viele Arbeiten Dughets von Rom her kannte, schreibt über ihn: „Er gilt in Hinsicht auf Komposition, große einfache Gedanken wie auch im eigentlichen Charakter, den er den Gegenständen mitteilte, für den ersten Landschaftsmaler." (S. 286) Damit ist natürlich nicht gemeint, daß er Claude Lorrain übertrifft, den Meyer für den „vortrefflichsten unter den Landschaftsmalern aller Nationen" erklärt (S. 259). Goethe erwähnt häufig die Poussins; in dem an Schuchardt diktierten Schema steht dann differenzierend: Poussin der Historienmaler - Caspar Poussin, d. h. Goethe dachte hier daran, jeden in seiner Besonderheit zu charakterisieren. Er konnte sich Dughets Leistung kunsthistorisch verdeutlichen, denn er besaß 38 Stiche nach Dughet und 4 Zeichnungen, die von ihm stammen (oder ihm zugeschrieben wurden). Unter den Reproduktions-Stichen sind auch 18 Landschaften aus der Kirche San Martino ai Monti in Rom (Schu. S. 56 Nr. 523) mit Bildern aus dem Leben des heiligen Elias. In ihnen erreichte die Gattung der sogenannten „Kirchenlandschaften" ihren Höhepunkt. - Kurt Gerstenberg, Die ideale Landschaftsmalerei. Ihre Begründung und Vollendung in Rom. Halle 1923. S. 1 1 7 - 1 3 1 . - Schu. S. 56, Nr. 5 2 3 - 5 3 0 und S. 244, Nr. 114 bis 116. - Vgl. Abb. 47 und 48 und die Anmerkungen dazu. DÜRER, Albrecht, 1 4 7 1 - 1 5 2 8 , kommt in dem an John diktierten Schema zur

Landschaftsmalerei vor: Albrecht Dürer und die übrigen Deutschen. Sie haben alle mehr oder weniger etwas Peinliches.. . Das Wort peinlich bedeutet „mit •vieler Mühe vebunden, eine übertriebene Sorgfalt und Bedenklichkeit äußernd" (Adelung), „eine übertriebene, bis ins einzelne und kleinste sich erstreckende Genauigkeit, Sorgfalt und Bedenklichkeit zeigend" (Dt. Wb.). Goethe denkt hier nur an die Naturhintergründe der Holzschnitte, Kupferstiche und Gemälde, nicht an Dürers Werk allgemein. Er hat von seiner Jugend bis ins Alter Dürer hoch geschätzt, es gibt zahlreiche Äußerungen über ihn. Seine Werke gehörten für ihn zu den kraftvollen Leistungen des deutschen 16. Jahrhunderts, die zugleich gehaltvoll und volkstümlich sind wie Luthers Bibelprosa, die Chroniken von Aventin und von Tschudi, Gottfried von Berlichingens Lebensbeschreibung, 13

Trunz, Goethe-Studien

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

die Fastnachtspiele des Hans Sachs, die Schriften des Paracelsus usw. Goethe hat im Laufe der Jahre eine erstaunliche Menge Holzschnitte und Kupferstiche Dürers gesammelt. Von den Gemälden hat er auf Reisen nur wenig gesehen, das meiste in Nürnberg. In Weimar gab es zwei von Dürer gemalte Porträts, Hans und Felicitas Tucher, mit etwas Naturhintergrund. Von Dürers Aquarellen hat Goethe nichts gekannt, und gerade sie hätten ihm über Dürers Landschaftsauffassung viel sagen können. Kritisches zu Dürer vor allem in den Maximen und Reflexionen aus dem Nachlaß (Ausg. von Hecker, Sehr. Goe.-Ges. 21» Nr. 1088 f.). - Löhneysen im Goethe-Handbuch, Bd. 1, 1961, Art. „Dürer". H. v. Einem, Goethe-Studien, München 1972, S. 2 5 - 4 9 . - Eugen Wolf, Dürer u. Goethe. Dt. Vierteljahresschr. f. Literaturwiss. 6, 1928, S. 2 5 7 - 2 6 9 . - Weil Reproduktionen von Dürers Graphik leicht zugänglich sind, ist auf die Wiedergabe eines Beispiels verzichtet. - Schu. S. 112 Nr. 7 0 - 1 7 4 . EVERDINGEN, Allaert van, Landschaftsmaler und Radierer, geb. 1621 in Alkmaar, gest. 1675 in Amsterdam. Arbeitete anfangs in Haarlem,- zwischen 1640 und 1644 Reise nach Skandinavien, die sich in seinem Schaffen auswirkte; seit 1651 in Amsterdam. Einige seiner besten Gemälde sah Goethe in der Dresdener Galerie. Everdingens Kupferstiche zu der alten Reineke-Fuchs-Geschichte, in Gottscheds Ausgabe von 1752, gefielen Goethe 1782 so sehr, daß er sich bemühte, gute alte Abzüge nach dem ersten Plattenzustand zu erhalten, was ihm 1783 auch gelang. Nach und nach trug er eine reiche Sammlung Everdingenscher Radierungen zusammen; meist Blätter kleinen Formats, etwa 7 X 10 oder 12 X 16 cm; 51 solche Blätter, alles Landschaften, sind in einem Klebeband vereinigt, 42 in einem anderen Klebeband. Es sind Folio-Bände, oft mit 3 oder 4 Radierungen auf einer Seite; Landschaften mit Felsen, Wasser, Bäumen, im Vordergrund Reiter, Bauern, Fischer; niederländische, skandinavische und deutsche Motive, keine italienischen. - Schu. S. 1 5 5 - 1 5 6 Nr. 92: bis 127 und S. 304 Nr. 8 2 7 - 8 2 8 . - Goethe-Handbuch, 2. Aufl., Bd. 1, 1961, Art. „Everdingen" von Löhneysen. GELÉE siehe Claude Lorrain. GLAUBER, Johannes, geb. in Utrecht 1646 von deutschen Eltern, gest. in Schoonhoven 1726. Schüler von Nicolaes Berchem. Reisen nach Paris, Lyon und Rom (5 Jahre), Hamburg, Kopenhagen. Dann in Amsterdam. Radierte eigene Kompositionen. Beeinflußt von Dughet und der ganzen Tradition der idealen und heroischen Landschaft. Goethe besaß 25 Radierungen von Glauber, einige in 2 Exemplaren, außerdem 8 Zeichnungen. Das Tagebuch notiert fünfmal die Beschäftigung mit diesen Blättern. - Schu. S. 161 Nr. 1 5 4 - 1 5 9 und S. 304 Nr. 832. - Wolfgang Stechow, Dutch landscape painting of the 17^ Century. London 1966. S. 165 u. ö. - Vgl. Abb. 54 und die Anmerkung dazu. GRIMALDI, Giovanni Francesco, genannt Bolognese, Maler, Radierer und Architekt, geb. 1606 in Bologna, gest. 1680 in Rom. In der Jugend beeinflußt von Tizian und der Carracci-Schule. Kam um 1626 nach Rom. Viele Aufträge seitens der Päpste und der römischen Adelsfamilien. 1649-1651 als Hofmaler in Paris,- dann wieder in Rom. - Goethes 2. und 3. Schema zur Landschaftsmalerei zeigen, wie er Grimaldi einordnet in die Entwicklungslinie der heroischen Landschaft, die schulbildend wurde. Seinen Besitz an Grimaldi-Graphik verzeichnet Schuchardt S. 40 Nr. 3 6 1 - 3 7 4 . Auch die herzogliche Sammlung in Weimar besaß Landschafts-Graphik von Grimaldi. Ein Beispiel ist reprodu-

Die Maler: Everdingen - Mantegna

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ziert in dem Ausstellungskatalog: Schloßmuseum Weimar. Renaissance. (1970) Abb. 14. - Vgl. Abb. 42 und die Anmerkung dazu. HACKERT, Jacob Philipp, geb. 1737 in Prenzlau, gest. 1807 in San Pietro di Careggi bei Florenz. Arbeitete anfangs in Berlin, seit 1768 in Rom; 1782 in Neapel, wo er 1786 Hofmaler wurde. 1787 Zusammensein mit Goethe. 1799 siedelte er sich in der Nähe von Florenz an. Landschaftsmaler; zu seiner Zeit sehr geschätzt, dann im 19. Jahrhundert allzusehr unterschätzt. Goethe hat seine Verbindung von Vedute und künstlerischer Idealisierung treffend bezeichnet. Hackert ist in Goethes Werken, Briefen und Tagebüchern oft genannt. Goethe blieb nach dem Zusammensein in Italien mit ihm in Verbindung, gab nach Hackerts Tode den handschriftlichen Nachlaß heraus und beschäftigte sich mit seinen Landschaftsdarstellungen von Zeit zu Zeit immer wieder. In dem an Schuchardt diktierten Schema wird er gegen den Schluß hin genannt, und gerade seine Zeichnungen werden gerühmt. Goethe kannte auch Gemälde von ihm. Herzog Carl August ließ 1803 durch Goethe bei Hackert zwei Bilder bestellen (Goethe an Hackert 22. März 1803); sie trafen am 13. Januar 1804 ein, und Goethe schrieb am 14. Januar an Schiller: Die angekommenen Hackertischen Landschaften haben mir auch einen heitern Morgen gemacht. Es sind ganz außerordentliche Werke, von denen man, wenn sich auch manches dabei erinnern läßt, doch sagen muß, daß sie kein anderer Lebender machen kann, und wovon gewisse Teile niemals besser gemacht worden sind. U n d a n C a r o l i n e v . H u m b o l d t m e l d e t e e r a m 2 5 . J a n u a r 1 8 0 4 : Ein Paar große Bilder von Hackert sind hierher gekommen, die als praktische Nachbildung des Wirklichen vielleicht nichts Vollkommeneres denken lassen. - D a z u d i e A b b . i n : H o l t z h a u e r ,

Goethe-Museum. Berlin u. Weimar, 1969. S. 335. - Einzelheiten findet man vermittels der Register der WA und des Briefwechsels zwischen Carl August und Goethe. - Bilder aus dem Frankfurter Goethe-Museum. Hrsg. von E. Beutler u. J. Rumpf. Frankfurt/M. 1949. (Mit Abb. nach 6 Gemälden Hackerts.) Bruno Lohse, Jakob Philipp Hackert. Phil. Diss. Frankfurt/M. 1936. (VII, 170 S. m. Abb.) - Vgl. Abb. 55 und 56 und die Anmerkungen dazu. HONDEKOETER, Gillis Claeszoon de, geb. um 1575, gest. 1638, lebte in Utrecht und in Amsterdam. Landschaftsmaler, in seiner Jugend beeinflußt von Coninxloo und Saverij. - Nicht zu verwechseln mit dem späteren Tiermaler Melchior de Hondekoeter (1636-1695), von dem Goethe in Dresden ein Bild sah, das er lürtreülich fand (WA 47, S. 382). - Vgl. Abb. 30 und die Anmerkung 26 dazu. LORRAIN siehe Claude Lorrain. MAJOR, Isaak, geb. um 1576 in Frankfurt a. M., gest. 1630 in Wien. Als Maler Schüler von R. Saverij, als Kupferstecher von E. Sadeler in Prag. Unter dem Einfluß dieses vielbegehrten Hofkupferstechers ging auch er ganz zum Kupferstich über. Als der Kaiserhof nach dem Tode Rudolfs II. von Prag nach Wien verlegt wurde, ging auch Major dorthin. Seine Hoffnung, dort ähnliche Aufgaben und Erfolge zu finden wie seinerzeit Sadeler in Prag, gingen nicht in Erfüllung. Goethe nennt Major in dem an John diktierten Schema bei den Manieristen nach Saverij, dessen Schüler er war. - Vgl. Abb. 28 und 29 und die Anmerkungen dazu. MANTEGNA, Andrea, geb. 1431 in Vicenza, gest. 1506 in Mantua, trat in Goethes Gesichtskreis auf der Italienreise. Aus Padua schreibt er am 27. Sep13*

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

von Mantegna, t e m b e r 1 7 8 6 ü b e r Gemälde dieser derben, reinen, lichten, ausiührlichen,

vor denen ich erstaunt bin... von gewissenhaften, zarten, umschrie-

benen (d. h. fest begrenzten, genau dargestellten) Gegenwart. Von da an bricht das Interesse nicht ab. Die Übersetzung von Cellinis Selbstbiographie und andere Beschäftigungen mit der italienischen Renaissance wiesen immer wieder auf Mantegna hin. 1795 veröffentlichte Meyer in Schillers „Hören" einen Aufsatz mit einem Kapitel über Mantegna, das Goethe vorher gelesen und gutgeheißen hatte (Die Hören, 1795, 9. Stück, S. 11-29). Noch sorgfältiger abgetönt war die Charakteristik in Meyers „Geschichte der Kunst" (S. 171). Mit Hilfe von Frankfurter Freunden kaufte Goethe Kupferstiche von Mantegna (an Gerning 14. Februar 1814; an Schlosser 20. Juni 1814), dann gelang es, die ganze Serie „Julius Cäsars Triumphzug" in den zweifarbigen Holzschnitten von Andrea Andreani zu erwerben (an Schlosser 30. Juni 1820). Begeistert berichtet Goethe an Meyer über dieses Werk, das er nun bei sich vor Augen hatte (30. Juni 1820). 1820-1822 entstand dann der Aufsatz darüber, der in der Zeitschrift Über Kunst und Altertum 1823 erschien. Es gibt darüber viel Korrespondenz (WA Briefe, Bd. 35-37), und im Tagebuch kommt Mantegnas „Triumphzug" mehr als 50mal vor. - Schu. S. 43-45 Nr. 397-411. - Vgl. Abb. 11 und die Anmerkung dazu. MERIAN, Matthäus, Kupferstecher und Verleger, geb. 1593 in Basel, gest. 1650 in Schwalbach. Seit 1624 in Frankfurt tätig. Sein beträchtliches zeichnerisches Können wurde in den Hintergrund gedrängt durch die Routinearbeit an großen Verlagswerken, die ihrerseits eine sehr beachtliche kulturelle Leistung waren. Für die Nachwelt lebte er deswegen vor allem als Schöpfer der großen illustrierten Städtebeschreibungen fort, weniger als Künstler. - Goethe nennt ihn in dem 3. Schema. MILLET, Jean-Francois, genannt Francisque, geb. 1642 in Antwerpen, gest. 1679 in Paris. Sohn eines französischen Elfenbeinschnitzers und einer flämischen Mutter. Lebte fast immer in Paris, wo er auch Gelegenheit hatte, Werke der in Rom lebenden Maler wie Poussin zu sehen. Er war ein bedeutender Landschaftsmaler und Radierer, dessen Laufbahn durch einen frühen Tod - mit 37 Jahren - jäh abgebrochen wurde. - Goethe nennt ihn in dem 3. Schema. Vgl. Abb. 52 und 53 und die Anmerkungen dazu. MOMPER, Jodocus (Joos) de, geb. in Antwerpen 1564, gest. ebd. 1635; Landschaftsmaler. Reisen in Italien und der Schweiz. - Goethe besaß 3 Stiche nach Gemälden von ihm und 2 ihm zugeschriebene Zeichnungen. Mitunter haben die Landschaften bei Momper recht phantastische Züge; dieses Element kommt in den Blättern, die Goethe besaß, kaum zur Geltung. Vgl. Abb. 25 und die Anmerkung dazu. MUZIANO, Girolamo, 1528-1592, unter dem Einfluß von Michelangelo und Tizian ausgebildet, meist in Rom tätig. Heinrich Meyer schreibt in dem Band „Winckelmann und sein Jahrhundert", den Goethe 1805 herausgab: „Girolamo Muziano malte große, geschätzte Stücke von bizarrer Erfindung, mit Figuren heiliger Eremiten staffiert, welche den Liebhabern aus Kupferstichen des Cornelis Cort wohl bekannt sind." (Neudruck, hrsg. von H. Holtzhauer, Leipzig 1969, S. 121) - Bei Goethe steht der Name Muziano in dem Schema von 1818, kommt aber in seinen Schriften sonst nicht vor. Die Stiche des Cornelis Cort wurden zu Goethes Zeit sehr geschätzt; ein Beispiel dafür ist ihre Beschreibung

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Die Maler: Merian - Rembrandt

in: Hans Rudolf Füßli, Kritisches Verzeichnis der besten nach den berühmtesten Malern aller Schulen vorhandenen Kupferstiche. Bd. 3. Zürich 1802. S. 122 bis 125. - Vgl. Abb. 19 und die Anmerkung dazu. NEER, Aert van der, geb. in der Nähe von Dordrecht 1603 oder 1604, gest. in Amsterdam 1677. Lebte in Amsterdam. Landschaftsmaler; Motive der niederländischen Landschaft, bevorzugt Mondscheinbilder, Winterlandschaften, ungewöhnliche Beleuchtungen (Feuersbrunst), wodurch die Flachlandschaft und die Wolken besonders belebt werden. - Goethes Tagebuch notiert 1824 am 13. F e b r u a r : Nach Tische Nacht.

Bild Van der Neer,

u n d a m 1 6 . M ä r z : Van der

Neers

NEVE, Franciscus (Frans) de, geb. 1606 in Antwerpen, gest. angeblich 1681 in Brüssel. Machte eine Italienreise, lebte meist in Antwerpen; zeitweilig tätig in Rom, Salzburg und Wien, worüber Sandrart 1675 berichtet. Historien- und Landschaftsmaler. Mehrere Radierungen, die bei Bartsch Bd. 4, S. 115-125 beschrieben sind. - Vgl. Abb. 43 und die Anmerkung dazu. POUSSIN, Gaspard: siehe Dughet. POUSSIN, Nicolas, geb. 1594 in Villers bei Les Andelys (Normandie), gest. 1665 in Rom. Arbeitete 1612-1624 in Paris, dann von 1624 bis zu seinem Tode in Rom, nur unterbrochen durch einen Aufenthalt in Paris 1640-42, wo es ihm zu höfisch und zu laut war. In Rom hatte er seine Zurückgezogenheit als Künstler, aus der heraus er seine Gemälde schuf. Meister in der Darstellung figürlicher Gruppen biblischer und weltlicher Stoffe, geistig verwandt der Dichtung von Corneille, der 12 Jahre jünger war. Beide erreichten in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts ihre Meisterschaft und deren Anerkennung. Dadurch, daß Poussin manchen Bildern landschaftliche Hintergründe gab, erhielt die heroische Landschaft ihre stärkste Ausprägung. - Vgl. Abb. 36 und die Anmerkung dazu. REMBRANDT Harmensz van Rijn, geb. 1606 in Leiden, gest. 1669 in Amsterdam, kommt in Goethes Entwürfen über Landschaftsmalerei verhältnismäßig kurz vor. In dem 2. Schema heißt es: Rembrandts Realism in Absicht auf die Gegenstände.

Licht,

Schatten

und Haltung

sind

bei ihm das Ideelle.

Diese

Charakteristik gilt für Rembrandt allgemein, nicht nur für die Landschaftsdarstellungen. Sie kam bei Goethe aus einer wiederholten Beschäftigung mit seinen Werken. In dem frühen Aufsatz Nach Falkonet und über Falkonet nannte er Rembrandt einen der ganz Großen neben Raffael und Rubens (WA 37, S. 318). Diese Bewertung war nicht selbstverständlich; Rembrandt war zwar berühmt, erfuhr im 18. Jahrhundert aber vielerlei Kritik. An Johanna Fahimer schreibt d e r j u n g e G o e t h e : Ich zeichne,

künstle

p. Und lebe

ganz

mit Rembrandt.

(Die

WA datiert diesen Brief auf Ende August 1775, Fischer-Lamberg auf Anfang November 1774.) Da Goethe in Frankfurt keine Gemälde von Rembrandt sehen konnte, bezieht sich der Satz auf Radierungen, die es in Frankfurter Sammlungen und wohl auch in Darmstadt gab. Aus Weimar schreibt er dann an Merck wegen des Ankaufs von Rembrandt-Radierungen für den Herzog (30. November und 3. Dezember 1778) und erbittet Gersaints Rembrandt-Katalog (3. Juli 1780). In Italien rückt er Rembrandt ferner. An den Herzog schreibt er am 8. Dezember 1787 von der italienischen Reinheit der Form und hebt sie ab gegen Rembrandts markige Rohheit. (Um diese Formulierung zu verstehn, muß man nicht nur die berühmtesten Radierungen kennen, sondern auch solche wie „Der pissende Mann" usw.; Graul 71; Münz 120/1; Bernhard 216). Als

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

Goethe 1790 nach Dresden reiste, machte er sich Notizen über dortige Gemälde Rembrandts (WA 47, S. 368 ff.). In Dichtung und Wahrheit, im 1. und 3. Buch, erwähnt er bei den Frankfurter Malern die Wirkung Rembrandts auf Trautmann. Als er in den Jahren nach 1814 seine Sammlung immer mehr ausbaute, erwarb er mehrere Radierungen von Rembrandt (an Boisseree 19. November 1814). Gegenüber Zelter lobte er Meyers Kunstgeschichte: Das Verdienst solcher Männer wie Rubens, Rembrandt p. hat noch niemand mit so viel Wahrheit und Energie ausgesprochen. (17. Mai 1815) Die Rheinreise 1815 und die Beschäftigung mit der Sammlung Boisseree brachten ihm aufs neue die Frage nahe, was der Süden und was der Norden für die europäische Kunst getan haben, wieweit es wechselseitige Einflüsse gab oder auch eigenständige Entwicklungen. Er spricht von dem Zauberkreis der Niederlande: So hat Rembrandt das höchste Künstlertalent betätigt, wozu ihm Stoff und Anlaß in der unmittelbarsten Umgebung genügte. (Kunst und Altertum am Rhein und Main, 1816; WA 34,1 S. 190) Er unterschätzte Rembrandts Kenntnis von Werken der Antike und der italienischen Renaissance, schätzte seine Eigenständigkeit im Bildbereich aber richtig ein. Im Alter erfreuten ihn Ankäufe von Rembrandtschen Zeichnungen (Tagebuch 23. Dezember 1828). An Zelter 28. März 1829: Manches schöne Blatt von Zeichnungen und Kupfern ist mir zur Hand gekommen; eine kapitale Zeichnung von Rembrandt unter andern, welche ohne eine besondere Gunst der Dämonen nicht hätte zu mir gelangen können. Und an den Bildhauer Rauch 26. März 1829: Vor einiger Zeit erhielt ich eine Kapitalzeichnung von Rembrandt, woran ich schon einige Wochen zehre, bei dieser Gelegenheit andere Werke dieses unvergleichlichen Meisters hervorsuche und in sein Verdienst einzudringen mir zur Angelegenheit mache. Am 7. November 1830 schreibt er an Boisseree, Rembrandt habe das Buch Tobiae... auf seine Weise unvergleichlich genutzt. Am 8. Oktober verzeichnet das Tagebuch: Studium der Rembrandtschen Blätter nach dem Band des Museums. Goethe beschränkt sich hier nicht auf die eigene Sammlung, sondern zieht die Herzogliche Sammlung heran, die in dem neugegründeten Museum im Jägerhaus untergebracht war. Am nächsten Tage steht im Tagebuch: Fortgesetztes Studium Rembrandtischer Blätter. Diktiert über den Barmherzigen Samariter. Was Goethe hier diktierte, hat Eckermann später im 4. Band der „Nachgelassenen Werke" herausgegeben (Rembrandt der Denker). So hat Goethe sich noch 5 Monate vor seinem Tode intensiv mit Rembrandt beschäftigt. In seiner Sammlung hatte er mehrere der schönsten Rembrandtschen Radierungen, z. B. „Der Engel verläßt die Familie des Tobias", „Der barmherzige Samariter" und „Faust", außerdem viele Reproduktionsstiche nach Rembrandtschen Gemälden. Ein besonderes Glück war die Erwerbung mehrerer Zeichnungen von Rembrandt und seinen Schülern. Zumindest 5 davon sind von Rembrandt selbst (Walter Scheidig, Rembrandt als Zeichner. Leipzig 1962. Abb. 16, 19, 37, 40, 167). Sämtliche Blätter von und nach Rembrandt in Goethes Sammlung zeigen figürliche Darstellungen. Goethe konnte nur erwerben, was angeboten wurde. Und während es ihm bei Rubens gelang, gute Stiche nach seinen Landschaftsbildern zu erhalten, ist in seiner Rembrandt-Abteilung das Landschaftliche nicht vertreten. Für den Aufsatz über Landschaftliche Malerei, sofern er ihn nicht auf Rom beschränken wollte, hätte er aber die Darstellung der niederländischen Flachlandschaft bei Rembrandt zur Hand haben müssen. Seine eigene Sammlung genügte dafür nicht, die her-

Die Maler: Rubens - Ruisdael

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zogliche hatte einige gute Beispiele davon. Vielleicht ist dies eine der Ursachen, welche die Vollendung des Aufsatzes hinderten. - Goethes Besitz an Rembrandt-Graphik: Schu. S. 176-180 Nr. 310-351 und S. 309 Nr. 874-875. R. Graul, Rembrandt. Die Radierungen. 2. Aufl. Leipzig 1923. - L. Münz, Rembrandt's Etchings. London 1952. - Rembrandt, Druckgraphik. Hrsg. von Marianne Bernhard. München 1976. RUBENS, Peter Paul, geb. 1577 in Siegen, gest. 1640 in Antwerpen. Goethe kannte und schätzte Gemälde von Rubens seit seiner Jugend. 1768 sah er Werke von ihm in Dresden, 1774 in Düsseldorf. In der Düsseldorfer Galerie konnte meine Vorliebe iür die niederländische Schule reichliche Nahrung finden (Dichtung und Wahrheit, 14. Buch) In München schrieb er am 6. September 1786 in sein Tagebuch: Die Skizzen von Rubens sind herrlich. 1790 machte er sich Notizen über viele Bilder in Dresden, darunter auch mehrere von Rubens (WA 47, S. 371-387). Auf der Rückkehr von dem Feldzug in Frankreich besuchte er 1792 wieder die Düsseldorfer Galerie, deren Bestände bald darauf nach München kamen. Nach und nach trug er eine reiche Sammlung von Stichen nach Rubens zusammen, und im Alter gibt es Tagebuchaufzeichnungen wie: Für mich. Beschauung Rubens. (15. April 1814) Oder: Das Niederländische Portefeuille angesehn, Rubens usw. (18. März 1824) In dem Aufsatz Antik und Modem, 1818, sagt er: Sehen wir ferner die ungeheuren Schritte, welche der talentreiche Rubens in die Kunstwelt hinein tut! Und in kunsthistorischen Notizen über die frühe niederländische Malerei spricht er davon, daß außerordentliche Menschen wie Rübens und Rembrandt die Entwicklung zur Reife geführt haben (WA 34,2 S. 32). Auch in den Briefen an Zelter und in den Gesprächen mit Eckermann kommt Rubens vor. Aus allem geht hervor, daß Goethe ein deutliches Bild von der Eigenart der Rubensschen Kunst und zugleich von seiner historischen Stellung hatte. In dem Schema zur Landschaftsmalerei hat er es nur mit dieser Seite von Rubens zu tun, es war ein Teilgebiet, das im Blick der Betrachter damals und später immer sehr zurücktrat gegenüber den großen figürlichen Darstellungen. Vielleicht darf man aber gerade auf diesem Gebiet von höchstem Gelingen sprechen. Goethe hat die Genialität des Rubens auf dem Gebiet der Landschaftsmalerei deutlich erkannt. Seine drei Sätze über ihn in dem 2. Schema gehen davon aus, daß Rubens in seinen Hauptwerken Historienmaler ist, und bezeichnen dann ganz knapp das Wesentliche seiner Landschaftsdarstellung. - Vgl. Abb. 31-33 und die Anmerkungen dazu. RUISDAEL, Jacob van, geb. wahrscheinlich 1628 in Haarlem, gest. 1682 in Amsterdam; tätig in Haarlem und Amsterdam; der große Landschaftsmaler der Generation, welche auf Rembrandt und Van Goyen folgte. Ruisdael ist ein Künstler, mit welchem Goethe sich von Zeit zu Zeit immer wieder beschäftigte, den er bewunderte, still auf sich wirken ließ und anderen empfahl. Er sah 1768 beim Besuch der Dresdener Galerie mehrere Meisterwerke von Ruisdael. Im Jahre 1780 berichtet ein Brief an Merck (11. Oktober) von einer Erbschaft des Herzogs Carl August aus Meiningen, zu der Ruisdael-Gemälde gehören, darunter eins von seiner höchsten Zeit. .. ein ganz fertiges Kunstwerk. Es ist (ich kann es nicht mit Gewißheit, aber hoher Wahrscheinlichkeit sagen) diejenige Landschaft, welche 1824 in das Museum im Jägerhaus kam und die heute im Schloßmuseum hängt. Goethe hatte also in Weimar dieses bedeutende Gemälde aus herzoglichem Besitz oft vor Augen. Auch anderswo interessierte ihn alles,

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Goethes Entwurf „Landschaftliche Malerei"

was er sehen konnte. Am 22. Dezember 1782 schreibt er aus Leipzig an Charlotte v. Stein, er habe zwei Landschaften gesehen, eine von Everdingen, die andte von Ruisdael... von der größten Schönheit. 1790 machte er sich in der Dresdener Galerie Notizen zu vielen Gemälden, auch solchen von Ruisdael (WA 47, S. 370-381), zu der „Hirschjagd": Vortrefflich, und das Beste von diesem Meister allhier. Goethe war überzeugt, daß ein Landschaftsmaler gerade hier viel lernen könne. Deswegen meldete er am 6. März 1813 dem Herzog, daß der junge Weimarer Carl Lieber in Dresden Zeichnungen nach Ruisdael gemacht habe. Noch heute hängt in dem „Kleinen Eßzimmer" des Hauses am Frauenplan eine Sepiazeichnung von Lieber nach Ruisdaels Gemälde „Der Kirchhof". Seit 1813 gibt es mehrfach Tagebuchaufzeichnungen über Beschäftigung mit Ruisdael; 31. Januar 1813: Aufsatz über die Landschaft von Ruisdael. 1. Februar: Abschrift des Aufsatzes über das Ruisdaelische Kloster. 4. November 1814: Ruisdael. 9. April 1816: Prof. Riemer die Ruisdaelischen Zeichnungen. 14. April 1816: Brief an Dr. Cotta nach Stuttgart mit dem Aufsatz über Ruisdael fürs Morgenblatt. Es handelt sich um den Aufsatz Ruisdael als Dichter. Goethe beschreibt hier drei Gemälde der Dresdener Galerie, gibt einleitend allgemeine Bemerkungen über den Maler und abschließend Allgemeines zur Landschaftsmalerei, welche eine vollkommene Symbolik erreicht. Weitere Notizen im Tagebuch gibt es am 25. Februar 1819: Die Ruisdaelische Kirchhofszeichnung, und am 2. September 1822: Prellers Kopieen in Dresden gefertigt nach Ruisdael und Potter. Auch in Gesprächen wird Ruisdael genannt. Boisseree notiert ein Gespräch vom 9. September 1815 über Licht und Schatten in der Malerei mit Ruisdael als Beispiel. Auch Eckermann vermerkt, daß Goethe über Ruisdael spricht (2. Mai 1824; 17. Februar 1830). Die ganze Wertschätzung zeigt sich in dem Brief an Carus vom 1. Juli 1820: Erlauben Sie, daß ich Sie glücklich preise, daß die herrliche Dresdener Natur Sie umgibt, nicht weniger, daß Sie sich mit den abgeschiedenen großen Vorfahren, unter denen ich nur Ruisdael nenne, von Zeit zu Zeit nach Belieben und Bedürfnis unterhalten können. Am 25. April 1822 teilt er Carus mit, daß der junge Friedrich Preller zum Studium der Landschaftsmalerei nach Dresden gegangen sei und daß er bereits nach Ruisdael und Potter kopiert habe,- denn wo könne ein junger Maler so viel lernen wie bei Ruisdael, wegen dem Gehalt und der Anmut seiner Erfindes Ganzen. Demgemäß hat dung, schöner Wirkung und Übereinstimmung Goethe für seine Sammlung, so oft es möglich war, Radierungen von Ruisdael und Stiche nach seinen Gemälden erworben (Brief an Weigel 23. August 1826). Wenn er in dem an Schuchardt diktierten Schema den Namen Ruisdael nennt, steht hinter dieser Notiz eine lange Bekanntschaft und eine klare Vorstellung von dem Charakter dieses Landschaftsmalers. - Schu. S. 183 Nr. 379-387 a,S. 309 Nr. 881; S. 335 Nr. 64. - Der Aufsatz Ruisdael als Dichter ist kommentiert von Herbert v. Einem in Hbg. Ausg., Bd. 12. - Vgl. Abb. 51 und die Anmerkung dazu. SAFTLEVEN (Sachtleven, Saftleben), Herman, Maler und Radierer, geb. 1609 in Rotterdam, gest. 1685 in Utrecht. Seit 1632 in Utrecht ansässig; Reisen am Rhein und an der Mosel, bis nach Basel; dann in seiner niederländischen Heimat, wo er in Bildern die Bergmotive seiner Reiseskizzen wiederholte und neu komponierte. Goethe besaß mehrere Radierungen von ihm und Reproduktionsstiche nach Gemälden von ihm, alle mit Bergen und Wasser,- im Vordergrund

Die Maler: Saftleven - Tizian

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Bauern, Fischer, Wanderer; durchweg deutsche und niederländische Motive, keine italienischen. - Vgl. Abb. 44 und 45 und die Anmerkungen dazu. SAVERIJ, Roelant, geb. in Courtrai um 1577, gest. in Utrecht 1639. Tätig in Amsterdam, Prag, Wien, Utrecht. Landschafts- und Tiermaler. Saverij lebte etwa 1604 in Prag, wo der kunstliebende Kaiser Rudolf II. seine Residenz hatte. Etwa 1606-1608 war er im Auftrage des Kaisers in den Alpen, dann wieder in Prag, wo er auch nach dem Tode des Kaisers, 1612, blieb. 1614 wurde er nach Wien übernommen in den dort neu gebildeten Hofstaat des Kaisers Matthias. 1616 ging er nach Holland. Seine phantasiereichen Landschaftsbilder haben eine innere Beziehung zu dem pansophischen Denken des Frühbarock, das staunend die geheimnisvolle Weltordnung erlebt. Der Kreis um Kaiser Rudolf II. in Prag war ein Mittelpunkt solcher Gedanken. - Goethe besaß einen großen Stich nach Saverij und drei ihm zugeschriebene Zeichnungen (Schu. S. 300 Nr. 888-890). Vgl. Abb. 26 und 27 und die Anmerkung dazu. SWANEVELT, Herman van, geb. in Woerden bei Utrecht um 1600, gest. in Paris 1655. Lebte 1629-1638 in Rom. Malte und radierte Landschaften. Swanevelt war gleichaltrig mit Claude Lorrain und ist ihm in Rom begegnet. Sandrart behandelt ihn verhältnismäßig ausführlich und lobt, daß er eifrig nach der Natur gearbeitet habe. Goethe besaß zahlreiche Radierungen von ihm; typisch das reproduzierte Blatt Abb. 41. In Dichtung und Wahrheit, Buch 8, beschreibt Goethe, wie er in der Dresdener Galerie den Direktor v. Hagedorn kennenlernte: Besonders machte es ihm Freude, daß mir ein Bild von Schwaneield ganz übermäßig gefiel, daß ich dasselbe in jedem einzelnen Teil zu preisen und zu erheben nicht müde ward.. . Swanevelt war also ein Künstler, den Goethe seit seiner Jugend kannte. - Vgl. Abb. 41 und die Anmerkung dazu. TIZIANO Vecellio, geb. um 1480 in Pieve di Cadore, gest. 1576 in Venedig. Fast immer in Venedig tätig, 1545 als Gast Papsts Paul III. in Rom. - In Goethes „gelbem Saal" hing (und hängt) eine Kopie von Bury, ein Ausschnitt aus dem großen Gemälde, das man „Die himmlische und die irdische Liebe" genannt hat, Zeugnis der Verehrung für Tizian. Aus Goethes Jugend gibt es keine Äußerungen über Tizian, erst auf der Italienreise tritt er in Goethes Gesichtskreis, nun aber bedeutsam. Als er 1790 noch einmal in Venedig war, machte er sich Aufzeichnungen über Gemälde von Tizian und deren Restaurierung, immer unterwegs, dem einzigen Tizian meine Verehrung beweisend (WA 47, S. 211-233). Die brieflichen Äußerungen aus den Jahren 1786-88 wurden in der Italienischen Reise, als er den 1. Teil 1816/17 und den 2. Teil 1829 druckfertig machte, ausgebaut. Er hatte zu dieser Zeit bereits eine umfangreiche Sammlung von Stichen nach Tizian zur Hand (Schu. S. 90-96 Nr. 861-925; S. 252 Nr. 199-200). Im Alter schrieb er für Zelter eine Deutung eines Gemäldes nieder (31. März 1822), die er dann in Über Kunst und Altertum 1824 zum Druck brachte unter dem Titel Kupierstich nach Titian, wahrscheinlich von C. Cort. (WA 49,1 S. 296-299) In den Entwürfen Landschaftliche Malerei kommt Tizian in dem 2. Schema vor: Tizians Landschaften; dann in dem 3. Schema: Einsiedeleien. Tizian. Nach und nach steigende Anmut. Demgemäß erhält dann Tizian in dem Aufsatz-Entwurf den zweiten Teil: Tizian, insofern er sich zur Landschaft wandte... Goethe hat die Bedeutung Tizians für die Landschaftsmalerei, die vor ihm in der italienischen Renaissance eine untergeordnete Stellung hatte, deutlich erkannt, ebenso wie seine Wirkung auf die

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Goethes Entwurf „Landschaftliche M a l e r e i "

Brüder Carracci, auf Grimaldi und andere. In dem Aufsatz-Entwurf bleibt der 1. Teil ganz ohne Künstler-Namen. Tizian ist der erste Name, der genannt wird. Goethe zählt die Motive seiner Landschaftsdarstellung auf. Daß er seine schönen Kinder... ins Gras legte, trifft für mehrere Bilder zu, die Goethe in Reproduktionsstichen besaß, z. B. „Landschaft mit schlafender Venus", gestochen von J. van Campen (Schu. S. 94 Nr. 910) und „Roger und Angelica", gestochen von C. Cort (Schu. S. 94 Nr. 907), das 1822 für Zelter interpretierte Bild, von dem Goethe noch nicht wußte, daß es ein Stoff aus Ariostos „Orlando furioso" ist. Auch die herzogliche Sammlung besaß .Landschaftsdarstellungen Tizians in Reproduktionsstichen. Drei Beispiele daraus sind abgebildet in dem Katalog: Schloßmuseum Weimar. Renaissance. (1970). Abb. 12, 13, 15. - Vgl. Abb. 12 und die Anmerkung dazu.

Die Kupferstiche zu den „Lebenden Bildern" in den Wahlverwandtschaften

Im 5. Kapitel des 2. Teils der Wahlverwandtschaften beschreibt Goethe, wie sogenannte „Tableaux" oder „Lebende Bilder" gestellt werden. Man benutzt dafür Kupferstiche, und zwar möglichst solche, die bekannt sind, denn das Überraschende besteht zum Teil darin, daß man das Bekannte in veränderter Gestalt sieht, nicht in Schwarz-Weiß, sondern farbig, nicht zweidimensional, sondern dreidimensional, außerdem sind die Gestalten zwar die Figuren der Bilder, zugleich aber persönliche Bekannte, und die Vermischung beider Bereiche, die steigernd wirken kann, hat einen eigenen Reiz. Man befindet sich auf einem Schloß auf dem Lande. Ein solches Schloß war ein kleiner Kulturmittelpunkt für sich. Man hat eine gewisse Menge Bücher, Noten, Kupferstiche im Hause. Was man nicht besitzt, ist fast unerreichbar, weil man nicht bis zur nächsten Stadt reisen kann, um einen Kupferstich herauszusuchen. Das aber, was man besitzt, das kennt man auch. Goethe sagt kurz: Man suchte nun Kupferstiche nach berühmten Gemälden, und zählt sie im folgenden auf: Beiisar nach Van Dyck, dann Poussin, Esther und Ahasverus, schließlich Terborch (Goethe schreibt: Terburg), Die väterliche Ermahnung. In diesem Falle setzt er auch den Namen des Stechers hinzu: Johann Georg Wille. Sein Stich nach Terborch war damals sehr bekannt. Auch bei •den anderen Bildern können wir sagen, an welche Stiche Goethe denkt, denn sie waren in seiner eigenen Sammlung vorhanden. Goethe beschreibt also Kupferstiche, die er gut kannte. Er hat von keinem dieser Bilder das Original gesehen. Und das gleiche muß man von den Gestalten in den Wahlverwandtschaften denken: Die Originale kennen sie nicht; doch sie kennen die Kupferstiche. Es war noch lange vor der Zeit der Photographie, welche einen neuen Buchtyp brachte: das neuzeitliche Kunstbuch. Man hatte Künstlerlexika ohne Bilder. Und man hatte große Reproduktions-Stiche, die man einzeln kaufte und die man verhältnismäßig gut kannte. Diese Kupferstiche entsprachen keineswegs immer genau den Gemälden. Oft wurde von dem Gemälde erst eine Zeichnung gemacht und dann - durch einen anderen - diese auf die Kupferplatte übertragen. Es kam vor, daß der Stecher das Bild nicht gesehen hatte. Der Kupferstich erfordert Klarheit in allen Bildteilen, diese ist darum hier oft stärker als im Gemälde. Auch kam es vor, daß Einzelheiten geändert wurden. Wenn man heute wissen will, was die Gestalten der Wahlverwandtschaften als Vorbilder haben, ist es nicht sachgemäß, moderne Reproduktionen nach den Gemälden anzusehn; man muß die alten Kupferstiche heranziehn. Da sie in Goethes Sammlung vorhanden sind, ist die Identifizierung kein Problem. Die Kupferstiche, welche man auf dem Schloß in den Wahlverwandtschaften

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Die „Lebenden Bilder" in den „Wahlverwandtschaften"

auswählt, sollen etwa folgenden Anforderungen entsprechen: Sie sollen berühmte Gemälde darstellen, also Werke, welche in dem Kreise, der auf dem Schlosse zusammenkommt, bekannt sind. Sodann sollen sie eine Menschengruppe zeigen, die sich auf einer kleinen Bühne leicht darstellen läßt. Schließlich soll auf allen Bildern eine junge weibliche Gestalt vorkommen, in deren Darstellung Luciane glänzen kann. Es blieb auch noch zu berücksichtigen, daß die Gemälde einen geschlossenen Raum darstellen, denn Bilder mit Landschaftshintergrund hätten zu viel Mühe für Hintergrund und Kulissen erfordert. Goethe hat die Bilder so ausgewählt, daß alle diese Bedingungen erfüllt werden und daß außerdem noch ein reizvoller Kontrast zwischen den verschiedenen Bildern besteht. Goethes Schilderung beginnt folgendermaßen: Der Grat, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft, ihre Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen übersah, brachte Lucianen glücklicher- oder unglücklicherweise auf eine neue Art von Darstellung, die ihrer Persönlichkeit sehr gemäß war. „Ich finde", sagte er, „hier so manche wohlgestaltete Personen, denen es gewiß nicht fehlt, malerische Bewegungen und Stellungen nachzuahmen. Sollten sie es noch nicht versucht haben, wirkliche, bekannte Gemälde vorzustellen? Eine solche Nachbildung, wenn sie auch manche mühsame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor." Schnell ward Luciane gewahr, daß sie hier ganz in ihrem Fach sein würde. Ihr schöner Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmäßiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker Hals, alles war schon wie aufs Gemälde berechnet; und hätte sie nun gar gewußt, daß sie schöner aussah, wenn sie still stand, als wenn sie sich bewegte, indem ihr im letzten Falle manchmal etwas störendes Ungraziöses entschlüpfte, so hätte sie sich mit noch mehrerem Eifer dieser natürlichen Bildnerei ergeben. Goethe geht dann sofort zur Beschreibung des ersten Bildes über: Man suchte nun Kupferstiche nach berühmten Gemälden, man wählte zuerst den Beiisar nach van Dyck. Ein großer und wohlgebauter Mann von gewissen Jahren sollte den sitzenden blinden General, der Architekt den vor ihm teilnehmend traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas ähnlich sah. Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde ausgewählt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die flache Hand zählt, indes eine Alte sie abzumahnen und ihr vorzustellen scheint, daß sie zuviel tue. Eine andre, ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht vergessen. Der Belisarius-Stoff war ein beliebtes Thema im 17. und 18. Jahrhundert, bis in die Goethezeit hinein. Der byzantinische Feldherr Belisarius (gest. 565) kämpfte mit Erfolg gegen Perser, Vandalen und Ostgoten und rettete dem Kaiser Justinian Thron und Reich. Er fiel aber später in Ungnade. Es bildeten sich allerlei Geschichten über ihn, und allgemein wurde erzählt, man habe ihn später verurteilt und geblendet, und der einst so angesehene Feldherr habe als blinder Bettler um Münzen gebeten. „Date obolum Belisario" (Gebt einen Groschen dem Belisarius) steht unter dem Kupferstich. Der Stoff war in der Barockdichtung ein lehrhaftes Exemplum für den Wandel der Fortuna: erst höchster Glanz, dann Elend. Er konnte stoische Geisteshaltung oder auch christliche

Belisarius

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Schicksalsbewältigung ausdrücken. Er wurde im Drama behandelt von Trissino in Italien, 1548, von Bidermann in Deutschland, 1607, von Mira de Amescua in Spanien, 1625, von Jean de Rotrou in Frankreich, 1643, von Shirley in England, 1638. Auch im 18. Jahrhundert blieb der Stoff beliebt. Goldoni, 1734, machte Belisarius zum Helden eines Dramas, Marmontel zur Zentralgestalt eines empfindsamen Romans, 1767.1 Ähnlich war es in der bildenden Kunst. Der blinde Bettler Beiisar wurde gemalt von Veronese, Salvator Rosa und anderen, auch noch zur Goethezeit in Deutschland von Friedrich Rehberg, Eberhard Wächter, Johann Friedrich Ramberg, in Frankreich von Jacques-Louis David, François Gérard und anderen. Es war also ein bekannter Stoff.2 Der Kupferstich zeigt links sitzend den blinden Belisarius. Er hat Bettlergewand an und einen Bettlerstab. Vor ihm liegen ein Schild und ein Helm. Er streckt die Hand bittend aus. Ihm gegenüber rechts steht ein junger Soldat, der daran denkt, daß Belisarius einst der grofje Heerführer war - vielleicht hat er selbst unter ihm Dienst getan - und jetzt im Unglück ist. Die Geste des Bedauerns ist mit barocker Deutlichkeit dargestellt. Goethe charakterisiert die drei Frauenfiguren in ihren verschiedenen Bewegungen, welche zugleich ein Geschehen und eine geistige Haltung aussprechen. Er erwähnt nicht das Kind und den Hund. Wenn man dergleichen weglief, fiel das nicht auf. Der Hintergrund auf dem Kupferstich ist eine kahle Wand mit einem unbedeutenden Knick. Jede Bühne konnte leicht diesen neutralen Hintergrund darbieten. Die Gruppe als Ganzes bildet einen Halbkreis, der sich nach vorn öffnet, und "besteht aus fünf Personen, ist also für eine Darstellung auf einer kleinen Bühne sehr geeignet. Der Stich hat links den Vermerk „Vandyke Pinxit". Die heutigen Kunsthistoriker sind der Meinung, daß hier ein Irrtum vorliegt. Niemand schreibt das Bild mehr Van Dyck zu. Man hält es heute für ein Werk von Luciano Borzone (1590-1645). Es hängt in der Sammlung Chatsworth in Devonshire (England) 3 . Der Stich gibt das Gemälde seitenverkehrt wieder und fügt auf beiden Seiten etwas Raum hinzu. Im Gemälde streift die Kontur des Kriegers den Rahmen, und von Beiisars aufgestütztem Arm ist weniger zu sehn. Im Bilde ist die Gruppe stärker malerisch in sich verschmolzen und in den Raum eingegliedert; auf dem Kupferstich steht sie hart gegen den Hintergrund. Die Anordnung der Gruppe ist aber auf dem Stich sehr genau wiedergegeben. Unter dem Stich steht, dafj J. Goupy die Zeichnung gemacht hat. Joseph Goupy lebte als Zeichner, Radierer und Maler im 18. Jahrhundert in London. Sodann ist vermerkt, daß G. Scotin es in London gestochen habe. Gérard Jean-Baptiste Scotin, geboren 1698, stammte aus einer Pariser Kupferstecherfamilie und war zeitweilig in London tätig. Es ist also ein Stich aus dem 18. Jahrhundert. Nun folgt das zweite Bild. Goethe schildert es folgendermaßen : Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die Gesellschaft, die man durch ein Bild höherer Art überraschen wollte. Es war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasvérus und Esther. Diesmal hatte sich Luciane besser bedacht. Sie 1

Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur. Stuttgart 1970 u. ö. Anton Pigler, Barockthemen. 2. Aufl. Budapest 1974. Bd. 2, S. 445 f. 3 Eine Reproduktion des Gemäldes findet man in: Pigler, Barockthemen. 2. Aufl., Bd. 3, S. 307 Abb. 329. - Über Borzone (geb. Genua 1590, gest. ebd. 1645): Thieme-Becker 4, S. 381 f. 2

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Die »Lebenden Bilder" in den „Wahlverwandtschaften"

entwickelte in der ohnmächtig hingesunkenen Königin alle ihre Reize und hatte sich klugerweise zu den umgebenden, unterstützenden Mädchen lauter hübsche, wohlgebildete Figuren ausgesucht, worunter sich jedoch keine mit ihr auch nur im mindesten messen konnte. Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den übrigen ausgeschlossen. Aul den goldnen Thron hatten sie, um den Zeus gleichen König vorzustellen, den rüstigsten und schönsten Mann der Gesellschait gewählt, sodaß dieses Bild wirklich eine unvergleichliche Vollkommenheit gewann. Poussin war der große französische Maler des 17. Jahrhunderts, dessen Werke auch um 1800 noch als klassisch galten. Die Wahlverwandtschatten spielen in einem Kreis von Adligen, vermischt mit Bildungsbürgertum wie dem Architekten. In diesen Kreisen lernte man in der Jugend sehr gut Französisch und las Dramen von Corneille und Racine. Zu diesem festen Bildungsgut gehörte auch Poussin, dessen Werke man in Kupferstichen sah. Hier handelt es sich um das Gemälde „Esther vor Ahasverus", das heute in der Eremitage in Leningrad hängt. Goethe beschreibt es nach dem Kupferstich von Jean Pesne (1632-1700), der das Bild seitenverkehrt darstellt. Goethes Exemplar ist bis zum Bildrand beschnitten (49,0 X 67,8 cm), es fehlt daher die Schrift unter dem Bild.4 Poussins Gemälde stellt Esther dar, als sie vor Ahasverus tritt, um die Schonung der Juden zu erbitten. Ahasverus ist der allgewaltige Perserkönig. Esther stammt aus dem jüdischen Volke, doch weiß Ahasverus das nicht. Er hat sie wegen ihrer Schönheit zur Gemahlin gewählt, und sie ist seit längerer Zeit Königin. Des Königs Ratgeber Haman will alle Juden im Perserreich vernichten und hat von dem König die Erlaubnis dazu erhalten. Da bittet Esthers Pflegevater Mardochai sie, den König umzustimmen. Nach persischem Brauch darf Esther nur dann vor dem König erscheinen, wenn er sie rufen läßt. Sie geht in diesem Falle unaufgefordert zu ihm. Das Buch Esther in der Bibel erzählt diese Szene recht knapp in Kap. 5,1-5 und Kap. 8,3-6. Da bittet Esther für die Juden und kniet nieder. Die Vulgata schreibt: „procidit ad pedes regis", Luther übersetzt „Und Esther redete weiter zu dem König und fiel ihm zu Füßen." Das hat Poussin nun aber nicht dargestellt. Seine Szene ist dennoch keine freie Erfindung. Sie hat eine andere Quelle. Das Buch Esther hatte in späterer Zeit legendenhafte Zusätze und Ausmalungen erhalten. Diese wurden in den Text eingeschoben. Dieser erweiterte Text wurde übersetzt in die Septuaginta, d. h. das Alte Testament in griechischer Sprache. Die Septuaginta, in der Frühzeit der Christenheit entstanden, war im 16. und 17. Jahrhundert den Gelehrten bekannt, und ihre Ergänzungen drangen dadurch in weitere Leserkreise. In der Septuaginta wird Esthers Erscheinen vor Ahasverus folgendermaßen geschildert: 4 Schuchardt hat den Stich S. 207 Nr. 128 verzeichnet. Da Goethes Exemplar keine Unterschrift hat, ist Schuchardt aber ein Fehler unterlaufen. Der Stecher ist nitält Audran, wie Schuchardt angibt, sondern Jean Pesne. Das festzustellen, ist heute einfach, denn es gibt ein gelehrtes Spezialwerk über die Poussin-Stiche im 17. Jahrhundert : Georges Wildenstein, Les Graveurs de Poussin au 17